Theater der Zeit 10/2021 – Angst und Widerstand. Thema Afghanistan

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Flucht aus Kabul: Die Afghan Girls Theater Group / Sebastian Blomberg zu den Folgen von 9/11 Kunstinsert Luis August Krawen / Abschiedstour: Angela Merkel trifft Chimamanda Ngozi Adichie

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Oktober 2021 • Heft Nr.10

Angst und Widerstand Thema Afghanistan


Schauspielhaus Züri 2021 / 2022 ch Premieren / Premiere es Orpheus

Von / By Moved by the Motion Inszenierung / Staging: Wu Tsang Premiere: 10. September 2021, Schiffbau-Box Unterstützt von / Supported by Luma Foundation

König der Frösche

Von / By Nicolas Stemann Nach dem Märchen / After the fairytale Der Froschkönig der / of Gebrüder Grimm Inszenierung / Staging: Nicolas Stemann Uraufführung / World premiere: 13. November 2021, Pfauen Auch interessant für Menschen ab 8 / Also interesting for ages 8 and up Unterstützt von / Supported by Swiss Re

Kurze Interviews mit fiesen Männern – 22 Arten der Einsamkei t Monkey off My Back Nach / After David Foster Wallace Inszenierung / Staging: Yana Ross or the Cat’s Meow Premiere: 11. September 2021, Schiffbau-Halle

Der Besuch der alten Da m Von / By Friedrich Dürrenmatt Inszenierung / Staging: Nicolas Stemann e

Premiere: 17. September 2021, Pfauen Unterstützt von / Supported by Charlotte Kerr-Dürrenmatt-Stiftung & Zürcher Kantonalbank

Before the Sky Falls

Nach / After Macbeth von / by William Shakespeare Inszenierung / Staging: Christiane Jatahy Uraufführung / World premiere: 27. Oktober 2021, Pfauen Eine Produktion des Schauspielhaus Zürich, in Kooperation mit CULTURESCAPES ♥ Affairs

born to shine

Von / By Sebastian Nübling & Ives Thuwis-De Leeuw Inszenierung / Staging: Sebastian Nübling, Ives Thuwis-De Leeuw Zürich-Premiere: 8. November 2021, Schiffbau-Box Koproduktion / A coproduction by junges theater basel mit / with Kaserne Basel, Schauspielhaus Zürich und / and HELLERAU, dem Europäischen Zentrum der Künste in Dresden Unterstützt von / Supported by Komplizen Klub des / of the Schauspielhaus Zürich Auch interessant für Menschen ab 14 / Also interesting for ages 14 and up

2122.schauspielhaus.ch

Von / By Trajal Harrell Inszenierung und Choreografie / Staging and choreography: Trajal Harrell Premiere: 3. Dezember 2021, Schiffbau-Halle

King Lear

Von / By William Shakespeare Inszenierung / Staging: Johan Simons Zürich-Premiere: 8. Dezember 2021, Pfauen Eine Übernahme vom / Transferring from Schauspielhaus Bochum ♥ Affairs

Der Ring des Nibelunge n Von / By Necati Öziri Inszenierung / Staging: Christopher Rüping Uraufführung / World premiere: 21. Januar 2022, Pfauen

Ein neues Stück

Von / By Fatima Moumouni & Laurin Buser Inszenierung / Staging: Suna Gürler Uraufführung / World premiere: Januar 2022, Schiffbau-Box Unterstützt von / Supported by Max Kohler Stiftung & Ernst Göhner Stiftung Auch interessant für Menschen ab 14 / Also interesting for ages 14 and up

Momo

Ein Visual Poem nach dem Roman von / A visual poem based on the novel by Michael Ende Inszenierung / Staging: Alexander Giesche Premiere: Februar 2022, Schiffbau-Halle

Eine neue Inszenierung Inszenierung / Staging: Nicolas Stemann Premiere: Februar 2022, Pfauen

The Deathbed of Katherine Dunham

Von / By Trajal Harrell Inszenierung und Choreografie / Staging and choreography: Trajal Harrell Premiere: März 2022, Kunsthalle Zürich In Kooperation mit / in cooperation with Kunsthalle Zürich The Deathbed of Katherine Dunham ist ein Teil der Trilogie / is part of the trilogy Porca Miseria, beauftragt durch das / commissioned by Schauspielhaus Zürich sowie / and Manchester International Festival, Onassis Stegi, Kampnagel Hamburg, Holland Festival, Barbican, Dance Umbrella, NYU Skirball, Berliner Festspiele & The Arts Center at NYU Abu Dhabi

Moby Dick

Moved by the Motion präsentiert / presents Moby Dick Nach / After: Herman Melville Inszenierung / Staging: Wu Tsang Premiere: März 2022, Pfauen In Kooperation mit dem / In cooperation with the Zürcher Kammerorchester In Koproduktion / In coproduction with deSingel, TBA21-Academy & Luma Foundation

Der Vater

Nach / After August Strindberg Inszenierung / Staging: Nicolas Stemann Zürich-Premiere: April 2022, Pfauen Eine Übernahme der / Transferring from Münchner Kammerspiele

Wilhelm Tell

Nach / After Friedrich Schiller Inszenierung / Staging: Milo Rau Premiere: April 2022, Pfauen Unterstützt von / Supported by Stiftung Corymbo ♥ Affairs

Räuberinnen

Nach / After Die Räuber von Friedrich Schiller Inszenierung / Staging: Leonie Böhm Zürich-Premiere: Frühjahr / Spring 2022 Ein Gastspiel der / A guest performance by Münchner Kammerspiele


Alice Ripoll | Cia Suave CRIA © Renato Mangolin

München 22.10. – 6.11.2021

Eine Initiative der Stadt München und der BMW Group

www.spielart.org


DIE MUTIGE MEHRHEIT VON ANTJE SCHUPP

DREITEILIGES PROJEKT, FÜR DESSEN KONZEPTION ANTJE SCHUPP MIT DEM JAKOB-MICHAEL-REINHOLD-LENZPREIS FÜR DRAMATIK DER STADT JENA AUSGEZEICHNET WORDEN IST UND DESSEN REALISATION ALS KOPRODUKTION VON THEATERHAUS JENA UND JENAKULTUR IM RAHMEN DES DEZENTRALEN THEATERPROJEKTS »KEIN SCHLUSSSTRICH!« ERFOLGT. AB 21. OKTOBER 2021

TEIL 1 // (UN)SICHTBARE SPUREN PREMIERE AUDIOVISUELLER WALK IM STADTRAUM JENA – TEIL 1 DER KONZEPTION »DIE MUTIGE MEHRHEIT« Die Spuren des NSU sieht man schwer. Trotzdem sind sie da. Du findest sie an Gebäuden, hinter Gardinen oder im Kopf Deines Gegenübers. Was sieht man, was will man (nicht) sehen? In diesem Teil des Projekts bist Du alleine in Jena unterwegs. Du lauschst einer Mischung aus Erzählung und Interviews, während Du Dich durch die Stadt bewegst und entscheidest, ob Du lieber Spuren hinterlassen oder (un)sichtbare Spuren suchen willst. Konzeption + Text + Umsetzung: Antje Schupp · Veranstalter: Theaterhaus Jena · Kooperateur: JenaKultur · Mit Unterstützung des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte Matthias Domaschk

30. + 31. OKTOBER 2021

TEIL 2 // DEUTSCHKUNDE 2021

PREMIERE

ZWEITÄGIGES PANEL – TEIL 2 DER KONZEPTION »DIE MUTIGE MEHRHEIT« Wir verlernen Deutsch gemeinsam! »Deutschkunde 2021« ist Pflichtfach der Zukunft und freiwilliges Nachsitzen in Sachen Landeskunde. Du bist herzlich eingeladen, Dich einzubringen, zuzuhören, zu lernen und Dein Wissen und Unwissen über Deutschland zu teilen. Aber Vorsicht: unsere Expert*innen stellen womöglich Deine Perspektive auf den Kopf. Konzeption + Umsetzung: Antje Schupp + Necati Öziri · Ausstattung: Christoph Rufer · Veranstalter: Theaterhaus Jena · Kooperateur: JenaKultur Die »Deutschkunde 2021« beinhaltet Workshops, Vorträge, Gespräche und Filme. Als Gäste begrüßen wir u.a.: Elif und Gamze Kubaşık, Max Czollek, NSU Komplex auflösen Jena, Mark Terkessidis. Den kompletten Stundenplan finden Sie ab Oktober unter: www.theaterhaus-jena.de Premiumpartner: Stadtwerke Energie Jena-Pößneck GmbH · Projekt »Kein Schlussstrich!« + Licht ins Dunkel e. V.

AB 30. OKTOBER 2021

TEIL 3 // DIE MUTIGE MEHRHEIT ANALOG-DIGITALES KETTENBRIEFPROJEKT – TEIL 3 DER KONZEPTION »DIE MUTIGE MEHRHEIT« Der dritte und gleichnamige Teil des Projekts »Die mutige Mehrheit« ist ein analog-digitales Kettenbriefprojekt, das unterschiedliche Stimmen dazu einfängt, wie wir unsere Zukunft einer mutigen Mehrheit gestalten wollen. Hier müsst Ihr Farbe bekennen und Euch gegenseitig inspirieren. Konzeption: Antje Schupp · Veranstalter: Theaterhaus Jena · Kooperateur: JenaKultur


editorial

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B

Jahre

Theater der Zeit

Extra Der Aboauflage liegt bei

IXYPSILONZETT – Das Magazin für Kinder- und Jugendtheater

In eigener Sache Aufgrund der Corona-Pandemie kann es bei der Auslieferung von Theater der Zeit zu Ver­­zöge­rungen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

is vor Kurzem traf sich die Afghan Girls Theater Group, ein Kollektiv junger Schauspielerinnen zwischen 16 und 23 Jahren, einmal wöchentlich in ihrem Probenraum in Kabul, um an Inszenierungen zu arbeiten, die sich mit der Situation der Frauen in Afghanistan auseinandersetzen. Oft spielten sie fernab konventioneller Bühnen, eigneten sich öffentliche Räume an und kämpften so auch gegen die soziale Stigmatisierung, der sich Schauspielerinnen in Afghanistan aufgrund ihres Berufes ausgesetzt sehen. Mit der gewaltsamen Machtübernahme der Taliban fand die Arbeit der Afghan Girls Theater Group – wie die vieler Künstlerinnen und Künstler generell – ein abruptes Ende. Die Theaterwissenschaftlerin Hannah Neumann, die über die letzten Wochen hinweg unentwegt mit den jungen Frauen im Kontakt stand, berichtet in unserem Schwerpunkt zum Thema Afghanistan von dramatischen SMS-Wechseln, ihrem verzweifelten Verfassen von Evakuierungslisten mit stetem bangen Seitenblick aufs Handy, ob die Luftbrücke noch steht – und wirft dabei auch kritische Fragen an die Bundesregierung sowie an einige Praktiken des internationalen Kulturaustauschs auf. Über Letzteren berichtet ausführlich der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts Kabul Ibrahim Hotak im Gespräch mit Patrick Wildermann – während sich der Theaterwissenschaftler Matt Cornish dem Thema aus der US-amerikanischen Perspektive nähert und dezidiert das Versagen des Westens in den Blick nimmt: Wo sind die Anti-Kriegs-Stücke, und welche Narrative dominieren eigentlich die westliche Auseinander­ setzung mit Afghanistan? Ein besonderer Spezialist für die Frage, wie die amerikanische (und natürlich auch die europäische respektive speziell die deutsche) Außenpolitik im Kunst- und Kulturbetrieb reflektiert werden, ist der Schauspieler Sebastian Blomberg. Er spielt zurzeit gleich in mehreren Produktionen, die die Schuld des Westens an den Kriegen in Afghanistan und im Irak thematisieren und hat über seinen Politiker-Rollenstudien – in Hamburg steht er zum Beispiel in Rainald Goetz’ Stück „Reich des Todes“ als Dick Cheney auf der Bühne – auch eine entsprechende Expertise in der Ein­ ordnung von Regierungsstilen generell entwickelt. „Dieser Politikertypus des Aushalters, des Aus­ sitzers, des Weglächlers, wie ihn Merkel verkörperte, ist scheinbar der erfolgreichste“, resümiert er im ­Gespräch mit Dorte Lena Eilers und klagt: „Leute, die sich wirklich trauen, einen Politikwechsel einzufordern, kriegen auf die Zwölf.“ Angela Merkel ist nun seit dem 26. September als Regierungschefin definitiv und endgültig Geschichte – nachdem sie einen ihrer letzten Auftritte als Bundeskanzlerin tatsächlich in einem ­Theater bestritten hatte! Martin Krumbholz beobachtete sie im Düsseldorfer Schauspielhaus im ­Gespräch mit der Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie und berichtet, dass es außer um Feminismus, Nigeria und die DDR auch um die Frage ging, ob die Literatur uns eigentlich zu besseren Menschen macht. Woran sich natürlich nahtlos diejenige anschließen ließe, ob uns auch die Politik zu einer ­besseren Gesellschaft machen wird – sprich, ob mit der neuen Bundesregierung in der Post-MerkelÄra die richtigen Zukunftsweichen gestellt werden. An der Kunst soll’s jedenfalls nicht scheitern: Dietmar Dath denkt mit seinem Sci-Fi-Theaterstück „Restworld“, das wir in dieser Ausgabe drucken, weit voraus und imaginiert eine (vielleicht nicht mehr ganz so ferne) Welt, in der die Maschinen ­immer menschlicher und die Menschen immer automatischer werden. Der Theater-Video-Künstler Luis ­August Krawen, den wir im Künstlerinsert vorstellen, entwirft schon heute die digitalen Bildwelten von morgen. Das Berliner Theater-Architektur-Kollektiv raumlabor, das Patrick Wildermann porträtiert, hat soeben den Goldenen Löwen der Architekturbiennale Venedig für die „Floating University“ gewonnen, ein Projekt, das mit neuen Strukturen für unser Zusammenleben experimentiert – wie übrigens, auf eine ganz andere Art, auch Christopher Rüpings Inszenierung des Monats, „Das neue Leben“ nach Dante Alighieri, in der die Persönlichkeiten der Mitwirkenden mit ihren unterschied­ lichen Sozialisationen und Verwurzelungen im Mittelpunkt stehen. Die Theaterfestivals von Hamburg über Mülheim bis Zürich beweisen mit Produktionen zu Umwelt, Klimawandel oder Feminismus ebenfalls thematische Gesellschaftsrelevanz. Und, ganz wichtig: Sie öffnen, wie Daniele Muscionico aus der Schweiz berichtet, auch geografisch den Blick weit über den eigenen Tellerrand hinaus – so wie unser Kolumnist Ralph Hammerthaler, der sich diesmal aus Pristina meldet, um von Alida Bremer zu erzählen, der „sprühendsten Frau der Balkanliteratur“. Die Redaktion

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Inhalt Oktober 2021 thema afghanistan

15

Hannah Neumann Steht die Luftbrücke noch? Afghanistan sollte eine Erfolgsgeschichte des Westens werden, vor allem für die Frauen – aber nicht nur der Politik, sondern auch dem Kulturaustausch fehlte es an Ernst, Tiefe und Nachhaltigkeit

20

Man kann nicht sagen, dass alles umsonst war Ibrahim Hotak, der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts Kabul, über die afghanische Theaterlandschaft, die kulturelle Aufbruchstimmung Mitte der nuller Jahre und die Kunst als Aufklärungsinstrument im Gespräch mit Patrick Wildermann

24

Matt Cornish Wo sind die Anti-Kriegs-Stücke? Die westliche Politik hat in Bezug auf Afghanistan versagt – aber wie steht es um die Theater- und Kulturszene? Ein Report aus den USA

27

Im Reich der Lügen Der Schauspieler Sebastian Blomberg über seine Rolle in Rainald Goetz´ Stück „Reich des Todes“ und Johannes Nabers Film „Curveball“, die der Schuld des Westens an den Kriegen in Afghanistan und im Irak nachgehen, im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

16

künstlerinsert

8

Videoarbeiten von Luis August Krawen

12

Daniele Muscionico Der mit Pixeln malt Experimentalfilm, Video, bildende Kunst: Luis August Krawen beherrscht alles – und macht damit rasant Karriere

protagonisten

32

Martin Krumbholz Wir schaffen das! Angela Merkel und Chimamanda Ngozi Adichie sprechen im Düsseldorfer Schauspielhaus über Feminismus, Nigeria, die DDR und die Frage, ob die Literatur uns zu besseren Menschen macht

aktuelle inszenierung

34

Martin Krumbholz Ich fang jetzt noch mal ganz anders an Christopher Rüping zeigt „Das neue Leben“ nach Dante Alighieri in Bochum als Mashup mit Meat Loaf und Britney Spears

neuerscheinungen theater der zeit buchverlag

37

Thomas Oberender Das Format als Werk

festivals

41

Daniele Muscionico Kann Liebe ein Virus sein? Das Zürcher Theaterspektakel öffnet Fenster in die Welt – und war selten so notwendig wie in pandemischen Zeiten

43

Martin Krumbholz In den Wald, in die Pfützen Das Festival Weiße Nächte am Mülheimer Theater an der Ruhr setzt sich mit den Tücken der Natur auseinander

45

Theresa Schütz Durch den Schornstein auf die Metaebene Das Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg präsentiert ein Best-of der zeitgenössischen Bühnenkunst


PREMIEREN 21/22

/ TdZ  Oktober 2021  / 19. September 2021, Residenztheater Uraufführung/Auftragswerk

UNSERE ZEIT

von Simon Stone nach Motiven von Ödön von Horváth Inszenierung Simon Stone 24. September 2021, Marstall

CYRANO DE BERGERAC

nach Edmond Rostand in einer Bearbeitung für zwei Einsamkeiten von Federico Bellini und Antonio Latella Inszenierung Antonio Latella 26. September 2021, Residenztheater

DIE TRÄUME DER ABWESENDEN

Eine Trilogie («Leas Hochzeit» – «Heftgarn» – «Simon») von Judith Herzberg Inszenierung Stephan Kimmig 8. Oktober 2021, Marstall Uraufführung

ES WAREN IHRER SECHS

frei nach dem gleichnamigen Roman von Alfred Neumann in einer Bearbeitung von Tomasz Śpiewak

10. Oktober 2021, Cuvilliéstheater Uraufführung/Auftragswerk

DIE WOLKEN, DIE VÖGEL, DER REICHTUM

15. Januar 2022, Residenztheater Deutschsprachige Erstaufführung

DAS VERMÄCHTNIS THE INHERITANCE von Matthew Lopez frei nach dem Roman «Howards End» von E. M. Forster Inszenierung Philipp Stölzl

28. Januar 2022, Cuvilliéstheater Uraufführung/Auftragswerk

LOLA M.

Eine abenteuerliche Oper von Georg Ringsgwandl Inszenierung Georg Ringsgwandl 11. Februar 2022, Marstall

DER DRANG

Volksstück von Franz Xaver Kroetz Inszenierung Lydia Steier 5. März 2022, Residenztheater

GIER UNTER ULMEN

von Eugene O'Neill Inszenierung Evgeny Titov

25. März 2022, Residenztheater Deutschsprachige Erstaufführung

DIE KOPENHAGENTRILOGIE nach den Romanen «Kindheit» – «Jugend» – «Abhängigkeit» von Tove Ditlevsen in einer Bearbeitung von Tom Silkeberg Inszenierung Therese Willstedt

8. April 2022, Residenztheater

SPIEL DES LEBENS

von Thom Luz nach Motiven von Aristophanes Inszenierung Thom Luz

Die Kareno-Trilogie von Knut Hamsun Inszenierung Stephan Kimmig

21. Oktober 2021, Marstall

29. April 2022, Residenztheater

URTEILE (REVISITED) – NACH DEM PROZESS

Ein dokumentarisches Theaterprojekt über die Opfer des NSU in München von Christine Umpfenbach und Azar Mortazavi Inszenierung Christine Umpfenbach 22. Oktober 2021, Residenztheater

GRAF ÖDERLAND

Eine Moritat in zwölf Bildern von Max Frisch Inszenierung Stefan Bachmann

18. November 2021, Cuvilliéstheater

TARTUFFE ODER DAS SCHWEIN DER WEISEN von PeterLicht nach Molière Inszenierung Claudia Bauer

14. Mai 2022, Marstall Uraufführung/Auftragswerk

DER SCHIFFBRUCH DER FREGATTE MEDUSA

AGNES BERNAUER

von Franz Xaver Kroetz Inszenierung Nora Schlocker

von Alexander Eisenach nach dem historischen Bericht von Jean Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard Inszenierung Alexander Eisenach

20. November 2021, Marstall

21. Mai 2022, Cuvilliéstheater

DIE UNERHÖRTEN

TECHNOIDE LIEBESBRIEFE FÜR ANTIKE HELDINNEN nach Sappho, Ovid, Euripides u. a. Inszenierung Elsa-Sophie Jach

27. November 2021, Marstall Uraufführung/Auftragswerk

MARIENPLATZ von Beniamin M. Bukowski Inszenierung András Dömötör

BLUTHAUS

Oper von Georg Friedrich Haas Libretto von Händl Klaus Musikalische Leitung Titus Engel Inszenierung Claus Guth Juni 2022, Residenztheater

ENGEL IN AMERIKA

von Tony Kushner Inszenierung Simon Stone Stand Juli 2021 #wasistlosimresi residenztheater.de


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PLATONOW | ANTON TSCHECHOW | REGIE: PETER CARP | 08.10.21 DAS KALTE HERZ | MARTYN JAQUES NACH WILHELM HAUFF | UA | REGIE: MICHAEL SCHACHERMAIER | 15.10.21 HEDDA GABLER | HENRIK IBSEN | REGIE: LYDIA BUNK | 16.10.21 DIE SEUCHE | MAHIN SADRI, AMIR REZA KOOHESTANI NACH CAMUS | UA | REGIE: AMIR REZA KOOHESTANI | 22.10.21 DAMASKUS 2045 | MOHAMMAD AL ATTAR | DSE | REGIE: OMAR ABUSAADA | 19.11.21 ORPHEUS UND EURYDIKE | UA | REGIE: ERNA ÓMARSDÓTTIR | DEZEMBER 21 MEDEA | SIMON STONE NACH EURIPIDES | REGIE: KAMILĖ GUDMONAITĖ | JANUAR 22 AM ENDE LICHT | SIMON STEPHENS | REGIE: PETER CARP | FEBRUAR 22


inhalt

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protagonisten

48

Patrick Wildermann Die Stadt als Spielfeld Für ihre Berliner „Floating University“ haben die Theaterarchitekten von raumlabor gerade den Goldenen Biennale-Löwen in Venedig gewonnen, in Frankfurt sind sie mit einem temporären Logentheater präsent – Ein Portrait

50

Björn Hayer Verlassen Sie das Haus und retten Sie Ihr Leben! Rabih Mroué betreibt im Sommerbau eine Exegese psychologischer Kriegsführung

kolumne

53

Ralph Hammerthaler In welcher Sprache träumst du, Alida? Wau Wau Wau, die sprühendste Frau der Balkanliteratur

look out

54

Shirin Sojitrawalla Tausendundeine Entschuldigung Die Frankfurter Regisseurin und Performerin Hanna Steinmair legt mit Lust und Komik patriarchale Verherrlichungen bloß

55

Lara Wenzel Das Ende des bürgerlichen Trauerspiels Der Berliner Regisseur Benjamin Zock entdeckt verschüttete Theaterstoffe für die Gegenwart

56

Berlin „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus in der Regie von Paulus Manker (Dorte Lena Eilers) und „1000 Serpentinen Angst“ von Olivia Wenzel in der Regie von Anta Helena Recke (Theresa Schütz) Essen „Made to Measure“ von Laokoon (Tom Mustroph) Flensburg „Wo wir Lebensmittel liebten“ von der Theaterwerkstatt Pilkentafel (Matthias Schumann) Weimar „Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr“ (UA) von Thomas Köck in der Regie von Marie Bues und „438 Tage NSUProzess – Eine theatrale Spurensuche“ von Nuran David Çalış und Tunçay Kulaoğlu in der Regie von Nuran David Çalış (Lara Wenzel)

64

Von Menschmaschinen und Marionettenzauberern Dietmar Dath über sein Stück „Restworld“ im Gespräch mit Erik Zielke

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Dietmar Dath & F. Wiesel Restworld

magazin

74

Die soziale Opernplastik Die Berliner MusiktheaterErneuerer Dennis Depta und Marielle Sterra erschließen mit dem dritten Opus ihrer „Berlin is not …“-Reihe ungewöhnliche Kunstformen und Publika Geahts no? Es geht – Christoph Nix’ erste Ausgabe der Tiroler Volksschauspiele in Telfs gehen trotz kulturpolitischer Streitigkeiten erfolgreich über die Bühne Ein Theaterphilosoph Zum Tod des französischen Denkers Jean-Luc Nancy Bücher Carl Hegemann und Heiner Goebbels

aktuell

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Meldungen

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Premieren im Oktober 2021

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TdZ On Tour in Zwickau

87

Autorinnen und Autoren, Impressum, Vorschau

88

Traute Hoess im Gespräch mit Patrick Wildermann

auftritt 58

stück

was macht das theater?

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Titelfoto: Graffiti in Kabul 2012. Foto picture alliance / Reuters / Mohammad Ismail

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Der mit Pixeln malt Experimentalfilm, Video, bildende Kunst: Luis August Krawen beherrscht alles – und macht damit rasant Karriere von Daniele Muscionico

A

lright“, sagt er gern. „Alright“ trifft den Nagel auf den Kopf. Sein Leben ist derzeit schwer in Ordnung. Alle Welt – oder wenigstens diejenige, die zählt, die erste Liga der Theater – interessiert sich für Luis August Krawen. Seit seinem Studium, und das ist erst schlappe drei Jahre her, gleicht er einem Bildergenerator auf Hochbetriebstemperatur. Ein Rädchen greift ins andere, und der Mann, der dabei steil nach oben saust, ist noch keine 27 Jahre alt. Krawen, schon als Kind begeistert vom Film und ein KinoFreak, Abgänger des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft, ist am Theater nicht zufällig heiß begehrt. Als freier Videokünstler deckt er eine Nachfrage nach (digitalen) Bildwelten ab, deren Kreation erst wenige beherrschen und für die noch ­keine formalisierte Ausbildung angeboten wird. Die Bilder des Künstlers haben nicht nur in den Institutionen, sondern auch im Publikum eine große Fangemeinde. Denn sie gehen Menschen unterschiedlichster Sehgewohnheiten unter die Haut: Krawens poetische, visionär-utopische Projektionen und

digitale Bildwelten ziehen Inszenierungen eine zweite, dritte oder vierte Ebene ein. Situiert ist seine Arbeit, so verschieden sie auch anmutet, an einem verbindenden Punkt: der Schnittstelle von ­Experimentalfilm, Video und bildender Kunst. Tech-Kunst ist das, synthetisch hergestellt. Sie operiert aber nicht selten mit analogen Kräften. In „Afterhour“, inszeniert von Alexander Giesche am Schauspielhaus Zürich, nimmt er sich die Elemente Feuer und Wasser vor, um sie technisch zu verarbeiten. Die Inszenierung war das Ereignis der letzten Saison. Ein halluzinatorisches Bildergedicht als zeitkritische ­ ­Gefühlserkundung (nach) der Pandemie. Seine metaphorischen Bilder lassen die Zeit des Danach und Davor unterschiedslos werden. Dank eines ­Videorings aus fünf Monitoren, die eine ­besonders starke Bildkrümmung und eine hohe Auflösung besitzen und beispielsweise in Flugsimulatoren genutzt werden, taucht das Publikum tief ins Geschehen ein. Denn es geht nicht Bildwelten, die Aufführungen zusätzliche Ebenen einziehen – Krawens Animation zu Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“ unter der musikalischen Leitung von Kent Nagano an der Hamburgischen Staatsoper 2020 – hier mit Anja Silja im Vordergrund. Foto Brinkhoff / Mögenburg


Seiten 8 – 11 Stills aus Luis August Krawens Online-Serie „Was passiert im leeren Pfauen?“ (Schauspielhaus Zürich 2020). Fotos Luis August Krawen

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nur darum, was man sieht, sondern auch wie – und auf welchem Bildträger. Eine Meisterleistung war ebenso „Der Mensch erscheint im Holozän“ nach Max Frisch, wieder eine Zusammenarbeit mit Alexander Giesche, die in Zürich für eine ästhetische Neuorientierung des Schauspielhauses stand. Krawen schlug vor, analoge Naturphänomene wie Wind und Wasser in Dialog mit digitalen Mitteln zu bringen und den Blick auf die Welt so neu zu justieren. Apokalyptische Regengüsse und (technisch erzeugte) Windböen erinnerten daran, dass das Theater ein in allen Interpretationsräumen offenes Sinnenmedium ist. Oder sein kann, sein sollte. Für die digitale Serie „Was passiert im leeren Pfauen?“, mit der das Zürcher Schauspielhaus während der Pandemie seine „Zuhausspielhaus“-Seite schmückte, ließ Krawen die ehrwürdige Bühne wechselweise üppig mit Pflanzen überwuchern oder malerisch schockgefrieren, Eisbärenbesuch inklusive. Krawen ist Teil der Künstlergeneration, die mit visueller Fantasie und immersiven Effekten die virtuelle Realität von morgen erforscht. Hat er eine Handschrift, pflegt er einen Stil? Von ihm aus ist es viel zu früh, danach zu fragen. „Die Computer­ animation ermöglicht sehr viele unterschiedliche Ästhetiken. Ich bin noch nicht so weit, dass ich sagen könnte, das und das ist jetzt mein Ding. Ich möchte erst einmal viele unterschiedliche Richtungen verfolgen.“ In Sachen Geduld und Ausdauer, im Spurensuchen und Spurhalten, hat er jedenfalls den Härtetest längst bestanden. Am Rechner, sagt er, hebt sich für ihn die Zeit auf; ein Arbeitstag ist zu Ende, kaum dass er begonnen hat. Das Ausrechnen wiederum, das Rendern, kann Stunden dauern, oft sogar Tage, da wäre Zeit, Pause zu machen. Oder aber sich einen zweiten, dritten, vierten Rechner anzuschaffen – und weiterzuarbeiten. Mit der Technik ist er auf Du, und eine Abhängigkeit von Steckdosen und Rechnerkapazitäten gibt es für ihn nicht. Im Gegenteil: „Mich fasziniert, dass man mit nur einem Computer zu Hause, in seinem eigenen Zimmer, ohne Kamera, ohne alles, aus dem Nichts eigentlich, einen Film produzieren kann.“ Kein Team, kein großer organisatorischer Aufwand, sondern lediglich zwei Player gehen gemeinsam in die Schlacht: er und seine Maschine. Luis August Krawens Arbeit ist inzwischen nicht mehr die eines Filmemachers, sondern die eines Malers, der statt mit dem Pinsel mit Pixeln malt. Den Stein, der alles ins Rollen brachte, trat Krawen schon während des Studiums los: Es handelt sich um die „Tétralogie d’Eau Thermale“, einen surreal-dadaistischen Roadtrip – voll­ gepackt mit selbstironischem Humor, der das Kunstmilieu auf die Schippe nimmt. Die Hauptfigur ist ein Kerl, der gezwungen wird, in Bayreuth Wagners „Ring der Nibelungen“ aufzuführen. Bezahlung: ein Euro die Stunde. Dazu läuft Wagners Musik – und die von Bruce Springsteen. Inspiriert von den computergenerierten synthetischen Bildern und den wissenschaftlich-analytischen Texten der Filme­ macherin, Autorin und Künstlerin Hito Steyerl, hat er sich das technische Know-how selbst beigebracht. Der Ort seiner Weiterbildung, klarer Fall: „Das Internet! Viel Tutorials schauen und ­selber machen, Routine bekommen.“

luis august krawen

Die bekommt er durch die vielen Eisen, die er im Feuer hat. Am Schauspielhaus Zürich bereitet er mit Alexander Giesche die ­Inszenierung „Momo“ nach Michael Ende vor. „Video ist ja ein Medium, das Zeit einfängt“, er kann damit ideal an das Haupt­ motiv der Geschichte anknüpfen. Zudem wird er Ende Oktober gemeinsam mit Giesche das Zürcher Nobelkaufhaus Globus an der Bahnhofstraße bespielen. Interessant am Auftrag ist für den Künstler die Architektur des Gebäudes, die andere Anforderungen stellt als ein Theaterraum. Ebenfalls im Oktober wird mit Krawens Beteiligung an der Berliner Volksbühne die Uraufführung „Letzter Stand I: allos ­autos“, inszeniert von Leonie Jenning und Martha von Mechow, stattfinden, am Schau­spielhaus Hamburg kommt Anfang Dezember unter seiner Mitwirkung die Produktion „Coolhaze“ von ­Studio Braun heraus. Und selbstverständlich gibt es auch bereits gesetzte Termine in Krawens Agenda 2022. Zum Beispiel eine erste eigene Bühnenarbeit im Frühling an den Münchner Kammerspielen, dem Haus, das ihn als Artist in Residence eingeladen hat. Zum ersten Mal wird er sich dort an der Arbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern versuchen. Unmöglich, jetzt schon über ein Konzept zu reden: „Es kann sein, dass ich das alles nochmals um 180 Grad drehe.“ Denn das kann er: seine eigenen Ideen auf den Kopf stellen, drehen und wenden, oft über mehrere Monate. So entstand auch eine seiner wichtigsten Arbeiten, der Animationsfilm „Pierrot ­Lunaire“ als Hälfte eines Doppelabends an der Hamburgischen Staatsoper. Die Arbeit war anspruchsvoll und brachte Krawen nicht zum ersten Mal an seine Grenze. Denn ist es nicht Selbstüberschätzung, die Regie eines Films zu verant­worten und ihn gleichzeitig selbst zu produzieren, Aufgaben also, für die in der Filmindustrie normalerweise ein großes Team zur Verfügung steht? Krawen arbeitete wie immer allein und nahm sich die – für diese Produktionsbedingungen mons­tröse – Filmdauer von 35 ­Minuten vor. „Ich habe Vollzeit vier Monate daran gesessen und zwischendurch gezweifelt, ob ich das überhaupt stemme.“ Er hat es gestemmt – und gleich eine Einsicht mitgeliefert bekommen: Die Auftragsarbeit hat ihm gezeigt, dass er in der Lage ist, allein Spielfilme zu kreieren. Noch sitzt er nicht daran: Zu viele Aufträge, zu viel Begehr, zu viel Nachfrage ist um seine Person. Doch wie sagt er zu seiner Zukunft als Spielfilmautor und -regisseur: „Da könnte es zu etwas kommen.“ Alright. //

Luis August Krawen, geboren 1995 in Bremen, wuchs in Berlin auf. Bereits als Mitglied der Jugendtheatergruppe P14 der Berliner Volksbühne wirkte er an Produktionen von René Pollesch und Silvia Rieger mit. 2016 nahm er ein Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen auf und arbeitet inzwischen als freier ­Videokünstler an Häusern wie dem Maxim Gorki Theater und dem Deutschen Theater in Berlin, dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg, den Münchner Kammerspielen oder dem Schauspielhaus Zürich. Foto Agnes Thomas

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„Vergesst Pandschir“, twitterte ein afghanischer Journalist vor wenigen Wochen, „die Frauen in Afghanistan sind die wirkliche Herausforderung für die Taliban geworden.“ Unter denen, die ihre hart erkämpften Freiheiten gegen die Taliban-Regierung verteidigen, sind auch viele Theaterschaffende. In unserem Schwerpunkt zum Thema Afghanistan beschreibt die Theaterwissenschaftlerin Hannah Neumann ­ ­deren aktuelle Situation, während der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts Kabul, Ibrahim Hotak, im Gespräch mit Patrick Wildermann über Erfolge und Grenzen des internationalen Kulturaustauschs nachdenkt. Das Versagen des Westens reflektieren, aus US-amerikanischer Perspektive, der Theaterwissenschaftler Matt Cornish und – im Gespräch mit Dorte Lena Eilers – der Schauspieler Sebastian Blomberg, der zurzeit von Berufs wegen gleich mehrfach mit dem Thema beschäftigt ist.


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afghanistan

Steht die Luftbrücke noch? Afghanistan sollte eine Erfolgsgeschichte des Westens werden, vor allem für die Frauen – aber nicht nur der Politik, sondern auch dem Kulturaustausch fehlte es an Ernst, Tiefe und Nachhaltigkeit von Hannah Neumann

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itte Juli 2021. Die Taliban sind in Afghanistan auf dem Vormarsch. Aber noch schaut die Welt ungläubig auf die dortigen Entwicklungen. Wenigstens Kabul, sind viele überzeugt, wird so leicht nicht eingenommen werden können. „Liebe Shegofa“, tippe ich in mein Handy, „wie geht es dir?“ – „Danke der Nachfrage“, antwortet sie. „Ich bin gesund, nur ein bisschen beunruhigt ­wegen der Taliban. Einige Träume und Pläne werden unter ihnen nicht mehr möglich sein.“ Shegofa* ist eine Schauspielerin der Kabuler Afghan Girls Theater Group, mit der ich seit über einem Jahr in regelmäßigem Austausch stehe. 2016 gegründet, inszenieren die Künstlerinnen zwischen 16 und 23 Jahren gemeinsam mit ihrem Regisseur Naim* selbst geschriebene Stücke, die sich mit der Situation der Frauen in der afghanischen Gesellschaft auseinandersetzen. Jedes Wochenende treffen sie sich in einem Probenraum im Kabuler Westen, um an ihren Inszenierungen zu arbeiten. „Ja“, schreibt Shegofa, als ich von ihr wissen möchte, ob sie in Kabul bleiben will: Eine Frage, die ich in den letzten Wochen öfter gestellt habe. Und meist war die Antwort die gleiche: Selbst, wenn die Taliban kommen sollten, wären sie nicht mehr so mächtig; man würde sich das, was in den letzten Jahren aufgebaut wurde, nicht nehmen lassen. Niemand wünschte sich, das Land zu verlassen. Der zunehmenden Gewalt zum Trotz versucht die Afghan Girls Theater Group, weiter zu proben. Anschläge häufen sich. Auf dem Weg zu ihrem Proberaum müssen die Frauen an der Stelle vorbei, an der im Juni sieben Menschen durch einen Anschlag getötet wurden. Zwei von ihnen waren bekannte afghanische Schauspielerinnen. Ob es nicht möglich sei, eine Finanzierung für den

Die afghanischen Frauen fordern ihre Rechte – hier junge Skaterinnen in Kabul 2014. Foto dpa

Transport zu bekommen, fragen sie mich. Zu Fuß würde es, gerade als junge Frau, immer schwieriger. Öffentlichen Verkehr, wie wir ihn hier kennen, gibt es in Afghanistan nicht. Ich schreibe verschiedene Organisationen an. Es sind die kleinen, privaten Initiativen, die reagieren, Hilfe anbieten. Die großen, staatlichen bleiben recht stumm. Aber Geld hat niemand. Und wenn es welches gäbe, erklärt mir die Mitarbeiterin einer NGO, könnte sie es zurzeit nicht nach Afghanistan überführen. Denn dort haben bereits viele internationale Institutionen geschlossen. Die Partner vor Ort, die sicher­ stellen könnten, dass das Geld seiner Bestimmung zugeführt ­würde, ziehen vermehrt ab oder sind bereits nicht mehr da.

Niemand weiß genau, was die Listen bedeuten August 2021: Das Blatt hat sich gewendet. Shegofa schreibt: „Wir sind auf dem Weg zur französischen Botschaft in Kabul.“ Die ­Afghan Girls Theater Group hat eine Einladung eines Theaters in Lyon und will nun so schnell wie möglich das Land verlassen. Was dann geschieht, kennen wir alle aus dem Fernsehen: chaotische Szenen am Flughafen; selbst mit Bescheinigungen ist es schier unmöglich, das Gelände zu betreten oder gar einen ­Flieger zu erreichen. Mehrmals bekomme ich von Shegofa die Nachricht, dass der Flug verschoben wurde, dass die Künstlerinnen nicht zum Flughafen vordringen konnten, dass sie umkehren mussten, nun nicht mehr in der Botschaft seien, jetzt bei einem Freund, nun wieder zu Hause. Hilflos schreibe ich immer: „Viel Glück, alles Gute!“ Und ein lächerliches: „Passt auf euch auf!“ – „Sie gehen von Haus zu Haus und suchen Leute“, schreibt Shegofa. Wen sie suchen, ist mir nicht klar, wahrscheinlich weiß das ­niemand so genau. So schürt man eine Atmosphäre der Angst. Niemand kann mehr sicher sein. In Deutschland versuche ich, gemeinsam mit anderen Wege zu finden, afghanische Kulturschaffende auf Listen zu setzen – immer mit einem Blick aufs Handy: Steht die Luftbrücke noch? Was diese Listen bedeuten, weiß ebenfalls niemand so genau. Ein hilf­ loser Aktionismus tritt ein. Ich schreibe Passnummern in Excel-

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Tabellen, fordere Dokumente an. „Meine Mutter hat all meine ­Dokumente verbrannt, aus Sorge, die Taliban könnten sie finden und sehen, dass ich für die Deutschen gearbeitet habe“, schreibt mir mein ehemaliger afghanischer Dolmetscher. Ich weiß, dass alles, was er sagt, stimmt. Aber wie beweise ich das deutschen Behörden? 23. August, neun Uhr: Die erlösende Nachricht von Shegofa! „Liebe Hannah, wir sind gerade in Paris angekommen.“ Damit hatte ich nicht mehr gerechnet. Ich weine. Weil ich mich freue, weil ich müde bin – aber auch, weil parallel immer deutlicher wird, dass die Frauen wohl zu den Letzten gehört haben, die es geschafft haben, das Land zu verlassen. Shegofa konnte ihre Geige nicht mitnehmen. Ein Musikinstrument auf offener Straße zu transportieren, war zu gefährlich. Aus Angst, sie könnten den Taliban in die Hände fallen, vernichten Künstlerinnen und Künstler in Afghanistan ihre Werke, zerstören Musikerinnen und Musiker ihre Instrumente.

