Theater der Zeit 09/2021

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Der Dramatiker Andrej Kurejtschik über die Lage in Belarus / Ulrich Matthes über Identitätspolitik Volksbühne ohne Vinge & Müller? / Kunstinsert Mariechen Danz / Ralph Hammerthaler zu Castorfs 70.

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

September 2021 • Heft Nr.9

Es ist ein Kreuz Ein Schwerpunkt zur Bundestagswahl mit Luna Ali, Annekatrin Klepsch und Aladin El-Mafaalani



STAATS SCHAUSPIEL DRESDEN LEONCE UND LENA Georg Büchner Joanna Praml KÖNIG LEAR William Shakespeare Lily Sykes ASPHALT Tobias Rausch Tobias Rausch WUNSCHKONZERT Franz Xaver Kroetz + WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? Rainer Werner Fassbinder und Michael Fengler Lilja Rupprecht DER TARTUFFE ODER KAPITAL UND IDEOLOGIE Soeren Voima nach Molière und Thomas Piketty Volker Lösch DIE RECHTSCHAFFENEN MÖRDER Ingo Schulze Claudia Bauer ANDROID ERGO SUM Dlé Florian Hertweck FREI.DREHEN Birgit Freitag Birgit Freitag DIE LABORANTIN Ella Road (Bühnenpremiere) Adrian Figueroa DER ZAUBERER VON OZ Lyman Frank Baum Christina Rast FAST FORWARD Europäisches Festival für junge Regie AB JETZT Alan Ayckbourn Nicolai Sykosch EIN LIEDERABEND Nicolai Sykosch ALICE Robert Wilson, Tom Waits, Kathleen Brennan Mina Salehpour LEBEN NACH DER KUNST Andreas Liebmann Andreas Liebmann ICH FÜHL’S NICHT Liv Strömquist Katrin Plötner DIE REGRESSION – DER WEG ZURÜCK Dennis Kelly Lovis Fricke APPETIT Costa Compagnie Felix Meyer-Christian BARON MÜNCHHAUSEN Rainald Grebe Rainald Grebe UNART Jugendwettbewerb für multimediale Performances EIN VOLKSFEIND Henrik Ibsen Laura Linnenbaum DAS WASSER (Arbeitstitel) Kathrin Röggla Jan Gehler WALLENSTEIN Friedrich Schiller Frank Castorf LULU Frank Wedekind Daniela Löffner EINE NEUE ROMANADAPTION Sebastian Hartmann UNTEN AM FLUSS – WATERSHIP DOWN Richard Adams Tom Kühnel EIN MANN WILL NACH OBEN Hans Fallada Sebastian Klink GAS-TRILOGIE Georg Kaiser Sebastian Baumgarten in Planung: TAUSEND SONNEN Tobias Rausch Tobias Rausch DIE ORESTIE Aischylos Michael Talke

2021/2022


Schauspiel — Junges Schauspiel — Stadt:Kollektiv — Spielzeit 2021/22 — www.dhaus.de Schauspielhaus, Großes Haus — 9.9. Orpheus steigt herab von Tennessee Williams, R: David Bösch — 23.9. Reich des Todes von Rainald Goetz, R: Stefan Bachmann — 1.10. Die Nibelungen. Kriemhilds Rache von Friedrich Hebbel mit einem Nachspiel von Lea Ruckpaul, R: Stephan Kimmig — 8.10. Kleiner Mann – was nun? von Hans Fallada, R: Tilmann Köhler — November Macbeth von William Shakespeare, R: Evgeny Titov — Dezember Minna von Barnhelm von G. E. Lessing, R: Andreas Kriegenburg — Januar Maria Stuart von Friedrich Schiller, R: Laura Linnenbaum — Februar Rückkehr zu den Sternen (Weltraumoper) R: Bonn Park, Musik: Ben Roessler — März Annette, ein Heldinnenepos von Anne Weber, R: Bernadette Sonnenbichler — April Making of Shakespeare Ein gemeinsames Projekt von Schauspiel, Jungem Schauspiel und Stadt:Kollektiv, R: Joanna Praml — Juni Dorian von Darryl Pinckney nach Motiven von Oscar Wilde, R: Robert Wilson Schauspielhaus, Kleines Haus — 15.9. Die Physiker von Friedrich Dürrenmatt, R: Robert Gerloff — 26.9. Reality Check – eine Verschwörungssimulation von Felix Krakau, UA — 2.10. Die bitteren Tränen der Petra von Kant von R. W. Fassbinder, R: David Bösch — Oktober In den Gärten oder Lysistrata Teil 2 von Sibylle Berg, R: Christina Tscharyiski — November Identitti von Mithu Sanyal, R: Kieran Joel, UA — Februar Orlando von Virginia Woolf, R: André Kaczmarczyk — März Der Zauberberg von Thomas Mann, mit den Studierenden des Schauspielstudios, R: Wolfgang Michalek — sowie eine Open-Air-Inszenierung im Mai, R: Robert Gerloff Junges Schauspiel — 13.8. (Open Air) Der überaus starke Willibald von Willi Fährmann, R: Robert Gerloff — 11.9. Bambi & Die Themen von Bonn Park, R: Bonn Park, UA — 24.9. Der Mann, der eine Blume sein wollte von Anja Tuckermann, R: Fabian Rosonsky, UA — 7.10. Liebe Kitty nach dem Romanentwurf von Anne Frank, R: Jan Gehler, UA — 13.11. Der Schimmelreiter von Theodor Storm, R: Juliane Kann — 26.11. A Christmas Carol von Charles Dickens, R: Mina Salehpour — März Das Leben macht mir keine Angst Ensembleproduktion nach dem Gedicht von Maya Angelou , R: Liesbeth Coltof, UA — Mai Am liebsten mag ich Monster inspiriert von der Graphic Novel von Emil Ferris, R: Sara Ostertag, UA — Juni SpaceLab_version9finalFINAL.1crp Ein Projekt von und mit dem Ensemble Stadt:Kollektiv — Januar Das Tribunal von Dawn King, R: Adrian Figueroa, UA — April Working Class eine Stückentwicklung mit Expert*innen der Arbeit, R: Bassam Ghazi — Stadt:Kollektiv:Residenzen — Juni To Do or Not to Do – Tätigkeiten einer Großstadt mit Turbo Pascal Oktober Tanzkollektiv nutrospektiv mit Bahar Gökten, Yeliz Pazar — Januar / Februar cobratheater. cobra mit Hieu Hoang, Thuy-Han Nguyen-Chi — Stadt:Kollektiv:Eden Tacheles!, Shapes & Shades, Democracy Lab, Augen in der Großstadt, Kinoki Video u. v. a.


Schauspielhaus Züri 2021 / 2022 ch Premieren / Premiere es Orpheus

Von / By Moved by the Motion Inszenierung / Staging: Wu Tsang Premiere: 10. September 2021, Schiffbau-Box Unterstützt von / Supported by Luma Foundation

König der Frösche

Von / By Nicolas Stemann Nach dem Märchen / After the fairytale Der Froschkönig der / of Gebrüder Grimm Inszenierung / Staging: Nicolas Stemann Uraufführung / World premiere: 13. November 2021, Pfauen Auch interessant für Menschen ab 8 / Also interesting for ages 8 and up Unterstützt von / Supported by Swiss Re

Kurze Interviews mit fiesen Männern – 22 Arten der Einsamkei t Monkey off My Back Nach / After David Foster Wallace Inszenierung / Staging: Yana Ross or the Cat’s Meow Premiere: 11. September 2021, Schiffbau-Halle

Der Besuch der alten Da m Von / By Friedrich Dürrenmatt Inszenierung / Staging: Nicolas Stemann e

Premiere: 17. September 2021, Pfauen Unterstützt von / Supported by Charlotte Kerr-Dürrenmatt-Stiftung & Zürcher Kantonalbank

Before the Sky Falls

Nach / After Macbeth von / by William Shakespeare Inszenierung / Staging: Christiane Jatahy Uraufführung / World premiere: 27. Oktober 2021, Pfauen Eine Produktion des Schauspielhaus Zürich, in Kooperation mit CULTURESCAPES ♥ Affairs

born to shine

Von / By Sebastian Nübling & Ives Thuwis-De Leeuw Inszenierung / Staging: Sebastian Nübling, Ives Thuwis-De Leeuw Zürich-Premiere: 8. November 2021, Schiffbau-Box Koproduktion / A coproduction by junges theater basel mit / with Kaserne Basel, Schauspielhaus Zürich und / and HELLERAU, dem Europäischen Zentrum der Künste in Dresden Unterstützt von / Supported by Komplizen Klub des / of the Schauspielhaus Zürich Auch interessant für Menschen ab 14 / Also interesting for ages 14 and up

2122.schauspielhaus.ch

Von / By Trajal Harrell Inszenierung und Choreografie / Staging and choreography: Trajal Harrell Premiere: 3. Dezember 2021, Schiffbau-Halle

King Lear

Von / By William Shakespeare Inszenierung / Staging: Johan Simons Zürich-Premiere: 8. Dezember 2021, Pfauen Eine Übernahme vom / Transferring from Schauspielhaus Bochum ♥ Affairs

Der Ring des Nibelunge n Von / By Necati Öziri Inszenierung / Staging: Christopher Rüping Uraufführung / World premiere: 21. Januar 2022, Pfauen

Ein neues Stück

Von / By Fatima Moumouni & Laurin Buser Inszenierung / Staging: Suna Gürler Uraufführung / World premiere: Januar 2022, Schiffbau-Box Unterstützt von / Supported by Max Kohler Stiftung & Ernst Göhner Stiftung Auch interessant für Menschen ab 14 / Also interesting for ages 14 and up

Momo

Ein Visual Poem nach dem Roman von / A visual poem based on the novel by Michael Ende Inszenierung / Staging: Alexander Giesche Premiere: Februar 2022, Schiffbau-Halle

Eine neue Inszenierung Inszenierung / Staging: Nicolas Stemann Premiere: Februar 2022, Pfauen

The Deathbed of Katherine Dunham

Von / By Trajal Harrell Inszenierung und Choreografie / Staging and choreography: Trajal Harrell Premiere: März 2022, Kunsthalle Zürich In Kooperation mit / in cooperation with Kunsthalle Zürich The Deathbed of Katherine Dunham ist ein Teil der Trilogie / is part of the trilogy Porca Miseria, beauftragt durch das / commissioned by Schauspielhaus Zürich sowie / and Manchester International Festival, Onassis Stegi, Kampnagel Hamburg, Holland Festival, Barbican, Dance Umbrella, NYU Skirball, Berliner Festspiele & The Arts Center at NYU Abu Dhabi

Moby Dick

Moved by the Motion präsentiert / presents Moby Dick Nach / After: Herman Melville Inszenierung / Staging: Wu Tsang Premiere: März 2022, Pfauen In Kooperation mit dem / In cooperation with the Zürcher Kammerorchester In Koproduktion / In coproduction with deSingel, TBA21-Academy & Luma Foundation

Der Vater

Nach / After August Strindberg Inszenierung / Staging: Nicolas Stemann Zürich-Premiere: April 2022, Pfauen Eine Übernahme der / Transferring from Münchner Kammerspiele

Wilhelm Tell

Nach / After Friedrich Schiller Inszenierung / Staging: Milo Rau Premiere: April 2022, Pfauen Unterstützt von / Supported by Stiftung Corymbo ♥ Affairs

Räuberinnen

Nach / After Die Räuber von Friedrich Schiller Inszenierung / Staging: Leonie Böhm Zürich-Premiere: Frühjahr / Spring 2022 Ein Gastspiel der / A guest performance by Münchner Kammerspiele


SCHAUSPIEL SPIELZEIT 2021/22

Premieren September – Dezember 2021 Land ohne Worte von Dea Loher Regie: Dominic Friedel

11. September 2021

Kill Baby

von Ivana Sokola Uraufführung Regie: Sapir Heller

17. September 2021

Herkunft

CHRRRSCHHHHHH – In den Wald!

Familienstück von Daniel Cremer & Gäng Koproduktion des Schauspiels mit dem Jungen NTM Uraufführung Regie: Daniel Cremer

November 2021

King Kong – Die Last der Träume

nach dem Roman von Saša Stanišić in einer Theaterfassung von Johanna Wehner Regie: Johanna Wehner

Stückentwicklung von Nick Hartnagel, Annabelle Leschke & Yassu Yabara Uraufführung Regie: Nick Hartnagel

18. September 2021

Dezember 2021

Meine geniale Freundin – Teil 2 nach den Romanen von Elena Ferrante Aus dem Italienischen von Karin Krieger Deutsche Erstaufführung Regie: Felicitas Brucker

24. September 2021

body*

Eine theatrale Installation zum Thema »Körper« von und mit dem Mannheimer Stadtensemble mit Texten von Antigone Akgün, Sascha Hargesheimer und Seda Keskinkılıç-Brück Uraufführung Künstlerische Leitung: Beata Anna Schmutz

Oktober 2021

Das Floß der Medusa

nach dem gleichnamigen Roman von Franzobel Ein gemeinsamer Abend von Schauspiel und Tanz Regie: Christian Weise

Dezember 2021

Kartentelefon 0621 1680 150 www.nationaltheater-mannheim.de



* * ZODIAK Free Arts Lab (1967–1969), Hallesches Ufer 32, Berlin

FESTIVAL MUSIK DIALOG INSTALLATION

Mit Hans-Joachim Roedelius, Manuel Göttsching, Günter Schickert, Sven-Åke Johansson, Wolfgang Seidel, Taste Tribes (Alfred Harth, Hans-Joachim Irmler, Günter Müller), Nika Son, Galina Ozeran, Etkin Çekin, Sebastian Lee Philipp, Monika Werkstatt, The Notwist, Die Angel (Schneider TM & Ilpo Väisänen), Christoph Dallach & Andreas Dorau, Valentina Magaletti, Andrea Belfi, Katharina Ernst, Marta Salogni, Air Cushion Finish, Niklas Kraft, Jan Jelinek, Contagious, Datashock, Kulku u.a.

HAU

21.–26.9. / HAU1 ➞ www.hebbel-am-ufer.de


FRÄULEIN JULIE

nach August Strindberg Regie: Timofej Kuljabin

OEDIPUS

von Sophokles Regie: Ulrich Rasche

SPIELZEITSTART 21/22

AUTOR:INNENTHEATERTAGE 2021 MERCEDES

von Thomas Brasch Regie: Charlotte Sprenger

WOYZECK INTERRUPTED

nach Georg Büchner Regie: Amir Reza Koohestani

FRANKENSTEIN

nach Mary Shelley Regie: Jette Steckel

RADAR OST DER IDIOT

nach Fjodor M. Dostojewskij Regie: Sebastian Hartmann

EINSAME MENSCHEN von Gerhart Hauptmann Regie: Daniela Löffner

MICHAEL KOHLHAAS

Talking to Thunder (Palm tree), Julius von Bismarck, 2017

von Heinrich von Kleist Regie: Andreas Kriegenburg deutschestheater.de


DIE DREIGROSCHENOPER von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik) unter Mitarbeit von Elisabeth Hauptmann, Regie: Barrie Kosky, Musikalische Leitung: Adam Benzwi, Premiere: 13.8.2021 SARAH von Scott McClanahan, Regie: Oliver Reese, Uraufführung: 14.8.2021 SCHWARZWASSER von Elfriede Jelinek, Regie: Christina Tscharyiski, Premiere: 18.8.2021 AMOK nach Stefan Zweig, von/mit: Cordelia Wege, Premiere: 1.9.2021 DIE MUTTER nach Bertolt Brecht, Regie: Christina Tscharyiski, Premiere: 10.9.2021 HEXENJAGD von Arthur Miller, Regie: Mateja Koležnik, Premiere: 7.10.2021 ANATOMIE EINES SUIZIDS von Alice Birch, Regie: Nanouk Leopold, Premiere: Ende Oktober 2021 DER WEG ZURÜCK von Dennis Kelly, Regie: David Bösch, Uraufführung: Ende November 2021 DER DIENER ZWEIER HERREN von Carlo Goldoni, Regie: Antú Romero Nunes, Premiere: 4.12.2021 MEIN NAME SEI GANTENBEIN von Max Frisch, Regie: Oliver Reese, Premiere: 14.1.2022 WWW.BERLINER-ENSEMBLE.DE

© Moritz Haase

SPIELZEIT 2021/22 PREMIEREN BIS ENDE JANUAR


editorial

/ TdZ  September 2021  /

P

Jahre

Theater der Zeit

Extra Der Aboauflage liegt bei

Theater der Zeit Spezial Kanada

In eigener Sache Aufgrund der Corona-Pandemie kann es bei der Auslieferung von Theater der Zeit zu Ver­­zöge­rungen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

olitik ist eine viel zu ernste Sache, als dass man sie allein den Männern überlassen könnte.“ Dieser Satz stammt von der SPD-Abgeordneten Käte Strobel, geäußert zu einer Zeit, in der man Frauen im Deutschen Bundestag noch suchen musste. 16 Jahre Merkel-Regierung waren so gesehen ein echter Erfolg. Die Politikmüdigkeit jedoch konnte auch ihre Kanzlerschaft nicht beheben. Etwa ein Viertel aller Wahlberechtigten, so Schätzungen, werden am 26. September nicht zur Wahlurne gehen. Ja, es ist ein Kreuz mit den blumigen Versprechen der Politik. Aber ist diese nicht auch viel zu ernst, als dass man sie sich selbst überlassen sollte? Als Zeitschrift für Theater und Politik finden wir natürlich: Ja. Sie ist viel zu wichtig, als dass man sich klammheimlich davonstehlen dürfte. Für unseren Schwerpunkt zu den Wahlen zum 20. Deutschen Bundestag haben wir daher Stimmen versammelt, die den politischen Schlagabtausch nicht scheuen. So stellt die in Syrien geborene Autorin Luna Ali mit Hannah Arendt im Gepäck gleich mal ein paar Grundsätze unserer repräsentativen Demokratie zur Debatte. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es in unserem Grundgesetz. Was aber, wenn ein nicht geringer Prozentsatz dieses „Volkes“ gar nicht an die Wahlurnen darf? Was ist mit all jenen, die zwar seit Jahren in Deutschland leben, arbeiten und Steuern zahlen, aufgrund ihres Passes im Deutschen Bundestag aber nicht repräsentiert sind? „Wenn die Legitimität einer Demokratie auf dem Wahlrecht beruht“, schreibt Luna Ali, „dann scheint der Ausschluss von circa zwölf Prozent der Bevölkerung ein klares Demokratie­defizit zu sein.“ Eklatante Defizite benennt auch Dresdens Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch im ­Gespräch mit Christine Wahl. Keine der Spitzenparteien verfüge über ein wirklich umfassendes ­Rezept, mit dem die Zukunftsherausforderungen, sei es Klimaschutz oder die soziale Frage, zu ­bewältigen seien, so Klepsch. Hinzu komme eine „derartige Atomisierung von Meinungen“ in der Gesellschaft, dass es nahezu unmöglich geworden sei, zu einem Thema eine größere Gruppe hinter sich zu versammeln. Und wer soll dies alles am Ende kitten? Natürlich: Bildung und Kultur. Eher absurd, findet der Soziologe Aladin El-Mafaalani, mit dem Dorte Lena Eilers über sein Buch „Mythos Bildung“ und die produktive Entzauberung symbolpolitischer Sonntagsreden sprach. Alle Staatsgewalt geht vom Staate aus. Diese Perversion von Herrschaft erleben derzeit die Menschen in Belarus. Nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen im August 2020, den landesweiten Protesten und der brutalen Niederschlagung durch Diktator Lukaschenko befinden sich viele Belarussinnen und Belarussen im Exil. So auch Andrej Kurejtschik, dessen Stück „Die Beleidigten. Belarus(sland)“ wir in diesem Heft drucken. Im Gespräch mit Patrick Wildermann berichtet der ­Autor und Dramatiker von den großen Hoffnungen, die er vor den fingierten Wahlen hegte – und dem großen Entsetzen danach. „Auf der Straße haben sich bürgerkriegsartige Szenen abgespielt, ich hätte nie gedacht, dass so etwas im Europa des 21. Jahrhunderts möglich ist.“ Die großen Verwerfungen im Osten hatte in all den Jahren seiner Volksbühnenintendanz auch Frank Castorf regelmäßig im Auge. Dennoch musste er scheinbar zunächst in die entgegengesetzte Richtung reisen, um unserem Kolumnisten Ralph Hammerthaler in Rom ein Geheimnis zu erzählen – nur so viel sei hier verraten: Um Frauen geht es dabei nicht. Lieber Frank Castorf, wir gratulieren ganz herzlich zum 70. Geburtstag! Einen Meistertitel in Sachen Verschwiegenheit scheint indes auch die Truppe um René Pollesch anstreben zu wollen. Während allerorten die Theater mit ihren Plänen für die kommende Spielzeit auf­warten, wartet man auf Neuigkeiten, den Intendanzneustart der Saison betreffend, vergeblich. Die Volksbühne schweigt – während es hinter den Mauern offenbar brodelt. Einst groß angekündigt, werden die Gesamtkunstwerker Vegard Vinge und Ida Müller nun doch nicht zum Team gehören. Was ist passiert? Tom Mustroph hat recherchiert. Man muss am Ende nicht Corona bemühen, um von den Künstlerinnen und Künstlern zu erzählen, die sich in ihren Arbeiten auf wundersame und wunderbare Weise mit dem menschlichen Körper befassen. Im Kunstinsert porträtiert Sascha Westphal die bildende Künstlerin Mariechen Danz, die sich in ihren Installationen und Performances mit dem Werden und Vergehen des Menschen auseinandersetzt. Heinz-Norbert Jocks erinnert in einem 2011 geführten Interview an den im Juli verstorbenen Meister des Verschwindens Christian Boltanski, während Johannes Odenthal des bereits im Mai verschiedenen Tänzers und Choreografen Raimund Hoghe gedenkt. „Nicht nur Wörter schreiben einen Text“, hatte Hoghe einst erklärt. „Auch Körper erzählen eine Geschichte … Wie Pier Paolo Pasolini sagte: ,Den Körper in den Kampf werfen.‘“ // Die Redaktion

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Inhalt September 2021 thema bundestagswahlen

21

Luna Ali Ein Wahlrecht für alle, überall! Über die fehlenden zwölf Prozent, das unzeitgemäße Konstrukt der Staatsbürgerschaft und die Grenzen der Menschenrechte

24

Mehr Mut zur Kontroverse! Die Dresdner Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Die Linke) über ihre Ratlosigkeit zur bevorstehenden Bundestagswahl, die drohende Atomisierung der Gesellschaft und Kultureinrichtungen als Debattenorte im Gespräch mit Christine Wahl

28

Lasst uns streiten! Der Soziologe und Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani über Irrungen und Wirrungen der Symbolpolitik, fatale Romantisierungen und die Produktivität des Streits im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

14

Mariechen Danz Installationen

18

Sascha Westphal Die Reise beginnt Die Künstlerin Mariechen Danz hinterfragt bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen akademische und gesellschaftliche Gewissheiten

kolumne

33

Ralph Hammerthaler Mmh, Widersprüche Frank Mario Castorf soll ja jetzt siebzig sein

neuerscheinungen theater der zeit buchverlag

39

Wolfgang Engler Die andere Wahrheit

festivals

43

Martin Krumbholz Jenseits des Nagelstudios Nach Monaten der Isolation und Selbstbezüglichkeit sendet das Festival Theater der Welt in Düsseldorf vitale Lebenszeichen aus der internationalen Theaterszene

46

Margarete Affenzeller Menetekel einer destruktiven Gesellschaft Ungeschönt und eindringlich blicken die Wiener Festwochen auf Arbeit, Armut und moderne Sklaverei in einer von Produktivitätssteigerung besessenen Welt

50

Otto Paul Burkhardt Endspiel unter Tage Die Salzburger Festspiele graben mit „Das Bergwerk zu Falun“ in der Regie von Jossi Wieler ein Frühwerk Hugo von Hofmannsthals wieder aus

51

Lara Wenzel Fernbeziehung zum Theater Das Impulse Festival in NRW arbeitet engagiert die Checkliste gesellschaftspolitischer Themen ab – im digitalen Raum wird daraus jedoch leicht konsumierbare Kritik

54

Theresa Schütz Ein Festival für Killjoys Anna Mülter, neue Künstlerische Leiterin der Theaterformen in Hannover, setzt auf Veränderung durch Widerstand – und blockiert sogleich eine ganze Hochstraße

20

künstlerinsert

46



premieren ÖKOZID (UA)

Ein Modellversuch von Andres Veiel & Jutta Doberstein Inszenierung: Burkhard C. Kosminski 24. Sep 21 – Schauspielhaus

AN UND AUS

von Roland Schimmelpfennig Inszenierung: Burkhard C. Kosminski 25. Sep 21 – Schauspielhaus

seuls

von und mit Wajdi Mouawad Eine Produktion des Théâtre national de la Colline Inszenierung: Wajdi Mouawad 09. Okt 21 – Schauspielhaus

ALGO PASÓ (LA ÚLTIMA OBRA)(UA) von Bola de Carne, Thomas Köck, Anna Laner & Andreas Spechtl Inszenierung: Thomas Köck 23. Okt 21 – Kammertheater

AM ENDE LICHt (DSE) von Simon Stephens Inszenierung: Elmar Goerden 13. Nov 21 – Schauspielhaus

ROBIN HOOD

Familienstück für alle ab 6 Jahren Inszenierung: Corinna von Rad 28. Nov 21 – Schauspielhaus

FLY GANYMED (DE)

von Paulus Hochgatterer Inszenierung & Puppenspiel: Nikolaus Habjan 15. Jan 22 – kammertheater

Verbrennungen

von Wajdi Mouawad Inszenierung: Burkhard C. Kosminski 22. Jan 22 – Schauspielhaus

ANNETTe, EIN HELDINNENEPOS (UA)

von Anne Weber Inszenierung: Dušan David Pařízek 18. Feb 22 – Schauspielhaus

Waste! (UA)

von Gianina Cǎrbunariu Inszenierung: Gianina Cǎrbunariu 12. Mär 22 – Kammertheater

FABIAN Oder der Gang vor die Hunde von Erich Kästner Inszenierung: Viktor Bodó 19. Mär 22 – Schauspielhaus

lorbeer grüner noch (ua)

von Enis Maci Inszenierung: Franz-Xaver Mayr 07. Mai 22 – Kammertheater

MARIA STUART

von Friedrich Schiller Inszenierung: Rebecca Frecknall 14. Mai 22 – schauspielhaus

SCHULD UND SÜHNE von Fjodor Dostojewski Inszenierung: Oliver Frljić 18. Jun 22 – Schauspielhaus

Echt Schmidt

Show-Reihe der ehrlichen Worte mit Entertainer Harald Schmidt Schauspielhaus

Koproduk tionen

FAMILIE

von Milo Rau & Ensemble Eine Produktion des NTGent Inszenierung: Milo Rau Frühjahr 22 – Schauspielhaus

Pigs (UA)

Ein interaktives Rollenspiel Eine Produktion der Münchner Kammerspiele von Miriam Tscholl Frühjahr 22 – KAMMERTHEATER

DER UNTERGANG DER TITANIC

von Hans Magnus Enzensberger Eine Koproduktion mit der HMDK Stuttgart Inszenierung: Nick Hartnagel NORD

Unsere Welt neu denken

Ein Open-Source-Theater-Projekt nach dem Buch der Transformationsforscherin Maja Göpel Konzept: Simon Solberg

KOLLEKTION (UA)

Grand ReporTERRE #4: Energie ist alles – alles ist Energie. von Citizen.KANE.Kollektiv kammertheater

Odyssey. A Story for Hollywood

Inszenierung: Krzysztof Warlikowski Eine Produktion des Nowy Teatr, Warschau Frühjahr 22 – Schauspielhaus


inhalt

/ TdZ  September 2021  /

festivals

57

Sascha Westphal Zwei Revolver und eine Handvoll Kritik Das africologne Festival in Köln stößt seit zehn Jahren Diskussionen über neokoloniale Verhältnisse an, um Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen

59

Elisabeth Maier Wanderer im Nebel Die Landesbühnentage in Schwedt zeigen ein lebendiges Programm in voller Präsenz – Zukunftssorgen gibt es dennoch

protagonisten

68

Dorte Lena Eilers Das Jahr des Eismanns Raus aus dem Schneckenhaus des Ichs – Neue Romane von Ferdinand Schmalz, Roland Schimmelpfennig, Rebekka Kricheldorf und Michel Decar

kommentar

74

Tom Mustroph Rückwärts nimmer? Coming soon, aber ohne Ida Müller und Vegard Vinge – Die Berliner Volksbühne gibt unmittelbar vor dem Neustart unter René Pollesch Rätsel auf

abschied

76

Johannes Odenthal Die Behauptung einer anderen Schönheit Ein Nachruf auf den Schriftsteller, Tänzer und Choreografen Raimund Hoghe

78

Heinz-Norbert Jocks Mit jedem Herzschlag dem Tod ein bisschen näher Der bildende Künstler Christian Boltanski (1944–2021) über das Spiel mit dem Verschwinden. Ein Wiederabdruck in Gedenken an einen großen Spurensucher

86

Mein Anwalt sagte: Du solltest sofort gehen! Der Dramatiker Andrej Kurejtschik über die Situation in Belarus, sein Leben im Exil und sein Stück „Die Beleidigten. Belarus(sland)“ im Gespräch mit Patrick Wildermann

88

Andrej Kurejtschik Die Beleidigten. Belarus(sland)

stück

magazin

100

Ode an das Objekt Das CircusDanceFestival Köln versteht sich als Motor für die Entwicklung des zeitgenössischen Zirkus Verschmelzung im Hybriden Das Hildesheimer TranseuropaFestival zeigt sich wegweisend für die performativen Künste Ein Angriff auf Augen und Ohren Das Theaterfestival im italienischen Santarcangelo erfindet sich immer wieder neu Die Kunst der Montage Thomas Köck erhält für „Atlas“ den Hörspielpreis der Kriegsblinden Die Schönheit im Scheitern Zum Tod des Regisseurs Jarg Pataki Visionär der Textergründung Ein Nachruf auf den Regisseur Rolf Winkelgrund Chronist einer Opernepoche Im Gedenken an den Theater-der-Zeit-Redakteur Wolfgang Lange Bücher Stefan Tigges, Rudolf Rach

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Meldungen

112

Premieren im September 2021

115

Autoren, Impressum, Vorschau

116

Ulrich Matthes im Gespräch mit Patrick Wildermann

100

aktuell

was macht das theater?

74

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PREMIEREN

2021_22

GROSSES HAUS DAS WUNDER VON MAILAND / Theaterfassung nach dem Film von Vittorio De Sica / 16.10.2021 RAPUNZEL / Weihnachtsmärchen nach den Gebrüdern Grimm / Ab 5 Jahren / 20.11.2021 DIE AFFÄRE RUE DE LOURCINE / Komödie von Eugène Labiche / 15.01.2022 DER KIRSCHGARTEN / Schauspiel von Anton Tschechow / 12.03.2022 MERLIN ODER DAS WÜSTE LAND / Text von Tankred Dorst / Mitarbeit Ursula Ehler / Musik von Henry Purcell / 30.04.2022

ATELIERTHEATER DIE POLITIKER / FRAUEN IM PARLAMENT / Szenisches Langgedicht von Wolfram Lotz / Schauspiel von Sören Hornung nach Aristophanes / Koproduktion mit der hmt Rostock / 23.10.2021 FRÄULEIN JULIE / Schauspiel von August Strindberg / 05.11.2021 DIE MARQUISE VON O. / Nach der Novelle von Heinrich von Kleist / November 2021 FRIVOLE LIEDER (Arbeitstitel) / Ein unberechenbarer Liederabend / 08.01.2022 DER TRAUM EINES LÄCHERLICHEN MENSCHEN / Theaterabend nach Fjodor M. Dostojewski / 08.01.2022 KUNST / Komödie von Yasmina Reza / 07.05.2022 DER KLEINE PRINZ / Schauspiel nach Antoine de Saint-Exupéry / Ab 6 Jahren

KLEINE KOMÖDIE WARNEMÜNDE OFFENE ZWEIERBEZIEHUNG / Komödie von Franca Rame & Dario Fo / 11.09.2021 SO KLINGT DER CLOWN (Arbeitstitel) / Musikalische Zeitreisen / Folge 5 / Mit Frank Buchwald & John R. Carlson / 13.03.2022 DIE KUH ROSMARIE / Familienstück von Andri Beyeler / Ab 5 Jahren / Mai/Juni 2022 / auch mobil www.volkstheater-rostock.de

Illustration: Cindy Schmid


DIE SINNE SPIELEN


Mariechen Danz: „Clouded in Veins“ (Ausstellungsansichten), Kunsthalle Recklinghausen. Fotos Roman März




Installationen von Mariechen Danz: Ore Oral Orientation, 2017, 57. La Biennale di Venezia (rechts oben); Heart (fossil/ copper), 2018, Ore Oral Orientation feat. OOO : modular mapping system, in cooperation with Genghis Khan Fabrication Co. (links oben); Of Scream Of Stone (womb tomb), 2016, Polyphonies Centre Pompidou (Videostill, links unten). Alle Abbildungen Courtesy Mariechen Danz / Wentrup Gallery. Fotos Roman März (rechts oben) / Trevor Good (links oben)


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künstlerinsert

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Die Reise beginnt Die Künstlerin Mariechen Danz hinterfragt bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen akademische und gesellschaftliche Gewissheiten von Sascha Westphal

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ow to know?“ Wieder und wieder intoniert die Künstlerin und Performerin Mariechen Danz diese drei Worte, während sie den Raum um sich herum abschreitet. In ihrem weiten, mit ebenso vielfältigen wie vielfarbigen Bildern und Symbolen übersäten Gewand schreitet sie durch einen seltsam zeit-losen Raum. Sie hat dabei zweifellos etwas von einer archaischen Priesterin oder Schamanin. Vor allem ihr gleichförmiger und doch un­ geheuer ausdrucksstarker Sprechgesang verleiht der Situation einen rituellen, beschwörenden Charakter. Nur lässt sich die ­Frage, was die 1980 in Dublin geborene und mittlerweile in ­Berlin lebende Künstlerin in dieser und anderen Performances beschwört, kaum beantworten. Im Gespräch erzählt Mariechen Danz, dass sie in letzter Zeit häufig nach den rituellen und schamanistischen Aspekten ihrer Werke befragt wurde. Und ihr Tonfall deutet an, dass sie das nicht unbedingt erfreut. Eine Erklärung hat sie dafür auch: das Beuys-Jahr. Die Beschäftigung mit Beuys und seinen anthroposophischen Ideen hinterlässt gegenwärtig deutliche Spuren im Sprechen über zeitgenössische Kunst. Aber sie führt auch auf falsche Fährten. Eine davon ist der durchaus naheliegende Gedanke, Danz’ Performances erst einmal als Rituale und als persönliche Kunstriten zu lesen. Natürlich haben sie entsprechende Aspekte, deren sie sich auch bewusst ist. „Aber es gibt einen Unterschied zwischen Gesten, die wie alles Rituelle referenziell sind, und Gesten, die elementar sind“, erklärt sie und fügt noch hinzu: „Mich interessiert, was mit einer Geste passiert.“ So gab es in einer ihrer Performances einmal einen Moment, in dem sie einem der anderen Performer immer wieder auf die Brust geschlagen hat, woraufhin der einen archaisch klingenden Laut von sich gab. Die Geste des Schlagens auf die Brust lässt sich auf viele verschiedene Arten interpretieren. Aber im Rahmen der Performance stand sie für nichts anderes. Sie war schlicht notwendig, um ihrem Mit-Performer zu helfen, genau jenen Ton zu erzeugen. Der Wunsch, alles zu verstehen und zu durchschauen, ist tief in das menschliche Bewusstsein und Denken eingeschrieben, so tief, dass wir ihn nur selten hinterfragen. Diesem BeinaheAutomatismus, der gerade auch unsere Rezeption von Kunst lenkt, setzt Mariechen Danz eine andere Sehnsucht entgegen, die sie so formuliert: „Die Sache selbst sein, nicht darüber reden, nicht so tun, als ob.“

Für das Publikum, das ihre im Rahmen der 75. Ruhrfestspiele eröffnete Einzelausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen ­ ­besucht hat, bedeutete das vor allem, sich einen offenen Blick zu bewahren. Über drei Etagen erstreckte sich „Clouded in Veins“, so der zuvor schon mehrfach in ihrem Werk verwandte Titel der Ausstellung, und glich damit einer Einladung zu einer Reise durch eine von Danz erschaffene Welt. Diese Welt verbindet zwar viel mit unserer alltäglichen Wirklichkeit. Aber sie kehrt deren Inneres teils sogar im wörtlichen Sinn nach außen, bis gesichert erscheinendes Wissen wieder frag-würdig wird. Die Reise beginnt in einem Raum mit einem Feld aus 2000 handgefertigten, gebrannten Ziegelsteinen, aus dem sich ein riesiger Sextant erhebt. Die Ziegel, in die Fußabdrücke, Symbole und Abbildungen von Organen oder auch von Knochen und Wirbeln eingeprägt sind, erinnern an eine antike Ausgrabungsstätte. Aber die Spuren führen ins Nichts. Die Piktogramme ergeben keine Sprache, die sich entschlüsseln ließe. Wie sehr man sich auch in die Muster vertieft, sie bleiben ganz im Sinne von Danz sie selbst. Das gilt auch für den neben dem Ziegelfeld aufgebahrten Körper, einen von Danz’ „Womb Tombs“, lebensgroße durchscheinende Skulpturen aus Glasfaser und Harz, in deren unteren Schichten auf Wärme reagierende Farben eingelagert sind. Normalerweise dürften die Besucher die Skulpturen anfassen, sodass sich durch die übertragene Körperwärme deren Farbe verändert. Doch das war in Recklinghausen aufgrund der Pandemie leider nicht realisierbar. Denn die Möglichkeit, Kunstwerke nicht einfach nur zu betrachten, sondern sie tatsächlich anzufassen und damit auf eine ganz direkte Weise zu erleben, ist ein zentraler Aspekt von Danz’ Schaffen. „Die Figur stagniert in einem permanenten Prozess des Werdens, sie kommt nie an, sie ist nicht tot, aber auch nicht lebendig.“ So beschreibt Mariechen Danz die „Womb Tomb“-Skulptur im Gespräch. Dieser Zustand des permanenten Dazwischen verweist dabei zugleich auf ihre Sicht der Welt und des Menschen. In ihrer Vorstellung ist nichts Abgeschlossenes. Der Mensch und sein Wissen befinden sich in einem permanenten Prozess des Werdens und des wieder Verschwindens. Genau darauf bezieht sich auch die Frage „How to know?“, die sie nahezu in all ihren Performances singt. Wobei schon ihre vielfache Wiederholung eine erste Antwort gibt. „Bewegt man sich weg von der geschriebenen Sprache, kommt man zu der Frage, welche anderen Hilfsmittel es für die Weitergabe von Wissen gibt“, erklärt sie und führt weiter aus: „Melodien und Wiederholungen gehören zu diesen


Mariechen Danz in „Ore Oral Orientation“, 2017, 57. La Biennale di Venezia (Videostill). Courtesy Mariechen Danz / Wentrup Gallery

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Hilfsmitteln. Durch sie können Informationen nicht nur weiter­ gegeben, sondern im Denken und Erinnern verankert werden.“ Was Mariechen Danz im Denken und Erinnern verankern möchte, zeigt sich dann in der zweiten und dritten Etage der Kunsthalle. Den zweiten Raum dominieren kleine, an Drähten befestigte Modelle von Organen, die aus den Wänden heraus­ zuwachsen scheinen. Wie die „Common Carrier Cases“, kopflose Stoffkörper, deren Oberflächen mit Darstellungen von Organen, Schriftzeichen und Symbolen bedruckt sind, verweisen auch die teils weingummibunten Organ-Replikate auf unser Wissen, Halbwissen und Nichtwissen über den menschlichen Körper und sein Inneres. Manche der Organe erkennt man sofort, andere stellen einen vor Rätsel. In den Exponaten treffen zudem Darstellungen des Körpers aus unterschiedlichsten Kulturkreisen und Epochen aufeinander. So wird aus einer historischen Abfolge, in der das Wissen früherer Generationen und anderer Kulturen immer wieder durch die gerade dominanten Betrachtungsweisen verdrängt wurde, ein Nebeneinander gleichberechtigter Systeme. Wissen ist niemals etwas Objektives. Davon ist Mariechen Danz fest überzeugt. Deshalb wünscht sie sich, dass jede Information, die man erhält, erst einmal zwei Fragen provoziert: „Wer hat es dir erzählt? Wo wurde es erzählt?“ Diese Fragen sind Teil eines großen Projekts, das sie im Gespräch so beschreibt: „Ich möchte unsere Orientierung von Nord, Süd, Ost und West auseinandernehmen und die ihr eingeschriebenen Hierarchien auflösen.“ Dieser postkoloniale Gedanke ihres Werks beherrscht den dritten Raum von „Clouded in Veins“, die letzte Station dieser Ausstellung gewordenen Reise. Von der Decke hängen an korrodierten Stahlrahmen befestigte Aluminiumplatten herab. Jede dieser Platten wurde individuell gestanzt und wird so zu einer übergroßen Platine, die bewusst auf Komponenten digitaler Geräte anspielt. Auch auf diesen Platinen ist Wissen gespeichert, aber in einer anderen Form. Mariechen Danz hat mehrere von ihnen mit Weltkarten aus verschiedenen Zeiten bedruckt. Nicht nur unsere

Mariechen Danz wurde 1980 in Dublin, Irland, geboren. Sie studierte an der Universität der Künste in Berlin, an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam und am California Institute of the Arts. Mit ihren Skulpturen, Bildern, Kostümen, Installationen und Performances war die bildende Künstlerin u. a. bei den Biennalen von Venedig und Istanbul, im Haus der Kunst (München), im MAK Museum für angewandte Kunst (Wien), im Centre Pompidou ­ ­(Paris), im Kunsthaus Bregenz, im New Museum (New York), im CAN Centre d’art Neuchâtel und im Palais de Tokyo (Paris) mit Einzel- oder Gruppenausstellungen zu Gast. Im Rahmen der diesjährigen 75. Ruhrfestspiele war ihre große Werkschau „Clouded in Veins“ in der Kunsthalle Recklinghausen zu sehen. Heute lebt und arbeitet Mariechen Danz in Berlin.

Vorstellungen vom menschlichen Körper unterliegen einem ständigen Wandel. Auch das Bild, das wir uns von der Erde machen, ist abhängig davon, wo und wann es entstanden ist und wer es kreiert hat. Das, was einmal sicher und erwiesen schien, kann durchaus auf falschen Voraussetzungen basieren. Davon zeugt der Wandel der Weltkarten. „In der Regel kommt der Mensch nicht aus seiner Konditionierung, seinem Denken, heraus“, sagt Mariechen Danz, die, wie sie erzählt, diese Erfahrung selbst während ihres Studiums am California Institute of the Arts gemacht hat. Nach der Lektüre von Walter D. Mignolos „The Darker Side of the Renaissance“ wollte sie sich von ihren bisherigen Denkmustern und Herangehensweisen komplett lösen. Doch letztlich ist sie in ihnen gefangen geblieben. Ihre Werke, die Platinen und die „Womb Tombs“, die aus den Wänden wuchernden Organe und die Performances, reflektieren unsere Konditionierungen und brechen sie zumindest ein Stück weit auf. Natürlich können wir nicht alles verlernen, was unser gegenwärtiges Wissen ausmacht, und wir sollten es auch nicht. Aber Mariechen Danz’ Kunst kann uns lehren, dass dieses Wissen nicht alles ist. //


Am 26. September 2021 wird in Deutschland gewählt. 16 Jahre Merkel-Regierung gehen damit zu Ende. Eine Ära voll Höhen und Tiefen. Wer aber wählt unseren 20. Deutschen Bundestag? Den zwölf Prozent Nichtdeutschen jedenfalls, die teils schon lange hier leben, arbeiten und Steuern zahlen, ist das Wahlrecht verwehrt. Die in Syrien geborene Autorin Luna Ali fordert mit Hannah Arendt im Gepäck eine Reform. Mit Dresdens Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch und dem Soziologen Aladin El-Mafaalani durchforsten wir zudem die politische Landschaft nach falschen Versprechen und produktiven Ideen.

Jonas Staal: „New World Summit“ (2012, Sophiensaele / 7. Berlin Biennale). Grafik Paul Kuipers und Jonas Staal

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Ein Wahlrecht für alle, überall! Über die fehlenden zwölf Prozent, das unzeitgemäße Konstrukt der Staatsbürgerschaft und die Grenzen der Menschenrechte

von Luna Ali Wer deutsch ist, ist wahlberechtigt Der Vorstellung nach, dass Gemeindevolk nicht gleich Staatsvolk sei, wagten 1989 das Bundesland Schleswig-Holstein und die Hansestadt Hamburg den Versuch, das Kommunalwahlrecht für Menschen ohne deutschen Pass zu erweitern. Dieses demokratische Vorhaben wurde ihnen vom Bundesverfassungsgericht mit der Begründung untersagt, dass das Grundgesetz mit der Formulierung „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ nur das deutsche Volk meine. Nehmen wir also das deutsche Volk unter die Lupe. In der Fremde Ich hatte einst ein schönes Vaterland. Der Eichenbaum Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft. Es war ein Traum. Das küsste mich auf deutsch und sprach auf deutsch (Man glaubt es kaum, Wie gut es klang) das Wort: Ich liebe dich! Es war ein Traum. Was nach verkitschter Vaterlandsliebe klingt, wurde 1833 von Heinrich Heine geschrieben und hundert Jahre später 1933 als Titelseite der Prager GOLUS – Zeitschrift für Jüdische Emigration abgedruckt. „Golus“ bedeutet auf Hebräisch Verbannung, Exil. Wie konnte Heine trotz seiner Verbannung und seiner oftmals zynischen Beschreibungen der deutschen Verhältnisse ein solches Gedicht schreiben? Und wie konnte es sein, dass deutsche Juden und Jüdinnen sich darin widergespiegelt sahen? Es scheint absurd, Sehnsucht nach einer Heimat zu haben, die einen verstoßen hat, ja, danach trachtet, einen zu vernichten. Dennoch gründeten

zahlreiche exilierte deutsche Autor:innen in den 1930er/40er Jahren in den Vereinigten Staaten und Lateinamerika Heinrich-HeineClubs. Sie sahen in ihm einen Propheten. In ihrer Abschiedsrede vom Heinrich-Heine-Club in Mexiko schrieb Anna Seghers: „Man möchte für immer so tief wie möglich in allen Herzen das Vermächtnis des Mannes verwurzeln, von dem man daheim gesagt hat: Der große Deutsche und der kranke Jude … Er war der Schutzpatron unserer Gemeinschaft in diesem seltsamen Land, in das wir auf unseren Irrfahrten verschlagen wurden. … Wir haben uns, wenn uns das Heimweh gar zu stark überkam, von seiner spöttischen Trauer trösten lassen: dieselben Sterne werden als Todeslampen über unseren Gräbern schweben, am Rhein oder unter Palmen, auch wenn man kein Requiem betet und kein Kaddisch sagen wird.“ In diesen Worten spiegelt sich der Wunsch wider, die Heimat nicht kampflos verloren zu geben oder wie Seghers selbst schrieb: „Wir haben wie er versucht, an Werten aus unserer Heimat festzuhalten.“ Hier scheint für mich ein Gedanke aufzuleuchten: Könnte die Ambivalenz von Zugehörigkeit und Heimatlosigkeit Teil „deutscher“ Werte sein? Man kann Seghers’ Worte nur nachvollziehen, wenn man Exil als politische Strafe versteht. Die exilierten Autor:innen und die zahlreichen Flüchtlinge von damals wurden zu Grenzgänger:innen, nicht nur von territorialen Grenzen, sondern auch von Begriffen und Konstruktionen. Im Zuge dieser Geschichte scheint die Auslegung des Bundes­ gerichtshofs, die Interpretation des Konstrukts „Volk“ als „deutsches Volk“, fragwürdig. Die Existenz exilierter deutscher Autor:innen, Künstler:innen, Schauspieler:innen während des Zweiten Weltkriegs zeigt die Fragilität und Fluidität von „Heimat“ und „Exil“ auf oder wie Hannah Arendt sogar behauptete: den Niedergang des Nationalstaats, der Staatsbürgerschaft und damit

Unseren Schwerpunkt zur Bundestagswahl begleitet ein Fotoessay mit Arbeiten des bildenden Künstlers Jonas Staal, der sich in zahl­ reichen internationalen Projekten mit dem Verhältnis von Kunst, Propaganda und Demokratie beschäftigt.

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auch der Menschenrechte. Das ist Teil der Geschichte des deutschen Volkes. Wenn wir also das Wahlrecht verstehen möchten, kommen wir nicht umhin, über die Entstehung von Geflüchteten und Staatenlosen zu sprechen.

Wie Staatsangehörigkeit Staatenlosigkeit schafft Für Arendt waren die Flüchtlinge von damals die „Avantgarde ihrer Völker“, weil die Geschichte für sie „kein Buch mit sieben Siegeln“ mehr sei. Für die Flüchtlinge sei offenkundig, was für Staats­ bürger:innen unverständlich sei: „Als Flüchtlinge hatten bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner radikalen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen Auffassungen. Mit uns hat sich der Begriff des ‚Flüchtlings‘ gewandelt. ‚Flüchtlinge‘ sind heute jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen und auf die Hilfe von Flüchtlingskomitees angewiesen zu sein.“ Damit rückt sie den Blick weg von den berühmten und ­romantisch verklärten Exilant:innen hin zur plötzlichen Staaten­ losigkeit von Millionen von Menschen. Dieser Umstand zeigt für Arendt, dass die Erklärung der Menschenrechte von der falschen Prämisse ausginge, alle Menschen seien von Geburt an gleich, mehr noch: die Menschenrechte seien als naturgegeben anzusehen: „Gleichheit ist nicht gegeben, und als Gleiche nur sind wir Produkt menschlichen Handelns. Gleiche werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns Kraft unserer eigenen Entscheidung gleiche Rechte garantieren.“ Das Erstarken des Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg führte ihrer Meinung nach dazu, dass „nur diejenigen als vollgültige Bürger in den Staatsverband aufgenommen werden sollten, die durch Abstammung und Geburt dem als wesentlich homogen angenommenen K ­ örper der Nation zugehörten. Dadurch aber wurde der Staat bis zu einem gewissen Grade aus einem gesetzgebenden und Gesetzlichkeit schützenden Apparat zu einem Instrument der Nation. Die ­Nation setzte sich an die Stelle des Gesetzes.“ In diesem Sinne kann die Absage des Bundesgerichtshofs, ausländische Bewohner:innen in Bezug auf das Wahlrecht gleichzustellen, als eine explizite Manifestierung der Ungleichheit ge­ lesen werden. Damit hält der Bundesgerichtshof an einer antiquierten Vorstellung von Nation fest. Das Wort Nation (lt. natio) bedeutet Geburt, trägt aber auch die Bedeutung des Volksstammes in sich, also aller Personen, die aufgrund ihrer Abstammung die gleiche Sprache, Kultur und Sitten teilen. Ein Mensch wird zwar nackt geboren, er wird aber in einen Kontext hinein geboren, eben in diese Sprache, Kultur und Sitten. Ihm diesen Kontext zu entziehen, heißt, ihm den Boden unter den Füßen zu nehmen. Damit wird klar, was Thomas Mann einmal meinte, als er sagte, der Verlust der Heimat komme dem Verlust der bürgerlichen Existenz gleich. Der Staat wird durch die Idee der Nation, also der Übereinstimmung eines Volkes mit dem Staatsgebiet durch die Abgrenzung nach außen (aber auch nach innen, zum Beispiel gegenüber Minderheiten), als Nation gefestigt, schafft damit aber erst Ille­ gale, Flüchtlinge und Staatenlose. Wer, wenn nicht der deutsche Staat war das Exempel eben dieses Prozesses. Hannah Arendt

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analysiert am deutschen Staat beispielhaft, wie die Nation die Funktion des Staates als Beschützer seiner Bewohner:innen korrumpiert. Mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft und damit aller Rechte blieb den deutschen Flüchtlingen der Zugang zu den Menschenrechten verwehrt. Damit sind die Menschenrechte nichts weiter als Bürger:innenrechte, damals Reichsbürger:innenrechte. Nur wer Bürger:in ist, also anerkannt gebürtig und vom eigenen Staat (ideologisch und real) nicht verstoßen wird, genießt das Recht, Rechte zu haben (Arendt). Um diesem Dilemma Herr zu werden, hat Giorgio Agamben ganz richtig festgestellt, wird ­Migration in Lagern lokalisiert. In Frankreich waren es damals die Lager für Ausländer:innen, in denen Hannah Arendt und Walter Benjamin inhaftiert waren, heute sind es Asylbewer­ber:in­nen­ heime.

Von der Ausnahme her denken Das Paradoxe an dieser Vorgehensweise ist ihre Wechselwirkung: Die Grenze schafft die Identität, die die Grenze schafft. Aber wenn Grenzen Identitäten schaffen, so lässt sich auch festhalten, dass ­diese im Begriff sind, langsam aufzuweichen. Zugehörigkeit wird mehr und mehr zur Empfindungsfrage. Die Möglichkeit zur Einbürgerung, auch ironischerweise Naturalisierung genannt, wurde im Zuge der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 ausgeweitet: weg vom Blutrecht hin zu einem Geburtsprinzip, eine erstmalige und weitgehende Hinnahme doppelter Staatsbürgerschaft und Lockerungen in der Anspruchseinbürgerung. Globalisierung, soziale Medien und Deterritorialisierung von Grenzen führen also nicht nur zu einer individuellen Verschiebung, zu einer gefühlten Subjektivierung von Grenzen, sondern auch zu einer strukturellen. Für jemanden mit einem deutschen Pass und einer gewissen wirtschaftlichen Kraft scheinen die Grenzen fast unsichtbar zu sein. Für einen Staatenlosen fangen sie hingegen vor der Haustür an, manchmal verläuft die Grenze auch durch den eigenen Körper. Bevor wir also die Menschenrechte als „Inbegriff eines heuchlerischen oder schwachsinnigen Idealismus“, wie Arendt und zahlreiche Aktivist:innen diverser Kriegs­ gebiete sie derzeit bezeichnen, abtun, drehen wir die Flüchtlingsfrage zugunsten des Wahlrechts um. Will heißen: Staatenlose, Flüchtlinge, Nicht-Bürger:innen, die circa elf Millionen Ausländer:innen in Deutschland, denen das Recht vorenthalten wird, wie EU-­ Bürger:in­nen zumindest auf kommunaler Ebene am politischen Entscheidungsprozess teilzunehmen, sie werden nicht alle verschwin­den. Im Gegenteil, solange es einen Nationalstaat gibt, wird es Illegalität, Vorenthaltung von Rechten und Beschränkungen von Mobilität geben. Die einzige Lösung ist, wie sie auch ­Walter Benjamin einst vorschlug, die Geschichte aus Sicht der Unterdrückten zu betrachten, das heißt, die Ausnahme zur Regel zu machen: Unser Gedankenexperiment wäre demnach, kurzerhand aus allen Staatsbürger:innen Flüchtlinge zu machen.

Wir sind nicht alle – es fehlen die Ausländer:innen Interessant ist, dass Hannah Arendt schon vor mehr als sechzig Jahren die aktuelle Situation von Flüchtlingen wiedergeben konnte, aber auch eine mögliche Lösung vorschlug, die nun


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technisch möglich wäre: die Bildung von Gemeinschaften, die nicht territorial festgelegt sind. Wenn wir diesen Gedanken ernst nehmen und ihn weiterdenken, bedeutet er nicht nur, Freizügigkeit für alle Menschen überall zugänglich zu machen, sondern auch politische Rechte. Längst leben unter uns gobal and digital nomads, die sich ihre nationale Zugehörigkeit und damit auch politische Gemeinschaft aussuchen, je nachdem, ob sie zu ihren Bedürfnissen passen. Das Internet und vor allem die sozialen Medien könnten durchaus diesen Prozess emanzipatorisch begleiten. Entscheidungen würden über Ländergrenzen hinweg gefällt werden, gleichzeitig würden lokale Angelegenheiten von Nicht-Bürger:innen mitentschieden werden. Es ist, was bereits durch den Vertrag von Maastricht 1992 für EU-Bürger:innen möglich gemacht wurde: EU-Bürger:innen genießen in der EU eine weitestgehende Freizügigkeit, die freie Wahl des Wohnortes, ein aktives und passives Wahlrecht auf kommunaler Ebene, die gleichen Arbeitsrechte und den Zugang zur Sozialversicherung des jeweiligen Landes. Gerade dieser Umstand macht nur allzu deutlich, dass die Staatsangehörigkeit und das Wahlrecht aneinanderzukoppeln, wie es der Bundesgerichtshof tat, bereits damals eine überholte Vorstellung war.

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Jonas Staal: „New World Summit“ (2012, Sophiensaele / 7. Berlin Biennale). Foto Lidia Rossner

Wenn die Legitimität einer Demokratie auf dem Wahlrecht beruht, dann erscheint der Ausschluss von zirka zwölf Prozent der Bevölkerung ein klares Demokratiedefizit zu sein. Ausländer:innen machen in den deutschen Städten sogar fast dreißig Prozent der ­Bevölkerung aus. Aber machen wir uns nichts vor, Teil dieses ­Demokratiedefizits ist auch die Tatsache, dass seit 2000 mehr als 40 000 Menschen auf der Flucht nach Europa starben. Dass der wirtschaftliche Einfluss Europas Lebensgrundlagen in Afrika und im Nahen Osten zerstört und eine Kolonialgeschichte hat, die ­ihresgleichen sucht. Wo Menschen noch um das Wahlrecht ringen, ringen sie auch um eine wirtschaftliche und politische Dekoloniali­ sierung. Wenn es also um ein Wahlrecht für Ausländer:innen geht, kann es nicht nur um jene gehen, die es bereits nach Deutschland geschafft haben. Die Losung kann nur heißen: Ein Wahlrecht für alle, überall! //

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Mehr Mut zur Kontroverse! Die Dresdner Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Die Linke) über ihre Ratlosigkeit zur bevorstehenden Bundestagswahl, die drohende Atomisierung der Gesellschaft und Kultureinrichtungen als Debattenorte

von Christine Wahl


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rau Klepsch, am 26. September wird ein neuer Bundestag gewählt. Wie lautet Ihre Prognose? Ich habe keine. Ich schaue eher etwas ratlos auf das personelle Angebot. Inwiefern? Es liegt ja auf der Hand, dass von den drei Kanzlerkandidat:innen niemand der oder die Kandidat:in der Herzen ist. Ich gehe nach der Wahl von sehr schwierigen Koalitionsverhandlungen aus, weil es eben keine große, eineindeutige Mehrheit gibt, sondern vermutlich eher auf eine Dreierkonstellation hinausläuft. Wen hätten Sie sich denn anstelle von Armin Laschet für die CDU, Annalena Baerbock für die Grünen und Olaf Scholz für die SPD als jeweilige Spitzenkandidatinnen beziehungsweise -kandidaten gewünscht? Am Ende werden ja Parteien gewählt und nicht Personen. Aber zumindest muss man konstatieren, dass keine der Parteien und Kandidat:innen über ein wirklich umfassendes Rezept verfügt, die Zukunftsherausforderungen zu bewältigen, sei es bezüglich des Klimaschutzes oder der sozialen Fragen.

Sicht als Kulturbürgermeisterin der Stadt Dresden in puncto ­Dialog spielen? Die Kunst selbst ist natürlich zunächst erst einmal frei. Aber Kultur­ einrichtungen – vor allem diejenigen, die öffentlich getragen oder gefördert sind – haben meines Erachtens die Aufgabe, auch Orte des Diskurses für die Verhandlung über Gesellschaft zu sein, also bestimmte Themen zu setzen und dabei kontroversen Positionen ein Podium zu bieten. Insofern ist Kultur tatsächlich – wir haben ja im vergangenen Jahr die Auseinandersetzung um diese Frage erlebt – systemrelevant: für die Selbstvergewisserung einer Gesellschaft über ihr Zusammenleben und ihre Zukunftsgestaltung. Annekatrin Klepsch, geboren 1977 in Dresden, ist seit 2015 Beigeordnete für Kultur und Tourismus der Landeshauptstadt Dresden. Sie studierte Theaterwissenschaft, Kulturwissenschaften und Soziologie an den Universitäten in Leipzig und Wien. Im Anschluss daran arbeitete sie in redaktionellen und verlegerischen Bereichen sowie als Dramaturgie-Assistentin am Berliner Ensemble und als Projek­ t­ leiterin beim Roten Baum e. V. 2009 wurde sie in den Dresdner Stadtrat gewählt und zog in den Sächsischen Landtag ein. Kraft ihres Amtes setzt sie sich für Kinder- und Jugendhilfe sowie für

Wie sieht es denn in dieser Hinsicht mit Ihrer Partei aus – der Linken, die zum Zeitpunkt unseres Gesprächs, sechs Wochen vor der Bundestagswahl, in Umfragen bei 6,6 Prozent liegt? Naturgemäß traue ich dieser natürlich viel zu, insbesondere was soziale Fragen betrifft. Dennoch: Ich glaube, die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind so komplex, dass es erstens keine einfachen Antworten gibt und zweitens immer schwieriger wird, Mehrheiten zu finden und Konsens herzustellen für die Lösung der anstehenden Probleme. Die Schwierigkeiten existieren nicht nur gesamtgesellschaftlich und zwischen verschiedenen Fraktionen, sondern auch, gerade im linken Spektrum, innerhalb der Parteien selbst – bei Ihnen genauso wie in der SPD: Es gibt einen Richtungsstreit zwischen der sogenannten alten und der sogenannten neuen, der identitätspolitisch ausgerichteten Linken. Spielen Sie mit Ihrer Erwähnung der sozialen Fragen auch darauf an? Ich beobachte tatsächlich mit Sorge, dass die Polarisierung unserer Gesellschaft immer weiter voranschreitet. Es kommt zu einer derartigen Atomisierung von Meinungen, dass es nahezu unmöglich ist, zu einem Thema eine größere Gruppe hinter sich zu versammeln. Wir erleben an fast allen Stellen eine große Gereiztheit. Dabei ist dringend Dialogfähigkeit vonnöten, damit Problem­ stellungen bearbeitet und Lösungen gefunden werden können. An dieser Stelle kommen in der öffentlichen Diskussion häufig Kunst und Kultur ins Spiel: Welche Rolle können sie aus Ihrer

Jonas Staal / Florian Malzacher / Joanna Warsza: „Artist Organiza­ tions International“ (2015, HAU Berlin, Artistic design by Studio Jonas Staal). Foto Lidia Rossner

Kultur und Bildungspolitik ein. Foto Klaus Gigga

Dialogangebot, Gesellschaftsrelevanz, Streitkultur – diese Schlagworte würde sicher jede kulturelle Einrichtung sofort unterschreiben; man findet sie genauso regelmäßig in den Spielzeitheften der Stadttheater wie in den Selbstbeschreibungen von Museen oder Ausstellungen. Was die Praxis betrifft, sehen sich diese Institutionen allerdings des Öfteren mit dem Vorwurf konfrontiert, eher ­harmonisch zu einem relativ homogenen Publikum, nämlich den ohnehin schon Bekehrten, zu predigen, als die hitzigen Debatten der polarisierten Gesellschaft wirklich auf die Bühne zu holen. Der Dialog findet dort statt, wo es Akteure gibt, die den Mut ­haben, Kontroversen zuzulassen. Da liegt für mich dann auch der Unterschied zu einer Pädagogisierung oder Belehrung des Auditoriums. Fühlen Sie sich oft belehrt beim Besuch von Kulturveranstaltungen? Ich kann aus meiner Dresdner Perspektive schlecht für die ganze Bundesrepublik sprechen. Aber ich freue mich jedenfalls, wenn Einrichtungen wirklich diese Auseinandersetzung führen. Sie sind jemand, die dieser Dialog nicht nur erfreut, sondern die als Kulturpolitikerin tatsächlich selbst vehement dafür eintritt, ­aktuell etwa in der Debatte um die Dresdner Stadtschreiberin ­Kathrin Schmidt, die wegen ihrer Besuche in der Buchhandlung von Susanne Dagen sowie ihrer kritischen Positionierung zum Coronakurs der Bundesregierung und zum Impfen für heftige Diskus­sionen sorgt. Sie haben angeregt, die unterschiedlichen Auffassungen in einem öffentlichen Diskurs mit anderen Autorinnen und Autoren zu erörtern, woraufhin Ihnen verschiedentlich ­vorgeworfen wurde, Schmidts Position damit implizit zu stärken.

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„So würden dann die Coronaverharmloser:innen doch noch eine weitere Bühne bekommen – quasi ergänzend zu den Protesten von Pegida und ,Querdenken‘“, schreibt etwa der Journalist ­Matthias Meisner in einer auf mission-lifeline.de veröffentlichten Kolumne – und konstatiert: „Typisch Dresden, möchte man sagen.“ Warum machen Sie sich so stark für den Dialog? Da muss man das Allgemeine vom Konkreten trennen. Natürlich gibt es für mich klare Grenzen. Einem Vertreter der Neuen Rechten, der als solcher erkennbar ist, oder bestimmten Positionen, die „das System stürzen“ und die Bundesrepublik in ihrer freiheit­ lichen Verfasstheit abschaffen wollen, würde ich als Stadt, als ­öffentliche Einrichtung kein Podium bieten. Hier, im konkreten Fall, verhielt es sich aber so, dass im vergangenen September eine unabhängige Jury die Bewerbungen für die Stadtschreiber-Stipendien ausgewertet und Kathrin Schmidt ausgewählt hat, eine ­renommierte Autorin mit zahlreichen Auszeichnungen. Die Entscheidungsgrundlage bildete ein von ihr eingereichter Text; eine Gesinnungsprüfung durch die Jury hat nicht stattgefunden. Und Gesinnungsprüfungen halte ich auch generell für schwierig. In hoheitlichen Bereichen wie dem öffentlichen Dienst, der Polizei oder der Bundeswehr sind sie angemessen, völlig klar! Aber wir bewegen uns hier erst einmal im Raum der Kunstfreiheit. Wie ging es dann in dieser Sache weiter? Die Entscheidung, dass Kathrin Schmidt in Dresden Stadtschreiberin wird, ist seit einem Dreivierteljahr bekannt. In dieser Zeit hat niemand von denen, die jetzt plötzlich alle schon immer wussten, dass sie „Coronaleugnerin“ ist, die Hand gehoben und gesagt: Achtung, liebe Jury, liebe Stadt, Frau Schmidt wandelt auf seltsamen Abwegen! Sondern erst mit einer Recherche der Sächsischen Zeitung und der Verbreitung des entsprechenden Artikels über Twitter ging die Debatte los. Insofern war meine Haltung an dieser Stelle, dass man die Dinge trennen muss: Es gibt eine JuryEntscheidung für das Stipendium, die hat Bestand, Punkt. Und es gibt eine Positionierung von Frau Schmidt zum Thema Corona und Impfen, mit der man sich auseinandersetzen muss, ohne sie sofort in die rechte Ecke zu stellen und auszugrenzen, weil man dann, glaube ich, nicht nur sie ins Abseits stellt, sondern eine ­ganze Reihe von Leuten, die an der Corona-Politik der Bundes­ regierung und am Impfen zweifeln. Wie sollte diese öffentliche Debatte, die Sie anregen, Ihrer Meinung nach geführt werden? Ich teile die Auffassungen von Frau Schmidt nicht, aber ich finde, man muss sich mit ihnen auseinandersetzen, um aufzuzeigen, dass sie in vielen Fällen erstens Unsinn und zweitens auch aus der Perspektive der Historie und Erinnerungskultur hochproblematisch sind. Sie spielen auf einen im Mai von Schmidt im Online-Magazin ­Rubikon veröffentlichten Artikel an, der – wiewohl unter der ausdrücklichen Erklärung, beides nicht gleichsetzen zu wollen – dennoch einen Bogen spannt von nationalsozialistischen Medizin­ verbrechen während des „Dritten Reichs“ bis zur potenziellen Corona-Impfung von Kindern. Genau, das ist der eigentliche Hintergrund dieser Debatte. Und meine Aufforderung an die Öffentlichkeit bedeutet nicht, dass

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ich als Stadt mit Kathrin Schmidt eine Veranstaltung zu diesem Thema mache. Sondern sie besteht darin, sich mit diesem Artikel auseinanderzusetzen, zum Beispiel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der das Thema Impfen und Corona ja in ­unzähligen Formen behandelt – während Frau Schmidt der Auffassung ist, dass auch die Berichterstattung nicht mehr ­objektiv sei. Das kann man doch immer wieder nur versuchen zu widerlegen! „Typisch Dresden“ – das denkt, hört und liest man angesichts von Debatten wie derjenigen um Kathrin Schmidt tatsächlich oft. Wie sehen Sie das aus der Binnenperspektive? Wiewohl es richtig ist, dass es natürlich eine Häufung rechts­ extremer Vorfälle und bestimmter politischer Gruppierungen in Sachsen gibt – die auch in anderen Bundesländern durchaus ­existieren –, macht mich diese Vorverurteilung trotzdem traurig, weil es dem Land natürlich einen Stempel aufdrückt. Dabei gibt es neben den negativen Ereignissen auch eine Vielzahl von Menschen und Initiativen, die sich in die andere Richtung engagieren. Ich glaube nur, dass die Narrative vom rechts geprägten Bundesland schneller medial virulent sind als andere. De facto müssen Sie als Politikerin in Dresden den Dialog mit der AfD, dem sich viele andere per se entziehen, führen – ob Sie ­wollen oder nicht. Die Haltung, nicht mit rechts zu reden, können Sie sich qua Amt nicht leisten, weil die AfD im Stadtrat sitzt. Wie erleben Sie sie in diesen Auseinandersetzungen, wie funktioniert die Kommunikation? Formal ist es so, dass ich als öffentliche Verwaltung, als Bürgermeisterin, alle Fraktionen gleich zu behandeln habe, und das ­mache ich. Aber natürlich muss man sich bewusst sein, dass die AfD die Gesellschaft in der Verfasstheit, in der wir leben, abschaffen will – auch wenn das natürlich nicht in jeder Sitzung oder in jedem Antrag deutlich wird: Auch die AfD ist gezwungen, sich hier, in einem Kommunalparlament, mit entsprechend kommunalpolitischen Themen zu beschäftigen. Deshalb lautet die Frage jenseits der formalen Zusammenarbeit, in der Gleichbehandlung gilt, wie man an anderen Stellen informell arbeiten und Strukturen oder Akteure stärken kann, die der Demokratie zugewandt und weltoffen sind. Haben Sie konkret auf der (kultur-)politischen Ebene Probleme durch die AfD? Diese positionierte sich ja zum Beispiel wiederholt gegen das Europäische Zentrum der Künste Hellerau, das ihrer Meinung nach den Kulturauftrag nicht so erfüllt, wie sie ihn sich vorstellt. Das war tatsächlich eine interessante Konstellation, als die AfD im letzten Jahr vorgeschlagen hat, das Festspielhaus – Europäisches Zentrum der Künste Hellerau quasi nur noch als Vermietungs­ objekt zu betreiben, ohne Ensemble. Denn der Antrag hat gleich die ganze Unkenntnis über die Einrichtung selbst in Reinkultur gezeigt: Wir haben in Hellerau ja ohnehin kein Ensemble, sondern ein interdisziplinäres Koproduktions- und Gastspielhaus. Sie setzen also auf Selbstentlarvung durch Sachunkundigkeit? Man muss bestimmte Dinge ohne Frage zur Kenntnis nehmen


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und sich mit ihnen beschäftigen. Aber man sollte vermeiden, sie dadurch, dass man sie immer sofort öffentlich kommentiert, möglicherweise sogar noch aufzuwerten. Kommen wir noch einmal auf die Bundestagswahl und die an­ stehenden Aufgaben zurück. Vor welchen Herausforderungen steht denn Ihrer Meinung nach konkret die Kulturpolitik in der nächsten Legislaturperiode? Ganz oben auf der Agenda rangiert bei uns das Thema Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Das existiert ja ohnehin in der Gesellschaft, aber dass sich auch Kultureinrichtungen damit beschäf­ tigen, ihre Produktionsprozesse kritisch prüfen und konkret umstellen, ist dringend an der Zeit. Es existiert zurzeit noch ein weiteres Thema in der Kulturpolitik: die Macht- und Leitungsstrukturen in Institutionen, insbesondere auch in Theatern. Dort kennen Sie sich insofern b ­ esonders gut aus, als sie von Haus aus Theaterwissenschaftlerin sind und vor Ihrer politischen Karriere selbst dramaturgisch g ­ earbeitet haben. Sehen Sie diese Leitungsstrukturdiskussion auch als Aufgabe? Vor drei Jahren, als die MeToo-Debatte begann, hat der Deutsche Bühnenverein ja einen werteorientierten Verhaltenskodex beschlossen, der für unsere Einrichtungen gilt. Als die Debatte im Zuge der Machtmissbrauchsvorwürfe am Berliner Maxim Gorki Theater oder der Volksbühne jetzt wieder hochkochte, habe ich die Intendant:innen unserer städtischen Institutionen noch einmal eingeladen und gefragt: Wie wird denn der Kodex bei Ihnen am Haus konkret gelebt? Wie können wir ihn weiter fort­ schreiben? Was haben Sie bei diesem Gespräch erfahren? Die Erkenntnis war zum einen, dass alle mit dem Kodex arbeiten und ein starkes Bewusstsein dafür existiert, zum anderen aber auch, dass es große Spartenunterschiede gibt: In einem Kinderund Jugendtheater mit sehr jungen Schauspieler:innen wird das Thema natürlich ganz anders bearbeitet als in der Staatsoperette mit ihren 240 Beschäftigten oder einem großen traditionsreichen Orchester wie der Dresdner Philharmonie. Wichtig ist, das Thema nicht auszusitzen, sondern in den Ensembles immer wieder dafür zu sensibilisieren, dass man wertschätzend miteinander umgeht und seine Machtstellung nicht ausnutzt – sei es als Führungskraft oder als Regisseurin.

Dennoch scheint es ja, Kodex hin oder her, bundesweit immer wieder zu solchen Fällen zu kommen, weshalb jetzt die Struktur des Stadttheaters hinterfragt wird. Also ich glaube an das System des Stadttheaters, und ich halte das Intendant:innenbashing, was zum Teil stattfindet, auch für völlig überzogen. Am Ende braucht eine große Einrichtung wie ein Theater ja eine bestimmte Struktur und Führung, schon aus ­ rechtlichen Gründen – was nicht heißt, dass Intendanten oder ­Intendantinnen Alleinherrscher sein dürfen. Favorisiert werden gerade Ansätze, die die Macht und Verantwortung auf mehreren Schultern verteilen. Es spricht nichts gegen kollektive Leitungen und Doppelspitzen, aber am Ende steht dort genauso die Frage, wie ich die Künstlerische Leitung für Führungsfragen und Führungskompetenz sensibilisiere, denn auch Doppelspitzen und Quartette sind nicht automatisch gegen Verfehlungen gefeit. Ich finde, wir müssen uns viel stärker als mit der Strukturdebatte mit der Frage beschäftigen, wie wir Führungskräfte – Intendant:innen – auswählen. Wie halten Sie das denn ganz konkret in Dresden? Sie haben in den letzten Jahren ja auch mehrere wichtige Personalentscheidungen getroffen und institutionelle Positionen besetzt. Ich berufe grundsätzlich eine Findungskommission, die einerseits Vertreter:innen des Stadtrats in der Runde hat, aber andererseits auch Kenner:innen der jeweiligen Szene. Dadurch erhält man ein Meinungsbild. Insofern sind auch externe Fachleute wirklich noch einmal gute Berater:innen, weil sie durchaus ein Monitoring haben: Wer ist an bestimmten Stellen ungeeignet oder schwierig? Und natürlich muss man auch Signale aus den Häusern ernst nehmen, sofern es dort Meldungen gibt, dass die Kommunikation nicht optimal läuft und Machtstellungen aus­ genutzt werden. Wir sind eingestiegen mit Ihrer Prognose für die Wahl – jetzt ­frage ich Sie, zum Abschluss, nach Ihren Wünschen. Ich wünsche mir eine zukünftige Bundesregierung, die es schafft, eine generationengerechte und zukunftsorientierte Politik zu ­machen, die wirklich die anstehenden Probleme löst, sprich Klima­ schutz, Wohnraum in Großstädten und soziale Gerechtigkeit. Und ich hoffe, dass wir nicht eine Koalition bekommen, die versucht, mit viel Geld nur alles zuzukleistern und die Vergangenheit zu bewahren. Das wird nicht funktionieren! //

SCHAUSPIELER*IN WERDEN Anmelden bis 15. Oktober 2021, hkb.bfh.ch/theater-schauspiel

Hochschule der Künste Bern Haute école des arts de Berne hkb.bfh.ch

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Lasst uns streiten! Der Soziologe und Bildungs­ forscher Aladin El-Mafaalani über Irrungen und Wirrungen der Symbolpolitik, fatale Romantisierungen und die Produktivität des Streits

von Dorte Lena Eilers

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ladin El-Mafaalani, sprechen wir über die Wahlen, eine Zeit der Richtungsentscheidungen, aber auch der Symbolpolitik. Besonders Kultur und Bildung werden gerne herangezogen, wenn es um die „Reparatur“ unserer Gesellschaft geht. Kultur und Bildung sollen bilden, integrieren, inkludieren, soziale Ungleichheiten bekämpfen, den Klimawandel aufhalten und Nazis verjagen. Was mich beeindruckt hat: In Ihrem Buch „Mythos Bildung“ weisen Sie diesen Auftrag, bezogen auf die Bildung, mit ziemlich viel Verve zurück. Bildung als Allheilmittel anzusehen, schreiben Sie, sei völlig absurd. Würden Sie einen solchen „politischen Ungehorsam“ auch Kulturschaffenden empfehlen? Ich würde zunächst bezweifeln, dass sich Bildung und Kultur in diesem Sinne so vergleichen lassen. Im Bereich der Kultur, so mein Eindruck, werden tatsächlich krasse Sonntagsreden gehalten. Bezogen auf die Bildung, meinen es Politikerinnen und Politiker, fürchte ich, ernst. Sie erwarten tatsächlich, dass man durch das, was in der Schule passiert, präventiv gegen Armut wirken, die Situation in den Stadtteilen verbessern und Rechtsextremismus bekämpfen kann. Das kann Kultur ja nicht ernsthaft leisten. Man kann es behaupten, aber glauben tut es doch keiner.

Im Wahlprogramm der Linken heißt es zumindest, es sei Aufgabe einer fortschrittlichen, aufklärerischen Kultur, an der Überwindung der sozialen Ungleichheit und aller kulturellen Unterdrückung mitzuwirken. Ja, aber stellen Sie sich mal vor, die Erwartung, die Sie gerade formuliert haben, hätte die Politik wirklich und würde die Kultur daran messen. An den Bestrebungen der Politik, messbare Ergebnisse zu erhalten, erkennt man in der Regel, ob sie es ernst meint oder nicht. Immerhin sind Kulturschaffende damit in der glücklichen Situation, mit ihrem Auftrag zu spielen – etwas Aufklärung, hier und da auch etwas Pädagogik, gerne viel Kunst, manchmal elitär, manchmal niedrigschwelliger. Die Bildung kann das nicht, hier ist fast alles rechtlich und politisch vorgegeben. Darum waren viele Leute auch so entsetzt über mein Buch. Das klingt ja ernüchternd. Denn trotz des Widerwillens, sich von der Politik Aufträge erteilen zu lassen, würden viele Kulturschaffende ihre Arbeit natürlich als gesellschaftlich extrem wirksam definieren. Aber im Kulturbereich ist man doch schon froh, wenn die Zusammensetzung des Publikums auch nur halbwegs repräsentativ für die Gesellschaft ist. Wie viele Menschen gehen regelmäßig ins Theater? Fünf Prozent?


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Jonas Staal: „New World Summit – Utrecht“ (2016, produziert von BAK, basis voor actuele kunst, Utrecht). Foto Nieuwe Beelden Makers

Sie meinen nachmittags in AGs in der Ganztagsbetreuung, für deren Ausweitung Sie eintreten. Ja, weil das Lernen dort individueller erfolgen kann. Kinder lernen gezielt ein Instrument oder eine Sportart und erfahren so, was es heißt, permanent am Ball bleiben zu müssen, um sich zu verbessern. Das schafft man mit dreißig Kindern in einem an einen Lehrplan gebundenen Unterricht eher nicht. Auch Theater selbst zu machen halte ich für sinnvoller, als sich im Theater eine Inszenierung anzuschauen. Sowieso sollten auch die MINT-Fächer anwendungsbezogener werden. Hand­ werken nach mathematischen Formeln zum Beispiel.

Wahrscheinlich eher weniger. Im Gegensatz zur Schule. Es herrscht Schulpflicht. Da sitzen alle. Also ein Plädoyer für eine allgemeine Theaterpflicht! (lacht) Hätte zumindest einen gewissen Charme. Ich plädiere ja dafür, dass Theater in der Schule stattfindet. Nur zu! Und Musikunterricht. Und Kunstunterricht. Denn auch das ist ein Vorwurf von Kulturschaffenden: dass sie all das, was in Schulen gestrichen wird, um Platz für die MINT-Fächer zu schaffen, also für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, auffangen sollen. Kulturelle Bildung wandert immer mehr aus der Schule heraus in den Freizeitbereich, der aber eben auf Freiwilligkeit basiert. Zunächst sind MINT-Fächer natürlich extrem wichtig. Siehe CoronaPandemie: Wären MINT-Kompetenzen in der Gesellschaft weiter verbreitet, hätten Christian Drosten und Karl Lauterbach nur eine Woche reden müssen, damit es alle kapieren, und nicht anderthalb Jahre. Aber natürlich ist die Balance wichtig. All das, was man unter kultureller Bildung versteht, muss in der Schule ­extrem ausgeweitet werden. Ich würde nur infrage stellen, ob das im ­Unterricht stattfinden soll oder außerhalb des Regelunterrichts.

Oder Geschichtsunterricht mit Guillotine. Was spricht dagegen, all dies umzusetzen? Der Mangel an Personal, Räumen, letztlich Geld. Wie im Theater. Alle sprechen für die Zeit nach Corona von der großen Transformation der Stadttheater – gleichzeitig drohen den kommunalen Haushalten drastische Sparrunden. Transformation aber kostet Geld. Wer einen Auftrag erteilt, muss ihn bezahlen. Wie weit da die Realitäten auseinanderliegen, zeigt ein Blick in die Wahlprogramme. Um das Bildungssystem zu modernisieren, veranschlagt die FDP 2,5 Milliarden Euro. Die Linke nennt 50 Milliarden Euro, um allein Schulgebäude zu sanieren. Im Kulturbereich werden, außer bei den Corona-Hilfen für Soloselbständige, die Grüne und Linke fordern, kaum Zahlen genannt. Kultur sei nicht nur zu schützen, sondern auch zu fördern, heißt es allgemein. Die Linke nennt immerhin Finanzierungsmodelle: eine Vermögenssteuer sowie -abgabe. Mit 2,5 Milliarden Euro im Bildungssektor könnte man wahrscheinlich die tropfenden Decken in Schuss bringen und dafür sorgen, dass die Sanitäranlagen einer Prüfung vom Ordnungsund Gesundheitsamt standhalten. Mit 50 Milliarden Euro ließe sich da schon wesentlich mehr anstellen. Der Schulbau ist tatsächlich die größte Herausforderung. Seit 150 Jahren werden Schulen so gebaut, dass vorne jemand steht und dreißig Kinder in Reih und Glied in eine Richtung schauen …

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Aladin El-Mafaalani, geboren 1978 im Ruhr­ gebiet, ist Soziologe und Autor. Er studierte Wirtschaftswissenschaft,

Politikwissenschaft

und

Pädagogik sowie Arbeitswissenschaft an der Ruhr-Universität in Bochum, wo er 2012 im Hauptfach Soziologie promovierte. Von 2012 bis 2019 war er Professor für Politikwissenschaft und politische Soziologie an der Fachhochschule Münster, bis er 2019 den Lehrstuhl für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück übernahm. Bildungs-, Migrations- und Stadt-Land-Forschung zählen zu seinen Arbeitsschwerpunkten. Veröffentlichungen u. a.: „Das Integrationsparadox“ (2018) und „Mythos Bildung“ (2020). Im Verlag Kiepenheuer & Witsch erscheint demnächst sein neuestes Buch „Wozu Rassismus?“. Foto Mirza Odabaşı

… ich sage nur: Guckkastenbühne. Wenn jetzt aber auch noch Musik stattfinden soll, Theater, Sport, wenn es mehr Schulpsychologinnen und -sozialarbeiter, mehr ­Gesundheitspersonal geben und irgendwo mittaggegessen werden soll, sprich für eintausend Kinder gekocht werden muss, braucht man neue Gebäude. Die Frage ist: Will man das, was vorhanden ist, wieder auf Vordermann bringen? Oder alles neu denken, transformieren, damit es den heutigen Herausforderungen standhält? Ich plädiere für Letzteres, denn die Herausforderungen sind riesig. Und die Institutionen träge. Immerhin hat Corona einen gewissen Handlungsdruck erzeugt. Aber Sie haben recht: Die Gesellschaft hat sich schneller verändert als die Institutionen. Kindheiten haben sich verändert, Familien haben sich verändert, und auch das, was wir Klassengesellschaft nennen, hat sich verändert. Wir haben ein Unterklassemilieu, in dem die Erwachsenen aufgegeben haben. Und Erwachsene, die resigniert haben, lassen auch alle Tugenden fallen. Auf genau diese Tugenden der Arbeiterklasse aber hat sich die Schule immer verlassen, Pünktlichkeit etwa. Der Abstand zu Kindern, die in diesen Schichten aufwachsen, wird daher immer größer. Darauf ­haben die Institutionen keine Antwort – auch die Theater nicht. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Weil viele einen undifferenzierten Blick darauf haben, was wir nach langer Zeit endlich erreicht haben: die offene Gesellschaft. Aber die ist doch durchaus zu begrüßen. Nach Karl Popper ist eine offene Gesellschaft im Gegensatz zur geschlossenen in der Lage, sich ohne Dogmen und Verbote im offenen Meinungsaustausch ständig selbst zu hinterfragen und damit weiterzuentwickeln. Genau. Es gibt nur zwei Haken: Der Planet wird ruiniert, und der immer kleiner werdenden Unterklasse geht es immer schlechter. Ich beschreibe diesen Prozess in meinem Buch „Das Integrationsparadox“ mit dem Bild des Tisches. Über die Jahre haben immer mehr Menschen am Tisch Platz genommen. Auf dem Boden sitzen nicht mehr viele. Im Grunde eine richtig gute Entwicklung. Wer aber jetzt noch auf dem Boden sitzt, ist, um es im Ruhrpott-

Deutsch zu sagen, am Arsch. Früher, als die Gesellschaft noch wie eine Pyramide strukturiert war, war es nicht unbedingt schlimm, unten zu sein, weil man sein Schicksal mit vielen teilte. Nun hat sich die Pyramide auf den Kopf gestellt. Das sehen wir auch im Bildungsbereich: Das Gymnasium ist die größte Schulform. Eine super Sache. Bei Menschen aber, die von dieser Entwicklung nicht profitieren, führt dies zu Resignation. Sie haben endgültig keine Hoffnung mehr in eine bessere Zukunft. Zygmunt Bauman hat diese Entwicklung in seinem Buch „Retrotopia“ rekonstruiert. Das Bild vom Tisch suggeriert aber auch, dass zumindest dort eine gewisse Egalität herrscht. Was aber de facto nicht der Fall ist. Die happy few sitzen dort ja schon lang nicht mehr, sondern in ­ihrem Penthouse im 111. Stock. Auch am Tisch droht sich somit Resignation breitzumachen. Ja, der Tisch ist eine Arena. Spielen muss man selbst. Wer am Tisch sitzt und nichts tut, erreicht auch nichts. Am Tisch läuft es total ungerecht ab. Auch ein Grund, warum sich die Menschen am Tisch viel schneller diskriminiert fühlen. Das weiß jeder Fußballschiedsrichter: Wenn zwei Mannschaften auf Augenhöhe gegen­ einander spielen, werden die Ellenbogen ausgefahren, es wird strategisch gefoult und nicht nur aus Versehen. Die offene Gesellschaft ist keine gerechte Gesellschaft. Das muss man sich klarmachen. Sie ist nur die einzige, in der man für Gerechtigkeit kämpfen kann, ohne in den Knast zu kommen. Als Bildungsforscher werden Sie oft mit dem Begriff der Chancengleichheit konfrontiert. Auch Kultureinrichtungen sprechen davon, dass möglichst vielen Menschen die gleichen Chancen auf Teilhabe am Kulturleben ermöglicht werden sollen. Chancengleichheit ist eine komplizierte Sache. Sie ist ein total wichtiges Ziel. Aber sie bedeutet nicht, dass es keine Armut gibt. Sie bedeutet, um es mal hart zu formulieren, dass es gleich wahrscheinlich ist, wer obdachlos wird. In Sachen Chancengleichheit, würde ich sagen, stehen wir gar nicht so schlecht da. Wir haben immerhin die Situation, dass mehr Menschen an der Uni sind als eine Ausbildung machen. Es gibt fast niemanden mehr, der gar keine Ausbildung macht. Schlecht läuft es wie gesagt da, wo Menschen immer noch auf dem Boden sitzen. Stichwort Solidarität! Während man sich um Chancengleichheit recht viel gekümmert hat, wurde Solidarität abgebaut. Das ist ein Hauptgrund, warum die Resignation auf dem Boden so groß ist: Vor der Jahrtausendwende lautete das Sozialstaatsversprechen: „Wenn du hinfällst, helfen wir dir.“ Seit 2000 heißt es: „Sorge dafür, dass du nicht hinfällst, damit wir dir nicht helfen müssen.“ Das nennen wir dann präventive Sozialpolitik. Zynisch! Interessanterweise sehen Sie auch in unserem von Humboldt stammenden humanistischen Bildungsideal im Sinne einer ganzheitlichen Menschenbildung – sprich nicht nur MINT-Fächer, sondern auch musisch-künstlerische – eine sträfliche Missachtung der sozialen Frage. Inwiefern? Weil es ein sehr am Individuum ansetzender Bildungsbegriff ist. Er will die Einzigartigkeit und Individualität des Menschen in der Aneignung der Welt entwickeln. Schön und gut. Aber er unterstellt dabei, dass jeder Mensch dazu die gleichen Rahmenbedin-


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gungen hat. Wenn Menschen in Armut leben beziehungsweise aufwachsen, können sie es sich gar nicht leisten, irgendetwas zu tun, was nicht existenziell notwendig ist. Ein Theaterbesuch aber ist nie existenziell notwendig. Ein Musikinstrument zu lernen ist nicht notwendig. In der Sprache von Grundschulkindern heißt es dann: Warum soll ich Geige spielen lernen? Ich will kein Musiker werden. Die Idee, einfach nur Geige zu spielen, aus ästhetischen Gründen, ist einem Kind, das von klein auf lernt, mit knappen ­Ressourcen zu haushalten, nicht zugänglich. Den persönlichen, ­unmittelbaren, existenziellen Nutzen können viele Angebote der ­bildungsbürgerlichen, humanistischen Bildung nicht bieten. Sie verfolgen eher eine Art Selbstzweck, eine Veredelung des Menschen. Aber eine Veredelung braucht man natürlich erst, wenn alles andere einigermaßen geklärt ist. Kinder, die nach Nutzen selektieren, verhalten sich ihrem Lebenskontext entsprechend im Grunde also erst einmal total vernünftig und schlau. Das Problem ist unser humanistischer Bildungsbegriff, der regelrecht blind ist für soziale Ungleichheit. Diese Vorstellung von Bildung ist romantisch. Schulen wie auch Kultureinrichtungen indes teilen natürlich die Hoffnung, dieses auf Nutzen basierte Denken zu durchbrechen. Richtig. Und das ist auch wichtig. Daher plädiere ich so stark für Ganztagsschulen, in denen derartige Angebote gemacht werden können. Denn wenn dieses Denken nicht durchbrochen wird, ­verfestigt es sich. Das betrifft nicht nur Bildung und Kultur. Die Menschen fragen sich dann auch: Was bringt es mir zu wählen? Verständlich. Da hilft es auch nicht, wenn Politiker in benach­ teiligte Stadtteile gehen und Plakate aufhängen mit der Frage „Wie wollen wir in unserer Stadt 2040 leben?“ Für Menschen, die nicht mal wissen, wie sie morgen leben sollen, eine zynische Frage. Wir müssen uns einfach gewahr werden, dass wir in einem Land ­leben, in dem die sozialen Unterschiede extrem sind.

Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen

Premieren Spielzeit 2021/2022 11. September 2021

Komödie von Michael Cooney obersorbisch von Měrana Cušcyna in obersorbischer Sprache mit Simultanübersetzung ins Deutsche 16. September 2021

Hieße aber, da könnten Bildungs- und Kulturinstitutionen an­ setzen? Um zu vermitteln, sich nicht selbst zu diskriminieren, Selbst­ermächtigung zu erlangen? Ja, aber sie müssten sich dafür eben grundlegend verändern. Das Problem ist, dass oftmals die Prämissen nicht stimmen. Schauen wir auf die Theater: Das Angebot an Kinder- und Jugendclubs scheint mir so groß wie noch nie. Trotzdem erreichen sie bestimmte Menschen nicht. Wir haben kein Angebotsdefizit, sondern ein Zugangsdefizit. Wobei daran – Stichwort Niedrigschwelligkeit – auch gearbeitet wird. Zusätzlich sollte man sich aber auch keine Illusionen über bestimmte Korrelationen machen. Ich komme noch einmal auf den Sektor Bildung zurück. Es gibt zum Beispiel die Annahme, dass gebildetere Menschen sorgsamer mit dem Klima umgehen. Aber:

Ralbitz

ČMJEŁA HANA CHCE DO DOWOLA LEĆEĆ HUMMEL HANA FLIEGT IN DEN URLAUB von Mirko Brankatschk

17./18. September 2021 Uraufführung

Burgtheater

WÖLFCHENVERSCHWÖRUNG - DAS GRIMMinalgericht P16!

Musikalische Puppentheaterkomödie für Erwachsene von Stephan Siegfried 24. Oktober 2021

großes Haus

RÄUBER HOTZENPLOTZ UND DIE MONDRAKETE

Musikalische Gaunerjagd von Martin Lingnau und Wolfgang Adenberg nach dem Buch von Otfried Preußler 29. Oktober 2021

großes Haus

UND EWIG RAUSCHEN DIE GELDER Komödie von Michael Cooney 31. Oktober 2021

Burgtheater

DIE KLEINE MEERJUNGFRAU

Puppentheater nach dem Märchen von Hans Christian Andersen 12. /13. November 2021

großes Haus

BAUTZENER BÜHNENBALL 2020

Wir feiern 225 Jahre Bautzener Theater In Zusammenarbeit mit dem Sorbischen National-Ensemble 21. November 2021

Burgtheater

EIN SCHAF FÜRS LEBEN

Puppentheater nach dem Buch von Maritgen Matter 26. November 2021

großes Haus

DER REICHSBÜRGER

von Annalena und Konstantin Küspert 27. November 2021

Burgtheater

LACHEN VERBOTEN

Komödie von Miro Gavran aus dem Kroatischen übersetzt von Tihomir Glowatzky 6. Februar 2022

Burgtheater

DAS MÄRCHEN VON DER SALZPRINZESSIN

Puppentheater nach einem alten Motiv, neu erzählt 12. Februar 2022 großes Haus Uraufführung ŠĚRCEC HANKA SCHIERZENS HANKA (ARBEITSTITEL) Schauspiel von Esther Undisz nach Motiven von Jurij Koch in obersorbischer Sprache mit Simultanübersetzung ins Deutsche 4. März 2022

DIE WIEDERVEREINIGUNG DER BEIDEN KOREAS

großes Haus

von Joël Pommerat aus dem Französischen von Isabelle Rivoal 19. März 2022

Um diese Unterschiede aufzulösen, ist zuallererst eine andere Wirtschafts- und Sozialpolitik vonnöten. Ja. Aber Armut bedeutet nicht nur knappe ökonomische Mittel, auch Denk- und Handlungsmuster führen dazu, von sich aus nicht zu partizipieren. Pierre Bourdieu sagt: Die effektivste Dis­ kriminierung ist die, die dazu führt, dass Menschen sich selbst diskriminieren.

großes Haus

DOŁHOŽ FENKI BĚŽA UND EWIG RAUSCHEN DIE GELDER

JAJA Z KRAJA LANDEIER

Drachhausen

Komödie von Frederik Holtkamp, aus dem Deutschen übersetzt von Ingrid Hustetowa in niedersorbischer/wendischer Sprache mit Simultanübersetzung ins Deutsche 23. März 2022

KUS HINAK – MAŁE WAMPIRY

Burgtheater

EIN BISSCHEN ANDERS – KLEINE VAMPIRE

von Alexander Galk übersetzt von Dorothea Scholze Sorbisches Kindertheater 08. April 2022

EIN SOMMERNACHTSTRAUM

großes Haus

Komödie von William Shakespeare in der Übersetzung von Rebecca Kricheldorf Mit der Schauspielmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy, neu arramgiert von Tasso Schille Bühnenfassung von Mario Holetzeck Kooperation mit dem Sorbischen National-Ensemble 10. April 2022

NUR EIN TAG

Burgtheater

Puppentheater nach dem Stück von Martin Baltscheit 4. Mai 2022

MAŁY NYKUS DER KLEINE WASSERMANN

Niederlausitz

Marionettenspiel nach dem Kinderbuch von Otfried Preußler Übersetzt von Ingrid Hustetowa 5. Juni 2022

Burgtheater

PETTERSSON UND FINDUS - EIN FEUERWERK FÜR DEN FUCHS Puppentheater nach dem Buch von Sven Nordqvist 23. Juni 2022 26. Bautzener Theatersommer

SHERLOCK HOLMES – DAS BIEST VON BAUTZEN

Hof der Ortenburg

von Lutz Hillmann nach Motiven der Erzählungen von Arthur Conan Doyle

Telefon: 03591/584-0 www.theater-bautzen.de

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Das Gegenteil ist der Fall. Der CO2-Ausstoß von hochgebildeten Menschen ist viel höher als der von weniger gebildeten. Gleiches gilt beim Thema Gendergerechtigkeit: Studien haben gezeigt, dass gebildete Männer zwar ständig von Gleichberechtigung sprechen, sie in Beziehungen aber nicht leben. Ein Arbeitermann sagt vielleicht, dieser Genderscheiß ist mir egal, die Frau gehört an den Herd. In der Realität aber gehen Frauen in dieser Schicht kontinuierlicher einer Lohnarbeit nach, natürlich auch, weil sie es müssen, da der Mann allein die Familie nicht ernähren kann. Auch die Lohnunterschiede sind geringer. Gebildetere Frauen hingegen bleiben, da sie es sich finanziell leisten können, nach der Geburt ihrer Kinder gerne für längere Zeit zu Hause und arbeiten dann auch lange mit deutlich verringerter Stundenzahl. Mit Bildung korrelieren diese Probleme also wenig. Ich ahne, warum einige so entsetzt waren über Ihre Bücher. Ja, es ist einfach absurd zu glauben, dass in einer Gesellschaft, in der alle gebildet sind, alles wunderbar laufe. Es ist doch so: Je gebildeter die Menschen sind, desto länger dauern beispielsweise auch Diskussionen. Schauen Sie sich die Machtdebatten am ­Theater an. Es ist kein Wunder, dass Institutionen wie Theater oder Universitäten zu sehr hierarchischen Strukturen tendieren, denn sonst käme man vor lauter Debatten gar nicht mehr voran. Das heißt aber nicht, dass Debatten schlecht sind. Man bekommt nur die Probleme, die man sich verdient hat – und das ist gut! Eine offene Gesellschaft funktioniert nur mit einem hohen

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Bildungsniveau. Es führt eben nur dazu, dass man sich die ganze Zeit streitet, kontrovers diskutiert und ohne Ende kritisiert. In diesem Zustand befinden wir uns ja gerade. Egal, was man macht, es hagelt Kritik. Einige empfinden das als nervig, aber es ist auch ein guter Indikator dafür, dass das Bildungsniveau ganz gut ist. Es macht die Sache nur nicht angenehm. Und führt nicht unmittelbar zu klaren Lösungen. Diesen Punkt machen Sie auch im „Integrationsparadox“ stark: Mehr Leute am Tisch führen zu mehr Konflikten. Das Schöne ist: Hat man diesen Mechanismus akzeptiert, bekommt man wieder Lust, diese Konflikte auch produktiv auszutragen. Genau. Streit ist eine selbstverständliche Sache. Ich kann gut nachvollziehen, dass Leute Angst bekommen, wenn Kontroversen entstehen. Denn am Ende muss ein Theater, ein Betrieb, eine Gesellschaft funktionieren. Das ist die Herausforderung: die Konflikte angehen, gleichzeitig aber konflikttheoretisch so erwachsen sein, dass sich alle Mühe geben, am Ende zu einem Ergebnis zu kommen. Aber da sind wir noch nicht. Was wir brauchen, ist eine Konfliktkultur. Gerade weil wir uns in einem Epochenwandel befinden und sich so viele Menschen wie noch nie aufgrund von Bildung und Teilhabe streiten wollen und können. Auch die medialen Möglichkeiten, sich am Streit zu beteiligen, ohne dass es jemand moderiert, sind gewachsen. Ebenso die Themenvielfalt, über die sich streiten lässt. Überall sind Baustellen. Wie in jeder lebendigen Stadt. //

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kolumne

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Ralph Hammerthaler

Mmh, Widersprüche Frank Mario Castorf soll ja jetzt siebzig sein

A

ls ich mich das erste Mal mit Frank Castorf verabredete, war er kurz davor, die Berliner Volksbühne zu eröffnen. Es war im August 1992. Durch den Bühneneingang betrat ich das Gebäude, es roch nach Farbe, und ich stellte mich so blöd an, dass ich mit einem Schritt auf einen frischen Estrich trat. Erschrocken zog ich das Bein zurück und erblickte meinen Schuhabdruck auf dem Boden. In den folgenden Jahren wollte ich immer mal wieder überprüfen, ob es diesen Abdruck noch gab, aber wahrscheinlich hatten sie ihn noch am selben Tag entfernt. Dass sie ein Warnschild aufgestellt hätten mit Vorsicht!, darauf wären sie damals nicht gekommen. Man musste halt schauen, dass man sich in diesem Theater zurechtfand. Auch das Intendantenbüro wurde renoviert, und so saß Castorf woanders. Vor seinem Zimmer hockten sechs oder sieben Leute und warteten auf Einlass. Hier setzte ich mich dazu. In jener Zeit schrieb ich an meinem Buch „Theater in der DDR“, und ich wollte mit Castorf über Anklam reden, wo ja tatsächlich ein anderes, gefährlich lustvolles Theater entstanden war. „Ich dachte, man müsste von vielen Punkten aus diesen psychischen Zustand der Gesellschaft durch­ löchern“, sollte ich ihn später zitieren, „so lange, bis es kein Hirn mehr gibt, das sagt: so oder so.“ Nach einer Weile kam ein Assistent und sagte, Castorf schaffe es heute nicht mehr, aber ich könne morgen Vormittag zu ihm nach Hause kommen, in die Varnhagenstraße. Na gut, dann eben zum Frühstück. Um nicht mit leeren Händen dazustehen, besorgte ich an der Ecke eine Tüte mit Schrippen und klingelte dann bei ihm. Er öffnete und wirkte irritiert, an eine Verabredung konnte er sich nicht erinnern, aber er ließ mich ohne zu zögern herein. Das Grundprinzip ist die Irritation, sagte er kurz darauf über sein Theater, der Versuch, mit Widersprüchen zu leben, was ein Genuss sein kann, ohne dass man sofort eine Erkenntnis daraus zieht. Weil er im Kühlschrank nicht fand, was er suchte, nuschelte er was von: keine Frau im Haus. Die ganze Zeit schon lief ein Fußballspiel im Fernseher, er stellte den Ton ab, starrte aber weiter aufs Bild – und formulierte wie nebenbei seine gestochen scharfen Sätze. Neun Jahre später durfte ich mit nach Rom, zu einem Gastspiel von „Endstation Amerika“. Castorf war zum ersten Mal in der Stadt, und er sagte, dass ihn bereits das Mezzogiorno-Gefühl plage, nachts zum Beispiel, wenn er auf der Suche nach einem Lokal erfolglos um den Block streife und immer wieder auf dieselbe

Nutte stoße. Die hat mich angesehen wie: Haste wohl auch noch nichts gefunden? Am zweiten Abend aber, jetzt mit dem Ensemble in einem Lokal, riskierte Castorf sein Outing, denn er heiße mit zweitem Vornamen Mario, also im Grunde ein Italiener. Henry Hübchen und er stichelten aneinander herum, wenn sie sich nicht überhaupt ignorierten. So war das schon früher gewesen. Einmal fragte Castorf: Hast du mal nachgedacht, was wir hier tun? Und Hübchen: Nö, wieso? Darauf Castorf: Na, solltest du vielleicht mal! In einer Stasi-Akte steht über Anklam, die beiden hätten eine Inszenierung verschärft: „So z. B. die Szene, bei der drei Schauspielerinnen immer nur ,Scheiße‘ rufen, da ist deutlich erkennbar, dass das ans Publikum gerichtet ist, Publikumsadresse kann man auch dazu sagen.“ Tagsüber lief ich mit Henry durch Rom, vor allem wollten wir zur Fontana di Trevi, weil er an der Volksbühne Marcello Mastroianni in „Stadt der Frauen“ gespielt hatte. Die Fontana beschwor zwar einen anderen Film herauf, aber Hauptsache Mastroianni. Felliniadresse kann man auch dazu sagen. Vor dem Brunnen fotografierten wir uns gegenseitig, und danach kauften wir uns ein Eis auf der Piazza Navona. Henry sagte: Castorf, die Brillenschlange, musste ja erst berühmt werden und durch seine Intelligenz bestechen, ehe die Frauen auf ihn aufmerksam geworden sind. Jetzt hat er zu tun. Wieder neun Jahre später stellte ich im Roten Salon der Volksbühne, begleitet von Anne Ratte Polle, meinen Roman „Der Sturz des Friedrich Voss“ vor. Dramaturgin Sabine Zielke hatte die Idee, das Buch Castorf auf den Tisch zu legen, weil das ein Stoff für ihn sei und er eh lieber Romane als fleischlose Stücke inszeniere. In jener Zeit hatte ich eine Frau Spitzel, die mir ein ums andere Mal bestätigte, ja, das Buch liege nach wie vor auf Castorfs Tisch. Wenn er es nur gelesen hätte … Nicht neun, sondern sieben Jahre später stand ich nach der „Faust“-Nacht mit einem Becher geschenkten Kaffees vor der Volksbühne und blinzelte in die Sonne. Von 23 Uhr bis sechs Uhr morgens war noch einmal alles Glück zu erleben, der Spaß, der Lärm und die Nerverei, der Moment, in dem der ganze Castorf gespenstisch zusammenschnurrt, wie in fast jeder seiner Inszenierungen, nur Leere und Verzweiflung, so existenziell, dass ­einem die Luft wegbleibt. Vergessen, dass er mir eine versprochene Hospitanz in den 90ern verwehrte und sich am Telefon verstellte. Vergessen auch, dass er meinen „Voss“ auf dem Schreibtisch und also links liegen ließ. Einen zweiten wie ihn haben wir nicht. Er soll jetzt siebzig geworden sein. Buon compleanno, Mario! //

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AB 11.09. IM GROSSEN HAUS Uraufführung von Paul Brody | Regie & Konzept von Kevin Barz

DEMOKRATISCHE

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Ein dokumentarischer Schauspiel- und Musiktheaterabend nach einem Libretto der Abgeordneten des 19. Deutschen Bundestages


PREMIEREN 2021/22 SCHAUSPIEL

MUSIKTHEATER

SCHAUSPIEL

Moby Dick oder Der Wal Herman Melville // Alize Zandwijk 3. September 2021, Kleines Haus

Ich bin Carmen und das ist kein Liebeslied Georges Bizet // Paul-Georg Dittrich / Hasti Molavian / Christopher Scheuer / Tobias Schwencke 19. November 2021, Kleines Haus

Untitled (AT) Uraufführung von GPT-3 u. a. // Felix Rothenhäusler 31. März 2022, Kleines Haus

SCHAUSPIEL

WÜST oder Die Marquise von O.... – Faster Pussycat! Kill! Kill! Uraufführung Enis Maci / Heinrich von Kleisti / Russ Meyer // Elsa-Sophie Jach 9. September 2021, Kleines Haus

‫ﻣﻦ ﮐﺎرﻣﻦ ﻫﺴﺘﻢ‬

MUSIKTHEATER

Die Zauberflöte Wolfgang Amadeus Mozart // Killian Farrell / Michael Talke 27. November 2021, Theater am Goetheplatz

MUSIKTHEATER

Das schlaue Füchslein Leoš Janáček // Marko Letonja / Tatjana Gürbaca 24. September 2021, Theater am Goetheplatz

SCHAUSPIEL

SCHAUSPIEL

SCHAUSPIEL

Milchwald Uraufführung Fritz Kater // Armin Petras 25. September 2021, Kleines Haus

Eileen Deutschsprachige Erstaufführung Ottessa Moshfegh // Elsa-Sophie Jach 21. Januar 2022, Kleines Haus

SCHAUSPIEL

MUSIKTHEATER

Kasimir und Karoline Ödön von Horváth // Alize Zandwijk 2. Oktober 2021, Theater am Goetheplatz

Falstaff Giuseppe Verdi // Marko Letonja / Paul-Georg Dittrich 29. Januar 2022, Theater am Goetheplatz

Franziska. Ein modernes Mysterium Frank Wedekind // Pınar Karabulut 3. Dezember 2021, Kleines Haus

MUSIKTHEATER

Jenůfa Leoš Janáček // Yoel Gamzou / Armin Petras 9. April 2022, Theater am Goetheplatz SCHAUSPIEL

Woyzeck. Ein Singspiel für die, die nicht an die Macht wollen Gintersdorfer/Klaßen 21. April 2022, Kleines Haus SCHAUSPIEL

Leer/Stand – Der Brotladen oder: Wem Gehört Der Stadtraum? Antigone Akgün / Bertolt Brecht // Antigone Akgün 30. April 2022, Stadtraum MUSIKTHEATER

Schauspiel REVUE. Über das Sterben der Arten Uraufführung Jan Eichberg / Felix Rothenhäusler / Theresa Schlesinger // Felix Rothenhäusler 29. Oktober 2021, Kleines Haus

Wellen Uraufführung Elmar Lampson / Julia Spinola / Eduard von Keyserling // Yoel Gamzou / Philipp Rosendahl 4. Juni 2022, Theater am Goetheplatz

MUSIKTHEATER

Noperas! – Obsessions Uraufführung Oblivia / Yiran Zhao 19. Februar 2022, Kleines Haus

SCHAUSPIEL

MUSIKTHEATER

SCHAUSPIEL / MUSIKTHEATER

SCHAUSPIEL

Der Bajazzo (Pagliacci) Ruggero Leoncavallo // Killian Farrell / Ulrike Schwab 30. Oktober 2021, Theater am Goetheplatz

Erbarmen Johann Sebastian Bach / Maartje Teussink // Alize Zandwijk 19. März 2022, Theater am Goetheplatz

What we really really want Annemaaike Bakker / Sophie Krauss / Leonie Böhm 30. Juni 2022, Kleines Haus

Drei Schwestern Anton Tschechow // Dušan David Pařízek 25. Juni 2022, Theater am Goetheplatz

SCHAUSPIEL

MUSIKTHEATER

Ronja Räubertochter Astrid Lindgren // Klaus Schumacher / 6+ 14. November 2021, Theater am Goetheplatz

Noperas! – Kitesh Hauen und Stechen 7. Juli 2022, Theater am Goetheplatz


Schauspiel 1000 Serpentinen Angst Olivia Wenzel 10.09.2021, emma-theater

Fortune (DSE)

Simon Stephens 18.09.2021, Theater am Domhof

The Writer

Ella Hickson 16.10.2021, Theater am Domhof

Chronik einer Stadt, die wir nicht kennen (DSE) Wael Kadour 07.11.2021, emma-theater

Auf dem Rasen (DSE) Hakim Bah 29.01.2022, emma-theater

Mord im Orientexpress Agatha Christie / Ken Ludwig 12.02.2022, Theater am Domhof

Stolz und Vorurteil* *oder so

Isobel McArthur nach Jane Austen 27.03.2022, emma-theater

Herkunft

Saša Stanišić 07.05.2022, Theater am Domhof

Songs for Days to Come (UA) Interdisziplinäres Musiktheater Kinan Azmeh 04.06.2022, Theater am Domhof

Die andere Seite der Hoffnung (UA)

Aki Kaurismäki 11.06.2022, Außenspielstätte

Alle Premieren unter: theater-osnabrueck.de


THEATER HEILBRONN SPIELZEIT 2021 / 2022

GROSSES HAUS SCHAUSPIEL / MÄRCHEN

SCHAUSPIEL IN DER BOXX

é   24. & 25. SEPTEMBER 2021 HAWAII (UA) NACH DEM ROMAN VON CIHAN ACAR SCHAUSPIEL

é   22. OKTOBER 2021 VERSCHLUSSSACHE (UA) VON DURA & KROESINGER RECHERCHEPROJEKT

é   08. & 09. OKTOBER 2021 AMPHITRYON VON HEINRICH VON KLEIST SCHAUSPIEL

SCHAUSPIEL IN DER EXPERIMENTA

é   06. NOVEMBER 2021 DER RÄUBER HOTZENPLOTZ VON OTFRIED PREUSSLER REVUE é   12. & 13. NOVEMBER 2021 BUNBURY VON OSCAR WILDE KOMÖDIE é   15. JANUAR 2022 VOR SONNENAUFGANG VON EWALD PALMETSHOFER NACH GERHART HAUPTMANN SCHAUSPIEL é   09. APRIL 2022 BIEDERMANN UND DIE BRANDSTIFTER VON MAX FRISCH SCHAUSPIEL é   11. JUNI 2022 ROMEO UND JULIA VON WILLIAM SHAKESPEARE SCHAUSPIEL WIEDERAUFNAHMEN é   28. SEPTMEBER 2021 ENDSPIEL VON SAMUEL BECKETT SCHAUSPIEL

é   17. NOVEMBER 2021 SCHWARZE SCHWÄNE (UA) VON CHRISTINA KETTERING SCHAUSPIEL

KOMÖDIENHAUS é   15. OKTOBER 2021 HOW TO DATE A FEMINIST VON SAMANTHA ELLIS KOMÖDIE é   30. DEZEMBER 2021 MÄNNER VON JIMMY ROBERTS UND JOE DIPIETRO NACH DEM FILM VON DORIS DÖRRIE MUSICAL é   12. MÄRZ 2022 DIE ZEITMASCHINE (UA) VON BRIAN BELL NACH DEM ROMAN VON H.G. WELLS SCIENCE FICTION é   06. MAI 2022 WEINPROBE FÜR ANFÄNGER VON IVAN CALBÉRAC KOMÖDIE

é   13. NOVEMBER 2021 PETTY EINWEG – DIE FANTASTISCHE REISE EINER FLASCHE BIS ANS ENDE DER WELT VON JENS RASCHKE SCHAUSPIEL AB 11 JAHREN é   09. JANUAR 2022 MEIN ZIEMLICH SELTSAMER FREUND WALTER VON SIBYLLE BERG SCHAUSPIEL AB 12 JAHREN é   18. JUNI 2022 CORPUS DELICTI VON JULI ZEH SCHAUSPIEL AB 15 JAHREN

é   05. MÄRZ 2022 BORN TO BE WILD? (UA) VON KAI TIETJE UND STEFAN HUBER REVUE

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Premieren SCHAUSPIEL 2021/2022 438 TAGE NSU-PROZESS – EINE THEATRALE SPURENSUCHE UA Regie Nuran David Çalış Koproduktion von Kunstfest Weimar und DNT Weimar in Kooperation mit dem Förderverein Buchenwald e.V. und KEIN SCHLUSSTRICH, ein bundesweites Theaterprojekt zum NSU-Komplex, unterstützt durch NSU Watch: »Aufklären und Einmischen/Aydınlatma ve Müdahale«, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Lokalen Aktionsplan Weimar und JenaKultur

Mi 25.8.2021 Nietzsche Gedächtnishalle/ Altes Funkhaus Weimar

DIE JAHRE Stückentwicklung nach dem Roman von Annie Ernaux Regie Jan Naumann So 14.11.2021 e-werk weimar

ZWISCHEN LIEBE UND ZORN DIE RENFT-STORY Regie Hasko Weber Fr 19.11.2021 mon ami Weimar

MONGOS Sergej Gößner Regie Bastian Heidenreich

PAARLAUFEN II ODER MINDESTENS SECHS PERSONEN RENNEN NACH DEM GLÜCK, DOCH DAS GLÜCK, WIE BRECHT SCHON SAGTE, RENNT HINTERHER UA Jean-Michel Räber Regie Swaantje Lena Kleff Mi 26.1.2022 Studiobühne

BUDDENBROOKS – VERFALL EINER FAMILIE nach Thomas Mann Regie Christian Weise Sa 2.4.2022 Großes Haus

Kooperation mit dem Theater Erfurt

Herbst 2021 Studiobühne PLATTENBAUTEN – INSELN DER GEGENWART UA Maximilian Hanisch und Sarah Methner Regie Maximilian Hanisch

Koproduktion von HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, DNT Weimar, Kunstfest Weimar und ROXY Birsfelden, in Kooperation mit dem TD Berlin und dem Hong Kong Arts Centre, gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds, des Fachausschusses Tanz & Theater BS/BL, der Ernst Göhner Stiftung, des Migros-Kulturprozent und des Goethe Institutes Hong Kong

Fr 10.9.2021 e-werk weimar

DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA Ulrich Plenzdorf Regie Brigitte Dethier Fr 17.9.2021 Großes Haus

AM BODEN George Brant Szenische Einrichtung Sebastian Kowski Sa 18.9.2021 Studiobühne

HANNIBAL UA Dirk Laucke Regie Sebastian Martin Do 30.9.2021 e-werk weimar

BLACK BIRD Collage über den Tod von und mit Anna Windmüller Herbst 2021 e-werk weimar

DIE VERWANDLUNG nach Motiven von Franz Kafka Regie Juliane Kann Herbst 2021 Studiobühne

TREUHANDKRIEGSPANORAMA UA Thomas Freyer Regie Jan Gehler

Kooperation mit dem Landesarchiv Thüringen und dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, gefördert von der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen und dem GLS Treuhand e.V.