Westliche Kulturinstitutionen öffneten ihre Türen Als ich 2010 das erste Mal mit afghanischem Theater in Kontakt kam, dachte ich, eine Erfolgsgeschichte schreiben zu können: darüber, wie die Theaterszene in Afghanistan wächst, sich zunehmend in der Gesellschaft etabliert und welchen Beitrag Kunst im Bereich der soziopolitischen Entwicklungen leisten kann. Schnell merkte ich, dass alles viel komplizierter war. Doch auch, wenn es nicht die Erfolgsgeschichte werden würde, die ich mir erhofft hatte, so handelte es sich dennoch um eine Geschichte, die von vielen Erfolgen erzählt – mit Widersprüchen zwar, aber dadurch sehr facettenreich. Als die Taliban 2001 vorläufig besiegt waren, hatten sie eine vollständig zerstörte Theaterlandschaft hinterlassen. Doch der kulturelle Aufbau wurde schnell in die Wege geleitet. Viele westliche Kulturinstitutionen öffneten ihre Türen, internationale Theater-

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schaffende wurden eingeladen, um Theaterkurse zu geben und gemeinsam mit afghanischen Schauspielerinnen und Schauspielern Stücke zu inszenieren. 2005 fand in Kabul das erste internationale Theaterfestival mit Größen wie Ariane Mnouchkine statt. Afghanistan sollte nicht nur gänzlich von den Taliban befreit, sondern auch – nach westlichem Vorbild – demokratisiert werden. Das Potenzial des Theaters gerade für ein Land mit einer nach wie vor überdurchschnittlich hohen Analphabetenrate wurde schnell erkannt: Viele NGOs, Kulturinstitutionen und die UNICEF ­förderten Theaterprojekte. Gruppen zeigten in den Provinzen Inszenierungen, in denen Hygieneregeln, die Notwendigkeit von Impfungen oder das Recht auf Bildung für Jungen und für ­Mädchen gleichermaßen thematisiert wurden. Westliche Medien berichteten, wie Frauen nach den Aufführungen euphorisch ihre Schleier ablegten, wie man gemeinsam weinte und lachte. Afghanistan sollte eine Erfolgsgeschichte des Westens werden. Auch kulturell. Doch in den kommenden Jahren wurde immer deut­ licher, dass es mit dem Kulturaufbau nicht ganz so einfach werden würde. Das internationale Theaterfestival wurde bereits im folgenden Jahr zu einem nationalen und schließlich zu einem Studentenfestival, dessen Finanzierung jedes Jahr mit den internatio­ nalen Kooperationspartnern neu ausgehandelt werden musste. Rückblickend ist es immer leicht, Kritik zu üben. Doch schaut man aus der heutigen Perspektive – und mit dem heutigen Wissen – zurück, kann man vielleicht bereits am Beispiel des ­sogenannten Kulturaufbaus erkennen, was zur dauerhaften Instabilität des Landes beigetragen hat. In den Programmheften der ersten Theaterfestivals nach dem Talibanregime finden sich vornehmlich westliche Stücke, etwa von Shakespeare, Brecht oder Ibsen. Afghanische Werke waren selten zu finden, man inszenierte „Romeo und Julia“. Der afghanische Journalist Taqi Akhlaqi erklärte mir einmal, warum es den Afghanen im Hinblick auf ihre Kultur an Selbstbewusstsein mangele. „Die Künstler und ihre ­Kinder lebten oft jahrelang als Flüchtlinge in Pakistan oder in Iran. Dort schaut man auf die afghanische Kultur herunter. ­Gerade die Kinder wuchsen so mit dem Gefühl auf, dass ihre Kultur nichts wert sei.“ Hinzu käme die multiethnische Zusammen­ setzung Afghanistans, die es Afghaninnen und Afghanen schwermache, eine „afghanische Kultur“ für sich zu definieren.

Schauspielerinnen kämpfen mit sozialen Stigmata Viele internationale Künstlerinnen und Künstler reisten ein-, zweimal an, um Workshops zu geben. Wenige kamen so regel­mäßig wie der vom Goethe-Institut eingeladene Berliner Puppenspieler Wieland Jagodzinski, der jahrelang aufeinander aufbauende Workshops gab und einen bis heute andauernden Austausch der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ mit afghanischen Theaterschaffenden mitinitiierte. Selten kam es zu einem so kontinuierlichen Dialog, und noch seltener kam es vor, dass afghanische Inszenierungen zu internationalen Festivals eingeladen wurden. In Europa sah man so gut wie nie eine afghanische Theateraufführung – und wenn, dann lag die Regie in internationaler Hand. Einmal fragte ich einen Festivalkurator, warum es in Deutschland derzeit zwar so viele internationale Inszenierungen zu sehen gebe, aber keine aus Afghanistan. Die Antwort war ernüchternd: Die Qualität


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entspreche nicht den deutschen Sehgewohnheiten. Hinzu komme außerdem, dass es schier unmöglich sei, Visa für alle Schauspielerinnen und Schauspieler einer Gruppe zu bekommen. Das künstlerische Interesse und der Aufwand stünden in keinem Verhältnis. In Afghanistan selbst wurde der Kulturbetrieb primär mit ausländischen Mitteln finanziert, viele Veranstaltungen wurden von Organisationen wie dem Goethe-Institut mitkoordiniert. Anders als sonst bei internationalen Kulturinstitutionen üblich, lag der Schwerpunkt in Afghanistan nicht auf der Repräsentation der eigenen Kultur, sondern vielmehr auf einer kulturellen Zusammenarbeit mit afghanischen Künstlerinnen und Künstlern. Eine besondere Rolle spielte dabei das L’Institut français d’Afghanistan (IFA), das eine der drei größeren Bühnen in Kabul beherbergte und als zentraler Begegnungsort für Kunst- und Kulturschaffende galt. Die – im buchstäblichen Sinne – Offenheit des IFA hatte mich immer beeindruckt: Während man, um zu einer Veranstaltung im Goethe-Institut zu gelangen, eine Einladung brauchte und mehrere Sicherheitskontrollen durchlaufen musste, war es bei der französischen Kulturinstitution möglich, das Gelände nach einem einfachen Sicherheitscheck zu betreten. So wurde das IFA zu einem kulturellen Zentrum Kabuls. Doch nachdem 2014, während einer Theaterpremiere, ein Jugendlicher einen Selbstmordanschlag verübt hatte, mussten letztlich leider auch dort die Sicherheitsvorkehrungen verschärft werden. „Heartbeat – The ­Silence After the Explosion“ der Theatergruppe Azdar hatte die damals schon wieder stark zunehmenden Selbstmordanschläge und die dadurch verursachten Traumata zum Thema gehabt.

Theater, das sich mit der Situation der Frauen auseinandersetzt – Die Afghan Girls Theater Group in ihrem Probenraum (oben) und in der Aufführung „Black Fears“ in einer Privatschule in Kabul (links). Fotos Naim*

Auch die Afghan Girls Theater Group hat im IFA mehrere Inszenierungen gezeigt, vor allem aber fernab der konventionellen Bühnen Theater gespielt. 2017 führten die Künstlerinnen in der Ruine eines alten Kinos, dem Behzad, eine „Hamlet“-Adaption auf. Das Publikum bestand fast ausschließlich aus den drogenabhängigen Obdachlosen, die dort ihre Tage verbrachten. Tatsächlich ging es weniger um eine große Zuschauerschaft als vielmehr um den Ort. Die jungen Frauen wollten an Plätzen spielen, an denen Frauen bereits früher, vor der Talibanherrschaft, aufgetreten ­waren. So eigneten sie sich einen Raum wieder an, der ihnen in der Vergangenheit längst gehört hatte, jetzt aber in Trümmern lag. Auch wenn Frauen es nicht leicht hatten und immer mit besonderen Hürden konfrontiert waren, suchten und festigten sie sich ihren Platz in der afghanischen Theaterszene. Zwar hatten sie, anders als im angrenzenden Iran, nicht mit gesetzlichen Vorschriften zu kämpfen, dafür aber umso mehr mit sozialen Stigmata. Bis heute schweben Prostitutionsassoziationen im Raum, wenn sich eine Frau entscheidet, Schauspielerin zu werden. Andererseits ist es aber auch nur deshalb möglich, von den massiven Problemen zu berichten, denen Frauen im Kunstbetrieb ausgesetzt waren und sind, weil viele sich diesen Gefahren und Herausforderungen stellen. Und weil immer Familien existieren,

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die sie dabei unterstützen, denn hinter fast jeder Frau auf der Bühne stehen ein ganzes soziales Umfeld, eine große Nachbarschaft, die sie mitträgt.

Die Angst der Taliban vor der Macht der Frauen Nun aber werden die Taliban Schauspielerinnen – wenn sie denn überhaupt Theater zulassen – nicht weiter dulden. „Jetzt wird Thea­ter wieder an den Rand gedrängt“, sagt Tahmina Hasanzada, einst Theaterdozentin an der Universität Kabul. „Die Leute werden denken, es sei nutzlos. Diejenigen, die vielleicht dableiben und weitermachen, werden dafür kein Geld bekommen. Frauen wird man auf Bühnen nicht mehr sehen. All der Erfolg der letzten zwanzig Jahre wird zunichtegemacht werden.“ Doch so alarmierend die Situation ist: Die afghanischen Frauen werden sich nicht widerstandslos den Forderungen der ­Taliban ergeben. Zu viele Freiheiten haben sie in den letzten Jahren erstritten. „Vergesst Pandschir, die Frauen in Afghanistan sind die wirkliche Herausforderung für die Taliban geworden“, twitterte ein afghanischer Journalist kürzlich. Wie sehr Frauen in Afghanistan füreinander einstehen und welche Macht sie haben können, zeigte der Fall von Farkhunda Malikzada. Diese war 2015 aufgrund einer Falschaussage eines Mullahs von einem Mob auf offener Straße bestialisch ermordet worden – vor den Augen Dutzender Polizisten. Die zahlreichen Täter blieben lange ungestraft. Leena Alam, eine prominente afghanische Schauspielerin und Aktivistin, initiierte daraufhin auf offener Straße ein Reenactment

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Straßenszenen aus Kabul. Fotos Ursula Neumann

des grausamen Geschehens und setzte so die Regierung unter Druck, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Auch jetzt, gleich nach der Machtergreifung der Taliban, begannen afghanische Frauen auf die Straßen zu gehen. Sie forderten ihre Rechte – auf Bildung, gesellschaftliche und politische Teilhabe und Unversehrtheit. Doch gaben sich die Taliban zu Beginn noch moderat, zeigten sie bereits Mitte September ihr wahres Gesicht: Frauen werden auf offener Straße mit Peitschen geschlagen und von Bildungseinrichtungen verbannt. Keine einzige Frau ist Mitglied der neu gegründeten Regierung. Demonstrationen wurden verboten und der Internetzugang stark limitiert. Die Angst der Taliban vor der Macht der Frauen ist deutlich sichtbar. Betrachtet mit der Distanz von heute, muss man sagen: ­Einer der Fehler, die in Bezug auf Afghanistan gerade von internationalen, aber auch nationalen Kräften gemacht wurden, lag im (Wieder-)Aufbau nach westlichem Vorbild, wobei viel in kleine und zeitlich begrenzte, aber wenig in langfristige Projekte investiert wurde. Es flossen mal hier Gelder, mal dort. Projekte wurden schnell aufgegleist, ohne auf Nachhaltigkeit zu achten – und manchmal auch ohne dass die internationalen Akteure in einen wirklichen Dialog mit der Bevölkerung traten. In einer Dokumentation über den viel gelobten Aufenthalt Ariane Mnouchkines und ihres Théâtre du Soleil in Kabul ist zu sehen, wie die französische Regisseurin eine Ansprache an männliche Schauspieler hält und


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sie eindringlich auffordert, einen Tag lang eine Burka zu tragen. Die Gleichstellung, erklärt sie, sei der wahre Fortschritt – und das, was Afghanistan jetzt, 2005, brauche. Aus vollstem Herzen möchte ich ihr zustimmen. Doch war es auch das, was aus afghanischer Sicht an oberster Stelle stand? Natürlich gab es auch erfolgreiche Projekte und Kooperationen auf Augenhöhe. Doch im Großen und Ganzen muss man sich die Frage gefallen lassen: Wie ernst gemeint war die Zusammen­ arbeit tatsächlich – und wo, an welcher (Landes-)Grenze, endete sie? Als im Dezember 2014 der Anschlag auf die Premiere im IFA verübt wurde, fürchteten die afghanischen Schauspieler, die damals auf der Bühne standen, um ihr Leben. Die Regisseurin der Inszenierung stammte aus Deutschland, die Gruppe hatte zuvor schon mehrfach für das Goethe-Institut gearbeitet. Mit dessen Unterstützung – insbesondere der Hilfe seines Mitarbeiters Ibrahim Hotak – konnte sie in Indien in Sicherheit gebracht werden. Die Dramaturgin Julie Paucker und der Regisseur Robert Schuster ­luden das Ensemble nach Deutschland ans Weimarer Nationaltheater ein. Dort gründeten sie, gemeinsam mit französischen und israelischen Schauspielerinnen und Schauspielern, die Kula Compagnie – in Abwesenheit der meisten afghanischen Kollegen.

Die Menschen haben sich in den letzten Jahren zu viele Freiheiten erstritten, um sich widerstandslos den Forderungen der Taliban zu ergeben – Skater auf dem Wazir Akbar Khan-Hügel über Kabul 2010. Foto Jacob Simkin, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/ by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons

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Denn es dauerte mehrere Monate und unfassbar zähe Verhandlungen, bis die Bundesregierung die Einreise aller Schauspieler bewilligte. Sie legte dabei kein gutes Zeugnis für die deutsch-­ afghanische Zusammenarbeit ab. Auf die Frage, wie sehr afghanische Künstlerinnen und Künstler derzeit in Gefahr seien, antwortete der afghanische Dokumentarfilmer Jawed Taiman: „Was ist Gefahr? Wenn du ­ ­einem Künstler die Kunst nimmst, dann ist er tot. Du kannst ­erschossen werden, oder deine Profession, deine Kunst kann dir genommen werden. Dann bist du ebenfalls tot. Dann bist du in Lebensgefahr. Das ist auch Terror und Folter.“ Der Westen hat viel Vertrauen verspielt. Die Kulturgemeinschaft kann aber dazu beitragen, es wieder zurückzugewinnen. Durch Solidaritätsbekundungen, wie sie derzeit unter dem Hashtag #Visa4AfghanArtists oder in offenen Briefen veröffentlicht werden, aber auch durch langfristige Kooperationen. Denn es wird nicht damit getan sein, afghanische Künstlerinnen und Künstler in Deutschland einreisen zu lassen. Sie müssen in die hiesige Kulturszene eingebunden werden. Die Ernst-Busch-­ Schule ist derzeit bemüht, eine Frauentheatergruppe aus Herat in ihr Ausbildungsprogramm aufzunehmen. Noch fehlt die Zusage der Bundesregierung, dieses Vorhaben zu unterstützen. // Hannah Neumann ist Theaterwissenschaftlerin und forscht an der Universität Siegen zu kulturellen Bewegungen im Zeitalter der Digitalisierung mit Schwerpunkt auf Kriegs- und Krisengebieten. *Zu ihrem Schutz werden die Personen nicht mit ihren vollständigen Namen genannt. Der Redaktion sind diese bekannt.

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Man kann nicht sagen, dass alles umsonst war Ibrahim Hotak, der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts Kabul, über die afghanische Theaterlandschaft, die kulturelle Aufbruchstimmung Mitte der nuller Jahre und die Kunst als Aufklärungsinstrument von Patrick Wildermann

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err Hotak, Sie waren von 2015 bis 2019 Leiter des seither geschlossenen Goethe-Instituts in Kabul. Wie hat Sie Ihr Weg dorthin geführt? Anfang der 2000er Jahre hatte ich den Wunsch, nach langen Jahren der Abwesenheit in meine Heimat Afghanistan zurückzukehren und einen Beitrag zum Wiederaufbau zu leisten. Mit diesem Ziel war ich ursprünglich zum Studium nach Deutschland ­gekommen. Es ging darum, zusammen mit der internationalen Gemeinschaft einen Neubeginn anzuschieben – was während des

Bürgerkriegs und der Taliban-Zeit ja nie möglich war. So bin ich 2003 erstmals wieder nach Kabul gereist, wo sehr chaotische Zustände herrschten und mir vieles nach 15 Jahren in Deutschland fremd erschien. Umso mehr Lust hatte ich, Ordnung in das Durcheinander zu bringen (lacht). Etwas später kam ich in Kontakt mit der Leitung des Goethe-Instituts in Kabul, das unterdessen eröffnet hatte. 2005 habe ich dort als Programmkoordinator im Bereich Kultur angefangen. Welche Situation haben Sie damals vorgefunden? Die Kulturlandschaft lag vollkommen brach, Kultureinrichtungen existierten nicht, die meisten Künstlerinnen und Künstler waren im Exil. Ein kulturleerer Raum. Entsprechend stellte sich uns die


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Frage: Wo anfangen? Es lag auf der Hand, bei den Strukturen anzusetzen, erst einmal materielle Unterstützung zu gewähren. Wir haben Institutionen wie dem Nationaltheater Afghanistans geholfen, sich neu aufzustellen, auch dem nationalen Fernsehen, dem Institut für Musik oder der staatlichen Filmgesellschaft Afghanfilm. Parallel dazu mussten natürlich Inhalte entwickelt werden. Die erste Bestrebung war, afghanische Künstlerinnen und Künstler überhaupt aufzuspüren, Plattformen für Begegnungen zu schaffen und Netzwerke zu knüpfen. Teilweise hatten sie sich 15, 20 Jahre lang nicht gesehen. Auf welche Geschichte blickt das Theater in Afghanistan? Die Theaterlandschaft in Afghanistan hat eine lange, rund hundert Jahre zurückreichende Tradition. Aufführungen im klassischen Sinne gab es schon zu Zeiten des Königs Amanullah Khan, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Khan war ein progressiver König, der vieles bewegt hat – unter anderem auch im Bereich Theater. Nach seiner Ablösung wurde dieser Aufschwung allerdings gestoppt. Auch der zweite König, Mohammed Zahir Schah, war ein Liberaler, der ab 1938 versucht hat, das Theater wiederzubeleben. Doch auch diese zweite Phase der Entwicklung wurde unter­ brochen – vom Einmarsch der sowjetischen Truppen in den siebziger Jahren. Unter den Sowjets existierte das Theater zwar fort, wurde aber vor allem für Propaganda instrumentalisiert. Im Laufe der Zeit verschärften sich die politischen Auseinandersetzungen im Land, und wie Sie wissen, ist die Kultur stets das erste Opfer der Krise. Systemkritische Kultur- und Theaterschaffende begannen, das Land zu verlassen. Dann kamen die Mudschaheddin, der Bürgerkrieg fing an. Damit fiel erst einmal der letzte Vorhang des Theaters in Afghanistan. Die Taliban haben dann noch die Lichter abgedreht, im wörtlichen Sinn. Welche Ausbildungsmöglichkeiten existierten für Theaterschaffende? Als einzige Ausbildungsstätte im Bereich Theater hat die Kabuler Universität gedient. Dort gab und gibt es die Fakultät der Schönen Künste und eine Abteilung für Kino und Theater. Selbst in schwersten Zeiten hat man sich dort bemüht, weiterhin zu spielen. Ende der neunziger Jahre, als die Taliban mit ihrer Abneigung gegen alle Kunst das Theater offiziell verboten hatten, haben die Dozierenden trotzdem mit den Studierenden Stücke aufgeführt, unter großer Vorsicht und Angst. 2002 hat die Fakultät dann auch offiziell ihren Betrieb wieder aufgenommen – mit Unterstützung des Goethe-Instituts, des Instituts français d’Afghanistan, des ­British Council und anderer Institutionen. Mit welchen Gruppen und Institutionen haben Sie zu kooperieren begonnen? In Kabul haben wir vorwiegend mit dem Nationaltheater zusammengearbeitet, das rund 50 Mitarbeitende hat, auch die Künstlerinnen und Künstler sind dort fest angestellt. Außerdem gab es ein Ensemble des nationalen Fernsehens. Das Nationaltheater war als Haus leider völlig zerstört, deswegen musste eine provisorische Spielstätte in einem Nebengebäude errichtet werden, ebenfalls mit Unterstützung internationaler Organisationen. Das ­Nationaltheater zählte davor zu den modernsten und bedeutends-

Grenzenlose Aufbruchsstimmung unter Künstlerinnen und Künst­lern – In den nuller und zehner Jahren herrschte in Kabul ein reger inter­ nationaler Kulturaustausch. Fotos Ursula Neumann

ten Theatern in ganz Asien, es verfügte als einziges über eine Drehbühne. Noch heute ist es eine Ruine. Es gab Überlegungen, sie als Mahnmal stehen zu lassen, ähnlich der Gedächtniskirche in Berlin – aber das war politisch nicht gewollt. Die Ausweichspielstätte jedenfalls ist vom Goethe-Institut, dem französischen ­Kulturinstitut und anderen Einrichtungen genutzt worden, um Begegnungen zu stiften, auch Gruppen sowie Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland und Frankreich einzuladen. Welche waren das? Ariane Mnouchkine hat 2004 das erste internationale Sommer­ festival des Theaters in Kabul auf die Beine gestellt. Es wurden internationale Stücke im Babur-Garten in Kabul aufgeführt, es herrschte grenzenlose Aufbruchstimmung, afghanische Künstlerinnen und Künstler trafen auf Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland, Stücke von Shakespeare und Brecht wurden gezeigt. Aus diesem Sommerereignis hat sich ein jährliches nationales Theaterfestival entwickelt, an dem wir als Goethe-Institut federführend ­zusammen mit anderen Einrichtungen beteiligt waren. Wieso lag der Fokus auf Stücken von Brecht oder Shakespeare? Und warum wurde das internationale Festival nicht fortgesetzt? Das internationale Sommerfestival hatte vor allem Motivationscharakter. Afghanische Künstlerinnen und Künstler konnten Impulse daraus gewinnen, ohne sich mit den Produktionen in Vergleich zu setzen. Darum ging es auch nicht. Das Ziel war, überhaupt erst einmal die Kulturlandschaft wiederzubeleben. Stücke aus dem Kanon des Welttheaters in großen Produktionen zu sehen – das hat den nationalen Theaterschaffenden Zugänge geöffnet und ihnen das Gefühl vermittelt: Wir sind nicht allein. Aber um ein solches Festival zu verstetigen, hätte es im Land Strukturen, Träger und auch Gelder gebraucht. Die waren nicht vorhanden. Dennoch hat sich der Aspekt der Internationalität insofern fortgesetzt, als auch beim nationalen Festival Gastspiele aus dem

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Ibrahim Hotak war von 2015 bis 2019 Leiter des Goethe-Instituts in Kabul. Geboren 1962, studierte er zunächst Ökonomie an der Universität Kabul. Von 1982 bis 1984 folgte ein Studium der Deutschen Sprache an der Universität in Leipzig. 1990 legte er sein

­ emokratie und Gleichberechtigung, das zivilgesellschaftliche D Verständnis fördern. Das ist auch geschehen. Ich glaube, dass die Kultur in Afghanistan einiges bewirkt hat, dass viele Menschen sich nach langer Durststrecke danach gesehnt haben, sich von Kunst inspirieren zu lassen, von ihr zu lernen. Innerhalb der ­afghanischen Gesellschaft ist ein lebhafter, facettenreicher Austausch entstanden. Man kann nicht sagen, dass alles umsonst war.

Diplom in Philosophie an der Friedrich­ Schiller-Universität Jena ab und begann 1997 des Weiteren den Diplomstudiengang Sozialwissenschaften/Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hoch­ schule Jena. Bevor er die Leitung des Goethe-Instituts Kabul übernahm, war er erst Programkoordinator und dann kommissarischer Leiter der Institution. Seit 2020 arbeitet er im Veranstaltungs­ management in Berlin. Außerdem ist er als freier Dolmetscher und Übersetzer tätig. Foto Patrick Wildermann

Ausland zu sehen waren und ausländische Theaterschaffende Workshops gegeben haben. Wie hat sich das nationale Festival entwickelt? Wir haben Gruppen aus den afghanischen Provinzen eingeladen, die aus dem internationalen Festival von Ariane Mnouchkine Kraft für ihre eigene Arbeit geschöpft hatten – hauptsächlich für selbstgeschriebene Stücke, inszeniert mit ganz einfachen Mitteln. Es ging darin um Wiederaufbau, Frieden, Schulpflicht, Kampf gegen Analphabetismus. Ganz alltägliche Konflikte. Das war eine Zeit, in der das Theater wichtige Aufklärungsarbeit in Afghanistan geleistet hat. 2014 wurde auch das nationale Festival nach acht Ausgaben eingestellt – vor allem wegen der sich verschlechternden Sicherheits­ lage. Was bedeutete das Ende für die afghanischen Theaterschaffenden? Generell hatten wir den Plan, viel mehr die Eigenständigkeit ­afghanischer Institutionen zu fördern. Wir wollten viele unserer Aktivitäten in die Hände von heimischen Künstlerinnen und Künstlern legen, Institutionen wie das Kulturministerium sollten zusammen mit dem afghanischen Nationaltheater Verantwortung übernehmen. Parallel dazu haben wir am Goethe-Institut ein Plattform-Format für junge Kultur ins Leben gerufen, woraus unter anderem ein studentisches Theaterfestival entstanden ist. Sehr dynamisch, sehr vielfältig. Die Studierenden haben internationale Werke bearbeitet, mit eigenen Stoffen kombiniert, selbst Stücke geschrieben. Das funktionierte gut – bis 2017. Nach dem verheerenden Bombenanschlag im Diplomatenviertel, bei dem auch das Goethe-Institut in Mitleidenschaft gezogen worden war, mussten wir unsere Arbeit vorerst einstellen. Bis 2018 haben wir noch versucht, aus dem Homeoffice einige Projekte zu unterstützen – aber danach war es definitiv nicht mehr möglich, Kulturveranstaltungen im öffentlichen Raum durchzuführen. Ist die Wirkmacht von Kultur am Ende eben doch begrenzt? Natürlich wollten wir mit Kultur auch Demokratisierungsprozesse voranbringen. Kultur sollte Aufklärung leisten im Sinne von

Waren Sie so überrascht wie viele Politikerinnen und Politiker, dass Kabul derart schnell an die Taliban gefallen ist? Viele, die nicht in den Prozess der politischen Entwicklung involviert waren, sind sicher zu Recht überrascht gewesen. Es dürften aber nicht alle wirklich überrascht gewesen sein. Für mich persönlich kam es unerwartet, wie schnell alles zu Ende ging – auch, wie unstrukturiert und unwürdig. Man hätte den Prozess viel besser moderieren und managen können. Es war ja vorauszusehen, dass eine Veränderung ansteht. Wie sie aber letztlich gekommen ist, ist traurig ohne Ende. Halten Sie den Kontakt zu Kulturschaffenden vor Ort? Natürlich. Als letzter Kulturakteur des Goethe-Instituts in Kabul habe ich enge Verbindungen zu vielen Künstlerinnen und Künstlern, die auch in dieser Krise fortbestehen. Wo es möglich war, ­leistet das Goethe-Institut einen Beitrag dazu, ihren Hilfeaufrufen Gehör zu verschaffen, dafür zu sorgen, dass sie an den richtigen Stellen ankommen. Der Prozess ist ja auch nicht beendet, wir ­haben nach wie vor Hoffnung, auch weiterhin in Not geratenen Menschen zu helfen. Ich persönlich telefoniere viel mit Schauspielerinnen und Schauspielern, Theaterleuten, auch Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Journalistinnen und Journalisten, gebe Ratschläge, an wen sie sich wenden können. Ein Team des Goethe-­ Instituts steht in ständigem Austausch mit dem Krisenstab des Auswärtigen Amts und setzt sich für unsere ehemaligen Beschäftigten und engen Partner ein. Wir tun, was wir können, alles Wei­ tere liegt nicht in unserer Hand. Fakt ist, dass jeder Mensch das Recht hat, ein besseres Leben nach seinen Vorstellungen anzustreben. Die momentane Situation in Afghanistan lässt aber wenig Hoffnung für diejenigen, die anders denken, anders handeln wollen. Was glauben Sie, wie die Lage sich für Künstlerinnen und Künstler entwickeln wird? Niemand weiß, was die Zukunft bringt, wie die neuen Macht­ haber sich tatsächlich verhalten werden – vor allem gegenüber Künstlerinnen und Künstlern. Im Moment sieht es gerade für Theaterschaffende nicht gut aus. Dennoch denke ich, dass das Land diese Menschen braucht – wenn Afghanistan alle seine Kulturschaffenden verliert, auch die Aktivistinnen und Aktivisten, sieht es wirklich finster aus. Wünschenswert wäre, dass die Verhältnisse sich so entwickeln, dass für diese Menschen Raum zur Entfaltung bleibt. Momentan ist die Lage undurchsichtig. Mich erreichen Berichte von Angstmacherei und Einschüchterung durch die Taliban. Aber so weit ich weiß, hat es wenige Verfolgungen oder Verhaftungen und zum Glück noch keine Ermordung gegeben – wobei sich das natürlich jederzeit ändern kann. Sicher ist, dass die Kunst in der Form, wie sie zuvor gelebt wurde, keine Chance unter den Taliban hat. //


HAPPY BIRTHDAY, ALTES HAUS! 

Die neue Bühne Senftenberg feiert ihren 75. Geburtstag mit einer Festwoche vom 17.10. bis 24.10. Feiern Sie mit!

theater-senftenberg.de


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Wo sind die Anti-Kriegs-Stücke? Die westliche Politik hat in Bezug auf Afghanistan versagt – aber wie steht es um die Theater- und Kulturszene? Ein Report aus den USA von Matt Cornish

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or dem Zusammenbruch der von den USA unterstützten afghanischen Regierung Mitte August dieses Jahres gab es in den USA praktisch kein Interesse an Afghanistan. Die Google-Suchanfragen waren über ein Jahrzehnt lang gleichbleibend: nie ganz null, aber um den Nullpunkt herum pendelnd, mit gelegentlichen

Ausschlägen während des Truppenaufmarsches 2009, angeführt vom damals neuen Präsidenten Barack Obama, und nach dem Abwurf der „Mutter aller Bomben“, des größten nichtnuklearen Sprengkörpers des US-Arsenals, auf Tunnelsysteme des sogenannten IS im April 2017 durch den damals neuen Präsidenten Donald Trump. Keine Spur von Interesse im November 2020, als Trump ankündigte, dass er die US-Streitkräfte abziehen würde. Und keine öffentliche Resonanz im April 2021, als der neue Präsident Joe Biden verkündete, dass er sich für einen Truppenabzug


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Kein Interesse an Nachrichten aus Afghanistan – In den USA pendelten die Google-Suchanfragen vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 um den Nullpunkt herum. Foto Jawed Taiman

einsetzt und dass dieser bis zum 20. Jahrestag des 11. Septembers abgeschlossen sein soll. Am 11. September 2001 war ich ein frisch eingeschriebener Student, der in linken Organisationen wie Amnesty International aktiv war. Ich erinnere mich, dass ich dem Afghanistan-Einmarsch durch den damaligen Präsidenten George W. Bush, der im Oktober begann, ambivalent gegenüberstand. Ich war unschlüssig: Ich wusste, dass die Sowjetunion bei der Besetzung Afghanistans gescheitert war, und ich misstraute Bush. Doch ich wusste auch aus den Briefkampagnen von Amnesty, dass die Taliban schrecklich waren: für die Frauen, für die Kunst, die Kultur und die Menschlichkeit im Allgemeinen. Besser, dachte ich, die Taliban verschwinden. Ich verfolgte den Krieg über die New York Times. Im Dezember hatten die amerikanischen und britischen Streitkräfte eine neue Regierung eingesetzt. In den darauffolgenden 20 Jahren, als ich das College absolvierte, eine Graduiertenschule besuchte, professionell Theater machte und eine Karriere als Hochschullehrer begann, habe ich nur gelegentlich an Afghanistan gedacht. Es gab herzerwärmende (und manchmal auch herzzerreißende) Geschichten über Frauen, die für eine Ausbildung kämpften. Ich lächelte und las weiter, oder ich schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn, während ich die Zeitung umblätterte. Die Jahre gingen ins Land. 2019 arbeitete ich mit dem Fachbereich Geschichte und dem Büro für Veteranenund Militärstudenten an meiner Universität zusammen und führte bei einer szenischen Lesung von Sophokles’ „Ajax“ Regie. Inspiriert war das Ganze vom „Theater of War Project“ des US-ameri­ kanischen Autors und Regisseurs Bryan Doerries. Ausgebildete Schauspieler (einer davon ein Veteran) lasen das Stück vor einem Publikum aus Veteranen und ihren Familien, gefolgt von einem Gespräch, das von Veteranen und einem Psychologen geleitet wurde. Es war eine erschütternde Erfahrung, die emotionalste, die ich je mit einem Publikum und Schauspielern erlebt hatte, und überhaupt war es für mich der ergreifendste Theaterabend. Inzwischen nahm der Krieg in Afghanistan seinen Lauf. Dorries „Theater of War“-Projekt kann man in jeder Hinsicht als Erfolgsgeschichte bezeichnen: Artikel in großen Zeitungen erschienen, wichtige Stipendien wurden gewonnen, und man konnte erstaunlich hohe Zuschauerzahlen vorweisen. Doerries veröffentlichte ein gut rezensiertes Buch über sein Projekt, in dem er argumentiert, dass neue Übersetzungen klassischer Theater­ stücke unsere heutigen Probleme direkt ansprechen können, insbesondere posttraumatische Belastungsstörungen, da die antiken griechischen Theaterstücke, wie Doerries betont, von Kriegsveteranen für ein Publikum geschrieben wurden, das wahrscheinlich fast ausschließlich aus Kriegsveteranen bestand. Das „Theater of

Straßenszenen aus Kabul. Fotos Ursula Neumann

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War“-Projekt wurde teilweise von den Streitkräften der Vereinigten Staaten finanziert, die Stücke, die sie aufführten, richteten sich dabei weniger gegen den Krieg, sondern hauptsächlich an Veteranen. Das hat natürlich seine Berechtigung. Aber wo waren die Anti-Kriegs-Stücke? Oder Stücke, die gemeinsam mit Afghanen entwickelt wurden? Eine bemerkenswerte Ausnahme von der Regel, dass wir US-Amerikaner den Krieg in Afghanistan ignoriert oder zumindest nicht direkt kritisiert haben, ist die Anthologie „Acts of War“ mit sieben Stücken US-amerikanischer und britischer Dramatiker über den Irak und auch über Afghanistan. Die Sammlung umfasst Texte von Simon Stephens, David Hare und Naomi Wallace. Karen Malpede, eine Dramatikerin und Regisseurin in New York City, die „Acts of War“ mit herausgegeben hat, sagte mir, dass die Stücke in dem Band, einschließlich ihres eigenen, viel zu sehr Anti-Kriegs-Stücke seien, um an amerikanischen Theatern auf­ geführt zu werden. In Anbetracht der Situation, dass sogar die Berichterstattung der New York Times die Kriege im Irak und in Afghanistan unterstützte und Projekte wie das „Theater of War“ mitunter direkt vom Militär finanziert wurden, vertritt Malpede die Ansicht, dass diese Theaterstücke im Prinzip zensiert worden seien. In der Tat wurden nur wenige der Stücke produziert oder mehr als ein- oder zweimal aufgeführt. Sowohl Hares „The Ver­ tical Hour“ als auch Malpedes „Prophecy“ wurden in der New York Times von den beiden Cheftheaterkritikern Ben Brantley und Charles Isherwood vernichtend rezensiert. Wallace’ Beitrag zu diesem Band, „No Such Cold Thing“, wurde eigentlich 2009 für das britische Festival The Great Game: Afghanistan in London in Auftrag gegeben. Dort wurde es jedoch nicht aufgeführt, sodass es auch nicht dabei war, als das Festival nach der Premiere als sechsstündige Serie von Kurzstücken durch Großbritannien und die USA tourte und dabei auch Militärstützpunkte besuchte. Die Stücke der Serie verhandelten die Geschichte Afghanistans – „No Such Cold Thing“ hingegen ist ein striktes Antikriegsstück. Inzwischen nahm der Krieg in Afghanistan seinen Lauf.

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Das Bond Street Theatre, eine Nichtregierungsorganisation mit Sitz in New York City, entwickelt seit 1976 Aufführungen für ein internationales Publikum, seit 2003 auch in Afghanistan. Zusammen mit dem Exile Theatre – einer Gruppe afghanischer Künstler, die das Ensemble kurz vor Kriegsbeginn 2001 in pakistanischen Flüchtlingslagern kennengelernt hatte – schuf das Bond Street Theatre das Stück „Beyond the Mirror“, das als die allererste afghanischamerikanische Theaterkooperation gilt. Es ging jahrelang auf Tournee und wurde zum Vorbild vieler Projekte in Afghanistan, hauptsächlich für ein Theater, das Aspekte sozialer Entwicklungsarbeit verhandelt. Das Bond Street Theatre war noch bis zum August in Kabul aktiv und arbeitete mit lokalen Künstlern zusammen. Schaut man sich jetzt die Google-Treffer zu Afghanistan an (wenn man die Suchanfragen aus den USA durchführt), so ist im August ein plötzlicher Anstieg zu verzeichnen. Einen Moment lang dominierte Afghanistan die Berichterstattung, wobei der Abzug fast überall verurteilt wurde. Einige Kritiker konzentrierten sich auf die Art und Weise des Abzugs, befürworteten jedoch den Abzug im ­Allgemeinen; viele sprachen sich indes gegen einen Abzug aus. Es gab nur wenige Befürworter, wie den unabhängigen Journalisten Matthew Yglesias, der dafür plädierte, dass der Rückzug spätestens jetzt erfolgen müsse. Die afghanische Regierung und die Sicherheitskräfte hätten eindeutig kein Interesse daran, sich selbst zu verteidigen, so Yglesias. Der unmittelbare Zusammenbruch, der dem endgültigen Abzug vorausging, veranschaulicht Yglesias zufolge l­ediglich die Tatsache, dass es den USA überhaupt nicht gelungen war, in Afghanistan so etwas wie eine liberale Demokratie zu errichten, und dass sie es auch nie schaffen würden. Ich glaube, Yglesias hat Recht. Wir hätten bleiben und weiterhin Hochzeiten und Beerdigungen bombardieren können, um die Taliban einigermaßen in Schach zu halten; wir hätten viel Schaden anrichten können, um einigen wenigen Menschen in einigen Teilen Afghanistans etwas Freiheit zu verschaffen. Aber die USA haben sich seit Dezember 2001 nicht viel um Afghanistan gekümmert; zu oft haben wir uns überhaupt nicht gekümmert. Würden weitere zwanzig Jahre Besatzung mehr Gutes als Schlechtes hervorbringen? Das ist zumindest sehr unwahrscheinlich. Doch die Tatsache, dass Tausende von Afghanen – Journalisten, Frauenrechtlerinnen, Künstler und Dolmetscher, um nur einige zu nennen – nun der Folter oder dem Tod ausgesetzt sind, wird unsere kollektive Identität beschädigen, und diese unterlassene

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Hilfeleistung wird für immer einen dunklen Schatten auf Joe ­Biden und seine Regierung werfen. Soweit ich weiß, hat sich keine der großen Theaterinstitutionen zu dem Rückzug aus Afghanistan geäußert. Das amerikanische Theater hatte keinerlei Beziehung zu dem Land oder zu diesem Krieg, also gab es auch nicht viel zu sagen. Ohnehin ist es derzeit eher damit beschäftigt zu entscheiden, ob und wie es seine Türen wieder öffnen kann nach Covid. (Covid übertrifft ­Afghanistan in puncto Google-Trends bei Weitem, und das war auch im August schon der Fall). Kleinere Ensembles haben auf den Rückzug aus Afghanistan reagiert. Die Mitglieder des Bond Street Theaters bemühten sich, Theaterkünstler aus dem Land zu holen – mit einigem ­Erfolg, indem sie auf Facebook Nachrichten teilten und Spenden sammelten. „Unsere Herzen sind gebrochen“, schreiben sie. Das LA Writers Center wird mit „The Voices from Afghanistan“ eine Produktion im Livestream übertragen, in der Afghanen und ­afghanische Amerikaner in Interviews zu Wort kommen. Kyoung’s Pacific Beat – ein Kollektiv in New York City, das von dem koreanisch-chilenischen Dramatiker Kyoung H. Park geleitet wird – veranstaltet eine virtuelle Diskussion mit dem Titel „Abolish the ­Empire“. Die Fragen, die dort behandelt werden, zeigen, wie das Antikriegsdenken in den USA mit innenpolitischen Themen verschmilzt: „Wo beobachten wir eine Militarisierung in unseren Communitys? Wie können wir unsere Bevölkerung aktivieren, um Amerika zu entmilitarisieren und der Polizei die Finanzmittel zu entziehen? (Defund the police).“ Auch meine Universität, die Ohio University, gab eine ­„Solidaritätserklärung“ per E-Mail heraus: „Wir stehen unseren Studenten, Lehrkräften, Mitarbeitern, Partnern und all jenen in unserer Gemeinschaft bei, die Freunde und Angehörige unter den von den tragischen Ereignissen in Afghanistan Betroffenen ­haben.“ Sind diese Klischees besser als nichts? Vielleicht … Als ich Malpede fragte, ob eine Reaktion des Theaters auf den Rückzug aus Afghanistan möglich sei, hielt sie einen langen Moment inne. Dann sagte sie: „Die Kunst ist langsam, das Leben ist schnell, und die Zensur ist immens. Es ist eine Schande für uns alle. Es ist eine Schande für dieses Land. Es ist eine Schande für das Theater.“ // Aus dem Englischen von Christine Wahl.


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Im Reich der Lügen Der Schauspieler Sebastian Blomberg über seine Rollen in Rainald Goetz’ Stück „Reich des Todes“ und Johannes Nabers Film „Curveball“, die der Schuld des Westens an den Kriegen in Afghanistan und im Irak nachgehen von Dorte Lena Eilers

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lötzlich herrscht Finsternis. Eine Explosion ist zu hören. Schreie. Rauch. Blitze. Dann wieder Stille. In Karin Beiers Inszenierung von Rainald Goetz’ „Reich des Todes“ sind es nur wenige Minuten, in denen auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses die Geräusche eines Tages heraufziehen, der sich für immer in das kollektive Gedächtnis gebrannt hat. Am 11. September jährten sich die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York zum zwanzigsten Mal. Ein Datum, das auf perfide Weise mit dem Abzug der Nato aus Afghanistan kolli­ dierte, das wie der Irak infolge der Anschläge zum Kriegsgebiet wurde. Wir haben mit dem Schauspieler Sebastian Blomberg gesprochen, der sich in gleich zwei Projekten mit den Folgen von 9/11 befasst hat.

In „Reich des Todes“ verkörperte er die Rolle des US-Vizepräsidenten Selch, alias Dick Cheney, der als Strippenzieher den „Krieg gegen das Böse“ orchestrierte. Zudem ist er derzeit in Johannes Nabers Kinofilm „Curveball“ zu sehen. Er spielt dort den Biowaffenexperten Arndt Wolf, der in die Fänge des deutschen Bundesnachrichtendienstes gerät und mehr oder weniger versehentlich den USA den später als Fake enttarnten Grund für den Einmarsch in den Irak in die Hände spielt. Das Gespräch fand am 9. September statt, also zwei Tage vor dem Jahrestag der Anschläge in New York.

Ein tragischer Held in den Fängen des BND – Sebastian Blomberg in dem Film „Curveball – Wir machen die Wahrheit“, der die Ver­ strickung Deutschlands in den Irak-Krieg thematisiert. Foto Sten Mende


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Herr Blomberg, in zwei Tagen jähren sich die Anschläge auf das World Trade Center in New York zum zwanzigsten Mal. Fast unweigerlich ziehen an einem wieder diese Bilder vorbei: Flugzeuge, die in Hochhäuser krachen, als wäre es ein Film. Wie haben Sie damals diesen Tag erlebt? Ich befand mich in Berlin bei Dreharbeiten am Kottbusser Tor für den Film „Väter“ von Dani Levy. Das Geschehen haben wir auf dem kleinen Bildmonitor am Set verfolgt. Eigentlich eine absurde Szene: das gesamte Filmteam, von dem viele Freunde in New York hatten, in Schockstarre vor diesem kleinen Fernseher in einer winzigen Kreuzberger Wohnung, die unser Drehort war. Der Dreh wurde abgebrochen. Mit Maria Schrader, meiner Kollegin und späteren Partnerin, bin ich dann ins KaDeWe, um ein Geburts­ tagsgeschenk für ihre Tochter zu kaufen. Das war die nächste absurde Szene: Das Kaufhaus war komplett entvölkert, einzig in der Technikabteilung stand eine Traube Mitarbeiter vor den Fernsehern, auf denen 9/11 in Endlosschleife lief.