Do 20.1.2022 e-werk weimar

X GEDANKEN ÜBER SEHNSUCHT Projekt des Jungen DNT Regie Malin Burgau, Robert Ziesenis Sa 16.4.2022 Studiobühne

DER STURM William Shakespeare Regie Swaantje Lena Kleff Do 26.5.2022 Großes Haus

VON VÄTERN UND SÖHNEN UA Projekt des Jungen DNT Regie Stephan Mahn So 5.6.2022 Studiobühne

DIE RÄUBER Friedrich Schiller Regie Jan Neumann Fr 17.6.2022 Sommertheater am e-werk weimar


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Foto Bernd Uhlig

Exklusiver Vorabdruck

Wolfgang Engler Die andere Wahrheit


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Wolfgang Engler

Die andere Wahrheit Der Auftrag Ein Theaterstück von Franz Xaver Kroetz, „Das Nest“, 1974 geschrieben, handelt von Kurt, einem Berufskraftfahrer, der mit seiner Frau Martha so einigermaßen über die Runden kommt. Nun erwarten sie ihr erstes Kind. Das macht Anschaffungen erforderlich, und sie wollen nicht geizen. Der Sprössling soll es gut haben vom ersten Tag an. Auf seinen Vater ist Verlass. Der hält sich aus allem heraus, denkt nur an die Arbeit, das wird schon. Der kleine Stefan kommt zur Welt und gedeiht. Und Kurt schiebt Woche für Woche Überstunden, wird unruhig, wenn er einmal nicht an die Reihe kommt. Dann erteilt ihm sein Chef einen „Spezialauftrag“. Für eine Sonderzahlung soll er ein paar Fässer mit Flüssigkeit in einem nahe gelegenen See entsorgen. Ohne näher nachzufragen erledigt er den Job. Wenig später erscheinen Frau und Sohn am selben Ort, um baden zu gehen. Kaum im Wasser, beginnt das Kind fürchterlich zu schreien. Es wird erst krebsrot, dann bläulich am ganzen Körper, sein Zustand verschlechtert sich rapide, es muss ins Krankenhaus. Kurt hat eine giftige Lauge in den See geschüttet, das wird ihm klar, als er davon erfährt, und das sagt er Martha, seiner Frau. Die nennt ihn einen „Mörder“, kündigt ihm die Ehe. Im Innersten beschämt, verzweifelt, wünscht er sich aus der Welt. Bald gibt es gute Nachrichten aus der Klinik. Dem Sohn geht es besser, er wird das Säurebad ohne Folgeschäden überstehen. Martha, wieder gnädig gestimmt, möchte vergeben, vergessen. Aber für ihren Mann gibt es kein Weiterso. Er stellt den Chef zur Rede, „vergorener Wein“ lautet dessen Ausflucht. Die freche Lüge noch im Ohr, geht er zur Polizei, zeigt sich und seinen Arbeitgeber an. Die Sache macht die Runde. Der Vertrauensmann der Gewerkschaft kommt auf ihn zu, verspricht Unterstützung. Und Kurt überlegt, selbst Mitglied zu werden. „Die Gewerkschaft, das sind viele.“ Vorhang. Ein Lernprozess mit beinahe tödlichem Ausgang, ausgeklügelt, realitätsfern, aufs Ganze gesehen, so will es scheinen. Hier wird einer im engsten Kreis von den Folgen seines ebenso blinden wie schädlichen Tuns eingeholt, unabweisbar, schmerzhaft. Lernt gleichsam hautnah. Durchstößt den Kokon, der ihn einschloss in seine kleine Welt aus Mann und Frau und Kind. Macht den Vorfall öffentlich, übernimmt Verantwortung. Geht infolge des Kurzschlusses von Handlung und Handlungsfolgen womöglich als ein anderer daraus hervor. Ein Sonderling, ein Sonderfall, kontrafaktisch zu den Verlockungen der Moderne, schadlos Schaden anrichten zu können, unentdeckt zu bleiben, ungreifbar; das Unheil baden andere aus, irgendeiner, irgendeine.

Aber vielleicht ist das inzwischen unser Fall – trotz (oder aufgrund) der immer noch weiter ausgreifenden Verlängerung und Verzweigung der Handlungsketten, hinter der die Akteure in ­Deckung gehen können. Vielleicht stehen wir an einem Wendepunkt und es fällt nicht mehr so leicht, sich ins Dickicht der ‚abs­ trakten Gesellschaft‘ zu verkrümeln. Mögen viele weiter davon träumen, ungeschoren davonzukommen, wenn sie sorglos ihren Privatfisch schwimmen lassen. Aber da ist noch eine andere Wahrheit, eine konkrete, die unter die Haut geht, die alle Tricksereien, alle Versteckspiele nicht gänzlich zum Schweigen bringen können. Eine Wahrheit, die es schwer hat, ins Bewusstsein vorzudringen, das Wort zu ergreifen. Plötzlich erscheint sie an der Oberfläche, und die Tarnung fliegt im Handumdrehen auf: „Als Kinder, noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen.“ Und nun? Antreten zum Moralappell? Je suis Kurt – zumindest so lange, bis auch uns der Schlag trifft und wir endlich sehen, wer wir sind? Was hat es auf sich mit der späten Einsicht, die Kroetz seinem Protagonisten zuschreibt und die er uns zur näheren Prüfung unterbreitet?

Leibhaftiges Denken Betrachten wir den (fiktiven) Akt der Bewusstwerdung einmal aus der Nähe. Wir haben es hier in keiner Weise mit einer Kopfgeburt zu tun, im Gegenteil. Das Denken hat Kurt in seine missliche Lage gebracht, einseitiges, folgenblindes Denken. Er denkt viel, zu viel, denkt weg vom Ausgang seines Tuns, denkt diesen gleichsam zu, verwehrt, denkend, seinem Instinkt, der ihm hätte sagen können, sagen müssen, dass da etwas faul ist an der Sache, jede Mitsprache bei der Ausführung des Anschlags. Denkt an all denen zielsicher vorbei, die die bräunlich rote Flüssigkeit, die er ins Wasser laufen lässt, buchstäblich ausbaden müssen, macht „dabei kein verängstigtes Gesicht, eher triumphierend, selbstverständlich“. Denkt den See in dem Moment als Neutrum, das sich nicht wehren und dem er antun kann, was ihm beliebt. Derart schirmt er sich von allem ab, was die Erledigung seines fischigen Auftrags im letzten Augenblick durchkreuzen könnte: vom Leben im See, von künftigen Badegästen, von sich selbst als Wesen aus Fleisch und Blut. Geht, nur mehr die Prämie im Kopf, bedacht zu Werke und macht sich aus dem Staub. Kurt, kein Zweifel, ist ein Kind der Moderne. Je suis Kurt!


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Doch dann trifft ihn der Schmerz mit einer Wucht, die die Kreatur in ihm aus der Fesselung befreit. Von Weinkrämpfen geschüttelt, schlägt er sich vor die Brust, greift, willens, sich aufzuhängen, zu einer Leine, lässt davon ab, nimmt eine Rasierklinge zur Hand, da tritt Martha mit der guten Botschaft in die Wohnung, die ihn nicht tröstet: „Mir graust vor mir, Martha.“ Sein Leib übernimmt die Führung, arbeitet sich zu dieser Selbsterkenntnis durch, gegen den Widerstand des Kopfes. Es folgen Taten: Warnschild am See, (erweiterte) Selbstanzeige, Tuchfühlung mit der Gewerkschaft. Lange schien es ihm vernünftig, von seiner Vernunft keinen Gebrauch zu machen. Als er zum ersten Mal vernünftig denkt, denkt er, von Schuld gepeinigt, unter Schmerzen.

‚Seine‘ Firma? Warum denkt, handelt der Zahlenfuchs auf diese Weise, obwohl ihm kein einziger Bürostuhl gehört? Wo­ rauf beruht seine Bindung an fremdes Eigentum und was bewirkt sie?

Produktiv gleich profitabel?

Kroetz’ Versuchsanordnung versammelt alle Elemente, um eine Geschichte zu erzählen, die lange vor Kurt begann und die noch immer währt. Es ist die Geschichte einer großen Verkehrung, einer großen Ungerechtigkeit und einer leisen Hoffnung. Da ist der Fuhrunternehmer, der seinen Schnitt machen will, machen muss, ist er doch nicht allein auf seiDamit, mit Schuldgefühlen, waren nem Feld. Konkurrenten sitzen ihm Eingriffe in die Umwelt – Jagen, Roim Nacken. Um möglichst gut abzuden, Graben etc. – während der längsten Zeit der Menschheits­ geschichte schneiden, entsorgt er Abfälle seiner eng verbunden. Archaische OpferriFirma zu geringen Kosten in die ten und Opfermythen haben darin Umwelt: hundert Mark für den Fahihren Ursprung, desgleichen Erzährer, ein paar Mark für den Diesel. Lässt sie entsorgen. Von Kurt, seilungen von menschlicher Hybris, von einer Urschuld des Menschen, als der nem Angestellten. Der ist anstellig, weil er nur leben kann, wenn er Arzum homo faber wurde, seine Umgebung mit Faustkeil, Speer traktierte, beit findet und leistet, die für den Wolfgang Engler mit Pfeil und Bogen. Erdverbundene Arbeitgeber profitabel ist. Das geDie andere Wahrheit schieht, wenn Kurt während längeFraktionen des ProduktionsprozesLeinengebundenes Hardcover ses, Bergleute etwa, bewahrten dieses rer Zeit für diesen tätig ist, als er Erbe, heutige Erntedankfeste weisen benötigt, um den Gegenwert all desmit 100 Seiten sen zu erwirtschaften, was ihm als zurück in eine Zeit, in der die MenISBN 978-3-95749-363-7 Lohn zuteilwird. Das ist das Geschen, von Mächten umgeben, die EUR 12,00 EUR (print) / EUR 9,99 (digital) unerforschlich waren, stärker als sie, heimnis der „Ausbeutung“, auch der gut entlohnten. um den guten Ausgang ihrer Sache fürchten mussten. Auf Kurt passt das hässliche A-Wort gar nicht so schlecht. Ihm gehört Marx übersetzt „Arbeit“ als „Stoffwechsel zwischen Mensch und nichts von dem, womit er täglich in seiner Arbeit umgeht. Dieser Umstand hängt mit einer Enteignung zusammen, der man eiNatur“, und das wird sie bleiben, bis der letzte Zentner f­ossilen Brennstoffs verglüht ist. Mit der Zeit verblasste die konkrete, nen in die Irre führenden Namen gab: „ursprüngliche Akkumulation“. ‚Graue Vorzeit‘, meint man da, längst vergangen, abgestoffliche Erfahrung des Arbeitens immer mehr, für immer umfänglichere Teile des „Gesamtarbeiters“. Die weitaus meisten, die tan. Tatsächlich ereignet sich dieser Vorgang, der das moderne diesem Moloch zuzurechnen sind, vollziehen irgendeine seiner Privateigentum geschaffen hat, stets von neuem, wenn sich Geld weitläufigen Unterfunktionen, ohne sich dabei auch nur im Gein Kapital verwandelt, sich Land, Bodenschätze, Wälder, Seen, ganze Stadtquartiere unter den Nagel reißt, Zugang nur denen ringsten zu ‚beflecken‘. Welche Schuld sollte der Fallmanager einer Versicherungsgesellschaft angesichts des Unrechts verspüren, das gewährt, die dafür zahlen. Kurt steht da hintenan. Seine Dienste werden nicht besonders gut entlohnt. Das macht ihn gefügig, ein x-beliebiges Unternehmen der Erde antat, als es sachfremd, zerstörerisch in diese eingriff? Sollte es Geschädigte geben, die den Arbeiten nach Dienstschluss zu übernehmen, schlechte Arbeit, schädliche. Verursacher verklagen, wird er an seinem Platz das Seine tun, um Schaden von seiner Firma abzuwenden; das ist ihm aufgetragen, So wird er korrumpierbar, zum Mitgefangenen der wohl größten Tatsachenverdrehung seiner, unserer Welt, die darin besteht, das allein, mag dabei ein ganzes Ökosystem zugrunde gehen. produktiv, fruchtbar, nützlich etc. nur das zu nennen, was sich Schadensabwicklung nach den Maßgaben der Moderne, auf dem rechnet, Profit abwirft. // Verfahrensweg, auf dem kein Jota Schuld sich einmischt.


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Der Festivalsommer 21 Theater der Welt | Wiener Festwochen | Salzburger Festspiele Impulse Festival | Theaterformen | africologne | 19. Landesbühnentage


festivals

/ TdZ  September 2021  /

THEATER DER WELT

Jenseits des Nagelstudios Nach Monaten der Isolation und Selbstbezüglichkeit sendet das Festival Theater der Welt in Düsseldorf vitale Lebenszeichen aus der internationalen Theaterszene von Martin Krumbholz

D

er sogenannte Gustaf-Gründgens-Platz vor dem Düsseldorfer Schauspielhaus war jahre-, wenn nicht jahrzehntelang eine Brache im Herzen der Stadt. Reste einer vergangenen Tankstelle hatte man dort schlicht vergessen, eine Tiefgarageneinfahrt verschluckte hin und wieder einen Pkw, ein paar Skater vertrieben sich die Zeit. Das Theater, muss man wissen, wendet dem Stadtkern ja schnöde seine ausladende Rückseite zu; das Foyer betritt man vom Hofgarten aus. Eine eigentümliche Pointe des seinerzeitigen Architekten Bernhard Pfau, die später provisorisch korrigiert wurde, indem man auf der Stadtseite einen Windfang mit Kassenhaus anbaute. Die Hinterhofsituation des Platzes, die keinen Stadtvater, keine Stadtmutter zu stören schien, passte auf ­bedrückende Art zum verdrehten Kontext. Nun, fünfzig Jahre nach der Einweihung (und nach einer grundlegenden Renovierung), hat sich das gottlob geändert, wie man bei Open-Air-Events des Festivals Theater der Welt feststellen konnte. Auf einer Tribüne vis-à-vis dem Podex des mächtigen Kulturtempels sitzend, das kantige „Dreischeibenhochhaus“ seitlich im Blick, eine neue Shoppingmall im Rücken, einen gleichmäßigen hellen Sandsteinfußboden unter sich, genoss man hier erstmals ein Gefühl der Geborgenheit. Die auseinandermontierten Einzelteile eines Flugzeugwracks, vom Architektenkollektiv raumlaborberlin kreiert und von der letzten Ruhrtriennale übernommen, dienten als Kulisse für alles Mögliche, egal, ob sie akut bespielt wurden oder nicht. Die wunderbare Tanzperformance „Malen“ aus Chile, choreografiert von Ricardo Curaqueo Curiche, bedarf keines Bühnenbilds. Die 14 Frauen zwischen zwölf und siebzig Jahren stellen sich einfach hin und beginnen langsam, sich zur Musik zu bewegen, ihre Körper zu wiegen. Die Frauen gehören dem Volk der Mapuche an, einer südamerikanischen Ethnie, die besonders stark unter den spanischen Kolonisatoren gelitten hat. „Malen“ – so heißen junge Mädchen, die von älteren Frauen belehrt und in

Eine Geschichte aus der Zeit der Apartheid – „Leben und Zeit des Michael K.“ nach dem gleichnamigen Roman von J. M. Coetzee in einer Inszenierung von Lara Foot und der Handspring Puppet Company bei Theater der Welt in Düsseldorf. Foto Kirsti Cumming

die Gesellschaft eingeführt werden – ist ein mitreißender, sinn­ licher Initiationsakt. Der ursprünglichen Konzeption des emsigen Kurators Stefan Schmidtke zufolge hätte die Performance im nordrhein-westfälischen Landtag stattfinden sollen, idealerweise inmitten des Alltagsbetriebs der Politiker. Die Pandemie hat dem Festival, das um ein Jahr in den Juni 2021 verschoben wurde, auch hier einen Streich gespielt. Aber auch auf dem neuen Theatervorplatz, unter einem schwarzen Gewitterhimmel, entfaltete „Malen“ eine enorme Wirkung. Schwarz und streng gekleidet, oft mit Zöpfen und Ohrringen geschmückt, sind auch die 14 Frauen. Die beiden ältesten trommeln und singen, die anderen zwölf tanzen. Die jüngste, zwölfjährige spielt eine zentrale Rolle, als Einzige trägt sie einen farbigen Gürtel. Nicht immer lässt sich leicht dechiffrieren, was hier im Einzelnen erzählt wird; es geht jedenfalls um Rituale der Emanzipation, der „Selbstermächtigung“, wie man hierzulande sagen würde. Doch bei kaum einer anderen Gelegenheit des Festivals wurde so deutlich wie bei dieser, was die Idee des Theaters der Welt sein sollte: nicht einen eurozentrischen Blick über den Globus schweifen zu lassen, etwa das eigene Innovationsmuster dem Rest der Welt aufzudrängen, sondern Ausdrucksformen und Traditionen zu erleben, die einem zunächst fremd erscheinen ­mögen, ohne das Bedürfnis zu empfinden, sie zu „exotisieren“.

Ein schwarzer Parzival Das Düsseldorfer Schauspielhaus war ja in den Wintermonaten in die Schlagzeilen geraten, es gab einen Rassismuseklat, auf Proben war es zu Übergriffen und Beleidigungen gegen den schwarzen Schauspieler Ron Iyamu gekommen. Die Theaterleitung hat sich ein wenig gewunden, verblüfft darüber, so plötzlich und ungewollt im Rampenlicht prekärer Debatten zu stehen. So gesehen kam ein – schon vom Namen her – nichts anderes als die pure Weltoffenheit reklamierendes Festival wie Theater der Welt wie gerufen. Nicht jede ursprünglich geplante Produktion konnte, aufgrund des Einreiseregimes, verspätet über die Bühne gehen; das galt besonders für Programme aus Australien, Kanada, Brasilien – Länder, deren Hervorbringungen Stefan Schmidtke für besonders aufregend hielt. Manches wurde gestreamt, anderes musste ganz ausfallen. Nicht einreisen konnte beispielsweise das Baxter Theatre aus Kapstadt. Eigentlich war die Arbeit „Leben und Zeit des ­Michael K.“, nach dem Roman des Südafrikaners J. M. Coetzee,

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festivals

als Koproduktion geplant. Vier Kollegen aus dem Düsseldorfer Ensemble sollten in Kapstadt an den Proben teilnehmen, das Ergebnis zur Eröffnung des Festivals präsentiert werden. Es kam nicht dazu. Stattdessen: eine live gestreamte Premiere, inszeniert von der (weißen) Intendantin des Baxter Theatre, Lara Foot. Coetzees Roman ist 1983 entstanden, elf Jahre vor dem Ende der Apartheid. Die Geschichte spielt in einem fiktiven Bürgerkrieg. Michael K., den man für einen schwarzen Parzival, aber auch für eine rätselhafte Kafka-Figur halten kann, hat keinen Job. Er baut eine Art Rikscha, um seine kranke Mutter an den Ort ihrer Geburt zu transportieren, weit von Kapstadt entfernt. Dort möchte die Mutter sterben. Die beiden haben weder gültige Papiere noch Geld, ihre Reise ist unter den gegebenen Umständen lebensgefährlich. Coetzee erzählt dies zunächst in einer nüchternen, fast schmucklosen, präzisen Sprache, in auktorialer Form. Nach 150 Seiten wechselt er den Erzählmodus: Man hört nun die Stimme eines Ich-Erzählers, eines Sanitätsoffiziers, der sich des K. in einem Lager annimmt. Denn K.s Mutter ist auf der Reise gestorben; in einer Klinik hat man ihm eine Schachtel mit ihrer Asche in die Hand gedrückt. K. kann, auf sehr archaische Weise, für sich selbst sorgen, er baut in einer verlassenen Farm Kürbisse und anderes Gemüse an. Doch er wird vertrieben und landet schließlich unter den Fittichen jenes Offiziers, der es zwar gut mit ihm meint, aber letztlich an K.s Eigensinn scheitert. Diesen Erzählstrang nun hat Lara Foot in ihrer Adaption des Romans eliminiert. Offenbar sah sie in dem warmen Ton des weißen Mannes (in dem man notfalls auch ein Alter Ego des ­Autors erblicken könnte) einen paternalistischen Zug, den sie nicht mehr für zeitgemäß hielt. Michael K. erzählt nicht von sich selbst, der auf ihn gerichtete Blick ist zweifellos der eines Weißen. Lara Foot ändert die Perspektive nicht komplett, sie übernimmt etwa die (neutrale) Erzählerstimme, die unterschiedlichen Akteuren in den Mund gelegt wird. Das entscheidende Mittel sind ­jedoch die etwa einen Meter hohen Holzpuppen der Handspring Puppet Company. Sie verfremden die Vorgänge, indem sie sie ­ihres naturalistischen Settings entkleiden, und gleichzeitig birgt die Geste, mit der etwa drei Akteure die kantige, mit vorstehenden Zähnen und einer Hasenscharte gezeichnete Michael-K.-Puppe führen, einen fürsorglichen Akt, der nichts mit dem Paternalismus eines weißen Ich-Erzählers zu tun hat (wie ihn der spätere Nobelpreisträger Coetzee 1983 für nötig erachtete). Übrigens markiert Coetzee in seinen Romanen nie die Hautfarbe seiner Figuren, obwohl sie im Land der Apartheid zentrale Bedeutung hat und der Autor sich dessen natürlich bewusst ist. ­Coetzee kann voraussetzen, dass die Vorstellungskraft der Leser die Lücke füllt. Lara Foot jedenfalls erzählt die Fabel ohne Sentimentalität nach. Die Lektüre des Romans erschüttert und deprimiert weit mehr als die Rezeption der Inszenierung. Gleich im ersten Satz erwähnt Coetzee die Hasenscharte, die operieren zu lassen Michael K. ablehnt, als wolle er sich bewusst und beinahe stolz einem „menschlichen Makel“ unterwerfen, der für seinen Lebensweg wenig Gutes erwarten lässt. Foot zeigt, und das ist das Verdienst ihrer Inszenierung, dass diese Existenz zwar mehr als prekär ist, sich aber in ihrer Düsternis und Agonie bei Weitem nicht erschöpft. Das Ende der Apartheid ist als Projektion in die Geschichte eingebaut – ohne dabei einem naiven Geschichtsoptimismus zu verfallen.

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Kunst ist, wenn einer steht und schaut Wofür steht der „White Cube“? Offenbar für eine in sich geschlos­ sene Welt, ähnlich dem liebevoll ausgesuchten Rahmen eines Bildes. Auch der weiße Würfel hat etwas Kostbares. Und manchmal etwas Magisches. Das estnische Künstlerpaar Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo hätte seine Performance oder sein „Poem“, wie der Untertitel heißt, ebenso gut „White Cube“ nennen können, doch der Titel lautet schlicht: „Kunst“. Wie seinerzeit das Mega-Erfolgsstück von Yasmina Reza, in dem drei Typen sich wegen des Erwerbs eines monochromen Gemäldes heillos zerstreiten? Nicht ganz, denn Reza hat ihren Titel durch Anführungszeichen gerahmt. „Kunst“. Bei Semper und Ojasoo geht es einfach um: Kunst. Wobei man sich auch in diesem Fall nicht ganz sicher sein kann, wie ernst das Künstlerpaar die (bildende) Kunst letztlich nimmt. Ihr Poem ist eine Gratwanderung zwischen liebevoller ­Satire und ernsthafter Beschäftigung mit einem gesellschaftlichen Phänomen, das immer wieder Rätsel aufgibt. Und diese Mysterien finden nicht nur, wie Joseph Beuys einst (kryptisch) dekretierte, „im Hauptbahnhof statt“. Verschärft im Kontext von Pandemie und Lockdown hat sich die Frage nach der Relevanz der Kunst gestellt; vielerorts hat man mit Empörung darauf reagiert, dass „die Kunst“ anscheinend gleich neben Bordellen und Nagelstudios einsortiert wurde, wohl eher ungeachtet der hedonistischen und kosmetischen Komponenten, die eine Theateraufführung gelegentlich ja auch aufweist. Nein, hier lag eine Missachtung, eine narzisstische Kränkung, fast eine Traumatisierung vor, die Kunstschaffende sich keineswegs gefallen ließen. Gleichwohl gehen Semper und Ojasoo ihre Sache sehr unaufgeregt an. Anfangs stehen die fünf Performer vom Theater ­Luzern, eine weiblich, vier männlich, im White Cube in stiller ­Anbetung vor den weißen Wänden, als betrachteten sie hingebungsvoll irgendeinen Raffael oder Tizian, die dort aber gar nicht hängen. Dort hängt eben gar nichts. Nur die demütige Haltung der „Rezipienten“ ist eindeutig: Mal mit verschränkten Armen, mal mit schräg geneigtem Kopf, dann wieder leicht irritiert ob der Präsenz des Nebenmanns, so stehen sie lange da und schauen. Und je länger sie so dastehen und schauen, desto deutlicher spürt man: Diese Kunstenthusiasten schauen nicht nur Kunst an, sie inszenieren zugleich sich selbst. Sie inszenieren sich als Betrachter, oder so, wie sie sich selbst als Betrachter gern sähen. Und das ist ein Phänomen, mit dessen Beobachtung man der Essenz der Kunstrezeption sehr nahekommt. Wir betrachten nicht etwa nur eine Inszenierung, wenn wir eine Aufführung oder eine Ausstellung besuchen; wir inszenieren zugleich uns selbst als Rezipierende, als Kunstsubjekte, als Kulturmenschen. Wir amüsieren uns vielleicht, aber zugleich erleben wir uns selbst, wie wir uns amüsieren. Und dann fangen wir (womöglich) an, darüber zu reden. Doch Semper und Ojasoo schalten zunächst einen Zwischenakt ein; zu intensiver, rhythmischer, hämmernder (House-)Musik ziehen die fünf Performer in schnellen Gängen geometrische Muster durch den Raum. Dann werden kleine ­Podeste hereingefahren, und die fünf posieren als lebende Skulpturen, nicht unähnlich jenen gespenstischen Gestalten an Touristen-Hotspots, die einen Napoleon oder eine Marie Antoinette faken und ein Taschengeld sammeln. Wir sehen etwa einen ­


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­ enker, einen Speer- oder Diskuswerfer, also etwas „Klassisches“, D dann aber plötzlich eine Person, die ihre Hose herunterlässt, ­ihren Mund aufreißt oder ihre Brüste entblößt. Unerwartete Eingriffe verfremden und verzerren den klassizistischen Fundus, markieren ihn, machen ihn geradezu hässlich und obszön. Zu guter Letzt, im finalen Akt, fangen sie an zu sprechen. Es beginnt mit der Persiflage einer Auktion, da werden natürlich nur Zahlen genannt, die sich rapide und irrational ins Astronomische steigern. Später fallen ganze Sätze, die sich im Handumdrehen als Phrasen entlarven. Auf einmal scheint der Kosmos aus Rezas „Kunst“ wieder greifbar nahe. „Es ist schwierig zu beschreiben, wie Kunst funktioniert“, sagt einer. Oder: „Kunst ist keine Mathematik.“ Oder: „Es mag geschmacklos sein, aber man kann es verkaufen, wenn es gut gemacht ist.“ Oder: „Langeweile ist ver­boten.“ Oder ganz schlicht: „Ich find’s schön.“ Man könnte Semper und Ojasoo vielleicht vorwerfen, dass sie ihre Beschäftigung mit „Kunst“ ins Ungefähre entschweben lassen, aber sie verstehen ihren Abend nun einmal als „Poem“, nicht als Diskurs. Das wiederum ist in dem Format „The Assembly / Die Versammlung“ anders. Hier werden ganz konkret Fragen rund um den Themenkreis Migration, Rassismus, Klimapolitik verhandelt, und zwar auf dokumentarischer Grundlage. „Ein wirklichkeitsnahes Schauspiel“ nennt sich das Stück, erfunden und entwickelt wurde es von der Gruppe Porte Parole in Montreal. In Düsseldorf war neben einem Video der kanadischen Fassung eine Aufführung zu sehen, die an den Münchner Kammerspielen erstellt wurde, in enger Zusammenarbeit mit „den Kanadiern“ (wie die hier Beteiligten gelegentlich sagen). Sechs Personen sitzen um einen ovalen Tisch, jede hat eine Kamera und ein Mikrofon vor sich. Die zwei in der Mitte, es handelt sich um die Schauspielerinnen Wiebke Puls und Annette Paulmann, moderieren das Gespräch, das wiederum ein Reenactment, also eine Nachstellung einer zuvor geführten, fünf Stunden langen Verhandlung zwischen vier Menschen unterschiedlicher Haltung und Provenienz ist. Ihre Rollen werden nun

Rituale der Emanzipation – „Malen“ aus Chile, choeografiert von Ricardo Curaqueo Curiche. Foto Patricio Melo

von Schauspielern übernommen, deren mimetische Fähigkeiten zweifellos beeindruckend sind. Und doch hat dieses Reenactment seine Tücken. Denn die verhandelten Positionen sind zwar kon­ trovers, aber nicht kontrovers genug, um so etwas wie eine explosive Spannung zu erzeugen. Da ist beispielsweise eine Frau, Sigrid (sie wird von einem Mann gespielt), die jahrelang bei der CSU war und danach – nein, nicht, wie man insgeheim hofft, zur AfD, sondern bloß zu den ­Grünen konvertiert ist. Sigrid vertritt den puren Mainstream, anders als eine junge Frau, die sich als Anarchistin outet und einem Mann mit türkischen Wurzeln verständlich zu machen versucht, dass man das Wort „vergewaltigen“ nicht in anders konnotierten Zusammenhängen verwenden sollte („meine Gefühle wurden vergewaltigt“). Derlei ist sicher authentisch, aber auch überaus harmlos. Die AfD kommt dann doch noch ins Spiel, quasi in effigie, wie es bei Büchner heißen würde: im Abbild. Es gibt ein Tondokument, in dem ein 75-jähriger Mann darüber schwadroniert, dass man einen neuen Antisemitismus in Deutschland verhindern müsse, der diesmal nicht etwa von eingeborenen Deutschen, sondern von zugewanderten Muslimen ausgehe. Seine Nähe zur AfD gibt der Mann zwischen den Zeilen zu. Die vier empören sich erwartungsgemäß und verfassen in bester pädagogischer Absicht einen Brief, in dem sie den vermutlich Unbelehrbaren über seine „Borniertheit“ belehren. Cui bono? Nein, so faszinierend die Idee ist, konträre Temperamente und Wertsysteme buchstäblich an einen Tisch zu bringen, so vermurkst ist in diesem Fall die Umsetzung. Letztlich: Unter den gegebenen Umständen konnte das Theater der Welt 2021, trotz der immerhin 24 gezeigten Produktionen, nur ein gemindertes Festival sein. Dennoch war es richtig, notwendig und „relevant“, einen Kraftakt zu leisten, um ein Zeichen zu setzen – ein Lebenszeichen. //


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Menetekel einer destruktiven Gesellschaft Ungeschönt und eindringlich blicken die Wiener Festwochen auf Arbeit, Armut und moderne Sklaverei in einer von Produktivitätssteigerung besessenen Welt von Margarete Affenzeller


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WIENER FESTWOCHEN

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ann wird es wieder normale Zeiten geben? Gab es sie jemals? Zumindest organisatorisch lief in der Theaterwelt vor der Pandemie alles wie am Schnürchen. Der Festivalkalender schnurrte ab, Reibungsverluste aufgrund personeller Änderungen steckte man weg. Aber in Wien kam in den letzten Jahren alles zusammen. Denn für Christophe Slagmuylder sind es nun die dritten Ausnahme-Festwochen, die er verantwortet. Nach seinem kurzfristigen Einspringen für den geschassten Vor­ gänger Tomas Zierhofer-Kin 2019 und dem darauffolgenden Corona-Jahr ist der belgische Festivalmacher auch 2021 von ­einem Normalbetrieb weit entfernt. Die üblicherweise knapp sechs Wochen lang im Mai und Juni die Stadt überziehenden Festwochen müssen in diesem Jahr, den wechselnden Gesundheitsrichtlinien auf den Fersen, das angestaute Programm ­abstottern, so gut es geht. Wurde im Vorjahr das pandemiebedingt nicht stattfindende Programm teilweise durch gestreamte Videobotschaften („Gesten“) der Künstlerinnen und Künstler ersetzt, so durfte in Österreich heuer immerhin ab 19. Mai vor Livepublikum gespielt werden. Normal ist dennoch nichts. Die international vage ­ ­Gesundheitslage sowie die unsicheren Reise- und Spielmöglichkeiten haben nunmehr eine auf zwei Tranchen zerdehnte Fest­ wochen-Edition ergeben, deren erster Teil Mitte Mai sogar noch ohne Publikum startete. Aber es ging los! Florentina Holzingers „Festzug“, ein für die üblicherweise viel Publikum anziehende Eröffnung am Rathausplatz inszenierter Autocorso, fand ohne Zuschauer statt, wurde aber abgefilmt und im Österreichischen Rundfunk gesendet. Nackte Frauen auf, in und vor Autos: Holzinger schont wieder niemanden, weder ihre Performerinnen noch die Betrachter. Die Choreografin vermengt Versatzstücke aus vergangenen Inszenierungen – etwa den ­Rodeo-Bullen aus „Apollon“ oder Crashtest-Szenen aus „Études for an Emergency“ – zu einer Prozession, die den „Festzug der Gewerbe“ des Tanzpioniers Rudolf von Laban von anno 1929 zum Vorbild hatte. Dieser fand einst auf der Wiener Ringstraße zur Würdigung der Handwerkskunst statt und passt gut zu Holzinger, die auf der Bühne ja auch immer malocht und gewissermaßen ehrliches Handwerk präsentiert. In Form einer Videoinstallation war die Choreografie später dann auf zwei Standorten im Stadtraum zu sehen. „Festzug“ spielt mit der Spannung zwischen nackter Haut und scharfem Blech. In kurzen, meist in Zeitlupe gedrehten Loops zeigt Holzinger eine dystopische Leistungsschau von Mensch und Maschine. Bis auf ihre Turnschuhe splitternackt bleiben die Frauen auf fahrenden Schauwägen dem Rhythmus der Prozession treu: in blutigen Schlägereien, auf dem Laufband oder schon auf dem Asphalt, auf den sie gezerrt werden. Das

Abbild menschlicher Hybris – In „Temple Père“, dem dritten Teil ihrer „Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe)“, hat sich Phia Ménard nichts Geringeres als den Turmbau zu Babel vorgenommen. Foto Cie Non Nova / Phia Ménard

Hamsterrad des Kapitalismus dreht sich unaufhörlich. Doch es steht dabei stets der Moment zu erwarten, in dem diese Frauen zurückschlagen werden. Eine hat sich schon eine Zigarette angezündet.

Vor dampfenden Fabrikschloten Üblicherweise feiern die Wiener Festwochen alljährlich die Ankunft eines Weltstars, einmal war es Cate Blanchett, ein andermal Isabelle Huppert. Diese auf gesteigerte Aufmerksamkeit zielende Gewohnheit liegt Slagmuylder nicht sonderlich, aber mit der Wooster Group hatte der Intendant diesmal doch so etwas wie eine lebende Legende im Programm. Die New Yorker Theatergruppe zeigte die Weltpremiere von „The Mother – A Learning Play“ nach Bertolt Brechts Drama „Die Mutter“ (1932), das den Werdegang der zunächst unpolitischen Arbeiterfrau Pelagea Wlassowa zur kämpferischen Kommunistin nachzeichnet. Die Wooster Group war Pionierin des postdramatischen Theaters und hat viele europäische Theatermacher der siebziger bis neunziger Jahre beeinflusst. Ihre Bühnenpraktiken, von ­Videoeinsatz bis zu diversen Montagetechniken, wurden stilbildend. Die Dekonstruktion eines Theaterabends, seine Gemachtheit stehen jeweils im Vordergrund, so auch bei „The Mother“, das Elizabeth LeCompte im Brecht’schen Sinn als ein zwischen Nacherzählung und dialogischem Spiel wechselndes Schilderund Illustrationstheater inszeniert hat. Fabrikschlote dampfen auf hinteren Bildschirmen gemächlich Rauch aus, während ­vorne an der Rampe Pelagea (Kate Valk) in ihrer mit wenigen Gegenständen angedeuteten kleinen russischen Küche (Ikone!) noch die gutmeinende Arbeiterin gibt und sich gegen das ille­ gale Drucken von Flugblättern stemmt – was sich im Verlauf des Stücks umkehren wird. Immer wieder treten die Schauspieler aus ihren Figuren oder wechseln ins Singen, so etwa der Lehrer, der hin und wieder Wissenswertes über die Geschichte des Stücks oder das BrechtTheater generell einspeist. Eine elaborierte Tonspur, die das Bühnengeschehen parallel mit dem von den Schauspielern vorab eingesprochenen Text unterlegt, zieht eine weitere Ebene der Künstlichkeit ein; die spitzen Töne Hanns Eislers frischt Amir ElSaffar mit neuer Komposition auf. Die Inszenierung trägt einigermaßen schwer an ihrer wie zu Studienzwecken aufgedröselten eigenen Mechanik und verströmt vorwiegend retrospektiven Charme. Alles wirkt im besten Sinne out of fashion. Auch den Bühnenrealismus des Briten Alexander Zeldin könnte man im ersten Moment für überholt betrachten. Doch geht der 36-jährige Regisseur mit Laien sowie professionellen Schauspielern einen bestechenden Sozialrealismus-Weg, der über jeden Verdacht banaler Bebilderung oder Handlungsklischees erhaben ist. Der Sohn eines Russen und einer Australierin, ehedem Assistent bei Peter Brook, bringt „Ausschnitte von Realität“ auf der Bühne neu in Form: Die Zeit ist verdichtet, die Handlungen beinahe ritueller Art, vieles in dieser detailreichen Welt verläuft nonverbal.

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Zwischen nackter Haut und scharfem Blech – „Festzug“ von Floren­ tina Holzinger eröffnete, coronabedingt leider nur als Aufzeich­ nung, die Wiener Festwochen. Foto Ines Bacher / Franzi Kreis

Seit 2010, nach der damaligen Finanzkrise, hat Großbritannien Sozialleistungen im großen Stil gekürzt. Die Inanspruchnahme von Lebensmitteltafeln stieg innerhalb von fünf Jahren um 73 Prozent. Rechenbeispiele wie diese türmen sich samt ihren Quellen im vorliegenden Programmheft. Lokale Behörden können oft nur unzureichende Dienstleistungen anbieten. Und genau in einem solchen kommunalen Asylort spielt Zeldins ­ jüngstes Stück „Faith, Hope and Charity“. Hier, in einem billig ausstaffierten Sozialraum mit Durchreiche in die Ausspeisungsküche, finden Menschen einen Platz, die woanders keinen ­haben: eine sudanesische Mutter mit Teenager-Tochter, einsame Wohnheimbewohner, eine von Kindesentzug bedrohte Frau und ihr halbwüchsiger Sohn, ein Mann mit dem immer gleichen Wollpulli und so weiter. Hier gibt es Essen und einen Chor, bei dem jeder mitmachen kann. Köchin Hazel ist die „Mama“ für alle – man verzeiht dieses Klischee sofort. Zeldin zeigt ein zeitgenössisches Sozialdrama, wie man es auf deutschsprachigen

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Bühnen schon länger nicht mehr zu sehen bekam. Sein vordringliches Anliegen ist es, das durch den Brexit noch weiter verschärfte Armutsgefälle auf der Bühne (des National Theatre) sichtbar zu halten. Diese Kunst mag man engagiert nennen, sie überzeugt indes in ihrer entschiedenen Form und aufgrund ­ihrer ungewöhnlichen Aura. Die zunehmend gebrechlicher werdende Immobilie dieses ohnehin schon heruntergekommenen Sozialraums versinnbildlicht die schwache Sozialpolitik des Landes. Regen dringt in den Speise­saal, und am Ende ist auch die für den Chor so wichtige Bontempi-­Orgel völlig eingeweicht. Reparaturen werden schon länger nicht mehr bezahlt und fraglich ist, ob der Raum überhaupt weiter ­finanziert wird. Menschen, die hier Unterschlupf finden, zählen im Neoliberalismus nicht mehr. Ein Investor wartet wohl schon. Es sind die ausdrucksstarken Darstellerinnen und Darsteller, die hier mit jeweils ganz unterschiedlicher Verve dem Staat jeden Tag ein würdevolles Leben abtrotzen. Ihre Gesichter und Gesten ­haben enorme Kraft und Dringlichkeit, die man nicht so schnell vergisst. Eigentlich wäre in Wien erstmals die gesamte Trilogie „The Inequalities“ zu sehen gewesen. Doch auch hier hat die Pandemie einen Strich durch die Rechnung gemacht. „Beyond Caring“ (aus 2015), ein Stück über Zeitarbeit, kann nicht gezeigt werden. Immerhin aber läuft der Teil „Love“ Anfang September bei den ­Wiener Festwochen. Mehr Glück hatte die französische Performerin Phia Ménard. Sie eröffnete mit ihrer „Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe)“ den zweiten Teil der diesjährigen Festwochen im August. Vor zwei Jahren hatte sie hier einen Begeisterungssturm entfacht, als sie in einer kraftraubenden Solo-Performance („Maison Mère“) den Parthenon der Akropolis mit riesigen Karton­ schablonen nachbaute (siehe TdZ 09/2019). Er stand in seiner Ikea-Fragilität für das Bild eines wackeligen Europas, dem es nicht aufrichtig gelingt, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu gewähren. Und er stand für ein Staatengebilde, das an seinen Grenzen Menschen in verregneten Kartonverschlägen zurücklässt. „Maison Mère“ hatte eine ungewöhnliche Karriere genommen. 2017 bei der Documenta in Kassel erstaufgeführt, drang die Arbeit erst allmählich in den Performancebetrieb vor – und brach dabei das enge Spartendenken auf. Denn: Phia Ménard kommt vom Zirkus, genauer von der Jonglage. Sie hat sich von der virtuosen Artistin, die sie in den neunziger Jahren bereits war, weiterentwickelt zur Regisseurin und Performerin und setzt ihr Können und ihr Wissen um Materialien auf der Bühne in neuen Kontexten um. Einer ihrer Bestseller, der weltweit tourte, wurde die EisblockPerformance „P.P.P.“ (2006). Die Verwandlung des Materials, in diesem Fall das Schmelzen des Eises zu Wasser, ist ein Angelpunkt von Ménards Arbeiten und hat, wie sie selbst sagt, mit ihrer eigenen Transformation vom Mann zur Frau zu tun. Aus Philippe wurde allmählich Phia.

Der Turmbau zur Börse „Maison Mére“ (der Karton-Parthenon) bildet den Anfang der neuen Trilogie, die sich im zweiten Teil, „Temple Père“, nichts ­Geringeres als den Turmbau zu Babel vorgenommen hat. Hier


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kommt die Artistik-Kompetenz Ménards zum Tragen. Ein Trupp Arbeiterinnen und Arbeiter errichtet, entindividualisierten Sklaven gleich, unter dem herrischen Gebot einer auf Kothurnen schreitenden Gebieterin (Inga Huld Hákonardóttir) Etage für Etage ein immenses Gebäude. In einer schwindelerregenden ­ ­Akrobatik stecken sie Fassadenteile aufeinander, sodass am Ende – gemäß der biblischen Babel-Erzählung – der Himmel (der Schnürboden) erreicht ist. Nach dem Parthenon ist es ein weiteres symbolträchtiges Gebäude, das Ménard einem dramatischen Aufbau unterzieht und als Abbild der menschlichen Hybris wirken lässt. Man denkt angesichts der artistischen Schnelligkeit, mit der das geschieht, an so etwas wie „Aufstürzende Altbauten“. „Temple Père“ hat keinerlei Zeigefinger-Charakter, sondern erschüttert allein in seiner ausweglosen und entlang archaisch-­ religiöser Riten verlaufenden Prozesshaftigkeit: akustikverstärkte, rhythmisierte Atmung, Loophandlungen mit Rinderhorn und Schlüsselbund. Hier wird nicht nur ein Turm gebaut, sondern auch eine futuristische Maschine, deren unheilvolle Macht jener aus Fritz Langs beziehungsweise Thea von Harbous „Metropolis“Stoff gleicht, aus dem Textteile verwendet werden. Die Konstellation Herrscherin und Arbeitervolk widerspiegelt, so Ménard im Gespräch, auch den Neoliberalismus, der auf moderner Sklaverei fußt. Massen von Menschen schuften tag­ täglich, um die Fantasien weniger umzusetzen. In der realen Welt werden diese Verhältnisse mit viel Marketingbudget bunt verklebt und weggelächelt, bei Ménard werden sie zu einer metallisch-düsteren, expressionistischen Dystopie, die in Teil drei, „La Rencontre Interdite“, einen kurzen, durchaus rätselhaften Befreiungsschlag folgen lässt. Dieses imposante Menetekel einer destruktiven Gesellschaft führte zurück zur Eröffnungsrede der Wiener Festwochen, die die italienische Künstlerin und Regisseurin Anna Rispoli gemeinsam mit 15 Wienerinnen und Wienern verfasst und gehalten hat. Die Rede glich keiner üblichen Rede, sondern verlief als kollektives Gespräch über Geld, Zeit und Arbeit, das in einem Kreisrund im Arkadenhof des Rathauses – coronabedingt verspätet im Juni – aufgeführt wurde. Der Text versammelt die Perspektiven von Erwerbstätigen, Pensionisten, Schülern oder Studierenden bezogen auf das bedingungslose Grundeinkommen – ohne identifika­to­ risches Sprechen. Einmal sagt jemand: „Der größte Teil der menschlichen Arbeit ist schädlich für das Leben. Wir sind be­ sessen vom finanziellen Wachstum / Produktivitätswachstum erzeugt mehr Arbeit, mehr Energieverbrauch und bringt uns näher an den ökologischen Kollaps“. Oder: „Der Aktienmarkt boomt / Gleichzeitig ist in Österreich / die Nachfrage nach Lebensmittelhilfe / um 30 Prozent gestiegen“. Eine Videoaufzeichnung ist auf Youtube (youtube.com/watch?v=FZFuGflWDHk) abrufbar. Rispolis Kunstpraxis funktioniert als Intervention im öffentlichen Raum, die Menschen (Laien) konkret involviert und so ­Gedanken aus diversen Lebensräumen sammelt und weitertransportiert. Wie ein geskripteter Debattierclub rollte „Einkommen. Die bedingungslose Rede“ Themen aus, die andernorts in den Performances ausgehandelt wurden, vom Revolutionärinnendrama Brechts über Zeldins Sozialraum-Tableau bis zu Ménards Gesellschaftsdystopie. Das ergab ein, wenn auch zeitlich zersplittertes, so doch thematisch zugespitztes Festivalprogramm. //

Bernd Stegemann zeigt in seinem scharfsinnigen und pointierten Essay, wie eine Wutkultur die Balance zwischen Produktivität und Negativität finden muss, damit wir in den Stürmen des 21. Jahrhunderts nicht untergehen. Wutbürger und ihre empörten Schwestern bestimmen den Alltag. Desintegrierte fühlen sich beleidigt, Aktivistinnen sind entsetzt über die Langsamkeit der demokratischen Prozesse, und in den sozialen Netzwerken toben die Erregungsvirtuosen. Je stärker die Zersplitterung der Gesellschaft voranschreitet, desto mehr Gruppen und Individuen kämpfen um die knappe Ressource Anerkennung. In der Spätmoderne ist die Politik der Kränkung beherrschend geworden. Wut ist eine allen Menschen vertraute Emotion und ihre individuelle und gesellschaftliche Einhegung ein mühsamer Lernprozess. Ist die Wut grenzenlos, droht der gesellschaftliche Kollaps. Erlahmt sie, droht Stillstand.

Bernd Stegemann Wutkultur 104 Seiten / ISBN 978-3-95749-341-5 Hardcover 12,00 € / E-Book 9,99 € Wendungen / Verlag Theater der Zeit

Ab sofort im Buchhandel erhältlich

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SALZBURGER FESTSPIELE

Endspiel unter Tage Die Salzburger Festspiele graben mit „Das Bergwerk zu Falun“ in der Regie von Jossi Wieler ein Frühwerk Hugo von Hofmannsthals wieder aus von Otto Paul Burkhardt

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in Grabstein auf dem Kirchhof im schwedischen Falun kündet noch heute davon: Um 1677 verschwand ein junger Bergmann vor seiner Hochzeit auf mysteriöse Weise. Erst 1719 wurde sein durch Kupfervitriol konservierter Leichnam im Bergwerk entdeckt und von seiner mittlerweile ergrauten Braut identifiziert. Was wie ein Schauermärchen klingt, ist eine wahre Begebenheit, noch dazu mit Tiefgangpotenzial, was denn auch eine ganze Reihe von Autoren inspirierte: Johann Peter Hebel, E. T. A. Hoffmann, Georg Trakl, Franz Fühmann. Richard Wagner schrieb dazu ein Libretto, Hans Werner Henze eine Hörspielmusik. Hugo von Hofmannsthal schuf die umfangreichste Verarbeitung, ein fünfaktiges Drama: „Das Bergwerk zu Falun“, entstanden 1899 bis 1911, allerdings erst posthum 1949 urauf­ geführt. Nun, im pandemiebedingt verlängerten 100-Jahr-Jubiläum der Salzburger Festspiele, sah Schauspielchefin Bettina Hering die Zeit gekommen, um eine Wiederbegegnung mit dieser „Ausgrabung“ zu wagen. Schließlich gilt Hof­ mannsthal, neben Max Reinhardt Festspiel-Mitbegründer, „Jedermann“Autor und Opernlibrettist, als wichtiger Identitätsstifter des Festivals. Gewaltiger Donner aus dem Off, Putz bröckelt von der ­Decke, und der Vorhang gibt den Blick frei auf ein dunkles, nebliges, mit grauen Hohlziegelsteinen übersätes Trümmerfeld: Wie ein Endspiel à la Beckett lässt Regisseur Jossi Wieler das Drama beginnen. Ein Bergwerk nach einem Grubenunglück? Eine Albtraumlandschaft? Eine entlegene Höhlenregion des Unbewussten? Die Verortung bleibt im Ungefähren. Wir sehen verletzte Menschen, die mit Schicksalsschlägen und Schuldgefühlen ­hadern. Und dennoch auf der Suche nach Glück sind, nach einem Lebenssinn. Immer wieder schichten sie die Steine um – eine ­Sisyphos-Arbeit, ein Umbau in Permanenz. Im Mittelpunkt steht der junge Ex-Seefahrer Elis – Marcel Kohler gibt ihn in schwarzer,

ärmelloser Kluft als ruhelosen Wanderer, dessen ramponierte Rockstar-Aura etwa an Oscar Wilde oder Cure-Frontman Robert Smith erinnert. Zwischen Melancholie, Weltekel und Verführbarkeit findet Elis keinen Halt. Auch nicht in der Liebe zu Anna, die Lea Ruckpaul als hellen, belebenden, klarsichtigen Gegenpol anlegt. Am Ende verfällt Elis der Bergkönigin (mit eisigem Charme: Sylvana Krappatsch), deren Unterweltreich die Möglichkeit verspricht, sich aus der rasenden Menschen-Zeit auszuklinken – in Richtung ewiges Leben. Zwischen diesen Sphären irrt noch ein offenbar 200 Jahre alter Flüchtling namens Torbern herum, bei André Jung ein mürrischer Untoter, der Weisheiten raunt wie „Keiner wird, was er nicht ist“. Hofmannsthals symbolistisches Drama öffnet Echoräume: Goethes „Faust“, Nietzsche und Freud schwingen mit, zuweilen auch homoerotische Motive und Georg Lukács’ „transzendentale Obdachlosigkeit“. Bei erheblich gerafftem Text und halbiertem Personal gelingt es der Regie und dem sechsköpfigen Ensemble zuweilen, Hofmannsthals poetische Sprache ironiefrei zum Schweben zu bringen. Dass Jossi Wieler in den Dramentext Hebels Variante des Falun-Stoffes („Un­ verhofftes Wiedersehen“) mit hinein verwebt, erweist sich als Gewinn. Hildegard Schmahl, die ihren Großmutter-Part zur blinden Seherin archaischen Zuschnitts aufwertet, spricht diesen Texteinbau, wobei die Regie das hier anklingende, skep­ tizistische Zeitempfinden – auch als endlose Kette von Kriegen – bis in die Gegenwart hinein aktualisiert: Im Zusammenspiel mit der unerbittlich kreisenden Trümmer-Drehbühne wirkt diese Passage wie eine düster verzweifelte Litanei – ein starker, beklemmender Moment. Am Ende tanzt Elis einen bizarren Abschiedswalzer mit der Großmutter, und Anna stopft ihr Brautkleid in einen Hohlziegel, begräbt gleichsam ihre Zukunft in einem steinernen Sarg. Aufs Ganze gesehen, bleibt ein zwiespältiger Eindruck: Denn trotz der Textraffung, trotz einer empathischen Regie und eines schillernd aufspielenden Ensembles stellt sich die Ahnung ein, dass dieses Frühwerk Hofmannsthals den Weg zurück in die Spielpläne kaum finden wird. Immerhin, einen Versuch war es wert. //

„Das Bergwerk zu Falun“ (hier mit André Jung (l.) und Marcel Kohler). Foto Ruth Walz

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IMPULSE

Fernbeziehung zum Theater Das Impulse Festival in NRW arbeitet engagiert die Checkliste gesellschaftspolitischer Themen ab – im digitalen Raum wird daraus jedoch leicht konsumierbare Kritik

von Lara Wenzel

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ie sieht eine nichtnormative Beziehung aus? Muss Liebe immer romantisch sein? Und welche Rolle spielt Sex im Durch­ einander der Beziehungsweisen?“, fragen die drei Jugendlichen aus Singapur und Australien. Ganz nah wirken ihre Stimmen am Telefon, während sie Zweifel, Ängste und Hoffnungen des ­Erwachsenwerdens teilen. Die bekannte und zugleich imperfekte mediale Vermittlung versetzt jedes geschilderte Problem mit den authentischen und authentisierenden Geräuschen in der Leitung. Leises Rascheln, Atmen oder ein Räuspern zersetzen die fiktionalen Elemente in den Erzählungen. Zwischen der Anonymität der Gesichtslosigkeit und der Eindringlichkeit der abgelösten Stimme gehen die banalen Antworten verloren. Schnell verlagert sich das Gespräch auf eine sehr persönliche Ebene, während die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Vereinzelung verharren. Auflegen wäre das Mittel zur Distanznahme, sonst bleibt nur, die Intimität auszuhalten, um dem Verlauf der Performance zu folgen. Telefongespräche zwischen Jugendlichen und Erwachsenen bildeten bereits in der Präsenzvariante von „Body of Knowledge“ den partizipativen Kern. Dass die Zuschauerinnen und Zuschauer sich beim diesjährigen Impulse Festival nun allein im eigenen Wohnzimmer und nicht gemeinsam im Theaterraum an die Tele­ fone begeben, an denen sie mit Teenagern aus der ganzen Welt ­verbunden werden, gibt für Theatermacherin Samara Hersch den Themen eine neue Dringlichkeit. Die Angst vor körperlichem Kontakt in Pandemiezeiten und das verordnete Ertragen von Beziehun-

gen auf Distanz verstärkten nicht nur bei den Jugendlichen das Gefühl der Entfremdung. Zwischen Risiko und Vereinsamung mussten Möglichkeiten, Nähe und Zärtlichkeit zu erfahren, neu ausgehandelt werden. In den drei Telefonaten, die je eine Performerin oder ein Performer mit zwei Zuhörenden führte, trat die geteilte Unsicherheit zutage. Dabei blieb kaum Raum für ratloses Schweigen. Die australische Regisseurin und Künstlerin entwickelte in Kollaboration mit der Künstlerin Lara Thoms bereits mit „We All Know What’s Happening“, einer von Kindern für Erwachsene ­gehaltenen Geschichtsstunde, eine Produktion, die Machtmechanismen im intergenerationellen Gespräch verkehrt. Während man in „Body of Knowledge“ Anekdoten über schlechten Sexualkundeunterricht austauscht, werden zugleich Fragen nach Herrschafts- und Wissensdispositiven verhandelt. Welches Wissen ist es wert, weitergegeben zu werden, und durch wen geschieht dies? Die Souveränität der Jugendlichen fordert heraus, werden doch ihre Erfahrungswerte im Theater und anderswo meist von der vermeintlichen Weisheit des Alters negiert. Während des Impulse Theater Festivals wagt die Telefon­ performance den intensivsten partizipativen Ansatz, was sie in ihrer Intimität an den Rand der Übergriffigkeit führt. Acht der dreizehn ausgewählten Produktionen aus der freien Szene wurden, mehr oder minder den medialen Gegebenheiten angepasst, in den digitalen Raum verlagert oder hybrid gezeigt. Theater­ macherinnen und Theatermacher, deren Arbeiten sich unter den Die Weisheit der Jugend – In der Telefonperformance „Body of Knowledge“ von Samara Hersch telefonieren die Zuschauer mit Teenagern aus der ganzen Welt. Foto Pier Carthew

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gegebenen Hygienebedingungen nicht realisieren ließen, er­ hielten ein Preisgeld, um der Planungsunsicherheit entgegenzu­ wirken. Doch bereits im Juni zeichnete sich die Hoffnung auf einen mit Präsenzkunst gefüllten Sommer ab. Ein kleines Publikum durfte während einiger Aufführungen anwesend sein, die digital Zugeschalteten mussten sich mit einem Stream begnügen. Wie „Body of Knowledge“ arbeitete „Unterscheidet euch“ konsequent an der virtuellen Reziprozität. In einer Arbeit nicht von, sondern für Kinder und Jugendliche spielte die Performancegruppe Turbo Pascal mit den hierarchisierenden Mechanismen, die in digitalen Konferenzen am Werk sind. Im Gitternetz der Bildkacheln ordnen sie den Zuschauerinnen und Zuschauern Attribute zu. Welche Merkmale sind aus den Gesichtern ablesbar? Alter, Coolness, Schulbildung? Letztere lässt sich höchstens über die Fülle der Bücher im Hintergrund bestimmen. Wer vom Land oder aus der Stadt, aus West- oder Ostdeutschland kommt, kann nur erraten werden. Weil die Identitätszuschreibungen an ihre Grenzen gelangen, beginnt nun die Selbstpositionierung. Nacheinander offenbaren sich die Zuschauerinnen und Zuschauer als Fußball- oder Pferdefans, Zocker oder Demonstrantinnen. Dann wird es kompliziert. Nach welchen Kriterien lassen sich Armut und Reichtum bestimmen? Und was ist eigentlich mit der ominösen schrumpfenden Mitte? An dieser Stelle ändert die Aufführung nun abermals ihre Strategie. Jeder und jede erhält eine per Los bestimmte fiktive ­soziale Identität. Ein Satz weist auf die finanzielle Situation hin, welche die Jugendlichen im Folgenden kategorisieren sollen. Wer keine Ersparnisse für Notfälle hat und beengt wohnt, ist arm. Teilnehmende mit eigenem Ferienhaus ordnen sich den Reichen zu.

Doch herrscht zuweilen auch wenig Klarheit in der Kategorisierung. Die „Angst, wenn ein Küchengerät kaputtgeht“, weil man es nicht bezahlen kann, wird zur Sorge der Mittelschicht, trotz der sich darin ausdrückenden prekären Lage. Das Theaterspiel belehrt über „unsichtbare Klasse“, ohne Klassenbewusstsein in die Aufführungssituation zu injizieren und so das Publikum als aktives und fachkundiges zu adressieren. Kinder- und Jugendtheater, das einen politischen Möglichkeitsraum eröffnen will, sollte die Vorstellungskraft mit dem konkreten Gegenstand verbinden. „Unterscheidet euch“ scheitert daran. Nicht nur versäumt Turbo Pascal, die Armut und Reichtum produzierenden Verhältnisse anzusprechen – Lichtblick bleibt die Feststellung, dass viele arbeitenden Menschen wenig Geld haben –, auch schneidet ihr vermeintlich partizipatives Leitsystem das kindliche Verständnis von den Zuständen ab. Die Zwischenrufe der Jugend zeugen von mehr Klarheit und Haltung als der inszenierte Protest gegen Klassismus und für Chancengleichheit. Statt den Einwurf eines Kindes aufzunehmen, dass Superreiche enteignet werden sollten, wird er übergangen. In der Inszenierung von Turbo Pascal stellt sich Scham ein, weil die erwachsenen Performerinnen und Performer der Gruppe in ihrer leitenden Position den Zuschauenden immer überlegen bleiben. Hier wird das symbolische Bekennen gelehrt, nicht die Auseinandersetzung. Analog zum kurzlebigen Bilder-Aktivismus in sozialen Medien reicht es, in der Inszenierung zum richtigen Slogan das Gesicht zu zeigen. Die vermeintlich ebenfalls unsichtbare Unterscheidung zwischen Ost und West greift Tanja Krone in „Mit Echten singen“ auf. 300 Seiten Material sammelte sie im Gespräch mit Familie sowie

HEIN-HECKROTHBÜHNENBILDPREIS 2021 Nach Erich Wonder, Karl-Ernst Herrmann, Achim Freyer, Robert Wilson, Christoph Schlingensief, Anna Viebrock, Bert Neumann, Gero Troike und Katrin Brack geht der zehnte Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis an

OLAF ALTMANN Festakt zur Preisverleihung mit Laudatio von Oliver Reese Sonntag, 19. September 2021, 11 Uhr Stadttheater Gießen, Südanlage 1, 35390 Gießen 20 Jahre Hein-Heckroth-Gesellschaft Gießen e. V. www.hein-heckroth-ges.de


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Freundinnen und Freunden in der sächsischen Provinz. In der daraus entstandenen Pop-Performance kreisen die lustigen wie traurigen Schilderungen um das Jahr 89/90. Über die fluffigen Discobeats von Friedrich Greiling legen sich Sätze, die in ihrer Abgegriffenheit auf das Ringen nach Worten verweisen. „Du musst jetzt lernen, die Ellenbogen auszufahren“, ist eine Formel, die sich im Gedächtnis der damals 13-jährigen Performerin festgesetzt hat. Schon in ihrer Produktion „Mit Echten reden: Das Ellenbogen-Prinzip“, in der sich Krone ebenfalls dem Bruch in ­ihrem Leben annäherte, betrachtete sie diese spröde Geste. Mit den ausgefahrenen Ellenbogen macht man sich Platz, schiebt die Konkurrenz weg, um im neuen System aufzusteigen. Zugleich bildet sich ein kleiner Schutzraum, in den man sich zurückziehen kann. Die gesammelten Zitate, die sie akzentgetreu wiederholt, stehen zwischen Selbstbehauptung und verletzter Ratlosigkeit. Während der einwöchigen Residenz im Zentrum für Darstellende Künste Chemnitz entstand eine Vertonung, die für die ausgesprochenen Sorgen Partei ergreift, ohne sie sich unkommentiert anzueignen. Es ist eine Suche nach der Poesie im Alltäglichen, die in Sprach­ formeln mitteilt, was die Menschen nicht aussprechen können. „Ansonsten ist die DDR Geschichte. Das kommt eigentlich kaum vor.“

Rassismus in der Popindustrie Auch von verdachtsunabhängigen Personenkontrollen lässt sich besser singen als sprechen. Mit „The History of the Federal Republic of Germany as Told by Fehler Kutti und Die Polizei“ entwickelte Julian Warner eine Bühnenshow, die in einer Mischung aus Groove und Kapitalismuskritik eine antirassistische Geschichtsstunde gibt. Joana Tischkau arbeitet sich ebenfalls musikalisch an rassistischer Diskriminierung ab und wendet sich dabei gegen die Popindustrie. In der „Mini Playback Show“, die in den neunziger Jahren im Privatfernsehen lief, verkleideten sich Kinder, um zu Playback Popsongs zu performen. Blackfacing war in dieser Show keine seltene Praxis. Tischkau greift in der von ihr konzipierten Inszenierung „Playblack“ das Format auf. Vorgeführt wird die Aneignung der Musik Schwarzer Menschen in der weißen Unterhaltungsindustrie. Die Interviewausschnitte und Lieder, die Tischkau, Dori Antrie und Clara Reiner auf der Bühne in wechselndem Kostüm nachstellen, benötigen keine weitere Kontextualisierung. Exotisierung einer „black culture“ und rassistische Abwertung sprechen für sich und aus den als Playback eingespielten Tonspuren. Im musikalischen Vorführen der Zustände betonen die Gesangsperformances ihren Showcharakter, der erst vor Ort seine Wirkung entfaltet. Da blickt das digitale Publikum neidvoll ins besetzte Parkett. Das deutliche Bestreben, zum Präsenztheater zurückzukehren, wird in der Auswahl des seit 2018 von Haiko Pfost geleiteten Festivals spürbar, denn diese richtet sich mit wenigen Ausnahmen an die Zuschauenden vor Ort. Brav haken dabei die Inszenierungen auf der wichtigsten Plattform der freien Szene die Checkliste der gesellschaftspolitischen Themen ab. Wie bei einer woken Netflix-Serie ist das meist in gut verträgliche Unterhaltung verpackt, deren Spannungsverhältnis zum Beispiel zwischen der Musik, die zum Mitwippen einlädt, und den Leben gefährdenden Strukturen nur in Präsenz Entfaltung findet. Im digitalen Raum bleibt es leicht konsumierbare Kritik. //

SCHAUSPIEL CHEMNITZ PREMIEREN 2021 | 2022 Weinprobe für Anfänger 25.09.2021 Jede Stadt braucht ihren Helden 01.10.2021 Republic of Lucrece 10/2021 Undine (UA) 16.10.2021 Selma – Ein Leben in Jahreszeiten (UA) 21.10.2021 Der kleine Prinz 23.10.2021 Die feuerrote Blume 29.10.2021 Die Polonaise von Oginski 13.11.2021 Superbusen (UA) 03.12.2021 Leb wohl, Judas … 22.12.2021 Die Leiden des jungen Werther 26.02.2022 Hin und Her 05.03.2022 Amphitryon 25.03.2022 Tschick 26.03.2022 In der Strafkolonie 13.05.2022 Ein Sommernachtstraum 14.05.2022 Peter Pan 02.07.2022

theater-chemnitz.de

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Ein Festival für Killjoys Anna Mülter, neue Künstlerische Leiterin der Theaterformen in Hannover, setzt auf Veränderung durch Widerstand – und blockiert sogleich eine ganze Hochstraße von Theresa Schütz

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ie Bezeichnung killjoy stammt aus der Feder der Theoretikerin und Aktivistin Sara Ahmed. Herzstück von „Feministisch ­leben!“, das als bislang Einziges ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt wurde, ist das „Spaßverderber*innen-Manifest“. Es basiert auf der Überzeugung, dass die westliche, kapitalistische, patriarchale Wirklichkeit auf dominanten Narrativen von Glücksversprechen fuße. Diese Narrative – Heirat, Kleinfamilie, Heterosexualität, Erfolg oder Wachstum, die Ahmed auch als happy objects bezeichnet – bildeten die normativen Orientierungspunkte einer weißen Mehrheitsgesellschaft. Killjoys fielen aus dieser Ordnung heraus und machten (wie Ahmed selbst) die Erfahrung, zum Störenfried oder zur Querulantin zu werden, wenn sie auf Probleme wie Ausschlüsse und diskriminierende Strukturen hinwiesen.

­ hmed erklärt killjoys zu Figuren des Widerstands, indem sie an der A Dekonstruktion bestehender, ungleicher Ordnungen mitwirken. Auch Anna Mülter, die neue Künstlerische Leiterin der ­Theaterformen, könnte man als killjoy bezeichnen. Denn ihre kuratorische Praxis mit explizit feministischer Agenda weist durchaus auch aktivistisches Potenzial auf. Ihr geht es nicht nur um eine Störung, sondern um die Transformation bestehender Institutionen. Insofern ist sie die perfekte Besetzung für das Festival, das in den vergangenen Jahren unter der Leitung von Martine Dennewald in Sachen strukturellem Wandel zu einem Leuchtturmprojekt avancierte. Dennewald und ihr Team setzten sich intensiv mit Diskriminierungskritik von Arbeitsweisen auseinander und formulierten

Produktive Störung – Das Stadtlabor der Theaterformen fand auf der Raschplatzhochstraße im Herzen Hannovers statt, sehr zum Missfallen vieler Autofahrer. Foto Moritz Küstner


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THEATERFORMEN

2019 als Erstes eine verbindliche, antidiskriminierende Leitlinie. ne Festivalatmosphäre einstellen wollte. Dabei war es künstlerisch Mülter führt den Wandel fort, indem sie gemeinsam mit dem wirklich ein starker Jahrgang, der nahtlos an die großen Traditionslinien der Theaterformen anschloss. Staatsschauspiel Hannover eine Prozessbegleitung initiiert hat, In „Homecooking“ adaptiert die Performancemacherin um Festival und Schauspiel nachhaltig barrierefreier zu machen. ­Simone Dede Ayivi das populäre TV-Format einer Kochshow, widBereits als Leiterin der Tanztage in Berlin realisierte sie gemeinsam mit den Sophiensælen barrierefreie Publikumsangebote wie met sich dabei allerdings ausschließlich der diasporischen Küche. relaxed performances, bei denen Menschen mit Behinderung oder Über Videoeinspielungen gesellen sich fünf „Kompliz:innen“ hinzu. So bezeichnet Ayivi Menschen aus ihrem Netzwerk, mit denen chronischen Erkrankungen in einer entspannteren Atmosphäre sie gemeinsam arbeitet, wie die Bloggerin Nadia Shehadeh, der eine Aufführung besuchen können. Wenngleich sie ­betont, dass Theatermacher Dan Thy Nguyen oder der Barrierefreiheit ein Prozess sei, der Zeit brau­Comiczeichner Jeff Hollweg. Sie nennen Geche, konnte Mülter für ihre erste Theater­ formen-Ausgabe bereits einiges auf den Weg richte wie Humus, Banh Xèo oder Fufu, die Mülter geht es nicht sie mit den Herkunftsländern ihrer Familie bringen, darunter Audiodeskription für sehbehinderte Menschen, alternative Sitzmögverbinden, und Ayivi bereitet diese daraufhin nur um eine Störung, live zu. Ungezwungen werden dabei Themen lichkeiten und – ein Novum für das Festival – eine erhöhte, aber nicht extra markierte, sondern um die Trans- wie Gastfreundschaft, Essens-Klischees und Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung Erinnerungskulturen aufgetischt. So wird formation bestehender jede zubereitete Speise im Gegensatz zum durch die eingeladenen Produktionen von ­TV-Pendant nicht als exotisiertes Konsumgut Noëmi Lakmaier, Michael Turinsky, Raquel Institutionen. inszeniert, sondern mit persönlichen GeMeseguer Zafe, Julia Häusermann oder Claire schichten verknüpft und als identitätsstiftenCunningham und Julia Watts Belser. Inhaltlich bildete das hoch aktuelle wie des, kulturelles Erbe verschiedener, mitein­ ander verbundener Communitys gefeiert. komplexe Thema der Klimagerechtigkeit den diesjährigen Schwerpunkt. Es durchzog motivisch zahlreiche Arbeiten im BühAuch Luanda Casella hat sich für ihre Genter Produktion „Killjoy Quiz“ ein populäres, weißes TV-Format angeeignet. Statt nenprogramm (wie u. a. „How to Turn to Stone“ über den Natur und Mensch zerstörenden Kupferabbau in Chile von der gegenmit Musik vom Band, beginnt ihr Quiz mit einem dreistimmig gesungenen Jazz-Song, der den eingangs genannten Ahmed’schen wärtig zurecht gefeierten Manuela Infante) und war leitend für die Entwicklung des Stadtlabors. Inspiriert von ihrer Arbeit am HAU happy objects den Kampf ansagt. In fünf Runden müssen die beiden Kandidatinnen Yolanda Mpelé und Lindah Nyirenda killjoyBerlin unter Matthias Lilienthal, stand es für Anna Mülter – selbst Punkte sammeln, indem sie zum Beispiel verschiedene Ismen gebürtige Hannoveranerin – fest, dass sie zum Auftakt ihrer Leitung ein großes Stadtprojekt als temporäre, architektonische erraten und definieren, Zitate interpretieren, aus Wörterwolken Intervention entwickeln möchte. Gemeinsam mit dem Raum-­ zusammenhängende Begriffe bilden oder Fragen erraten. Auf ­ Kollektiv endboss konnte sie dies gegen viele Widerstände auf der wahnsinnig kluge und atemberaubend unterhaltende Weise deckt Raschplatzhochstraße im Herzen der Stadt realisieren. Wie der die musikalische Spoken-Word-Performance nichts Geringeres als Titel „We Are in this Together, But We Are Not the Same“ implidie rassistische Gewalt von Sprache in einer Gesellschaft Weißer Vorherrschaft auf. Dass es sich überdies um eine Parodie von ziert, schafft das Stadtlabor ein Bewusstsein dafür, dass das Nachdenken über Klima und Nachhaltigkeit – insbesondere in den Quiz-Format und zugrunde liegender kapitalistischer Ideologie deutschen Medien – zuvorderst aus einer nichtbehinderten, weihandelt, wird evident, wenn sich für jede Runde zwei weitere weißen Perspektive der Mittelklasse erfolgt. Als killjoy-Kuratorin weist ße, phallusähnliche Säulen aufrichten, wenn es bereits in Runde Mülter gemeinsam mit den beteiligten Akteuren von Verbänden drei um Punkte in Millionenhöhe geht oder wenn Casellas Moderator-Persona versucht, ihre Kandidatinnen durch unangemes­ und Initiativen darauf hin, wie entscheidend es sein kann, beispielsweise vom Erfahrungswissen nichtweißer, indigener Perssenes Abdriften ins Private vorzuführen. pektiven zu profitieren, um etwas über den nachhaltigen Umgang Casella zeigt, wie es aussehen könnte, jenes übergeordnete, mit begrenzten Ressourcen zu lernen. machtvolle Spiel, in das wir alle in den Rollen von Gewinnern und Das Stadtlabor ersetzte in diesem Jahr das Festivalzentrum, Verlierern miteinander verwoben sind, zu dekonstruieren. Deshalb das es sonst im Hof des Schauspiels gab und das insbesondere endet das Quiz auch nicht mit dem Sieg einer Kontrahentin, sondern in einem afrofuturistischen Setting, in dem sich die beiden theaterfernes Publikum über abendliche Gratiskonzerte zusamgemeinsam der Praxis des Geschichtenerzählens für eine andere, menbrachte. Durch die räumliche Entfernung von Stadtlabor und Spielstätten und das lokale Medienecho, das vor allem den Ärger mögliche Zukunft hingeben. Die Inszenierung wie auch das ganze Festival sind eine Einladung, sich mit den vielen schillernden killsperrungsbedingt im Stau stehender Autofahrer bediente, gerieten die Aufführungen etwas in den Hintergrund. Sicherlich auch, joys zu solidarisieren – oder auch selbst zur killjoy zu werden, damit weil die Zuschauerzahl wegen Corona reduziert war, die Gastroeiner Gegenwart vermeintlicher Alternativlosigkeit endlich gemeinnomie geschlossen blieb und sich an den Spielstätten deshalb keisam entwickelte Alternativen entgegengesetzt werden können. //

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BERÜHREN! SPIELZEIT 2021/2022 10.09. VERBRECHEN UND STRAFE 25.09. DIE SUCHE NACH DEM intendantin cathérine miville 21.05.2022 | METAMORPHOSEN eine Theaterproduktion aller Sparten frei nach Ovid 11.09.2021 | GOLD (UA) | Philipp Gärtner Titus Georgi | Jochen G. Hochfeld | Parviz Mir-Ali 16.10.2021 | DER ZERBROCHNE KRUG Heinrich von Kleist Katharina Ramser | Michael Böhler | Katharina Sendfeld 30.10.2021 | Monty Python’s SPAMALOT John Du Prez | Eric Idle Thomas Goritzki | Heiko Mönnich | Martin Spahr | Lucyna Zwolinska 15.01.2022 | DAS HÜNDISCHE HERZ Michail Bulgakow Wolfgang Hofmann | Lars Peter 26.03.2022 | FALSTAFF (UA) Andreas Marber Malte C. Lachmann | Kathrin Krumbein 17.09.2021 | DER VORNAME (WA) Matthieu Delaporte | Alexandre De La Patellière Cathérine Miville | Lukas Noll | Monika Gora

BOOKPINK (DE) | Caren Jeß Nora Bussenius | Christin Vahl | Daniel Dorsch DIE GESCHICHTE MEINER EINSCHÄTZUNG AM ANFANG DES DRITTEN JAHRTAUSENDS PeterLicht Lukas Goldbach | Alexej Paryla | Sascha Bendiks

DIE HAMLETMASCHINE | Heiner Müller

VERLORENEN MUSICAL 07.10. DIE KONFERENZ DER TIERE [8+] 15.10. HAROLD UND MAUDE 12.11. LIEBER ARTHUR Uraufführung von Judith Herzberg 28.11. DIE BREMER STADTMUSIKANTEN [5+] 04.12. MUTTERS COURAGE 28.01. SETUP.SCHOOL(). DIE LERNMASCHINE [14+] Uraufführung von machina eX

Patrick Schimanski | Thomas Döll

TRAUMSPIEL(E) (UA) | August Strindberg | Sophie Reyer Patrick Schimanski | Lukas Noll

DIE BRÜDER KARAMASOW | Fjodor M. Dostojewski Christian Fries

ANTIGONE | Bodo Wartke

25.03. IM WALD [12+] Uraufführung von Christina Kettering

Oliver Meyer-Ellendt | Thomas Döll

KÖNIG UBU (WA) | Alfred Jarry Christian Fries | Imme Kachel

08.04. GESPENSTER

DIE VERWANDLUNG (WA) | Franz Kafka Christian Fries | Imme Kachel

Oberhessisches Museum | DAS

LEBEN DES H. ERZÄHLT VON SEINEM KUNSTHÄNDLER (UA|WA) Tom Peuckert Patrick Schimanski | Denise Schneider

17.11.2021 | ZWEI TAUBEN FÜR ASCHENPUTTEL Catharina Fillers | Stefanie Schnitzler Patrick Schimanski | Lukas Noll 06.10.2021 | GOLD! – Vom Fischer und seiner Frau Leonard Evers | Flora Verbrugge Maria Kwaschik | Thomas Döll

EIN KÖNIG ZU VIEL | Gertrud Pigor Abdul-M. Kunze | Thomas Döll

DAS TOTENERWECKUNGSSÜPPCHEN

29.04. STOLZ UND VORURTEIL* (*oder so) 28.05. JUGEND OHNE GOTT 26.06. BERÜHRUNGSPUNKTE [12+] SOMMER 2022 DON QUIJOTE [6+]

Andreas Mihan

weitere Informationen und Wiederaufnahmen stadttheater-giessen.de

Weitere Informationen unter www.theater-baden-baden.de


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AFRICOLOGNE

Zwei Revolver und eine Handvoll Kritik Das africologne Festival in Köln stößt seit zehn Jahren Diskussionen über neokoloniale Verhältnisse an, um Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen von Sascha Westphal

verschiedenen Orten in und an der Alten Feuerwache stattfindende Performance nur als Live-Stream gezeigt werden. Aber selbst in diesem Format, das dem räumlichen Aspekt der Inszenierung – eine Reise aus den Chefetagen europäischer Konzerne auf eine riesige Baustelle in einem westafrikanischen Staat – viel von seiner   chließlich ist es so weit. Vater und Sohn ziehen ihre RevolIntensität nimmt, entwickelt Brossards und Bahs Spiel mit post­ ver und schießen aufeinander. Ein Ende, das sich von Anfang an abgezeichnet hat und doch nicht unvermeidbar war. Nicht das kolonialen Realitäten und zugespitzten Western-Motiven einen beachtlichen intellektuellen Sog. Zudem gleicht es in vielerlei HinSchicksal hat den Bauunternehmer und selbsternannten „König des Betons“ Franck und Niko, seinen sicht einem Brennglas, das die Ideen und Intentionen, die Themen und die Erstgeborenen, zu Todfeinden geAnliegen des alle zwei Jahre in Köln macht. Sie sind den Mechanismen stattfindenden Festivals bündelt. des Kapitalismus erlegen, die alles auf Konkurrenz und Kampf reduzieIm Gespräch erzählt Gerhardt Haag, der ehemalige Intendant des ren und kein friedliches Nebeneinander gegensätzlicher Ideen und Kölner Theaters im Bauturm, der Überzeugungen dulden. africologne 2011 in Zusammenarbeit So sieht es zumindest der mit der Kulturstiftung des Bundes guineische Autor Hakim Bah, der ins Leben gerufen hat, dass er und Kerstin Ortmeier, die Kuratorin und die Textvorlage für Cédric Brossards im Rahmen des diesjährigen africoDramaturgin des Festivals, „bestänlogne Festivals uraufgeführte Theadig auf zwei Ebenen arbeiten“. Die eine sei die politische, bei der es um terperformance „Traque – Treibjagd“ geschrieben hat. Es gibt zwar ein reDemokratie, Freiheits- und Selbstbeales Vorbild für den großen, von stimmungsrechte in den afrikaniFranck gegründeten Baukonzern schen Staaten gehe. Die andere kreise um die Frage, was es eigentlich und dessen geschäftliche Verbindunheiße, „auf Augenhöhe zusammengen zu afrikanischen Staaten. Aber Bah setzt gezielt auf Verfremdunzuarbeiten“. Eine Koproduktion wie „Traque“ gen. Nahezu alle Szenen seines Stücks gleichen Duellen. VerhandDas wahre Wesen des Kapitalismus, gespiegelt im gibt darauf zumindest erste AntworGenre des Westerns – „Traque – Treibjagd“ des lungen werden mit Worten geführt ten. Ein französisches Kollektiv, ein guineischen Autors Hakim Bah in der Regie von Cédric und nicht selten mit Schüssen aus deutsches Festival und ein guineiBrossard (hier mit Achille Gwem). Foto Celine Chariot scher Autor haben gemeinsam mit Revolvern beendet. Das wahre Weeinem „colorblind“ besetzten Ensen des Kapitalismus spiegelt sich in den Konventionen des Western-Gensemble eine Performance erschafres. Das erinnert an die Verfremdungstechniken eines Bertolt fen, die eben nicht nur postkolonialen Spuren folgt. Zugleich Brecht, dessen Lehrstück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo nutzt sie ein genuin westliches, selbst stark kolonialistisch geprägtes Genre, den Western, um wirtschaftliche Zusammenhänge Ui“ Zeitgeschichte als Mafia-Kolportage porträtiert hat. ebenso wie kulturelle Klischees zu dekonstruieren. Das ist natür„Traque“, eine gemeinsame Produktion von Brossards lich längst nicht alles, wenn es um ein gemeinsames Arbeiten auf ­Compagnie Acétés und africologne, stand im Zentrum des diesAugenhöhe zwischen afrikanischen Künstlern und europäischen jährigen Festivals. Aufgrund der Pandemie konnte Brossards an

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Theater- und Festivalmachern geht. Aber schon ein bedeutender Schritt. Und africologne geht auch noch ganz andere Wege. So gibt es deutliche Bestrebungen, afrikanische Künstler und Wissenschaftler noch stärker in die Organisation des Festivals einzubeziehen. Ein Beispiel dafür war das diesjährige dialogFORUM, das unter der Überschrift „Deckt die Pandemie demokratische Missstände auf? Kunst, Proteste und Utopien in einer viralen Zeit“ erstmals von einem afrikanischen Wissenschaftler, dem senegalesischen Entwicklungsökonomen Ndongo Samba Sylla, geleitet wurde. Wie das dialogForum, das die politische und aktivistische Seite des, wie Kerstin Ortmeier sagt, „Labels africologne“ repräsentiert, war auch die von Serge Aimé Coulibaly inszenierte und von Serge Martin Bambara geschriebene Musikperformance „Le syndrome de la pintade“ („Das Perlhuhnsyndrom“) Teil des diesjährigen Festivalschwerpunkts „Macht. Bewegung. Demokratie“. In ihr verarbeitet Bambara, der unter seinem Künstlernamen Smockey eine Berühmtheit in Burkina Faso ist, seine Erfahrungen als politischer Aktivist, der eine zentrale Rolle in der Graswurzelbewegung „Le Balai Citoyen“ („Die Bürgerbesen“) gespielt hat, die 2014 maßgeblich an den Protesten gegen das Regime von Blaise Compaoré beteiligt war. In satirischen Songs und Szenen präsentiert er die Bevölkerung als eine Schar von Hühnern, die sich von einem Pfau und später dann von einigen Perlhühnern blenden lässt. Smockeys musikalische Parabel, die auch als Koproduktion mit dem Festival entstanden ist, erzählt dabei nicht nur von den Zuständen in Burkina Faso, die sich seit der Revolution von 2014

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nur schleichend verändern. Sie spiegelt auch einen Teil der ­Geschichte von africologne, deren Verantwortliche während der Proteste in Ouagadougou waren. Ergänzt wurde die Produktion im Festivalprogramm noch durch Katy Léna Ndiayes Dokumentarfilm „On a les temps pour nous“, einem filmischen Porträt von Bambara, das keinerlei Zweifel daran lässt, dass Kunst und Aktivismus für ihn eins sind. Dieses Nebeneinander von Theaterperformances und ­Filmen, von Lesungen und Ausstellungen ist ein weiteres Merkmal des Festivals, das mittlerweile zu einem vielfältigen Treffpunkt für afrikanische und europäische Künstler geworden ist, einem Ort des Austauschs, an dem sich, wie Kerstin Ortmeier nicht ohne Stolz berichtet, „die frankofone und die anglofone Kunstszene A ­ frikas verbunden haben, die sonst kaum einmal ­zusammenkommen“. So sind nicht nur Koproduktionen des Festivals mit afrikanischen Kompanien entstanden, sondern auch eine innerafrikanische Zusammenarbeit. Ein besonderer Erfolg. Aber es sind nicht nur afrikanische Künstler, die das Festival seit Jahren begleiten und mit ihren Arbeiten prägen. Auch zu deutschen Theatermachern pflegen Haag und Ortmeier schon lange währende und sehr intensive Beziehungen. Einer von ihnen ist der Regisseur Jan-Christoph Gockel, der dem Festival seit Anbeginn sehr nahesteht. In diesem Jahr hat sein sich ständig verändernder und weiterentwickelnder Theaterfilm „Coltan-Fieber: Connecting People“ seine Uraufführung im Rahmen des Festivals. Außerdem wurde noch seine an den Münchner Kammerspielen entstandene Inszenierung „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten – Eine ­Erwiderung“ als digitales Gastspiel gestreamt. „Coltan-Fieber“ basiert auf Gockels gleichnamiger Theaterinszenierung und denkt die Idee der Zusammenarbeit über Kontinente hinweg neu. Damals war einer der Performer in seinem Ensemble der ehemalige Kindersoldat und heutige Autor und Theatermacher Yves Ndagano. In der Inszenierung konnte er seine Geschichte noch nicht selbst erzählen und hat sie an einen belgischen Schauspieler weitergegeben. Im Film reist Ndagano nun an die Orte seiner Vergangenheit und berichtet gemeinsam mit der Puppe Leopold, die zu seinem zweiten Ich wird, von dem, was er erlebt hat. Persönliche Verletzungen und Traumata werden zum Spiegel für die weiterhin schwelenden Wunden, die der Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo gerissen hat. Aus der biografischen Erzählung wird ein globales Panorama, in dem der Bedarf westlicher Konzerne an Coltan und anderen Bodenschätzen in einem direkten Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen und postkolonialen Ausbeutungsstrukturen steht. Das ist zwar nichts Neues, aber Ndagano gibt den meist übersehenen Opfern der Verhältnisse ein Gesicht. Projekte wie „Traque“ und „Coltan-Fieber“, die tatsächlich eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe praktizieren, haben im gegen­ wärtigen Klima, in dem identitätspolitische Debatten immer unversöhnlicher geführt werden, eine besondere Bedeutung. Das betont auch Gerhardt Haag: „Unser Ziel ist die Überwindung des Tribalismus und nicht ein Rückfall in Trennungen und Abgrenzungen.“ Und so ist africologne ein Festival, dass immer wieder Diskussionen über neokoloniale Verhältnisse und die Verbindungen zwischen den Kulturen anstößt, aber auf eine Weise, die dazu dient, dass, wie Haag betont, „Vorurteile auf beiden Seiten abgebaut werden“. //

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LANDESBÜHNENTAGE SCHWEDT

Wanderer im Nebel Die Landesbühnentage in Schwedt zeigen ein lebendiges Programm in voller Präsenz – Zukunftssorgen gibt es dennoch von Elisabeth Maier

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orgens um fünf Uhr brach André Nicke, Intendant der Uckermärkischen Landesbühnen in Schwedt, mit Theatermacherinnen und Theatermachern in den Nationalpark Unteres Odertal an der deutsch-polnischen Grenze auf. Im Nebel wanderte die Gruppe bei Sonnenaufgang am Fluss entlang und diskutierte, wie es nach Corona mit dem Theater weitergeht. Kunstschaffende aus ganz Deutschland tauschten sich auch darüber aus, wie sie im vergangenen Jahr dem Stillstand trotzten. Lange hatten die 19. Landesbühnentage, die diesmal in Brandenburg stattfanden, wegen des Lockdowns auf der Kippe gestanden. Nun durften André ­Nicke und sein Team Ende Juni das bundesweit erste Theaterfes-

tival ausrichten, in dem sich Schauspieler und Zuschauer wieder real begegneten. „Die digitalen Formate ersetzen das Spiel vor Publikum nicht, denn Theater lebt vom gegenseitigen Austausch“, brachte es Nicke auf den Punkt. Lange hatte der Theaterchef aus Schwedt für das Festival gekämpft. Von den 24 Landesbühnen, die in Deutschland die Theaterkunst auch in ländlich geprägte Regionen bringen, waren 20 der Einladung gefolgt. „Der wilde Osten“ hieß das Motto. Wegen der pandemiebedingten Vorgaben für das Spiel

Live und in Farbe – So präsentierten sich die 19. Landesbühnen­ tage in Schwedt, hier mit einem Morgenspaziergang entlang der deutsch-polnischen Grenze, die während der Pandemie lange geschlossen war. Foto André Nicke

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auf der Bühne zeigten die Gasttheater auf den Spielstätten des Landestheaters kleinere Formate. Trotz aller Beschränkungen verblüfften die Vielfalt und der politische Anspruch der Auswahl. Das Theater der Altmark in Stendal etwa hatte Marc-Uwe Klings Zeitgeist-Bestseller „Die Känguru-Chroniken“ auf die Bühne gebracht. Die Texte, die der Autor und Kabarettist 2009 erstmals in einem Podcast präsentierte, lasen Alexandra Sagurna und Ole Xylander in einer rasanten Show. Politische Inhalte werden hier in ein massentaugliches Format verpackt. Nora Bussenius hat die szenisch-musikalische Lesung eingerichtet. Der schräge Plot beginnt mit einem Känguru, das eines Tages bei einem erfolglosen Kleinkünstler in der WG steht und sich Eier ausborgen will. Wenig später belagert das Tier, das sich Kapitalismuskritik auf die Fahnen geschrieben hat, dessen Küche. Kling jagt die Akteure vom belanglosen Gespräch über WG-Putzpläne in hellsichtige Debatten über Sprach- und Medienkritik oder über die Macht von Lebensmittelkonzernen. Sprachspiele und Wortwitz erfassen die zwei Schauspieler schön, obwohl das Format der Lesung eine gewisse Steifheit mit sich bringt. ­Niclas Ramdohrs Komposition untermalt die Wortverdrehungen so dynamisch wie im gleichnamigen Film von Dani Levy. Tiefenschärfe zeichnet Stefano Massinis Schauspiel „Ichglaubeaneineneinzigengott“ aus. Da ringen eine Dozentin für jüdische Geschichte aus Tel Aviv, eine amerikanische Soldatin im Kriseneinsatz und eine palästinensische Studentin um ihren Glauben und um ihre Moral. Thorsten Weckherlin, der Intendant des Landestheaters Tübingen, interpretiert den Monolog mit Franziska Beyer nicht als trockene Abrechnung mit der Zeitgeschichte. Klug entwickelt die Schauspielerin die Biografien, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Mit viel Feingefühl balanciert sie auf dem schmalen Grat einer Wirklichkeit, in der Krieg und Terror den Alltag bestimmen. Ausstatter Kay Anthony verknüpft die un-

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Ein Balanceakt zwischen Ironie und Karikatur – Jonas Kling und Charlotte Reuter in „Adolf – Der Bonker“ nach einem Comic von Walter Moers am Theater für Niedersachsen in Hildesheim. Foto Tim Müller / buehnenfotograf.de

terschiedlichen Lebenswelten mit griffiger Symbolik. Wenn Beyer die US-Flagge wie einen Schal um den Hals wirft, wandelt sich der Blick. Den Kunstgriff des italienischen Autors, gegensätzliche Perspektiven zu konfrontieren, setzt die Schauspielerin virtuos um. Souverän wahrt sie die Distanz, lässt aber auch starke Gefühle zu. Dieser komplexe Ansatz befeuert Debatten über den Wert des Lebens und über die Reaktionen des Staates auf Terror und Gewalt. Die Werkschau in Schwedt zeigte, wie viele innovative Impulse von den Landesbühnen ausgehen, die mit dem Abstecherbetrieb manchen Zwängen unterliegen. Moritz Nikolaus Koch hat am Theater für Niedersachsen in Hildesheim „Adolf – Der Bonker“ zur Uraufführung gebracht. Die Comics des international gefragten Zeichners Walter Moers für die Bühne zu bearbeiten, ist ein gewagtes Experiment. Lachen und Schrecken balancieren die Schauspieler Jonas Kling und Charlotte Reuter zwar gut aus. Nicht immer aber hält Kling in der Rolle des Adolf Hitler, der die letzten Tage seines Lebens im Bunker verbringt, die ironische Distanz. Dann gerät ihm die komplexe historische Figur zur Karikatur. Moers’ Comic bewegt sich da haarscharf an der Grenze, behält aber stets den politischen Kontext im Blick. Diesen Balanceakt schafft das Hildesheimer Regieteam nur bedingt. Die schrillen Kostüme von Alona Rudnev verstärken die Überzeichnung noch. Nach Monaten des Austauschs über Zoom-Konferenzen legten die Veranstalter von den Uckermärkischen Bühnen großen Wert darauf, Begegnung und Austausch möglich zu machen. Der Schlosspark, der das moderne Theater- und Kulturhaus in Schwedt umgibt, bot da ideale Möglichkeiten. „Wir haben das Festivalzentrum ins


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Freie verlagert“, sagt Nicke. Auf Bierbänken kamen die Theatermacherinnen und -macher nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Publikum ins Gespräch. Abends nach den Vorstellungen lud der Schauspieler Fabian Ranglack in die Vorstell-Bar ein. Da plauderte er mit Vertretern der Landesbühnen über ihre Häuser und aktuelle Projekte. Danach machten Ensembles aus dem Haus Musik. Auf der Odertalbühne mit Blick auf den Fluss zeigten die Gastgeber ihr Musical „Cindy Reller – Voll ins Ohr und mitten ins Herz“. Obwohl sich die Uckermärkischen Bühnen auf die Schauspielsparte konzentrieren, hat das Musiktheater im Ensemble einen hohen Stellenwert. Zudem holt Intendant Nicke immer wieder ­Gäste mit Musicalausbildung ans Haus. „Die Musicals begeistern ein ganz anderes Publikum“, findet der Intendant, der den Austausch mit den musikalisch und tänzerisch bestens geschulten Profis auch für seine Schauspielerinnen und Schauspieler gewinnbringend findet. Das Schlagermusical von Martin Lingnau und Heiko Wohlgemuth erzählt das Märchen von „Cinderella“ und ihrer bösen Stiefmutter neu. Dabei setzt Regisseur Christian Alexander Müller voll auf die Komik des Stoffs. Sängerisch und tänzerisch peitschen er und der musikalische Leiter Tilman Hintze die Akteure an Grenzen. Der frische Zugriff spricht Generationen an. Die Grenzstadt Schwedt an der Oder ist von der Erdölver­ arbeitung sowie von Industrie und Arbeiterkultur geprägt. Um auch bildungsferne Schichten zu erreichen, sieht Intendant Nicke im Musiktheater Chancen. Er will das Theater, das auch Kulturhaus ist, weiter öffnen. „Wir sprechen auch Publikum aus Polen

an, bieten Vorstellungen mit Untertiteln.“ Die Grenze des osteuropäischen Nachbarlands ist drei Kilometer entfernt. In der europäischen Ausrichtung sieht der Theatermann einen Weg, „Bühnenkunst über den eigenen Horizont hinaus zu denken“. Dieser „Blick über den Tellerrand“ hat auch Barbara Schöneberger gereizt. Die Dramaturgin der Württembergischen Landesbühne Esslingen hat das Ensemble von „Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky begleitet. Sie selbst hat an den Fachgesprächen der Theatermacherinnen und -macher teilgenommen, die im Schloss Monplaisir vor den Toren der Stadt auf der Agenda standen. Zu erfahren, wie andere Landesbühnen etwa mit den ­sozialen Medien umgehen, fand sie spannend. „Schön, dass der Austausch wieder persönlich möglich war.“ Dass Intendant Nicke seine Kollegen mit Schwedt vertraut machte, hat ihr gefallen. So besichtigte sie mit einer Gruppe das Militärgefängnis, für das die Stadt an der Oder zu DDR-Zeiten bekannt war. Profitiert von Impulsen bei den Fachgesprächen hat auch Wolf E. Rahlfs. „Wir sollten aus den Erfahrungen der Corona-Zeit lernen“, ist der Intendant des Landestheaters Sachsen-Anhalt Nord in Stendal überzeugt. Seine Bühne arbeitet viel mit digitalen Formaten, entwickle sich da weiter. Gerade jetzt sei es für die Landesbühnen aber wichtig, in den Abstecherorten präsent zu sein. Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen hofft Rahlfs, dass sich die Kulturverwaltungen weiter zum Modell der Landesbühne bekennen und die Gastspiele nicht Sparzwängen zum Opfer fallen. // Theater der Zeit ist Medienpartner der 19. Landesbühnentage in Schwedt.

IN DER PLANWERKSTATT 378 UND IM STADTRAUM

DIE 73 TAGE DER COMMUNE ODER DER LANGE WELLENSCHLAG DER REVOLUTION

3.9. – 2.10.2021 STADTLABOR

2021 jähren sich nicht nur die Aufstände in den Ländern der arabischen Welt und die Occupy-Bewegung zum zehnten Mal. Vor 150 Jahren wurde im Frühjahr die Pariser Commune ausgerufen. Das FFT nimmt diese urbane Revolution zum Anlass, um zu erforschen, welches Wissen und welche Praktiken denen zur Verfügung stehen, die sich für eine andere Gesellschaft einsetzen. Mit: Jochen Becker ― Claudia Bosse/theatercombinat ― Ted Gaier ― Gintersdorfer/ Klaßen ― Arno Gisinger ― Bouchra Khalili ― Jan Lemitz ― Guillaume Paoli ― Susanne Priebs ― Klaus Ronneberger ― Kristin Ross ― Christoph Schäfer ― Christoph Schmidt/ifau ― Schwabinggrad Ballett & Arrivati ― Adania Shibli ― Laura Strack ― Urban Subjects ― und vielen weiteren.

Place Internationale wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Das FFT wird gefördert durch die Landeshauptstadt Düsseldorf und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

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Premieren im Schauspielhaus

28. AUG 2021

HIER KOMMT KEINER DURCH! nach dem gleichnamigen Bilderbuch von

6. NOV 2021

29. JAN 2022

Uraufführung

ANGST von Volker Lösch, Lothar Kittstein und Ulf Schmidt

Isabel Minhos Martins und Bernardo P. Carvalho, Auftragskommposition Gordon Kampe

10. SEP 2021

Eine Impro-Performance nach Daniil Charms

18. NOV 2021

MERCEDES

18. FEB 2022

von Thomas Brasch

UNERHÖRT

Uraufführung

UNSERE WELT NEU DENKEN EINE EINLADUNG nach Maja Göpel

11. SEP 2021 Uraufführung

LIEBE ET CETERA von Emanuel Tandler

1. OKT 2021

ISTANBUL Ein Sezen Aksu-Liederabend von Selen Kara, Torsten Kindermann und Akin E. Sipal

DARÜBER, WIE EIN MENSCH ZERBRÖSELT

Ein Rechercheprojekt

19. NOV 2021

DER ZERBROCHNE KRUG Lustspiel von Heinrich von Kleist

18. MÄRZ 2022

KLEINER MANN – WAS NUN? nach dem Roman von Hans Fallada

26. NOV 2021 Uraufführung

8. APR 2022

NOVEMBER von Sascha Hawemann

5. DEZ 2021

ALICE IM WUNDERLAND

WAS DAS NASHORN SAH, ALS ES AUF DIE ANDERE SEITE DES ZAUNS SCHAUTE von Jens Raschke

Familienstück nach Lewis Carroll

23. APR 2022

9. OKT 2021

BIN NEBENAN Drei Monologe von Ingrid Lausund aus BIN NEBENAN – MONOLOGE FÜR ZUHAUSE

14. JAN 2022

EIN BLICK VON DER BRÜCKE von Arthur Miller

29. OKT 2021

ANNA KARENINA

Deutsch von Alexander F. Hoffmann und Hannelene Limpach

ONKEL WANJA Drama in vier Akten von Anton Tschechow

20. MAI 2022 Uraufführung

<3 … STILL LOADING (AT) von Maria Milisavljevic

nach Lew Tolstoi

20. JAN 2022

30. OKT 2021

MARIA STUART

Uraufführung

nach Friedrich Schiller in einer Bearbeitung von PeterLicht

MEIN JIMMY von Werner Holzwarth

21. MAI 2022

EIN PARTIZIPATIVES PROJEKT

THEATER-BONN.DE


ITZ MY LIFE AND ITZ NOW OR NEVER DAMALs IM sALON DER HuNDERT (UA)

Von Gregor Schuster

100% ERNsT uND 100% IRONIscH (UA) Von Peer Mia Ripberger

ALLEINHEIT. DAs uNIVERsuM bLEIbT ´NE NuLLNuMMER (UA)

Von Peer Mia Ripberger

bTW WAgNER – sIEgFRIED, bIsT Du’s? (UA)

Von OMG Schubert

scHIMpF & scHANDE (UA)

Von Hannah Zufall

www.itz-tübingen.de

Premiere 25. September 2021 Premiere 16. Oktober 2021 Premiere 20. November 2021 Premiere 11. Dezember 2021 Premiere 15. Januar 2022


21/22 TONI ERDMANN UA 15+ Ade | Linke 19.9.21 STUDIO SÜD Schauspielensemble AB 18.9.21 MEDEA STIMMEN 16+ Wolf | Bergmann 1.10.21 WIR SIND DAS KLIMA! DSE 14+ Foer | Wengenroth 15.10.21 GOTT 15+ von Schirach | Petri 28.10.21 IN DEN GÄRTEN ODER LYSISTRATA TEIL 2 DE Berg | Lindemann & Groß 14.11.21

Die neuen Todsünden

DER GUTE GOTT VON MANHATTAN 14+ Bachmann | Durand-Mauptit 3.12.21 FRÄULEIN JULIE 16+ Strindberg | Engelkes 18.12.21 BLANK DSE Birch | Bergmann 5.2.22 GABRIEL 16+ Sand | Daubnerová 14.4.22 WUNDER GESCHEHEN – EIN MUSICAL UA Schötz, Meinhold & Ensemble 4.6.22

@staatstheaterka WWW.STAATSTHEATER.KARLSRUHE.DE

WALDWÄRTS UA Lie 23.6.22


FOTOS: ©ASTRID KARGER, MARTIN KAUFHOLD

ENDLICH WIEDER THEATER! TRÜFFEL TRÜFFEL TRÜFFEL

SCHAUSPIEL-PREMIEREN 2021/2022 | SPIELZEITMOTTO: »IN GESELLSCHAFT!« GABRIEL Schauspiel von George Sand DEUTSCHSPRACHIGE ERSTAUFFÜHRUNG

Ab 11. September 2021

R + B Jacobi, K Fossati, M HENRI, D Schuster-Gäb

KUCKUCKSKINDER BEWARE THE AL! D IG IT CHILDREN | DIGITALE PRODUKTION Stück von Matthias Pick und dem ensemble4 nach Wyndhams »The Midwich Cuckoos« | URAUFFÜHRUNG Ab 21. Januar 2022 online R Pick, B + K Linsel, D Reiser

AUGEN OHNE GESICHT (DAUGHTER’S CUT) Stück von Wilke Weermann nach dem gleichnami- DER WEG ZURÜCK THE REGRESSION gen Film von Georges Franju | URAUFFÜHRUNG Schauspiel von Dennis Kelly Ab 18. September 2021 Ab 23. Januar 2022 R Weermann, B + K Stenzel, M John, D Kranz

R Mehler, B + K Hörr, M Rimsky-Korsakow, D Busch

DER BESUCH DER ALTEN DAME Eine tragische Komödie von Friedrich Dürrenmatt Ab 19. September 2021

ODE Schauspiel von Thomas Melle Ab 1. April 2022

SPIELER UND TOD Etüde für einen Schauspieler von Björn SC Deigner | URAUFFÜHRUNG Ab 12. November 2021

VERFAHREN Schauspiel von Kathrin Röggla | URAUFFÜHRUNG Kooperation mit dem Theater Rampe Stuttgart Ab 2. April 2022

R Rueb, B Barth, K Joisten, M Schnurpel, Ch Kloos, D Busch

R + K Köhler, B Oertel, Köhler, D Schuster-Gäb

DONKEY DER SCHOTTE UND DAS PFERD, DAS SICH ROSI NANNTE 6+ Familienstück von Martin Bieri und Ariane von Graffenried frei nach Cervantes

R Mönch, B + K Rieser, M Röser, D Kranz

R Bues, Nergiz, M Kaufmann, B + K Mondschein, D Schuster-Gäb

DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG

DER GROSSE GATSBY Ein kapitalistisches Märchen von Rebekka Kricheldorf nach F. Scott Fitzgerald Ab 9. April 2022 R Bruinier, B Thiele, K Klimczyk, Ch Rampre, M Wachholtz, V Koch, D Busch

ZEITZEUGEN DER POSTAPOKALYPSE Eine Produktion des Jungen Ensembles URAUFFÜHRUNG

Ab 23. April 2022 R Pauer, B Tauer

TSCHERNOBYL. STIMMEN Tanzstück mit Monologen von Swetlana Alexijewitsch Ab 3. Juni 2022 R Cino, Köhler, B + K Metzer, D Schuster-Gäb

JEDERMANN. BLIESGAU Ein Theaterprojekt nach Hugo von Hofmannsthal – Teil III der Saarland-Saga | URAUFFÜHRUNG Ab 4. Juni 2022

R Bruinier, B Krettek, K Klimczyk, M Rimsky-Korsakow, D Kranz

Ab 14. November 2021

R Bruinier, B + K Vogetseder, M Böcker, V Koch, D Kranz

FESTIVALS

SCHÖNE BESCHERUNGEN Komödie von Alan Ayckbourn Ab 15. Januar 2022

15. FESTIVAL PRIMEURS Festival für frankophone Gegenwartsdramatik Vom 17. – 20. November 2021

R Weinheimer, B + K Gädeke, D Kranz

DAS KNURREN DER MILCHSTRASSE

www.festivalprimeurs.eu

SAARLÄNDISCHES STAATSTHEATER GMBH | Schillerplatz 1, 66111 Saarbrücken | Generalintendant Bodo Busse

www.staatstheater.saarland


formdusche.de

DIES IST MACHT! NICHT STARK IN DEN GLIEDERN, NICHT HART IM HERZEN UND WAGEMUTIG SEIN, SONDERN GÜTIG UND MITFÜHLEND. MENSCH DER LETZTE elley Nach Mary Sh

21.22


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protagonisten

/ TdZ September 2021  /

Das Jahr des Eismanns Raus aus dem Schneckenhaus des Ichs – Neue Romane von Ferdinand Schmalz, Roland Schimmelpfennig, Rebekka Kricheldorf und Michel Decar

von Dorte Lena Eilers

A

ch, die Sonne, „diese gelbe Sau“. Scheint und scheint da so gnadenlos von oben herab, als wolle sie das, was auf Erden so lebt, mit kräftigen Hieben erschlagen. Voll drauf auf die Köpfe der Menschen, Materie, die auf Materie trifft, denn Licht besteht halt nicht nur aus Wellen, sondern auch aus Teilchen. Und so bewegen sich die Menschen in Ferdinand Schmalz‘ soeben erschienenem Debüt-Roman „Mein Lieblingstier heißt Winter“ seufzend und ächzend durch ihr Leben. Alles ist Körper in dieser Welt. Menschenkörper, Tierkörper, Wachkörper, Gesellschaftskörper. Selbst die Wetterphänomene, diese hundstagigen Phasen im Sommer, verklumpen sich zu einer Substanz, bilden gallertartige Strukturen, durch die sich die Bewohner dieser mittelgroßen Stadt an der Donau schieben wie durch eingedickten Quark. Ach Mensch, ach Körper. Denn wer einen hat, der kennt auch den Schmerz. Den Rückenschmerz, den Zahnschmerz, den Kopfschmerz, den selbst Tabletten und ergonomische Stühle auf Dauer nicht wirklich bekämpfen. Alles leidet, auf die ein oder andere Art, leidet am Gegenüber oder auch schlicht am Leben selbst, das, schwupps, kaum begonnen, so schnell schon endet. Das klingt ziemlich düster, ist aber in der Welt von Ferdinand Schmalz kein Grund zur Verzweiflung. Im Gegenteil: Im Reigen der hier besprochenen vier Romane, in denen Autorinnen und Autoren, die vorrangig – zumindest bislang – als Drama­ti­ kerinnen und Dramatiker bekannt waren, über die Widrigkeiten des Lebens nachdenken, ist sein Personal, wenngleich sogar im Rudel mit dem Tod konfrontiert, das zuversichtlichste. Wie das? Da ist zunächst Schmalz‘ Hauptfigur: Franz Schlicht, ein Name wie sein Charakter, jedenfalls sollen alle, die ihm begegnen, dies glauben. Irgendetwas scheint passiert zu sein in seinem frü­ heren Leben, von einem Schicksalsschlag ist da die Rede, doch nach außen hin ist keine „Verschlagenheit“, keine „Listigkeit“ zu sehen. Dass Schmalz all dies erklären muss, inklusive der Rück-

führung auf seinen Namen („So wirkt er nun, ganz seinem Namen getreu, geradewegs die Schlichtheit in Person.“), ist nicht unbedingt vonnöten. Auch nicht, dass dieser Tiefkühllieferant ein Klimaleugner sein muss. Dennoch steckt in dieser Figur, wie auch in vielen anderen dieses Romans, eine ganz eigene, berührende Poesie. Als Tiefkühllieferant unterwegs mit einem LKW voll gefrorenen Materials, ist er der heimliche Herrscher über den Tod, oder besser gesagt: über die unser Dasein nach hinten hinaus begrenzende Zeit. Schockfrosten – ist das nicht ein für Tage, Stunden, gar Monate ermöglichter Stillstand? Sind nicht all die Schnitzel, Pizzen und Knödel, einmal schockgefrostet, Körper, die so schnell nicht verwesen? So dachte es sich zumindest der schon ernstlich erkrankte Doktor Schauer, als er dem verdutzten Schlicht, eine Packung Rehragout in der Hand, vor seiner Tiefkühltruhe unten im Keller einen teuflischen Plan auftischt. Wohin mit dem eige­ nen Körper, wenn er zum Leben nicht mehr taugt?

Die Nacht, in der das Leben zersprang Auch dem Berliner Drogenfahnder Tommy in Roland Schimmel­ pfennigs im Frühjahr erschienenen Roman „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ kommt urplötzlich ein Körper in die Quere, kein alter, erkrankter, sondern ein junger, schmächtiger. Läuft ihm bei voller Fahrt auf dem Kottbusser Damm vor das Auto. Es war ein Noteinsatz gewesen. Zwischen Kreuzberg und Neukölln hatten zwei Männer das Feuer auf einen Polizeiwagen eröffnet. Der Drogenfahnder war zur Verstärkung herbestellt, das Tempo war hoch, die Sirene laut – dennoch stand der Junge plötzlich da. Sah ihn „für den Bruchteil einer Sekunde mit fassungslosen Augen an, da lebte er noch, und dann flog er über die Motorhaube“. Für Tommy geht in diesem Moment das bisherige Leben zu Ende. Es sind Sekunden, die sich nicht umkehren lassen. Bilder, die nicht verlöschen. Ein Mensch, der plötzlich kein Mensch mehr ist. Ein paar Zuckungen noch. Dann nichts mehr. Nur ein Körper. „Das war die Nacht“, sagt Tommy, „in der mein Leben zersprang … Alles ergab von einem Tag auf den anderen keinen Sinn mehr.“


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Mit „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ hat Roland Schimmel­ pfennig einen eindringlichen Roman über einen Absturz geschrie­ ben. Es ist der Sturz aus einem Leben, dessen Sinn man Momente zuvor zumindest noch erahnen konnte – und zu dessen Ordnung dieser Polizist irgendwie beitrug. Doch die Linie zwischen Chaos und Ordnung ist äußerst fragil. Ferdinand Schmalz lässt aus diesem Grund einen ganzen Putztrupp aufmarschieren: Es ­ herrsche Chaos, sagt auch Putzmann Harald, der tagtäglich da­ gegen anschrubbt, was der Menschenkörper so versaut. „Chaos, das zu einem rüberschwappt“, ist der Fernseher erst einmal an. Doch putzen allein hilft da leider nicht viel weiter. Daher tritt auch hier ein Inspektor auf den Plan. Ermittelt, was das Zeug hält, denn die Todesfälle reißen nicht ab. Das sind die Momente, sagt der Inspektor stolz, in denen „das Mögliche sich in das Wirkliche wird stürzen und er, der Herr Inspektor, dann für eine Ordnung wieder sorgen könnt. Weil‘s das ist, was wir doch am Ende des Tages alle wollen, unser kleines Stück ordentlich sortierte Wirklichkeit.“ In diesem Sinne ist auch Roland Schimmelpfennigs Roman keine bloße „Whodunit“-Story, wie der Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sträflich verkennt. Es ist der Versuch, die durch den Einfall des Möglichen in das Wirkliche zerrissene Textur des eigenen Lebens wieder zu flicken. Klar, am Anfang taucht auch hier eine weitere Leiche auf, eine junge Frau, die während einer sommerlichen Techno-Party im Hochzeitskleid und mit Rosen im Haar auf dem Landwehrkanal treibt, als wäre sie soeben einem Nick-Cave-Video entschlüpft. Niemand achtet auf die Tote, nur dem Drogenfahnder fällt sie auf. Nachdem er sie an Land gezogen hat, ist er von ihrem Schicksal wie besessen. Wer ist diese Frau? Wurde sie umgebracht? Was bedeutet das geheimnisvolle Tattoo auf ihrem Rücken, das großflächig etliche Narben verdeckt?

Wo der Asphalt blasen wirft – Ferdinand Schmalz kocht in seinem Roman „Mein Lieblingstier heißt Winter“ die Österreicher gar wie einst Ulrich Seidl in seinem Vorstadt-Film „Hundstage“. Foto picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Tommys Auftrag aber, der ihn dazu verleitet, dem Fall nachzu­ gehen, ist kein staatlicher mehr. Der Ermittler ist nach dem Unfall mit dem Jungen längst suspendiert, mittlerweile gar selbst Teil der städtischen Kriminalität. Sein Impuls ist vielmehr existen­ zieller Natur, ein hilfloser Versuch, die Bruchstücke, in die sein Leben zerbarst, wieder zu ordnen. Er hatte dort auf dem Kottbus­ ser Damm die Grenze gesehen, den Übergang zwischen gerade noch lebend und plötzlich schon tot. Fortan existierte für ihn alles gleichzeitig. „Alles ist richtig und alles ist falsch.“ Ein Zustand, der dem Ex-Fahnder nur im Rausch erträglich erscheint. Ach je, also wieder ein Berliner Drogenroman? Tatsächlich wird in diesen durchwachten Tagen und Nächten der Erzählzeit eingeschmissen, was nur geht. MDMA, Ketamin, Speed. Die Linie zwischen Tag und Nacht ist philosophisch gemeint. Es ist aber auch die Linie auf dem Tisch, die Koks-Line, die helfen soll, den Zustand der Gleichzeitigkeit – Nächte, die sich in Tage verirren, Menschen, die hellwach und zugleich todmüde sind – zu ertragen. Verzeihen muss man Schimmelpfennig bei seiner langen Reise durch die Berliner Nacht so manch einen Schwenk in den Ethnokitsch. Die Auftritte eines russischen Mystikers oder einer feuerspuckenden Inderin wirken, als wären diese Figuren einer Fantasy-Party im Ritter Butzke entlaufen. Aber vielleicht sind sie das auch. Je tiefer jedenfalls sich Schimmelpfennigs Ex-Cop in die Drogen- und Partyszene begibt, desto unwahrscheinlicher werden


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protagonisten

die Bewegungen der Personen in Zeit und Raum. Begegnungen finden statt, die selbst der Zufall in dieser Dichte (und in dieser Großstadt) nicht hätte herbeiführen können. Ein seltsam schwebender Eindruck entsteht, als wäre alles von fremder Hand ­gesteuert oder eben von einem traumatisierten und zugedröhnten Hirn erträumt. Anders als bei Schmalz, der durch seine dialektal gefärbte Sprache nicht nur von Körpern erzählt, sondern auch Sprachkörper erschafft (im Grunde ist der ganze Roman nahezu haptisch ertastbar), setzt Schimmelpfennig auf einen trockenen Ermittlerton, der anfangs verdächtig nach Tatort-Sprech klingt, zunehmend aber in seinem faktischen Scannen der Welt den Nachhall eines viel trockeneren Geräusches imitiert: den Aufprall eines jungen Körpers auf der Straße. Alles geschieht. Ob man will oder nicht. Schmalz‘ Weltbeschreibung hingegen ist ein echter Rausch literarischer Bilder. Da sehen wir Erzkonservative wie den Ministerialrat Kerniger ein Gulasch essen, und zwar nicht irgendeines, sondern jenes, das der Leopold gerne kocht. Angerührt in einem Kessel, in dem sich vom Vortag die Reste noch befinden, sodass Neu und Alt aufs Kulinarischste dialogisieren, eine Traditions­linie bewahrend, die bis zu Napoleon reicht, denn der Urtopf stand schon beim Sieg bei Aspern auf dem Feuer. Auf vielen Ebenen ist Ferdinand Schmalz‘ Roman, der mit einer Szene in einem stillgelegten Dinosaurierpark beginnt, ein fröhliches, skurriles Spiel mit der Zeit, mit uralt und brandneu, Geschichte und Gegenwart, Werden und Vergehen, ohne jedoch den existenziellen Schrecken zu berühren, von dem Schimmel­ pfennigs Protagonist so hart getroffen wurde. Diese Temperiertheit teilt das Buch mit zwei anderen Romanen, die in diesem Frühjahr erschienen. Michel Decar hat sich mit seinem zweiten längeren Prosawerk „Die Kobra von Kreuzberg“ wieder einmal ins rasante Genre der Räuberklamotte begeben. Beverly, Tochter eines berühmten Einbrecher-Clans, will sich durch einen Supercoup von ihrer Familie emanzipieren. Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor soll es sein. Aber wie kommt man da ran? Auf der Folie dieser Banditengeschichte – bereits sein ­Debütroman „Tausend deutsche Diskotheken“ zitierte eifrig aus dem Kriminalistenmilieu – erzählt Decar von einer Welt auf dem Kopf, in der die Verkehrsbetriebe die wahren Verbrecher sind, während die Verbrecher Pizza mit grünem Spargel und Pistazien bestellen. Das ist mal mehr, mal weniger witzig, zumal Decar sich dabei nicht nur – natürlich mit voller Absicht – allerlei Klischees bedient (der Einbrecherclan ist selbstverständlich p ­ olnisch und trägt kunterbunte Adidas-Trainingsanzugs-Variationen); er scheint auch im offenen Wettstreit mit seinen Banditen zu liegen, was Einfallsreichtum und Aufschneiderei angeht. Eine Berliner Straßenszene liest sich in diesem Sinne bei ihm so: „Sport- und Kinderwagen italienischer Fabrikation rasten über den Gehweg. Sven, 11 Jahre, schürfte sich beim Basketball das Knie auf. Waffenfabrikant Flottwell, 61 Jahre, verschickte Sturmgewehre nach ­Somalia. Scheinwerfer kreisten zwischen den Hochhäusern am Bahnhof Zoo, Rotorblätter schnitten durch die Luft. Polizeisirenen im Nebel, schrille Schreie im Regen, eine Verhaftungswelle überzog das Tiergartenviertel, korrupte Polizisten ermittelten im ­Nirgendwo.“ So geht es dahin. Dem nächsten Sprachcoup dicht auf der Spur.

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Immerhin, ließe sich sagen, gibt es in Decars Roman überhaupt so etwas wie ein Eintauchen in Szenen und Milieus einer Großstadt, im Gegensatz zu Rebekka Kricheldorf, die sich, in ihren Dramen eine äußerst scharfe Beobachterin, in ihrem Romandebüt „Lustprinzip“ damit doch etwas schwer tut. Wir befinden uns in den neunziger Jahren – wo auch sonst, wenn es um Krisengeschichten aus der Berliner Partyszene geht; aber gut, es war ja auch die Partyzeit der Autorin. Die Stadt, heißt es im Klappentext, liege wie eine Verheißung vor einem da, „offen für alle“, ausgenommen Larissa. Die Studentin, augenscheinlich an einer sozialen Phobie leidend, schafft es nicht einmal, die Uni zu be­ treten, geschweige denn das Leben. Einzig das Partyleben hält sie auf Trab, Sex and Drugs, wie man es kennt. Es mag an dem verschlossenen Charakter ihrer Protagonistin liegen (der Roman ist in der Ich-Perspektive verfasst), dass die Milieus, die Kricheldorf be­schreibt, seltsam eindimensional bleiben. Durch den Bezirk Friedrichshain schleppen sich „freudlose Ossis (grau)“, die aussehen „wie Fotos in alten Alben, die längst keiner mehr durchblättert … Der Säuferanteil ist groß … Ein großer Graben aus Unverständnis für das Lebenskonzept des jeweils anderen trennt sie.“ Letzteres ließe sich auch in Bezug auf Kricheldorfs Larissa konstatieren. Wer derart distanziert seine Umwelt taxiert, jenseits auch eines Gespürs für gesellschaftliche Prozesse (die Wende), muss sich eigentlich nicht darüber wundern, das er das „Schnecken­ haus“ (Schmalz), das wir Ich nennen, nicht verlassen kann. Die Welt mag chaotisch und schmerzvoll sein. Letztlich aber, sagt der Feuerwerker Fabian bei Ferdinand Schmalz, lasse sich die Wirklichkeit nur in ihren Eigentümlichkeiten erkennen. Wer die im Blick hat, steht trotz Chaos voll im Leben. //

Ferdinand Schmalz: Mein Lieblingstier heißt Winter. S. Fischer, Berlin 2021, 192 S., 22 EUR

Roland Schimmelpfennig: Die Linie zwischen Tag und Nacht. S. Fischer, Berlin 2021, 208 S., 22 EUR.