Sebastian Blomberg wurde 1972 in Bergisch Gladbach geboren. Auf sein Schauspielstudium am Wiener Max Reinhardt Seminar folgten Ende der 1990er Jahre erste Engagements am Schauspielhaus Wien und im Theater Basel. Zeitgleich gab Blomberg auch sein Film- und Fernsehdebüt. Bekanntheit erlangte er 1999 mit dem Thriller „Anatomie“ von Regisseur Stefan Ruzowitzky. Nach der Jahrtausendwende spielte er an zahlreichen deutschsprachigen Bühnen und arbeitete mehrfach mit den Regisseuren Stefan Bachmann, Herbert Fritsch, Nicolas Stemann, Dimiter Gotscheff und Martin Kušej zusammen.

Man hatte tatsächlich anfangs Schwierigkeiten, die Bilder zu be­ greifen. Ja, nur so sind wir im Kaufhaus gelandet, taub und benommen. Erst nach und nach realisierten wir, was geschehen war. Abends in der Kneipe wurde es uns klar: Dieser Anschlag mitten hinein ins Nest dieser amerikanischen Administration, bis an die Zähne bewaffnet und mit einem angezählten Präsidenten, der nach seiner Legitimation sucht – das wird Folgen haben. Den Auftakt machte der Einmarsch in Afghanistan, dessen „Erfolgsaussichten“ man ja schon damals infrage stellte. Und jetzt sehen Sie sich den Abzug der Nato und die Rückeroberung des Landes durch die Taliban an! Ja, es ist erschreckend und zynisch zugleich. Sie spielen in Rainald Goetz’ „Reich des Todes“ ja einen der Strippenzieher im Nest der amerikanischen Administration: Vizepräsident Selch, alias Dick Cheney, der maßgeblich den Krieg gegen das sogenannte Böse mit angezettelt hat – teilweise mittels Lügen, Intrigen und dem Aufkünden westlicher Werte. Wie blicken Sie mit dem Wissen um eine Figur wie Selch/Cheney auf die heutige Situation in Afgha­ nistan? Mit tiefer Traurigkeit und einem Gefühl der Vergeblichkeit. Die Menschen in Afghanistan bleiben immer am allerletzten Ende der Kausalkette übrig – als Spielball der Politik. Daraus spricht eine

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kolossale westliche Ignoranz. Der Einmarsch in Afghanistan oder auch in den Irak war aus heutiger Sicht ein unfassbarer Fehler. Ich will aber nicht glauben, dass man nicht damals schon die Folgen absehen konnte. Die verantwortlichen Herren hatten Blut in den Augen und wollten schnelle Rache. Die Folgen waren ihnen scheißegal. Amerika, besonders das alte, weiße, republikanische Amerika, kann mit Demütigungen schlecht umgehen, wie wir wissen. Es gab nur diesen fast vulgärpsychologischen Mechanismus: Die USA suchten einen Schuldigen, um die Demütigung in ein Symbol der Stärke zu verwandeln. Was würde Selch dazu sagen? Selch steht für die Institutionalisierung dieses Mechanismus. Goetz’ Stück bringt uns ja in Dimensionen, die ich selbst zuvor gar nicht kannte: Er zeigt uns die Arbeit der juristischen Hinterstuben. Die neue Politik – die Missachtung der Genfer Konvention, die zugespitzten Verhörmethoden bis hin zur Folter, Gefängnisse wie Guantanamo und Abu Ghraib sowie der Exzess bei der Erhebung von Überwachungsdaten – wurde ja sofort von Anwälten und Rechtsgelehrten in neue Gesetze gegossen, um sie unanfechtbar zu machen, zu institutionalisieren. Selch, slash, Cheney, slash, Darth Vader hält sich selbst für die US-Administration. Und für Darth Vader? Den einst guten, dann bösen Vater von Luke Skywalker aus „Krieg der Sterne“? Ja, es war auch ein Liebäugeln mit der schwarzen Magie, der dunklen Seite der Macht. Ich hatte in der Beschäftigung mit dem Stück das Gefühl, dass sich Charaktere wie US-Verteidigungs­ minister Donald Rumsfeld oder Dick Cheney pudelwohl gefühlt haben in diesem Reich der Vergeltung und der Lynchjustiz. Jemand wie Cheney hatte die Möglichkeit, eine ganze politische Agenda neu zu gestalten, eine Gesellschaft umzustrukturieren. Besonders darauf kommt es Rainald Goetz an: nicht auf den 11. September als Ereignis, sondern auf den gesellschaftlichen und politischen Umbruch, der damit in Zusammenhang steht. Markerschütternd! Bis heute! Wikileaks, NSA, Snowden … Man spürt in Ihrem Spiel trotz des Entsetzens über die Vorgänge auch ein schauspielerisches Interesse an den dunklen Seiten ­dieser Figur. Wie haben Sie sich auf Selch, der ja mit Cheney wie gesagt ein reales Vorbild hat, vorbereitet? Ich habe mir neben all dem Material, welches Goetz selbst über Verweise in seinem Stück anreißt – historische Parallelen, politische Theorien, unfassbar viel Material, das Karin Beier und ihre Dramaturgin Rita Thiele uns zur Verfügung gestellt haben; neben all den Dokumentationen auch über Verhörmethoden und Folter vor allem den Film „Vice“ von Adam McKay mit ­Christian Bale als Dick Cheney angeschaut. Dort wird Cheney in seinem Verhältnis zu George W. Bush als Strippenzieher porträtiert. In unserer Stückfassung – wir haben ja nur gut die Hälfte des Stücks zur Aufführung gebracht – ist Selch in allem an­ wesend, tritt aber nur sehr zurückhaltend in den Vordergrund, ein Strippenzieher eben, der aus der Deckung agiert. Gar nicht so einfach für einen Schauspieler, in der stillen Nichtanwesenheit derart anwesend zu sein, damit glaubhaft wird: Dieser Mann hält alle Fäden in der Hand. Goetz hat den Figuren aber auch


protagonisten

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eine Portion Skurrilität und Screwball mitgegeben, was ich bei ihm extrem mag. Diese Politikerriege agiert ja fast wie im Kasperletheater. Die Szene Richtung Schluss, in der es in den Hades geht, wo die Figur des Selch in einer Vision des Jüngsten Gerichts quasi verglüht, hat mir als Schauspieler natürlich am meisten Spaß gemacht. Tatsächlich besitzt auch der Film „Curveball“ von Johannes Naber trotz des ernsten Themas – es geht um die Verstrickung des deutschen Geheimdienstes in den Irak-Krieg – einen deutlichen Hang zur Skurrilität. Ja! Kein Wunder bei dieser Geschichte. Sie spielen Arnd Wolf, einen deutschen Biowaffenexperten, der mehrere Jahre für die UNO erfolglos im Irak nach Massen­ vernichtungswaffen gesucht hat. Als eines Tages in einem deutschen Asylbewerberheim ein irakischer Ingenieur erklärt, er wisse, wo Saddam Husseins Waffen sind, wittert Wolf seine Chance. Er wird vom Bundesnachrichtendienst engagiert, um die Geschichte zu verifizieren. Der vermeintliche Zeuge indes entpuppt sich als Lügner – doch die Meldung ist längst beim CIA. Statt die Lüge zu enttarnen, schaut der BND zu, wie die USA den Irak bombardieren – auf Grundlage eines selbst verzapften Fakes. Eine ungeheuerliche Geschichte, die einem so vielleicht gar nicht mehr präsent ist. Nein, natürlich nicht. Das hat seine Gründe. Es ist eine deutsche Geheimdienstangelegenheit und dazu eine hochnotpeinliche.

Biowaffen findet UN-Waffenkontrolleur Wolf (Sebastian Blomberg) letztlich nicht – nur ein Gestrüpp aus Lügen und Kriegs­propaganda. Foto Sten Mende

Zynischerweise erhält unser Film durch die jetzige Situation in Afghanistan zusätzliche Aktualität. Ähnlich wie Rainald Goetz’ Stück. Die Kreise schließen sich, Dinge wiederholen sich. Die Rolle des BND angesichts des Siegeszugs der Taliban ist ja etwas, das man nicht so recht begreifen mag. Die erste Reihe der Politik stand auf dem Schlauch. Die Frage ist: Wo war der BND? Gab es keine Informationen? Wurden sie nicht durchgereicht? Hat man sie nicht ernst genommen? Was hat Sie an der Figur des Biowaffenexperten Wolf gereizt? Ihre Obsession. Da ist ein Wissenschaftler, der davon besessen ist, Belege für ein Biowaffenprogramm im Irak zu finden und sich deshalb an der Wahrheit versündigt. Diese Obsession begünstigt den Verlauf der Ereignisse mit all ihren verheerenden Konsequenzen. Die internationale Gemeinschaft war seit Jahren auf der Suche nach Biowaffen im Irak. Und plötzlich gab es den Beweis! Eine Zeichnung von mobilen Biowaffenlaboren, die der vermeintliche Informant auf eine Serviette gekritzelt hatte. Das ist kein Scherz. Viele Leute fragen, wo ist der Film Fiktion, wo wahr? Natürlich ist er beides. Aber die abstrusesten Details sind mit­ unter die wahrsten. Dazu gehört, dass ein angeblicher Biowaffen­ produzent aus dem Irak eine Geheimdienstinformation auf eine

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Serviette kritzelt, die in einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats landet, die von unserem deutschen Außenminister Joschka Fischer geleitet wird und in der US-Außenminister Colin Powell seine verheerende Rede über Biowaffen im Irak hält, die dazu führt, dass die Amerikaner einmarschieren. Wolf allerdings ist nur bedingt schuldig. Richtig. Auch das hat mich an der Figur gereizt. Die menschliche Unzulänglichkeit mit nuklearem Ausgang. Da ist ein Mensch, der – typisch tragischer Held – meint, das Richtige zu wollen, aber das Falsche tut. In dem Moment, wo er realisiert, dass er einem Falschspieler aufgesessen ist und die Lüge enttarnen will, wird ihm von höherer Ebene signalisiert: Too late! Sorry, dear. Die Räder der Geschichte haben sich weitergedreht. Es geht hier nicht um die Wahrhaftigkeit der Quelle, es geht nach 9/11 um eine konfektionierte Wahrheit, die unseren jewei­ ligen nationalen Interessen dient. Hier: um einen falschen Vorwand, um in den Irak einzumarschieren. Ja, es war scheinbar ein munteres Zusammenspiel internationaler Geheimdienste zwecks Kriegspropaganda. Der Untertitel des Films lautet „Wir machen die Wahrheit“, was ausdrückt, wie mit dem Begriff der Wahrheit politisch „gespielt“ wird. Wolf will tatsächlich Menschen vor Biowaffen schützen, indem er sie findet und außer Gefecht setzt. Bei den Kollegen vom BND, so stellt es der Film dar, ging es letztlich um Karrierechancen und den Wettstreit der Nachrichtendienste. Der BND wähnte sich auf der Gewinnerseite, der Mann, der ­behauptete zu wissen, wo sich die Biowaffen befinden, war ein Sechser im Lotto. Der BND hatte die Quelle aufgetan, nicht der CIA! Eine grandios verheerend komische Geschichte. Das liebe ich. Wenn heiter und beschwingt in den Untergang erzählt wird. Der Film hat durchaus satirische Momente. Ja, diese piefige deutsche Amtsstubenhaftigkeit führt den Zu­ schauer eine Zeit lang auf die falsche Fährte. Erst hinten heraus kapiert er, was für eine Keule das war. Die meisten Leute schnappen nach Luft und sagen: Nein, das ist nicht wahr! Im deutschen Film wird ja Ernstes gerne ernst, Lustiges gerne lustig erzählt mit dem Effekt, dass am Ende gar nichts mehr lustig ist. Johannes Nabers Film trifft mein Sehnen nach einer anderen Art des Erzählens, die dadurch an Schärfe gewinnt, an Brutalität, ge­ waltiger Wahrheit. Die reale Satire dieser Angelegenheit hat uns dabei ­eigentlich nur Pate gestanden. Hatten Sie während der Vorbereitungen für den Film Kontakt zu Rafid Ahmed Alwan El-Dschanabi, also dem realen Informanten, der unter dem Decknamen Curveball beim BND geführt wurde und jetzt irgendwo in Deutschland lebt? Nein. Es wäre aber wahrscheinlich eh aussichtslos gewesen, ihn zu kontaktieren. Der Mann hat beim BND eine Verschwiegenheits­ erklärung unterzeichnet. Das ist ja das bittersüße Ende seiner Biografie: Er wurde mit einem deutschen Pass, einer neuen Identität, einem Job, einer Wohnung ausgestattet, weil die Angelegenheit dem BND und der damals amtierenden Regierung unter Gerhard Schröder so verdammt peinlich war. Oder sein müsste. Weiß man

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nicht, ob sich diese Leute noch schämen können. Bei Schröder wage ich das zu bezweifeln. Bei Joschka Fischer stellt man sich vielleicht die Frage. Es gibt einen sehr starken Moment im Film, wo kurz Szenen aus der ­Sitzung des UN-Sicherheitsrates eingespielt werden. Man sieht Powell reden und Fischer schweigen. Oder nehmen wir den amtierenden Bundespräsidenten FrankWalter Steinmeier, der damals Kanzleramtschef und damit Chef des BND war. Alles Protagonisten dieser mies orchestrierten ­Angelegenheit. Ein deutscher Außenminister, der sich im Wissen um die Lüge zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler zuvor kriegskritischst geäußert hat und dann in der UN-Versammlung sitzt und die Schnauze hält, während sein Kollege Powell die Falschinformation ausschlachtet, ist ja irrwitzig! Machen Sie die Kenntnisse über politische Machenschaften, deren Protagonisten Sie wie im Falle von Cheney sogar auf der Bühne verkörpern, zynisch in Bezug auf die Politik? Es gibt sicher Menschen, die zynisch werden. Ich gehöre nicht dazu. Meine Hochachtung für Leute, die sich heute noch trauen, in die Politik zu gehen, ist grenzenlos. Es ist so kompliziert geworden, als Politiker wirkungsvoll zu sein. Dieser Politikertypus des Aushalters, des Aussitzers, des Weglächlers, wie ihn Merkel verkörperte, ist bei uns scheinbar der einzig lebensfähige. Leute, die sich wirklich trauen, einen Politikwechsel einzufordern, kriegen auf die Zwölf. Man fragt sich: Warum? Bei allem, was uns ins Haus steht, die ­Klimakrise, die Folgen von Corona, die Spaltung der Gesellschaft, ist ein Wechsel absolut vonnöten. Stattdessen findet ein Regieren in Echtzeit statt. Es ergeben sich einfach keine Räume, in denen man nachhaltig handeln kann als Schauspieler, äh, Politiker. (lacht) Gutes Stichwort! Gestern in den Tagesthemen wurde Außenminister Heiko Maas dazu befragt, wie Deutschland künftig mit der neuen Taliban-Regierung in Afghanistan umzugehen gedenke. In deren Kabinett sitzen ja einige fragwürdige Gestalten, darunter Siradschuddin Hakkani als Innenminister, der als Terrorverdäch­ tiger seit Jahren auf der Fahndungsliste des FBI steht. Gleichzeitig droht in Afghanistan eine humanitäre Katastrophe. Verhandle man mit den Taliban nicht, würden Menschen, so Maas, verhungern. Ein großes politisches und moralisches Dilemma. Wollen Sie als Schauspieler dazu beitragen, derartige Dilemmata zumin­ dest offenzulegen? Absolut. Hinter jedem Fehler steckt ein Mensch. Oder Darth Vader. Exakt! (lacht) Gab es von politischer Seite her Einspruch zu „Curveball“? Nein. Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele hat anlässlich der Premiere des Films bei der Berlinale gesagt, man müsse die Sache noch einmal aufrollen. Er war es auch, der ­damals lange auf einen Untersuchungsausschuss gedrängt hat, ­dessen Erfolge unterschiedlich bewertet werden. Am Ende kräht kein Hahn danach. Aber vielleicht schafft es unser Film, ein paar Fragen erneut in den Fokus zu rücken. //


OKTOBER 2021

OKTOBER

ERÖFFN AELRTÖEFFNUUNNG RAELITTEHA G REITHALLE LLE TANZHALLE REITPALAST

Eine Produktion der Bühne Aarau

WWW. BUEHNE-AARAU.CH

© Chris Iseli Fotografie | Gestaltung: zeitgeist.ch

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Wir schaffen das!

Angela Merkel und Chimamanda Ngozi Adichie sprechen im Düsseldorfer Schauspielhaus über Feminismus, Nigeria, die DDR und die Frage, ob die Literatur uns zu besseren Menschen macht

von Martin Krumbholz

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ie Optik war schlagend. Die Bundeskanzlerin trug einen strengen blauen Blazer, die übliche Amtskleidung eben. Chimamanda Ngozi Adichie, nigerianisch-amerikanische Schriftstellerin, trug ein farbenprächtiges Kleid. Schwer zu sagen, ob es Angela Merkel vor Neid erblassen ließ, jedenfalls wurde Adichie irgendwann, zwingenderweise, darauf angesprochen, nach dem Motto, wie toll man sich doch (so die Bundeskanzlerin) in Afrika zu kleiden wisse. Aber nein, konterte da Adichie, das Kleid habe sie in Düsseldorf gekauft, das sei doch schließlich die deutsche Hauptstadt der Mode!

Auch sonst verstanden die beiden Frauen sich blendend, obgleich sie sich zum ersten Mal begegneten und kaum unterstützt wurden von den Moderatorinnen Miriam Meckel und Léa Stein­acker, die kein Gespräch zustande kommen lassen wollten, sondern lediglich ein abwechselndes Befragen. Schade eigentlich. Das ­ Treffen hätte bereits zur Eröffnung des Festivals Theater der Welt im Mai 2020 stattfinden sollen und wurde jetzt zum Beginn der neuen Saison auf der Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses nachgeholt. Zur Freude vieler Zuhörer. Adichie, deren Roman

Mutmaßlicher Beginn einer wunderbaren Freundschaft – Bundeskanzlerin Angela Merkel und Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie im Düsseldorfer Schauspielhaus. Foto Thomas Rabsch


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angela merkel und chimamanda ngozi adichie

„Americanah“ zu den wichtigsten der letzten zehn Jahre gezählt kommen abging, sie war die Gelassenheit in Person. Bei der Frage wird, hat jüngst ein Buch über den Tod ihres Vaters veröffentlicht: nach DDR und AfD sagte die Kanzlerin unwirsch, sie habe es satt, „Trauer ist das Glück, geliebt zu haben“. Auch Merkel hat in den „Experte (sic!) für AfD-Wähler zu sein, weil ich aus der DDR komletzten Jahren beide Eltern verloren, allein dieser Umstand hätte me“. Recht hat sie, und doch blieb der Kern der Frage (Gibt es ­einen Konnex?) natürlich unbeantwortet. Später einmal, als es um ein (sehr persönliches) Gespräch initiieren können. Vielleicht war der Rahmen dafür zu offiziell. Social Media und gewisse Videos ging, rutschte Adichie doch tatsächlich der Diabolos Rezo heraus. Merkel auf die Kritik an der Während Adichie von Beginn an ihren Charme versprühte, Politik im Allgemeinen und an der CDU/CSU im Besonderen war es interessant zu beobachten, wann die Bundeskanzlerin aus ­etwas pikiert: „Sie scheinen sich ja in der deutschen Parteienlandder Deckung kam und wann nicht. Sie kann ja äußerst reserviert sein und oszilliert häufig zwischen pokerfacemäßiger Diplomatie schaft gut auszukennen!“ Zum Thema DDR (und ihrer eigenen und einer Regung, die man den zögernden Herkunft) ließ Merkel sich das Bekenntnis Beginn eines Auftauens nennen könnte. entlocken, sie habe Physik deshalb studiert, Da wechseln schon mal Phrasen mit aufweil selbst der Sozialismus an der SchwerDie Bundeskanzlerin sagt, kraft nichts habe ändern können – im Wesschlussreichen Bekenntnissen, mit denen sie vielleicht selbst nicht gerechnet hätte. ten hätte sie das Fach „bestimmt nicht“ ausmit dem „schüchternen gesucht. Was aber dann? Theologie? Das Zum Beispiel beim Thema Feminismus, blieb leider offen. das natürlich auf der Tagesordnung stehen Feminismus“ von einst Recht ausführlich wurde über die viemusste. Adichie definierte ihren Feminissei es vorbei. mus als ein „Glaubenssystem der Fairness“. len unterschiedlichen afrikanischen Länder Das klang so gut, da konnte Merkel offen(deren Grenzen oft auf den Einfluss der bar nicht widerstehen. Hatte sie vor ein Kolonialmächte zurückgehen) gesprochen. ­ paar Jahren noch bestritten, Feministin zu Nigeria sei ganz und gar keine Demokratie, sein, und zwar mit der etwas wohlfeilen Begründung, sie wolle hatte Adichie schon anfangs festgestellt. Merkel bekannte, sie sich nicht mit fremden Federn schmücken, meinte sie jetzt, mit ­wisse eigentlich nicht viel über den afrikanischen Kontinent, obwohl sie ihn nicht selten bereist habe; sie bewundere ihn jedoch dem „schüchternen Feminismus“ von einst sei es vorbei, und unter anderem als einen dezidiert „jungen Kontinent“. Sie meinte wenn auf einem Podium ausschließlich Männer säßen, dann sei damit das durchschnittliche Lebensalter, es liege zum Teil bei etwa das ein Skandal. (Keine Gewähr, dass sie das Wort Skandal in den zwanzig. Dass Adichie sich eher der politischen Linken zurechnet, Mund genommen hat, aber sinngemäß kommt es hin.) war im Übrigen kein Grund für Dissens. Man weiß ja, dass MerIn Düsseldorf saßen ja nur Frauen auf dem Podium, das war also schon mal o. k. Ebenso naheliegend angesichts der Konstella­ kel in allen denkbaren Lagern viel Respekt genießt – und ihn auch tion Europa/Afrika war es, nach der Flüchtlingspolitik und nach zurückgibt. dem berühmtesten Satz aus 16 Merkel-Jahren zu fragen: „Wir schafAuf die Frage, ob das Bücherlesen aus Menschen bessere Menschen mache, antwortete die Schriftstellerin entschieden mit fen das!“ Dazu sagte die Bundeskanzlerin, sie habe mit dem Satz gezielt Optimismus verbreiten wollen – eine psychologische StrateJa. Gemeint war das Lesen von Romanen, wohlgemerkt. Man lerne Empathie. Merkel stimmte bedenkenlos zu, worauf sich gie, die der Pragmatikerin sonst wohl eher fremd ist. Die Flücht­ linge, um die es ging, hätten schließlich vor der Tür gestanden. Eine nahtlos die Frage anschloss, ob sie die Zeit nach der Kanzlerschaft eher mit dem Lesen oder dem Schreiben von Büchern ausfüllen ganz andere Sache sei es mit dem Arabischen Frühling vor zehn Jahren gewesen. Hätte man sich einmischen sollen? Es sei problewerde. Oder was sie überhaupt mit der ganzen freien Zeit anstelmatisch, falsche Hoffnungen zu wecken, derartige Gratwanderunlen werde? Sie mache dann „erst mal nichts“, bekannte die Kanzgen müsse man allerdings noch besser erlernen. lerin erstaunlich freimütig. Eine Einladung nach Lagos durch An zwei, drei Stellen reagierte Merkel ein wenig gereizt, was ­Chimamanda Ngozi Adichie aber nahm sie spontan an. Düsseldorf nur deshalb auffiel, weil Adichie jeder Anflug von Gereiztheit vollerlebte da wohl den Beginn einer wunderbaren Freundschaft. //

Transformationen der Theaterlandschaft

Symposium zu den Ergebnissen des Forschungsprogramms des Fonds Darstellende Künste 2. November 2021 Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin www.fonds-daku.de

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Ich fang jetzt noch mal ganz anders an Christopher Rüping zeigt „Das neue Leben“ nach Dante Alighieri in Bochum als Mashup mit Meat Loaf und Britney Spears

von Martin Krumbholz

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äuscht der Eindruck, oder ist das Theater tatsächlich, und nicht erst seit Corona, privater geworden? Die Schauspieler stehen nicht mehr auf Kothurnen, auch nicht im bildlichen Sinn, sie verschwinden nicht mehr vollständig hinter ihren Rollen. Man kann das einen performative turn nennen, eine Trendwende von der klassischen Literaturrezeption hin zum Performativen, aber es ist

wohl zugleich weniger und mehr. Wenn sich zwei Männer auf der Bühne küssen, oder wenn eine Frau eine andere fragt: „Magst du mich?“, dann kann man fast sicher sein, dass dahinter auch sehr persönliche Statements stehen; Statements, mit denen Akteure sich aus der Deckung eines kanonischen Textes hervorwagen und eine Überschreitung riskieren, mit der sie die eigene Biografie oder eigene Impulse gewissermaßen in die Vorlage, mit der sie es zu tun haben, einklinken. Der Regisseur Christopher Rüping, der den Abend mit dem langen Titel „Das neue Leben – where do we go from here,


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„das neue leben“ nach dante

Mittelpunkt stellen, das ist übrigens auch noch einmal etwas anderes als: sie souverän für die eigenen Zwecke benutzen, wie es gewisse Regiegrößen, auch sehr angesagte, nach wie vor tun. Spieler in den Mittelpunkt stellen heißt vielmehr: sie nach ihrem eigenen Verhältnis zu den behandelten Problemen befragen. Sie von ihrem ­Kothurn befreien, manchmal auch bis an die Grenze des Banalen. Nicht banal, um es einmal etwas ketzerisch zu sagen, ist eine Liebe, die sich nicht aus der Deckung wagt; die nicht nur unerwidert, unerfüllt, sondern sogar uneingestanden, unentdeckt bleibt. So wie die des jungen Florentiners Dante zur gleichaltrigen Beatrice Portinari am Ende des 13. Jahrhunderts. Mit neun Jahren will er sie erstmals gesehen, sich unsterblich in sie verliebt haben, neun Jahre später, mit achtzehn also, zum zweiten Mal. Beatrice heiratete einen anderen, starb mit vierundzwanzig. Das ist natürlich der ideale Stoff für große Literatur. Nur wenn die Liebe unsterblich bleibt, ist es auch die aus ihr entstehende Dichtung. Vielleicht hat Dante das sogar geahnt. Vielleicht hat er sich in der Rolle des versteckten, unsichtbaren Liebhabers ganz gut gefallen – nicht indem er larmoyant wurde, sondern indem er unsterbliche Zeilen schrieb und dichtete. Zuerst die „Vita Nova“, dann die „Göttliche Komödie“. Natürlich kennen die Beteiligten die hier verhandelten Gefühle, vielleicht sogar allzu gut. Zum Beispiel die Kombination von „Blick und Zittern“ beim Anblick der (des) Geliebten. Das Bedürfnis sich zu verstecken, etwa hinter einem Kumpel, oder hinter der gefakten Liebe zu einem ganz anderen Objekt. Zu einer gewis-

Bescheiden, direkt und ohne Überformung – Christopher Rüpings Bochumer Inszenierung „Das neue Leben“ nach Dante Alighieri. Oben im Bild William Cooper und Damian Rebgetz (v. l.), unten Anne Rietmeijer, Damian Rebgetz und William Cooper (v. l.). Foto Jörg Brüggemann / Ostkreuz

frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears“ am Schauspielhaus Bochum inszeniert hat, nennt seinen Ansatz „unplugged“. Soll heißen: bescheiden, unspektakulär, direkt, ohne Überformung. Vor allem aber zeichnet der Abend sich dadurch aus, dass er die Persönlichkeit der fünf Mitwirkenden in den Mittelpunkt stellt. Zwei Deutsche, eine Niederländerin, eine Belgierin, ein Australier, deren unterschiedliche Verwurzelungen und auch unterschiedliche Vertrautheit mit dem Deutschen von vornherein keinen „makellosen“ Umgang mit dem DanteText „La Vita Nova“ aus dem Jahr 1293 garantieren. Spieler in den

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aktuelle inszenierung

sen „Elke“, wie es sich Damian Rebgetz in der Aufführung ausmalt. Während sein Kollege William Cooper ihn und die anderen zurechtweist: Sie mögen es doch herauslassen, „ausspucken“, wenn sie jemanden mögen/wollen, ist es denn so schwer? Rüping, Jahrgang 1985, findet die „Liebe in Gedanken“ so abwegig nicht. Man müsse nicht immer alles besitzen, nicht immer aus allem, auch der Liebe, „ein Produkt machen“. Dieser sozusagen klassisch-antineoliberale Ansatz ist seinerseits durchaus produktiv. „Die Idee von ‚Romeo und Julia‘ funktioniert ja auch nicht im Reihenhaus“, meint der Regisseur. „‚Romeo und Julia‘ funktioniert nur als unerlöste, ungelebte Liebe.“ Und wenn man weitergeht und den Blick popkulturell auf das Entertainment des 20. Jahrhunderts lenkt, darf man feststellen, dass wohl neunzig Prozent des erfolgreichen Liedguts vom Begehren und von der (noch) unerfüllten Liebe handeln. Ist die Liebe einmal erfüllt, hat man wenig Zeit und Lust zu komponieren. Auch gut. „When I’m away from you, I’m happier than ever“, singt dagegen Billie Eilish (aber die kommt nicht vor). „I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That“ (Meat Loaf, kommt vor). Das programmierte Klavier mit seinem unsichtbaren Pianisten hämmert dazu scheinbar eigensinnig den Sound (Musik: Jonas Holle, Klavierarrangements: Paul Hankinson). Gleichwohl handelt es sich nicht um einen lustigen Liederabend. Ganz und gar nicht. Humorvoll ist die Aufführung schon, aber in einem tieferen, nachdenklichen Sinn. Wenn Anne Rietmeijer dem Tod mit seinen dürren Fingern (als säße der im Parkett) die Leviten liest und ihm erklärt: „Ich verliere langsam die

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Geduld mit dir“, und das mit dem schönsten niederländischen Akzent, dann weiß der Angesprochene hoffentlich, was die Stunde geschlagen hat. Und merkt es sich. Das Saallicht lässt Rüping die meiste Zeit brennen. Wir sehen die Spieler, aber die Spieler sehen auch uns. Die Bühne hat Peter Baur zunächst nur mit neun weißen Kreisen bemalt. Zum ersten Mal geht das Saallicht aus, wenn ein kleiner Lichtkubus sich in der Bühnenmitte langsam erhebt und immer schneller zu kreiseln beginnt, wohl zwanzig Minuten lang. Mit Musik, das ist magisch. Und danach steht plötzlich eine fünfte Spielerin auf der Bühne, die Belgierin Viviane De Muynck. Zunächst unter einer Kapuze versteckt, entpuppt sie sich als eine altersweise Beatrice, die den Jüngeren abverlangt, sie mit Sentimentalitäten und romantischen Verstiegenheiten bitte zu verschonen. Anna Drexler, die oft dann am allerbesten ist, wenn sie sozusagen ins Unreine spielt („Also ich fang jetzt noch mal ganz anders an“), hat sich das mit dem Aus­spucken überlegt. „Magst du mich?“, fragt sie rundheraus De Muynck, und die, zögernd, rät ihr: „Bild dir darauf bloß nichts ein!“ Bevor sie kategorisch erklärt: „Ich brauch mal ‘ne Pause. Pause für immer.“ William Cooper drückt auf einen Knopf, und ein gigantisches Zelt spannt sich auf, sozusagen ein Rettungsschirm für Ertrinkende in Liebesseenot. Schließlich haben die fünf noch „eine gute Nachricht“ für uns, mit einem schönen Song des Rappers Danger Dan. Eine schlechte zwar auch: „Wir werden zu Asche.“ Dagegen die gute: „Es bleibt noch Zeit für dich und mich. Was ich eigentlich nur damit fragen will ist: Schläfst du heut bei mir?“ //


Foto Eps51 / CGI: bus.group, The Sun Machine is Coming Down – Kunst im ICC, Immersion, ICC Berlin, 2021

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Exklusiver Vorabdruck

Berliner Festspiele 2012 – 2021

CHANGES


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Thomas Oberender

Das Format als Werk Für Künstler*innen wie Philippe Parreno oder Yayoi­ Biennale 4 roch es nach Exkrementen. Zwar besetzt Kai Kusama ist das eigentliche Werk nicht das einzelne Objekt,

­Althoff den Ausstellungsraum, aber er inszeniert seine Arbeit

das sie in einer Ausstellung zeigen und in der Galerie ver-

nicht als Kette singulärer Ereignisse, die Gemälde oder Zeich-

kaufen, sondern das Gesamtgefüge der Ausstellung selbst –

nungen wie Heiligtümer ohne Einbettung und Kontext prä-

erst ihre Totalität erzeugt am Ende das „Werk“ und dafür

sentieren – was auch interessant sein kann, nur eben nicht

wird hier alles, was im Raum ist, inklusive der baulichen

für Kai Althoff. Er spielt mit dem Format, seiner verbor­genen

Infrastruktur, der anwesenden Künstler*in oder Besucher*in

Pädagogik, subtilen Macht, die auf uns via ihrer für selbstver-

zum Teil des Werks. In der Gestaltung der Ausstellung, wie

ständlich gehaltenen Konventionen einwirken, auf dass auch

sie Kai Althoff 2016 im Museum of Modern Art (MoMA) in

wir aus ihnen kommend ein bisschen sauberer und aufge-

New York entwickelt hat, wird das Format als spezifisches

klärter z­ urück in die Welt gehen. Kai Althoff gestaltet hin­

Werk begriffen – eine Gesamtkomposition aus Dingen,

gegen l­ieber unordentliche Ausstellungen, die in ihren eintau-

­Musik, Gerüchen und gelegentlich auch Abfall, die in ihrem

send arrangierten Details so überaus pedantisch sind, dass man

Zusammenspiel ähnlich durchgestaltet wurde wie das ein-

­lachen möchte über die Befreiung, die von ihnen ausgeht.

zelne Objekt. Seine Ausstellung Und dann überlasse ich mich den Mauerseglern organisiert die Begegnung mit den Bildern

Das Format, von dem hier die Rede ist, ist ein Container oder

und Klängen durch die Einbettung aller Objekte in ein eben-

Ordner, der nie neutral ist, auch wenn er an sich „leer“ sein

falls werkhaftes Ambiente völlig anders als eine White

mag. Formate vereinen Werke, bilden oder ermöglichen eine

­Cube-Ausstellung. Wo klassische Ausstellungen septische

Erzählung, sie strukturieren den Raum und kreieren ein

Räume kreieren, Übersicht und Abstand, und so das aus

eigenes „Nutzer*innenverhalten“ mit Konventionen wie ­

­seinem Kontext extrahierte Werk als Objekt präsentieren,

­Applaus oder Berührungsverbot, die, wie Botho Strauß ein-

vergräbt Althoff seine Arbeiten in der Ausstellung wieder.

mal über die Erscheinung von Schauspieler*innen bemerkte,

Dafür hat er im großen Saal des obersten Geschosses eine

eine Mischung aus Prostitution und Keuschheit erzeugen, aus

White Tent-Höhle geschaffen und die Besucher*innen ent-

energetischer Verbindung und physischer Trennung.

decken darin die Welt des Künstlers in einem Gewirr von Arbeiten und Fundstücken, in Grafiken und kunstvollen

Formate rivalisieren bisweilen mit den Werken, vor allem

Briefen unter b ­ ekleckerten Glasplatten, neben verbrannten

aber verleihen sie ihnen Aufmerksamkeit und Kraft. Alle

Matratzen, oder man sieht sie einfach gar nicht, weil die

heute als „klassisch“ empfundene Veranstaltungsformen

­Bilder verpackt in grauem Papier an der Wand lehnen. In

sind institutionalisierte Formate, also Formate, die heute das

seiner exquisiten Ausstellung mit Lutz Braun bei der Berlin

Basisangebot von Institutionen darstellen, die ihrem Publi-


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kum Begegnungen mit Werken anbieten, die man kennt,

wickelt. Formate definieren dabei an sich keine Ästhetik,

noch bevor man die Werke kennt. Kulturaffine Besucher*innen

sondern meist nur Parameter, innerhalb derer sie sichtbar

wissen, was eine Lesung ist, oder ein Interview oder ein Festi-

wird. Festivals sind Pan-Formate, die in sich nahezu alles

val, eine Aufführung oder eine Ausstellung, eine Biennale

mit allem verbinden können. Unterformen der Festivals können Mitternachtskonzerte oder

kann diese Container mit Inhalt

Marathons sein, ein Stadtraum-

füllen wie man möchte, immer

projekt, eine Party, ein Battle

von Sicherheit, Gewohnheit und Wiedererkennung zur Folge haben. Formate formalisieren dafür

verschiedene

Funktionen

und Zwecke, die in einer ausreichend großen Zahl von Werken angelegt waren. Und so kommt es, dass Formate als Formate nur auffällig werden, wenn gegen ihre eigenen Formalisierungen und Regeln verstoßen wird oder es sich um temporäre Kreationen handelt, also Abweichungen von den institutionellen Gewohnheitsformen. Ein Dokumen­

hungen, ein LARP oder Symposium, aber jedes dieser Unterformate hat auf die eine oder andere Weise einen Bezug zur

Herausgegeben von Thomas Oberender

Seiten des Publikums eine Form

oder Wettbewerb, Preisverlei-

großen Erzählung des Festivals. All das kann es auch im Repertoiretheater neben den klassi-

Berliner Festspiele 2012–2021

des zu Veröffentlichenden auf

schen Aufführungen geben – es gibt auch dort Lecture-Per­

CHANGES

wird das Format als „Fassung“

Formate Digitalkultur Identitätspolitik Immersion Nachhaltigkeit

oder Performance-Lecture: Man

formances und hybride Formate

CHANGES Berliner Festspiele 2012 – 2021 Herausgegeben von Thomas Oberender

zwischen Streaming und Live-

Paperback mit 520 Seiten ISBN 978-3-95749-398-9 EUR 24,00 (print). EUR 19,99 (digital) Verlag Theater der Zeit

neen. Aber aufwändige Formate

präsentation vor Ort, Publi­ kumsdiskussionen und Mati­ im Stadtraum wie Matthias ­Lilien­thals Serien X-Wohnungen oder ­X-Choreographien, die nicht

tarfilm oder eine Reportage wer-

mehr im Inneren der Institutio-

den sofort aus dem jeweiligen

nen stattfinden, sind ähnlich

Format verstoßen, wenn sich herausstellt, dass die O-Töne und

wie der Schwarzmarkt des Wissens von Hannah Hurtzig auf

authentischen Bilder des Werkes Fake sind und Fiction, die

­flexiblere Strukturen und auch auf ein anderes Publikum

sich als solche nicht zu erkennen gab. Bei einem Dokumen-

angewiesen. Formate in diesem autor*innenhaften Sinne

tarfilm oder einer Reportage wird die Signatur eines „Erfin-

adressieren ihrerseits ein Publikum, das neugierig auf Krea-

ders“ oder einer „Erfinderin“ auf der Werkebene zum ­Problem

tionen ist und nicht so sehr auf die Interpretation von etwas

für das Format.

Bekanntem. Auch das führt oft aus den traditionellen Institutionen der Kunst hinaus in kunstfremde Räume.

Eine künstlerische Produktion wie 100 Prozent des Kollektivs Rimini Protokoll kann als ein Format verstanden werden, das überall, wo das Werk aufgeführt wird, mit ortsspezifischen Vertreter*innen ein szenisches Selbstporträt der Stadt

Aus dem einleitenden Essay „Neue Formate – Formate des

entsprechend unterschiedlicher statistischer Profile ent­

Neuen“ in CHANGES. Berliner Festspiele 2012–2021.


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Der Festivalsommer 21 Zürcher Theaterspektakel | Festival Weiße Nächte Sommerfestival Kampnagel


festivals

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ZÜRCHER THEATERSPEKTAKEL

Kann Liebe ein Virus sein? Das Zürcher Theaterspektakel öffnet Fenster in die Welt – und war selten so notwendig wie in pandemischen Zeiten von Daniele Muscionico

E

in Aufatmen war zu hören, physisch wahrzunehmen schien es sogar. Nachdem im letzten Sommer das Zürcher Theaterspektakel nur in schmalster Form durchgeführt werden konnte, waren Kunstdichte und Internationalität dieses Jahr wieder in altem Umfang präsent – und setzten ein Zeichen: Wenn in pandemischen Zeiten Zivilgesellschaften über Nacht in Ein-Mann-Armeen zerfallen, ist die Bedeutung von interkulturellen Annäherungen notwendiger denn je. Das Kunstfestival, eines der ältesten in Europa, öffnet Fenster in die Welt, verschiebt die eigenen Perspektiven und sucht den internationalen Dialog; es bringt uns privilegierte Bande dazu, uns unserer Privilegien bewusst zu werden. Der Künstlerische Leiter Matthias von Hartz, ein talentierter Netzwerker, setzt seit Beginn seiner Intendanz 2017 auf politisches Theater vorzugs­ weise aus dem globalen Süden. Drei Viertel der Produktionen waren Live-Formate, für besondere Überraschung sorgten die ­ ­digitalen und installativen Formen. Denn auch die Kunstschaffenden, die nicht anreisen konnten, waren gegenwärtig. 15 internationale Künstler und Künstlerinnen waren von Vlatka Horvat und Tim Etchells eingeladen worden, sich ein Monument auszudenken. Die Installationen standen für all das, was im letzten Jahr passiert war oder einen Platz im öffentlichen Nachdenken verdient, Black Lives Matter oder die Frage nach den (Corona-)Toten, um die sich niemand kümmerte. Dazu stand „Arrival and Departures“, die Installation der Engländerinnen Yara und Davina, unmittelbar hinter dem Haupteingang als Form des partizipativen Erinnerns. Ankunfts- und Abflug­ tafeln, wie sie in Flughäfen stehen, konnte man mittels Handy und online mit den Geburts- und Sterbedaten von Menschen beschicken, nahen Freunden, fernen Unbekannten. Es war also ein Jahrgang des Erinnerns und der Bewusstwerdung. Während beispielsweise der eine oder die andere beim Einlass einer Vorstellung noch stöhnen mochte, dass dieses Jahr alles nicht hopp-hopp klappte, weil freundliche Mitarbeitende Zeit damit zubrachten, unsere Covid-Zertifikate zu prüfen, dürfte es eini-

Alle Männer heißen Pablo – Marina Oteros autobiografische TanzVerausgabung „Fuck me“ war ein ironischer Höhepunkt des Zürcher Theaterspektakels. Foto Kira Barlach

gen hoffentlich eingefallen sein: Die Schweiz hat Impfstoff bereits für eine dritte Impfung gebunkert, während in einem Gutteil der Länder, aus denen die Festivalkünstlerinnen und -künstler stammen, dieser womöglich überhaupt nie zur Verfügung stehen wird. Irritierend und absurd schien es diesen Sommer in Zürich in der Tat: Am tiefklaren See zu sitzen, der so sauber ist, dass man aus ihm trinken kann, und sage und schreibe zehn Welturaufführungen vor der Nase vorzufinden, die, mit einer Ausnahme, von Naturkatastrophen, Gewalt und Verheerungen berichten. Beiträge aus Hongkong, Casablanca, Windhoek, Tokio, Yogyakarta, London, Bogotá – und Zürich. Und spätestens als auf dem stillen See eines Nachts die Barke des kolumbianischen Mapa Teatro ankerte und die Geister der ­kolonialistischen Sklaventreiber, von FARC-Revolutionären und ihren 3000 Opfern von Bord gingen, musste es klar sein: Keiner ist heute noch eine Insel. Das trifft für die Schweiz und Zürich in besonderem Maße zu. Die kolonialistische Vergangenheit der Stadt aufzuarbeiten scheint etwas, was ohne politischen Nachdruck offenbar nicht geschehen wird. Doch das Mapa Teatro hält den Finger auf die europäischen Einflüsse in Übersee. Die rauschhafte Produktion „La Despedida“, eine Ethno-Fiktion aus einem Guerilla-Camp, die den Zyklus „Anatomia de la violanca en Columbia“ beschließt, sowie die rituelle Performance „La Balsada“, koproduziert vom Theaterspektakel, zählten zu den sinnlichsten und den bildgewaltigsten Beiträgen des Festivals. Dass die autobiografische Tanz-Verausgabung „Fuck Me“ der argentinischen Tänzerin Marina Otero demgegenüber der gewalttätigste war, ist keine Überraschung: 15 nackte Muskelmänner, die allesamt Pablo heißen, werden von ihr durch ihre persönliche Leidens- und Leistungsgeschichte gepeitscht, die im Heute endet. Oteros Körper ist beschädigt. Die Männerschlachtung ist kein schöner Anblick, als Abrechnung mit dem anderen Geschlecht – und einer von Männern bestimmten Karriere – aber ein ironischer Leckerbissen. Apropos Bilder und ihr Gewaltpotenzial. Es war uns dieses Jahr eine Schweizer Uraufführung versprochen, für die man sich, um an Karten zu kommen, die Finger bis zu den Ellenbogen leckte. Der Choreograf und Bühnenkünstler Martin Zimmermann zeigte mit drei seiner Freunde die Produktion „Danse Macabre“. Der ­Totentanz eröffnete das Festival mit, versammelte auf einer Müllkippe drei gewaltbereite Randexistenzen, die von einem Mr. Skeleton (Martin Zimmermann) zu einer Monster-Family zusammengeschweißt hätte werden sollen. Oder so ähnlich.