Michel Decar: Die Kobra von Kreuzberg. Ullstein Verlag, Berlin 2021, 208 S., 22 EUR.

Rebekka Kricheldorf: Lustprinzip. Rowohlt Verlag, Berlin 2021, 240 S., 20 EUR.


S C H A U S P I E L H A U S

S TA DT R AU M / A N D E R E O R T E NICHT WIE IHR Tonio Schachinger / Malte Jelden

DAS NEUE LEBEN where do we go from here Dante Alighieri, Meat Loaf, Britney Spears / Christopher Rüping

NADZIEJA I TĘSKNOTA / UMUT VE ÖZLEM / HOFFEN UND SEHNEN (AT) Akın Emanuel Şipal / Liesbeth Coltof

MYSTERIEN Knut Hamsun / Johan Simons

DAS NARRENSCHIFF Monster Truck / Sahar Rahimi

DER MEISTER UND MARGARITA Michail Bulgakow / Robert Borgmann ÖDIPUS, HERRSCHER Sophokles / Johan Simons

O

V A

L

O

F

F

I

C

E

SCHANDE (DISGRACE) J. M. Coetzee / Oliver Frljić

ALL THE SEX I’VE EVER HAD Mammalian Diving Reflex, Darren O’Donnell / Jana Eiting

DIE UNENDLICHE GESCHICHTE Michael Ende / Liesbeth Coltof

DER KISSENMANN Martin McDonagh / Guy Clemens

MACBETH William Shakespeare / Johan Simons

WER HAT MEINEN VATER UMGEBRACHT Édouard Louis / Mateusz Staniak

INTERACTIVE MEDIA FOUNDATION / FILMTANK / ARTIFICIAL ROME Das Totale Tanz Theater

THE SHAPE OF TROUBLE TO COME Ein posthumanes Ritual FARN. collective / Tom Schneider

JEDER TAG EIN VOLLMOND Katja Brunner, Gina Haller, Risto Kübar

T H E A T E R R E V I E R

LORENZACCIO Alfred de Musset und George Sand / Nora Schlocker BAROQUE Lies Pauwels DIE HERMANNSSCHLACHT – ALLERDINGS MIT ANDEREM TEXT UND AUCH ANDERER MELODIE Barbara Bürk, Clemens Sienknecht

K A M M E R S P I E L E DAS GESPENST DER NORMALITÄT Saara Turunen

VORTEX Ulf Langheinrich, Maria Chiara de’Nobili ANTIGONE. EIN REQUIEM / DIE POLITIKER Thomas Köck, Wolfram Lotz / Franz-Xaver Mayr MIT ANDEREN AUGEN Ein musikalischer Abend über das Sehen Selen Kara, Torsten Kindermann HEADROOM Erik Whien & Boogaerdt / VanderSchoot EINE INSZENIERUNG JOHAN SIMONS in Planung / Johan Simons

2021/2022 Karten: +49 (0)234 3333 5555

www.schauspielhausbochum.de

JON RAFMAN Dream Journal KURT HENTSCHLÄGER SUB

NERVT! Junge Bühne Bochum, Ensemble und Drama Control / Thorsten Bihegue TON Barbara Kölling WIE ROSIE DEN KÄSEKOPTER ERFAND A. Beaty, D. Roberts / Sara Hasenbrink EIN STÜCK FÜR 10 SCHAUSPIELER*INNEN Robert Lehniger WEG VOM FENSTER Wera Mahne, Ensemble, Drama Control EIN NEUES STÜCK Özlem Özgül Dündar / Selen Kara

instagram.com/schauspielhausbochum


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PR E M I E R E N 21/2 2 Maja Delinić, Janin Lang // Frida Kahlo (UA) // 9. September 2021 Gertrud Pigor // Ein König zu viel // 15. September 2021 Peter Thorwarth // Bang Boom Bang (UA) // 5.November 2021 Uta Bierbaum // GRRRLS (UA) // 7. November 2021 David Greig, Gordon McIntyre // Eine Sommernacht // 12. November 2021 Mathias Spaan // Die Nibelungen // 7. Januar 2022 Lisa Wentz // Aschewolken // 18. Februar 2022 Franz Kafka // Amerika // 4. März 2022 Carlo Collodi // Pinocchio // 28. Mai 2022

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29.06.2021

12:08 Uhr

Seite 1

DER SPIELZEITSTART // SCHAUSPIEL

2021/22 LULU

VON FRANK WEDEKIND BÜHNE // SA 25.09.2021

KONSTELLATIONEN VON NICK PAYNE KAMMER // FR 17.09.2021

TANGO

SATIRE VON SLAWOMIR MROZEK BÜHNE // FR 01.10.2021

THEATER AACHEN

(0241) 4784-244 // THEATERAACHEN.DE

DOPPELABEND

DAS ENDE VON EDDY

NACH DEM ROMAN VON EDOUARD LOUIS URAUFFÜHRUNG

CYBORG 2020

EIN PROJEKT VON UND MIT MELINA PYSCHNY BÜHNE // SO 29.08.2021


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LEONCE UND LENA

KÖNIG ÖDIPUS Sophokles Premiere am 18. September 2021

Georg Büchner Premiere am 16. Februar 2022

ALL YOU CAN BE! EURYDIKE UND ORPHEUS

JEPHTHA

Max Merker & Aaron Hitz | Uraufführung Koproduktion mit dem TOBS Theater Orchester Biel Solothurn Premiere am 8. Oktober 2021

WIR REDEN ÜBER POLKE, DAS SIEHT MAN DOCH! Gerhard Meister | Uraufführung Premiere am 6. November 2021

Georg Friedrich Händel In Kooperation mit dem Symphonieorchester Vorarlberg Premiere am 13. März 2022

TO ALL TOMORROW’S PARTIES Niklas Ritter | Uraufführung Premiere am 14. April 2022

ARBEITSTITEL

PÜNKTCHEN UND ANTON Erich Kästner | Familienstück Premiere am 19. November 2021

Martin Gruber | Uraufführung Koproduktion mit dem aktionstheater ensemble & dem Bregenzer Frühling Premiere am 18. Mai 2022

ABFALL BERGLAND CÄSAR

HERKULES UND DER STALL DES AUGIAS

Werner Schwab Premiere am 9. Juni 2022

Friedrich Dürrenmatt Koproduktion mit dem Theater Marie Premiere am 26. Januar 2022

Spielzeit 2021 / 2022

landestheater.org

Premiere: 5. September 2021

Premiere: 30. September 2021

Premiere: 10. Februar 2022

Musikalische Leitung:

Regie: Heike M. Goetze

Regie: Brit Bartkowiak

Mauricio Kagel: Staatstheater Stefan Schreiber Regie: Lydia Steier

Schweizer Erstaufführung Koproduktion mit LUCERNE FESTIVAL Premiere: 11. September 2021

Simon Stephens: Maria Regie: Katja Langenbach Schweizer Erstaufführung

Premiere: 11. September 2021

Sivan Ben Yishai: LIEBE / Eine argumentative Übung Regie: Antje Schupp Schweizer Erstaufführung

William Shakespeare: King Lear Premiere: 6. November 2021

Dominik Busch: Der Chor

Uraufführung

Anna Seghers: Transit

Premiere: 1. April 2022

Regie: Katja Langenbach

Regie: Wojtek Klemm

Premiere: 17. November 2021

Premiere: 13. Mai 2022

Regie: Benno Muheim

Regie: Emilio H. Díaz Abregú,

Lee Hall: Network

Erich Kästner: ROTES VELO Emil und die Detektive Kompanie: Die Traummaschine Premiere: 14. Januar 2022

Stefan Zweig: Der Amokläufer Regie: Katja Langenbach

Premiere: 5. Februar 2022

Ödön von Horváth: Zur schönen Aussicht

Exequiel Barreras Uraufführung Premiere: 2. Juni 2022

Heinrich von Kleist: Amphitryon Regie: Elsa-Sophie Jach

Regie: Martin Schulze

Spielzeit 21/22 Schauspiel

luzernertheater.ch


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kommentar

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Rückwärts nimmer? Coming soon, aber ohne Ida Müller und Vegard Vinge – Die Berliner Volksbühne gibt unmittelbar vor dem Neustart unter René Pollesch Rätsel auf

E

­Neumann. Der vor sechs Jahren verstorbene Bühnenbildner hatte das Erscheinungsbild der Castorf-Volksbühne vom kleinsten Flyer   s ist der Intendanzneustart der Saison: Mitte dieses Monats, bis zum Fassadenschmuck entworfen und weit über den Büh­nen­ am 16. September, eröffnet die Volksbühne in Berlin unter der raum hinaus die Ästhetik wegweisend mitbestimmt. Von Müller neuen Leitung von René Pollesch. Viele Augen sind auf die Hauptkonnte man sich eine ähnlich starke Prägung erwarten und erhofstadt gerichtet, viele Theaterherzen pochen auch, denn wohl kaum ein Theater erzeugte in den letzten drei Jahrzehnten so viele Emotio­ fen. Das geschieht nun aber nicht, wie die Volksbühne mitteilt. „Wir lassen die Position der Ausstattungsleitung derzeit nen. Auf die Ära von Frank Castorf folgte das kurze Intermezzo von Chris Dercon. Der danach eingesetzte Interimsintendant Klaus Dörr ­unbesetzt“, erklärt Fuchs. Jeder Regisseur, jede Regisseurin, jedes Regieteam bringe eigene Bühnenbildner und Bühnenbildnerintrat im März dieses Jahres infolge von MeToo-Vorwürfen zurück. Wird nun Pollesch, der zu den prägendsten Volksbühnennen mit. Dass diesen Part bei Polleschs Eröffnungsproduktion Leonard Neumann übernimmt, Bert Neumanns Sohn, kann man Regisseuren der Castorf-Ära gehörte, das Haus noch einmal ganz neu erfinden können, mit bewährten Arals Indiz für eine ganz besondere Kontibeitsweisen, aber auch neuen Ästhetiken, nuität werten: Die Gestaltungsfirma LSD, wie seine Anhängerinnen und Anhänger die von Bert Neumann gegründet wurde Schade, glauben? Oder hält mit ihm – wie hingeund von seiner Witwe Lenore Blievernicht weitergeführt wird, bestimmt weiter das gen die Skeptikerinnen und Skeptiker dass das Experiment meinen – einfach ein Back-to-the-Castorfäußere Erscheinungsbild der Volksbühne. schon beendet wurde, Ob es des­wegen zu Konflikten mit der für Roots, nur eben ohne den Altmeister, Einzug am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz? ihre Gesamtkunstkonzepte ­bekannten Ida ­bevor es begann. Das ist die große Frage, die über diesem Müller kam – eine Vermutung, die aus der Neustart steht. Außenperspektive naheliegt –, wollte die Spannungssteigernd wirkt dabei, Volksbühne gegenüber Theater der Zeit nicht kommentieren. Auch Müller selbst und ihr künstlerischer dass sich Pollesch und sein Team bis tief in den Sommer hinein mit konkreten Spielzeitplänen konsequent bedeckt hielten. WähPartner Vegard Vinge ließen eine entsprechende Anfrage unberend die anderen Häuser auf ihren Websites bereits bis zum Jahantwortet. Vonseiten der Volksbühne heißt es, Arbeiten der beiresende prall gefüllte Premierenkalender veröffentlichten, prangden am Haus seien gar nicht mehr geplant. Die Turbulenzen bei der Zusammensetzung des künstlerite unter der Volksbühnenadresse bei Redaktionsschluss noch immer lediglich der Schriftzug: „Coming soon“. schen Leitungsteams überschatten den Neustart. Für die Kulturverwaltung besteht nach Aussage von Staatssekretär Torsten Herauszufinden war durch wiederholte Nachfrage immer­Wöhlert aber kein Grund zum Eingreifen. „Wir haben den Intenhin zweierlei. Erstens: Das Haus eröffnet mit dem neuesten Stück des Intendanten, „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein danten ausgesucht. Die künstlerische Arbeit liegt ganz in seiner Verantwortung. Unsere Aufgabe ist es, ihm die erforderlichen ­Leben dazwischen“. Und zweitens: Nicht beteiligt am Aufbruch Mittel zur Verfügung zu stellen“, sagt Wöhlert gegenüber Theater werden die Extremtheatermacher Vegard Vinge und Ida Müller sein – was durchaus überrascht, gehörten die beiden doch zu den der Zeit. Pollesch selbst lebt die neue Leitlinie der wechselnden führenden Figuren, als Pollesch im letzten Jahr sein neues Team vorstellte. Noch in der März-Ausgabe von Theater der Zeit hatte ­Bühnenraumgestalter bereits vor. Anders als bei der Eröffnungsder Komponist Trond Reinholdtsen von einer Vinge-Müller-­ inszenierung ist bei seiner Produktion für die Wiener Fest­wochen, Reinholdtsen-Eröffnungsproduktion mit einem „Peer Gynt“-­ „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“, die von der Volksbühne Gesamtkunstwerk an der Volksbühne gesprochen. übernommen wird, seine langjährige Ausstatterin Nina von Die Entscheidung, dass man nicht zusammenarbeiten werde, ­Mechow verantwortlich. sei schon vor mehreren Monaten gefallen, heißt es nun im Haus. Ob die Absage an Ida Müller sich insgesamt negativ auf den „Gründe für die nicht zustande kommende Zusammenarbeit werden Neustart auswirken wird, ist schwer zu prognostizieren. Schade wir nicht nennen“, sagt Lena Fuchs, die neue Pressesprecherin ist auf jeden Fall, dass das Experiment schon beendet wurde, der Volksbühne, Theater der Zeit. ­bevor es begann – und bedauerlich, dass keine Gründe für die Dass es künstlerisch nicht passen kann, ist nicht ungeDifferenzen genannt werden. Zum Kreativprozess gehören auch Irrwege. Ein offener Umgang damit könnte zu neuen Anregunwöhnlich im Theater. Höheres Gewicht hat die Causa aber deshalb, weil Ida Müller als neue Ausstattungsleiterin angekündigt gen führen. // war, als prägende ästhetische Kraft in der Nachfolge von Bert Tom Mustroph


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Die Behauptung einer anderen Schönheit Ein Nachruf auf den Schriftsteller, Tänzer und Choreografen Raimund Hoghe von Johannes Odenthal

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einwärts“ hieß die erste choreografische Arbeit des 1949 in Wuppertal geborenen Journalisten, Buchautors und Dramaturgen Raimund Hoghe: ein Solo, mit dem Hoghe eine herausragende internationale Karriere als Tänzer und Choreograf begann. Es folgten 25 Produktionen, die von den großen Tanzfestivals Frankreichs in Montpellier, Paris und Avignon, aber auch von Partnern in New York koproduziert wurden. In Deutschland waren es vor allem das Theater im Pumpenhaus in Münster sowie das Tanzhaus NRW in Düsseldorf, die alle Stücke von Raimund Hoghe aufführten.

„Viele Jahre habe ich mit Worten geschrieben. Der Körper hinter den Worten war nicht sichtbar. Jetzt schreibe ich mit Körpern – mit meinem Körper und dem Körper von Tänzern“, erklärte ­Hoghe im Vorwort einer 2013 bei Theater der Zeit erschienenen Werkschau. „Zwischen dem Schreiben mit Worten und dem ­Schreiben mit Körpern – letztlich besteht da für mich kein Unterschied. Nur dass der Körper des Autors auf der Bühne sichtbar ist und Teil des Schreibens.“

„Viele Jahre habe ich mit Worten geschrieben. Jetzt schreibe ich mit Körpern“ – Raimund Hoghe (1949 – 2021) in „36, Avenue Georges Mandel“ (2007). Foto Rosa Frank


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Der Übergang von der Praxis des Schreibens und der dramatur­ gischen Arbeit im Tanztheater von Pina Bausch zur tänzerischen Präsenz auf der Bühne und der choreografischen Arbeit erschien aus seiner Perspektive absolut konsequent. Wie bei Jean-Luc ­Godard war es die Fortschreibung eines Denkens in einem anderen Medium. Doch während es bei Godard der theoretische Ansatz ist, der den Film erneuerte, war es bei Raimund Hoghe die Politik der Körper, die den Tanz öffnete. „Nicht nur Wörter schreiben einen Text. Auch Körper erzählen eine Geschichte. Wenn Leute mich fragen: ,Schreiben Sie noch?‘, antworte ich meistens: ,Nein, nicht mit Worten.‘ Jetzt schreibe ich mit dem Körper. Wie Pier Paolo Pasolini sagte: ,Den Körper in den Kampf werfen.‘“ (Raimund Hoghe, Theater der Zeit 2013) Der Pasolini-Satz unterstützte und veränderte die Arbeit von Raimund Hoghe fundamental. Es war diese Erkenntnis, mit der eigenen Präsenz, mit dem eigenen anwesenden Körper nicht ausweichen zu dürfen, wenn es um die konsequente Vermittlung von existenziellen Anliegen ging. Und die Anliegen von Raimund Hoghe waren existenziell: Es ging um die Behauptung einer Schönheit, wie wir sie zuvor selten gesehen haben, und um die Behauptung der Liebe in den Künsten. „Wenn Körper wie meiner im Theater oder in Filmen erscheinen, dann fast immer in speziellen und sehr reduzierten Rollen – dass das so ist, weiß ich seit meiner Kindheit“, berichtete er 2006 in einem Supplement zum Steps-Festival in der Aprilausgabe der Kulturzeitschrift du. „Als ich mich während der Schulzeit am Theater in Wuppertal um eine Statistenrolle in einer Aufführung der ,Räuber‘ von Schiller bewarb, wurde ich nicht genommen. Doch ein halbes Jahr später durfte ich in Shakespeares ,Komödie der Irrungen‘ auftreten: als buckliger Schneider. Das war eine der Rollen, die für Leute mit meinem Körper vorgesehen sind – eine andere war die des Rumpelstilzchen im Märchen, das ich in einer Schulaufführung spielte.“ Raimund Hoghe hatte erkannt, dass er mit seinen Erfahrungen einer sozialen und kulturellen Festlegung durch das dominierende Klischee eines „idealen“ Körpers, insbesondere auf der Bühne, zu anderen Mitteln der Selbstbehauptung greifen musste als zur Literatur oder Dramaturgie oder Regie. Er musste seinen eigenen Körper „in den Kampf“ werfen, er wollte nicht mehr ausweichen. Es war auch das verstörende politische Umfeld, in dem zahlreiche Tänzer an Aids starben, Persönlichkeiten wie Dominique Bagouet oder Rudolf Nurejew. Die Stigmatisierung einer ganzen Kunstszene durch eine Krankheit forderte eine wehrhafte Reaktion. Mit diesem politischen Bewusstsein hatte sich Raimund Hoghe auch der Diskriminierung als Folge seiner eigenen Körpergeschichte gestellt. „Ich wollte einfach meinen Körper als Beispiel nehmen und sagen: ,Diesen Körper gibt es auch. Es gibt andere Körper als die bekannten Tänzerkörper‘“, schreibt er in du. Diese körperpolitischen Diskurse verband Raimund Hoghe in „Meinwärts“ wie in allen nachfolgenden Produktionen immer mit einer kollektiven Erinnerungsarbeit. Ich möchte sogar so weit gehen, dass Raimund Hoghes Choreografien Erinnerungsarbeit waren. Erinnern im Sinne von Überleben, aber auch im Sinne von Transformieren. So war „Meinwärts“ durchdrungen von der Schönheit der Lieder des Tenors Joseph Schmidt, der als Jude 1933 aus Deutschland fliehen musste und

raimund hoghe

1942 in einem Schweizer Internierungslager starb. Obwohl er als gefeierter Sänger Kultstatus besaß, blieb ihm eine Karriere als Opernsänger aufgrund seiner Größe von 1,54 Meter verwehrt. So verwob sich in dem Werk von Raimund Hoghe die Erinnerungs­ arbeit an die NS-Zeit und den Holocaust mit Fragestellungen aus der Gegenwart und der eigenen biografischen Lebensgeschichte. Raimund Hoghes choreografische Zeremonien feierten in ihrer eigenen Zeit eine noch nie erlebte Schönheit, die alle Erwartungen an den Tanz, an die Körper, an die Bühne auf die Probe stellte. Diese besonderen Zugänge zu den Menschen, gespeist aus einer humanistischen Neugier und zärtlichen Komplizenschaft, sie entwickelten sich in den Beziehungen zwischen den Tänzerinnen und Tänzern zu einer ganz eigenen Theatersprache. Die Neugier, die Offenheit und zugleich große Genauigkeit in der Beobachtung und den Entscheidungen von Handlungen, sie prägten auch schon die Porträts, die Raimund Hoghe als Journalist vor allem für die Zeit geschrieben hatte. Im März 1979 erschien sein Bericht aus dem Nelly Sachs Haus, einem jüdischen Altenheim in Düsseldorf. „Vergessen – Wie macht man das?“ ist der Titel eines berührenden und verstörenden Beitrags, der die Situation des Holocaust als Erinnerungsraum nicht historisch aufarbeitet, sondern aus der Gegenwart heraus beschreibt. Diesen offenen Zugang zur Geschichte, zu einer historisch kontaminierten Gegenwart arbeitete Raimund Hoghe im Sinne von Freud systematisch durch. So entstand 1997 „Chambre Séparée“ als eine Recherche zur deutschen Kindheit nach dem Nationalsozialismus. „Boléro Varia­ tions“ (2007) widmete sich Anita Lasker-Wallfisch, einer Auschwitz-Überlebenden. In der systematischen Auseinander­ ­ setzung mit dem klassischen Schönheitsideal fand Raimund ­Hoghe ­zudem radikale Zugänge zu Stücken wie Strawinskys „Le sacre du printemps“, Tschaikowskys „Schwanensee“ oder Debussys / ­Nijinskys „L’Après-midi d’un faune“. Das große Repertoire der ­europäischen Tanzgeschichte schöpfte er ebenso aus wie das von großen Stars wie Judy Garland, Maria Callas oder dem bereits ­erwähnten ­Joseph Schmidt. Raimund Hoghe lieh ihnen seinen Körper, teilte mit ­ihnen ihre tragischen Erfahrungen, rührte an die Substanz der Oper und der großen Ballette. Sie thematisieren das Begehren nach Berührung, nach Liebe und nach Schönheit. „Für mich ist die Suche nach Schönheit wichtig – was ja auch im klassischen Tanz eine große Rolle spielt“, so Hoghe in der Werkschau von Theater der Zeit. „Wenn ich zum Beispiel eine sehr schöne Musik wie ,Schwanensee‘ benutze, gibt es da eine Diskrepanz zwischen der Schönheit der Musik und meinem ­Körper, der von vielen als hässlich bezeichnet wird. Dieser Bruch und die Suche nach einer anderen Schönheit als die der Werbung und Schönheitschirurgen interessieren mich. Wer definiert Schönheit und wer bestimmt, was schön ist? Für mich sind Körper wie Landschaften, und so, wie es verschiedene Landschaften gibt, gibt es auch verschiedene Körper – und alle haben ihre Berechtigung.“ Raimund Hoghe hat uns in seinen Texten wie in seinen Choreografien diesen Raum einer Schönheit erschlossen. Seine künstlerische Sprache und Widerständigkeit haben einen besonderen Stellenwert in der Tanzszene der Nachkriegsgeschichte. Am 14. Mai dieses Jahres ist Raimund Hoghe mit 72 Jahren in Düsseldorf gestorben. //

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Mit jedem Herzschlag dem Tod ein bisschen näher

Der bildende Künstler Christian Boltanski (1944 –2021) über das Spiel mit dem Verschwinden. Ein Wiederabdruck in Gedenken an einen großen Spurensucher von Heinz-Norbert Jocks

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hristian Boltanski war ein Künstler, der die Spuren der Vergangenheit sichern wollte, wohl wissend, dass nichts von dem einmal Gewesenen bleibt. 1944 in Paris als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter geboren und geprägt durch

das Erbe des Holocaust, malte er mit 13 Jahren seine ersten figurativen Bilder. Es folgten Filme, Bücher und vor allem raumfüllende Installationen, in denen er sich mit den großen Themen Leben,

„Man kann Gott zwar auf den Kopf spucken, aber er sitzt trotzdem am längeren Hebel“ – Christian Boltanski 2016 im Institut Valencià d‘Art Modern. Foto dpa


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Tod und Erinnerung beschäftigte. Auch die Auseinandersetzung mit der Schoa war ein wichtiger Aspekt seines Schaffens. Das Spiel mit autobiografischem Material und das Verwischen der Grenze von Wahrheit und Fiktion prägten seinen künstlerischen Ansatz. Seine Werke wurden international ausgestellt und gehören zu den Sammlungen des Museum of Modern Art in New York, der Tate in London und des Centre Georges Pompidou in Paris. Gemeinsam mit dem Lichtdesigner Jean Kalman entstanden zudem zahlreiche Opernproduktionen. Bei der Ruhrtriennale 2005 leitete Boltanski gemeinsam mit Kalman und Andrea Breth das Projekt „Nächte unter Tage“. Am 14. Juli 2021 ist Christian Boltanski in Paris verstorben. Mit diesem Interview, geführt im Jahr 2011 in seinem Studio, erinnern wir an diesen großen Künst­ ler der Erinnerung. Christian Boltanski, worauf führen Sie Ihre Lust auf eine künst­ lerische Betätigung zurück? Als kleiner Bub mit 14 habe ich eine kleine Zeichnung gemacht, von der mein Bruder meinte, sie wäre nicht schlecht, und da für mich bis dahin alles schiefgelaufen war, sagte ich mir, dies könnte das Richtige für mich sein. Es war vielleicht das erste Mal, dass ich für etwas, was ich gemacht hatte, gelobt wurde. Wenn ich sage, alles sei bis dahin nicht so gut gelaufen, so bezieht sich das auf mein Verhältnis zur Schule. Meine Eltern versuchten, mich dort­ hin zu schicken, aber ich bin immer wieder weggelaufen. Ich war auf vielen Schulen, und als ich 13 oder 14 war, entschieden meine Eltern, mich von der Schule zu nehmen, weil sie für mich so ­unerträglich war. Ich blieb zu Hause und malte im Alter von 14 Jahren auf großen Holzstücken. Von meinen Eltern wurde ich darin unterstützt. Sie kauften mir Farben. Ja, alles wurde mir leicht gemacht. Ich brauchte nicht darum zu kämpfen, Maler zu werden. Es waren figurative Bilder, darunter sehr große, die ein bisschen an die mittelalterlichen anknüpften, mit vielen Personen darauf und mit viel Sinn. Etwas naiv, ein bisschen wie Art Brut. Oft handelten sie von Religion oder von Massakern. Ich interes­ sierte mich ganz besonders für das von den Türken beim Überfall auf Armenien angerichtete Massaker. Später, da ich eine erste ­Ahnung davon hatte, was mich erfüllte, und große Puppen herstellte, lernte ich jemanden kennen, der meine Puppen, meine Bilder und einen Film im Ranelagh-Theater zeigen wollte, das sich im 16. Arrondissement befand. Wovon handelt der Film? In meinem Film „La vie impossible“ („Das unmögliche Leben“), den ich in einem halbzerstörten Haus drehte, ging es recht gewalttätig zu, insofern ich riesige Puppen, die eigens dafür her­ gestellt worden waren, entweder zum Fenster hinaus- oder die Treppe hinunterwarf oder ihnen auf andere Weise Schmerzen zufügte. Für die Ausstellung fertigte ich Holzkisten an, die so groß wie das Zimmer waren, und da drinnen platzierte ich meine Puppen, die Karnevalsmasken trugen. Eine von ihnen hatte das Gesicht von Françoise Hardy, und eine andere glich France G ­ alle. Beide waren damals sehr populär. Doch ich mochte Françoise Hardy mehr. Als es 1968 zu der Ausstellung kam, hatte ich das Glück, dass sie mit dem Mai ’68 zusammenfiel. Und weil das Kino ein Treffpunkt für diejenigen war, die das Radio boykot­

christian boltanski

tierten und mit denen ich zum Teil in Kontakt geblieben war, wurde meine Ausstellung nicht schlecht besucht. Das waren ­meine Anfänge. Meine eigentliche Arbeit fing erst 1969 an, als ich den Verlust meiner Kindheit realisierte und deshalb mein erstes kleines Buch schrieb. „Tout çe qui reste de mon enfance“ („Alles, was von meiner Kindheit bleibt“) behandelt weitgehend die gleichen Themen, mit denen ich mich heute befasse. Der Tod ist eine schändliche Sache, und man muss versuchen, seine eigenen Spuren zu bewahren. Wann und wodurch hatten Sie die Einsicht in den Verlust der Kindheit? Erst spät mit 23 Jahren im Wagen meiner Eltern. Vielleicht hätte ich es auch früher erkennen können, doch ich war etwas zurückgeblieben, und so lernte ich recht spät, erst mit 18 Jahren, allein draußen auf der Straße herumzulaufen. Als ich mir des Verlustes meiner Kindheit bewusst wurde, machte ich mich auf die Suche nach dem, was mir von ihr geblieben war, und da machte ich die bittere Erfahrung, dass von ihr jede Spur fehlte. Das erste kleine Buch stellt im Grunde meine erste künstlerische Aktivität dar. Seitdem hat sich an der dahinterstehenden Idee kaum etwas ge­ ändert. Es besteht vor allem aus Bildern, weniger aus Texten. Wenn welche vorkommen, so sind sie sehr kurz. Größtenteils sind es Bilder beispielsweise von einer Haarsträhne. Auch ein Foto von meinem Bett sowie andere Bilddokumente aus meiner Kindheit, aber darunter nichts wirklich Wesentliches. Was reizte Sie an diesem Projekt? Ich sah da eine Möglichkeit, die Zeit anzuhalten, was aber hinten und vorne nicht funktioniert. Dennoch gibt man den Versuch nicht auf. Dafür, dass Sie ein ausgeprägtes Bewusstsein für Übergänge ­haben, gibt es existenzielle Gründe, nicht wahr? Ich weiß einfach, dass mit jedem Augenblick ein Stück unseres Lebens stirbt. Hinzu kommt, dass ich eine ganz außergewöhn­ liche, sehr unruhige oder verstörende Kindheit und eine große, viel zu große Nähe zu meinen Eltern hatte. Wir bewohnten zwar ein großes Haus, aber wir schliefen alle im selben Zimmer aus Angst, es könnte uns nachts etwas zustoßen. Im Nachhinein nahm ich wahr, dass es mit der Behütung meiner Kindheit auf einmal vorbei war. Obwohl sie sehr glücklich war, wusste ich doch um die Gefahren, die draußen lauerten. Ich ging niemals alleine hinaus, und auch mein Vater, von Beruf Arzt, verließ das Haus nie alleine. Man begleitete ihn bis zum Krankenhaus und auch zu Krankenbesuchen und man holte ihn von dort auch wieder ab. Ich sah ihn nie allein auf der Straße. Das war zu gefährlich. Die Grundfurcht, die hinter allem stand, war die Angst, unser Nachbar könnte uns töten. Daher musste man jedem gegenüber misstrauisch sein. Heute denke ich noch genauso darüber. Ich war glücklich, aber in einem sehr eingeschränkten, eingeschlossenen Raum mit dem Wissen einer großen Gefahr um uns herum. In unserem Haus hatten wir ein Versteck für meinen Vater. Und bis zu meinem 25. Lebensjahr wollten sie es nicht verschließen, weil sie dachten, es vielleicht noch einmal zu benötigen.

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abschied

Zurück zu Ihrem ersten Buch, mit dem Sie Ihre Kindheit wiederzufinden versuchten. Wie bereits gesagt, es gab nichts mehr. Also musste ich ein bisschen wahrmogeln. Die Haarsträhne war neueren Datums, und die Fotos stammten nicht von mir. Alles war falsch, aber das fand ich nicht weiter tragisch, insofern ich damals schon begriffen hatte, dass Kunst etwas Künstliches ist. Es hat etwas Autofiktives. Denn natürlich steht da unter einem Foto, auf dem ich gar nicht zu sehen bin, „Christian Boltanski, fünf Jahre alt“ oder „das Bett von Christian Boltanski“. Dabei war es gar nicht mein Bett, sondern das eines anderen. Ich musste so tun, als ob, weil es mein Bett gar nicht mehr gab. Es war eine Suche nach den Spuren der Vergangenheit. Was machten Sie nach Ihrem Buch? Ein zweites mit dem Titel „Histoire d’un accident“. Es handelt von einem Unfall, bei dem ich ums Leben komme. Es geht um meinen eigenen Tod. Auch für diese 1969 entstandene Arbeit verwendete ich gefälschte Fotos. Da sind Bilder vom Polizeifahrzeug, das den Unfall aufnimmt, vom Unfallwagen, der meinen Körper einsammelt, und zudem ein Plan von dem Ort zu sehen, an dem sich alles abspielte, und darüber hinaus eine zu diesem Tod passende Geschichte. Seit dieser Zeit hat sich meine Arbeit leider nicht besonders verändert. Es gibt Künstler, die erheblich mehr Ideen und Einfälle wie ich haben. Warum ist die Rekonstruktion der Vergangenheit für Sie so notwendig, wo sie dann doch nur mithilfe einer Autofiktion simuliert werden kann? Die dem zugrundeliegende Idee war, gegen das Verschwinden anzukämpfen. Außerdem war ich Künstler, und beides ist miteinander verbunden. Als Künstler ist man in der Lage, etwas für sich persönlich Negatives in etwas Positives für andere umzumünzen. Es ist zu vergleichen mit der Situation desjenigen, der ein echtes Problem hat und sich dadurch entlastet, dass er darüber spricht. Das kennt jeder. Ohne meine Kunst wäre ich sicherlich in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden. Inwiefern haben Sie für sich die Erfahrung der Zerbrechlichkeit gemacht? Wir sind von Toten umgeben, das ist ein Hinweis auf die Zerbrechlichkeit, die uns bald aus dem Gedächtnis entgleitet. Man kann nichts festhalten. Die Menschen von heute kämpfen gegen das Vergessen, gegen Gott. Aber dieser Kampf ist aussichtslos. Man kann Gott zwar auf den Kopf spucken, aber er sitzt trotzdem am längeren Hebel. Der Kampf ist nicht zu gewinnen. Zudem schreitet die Zeit immer weiter voran. Um zu verdeutlichen, dass der Mensch gegen das Vergehen nichts unternehmen kann, habe ich meine Installation „Vanitas“ am Eingang der Domkrypta in Salzburg aufgestellt. Die Zeit schreitet voran und holt uns am Ende ein. Man kann zwar versuchen, alles zu erhalten, indem man Fotos macht, das Herzklopfen von Menschen aufnimmt oder die Kleidung auf­ bewahrt. Aber retten oder bewahren kann man nichts.

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Warum Fotografie? Sie verweist auf ein Abwesendes, eben auf ein Objekt, das nicht mehr da ist. Es zeigt die Hülle eines toten Körpers. Sie sagt nichts anderes als: Es war einmal. Ein Foto kann man so zerreißen, wie man eine Leiche mit Füßen treten kann. Aber gleichzeitig bekommt man es mit einem Subjekt zu tun. Nun benutzen Sie anstelle von Fotos getragene Kleider. Was assoziieren Sie damit? Kleidungsstücke und Fotos bedeuten dasselbe. Sie stehen für jemanden. Aber auch hier ist nichts Originelles dabei. Denn was macht man mit den Kleidungsstücken seines verstorbenen Vaters? Vielleicht trägt man sie. Meistens landen Sie aber in den Altkleidercontainern. Ein Unterschied zu den Fotos ist der getragenen Kleidungsstücken anhaftende Geruch, und Gerüche sind nichts anderes als die Spuren ihres ursprünglichen Besitzers, der aber nicht mehr lebt. Was soll man also mit seiner Kleidung machen? Das ist stets ein Problem. Wie bei den Namen im Adressbuch. Getragene Kleider sind Spuren von Menschen. Ich kaufe mir meine Bekleidung häufig auf Flohmärkten. Was mir daran gefällt, ist, dass sie bereits von jemandem ausgewählt und auch geliebt worden ist. Und jetzt ist die Person, die es einst trug, entweder gestorben oder sie mag dieses Kleidungsstück nicht mehr. Also bietet man sie, um noch etwas dafür zu bekommen, auf der Straße an. Irgendwann kommt jemand vorbei, sieht dieses Klei­ dungsstück und verliebt sich darin. Dadurch wird ihm sein Leben zurückgegeben. Der verliebte Blick kann demzufolge das von ­einem Verstorbenen zuvor Getragene wieder zu neuem Leben ­erwecken. Manche Dinge existieren nur, weil man sie betrachtet. Wie Sie wissen, habe ich viel mit verloren gegangenen Dingen, also mit Fundstücken gearbeitet. Nichts ist in Fundbüros schrecklicher als der Anblick von 500 verloren gegangenen, nutz- oder wertlosen Schlüsseln. Denn ein Schlüssel ist dermaßen mit uns verbunden, dass er zum Schlüssel zu unserem Leben wird. Ich ­liebe meinen Schlüssel, er ist jemand. Wenn ich ihn verliere, ist er verloren. Er ist dann niemand mehr. Er hat wie die auf einem Flohmarkt gefundene Weste keine Identität mehr. Sie ist verloren. Dem auf dem Flohmarkt Erworbenen verleiht man eine neue Identität. Die Frage nach der Identität liegt Ihnen offenbar am Herzen? Sehr sogar, denn jeder ist anders. Jeder besitzt seine eigene Identität, sein eigenes Gedächtnis und sein eigenes Wissen. Eigentlich müsste man für jeden Menschen ein Museum errichten. Wir alle teilen das Problem, dass unsere Sterblichkeit unumgehbar ist. ­Eigentlich müssten wir jeden wegen seiner Einzigartigkeit um­ armen oder ihm zumindest zuhören. Aber wir haben nicht die Zeit dazu. Außerdem würde man uns für verrückt erklären, wenn wir es täten. //

Bei dem Gespräch handelt es sich um einen Auszug aus dem Interview

Sie arbeiten viel mit Fotografien! Mittlerweile nicht mehr. Früher schon.

„Wunschlos glücklich im Angesicht des Todes“, abgedruckt im Kunstforum International, Bd. 201.


HIGHLIGHTS DER SPIEL ZEIT 222 1 MUSIKTHEATER

KONZERT

Der liebe Augustin

Junge Liebe, junger Schmerz

Operette von Leo Fall Buch von Rudolf Bernauer und Ernst Welisch Premiere: Sa., 2. Oktober 2021

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny Oper von Kurt Weill und Bertolt Brecht Premiere: Sa., 13. November 2021

Mack und Mabel

Eine musikalische Liebesgeschichte von Jerry Herman und Michael Steward Premiere: Sa., 16. April 2022

SCHAUSPIEL Slapstick

Schauspiel von Wieland Schwanebeck Premiere: Sa., 16. Oktober 2021 | Uraufführung

Dornröschen

Nach dem Märchen der Brüder Grimm von Johannes Zametzer Premiere: Sa., 6. November 2021 | Uraufführung

Die Neue Lausitzer Philharmonie unterwegs Werke von Tschaikowski, Boulanger, Enescu, Mendelssohn | Solistin: Alexandra Dariescu Am 02. Mai 2022 im Nationalen Forum für Musik Wrocław

Majestätisch

7. Philharmonisches Konzert der NLP Klarinettenkonzert von Carl Maria von Weber 7. Sinfonie von Anton Bruckner | Solist: Raphaël Sévère Ab dem 15. Juni 2022

1.700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland

Neue Lausitzer Philharmonie | Solist: Avi Avital Am 29. Januar 2022 in der Synagoge Görlitz

MEHR THEATER MALFI!

Immersives Theatererlebnis von Daniel Morgenroth nach John Webster Premiere: Sa., 14. Mai 2022 | Uraufführung Spartenübergreifend

Die Laborantin

Schauspiel von Ella Road Premiere: Sa., 22. Januar 2022

Nacht der verbotenen Begierden

Blackbird Schauspiel von David Harrower Sieh mich an, wenn ich mit dir rede Schauspiel von Monica Isakstuen Deutschsprachige Erstaufführung Premiere: Sa., 2. April 2022

Der Graf von Monte Christo

Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman von Alexandre Dumas Premiere: Sa., 9. Juli 2022 | Uraufführung Sommertheater

TANZ Phönix

Tanzstück von Dan Pelleg und Marko E. Weigert Premiere: Fr., 15. Oktober 2021 | Uraufführung

Viva Vivaldi

Tanzminiaturen zur Musik von Antonio Vivaldi Premiere: Fr., 17. Juni 2022 | Uraufführung

Hearts on Fire


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SPIELZEIT 2021/22 ERSTE HÄLFTE DER SCHIMMELREITER Theodor Storm | Premiere 23. September | DT–2 Regie Daniel Foerster Bühne und Kostüme Mariam Haas POP UP (PLAY) Versuchsanordnung von Bastian Dulisch und Gerhard Willert Uraufführung | Premiere 24. September | DT–1 Regie Bastian Dulisch, Gerhard Willert Kostüme Ilka Kops WAS DAS NASHORN SAH, ALS ES AUF DIE ANDERE SEITE DES ZAUNS SCHAUTE Jens Raschke | Premiere 2. Oktober | 10+ | DT–2 Regie Katharina Ramser Bühne und Kostüme Dirk Becker DER TÄTOWIERTE MANN Peter Wortsman | Uraufführung Premiere 8. Oktober | DT—2 Regie, Bühne und Kostüme Kevin Barz Video Johannes Wagner Musik Paul Brody ALLES LÜGE UND IMMER WIEDER WÄCHST DAS GRAS Ein Liederabend zur deutschen Wiedervereinigung mit Texten von Niklas Ritter und Ensemble nach einer Idee von Roman Majewski | Uraufführung Premiere 21. Oktober | DT–1 | Regie Niklas Ritter Musikalische Leitung Michael Frei Bühne Alexander Wolf Kostüme Karoline Bierner DER SATANARCHÄOLÜGENIALKOHÖLLISCHE WUNSCHPUNSCH Michael Ende | Premiere 28. November | 6+ | DT–1 Regie Moritz Beichl Bühne Robert Sievert Kostüme Astrid Klein AM BODEN George Brant | Premiere 17. Dezember | DT—2 Regie Johanna Schwung

SPI

wagner – der ring des nibelungen Thomas Köck | Premiere 28. Januar | DT–1 Regie Erich Sidler Bühne Jörg Kiefel TOM AUF DEM LANDE Michel Marc Bouchard Premiere 15. Februar | DT–2 Regie Marcel Gisler Bühne und Kostüme Dirk Becker

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DETMOLDER SOMMERTHEATER

GROẞES HAUS Markus Vattrodt

EIN GROSSER AUFBRUCH

Benjamin von Stuckrad-Barre

PANIKHERZ

4. September 2021 Rebekka Kricheldorf

DER GROSSE GATSBY

19. September 2021

24. September 2021

GRABBE-HAUS

Ödön von Horváth

Teresa Dopler

12. November 2021

5. November 2021

Georges Feydeau

Pierre Carlet Chamblain de Marivaux

JUGEND OHNE GOTT KATZE IM SACK

21. Januar 2022

UNSERE BLAUEN AUGEN

DER STREIT

29. Januar 2022

ANSICHTEN EINES CLOWNS

4. März 2022

Witold Gombrowicz

YVONNE, PRINZESSIN VON BURGUND

Martin Heckmanns

EIN TEIL DER GANS

12. März 2022 Thomas Melle

Foto © Marc Lontzek

Heinrich Böll

BILDER VON UNS

21. Mai 2022

13. Mai 2022

FAUST. DER TRAGÖDIE ERSTER TEIL Johann Wolfgang von Goethe Regie: Christoph Mehler | 25.9.2021

2021/22

SPIELZEIT

WAS IHR WOLLT William Shakespeare | Regie: Julia Prechsl | 5.11.2021

TRIUMPH DER LIEBE James Magruder, Jeffrey Stock & Susan Birkenhead Regie: Achim Lenz | 13.11.2021 (NIEDERDEUTSCHE BÜHNE) SWATTE KUMELGE Peter Shaffer | Regie: Hermann Fischer | 26.11.2021

SEELE ESSEN ANGST AUF Doppelpass-Projekt mit dem PerformanceKollektiv SKART featuring Mobile Albania

ALTE MEISTER

Foto: Oliver Berg

DER GELDKOMPLEX

Felicia Zeller | Regie: Max Claessen | 15.9.2021 → UA

W IEDER AUFNA HMEN

www.landestheater-detmold.de

Thomas Bernhard | Regie: Frank Behnke

MARLENI Thea Dorn | Regie: Jan Holtappels

WER HAT MEINEN VATER UMGEBRACHT Édouard Louis | Regie: Michael Letmathe

JUDAS Lot Vekemans | Regie: Jan Holtappels

VOR SONNENAUFGANG Ewald Palmetshofer | Regie: Alexander Nerlich | 6.1.2022

ÜBER LEBEN / ἈΤΛΑΝΤIΣ ΝΗΣΟΣ

(INSEL DES ATLAS) Annalena & Konstantin Küspert Regie: Ronny Jakubaschk | 18.2.2022 → UA

SOMMERGÄSTE Maxim Gorki | Regie: Andreas Kriegenburg | 23.4.2022

MARIA MAGDA Svenja Viola Bungarten Regie: Theresa Thomasberger | 13.5.2022 → UA

Tickets: (0251) 59 09 - 100

Änderungen vorbehalten

GENERALINTENDANT Dr. Ulrich Peters

→ theater-muenster.com


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Spielzeit 2021/2022 Songs On The Sun (Lieder auf die Sonne) (AT) Konzept und Regie: Jeremy Nedd Premiere am 9. Oktober 2021 -> Gasometer Oberhausen

Wetterleuchten Eine Probe in fünf Akten Regie: Simone Dede Ayivi Premiere am 16. Oktober 2021 -> Großes Haus

Mermaids

4

Regie: Shari Asha Crosson Premiere im Herbst 2021 -> Saal 2

Kohlenstaub und Bühnennebel (UA) 101 Jahre Theater Oberhausen von Akın Emanuel Şipal | Regie: Florian Fiedler Premiere am 30. Oktober 2021 -> Großes Haus

Queendom (UA)

von Nina Karimy und Sophia Hankings-Evans Premiere im Herbst 2021 -> Saal 2

Peter Pan

6

von James Matthew Barrie | Regie: Florian Fiedler Premiere am 13. November 2021 -> Großes Haus

Karneval

Konzept und Regie: Joana Tischkau Premiere am 14. Januar 2022 -> Großes Haus

Wasser und ich (AT)

8

Konzept und Regie: Magda Korsinsky Premiere am 22. Januar 2022 -> Saal 2

Bin ich Shingo? (UA)

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von Laura Naumann nach dem Manga „Watashi wa Shingô“ von Kazuo Umezu | Regie: Babett Grube Premiere am 11. Februar 2022 -> Großes Haus

Makom

Regie: Reut Shemesh Premiere am 18. März 2022 -> Großes Haus

I Wanna Be A Boi Band

Text: Julienne de Muirier | Konzept u. Regie: Shari Crosson Premiere am 19. März 2022 -> Saal 2

NN

Regie: Hakan Savaş Mican Premiere am 29. April 2022 -> Großes Haus

Ankommen (AT)

Konzept und Regie: Ayşe Güvendiren Premiere am 7. Mai 2022 -> Saal 2

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»Es ist nicht alles mehr wie sonst – Es ist ein Wandel vorgegangen.« Friedrich Schiller

Premieren 2021/22

Premieren 2021/22 Ewig jung / fort schreiten / Furor / Der Vetter aus Dingsda / Von Fischen und Wünschen / Kleider, Kleider, Kleider / Die Glaubensmaschine / Rumpelstilzchen / Carmen / In der Schwebe / Die Kehrseite der Medaille / Die Hochzeit des Figaro / Mein kleiner Bruder Amadeus / Der Schimmelreiter / VOR?Spiel! / Der Liebestrank / Die Nacht der Nächte / Eine Mittsommernachts-SexKomödie / Das Dschungelbuch / Will alles wagen Thüringer Landestheater Rudolstadt Thüringer Symphoniker SaalfeldRudolstadt GmbH / Intendant: Steffen Mensching / www.theater-rudolstadt.de


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stück

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Mein Anwalt sagte: Du solltest sofort gehen! Der Dramatiker Andrej Kurejtschik über die Situation in Belarus, sein Leben im Exil und sein Stück „Die Beleidigten. Belarus(sland)“ im Gespräch mit Patrick Wildermann Herr Kurejtschik, Ihr Stück „Die Beleidigten. Belarus(sland)“ kreist um die manipulierten Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020, in deren Folge es zu Protesten kam, die mit aller Gewalt niedergeschlagen wurden. Wie haben Sie diese Tage persönlich erlebt? Wie viele Menschen in Belarus war ich von einer Welle der Hoffnung erfasst. Es schien, als sei Veränderung tatsächlich möglich. Ich war 14 Jahre alt, als Lukaschenko an die Macht kam. Heute bin ich 41, habe zwei Kinder, und er ist immer noch im Amt. Politische Aktivistinnen und Aktivisten, die Intelligenzija, Menschen aus dem Kulturbetrieb, aber auch

Aber sie haben eine Wahl. Jede und jeder von Andrej Kurejtschik wurde 1980 in Minsk geboren. Der studierte Jurist ist bekannt als Theater- und Drehbuchautor, Regisseur und Publizist. Er hat bereits über 30 Stücke geschrieben und mehr als ein Dutzend ­ ­Filme gedreht. Seine Texte wurden u. a. am Tschechow-Theater in Moskau, am Puschkin-Theater in St. Petersburg und am JankaKupala-Theater in Minsk aufgeführt. Als Mitglied des regierungskritischen und von Machthaber Lukaschenko für illegitim erklärten Coordination Councils lebt er seit September 2020 im Exil.

uns trifft in jedem Moment Entscheidungen und hat auch die Freiheit, eine völlig andere, neue Perspektive einzunehmen. In Belarus beobachten wir weniger einen Konflikt zwischen Individuen als vielmehr zwischen Generationen. Lukaschenko ist an die Macht gekommen als Repräsentant einer sowjetischen Ideologie und Ästhetik. Er hat den Leuten damals eine bessere Sowjetunion versprochen – was bei vielen Älteren Nostalgie weckte. Die hatten in der Sowjetära ihre beste Zeit, sie liebten die Musik, die Filme. Eine jüngere Generation, die durch Europa gereist

ganz normale Leute fühlten, dass der Moment

ist und andere Lebensweisen kennengelernt

gekommen war, ihn loszuwerden. Ich war be­

hat, kann damit überhaupt nichts mehr an-

teiligt an der Wahlkampagne von Swetlana

den Übergang zur Demokratie in Belarus or-

fangen. Ich selbst war als Kind Pionier, ich

Tichanowskaja, die gegen Lukaschenko ange-

ganisieren soll und dem ich ebenfalls angehö-

war zwölf, als die Sowjetunion zusammen-

treten ist, und habe geholfen, ihre Auftritte

re. In der Folge war ich, wie viele andere, ge-

brach, das war ein echter Schock für mich.

vorzubereiten. Swetlana und ihre Mitstrei­

zwungen, das Land zu verlassen.

Aus heutiger Sicht denke ich: Was für ein

terinnen Maria Kalesnikawa und Veronika

schreckliches Leben wir damals hatten!

Zepkalo waren ja keine Politikerinnen und

Was war Ihr Impuls, den Ereignissen eine dra-

hatten entsprechend keine Erfahrung mit öf-

matische Form zu geben?

Halten Sie diese Kluft zwischen den Generatio-

fentlichen Reden. Ich selbst habe auf der

Mir ist klar geworden, dass ich in meiner Si-

nen, die auch in Ihrem Stück Thema wird, für

größten Kundgebung in Minsk vor der Wahl

tuation nur über eine einzige Waffe verfüge:

überwindbar?

gesprochen – über die Zukunft, über das

mit diesem Stück die Wahrheit zu erzählen.

Es war für mich eine große Überraschung,

Land, das ich mir für meine Kinder wünsche.

Ich bin Dramatiker, kein Politiker. Aber mein

dass 2020 auch viele ältere Menschen gegen

Die Stimmung war superoptimistisch.

Anspruch war, Figuren zu entwerfen, die ver-

Lukaschenko auf die Straße gegangen sind –

schiedene Sichtweisen auf die Ereignisse re-

zum ersten Mal überhaupt. Das hing sicher

Nach der Wahl sah die Lage schlagartig anders aus.

präsentieren – statt nur die Perspektive der

auch mit seiner katastrophalen Corona-Politik

Auf der Straße haben sich bürgerkriegsartige

Protestierenden einzunehmen. Jede und je-

zusammen. Er hat die Krankheit ja als „Psy-

Szenen abgespielt, ich hätte nie gedacht,

der in „Die Beleidigten“ hat ihre oder seine

chose“ abgetan und Wodka als Gegenmittel

dass so etwas im Europa des 21. Jahrhun-

eigene Wahrheit und versucht sie zu verteidi-

empfohlen. Diejenigen, die am meisten unter

derts möglich ist. Panzer fuhren auf, Luka-

gen. Als Dramatiker ist es meine Aufgabe,

Covid-19 zu leiden hatten, waren natürlich

schenko ließ Spezialkräfte mit Maschinenge-

Verständnis für sie alle aufzubringen – egal,

die Älteren. Lukaschenko hat rein gar nichts

wehren los, seine Schergen haben ohne jeden

ob es Lukaschenko selbst ist oder die Schul-

unternommen, um sie zu schützen, im Ge-

Anlass brutal auf Leute eingedroschen. Sie

leiterin in meinem Stück, die mithilft, die

genteil. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges, ließ

haben Frauen geschlagen, Kinder, Jugendli-

Wahlen zu fälschen. Das war für sie 26 Jahre

er eine Parade von Veteranen abhalten, ohne

che. Es war schockierend. Maria Kalesnikawa

lang Normalität. Sämtliche Figuren sind Proto­

Masken, ohne Abstand. Ein superspreading

hat versucht, beruhigend auf die Demonstrie-

typen – mit realen Vorbildern.

event, in dessen Folge etliche gestorben sind. Ihm war das gleichgültig.

renden einzuwirken, zu denen auch ich gehörte – wir wollten eine friedliche Revolution.

Lukaschenko tritt bei Ihnen als „Der Alte“ auf,

Die Leute verlangten nach einem gewaltfreien

die Oppositionelle Tichanowskaja als „Die

Was in Ihrem Stück auch angerissen wird, ist

Machtübergang. Aber das funktioniert nicht

Neue“, ein Hooligan kämpft an der Seite der

die Frage: Wie abhängig ist Belarus von Russ-

mit einem Mann wie Lukaschenko. Er gibt nie

Protestierenden, ein systemtreuer Soldat lässt

land?

auf. Er hat Maria Kalesnikawa verhaften las-

seinem Sadismus freien Lauf – all diese Figuren

Ich habe viel in Russland gearbeitet, in Mos-

sen, Maxim Snak und weitere Mitglieder des

wirken getrieben von Dynamiken, die sie nicht

kau, in St. Petersburg, zuletzt vor zwei Jahren

Coordination Council of Belarus – ein Rat, der

kontrollieren können.

in Sibirien. Ich habe auch Filme in Koopera-


andrej kurejtschik

/ TdZ  September 2021  /

tion mit russischen Companys realisiert. Ich kenne und schätze ihre Kultur, die Russen könnten in vielerlei Hinsicht inspirierende Nachbarn für uns sein. Jetzt kommt das Aber: Natürlich ist Putins Regime absolut vergleichbar mit Lukaschenkos. Sie unterstützen einander, die Geheimdienste arbeiten eng zusammen. Es heißt, dass der Tod des Oppositio­ nellen Witali Schischow, der erhängt in Kiew aufgefunden wurde, auf das Konto des rus­ sischen Inlandsgeheimdienstes FSB gehen könnte. Wir sehen all diese Verbindungen. Sie sind studierter Jurist, arbeiten publizistisch, schreiben Drehbücher und Stücke, sind Regisseur – Sie haben also viele Möglichkeiten, sich eine Stimme zu verschaffen. Warum haben Sie sich für das Theater entschieden, um von der niedergeschlagenen Revolution zu erzählen? Das Theater schien mir der effizienteste Weg zu sein, um die Ereignisse nachfühlbar zu machen. Natürlich haben damals all die großen Nachrichtenportale und Sender weltweit „Wenn man das Licht sieht, wendet man sich ihm zu, nicht der Finsternis“ – Andrej Kurejtschik bei der World Press Freedom Conference 2020 in Den Haag.

darüber berichtet. Aber Emotion ist etwas an-

Wann wussten Sie, dass es Zeit für Sie wird, das

deres als Information. Dazu kommt: Es dauert

Land zu verlassen?

lange und ist teuer, einen Film zu realisieren.

Sie fingen an, ein Mitglied des Coordination

Zumal meine Produktionsfirma in Minsk zer-

Councils nach dem anderen zu verhaften.

schlagen wurde. Theater lässt sich nicht nur

Mein Anwalt rief mich morgens an und sagte:

leichter produzieren, es bietet auch die Mög-

Du solltest sofort gehen. Ich habe geschaut,

lichkeit, schnell mit Menschen in Kontakt zu

wohin ich ausreisen könnte, weil ja in vielen

kommen. Trotz der Pandemie haben wir mit

Ländern Lockdown war. Die einzige Möglich-

John Friedman, dem englischen Übersetzer

keit war die Ukraine. Ich habe eine Stunde

und Promoter dieses Projekts, mehr als 200

vor dem Flug Tickets für mich und meinen

noch nicht. Also verfolgen sie Exilanten. Man

Lesungen weltweit für „Die Beleidigten“ or-

14-jährigen Sohn gekauft, damit ich nicht zu

muss das durchaus ernst nehmen. Das haben

ganisieren können. Teils vor Ort, teils online.

lange im System sichtbar bin. Und das war’s.

wir am Fall von Witali Schischow gesehen. In

Ich dachte tatsächlich, ich könnte in wenigen

Absprache mit den Kolleginnen und Kollegen

Welche Reaktionen gab es?

Wochen zurückkehren. Weil es so aussah, als

von „Artists at Risk“ habe ich entschieden,

In Hongkong fanden allein fünf Lesungen in

würde Lukaschenko kapieren, dass es keinen

die Drohungen gegen mich publik zu ma-

drei verschiedenen Sprachen statt. Wir hatten

Sinn ergibt, sich an der Macht zu halten,

chen, weil die Öffentlichkeit eine Form von

dort sehr tiefgehende Diskussionen, weil die

wenn das Volk gegen dich ist. Aber er hat sich

Schutz bieten kann.

Opposition mit der chinesischen Regierung

für den Weg der Gewalt entschieden und das

ähnliche Probleme hat wie wir in Belarus. In

ganze Land in einen Gulag verwandelt.

Foto Ministry of Foreign Affairs / Valerie Kuypers / Wikimedia Commons/ CC BY-SA 2.0 https:// creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0

„Die Beleidigten“ endet mit einem utopischen Moment, dem Bekenntnis dazu, dass Liebe im-

den USA gab es ebenfalls große Debatten – im Nachklang des Sturms auf das Kapitol. In

Sie sind jetzt Resident des Programms „Artists

mer stärker sein wird als Hass und Gewalt. Ist

Schweden hatten wir eine Lesung am Drama-

at Risk“. Erst kürzlich haben Sie Todesdrohun-

das auch Ihre Überzeugung?

ten, einem der besten Theater in Europa, an

gen erhalten. Reicht die Macht des belarussi-

Vor dem 9. August – das mag Sie über­

der unter anderem der schwedische Außen-

schen KGB bis ins Ausland?

raschen – sah alles nach einer großen, hippi­

minister und andere Politikerinnen und Poli-

Ich bin sicher, dass der KGB gerade im Vor-

esken Party aus. Die Leute haben sich mit

tiker teilnahmen. Wir haben darüber gespro-

feld des Jahrestages der Proteste am 9. August

Blumen geschmückt, miteinander getanzt. So

chen, wie wichtig es ist, die belarussische

Jagd auf Oppositionelle macht. Das trifft

etwas ist nie zuvor passiert. Es war eine dreimo-

Opposition zu unterstützen. Lukaschenko

nicht nur mich, zahlreiche Blogger im Exil in

natige Party. Und ja, ich bin überzeugt, dass

wird immer gefährlicher, das sieht man schon

verschiedenen Ländern haben Todesdrohungen

sich nur so das Land verändern lässt. Wenn

daran, wie skrupellos er Migrantinnen und

erhalten. Blogger bieten eine der letzten un-

man das Licht sieht, wendet man sich ihm

Migranten instrumentalisiert, die er über die

abhängigen Informationsquellen für Belarus,

zu, nicht der Finsternis. Aber die Belarussen

Grenze nach Litauen schickt, um Europa un-

alle anderen Medien sind unter Kontrolle.

haben verstanden, dass der Weg dahin lang

ter Druck zu setzen.

Aber YouTube können sie nicht abschalten –

und beschwerlich ist. //

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Andrej Kurejtschik

Zweite Szene

Die Beleidigten. Belarus(sland) Personen: Der ALTE1 Der JUNGE2 Die NEUE3 Die OPTIMISTISCHE Der VOGEL4 Der LEICHNAM Die DIREKTORIN

Erster Akt Erste Szene Der ALTE Ich mag das Theater nicht. Hat mich nie interessiert. Es ist irgendeine Dummheit. Ein Unfug. ­Urteilen Sie selbst: wozu ist das Theater gut? Soll so was etwa Unterhaltung sein? Erwachsene Leute schneiden Grimassen, zeigen ihre nackten Ärsche, lachen über irgendeinen Schwachsinn. Benimmt sich so ein vernünftiger Mensch? Dabei ist das Ganze nicht einmal wahr! Unsinn und Zeitvergeudung. Solche Visagen, solche Pranken! Die sollten besser alle in die Ernte. Setz so einen auf einen Trak1 2 3 4

Präsident Lukaschenko Nikolaj, Lukaschenkos heranwachsender Sohn. Swetlana Tichanowskaja „Vogel“ ist der Kampfname eines ukrainischen ExSoldaten, der zum Söldner wurde. Er hat beim sog. Euro-Maidan 2013/14 auf der Regierungs­ seite gekämpft und nach der Niederlage von Januko­ ­ witsch die reguläre Armee verlassen. Jetzt kämpft er in russischen Diensten. Wobei es ihn nach ­Belarus verschlagen hat. Dort kämpft er in einer Sondereinheit. Zu seinem Feindbild zählt der Westen, Demokratie usw. Er nennt seine Feinde öfter auch „Bandera-Leute“. Nach Stepan Bandera (1909–1959) – für ukrainische Nationalisten ein Held, für die russische Seite ein NS-Kollaborateur und Kriegsverbrecher.

tor, und der pflügt dir zehn Hektar… am Tag! Oder noch mehr! Und erst die Frauen! Die sollen Kinder kriegen und Borschtsch kochen! Und der Staat unterstützt sie. Das wäre nützlicher. Geschminkte Männer, die auf der Bühne mit dem Arsch wackeln, wer braucht so was? (Pause) Schmarotzer. Was soll man da anderes sagen? ­Parasiten! Abschaum. Verräter. Zuerst füttert man sie, und dann beißen sie in die Hand, die sie füttert. An meinem Busen hab ich sie genährt, die Verräter! Deswegen gibt’s auf dem Dorf auch kein Theater. Das Dorf akzeptiert diesen Mist nicht. Ein Bauer, das ist was. Er ist wie die Erde, aus der er stammt. Er ist rein. Den betrügst du nicht. Deswegen gibt’s auf dem Dorf auch keine Galerien. Wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man eine solche Schönheit, da braucht man keine Malerei; wenn man das heutzutage überhaupt noch so nennen kann. Schmierereien sind das. Chagall-Schmagall. Dreißig Millionen Dollar, vierzig, ja meinetwegen hundert. Und doch sind es Schmierereien! Vor unserem Fenster waren Apfelbäume. Dahinter das Feld, auf dem die Pferde der Kolchose weideten. Schöne Tiere. Ich weiß selbst nicht ­warum, aber mich hat es das ganze Leben zu den Pferden gezogen. Pferde sind still und gehorchen. Arbeiten bis zum Umfallen. Verlangen nichts. Ja, es gibt Stuten, die sind launenhaft. Aber streich ihnen mit der Peitsche über den braunen Rücken, und sie werden seidenweich. Dann legst du ihnen Scheuklappen an, und ob ’s stürmt oder schneit, es geht vorwärts. Sie sind treu ... So sollte das Land sein: treu. Arbeitsam. Ehrlich. Fressen dir aus der Hand, den Blick gesenkt. Manchmal träume ich, es wäre gut, dieses Land wäre ein Pferd! Wir würden eine gemeinsame Sprache finden. Egal ob durch Hafer oder die Peitsche; sie würden schwitzen, und dabei würden sie mich noch ­lieben.

Die OPTIMISTISCHE Ändern kann man alles! Wirklich alles! Man muss es nur wollen, und dann kann man alles zum Besseren wenden. Das ist meine Devise, meine message. Message, wissen Sie, das heißt so was wie Botschaft. Simsalabim, und das ist meine Botschaft: Ich habe eine Botschaft ans Universum. Ich liebe Botschaften ans Universum. Weil das Universum mir dann antwortet: Du bist super! Lena, du kämpfst für das Positive! Und du kriegst so viel ­Positives zurück wie du nur willst. Ich bin aus Grodno. Grodno – das ist wie im Westen… sozusagen der europäische Teil von Belarus. Vor dem Krieg waren hier Polen. Früher war unsere Stadt sehr schön, aber auch ganz schön alt, sowjetisch, verfallen. Aber heute kommen sogar­ wieder die Polen zu uns und bewundern unser Grodno! Wir wollten die Stadt verändern, und wir haben ’s geschafft! Oder schauen Sie zum Beispiel meine Maniküre! Ich hab früher immer nur Perlglanz gemacht, an die grellen Farben traute ich mich nicht ran. Aber jetzt hab ich mir gedacht: weiß rot weiß. Schöne Kombination. Weiß. Rot. Weiß. Modisch. Die Farben unserer Nation. Übrigens. Diese Maniküre habe ich mir zur Hochzeit gemacht. Haha. Sie denken vielleicht zu meiner Hochzeit? Nein, ich bin noch solo. Ich warte noch auf den richtigen Kandidaten, bin sozusagen noch beim Casting. Nein, ein Scherz. Es ist die Hochzeit von Mascha, meinem Schwesterchen. Für sie war ‚s richtig. Sie ist ja auch schon einundzwanzig. Ein super Typ. Ich freu mich wahnsinnig für sie! Sehen Sie, ich sag ’s ja, das Universum liebt uns! Die Hochzeit ist für den 9. August geplant, einen Sonntag, wunderbar! Der Typ ist super. Kommt aus der Ukraine. Zwei Meter groß, sportlich, joggt jeden Tag. Sieht toll aus, ist ja klar. Da war ich, ehrlich gesagt, sogar kurz neidisch. Ukraine – ist doch der Hammer! Lviv5 ist fast schon mein zweites Zuhause. Da gefällt mir alles! Der Kaffee und die Schokolade! Selbst in die Cafés „Masoch“ und „Kriivka“6 hab ich mich getraut! Ich wünschte, die ganze Welt wär so! Wegen der Hochzeit am 9. habe ich mich sogar von meinem Wahllokal freistellen lassen. Ich habe ein anderes Mädchen gebeten, dass sie dann für mich die Wahlbeobachtung macht. Sie lassen uns 5 ukrainisch Lviv, russisch Lwow, österreichisch/ deutsch Lemberg 6 Cafés: „Masoch“ mit Erinnerungsstücken an Leopold von Sacher-Masoch, „Kriivka“ mit Welt­kriegs­­ deko­ra­tion.

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Tr eib s Tof f Theatertage bA f f! H A nis cH / Me THner Mo s cHini / P oPA l l t he at e r- r ox y. ch


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sowieso nicht rein! Wegen Corona, sagen sie. Alle dürfen rein, aber wir Beobachterinnen nicht. Also schauen wir von draußen. Nur haben sie die Fenster mit Papier verklebt. Ist doch witzig, oder? Wir zählen jetzt einfach, wie viele Leute zur Wahl gehen und wie viele davon mit weißen Armbändern dabei sind, also die, die für Veränderung stimmen. Aber bis jetzt stimmt gar nichts! Es sind dreißig Leute gekommen, aber sie schreiben, es waren 126! Das ist doch völliger Wahnsinn! Es ist alles falsch! Wie kann man nur so betrügen!

Dritte Szene Der LEICHNAM BATE7 – Champion! BATE – Champion! Jeder kennt uns in der Stadt! Alle! Wir sind Hooligans, und jeder kriegt Schiss, wenn er uns sieht! Hey, was zum Teufel grinst du so blöd? Ich trete dir gleich in deinen Arsch! Tut mir leid, das war ein bisschen zu viel. Normalerweise gehört das für nach dem Spiel. Eine ehrliche Schlägerei ist wie ein Bonus für die geschätzten Ultras. Hier, schau auf meine Nase! Zweimal gebrochen! Da, die Narbe, von einem Fahnenstock von denen von Dynamo8. Dreizehn Stiche. ‚Ne Menge Blut. Aber wie wir danach mit denen gesoffen haben! Mit den Brüdern! Sie sind einfach geil! Den Gegner muss man respektieren. Willst du dich prügeln, dann mach das! Aber ehrlich. Kinder – nein, Weiber – nicht anrühren! Zwei oder drei gegen einen, auch Scheiße! Die Bullen bleiben draußen. Und das Wichtigste: Wenn du was in die Fresse kriegst, dann jammer nicht! Nicht so wie unser Onkelchen mit dem Schnauzbart9… Du willst zeigen, dass du stärker bist – kein Problem! Aber dann kämpfe, du Vieh, und zwar fair! Agitiert, kommt gar nicht mehr runter vom Fernsehturm, zwingt seine Lakaien, ihm Loblieder zu singen ... Dann lass die anderen doch wenigstens dasselbe tun. Und dann wirf alle Stimmen auf den Tisch: „Hier, Ihr scheiß Oppositionellen, Ihr Schwuchteln, Freimaurer, zählt selbst, wie viele für mich sind! Zählt und haltet die Klappe! Ich bürge für jede Stimme.“ Aber er beißt lieber von hinten zu, die Ratte. Sobald jemand gegen ihn ist, sobald jemand nur seinen Kopf hebt, bekommt er eine Straf7 Populärer Fußballverein: FK BATE Baryssau: weiß­ russisch ФК БАТЭ Барысаў, russisch ФК БАТЭ Борисов/FK BATE Borissow, auch unter der englischen Schreibweise BATE Borisov bekannt. 8 Ebenfalls ein Fußballverein. 9 Lukaschenko

andrej kurejtschik_die beleidigten. belarus(sland)

anzeige. Erbärmlich: In 26 Jahren hat sich angeblich nicht ein einziger ehrlicher Mann gegen ihn zur Wahl gestellt. Alles nur „Abschaum, Diebe und Verbrecher“. Ehrlich – der Typ steht mir bis hier. 26 Jahre… genau so lange, wie ich lebe. Auf den Tag genau. Solange ich lebe, liebe ich Fußball. Aber diesen Hurensohn hasse ich.

Vierte Szene Der JUNGE Ich hab früher immer Counter-Strike gezockt. Naja, so gut es halt ging. Lange haben sie mich nie ge­ lassen. Aber ich habe meinen Laptop nachts unter die Decke geschmuggelt und trotzdem gespielt. Schließlich kam ich darüber hinweg, ich meine Counter-Strike, und ich wurde süchtig nach DotA10. Der Alte hat’s verboten und mir das Notebook weggenommen. Scheiße. Ich sag’s ja: Europas letzter Diktator. Scheiße. Alle normalen Kinder spielen, und es ist ok. Und er: „Willst du so werden wie sie? Wie die da? Was hast du nur für einen Mist im Kopf?“ Verdammt ... Papa! Aber die anderen dürfen doch… Und dann kommt er wieder mit der alten Leier, dass damals die Jugend noch eine richtige Jugend war. Und der Komsomol, und die Baubrigaden, was sie nicht alles gebaut haben, und Afghanistan, wie sie dort die Dörfer verteidigt haben und wie sie die Kühe gemolken haben und die frische Milch tranken … Ich hasse frische Kuhmilch, sie stinkt nach Hund und ich bekomm Dünnschiss, jedes Mal. Ich kann seine Geschichten nicht ausstehen! Die Sowjetunion! Ich habe keinen Tag in der Sowjet­ union gelebt. Ich bin 16. Nichts Interessantes hat es dort gegeben. Kein Internet! Keine Smartphones! Tablets! Keine normalen Filme. Sie haben nur den ganzen Tag gemolken und Wodka gesoffen. Zocken tu ich natürlich trotzdem. Wassja lässt mich, und dann spiel ich. Heimlich und ihm zuliebe. Wassja ist mein einziger Freund. Er ist 32. Er kann einem Kaninchen aus zehn Metern mit ­einem Messer das Auge rausschießen. Er ist cool. Er beschützt mich. Die Ratte weiß nichts davon. Die Ratte – das ist ­Larissa Nikolajewna, sie schaut, dass ich brav meine Aufgaben mache, bringt mich zur Schule und holt mich wieder ab. Sie ist gemein, sie ist eine ­Petze, steckt überall ihre Nase rein. Ich weiß, dass 10 Defense of the Ancients (kurz DotA) ist ein ActionEchtzeit-Strategiespiel.

THEATER MARIE

sie mein Telefon überwacht und dem Alten alles erzählt. Ich muss ihr meine Aufgaben zeigen, bevor ich sie in der Schule abgebe. Und sie sagt den Lehrern dann, wie sie mich zu benoten haben. ­Pädagogin! Larissa die Ratte. Einmal habe ich gehört, wie sie sich unterhalten haben. Wie der Alte gesagt hat: „Der Junge braucht immer eine Frau um sich. Sonst sehnt er sich nach seiner Mutter. Und du, L ­ arissa, sollst sie ersetzen.“ Kann man denn eigentlich eine Mutter ersetzen? Manchmal denke ich: Liebe ich meinen Vater? Ich bin schließlich sein Sohn. Ich schulde es ihm. Alle schulden ihm ja irgendwas.

Fünfte Szene Der VOGEL Ficken kann sie nicht so gut. Klar, sie bemüht sich natürlich. Quiekt und windet sich. Aber es ist trotzdem nicht dasselbe. Da haben mich die Lugansker11 Weiber ganz anders rangenommen: danach war ich nass wie in der Sauna. Da brauchst du Eiswürfel um runterzukommen. Lippen hatten die wie Fahrradschläuche. So dick! Aber Mascha, naja, Belarussin. Hier sind sie alle ein bisschen feinfühliger und zurückhaltender. Als ob du ihnen irgendwas schuldest. Aber hübsch ist sie, weiße Zähne, gepflegt. An mir wird es also nicht liegen. Alles funktioniert, einwandfrei. Jetzt zumindest. Es gab schon Zeiten, da war das nicht so. Einmal steht er dir, dann wieder nicht. Bei einer Übung hatten wir einmal einen Sanitäter, der sagte, das sind die Nerven. Ist ja auch verständlich. War stressig damals 2014. Ein verschissenes Durcheinander! Zuerst dachte ich, ok, das war’s. Dafür kriegst du mindestens zehn Jahre. Und wofür? Für die Verteidigung des Vaterlandes? Für den Antifaschismus? Aber, Gott sein Dank, haben wir uns dann grüppchenweise abgesetzt und sind ihnen durch die Lappen gegangen. Wir hatten eine geile Truppe. Wilde Hunde. Ein Teil ist in der Ostukraine gelandet, ein Teil im Kaukasus, ein Teil ist sogar bis nach Moskau gekommen, hauptsächlich die Offiziere. Naja, und einige sind eben hierher, ins „sowjetische“ Bruderland. Nach Belarus. Europa. Wir haben hier ein Kasino, es ist sauber, der Sold ist in Ordnung. Die Ideologie ist auf Anhieb verständlich: gut und schlecht, schwarz und weiß. So muss es sein. Natürlich gibt es auch Nachteile… Naja, über die Weiber habe ich ja schon geredet. (Pause) 11 Lugansk. Stadt im Bürgerkriegsgebiet der Ostukraine.

Geld, Parzival von Joël László 16./17./18.9.2021 Tojo Theater Reitschule Bern

verdeckt von Ariane Koch 24.9.2021 Theater Marie Suhr

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Die Hochzeit hat sie nicht günstig geplant! 9. August. Ich habe mich zwar beurlauben lassen… aber das Gefühl hat mir damals schon gesagt, das wird nichts. Da wird’s solchen Ärger geben, da bekommst du so schnell keinen mehr hoch. Ich hab sowas nur im Winter 2014 gehabt, in Kiew. Da war zuerst auch alles ok. Wir haben sie zurückgedrängt. Tod den Bandera-Leuten usw. Haben sie uns einen nach dem anderen vorgenommen. Russland hat Unterstützung geschickt. Zehn Einheiten. Vova Putin wird seinen Janek Janukowitsch doch nicht fallen lassen. Aber ich hatte damals schon das Gefühl, das geht nicht gut aus. Und auch jetzt habe ich so ein Gefühl. Da stimmt was nicht. Mann, und das alles direkt vor der Hochzeitsnacht…

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Früher hätte ich wohl gesagt: alles. Aber jetzt – wohl eher nicht mehr. Nicht alles. Zu sterben? Naja, vielleicht ist das manchmal das Einfachste. Du hörst auf zu existieren. Dann brauchst du nichts mehr zu entscheiden. Du hast dich geopfert. Dein Leben hingegeben. Die Mission ist erfüllt. Aber was, wenn du leben willst? Und für wen? Für ihn? Für dich selbst? Für das Land? (Pause) Die Kinder fragen oft, wann ihr Papa freigelassen wird. „Mama, du wirst doch jetzt Präsidentin, warum kannst du ihn nicht freilassen?“ Was soll ich ihnen denn sagen? Ich werde Präsidentin? Ich habe nichts. Ich bestimme nichts. Nicht einmal über mich selbst.

Sechste Szene Siebte Szene Die NEUE Für gute Buletten braucht man unbedingt viel Fett. Wenn man nur rotes Fleisch nimmt, werden sie trocken. Ich mache es deshalb so: Ich nehme Gehacktes vom Rind und vom Schwein und unbedingt noch ein Stück Speck dazu. Also mindestens zweihundert Gramm. Von der Schwarte. Dann drehe ich alles durch den Fleischwolf. Dann kommen noch Zwiebel, Knoblauch und die Gewürze dazu oder man dreht es gleich mit der Zwiebel und den Gewürzen durch. Das hab ich jetzt schon lange nicht mehr gemacht. Serjoscha hat meine Buletten geliebt. Hat gleich zehn davon gegessen, in einem Rutsch, und die Kinder auch. Sergej…. Manchmal kam er von seinen Dienst­ reisen zurück, total wütend. Alles hat er dokumentiert: den Schmutz, die Missstände, das Leid der Menschen. Weil ihm, dem Blogger, haben sie ja erzählt, wie es tatsächlich ist. Meistens war er total fertig: „Wie ist das nur möglich! Wie viel gelogen wird in diesem Land! Lügen über Lügen! Lügen über Lügen! Im Fernsehen sieht man das eine, aber die Wirklichkeit ist komplett anders!“ Ich habe ihm die Buletten hingestellt, dann konnte er sich entspannen. Oft frage ich mich jetzt… Wenn ich vor dem Spiegel sitze und das Telefon abstelle, damit sie mich nicht wieder durchlöchern mit ihren Fragen, einmal die BBC, dann wieder CNN, dann die eigenen Stationen und die anderen. Wenn ich so vor dem Spiegel sitze und mich kämme, scheinbar eine Ewigkeit lang, dann habe ich nur einen Gedanken im Kopf: Was alles sind die Menschen bereit, aus Liebe zu tun? (Pause)

Die DIREKTORIN Ich habe 37 Dienstjahre hinter mir. 37 Jahre. Ich habe fünf Auszeichnungen vom Unterrichtsministerium. Mit Brief und Siegel! Vier verschiedene Minister haben darauf unterschrieben. Einer hat mich sogar einmal beim Präsidenten zur „Lehrerin des Jahres“ vorgeschlagen, doch an irgendwas ist es dann gescheitert. Aber egal, ich beklage mich nicht, weil ich weiß, dass der Präsident an uns denkt. Der Präsident denkt an uns alle. An die Lehrer, die Melkerinnen, an die Rentner, an alle. Was für ein Kopf! Was für ein unglaublicher Kopf, der an alle denken kann! Immer, wenn ich an diesen Kopf denke, bin ich fassungslos. Den Schülern sage ich: „Ihr sitzt mit eurem technischen Spielzeug herum. Und dieser Mensch denkt die ganze Zeit nach und löst Probleme. Niemanden lässt er ungeschoren davonkommen. Damit es euch einmal besser geht. Damit im Land Stabilität herrscht. Er hat euch die Lehrbücher gegeben, er zahlt unsere Gehälter, gibt uns Arbeit. Was für Gebäude hat er nicht alles errichten lassen, was für Blumenbeete hat er nicht alles gepflanzt… Er hat einen Sputnik ins All geschickt, alles, damit ihr etwas lernen könnt. Und ihr? Seid so gewissenlos!“ Aber dann hat man diese Wahlen angesetzt. Warum hat man das nur getan? Es sind doch Ferien. Alle sind auf der Datscha. Tomaten, Wassermelonen. Datscha! Und die ganze Verantwortung lastet wieder auf uns Pädagogen. Das finde ich nicht gut. Man hätte gar nicht erst wählen dürfen. Was diese Wahlen auch immer für Probleme mit sich bringen. Schauen Sie, was bei Wahlen herauskommt:

COMING OF AGE EIN GENERATIONENÜBERGREIFENDES PERFORMANCEFESTIVAL SEPTEMBER 17 - NOVEMBER 07

Trump, Poroshenko, Jelzin – lauter Schädlinge. Es ist doch auch so klar, für wen das Volk ist. Das Volk will immer nur eins – Stabilität. Und wer gibt ­ihnen diese Stabilität? Unser Präsident! 26 Jahre, da ist doch alles klar. Alles stabil. Und so soll es auch bleiben. Ich habe noch vier Jahre bis zum ­Ruhestand… Unser Gymnasium ist eine Vorzeigeschule… auf unserem Gymnasium war sogar der Sohn des Präsidenten. Es sind die jungen Lehrer, um die ich mir Sorgen mache. Was haben die eigentlich im Kopf? Nur westliche Propaganda. „Wie werden wir auszählen?“ – Ich sage ihnen immer: Ihr macht es so, wie das Land es braucht! Glaubt mir, die da oben sind klüger als ihr. Ihr wollt arbeiten? Bitte, dann arbeitet. Nehmt euch die Arbeit und vorwärts. Aber bei den Wahlen haben wir eine Pflicht zu erfüllen – für die Stabilität. Da müssen wir für das Vaterland einstehen. Und dafür bekommen wir dann auch unsere Prämie. Ich habe Gott sei Dank fünf Mal die Wahlen an unserer Schule geleitet. Immer so, wie es sich gehört. Immer mit den vorgegebenen Resultaten, und immer haben wir dann auch unsere Prämie erhalten! Nur die Beobachter kann ich nicht leiden. Was wollen die da eigentlich beobachten? Und wenn schon. Ich habe alle Zahlen im Kopf. Und sie: saugen nur mein Blut!

Achte Szene Die NEUE Wo spreche ich hin? In die Kamera… aha…. ja. Jetzt … (Pause) Guten Tag! Ich bin Swetlana Tichanowskaja, Kandidatin für die Wahl des Präsidenten. Ich bin 37 Jahre alt. Geboren in der Polessje12. Ich habe die Philologische Fakultät der Pädagogischen Hochschule in Masyr abgeschlossen. Ich spreche weißrussisch, russisch und englisch. Ich wollte nie Karriere machen. Ich fühlte mich in erster Linie als Ehefrau und Mutter. Als Hausfrau. Das kann ich am besten. Ich habe mich nie für Politik interessiert. Ich war mit meiner Lage völlig zufrieden. Vor einem Jahr hat mein Mann Sergej Tichanowski sein Projekt „Ein Land zum Leben“ gegründet, in dessen Rahmen er sich mit Leuten unterschiedlichster Berufe getroffen hat. Sie haben ihm erzählt, was sie beunruhigt, was sie empfinden, was sie über Belarus denken. Die Leute haben über ihr nicht immer einfaches Schicksal gespro12 Gebiet im Süden von Belarus.

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chen und von ihren Träumen von einem Leben in Freiheit in einem reichen Land. Was mich am meisten erschüttert hat, war, dass viele der Leute, die vor der Kamera gesprochen haben, einer nach dem anderen im Gefängnis gelandet sind. Bitte sagen Sie mir, wie kann das sein? Mit solchen Ungerechtigkeiten kann man sich doch nicht abfinden. Das ist der Grund, warum ich, als sie meinen Mann Sergej der Möglichkeit beraubt haben zu kandidieren, beschlossen habe, seine Stelle einzunehmen – und den ganzen Weg bis zum Sieg zu gehen. Bin ich jetzt aus dem Konzept gekommen? Ich kann gar nicht glauben, was ich da sage. Ja – den ganzen Weg bis zum Sieg weiter zu gehen! Für mich, für meinen Mann, für uns alle, für unsere Kinder. Als Ehefrau und Mutter verstehe ich, dass in einer Familie einer für alle und alle für einen einstehen müssen. Ich möchte, dass das in unserem Land auch so ist. Sie sagen, eine Frau kann nicht Präsidentin werden. Das ist nicht wahr. Niemand kann eine Frau aufhalten, die ihre Familie verteidigt, so wie man auch kein Volk aufhalten kann, das nach Gerechtigkeit verlangt. VOGEL Ist es zu fassen! Verfluchte Scheiße. Die Arschlöcher haben mich eingeteilt am 9. Am 9., 10. und 11. Haben meinen Urlaub gestrichen. Alle haben sie einberufen. Ich sag zum Kommandanten: Ich heirate, ich hab das seit zwei Monaten geplant. Aber er: „Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Selbst wenn du tot wärst, wärst du am 9. dabei.“ Und nochmal: „Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Ein Trottel!“ … Er schaut mir gerade in die Augen: „Weißt du, was du bist? Ein Trottel!“ Ich bin kein Trottel. Ich hab sofort Mascha an­ gerufen. Scheiße, sag ich, aus der Hochzeit wird nichts. Die Pflicht ruft. Der Dienst ist wichtiger, Maschenka. Ich ruf sie extra am Telefon an, damit ich mir das Gebrüll und das Rumgeheule nicht live anhören muss… Wegen der Verwandtschaft, die extra aus Lida kommt, wegen dem Restaurant, das die Mutter schon angezahlt hat und dann ... „Wie kannst du nur? Du bist doch ein Mann, du hast es versprochen…“ Ja, Scheiße, aber wenn sie nicht ­kapiert, was Pflichterfüllung vor der Heimat ist, was soll ich da sagen? Ich diene Belarus. Ich diene Lukaschenko, er ist der Oberkommandierende. Das heißt: Was er befiehlt, das wird gemacht… Unser Politoffizier ist ein toller Kerl. Redet wie gedruckt. Klar und deutlich. Den Feinden – der Tod. Polen, Ukrainer und Litauer sind die Feinde. Russen sind keine Feinde – sie wollen uns bloß

andrej kurejtschik_die beleidigten. belarus(sland)

einkassieren. Heißt, sie sind auch Feinde. Gleichzeitig aber auch Brüder. Und Feinde zusammen. Das kommt vor. Vor allem aber werden wir zusammen mit den Russen erst mal die westlichen Schwuchteln, die Amis und das Maidan-Gesindel besiegen und danach erst werden wir uns die Moskauer vornehmen. Der Alte wird ihnen hier nichts durchgehen lassen. Selbst, wenn er ein russischer Gouverneur wird. Scheiße, jetzt ruft schon wieder Mascha an. Hallo! Was ist? Hör auf zu flennen. Ja, ich verstehe, du bist schwanger. Na und? Wir verschieben sie … Zuerst machen wir kurzen Prozess mit … Ich passe auf mich auf, ja, ich passe auf. Wenn du gesehen hättest, was sie uns alles geschickt haben! Sieben Ladungen aus Moskau. Du solltest mal unsere Uniformen sehen! Wenn nur die verdammte Hitze nicht wäre… Da stehst du in voller Ausrüstung mit Helm, Maulkorb, geschient und sogar in Stiefeln ... Was sagst du? In ein oder zwei Tagen ist alles geklärt – und das Land ist sauber. JUNGE (ruft) Papa, was ist mit unserem Internet? Der ALTE (ruft zurück) Kolja, ich bin gerade in einem Interview. Dima Gordon13 ist extra aus der ­Ukraine gekommen. Lassen Sie sich nicht stören, Dimitri. Sie haben mich, glaube ich, gerade zu meinem Vater gefragt. Ja, einmal, glaube ich, habe ich meinen Vater gesehen, als er zu uns gekommen ist. Ja, ich erinnere mich: Er kam nach Hause… Ich erinnere mich dunkel, alles, was ich weiß, ist, dass er ein sehr sehr großer Mann war. So an die zwei Meter. In der Volksschule hat mich die Miliz einmal mit aufs Revier genommen. Wir waren eine Bande von Schulkindern und hatten Bänke umgeworfen (denkt nach). Aber das ist nicht so interessant. JUNGE Wenn du nicht gleich das Internet einschaltest, werde ich nicht dein Nachfolger! Der ALTE Er scherzt. Er ist eben noch ein Kind. Was will man da machen? Er ist meine wichtigste Opposition. Ich sage Ihnen jetzt etwas Seltsames, Dima. Glauben Sie mir als erfahrenem Präsidenten: Präsident kann man nicht werden, als Präsident wird man geboren. Die OPTIMISTISCHE Scheiße! Und warum habe ich mir dann die Fingernägel gemacht, die Frisur, die Beine gewachst? Warum habe ich mir dann ein Kleid gekauft? Für 376 Rubel. Das sind zwei ­Monatsstipendien. Und dann einfach die Hochzeit verschieben. Weil Roma arbeiten muss. Unser Romka, wer hätte das gedacht, arbeitet nämlich bei der Bereitschaftspolizei. Obwohl er aus der Ukraine 13 Dimitri Gordon, bekannter ukrainischer Journalist

SPIELZEIT 2021/22 ERÖFFNUNG 29.09.2021

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ist. Ich dachte, er sei einfach irgendwas bei der ­ olizei, Verkehrspolizist, im Innendienst oder so. P Aber er ist bei der Bereitschaftspolizei. Auch gut! Heiraten werden sie dann jedenfalls in einem neuen Belarus. Es wird sogar noch besser. So viele Leute stehen in der Schlange, und jeder hat ein weißes Band. Universum, wir sind in der Mehrheit! DIREKTORIN Auf unsere Wahlkommission ist Verlass. Auf mich und meine beiden Stellvertre­ terinnen Kristalina Sergejewna und Lidija Michai­ lowna, den Leiter unserer Verwaltung Igor Nikolajewitsch und die Pädagogen aus der Unterstufe. So, alle herhören! Ich gebe Ihnen jetzt Ihre Instruktionen. Passen Sie gut auf. Hier sind die Zahlen, die Sie sich merken müssen. Die Auszählung wird folgendermaßen ablaufen: Sie nehmen einen Wahlzettel, zeigen ihn der Person zu Ihrer Rechten, also in meinem Fall Lidija Michailowna, und legen ihn auf einen Stapel. Auf meinem Stapel sollten dann exakt 206 Zettel sein. Auf dem Stapel von Kristalina Sergejewna 1361 Zettel, das heißt, das ist der Stapel von Alexander Grigorijewitsch Lukaschenko. Für jeden Kandidaten müsst Ihr euch die Zahl genau merken, und genauso viele Zettel müssen dann auch auf dem Stapel sein. Alle anderen sind entweder ungültig oder beschädigt. Frau Kasatonowa, was kümmert es Sie, woher diese Zahlen kommen? Von oben kommen sie. Da haben sie schon alles ausgerechnet. Als ob sie vor dir dreißigjähriger Sumpfkuh Rechenschaft ab­ legen müssten. Also das ist, was sie auswendig lernen müssen: Tichanowskaja 206. Nicht notieren – merken! Lukaschenko, Alexander Grigorijewitsch 1361! Dmitrijew 52, Kanapatskaja – pfui, was für eine hässliche Visage – 73, Tscheratschen – 39. Gegen alle – 100. Eine hübsche runde Zahl! Haben Sie sich alles gemerkt? Für die besonders Talentierten wiederhole ich es noch einmal… LEICHNAM Das habe ich aus einem Zombiefilm. Wo die Zombies die Herrschaft übernehmen. Also so ähnlich wie bei uns in Belarus. Man nimmt eine Zeitschrift, etwas Dickeres, und bindet sie sich mit Klebeband um den Arm. Und schon hat man einen Schild. So, jetzt sollen sie mit ihren Schlagstöcken mal drauf knüppeln! Tut kein bisschen weh! Der Alte wird nicht friedlich aufgeben. Für ihn ist es egal, ob er die Wahl gewinnt oder verliert. Er hat sich in die Macht verbissen. Sonst hat er nichts. Seine Zähne bröckeln, aber er hält sich fest. Die Finger sind schon blau, er zittert, aber er lässt nicht los. Er hat ja gesagt, eher liegt er im Sarg, bevor er aufgibt. Und dann gibt er die Macht an seinen Sohn weiter. Fick dich!

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Ich weiß nicht, soll ich einen Prügel mitnehmen oder nicht? Mit so was erwischen sie mich sofort. Die Revolution bei uns soll „friedlich“ sein. Sie laufen mit Lampions herum, mit Blumen ... Um­ armen die Arschlöcher noch und singen ihnen Lieder vor. Idiotinnen. Und die anderen haben Schlagstöcke, Granaten, Waffen und Mordlust in den Augen. Sie verteidigen ihren Führer. Die geben einen Scheiß auf eure Blumen. Heute kommen alle Jungs auf die Straße, alle Fußballfans, alle von uns. Wir werden unsere Wahl verteidigen. BATE Champion. Alle Wichser wissen das. Wir verbreiten Angst und Schrecken. Euch gilt unser Hass! Neunte Szene VOGEL Jetzt bin ich ruhig. Sie haben uns ein paar gute Jungs zur Verstärkung geschickt. Sehr höflich. Ich frage einen, wie er heißt. Renat, sagt er. Und der Familienname? „N-e-i-n“, lächelt er, den Familiennamen, sagt er, hat er zu Hause gelassen. „Wo warst du denn, Renat, als wir am Maidan im Kugelhagel der Bandera-Banditen standen?“ Er lacht. Weiße Zähne. „Bruder, entspann dich. Heute Abend gehört die Stadt uns.“ Die OPTIMISTISCHE Mascha, Mascha, reg dich nicht auf! Ich habe solche Neuigkeiten! Sie hat gewonnen. Ich habe die weißen Bänder gezählt. 1412 wunderbare unglaubliche weiße Bänder. Bei zweitausend Wählern im Wahlkreis. Weißt du, was das bedeutet? Mascha! Tichanowskaja hat mit großem Vorsprung gewonnen. Wir haben ein neues Belarus! Eine Frau als Präsidentin! Es ist so geil!! DIREKTORIN Welches Vieh hat die Aufzeichnung unserer Probeauszählung ins Internet gestellt? Ich hab gesagt, seht mir in die Augen! Swetlana Viktorowna, Du? Katarina, warst Du das? Kasatonowa, ist das alles ein Witz für Sie? Das ist ein Staats­ geheimnis! Sie sollen hier die Interessen des S ­ taates wahren, man hat Ihnen vertraut! Und Sie? Lesen Sie, was die Leute schreiben. Hier ganz offen auf Youtube: „Judas-Schweine!“ – „Wir werden Euch ins Gefängnis werfen.“ – „Fälscher!“ Zwanzig Jahre lang waren wir keine Fälscher, und jetzt sollen wir auf einmal Fälscher sein … „Sie haben das Gesetz gebrochen“ ... Ich habe noch vier Jahre bis zum Ruhestand. Ich gebe meinen Posten nicht ab. Und auch der Präsident hat Recht, dass er bleibt. Man muss seine Stellung bis zum Ende halten! Sie ist mit Schweiß und Blut erkämpft! Alle diese Wahlzettel – das ist doch alles Kinderkram. Wir schreiben die Zahlen, die ich genannt habe, hängen das Protokoll an die Tür und fertig. Die Bereitschaftspolizisten werden euch dann nach Hause begleiten.

Kaserne

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JUNGE Das Internet hier ist eine Pest. Sie schalten es einfach ab. Sogar bei uns, hier in der Residenz. Verdammt, Papa! Warum wird überall das Internet abgeschaltet? Meine Spiele sind online. DotA hängt, die Panzer hängen. Der Alte sagt, das machen die Feinde. Die Hacker von der Merkel. Blockieren den ganzen Kanal. Und dann höre ich noch, wie mein Bruder das Kommando gibt, Telegram14 mit chinesischen Störsendern abzudrehen. Ich meine die ganze Telegram-App. Mein Bruder ist so etwas wie Vaters rechte Hand. Der Alte hat ihm den Sicherheitsrat gegeben, vertraut nur ihm. Sein eigenes Gefolge kann er nicht ausstehen. Sie sind dumm, sagt er, dumm aber loyal. Nur nimm ihnen nie die Hand von der Gurgel, sonst machen sie es sich gemütlich und fressen dich auf. Wenn ich Präsident werde, will er, dass mein Bruder für mich die Drecksarbeit macht ... Ich habe einmal gesagt, Papa, alles der Reihe nach, zuerst du, dann Vitja und dann ich. Da wurde er plötzlich stinksauer. Die NEUE Serjoscha, kannst Du mich hören? Dort durch die Mauern, hörst Du mich, meine Stimme, Serjoscha… Hörst Du mich, mein Liebster? Wir ­haben gewonnen, Serjoscha! Der ALTE Schluss damit! Und bitte – schonen Sie niemanden! Ich will, dass die Ordnung im Land bis morgen früh wiederhergestellt ist! Die OPTIMISTISCHE Entschuldigen Sie … Ich habe völlig andere Zahlen. Da stimmt ja überhaupt nichts überein. Wie ist das möglich? LEICHNAM Beschissen hat er uns! DIREKTORIN Ich gehe da nicht raus. Nie im Leben. Sehen Sie, welche Massen da draußen sind, die zerreißen uns. Alles Bandera-Leute! Welches Vieh hat nur dieses Video ins Internet gestellt? Wer auch immer das gepostet hat, lasst den doch gehen! Ich gehe hier nicht raus. VOGEL Renat, bring die Tante nach Hause. Vor Angst scheißt sie sich schon ein. Die Resultate hat sie gebracht, aber erwischen lassen hat sie sich dabei. Na ja, kommt vor. Und jetzt hat sie Angst, dass die „Wähler“ ihr den Arsch aufreißen! LEICHNAM Schande! Schande! Schande! Die OPTIMISTISCHE Wie kann man solche Zahlen veröffentlichen, wenn wir doch alles gezählt haben? Alle haben es gesehen… das ist… Betrug. Eine Blendgranate explodiert.

14 Telegram ist ein kostenloser Instant-MessagingDienst zur Nutzung auf Smartphones, Tablets, Smart­ watches und PCs. Benutzer von Telegram können Textnachrichten, Sprachnachrichten, Fotos, Videos und Dokumente austauschen und Sprach- und ­Videotelefonie zu anderen Telegram-Usern nutzen.

Zweiter Akt Zehnte Szene Der ALTE Bewohner von Minsk, danke! Danke dafür, dass Ihr mich schon ein Vierteljahrhundert lang ertragt, einen Menschen, der aus der Provinz zu Euch gekommen ist! Danke auch Wladimir Wladimirowitsch Putin für die Glückwünsche zu meinem Sieg! Letztlich haben wir doch eine gemeinsame Heimat von Brest bis Wladiwostok! LEICHNAM Lukaschenko hinter Gitter! Hinter Gitter! Hau ab! Hau ab! Hau ab! Der ALTE (zu einem protestierenden Arbeiter) Ich werde dir jetzt mal was sagen… Nimm das Telefon weg! Ich werde dich nicht schlagen, noch nicht… Aber wir werden mit all dem aufräumen, und wir werden das Land sicher nicht einem wie dir überlassen. VOGEL Und diese Ziege nehmen wir auch mit! Halt, du Nutte. Wo rennst du hin? Verdammt, halt still, du Schlampe! Los, dreh ihr den Arm um… Leistet sie etwa Widerstand? Hau ihr in die Fresse! Die OPTIMISTISCHE Ich bin Wahlbeobachterin. VOGEL Eine verfickte Nutte bist du! Halt’s Maul! Los, ab in den Transporter. Die OPTIMISTISCHE Nicht so schnell! Meine Schuhe. LEICHNAM So – hier kommen die Typen von ­Dynamo und Partisan15! Hallo Brüder! Jetzt schauen wir mal, wer hier wem, verfickt nochmal… VOGEL Vollidiotin! Eine Wahlbeobachterin im weißen Kleid mit Stöckelschuhen? Eine verdammte Nutte bist du, keine Wahlbeobachterin! Du wirst heute Nacht allen den Schwanz lutschen! Verstanden? Und wenn einer nicht kommt, schiebe ich dir den Prügel in den Arsch! Du magst es doch von hinten, oder? LEICHNAM Lass die Mädchen in Ruhe! VOGEL Renat, das sind aber viele. Wirklich viele. Schmeiß ihnen ein paar Granaten vor die Füße. Schön! Und ein paar Kugeln in den Bauch. Nicht auf die Beine. In den Bauch. Bring die Huren­ söhne auf die Intensivstation! Die NEUE Mein Gott, was ist hier los? Krieg. Er hat einen Bürgerkrieg ausgelöst. Sie schießen. Aus nächster Nähe. Man darf doch nicht auf das eigene Volk schießen. Ich rufe die ganze Welt auf, einzugreifen und dieser beispiellosen Gewalt ein Ende zu machen! LEICHNAM Sie schlugen Frauen. Ich meine Mädchen, junge Frauen. Es war schwer, etwas zu sehen. Die Granaten machten dicken Rauch. Die Augen brannten. Sie rissen sie einfach zu Boden und prü15 Zwei Fußballklubs, Synonym für Gegner

31.8. bis 5.9. Treibstoff Theatertage

Do 16.9. bis Sa 18.9. BAFF! Anna Fries & Malu Peeters Virtual Wombs

29.9. bis 10.10. Schwerpunkt: Kaserne Globâle

Fr 10.9. bis So 12.9. Dimitri de Perrot Niemandsland

Do 23.9. Konzert: Love-Songs, Museum Of No Art

15.9. bis 19.9. BAFF! – Internationales Basler Figurentheater Festival 2021

Fr 24.9. Michael Landy & Tabea Martin H.2.N.Y.

Do 23.9. Kaserne Globâle Mapa Teatro La Luna en el Amazonas (Der Mond im Amazonas)

www.kaserne-basel.ch

Mi 29.9. Kaserne Globâle Konzert: La Byʼle Support: Sonido Resistencia


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gelten auf sie ein. Sie haben sie einfach platt­ gemacht, krasser als jeder Hooligan. Sie traten die nackten Beine der Frauen mit ihren Stiefeln, schlugen mit den Stöcken in ihre Bäuche, mit den Fäusten ins Gesicht. Sie prügelten einfach drauflos. Die Mädchen rannten weg und riefen: „Hört auf!“ Aber sie prügelten und prügelten. Also machten wir mit den Jungs eine Kette und gingen vor… DIREKTORIN Nichts, nichts! Es ist gar nichts. Wir haben das schon so oft überstanden. Zuerst regen sich alle fürchterlich auf, und dann beruhigen sie sich wieder. Das ist Pädagogik. Alles ist gut. Tochter, liebe Tochter, deine Mutter ist wieder zu Hause… Warum schaust du mich so an? Was hast du? Was ist mit dir? JUNGE Wassja hat mir eine kugelsichere Weste gebracht. Wozu brauche ich eine kugelsichere Weste? Ist das ein Spiel? Die OPTIMISTISCHE Die Nägel sind kaputt. Weiß, rot, weiß. Vielleicht haben sie mir einen Finger gebrochen. Ich kann ihn nicht bewegen. Alles tut weh. Ich habe so einen Eisengeschmack im Mund. Seltsam, ich sitze im Polizeitransporter, wir alle sitzen da, und ich denke nur, ich will mir das Kleid nicht schmutzig machen. Es war echt teuer. Universum, ich kann dich nicht hören. Ich, dein Stern. Ich kann dich nicht hören. LEICHNAM Sechs Frauen konnten wir rausreißen. Sechs. Wir haben einige Jungs verloren, die Hurensöhne haben sie aus unserer Kette gezogen und weggezerrt. Aber Brüder – BATE ist mit euch! Schau an, die dicke Zeitschrift hat geholfen. Mit aller Kraft haben sie draufgedroschen. Hätten sie den Arm so erwischt, wäre er jetzt Matsch. Über meinen Schädel red ich erst gar nicht. Einem habe ich Bauschaum ins Gesicht gespritzt und ihn getreten. Der ist gleich zwei Meter weit geflogen. Dann sind noch mehr von unseren Jungs aufgetaucht. Mindestens 50. Die brüllten wie bei Barcelona gegen Real. Die Ohren sind mir abgefallen. So ist es zugegangen. Da haben sich die Hurensöhne gleich aus dem Staub gemacht und kräftig Fersengeld gezahlt. Einem hab ich noch einen Tritt in den Arsch gegönnt. Ich dachte, er stürzt, aber es hat ihm nur noch mehr Antrieb gegeben. Weit g ­ erannt sind sie aber nicht – nur bis hinter die gepanzerten Mannschaftswagen. Luka hat nämlich Panzer auf die Straßen geschickt – und was für welche, wie bei „Mad Max“. DIREKTORIN (zu ihrer Tochter) Ich habe dich nicht mit vierzig Jahren in die Welt gesetzt, damit du mich jetzt belehrst. Was? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass da etwas Besseres nachkommt? Sie werden die Fabriken schließen. Wir werden für

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­alles selbst bezahlen müssen. In vier Jahren gehe ich in den Ruhestand, ich war 15 Jahre lang nicht am Meer. Was? Du meinst, wir haben nicht gelebt und lassen euch deshalb auch nicht? Von mir aus. Der ALTE Alle! Alle hinter Gitter. Und wenn der Platz nicht reicht, steckt sie in die Turnhallen, in die Stadien. Damit sie sich’s fürs ganze Leben merken. Die Macht schwankt nicht. JUNGE Papa, was heißt das: Freiheit?

Elfte Szene LEICHNAM Jagt die Bullen – es kommt die Freiheit!16 Hey, ihr da, Mistkerle, hört mir zu! Ich heiße Nikita Mizkjewitsch. Mizkjewitsch. Merkt euch meinen Namen, es ist der Name eines Menschen, der keine Angst vor euch Arschlöchern hat. Das ist nämlich mein Land! Belarus ist mein Land! Das ist meine Stadt! Und das bin ich, Nikita Mizkjewitsch, Schlossermeister. Scheiße, ich sehe nichts. Es ­blutet. Wie viele von euch hat man hergebracht? Tausend? Von woher kommt ihr alle in unser Land? Wen beschützt ihr da? Wen? Diese Schabe? Der ist doch niemand. Buchstäblich ein Niemand. Eine Schabe! Tritt mit dem Stiefel drauf und knack, ein Spritzer, und er ist hin. Er hat uns alle gegenein­ander aufgehetzt. Hat das Land in Blut ertränkt. In Hass. In Schmerz. Wir wollen ihn nicht mehr. Hört ihr mich? Ihr Ochsen! Wir wollen ihn nicht mehr! VOGEL Das ist doch einer von diesen bezahlten Clowns. Hundert Prozent! Von den Scheißamis oder den Polen. Ein Aufwiegler! Drogensüchtig. Alles klar. Genau wie unser Politoffizier gesagt hat. Gib mir noch eine Tablette, Renat, die hauen rein. Geiler Scheiß! Da macht das Säubern doppelt Spaß, da wirst du high und willst nur noch knallen, knallen, knallen. Gleich pust’ ich ihn weg. Nette Kugeln haben sie uns geschickt, metallbeschichtet. Die reißen ihm die Eingeweide raus, einfach so. Schmeiß ihm schnell eine Granate zwischen die Füße, sonst filmen die Affen wieder alles mit ihren Handys. JUNGE Papa hat gesagt, zwei Flugzeuge stehen bereit. Eines hat er dem Turkmenbaschi17 abgekauft. Das war einer von Papas Freunden, bis ihn die eigenen Leute vergiftet haben. Dort war es echt cool. Das Internet hat immer funktioniert, und die Toiletten waren aus echtem Gold … Das große 16 Frei nach dem ukrainischen Lied: https://translatesong.livejournal.com/46500.html 17 Saparmurat Nijasow, bis 2006 Staats- und Regierungschef von Turkmenistan. Während dieser Zeit nannte er sich Turkmenbaschi; deutsch: „Führer der Turkmenen“.

Flugzeug steht am Zivilflughafen, das kleinere am Militärflugplatz. Da kommt schon die Ratte angelaufen, aus irgendeinem Grund ganz verheult, mit riesigen Augen, umarmt mich, als wäre sie meine Mutter, und sagt, ich soll meine Sachen packen. Damit ich jederzeit bereit bin. Warum brauche ich meine Sachen? Fahren wir in den Urlaub? Die OPTIMISTISCHE Jemand schreit in mein Ohr: „War es euch Drecksfotzen zu Hause nicht gemütlich genug? Musstet ihr heute unbedingt spazieren gehen? Euch sollte man alle auf Pfähle spießen und ins Weltall katapultieren, damit ihr dort von eurer verdammten Päderastie erzählen könnt.“ Und dann reißt jemand die Tür vom Polizeitransporter auf, und etwas klatscht auf den ­Boden. Wie ein Stück Fleisch. Und ich fühle, wie etwas Warmes auf mein Knie spritzt. Auf das Kleid. Auf das weiße Kleid, das ich für die Hochzeit von Mascha gekauft habe. Und jetzt hat es schwarze Flecken. Und dann der Blitz der Granate. Und ich sehe, dass die Flecken nicht schwarz sind, sondern rot. Und das Stück Fleisch, das ist ein Mensch. ­Komischerweise hat er etwas um seinen Arm geklebt. Ich dachte, einen Lappen. Aber es war eine Zeitschrift, der „Rolling Stone“, nur völlig zerfetzt und mit Blut getränkt, als hätte ein Hund sie mit seinen Zähnen zerkaut. Er sah mich mit einem Auge an, das andere konnte ich nicht sehen: „Verzeih, dass wir dich da nicht raushauen konnten.“ LEICHNAM Verzeih, dass wir dich da nicht raushauen konnten. VOGEL Wer sabbelt da? Fresse, du Wichser! Die OPTIMISTISCHE Sie sind ihm auf die Hand getreten. Er hat Schmerzen. VOGEL Natürlich hat er Schmerzen. Verdammt starke Schmerzen sogar! Warum sollte er sonst so schreien. Der Klugscheißer! Verbindet sich die Arme, damit wir keinen Schwachpunkt finden. ­Außer die kleinen Fingerchen... Die OPTIMISTISCHE Er blutet. VOGEL Es ist sein Loch, das blutet. Mach dich bereit, Söhnchen, ich steck dir meinen Prügel rein oder meinen Schwanz. Du hast die Wahl. „Er blutet...“ DIREKTORIN Was fehlt dir noch im Leben? Schau nach Europa – da sind sie alle arm und barfuß. Ihre gesamte Wirtschaft ist zusammengebrochen. Merkel lebt nur noch von Putins Gnaden. Aber wir sind unabhängig. Und unsere Unabhängigkeit ­erhalten wir nur dank unseres Präsidenten. Sogar das Coronavirus hat Angst vor ihm. Alle werden krank, nur die Belarussen nicht. Bei uns am Gymnasium sind im Mai/Juni drei Lehrkräfte gestorben – aber keiner am Virus! Alle am Herzen. Nur die Särge musste man versiegeln.

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Werkstatt: Publikums- und Inszenierungsgespräche

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genau, bis auf s i-Tüpfelchen. 81 Prozent. Das heißt, wir haben ihn nicht im Stich gelassen! Wir haben seine Erwartungen erfüllt. Bis zum Ruhestand bin ich sicher! Und den Bonus von zwei Monatsgehältern bekommen wir auch. Und danach, da kann ich sogar nach Polen umziehen. Oh – der Präsident spricht. Der ALTE Freunde, ich habe euch nicht hierher gerufen, damit ihr mich verteidigt, obwohl ja, das auch. Ich weiß, ihr habt zuhause eine Menge zu 17. - 19. Nov. 2021 tun. Ihr seid gerade bei der Ernte. Ich weiß, bald ist Schulbeginn. Aber vor allem erinnere ich mich an die 90er Jahre. Hier standen Menschen, Arbeiter mit Töpfen und Kesseln, die um Essen betteln mussten, um ihre Kinder satt zubekommen. Die NEUE Ich bin allen Fabrikarbeitern, Studenten und Angestellten dankbar, die heute in den Streik getreten sind. Überall im Land bilden sich Streikkomitees… Die OPTIMISTISCHE Sie sind Belarusse und er TdZ_Sep_2021.indd 1 14.07.2021 10:24:07Der ALTE Damals habe ich geschworen, euch zu ist Belarusse. Warum? helfen und das Schicksal der Belarussen nicht der VOGEL Ich sag zu dem dummen Huhn: Wer ist Straße zu überlassen. hier Belarusse? Renat, bist du etwa Belarusse? Ich VOGEL Wohin sollen wir sie bringen? Wohin solauch nicht! Ich werd dir beibringen, du Nutte, len wir sie alle bringen? (Ins Telefon) Verstanden. Männer anzuquatschen. Es war der totale Irrsinn! Hört zu, Leute, neue Befehle. Wir bringen niemanIch packe die Kleine im weißen Kleid mit den den mehr irgendwo hin. Macht einfach Schluss ­Stöckelschuhen am Schopf und reiße sie hoch, um mit ihnen, wo immer ihr sie findet. Und Punkt. ihr ins Gesicht zu spucken und sie ein bisschen zu Die Anführer nehmen sich dann der KGB und die würgen … (Pause) Aber das ist sie ... Maschas Steuerpolizei vor. Schwester. Die Kleine, die immer quiekt und posiDer ALTE Wir haben zerstört, was uns von Gott getiv denkt. „Leute, spielen wir Scharade? – Kennt Ihr geben war: ein riesiges Imperium, ohne dessen den neuen Song von ,Spleen‘ – Bei uns in­ Mitwirkung nicht eine einzige Frage in der Welt Grodno haben sie ein neues Café eröffnet, genau entschieden werden konnte. Wir haben einen bluwie in Lviv“ ... Sie wäre die Trauzeugin bei meiner tigen Stumpf dieses Imperiums erhalten. Denkt Hochzeit gewesen. Sie! Nur die Lippen geplatzt, nach! Was wollten diese Leute damals? Was wollt verheult und verrotzt. Was zum Teufel macht sie in ihr? diesem Fleischwolf? JUNGE Einen Internetzugang. Ich will ins InterDie OPTIMISTISCHE Schrecklich ist das, schrecknet. Papa, wann schalten sie endlich das Internet lich… wieder an? Die kugelsichere Weste ist so heiß, und VOGEL Und die Äuglein. Ganz glasig vor Angst. es juckt unter meinem Helm. Oh! Telegram ist zuDie OPTIMISTISCHE Niemals, noch nie in meirück. Papa, bist du überhaupt auf dem Laufenden, nem Leben war es so schlimm. Die Augen wie was da draußen los ist? Sieht so aus, als hätten wir ­glühende Kohlen voll Hass. Nichts Menschliches. eine Revolution. Nechta18 schreibt, in Minsk gibt es einen Aufstand… Starrt mich an. Warum starrt er mich so an? Die NEUE Ich bin in die Zentrale Wahlkommission LEICHNAM Verzeih, dass wir dich da nicht rausgegangen, um Beschwerde einzureichen. Sie hahauen konnten. ben niemanden hereingelassen. Nur mich. Großes DIREKTORIN Oj, im Fernsehen läuft „Slawjanski Arbeitszimmer. Beim Fenster ein Ledersofa. Sie bazar“. Da wird einem gleich warm ums Herz. waren zu zweit. Ich hab ihre Gesichter schon oft Stas Michailow, Galkin, Allegrowa ... Das heißt im Fernsehen gesehen. Die Chefs des KGB oder doch, alles ist wieder in Ordnung! des Innenministeriums oder des UntersuchungsVOGEL Danke Trump für das Coronavirus. Für die komitees. „Setzen Sie sich, Swetlana Georgijewna.“ Masken. Ich trage doch eine Maske. Sie schaut Boten mir Tee an. Und dann hatten wir dieses mich an und erkennt mich nicht, obwohl wir uns ­Gespräch. „Es gibt die Meinung, Sie hätten die ersschon mindestens zehn Mal bei verschiedenen Gete Runde der Präsidentenwahlen gewonnen. Wir legenheiten begegnet sind. Dummes Huhn. Sie fürchten um Ihr Leben. Sie haben eine vier­jährige hat einen dünnen Hals. Nicht so wie ihre SchwesTochter und einen zehnjährigen Sohn. Unglück­ ter ... Zerbrechlich. Wenn ich ihre Finger zusamlicherweise haben die beiden Belarus ja bereits vermendrücke, dann knackt ’s. Soll ich sie heute filassen ... Das heißt, Sie werden wohl kein Video cken? Schließlich bin ich noch nicht verheiratet. aufnehmen, in dem sie ihre Niederlage eingesteUnd sie ist mir sozusagen selbst zugelaufen. Zart, hen. Und das heißt, wir können Ihre Kinder nicht langbeinig, weiße Haut. Zärtlich… Ich kann es in einem Kinderheim unterbringen.“ Ich habe genicht verhehlen, als wir gemeinsam im Aquapark schwiegen. Sie haben geredet. Das Blut pulsierte in waren und sie mit ihrer Schwester herumgebalgt meinen Schläfen. „Sie lassen uns wenig Spielhat, hat sie mich gestreift, und ich habe gleich so raum“, sagte der eine. Und der zweite: „Also, Swetein Rohr bekommen. Mascha hat gedacht, es wäre lana Georgijewna, Sie erhalten jetzt ­einen Zettel, ihr Verdienst. Naja, wie auch immer. Und jetzt auf dem steht ein Text, den sie in die Kamera sprehabe ich auch so ein Rohr. So findet der Scheiß chen werden. Dann veröffentlichen Sie dieses hier endlich sein Ende. Wir haben gewonnen. ­Material unter Ihrem Namen. Und dann werden DIREKTORIN Jetzt verkünden sie im Fernsehen die Ergebnisse. Schauen wir mal. Genau die richti18 Video-Blogger gen Zahlen, wie in unserer Kommission. Ganz

wir Sie nach Litauen abschieben. Sollten Sie nicht einverstanden sein, lassen wir an Ihrem Mann Sergej Leonidowitsch, der sich in Untersuchungshaft befindet, eine rechtsseitige Orchiek­ tomie durchführen. Sie wissen, was das ist. – Nein? – Ich erkläre es Ihnen. Es ist die chirurgische Entfernung des rechten Hodens. Der Ihnen dann übergeben wird, in einem Glas, eingelegt in Spiritus.“ Ich habe dann irgendwas in die Kamera gesprochen. Ich kann mich nicht erinnern. Dass ich verloren habe. Dass alle nach Hause gehen sollen. Dass ich meine Niederlage akzeptiere. Ich sprach im Dunklen. Es wurde erst Licht, als mich jemand auf Litauisch mit „Guten Morgen“ begrüßte. DIREKTORIN Ein Anruf hat mich geweckt. Ich hatte so gut geträumt. Als wäre ich in dem Film „Frühling in der Saretschnaja-Straße“19. Ich war zurück in der Sowjetunion. Als ein Eis noch 28 Kopeken kostete und die Wurst einen Rubel dreißig. Unter Breschnew. Meine Schwester aus Borisow hat angerufen. Ihr Sohn ist verschwunden, Nikita, ein Schlosser. Ein guter Junge, Sportler. Ein bisschen wild manchmal. Sie sagt, er ist vor zwei ­Tagen verschwunden. Sie hat alle Krankenhäuser angerufen, die Polizei, nichts. Sie weint und weint. Und auch der Sohn von Swetlana Michailowna ist weg. Und der von Vera Nikolajewna aus der Schule Nummer 39. Ich habe ihnen nur gesagt: „Was ­haben die jetzt auch auf der Straße verloren, in solchen Zeiten? Meine Tochter Alina sitzt zu ­ ­Hause und liest Bücher und macht keine Dummheiten.“ Alina! Aliiina! Wo bist du? Alina?... LEICHNAM Lasst uns die Mauern niederreißen! Wenn du die Freiheit willst, nimm sie dir! Die Mauern fallen und fallen und fallen und begraben die alte Welt für immer!20 Die OPTIMISTISCHE Wir verbrachten die ganze Nacht zusammengekauert und kniend auf dem Boden der Schulturnhalle. Das Gesicht zum ­Boden. Die Hände mit Klebeband gefesselt. Die Männer waren mit Gurten festgeschnallt und wurden jede Stunde geschlagen. Ich habe noch nie solche Schreie gehört. Schrille, hohe Schreie. Den Mädchen wurde ständig mit Vergewaltigung gedroht. Sie ließen uns nicht auf die Toilette. Viele urinierten, wo sie gerade waren. Auf dem Boden verbreiteten sich Urin und Blut… Es stank entsetzlich. Da waren Kinderzeichnungen an der Wand mit Sonnen drauf. Und jemand hat geschrieben: Wassja liebt Olja. Mit Herzchen. Wassja liebt Olja. Selbst in all dem Grauen gibt es Liebe. VOGEL Der ist aber zäh … Zwei Gummigeschosse in den Bauch. Die Innereien hängen ihm heraus. Und der Kerl feiert und singt Lieder. Als ob’s sein Hochzeitstag wäre und nicht meiner. LEICHNAM Lasst uns die Mauern niederreißen! Wenn du die Freiheit willst, dann nimm sie dir! 19 Film von Marlen Chuzijew aus dem Jahr 1956 20 Nach dem Lied „L’Estaca“ des katalanischen Sängers Lluis Llach. Der polnische Liedermacher Jacek Kaczmarski ließ sich von Llachs L’Estaca inspirieren und dichtete 1978 mit dem Lied „Mury“ („Mauern“), das die Melodie von Llachs L’Estaca beibehält, einen eigenständigen polnischen Text. 2010 von Andrej Chadanowitsch ins Belarussische übersetzt, wurde das Lied zu einer Hymne der AntiLukaschenko-Bewegung. Hier kann die aktuelle Fassung nachgehört werden: https://youtu.be/FQz3NazwkUc. Die Zeilen wiederholen sich im Schlusslied. Deutsche Übersetzung von GD.