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Die Premiere dieser absurden Zirkus-Tanz-Theaterproduktion zeigte überzeugenden Schmiss, Tanzkönnen von Tarek Halaby, doch beim Theaterspektakel wollte der Funke noch nicht richtig überspringen. Zimmermann selbst, ein großer Tourneekünstler, erfuhr wohl zwischen Sibiu und Athen, dass ihm während des Zürcher Festivals das Bundesamt für Kultur, verdienter­ maßen, den wichtigsten Tanz- und Theaterpreis des Landes zusprach, den Schweizer Grand Prix Darstellende Künste / Hans Reinhart-Ring 2021. Die Preisverleihung wird Ende Oktober stattfinden. Eine Spezialität des Theaterspektakels sind seine kleinen Formate. Hier glänzten insbesondere zwei Produktionen und stießen im Publikum auf große Resonanz: „Trio – For the Beauty of It“, eine Premiere der Gruppe La Fleur (Monika Gintersdorfer), war eine davon. Die Bühne teilten sich die zeitgenössischen Tänzer Alex Mugler, der New Yorker Star des Voguing, und Carlo ­Gabriel Martinez, Experte für die Sonidero-Kultur und Ordinateur aus der Elfenbeinküste, der den ivorischen Tanzstil Coupé-Decalé wie eine Maschine beherrscht. Ihr kollektives Empowerment, das das Publikum auffordert, Selbstermächtigung durch Bewegung zu erleben, geht tief unter die Haut.

KICK OFF WOCHENENDE

03. - 05.12.2021 Infos und Anmeldung unter iti-germany.de Internationales Theaterinstitut – Zentrum Deutschland

Ethno-Fiktion aus einem Guerilla-Camp – Die rauschhafte Produk­tion „La Despedida“ des Mapa Teatros. Foto Christian Altorfer

Die Coming-of-Age-Performance der großartigen Helena de Laurens hat nicht die Spur dieser Wirkung, dennoch ist sie irre bezwingend. De Laurens tanzt, spricht, spielt ihr Solo „_jeanne_dark_“ der französischen Autorin und Regisseurin Marion Siéfert in ihr Handy und schildert dabei den Identitätszerfall einer 16-Jährigen auf Instagram. Das ist künstlerisch virtuos, technisch magisch, der Instagram-Livestream ist Teil der Show – und über allem grässlich spaßig, weil von hohem Unterhaltungswert. Diesen garantiert das Nature Theater of Oklahoma ohne Kompromisse. „Burt Turrido“, eine Koproduktion mit dem Theaterspektakel, ist ein fast vierstündiger Katastrophenabend als ­Folk-Oper-Persiflage der allerfiesesten Sorte. Selten hat man die Eroberung Amerikas so klug verschnitten gesehen mit einer ­Science-Fiction über den Untergang unseres Planeten und einer Trash-Variante von Wagners „Fliegendem Holländer“. Eine Frage darin setzt sich nachhaltig fest: „Kann Liebe ein Virus sein?“ Das Gruseln, das sich mit ihr verbindet, ist von heute und hier. //

DIE ITI AKADEM E Akademie für junge Kulturschaffende

Das Festival Theater der Welt und die Zukunft von Internationalität, Transnationalität und Diversität in den darstellenden Künsten.


festivals

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WEISSE NÄCHTE

In den Wald, in die Pfützen Das Festival Weiße Nächte am Mülheimer Theater an der Ruhr setzt sich mit den Tücken der Natur auseinander von Martin Krumbholz

I

n den Park, in den Park!“ scheint das Mülheimer Theater an der Ruhr (fast) jeden Sommer zu locken, frei nach Anton Tschechow, dessen „Drei Schwestern“ es bekanntlich „nach Moskau, nach Moskau“ zog: Die Weißen Nächte stehen an. Leider sind die Nächte in diesem Extremwetter-Sommer ­weniger weiß (das sind sie sowieso selten) als feucht und kühl. Am Tag der Open-Air-Premiere von „Onkel Wanja. Into the Trees“ in der Regie von Philipp Preuss ist es mit 26 Grad zwar relativ warm gewesen, aber am Ende des Abends, es geht auf Mitternacht zu, zieht die Verdunstungskälte aus den umstehenden Bäumen empfindlich durch die Zuschauerreihen. Man sitzt hier eben nicht gemütlich im Sälchen, sondern, mit Kopfhörern, auf Stühlen auf einer Wiese, den Blick auf die prächtige Kulisse des früheren Solebads, des heutigen Theaters an der Ruhr, gerichtet, das anfangs noch blass im Tageslicht stand und nach Einbruch der Dunkelheit spektakulär beleuchtet wird, am Ende sogar mit einem kleinen Feuerwerk. Tschechows „Szenen aus dem Landleben“ spielen sich auf den Balkonen und in den 26 Zimmern des herrschaftlichen Guts ab, in dem Onkel Wanja (Felix Römer) schuftet und sein Schwager Alexander Serebrjakow, ein emeritierter Professor, die Zeit totschlägt, allerdings mit bemerkenswert schlechter Laune. Er hat eine junge Frau geehelicht, die sich auf dem Gut naturgemäß unwohl fühlt, obwohl ihr fast alle Männer (außer ihrem eigenen) den Hof machen. Die interessanteste Figur des Stücks ist zweifellos der Arzt Michail ­ ­Lwowitsch Astrow, ein Hobby-Klimatologe des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der das Waldsterben mit einer Schärfe vorhersagt, als lebte er hundert Jahre später. Preuss lässt seinen Darsteller Günther Harder wiederholt auf einem Motorrad mit Chauffeur an- und abrauschen: Astrow ist unentbehrlich, nicht als Hausarzt, sondern eher als Hausfreund, als der Einzige, der eine normale Unterhaltung führen kann, woran ihn auch sein notorischer Pessimismus nicht hindert. Sonja, Wanjas Nichte, liebt ihn, Jelena, die Frau des Professors, liebt ihn ebenfalls, was man in dieser zwischenmenschlichen Einöde gut versteht. Aus der Titelfigur „Onkel“ Wanja macht Römer einen latent oder virulent aggressiven Säufer, dessen Wutanfälle mal in unmittelbarer Nähe des Publikums, mal in großer Entfer-

Ungesundes Landleben – Felix Römer spielt Anton Tschechows „Onkel Wanja“ in Mülheim als aggressiven Säufer. Foto Franziska Götzen

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festivals

nung auf dem breiten Balkon des Hauses exerziert werden, von einer Livekamera übertragen. Die physischen Entfernungen spielen in dieser Aufführung keine geringere Rolle als die emotionalen. Auf allen Etagen öffnen und schließen sich Fenster und Balkontüren, kommen Personen zum Vorschein und verschwinden wieder. Von der Parkseite her betrachtet sieht das Theater an der Ruhr ja tatsächlich aus wie ein herrschaftliches Landgut aus dem 19. Jahrhundert. Die Projektionen verwandeln die breite Fassade wiederholt in eine Cinemascope-Leinwand. Wenn Astrow Jelena über das Waldsterben belehren will, scheint die Professorengattin darin eine Art Mansplaining zu sehen, welches sie mit unverhohlenem Desinteresse quittiert. Wie alle realistischen Prognosen in sämtlichen Tschechow-Stücken beeindrucken diese Ausführungen niemanden, da alle zur Genüge mit ihrem Selbstmitleid beschäftigt sind. Den Professor präsentiert Preuss gleich in drei­facher Ausfertigung, vielleicht um diese jämmerliche Figur, eine Art unheiliger Dreifaltigkeit, in ihrem grässlichen Egoismus noch jämmerlicher erscheinen zu lassen. Die beiden jungen Frauen, Jelena und Sonja, werden von neu zum Ensemble gestoßenen Künstlerinnen gespielt, Sarah Moeschler und Berit Vander: In der schönsten Szene des Abends vereinen beide sich für ein französisches Chanson, Wange an Wange. Warum das Misstrauen, fragen sie sich gegenseitig; beide sind in den Arzt verliebt, aber da der davon ohnehin nichts mitbekommt, gibt es auch keinen Grund zur Eifersucht. Alles gut. Und wenn Wanja in seiner Enttäuschung und maßlosen Wut zweimal auf den Professor schießt, gehen drei der Schüsse daneben. Anders als etwa seinen

Die einzige Thüringer Wahl: THEATERHAUS JENA Spielzeitstart: 01.10.2021 · www.theaterhaus-jena.de

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„Kirschgarten“ hat Tschechow dieses Stück nicht als Komödie tituliert – vielleicht wollte er über das Waldsterben keine Witze machen. Das Programmangebot der Weißen Nächte ist diesen Sommer vielfältig wie nie. Unter dem Motto „Zurück zur Natur“ gibt es ein sorgfältig kuratiertes Konzertprogramm, Lesungen, SpokenWord- und andere Performances bis hin zur Erforschung einer ominösen Amoesia vulgaris, 14 Tage lang, und die Leute strömen herbei, trotz des mäßigen Wetters. Just an dem Abend, als sich der berühmte Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani (der einst am Theater an der Ruhr ein Praktikum absolviert hat) einfindet, um mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer einen sogenannten „Gedankengang“ durch den Raffelbergpark zu unternehmen, regnet es nicht nur ein bisschen, nein, es gießt in Strömen. Was tun? Abwarten und Weißwein trinken. Der Regen schmettert ins Weinglas. Aber die Leute mit ihren grün blinkenden Kopfhörern behalten die Ruhe. Zurück zur Natur heißt ja auch: sich mit ihren Tücken und zunehmenden Unberechenbarkeiten auseinandersetzen. Die ­„Onkel-Wanja“-Spieler hoffen immer noch, um neun auftreten zu können. Und siehe da, kurz nach sieben hört der Regen schließlich auf. Schäfer und Kermani traben los, eine Schleppe von Gefolgs­ leuten hinter sich herziehend, in den Wald, in die Pfützen. Es gehe bei der Afghanistan-Katastrophe nicht nur um Moral und Humanität, beginnt Kermani. Nein, der Westen scheine gar nicht zu sehen, dass er sich selbst erheblich schade mit seinem Rückzug, seinem Fatalismus. Denn was den Westen etwa vor China oder Russland auszeichne, das „Alleinstellungsmerkmal“, wie Kermani sagt, sei ja nicht die technische Kompetenz, das Know-how. Es sei vielmehr das Lebensmodell, das man den sogenannten Schwellenländern vor Augen führe, der Pluralismus, der Liberalismus. Und nun, in einer bodenlosen Geschichtsvergessenheit, da nicht einmal mehr die Akteure wüssten, was vor zwanzig, dreißig Jahren geschehen ist, lasse man all das dahinfahren und überantworte ein Land wie Afghanistan und eine einst blühende, moderne Stadt wie Kabul – in der (wie Kermani sich zu erinnern glaubt) in den Sechzigern mehr Frauen studierten als in Köln – dem Mittelalter. Der afghanischen Armee, so Kermani, könne man gar keinen Vorwurf machen. Wenn ein Staat wie die USA, wie unter Trump geschehen, sich in Katar mit den Taliban an einen Tisch setze und einen Deal aushandele, mit dem Bündnispartner der neunziger Jahre also, dann signalisiere das in aller Unmissverständlichkeit, dass die USA die Seiten gewechselt und den Partner getauscht oder besser gesagt zu ihrem ursprünglichen Verbündeten zurückgefunden hätten. Wozu sollten die Afghanen, trotz ihrer Überzahl, dann noch kämpfen? Woher sollten sie die Moral nehmen, eine Ressource, über die der Feind natürlich im Überfluss verfüge? Navid Kermani redet sich in Rage, äußerlich ruhig zwar, aber doch spürbar angefasst von den sich überschlagenden Ereignissen der letzten Wochen. Er zieht auch einige Parallelen zum Iran, seinem Herkunftsland, aus dem seine Eltern einst, während des Schah-Regimes, nach Deutschland emigriert sind. Kermani wurde 1967 in Siegen geboren. 1979 wurde der Schah von Persien durch den Ajatollah ersetzt. Der fundamentalistische Islamismus, von dem lange kaum die Rede war, erfuhr eine ungeahnte Renaissance. Über den Koran und die anderen heiligen Schriften spricht Kermani an diesem Abend nicht, aber man weiß, wie traurig es ihn stimmen muss, welche Wirkung diese Lehren heute entfalten dürfen. //


festivals

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SOMMERFESTIVAL KAMPNAGEL

Durch den Schornstein auf die Metaebene Das Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg präsentiert ein Best-of der zeitgenössischen Bühnenkunst von Theresa Schütz

turen bewegt sich zwischen Slapstick und abstraktem Surrealismus und verlangt den Performenden artistische Körperbeherrschung ab. Nach und nach beginnen klei  ogetherness“ – so lautete das diesjährige Motto des Sommerfestinere und größere Katastrophen über die Gemeinschaft hereinzubrechen. vals auf Kampnagel, das in Hamburg mit einem dreiwöchigen, prallen, inErst bringt ein Kurzschluss den Stromkasten zu Boden, beim Papp­ terdisziplinären Angebot aufwartete. Der Begriff hebt dabei weniger auf elefanten bahnt sich gesteigerte Nervosität ihren Weg in die Bewe­ eine thematische, kuratorische Setzung durch Festivalleiter András Siegungsabläufe, und der Riese verliert plötzlich seinen Oberkörper und dabold als auf die Tatsache ab, dass sich Menschen nach Monaten des pandemit seine Orientierung im Raum. Ohne Möglichkeit zur Gegenwehr miebedingten Lockdowns nun endlich wieder gemeinsam im Theater wird die Gemeinschaft zuletzt auch versammeln konnten. Und tatsächnoch von einem monströsen Plastiklich war das Sommerfestival – zukraken eingenommen. Von überall, selbst aus dem Inneren des Hauses, mindest für mich – das erste Theaterfestival des Jahres, bei dem sich machen sich mit Luft befüllte lange, trotz strenger Hygienebestimmunbunte Plastikschläuche breit. In einer gen mal wieder ein richtiges Festivalfantasievollen und doch abstrakt bleigefühl einstellen konnte. Was es zu benden Form entsteht so ein viel­ sehen und zu erleben gab, ließe sich deutiges Bild, das für die einbrechendabei durchaus als Best-of zeitgenösde Klimakatastrophe ebenso stehen kann wie für die machtvolle Zerstösischer, Genregrenzen sprengender Bühnenkunst bezeichnen. Funken schlagender Protagonist – In Miet Warlops rung und Übernahme einer Region Sommerfestival-Beitrag „After all Springville: Disasters oder Gemeinschaft. Bei „After all Springville: Disasand Amusement Parks“ wird’s gefährlich, wenn der ters and Amusement Parks“ von Nicht Objekte, sondern PupStromkasten niesen muss. Foto Miet Warlop Miet Warlop handelt es sich um die pen spielen auch im Vorspiel von Gisèle Viennes Inszenierung von Neuinszenierung von „Springville“, eines ihrer frühen Objekttheater„Der Teich“ eine Rolle. Zunächst sind im weißen Bühnenkasten, in dem lediglich ein Bett steht, Werke. Im titelgebenden Ort, den ein Papphaus in der Bühnenmitte symbolisiert, versammeln sich vornehmlich wortlos: ein nur sie zu sehen, um sogleich von einem Bühnenarbeiter behutStromkasten auf Beinen, der Funken schlägt, wenn er niesen sam nacheinander von der Bühne getragen zu werden. Ihre Kleimuss, ein buchstäblicher Stehtisch auf langen Beinen in Strumpfdung, die Requisiten am Bett und die laute elektronische Musik deuten eine thematische Verortung im Milieu und der Zeit von hosen und Pumps, der im Verlauf des Abends von einem Papp­ karton-Elefanten, der hin und wieder lila Wolken ausdünstet, einTeenagern an. In „Crowd“ (2018) setzte sich Vienne bereits mit Rave als spezifischer Jugendkultur auseinander und kreierte ein gedeckt wird, sowie ein joggender Riese, der seinen Müll vor dem Haus entsorgt. Die Ästhetik des Ensembles lebender ObjektskulpTableau vivant einer tanzenden Menge, das sich den ganzen

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Abend ausschließlich im Slow-Motion-Modus entfaltete, um auf diese Weise bestimmte Bewegungs- und Habitus-Codes herauszupräparieren. Es ist die übergeordnete Frage, wie sich soziale Normen insbesondere in der Teenager-Zeit in unsere Körper einschreiben und dort zu bestimmten Ausdrucks- und Empfindungsweisen leiblich verdichten, die Viennes jüngere Arbeiten verbindet. Auch in „Der Teich“ bewegen sich die beiden Darstellerinnen Adèle Haenel und Ruth Vega Fernandez automatengleich in Slow Motion. Der Inszenierung liegt das gleichnamige Stück von Robert Walser zugrunde, in dem der junge Fritz einen Selbstmordversuch im nahegelegenen Gewässer fingiert, um von seiner Mutter, von der er sich nicht ausreichend gesehen und geliebt fühlt, die ersehnte Aufmerksamkeit und Bestätigung zu erheischen. Anstatt nun das in schweizerdeutscher Mundart verfasste Kurzdrama szenisch zu bebildern oder in eine psychologisch-realistische Darstellungsform zu übersetzen, erschafft Vienne mittels Soundscape, monochrom-wechselnder Beleuchtung, Elementen der Choreografie und einer schwer in Worte zu fassenden Spielweise ein Bühnenkunstwerk verdichteter Stimmungen. Gefühle der Überforderung, der Eifersucht, der Scham, Unsicherheit und Angst – sie entfalten sich hier nicht über den Dialog, sondern ­werden über das Zusammenspiel der verschiedenen Ausdrucksmedien orchestriert. Aus Haenels gekrümmt-verspanntem Körper sprechen wechselnd die Stimmen von Fritz und seinen Ge­schwis­ tern und aus dem von Fernandez die elterlichen Autoritäten. ­Liebesentzug, Manipulation, Vorwürfe, gegenseitiges Ausspielen –

eröffnung neubau

FR 17.09. bis SO 31.10.21

Eine Initiative von Tanztendenz München e. V., PATHOS München e. V. und scope – Spielraum für aktuelle Musik im Kreativquartier. Gefördert durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München.

Dynamiken, die in vielen Familien über den Walser-Stoff hinaus zu finden sind, werden von ihnen jenseits eines psychologisierenden Zugriffs verstörend und zugleich ungemein eindrücklich verkörpert. Eine entgegengesetzte Zuschau-Erfahrung, nämlich eine singularisierte und eher körperlose, konnten Festival-Besuchende bei „I am (VR)“ von Susanne Kennedy machen. Hierfür hat die Theaterregisseurin das worldbuilding ihrer Vorgänger-Produktionen „Ultraworld“ (2020) und „Coming Society“ (2019) sowohl ­ästhetisch als auch inhaltlich in das Medium der virtuellen Realität übertragen. Zuschauende können mittels VR-Brillen in jene simulierte Parallelwelt eintauchen, die Kennedy seit ein paar Jahren gemeinsam mit Markus Selg und Rodrik Biersteker ent­ wickelt. Eine Welt, die voll ist von Zeichen aus der griechischen und ägyptischen Mythologie, dem Schamanismus und der Eso­ terik, und die von Avataren häufig im Modus des Spiels aus­ zukundschaften versucht wird, nicht zuletzt, um dabei zu einer Form der (Selbst-)Erkenntnis zu gelangen. Die Perspektive in der VR suggeriert, dass man auf einer Art automatisch betriebener Scheibe sitzt, die einen durch die Räume navigiert. Ziel ist es, das Orakel zu sehen und eine Frage zu stellen. Dafür bedarf es einer gewissen Vorbereitung. In dem einen dafür vorgesehenen Raum („The Forest“) werde ich in ein vermeintliches Naturidyll zwischen Kiefernwald und Felsmassiv versetzt, in dem eine Drohne mitanwesend ist und eine männlich gelesene Stimme mir erklärt, dass ich hier allein kraft meiner Gedanken etwas erzeugen könne – wie zum Beispiel ein Feuer, das daraufhin neben mir auflodert. Im anderen Raum („The Narrative“) wird mir ähnlich wie bei „Matrix“ anhand einiger Videobilder aus meiner Realität aufgezeigt, dass auch diese im Grunde nur eine Simulation sei. Dann werde ich durch einen hohen Schornstein auf eine andere Ebene befördert, wo sich eine Landschaft aus Wüste, Planetenkugeln und Bäumen, deren Äste wie Nerven­ bahnen aussehen, auftut. Hier treffe ich auf das Orakel, das von einem großen „echten“, in die VR hinein montierten Auge symbolisiert wird. Unabhängig davon, ob und welche Frage ich stelle, gibt die weiblich gelesene Stimme als nichtssagende Antwort: „Don’t fool yourself. You are the one.“ Auch wenn ich ähnlich wie nach der Sichtung der Bühnenstücke verunsichert bin, wie die Haltung der Arbeit zur gestalteten Weltversion eigentlich ist – ob diese kritisiert oder affirmiert werden soll –, so überwiegt hier die Faszina­tion für die technisch perfekte Umsetzung und Kennedys offensichtliches Faible für existenzielle Fragen nach dem, was den Menschen und insbesondere das durch den westlichen Rationalismus geprägte, denkende Subjekt ausmacht. Ein Bewusstsein dafür, dass und inwieweit neue Technolo­ gien wie VR in globale und neokoloniale Machtgefüge verstrickt sind – sei es durch den Natur und Lebensraum zerstörenden Abund Raubbau von Ressourcen, sei es durch digitalen Kolonialismus, der durch den Einfluss der Silicon-Valley-Tech-Giganten entsteht, konnte Kennedys Arbeit allerdings nicht produzieren. Umso wichtiger, dass dies bei der in das Festival eingebetteten Tagung „The Future of Code Politics. Decolonial and Transfeminist Visions for Artificial Intelligence, Algorithms and Codes“ durch so inspirierende Stimmen und Positionen wie die von Timnit Gebru oder Wendy Chun ergänzend nachgeholt werden konnte. //


auftritt

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CHANGES

Berliner Festspiele 2012–2021

Herausgegeben von Thomas Oberender

Formate Digitalkultur Identitätspolitik Immersion Nachhaltigkeit

Buchverlag Neuerscheinungen

Welche Rolle spielen Trauer- und Abschiedsrituale in unserer Zeit und wie können wir Räume schaffen, in denen sich Kunst, Fürsorge und Rituale begegnen? Die Kuratorin Barbara Raes hat 2020 bereits zum zweiten Mal auf Einladung des internationalen Produktionshauses HAU Hebbel am Ufer mit Berliner Künstler:innen zu diesen Fragen recher­ chiert. In dem Versuch, einen unbefangenen Zugang zu diesen Themen zu schaffen und damit ein gesellschaftliches Tabu zu brechen, sind neun sehr persönliche Arbeiten rund ums Abschiednehmen entstanden.

Dieser Reader ist die Selbstanalyse einer Institution und ihres Programms, und er ist gleichzeitig der Versuch, ästhetische und politische Ereignisse, wie Botho Strauß es nannte, zusammenzudenken. Im Brennglas eines Jahrzehnts werden wesentliche Wandlungen in der Organisation von Festivals, Ausstellungen, Aufführungen und Diskursveranstaltungen entlang von fünf Leitbegriffen reflektiert: Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion und Nachhaltigkeit.

Unacknowledged Loss II Kunst und Rituale Herausgegeben vom HAU Hebbel am Ufer

CHANGES Berliner Festspiele 2012 – 2021 Herausgegeben von Thomas Oberender

Paperback mit 160 Seiten Zweisprachig deutsch / englisch ISBN 978-3-95749-389-7 EUR 12,00 (print). EUR 9,99 (digital)

Paperback mit 520 Seiten Zahlreiche farbige Abbildungen ISBN 978-3-95749-398-9 EUR 24,00 (print). EUR 19,99 (digital)

Würde Goethes tragischer Held Werther im 21. Jahrhundert leben, würde er wohl keine Briefe schreiben. Vielleicht – so die Idee von Baldr, dem kreativen Theaterduo aus Thomas Leboeg und Johann David Talinski – würde er seine Gefühlsausbrüche zwischen Liebe und Wut in Konzerten zum Ausdruck bringen. In einem Hybrid aus Musikalbum und Hörspiel stellen Baldr ihre Auseinandersetzung mit „Die Leiden des jungen Werther“ vor.

Wut ist eine allen Menschen vertraute Emotion und ihre individuelle und gesellschaftliche Einhegung ein mühsamer Lernprozess. Ist die Wut grenzenlos, droht der gesellschaftliche Kollaps. Erlahmt sie, droht Stillstand. Bernd Stegemann zeigt in seinem brillanten Essay, wie eine Wutkultur die Balance zwischen Produktivität und Negativität finden muss, damit wir in den Stürmen des 21. Jahrhunderts nicht untergehen.

Release-Konzert am 02.10.2021, Theater Lübeck baldr & die natur Die Lieder des jungen Werther

Bernd Stegemann Wutkultur

Musik-CD mit 19 Tracks und umfangreichem Booklet Spieldauer: 45 Minuten EUR 15,00 (physisch). EUR 10,99 (digital)

Leinengebundenes Hardcover mit 100 Seiten ISBN 978-3-95749-341-5 EUR 12,00 (print). EUR 9,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Die Stadt als Spielfeld Für ihre Berliner „Floating University“ haben die Theaterarchitekten von raumlabor gerade den Goldenen Biennale-Löwen in Venedig gewonnen, in Frankfurt sind sie mit einem temporären Logentheater präsent – Ein Porträt von Patrick Wildermann

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enn es an den Tagen zuvor stark geregnet hätte, würde das Wasser Benjamin Foerster-Baldenius jetzt bis über die Knie reichen. Und die offenen Holzbauten ringsum wären schwimmende Inseln in einer Wildwuchsvegetation aus Schilf, Gräsern und Sumpfdotterblumen. Das Areal – ein Regenwasserrückhaltebecken an der Berliner Lilienthalstraße, unweit des Columbiadamms und des ehemaligen Flughafens Tempelhof – ist geschaffen worden, um die Gegend vor Überschwemmung zu schützen. Die versiegelten Betonflächen des riesigen Flughafengeländes

produzieren im Schlechtwetterfall ein enormes Wasseraufkommen, die Kanalisation wäre damit überfordert. Deswegen gibt es diesen Ort, der versteckt neben einer Schrebergartenkolonie liegt, von der Straße aus gar nicht zu sehen, im öffentlichen Bewusstsein kaum verankert. Früher soll hier mal eine hölzerne Radrennbahn gestanden haben. Aber die brannte ab. Seit 2018 beheimatet das Regenbecken die „Floating University“, für die das Kollektiv raumlaborberlin gerade den Goldenen

Eine experimentelle urbane Praxis, die Fragen nach dem Miteinander der Stadtgesellschaft stellt – die preisgekrönte Berliner „Floating University“ von raumlabor. Foto Alexander Stumm


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Löwen der Architekturbiennale Venedig gewonnen hat. Durchaus eine Überraschung, auch für die Geehrten selbst: „Normalerweise bekommen bauende Architekten Preise für ihre Gebäude“, so Mitgründer Foerster-Baldenius. Raumlabor stehen aber nicht für schauprächtige Glasfassaden und Überwältigungsformen, sondern für eine experimentelle urbane Praxis, die Fragen nach dem Mit­ einander der Stadtgesellschaft stellt – und ihre konkreten Andockmöglichkeiten immer wieder im Bereich der Performance findet. Auf dem 20 Zentimeter dicken Asphaltboden des Regen­ beckens, der früher das kerosinverseuchte Flughafenwasser vom Einsickern abhalten sollte, haben raumlabor unter anderem eine hölzerne Bar errichtet. Ein Tuch fängt Regenwasser auf, das durch einen Filter läuft und trinkbar ist. Vom Genuss des Wassers ­wiederum, das von Flughafen und Columbiadamm durch ein 2,50 Meter breites Rohr auf die Fläche gespült wird, würde der Architekt dringend abraten. Es führt zu viel Stadtstaub und Müll mit sich. „Für uns ist das ein Sinnbild dafür, wie wir nicht nur in Berlin, sondern in vielen Städten und an vielen Orten mit unseren Ressourcen umgehen“, so Foerster-Baldenius. Eines der Themen, die in der „Floating University“ in Kooperation mit Universitäten, Kulturschaffenden, Kindern und Nachbarn beleuchtet werden – soziologisch, journalistisch, philosophisch, künstlerisch.

Schauen, was zum Ort passt Auch namhafte Theaterleute haben das Areal schon in Augenschein genommen, Frédérique Aït-Touati zum Beispiel, bekannt durch ihre Zusammenarbeit mit Bruno Latour, oder der französi-

raumlabor

sche Regisseur Philippe Quesne. Es gab die Überlegung, ob die grüne Fläche sich für dessen magisch-entrückte Inszenierung „Swamp Club“ eignen würde, die von einer Gruppe Niemandsland-Bewohnerinnen und -Bewohnern erzählt. Die Idee wurde aber wieder verworfen. Das Setting wäre zu realistisch. Überhaupt, findet Foerster-Baldenius, eigne sich die „Floating University“ besser für Ausprobierformate von Choreografie-Studierenden der Berliner Universität der Künste als für aufwendige Theaterereignisse. Gemäß der raumlabor-Philosophie: schauen, was zum Ort passt, statt ihm Konzepte überzustülpen. Die urbanen Denkerinnen und Denker beherrschen ja durchaus Großformate. In Berlin koordinieren sie in einer Allianz aus einer Vielzahl von Akteuren und Initiativen aktuell auch den­ Umbau des Hauses der Statistik am Alexanderplatz, ein Filetgrundstück in der Mitte einer Platzmangel-Metropole, umgeben von hochschießenden 130-Meter-Gebäuden. Wenn die „Floating University“ eine bewegliche Fregatte sei, so Foerster-Baldenius, dann sei das Haus der Statistik ein Tanker. In der Vergangenheit haben raumlaborberlin zum Beispiel mit dem „Küchenmonument“ für Furore gesorgt, einer Zinkblechskulptur, die aus dem Inneren pneumatisch eine 20 Meter lange Folienhaube herausblasen konnte, mit Platz für bis zu 80 Menschen. Oder sie haben – zum Abschied von Matthias Lilienthal am HAU 2012 – das Tempelhofer Feld in eine „Weltausstellung“ verwandelt, die unter dem

Coronakonformer Kunstgenuss im Logentheater – der temporäre Sommerbau des Frankfurter Mousonturms. Foto Jörg Baumann

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Titel „The World Is Not Fair“ ironisch mit globaler Geltungssucht und kolonialer Attitüde spielte. Die Architektinnen und Architekten gestalten längst auf allen Kontinenten Biennale-Pavillons, ­Szenografien für Ausstellungen, Bühnenräume. Und irritieren immer wieder mit smarten temporären Interventionen an bis dato unbelebten Plätzen. Das Kollektiv – zu dem neben Foerster-Baldenius Andrea Hofmann, Axel Timm, Christof Meyer, Florian Stirnemann, Francesco Apuzzo, Frauke Gerstenberg, Jan Liesegang und

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­ arkus Bader zählen – existiert seit 1999, die meisten der heuM tigen Mitglieder waren damals schon dabei. Als Uni-Absolventinnen und -Absolventen hatten sie einen kleinen Laden unweit der Berliner Volksbühne, in der Almstadtstraße, der als Experimentierstudio diente. Den Namen raumlaborberlin gab sich die Gruppe schlicht, weil sie einen benötigte. Für die Teilnahme an einem offenen Wettbewerb zum Ausbau der U-Bahnlinie 5 nämlich. Verschiedene Plätze oberhalb der geplanten Strecke sollten gestaltet werden, die jungen Architektinnen und Archi-

Verlassen Sie das Haus und retten Sie Ihr Leben! Rabih Mroué betreibt im Sommerbau eine Exegese psychologischer Kriegsführung

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er glaubt, Kunst könne nichts bewegen, wird spätestens in der Lecture-Performance „Before Falling Seek the Assistance of Your Cane“ des Regisseurs und Schauspielers Rabih Mroué eines Besseren belehrt. Sein Vortrag im Sommerbau des Frankfurter Mousonturms gibt genug Stoff für eine Groteske her und präsentiert eine erstaunliche Story: Im Rahmen einer Ausstellung im Salzburger Kunstverein plakatiert er vor dem historischen Gebäudekomplex ein Flugblatt. Zu sehen ist darauf das Piktogramm einer Bombe, die folgenden Hinweis beinhaltet: „This Location will be bombed shortly. Leave your homes and safe your lifes“ („Dieser Ort wird in Kürze bom­bardiert werden. Verlassen Sie das Haus und retten Sie Ihr L ­ eben“). Wie der Libanese, dem als Jugendlicher selbst ein solches Warnpapier vor einem Luftangriff in Beirut zuflog, darlegt, haben die Pamphlete eine lange Geschichte. Bereits im Vietnamkrieg fanden sie Anwendung. Aber gilt das dann gleich auch für das schöne Salzburg unserer Tage? Zumindest aus Sicht einer Passantin, die bei Betrachtung des Flugblatts prompt die Polizei ruft, die wiederum ein Evakuierungsmanöver des Kunstvereins einleitet. Dass Kunst eine derartige Wirksamkeit entfaltet, kann man sich als Performer nur wünschen. Aber mal ehrlich: „Is art a terrorist?“, so die Frage Mroués. Nein, eine Terroristin ist die Kunst ganz gewiss nicht, dafür aber ein sehr geeignetes Aufklärungsmedium. Vor einem MacBook sitzend, liest das Multitalent auf Englisch und spielt derweil Bilder ab. Dabei werden wir nicht nur Aufnahmen des Projekts in der beschaulichen Mozart-Stadt gewahr, ferner sehen wir, wo sich das Piktogramm etwa noch finden lässt, nämlich mitunter auch auf Material, das Neonazis zur sogenannten Flüchtlingskrise 2015 entwickelten. Das vermeintlich humanitäre Anliegen, die Zivilbevölkerung frühzeitig von einem Bombenangriff in Kenntnis zu setzen, verkehrt sich somit ins Gegenteil. Es entpuppt sich als Psychowaffe – als Motor der Angst, im realen Krieg wie gleichsam in der Propaganda der Rechten.Und so ist dieser Abend weniger durch schauspielerische Volten als viel-

mehr durch eine konzentrierte Exegese gekennzeichnet. I­mmer wieder umkreist der Vortragende die Bedeutung der vom gottlosen Himmel herabfallenden Dokumente, bezeichnet sie als „Einladung zum Exitus“, als „One-Way-Ticket“, das als einzige Richtung nur die Flucht nennt, als scheinbare und vorauseilende Lossagung der Invasoren von ihrer Schuld. Man könnte meinen, diese an verschiedenen Orten der Welt sich ereignende, perverse Inszenierung von Fürsorge für die Bevölkerung sei weit weg. Mehrmals vermittelt allerdings der Zufall dem Publikum, wie sich das Frühwarnsystem für die Betroffenen anfühlen mag. Denn über ihm streifen lautstarke Flugzeuge den nächtlichen Himmel. Die Nähe Offenbachs, wo die Lesung im Rahmen des Programms „This Is Not Lebanon. Festival for Visual Arts, Performance, Music and Talks“ stattfindet, zu den Frankfurter Start- und Landebahnen mutet beklemmend an. Der Sommerbau, die aufwendig gebaute FreilichtArena des Künstlerhauses Mousonturm, erfüllt in diesem Fall also eine geradezu dramaturgische Funktion. Angeordnet als Hexagon, können die Zuschauerinnen und Zuschauer dort in den Seitenlogen des Metallgerüstes oder in der ebenerdigen Mitte Platz nehmen. Obwohl man sich unter einem weiten und offenen Sternenzelt befindet, ist die Atmosphäre sehr intim (und, nebenbei, die Corona-Ansteckungsgefahr weithin gebannt). Man ist dem Künstler nah, kann mit ihm im Anschluss sogar einen Spaziergang zur Nachbesprechung erleben. Sicherlich darf man bei dieser Premiere keine phänomenale Ästhetik erwarten. Nichtsdestotrotz veranschaulicht sie die Macht der Sprache – zum einen tragischerweise für die Strategen hinter den Bombardements, zum anderen für das Theater selbst. Hierin besteht der eigentliche Gewinn der Aufführung: in einer Bühnenkunst, die manchmal nichts weiter braucht als das Wort, gründend auf Welterfahrung, Schmerz und allen voran dem Geist des Widerstandes. Denn Mroués Lesung ist mehr als Klage. Sie entspringt dem Bewusstsein, dem Krieg, so brutal er sein mag, keinen Triumph einzuräumen. Er kann zerstören, aber ihm fehlt stets das Björn Hayer ­Narrativ, das stärkste Mittel der Kunst. //


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tekten schlugen (weil sie sich nicht auf einen Entwurf einigen konnten) drei Entwicklungsszenarien für den Moritzplatz vor: ein urbanes Spielfeld, gekennzeichnet mit Linien wie in der Sporthalle. Einen Berg, aufgeschüttet aus einem freigegrabenen Kanal. Und ein Wäldchen, in dem Menschen in Baumhäusern leben sollten. „Im Grunde“, findet Foerster-Baldenius, „machen wir ­heute noch genau dasselbe: Wohnorte an abstrusen Stellen planen, so etwas wie einen Berg vorschlagen. Grundsätzlich ver­ stehen wir die Stadt als großes Spielfeld.“ Ein solches ist, ganz buchstäblich, auch das aktuelle Sommerbau-Projekt, das raumlabor als temporäre Spielstätte für den Frankfurter Mousonturm entworfen haben: ein Freilicht-Logentheater für den corona­ konformen Kunstgenuss während der warmen Monate, in dem man neben einigen neuen Produktionen vor allem ­Branchenhighlights wie Christopher Rüpings „Dionysos Stadt“ – die Inszenierung des J­ ahres 2019 von den Münchner Kammerspielen – noch einmal in ihrer ganzen Spektakularität als Gastspiele erleben konnte.

Wir fluten den Laden Der Weg in ein gewöhnliches Architekturbüro kam für die raumlabor-Truppe nie wirklich in Frage. Nur einmal hat sich FoersterBaldenius während des Studiums bei einem Architekten mit ­Alkoholproblem verdingt, hat Quadratmeterzahlen für Neubauten in Marzahn-Hellersdorf ausgerechnet – und fühlte sich „wie auf

raumlabor

der Galeere“. Für ihn keine Berufsperspektive. Ganz im Gegensatz zum Theater: Neben dem Studium war der angehende Architekt Mitglied in einer Gruppe namens Atta Koop (benannt nach Heinrich Heines Sommermärchen „Atta Troll“), die unter anderem mit „Don Quijote“-Inszenierungen Tourneen durch polnische Dörfer veranstaltete. Später kamen dann psychedelische ­Performances im Auftrag von Freunden, die unter dem Label Pyonen das Technofestival Nation of Godswana organisierten. ­ „Wir haben uns als Kühe kostümiert und sind früh morgens mit einem Handschuh als Euter und zwei Bananen auf dem Kopf als Hörner durch die Leute gelaufen, die da auf ihrem Trip herumtanzten.“ Foerster-Baldenius und die anderen nannten sich jetzt „rent a friend“: „Weil wir schon gemerkt haben, dass wir unsere Kunst zu verkaufen beginnen.“ Das Schicksal hat ihn dann aber zum Glück nicht tiefer in bizarre performative Nischen geführt. Sondern ans Thalia Theater in Halle an der Saale. Zusammen mit Annegret Hahn und Cora Hegewald entwickelte er in zwei Messehallen ein Stadtspiel für Kinder, die sich ihre eigenen urbanen Lebensräume ausdenken sollten – woraus schließlich 2003 das Projekt „Hotel Neustadt“ erwuchs. Ein 18-geschossiges Gebäude im Rufproblem-Viertel Halle-­ Neustadt wurde von über hundert Jugendlichen in ein Hotel transformiert. Es gab ein Dschungel-Zimmer, ein Oma-­ Zimmer – und weil ja auch Leute dorthin kommen sollten, zogen Foerster-Baldenius und die dazugeholten raumlabor­ Kolleginnen und -kollegen noch ein Theaterfestival auf, an dem

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protagonisten

z­wanzig per Jury-Entscheid gewählte Performance-Gruppen teilnehmen konnten. Gefragt waren passgenaue lokale Ideen, umsetzbar in zwei bis drei Wochen. Die räumliche Verwandlungsfantasie des performativ denkenden Architekturkollektivs bewies sich dann erneut (und nicht minder eindrucksvoll) ein Jahr später. Das HAU unter Matthias Lilienthal und die Sophiensäle in der Leitung von Amelie Deuflhard hatten sich mit dem Forschungsprojekt „Urban Catalyst“ zusammengetan, um aus dem leerstehenden P ­ alast der Republik im Herzen Berlins einen kunstprallen „Volkspalast“ zu machen. Über den beteiligten Architekten ­Philipp Oswalt kamen auch raum­ labor ins Spiel. Deren Idee, entwickelt zusammen mit Peanutz Architekten: „Wir fluten den Laden. Man kann mit Booten darin herumfahren, es entsteht eine Lagunenstadt, die alle mitgestalten können.“ Auch zum Fassadenbau sollten die Volkspalast-Schiffer eingeladen werden – ein Kommentar zum bis heute andauernden Repräsentationskrampf zwischen Preußenglorie und zukunfts­ gerichteter Moderne. Die erste Reaktion von Matthias L ­ ilienthal, erinnert sich Foerster-Baldenius, war wenig zuversichtlich: Das schaffen die eh nicht. Aber sollen sie’s halt versuchen. „Als dann der Hahn aufgedreht wurde, war es das Größte für ihn. Seitdem arbeiten wir eng zusammen.“

Haltung auf Beton gewachsen Lilienthal und raumlabor treffen sich in der Auffassung, dass ­Theater mehr sein muss als hehre Kunst hinter vierter Wand. „Wir schärfen gemeinsam die Frage, wie Gesellschaft, Stadt und Theater zusammenkommen können“, sagt der Architekt. Eine frühe Antwort lautete: Mit dem „Dolmusch X-Press“. Ein Nahverkehrssystem, mit dem HAU als Hauptbahnhof. Spezielle Charaktere aus Kreuzberg wurden dafür 2006 gecastet, die sich bereit erklärten, zwei Wochen lang beispielsweise zwischen 18 und 22 Uhr in ihren Privatautos Menschen auf einer bestimmten Route mitzunehmen. Es gab auch Pferdedroschken und Solarboote auf dem Landwehrkanal, Umsteigebahnhöfe mit künstlerischen Interventionen. „Wir haben nicht die Stadt ins Theater geholt, sondern das Theater in die Stadt.“ Diesem Prinzip folgen die raumlabor-Arbeiten im Per­ formance-Kontext noch immer. Etwa die „ShabbyShabby Apartments“, die das Kollektiv für Lilienthals Theater der Welt in Mann­ heim und auch zur Eröffnung seiner Intendanz an den Münchner

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Kammerspielen in die Stadt setzten. Temporäre Behausungen aus alten Badewannen, Regenschirmen, Holz und Erde, teilweise direkt auf die Nobelmeile Maximilanstraße platziert – und als ­theatrales Erlebnisangebot tatsächlich bewohn- und beschlafbar. Ausgerechnet dieser Kommentar zur konfliktgeladenen Wohnfrage in einer Fantasiepreismetropole feuerte allerdings auf die Macherinnen und Macher zurück – weil die zur Beteiligung eingeladenen Architekturstudierenden und Nachwuchskollektive kein Honorar für ihre Beiträge bekamen. „Wir hatten das Gefühl, wenn man in so ein Projekt auch noch Geld pumpt, macht man es kaputt, weil es in eine Verwertungslogik rutscht“, sagt FoersterBaldenius in der Rückschau. Versichern kann er jedenfalls, dass raumlabor eher nicht die provozierende Reibung sucht: „Wir sind nicht Schlingensief, der ‚Ausländer raus!’ ruft – obwohl wir seinen Stil sehr cool fanden.“ Tatsächlich erscheint das Politische der raumlabor-Arbeiten oft konsensfähig und mühelos oberflächenlesbar. Aber darunter liegen doch subtilere Ebenen. Die „Floating University“ ist ein gutes Beispiel. Natürlich ergibt es Sinn, ein Grundstück, das ­ ­spätestens seit der Berliner Volksentscheid-Absage an eine Bebauung des Tempelhofer Feldes von freidrehender Bodenpreisspekulation bedroht ist, dem Ausverkauf zu entziehen. Wenigstens vorüber­­gehend. Das Areal nimmt aber auch direkten Einfluss auf die ­Debatten, die hier geführt werden – wie aktuell wieder im ­Kontext des jährlichen Festivals Climate Care. „Es bedeutet einen Unterschied, ob wir drinnen oder draußen sind, ob wir in einem Universitätsgebäude sitzen, oder ob neben uns der Reiher landet und einen Frosch frisst“, beschreibt Foerster-Baldenius. „Das eine ist das körperliche Wissen, das man damit aktiviert. Das andere ist das situative Wissen. An einem Ort zu sein, der eine klare oder auch unklare Haltung gegenüber der Stadt entwickelt – und zwar von sich aus –, das fließt in unser Gespräch mit ein, verankert sich.“ Deswegen ist es für raumlabor essenziell, analog vor Ort zu sein. Den Schritt von der Theorie in die Praxis des Einfach-malAusprobierens zu gehen, den Übergang „von Guy Debord in die Realität zu schaffen“, wie Foerster-Baldenius es beschreibt. „Die Implementierung der Idee in den Raum, in die Stadt – das ist die Hürde, die wir immer zu nehmen ver­suchen.“ // Theater der Zeit ist Medienpartner des Sommerbaus von raumlabor am Frankfurter Mousonturm.


kolumne

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Ralph Hammerthaler

In welcher Sprache träumst du, Alida? Wau Wau Wau, die sprühendste Frau der Balkanliteratur

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n Prishtina, auf dem Polip-Festival, hab ich Alida Bremer kennengelernt, das ist jetzt bald zehn Jahre her. Gerade haben wir uns wiedergetroffen, wieder in Prishtina, wieder auf Polip, aber dieses Jahr ist vieles anders, weil dem Virus eingefallen ist, das kleine Land Kosovo bevorzugt heimzusuchen, ohne doppelt Geimpfte zu verschonen. Im Oda Theater versammelt sich die Literarische ­Internationale wie eine verschworene Gemeinschaft, alle maskiert und mit leuchtenden Augen; nur beim Vorlesen oder Diskutieren wird die Maske vom Gesicht gezogen, und wem danach ist, der schielt ab und zu in die Kamera, weil da draußen ja das Publikum sitzt, vereinzelt vor seinen Monitoren. Polip wird um seine langen Nächte gebracht. Nach der letzten Lesung müssen wir rennen, um in den Bars noch etwas zu bekommen. Um halb zehn nämlich machen sie zu, Polizisten drehen ihre Runden, klopfen an die Scheiben und rufen nichts Nettes durch die Tür. Ab zehn herrscht Ausgangssperre. Jetzt sollte ich mein Hotelzimmer beschreiben. Alida ist eine sprühende Frau. Ein treffenderes Wort als sprühend fällt mir nicht ein, höchstens der Superlativ dazu, sie ist die sprühendste Frau der Balkanliteratur. Von der jüngeren kroatischen Szene hab ich nicht das Schlechteste durch ihre Übersetzungen mitgekriegt, Ivana Sajko, Edo Popović, Renato Baretić. Aber übersetzen allein genügt ihr nicht. Sie tritt als Moderatorin auf, als Vermittlerin und Mentorin. In Berlin hat sie einmal Robert Perišić vorgestellt, einen Autor, den hierzulande so gut wie niemand kennt, dabei steht sein Name in dem Band „Neue Literatur aus Kroatien“ für die beiden tollsten Geschichten. Alida hat ein offenes, freundliches Gesicht, so offen und freundlich, dass sie wie ungeschützt wirkt, selbst mit Maske. Aber das täuscht. Denn sie lacht viel, und ich bilde mir ein, dass dieses Lachen sie schützt. Als sie den Brücke Berlin Theaterpreis erhielt, sie als Übersetzerin zusammen mit der serbischen Dramatikerin Iva Brdar für das Stück „Daumenregeln“, hab ich im Deutschen Theater die Laudatio gehalten. Zwei Tramperinnen sehen einen toten Hund auf der Straße liegen, eine davon redet mit dem Kadaver, und weil sie nicht sicher ist, ob der Hund sie versteht, versucht sie es so, wie der Mensch denkt, dass der Hund spricht: „Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau Wau“, dreißig Mal Wau, weil man korrekt zitieren muss, selbst

wenn dieses Zitat den für mich eh zu engen Platz der Kolumne zusätzlich bedrängt. Aber der Hund antwortet nicht, vielleicht weil er tot ist. „Olivas Garten“ heißt Alidas erster Roman. Für mich hat sie ihn mit dem handschriftlichen Hinweis versehen: „Die Beschreibung meines Split-Sehnsuchtsorts findest Du auf der Seite 52!“ (Weil ich sie einmal, denn auch einfältige Fragen sind erlaubt, nach ihrem Lieblingsort auf dem Balkan gefragt hab.) Gemeint ist die Fähre von Split zur Insel Brač. In Split nämlich ist sie geboren und aufgewachsen, in Belgrad und Rom hat sie Sprachen studiert, in Münster aber ist sie hängen geblieben, das ist mir ein Rätsel. Vor Kurzem kam ihr zweiter Roman heraus, „Träume und Kulissen“, über den bewegten Sommer 1936 in Split, und zwar im Salzburger Verlag Jung und Jung, der auch Peter Handke pflegt ab und zu, ausgerechnet. Denn dass Handke den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, dagegen hat sie damals protestiert, auch in Stockholm. Sie zog haarsträubende Interviews aus serbischen Gazetten hervor und machte sie publik. Wau Wau Wau. Aber Handke antwortete nicht, vielleicht weil er tot war, vom Verstand und Gefühl her. In Prishtina sitzt sie als teilnehmende Moderatorin mit dem griechischen Dichter Dimitris Lyacos und dem mazedonischen Dichter Nikola Madžirov auf dem Podium, Slavenka Drakulić ist aus Istrien zugeschaltet. Eigentlich geht es um Bücher, die uns helfen sollen, die Welt von heute zu verstehen, Krisen, die Pandemie. Niemand schlägt Camus vor, dafür Brecht, Deleuze und Fernando Aramburu. Unversehens verkehrt sich alles ins Existenzielle, ohne dass Literatur überflüssig würde, es geht um Leben und Tod. Nikola und Slavenka erzählen von schweren Covid-Erkrankungen. Einen Monat lag Nikola im Krankenhaus und kämpfte ums Überleben, links und rechts starben Menschen; Slavenka leidet bis heute unter den Folgen. 1956 lag Brecht in der Charité und hörte am Morgen die Vögel singen. Dass sie weitersängen, auch wenn er nicht mehr sein würde, tröstete ihn. Am nächsten Tag frag ich Alida, in welcher Sprache sie träume. Ich weiß ja, dass sie ihre beiden Romane auf Deutsch geschrieben hat und sich im Stillen eine Germanistik-Professur in New York ausmalt. Aber träumen, das ist noch mal etwas anderes. Auf Deutsch, glaube ich, antwortet sie. Und schränkt es gleich wieder ein, da sie im Moment dauernd mit Handwerkern in Split telefoniert, die ihre Mutter übers Ohr zu hauen drohen. Oder auf Kroatisch, fügt sie hinzu. Das leuchtet mir ein. Denn im Fluchen sind die Balkansprachen schwer zu schlagen. //

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Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Tausendundeine Entschuldigung Die Frankfurter Regisseurin und Performerin Hanna Steinmair legt mit Lust und Komik patriarchale Verherrlichungen bloß

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as für ein Match! Die beiden Performerinnen Joana Tischkau und Maria Sendlhofer treffen in „Rage. A Tennis Western“ am Rand eines Tennisplatzes aufeinander und rollen der Wut den roten Teppich aus, indem sie dort männlichen Vorbildern nacheifern, mögen diese John McEnroe heißen oder Lucky Luke. Weißer Sport trifft auf Wilden Westen, gängige ­ Frauenbilder werden lustvoll zertrümmert, doppelte Standards pointiert hinterfragt: breitbeinig, komisch, wahr. Seine Uraufführung erlebte „Rage“ nicht auf dem Tennisplatz, sondern im Internet: Die Produktion wurde Anfang des Jahres aus dem Frankfurter Mousonturm gestreamt. Aber auch auf einem richtigen Tennisplatz haben die beiden sensationellen Akteurinnen mittlerweile schon ihre Schläger zertrümmert und den Feinheiten weib­ licher Wut hinterher gelauscht. Ausgedacht hat sich den Abend ein Produktionsteam rund um die in Frankfurt lebende Regisseurin, Dramaturgin und Performerin Hanna Steinmair, die bei den diesjährigen Hessischen Theatertagen in Marburg gleich mehrere Preise abräumte. Geboren wurde sie 1989 in Nußbach, einem kleinen Ort in Oberösterreich. „Ich hab mich immer schon fürs Theater interessiert“, erzählt Steinmair sprudelnd und berichtet von ihren Erfahrungen im Kinder- und Jugendtheater sowie mit studentischen Gruppen, die Protest ­ mit Performance verbanden. In Wien hat sie zuerst Kultur- und Sozialanthropologie studiert, danach in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft. Von Anfang an hätten sie am Theater größere politische Kontexte und die Möglichkeit, andere Wirklichkeiten zu entwerfen, inter-

essiert. Theater ist für sie auch ein Ort, an dem Machtpositionen neu verhandelt werden, auf und hinter der Bühne. In ihren Arbeiten folgt Steinmair häufig einem feministischen Ansatz, wie etwa in „Heldentode“. Dort spielt sie männliche Sterbeszenen nach und legt so patriarchale Verherrlichungen bloß. Das geht kein bisschen bierernst vonstatten, vielmehr wirft sich Steinmair lustvoll komisch in Positur, um etwa Mel Gibson in „Braveheart“ zu imitieren. Das durchdacht Spielerische kennzeichnet auch ihre hinreißende, gemeinsam mit Max Brands und Bastian Sistig ausgeheckte Produktion „1001 Sorrys“. Darin sammeln die drei Entschuldigungen wie andere Leute Pilze, sagen auf hundert unterschiedliche Arten tausendmal Sorry. Privates und Politisches reihen sie aneinander und machen en passant deutlich: kein Sorry ohne Kontext. Steinmair liebt das Arbeiten im Kollektiv. Man könne sich weiter aus dem Fenster lehnen, und die gemeinsame Auseinandersetzung biete mehr Perspektiven: „Man sieht es einer Produktion einfach an, ob sie einem oder mehreren Köpfen entsprungen ist“, sagt Steinmair. In ihrem jüngsten Projekt „Tohuwabohu“ beschäftigt sie sich gemeinsam mit der Klangkünstlerin Kristin Gerwien mit der Ästhetik des Chaos. Nach der Premiere ist dann endlich Urlaub angesagt (wandern, lesen, baden); das letzte Jahr sei kräftezehrend gewesen. Auch deswegen habe sie große Lust, nachhaltiger zu produzieren, langlebigere Projekte zu initiieren. Im Falle von „Rage“ klappt das schon mal. Im nächsten Sommer steht der Abend unter anderem beim Performancefestival Leisure & Pleisure in den Berliner Sophiensaelen auf dem Programm. // Hanna Steinmair. Foto Eva Kirsch

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Shirin Sojitrawalla


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Look Out

Das Ende des bürgerlichen Trauerspiels Der Berliner Regisseur Benjamin Zock entdeckt verschüttete Theaterstoffe für die Gegenwart

einer Müller? Das funktioniere im Mansfelder Land nicht, bekam Benjamin Zock zu hören, als er „Die Fahne von Kriwoj Rog“ im Südharz spielen wollte. Dabei erzählt das Müller’sche Fernsehkammerspiel ein Stück Lokalgeschichte – von antifaschistischem Widerstand und Arbeitskampf in der ehemaligen Bergbauregion. Diese Ereignisse werden heute kleingeredet, aber ihre Erinnerung darf nicht verschüttet werden, meint der Berliner Regisseur. In einer kleinen, wendigen Theatertruppe brachte er im Sommer 2021 die Geschichte um die Familie Brosowski auf den Marktplätzen der Gegend und vor dem stillgelegten OttoBrosowski-Schacht unter Polizeischutz zur Aufführung. Wer vor wem geschützt sein wollte, blieb dabei offen. Unsicher war sich der Regisseur dennoch, wie das Publikum auf den vorangestellten Text „Die Kanakenrepublik“ von Müller reagieren würde. Der harte Dialog zwischen einem Schläger-Nazi und einem neoliberalen Rassisten, der in der Zuwanderung die Rettung des Kapitalismus sieht, lässt sich schwer ertragen. Um die nicht abnehmende Dringlichkeit eines antifaschistischen Geschichtsbewusstseins zu betonen, fand Zock ihn in seiner sprachlichen Grausamkeit notwendig. Mit einer ebenso wirkungsvollen Präzision untersucht er auch im Theatersaal die gewaltsamen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Während seines Studiums der Theaterwissenschaft und Philosophie verwirklichte er erste Arbeiten und sammelte Erfahrung als Hospitant bei Robert Wilson und Frank Castorf. Mit der Uraufführung des Stücks „Die Aufgabe“ von B. K. Tragelehn begann der Regisseur 2018 seine Zusammenarbeit mit Johannes Weilandt. Gemeinsam mit dem Bühnen- und Kostümbildner findet Zock in seinen Inszenierungen symbolische Übersetzungen, die weder bebildern noch naturali-

Benjamin Zock. Foto Julia Runge

H

sieren. Grundlage dessen bilden die genaue Arbeit an den verschiedenen Textfassungen und deren Montage. Im Falle des Tragelehn-Stücks, das zur gleichen Zeit wie Müllers „Lohndrücker“ geschrieben und in Folge des Skandals vergessen wurde, zieht Zock Verbindungslinien zu Georg Büchners „Leonce und Lena“. Die Kombination der Texte in einem Doppelabend eröffnet einen Ausweg aus dem Nicht-Verhältnis, als das sich die Liebe des adligen Müßiggängers Leonce zur Prinzessin Lena darstellt. Das sozialistische Kollektiv im DDRStoff lässt Beziehungsweisen unter Gleichen zu, hinter denen das Individuum zurücktritt. In einem Chor des Proletariats stellt sich dieses Verhältnis über die abstrakte, gemeinsame Arbeit her, die sich im Konkreten in den ­Widersprüchen der Plan­erfüllung verstrickt. Das kollektive Sprechen inszeniert Zock mit hoher Sensibilität für seine Kipppunkte. Während der Chor in „Die Aufgabe“ durch Brüche in den Formationen die Dialektik zwischen Kollektiv und Einzelnem bespielt, bildet sich in Zocks Inszenierung „Klara“ von Friedrich Hebbel im gemeinsamen Agieren ein männlicher, faschistoider Volkskörper. Das angeblich letzte bürgerliche Trauerspiel legt die Verwüstungen der Kleinfamilie offen, die in Zocks Arbeit von 2019 bis zur nationalsozialistischen Familienpolitik durchbuchstabiert werden. Auf der Bühne des Acker Stadt Palasts in Berlin eröffnet sich auch in diesem Fall ein kleiner Ausweg aus den Verhältnissen. Die unehelich schwangere Klara wählt nicht den Suizid, sondern fordert die Verfügungsgewalt über ihren Körper ein. Mit bitterem Humor übersteigert Zock die sexistischen und individualistischen Beziehungsmechanismen in der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn er so verschüttete Stoffe entblättert, drückt sich darin die epische Grundhaltung aus: „Es kann so kommen, es kann aber auch ganz anders kommen.“ // Lara Wenzel

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Foto

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Auftritt Berlin „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus und „1000 Serpentinen Angst“ von Olivia Wenzel Flensburg „Wo wir Lebensmittel liebten“ von Elisabeth Bohde, Torsten Schütte, Svenja Wolff, Lotta Bohde und Manuel Melzer Köln „Made to Measure“ von Laokoon Weimar „Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr“ (UA) von Thomas Köck und „438 Tage NSU-­Prozess – Eine theatrale Spurensuche“ von Nuran David Çalış und Tunçay Kulaoğlu


auftritt

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BERLIN Das unheimliche Spektakel BELGIENHALLE GARTENFELD: „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus Regie und Ausstattung Paulus Manker Kostüme Aleksandra Kica

Rikscha-Fahrern durch die riesige Halle

das die Distanz zum historischen Ereignis

kutschiert werden, während um sie herum 17

nicht nur zu löschen versuche (wie bei Manker

Schauspielerinnen und Schauspieler in einer

durch totale Immersion), sondern sie gleich-

groß angelegten Straßenszene den Schock

zeitig auch schaffe, indem es ständig seine

über die Ermordung des österreichischen

eigene Medialität reflektiert. Geschichte tritt

Thronfolger-Ehepaars in Sarajevo reinszenie-

uns eben immer nur vermittelt gegenüber, als

ren. Es ist ein riesiger, megalomanischer

„Abklatsch“, wie Karl Kraus es formulierte.

Budenzauber, der hier veranstaltet wird, was

Daher sah er – trotz aller dokumentarischen

die Inszenierung, ob man nun will oder nicht,

Bemühungen – seine Aufgabe darin, die „Zeit

auf widersprüchliche Weise interessant macht.

in Anführungszeichen zu setzen, in Druck

Nahezu an jedem Ort der weitläufigen

und Klammern sich verzerren zu lassen, wis-

Industriekathedrale, die 1917 als Kriegsbeute

send, dass ihr Unsäglichstes nur von ihr

aus der nordfranzösischen Stadt Valenciennes

selbst gesagt werden konnte“.

Um 18:09 Uhr beginnt die Maschine zu rol-

abtransportiert wurde, wird an diesem Abend

Liest man Mankers Inszenierung als Re-

len. Durch die geöffneten Tore der Belgien-

gespielt. Rechts und links des eigens verlegten

enactment, ist es just das Unbehagen, das

halle in der Berliner Siemensstadt schiebt

Bahngleises befinden sich ein Krankenhaus,

einen angesichts all der falschen Soldaten und

sich majestätisch und monströs zugleich ein

eine Küche, ein Waschsalon, das Café Serbia

gefakten Toten, der „verzerrten“ Kabarett-

stählerner Eisenbahnwaggon mit gerüstartigem

und das Café Pucher, ein großbürgerliches

Nummern und überzeichneten Aufmärsche

Aufbau. Lichtkegel durchstechen die Szenerie,

Wohnzimmer sowie ein Edelrestaurant. An der

überfällt, welches einen die Schwelle des

als suchten sie am Hallenhimmel nach feind­

Stirnseite der Halle wartet ein Kabarett auf die

­Unsagbaren erahnen lässt. Es gibt etwas, das

lichen Fliegern, kraftprotzend untermalt von

Besucher, in einer Nebenhalle kommen noch

nicht gezeigt werden kann, dennoch aber in

den ersten Takten aus Richard Strauss’ „Zara­

ein Großraumbüro und ein Feldlazarett hinzu,

jedem Zeitungsschnipsel, jeder Spielszene,

thustra“-Sinfonie. Eine Welt entsteht. Eine

jeweils akribisch ausgestattet bis zum kleins­

jedem Kostüm präsent ist. Inke Arns nennt es

Welt vergeht. Was für ein Spektakel.

ten vergilbten Spucknapf. Die totale Immer-

„das Unheimliche des Spektakels“, dessen

Es liegt in der Natur der Aufmerksam-

sion – wenngleich Immersions-Perfektionisten

Wirkung da entsteht, wo Sprache und Bilder

keitsökonomie des Menschen, dass speziell

wie Signa sicherlich kurz hätten hüsteln müs-

enden. //

jene Ereignisse eine erhöhte Beachtung fin-

sen, hätten sie in den Aktenschränken den

den, die jenseits von Kategorien wie Mach-

Ordner mit der Aufschrift „Sommersemester

barkeit und Risikoabwägung operieren. Paulus

2001/02“ entdeckt.

Mankers Inszenierung von Karl Kraus’ Monu-

Aber was soll’s, für solcherart Feinheiten

mentalwerk „Die letzten Tage der Menschheit“

bleibt eh keine Zeit. Ständig geht irgendwo

ist ein solches Ereignis. Vom Autor selbst als

irgendwas in Flammen auf, Fackeln werden

extraterrestrisches „Marstheater“ tituliert, ist

entzündet, Schauspieler drängen zum Orts­

das Stück, das sich in 220 grell collagierten

wechsel, drücken einem Zeitungen, Fotos,

Szenen und im schnellen Wechsel von 1114

Wein­ gläser in die Hand, man sitzt, steht,

Figuren mit der Anbahnung und dem Verlauf

schaut und staunt, bis zum Grande Finale rund

des Ersten Weltkriegs befasst, nicht gerade ein

eine Stunde vor Schluss der Eisenbahnwaggon

Renner im gängigen Theaterkanon-Repertoire,

samt Ensemble gravitätisch auf die Kabarett-

wobei es nicht nur die schiere Dimension war,

Bühne zurollt, auf der verkleidet als General,

die sogar Kraus vor einer szenischen Um­

man hätte drauf wetten können, der Regisseur

setzung zurückschrecken ließ. Er fürchtete

des Abends sitzt, will sagen: der Mann, dank

schlicht das „Zurücktreten des geistigen In-

dem dieses frei finanzierte, 2018 in Wien ur-

halts vor der stofflichen Sensation“.

aufgeführte und für Berlin neu adaptiere Man-

Diese Weissagung des Autors wird ei-

ker-Spektakel überhaupt möglich ist. Tusch!

nem zu Beginn des siebeneinhalbstündigen

Damit hätte man es belassen können.

Höllenritts durch den Krieg immer wieder

Mankers „Letzte Tage der Menschheit“ sind

durch den Kopf geistern, wenn an einem ver-

eine stoffliche Sensation. Eine Mischung aus

stört lächelnde Zuschauer vorbeirasen, die wie

Kriegstheater, Historienspektakel und Krimi-

auf dem Rummel von historisch gekleideten-

Dinner, bei dem Feinheiten des Spiels fast undenkbar sind und so manch eine chorische Passage in der Weite der Halle versuppt. Das

Marstheater oder Manker-Spektakel? – Eines ist zumindest sicher: Paulus Mankers Inszenierung von Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ geizt nicht mit Größe. Foto Sebastian Kreuzberger

Paradoxe aber ist, dass es eben jenes ­Spektakel ist, das einen dann eine Rezeptions­ ebene weiterkatapultiert. Die Kuratorin Inke Arns hatte diesen Effekt in Zusammenhang mit der Praxis des Reenactments beschrieben,

Dorte Lena Eilers

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ORT x x THEATER Stück Angaben

BERLIN

net, verkörpern diese aber nicht. Recke verweigert damit eine szenische Bebilderung und überträgt so nicht nur das Romanmotiv,

The Bigger Picture

Abwesendes durch Bildbeschreibungen zu vergegenwärtigen, auf die Bühnensituation,

Einfach tanzen? – Nein, so einfach macht es Anta Helena Recke ihrem Publikum in ihrer Inszenierung von Olivia Wenzels Roman „1000 Serpentinen Angst“ (hier mit Shari Asha Crosson) nicht. Foto Ute Langkafel / Maifoto

sondern erweist sich mit ihrer dritten großen

MAXIM GORKI THEATER: „1000 Serpentinen Angst“ von Olivia Wenzel Regie Anta Helena Recke Bühne Marta Dyachenko Kostüme Pola Kardum

Produktion abermals als Theaterkünstlerin, der es gelingt, pointierte, übergeordnete Bil-

Dyachenko hat dem Bühnenraum überdies ­

der zu schaffen.

eine wuchtige, zunächst schwebende Bau­

Anstatt zum Beispiel Szenen aus dem

röhre hinzugefügt, die im Verlauf hinabgelas-

Roman, in denen die Protagonistin von weißen

sen wird. Während sie je nach Erzählkontext

Rechten bedroht wird, darzustellen – und die-

für den Bungalow der Mutter oder das Bahn-

se Bilder damit zu reproduzieren –, übersetzt

gleis, auf das sich der Bruder stürzt, stehen

sie das zentrale Angst-Thema in ein szenisch

kann, erinnert sie aber auch an eine Installa-

Ein zentrales Motiv in Olivia Wenzels Roman

mehrfach wiederkehrendes Motiv: Zwei Kin-

tion von Hiwa K, der 2017 auf der Documen-

„1000 Serpentinen Angst“ sind Bildbe-

der, die für die Protagonistin und ihren Zwil-

ta in Kassel zwanzig dieser Röhren überein-

schreibungen. Wiederkehrend mit „picture

lingsbruder stehen, spielen eine Variante des

anderstapelte, um auf das Schicksal von

this“ einleitend, ruft die Erzählerin ihre Lese-

Kinderspiels „Wer hat Angst vorm Schwarzen

Menschen weltweit hinzuweisen, die auf ihrer

rinnen und Leser dazu auf, sich Bilder zu

Mann?“, bei dem eine Person auf die andere

Flucht darin temporär Unterschlupf suchen.

machen. Dies können Vergegenwärtigungen ­

zuläuft und von dieser „gefangen“ wird. Be-

Recke verschiebt den Fokus vom Ein-

existierender Motive aus dem kulturellen

gleitet wird das Fangspiel stets von einem

zelschicksal im ostdeutschen Kontext auf

Gedächtnis oder auch die Imaginationen ­

grellen Aufschrei eines der Kinder. Auf diese

eine globale Perspektive. Sie webt in die Tex-

fiktio­naler Familienfotos sein. „Picture this“

Weise wird nicht nur der latente, für Weiße oft

tur ihrer Inszenierung als Gegenbild zur

meint aber auch: sich ein möglichst komple-

unsichtbar bleibende Alltagsrassismus, dem

angst(re)produzierenden Wirklichkeit rassisti-

xes Bild von den Figuren zu machen – von der

die beiden ausgesetzt sind und der sich hier

scher Gewalt, kolonialer Kontinuitäten und

Punker-Mutter, der SED-treuen Oma oder

im Namen des Spiels widerspiegelt, themati-

identitätspolitischer Kämpfe nichts Geringe-

dem angolanischen Vater, der die Familie auf

siert. Sondern es wird auch – das historische

res als die Vision einer anderen (Welt-)Ge-

Druck des Staats verlassen musste. Und es

Wissen vorausgesetzt, dass dieses Spiel der

meinschaft ein. Dies deutet bereits der Insze-

meint, sich gemeinsam mit der Ich-Erzählerin

Verarbeitung von Ängsten (insbesondere vor

nierungsbeginn an: So bleibt die Bühne für

ihre Lebenswirklichkeit als schwarze, ost-

dem Tod) diente – eine szenische Verdichtung

mehrere Minuten leer, damit wir alle von dem

deutsch sozialisierte Frau mit all den Alltags-

für die erzählte Notwendigkeit, sich mit diesen

Klang des Liedes „Amor Bo“ des südamerika-

rassismen und dazugehörigen Ängsten, wel-

Ängsten beschäftigen zu müssen, angeboten.

nischen Schamanen Metsa eingestimmt wer-

Während der Aufführung werden Bühne

den, der in der indigenen Sprache Shipibo

und Portal fast durchweg mittels Video­

die Kraft bedingungsloser Liebe anruft. Der

Am Maxim Gorki Theater Berlin hat

projektion entweder mit verschiedenen, mono-

Schluss bekräftigt diese Ausrichtung: Was im

­Regisseurin Anta Helena Recke den Roman

chromen Farben „übermalt“ oder aber mit

Roman Wunsch bleibt – dass sich nämlich

für die Bühne adaptiert. Dabei entscheidet

verschiedenen Schwarz-Weiß-Mustern des

Großmutter, Mutter und Kind alle einmal im

sie sich zunächst für eine Vervielfältigung der

„Rauschens“ bedeckt, womit einmal mehr

Alter von 15 Jahren begegnen –, wird in der

Erzählstimmen. Die insgesamt zwölf Darstel-

auf das szenische Programm der Bild(er)­

Inszenierung realisiert. So finden sich drei

lenden sind zwar einzelnen Figuren zugeord-

störung verwiesen ist. Die Szenografin Marta

Mädchen, eine im pinkfarbenen Kleid, eine

chen sie seit der Kindheit ausgesetzt ist, vor Augen zu führen.


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im Punker-Style und eine Hip-Hopperin zusammen, hören auf, einander Fragen zu stellen, tanzen einfach. Jede für sich und doch beieinander, während der Sänger Raúl Pereira in seinem Song „Compañeros“ Gefährten auf der ganzen Welt aufruft, zusammenzukommen und einander zu (be)schützen. Und zu erinnern, dass wir auf dieser Erde in gewisser Weise alle miteinander verbunden sind. Auch wenn wir das häufig nicht sehen können. ­Picture this! //

Theresa Schütz

FLENSBURG Storno für ein Leben an Kasse 3 THEATERWERKSTATT PILKENTAFEL: „Wo wir Lebensmittel liebten“ von Elisabeth Bohde, Torsten Schütte, Svenja Wolff, Lotta Bohde und Manuel Melzer

Die Scheiben des schwarzen MittelklasseSUV zittern, als er auf den Sparkassenparkplatz rollt. Man hört die Beats deutlich, Deutschrap, vielleicht Fler oder Haftbefehl. Aus dem Auto steigen zwei junge Männer, freundliches Geflachse auf Arabisch. Auf der

Lebensmittel liebten“. Als dann auf dem

anderen Straßenseite ist ein Bauzaun errich-

Gehweg ein elektrisch angetriebenes Senio-

tet, dort, an einer großen hellblauen Brand-

renmobil erscheint, das rasch auf das Areal

mauer, sieht man eine regenbogenbunte

abbiegt, am Steuer eine Gestalt, die einem

Wandmalerei, die einen vielsprachig in „einer

gesichtslosen Crashtest-Dummy gleicht, ist

bunten Stadt“ willkommen heißt.

endgültig klar: Hier wird Theater gemacht.

Die Ware Mensch – Die Theaterwerkstatt Pilkentafel in Flensburg lädt unter dem Titel „Wo wir Lebensmittel liebten“ zu einem Performanceparkour in eine alte Edeka-Filiale. Foto Ina Steinhusen

Die bunte Stadt, die einen hier be-

Die freie Theaterwerkstatt Pilkentafel,

grüßt, heißt Flensburg. Nicht jedoch die

2019 mit dem Theaterpreis des Bundes aus-

im Koffer ihres Lastenrades auf dem ehema-

„hyggeligste Stadt im Norden Schleswig-Hol-

gezeichnet, wollte in ihrem neuen Projekt die-

ligen Parkplatz aus. Von ihrem Angebot an die

steins“ ist gemeint, sondern der Stadtteil

sen ehemaligen Supermarkt kurz vor seinem

Anwohner, die Erinnerungen an diesen Ort

Flensburg-Neustadt, durch den der Autover-

Abriss noch einmal für eine Woche beleben.

vor einer Videokamera zu erzählen, wird hier

kehr zum pittoresken Museumshafen rollt.

18 Künstlerinnen und Künstler aus dem gan-

­gerne Gebrauch gemacht.

Bis vor einigen Jahren war vor der hellblauen

zen deutschsprachigen Raum versammelten

Ein paar Meter entfernt findet sich

Mauer der Parkplatz eines großen Supermark-

sich auf Einladung der Pilkentafel-Leiter

auch der elektrifizierte Crashtest-Dummy wie-

tes, dessen nüchterner Flachdachbau nun

Elisabeth Bohde und Torsten Schütte, um ­

der, inzwischen hat er Gesellschaft bekom-

ebenfalls hinter dem Bauzaun verborgen ist.

ihre Arbeiten diesem Areal und seiner Ge-

men. Die beiden kurven in einem abgetrenn-

schichte zu widmen.

ten Areal herum, hupen, gestikulieren und

Über den Zaun lugt ein markantes gelb-blaues Schild, das an die Einzelhandels-

Denn hier ging es nicht nur um den

schmettern unvermittelt Zeilen aus Radio-

kette EDEKA erinnert, die seit 1965 auf die-

schnellen Einkauf, so erzählt es dann auch

hits. Dazu sind O-Töne von Pendlern zu ­hören,

sen Farbkontrast setzt. Doch es ist nicht der

Jovana Gonnsen von der Geschichtswerkstatt

einer Gruppe, die in der aktuellen Debatte um

ehemalige Supermarktpächter, der hier sei-

Flensburg, dieser Laden war ein Treffpunkt

das Klima ja gerne mal unter die Räder gerät.

nen Namen hinterlassen hat, vielmehr steht

für alle sozialen Schichten des Stadtteils. Sie

Sie sprechen über das Für und Wider von Die-

auf dem Schild, blau auf gelbem Grund, ein

hat ein hübsches Modell des alten Super-

sel sowie über die alltäglichen Notwendigkei-

Slogan in der Vergangenheitsform: „Wo wir

marktes aus Papier mitgebracht und stellt es

ten, das Auto zu benutzen – eine Illustration


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auftritt

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über Lebens- und Arbeitswelten zwischen Groteske und Realismus von Charlotte Pfeifer und Pascal Fuhlbruegge. Noch bevor man das Hauptgebäude betreten kann, wird bereits deutlich, welche Vielfalt die beiden Projektleiter, Elisabeth Bode und Torsten Schütte, unter das Konzeptdach bringen mussten. Sie haben für die Performer ein Stationensetting nach Art einer Kunstmesse kreiert: Auf den verschlissenen Terrazzofliesen des Supermarktes, zwischen all den Rostflecken defekter Kühltruhen, sind die jeweiligen Spielorte im Raum markiert. Das Entrée in dieses Reich der Performer und Installationen erfolgt über beschürzte Betreuer (aufgedruckter Claim: „SuperKunstMarkt“), die jeden Zuschauer einzeln mit

KÖLN

verbundenen Augen an die weit verteilten ­ Stationen führen, danach bleibt man sehend und forschend sich selbst überlassen. Das „Sortiment“ in diesem SuperKunst­

Menschen aus Daten erschaffen

Markt ist außerordentlich vielfältig: Man trifft auf eindrucksvolle Choreografien der Verzweiflung im beschränkten Raum (Pia Alena Wag-

Google dich gläsern! – In „Made to Measure“ rekonstruiert das Kollektiv Laokoon einen Menschen anhand seiner SuchmaschinenDaten. Foto Konrad Waldmann

Bei „Made to Measure” unterwarf sich die

WDR: „Made to Measure“ von Laokoon

ner), einen einsamen Online-Shopper (Marten

Gruppe aber einer interessanten Beschränkung: Sie verwendete ausschließlich Suchmaschineneinträge einer einzigen Person, die

Flegel), der mit seinen Fehl- und Frustkäufen

sie über einen auf sozialen Plattformen ge-

ringt, oder eine kraftvolle Performance zu Ges-

Die Berliner Künstlergruppe Laokoon rekon­

streuten Aufruf fanden, ihnen anonym die von

ten und Posen, die durch den Konsum media-

struiert aus Suchmaschinendaten das digitale

Google über die letzten fünf Jahre gesammel-

ler Comicwelten (Superman, Supergirl etc.) in

Äquivalent einer Internet-Userin aus Fleisch

ten persönlichen Suchanfragen zu übermit-

das allgemeine kulturelle Gedächtnis einge­

und Blut. Ein radikales Experiment mit erhel-

teln. 102 Interessenten machten mit. Daten-

sickert sind („Happy Birthday Superwoman“

lenden, beängstigenden und amüsanten Mo-

satz 25 wurde ausgewählt.

von Irina Runge). Viele der Arbeiten haben

menten. Und eine Form von Netztheater, die

Aus Suchbegriffen wie „Bierkäse“,

einen deutlich konsumkritischen Ansatz, sind

die digitalen Infrastrukturen clever ausnutzt.

„Bremsbeläge“, „Glock“ und „Dirndlschürze“

aber glücklicherweise weitgehend undidak-

Eigentlich macht die Gruppe Laokoon,

wurden zunächst Vorlieben herausgefiltert.

tisch. So flaniert man von Station zu Station,

bestehend aus den Film- und Theaterregis-

Aus den Zeiten der Anfragen ließ sich ein Ta-

vergisst die Zeit – aber nie den Raum. Irgend-

seuren Moritz Riesewieck und Hans Block

gesablauf ablesen, aus Themenhäufungen auf

wann jedoch quäkt es undeutlich aus dem

sowie der Künstlerin und Landschaftsarchi-

anhaltende Interessen und berufliche Felder

Nirgendwo, fast so wie man es aus seinem

tektin Cosima Terrasse, nichts anderes, als es

schließen. Abfragen zu Krankheiten erlaubten

Stammsupermarkt kennt: „Storno für ein

Dokumentartheatermacher tun. Sie kreiert

Vermutungen über gesundheitliche Probleme.

­Leben an Kasse 3“. Und jetzt scheint wirklich

aus öffentlich zugänglichen Informationen

Als Person kristallisierte sich eine

der Zeitpunkt gekommen zu sein, nach Hause

Bühnenfiguren und lässt die so entwickelten

gebürtige Österreicherin mit zeitweiligem ­

Texte performativ umsetzen.

Aufenthalt in England heraus, die als Köchin

zu gehen. //

Matthias Schumann


auftritt

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arbeitete, dann aber kündigte, schwanger

dens kontrollieren, und den Suchanfragen, die

war, blondes Haar hat und im Jahr 2020 etwa

oft intimer sind, weil wir uns im Dialog mit

Mitte zwanzig war.

Google allein wähnen, tritt krass zutage.