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Die Mauern fallen und fallen und fallen und begraben die alte Welt für immer! JUNGE Larissa, die Ratte, hat gesehen, wie ich am Handy Telegram schaue. Hat natürlich gepetzt, die Ratte! Jetzt geht wieder das Geschrei und Gebrüll los. „Warum schaust du dir das an? Das ist Nechta. Das sind alles Bilder für den Westen! Niemand schlägt hier irgendwen.“ Wer soll der Bereitschaftspolizei etwas vorwerfen? Wenn du nur einen einzigen ins Wanken bringst, fällt das ganze System in sich zusammen. Das System ist ein Monolith. – Und dann wieder die alte Leier: „Undank! Ich habe euch aufgerichtet, als Ihr nichts hattet, nackt mit Bastschuhen, bla bla bla, ich habe euch zu essen gegeben, ich habe euch in die Welt geführt, jetzt haben alle iPhones.“ Als hätte er die iPhones erfunden. Die hat Steve Jobs in Amerika erfunden. Aber in Belarus ist das iPhone sowieso nur wie ein Ziegel in der Hand. Weil immer das Internet unterbrochen wird und man nichts anschauen kann! (Pause) Ich habe gedacht, er erschlägt mich. Ich konnte es in seinen Augen lesen, dass er mir ins Gesicht schlagen wollte. Ich habe angefangen zu weinen. VOGEL Wir haben seine Finger zerquetscht. Den Rücken und den Arsch grün und blau geprügelt. Die Fußsohlen zu Brei geschlagen. Ich habe ihm meinen Schlagstock in den Hintern gerammt. So macht man das bei uns. Hatte ich ihm doch gesagt: versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen. Um den anderen eine Lektion zu erteilen. Und im Knast wird es sich für ihn auch als nützlich erweisen. Wir tun ihnen nur Gutes. Wir unterrichten die Wichser! Aber sie wollen nichts lernen. Verdammt, Mascha ruft an. Zum zehnten Mal heute. Ja, Maschalein, Schatz, ich bin bei der Arbeit, ich sag’s dir doch, ich bin bei der Arbeit. Ich kann jetzt nicht reden. LEICHNAM Lasst uns die Mauern niederreißen! Wenn du die Freiheit willst, dann nimm sie dir! Die Mauern fallen und fallen und fallen und begraben die alte Welt für immer! Die OPTIMISTISCHE Ich danke dir. LEICHNAM Ich danke dir. Schön bist du. Schönes Kleid. Du siehst toll aus, wirklich. VOGEL Halt’s Maul! Quatschen da noch! Verdammt. Nicht du, Schatz. Nicht du, Mascha… Nein. Irgendein Debiler hat den Fernseher zu laut gedreht. Hör auf, sei nicht traurig, wir finden sie schon. Vielleicht ist das Schwesterlein ja bei einer Freundin. Oder sie hat ihr Telefon verloren. Sie ist ja manchmal ein bisschen durch den Wind, deine Schwester. Die OPTIMISTISCHE Mit dem Polizisten, der mich an den Haaren gepackt hat, stimmt was nicht.

andrej kurejtschik_die beleidigten. belarus(sland)

Er ist mehrmals vorbeigekommen, und ich bin jedes Mal zusammengezuckt. Ich dachte, er wird mich schlagen oder Schlimmeres. Ich habe gleich ein Signal ans Universum geschickt: Hilf mir, liebes Universum, hilf! Aber er steht einfach nur da und schaut, als ob er was sagen will. Und dann dreht er sich plötzlich um, geht weiter und ver­ prügelt die Jungs. DIREKTORIN Sie geht nicht ans Telefon. Verdammtes Luder, genau wie ihr Vater. Immer musste er seinen Willen haben und sie jetzt auch. Wo sind die verflixten Beruhigungstropfen? Wen interessiert denn, was du willst? Eins, zwei, drei, vier. Beiß die Zähne zusammen, mach, was sie dir ­sagen, und fertig! Aber gut, muss sie eben ihren Willen haben. Lernt sie’s eben auf diese Weise. Pädagogen verstehen das. JUNGE Er wollte nicht, dass ich auf die Welt komme. Als er herausgefunden hat, dass Mama mit mir schwanger ist, wollte er sie totschlagen. Er hat sie grün und blau geprügelt. Er wollte, dass sie abtreibt. Möchtest wohl den belarussischen Thron mit deiner Fotze erobern. Das hat mir eine Schwester aus dem Krankenhaus erzählt, in dem meine Mutter gearbeitet hat. Aber meine Mutter hat mich behalten. Jetzt bin ich bei ihm. Aber wo ist meine Mutter? Lasst mich hier raus. VOGEL Soll ich sie jetzt also ficken oder nicht? Blöd natürlich mit Mascha. Was soll ich der denn sagen? Wir haben hier die ganze Nacht dein oppositionelles Schwesterlein geknallt? Einen Mordsständer hab ich. Muss ich mich eben ablenken. Die OPTIMISTISCHE Am härtesten hat er Nikita geschlagen. Den Kerl aus dem Polizeiwagen, mit dem zerschossenen Bauch. Konnte mir seinen ­Namen zuflüstern. Nikita. Schlosser. BATE … Toller Kerl. Hat schon fast nichts mehr mitgekriegt. Vor lauter Schmerzen war er in einer Art Schockzustand. Wir haben gerufen, dass er einen Arzt braucht. Aber die Polizisten haben nur gelacht. Aber er hat gesungen. Das war wahrscheinlich das Einzige, was er tun konnte. Immer das gleiche Lied. Und draußen vor dem Fenster kamen immer neue Wagen an. LEICHNAM Lasst uns die Mauern niederreißen! Wenn du die Freiheit willst, dann nimm sie dir! Die Mauern fallen und fallen und fallen und begraben die alte Welt für immer! VOGEL Mutter hat immer gesagt, Familie ist heilig. Soll sie sich doch von jemand anderem durch­ vögeln lassen, die Fotze. Sie wusste doch, wo ich arbeite. Ihre Schwester hat ihr doch alles erklärt: „Roma dient unserem Land.“ Also, warum stellst

SPIELZEITERÖFFNUNG 2021/22 22.09.–02.10.

du mir so eine Falle, Schlampe? Es wird doch alles überwacht. Ich schicke meinen Schwanz heute noch auf Wanderschaft. Sie bringen eh immer neue Weiber. Hey! Du! Was schreist du so? Was ist deine Mutter? Vorsitzende der Wahlkommission? Großartig, dann hat sie uns ja die ganze Scheiße hier eingebrockt. Und du wirst mir dafür bezahlen. Wie heißt du? Alina? Renat, nehmen wir uns Alina hier zum Verhör. Die hat Feuer! Der ALTE Man sagt, Ihr, Ordnungskräfte, hättet eine Art von Grausamkeit oder Brutalität auf der Straße gezeigt? Aber wer war es, der diese Grausamkeit in euch hervorgerufen hat? Habe ich das etwa getan? Der Staat? Man musste sie aufhalten! Faschistoide Schläger, Terroristen und ihre Drahtzieher. JUNGE Mutter hat immer gesagt, er ist krank. Im Kopf. Wir müssen ihn bedauern. Aber warum ­bedauert er niemanden? Er weiß doch von den ­tausend alten Frauen, die am Coronavirus gestorben sind. Er weiß das alles. Mein Freund Wassja sagt, das kommt daher, dass er Angst hat. Seit ­langem schon. Er hat Angst vor dem Tod. Zuletzt hat er immer wieder vom Tod gesprochen. Dass man ihn „mit den Füßen voran“ hinaustragen wird, und nur über seine Leiche. Ich glaube, er denkt, dass man ihn umbringt. Die OPTIMISTISCHE Ich habe sie dann nicht mehr gesehen. Weder Nikita, noch den seltsamen Polizisten… Die NEUE Und wenn ich ihn nie mehr wiedersehe? Wenn sie tun, was sie angedroht haben? Ihn beim KGB zu Tode foltern? Wozu war dann alles gut? Wenn Serjoscha nicht wiederkommt? Der ALTE Faschisten! Terroristen! Und ihre Drahtzieher. Die Hauptsache ist, die Drahtzieher zu fassen! Die OPTIMISTISCHE Wir wurden nach Okres­ tino21 gebracht, und als sie die Zellentür öffneten ... Ich dachte, das kann doch nicht sein. Die Zelle war für vier Personen ausgelegt. Aber da waren schon 23 Mädchen drin. Sie haben uns 13 noch dazu gesteckt. Insgesamt also 36 Personen auf sechs Quadratmetern. Keine Luft. Kein Wasser. Kein Essen. Wir konnten alle nur stehen. Dann haben sie noch zwei Alkoholikerinnen gebracht, die fürchterlich gestunken haben. Irgendwann wurde die Zellentür geöffnet, sie schütteten schmutziges Wasser über uns und haben die Tür sofort wieder geschlossen. Zwei Mädchen hatten Panikattacken und mussten sich übergeben. Ich stand daneben. Dann reichten sie uns Essen durch den Schlitz. Ein Laib Brot für 21 Strafanstalt, für ihre Brutalität bekannt.

1 2 0 2 SEP GEL HA K AMPN A

u.a. mit SERGE AIMÉ COULIBALY, WILLIAM FORSYTHE, CHIARA BERSANI, POOL BY YOVO! YOVO!, MABLE PREACH, LA FLEUR, FRANCK EDMOND YAO ALIAS GADOUKOU LA STAR, MEINE DAMEN UND HERREN FEAT. SKART & MASTERS OF THE UNIVERSE, ROYCE NG, CHOKE HOLE VS. HAMBURG QUEENS, NIKITA DHAWAN, OLIVETTE OTELE, SA SMYTHE, FALLON MAYANJA

MBURG

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stück

Ich bin klug. Ich. SPIELZEIT 2021/22

Schauspiel Die Tragödie vom Leben und Sterben des Julius Cäsar William Shakespeare

TAK Theater Liechtenstein Regie: Oliver Vorwerk

Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden Sibylle Berg

TAK Theater Liechtenstein Regie: Oliver Vorwerk

Für immer die Alpen Nach dem Roman von Benjamin Quaderer URAUFFÜHRUNG

Koproduktion TAK Theater Liechtenstein / Staatstheater Mainz Regie: Friederike Heller

Jeder stirbt für sich allein Nach dem Roman von Hans Fallada

Theater Konstanz Regie: Shirin Khodadadian

König Richard III. William Shakespeare

TAK Theater Liechtenstein Regie: Oliver Vorwerk

Onkel Wanja Anton Tschechow

Theater Basel Regie: Antú Romero Nunes

Der Besuch der alten Dame Friedrich Dürrenmatt

Schauspielhaus Zürich Regie: Nicolas Stemann

Play Strindberg Friedrich Dürrenmatt

Deutsches Theater Berlin Regie: Adrian Linz

Ich liebe Dir Dirk Laucke

Deutsches Nationaltheater Weimar Regie: Beate Seidel

Addio Amor Marthaler Produktionen Regie: Klaus Hemmerle

www.tak.li

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alle. Und wisst ihr, was? Es war genug. Es hat für alle gereicht. Es ist sogar noch ein kleines Stück übriggeblieben. Für die Alkoholikerinnen. Wir haben ihren Frieden mit unserer Revolution durcheinandergebracht. DIREKTORIN Was soll das heißen, Sie wissen es nicht? Wer soll es denn wissen? Wer ist hier der Diensthabende? Sie oder ich? Wissen Sie, wer ich bin? Ich habe euch Idioten 37 Jahre lang unterrichtet. Ich habe euch eure Wahlen organisiert. Ich habe dem Schnauzbart seine 81 Prozent organisiert. Ich habe mich vor niemandem gefürchtet, ich habe alles gefälscht, wie es von mir verlangt wurde. Und ihr könnt meine Tochter nicht finden? Und wofür habe ich das dann alles gemacht? Dafür, dass ihr mich jetzt anpöbelt? Ich werde mich beim Präsidenten über euch beschweren. (Pause) Hallo! Hallo! Töchterchen, verzeih deiner Mutter. Verzeih. Die NEUE Belarussen, Ihr seid unglaublich! Der ALTE Wenn Ihr euren ersten Präsidenten verratet, dann ist das euer Ende! Die NEUE In Belarus geht der Champagner aus, wenn er abtritt! Der ALTE Die NATO wird Truppen schicken. ­NATO-Panzer werden auf unseren Straßen rollen. VOGEL Du sagst, sie senden noch zwei Bataillone aus der Nähe von Moskau. Dann können wir sogar noch in der Ukraine einmarschieren. Zur Musik von Wagner22. Der ALTE Sie wollen uns wieder die Bastschuhe anziehen und mit der Peitsche jagen. LEICHNAM Jagt die Bullen – es kommt die Freiheit! Der ALTE Ab Montag kommt überall, wo gestreikt wird, ein Schloss vors Tor. Keine Sorge, dann bringen wir Leute her aus der Ukraine, aus Kirgisien, die werden arbeiten. Und was das Scheißtheater angeht, alle Schauspieler kündigen! Dörfer kommen gut ohne Theater aus, dann brauchen Städte auch keine. Der JUNGE Papa, jetzt sind sie schon ganz nah. Der ALTE Nimm das Maschinengewehr und rein in den Hubschrauber! Wir kommen zurück, wenn sie verschwunden sind. Der JUNGE Es sind viele, sehr viele. Sie rufen: „Freiheit!“ Freiheit, Freiheit… Papa, du hast mir nicht geantwortet, was das ist – Freiheit? VOGEL Renat, was bekommt ihr daheim in Russland? Vorher hab ich gedacht, ich lasse mich hier nieder. Hier ist es ruhig. Stabil. Nichts von dem schwulen Europa-Scheiß. Das Kasino, die Weiber sind in Ordnung. Aber jetzt scheint mir, die hören so schnell nicht auf. Schon seit einem Monat schlagen wir sie zu Brei, und sie geben trotzdem keine Ruhe. Irgendwann reißen sie uns noch die Masken herunter. Die OPTIMISTISCHE Du kannst sie ruhig aufbehalten. Ich hab dich schon erkannt. JUNGE Papa! Ich hab meine Sachen gepackt. Und das Maschinengewehr. Auf wen schießen wir? Der ALTE Ratten… Nutten, Drogensüchtige, Kanonenfutter! Sie werden auf den Knien flehen, dass ich zurückkomme. Wie können sie es wagen, mich durch dieses dumme Huhn zu ­ ­ersetzen. Eine Hausfrau! Eine Frau! Eine Verfluchte! Wenn das so ist, dann sterbe ich lieber als abzutreten. Und wenn ich schon gehen muss, dann nehme ich so viele mit, wie ich nur kann. Wenn sie mich nicht wollen, dann bekommen sie halt Putin. 22 Privates russisches Sicherheitsunternehmen.

Die OPTIMISTISCHE Die Hochzeit findet nicht statt. Die NEUE Was sind die Menschen bereit, aus ­Liebe zu tun? (Pause) Und aus Hass? Der ALTE Es ist sehr einfach, mein Junge. Du legst auf die Person an, auf den Verräter, irgendeinen, schaust genau hin und drückst ab! Klack, und der Verräter ist hin. Nicht schwer, mein Söhnchen. Ich hab’s gelernt, und du wirst es auch lernen. DIREKTORIN Ich brauche keine Pension. Keinen Job. Behaltet eure Urkunden. Die Stabilität. Und die schönen Blumenbeete! Nehmt alles. Aber gebt mir meine Tochter wieder. Alina! Sie hat ein schwaches Herz. Sie hat Asthma. Gebt sie mir zurück. Und Nikita, meinen Neffen. Die Schwester hat Kreislaufprobleme. Ich überleb’s nicht, wenn ihr sie… Gebt sie uns zurück! Gebt uns unsere Kinder zurück! Die NEUE Belarussen! Ich danke euch für eure Wahl. Ihr seid – unglaublich. LEICHNAM Wenn alles weh tut, fühlt es sich an, als ob nichts mehr weh tut. Es war so ein Gefühl, das Blut fließt aus dir raus und nicht aus irgend­ einer Wunde, nein überall her. Die Haut selbst ­blutet wie wenn du schwitzt. Solche Schlachten gibt es nur alle hundert Jahre. Kämpfe wie Gut gegen Böse. Wo alles klar ist. Ich habe verstanden, dass ich es nicht überlebe. Es war klar, dass sie meinen Tod vertuschen würden. Wahrscheinlich verbrennen sie mich in irgendeinem Krematorium und melden mich als vermisst, oder sie vergraben mich in den Wäldern, oder sie hängen mich auf, damit es aussieht wie ein Selbstmord. Nun, scheiß auf sie. Es nutzt ihnen nichts. Die Belarussen sind ein besonderes Volk. Leidensfähig. Jahrzehntelang. Manch­ mal das ganze Leben. Und plötzlich: peng, hat ihre Geduld ein Ende. Die Belarussen wurden beleidigt. Da sind sie unbesiegbar. Genauso wie BATE! Die OPTIMISTISCHE Nach diesen Nächten im Polizeiwagen, im Sportsaal und im Gefängnis sieht mein Kleid gar nicht mehr so aus wie das, was ich für zwei Monatsstipendien gekauft habe. Ein schmutziger, weiß-rot-weißer Fetzen. Das Blut ist eingetrocknet. Braun vom Erbrochenen. Aber egal – es ist das schönste Kleid der Welt. Ich würde es gegen nichts tauschen. Wir stehen in der engen Zelle, aber was für großartige Leute, alle intelligent und klug. Mikrobiologinnen, Lehrerinnen, Musikantinnen, Schauspielerinnen. Eine Frau, die für ihren Mann und ihren Sohn in den Polizeitransporter gestiegen ist. Leute, die in den letzten Tagen aufgegriffen wurden. Priester, Journalisten, Studenten, Bergarbeiter, Arbeiter, Juristen, Doktoren. Das sind die besten Leute der Welt. In diesen Zellen entstand ein neues Belarus. Wir spüren die Liebe. Liebe lässt sich nicht besiegen. Ist es nicht so, Universum? Die NEUE Guten Tag. Ich heiße Swetlana, ich bin Hausfrau, Mutter von zwei Kindern. Ich bin die gewählte Präsidentin von Belarus. Was sind Sie ­bereit aus Liebe zu tun?

Musik: https://youtu.be/FQz3NazwkUc Russischer Originaltext © Andrej Kurejtschik 2020 Übersetzung: Georg Dox Lektorat: Ekaterina Raykova-Merz


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2021 Schauspieldirektor Jonas Knecht

HotSpotOst – Sankt Irgendwo im Nirgendwo Spielzeit 2021/22

Premieren

Julia und Romeo

Wer hat Angst vor Virginia Woolf …? von Edward Albee

18.9.21

Schauspiel von William Shakespeare in einer Fassung von Mirja Biel Premiere 25. September 2021, UM!BAU Inszenierung: Mirja Biel

19.9.21

Monologreihe, ab 2. Oktober 2021, Kunstmuseum u.a. Orte Inszenierung: Leyla Rabih, Jonas Bernetta, Wojtek Klemm, u.a.

28.11.21

Familienstück von John von Düffel nach Otfried Preussler Premiere 13. November 2021, UM!BAU Inszenierung: Barbara-David Brüesch

KALT (UA) von Joachim Zelter

Radikal allein

Urmel aus dem Eis von Frank Pinkus nach Max Kruse

Die kleine Hexe

Habe Häuschen. Da würden wir leben. von Roger Willemsen

4.12.21

16.12.21

Die Präsidentinnen von Werner Schwab

21.1.22

19.2.22

Glückliche Tage von Samuel Beckett

26.3.22

7.5.22

Ich bin wie Ihr, ich liebe Äpfel von Theresia Walser

14.5.22

theater-ansbach.de

Die nicht geregnet werden (AT)

… und für Kinder und Jugendliche Zwei Monster, jungspund – Theaterfestival für junges Publikum St. Gallen, 17. – 26. Feb. 2022

Autor*innen-Förderung

C.C. Mätressen Ein dokumentarisches BaRockmusical von Axel Krauße und Peter Sindlinger

frei nach dem Filmklassiker «M - Eine Stadt sucht einen Mörder» von Fritz Lang in einer Fassung von Christina Rast Premiere 8. April 2022, UM!BAU Inszenierung: Christina Rast

Schauspiel von Maria Ursprung | Uraufführung 25. Mai 2022, LOK Inszenierung: Marie Bues, Jonas Knecht

I’m every woman (DSE) nach dem Graphic Novel von Liv Strömquist

Schauspiel von Martin Pfaff nach dem Roman von Andreas Steinhöfel Premiere 26. Januar 2022, LOK Inszenierung: Martin Pfaff

M 12.3.22

Faust, der Tragödie zweiter Teil von Johann Wolfgang von Goethe

Die lächerliche Finsternis Szenisches Konzert nach einem Hörspieltext von Wolfram Lotz Wiederaufnahme 18. Dezember 2021, LOK Inszenierung: Jonas Knecht

Die Mitte der Welt

Du blöde Finsternis! (DSE) von Sam Steiner

Frau Müller muss weg Komödie von Lutz Hübner | Premiere 9. Dezember 2021, LOK Inszenierung: Anja Horst

Extrawurst von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob

Schauspielprojekt mit Texten von Brigitte Schmid-Gugler nach einer Idee von Rolf Bossart | Uraufführung 15. September 2021, LOK Inszenierung: Jonas Knecht

2022 Hausautor Stücklabor: Alexander Stutz

1.7.22

+41 71 242 06 06 | theatersg.ch


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PREMIEREN 2021/22

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Auswahl

TANZ-DEGUSTATION

Premieren 2021 – 2022 #tjgdresden Sa 11. Sep 2021 Tiere essen nach Jonathan Safran Foer Schauspiel

12 +

Regie Nils Zapfe

Sa 18. Sep 2021 Die Zaubermühle von Katrin Lange Mitarbeit von Gerd Bedszent Schauspiel 10 + Regie Ania Michaelis

Walking Theatre zur Weinverkostung

DIE SCHNEEKÖNIGIN

Tanztheater frei nach Hans Christian Andersen – UA –

Sa 25. Sep 2021 Die Regentrude UA nach Theodor Storm Puppentheater 8 + Regie Christoph Levermann

ZUHAUSE BIN ICH DARLING

Komödie von Laura Wade

ALICE IM WUNDERLAND

Sa 09. Okt 2021 Diamond Sky von Nick Wood Schauspiel 12 + Regie Petra Schönwald

Schauspiel von Roland Schimmelpfennig nach Lewis Carrol Kooperation mit dem Societaetstheater Dresden

DER PROZESS

Sa 23. Okt 2021 Oh, wie schön ist Panama nach Janosch Schauspiel 4 + Regie Martin Grünheit

DER ZERBROCHNE KRUG

Sa 30. Okt 2021 Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute

Oper nach dem gleichnamigen Roman von Franz Kafka von Gottfried von Einem Lustspiel von Heinrich von Kleist

von Jens Raschke

RIGOLETTO

Puppentheater

10 +

Regie Nis Søgaard

Fr 05. Nov 2021 Gertrude von Thomas Freyer nach dem Roman „Gertrude Grenzenlos“ von Judith Burger Schauspiel 10 + Regie Jan Gehler UA

Oper von Giuseppe Verdi

BUS 57 – EINE WAHRE GESCHICHTE

Schauspiel nach dem Roman von Dashka Slater, Bühnenfassung von Kerstin Weiß

DER KLEINE MUCK

Sa 20. Nov 2021

Die gestohlene Weihnachtsgans Auguste

Märchenstück nach Wilhelm Hauff in einer Fassung von Manuel Schöbel

nach der Erzählung „Die Weihnachtsgans Auguste“ von Friedrich Wolf Schauspiel 6 + Regie Nils Zapfe

ATMEN Schauspiel von Duncan Macmillan DIE LUSTIGEN NIBELUNGEN

So 28. Nov 2021 Der Mond schien blau UA eine Reise durchs Dickicht der Entscheidungen von Nils Zapfe Schauspiel und Puppentheater 6 + Regie Nils Zapfe

HÄNSEL UND GRETEL oder DAS GEHEIMNIS DER WILDEN HEXE

Sa 15. Jan 2022 Bambi nach Felix Salten von Oliver Schmaering Puppentheater 6 + Regie Lorenz Seib

SAX@PLAY

Sa 05. Feb 2022 Momo nach Michael Ende Schauspiel 8 + Regie Katharina Brankatschk

Burleske Operette von Rideamus / Musik von Oscar Straus Märchenoper in drei Akten von Engelbert Humperdinck – EA – Ein Theaterspiel für den Stadtraum nach Franz Kafkas Roman Das Schloss

nussKNACKER

Tanztheater von Wagner Moreira frei nach dem Ballett von Peter Tschaikowski

EIN BLICK VON DER BRÜCKE

Sa 26. Mrz 2022 Djamila nach Tschingis Aitmatow Puppentheater 16 + Regie Katharina Kummer Sa 02. Apr 2022 PAN – Lost in Neverland UA von Julia Fischer Mitarbeit Matthias Köhler Schauspiel 12 + Regie Matthias Köhler

Schauspiel in zwei Akten von Arthur Miller

SUPERBUSEN

Schauspiel nach dem Roman von Paula Irmschler

Fr 13. Mai 2022 Power UA ein Forschungsprojekt zu Machtstrukturen und Bandenbildung von Nicole Dietz und Ensemble Theaterakademie 12 + Regie Nicole Dietz

DER VAMPYR

Große romantische Oper von Heinrich Marschner

EFFI BRIEST

Sa 14. Mai 2022 Zukunft hier entlang! AT UA eine theatrale Beruf(ung)sberatung Theaterakademie 14 + Regie N.N.

Schauspiel nach dem Roman von Theodor Fontane

BACH-CHIANAS

Tanzabend von Mário Nascimento und Wagner Moreira

RICHARD O‘BRIEN`S ROCKY HORROR SHOW

Sa 04. Jun 2022 Alle seine Entlein nach Christian Duda und Julia Friese Puppentheater 4 + Regie Ivana Sajević

Änderungen vorbehalten!

Sa 11. Jun 2022 Der Räuber Hotzenplotz von Otfried Preußler Schauspiel 6 + Regie Nils Zapfe

Musical Play von Richard O‘Brien (Buch, Texte, Musik)

Tickets unter www.landesbuehnen-sachsen.de

Do 16. Jun 2022 tjg. tak-ticker 2022 UA drei Projekte von und mit Jugendlichen Theaterakademie 14 +

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Magazin Ode an das Objekt

Das CircusDanceFestival Köln versteht sich als Motor für die

Entwicklung des zeitgenössischen Zirkus  Verschmelzung ­

im Hybriden

Das ­ Hildesheimer Transeuropa-Festival zeigt sich wegweisend für die performativen

Ein ­Angriff auf Augen und Ohren Das Theaterfestival im italienischen Santarcangelo erfindet sich immer wieder neu  Die Kunst der Montage Thomas Köck erhält für „­Atlas“ den Hörspielpreis der Kriegsblinden  Nachrufe Jarg Pataki, Rolf Winkelgrund, Wolfgang Lange  Bücher Stefan Tigges, Rudolf Rach Künste


magazin

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Ode ans Objekt Das CircusDanceFestival Köln versteht sich als Motor für die Entwicklung des zeitgenössischen Zirkus Das Aufatmen war deutlich zu spüren. Die

„Circular Vertigo“ rief die Faszination in Erin-

Dem Festival ist für das kommende Jahr die

erste Corona-Welle hatte das für 2020 ge-

nerung, die einst, in Kindertagen, der Zirkus

Umsetzung des kompletten Programms vor

plante CircusDanceFestival in Köln unmög-

auslöste. Der zeitgenössische Zirkus will an

Publikum zu wünschen. Und der Branche ins-

lich gemacht. Ein Jahr später fand es nun

diese Faszination anschließen und sich zu-

gesamt, dass die zentralen Forderungen des

statt: in einem echten Zelt mit echtem Publi-

gleich als ästhetische Avantgarde etablieren.

bereits vor fünf Jahren publizierten Manifests

kum, wenngleich pandemiekonform in gerin-

In anderen Ländern ist dies längst Alltag. In

des zeitgenössischen Zirkus endlich umgesetzt

gerer Zahl.

Frankreich, Belgien und Schweden gibt es

werden. Sie beinhalten die An­erkennung der

universitäre Studiengänge für Zirkuskunst. In

Disziplin als Kunstform innerhalb der darstel-

Deutschland – Fehlanzeige.

lenden Künste, eine klare Spartenverortung in

Bei den vorgestellten Produktionen – nicht alle waren tatsächlich live zu erleben, manche wurden in digitaler Fassung oder in

Da war es schlau, dass sich Festival­

den jeweiligen Institutionen, die Gleichbe-

der Ersatzform eines Gesprächs präsentiert –

initiator Tim Behren, zugleich Künstlerischer

handlung bei öffentlichen Förderungen sowie

fiel die Bedeutung von Objekten auf. Hier ist

Leiter der Produktion „Circular Vertigo“, die

gleichberechtigten Zugang zu Spielstätten und

der Zirkus, der traditionelle wie der klas­ si­

erst in jüngerer Zeit zu akademischen Ehren

Probenräumen. Die öffentliche Förderung des

sche, dem Tanz und auch dem Theater weit

gekommene Schwesternkunst Tanz zur Part-

Festivals selbst ist in diesem Kontext lediglich

voraus: Welcher Tänzer, welche Schauspielerin

nerin erwählte. Strategisches Instrument des

ein schöner ­Anfang. //

entwickelt zu einem Bühnenobjekt jene enge

Eroberungsmarsches in den akademischen

Beziehung, die ein Jongleur zu seinen Bällen

Raum war die vom Festival initiierte Koopera-

Theater der Zeit ist Medienpartner des Circus­-

und eine Seiltänzerin zu ihrem Seil findet?

tion des Kölner Zentrums für Zeitgenös­

DanceFestivals.

Objekte werden nicht gleich zu Subjekten.

sischen Tanz mit der Brüsseler Zirkushoch-

Aber ihre Geheimnisse gilt es zu erkunden.

schule ESAC. Die Studierenden gingen im

Wie verhalten sie sich in der Luft, wie gibt das

Rahmen der entsprechenden Projekte zu-

Seil nach, wo sind die Umkehrpunkte?

nächst einmal hinaus in urbane und rurale

Eine Ode ans Objekt war daher auch

Zonen. Dort interagierten sie mit Treppen,

die Eröffnungsproduktion des Festivals, „Circu­

Bäumen, Sand- und Kieshaufen. Und sie er-

lar Vertigo“. Das wichtigste Bühnen­element

klommen mithilfe von Menschenpyramiden,

bildete ein Halbrund aus schmalen Spiegeln

die sie aus ihren eigenen Körpern formten,

in unterschiedlicher Höhe. Sie wirkten wie

die Höhe.

eine ins Vertikale gekippte Klavier­tastatur. Zu

Einen weiteren Schwerpunkt des Festi-

Klavierklängen bewegte sich davor die Tänze-

vals bildete der Blick auf den Körper. Leider

rin Mijin Kim. Sie zitierte Bewegungssequen-

konnte die Produktion „3xEva“, in der sich

zen von Pferden – und rief so vor dem inneren

die Performerinnen Laura Runge, Yolande

Auge plötzlich die Manege des traditionellen

Sommer und Rahel Gieselmann mit den

Zirkus wach, das Rund, gefüllt mit Men-

sexua­lisierenden Blicken auseinandersetzen,

schen, Tieren, Sensationen. Später kam noch

die sie als junge Künstlerinnen im Kinder-

ein Pauschenpferd dazu. Es schwebte unterm

und Jugendzirkus sowie als Turnerin im Wett-

Chapiteau, kreiste um die Tänzerin und wurde

kampfsport auf ihren Leibern spürten, wegen

dann, am Boden angelangt, seinerseits von

eines Covid-Falls nicht gezeigt werden. Som-

der Tänzerin umkreist. Am Ende sind die Ver-

mer beschäftigt sich intensiv mit dem mens­

hältnisse getauscht: Kim hängt am Seil und

truierenden Körper und dessen Absenz in den

schwebt, das Pauschenpferd steht unten.

vorherrschenden Diskursen zu Proben und

Und natürlich denkt man, dass es schaut.

Training: durchaus ein Thema auch für die anderen körperbasierten Künste. Wegen der eingeschränkten Auftritts-

Duett mit Pauschenpferd – Die Tänzerin Mijin Kim in „Circular Vertigo“, der Eröffnungsproduktion des CircusDance­ Festivals Köln. Foto Stephan Glagl

und Reisemöglichkeiten wurden zahlreiche Positionen durch Dokumentarfilme vorgestellt, wobei sich Arte mit teils spektakulären Filmen als guter Partner erwies.

Tom Mustroph

Jetzt bewerben! Anmeldeschluss: 01. Oktober 2021

Studien gang Regie Bachelor of Arts Studienbeginn zum Sommersemester 2022 Alle Infos unter www.theaterakademie.de / regie

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Verschmelzung im Hybriden Das Hildesheimer Transeuropa-Festival zeigt sich wegweisend für die performativen Künste

„Enter the Collective Vision“ – das Motto des

net Post Organic Bauplan so ein futuristisches

diesjährigen Transeuropa-Festivals in Hildes-

Bild des Körpers als netzartiges Geflecht, als

heim wirkt in pandemischen Zeiten fast gro-

Summe seiner Teile, wobei es zweitrangig ist,

tesk. Und doch legt es den Finger genau auf

woraus diese Teile bestehen.

Futuristisches Körperbild mit elektrischen Prothesen – Das argentinische Kollektiv Post Organic Bauplan mit „Der Gastgeber­ körper“. Foto Thomas Puschmann

die Schnittstelle zwischen dem eigenen Ur-

Aber auch digitale Geräte, das Internet

sprungsgedanken – der transeuropäischen

und seine Plattformen können als physische

Idee des Austausches – und einer Prospekti-

und psychische Erweiterung begriffen wer-

ihre Individualität und versuchen so, Fragen

on auf die europaweite Theater- und Perfor-

den. So stürzt sich Jette Loona Hermanis in

nach kultureller und gesellschaftlicher Zuge-

manceszene, die sich in Folge der globalen

ihrer One-Woman-Performance „Torque Vul-

hörigkeit tänzerisch darzustellen.

SARS-CoV-2-Krise methodisch und inhaltlich

nerati“ in eine Fantasy-Kulisse zwischen In-

Begleitet wird der Rundgang von einer

neu aufstellen muss. Gegründet 1994, um

ternetkultur und Märchen. Über jegliche

einstündigen Audiospur. Monologisierend un-

nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Ost-

Genre-Grenze hinweg reihen sich auf der

terbricht eine Stimme immer wieder die Musik,

West-Verbindungen zu stärken, will das von

Bühne Wirklichkeit und Wahn aneinander:

zoomt in verschiedene queere und transnatio-

Studierenden der Universität Hildesheim ku-

Wie auf einem getanzten Tumblr-Blog werden

nale Lebenswelten hinein und zeigt die Unmög-

ratierte Festival einen progressiven Austausch

Ängste verhandelt, die in digitalen Räumen

lichkeit kollektiver Selbstentwürfe auf. Dabei

zwischen Kulturschaffenden ermöglichen.

zum Ausdruck kommen.

spielt die Gruppe mit Beobachtungsperspekti-

In Live-Streams, Theaterfilmen, Social-

Besonders beeindruckend war aber

ven: Oft bleiben Fußgängerinnen oder Fußgän-

Media-Formaten, Installationen und interaktiven

„Por­traits“, ein Projekt der salvadorianischen

ger stehen, betrachten im Vorbeigehen Publi-

Open-Air-Performances bieten die 14 ausge-

Tän­zer:in, Performer:in und Choreograf:in Bri-

kum und Performende und werden damit selbst

wählten internationalen Künstlerinnen, Künst-

gitte Huezo. In einer Mischung aus Audiowalk

zu Objekten der Beobachtung. „Portraits“ haut

ler und Gruppen Visionen von Gesellschaft und

und Tanzperformance nähern sich vier Perfor-

einen um, auch weil die Mischung aus Tanz und

Zusammengehörigkeit an, die zum Teil bis ins

merinnen und Performer der Komplexität von

­Audiowalk irgendwann Performance und Reali-

Paranoide gehen. So greift etwa das Kollektiv

Persönlichkeit und Identität. Wie bei einer

tät miteinander verschmelzen lässt.

Post Organic Bauplan aus Argentinien in „Der

Schnitzeljagd folgen die Zuschauerinnen und

Insgesamt findet Transeuropa [X] einen

Gastgeberkörper“ das Prinzip der „Autotomie“ –

Zuschauer antik maskierten Tänzerinnen und

pointierten Kompromiss im Hybriden. Die aus-

die Fähigkeit einiger Tierarten, in Gefahren­

Tänzern in die Hildesheimer Nordstadt. Immer

gewählten Produktionen geben der Freude am

situationen Körperteile abzuwerfen – auf und

wieder bleibt die Menschengruppe ­ stehen.

Kulturerleben in Präsenz einen Raum, ohne

überträgt es auf die Beziehung zwischen

Pinke, lila und gelbe Rauchbomben werden

dabei die wichtigen Entwicklungen in der digi-

Mensch und Maschine. Elektrische Prothesen,

entzündet, und die Performenden winden und

talen Kultur zu vergessen. So ist das Festival

die sich scheinbar eigenständig und eigenwil-

räkeln sich hinter ihren Masken hervor. Die

mehr als nur eine Überbrückung bis zur Rück-

lig bewegen können, dienen den Performerin-

Masken dienen den Künstlerinnen und Künst-

kehr in das Gewohnte. Es bietet Visionen an,

nen dazu, ihre eigenen Körper beliebig zu mo-

lern dabei als Schutz: Sie werden zu einer

wie die performativen Künste, ihre Themen,

difizieren. Da sitzt die Prothese mal als Arm

Gruppe, zu Verbündeten, auch in Abgrenzung

Methoden und Arbeitsweisen zukünftig ge-

auf dem Rücken, mal als drittes Bein an der

zu uns, den Zuschauenden. Geschützt und als

dacht werden können. //

Hüfte oder wie ein Fühler auf dem Kopf. Mit

Teil ihrer Gemeinschaft brechen sie im Tanz

Ästhetiken des zeitgenössischen Tanzes zeich-

dann aus, offenbaren mittels Körpersprache

Lina Wölfel

Theater der Zeit ist Medienpartner des Festivals.


magazin

/ TdZ  September 2021  /

Ein Angriff auf Augen und Ohren

Das Festival von Santarcangelo ist eines der sympathischsten Italiens. Seit über fünfzig Jahren feiert die Kleinstadt in der Emilia-Romagna jeden Juli sich selbst, ihre Gäste und Neider auf so volkstümliche wie anspruchsvolle Weise. Alle drei bis fünf Jahre wird ein neues Direktorium gewählt, auf dass die Stadt und ihr Festival sich immer

„Madre“ vom Teatro delle Albe aus ­Ravenna ist ein Solo für die vielfach preisgekrönte Schauspielerin Ermanna Montanari. Das Verblüffende an dieser Darstellerin ist, dass sie einen immer wieder neu überrascht, weil sie tatsächlich immer wieder völlig anders ist. Hier spielt sie die bäuerliche Mutter, die in den Brunnen gefallen ist, und

wieder neu erfinden mögen. Dies war die letzte Spielzeit von Daniela Nicolò und Enrico Casagrande (Teatro Motus, Rimini) – im nächsten Jahr wird Tomasz Kireńczuk vom Festival Dialog Wrocław die Leitung übernehmen.

auch den Sohn, der überlegt, wie er sie

Das Theaterfestival im italienischen Santarcangelo erfindet sich immer wieder neu

herausholen kann. Aber vielleicht will er das ja gar nicht, und vielleicht will sie es auch nicht. Wie immer bei den Texten Marco Martinellis gibt es verschiedene Les­

Das Motto des diesjährigen Fes-

arten, und keine ist richtig oder falsch.

tivals „Futuro Fantastico“ erleuchtet in

Die raffiniert ausgeleuchtete Bühne

Riesenlettern den Stadtpark, in dem

teilt sich die Schauspielerin mit einem

zwei Freiluftbühnen eingerichtet sind.

Maler und einem Musiker. Sie sind die

Auf der kleineren ist die jüngste Arbeit

Augenzeugen des Geschehens oder

von Romeo Castellucci zu sehen. Zwi-

Nichtgeschehens und kommentieren

schen den Bäumen wurde eine riesige

es mit Bilderfindung und Kontrabass.

Leinwand montiert, über die unaufhalt-

In Martinellis szenischem Ge-

sam Wörter toben – laut Katalog sind es

dicht geht es um Mutter Erde und die

sämtliche Substantive der italienischen

Unfähigkeit, sie zu retten. Was kann,

Sprache. Die Buchstaben rasen immer

was darf, was muss man tun – und wa-

schneller, begleitet von dumpf aggres-

rum sinniert der Sohn über die Mög-

siver Musik, die ebenfalls immer lauter

lichkeiten, statt zuzupacken? Warum

durch den Park dröhnt.

fühlt die Mutter sich wohl in der Dun-

Beides schaukelt sich aneinander

kelheit des Brunnens, in die sie viel-

hoch, eine knappe Stunde lang, immer

leicht sogar selbst hinabgestiegen ist?

noch lauter, noch schneller, und ver-

Montanari spielt beide Rollen grandios,

steht sich als Protest gegen die Über-

und sie weckt ganz nebenbei den drin-

forderungen des Internets, ist aber vor

genden Wunsch, sie als Winnie in

allem ein frontaler und recht sinnloser

­Becketts „Glückliche Tage“ zu sehen.

Angriff auf Augen und Ohren. Überzeu-

So viel Brunnen muss sein.

gend ist es nicht, und warum das Un-

Aber sie hat erst einmal ganz an-

ternehmen „Das Dritte Reich“ heißt –

dere Pläne. Im leer stehenden Palazzo

wegen des Terrors kurz vorm Hörsturz? –,

Malagola in Ravenna will sie eine Aus-

bleibt Castelluccis Geheimnis.

bildungsstätte für Stimmerziehung er-

Da ist die Aufführung im großen

öffnen. Dafür sollen jeweils fünfzehn

Theater schon von anderem Format.

ausgewählte Kandidatinnen und Kan-

Die chilenische Autorin und Regisseu-

didaten ein halbes Jahr kostenlos die Schule besuchen dürfen. Es wird inten-

rin Manuela Infante hat Ovids „Metamorphosen“ in sehr eigene, mysteriös verbrämte Bilder übersetzt, die antike Götter und moderne Menschen inein-

Lauter Protest gegen die Überforderungen des Internets – Romeo Castelluccis Produktion „Das Dritte Reich“ beim Festival in Santarcangelo. Foto Lorenza Daverio

siven Unterricht und Aufführungen geben, und der Andrang, das ist jetzt schon klar, wird enorm sein. Sie will selbst unterrichten, lädt aber auch pro-

ander verschlingen. Wo es sich Castellucci zu leicht macht,

Abstand von Zeit und Befindlichkeit wird klug

minente Kolleginnen dazu ein, zum Beispiel

macht sie es sich fast schon zu schwer, in-

herausgearbeitet, das Ensemble glänzt in sei-

Meredith Monk. Wenn die beiden sich auch

dem sie die Schönheit des klassischen Textes

nen vielen Verwandlungen, die von der Live-

noch zu einer gemeinsamen Aufführung hin-

bewahren und ihn gleichzeitig hinterfragen

musik wie ein Feuer umlodert werden. Mit­

reißen ließen, dann wäre das eine Sensation

will. Das gelingt erstaunlich gut, wenn sie

unter schleicht sich eine etwas altmodische

nicht nur für die Studentinnen und Studen-

Frauen, Nymphen und Tiere von der brutalen

Ästhetik ein, fast zitathaft, aber die ist schnell

ten, sondern auch für den Rest der Welt. //

Herrschaft der Götter befreit oder sich in

wieder vergessen angesichts der Kraft und

Pflanzen und Steine verwandeln lässt. Der

Magie dieser Aufführung.

Renate Klett

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magazin

/ TdZ September 2021  /

Die Kunst der Montage Thomas Köck erhält für „Atlas“ den Hörspielpreis der Kriegsblinden

Die Historie zweier zerrissener Länder als vietnamesische Familiengeschichte über drei Generationen – Thomas Köcks „Atlas“ als Theaterinszenierung von Philipp Preuss am Schauspiel Leipzig 2019, hier mit Denis Petkovic und Sophie Hottinger.

Schon die Theaterversion von Thomas Köcks

ist, als Tochter und die hauptberuflich in der

„Atlas“ war bei ihrer Uraufführung am Schau-

Berliner Senatsverwaltung tätige Migrations-

spiel Leipzig 2019 ein aufsehenerregendes,

expertin Thúy Nonnemann als Mutter sind die

ungewöhnliches Stück. In drei Generationen

Stimmen dieser Geschichte. Stephan Gross-

einer vietnamesischen Familie spiegelt sich

mann als betulicher DDR-Bürokrat in der Ver-

die Geschichte zweier zerrissener Länder:

tragsarbeiterbetreuung ist eine in der Sprech-

Nord- und Südvietnam, Ost- und West-

weise bestechende Miniatur dieser weithin

deutschland. In der DDR gab es sogenannte

unbekannten Spezies gelungen, die das Er-

Vertragsarbeiter mit ungewisser Zukunft nach

lebnis von Köcks Hörspiel steigert. Welthaltig

gelegt, verdichtet und von Schauspielern

der Vereinigung. In der BRD wurden Boat­

ist ein Wort, das hier uneingeschränkt zutrifft.

eingesprochen. Gehetzte Worte der Pflege-

people aufgenommen, die nach dem Fall von

Die Hörspielproduktion der ARD-Sen-

rinnen und Pfleger wechseln sich mit Flos-

Saigon keine Chance mehr für sich in der

der, des ORF sowie des Schweizer Radios

keln des Zuspruchs und echter Zuwendung

Heimat sahen. Auch die Tatsache, dass ein

SRF hat das Corona-Jahr 2020, anders als

ab, zwischendurch wird immer wieder die

1986 in Österreich geborener Autor diese Ge-

die Theater, offenbar mit nur geringen Bles-

scheinbar endlose Zeit am Ende des Lebens

schichte erforscht und zu einem beziehungs-

suren wie anfänglichen Terminverschiebun-

erfahrbar. Pflegenotstand zum Hören, als

reichen Geflecht entwickelt hat, durfte über-

gen und einschränkenden Regeln für Aufnah-

Montageprotokoll.

raschen. Köck erhielt für das Stück den

mestudios überstanden. Im 70. Jahrgang des

Von denen, die nicht im Heim, sondern

Mülheimer Dramatikerpreis, und als kurz da­

Preises wurde jedenfalls ein vollständiger

gleichsam anonym zu Hause sterben, handelt

rauf im Juni 2019 die Leipziger Inszenierung

Wettbewerb eingereicht, der immer noch von

„Einsam stirbt öfter. Ein Requiem“ von

von Philipp Preuss bei den Autorentheater­

der Breite des Schaffens zeugt. Eher sind ja

­Gesche Piening (Bayerischer Rundfunk). Das

tagen in Berlin noch einmal gezeigt wurde,

die Umstrukturierungen der Sender mit Ein-

Phänomen der von Amts wegen Bestatteten

brandete für einen Moment Aktivisten-Protest

sparungen im „künstlerischen Wort“ und so-

ohne erreichbare Angehörige ist offenbar

auf: Dem Abend wurde „kulturelle Aneig-

mit auch der Stellenwert des Hörspiels im

nicht so selten und wird in diesem Hörspiel

nung“ vorgeworfen, etwa wegen der Darstel-

öffentlich-rechtlichen Hörfunk gerade ein

von der zitierten Statistik bis zum beklem-

lung der Vietnamesinnen und Vietnamesen

Thema, das leider viel zu wenig Aufmerksam-

menden Einzelfall mit O-Ton des behördlich

durch deutsche Schauspieler.

keit bekommt.

beauftragten Bestatters hörbar gemacht.

Foto Rolf Arnold / Schauspiel Leipzig

Die Hörspielproduktion des MDR in der

Die im Abstimmungsergebnis engsten

Auch dieses Stück ist, genau wie das des

Regie von Heike Tauch fand deutsch-vietna-

Mitbewerber um den diesjährigen Preis für

Preisträgers Thomas Köck, nicht nur in der

mesische Schauspielerinnen beziehungswei-

Radiokunst künden jedenfalls von einer ge-

Wirklichkeit recherchiert, sondern vor allem

se Sprecherinnen für ihre Besetzung, was

sellschaftlichen Wachheit, wie sie größer

auch eine große Montageleistung //

dem Ganzen im Stimmausdruck mit Akzent

nicht sein könnte. „Fünf Flure, eine Stunde“

den überzeugenden Nachdruck verleiht, der

von Luise Voigt (Hessischer Rundfunk) stellt

einigen im Theater vielleicht gefehlt hat. Ins-

das Thema Pflege im Altenheim auf neuartige

Der Autor ist Mitglied der Jury. Die diesjährige

besondere Mai Duong Kieu, die 1987 nahe

dokumentarische Weise vor. Aufnahmen aus

­Jurysitzung fand am 18. Mai als Telefonkonferenz

Hanoi geboren wurde, ab 1992 in Chemnitz

einem Pflegeheim während einer Stunde

statt. Thomas Köck wurde am 18. August in Köln

aufwuchs und vor allem im Film erfolgreich

Schicht wurden transkribiert, übereinander-

ausgezeichnet.

Thomas Irmer


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/ TdZ  September 2021  /

Die Schönheit im Scheitern Zum Tod des Regisseurs Jarg Pataki Zwanzig Jahre waren wir ein künstlerisches

sozialen Deformationen in ihrem Körper inter-

Team und Freunde. Jarg Patakis Tod war jäh,

nalisiert, bekam die Dimension einer klassi-

zufällig und zu früh. Eine Nähe zu Vergäng-

schen Tragödie – eine wundersame Puppen-

lichkeit und Tod war immer zu spüren bei

stube, bei der eine unerbittliche Mechanik

ihm, so wie ein Fremdsein im Leben, in dem

von einem Bild ins nächste führte. Die beson-

die Mehrheit sich eingerichtet hat. Daraus

deren Bilder waren nicht geschenkt, sondern

speisten sich seine Kraft, seine Hellsichtig-

hart erarbeitet mit den Ensembles, je mons­

keit und seine Poesie als Künstler.

tröser die Herausforderung, desto größeren

Jarg träumte irrwitzige Bilder und

Appetit entwickelte Jarg. Ich denke an einen

brachte sie auf die Bühne, er komponierte mit

mehrere Meter großen Blasebalg – zwei Lip-

Sprache und mit Gesten. Als junger Erwachse-

pen, in und auf denen die Spieler als winzige

ner stieß er eher unvorbereitet auf die Ge-

Figuren der übermächtigen Sängerin Brunel-

schichte, die Auslöschung seiner jüdischen

da in Kafkas „Amerika“ trotzten.

Las die Welt in Partituren – Der Regisseur Jarg Pataki (1962 – 2021).

Familie, suchte seither nach Spuren. Realis-

Jarg Pataki war Regisseur und ausgebil-

mus auf der Bühne war ihm fern. Er verdich­

deter Musiker, er las die Welt in Partituren. So

tete, fand Metaphern. Oft erzählten seine

dechiffrierte und dekonstruierte er „Erfolgsge-

Inszenierungen von großen Lebensbögen in ­

schichten“, es konnten literarische (wie „Bud-

seltsamen Kosmen, vom „Irren und Streben“

denbrooks“) oder auch dokumentarische sein.

ter in Strasbourg sowie das Neumarkttheater

und vom Scheitern, bei dem sich etwas

2011 erzählte er die vierzigjährige politische

in Zürich. Viele seiner Pläne bleiben unerfüllt,

Schönes ereignen kann (wie in „Wilhelm ­

Bewegungskurve der Partei „Die Grünen“ an-

ein Salman-Rushdie-Projekt etwa mit den „Sa-

­Meister“ 2005 in Hannover, Kafkas „Process“

hand von vierzig Originalinterviews in ganz und

tanischen Versen“ oder eine Erzählung über

und „Peer Gynt“ 2008 oder Kiran Nagarkars

gar undokumentarischen Bildern.

gescheiterte Assimilation anhand der jüdi-

„Gottes kleiner Krieger“ 2013 in Freiburg).

Foto Michael Bamberger

Jarg arbeitete mit Schauspielerinnen

schen Minderheit in Litauen. „Es kommen gro-

Unsere Zusammenarbeit begann 1999

und Schauspielern, Opernsängerinnen und

ße Aufgaben auf uns zu“, hatte Jarg zuletzt

am Luzerner Theater mit Philippe Minyanas

Opernsängern, Puppenspielerinnen und Pup-

gesagt. Ein Mensch, der fein und streng zu-

„Das Totenhaus“, einer Inszenierung für

penspielern und mit Laien. Seine wichtigsten

gleich war, wird fehlen. //

Schauspielerinnen, Schauspieler und lebens-

Stationen waren Schauspiel und Oper in Frei-

große Puppen. Diese Geschichte einer Putz-

burg, die Oper Aachen, die Schauspielhäuser

Viola Hasselberg ist Chefdramaturgin und stellver-

frau, die genau 127 Jahre alt wird und alle

in Hamburg und Hannover, das Nationalthea-

tretende Intendantin der Münchner Kammerspiele.

Viola Hasselberg

Visionär der Textergründung Ein Nachruf auf den Regisseur Rolf Winkelgrund

Erschuf auf dem Theater eine ganz eigene Welt – Rolf Winkelgrund (1936 – 2021). Foto Christel Köster

Als Entdecker und Erkunder von großen

Deutschen Theater in Berlin und schließlich,

­Stücken abseits der Spielplanklassiker hat er

als dritte bedeutende Inszenierung 1985 am

zur (ost-)deutschen Theatergeschichte der

dortigen Maxim Gorki Theater, „Die Falle“

1970er und 1980er Jahre Wesentliches bei-

nach Motiven der Biografie Franz Kafkas im

getragen: der 1936 geborene Regisseur Rolf

Vorschein auf die spätere Nazi-Verfolgung von

Winkelgrund. Den polnischen Dramatiker

dessen Familie. Różewicz selbst äußerte sich

­Tadeusz Różewicz entdeckte er für das Theater

höchst anerkennend zu diesen Arbeiten, die

in der DDR – zunächst mit „Die Zeugen oder

durch Klarheit und Tiefe bestachen.

Unsere kleine Stabilisierung“ 1975 in Pots-

Neu erkundet hat Winkelgrund die Welt

dam, wo Winkelgrund auch als Oberspielleiter

der Stücke Ernst Barlachs mit zwei Inszenie-

fungierte. Es folgten „Weiße Ehe“ 1981 am

rungen am Deutschen Theater. „Der blaue

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Boll“ mit Kurt Böwe in der Titelrolle ließ ei-

dem kaum zu übertreffenden Film mit Jack

um der Germanistik und Theaterwissenschaft

nen den schwierigen Barlach mit einer unver-

Nicholson, machte er Jörg Gudzuhn als ­

in München gelang ihm 1959 am National-

muteten Leichtigkeit und einem erstaunlichen

­McMurphy mit Wollmütze und rotzfrecher Ber-

theater Mannheim der Einstieg ins Regiefach.

Humor erleben, die auf der genauesten Auslo-

liner Schnauze zum Anführer einer Rebellion,

Wegen seiner kritischen Einstellung zur Re-

tung des Texts beruhten. In dieser Hinsicht

die das meist jugendliche Publikum von den

militarisierung der Bundesrepublik siedelte er

war Winkelgrund als Regisseur ein Visionär der

Sitzen springen ließ. Gudzuhn war es auch, der

1961, kurz nach dem Mauerbau, in die DDR

Textergründung, die er als Fundament des

ein paar Jahre später den schmalen, verängs-

über, um dort in Cottbus und später in Pots-

Theaters betrachtete. Drei Jahre später, 1988,

tigten Kafka spielte – der Regisseur war eben

dam seine Theaterarbeit bis zu ihren Höhe-

folgte mit „Die echten Sedemunds“ eine wei-

auch ein Meister der Schauspielerführung.

punkten in Berlin fortzusetzen.

tere Barlach-Erkundung in dieser forschenden Suche nach Mehrschichtigkeit.