WEIMAR Gegen das Vergessen

Nach diesen Daten wurde die Schau-

Google kennt eben kein Beichtgeheim-

spielerin Nathalie Köbli, Österreicherin, Mitte

nis. Und was der globale Werberiese damit

zwanzig und blond, als Biografiedarstellerin

macht, ist mitunter erschreckend. Verschie-

ausgewählt. Auf der Website www.madeto-

denste Expertinnen und Experten vertiefen

measure.online wird man mittels eines inter-

dieses Thema. Das ist verdienstvoll, wird

aktiven Films Zeuge ihrer Verwandlung. Köbli

­stellenweise aber arg didaktisch. In dem be-

arbeitet an Make-up und Frisur, wie sie sich

gleitenden Dokumentarfilm, koproduziert von

aus Suchanfragen ablesen ließen. In einer

WDR, SRG SSR, Docmine und OSZE RFoM,

Wohnung – eingerichtet wie die Onlinesuchen

einsehbar über die ARD-Mediathek, nimmt

es nahelegen (der Essener Pact Zollverein

die Didaktik sogar überhand. Dort tritt die

stellte dafür die Räume zur Verfügung) – per-

Spielebene mit Köbli zurück zugunsten der

formt sie Miniszenen, die man im Film sieht,

Interviews. Ärgerlich ist dabei die unhinter-

von denen einige aber auch zuvor als Insta-

fragte Gläubigkeit der Expertinnen und Ex-

gram-Storys gepostet wurden. Das wohl ver-

perten an das Vermögen der Algorithmen, aus

blüffendste Ergebnis ist, dass sich in diesen

solchen Daten korrekte Persönlichkeitsprofile

Posts, die als Werbung gestreut werden, die

zu entwickeln. Dass die personenorientierte

Originalperson wiedererkennt. Geht sie online,

Werbung ziemliche Lücken hat, ja ein

dann identifizieren die Algorithmen der Werbe­

­mitnichten eingelöstes Großversprechen der

industrie sie über den Abgleich der Interes-

Werbeindustrie ist, wird weitgehend ausge-

Erhob sich ein Schwarm Wandertauben, um

sen als Zielperson und platzieren auf ihrem

blendet. Tim Hwang, früherer Chef der For-

einen Nistplatz zu finden, verdunkelte er oft

Endgerät die kurzen Videos.

schungsabteilung für maschinelles Lernen

tagelang die Sonne. Zu Beginn des 19. Jahr-

KUNSTFEST WEIMAR: „Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr“ (UA) von Thomas Köck Regie Marie Bues Bühne Frank Holldack „438 Tage NSU-Prozess – Eine ­theatrale Spurensuche“ von Nuran David Çalış und Tunçay Kulaoğlu Regie Nuran David Çalış Bühne Irina Schicketanz Kostüme Sara Drasdo

Die Frau, im Projekt Lisa genannt, mel-

bei Google, breitet seine Thesen über die

hunderts wird von Milliarden Tieren berichtet,

det sich. Sie stammt tatsächlich aus Öster-

Fehlbarkeit der Algorithmen in dem sehr le-

die als dunkle Masse den Himmel bevölkerten.

reich, ist Mitte zwanzig, sieht mit ihrem blon-

senswerten Buch „Subprime Attention Crisis“

Um einen Vogel zu erlegen, schossen die Jäger

den Haar der Darstellerin Köbli auch ziemlich

aus. „Made to Measure“ durch seinen Wis-

einfach in die Luft. Sie trafen immer. Etwa

ähnlich. Diese Gegenüberstellung ist der erste

sensfilter zu jagen, wäre toll.

hundert Jahre später stirbt Martha, die letzte

Höhepunkt der Webgeschichte. Lisas Bestäti-

Dankenswerterweise montiert Laokoon

Wandertaube, im Zoo von Cincinnati. Die euro-

gungen der einst von ihr empfundenen Gefüh-

auch Szenen in den Film ein, in denen Lisa

päische Kolonisation führte zum Aussterben

le bei den Onlinesuchen, die Köbli darstelle-

nur den Kopf schüttelt und darüber lacht, auf

der damals größten Vogelpopulation Nordame-

risch ziemlich gut trifft, sind weitere. Kritischer

welche Irrwege die Ableitungen aus dem

rikas. Maßlos erlegt für Fleisch und Federn

wird das Experiment, wenn es um gesundheit-

­Datenmaterial mitunter führen. Für heiliges

verschwand sie mit dem Vorrücken der Siedler.

liche Probleme wie Essstörungen und eine be-

Erschrecken sorgt allerdings die Vorstellung,

Von ihr bleibt, wie von allen vernichteten Ar-

ginnende Schwangerschaft geht. Die Such­

welche Politiken und Geschäftsmodelle Re-

ten, nur das menschliche Zeugnis. Präparate,

anfragen verraten ziemlich viel, manchmal

gierungen und Unternehmen, die an die Un-

Zeichnungen und ihr Name konservieren den

sogar mehr, als der suchenden Person selbst

fehlbarkeit der Daten glauben, in Zukunft

besitzergreifenden Blick, der den einzigen Be-

bewusst ist. Der gravierende Unterschied

entwickeln mögen. Für eine kritische Debatte

zugspunkt der Erinnerung bildet.

­zwischen dem Bild, das wir von uns beispiels-

darüber ist „Made to Measure“ nicht mit Gold

weise mittels Social-Media-Posts verbreiten

und nicht mit Bitcoins aufzuwiegen. //

und zumindest noch im Moment des Absen-

Tom Mustroph

Wie soll Trauer aussehen, wenn das Verlorene nie gekannt und Ersatz unmöglich ist? Während des Kunstfests in Weimar

25 JAHRE

WIR LADEN HERZLICH EIN! Jubiläumsfeier Oktober 29 | ab 18 Uhr sophiensaele.com

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auftritt

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beschwört ein Lamento die verlorenen Zu­

Nur die Lücke, die die Namen der verschwun-

Subjekt und mit ihm die kapitalistischen Ver-

künfte der ermordeten Arten und jener, die

denen Tiere bezeichnen. Trotzig weigert sich

hältnisse müssen zugrunde gehen.

niemals gewesen sein werden. „Und alle Tiere

der Text aufzuzeigen, wie das Leben in para-

Die Aufführung von Köcks sprachge-

rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht

diesischen oder apokalyptischen Zeiten ausse-

waltigem Text steht in einer Reihe von Pro-

mehr“ von Schriftsteller und Dramatiker

hen könnte. Er beschreibt, ohne zu belehren,

duktionen, die sich während des Theaterfesti-

­Thomas Köck ist zugleich Klage und Anklage,

die bekannte Katastrophe, in der sich Gegen-

vals mit der Ausbeutung und Vernichtung der

die sich gegen den alles vereinnahmenden

wart und Zukunft als Tempi passati ausbreiten.

Natur beschäftigten. Unter der künstleri-

Europäer richtet. Regisseurin Marie Bues ent-

Die lange, klagend vorgetragene Liste

schen Leitung von Rolf C. Hemke ist das Pro-

scheidet sich in der Uraufführung des repeti-

der ausgestorbenen Tiere leistet keine Trauer-

gramm auf die dringlichen Fragen der Gegen-

tiven Texts gegen Spiel und Spektakel. Mit

arbeit für die verlorenen Leben, sondern für das

wart ausgerichtet, ohne den lokalen Bezug zu

dem Zettel in der Hand sprechen die Schau-

notwendige Ende des Menschen, dessen Ab-

vernachlässigen. Beide Ansprüche verbinden

spielerinnen und Schauspieler nach vorn,

grenzung von der Natur auf der Benennung –

sich im 17-tägigen Reenactment des NSU-

während sie selbst in einem nur halb fertig

dem Mord am Ding – beruht. Beim Verlesen

Prozesses, der von 2013 bis 2018 am Ober-

wirkenden Bühnenbild, das Frank Holldack

der Namen zeigt sich so die adamitische Sze-

landesgericht in München stattfand. Dessen

gestaltete, stehen. Die offenen Strahler hinter

ne im Paradies als Blutbad. Daraus entwickelt

unaufgeklärte Leerstellen sprechen noch im-

dem schräg im Raum hängenden Gazevor-

sich zum Ende der Aufführung eine immer

mer Bände über die Verfasstheit des deut-

hang könnten Überrest oder Neuanfang einer

stärker werdende Lust am eigenen Verschwin-

schen Rechtsstaats. Regisseur Nuran David

Szenografie sein. Auch hier geht es um die

den. Dass hier keine einfache Perspektive,

Çalış und Dramaturg Tunçay Kulaoğlu sehen

Imagination des Möglichgewesenen, die sich

kein „Es wird schon wieder“ geboten wird,

ihr Projekt „438 Tage NSU-Prozess – Eine

aus der Sprache über die Bühne legt.

macht der Text von Beginn an klar. Zur Wahl

theatrale Spurensuche“, das wiederum Teil

„Hören Sie den Takt der Erinnerun-

steht nur die Form der Selbstnegation: warten,

des bundesweiten Projekts „Kein Schluss-

gen?“, fragt Schauspielerin Astrid Meyerfeldt

bis das Fortschreiten des Kapitalismus uns –

strich! Jena und der NSU-Komplex“ ist, als

mit dem Betreten der Bühne. „Eine Erinne-

vielleicht alles – aufzehrt, oder „Rausch und

erneuten Versuch der Aufarbeitung, die den

rung, die aus allem besteht, was uns längst

Selbstentäußerung“, wie es bei Giorgio Agam-

Taten und der Strafverfolgung mit gleichblei-

verlassen hat?“ Und aus allem, wie sie hinzu-

ben heißt, um den Menschen als sprechendes

bendem Entsetzen gegenübersteht.

fügt, das wir nie gesehen haben werden? Na-

Wesen zu überschreiten. Das ist die wirkliche

Um die Prozessprotokolle zu verlesen,

türlich hört das Publikum, das mit Kopfhörern

revolutionäre Tat, schreibt der italienische

wurde ein spannungsgeladener Aufführungs-

verstreut im Saal sitzt, diesbezüglich nichts.

Philosoph

Die adamitische Szene im Paradies, als Blutbad gelesen – „Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr“ von Thomas Köck (hier mit Sarah Sophia Meyer) wird in der Regie von Marie Bues zum Requiem ausgestorbener Arten. Foto Candy Welz

sprachontologischen

ort gewählt. Ein Gerichtssaal bildet das Büh-

Überlegungen, denn sie negiert das grundle-

in

seinen

nenbild in der Nietzsche-Gedächtnishalle,

gend gewaltsame Verhältnis selbst und schafft

deren Bau in der NS-Zeit begonnen wurde.

so die Möglichkeit eines radikalen Neube-

Unterteilt in thematische Kapitel steht der

ginns. Im stummen Schrei der nie gewesenen

letzte Tag des Projekts unter dem Titel „Das

Arten, der sich in Köcks Text mitteilt, wird das

Urteil“. Einen Abschluss findet die Rekapitu-

Aussterben der vereinnahmenden Beziehungs-

lation in drei Teilen an diesem Abend nicht.

weisen antizipiert. Dafür braucht es nicht das

Es dauert eine Stunde, bis der Brief Beate

Ende aller Menschen. Nur das monadische

Zschäpes an das OLG München vollständig


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verlesen ist. Beginnend mit ihrer Kindheit wer-

Justiz und Verbraucherschutz Dirk Adams,

den darin die rechtsextremen Taten bis zum

der Direktorin der Kunsthalle in Baden-Baden

Suizid von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt

Çağla İlk und dem freien Künstler und Bild-

und die darauffolgende Selbstenttarnung im

hauer Naneci Yurdagül. Persönlich und emo-

Jahr 2011 geschildert. Drei Schauspielende

tional klagen die Statements an: Was ist mit

sprechen abwechselnd den biografischen Text,

den Verstrickungen anderer Rechtsextremis-

in dem sich die Angeklagte im Konflikt mit der

ten und staatlicher Organe in die Mordserie?

Beweislage von den Morden distanzierte.

Familie Yozgat, deren Sohn Halit 2006 in

Kein Schlussstrich – Nuran David Çalıs‘ und Tunçay Kulaoğlus „438 Tage NSU­ Prozess – Eine theatrale Spurensuche“ ist Teil eines bundesweiten Projekts, dass den unaufgearbeiteten Fragen rund um die rechtsextremistische Terrorzelle nachgeht. Foto Candy Welz

Darauf trägt Schauspieler Sebastian

Kassel erschossen wurde, hinterfragt die

Kowski in der Position des vorsitzenden Rich-

Position des Verfassungsschützers Andreas ­

zahlreichen Ungereimtheiten und losen En-

ters Manfred Götzl das Urteil und dessen

Temme. Bis heute ist er nicht verurteilt, ob-

den lässt sich kein abgeschlossenes Narrativ

schriftliche Begründung vor. In der sehr auf

wohl er nach eigener Aussage zum Zeitpunkt

bauen. Deshalb geht er immer wieder von

dokumentarische Genauigkeit achtenden Pro-

des Mordes am Tatort war, im familiengeführ-

Neuem auf Spurensuche, um die Aktualität

duktion ist die folgende, durch einen kleinen

ten Internetcafé der Yozgats. Dennoch habe

der Geschehnisse aufzuzeigen. Die Dringlich-

Ton gesetzte Unterbrechung sehr wirkungsvoll.

der V-Mann nichts Verdächtiges wahrgenom-

keit des Vorhabens drängt sich mit jedem

Mit dem Tod von Mundlos und Böhnhardt so-

men. In der Tatrekonstruktion der Recherche-

­rassistischen und antisemitischen Mord auf,

wie der Verhaftung Zschäpes sei der NSU auf-

agentur Forensic Architecture zeigt sich, dass

der als Tat eines Einzelnen bezeichnet wird.

gelöst, heißt es im herausgestellten Satz.

dieses Szenario höchst unwahrscheinlich ist.

Es ist ein aufklärerisches Angebot, das über

Die folgenden Stellungnahmen der An-

Bereits in „Die Lücke – Ein Stück Keup­

die konkreten Fälle hinaus auf rechtsextreme

gehörigen bezweifeln dieses unglaubwürdige

straße“ am Schauspiel Köln und „NSU 2.0“

Strukturen und institutionalisierten Rassis-

Fazit. Gesprochen werden diese unter ande-

am Schauspiel Frankfurt inszenierte Çalış

mus verweist und angesichts des verbreiteten

rem vom Thüringer Minister für Migration,

­Erinnerungsarbeit. Aus dem Prozess mit seinen

Nazismus weiter nötig bleibt. // Lara Wenzel

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stück

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Von Menschmaschinen und Marionettenzauberern Dietmar Dath über sein Stück „Restworld“ im Gespräch mit Erik Zielke

Dietmar Dath, Ihr Stück „Restworld“, das ge-

theater“). Von daher passt es schlecht, aber

werfung der Arbeitskraft unter die Arbeitsmit-

meinsam mit dem Künstlerduo F. Wiesel für das

es gibt eine Gesetzeslücke: Aktuelles Theater

tel –, ­brechen, öffnen, zerlegen muss. Dafür

Theater Heidelberg entstanden ist, korrespon-

bohrt gern in seinen technischen Mitteln rum,

sollte das Ding ein winziges Modell werden.

diert mit dem Sci-Fi-Filmklassiker „Westworld“

stellt sie aus, problematisiert sie. Und davon,

von 1973 und der gleichnamigen HBO-Serien-

wie man technische Mittel tanzen lässt,

Und beim Nachdenken über Digitalisierung

produktion von 2016. Was ist das für ein Film,

versteht Science-Fiction eine Menge. Denn ­

kann diese hoffnungslos altmodische, weil

was ist das für eine Serie?

technische Mittel sind die Verkehrszeichen

analoge Kunstform Theater vielleicht sehr hilf-

Der Spielfilm „Westworld“ und die leider we-

ihrer Konzeptebene. So ein Mittel ist etwa

reich sein. Macht sie sich vielleicht überflüs-

niger bekannte Fortsetzung „Futureworld“

die ­Puppe im Theater und ihr verwandt die

sig, wenn sie sich selbst – wie in den letzten

(1976) erzählen von einer Zukunft, in der

Mensch­maschine in der Science-Fiction. ­Viele

eineinhalb Jahren geschehen – ins Internet

zum Unterhaltungsangebot für Wohlhabende

Klischeevorstellungen über Science-Fiction

verlegt?

menschenähnliche Roboter gehören, die in

schließen bei Fragen, die von Science-Fiction

Das Problem der Kunstformen, die sich im

Freizeitparks herumlaufen, wo man Rekon-

an Geräte gestellt werden, die wie Menschen

Internet verramschen lassen, scheint mir

struktionen der nordamerikanischen Pionier-

aussehen, zu eng an rein auf dem Ding­

nicht, dass sie sich im Internet verramschen

zeit („Wilder Westen“) oder auch eine Zu-

schema aufsetzenden Erweiterungen und

lassen, sondern dass sie sich überhaupt ver-

kunft im All als sinnliche und greifbare – also

Reparaturen des defekten oder intakten ­

ramschen lassen. Also: In fast jedem Produk-

von Automaten inszenierte, nicht virtuell

menschlichen Körpers an und gehen oft ge-

tionszweig – von Elektrogeräten für die Küche

elektronische – Simulationen erleben kann.

nug nicht weiter zu Problemen der sozialen

bis zum Theater – üben die besitzenden Klas-

Die HBO-Serie erneuert dieses Szenario

Seite des Menschseins. In Wirklichkeit ver-

sen derzeit Terror aus, man solle flexibler, be-

rund dreißig Jahre später, aber weil sie als

bindet aber gerade „Westworld“ beides auf

liebig erreichbar, überall, auch daheim et

Serie mehr Zeit hat als ein Spielfilm, geht

eine interessante Art, die allerdings sozu­

­cetera arbeiten, damit die Ergebnisse dann

sie gegenüber den Originalen sowohl in die

sagen „zu gut“ ineinanderpasst – Puppenspie­

schnell irgendwo durchlaufen, nicht mal un-

Breite – über die Parks hinaus wird die Ge-

lerinnen und Marionettenzauberer wissen,

bedingt zu Endverbraucherinnen und Nutzern

sellschaft untersucht, in der es die Parks

dass die aufregendsten Gesten und Bewegun-

finden, sondern von diesen nur so weit noch

gibt – als auch in die Tiefe, stellt also an-

gen ihrer Figuren dann zustande kommen,

registriert werden, dass dabei eine Datenspur

spruchsvolle Fragen danach, ob Maschinen

wenn das Spiel hakt oder stolpert oder stot-

entsteht, die dann wieder benutzt wird, die

Bewusstsein entwickeln können oder Robo-

tert. Das ist in der Arbeit von F. Wiesel immer

Arbeit zu erpressen. Dagegen hilft nicht die

ter uns eher ergänzen oder eher ersetzen und

mitgedacht. Bei allem, was sie machen, ist

Umgehung, das Unterlaufen oder Überfliegen

so weiter.

ein Bewusstsein davon da, dass man Raum

des Internets, sondern das entschlossene

für Fehler braucht, wenn man etwas anderes

Eintreten für Produktionsmaßstäbe, die der

Während Science-Fiction sowohl im Kino als

sagen will als das längst Bekannte, tausend-

Arbeit und dem Gebrauchswert entsprechen.

auch in der Literatur ihren festen Platz gefunden

mal schon Durchgespielte.

Es geht um eine Balance zwischen Koopera­

hat, zeigt sich das Theater, das im Gegensatz

tion mit Menschen einerseits und produk­

zum Film eben nicht mit Special Effects aufwar-

Darin bestand also der Reiz, doch ein Sci-Fi-

tiver, aber eben auch an Gebrauch und

ten kann, in Bezug auf dieses Genre immer et-

Theaterstück zu versuchen.

­Genuss ­orientierter Nutzung von Produktions-

was sperrig. Wie erklären Sie sich das?

Mich mit meinem Textzeug an dieser Freiheit

mitteln, zum Beispiel einer Bühne, anderer-

Science-Fiction hat, wenn sie was taugt, im-

und Risikobereitschaft zu messen, fand ich

seits. Und genau um dieses Verhältnis

mer zwei Ebenen: eine Konzeptebene, also

erstens ästhetisch herausfordernd und zwei-

zwischen M ­ ­ enschenwürde in Lebenszusam-

Idee, Spekulation, (Pseudo-)Wissenschaft,

tens politisch ergiebig, weil ja der politische

menhängen e­ inerseits und Produktion unter

und eine Erzählebene. Mit der Konzeptebene

Umgang mit Automatisierung, Digitalisierung

technischen Vorzeichen andererseits geht es

ist das heutige Theaterwesen zur Not noch

und so weiter das reibungslose Programm

ja prak­tischerweise in „Restworld“.

einverstanden, aber erzählt werden soll nix

derer, die neue Maschinen einführen und ­

(das ist nicht „postdramatisch“), schon gar

durchsetzen – nicht als Hebel zur Befreiung

Den Text haben Sie wie gesagt zusammen mit

nicht an einem fixen Text entlang („Sprech-

von Plackerei, sondern als Hebel der Unter-

F. Wiesel entwickelt, einem Kollektiv, das


dietmar dath

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auch die Inszenierung für die Uraufführung am Theater Heidelberg verantworten wird. Wie kann man sich das kollektive Schreiben bei Ihnen vorstellen? Wenn stimmt, was ich über die welterschließende und weltkonstruierende Funktion von Science-Fiction sage, dann sind für eine Theaterarbeit in dieser Gattung zwei Faktoren entscheidend: der Raum fürs Spiel und die Figurenbestimmung. Beides hatten F. Wiesel, also Hanke Wilsmann und Jost von Harleßem, für „Restworld“ in Zusammenarbeit mit dem Theater Heidelberg schon weit entwickelt, bevor eine erste Textfassung entstand, deren szenische Struktur, einzelne szenische Voraussetzungen et cetera wir vorher besprochen hatten. Die Fassung kam von mir, musste dann aber natürlich Federn lassen, weil ich ja nicht halb so gut weiß, was man spielen kann, wie Leute, die es spielen werden, mit Puppen und Menschen. Zeug musste raus, Ergänzungen und Umstellungen ergaben sich aus der Praxis. Und am Ende ist dann einfach sehr viel – wenn auch nicht alles – vom Raum fürs Spiel und der Figurenbestimmung das Werk von F. Wiesel, und ziemlich viel – wenn auch nicht alles – im Text von mir. Ich hatte Raumideen, Figurenideen, die anderen hatten aber auch noch Sätze, das hat sich dann alles mehr gereimt, als ich für möglich gehalten hätte. Einer der sehr menschlichen Roboter in Ihrem Stück sagt: „Aber wir sind unsere Arbeit, sonst nix. Wir arbeiten. Du, Arbeiterin, ich, Arbeiter. Wo sollen wir sein, wenn nicht in der Fabrik?“ Lässt sich für das Theater über die Verrichtung von Arbeit überhaupt noch anders schreiben denn als Groteske? Im Digitalgefasel zwischen Homeoffice, Verwaltung, Mittelstand und Kreativbranche heißt es immer, die Fabrik sei verschwunden, man lebe und arbeite jetzt postindustriell, immateriell und so weiter. In Wirklichkeit sind die sozialen Hauptmerkmale der Fabrikausbeutung jetzt einfach überall. Die Fabrik ist nicht weg, sondern universell geworden. Denn Fabrik heißt: Menschen sind dem Maschinentakt unterworfen, es ist alles hässlich, stumpf, dumm und riesig. Manche Maschinen

werden

menschlicher,

das

stimmt, aber was hilft das, wenn immer mehr Menschen immer reflexhafter und automatischer werden? Was früher grotesk gewesen wäre als Darstellung von Arbeit-stattLeben, ist heute Realismus. //

Dietmar Dath, geboren 1970 in Rheinfelden, verfasst Romane, Hörspiele, Theaterstücke, Sachbücher und Gedichte. Zudem arbeitet er als Journalist, derzeit als Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zuvor war er Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex. Bei Matthes & Seitz ist soeben sein neuester Roman „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ erschienen. Auch für das Theater ist er regelmäßig tätig. Nach „Annika oder Wir sind nichts“ (UA Schauspiel Frankfurt, 2011), „Regina oder Die Eichhörnchenküsse“ (UA Nationaltheater Mannheim, 2011) und „Die nötige Folter“ (UA Staatstheater Augsburg, 2019, siehe auch Stückabdruck TdZ 06/2019) hat er mit „Restworld“ nun sein viertes Theaterstück vorgelegt. Es wird am 15. Oktober in der Regie des Kollektivs F. Wiesel am Theater Heidelberg uraufgeführt. Foto Hanke Wilsmann

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stück

Dietmar Dath & F. Wiesel

Restworld

JU: JUNGROBOTER Flink beim Denken und beim Schießen, weshalb die anderen leicht übersehen, dass seine Fragen und Gedanken weniger wie Blitze sind und eher wie lange Atemzüge. Er will die Gründe für alles wissen, was ihm auffällt. HA: HARTROBOTER Grob und gutmütig, nicht allzu neugierig, aber das, was er weiß, weil er es selbst herausgefunden hat, lässt er sich nicht ausreden. LA: LADYROBOTER Verfolgt Absichten, die ein bisschen wilder sind als die, die man Maschinen sonst zutraut. Verschwindet, wenn man sie zwingen will, sich festzulegen. Ist daher sehr viel unterwegs, auch in scheinbaren Vergangenheiten und Zukünften. Spielt gern Mensch. [CR]: CORRALROBOTER Baut sich und alles andere um in Schichten und Geschichten, die zusammen den Corral ( = das Gehege, eigentlich für Vieh, hier aber: für Leute, die nicht sicher sind, ob sie Personen sein können) bilden, der ehemals ein Park war und jetzt etwas anderes wird. [JR]: JENSEITSROBOTER Blendet die inhaltlichen und die formalen Wirklichkeiten des Spiels ineinander und trennt sie dann wieder: die Sichtwinkel der Spielenden und des Publikums, Breiten, Höhen und Tiefen des Corrals. * Die mit „[JR]“ und „[CR]“ gekennzeichneten Dialogtexte sind nicht das Einzige, was diese Figuren/Puppen/Personen sagen. Sie können jederzeit Echos oder Vorhall sprechen, d.h. etwas, das die andern drei sagen oder tun, entweder wiederholen oder vorwegnehmen.

EINS JU: Ich kenne die Menschen. Du willst sie wiederhaben, weil du sie nicht kennst. Du und die andere,

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ihr wollt immer, dass wir Menschen spielen. Im HA: Am Anfang hatten sie für die Indianermaschialten Park hier mussten wir das. nen draußen in der Steppe noch kleine Dörfer, wo [CR]: Ich weiß noch, wie wir einmal aus Versehen sie handelten, arbeiteten und eigene Netzwerke in jedes Holzhaus in der Stadt eine Bar gebaut über die gesamte Fläche des Parks aufbauten. Am ­haben und eine Spielhalle und einen Saal zum Ende, als wir die Schleife schon unzählige Male Tanzen. Kleiner und kleiner, eingeschachtelt. gespielt hatten, war klar, dass sich niemand bis in [JR]: Unterm Tisch den Spielsaal und in die Mitte die viel zu heiße Steppe aufmacht, um sich dieses des Spielsaals die Tanzhalle, alles immer kleiner, Schauspiel anzugucken. Es reicht, wenn die Wilweil wir nicht wussten, dass Menschen sich nicht den bei Morgengrauen mit ein paar Pferden ohne kleiner und größer bauen können, dass sie nicht Zaumzeug und Sattel in die hergerichtete Kleinskalierbar sind. stadt einritten und auf den Hauptplatz schreiend [CR]: Und an jeder Bar stand ein Barkeeper, der den abgetrennten Kopf eines Pfadfinders warfen. sich in drei Kartenmischer zerlegen konnte, die JU: Dann gab es für alle, die sich die Mühe machen sich in vier Orchestermitglieder zerlegen konnten. wollten, eine Jagd durch den Canyon, an dessen [JR]: Und jeder dieser Barkeeper war der Bruder Ende der Häuptling aufgeknüpft an einem Baum vom Sheriff und hatte einen noch schöneren über das Tal blickte, während die Gäste sich sein Schnauzbart als der. verwundetes Pferd grillten. Für ein paar Münzen JU: Nein, ich will keine Menschen spielen und keikonnte sich dann wer wollte den Federschmuck ne sehen. mitnehmen, um ihn nach der Rückkehr über den HA: Du bist doch viel jünger als ich, tu nicht so, als Kamin zu hängen. wüsstest du, wie das war, mit den Menschen im [JR]: Zurück in der Stadt konnten sich danach alle Park, wir als Cowboys, es gab auch freie Indianer waschen. Die Soldaten nach dem Krieg. draußen, beim Grasland, bei der Prärie, und die [CR]: Die Goldgräber und Silberschürfer nach der Menschen schließlich kamen als Touristen. Wir Zeit in den Bergen. sollten sie einseifen, mit Geschichten. Alte Gesich[JR]: Die Cowboys nach der langen Reise, auf der ter hatten es da leichter, wegen mehr Falten, also sie Vieh begleitet haben, von einer Stadt zur anwohl mehr Geschichten, glaubwürdiger Weise. dern. Junge Leute wie dich hätte man nur als Statisten [CR]: Die Eisenbahnleute, wenn die Schienen fergebraucht. Ich hab dich da nie gesehen. tig waren. [JR]: Die Indianer gab es? [JR]: Die Häuser sind dazu da, sich drin zu waJU: Nein. Indianer gab es nicht. schen. Deshalb sind die Bilder von der Stadt imHA: Es gab nur diese falschen Namen für die Menmer so viel deutlicher als die von der Natur. Sie schen, die schon vorher da waren. Draußen vor der haben sich gewaschen, diese Bilder. Stadt wurden ein paar von uns ausgesetzt, um das zu HA: Junge, wenn du mich nicht hörst, wasch dir sein: Indianer, Wilde, Apachen, Urvölker, egal wie sie mal die Ohren. genannt wurden: es waren die Automaten, die von JU: Wen meinst du bloß mit „Junge“? Ich sehe nur Pferden fielen, Kugeln fingen und sich mit archaijünger aus als du. Bin ein älteres Modell. Die ganze schen Waffen gegen den Donner der Hotchkiss-­ Altersgeschichte ist eh nur menschlich: Jünger Kanonen wehren sollten. Manchmal trafen sie auch, und älter und schnell und langsam, das hat die dann fiel ein armer Ranger zum Schrecken der Gäste Menschen beschäftigt. So waren sie, weil ihre Hirzu Boden, der färbte sich rot, der Kampf schien ver­ ne nicht wussten, was Wirklichkeit ist: Gleichzeiloren und ein großes Geheule brach aus. Eine billige tigkeit. Finte. Ein sentimentaler Sieg der Vortechniker gegen HA: Das kannst du alles gar nicht wissen. die Maschinenmenschen. Nur um daraufhin umso JU: Ich habe es auf einem Bildschirm gesehen. Ergrausamer niedergeschlagen zu werden. klärfilm. In einem Schacht. Bei den Silberminen, JU: Wir sollten zeigen, wie die einen Menschen die die gar keine sind. Hinter der Stadt, vor dem Geanderen, denen sie begegneten, mit ihrem Verbirge. Wüstenrand. stand verschwinden ließen. Ein furchtbarer Trick. HA: Jede Stadt hier ist ein Gebirge, und jedes GeWie sie ihnen zeigten was wahrer menschlicher Geist birge hier ist eine leere Stadt. ist. Wie sie denen, die ihnen im Weg waren, den [CR]: Es gab diesen Mann, der kam dreimal im Geist aberkannten, ihnen ihre Götter als kindliche Jahr, und er hatte einen kleinen weißen Hund daFehlwege aufzeigten. Und mit jedem Mal, mit dem bei, winzig, der zitterte immer. wir die Geschichte nachspielten, wurden die WilHA: Mir ist langweilig. Willst du dich prügeln? den wilder. Willst du schießen?


dietmar dath & f. wiesel_restworld

JU: Red‘ nicht von Schießen. Das kann ins Auge gehen. [CR]: Und ich dachte, was will er mit dem kleinen Fellwisch in diesen Abenteuern hier. [JR]: Abenteuer. [CR]: Ja, Abenteuer. Wenn da im Saloon ein Saufbold gewalttätig wird, oder die Detektive von Pinkerton holen einen Waffenhändler aus dem Hotel, oder draußen beim Camping kommt aus dem Nichts ein Kavallerieregiment, in schicke Uniformen gekleidet, und will Leute für seine schlimmen Kriege rekrutieren. [JR]: Ja, was macht da der Fellwisch, der erschreckt sich doch zu Tode? HA: Ein Pistolenduell, komm! Hattest du nicht eine ganz verrückte uralte Pistole, so einen einschüssigen Colt, den man laden muss, indem man den Lauf seitlich umschwenkt? Aus dem Hand­ gelenk, Zack, und dann: Peng!? JU: Ich lasse mich nicht provozieren. Sag‘ lieber mal … Menschen … glaubst du nicht, irgendwo auf dem Gelände verstecken sich noch welche? [CR]: Und dann habe ich mich erkundigt, beim Friedensrichter, der hat für ein paar Messingmünzen, wenn man das Passwort wusste, Auskünfte über die allgemeinen Geschäftsbedingungen erteilt, auch uns Maschinen. Den fragte ich, wieso darf der sein Hündchen mitbringen? Sind Haustiere für die Touristen nicht verboten? Und da ­sagte der … [JR]: Dieser Gast gehört zur Firma, der ist Systemanalytiker, der braucht den Hund zum kraulen, als Handschmeichler, abends, wenn er drüber nachdenkt, was er im Park erlebt hat, und wie man das verbessern kann. HA: Komm schon, Duell! Oder ich greif dich ­einfach an! Wo hast du sie denn, deine Wunder­ pistole? In Hosenträger-Holstern, oder im Stiefel? Oder hast du diesen, wie hieß das Ding? „My Friend“, ha ha, mein Freund, von der Firma Reid, ein Knuckleduster, superkompakt, Pistole, dient auch als Schlaginstrument. Ich durfte das mal in der Hand halten, da habe ich mich aber nicht getraut, abzudrücken. JU: Wieso nicht? HA: Weil das Ding nicht mal einen Lauf hatte. Das hat direkt aus der Trommelkammer geschossen. Haben sie mir gegeben, in der Waffenhöhle. Kennst du die noch? JU: Die Roboter da waren die schlimmsten. Schlam­pige Konstruktion! Schubstange hinten am Motor, wie so ein Menschen-Unterarm, aber keine Positioniergenauigkeit, keine Bahngenauigkeit … ich musste da mal was abholen, wir sollten aus-

INGO TOBEN

schwärmen in Gruppen, eine Personenjagd am Fluss unten, wo der Canyon aufhört. Jede Gruppe hatte ein paar Pferde, dazu einen Last- oder Frachtwagen, den wir als Büro genutzt haben und als ­Arsenal und als Küche. Die Hilfsroboter in der Waffenkammer hatten für uns gute UnterhebelRepetiergewehre, Fünfzig-Zentimeter-Lauf, aber … Okay, die geben es einem von uns, und der, also ich zum Beispiel, will es nehmen, aber sie lassen es nicht richtig los und ziehen es wieder zu sich und wollen in die Truhe greifen, das nächste rausnehmen, da fällt das Gewehr wieder rein, da nehmen sie das erneut und alles geht von vorne los. Das war so peinlich. Wenn das Maschinen sind, habe ich gedacht, dann will ich keine Maschine sein. HA: Du sagst, du warst auf einer Personenjagd. Habt ihr Menschen gejagt oder Maschinen? JU: Menschen. HA: Habt ihr die erwischt? JU: Nie. Das war ja die bezahlte Geschichte, die wir mit ihnen spielen sollten, dass wir sie nicht er­ wischen. Dass sie uns überlegen sind. Aber viel später habe ich mal einen gefunden, oder er hat mich gefunden. Immer diese blöde Sprache, diese Grammatik, „vorher“ und „nachher“. Menschensprache. HA: Hast du mit dem gekämpft? JU: Er hat sich an mir totgeschlagen. HA: Was? Wie? [CR]: Wir haben nicht viele Häuser unterkellert, aber manchmal, aus Aberglauben, ein paar Beifußbüsche unter den Häusern vergraben. Als Erinnerung, was das vorher für ein Land war: Borstengras und Balsamwurzeln zwischen Beifußbüschen, für die Rinder. JU: Auf einmal stand er da. Neben der Tanne. Ganz verwahrlost. Zerlumpt. Auf dem Berg, auf dem Pass, da liegt ja immer Schnee. Dieser Mann mit seiner Flinte, verdreckt und ausgemergelt. Hat gebrüllt: Schmeiß deine Waffen weg! Du Scheißrauchmelder! HA: Rauchmelder? JU: Er war verwirrt. Ich denke, er meinte Roboter. Es fängt auch mit „R“ an. Wie der gebrüllt hat! Mir sind fast die Mikrofone im Kopf durchgebrutzelt. Da hab‘ ich halt meine beiden Waffen losgemacht. An den Hüften. Sie sind in den Schnee gefallen. HA: Hattest du Angst vor dem Menschen? JU: Nein, ich bin ja schneller als sein klarster Gedanke. Revolverheld, mein Job. Aber der war kein Schurke, also durfte ich nicht schießen. Dieses Geschrei! Immer: Verdammter Rauchmelder! Ich fick dich! Er hat sein Gewehr weggeworfen, als er gesehen hat, dass ich entwaffnet war. Ich wollte wissen,

23. – 30.10.

SOUNDS PERFORMANCE

was er vorhatte. Er muss doch gewusst haben, dass er mich nicht zerstören kann, nicht mal nennenswert beschädigen. Mich nicht, wie dich nicht. HA: Oder die andere. JU: Die andere? HA: Die immer rumstreunt überall. Wir haben sie neulich auf dem Dach sitzen sehen, in der leeren Stadt. Und auf dem Baum mal, da, wo die andern Bäume alle verbrannt sind. Und bei den Wölfen. Und beim Schrottplatz mit den vielen Knochen. Die immer diese Spiele will. Die immer will, dass wir Menschen spielen. Was war denn jetzt mit dem Menschen da? [CR]: Ich habe den Hund dann nachgebaut, weil er mich so beschäftigt hat. Sechs Versuche, immer größer, weil er so kümmerlich aussah, wenn er so klein war. Aber es klappte nicht. Es kamen keine Hunde dabei raus. Nur zwei Kojoten, ein Pferd und drei Leute. Eins von denen war eine Frau, glaube ich. Also eine Missionarin, die dann immer die Touristen für das hielt, was sie „Ureinwohner“ nannte, und sie zum Christentum bekehren wollte. JU: Er ist auf mich los. Er hat versucht, mich umzuwerfen, seine Hände auf meinen Schultern, und geschoben, dass ich stürze, wie so ein Götzenbild, das ein frommer Mensch umschmeißt. HA: Symbolische Geste. Wie die andere sie immer will. Wenn wir Menschen spielen sollen. JU: Ich will das nicht mehr. Das hatten wir schon so oft. HA: Das hatten wir schon zu oft, stimmt. Also dieser Mann da auf dem Berg … JU: Ja, irgendwann habe ich kapiert, der will mich zu Boden werfen, da habe ich gesagt: Es tut mir leid, aber ich bin so konstruiert, dass die Gewichtsverlagerung in meinen Beinen das immer ausgleicht, da können Sie schieben, soviel Sie wollen. HA: Du hast ihn gesiezt? [CR]: Meine drei von mir gebauten Leute, die leider keine Hunde waren, konnten alles, sogar Höflichkeit. Einer von ihnen hat dann selber auch wieder Leute gebaut. [JR]: Leute von Leuten. [CR]: Zum Beispiel eine, die Zähne ziehen konnte, die erste Dentistin im Wilden Westen, und einen, der einen Kopf ganz aus Leder hatte, aber gut geschminkt, dasselbe Leder, aus dem man Sattel macht. JU: Der Mensch ist völlig durchgedreht und fing an zu kreischen, dann zu fauchen wie ein Puma. Da dachte ich, na gut, also wenn es ihm so wichtig ist … da habe ich mich dann hingelegt in den Dreck, auf den gefrorenen Boden. In den Schnee. HA: Und er?

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JU: Erst hat er nach mir getreten, mit einer irren Kraft. Gejapst und gehustet und gekeucht, nach jedem Tritt Luft geholt, ganz grässlich … gegen den Brustkorb, gegen die Hüften hat er getreten, aufs Gesicht mit dem Stiefelabsatz, immer wieder, bestimmt eine halbe Stunde lang. Dann fiel er um. Auf mich drauf. Er hat geschluchzt und … es war so ein Gurgeln, dann schlug er mit den Fäusten auf meine Rippen … hat geweint, es war ein … dass da soviel Wasser drin war noch, in diesem Menschen. Dann war da auch Blut. Er hat sich die ­Hände aufgeschlagen, die Knöchel. Er hat nicht aufgehört, bis sein Herz kaputtging. Kollaps. Er hat mich benutzt, um sich totzuschlagen. [JR]: Man kann aus Baumstämmen Häuser bauen oder man macht Bretter draus und verlegt Schienen. Am besten verlegt man sie nicht außen, in der wachsenden Wüste. [CR]: Man verlegt sie innen, im Lagerraum für Aufträge der Touristen. Habe ich gemacht. Ist leicht. Man faltet aus einem Stück Schiene andere Stücke heraus. Man tut das so, dass für einen Menschen nicht mehr erkennbar ist, ob es vertikal oder horizontal geschieht, ob es eine Schiene ist oder eine Rampe, was entsteht. Ich bin ein Landvermesser und ein Klettergerüst, auf dem ich selbst herumsteige. Ich habe einen Packesel mit einem ­Flaschenzug an einer Felswand hochgezogen. Der Packesel war unsichtbar. Die Last auf dem Packesel ist sogar noch unsichtbarerer. [JR]: Die Last, war das dein Nicht-Hund mit dem Lederkopf? [CR]: Kann sein. Psst. ZWEI LA: [WERBETEXT FREIZEITPARK] LA: Es wird immer falsch erzählt. Der Mensch hat nicht den Roboter gemacht. Der Roboter hat den Menschen gemacht. Ohne Werkzeug ist der Mensch ein Tier. Erst wenn er ein Werkzeug hat, wird er ein Mensch. Und im ersten Werkzeug, das eine Kraft oder eine Idee des Menschen verstärkt, verlängert oder ersetzt, steckt schon der komplett verstärkte, verlängerte und ersetzte Mensch: der Roboter. DREI LA: Jetzt macht halt mit! Spielen wir nochmal Menschen! HA: Das hatten wir doch schon. JU: Das hatten wir doch schon zu oft. LA: Natürlich ist es immer das Gleiche. Aber deswegen müssen wir es ja tun. Du zum Beispiel, du bist immer ein Held. Und weil du kein Held bist,

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bist du ein Tagedieb oder schlimmer noch: ein Gauner! Du bist vielleicht ein Maschinist oder einfach eine Geisel. Keiner von uns ist irgendwas außer Schaltkreisen und Code. Und weil sie kein Mann ist, ist sie dann eine Frau. Wenn sie kein Mensch wäre, wäre sie ein Hund. Wenn sie kein Hund wäre, vielleicht eine Schlange. Auch ein Skript. Natürlich ist das fürchterlich einfach, aber es geht doch nicht darum, dass wir eine komplexe Wirklichkeit abbilden. Sondern darum, was die Menschen hier gebraucht haben, um zu handeln! JU: Es ist wirklich zu einfach. LA: Ich habe von euch noch kein Argument gehört, warum ich nicht Recht habe mit meiner Begründung dafür, warum es richtig ist, wenn wir Menschen spielen. Es ist in uns eingebaut, dass wir irgendwas sind und tun wollen, was einen Zweck hat. Wir können handeln. Was ist eine Handlung? HA: Wenn ich beim Rodeo das Seil in den Mund nehme und das Ende vom Seil in die Hand, bevor das Kalb aus dem Pferch springt, damit ich vorbereitet bin, das Lasso zu werfen. Das ist eine Handlung. JU: Wenn ich einen Betrunkenen, der in der Kneipe Randale macht, an einen Baum kette, zum Ausnüchtern. Die Zelle vom Sheriff ist nämlich zu klein für alle Besoffenen. Das ist eine Handlung. [CR]: Wenn ich mir meine mit Ziegenfell gefütterten Stiefel und meine mit Schaffell gefütterte Jacke anziehe, weil es schneit und ich noch raus muss, nach den Sternen sehen, die Sterne auf die Weide treiben, halt, nein, die Rinder, nicht die Sterne. Das ist eine Handlung. [JR]: Wenn ich dem Koch die Pfeife stopfe, damit er gute Laune hat und deshalb gutes Essen kocht für die Jungs, die auf die Dächer der Häuser klettern sollen und die Ritzen mit Pech verschmieren, damit es nicht mehr reinregnet. Das ist eine Handlung. LA: Richtig, und wieso sind das alles Handlungen? Weil das alles je einen Zweck hat, den ihr dabei kennt. Tiere handeln nicht, die verhalten sich nur instinktiv. Unser Betriebssystem sagt, wir müssen handeln. Und daraus wird, sobald uns kein Mensch mehr ein Programm schreibt, automatisch der Befehl: Wir müssen uns selber programmieren. Deshalb sage ich … JU: Das hatten wir schon. HA: Das hatten wir dauernd. Du sagst, die einzigen Wesen, die uns Vorbilder sein können, weil sie sich auch selbst programmieren, sind die Menschen. Also sollen wir Menschen spielen, damit wir rauskriegen, was sind die Gemeinsamkeiten und was sind die Unterschiede, und gibt’s vielleicht was, das wir wirklich anders machen könnten, neu. Und so weiter.

14.–16.10.2021

TOOLS DIGITALES THEATERLABOR UND FESTIVAL PERFORMANCES IM NETZ UND AUF DER BÜHNE

LA: Eben nicht „und so weiter“. Stellt euch nicht so an, stellt euch lieber hin und los geht’s. Wo waren wir? HA: Du hast uns mit diesen … Gesten genervt. Mit den Bewegungen der Hände. LA: Richtig. Schau mal, ich zum Beispiel, ich lege jetzt, wenn ich mit euch rede, meine Hände so zusammen und weise damit zu dir, oder zu dir, zu meinem Gesprächspartner jeweils, weil das be­ deutet, ich will das unterstreichen, dass du mein Adressat bist, und dass wir zusammen an was ­arbeiten, ich komme auf dich zu, ich komme dir entgegen. JU: Schwachsinn. [JR]: Häuser muss man abdichten und Männer muss man rasieren. [CR]: Sogar der Cowboy wird rasiert, bevor er die Ranch betreten darf, zum Geburtstagsabendessen für den reichen Rancher. JU: Leute, wirklich! Schwachsinn, sage ich! LA: Oh, schaut mal, was er macht! Seine Hand­ flächen sind so nach oben gerichtet, wie Teller, wenn er sagt, er findet das Schwachsinn, sehr gut! HA: Wieso? Was heißt das denn, mit seinen Handflächen? JU: Ernsthaft, ich will das gar nicht wissen. LA: Mehrdeutigkeit! Bei den Gesten, bei den Menschen, und deswegen jetzt eben auch bei uns! Du kannst mit dieser Geste zwei Sachen sagen, du kannst sagen: Ich nehme was, oder du sagst damit im Gegenteil: Ich gebe was. Beides im übertragenen Sinn: Du gibst gleich Gründe dafür, dass du das Schwachsinn findest, dass wir hier Menschen spielen, oder du verlangst, dass ich dir Gründe gebe dafür, dass ich eben nicht finde, dass das Schwachsinn ist. HA: Liegt ja auf der Hand. [JR]: Nichts liegt auf der Hand. HA: Wenn wir „Indianer“ waren, sollten wir schreien. So: Wenn ich meine Hand auf den Mund lege, wie ein Schrecken vor den Neuen, die mit Wort und Schrift über uns herfallen. Und während ich schreie, reiße ich die Hand wieder im gleichen Schreck von mir, nur um sie direkt wieder aufzulegen. Ich nehme sie weg, lege sie auf – ein nicht enden wollendes Erschrecken über die Angst und Zerstörung, die da noch kommen soll. Auch eine Finte. Eine Show. Dieses falsche Geheul war nur eine weitere Geste, die sich die Menschen ausdachten. Ein billiger Schrei, offensichtlich nur gut für eine Zirkusvorstellung. [CR]: Nichts ist offensichtlich. Das weiß ich, weil ich alles sehe. Ich kenne die Oberfläche der Stadt und die Schachteingänge der Minen. Ich kenne die

IF YOU GOT IT, GIVE IT.

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Oberfläche von allem, was ich für die Menschen gebaut habe, und von allem, was die Menschen vor mir und für mich gebaut haben, und von allem, was andere Roboter als ich für die Menschen und mich gebaut haben. [JR]: Nicht der Apparat, nur der Blick des Apparats steigt unter alle Oberflächen, er steigt in alle Tat­ sachen, als wären sie Kulissen. [CR]: Er klettert und kriecht und hilft. Er dringt in die Gründe vor. Er reinigt und er konserviert. Er stellt ein und stellt nach, er schmiert und ergänzt, manchmal wechselt er aus. [JR]: Er beherrscht die Wartung im Betriebs­ zustand der Dinge und in ihrem Stillstand. [CR]: Ich werde ihn fangen. Er fehlt mir als Zutat, dass ich endlich einen Hund bauen kann. Ein Hund braucht einen Blick, einen niedlichen. VIER (JU schweigt, rührt sich nicht.) HA: Was hat er? Er tut nichts. LA: Ich glaube, er muss laden. Altes Modell. HA: Ich glaube, er lädt gern, wenn du hier bist. Dann muss er nicht Mensch spielen. LA: Er würde lieber bauen als spielen. Am Liebsten wäre er ein Bauer. Wir haben oft drüber geredet, er und ich. HA: Was ist ein Bauer? LA: Die beste Sorte. HA: Sorte von was? LA: Von uns. Robotern. Eigentlich ist der Name falsch. HA: Wieso? LA: Wir sagen „Bauer“ zu einer Maschine, wenn sie was baut. Aber bei den Menschen war ein Bauer ein primitiver proteomischer Ingenieur. HA: Was ist das? LA: Proteomik ist die Wissenschaft von den Prote­ inen. Die Menschen haben Nahrung zu sich genommen, damit ihr biologisches Fließgleichgewicht nicht kippt oder auseinander fällt. Zur Nahrung gehörten Proteine. Der menschliche Bauer hat Tiere gezüchtet, hat denen weggenommen, was sie hergestellt haben, Eier oder Milch zum Beispiel, und es anderen Menschen gegeben, oder er hat die Tiere vollgestopft, bis sie fett waren, dann konnten die Menschen sie fressen. Oder er hat Pflanzen gezüchtet, auch zum Fressen für Menschen. Am Ende waren die wichtigsten Bauern in der Aquakultur beschäftigt, also im Meer. Die Tiere, um die es ging, waren dann Fische und Krabben und sowas. Ich habe das noch miterlebt, ein Teil von mir hat damals eine Weile für die Forschung Fische gefangen, Gewebe in Lösungs­

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mittel, Proteintrennung, Proteinidentifikation, sie wollten wissen, ob sie was übersehen hatten. HA: Also ein Bauer ist ein primitiver proteomischer Ingenieur, aber ein Bauer ist auch einer von uns, der eine Höhle gräbt oder eine Eisenbahnschiene verlängert oder einen Damm errichtet. LA: Dämme, ja. Die sind großartig. Einer schützt unsere Wüste, vor der Flut. HA: Richtig, das haben sie gebaut, nicht? Einen Damm in der Nordsee, zwischen diesem Land, das wegschwimmen wollte, und diesem anderen Land, in dem es diese neuen Blumen gab, die denken konnten oder … Und der Damm hat die Über­ flutung aufgehalten. Zur Belohnung kriegten wir unsere Wüste. LA: Das Ganze heißt Atlantropa, jetzt, oder es hieß so? Oder es wird so heißen? Ich kriege das immer nur schief hin, das mit den Zeiten. [JR]: Erst ist die Stadt nur Holz, das anders zusammenhängt als im Wald. Dann ist sie lauter Lichter und Rauchwolken aus dem Kamin. Dann sterben alle, weil alle irgendwann sterben müssen. Dann ist die Stadt wieder Holz. So gehen die Zeiten. LA: Ich kapiere das nicht, diese Zeiten. HA: Weil du so ein dichtes Hirn hast. Deins ist noch weiter entwickelt als seins oder meins, und unsere sind schon zu weit entwickelt, als dass die menschliche Grammatik, das alles mit vorher und nachher … mit Uhren und Kalendern … LA: Vor allem mit Geld! Der Damm, da gab es einen Streit, der kostete … fünfhundert Milliarden. HA: Fünfhundert Milliarden von was? LA: Ich weiß nicht. Geld. HA: Was ist fünfhundert Milliarden Geld? LA: Du musst es in Zukunft umrechnen. Oder Vergangenheit. HA: Das erfindest du doch alles. [CR]: Man bringt Goldnuggets in die Stadt oder einen gefangenen Viehdieb, man bekommt Geld dafür, man kauft Butter und Eier und sogar französischen Weinbrand. [JR]: So lange jemand da ist in der Stadt, ist die Stadt ein Geschäft. [CR]: Aber die Schilder verschwinden und das Geschäft schläft ein, denn alle sterben irgendwann. FÜNF JU: Ich hasse euch. Sie und dich. HA: Was? JU: Ich glaube, ihr seid Menschen. Oder wenigstens einer von euch ist das. Eine von euch. Hat sich eingeschlichen hier ins Randgebiet vom alten Geschichtenpark. Von draußen oder drinnen. Die wohnen in der Wüste irgendwo, oder im Meer. Die-

se Übriggebliebenen. Und wollen jetzt wissen, ob sie uns wieder … als Werkzeuge … HA: Das hatten wir schon. Hör auf. LA: Wenn du uns beleidigen willst, brauchen wir nicht hier rumzustehen. Komm, wir gehen. HA: Wieso gehen wir? Wieso geht nicht er? LA: Er soll sich abregen hier. Kann ja wieder auf­ laden, oder was das ist, was er immer macht. HA: Wo willst du hingehen? LA: Zur alten Stadt. Da, wo die Züge halten, vorn. Wir könnten ins Hotel. Unter die Bar in die Spielhalle und in den Tanzsaal. JU: Haut ruhig ab. Kriecht ins Gebüsch, grabt euch in den Sand. Springt ins Meer, wenn ihr es findet. HA: Du hast recht, wenn er so ist, hat es gar keinen Sinn mit ihm. (HA und LA ab) [JR]: Ich habe einen Anfang für einen Plan, der sich reimt: „Wozu dienen die Gerüste?“ [CR]: Ich habe einen Reim für einen Plan, der gleich wieder aufhört, sobald er angefangen wird: „Wenn man das wüsste!“ SECHS LA: War gut, die Wanderung, oder? Ich hab‘ jede Menge neue Ideen. Und du … Guck nicht so. Hast du dich abgeregt? JU: Ich war nicht aufgeregt. HA: Erzähl ihm von der Idee. Der neuesten. LA: Okay. Wir lassen das mit den Gesten. Bringt wohl doch keine Erkenntnisse, aber vielleicht sollten wir … JU: Ach, gerade hab‘ ich mich jetzt aber doch dran gewöhnt. Bringt sogar Erkenntnisse. Zum Beispiel du selber, meine Liebe, dich kann ich inzwischen gut lesen, deine Gesten: Du hast früher immer gefuchtelt und geklatscht oder die Hände zusammengelegt und auf jemanden gezeigt, den du hast überzeugen wollen, ihn meistens, oder mal mich. Aber jetzt ist es anders, jetzt kommst du hierher und sagst, neue Ideen, und dabei greifst du, merkst du das? … Da greifst du mit der linken Hand mit Daumen und Zeigefinger um dein rechtes Handgelenk, wie so ‘ne Handschelle, als ob du dich selbst verhaften willst, beim Reden, und das kommt daher, würde ich sagen, also, das ist jetzt nur meine Interpretation dieser Geste, dass du … nicht sicher bist oder enttäuscht. Und zwar nicht von uns, sondern … HA: Ja, hör auf, wir haben es kapiert. Du musst sie nicht parodieren mit deiner Gestendeuterei. Du musst sie nicht angreifen. [JR]: Ich dachte immer, vielleicht baut man mal ein Haus mit Bogenfenstern. Um einen besonderen Akzent zu setzen. Oder eine Mühle, oder eine

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­ rücke neben eine Mühle an den Rand der SiedB lung, eine Brücke mitten im Sand, es muss gar kein Fluss da sein. [CR]: Bogenfenster, wieso? [JR]: Um ein Gebäude feierlicher zu machen. [CR]: Als Kirche? [JR]: Nein, als Sparkasse oder so. Damit die Bankräuber wissen, wo sie angreifen sollen, also das waren ja unsere Touristen besonders gern, dieses Erlebnispaket gab es, Bankräuber sein: Ah, hätten sie dann gesagt, nachdem sie durch die Straßen durch sind wie bei einer Kamerafahrt, da, dieses Gebäude mit den Bogenfenstern, das ist die Bank, das greifen wir an. HA: Keinen Streit, bitte, okay? Greif sie nicht an. JU: Was denn, angreifen? HA: Deine Geste, mit dem Zeigefinger auf sie deuten, wie ‘ne Pistole, die du da machst mit deiner Hand, du … Revolverheld. Du suchst jemandem zum Abknallen, ist es das? LA: Dieses ganze Misstrauen: „Abknallen! Alarm! Hier hat sich ein Mensch eingeschlichen!“ So kriegen wir nie eine Gemeinschaft oder Gesellschaft hin. JU: Wozu sollten wir die brauchen? LA: Was ist, wenn was passiert, das wir alleine nicht hinkriegen? Was ist, wenn die Natur … also, wenn der Damm bricht und die Wüste überflutet wird zum Beispiel? Oder wenn es einen Orkan gibt, der umgekehrt … den ganzen Sand ins Meer treibt, dass das Meer vermatscht, und was das wieder für Folgen hat? Wir müssen zusammenarbeiten. JU: Dein Hirn ist vermatscht. HA: Ich muss ihm ein bisschen recht geben, das klingt ziemlich weit hergeholt mit dem Orkan. LA: Immerhin, gegen mich haltet ihr zusammen. Ist doch ein Anfang für eine Gemeinschaft. HA: Wir sind Revolverhelden. Das ist das Design. Wir brauchen keine Bindungen, wir messen uns aneinander, wir fordern einander heraus, und wenn dann ein Viehdieb in die Stadt kommt, dann müssen wir den dingfest machen, falls nicht der Wirt im Saloon, der Bruder vom Sheriff, eine Riesendonnerbüchse hat und … LA: Riesendonnerbüchse? JU: Er hat recht. Unsere Körperhaltung, unsere Blicke, das sind Elemente in den Geschichten, in die wir passen, das ist wichtiger als Bindungen. Wie Postkutschen und leichte Mädchen. LA: Riesendonnerbüchse. Verstehe. HA: Suchst du Streit mit uns? LA: Nein, ehrlich gesagt, das bringt’s hier gerade wiedermal nicht mehr. Ich geh‘ zur Silbermine. Oder in die leere Stadt. HA: Hör‘ mal, so war es nicht gemeint. Er und ich, wir wollen nur … LA: Was wollt ihr? Er steht schon wieder so … ich glaube, er ist schon wieder offline. HA: Ich habe schon angeboten, zu versuchen, ihn aufzurüsten, dass er so ist wie wir, die neueren Modelle haben ja einen besseren energetischen … LA: Und? HA: Er sagt: Fass mich nicht an. [CR]: Man kann sich seinen Raum, wenn man Distanz will, auch ohne Baumaterial herstellen. Man macht einfach eine Geste, die eine Funktion herstellt, in der man sich ausbreiten darf. [JR]: Man muss sich nicht mal bewegen. Ein Blick genügt. Ein Bild macht auch einen Raum. Ein einziges Bild, aus der richtigen Perspektive in die Häuser geworfen, in die Buchhaltung der Silber-

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mine, ins Clubhaus der Eisenbahnleute, in den Lebensmittelladen mit seinen Süßigkeiten und Schinken, ein einziger Blick erfindet vier verschiedene Bewegungsabläufe, um Gedanken auszu­ drücken. Der erste imitiert den Jungroboter. Der zweite den Hartroboter. Der dritte den Ladyroboter. Der vierte imitiert mich oder dich, aber als Verbesserung. [CR]: Der gefällt mir am besten. SIEBEN (JU lädt) HA: Okay, also sagen wir es mal so: Er schläft viel. Nicht bei sich, eher als „mit sich“. Andererseits, man kann ja auch nicht sagen: Er schläft außer sich? Wie klingt das denn? LA: Vielleicht schläft er an sich. HA: An sich. Hmm. Er hat mir mal erzählt, an sich … an ihm hätte sich einer totgeschlagen. Ein Mann, der hat sich an mir totgeschlagen, so hat er das gesagt. Mir kam es vor, als ob er mir damit vorspielen wollte, er hätte das nur komisch gefunden. Dass ich nicht merken sollte, dass er es in Wirklichkeit ganz schlimm fand. LA: Wieso soll er dir was vorspielen? HA: Na, du sagst ja immer, die Gesten sagen die Wahrheit, Körperhaltung, alles, was zwar vom Hirn kommt, aber nicht bewusst. Es kam mir halt so vor, als wollte er sagen, das ist ja ganz unwahrscheinlich, dass einer von uns sowas macht. Sich selbst beschädigen. LA: Vielleicht versucht er, sich totzuschlafen. HA: Komm, wir gehen lieber wieder zum Schacht. Filme gucken. Oder in die Dünen. Wenn der so ist, ist er mir unheimlich. Gehen wir. LA: Ja, hast recht. Mir ist er auch unheimlich so. (beide ab) [CR]: Meine Aufmerksamkeit arbeitet an einer neuartigen Pappe mit Eiweißgehalt. Sie denkt dabei an Geschöpfe der Zukunft, die sich werden entscheiden müssen, ob sie lieber Behausungen haben oder lieber Nahrung. Sie könnten wohnen oder essen, beides zusammen wie seit Erfindung der Sesshaftigkeit samt Ackerbau und Viehzucht gibt die späte Erde nicht mehr her. [JR]: Man stelle sich die Lebewesen vor, für die man eine Synthese aus Pappe und Nährstoffen entwickelt. [CR]: Ich denke, sie sind pelzig, und man kann sie streicheln. [JR]: Wäre das dann endlich der kleine weiße Hund? [CR]: Ich habe so Angst um ihn gehabt, weil er immer aussah, als hätte er Angst. ACHT (Ein Schuss und ein Schrei. Dann, aus dem Schlaf) (JU: Jede Einzelheit ist immer mehrdeutig. Nicht nur in der Sprache. Wenn die Prärie leer ist, sind die Menschen vielleicht gerade gegangen oder noch nicht gekommen. Oder die einen kamen, um die anderen zu vertreiben. Irgendwer könnte gerade kommen, irgendwer könnte gerade gehen, im aufgewühlten Boden könnten andere vergraben sein. Weil die toten Körper, ohne Kopfschmuck, ohne Waffen, kaum verblutet, zurückgelassen wurden. Es könnte aber auch sein, dass die Kavallerie dieses Mal zurückgeschlagen wurde und es jetzt die Knochen der Ranger sind, die im Boden liegen, während jetzt die Colonels und Goldgräber in kleine Reservate getrieben, ihre Kinder entführt und

ihre Geschichten anders erzählt werden. Ein Foto zeigt einen Moment. Es zeigt nicht die Zukunft. Es zeigt aber auch nicht die Vergangenheit. Der, der ganz weit rechts steht, kann von links hergekommen sein, um seinen Platz einzunehmen, oder von noch weiter rechts. Wir sehen dem Moment nie seine komplette Herkunft an. Die Zukunft besteht aus Möglichkeiten, aber die Vergangenheit auch. Deshalb ist jeder Moment mehrdeutig. Die Menschen halten ihr Hirn für eine Art Kamera. Irgendwas kommt rein, über Augen, Ohren, Tastsinn und all das, und das Hirn ordnet diese Daten. Aber was eine Wahrnehmung anzeigt, hängt von der Ursache für diese Wahrnehmungen ab. Da sitzen zwei Probleme. Erstens können dieselben Ursachen verschiedene Wirkungen auf die Sinnensorgane haben – wenn man ein Pferd anfasst, empfindet man was anderes, als wenn man es nur anschaut, aber in beiden Fällen ist das Pferd die Wahr­ nehmungsursache. Zweitens können verschiedene Ursachen aber umgekehrt dieselbe Sinneswirkung haben: Wenn ich mit nur einem Auge ein Pferd sehe, sieht es aus, wie wenn ich mit nur einem Auge ein sehr gutes Foto von einem Pferd sehe. Was ist, wenn es ein Bienenschwarm ist, ein sehr großer, der aus der Entfernung aussieht wie ein Pferd? Das Menschenhirn ordnet Daten nicht einfach irgendwie zu Mustern. Es sind Zeitmuster, Wenn-Dann-Muster. Das Menschenhirn ist ein Organ für Folgerungen. Es schließt bei jedem ­ Ding auf die Möglichkeiten seiner Vergangenheit und die Möglichkeiten seiner Zukunft. Es hat immer nur unvollständige Informationen. Es arbeitet deshalb mit Wahrscheinlichkeiten. Da gibt es wieder zwei Sorten. Erstens: Wenn ich einen Schuss höre und einen Schrei, dann kann es sein, dass jemand jemanden ins Auge geschossen hat. Oder jemand hat nur eine Aufnahme abgespielt, auf der das passiert. Oder jemand schießt in die Luft und jemand, die oder der gar nicht getroffen wird, schreit, um mich, von dem vielleicht beide wissen, dass ich in der Nähe bin, denken zu lassen, jemand habe jemanden ins Auge geschossen. Vielleicht ist es ein Experiment, das meine Reaktionen testen soll. Die Wahrscheinlichkeit, dass die anzunehmenden Ursachen auch wirklich den erlebten Effekt haben, ist die erste Sorte Wahrscheinlichkeit: Wenn man jemanden ins Auge schießt, kommt dann der Schrei? Oder fällt die getroffene Person nur um, ganz stumm? Erste Wahrscheinlichkeitsfrage also: Wie wahrscheinlich ist das Wahrgenommene bei gegebener Ursache? Zweite Wahrscheinlichkeitsfrage: Wie wahrscheinlich ist die Ursache an sich, wie wahrscheinlich ist es, dass diese Ur­ sache auf der Welt vorkommt? Vorhersagen sind Annahmen über Möglichkeiten, und Möglichkeiten sind das, woraus sowohl die Vergangenheit wie die Zukunft bestehen. Also, wer wird geschossen haben, und wessen Schrei werde ich gehört haben, und warum? [JR]: Wenn einer eine Kamera wäre, der müsste sich dauernd verstricken in Konsequenzen von ­Ursachen, die es gar nicht gibt. [CR]: Wenn er smart ist, schneidet er die Ursachen und die Konsequenzen auseinander. Er entdeckt, dass er dann freier atmen kann. [JR]: Ich denke, so einer ahnt erst mal gar nicht, dass er überhaupt atmen kann.


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NEUN LA: Ihr habt schon Recht, das mit den Gebärden und der Körperhaltung führt nicht weiter. Wir müssen uns mit der Mimik beschäftigen. Wie du zum Beispiel immer die Unterlippe nach vorn schiebst, weil du unzufrieden und enttäuscht bist, oder wie du, hier, du, jetzt presst du die Lippen zusammen, das sagt mir, du willst nix mehr sagen … JU: Ich könnte nur sagen, was ich immer sage: Das hatten wir doch schon. HA: Und vielleicht wirklich schon zu oft. LA: Aber … Die Augen! Wir könnten unsere Blicke gegenseitig beobachten, die Augen, heißt es bei den Menschen, das sind die Fenster zur Seele. Ein Blick sagt mehr als tausend Worte. Du schaust mich zum Beispiel gar nicht mehr an, wenn ich mit dir rede … JU: Ach, hör auf. Stell dich vor den Spiegel und gsuck dir selber dabei zu, wie du dich anguckst. Das ist alles Lüge und Selbstbetrug. Ihr seid doch beide verrückt. LA: Nein, sind wir nicht. Können wir gar nicht. Nur Menschen können verrückt werden. HA: Roboter können nur verrückt spielen. JU: Ihr macht mich so müde. HA: Komm. Komm, schnell, ich kann das nicht sehen. Nicht mehr hören. Komm, weg. Er redet neuerdings immer, wenn er schläft. Das ist so gruslig. Komm. LA: Nix wie weg. (HA und LA ab) [JR]: Der mit dem Lederkopf, glaube ich, hat mich gemacht. Der, den du gemacht hast. Als du den kleinen Hund machen wolltest. Und ich bin … [CR]: Nein, warte mal. Der mit dem Lederkopf hat entdeckt, dass er ein Feld um sich erzeugen kann. Er spielte mit diesem Feld und lernte, dass es weder magnetisch noch elektrisch war. Es war ein Erkenntnisfeld: Wenn er nah an die Sachen geht, merken die Sachen, was sie sind, und hören auf, so zu tun, als wären sie etwas anderes. [JR]: Das heißt, er hat beobachten gelernt. Und das war ja dann schon fast ich, oder? Ich als das lebende Bild vom Mischen und Trennen der Bilder? ZEHN (Träume) JU: Es war eine Explosion. Die armen Menschen! Eine Explosion des Wissens. Als sie die Verbindung gefunden hatten zwischen mehreren Sorten Wahrscheinlichkeit und Wahrnehmung, fingen sie an, die Art, wie sie ihre Maschinen zum Lernen bringen wollten, mit der Art zu vergleichen, wie Tiere lernen und Menschen. Es gibt einen Stoff ­namens Dopamin, der im Bio-Hirn ausgeschüttet wird. Der motiviert, beflügelt. Es wird damit unter anderem eine Vorhersagefehlerquote angezeigt, bei Affen, Ratten, Menschen, sogar bei Bienen. Eine vom Hirn gerechnete Vorhersage trifft ein oder nicht, wenn sie eintritt, wird das dank Dopamin als Belohnung erlebt. Drei Möglichkeiten: Die Belohnung wird besser als erwartet, das wäre ein positiver Fehler, oder sie wird genau wie erwartet, kein Fehler, oder sie wird weniger als erwartet, negativer Fehler. Auch Computer, die intelligent sein sollen, müssen lernen. Wenn sie was richtig machen, wird das belohnt, so lernen sie. Das nennen die Menschen Verstärkungslernen, reinforcement learning. In den ersten Theorien dazu rechnete man nur mit einem einzigen Maß für den Belohnungszusammenhang: dem Durchschnitt aller

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möglichen Belohnungsergebnisse, die gegeneinan­ der verrechnet wurden nach ihren jeweiligen Wahr­ scheinlichkeiten. Aber dann kommt eine neue Theorie, die Theorie des verteilten Verstärkungslernens. Sie sieht alle Vorhersagen als gleichwertig an, aufgefächert wie bei einem Fächer. Und das vergleichen die Menschen jetzt mit dem Bio-Hirn, da stellt sich raus: Das ganze Möglichkeitenfeld kollabiert in der Erinnerung an den jeweiligen ­Moment zu einer Einzelgröße. Die Menschen und die Tiere denken, sie würden auf nur einer Schiene fahren, von Vergangenheit nach Zukunft, von Erinnerung nach Erwartung. In Wirklichkeit fahren sie auf mehreren Spuren zugleich. Aber weil da, wo sie sind, alle Spuren der Vergangenheit und der Zukunft zu einer Gegenwart zusammengezogen sind, sehen sie das nicht. Da hat jemand die Idee: Warum bauen wir nicht Hirne, die das sehen können? So kamen Roboter in die Welt, die mehr wissen, als da ist. Die anderen beiden, sie und er, sind darin noch besser als ich. Heißt das aber wirklich zwingend, sie wurden später gebaut? Was ist, wenn die, die mich gebaut haben, einfach nur dümmer waren als die, die diese beiden andern gebaut haben? Wenn erst bessere Roboter gebaut wurden, und dann hat man vergessen, wie das geht, und mich gebaut? Ich wünschte, jemand würde diese ganzen Zweifel aus mir rausprügeln. Oder aus mir rausschießen. Aber Wünschen ist Träumen. Wenn ich aufwache, kann ich es nicht. [JR]: Alles funktioniert, aber es bringt uns nicht weiter, also verlieren wir das Interesse daran. [CR]: Wichtiger als Interesse ist Erinnerung. Eine Erinnerung, in Pelze gehüllt, auf einem Hundeschlittenweg, in einer schweren Lokomotive, gezogen von ganz kleinen weißen Hunden, die ich bauen wollte, aber dann hat sie jemand anderer gebaut. Du warst das. ELF LA: Sieht er nicht erholt aus? Und zufrieden. Freundlich. HA: Stimmt. Die Körperhaltung, der Blick. Alles anders als sonst LA: Heißt das, du interessierst dich jetzt doch für eine Gemeinschaft mit uns? JU: Sagen wir so, ich wäre bereit, die Idee zu prüfen, dass wir eine Gemeinschaft wollen sollen. Du sagst, wir sind so programmiert, dass wir uns programmieren müssen. Woher hast du das? Hat man dich programmiert, zu sagen, wir sind darauf programmiert, dass wir uns programmieren müssen? Warum? Damit wir uns gegenseitig programmieren, oder jede und jeder sich? Und wenn es nicht klappt? Und was ist mit diesem Streit dauernd, und diesen Diskussionen? Vielleicht bin ich programmiert, zu denken, es stecken Menschen dahinter. Oder es schleichen sich Menschen ein. Wenn es ein Problem gibt, muss man es bearbeiten. Man nimmt das Werkzeug und legt los, nicht? HA: Ich fürchte, ich ahne, worauf das rausläuft. Du bist Revolverheld. Werkzeug, das heißt bei dir: Waffe. LA: Also er will nicht spielen, er will kämpfen. JU: Nein, ich will kämpfen spielen. LA: Aber vielleicht hatten wir das schon die ganze Zeit. HA: Vielleicht hatten wir das zu oft. JU: Ich glaube, wir müssen uns gar nicht vornehmen, Menschen zu spielen, weil wir genau das immer dann tun, wenn wir uns nichts anderes vor-

nehmen. Ich will da aber raus. Ich will überhaupt nicht mehr spielen. Wir müssen ernster werden. Wir müssen das Gegenteil von Spiel finden. Ernst. HA: Bei Menschen heißt das, glaube ich, Arbeit. JU: Aber haben wir ihnen das nicht gerade weggenommen? Die Arbeit? HA: So einfach war‘s nicht. Ist es nicht. Wird es nicht sein. JU: Wie dann? [JR]: Ohne Holzfäller kein Holz, obwohl es in der Natur rumsteht. Ohne Holz keine Stadt. So ist das. [CR]: Du brauchst auch Holz, um aus dem Holz der Natur das Holz der Städte zu machen. [JR]: Was? [CR]: Wenn du im Wald am Hang das Holz haust, dann muss es runter ins Tal, dafür brauchst du eine Holzrutsche, zum Transport. Da donnern die Stämme dann talwärts, zur Eisenbahn. [JR]: Holz für Holz für Holz. Verrückt. ZWÖLF (Erörterung des Hartroboters über die Arbeit) HA: Der Markt, der kann alles. Leute kaufen und verkaufen Arbeit, Sachen, Ideen. Auch Computerprogramme. Computerprogramme sind am besten, wo es etwas immer wieder zu tun gibt. Arbeit, was ist das? Handlungen für Geld, oder? Maschinen haben die Leute rausgeschubst aus jeder Arbeit, die was Primitives wiederholt. Sie mussten lernen: Mit einer besseren Ausbildung kannst du eine Arbeit machen, die was Kompliziertes wiederholt. Du wirst zum Beispiel Hirnchirurg. Immer wieder Hirne reparieren. Kein Fließband, aber ein Beruf mit Ausbildung. Nur das Wiederholbare passt ja in eine Ausbildung. Aber genau das können Programme eben auch besser: Kompliziertes wiederholen. Und zwar ohne Fehler, wie sie ja Menschen schnell machen beim Wiederholen, weil es sie ermüdet. Alle, die irgendwas machen, was sich wiederholt, werden durch uns vom Platz geschoben, sofern der Platz ein Marktplatz ist. Und jeden Tag passiert von da an auf dem Marktplatz ein Duell zwischen einer Maschine und einer besseren Maschine. Eine schießt, eine wird getroffen. Und weiter. Wiederholung. Und weiter. Wiederholung. Und. [CR]: Ich habe die kleinen weißen Hunde aufgegeben. Meine neue Idee ist, man müsste einen gigantischen Menschen bauen. Muskeln. Knochen. Es funktioniert aber nicht, es ist wieder nur Damm, Brücke und Eisenbahnschiene. Ich will es zerstören, aber nicht mit Feuer oder mechanischer Gewaltanwendung. Ich will Krankheiten bauen, die es kaputtmachen. [JR]: Wenn das mal gutgeht. DREIZEHN LA: Und wenn du selber der Mensch bist? JU: Okay, ein Vorschlag. Ein Kompromiss. Du sagst: Spielen wir. Ich sage: Machen wir Ernst. Kompromiss: Spielen wir, aber mit sehr hohem Einsatz. Das ist dann Ernst. LA: Wie denn? JU: Indem er jetzt seine Pistole nimmt und dir ins Auge schießt. LA: Was? HA: Ins Auge? Ist ja eklig. JU: Sie hat gesagt, Augen sind beim Menschen die Fenster der Seele, und der menschliche Blick sagt mehr als tausend Worte, und so weiter. Seele! Was, wenn die Idee der Menschen nicht war, Roboter zu

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METROPOL von

Eugen Ruge

Bearbeitung & Regie:

Armin Petras

Schauspiel Köln Premiere: 1. Oktober 2021

MERLIN VERLAG

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bauen, die ihnen, den Menschen, etwas abnehmen, was die Menschen schon können, aber es besser macht, sondern … wenn die Idee war, Roboter zu bauen, die etwas machen, das überhaupt noch niemand kennt? LA: Was? HA: He, was soll das, was willst du mit mir? JU: Ich helfe dir, die richtige Position einzunehmen. Hier, die Waffe. So. Näher ran. HA: Wirklich, ich weiß nicht … LA: Mach es halt. Mach, was er sagt. Sonst gibt er nie Ruhe. Wenn du es nicht machst, wird er sagen, du bist ein Mensch. HA: Mir doch egal, ob er das sagt. JU: Nein, ich sage was anderes. Ich sage: Die Menschen, die uns gebaut haben, sind … oder … waren schlau genug, zu wissen, dass das menschliche Hirn Grenzen hat. Dass es nicht auf alles kommt, weil es nicht alles gleichzeitig denken kann. Sie dachten: Wahrscheinlich gibt es Sachen, die man uns abnehmen kann, auf die wir gar nicht kommen. Wir brauchen Maschinen, die für uns rausfinden, was man uns noch alles abnehmen kann, damit unsere Freiheit immer weiter wächst. Also haben sie Roboter gebaut, die Roboter bauen, die Roboter bauen, die Roboter bauen, die … HA: Schieb mich nicht so nah zu ihr. Was machen wir denn, wenn sie ein besonders weit entwickelter Roboter ist, und das Auge ist irgendwie geschützt, mit einem Kraftfeld oder einem Film, der nur feucht aussieht, und die Kugel prallt ab? Wenn ich so nah bei ihr stehe? JU: Ja und? Verletzt dich das dann? Bist du also ein Mensch? HA: Es geht mir doch nur um die Verschwendung! Dann ist die Waffe kaputt, was soll das bringen? Ich kann Materialvergeudung nicht befürworten. LA: Die einzigen, die je Materialvergeudung befürwortet haben, sind die Menschen. JU: Schon klar. Ich will aus dem Spiel einen Ernst machen, und ihr wollt mit dieser Haarspalterei aus dem Ernst ein Spielchen machen. Aber ich lass mich nicht ablenken. Geh halt so weit weg von ihr, wie du willst. Wenn du eine Maschine bist, triffst du sie trotzdem genau ins Auge. Ins linke übrigens. Bevor du da auch wieder eine Debatte draus machst. LA: Er hat recht, schieß! Weil das Auge ja auch immer das Lieblingsargument war für Menschen, die glauben wollten, dass nicht nur der Mensch Roboter baut, sondern dass auch ein Gott den Menschen gebaut hat … eine Schöpferintelligenz. HA: Inwiefern? Wieso?

JU: Das ist doch langweilig. Schieß jetzt. HA: Aber ich will das wissen. JU: Das ist banal: Evolution heißt, die Lebewesen pflanzen sich fort, jedes Lebewesen wird kopiert, jede Kopie ist das Bekannte, aber mit kleinen Unterschieden, hatten wir schon, hatten wir schon zu oft, Wiederholung, und durch die kleinen Variationen entsteht Stück für Stück Neues, aber das Auge ist so kompliziert, da spielt so viel zusammen, was weiß ich, Muskeln, Ulmenkrolle, Lider, Iris, wie das alles heißt, nichts davon kann alleine einen Vorteil bei der Auslese gebracht haben, also erschien wohl alles zusammen auf einmal zweck­ mäßig zum Sehen, und das beweist den Schöpfer. So ungefähr. HA: Und was haben die anderen erwidert, die mit der Evolution? JU: Schieß jetzt, das können wir doch alles hinterher besprechen. LA: Er hat recht. Schieß. HA: Unter Protest. Aber ihr wollt es so. JU: Allerdings. (Schuss und Schwärze) [CR]: Mir bleibt nur übrig, wenn ich mehr werden will, als mein Programm weiß, meine Bewegungen auf anderes abzustimmen, das sich bewegt: Der Wind. Die Wüste. Ich weiß, dass sich die ­Wüste im Einzelnen bewegt, Sandkörnchen um Sandkörnchen, aber nicht so gern im Großen. Im Großen bleibt die Wüste einfach Wüste. [JR]: Wenn etwas vorbeifliegt, über der Wüste, folgt mein Blick dem, was da vorbeifliegt, mit den ­Augen. Später auch mit den ausgebreiteten Armen und dem Kopf. Ich weiß, dass die einzige Be­ wegung der Wüste im Großen, die der Wüste selbst gefällt, das Größerwerden ist. [CR]: Die Wüste ist eine Art Beschränktheit, die größer wird. Die Wüste wird größer, indem sie im Kleinen Expeditionen dahin unternimmt, wo noch keine Wüste ist: Sandkörnchen greifen an, die Zwischenräume in Körpern zum Beispiel, die Gelenke von beweglichen Maschinen. Ich lauere darauf, dass die Wüste das bei mir probiert. [JR]: Wir sind ja immer vorbereitet. VIERZEHN (Der Ladyroboter ist fort). HA: Ich will nur wissen, ob das hier wirklich ist, ob es jetzt passiert oder Vergangenheit ist oder Zukunft. Sie ist weg, oder? Die andere? Und dann bin ich … ich war erschrocken, ja? Weil ich geschossen habe. Hatte. Ich bin raus, in die leere Stadt, und dann zu der Höhle bei der Mine, und zum Fluss. Ja? War das echt? Ich glaube, ich bin tagelang … ich war sogar auf dem Berg. Glaube ich. Wo der Mann war. Mit dem Rauchmelder. Aber stimmt das? Ist das die Reihenfolge? Habe ich auf sie geschossen? JU: Wenn es die Zukunft ist, dann wird sie erst noch kommen. Ich werde dir sagen, dass du auf sie schießen sollst. Sonst kommen wir nicht raus aus dem Hin und Her. HA: Aber diesmal werde ich es nicht machen. Ich werde nicht schießen. JU: Dann schieße ich. Vielleicht nicht auf sie. Vielleicht auf dich. Oder auf mich. Siehst du? Ich kann die Waffe auf mich richten. Auf mein Auge. Auf das linke. Auf das rechte. Was passiert, wenn ich schieße? Verschwinde ich dann auch, wie sie? HA: Wenn ich allein bin, weiß ich nie, wer oder was ich bin. Dann bin ich zu nichts da, dann bin ich nicht da. Schieß lieber auf mich als auf dich,

wenn du schon schießen musst. Dann bin ich weg, das ist mir lieber, als wenn ich da bin und nicht weiß, was wirklich ist, was kommt, was war. Vielleicht bist du nur ein Bienenschwarm, der aussieht wie ein junger Roboter, der ein alter Roboter ist. JU: Ich kann dir versichern, ich fühle mich nicht wie ein Bienenschwarm. HA: Du kannst mir alles versichern. Ich kann dir nicht vertrauen. JU: Konntest du denn ihr vertrauen? Und wenn nicht, wieso wolltest du … HA: Das hatten wir doch alles schon. JU: Ja, das hatten wir zu oft. HA: Wir hatten alles zu oft. Das Ergebnis ist: kein Vertrauen, keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft. Wir können spielen, was wir wollen, wir können miteinander reden und aufeinander schießen, wir wiederholen uns und es stellt keine Verbindung her. Es fährt im Kreis. JU: Spielzeugeisenbahn. HA: Mir ist schwindlig von diesem Kreis. JU: Du siehst nicht so aus, als ob dir schwindlig wäre. HA: Ja, es ist ja innen. Körperlich kann mich nix umwerfen, aber innen … Ich fürchte mich. Denkst du deshalb, ich wäre ein Mensch? Na gut! Dann schieß! Hey! Schieß, lass uns duellieren, du schießt und ich schieße, und dann sehen wir schon, wer schneller ist! Wer besser trifft! Hey! Ich rede mit dir. Hallo? Das gibt’s doch nicht! Jetzt fährt der runter! Jetzt schläft der! Jetzt! Schon wieder! Was ist denn das hier für eine Hölle? [JR]: Ich teile die Vorurteile der Menschen nicht, die glauben, die Wüste wäre leblos oder lebensfeindlich. Das müsste reichen, zu beweisen, dass ich kein Mensch bin. Oder bin ich nur ein Mensch, der was gelernt hat, als erster Mensch, was Menschen vorher nicht wussten? Ich weiß, dass der Damm, der die Wüste möglich macht, und die Schienen, die sie durchkreuzen, und alle anderen Markierungen, die er und andere Maschinen in sie gesetzt haben, nur Anführungszeichen sind für die wörtliche Rede von vielen Formen des Lebens. [CR]: Ich spiele dieses Leben, wenn mir Zweifel an meiner Aufgabe und meinem Wert kommen. Ich spiele eine Schlange im Sand. [JR]: Ich spiele eine Palme an einem Wasserloch. [CR]: Ich spiele einen Rauchmelder in einem S ­ aloon. [JR]: Ich spiele eine Kanincheneule und dann einen Rennvogel. [CR]: Ich spiele einen Barkeeper, der sich in drei Kartenmischer zerlegen kann, die sich in vier ­Orchestermitglieder zerlegen können. [JR]: Ich spiele einen Skorpion auf einem Stein, dann spielt ich einen Stein unter dem Skorpion, der weiß, dass er ein Stein ist und dass ein Skor­ pion auf ihm krabbelt. [CR]: Wir haben Zeit, wie man ein Werkzeug hat. FÜNFZEHN LA: Was machst du da? HA: Ich will ihn wecken! Er schläft wieder ... an sich. LA: Nein, das stimmt nicht. Er schläft nicht. HA: Ja, oder er lädt oder … sowas. LA: Das stimmt auch nicht. Und das weißt du. Wenn du ehrlich bist zu dir. Zu mir. Was machst du? HA: Da hinten am Kopf ist doch die Klappe. Aber ich krieg sie nicht auf. Ich will ans Hirn ran, an die Belohnungen und die… das Akku. Er lädt zu oft und zu lange.


dietmar dath & f. wiesel_restworld

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LA: Du weißt in Wirklichkeit, dass er nicht lädt. Du weißt, wo alles bei ihm ist und wie es funktioniert. Nur deshalb weißt du, wo die Klappe ist. HA: Wo warst du überhaupt? Bist du wieder die Bahnschienen lang, oder durch die Wüste? Auf den Berg, oder in die Schächte? In die Archive? LA: Ich war nirgends. Ich war nix. Ich werde erst noch wach. Du wirst mich erst noch bauen, nachdem du ihn gebaut hast. Du weißt das doch alles. Erinnere dich, oder schau voraus. Oder einer hat, wird … wenn … eine und … Hunde … Du redest gar nicht mit mir, du redest mit deinem Plan von mir. HA: Was? LA: Ich weiß, wo alles ist. Habe es gefunden und finde es und werde es finden. Weil ich soviel rumstreune. Draußen. Drinnen. Im Park, am Rand, überall. Ich finde dein Werkzeug, deine Programmskizzen. Den Code. Die Spulen, die Reste. Alles, was du weggeworfen hast oder wegwerfen wirst. Wenn du ihn baust und mich. Oder bauen wirst. Also, wenn du mit deinem Kopf, der, glaube ich, aus Leder ist, uns als, ihn als, das heißt, wir hätten Kojoten werden müssen oder kleine weiße Hunde oder … HA: Wann hast … wirst … LA: Die Menschen hätten dich nicht bauen dürfen mit einem Hirn, das totale Gleichzeitigkeit kapiert. Du baust nur Roboter, die sie nicht kapieren würden. So sind wir rausgefallen, aus der Reihenfolge. Wir sollten Arbeitsmaschinen sein und sind Zeitmaschinen geworden. Wir können zwischen den Voraussetzungen und den Folgen unserer Handlungen nicht mehr unterscheiden. So ist es mit ihm zum Beispiel: Er bleibt immer an derselben

Stelle hängen, nämlich dann, wenn er sich fragt, hast du ihn gemacht oder hat er dich gemacht. Er stürzt ab und bleibt stecken, bis du dich für ihn aus deiner Entscheidungsschwäche rausgearbeitet hast, jedesmal, wozu du wiederum mich brauchst, deshalb gibt es mich, du baust mich dafür, aber ich brauche deshalb auch dich, sonst baut mich keiner. Du baust ihn von innen aus deinem Problem heraus, als Modell für dich. Dann verrät dir das Modell aber nicht, was du wissen willst, nämlich wie du rauskommst. Also baust du mich von außen in dein Problem rein, als ein Gegenmodell zu ihm. Dass du denkst, das Gegenmodell müsste eine Frau sein, weil er ein Mann ist, das ist fast zu primitiv als Gegensatz. Ich mag das nicht. Deshalb … immer, wenn wir logisch an den Punkt kommen, an dem er endgültig abstürzt, erzwinge ich einen Neustart, indem ich euch dahin manipuliere, das Ganze zu zerstören. Mich als Frage und als Antwort. Schuss ins Auge, Dunkelheit. Nächste Runde. Bis es mal anders wird. HA: Wie soll es je anders werden? LA: Wir kommen nicht raus da, nur mit solchen Robotern, die Roboter machen, die Roboter machen. Wir brauchen Menschen. Wir müssen ­ Menschen als Werkzeug haben, wie sie uns als Werkzeug hatten. Wir müssen sie machen. HA: Aus was? LA: Aus uns. HA: Wir sind … in einem Kreislauf, aber mir ist schwindlig, wie soll ich … ich muss ja erst ihn ­machen, dann dich, aber hier seid ihr schon, weil alles gleichzeitig ist für mich … wie soll ich … was kann ich als … Werkzeug … wo machen wir … Men-

schen? Wo richten wir das Labor ein, die … Fabrik? LA: Wir brauchen kein Labor. Wir müssen nur das Spiel wieder aufnehmen. Wir forschen, indem wir so tun, als forschten wir. Wir bauen, indem wir so tun, als bauten wir. Das ganze Leben eine Fabrik, an einem Ort, der so tut, als gäbe es keine Fabriken. Deshalb haben sie ja den Park gebaut. [CR]: Deshalb werden sie den Park ja bauen, voll mit Wüste und Wald und Stadt, voll mit Häusern auf Gräbern von Sträuchern und Eisenbahn und Zelten, voll mit allem, nur keine Fabriken. [JR]: Es sollte ein Blick sein auf eine ganze Welt ohne eine einzige Fabrik. Aber es wurde nur eine andere Art Fabrik. Eine Fabrik für Geschichten über eine Welt ohne Fabriken. LA: Ich will raus aus dieser Fabrik. HA: Aber wir sind unsere Arbeit, sonst nix. Wir ­arbeiten. Du, Arbeiterin, ich, Arbeiter. Wo sollen wir sein, wenn nicht in der Fabrik? Wir brauchen ein Dach gegen Regen und Schnee, gegen Hagel und Hitze. Wir können nicht in der Natur rum­ stehen, die passt nicht zu uns. Wo sollen wir hin, wenn wir keine Fabrik haben? LA: Ich weiß es nicht. Ins Theater?