Winkelgrunds Theaterbegeisterung zeig-

Er hat eine ganz eigene Welt auf dem

te sich schon am Gymnasium in Bielefeld,

Theater erschaffen, die sicher nicht vorder-

Winkelgrund konnte indes auch ganz

seiner Geburtsstadt. Die zwölfte Klasse soll er

gründig politisch war, aber sehr viel und sehr

anders – und anderes – eindringlich spielen ­

trotz guter Noten wiederholt haben, um mit

genau mit den Menschen in ihrer Zeit zu tun

­lassen; man denke etwa an seine Version von

seiner Schultheatergruppe an der Georg-

hatte. Am 30. Juni 2021 starb Rolf Winkel-

„Einer flog über das Kuckucksnest“ 1982 am

Büchner-Inszenierung „Leonce und Lena“

grund in Berlin. //

Maxim Gorki Theater. Zeitlich noch dicht an

weiterarbeiten zu können. Nach dem Studi-

Thomas Irmer

Chronist einer Opernepoche Im Gedenken an den Theater-der-Zeit-Redakteur Wolfgang Lange Dass die Deutsche Demokratische Republik,

Regie von Götz Friedrich, überschrieben; im

der Drei-Buchstaben-Staat zwischen Werra

selben Heft findet sich ein eingehender Be-

und Oder, ein Opernland par excellence war,

richt über Aufführungen der beiden Moskauer

hat sich inzwischen auch im deutschen Wes-

Opernhäuser. In Heft 8: ein Gespräch Langes

ten herumgesprochen; wer Näheres darüber

mit Peter Schreier, der eingehend Auskunft

erfahren will, hat mit Eckart Kröplins Opern-

darüber gibt, wie man es schafft, auf den

geschichte neuerdings eine umfassende Dar-

Bühnen der Welt anhaltend Präsenz zu zeigen

stellung zur Hand. Wer es en détail wissen

(„... etwas ganz Entscheidendes für meine

will, wird auf Wolfgang Lange stoßen, der in

‚moralische Aufrüstung‘ stellt Dresden dar“);

Theater der Zeit mehr als zwanzig Jahre lang

daran anschließend: ein Gespräch Langes mit

berichtend, ergründend, beurteilend, befra-

jungen Sängern über ihren Start ins Berufs­

gend dem musikalischen Theater von A wie

leben. In Heft 9: ein scharfer Blick auf die

Annaberg bis Z wie Zittau auf den Grund ge-

zurückliegende Musiktheater-Saison, auf den

gangen ist. Denn bis zur Neugründung der

Anteil neuer Werke am Repertoire und das

Zeitschrift im Jahr 1993 war die Oper dort im

Warten auf neueste Werke. Ich lasse es mit

selben Maß wie das Schauspiel vertreten, und

diesen drei Hefteinblicken genug sein. Unter

von 1969 an (der Chefredakteur Horst

vier Chefredakteuren ist Lange der Zeitschrift

turg des ganzen großen Vierspartenhauses

Gebhardt engagierte ihn) war Lange dort der

treu geblieben, auch in der bleiernen Zeit, die

wurde. Aus gesundheitlichen Gründen musste

Mann für die Oper.

nach der Ablösung Manfred Nössigs über sie

er 2001 in den Ruhestand gehen, der den

hereinbrach.

1939 im brandenburgischen Falkenberg

Redakteure haben eine hinter- und

Verband umfassende Kennerschaft mit wacher Neugier – Wolfgang Lange (1939 – 2021). Foto Angelika Würzner

eine vordergründige Seite ihrer Arbeit, sie or-

Bis Ende 1991, nun unter der Leitung

­Geborenen (der im Krieg gebliebene Vater war

ganisieren Beiträge, und sie schreiben selbst

Martin Linzers, an dessen demokratischer

Schriftsteller, die Mutter Lehrerin) zurück

welche; bei Lange war beides in fruchtbarer

Ein­setzung er wesentlichen Anteil hatte, hat

nach Berlin führte.

Balance. Ich schlage drei willkürlich heraus-

­Lange seine umfassende Kennerschaft, seine

Im Mai dieses Jahres kam die Nach-

gegriffene Hefte des Jahrgangs 1972 auf und

sprachliche Souveränität und eine immer

richt vom überraschenden Tod eines Mannes,

stoße in jedem einzelnen auf fesselnde Texte

­wache Neugier in den Dienst der Redaktion

dessen hochgewachsene Gestalt sich durch

von ihm. „Sing mir das Lied vom Mond“ ist in

gestellt. Dann wurde er freischaffend und

Sach- und Fachkenntnis ebenso wie durch

Heft 7 die Berliner Uraufführung von „Noch

folgte wenig später Johannes Felsenstein an

eine fundamentale Freundlichkeit allen ein-

einen Löffel Gift, Liebling?“, Siegfried Matthus’

das traditionsreiche Dessauer Theater, wo aus

prägte, die mit ihm zu tun hatten. //

Oper auf einen Text von Peter Hacks in der

dem Musikdramaturgen bald der Chefdrama-

Friedrich Dieckmann


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/ TdZ  September 2021  /

nächSteS Jahr, gleiche zeit JoSef unD Maria hochzeitSnacht iM paraDieS futur einS: leben auf DeM MarS (ua) eine Woche voller SaMStage Malala – MäDchen Mit buch

alS ich Mit hitler SchnapSkirSchen aß paMpa blueS nichtS. WaS iM leben Wichtig iSt oleanna Spiel unter Den faSSaDen ShakeSpeareS SäMtliche Werke (leicht gekürzt) rolanD rettet Die hanSe (ua)

SCHAUSPIEL PREMIEREN DER HALS DER GIRAFFE Monolog nach dem Roman von Judith Schalansky URFAUST von Johann Wolfgang Goethe DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT von Rainer Werner Fassbinder ANOREXIA FEELGOOD SONGS ua von Fayer Koch FLOH IM OHR nach Georges Feydeau DIE EROBERUNG DES SÜDPOLS von Manfred Karge GRETE MINDE von Theodor Fontane Szenische Lesung DAS SIEBTE KREUZ nach dem Roman von Anna Seghers ARSEN UND SPITZENHÄUBCHEN von Joseph Kesselring MICHAEL KOHLHAAS nach der Novelle von Heinrich von Kleist

2021 2022

Der kleine rabe Socke

Spielzeit 2021/22

Der prozeSS

DER EINSAME WEG von Arthur Schnitzler UND JETZT: DIE WELT! von Sibylle Berg MARAT / SADE von Peter Weiss NIPPLEJESUS von Nick Hornby IN ARBEIT (AT) ua Eine Stadtrauminszenierung von willems&kiderlen SOLO SUNNY von Wolfgang Kohlhaase

Landestheater Sachsen-Anhalt Nord Karlstraße 6, 39576 Stendal www.tda-stendal.de (0391) 40 490 490 | www.theater-magdeburg.de

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magazin

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Nacktheit als Kostüm – Jürgen Goschs legendäre Düsseldorfer „Macbeth“-Insze­ nierung in Johannes Schütz’ Bühnenraum aus dem Jahr 2005. Foto Sonja Rothweiler

produktionsästhetischen Wissens zu ergründen, wie es Gosch/Schütz und dem je involvierten Ensemble handwerklich gelang, ein Theater der Wahrhaftigkeit „augenblickszentrierter (Eigen-)Wirklichkeit“ zu entfalten. Dafür nimmt er sich den Raum, zum Beispiel das Figurenspiel von Jens Harzer/Astrow in der Berliner Inszenierung „Onkel Wanja“ (2007) sehr minutiös, liebevoll und erhellend zu beschreiben. Gleiches tut er mit der Musikalität in ausgewählten Szenen der Tschechow-Arbeiten. Auch betont er zu Recht den Stellenwert, den der Stücktext in Goschs

Wahrhaftiges Spiel

­Arbeitsweise hatte und weist darauf hin, wie Schwerpunkt bildet die Düsseldorfer „Mac-

Schütz’ Raumkunstbühnen, die berühmten

beth“-Inszenierung (2005), die für Tigges

„Schachteln“ oder „Buchstützen“, auf denen

Die Suche nach einer Wahrhaftigkeit des

den Auftakt einer Suche nach einer neuen

die Spieler- beziehungsweise Figurenkörper

Spiels, nach einer Glaubwürdigkeit, die Figur

Körperästhetik darstellt. Die Nacktheit der

so plastisch hervortreten, nicht zuletzt vom

und Spielerin beziehungsweise Spieler glei-

Spieler, die seinerzeit in den Rezensionen für

Tanztheater mitinspiriert sind. Ein anregender

chermaßen betrifft, nach einem organischen

Lektüregewinn waren für mich die intermedi-

Entfalten szenischer Prozesse im miteinander

alen Verweise, die sich in den Gosch/Schütz-

geteilten Bühnenraum – dies sind ästhetische

Korpus als Inspirationsquellen eingetragen

Merkmale der Theaterarbeit von Jürgen Gosch

haben, wie etwa die Autoporträts von Lucian

und Johannes Schütz in ihrer gemeinsamen Werkphase der nuller Jahre. Bei der Anton-Tschechow-Inszenierung „Die Möwe“ am Deutschen Theater Berlin, der vorletzten Arbeit Jürgen Goschs vor sei-

Stefan Tigges: Jürgen Gosch / Johannes Schütz Theater. transcript Verlag, Bielefeld 2021, 616 S., 49,99 EUR.

Freud, aktionistische Performances der NeoAvantgarden oder der Einsatz von Naturelementen als kinetische Skulpturen aus dem Tanztheater einer Pina Bausch. Tigges’ Studie wird dem Kosmos der Theaterästhetik von Gosch/Schütz in meinen Augen sehr gerecht

nem Tod 2009, welche der Theaterwissen-

und bildet ein wichtiges und anschauliches

schaftler Stefan Tigges als „Konzentrat und Quintessenz“ der gemeinsam entwickelten

Aufruhr sorgte, müsse im Sinne eines erwei-

Stück jüngerer Theatergeschichtsschreibung. //

Theaterästhetik beschreibt, war ich als Regie-

terten, nicht-textilen Kostümbegriffs gedacht

Theresa Schütz

hospitantin dabei. Zumindest ein paar Tage.

werden. Das offene Entkleiden beziehungs-

Denn dann schlug Herr Gosch vor, dass ich

weise „Anlegen ihres Nackt-Kostüms“ schaf-

mich in der Funktion des in der Textfassung

fe einen ästhetischen „Nullpunkt“ für die

notierten Zimmermädchens „doch mal mit zu

Darstellung existenzieller Erfahrungen der

den anderen auf die Bühne setzen“ solle.

Figuren, ohne die Spielenden dabei in ihrer

Dort blieb ich dann, mehr als siebzig Vorstel-

„(nackten) Privatheit preiszugeben“. Dass

„Von kaum einem der großen Verleger unse-

lungen. Zwölf Jahre später bin auch ich

diese körperzentrierte Kostümästhetik die

res Jahrhunderts besitzen wir Erinnerungen“,

­Theaterwissenschaftlerin und hatte dank der

eingangs genannte wahrhaftige Wirkung ent-

klagte vor einigen Jahren Wolf Jobst Siedler,

Habilitationsschrift von Stefan Tigges „Jürgen

falten kann, hängt zudem von ihrer Einbet-

seinerseits selbst Verleger und Autor. Diese

Gosch / Johannes Schütz Theater“ die Mög-

tung in den Bühnenraum, dem Einsatz zahl-

Anmerkung gilt bis heute, im Besonderen für

lichkeit, nun noch einmal mit anderen Augen

reicher anti-illusionistischer Mittel sowie

eine seltene Spezies dieses Berufs, den Büh-

auf das Werk der beiden Theaterkünstler zu-

einer bestimmten Spielweise ab, die ermög-

nenverleger. Mit „Herzstücke“, der 2019 er-

rückzublicken.

licht, dass die Figuren in den Spielenden auf-

schienenen Geschichte des Verlags der Auto-

gehen und nicht umgekehrt. Diese ästheti-

ren

seitigen Opus das gemeinsame Schaffen von

sche Konfiguration zu porträtieren, bildet das

nebenan“, dem aktuellen Nachfolgeband der

2003 bis 2009 entlang der drei „Kosmen“

Kernanliegen der Publikation.

Autobiografie „alles war möglich“ (ebenfalls

Tigges fokussiert in seinem gut 600-­

William Shakespeare, Roland Schimmel­

Anstelle theoriegeladener Interpretati-

pfennig und Anton Tschechow. Einen ersten

on sucht Tigges unter Einbezug reichhaltigen

Einzelkämpfer

von

Karlheinz

Braun

und

„gleich

2019) von Rudolf Rach, hat sich diese Lücke gefüllt.


bücher

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Beide Bühnenverleger lernten ihr Handwerk

frischgebackenen Verlagseigner den Orts-

Gehaltsnachzahlungen für sich selbst sowie

im Frankfurter Suhrkamp Verlag. Braun leite-

wechsel in ein fremdes Land bedeutet, heißt

die Übernahme sämtlicher Notarkosten – bei

te seit 1959 die Theaterabteilung, Rach löste

es für ihn als beobachtenden Autor – und für

leerem l’Arche-Konto. Als noch schlimmer er-

ihn 1971 ab. Learning by doing, lautete für

uns als Leserinnen und Leser –, Abschied zu

weist sich das Totschweigen eines hand-

beide die Devise, denn eine Schule oder eine

nehmen von dem bewegten Beiwerk des ers-

schriftlichen Zusatzes im Vertrag mit Bertolt

Universität für dieses Gewerbe existiert nicht.

ten Bandes. Die leichtfüßigen Schlenker mit

Brecht. Dieser sah vor, dass bei Besitzer-

Ihre Erinnerungen geben erstmalig ei-

Blick auf die tragikomischen Szenen seiner

wechsel die Rechte an ihn zurückfallen; ihr

nen aufregenden Einblick in die Tätigkeit von

Ehe beispielsweise oder die Begegnungen mit

Wert entsprach einem Drittel des Verlagsum-

Theaterverlagen. Der Handel eines Buch­

der skurrilen Kehrseite begnadeter Suhr-

satzes! Jedoch nicht allein dieser individuelle

verlags mit Druckrechten erfreut sich eines

kamp-Stückeschreiber wie Thomas Bernhard

geschäftliche Verhaltenskodex ist schwer be-

unvergleichlich höheren Ansehens als der des

oder Franz Xaver Kroetz in ihrer Geldlust

greifbar – Rach gesteht auch eigene Fehler

Bühnenverlags mit Aufführungsrechten für

müssen weichen. Denn Rach ist jetzt

ein –, sondern ebenso das grundverschiedene

Theater, Film, Funk, Fernsehen. Aber wenn

Unternehmer, und sein Augenmerk gilt vor

Subventionssystem für die Theater oder, ganz

auch öffentlich unsichtbar, ist der Einfluss

allem der Aufgabe, das eigene Schiff flottzu-

allgemein, das französische Sozialwesen mit

der Theaterverlage nicht zu unterschätzen:

machen.

den Reizthemen Streik und Rente: alles kein

Sie sind es, die neue, wildfremde Stücke

Spaß für fremde Unternehmer. Die Autobio-

überhaupt erst ausfindig machen und Auf­

grafie springt in kurzen Abschnitten von Krise

führungen initiieren, die häufig insgesamt

zu Krise. Das geschieht gelegentlich tatsäch-

unser intellektuelles Klima prägen, weit über

lich etwas arg sprunghaft, das Krisenmanage-

die Bühne hinaus. Ohne den verborgenen

ment jedoch bietet ein Paradebeispiel für die

künstlerischen sowie kommerziellen Einsatz

Rudolf Rach: gleich nebenan. Verlag der Buchhandlung Klaus Bittner, Köln 2020, 293 S., 22 EUR

für Elfriede Jelinek oder Ferdinand von Schirach, um zwei heutige theatrale Erfolgsbeispiele zu nennen, sähe es mit deren Strahlkraft anders aus. Wer sich nebenbei einen fundierten

unternehmerische Tugend: ausdauernd Mut bewahren. Rachs Bühnenvertrieb vertritt internationale Künstlerinnen und Künstler wie Jan Fabre, Pina Bausch, Jon Fosse, Lars Norén, Martin Crimp oder, wieder erworben, Bertolt

Blick auf das deutschsprachige Theater er-

Brecht sowie viele Autoren der deutschen

hofft¸ kommt auf seine Kosten. Rudolf Rach

Aber da der Band „gleich nebenan“, der den

Theaterverlage. Dass es ihm gelang, in Frank-

war zwischenzeitlich, von 1978 bis 1981,

Untertitel „Pariser Jahre ’86 bis ’20“ trägt,

reich erstmalig einen Bühnenverlag nach

Generalintendant an den Bühnen in Essen. In

über die nur verlegerische Erzählung hinaus-

deutschem Muster zu etablieren, war ein be-

seine Amtszeit fiel die deutsche Erstauffüh-

geht, empfiehlt er sich einer zusätzlichen Le-

wundernswerter Sieg. In Frankreich nämlich

rung eines anfangs unterschätzten Stücks,

serschaft: den vielen Unternehmern nämlich,

existierte ein kompliziertes Monopol auf ein

das zu einem enormen Hit avancierte: „The

die vor den erhöhten Anforderungen in der

Inkasso der Tantiemen seitens der Verwer-

Rocky Horror Show“ von Richard O’Brien. Mit

Fremde Angst haben. Sehr lehrreich erzählt

tungsgesellschaft SACD, das eine individuel-

seinem Premierenbericht in „alles war mög-

das Buch von den existenziellen Fragen des

le Wahrnehmung von Autorenrechten seitens

lich“ gelingt es Rach, etwas von der singulä-

Alltags, etwa des Wohnens oder des Erwerbs

eines Verlags oder einer Agentur ausschloss.

ren Anziehungskraft von Theater überhaupt

der Aufenthaltsgenehmigung in „einem ge-

Nach langem Kampf hatte das französische

zu vermitteln. Wenn er beschreibt, wie die

räumigen Saal mit zahlreichen Schaltern, die

Kartellamt diesem System im Jahr 2006 end-

Schauspielerinnen und Schauspieler auf-

meisten unbesetzt, und vor denen, die be-

lich eine Absage erteilt. Das machte den Weg

drehten, die Zuschauer in die Luft sprangen,

setzt waren, mit längeren Schlangen, die sich

frei für Rach, obwohl, wie überall, „die Hecken-

Kerzen anzündeten, Feuerwerkskörper durch

kaum von der Stelle bewegten“. So erfahren

schützen [der Konkurrenz] auf der Lauer

den Raum warfen und die Sehnsucht nach

wir es aus dem lakonischen Lagebericht. Wir

­lagen“. Nicht zu vergessen: Professionell und

Erfolg tobte, steckt das selbst beim Lesen an.

haben ja kaum konkrete Vorstellungen von

privat stand ihm bei dem Durchbruch in Paris

Mit großem Ernst beleuchtet Rach

den professionellen und privaten Lebens­

immer „seine Katharina“ (Katharina von Bis-

­zugleich die andauernde Konfliktsituation der

bedingungen, die Zehntausende zumeist mit

marck) zur Seite, ihr ist das Buch gewidmet.

subventionierten Theater, wenn eine repres­

löchrigen Sprachkenntnissen stoisch bewälti-

Als der Lektor Rudolf Rach den Suhr-

sive Bürokratie mit Arbeitsvorschriften ästhe­

gen müssen, ganz gleich, ob es um diejenigen

kamp Verlag verließ, wollte er keine Fabrik

tische Veränderungen im Keim erstickt: für

eines

in

aufbauen, in der der Verleger die Massen der

den naiven Theaterbesucher eine interessante

Deutschland oder um die eines kaufmänni-

eigenen Bücher gar nicht mehr kennen kann.

Aufklärung.

schen Geschäftsführers in Paris geht: Alles ist

Mit seiner Arbeit für l’Arche ist es ihm – noch

anders als zu Hause.

dazu in der Fremde – gelungen, seinen mit-

Überraschend eröffnet die nun erschie-

rumänischen

Bauunternehmers

nene Fortsetzung der Autobiografie von Rach,

Schon die Hinterlist, der Rach plötz-

telständischen Buch- und Bühnenverlag zu

„gleich nebenan“, noch erweiterte Perspek­

lich bei der Kaufvertragsunterschrift begeg-

einer renommierten Adresse zu machen: eine

tiven. Als sich ihm 1986 die Gelegenheit zum

net, offenbart etwas von dem Zustand des

ermunternde Botschaft für alle Leserinnen

Erwerb des französischen Kleinverlags l’Arche

Verlagsobjekts, das er sich da angelacht hat-

und Leser. //

bot, schlug er zu. Während das für ihn als

te. Denn der vorhergehende Besitzer fordert

Ute Nyssen

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aktuell

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Meldungen Amelie Deuflhard. Foto Kampnagel

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ästhetische und soziale Herausforderung“.

■ Am Theater Heilbronn gibt es mit der neu-

Bundesweites Aufsehen erregten im Jahr

en Spielzeit gleich mehrere Leitungswech-

2018 Mobbing-Vorwürfe gegen Bachmann,

sel, wie das Theater in einer Pressemittei-

die von ihm zurückgewiesen wurden.

lung bekannt gab. So wird Mirjam Meuser Chefdramaturgin des Hauses, Sophie Püschel

■ Zum Ende der aktuellen Spielzeit beenden

übernimmt die Leitung des Schauspiels, und

die Chefdramaturgin Rita Thiele und der Kauf-

Nicole Buhr wird Leiterin des Jungen Thea-

männische Direktor Peter F. Raddatz ihre Arbeit

ters. Andreas Frane, seit 2011 Chefdrama-

am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Auf

turg am Theater Heilbronn, wechselt zur

Thiele folgt Beate Heine, die zuvor Chefdrama-

Spielzeit 2022/23 ins Leitungsteam des

turgin und stellvertretende Intendantin am

Theaters Pforzheim.

Schauspiel Köln war. Peter F. Raddatz hatte die Position als Kaufmännischer Direktor des

■ Die Stiftung Staatstheater Nürnberg verlän-

Hauses über zwanzig Jahre bekleidet. Sein

gert den Vertrag mit dem Künstlerischen

Nachfolger Friedrich Meyer war unter anderem

Leiter Jens-Daniel Herzog um weitere acht

am Maxim Gorki Theater in Berlin, am Staats-

Jahre. Herzog steht dem Mehrspartenhaus

schauspiel Stuttgart und in der Stiftung

seit der Spielzeit 2018/19 vor und wird seine

Staatstheater Augsburg in selbiger Position.

Intendanz nun bis 2031 fortsetzen. Eine sei-

■ Der Vertrag von Kampnagel-Intendantin

ner zentralen Aufgaben wird der Umzug in

Amelie Deuflhard wurde um weitere fünf Jahre

■ Thomas Oberender, Intendant der Berliner

eine Ausweichspielstätte wegen des bevorste-

verlängert. Die Hamburger Spielstätte wird

Festspiele, wird seine Tätigkeit zum Ende des

henden Umbaus des Opernhauses sein.

sich bis 2027 weiter Themen wie Klimawan-

Jahres 2021 niederlegen. Nach „zehn erfül-

del, Migration, Postkolonialismus, Diversität

lenden und erfolgreichen Jahren für die Berli-

■ Die Leitung des Schlachthaus Theaters Bern

und sozialer Ungleichheit widmen. Ab jetzt

ner Festspiele“ will Oberender sich neuen

wird zum Ende der Spielzeit 2021/22 von

wolle man allerdings stärker darauf achten,

Aufgaben zuwenden, heißt es in einer Presse-

Maike Lex an die drei Theatermacherinnen

ein diverseres Publikum zu erreichen. „Unsere

mitteilung. Gegenüber der Süddeutschen

Lisa Marie Fix, Ute Sengebusch und Maria

Theaterräume noch weiter zu öffnen für un-

­Zeitung bestätigte Oberenders Sprecherin,

Spanring übergeben. Die Institution soll auch

terschiedliche Akteur*innen unserer Gesell-

dass er den neuen, ab Januar 2022 gelten-

unter dem Trio ein Ort bleiben, an dem ­Fragen

schaft ist eines unserer großen Ziele“, so

den Vertrag nicht mehr antreten, sondern mit

nach Integration und Diversität auf lokaler,

Deuflhard wörtlich. Die Intendantin ist seit

Auslaufen des jetzigen Vertrags bei den Fest-

nationaler und internationaler Ebene ver­

2007 am Haus.

spielen aufhören werde. Es sei eine persönli-

handelt, Festivals veranstaltet und Kollabora-

che Entscheidung gewesen.

tionen mit Berner Kulturinstitutionen fort­

■ Stefan Bachmann wird bis 2026 Intendant

geführt werden.

am Schauspiel Köln bleiben. An das Haus kam

■ Die Intendanz der Vorpommerschen Landes-

er mit der Spielzeit 2013/14. Ulrich Khuon,

bühne wird künftig auf vier Köpfe aufgeteilt.

■ Ab dem 1. August 2022 wird die künstleri-

Intendant des Deutschen Theaters Berlin, be-

Der Träger des Hauses, die Vorpommersche

sche, betriebliche und kaufmännische Ge-

riet die Stadt bei der Entscheidung und hob

Kulturfabrik, beruft Anna Engel, Andreas Flick,

schäftsführung der Schwankhalle Bremen mit

hervor, wie es Bachmann und seinem Team

Oliver Trautwein und Hans-Jürgen Engel zur

Anna K. Becker, Katrin Hylla und Rahel Häseler

gelungen sei, während der Sanierungsphase

Leitung. Dabei übernimmt Anna Engel die

neu besetzt. Damit lösen sie die im Septem-

des Hauses „die komplizierte Übergangs­

Geschäftsführende Dramaturgie, und Andreas

ber 2020 eingesetzte Interimsleitung von

situation für das Schauspiel Köln nicht als

Flick wird Kaufmännischer Geschäftsführer.

Marta Hewelt und Florian Ackermann ab. Der

notwendiges Übel zu begreifen, sondern als

Der bisherige Theaterleiter, Martin Schneider,

Beschluss von Mitgliederversammlung und

wird ab sofort beurlaubt, um einen reibungs-

Aufsichtsrat des Trägervereins Neugier e. V.

losen Übergang von der Einzelspitze hin zu

erfolgte auf Basis einer Mehrheitsentschei-

Teamentscheidungen zu gewährleisten.

dung der Findungskommission, die Ende 2020

Janosch ICH MACH DICH GESUND, SAGTE DER BÄR Münchner Theater für Kinder Premiere: 12.9.2021 Regie: Michael Tasche

MERLIN VERLAG

einberufen wurde.

■ Christine Hofer und Alexander May werden ab der Spielzeit 2022/23 die Künstlerische

■ Ab 2022 wird Frank Degler die Künstle­

Leitung des Landestheaters Schwaben in

rische Leitung und Geschäftsführung des

Memmingen übernehmen. Die Stellen sind

internationalen Produktionshauses und sozio­

als Interimslösung auf zwei Jahre beschränkt.

kulturellen Zentrums zeitraumexit in Mann-

Danach wird in einem Auswahlverfahren über

heim übernehmen. Er löst Jan-Philipp Poss-

die Besetzung der Intendanz entschieden.

mann ab, der seit 2016 am Haus ist. Mit

21397 Gifkendorf 38

Grund für die Zwischenlösung ist eine über­

ersten Vorschlägen zur Neuausrichtung von

Tel. 04137 - 810529

raschende Absage der ursprünglich für die

zeitraumexit plant Degler im September an

Leitung vorgesehenen Person.

die Öffentlichkeit zu treten.

info@merlin-verlag.de


aktuell

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■ Der Georg-Büchner-Preis geht dieses Jahr

Klaudia ­Reichenbacher vergeben. Das Stipen-

nenensembles, Kinder- und Jugend­ theater­

an den Schriftsteller und Dramatiker Clemens

dium wird seit 2017 durch die Stadt Graz,

gruppen

J. Setz. „Seine bisweilen verstörende Drastik

den Freundeskreis des Schauspielhauses

Be­werbungsfrist läuft bis zum 15. Dezember

sticht ins Herz unserer Gegenwart, weil sie

Graz e. V. und das Schauspielhaus Graz verlie-

2021.

einem zutiefst humanistischen Impuls folgt.

hen und ist ebenfalls mit 5000 Euro dotiert.

­werden im September 2022 zum amarena-

sowie Die

Senior:innentheater.

ausgewählten

Die

Produktionen

Festival eingeladen. Weitere Informationen zur Ausschreibung und zur Bewerbung unter:

Menschenfreundlichkeit

Wissen und einem Reichtum der poetischen und sprachschöpferischen Imagination“, heißt es in der Jurybegründung. Der Preis wird am 6. November in Darmstadt überreicht und ist mit 50 000 Euro dotiert.

■ Der Mülheimer Dramatikpreis ging dieses Jahr an Ewe Benbenek. Mit ihrem Stück „Tragödienbastard“, das von Florian Fischer für das Schauspielhaus Wien urinszeniert wurde, überzeugte Benbenek die diesjährige Preis­ jury. Nominiert waren „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“ von Sibylle Berg, „Stummes Land“ von Thomas Freyer, „Reich

■ Die Schauspielerin Christine Urspruch

des Todes“ von Rainald Goetz, „Der goldene

wurde mit dem Verdienstorden des Landes ­

Schwanz“ von Rebekka Kricheldorf, „Erste

Baden-Württemberg ausgezeichnet. Der Orden

Staffel. 20 Jahre großer Bruder“ von Boris

ist die höchste Auszeichnung des Bundeslan-

Nikitin und „9/26 – Das Oktoberfestattentat“

des und wurde durch dessen Ministerpräsi-

von Christine Umpfenbach.

denten Winfried Kretschmann verliehen. Die Schauspielerin wurde damit für ihr Engage-

Christine Urspruch. Foto Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

verbindet

­Clemens J. Setz mit einem enzyklopädischen

Diese

www.bdat.info.

Die

österreichische

Schriftstellerin

­Friederike Mayröcker ist verstorben. Sie gehörte zu den bedeutendsten Lyrikerinnen der Gegenwart. Ihr Wirken konzentrierte sich vor allem auf die von ihr erfundenen Proeme, eine

Mischform

von

Prosa

und

Lyrik.

­Mayröcker schrieb aber auch für das Theater. Ihr Stück „Requiem für Ernst Jandl“ wurde 2014 von Hermann Beil inszeniert. 2013 war die Katie Mitchell-Inszenierung „Reise durch die Nacht“ zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Mayröcker verstarb am 4. Juni 2021 im ­Alter von 96 Jahren in Wien.

■ Die Schauspielerin Annelene Hischer ist im Alter von 90 Jahren gestorben. Sie gehörte viele Jahre fest zum Ensemble des Deutschen Theaters Berlin. Hischer wurde 1930 in Stettin geboren und absolvierte nach dem Krieg

■ Im Rahmen des fünften Dramatikerinnen-

ment in sozialen Projekten, zum Beispiel als

festivals in Graz wurden die Retzhofer Drama-

Lesebotschafterin oder im Wangener Verein

preise vergeben. Als Siegerstück wird „Adern“

Lichtblick und in der Vesperkirche Weingar-

der Insel Rügen. Im Verlauf ihrer Karriere

von Lisa Wentz in der neuen Spielzeit am

ten, geehrt. Den Orden erhielten insgesamt

­arbeitete Annelene Hischer mit Regisseuren

Burgtheater, dem Next Liberty und TaO! in

26 Personen, neben Urspruch etwa der Bun-

wie Adolf Dresen, Wolfgang Heinz, Friedo

Graz sowie dem Theater an der Parkaue in

destagsabgeordnete Cem Özdemir.

­Solter, Thomas Langhoff und Alexander Lang.

Berlin uraufgeführt. Johannes Hoffmann wurde

eine Schauspielausbildung am Studio 48 auf

Neben ihrer Tätigkeit am Theater sprach sie

für das Stück „nachtschattengewächse“ mit

■ Der Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT)

für den Hörfunk und wirkte in Produktionen

dem Retzhofer Dramapreis für junges Publi-

schreibt unter dem Motto „Schwierige Zeiten

des DDR-Fernsehens mit.

kum ausgezeichnet. Der zweite Retzhofer

führen zu neuem Konzept und einer Erweite-

Dramapreis für junges Publikum ging an Till

rung der Perspektiven auf das Amateurthea-

Wiebel für sein Stück „Funken“. Die Preise

ter!“ den amarena 2022 aus. Der mit 12 000

sind mit je 5000 Euro dotiert. Darüber hinaus

Euro dotierte Preis wird zum siebten Mal

wurde auch das Ernst Binder-Stipendium an

­vergeben. Zu den Zielgruppen gehören nich­t­

die Tän­zerin, Schauspielerin und Regisseurin

professionelle Gruppen wie Mehrgeneratio­

02. 09. 2021, 20 Uhr URAUFFÜHRUNG 0 3., 04. & 06. 09. 2021, 20 Uhr 05. 09. 2021, 19 Uh r (with Engl. Surtitles)

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aktuell

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Premieren Ansbach Theater N. Dabelstein/A. Mariani: Romea und Julia im Bambacher Forst (A. Mariani, 17.09.); E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf…? (M. Fanke, 18.09.); J. Zelter: Kalt (A. Krauße, 19.09., UA) Augsburg Staatstheater N. LaBute: Die Antwort auf alles (M. Priebe, 11.09., UA); T. Mann: Der Zauberberg (A. Bücker, 18.09.); M. Naumann: Freitags vor der Zukunft (J. Wenzel, 24.09., UA) Baden-Baden Theater F. Dostojewskij: Verbrechen und Strafe (G. Plass, 10.09.); M. Laricchia: Die Suche nach dem verlorenen Musical (I. Otto, 25.09.) Basel Theater Die Physiker (Ensemble, 17.09.); 4 ½ Jahreszeiten (T. Luz, 18.09.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volks­ theater M. Cooney: Dołhož fenki běža (Und ewig rauschen die Gelder) (M. Nagatis, 11.09.); M. Brankatschk: Čmjeła Hana chce do dowola lećeć (M. Brankatschk, 16.09.) Berlin Berliner Ensemble n. S. Zweig: Amok (C. Wege, 01.09.); B. Brecht: Die Mutter (C. Tscharyiski, 10.09.) Deutsches Theater T. Brasch: Mercedes (C. Sprenger, 10.09.); n. G. Büchner: Woyzeck Interrupted (A. R. Koohestani, 17.09.); n. M. Shelley: Frankenstein (J. Steckel, 25.09.) Maxim Gorki Theater H. Ibsen: Noorrrraaaaaaaa (L. Böhm, 12.09.); A. Platonow: Tschewengur (S. Baumgarten, 24.09.) Schau-

September 2021

bühne C. Bush: Kein Weltuntergang (K. Mitchell, 04.09., UA); M. Zade: Ödipus (T. Ostermeier, 19.09., UA) Biel / Solothurn TOBS K. Rupp/M. Neidhart: Nichts geschenkt! (K. Rupp, 03.09., UA); A. Tabé: Ferferi: Vom Ankommen und Fernbleiben (K. Rupp, 23.09., UA) Bonn Theater M. Göpel: Unsere Welt neu denken (S. Solberg, 10.09.); E. Tandler: Liebe et cetera (E. Tandler, 11.09.) Bremen bremer shakespeare company S. Sterr: 99 Schritte zum Meer (R. Siebelt, 24.09., UA) Bremerhaven Stadttheater T. Melle: Ode (M. Pfrunder, 24.09.); F.-O. Heinrich u. D. Zipfel: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt (B. S. Henne, 26.09.) Chemnitz Theater I. Calbérac: Wein­ probe für Anfänger (H. Olschok, 25.09.) Cottbus Staatstheater A. Latella/F. Bellini: Wonder Woman (A. Latella, 04.09., UA); A. Latella/F. Bellini: Zorro (A. Latella, 04.09., UA); R. Heynen/D. Abbado: Unendlicher Falstaff (D. Abbado, 18.09.); Catabasis. Dämonen (B. Yukhananov, 25.09.) Darmstadt Staatstheater G. Büch­ ner/C. Mehler/C. Zintl: Dantons Tod (C. Mehler, 18.09.) Dortmund Theater M. Ürkmez: Happy, we lived on a Planet (M. Ürkmez, 18.09., UA); A. Lepper: La Chemise Lacoste (D. Duszczak,

www.hellerau.org

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12.09.2021

19.09.); C. Way: Playing from the Heart (A. Siebers, 24.09.); S. Kane/V. Woolf: Das Mrs. Dalloway Prinzip/4.48 Psychose (S. Kara, 25.09.) Essen Schauspiel B. Brecht: Die Rundköpfe und die Spitzköpfe oder Reich und reich gesellt sich gern (H. Schmidt-Rahmer, 10.09.); H. Schmidt-Rahmer/J. Steinbeck: Früchte des Zorns (H. SchmidtRahmer, 17.09.); S. Beckett: Endspiel (G. Rueb, 25.09.) Esslingen Württembergische Landesbühne E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (A. Müller-Elmau, 23.09.); J. Sartre: Geschlossene Gesellschaft (C. Gnann, 26.09.); S. Wolfrum: Leon zeigt Zähne (V. Schudt, 26.09.) Göttingen Deutsches Theater T. Storm: Der Schimmelreiter (D. Foerster, 23.09.); G. Willert/B. Dulisch: Pop Up (Play) (G. Willert/B. Dulisch, 24.09., UA) Graz Schauspielhaus M. Shelley: Der letzte Mensch (A. Eisenach, 16.09.); E. Road: Die Laborantin (A. Mulleners, 17.09., ÖEA); A. Lasker-Berlin: Ich, Wunderwerk und how much I love Disturbing Content (C. Bossard, 25.09., UA); Once upon Tomorrow. Geschichten über das Klima und einen Global Green New Deal (29.09.) Greifswald Theater Vorpommern H. Fallada: Jeder stirbt für sich allein (U. Koschel, 24.09.) Hamburg Schauspielhaus n. W.

Spielzeitfest zum Tag des offenen Denkmals

Shakespeare: Richard the Kid & the King (K. Henkel, 03.09.); N. AbdelMaksoud: Café Populaire (S. Kreyer, 04.09.); F. M. Dostojewskij: Die Brüder Karamasow (O. Frljić, 12.09.); M. MacLane: Ecce Homo oder: Ich erwarte die Ankunft des Todes (M. Pross, 15.09.); K. Beier/I. McEwan/S. Meier: Kindeswohl (K. Beier, 18.09., DEA); D. Grossman: Was Nina wusste (D. D. Pařízek, 19.09., UA) Thalia Theater F.M. Dostojewskij: Der Idiot (J. Simons, 04.09.); S. Berg/Ruff Sqwad: GRM Brainfuck (S. Nübling, 10.09., UA); O. Tokarczuk: Die Jakobsbücher (E. Marciniak, 19.09., DEA) Hannover Schauspiel Molière: Der eingebildete Kranke (A. Lenk, 24.09.) Itzehoe Theater J. B. Priestley: Ein Inspektor kommt (J. Gade, 23.09.) Kassel Staatstheater J. W. v. Goethe/B. Zander: Faust Gretchen (B. Zander, 25.09.); M. Saleh­ pour/P. S. Buck: Die gute Erde (M. Salehpour, 25.09., UA); F. S. Fitzgerald: How to Gatsby (B. Hoesch, 26.09.); L. Kees: Oh Yeah, Baby! (L. Kees, 26.09.) Kiel Theater J. Steinbeck: Von Mäusen und Menschen (A. Pullen, 11.09.); F. Zeller: Der Fiskus (J. Rösing, 12.09.); R. Bielfeldt/M. Kaléko: Mascha (K. Höft, 19.09.) Leipzig Schauspiel D. Kötter/S. Israel/E. Limberg: Water & Coltan (D. Kötter/S. Israel/E. Limberg, 21.09.)

22.09.–03.10.2021

TANZPAKT Dresden Dancing About mit 10 Premieren von Miller/De’Nobili, Anima(l)[us]/Rosalind Masson, Caroline Beach, go plastic company, hennig & colleagues, Irina Pauls, Katja Erfurth, Lotte Mueller, Polymer DMT/Fang Yun Lo, situation productions


aktuell

/ TdZ  September 2021  /

Linz Landestheater H. El Kurdi: Jenny Hübner greift ein (N. Neitzke, 16.09.); J. Hašek: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk (M. Rippert, 18.09.); S. Gössner: Mongos (T. Regele, 23.09.); T. Melle: Ode (P. Wittenberg, 24.09., ÖEA) Lübeck Theater S. Lem/Spielclub: Solaris (V. Türpe, 03.09.) München Teamtheater K. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (G. Büttel, 15.09.) Münster Wolfgang Borchert Theater G. Büchner: Woyzeck (T. Weidner, 09.09.) Neuss Rheinisches Landestheater L. Hall/T. Stoppard/M. Norman/C. Brocher: Shakespeare in Love (T. Goritzki, 11.09.); P. Waechter: Rosi in der Geisterbahn (G. Lukas, 19.09.) Nürnberg Staatstheater I. McArthur/ n. J. Austen: Stolz und Vorurteil* (*oder so) (C. Brey, 17.09.); dura & kroesinger: Saal 600: Spurensuche (H. Kroesinger/R. Dura, 25.09., UA); n. J. Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah (C. Haas, 26.09.) Osnabrück Theater O. Wenzel: 1000 Serpentinen Angst (R. David, 10.09.); S. Stephens: Fortune (C. Schlüter, 18.09., DEA); J. v. Leeuwen: Als mein Vater ein Busch wurde (F. A. Engel, 25.09.); Parchim Mecklenburgisches Staats­ theater K. Eppler: Die bleiche Sophie (E. Thalmann, 06.09.); A. ­ Sthers/M. Spillemaecker: Der Familienrat (18.09., DEA); D. Zipfel: Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte (J. Kracht, 23.09.) Rendsburg Landestheater P. Schanz: Der Leibarzt, sein König und beider Frau (W. Hofmann, 04.09., UA); F. Schiller: Kabale und Liebe (A. Marusch, 18.09.) Rostock Volkstheater F. Rame/D. Fo: Offene Zweierbeziehung (S. J. Fischer, 11.09.) Rudolstadt Theater E. Gedeon: Ewig jung (S. Mensching, 18.09.) Schleswig Landestheater D. Napp: Dr. Brumm geht wandern (S. Langmack, 05.09.) Schwedt/Oder Uckermärkische Büh­ nen V. Ludwig: Linie 1 (R. Simon, 11.09.); G. Orwell/P. Hall: Farm der Tiere (S. Hilberger, 17.09.) Schwerin Mecklenburgisches Staats­ theater K. Eppler: Die bleiche Sophie (E. Thalmann, 12.09.); J. Prévert: Kinder des Olymp (24.09.)

St. Gallen Theater B. Schmid-Gugler: HotSpotOst – Sankt Irgendwo im Nirgendwo (J. Knecht, 15.09., UA); W. Shakespeare/M. Biel: Julia und Romeo (M. Biel, 25.09.) Stralsund Theater Vorpommern M. Delaporte/A. d. l. Patellière: Der Vorname (A. Salzmann, 18.09.) Stuttgart Schauspiel A. Veiel/J. Doberstein: Ökozid. Ein Modellversuch (B. C. Kosminski, 24.09., UA); R. Schimmelpfenning: An und Aus (B. C. Kosminski, 25.09.) Ulm Theater J. v. Düffel: Antigone (J. Brandis, 17.09., UA); B. Brecht: Leben des Galilei (J. Taylor, 25.09.); C. Van Kerckhoven/S. Pardula/G. Chailly: Katz und Maus (C. Van Kerckhoven, 26.09., UA) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle U. Plenzdorf: Die Legende von Paul und Paula (B. Dethier, 17.09.); G. Brant: Am Boden (S. Kowski, 18.09.) Wien Burgtheater E. Jelinek: Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! (F. Castorf, 04.09., ÖEA); F. Schiller: Maria Stuart (M. Kušej, 05.09., ÖEA); W. Shakespeare: Richard II. (J. Simons, 09.09.); E. Placey: Mädchen wie die (M. Stadler, 17.09.); P. Handke: Zdeněk Adamec (F. Castorf, 18.09.); S. Magal: (Ob)Sessions (S. Magal, 22.09., UA); M. Gorki/S. Stone: Komplizen (S. Stone, 26.09., UA); Kosmos Theater M. Michalek: Koralli Korallo (M. Michalek, 14.09., UA) Zürich Schauspielhaus W. Tsang: Orpheus (W. Tsang, 10.09.); F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (N. Stemann, 17.09.)

Spielzeit 2021/22

HERZ DER STADT GROSSES HAUS

jedermann (stirbt) von Ferdinand Schmalz, R.: Servé Hermans, Premiere: 02.10.21

Hedwig and the Angry Inch von John Cameron Mitchell, R.: Philipp Moschitz, Premiere: 22.10.21

Lola von R. W. Fassbinder, R.: Mareike Mikat, Premiere: 04.12.21 Max und Moritz (UA) nach Wihelm Busch, R.: Ekat Cordes, Premiere: 29.01.22

Die Nashörner von Eugène Ionesco, R.: Claus Peymann, Premiere: 25.02.22 »Was ihr wollt« von William Shakespeare, R.: Philipp Moschitz, Premiere: 26.03.22

Vor Sonnenaufgang von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann, R.: Jochen Schölch, Premiere: 29.04.22 Spezial: Marjorie Prime (DSE),

R.: Servé Hermans, Premiere: 14.05.22

KLEINES HAUS Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist, R.: Schirin Khodadadian, Premiere: 15.10.21 In den Gärten oder Lysistrata Teil 2

Schauspiel von Sibylle Berg, R.: Mona Sabaschus, Premiere: 10.12.21

Paarlaufen II oder Mindestens sechs Personen rennen nach dem Glück, doch das Glück, wie Brecht schon sagte, rennt hinterher (UA), R.: Niko Eleftheriadis, Premiere: 26.01.22

Tyll nach dem Roman von Daniel Kehlmann, R.: Alexander Nerlich, Premiere: 02.04.22

FREILICHT IM TURM BAUR Immer wieder wächst das Gras - Die Lieder des Gerhard Gundermann R.: Heiner Kondschak, Premiere: 24.06.22

JUNGES THEATER Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin

von Roland Schimmelpfennig, R.: Julia Mayr, Premiere: 09.10.21 FESTIVALS Saarbrücken Überzwerg – Theater am Kästnerplatz Spielstark – 20. Kinder-, Jugend- und Familien­ theaterfestival (24.09.–09.10.)

Drei Haselnüsse für Aschenbrödel von Václav Vorlícek u. František Pavlícek, R.: Marcelo Diaz, Premiere: 20.11.21 Die Verwandlung von Franz Kafka, R.: Markolf Naujoks, Premiere.: 03.12.21

All das Schöne (Every Brilliant Thing) von Duncan Macmillan, R.: Johanna Landsberg, Premiere: 22.01.22

Ein Freund wie kein anderer (UA) von Oliver Scherz u. Barbara Scholz, R.: Martina van Boxen, Premiere: 05.03.22

Himmelwärts (UA) von Karen Köhler, R.: Mia Constantine, Premiere: 16.04.22

Zwei vor eins zurück – oder warum Dein Rock älter ist als Du (UA) TdZ ONLINE EXTRA

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Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de

von Katharina Schlender, R.: Ulrike Hatzer, Premiere: 30.04.22

Die Sprache des Wassers von Sarah Crossan, R.: Mia Constantine

Stadttheater Ingolstadt

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impressum/vorschau

Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien Luna Ali, Autorin, Berlin Otto Paul Burkhardt, Theater- und Musikkritiker, Tübingen Friedrich Dieckmann, Schriftsteller, Essayist und Kritiker, Berlin Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Viola Hasselberg, Dramaturgin, München Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Heinz-Norbert Jocks, Journalist, Düsseldorf Renate Klett, freie Autorin, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Ute Nyssen, Bühnenverlegerin und Kritikerin, Köln Johannes Odenthal, Programmbeauftragter der AdK, Berlin Theresa Schütz, freie Autorin und Theaterwissenschaftlerin, Berlin Lara Wenzel, freie Autorin, Leipzig Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin Lina Wölfel, freie Autorin, Hildesheim TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2021/09

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de

Vorschau Münchner Volkstheater. Foto Baureferat

AUTORINNEN UND AUTOREN September 2021

Neustart Endlich ist es so weit: Das Münchner Volkstheater bezieht auf dem ehemaligen Viehhof-Gelände sein neues Domizil – eine Erfolgsstory mit langer Vorgeschichte: „Wenn ich im Rohbau stehe, denke ich manchmal an 2001 zurück. Damals hat die Stadt noch über die Schließung des Volkstheaters nachgedacht“, erinnert sich Intendant Christian Stückl im umzugsbegleitenden NeubauBlog auf der Website des Hauses. Nun aber wird den Theater­ macherinnen und Theatermachern nicht nur mehr Platz zur Verfügung stehen, sondern auch eine der modernsten Bühnen Deutschlands. Logisch, dass damit jede Menge Visionen verbunden sind. Eine theater- wie tanzbegeisterte Studentin träumt auf dem Theaterblog zum Beispiel von einer Rutsche, die vom Dach des Volkstheaters zum postperformativen Feiern direkt in den Bahnwärter führt, einen benachbarten Technoklub. Christoph Leibold wird berichten, welche Wünsche zur Eröffnung wahr geworden sind.

Mitarbeit Annette Dörner, Claudia Jürgens (Korrektur), Martin Müller (Assistenz), Ricarda Hillermann (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Elena Corsi +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 76. Jahrgang. Heft Nr. 9, September 2021. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 04.08.2021 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

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Festival In Deutschland haben weiße Nächte ja leider Seltenheitswert. Dafür kommen sie auf symbolische Art auf die Bühne: Unter dem Motto „Weiße Nächte“ veranstaltet das Theater an der Ruhr in Mülheim ein Festival zum Thema Klimawandel. Beim Schwerpunkt „Retour Natur“ stehen entsprechend akute Fragen im Raum: Kann es für uns ein „Zurück zur Natur“ geben – und wenn ja, wie? Oder wird die Natur sich ohnehin ihr Rückkehrrecht nehmen, ganz ungeachtet des Homo sapiens? Welche Antworten die Performances, Audiowalks und Ausstellungen des Festivals darauf geben, lesen Sie im Oktoberheft. Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Oktober 2021.

„Onkel Wanja“ in der Regie von Philipp Preuss (Theater an der Ruhr). Foto F. Götzen

/ TdZ  September 2021  /


Was macht das Theater, Ulrich Matthes? Herr Matthes, die Amazon Studios haben

Figur dann besonders authentisch wird,

jüngst neue Richtlinien für Diversity

wenn beispielsweise ein schwuler Schau-

­beschlossen, unter anderem sollen jetzt

spieler einen Schwulen spielt. Es ist doch

nur noch Schauspielerinnen und Schau-

die Begabung eines schauspielenden Men-

spieler engagiert werden, „deren Identität

schen, sich mittels Empathie, mittels Fan-

­(Geschlecht, Geschlechtsidentität, Natio­

tasie in eine oder einen anderen zu verset-

na­lität, Ethnizität, sexuelle Orientierung,

zen! Von mir aus auch genderübergreifend,

Behinderung) mit den Figuren, die sie

ich würde gerne mal Penthesilea spielen –

spielen, übereinstimmt“. Ganz grundsätz-

wenn sie mir noch mal angeboten würde

lich: Was halten Sie davon?

wie vor 15 Jahren von Jürgen Gosch, wozu

Das ist eine Mischung aus einem Witz

es leider nicht gekommen ist.

und einer Katastrophe – weil es komplett die wunderbare, jahrtausendealte Pro-

In der Amazon-Logik wäre mit der Übernahme

fession der Schauspielerei infrage stellt.

einer queeren Rolle zwangsläufig ein Outing

Das Gegenteil dessen wird damit erwirkt,

verbunden. Auch nicht unproblematisch, oder?

was ich so berückend und auch politisch

1997 habe ich den Lover von Hölderlin

relevant an unserem Beruf finde: näm-

gespielt, in dem historischen Film „Feuer-

lich, dass er eine lebenslange Beschäf­

reiter“. Für die Rolle habe ich den Bayeri-

tigung mit und eine Aufforderung zur

schen Filmpreis bekommen, es hat mir

Empathie ist. Diese Amazon-Richtlinie

also nicht geschadet. Die Sexualität von

regt gerade nicht mehr dazu an, sich mit

Rollen ist mir wurscht, sogar meine eigene

der Gedanken- und Gefühlswelt eines

Sexualität. Ich habe sie einfach! Ich würde

fremden Menschen auseinanderzuset-

auch einen homophoben Menschen spie-

zen, sie für sich selbst für möglich zu halten. Ganz abgesehen davon: Wie soll das praktisch umsetzbar sein? Man kann doch nicht alle Schauspielerinnen und Schauspieler einem Orwell’schen Lügen­ detektortest unterziehen: Bist du wirklich queer, bist du hetero? Das erklärte Ziel der Amazon Studios ist es, authentische Geschichten zu erzählen. Ein Kommentar in der Zeit hält dagegen mit Diderots „Paradox über den Schauspieler“, das mit der Vorstellung bricht, Wahrhaftigkeit entstünde dort, wo Schauspielerinnen und Schauspieler wirklich fühlen, was sie spielen …

Um für mehr Diversität, Inklusion und Gerechtigkeit in der Filmproduktionsbranche zu sorgen, haben die Amazon Studios weitreichende identitätspolitische Leitlinien festgelegt: ein Thema, das auch das Theater umtreibt. Wir sprechen darüber mit Ulrich Matthes, der als Bühnen- und Filmschauspieler gleichermaßen Erfolge feiert und vielfach ausgezeichnet wurde, etwa mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring, dem Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung, dem Bayerischen Filmpreis oder dem Grimme-Preis. 1959 in Berlin (West) geboren, ist Matthes seit 2004 festes Ensemblemitglied des Deutschen Theaters Berlin und seit 2019 Präsident der Deutschen Filmakademie. Foto privat

len, wenn die Figur interessant ist. Ich hoffe weiterhin, dass mir alles angeboten wird, obwohl es leider nach wie vor Schubladendenken gibt. Aber das hat nicht nur mit Diversity zu tun. Zumindest steckt ja hinter den Richtlinien eine gute Absicht: mehr Zugänge für Minderheiten und Diskriminierte zu schaffen. Aber diese gute Absicht könnte man anders umsetzen – nämlich indem man ganz grundsätzlich Schwarze Schauspielerinnen und Schauspieler oder Schauspie­ lerinnen und Schauspieler mit Migra­ tionsgeschichte in Rollen besetzt, die gar nichts mit Hautfarbe oder Herkunft zu tun

Ich will keine Forderungen für die

haben. Daran hindert doch auch niemand

Schauspielerei stellen, jede und jeder

die Amazon Studios. Wie heißt das Sprich-

soll nach ihrer oder seiner Fasson glück-

wort? Gut gemeint ist dumm getan. Das

lich werden. Ich selbst glaube daran, dass

An der Debatte hängen ja identitätspolitische

man – wenn wir vom Theater reden – in dem

Fragen, die teilweise auch im Kontext von „Act­

langen Prozess der Proben eine bestimmte

Out“ aufgekommen sind, der Initiative für mehr

Muss man Forderungen nach Gerechtigkeit nicht

Übereinkunft mit den Kolleginnen und Kolle-

Sichtbarkeit queerer Menschen im Kultur­

erst mal ins Extrem überziehen, damit in der

gen sowie der Regie erzielt, was für eine Sze-

betrieb, die Sie auch unterstützen.

­Folge etwas Vernünftiges entsteht?

ne oder Situation formal, gedanklich, emotio-

Aber auch bei „ActOut“ war mir das wichtigs-

Nein. Quatsch wird doch dadurch nicht bes-

nal das vermeintlich Angemessene oder uns

te Anliegen: Jede und jeder soll alles spielen

ser, dass er extrem formuliert ist. Sowohl als

allen Einleuchtende ist. Das stellt man mit

können! Natürlich weiß ich, dass in unserer

privater Uli als auch in meiner Position als

einer Form von Konzentration, Spiellust,

Branche noch immer manchmal gemunkelt

Präsident der Filmakademie bin ich sehr da-

auch mit emotionalem Klimperkram her –

wird: Die oder der ist lesbisch oder schwul,

für, Diversity in allen Bereichen zu stärken.

aber es bleibt natürlich ein Spiel. Das Ver-

kann sie die Mutti mit fünf Kindern oder kann

Aber die Amazon-Richtlinie trägt dazu nichts

senktheater ist nicht meine Welt. Insofern

er den Familienpapi spielen? Ich glaube umge-

bei. //

habe ich Sympathien für Diderot.

kehrt aber überhaupt nicht daran, dass eine

trifft es in diesem Fall.

Die Fragen stellte Patrick Wildermann.



Zeitschrift für Theater und Politik

Abo-Vorteile

Der Dramatiker Andrej Kurejtschik über die Lage in Belarus / Ulrich Matthes über Identitätspolitik Volksbühne ohne Vinge & Müller? / Kunstinsert Mariechen Danz / Ralph Hammerthaler zu Castorfs 70.

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EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

September 2021 • Heft Nr.9

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Theater der Zeit September 2021

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auftritt

/ TdZ  März   Januar  2018 2020 / /

Buchverlag Neuerscheinungen

„Interesse versus Engagement: eine der großen Konfliktlinien unserer Zeit, ein Dauerthema im 21. Jahrhundert.“ Wolfgang Engler In seinem Essay analysiert Wolfgang Engler die abstrakte Wahrheit, die die Funktionslogik des Systems zur Norm erhebt, und er sucht nach Spuren einer konkreten – einer anderen – Wahrheit. Sie berichtet von dem, was man nicht zu tun bereit ist, weil man die ausgrenzende Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdinteresse, auf der das Spiel beruht, nicht mitmacht.

Wut ist eine allen Menschen vertraute Emotion und ihre individuelle und gesellschaftliche Einhegung ein mühsamer Lernprozess. Ist die Wut grenzenlos, droht der gesellschaftliche Kollaps. Erlahmt sie, droht Stillstand. Bernd Stegemann zeigt in seinem brillanten Essay, wie eine Wutkultur die Balance zwischen Produktivität und Negativität finden muss, damit wir in den Stürmen des 21. Jahrhunderts nicht untergehen.

Wolfgang Engler Die andere Wahrheit

Bernd Stegemann Wutkultur

Leinengebundenes Hardcover mit 100 Seiten ISBN 978-3-95749-363-7 EUR 12,00 (print). EUR 9,99 (digital)

Leinengebundenes Hardcover mit 100 Seiten ISBN 978-3-95749-341-5 EUR 12,00 (print). EUR 9,99 (digital)

Dieses Buch resümiert die künstlerische Entwicklung des Stadttheaters Plauen-Zwickau und dessen kulturelle Bedeutung für die Region im Kontext erster politischer und gesellschaftlicher Krisen des 21. Jahr­ hunderts. Der scheidende Generalintendant wirft einen Blick zurück auf die vergangenen 13 Jahre des Theaters in der Spitzenstadt Plauen und der Automobilstadt Zwickau.

Kanada ist flächenmäßig der zweitgrößte Staat der Erde. Das Land zwischen Atlantik, Pazifik und arktischem Ozean zeichnet sich durch ein relativ stabiles Sozialsystem, eine sprichwörtliche Toleranz sowie durch eine funktionierende staatliche Kulturförderung aus. Gleichzeitig grollt es unter der Oberfläche. Die kulturelle Landschaft Kanadas befindet sich in einem strukturellen Wandel. Diese Spezialausgabe von Theater der Zeit porträtiert die aktuelle Theaterlandschaft Kanadas.

Präsentation am 03.09. (Gewandhaus Zwickau) und 04.09.2021 (Theater Plauen)

Präsentation am 24.09.2021, Kanadische Botschaft Berlin

Theater Plauen-Zwickau Die Intendanz Roland May 2009–2022

Theater der Zeit Spezial Kanada

Taschenbuch mit 120 Seiten ISBN 978-3-95749-368-2 EUR 10,00 (print). 7,99 (digital)

Heft mit 64 Seiten ISBN 978-3-95749-301-9 EUR 8,00 (print). EUR 7,00 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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21/ 22 28.08.21 Der Wunderheiler von Brian Friel

09.09.21 Wutschweiger

von Jan Sobrie & Raven Ruëll ab 11 Jahren

11.09.21 Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe

04.11.21 Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin von Roland Schimmelpfennig ab 6 Jahren

12.11.21 Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel von Theresia Walser

10.12.21 Struwwelpeter (Shockheaded Peter) Musical von den Tiger Lillies

20.01.22 Hier kommt keiner durch! von Isabel Minhós Martins / ab 3 Jahren

12.02.22 Woyzeck von Georg Büchner

03.03.22 Die Bademattenrepublik nach Motiven von Valerie Wyatt / ab 6 Jahren

09.04.22 Schleifpunkt

von Maria Ursprung DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG

05.05.22 compYOUte

ein partizipatives Theaterspiel von Kathia von Roth/ ab 14 Jahren URAUFFÜHRUNG

11.06.22 Tannöd

von Andrea Maria Schenkel

www.theater-paderborn.de


MK: 21/22 Premieren im Sep & Okt Effingers

Regie: Jan Bosse Premiere: 18.9.2021

Los Años / Die Jahre

Text & Regie: Mariano Pensotti Premiere: 24.9.2021 某种类似于我的地洞:心室片段

Heart Chamber Fragments Regie: Tian Gebing Premiere: 7.10.2021

Like Lovers Do (Memoiren der Medusa) Regie: Pınar Karabulut Premiere: 9.10.2021

Frau Schmidt fährt über die Oder Text & Regie: Anne Habermehl Premiere: 19.10.2021

Heidi weint – Eine Gefühls­ versammlung

Regie: Nele Jahnke Premiere: 23.10.2021

muenchner­ kammerspiele.de


© LSD


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