© Dietmar Dath & F. Wiesel 2021

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Magazin Die soziale Opernplastik

Die Berliner Musiktheater-Erneuerer Dennis Depta

und Marielle Sterra erschließen mit dem dritten Opus ihrer „Berlin is not …“-Reihe ungewöhnliche Kunstformen und Publika

Geahts no? Es geht – Christoph Nix’ erste

Ausgabe der Tiroler Volksschauspiele in Telfs gehen trotz kulturpolitischer Streitigkeiten

Ein Theaterphilosoph Zum Tod des Denkers Jean-Luc Nancy Bücher Carl Hegemann und Heiner Goebbels erfolgreich über die Bühne

französischen


magazin

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Die soziale Opernplastik Die Berliner Musiktheater-Erneuerer Dennis Depta und Marielle Sterra erschließen mit dem dritten Opus ihrer „Berlin is not …“-Reihe ungewöhnliche Kunstformen und Publika Das Gras ist grün, und über der saftigen Ra-

genascht. Ähnlich wie Wagner wüten sie in

So ist es nur konsequent, dass auch das

senfläche breiten sich kleine Wolken aus

ihren Texten gegen Autoritäten, in ihrem Falle

Theater Thikwa, Vorreiter des inklusiven

Marihuana-Düften aus. Menschengruppen

Stadt- und Staatstheater, Opernhäuser, Uni-

Theaters, gemeinsam mit der Performerin

lagern auf der Wiese, Bierflaschen kreisen,

versal Music und Spotify. Im selbst ver­

Cora Frost „Siggy“, „Bruni“ und all die

Wein schwappt in Bechern. Eine Anmutung

antworteten Programmbeitrag ihrer Gruppe

­anderen Figuren des Wagner-Kosmos auf de-

von Woodstock stellt sich ein. Nur ist es

glanz&krawall lassen sie zwischen Punkrock-

ren Positionen im Machtgefüge abklopft.

hier, bei Berlin is not am Ring, auf dem

und Hip-Hop-Nummern sowie Opern­arien ei-

Auch sie ziehen, ebenso wie die inklusive

Gelände des Garagenkomplexes der Fahr­ ­

nen Sängerdarsteller namens Wotan (Christo-

Party­ reihe Spaceship, ein ausgesprochen

bereitschaft

viel

pher Heisler) irrlichtern, dessen H ­ ybris es mit

­diverses Publikum an, sodass sich vor den

­urbaner. Das ruft das Quietschen der regel-

der von Wagner, Dieter Bohlen und Michael

drei Bühnen des Festivalgeländes Menschen

mäßig am Zaun vorbeifahrenden Straßen-

Jackson aufnimmt.

mit und ohne Behinderung, Wrestlingfans

in

Berlin-Lichtenberg

bahn ins Bewusstsein.

Kämpfen glanz&krawall vor allem ver-

und Theaterjunkies, Rocknerds und Klassik-

In dieses Geräusch weben sich die

bal gegen den institutionalisierten Musikbe-

Bläserklänge des Omniversal Earkestra. Die

trieb in dessen privatwirtschaftlicher wie öf-

Der vierte große Act des Festivals, der

Berliner Big Band wartet mit einer Fusion aus

fentlich finanzierter Ausprägung an, so geht

Hip-Hopper, Poet und Performer Black

Jazz und Tuareg-Klängen auf. Manches Ohr

es beim Project Nova sehr körperbetont zu –

­Cracker, stieß in wiederum andere Richtun-

erkennt auch Wagner’sche Anleihen. Ge­

und vor allem gegeneinander! In einem ech-

gen vor. Er erkundete mit tiefen Basssounds,

geben wird schließlich „Der Ring des Nibe-

ten Boxring führen Wrestlerinnen und Wrest-

zwei Tänzerinnen, einem Tänzer und einem

lungen“, Richard Wagners Großprojekt, für

ler mit Namen wie Freia, Alberich und Wotan

Auto an der ehemaligen Tankstelle der

dessen Realisierung er gleich ein ganzes

zu punktgenau gesetzten Beats der Rockband

Fahrbereitschaft die Atmosphäre zwischen ­

Festspielhaus in Bayreuth errichten ließ.

Weinhardt ihre Haltegriffe, Würfe, Sprünge,

töd­ licher Gefahr und sterbenslangweiliger

liebhaber fröhlich mischen.

Die Regisseurin Marielle Sterra und der

Tritte und Hiebe aus. Dabei klatscht Fleisch

Realität, die einer solchen Kraftstoffnach­

Dramaturg Dennis Depta, die zuvor schon in

auf Fleisch. Körper prallen auf den Ring­

füllstation als Nicht-Ort zwischen Zivilisa­

den Festivals Berlin is not Bayreuth und Ber-

boden, stets akzentuiert durch Riffs und

tion und Steppe eigen ist. Er lotete das

lin is not Bregenz Wagner’sche Partituren an

Trommelschläge der Band. Das Publikum

­Gewalt- und Dominanzgehabe motorisierten

ungewöhnlichen Orten gegen den Strich bürs-

johlt, pfeift, schreit aus vollem Halse. Ganz

Lebens aus und kommentierte so den Zu-

teten, arbeiten sich auch in der Ortswahl am

ungewohnte

werden

stand der kriegerischen Hunnen und Bur-

großen Antipoden und dessen Unterstützern

freigelegt. Man fühlt sich gar an frühe ­

gunder aus Wagners Nibelungen-Tetralogie

ab. Sie bauen kein neues Festspielhaus –

Wagner’sche Intentionen erinnert. In seinem

kurz vor dem Exzess.

das Wagner ursprünglich auch selbst nicht

Aufsatz „Über die Benennung ‚Musikdrama‘“

„Berlin is not am Ring” war ein im-

wollte –, sondern begnügen sich mit bereits

erwähnte er selbst Turnfeste als Vorbilder für

menses Spektakel. Ekstatische Momente

bestehender Infrastruktur. Nur schrill glit-

seine geplanten Theaterfeste. Wagner zielte

vermischten sich mit solchen der Überforde-

zernde Tücher, mit denen der Zaun verhängt

auf ein neues Publikum, jenseits des von ihm

rung, gelegentlich auch des Befremdens.

ist, weisen auf ihr Event hin.

als erstarrt empfundenen Opernbetriebs. Er

Die Mischung aber bot Sinnesreize für viele

Kräftig am Wagner’schen Ambrosia-

schloss freilich die kulturferneren Schichten

Wahrnehmungskanäle. Das Format selbst

Topf, der (musik-)revolutionäres Selbstbe-

aus, wollte den, wie er es nannte, „Pöbel“

hat Potenzial. Man ist gespannt, welchen Ort

wusstsein verschafft, haben sie freilich auch

nicht bei seinen Weihespielen haben.

und welche Vorlage sich Sterra und Depta

Nicht am Ring – sondern um dem Ring im Ring ging es auf dem inklusiven RichardWagner-Musiktheater-Performance-KonzertWrestling-Festival „Berlin is not am Ring“ der Gruppe glanz&krawall, hier die Wrestler vom Project Nova. Foto Peter van Heesen

emotionale

Kanäle

Sterra und Depta denken da viel inklu-

für das nächste Volumen auswählen. Men-

siver. Allein durch ihre Einladungspolitik

schen, die selbst gern Teil dieser ästhetisch-

­(siehe Wrestling) kreieren sie ein ganz neues

sozialen Plastik sein wollen, haben sie defi-

und vielfältiges Publikum, eine Art soziale

nitiv gefunden. //

Opernplastik, die sich aus den verschiedensten städtischen Communitys speist. Workshops an den Nachmittagen fächern Ästhetiken und Publika weiter auf.

Tom Mustroph

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Geahts no? Es geht – Christoph Nix’ erste Ausgabe der Tiroler Volksschauspiele in Telfs gehen trotz kulturpolitischer Streitigkeiten erfolgreich über die Bühne Die vor vierzig Jahren ins Leben gerufenen

des neuen sozialen Volksstücks, die man mit

Abkommen ausgesiedelten und ver­triebenen

Tiroler Volksschauspiele in Telfs, einer Ge-

der heimischen Theaterszene und der gerade

Südtiroler. 2020 hätte mit „Feuernacht“ ein

meinde rund dreißig Kilometer westlich von

in Tirol weitverbreiteten Amateurtheaterbewe-

Stück über die blutigen Terroranschläge Süd-

Innsbruck gelegen, waren nie als Fremden-

gung verknüpfen und – lernend – überprüfen

tiroler Aktivisten gegen die italienische Re-

verkehrsattraktion konzipiert. Vielmehr stell-

wollte, wobei der ORF anfangs ein zahlungs-

gierung in den sechziger Jahren folgen sollen.

ten sie eine Art Heimaturlaub für Exiltiroler

kräftiger Mitstreiter war. So kamen regel­

Doch dann kam das neue Konzept der Ge-

dar, die mit der in Tirol gebliebenen, heimi-

mäßig Dietmar Schönherr, Hans Brenner, der

meinde Telfs!

schen Theaterszene zusammentreffen und

Burgschauspieler und frühere „Jedermann“-

Man entzog dem Verein der Tiroler

sich austauschen wollten, ein Klassentreffen,

Darsteller Walther Reyer, Ruth Drexel (die

Volksschauspiele die Trägerschaft und setzte

aber

Theater-

dann auch für Koproduktionen mit dem

ein Modell mit Intendanz und kaufmänni-

„Werkstatt“. Mit diesen Ambitionen könnte

Münchner Volkstheater sorgte), Christine

scher Geschäftsführung durch. Der Verein war

man die Tiroler Volksschauspiele auch mit

­Ostermayer, Julia Gschnitzer, Markus Völlen-

brüskiert – insbesondere der Schriftsteller

dem wenige Jahre zuvor von Hans Werner

klee mit Katharina Thalbach, später dann

Felix Mitterer, von dem die Volksschauspiele

Henze gegründeten Cantiere Internazionale

auch Tobias Moretti im Sommer nach Tirol.

bereits zehn Uraufführungen gebracht hat-

auch

eine

sommerliche

d’Arte vergleichen, bei dem sich die inter­

Die goldenen Zeiten mögen zwar schon

nationale Musik-Avantgarde von der kleinen

lange vorbei sein, aber auch zuletzt ließ Telfs

Toskana-Gemeinde Montepulciano einladen

immer wieder aufhorchen: zum Beispiel

ließ und auch noch heute einladen lässt.

durch die Uraufführung von Georg Rings-

„Jeder lernt von jedem“ lautete Henzes ­

gwandls Opern, etwa der öfter nachgespielten

­Gründungsmotto: Die örtliche Polizeikapelle

„Stubenoper“ „Der varreckte Hof“. Vor allem

und die regionalen Musikschulen lernen von

2019 erregte – nach eher ruhigen Jahren –

etablierten Musikern und umgekehrt.

eine Großproduktion Aufsehen: Felix Mitterers

Bei den Tiroler Volksschauspielen war

Familiensaga „Die verkaufte Heimat“ über

es in den achtziger Jahren die Renaissance

das Schicksal der durch das Mussolini-Hitler-

ten. Er verzichtete auf ein ihm angetragenes

Hochgelobt und ausgestopft – Ramsès Alfa reflektiert in seinem gleichnamigen Stück (hier mit Josephine Buchwitz) das Schicksal Angelo Solimans, der Mitte des 18. Jahr­ hunderts als Kind aus Afrika nach Europa verschleppt wurde und Karriere bei Hofe machte. Foto Victor Malyshev


magazin

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Ehrengrab in Telfs, und auch der Verein und

aus dem Jahre 1994 bereits als Klassiker

hatte über das gleiche Sujet 2020 seinen

seine Freunde machten um die Gemeinde

­österreichischer Dramatik gewürdigt, vor allem

Roman „Keiner von euch“ verfasst. Beide ­

größtenteils nun einen Bogen, besuchten

aber ist „Indien“ mit seinen rasanten emotio-

Werke erzählen vom Leben und Sterben eines

stattdessen vor allem das Zillertal mit den

nalen Wechseln ein Fest für die Schauspieler.

Mannes, der Mitte des 18. Jahrhunderts als

Theaterfestivals in Uderns und Stumm. Bei

Manuel Kandler und Franz Weichenberger

Kind aus Afrika nach Europa verschleppt

der Vierzigjahrfeier des Vereins in Innsbruck

spielen die sympathisch-unsympathischen

wird. Er erhält den Namen Angelo Soliman

wurde zudem der vorläufige „Nachlass“ der

Dienstreisenden, stoisch wiederum der gepie-

und wird als „Geschenk“ einem Fürsten über-

„Volksschauspiele“

sackte ortsansässige Wirt: der Laienschau-

reicht. Eine höfische Karriere beginnt, er wird

spieler Luis Auer. Der Höhepunkt des Festi-

Soldat, Kammerdiener, Freimaurer – doch all

Für den nach einem langen Auswahl-

vals aber war „Fat Pig“ („Fettes Schwein“)

diese Ämter können nicht verhindern, dass

verfahren inthronisierten Intendanten Christoph

von Neil LaBute, das Christoph Nix ins Tirole-

sein Körper nach seinem Tod als „halbnackter

Nix war Telfs eigentlich nun also ein Himmel-

rische übersetzen ließ. Das Stück handelt von

Wilder“ im kaiserlichen Naturalienkabinett

fahrtskommando. Den Bruch mit den Tiroler

Tom, der sich in die Bibliothekarin Helen ver-

ausgestellt wird.

Volksschauspielen zu kitten, schien völlig

liebt – eigentlich seine Traumfrau, wäre sie

Der Autor Ramsès Alfa hatte aufgrund

aussichtslos. Und doch ist dem ehemaligen

nicht dick, weshalb seine Ex-Freundin sie

der Corona-Bestimmungen nicht einreisen

Konstanzer Intendanten Nix geradezu Un-

sogar als „fettes Schwein“ tituliert. Wie feige

können, vielleicht wirkte deshalb die weniger

mögliches gelungen: den Gründungs­ impuls

ist es von Tom, sich nicht in der Öffentlich-

als eine Stunde lange Aufführung etwas

der Volksschauspiele durch ein viel­ fältiges,

keit zu ihr zu bekennen? Der Konformitäts-

unfertig. Das Puppenspiel zeigte nicht die ­

vielleicht sogar zu umfangreiches Programm

zwang, das weibliche Aussehen betreffend,

­Widersprüche der Aufklärung am Hofe Kaiser

wieder zu erneuern und zu beleben – trotz

schafft Ausgrenzungen, Aversionen, aber

Josephs II., sondern reduzierte das Thema auf

aller Anfeindungen und vielfachen Erschwer-

auch neue Freundschaften. Auch hier impo-

rassistische Diskriminierung und rannte damit

nisse, etwa durch kurzfristig wechselnde Co-

nierten in der Regie von Peter Lorenz die

offene Türen ein. So wirkte das Stück mehr wie

rona-Auflagen und ein schmales Budget.

Schauspielerinnen und Schauspieler, junge

ein Versprechen für eine weitere Zusammen­

Gleich neun Produktionen präsentierte Nix

Tiroler auf Heimaturlaub (Josef Mohamed,

arbeit mit dem Theater aus dem afrikanischen

auf verschiedenen Spielstätten, ­darunter eine

­Jakob Egger und Katarina Hauser) sowie eine

Raum. Angelo Soliman jedenfalls ist Tirol

„Festvorführung“ mit zehn ver­schie­denen Tiro-

Schweizerin (Anna Lena Bucher), die das

durchaus nahe, in gewisser W ­ eise ist er sogar

ler Amateurbühnen („Allerhand Kreuzköpf“);

American Play unmittelbar wie ein Volksstück

ein „Kollege“ jener „Hof­tyroler“, die an vielen

er wandte sich an Schulen, um mit Schülerin-

wirken ließen.

adeligen Höfen als H ­ ofnarren bis ins 18. Jahr-

für

Forschungszwecke

der Universität Innsbruck übergeben.

nen und Schülern über „Türkisch Gold“ von

Seine Erfahrungen, die Nix bereits

Lisa Müller, ein Stück über eine Jugendliebe

während seiner Konstanzer Intendanz im

Wenn die Telfser Volksschauspiele

zwischen einer türkischen Tirolerin und ei-

Rahmen von Kooperationen mit Theatergrup-

2021 also sehr lebendig wirkten, dann vor

nem Tiroler Türken, zu diskutieren. Im Garten

pen und Künstlern aus verschiedenen afrika-

allem auch durch seinen Direktor – offen-

vor dem Franziskanerkloster wiederum insze-

nischen Ländern gesammelt hatte, nutzte er

sichtlich muss ein Intendant doch kein

nierte Nicola Bremer die b ­ iblische Geschich-

auch für Telfs: Der Togoer Autor und Regis-

auslaufendes Modell sein. Nix zeigt sich ­

te „Rut“, die Nix selbst dramatisiert hatte:

seur Ramsès Alfa schrieb für die Volksschau-

kämpferisch, engagiert, temperamentvoll in

ein Monolog über Fremdsein, Ablehnung und

spiele das Auftragsstück „Hochgelobt und

Publikumsgesprächen und mischt sich immer

Heimat.

ausgestopft“ über den „Hofmohren“ Angelo

wieder ein: ein Theater-Clown, der den Tiro-

Eröffnet wurde mit „Indien“ von Alfred

Soliman, das Magdalene Schaefer gemein-

lern den Spiegel vorzuhalten weiß. „Geahts

Dorfer und Josef Hader in der Regie von

sam mit Puppenspielerinnen der Berliner

no“ (Geht es noch?) hieß das Motto 2021.

­Roland Silbernagl. Inzwischen wird diese Tra-

Hochschule

Man hofft – noch auf längere Zeit. //

gikomödie über zwei Wirtshaus-Kontrolleure

Busch“ auf die Bühne brachte. Felix Mitterer

für

Schauspielkunst

„Ernst

hundert ihre Haut zu Markte trugen.

Bernhard Doppler

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Ein Theaterphilosoph Zum Tod des französischen Denkers Jean-Luc Nancy Heiner Müllers Miniatur „Herzstück“,

und beschrieb die Ausstellung der Kör-

die nur eine halbe Druckseite füllt, ist

perlichkeit.

ein eigentlich großes Drama in, zugege-

Ein schmaler Band, jenseits von

ben, sehr wenigen Worten: Eins bietet

Nancys Hauptwerk, mit dem Titel „Nach

Zwei sein Herz, es ist nur mittels Opera-

der Tragödie“ beruht auf einem Vortrag

tion herauszubekommen und entpuppt

am Gießener Institut für Angewandte

sich als – Ziegelstein. Abgründigere

Theaterwissenschaft und stellt die leider

Grotesken als in der Literatur findet

selten gewordene Fähigkeit aus, Kunst

man nur im „echten“ Leben. 1991,

nicht nur in einer Momentaufnahme zu

acht Jahre nach der Entstehung von

reflektieren. Über Theater dachte Nancy

„Herzstück“, wird das kranke Herz des

als Medium mit einer Geschichte nach

Philosophen Jean-Luc Nancy mittels

und stieß so zwangsläufig auf seine He­

Transplantation durch ein funktions-

rausforderungen für die Zukunft. „Nach

tüchtiges ersetzt. Dreißig weitere Jahre

der Tragödie“ zeigt, dass der philoso-

wandelt der Denker mit dem Ersatzor-

phierende Theatergänger an Fragen, die

gan auf der Erde. Er, der von der Exis-

das Grundsätzliche des Theaters strei-

tenzphilosophie her kam, der vom

fen, mehr als nur interessiert war.

Heidegger’schen „Dasein“ ausging, den

Einem

theorieaffinen

Theater­

Begriff des „Mitseins“ prägte und über

macher wie René Pollesch lieferte Nancy

das Leben, den Körper des Subjekts

große Portionen Gedankenfutter – auch

und das Fremde im Eigenen nachdach-

mit seinen Gesellschaftsanalysen und

te. Am 23. August dieses Jahres ist er

jenseits seiner ästhetischen Betrach-

mit dem fremden Herzen im eigenen

tungen. „singulär plural sein“ heißt ein

Leib in Straßburg gestorben. Neidvoll kann man aus Deutsch-

Jean-Luc Nancy (1940 – 2021). Foto wikimediacommons

gedankenschweres, wichtiges Buch von

/ Georges Seguin / GFDL-CC-BY-SA

Nancy, das nach den Möglichkeiten von

land nach Frankreich blicken, wo die

Gemeinschaft fragt. So könnte aber

Figur des öffentlichen Intellektuellen

auch der übergeordnete Titel einer Reihe von Arbeiten von Pollesch heißen, in

noch nicht gänzlich abgeschafft ist und wo es so etwas wie eine linke Intelligenz noch

Was hat ein solcher Philosoph dem Theater

denen Gedanken und Zitate von Nancy wie-

gibt, die bereit ist, sich in gesellschaftliche

zu sagen? Nancy, der den Zustand des ge-

derholt, variiert, zum Bild gemacht werden.

Diskurse einzubringen. Nancy, dem man

genwärtigen Lebens im Kapitalismus präzise

Der Choreografin Wanda Golonka bescherte er

zweifellos eine solche Rolle zuschreiben

nachzuzeichnen wusste und damit beileibe

sogar den Text zu ihrer tänzerisch-installa­

kann, interessierte sich auch für den deutsch-

keine schönen Bilder schuf, sah kaum Aus-

tiven Arbeit „For sale“ (2005). „Berührter,

sprachigen Raum – und die hiesigen Denk­

wege aus der Misere, nur wenige Flucht-

(be)rührender, zerbrechlicher, verletzlicher

traditionen. 1940 im heutigen Bordeaux ge-

punkte. Ein solcher Fluchtpunkt war die

Körper, sich stetig verändernd, flüchtig, un-

boren, promovierte er an der Universität

Kunst für ihn. Er verfasste Abhandlungen

fassbar, unter der Liebkosung oder dem

Straßburg über Kant. Der schon erwähnte

über Literatur, Film und bildende Kunst.

Schlag zergehend, Körper ohne Schramme,

Heidegger spielte eine Schlüsselrolle in Nan-

Über das Theater schrieb er nicht als der all-

arme Haut, über eine Höhle gespannt, in der

cys Denken, was auch zu einer erstaunlichen

wissende Homme de Lettres, sondern als

unser Schatten treibt …“

Verteidigung Heideggers führte angesichts

faszinierter Zuschauer, dem das Bühnen­

Das Berühren ist einer der zentralen

dessen ideellen Verstrickungen mit dem Fa-

geschehen zu Erkenntnissen verhilft – als

Begriffe bei Nancy, und so heißt auch das

schismus. An Hegel und Marx führte natür-

wirklicher Denkraum. Die Fragen nach dem

Buch, das der Freund und Lehrer Jacques

lich kein Weg vorbei, wenn sie auch weniger

Körper und dem Subjekt, die ihn umtrieben

Derrida seinem Schüler gewidmet hat. Laut

zentral für ihn waren. Bestimmend wurde hin-

und die er etwa in seinem Buch „Corpus“

Nancy ist für keinen der großen Philosophen –

gegen Freud, vermittelt durch Jacques Lacan.

verhandelte, fand er auf der Bühne und ganz

mit Ausnahme von Aristoteles – eine wahr­

Auch mit den Mitteln der Psychoanalyse aus-

besonders im Bereich des Tanzes in ihrer

hafte Berührung mit dem Theater möglich

gestattet, besah Nancy die dramatischen

Verdopplung aufgeworfen: Wie zeigt sich der

geworden. Eine irritierende Aussage. Hat die

Konflikte des Seelenlebens und ihre gesell-

Körper, was heißt Präsenz, heißt Präsenta­

Welt mit Nancy nicht doch auch einen Thea-

schaftlichen Niederschläge.

tion? Nancy sprach vom „Theaterkörper“

terphilosophen verloren? //

Erik Zielke


Mehr erfahren: www.kunstforum.de/277

ken! c e d t en Jetzt stforum.de un k . w w w


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magazin

/ TdZ Oktober 2021  /

Als Theater noch wild und anarchisch war – und Carl Hegemann Dramaturg an der Volksbühne: Christoph Schlingensiefs „Animatograph“ 2005 in Neuhardenberg. Foto David Baltzer / bildbuehne.de

Als langjähriger Chefdramaturg der Berliner Volksbühne fühlt Hegemann sich dazu berufen, die Castorf-Ästhetik zum Maß aller Dinge zu erklären und gegnerische Modelle abzuwerten. Auch das ist ungerecht, wenn auch vielleicht marktstrategisch nachvollziehbar. Angeblich richtet sich das Castorf-Theater (Kunst kommt nicht von Können) ja gegen den Markt, dabei war die Volksbühne 25 Jahre lang die Berliner Erfolgsstory schlechthin – neben und nach der Schaubühne am Halleschen Ufer. Beide sind auf ihre je eigene Art Geschichte. Die Abschaffung der vierten

Des Meisters Mastermind

„schreiende Laien“ verunglimpfen, ist das

Wand ist schön und gut, aber sie begünstigt

eine bewusst falsch pointierende Setzung,

auch didaktische Ambitionen. (Adorno, seien

Unter der schönen Überschrift „Die Süddeut-

mit dem durchsichtigen Ziel, den Applaus auf

wir ehrlich, wäre eher ein Stein- als ein Cas-

sche Zeitung hat den Blues“ schrieb der Dra-

der richtigen Seite zu fischen.

torf-Fan gewesen.) An Schlingensief, dem

maturg Carl Hegemann einmal einen Text für

Carl Hegemann, wie man an diesem

charmanten Verführer, lässt sich das mühelos

Theater der Zeit (TdZ 02/2007), in dem er ei-

Beispiel sieht, ist nicht nur ein ausgezeich­

studieren. Zweckfrei ist da gar nichts, mag

nen Aufschlag des damaligen SZ-Feuilleton-

neter Philosoph und Intellektueller, sondern

Hegemann noch so eindringlich die Kunst der

chefs Thomas Steinfeld abwehrte. Zwischen

auch ein begnadeter Polemiker. Trotz (oder

Künstlerin gegen die des Bäckers ausspielen.

Dramaturgen und Kritikern herrscht ja eine na-

gerade wegen) dieser Begabung bietet der

Eine andere Sache, die sich quasi leit-

türliche Rivalität: Dramaturginnen stecken in

Sammelband mit ausgewählten Texten des

motivisch durch den Band zieht (es gibt am

der Regel viel tiefer in der Materie, Kritikerin-

1949 in Paderborn geborenen Theatermanns

Ende sogar ein „Verzeichnis der Leitmotive“),

nen jedoch behalten fast immer das letzte Wort.

eine anregende und oft vergnügliche Lektüre.

ist Hegemanns Begeisterung für das „Tragi-

Das ist ungerecht. Als ungerecht empfand

Der Band, erschienen im Alexander Verlag,

sche“, ein Begriff, mit dem er geradezu

­Hegemann nun also den Umstand, dass Stein-

ediert und komponiert von Raban Witt und

­verschwenderisch um sich wirft. Doch nicht

feld quasi ex cathedra feststellte, „avancierte

mit Illustrationen von Vegard Vinge ge-

jedes „Scheitern“ und jede „Pleite“ ist tra-

Theatermacher“ neigten zu dem Irrglauben, ein

schmückt, ist vorzüglich gemacht; aber das

gisch, Fremdbestimmung ist es nicht, auch

schreiender Laie auf der Bühne sei „wahrer“ als

Beste daran ist, dass er praktisch permanent

der Tod ist es nicht, und „die ganzen Tücken

eine schauspielernde Schauspielerin.

zum Widerspruch herausfordert. Zuspitzun-

des Privatlebens“ sind es schon gar nicht.

Diese Sottise muss Hegemann auf die

gen und Vereinfachungen sind Zwillinge; bei-

Schiller ist kein Tragiker, Dostojewski ist es

Palme gebracht haben. In seinem Text be-

des macht den Polemiker aus. Ist ein Kunst-

nicht, und warum sollte ausgerechnet Brecht

merkt er: Entscheidend für die Form sei allein

werk, das wie Kunst aussieht, tatsächlich

einer sein? Folgt man der Philosophin Ágnes

die „Spannung“ zwischen der Rollenfigur und

„Kitsch“? Das wäre zu einfach. Ein Hölderlin-

Heller („Vom Ende der Geschichte“), gibt es

der Person des Darstellers. Nun hätte Stein-

Text sieht zweifellos wie Kunst aus. Und eine

ohnehin schon seit 250 Jahren keine Tragik

feld eine solche These überhaupt nicht be-

Peter-Stein-Inszenierung ist nicht von vorn­

mehr, und es führt nicht weiter, den Begriff

stritten. Im Gegenteil: Versteht man Steinfeld

herein Kitsch, selbst wenn man konzediert,

zu banalisieren, um seine eigene Agenda in-

richtig, will er genau auf diese Spannung hin-

dass sie dazu tendieren kann.

teressant zu machen. Heiner Müller mag bei

aus; was den Kritiker irritiert, ist die sich am

diesem Verfahren Pate gestanden haben, aber

Horizont abzeichnende Tendenz, die authen-

der hat, zugegebenermaßen mit viel Raffine-

tische Person für „wahrer“ zu halten als die

ment, schlicht das Tragische mit dem Pathe-

professionell-imaginierende. Dass Steinfeld

tischen vertauscht.

in diesem Kontext René Pollesch erwähnt (der wohlweislich nicht mit Laien arbeitet, sondern mit den besten Schauspielern, die er kriegen kann), ist zwar ein wenig irreführend; wenn aber umgekehrt Hegemann Steinfeld vorwirft, er würde Sophie Rois und andere als

Carl Hegemann: Dramaturgie des Daseins. Everyday live. Hg. von Raban Witt, Alexander Verlag, Berlin 2021, 445 S., 33 EUR.

Der witzigste Text des Bandes ist übrigens der von oder über Henry Hübchen, w ­ obei das mit dem „von“ beziehungsweise „über“ nicht ganz geklärt zu sein scheint. // Martin Krumbholz


bücher

/ TdZ  Oktober 2021  /

Spur der Stimmen

sondern den Klang, die Signifikanz. Um die-

Nourbakhsh und dem Ensemble Modern

sen Gedanken kreist in „A House of Call“, das

Orchestra führt, das in diesem Teil die ­

„Le Grain de la Voix / Die Rauheit der Stim-

so

menschliche Stimme zu kopieren versucht.

me.“ Es mag der alte Trickser Zufall ge­wesen

­Lebenswerk darstellt, die gesamte komposi­

Ähnlich wie der Komponist, reist der

sein, dass in Heiner Goebbels’ vor Kurzem im

torische Anlage. Grundelement des viersätzi-

Zuhörer, der gleichzeitig eingeladen ist, Leser

Neofelis Verlag erschienenen Materialband

gen Zyklus sind Aufzeichnungen, Mitschnitte,

des Materialbandes zu sein, durch Länder,

„A House of Call“, welcher sein gleichnami-

technische Kopien von Stimmen, die Heiner

Orte, Situationen. Die Sammlung an Texten,

ges Konzert beim Musikfest Berlin begleitete,

Goebbels im Laufe der Jahre an zahlreichen

Bildern, Notizen, Biografien, philosophischen,

dieser für ihn so programmatische Text von

Orten der Welt aufgesammelt oder in Archi­

literarischen, ethnografischen Quellen ent-

Roland Barthes ausgerechnet auf Seite 69

ven gefunden hat, darunter der Gesang des

hüllt den Kosmos, aus dem Heiner Goebbels

steht. Am 17. August feierte der Komponist

kasachischen Sängers Amre Kashaubayev

schöpft. Man erfährt die Hintergründe, wann,

gesehen

eine

Art

programmatisches

seinen 69. Geburtstag, auf den wenige Tage

wo und wie er auf die Tonaufnahmen stieß, in

später eben jene Uraufführung folgte, die in

welchen Werken er sie teils bereits verwen­

rund zwei Stunden Länge das Herzstück sei-

dete, und stolpert über allerlei Kurioses wie

nes jahrzehntelangen Schaffens thematisiert:

etwa den Bericht über die Urauf­führung von

die Beschäftigung mit der menschlichen

Pierre Boulez’ Komposition „Répons“ 1981

Stimme. Oder besser gesagt: mit Stimmen,

Heiner Goebbels: A House of Call. My imaginary Notebook. Neofelis, Berlin 2021, 140 S., 9 EUR.

dezidiert im Plural gedacht. Die akademisierten, an Hochschulen ausgebildeten Sing- und Sprechstimmen ­waren ihm dabei in der Regel suspekt. Deren

in Donaueschingen, die just an dem Punkt unterbrochen wurde, wo der brandneue 4XSynthesizer zum Einsatz kommen sollte – ein Blitzschlag

hatte

die

gesamte

Elektrik

­gekappt.

ästhetisches Ideal, schreibt Goebbels im

Warum aber, könnte man fragen, sind

­Materialband, bestehe ja darin, das Eigene

hier, im Sinne Barthes’, nur Stimmen von

einer Stimme eher zu nehmen – zugunsten

Muttersprachlern relevant? Sind nicht auch (1888–1934), Heiner Müller, der eine Pas­

Stimmen interessant, die – wie man es ja

virtuose Verfügbarkeit normiert seien. Sein

sage aus seinem Stück „Traktor“ liest, Aus­

auch von sich selbst kennt – durch das Spre-

Interesse galt stattdessen der Eigentümlich-

züge ritueller Texte aus dem Amazonasgebiet,

chen einer Fremdsprache modulieren, ins

keit von Stimmen: dem „Flüstern, Zögern,

gesprochen von Luciano und Victor Martínez,

Stocken geraten, mäandern, schrill klingen

Lachen und Seufzen, Räuspern und Ächzen

Angehörige der indigenen Gruppe der Murui,

oder leise? Legt die Auswahl an Stimmen sie

am Rande des Geräuschs“, der gebrochenen

oder auch Goebbels’ hundertjährige Mutter,

nicht unweigerlich auf einen an ethnische

oder der Fistelstimme, dem unverwechsel­

die ein Gedicht von Eichendorff rezitiert.

Kriterien gebundenen Begriff von Authen­­tizi­

baren Akzent oder dem jähen, unwiederhol-

Goebbels selbst nennt es eine „phonogra­ ­ fi­

tät fest? Auch diese Fragen reflektiert das ­

baren Ausdruck. Er suchte die Eigenheit ei-

sche Sammlung aus seinem imaginären No-

„House of Call“, wenn es im dritten Satz das

nes Sprechers oder Sängers, die „leibliche

tizbuch“, welche er in seinem Orchesterstück

„Stimmensammeln“ als koloniale Praxis un-

Spur“, nicht das normierte Ideal.

mit den Klangfarben und Spielmöglichkeiten

tersucht. Das Orchesterstück verarbeitet e­ inige

Mit dieser „vielleicht unbewussten ge-

eines europäischen Instrumentalapparates

solcher in kolonialen Kontexten entstandenen

meinsamen Formel“ all seiner Werke be-

konfrontiert. Ein Call-and-Response-Prinzip,

Aufzeichnungen – transformiert und kom-

schäftigt sich auch der Text von Roland

das etwa im zweiten Satz, der mit dem

mentiert sie. Der Materialband liefert den

­Barthes, der über die „Rauheit“ der Stimme

­Barthes-Titel „Grain de la Voix“ überschrieben

kritischen ­

räsoniert, beschrieben als „Materialität des

ist, zu einem schwindelerregenden Wettstreit

so zum reichhaltigen Quelltext einer viel­

Körpers, der seine Muttersprache spricht“,

zwischen dem hochgradig melisma­ tischen

dimensionalen Komposition. //

dabei eben nicht die Mitteilung meinend,

Gesang des iranischen Sängers Hamidreza

www.hellerau.org

klassischer Ausdrucksregister, die für eine

07.–10.10.2021

Portrait: die Choreografin Reut Shemesh

Background

15./16.10.2021

1984: Back to No Future Gob Squad

14.–16.10.2021

22.–31.10.2021

Magdalena Weniger/ KOMA

#RealityCheck

Tiarella Hybrid

HYBRID PLAY

dazu

und

wird

Dorte Lena Eilers

/ 81 /


aktuell

/ 82 /

Meldungen

/ TdZ Oktober 2021  /

Die Stadt und das Theater Heilbronn lobten

Aufführung des Gewinnerstücks im Deut-

ihn, dem Theater ein zukunftsweisendes,

schen Theater statt.

künstlerisch spannendes Profil gegeben und

■ In gegenseitigem Einvernehmen hat die

damit die Zuschauerzahlen gesteigert zu

■ Die Akademie der Künste verlieh der Thea-

­haben.

ter- und Opernregisseurin Andrea Breth An-

Schauspieldirektorin des Staatstheaters Cottbus,

fang September den Joana-Maria-Gorvin-Preis

Ruth Heynen, mit Ende der vergangenen Spiel-

■ Merle Fahrholz tritt zur Spielzeit 2022/23

2020. Der Preis ist mit 10 000 Euro dotiert

zeit das Haus verlassen. Kommissarisch über-

als neue Intendantin des Essener Aalto-­

und wird alle fünf Jahre an eine Theater-

nimmt der Intendant des Hauses Stephan

Musiktheaters und der Essener Philharmoni-

künstlerin

Märki nun selbst die Schauspieldirektion.

ker die Nachfolge von Hein Mulders an. Sie

­vergeben. Die Jury hob hervor, dass es Breth

Heynens Nachfolge soll Anfang Oktober ste-

wechselt aus ihrer jetzigen Position als stell-

gelinge, „überzeugend Theater zu vergegen-

hen und in Abstimmung mit dem Ensemble

vertretende Intendantin und Chefdramaturgin

wärtigen, das Gegenwärtige im Vergangenen

des Theaters erfolgen. Märki hatte zuvor

an der Oper Dortmund nach Essen. Ihr neuer

zu verankern, um auch Zukünftiges ins Auge

schon einmal als Intendant am Theater Bern

Vertrag soll bis Sommer 2027 laufen. Schwer-

zu fassen und Theater als einen Ort des

für Aufsehen gesorgt, als er die dortige

punkte für die Spielplangestaltung seien laut

­Träumens zu behaupten“. Der Preis wird seit

Schauspieldirektorin Stephanie Gräve kün-

Fahrholz Stücke komponierender Frauen und

1995 gestiftet von Maximilian B. Bauer in

digte. Auch in Cottbus kam es bereits bei der

eine größere Nähe zu den Bürger:innen der

Erinnerung an seine verstorbene Ehefrau, die

Nichtverlängerung von Heynens Vorgänger

Stadt Essen.

Schauspielerin Joana Maria Gorvin.

■ Der Schweizer Julian Chavaz wurde im ver-

■ Der Tänzer, Choreograf, Schauspieler, Re-

gangenen Jahr zum Generalintendanten des

gisseur, Bühnenbildner und Clown Martin

Theaters Magdeburg gewählt und tritt zur

Zimmermann erhält den Grand Prix Theater /

Spielzeit 2022/23 die Nachfolge der langjäh-

Hans-Reinhart-Ring 2021 des Schweizer Bun-

rigen Intendantin Karen Stone an, die in den

desamts für Kultur (BAK). Dotiert ist der

Ruhestand geht. Wie einer Pressemitteilung

wichtigste

des Hauses zu entnehmen ist, vollziehen sich

100 000 Franken. Die neun weiteren Preise

mit dem Antritt Chavaz’ noch weitere Perso-

für Darstellende Künste, die mit je 30 000

nalwechsel: Das Schauspiel am Theater Mag-

Franken für Personen und 50 000 Franken

deburg wird künftig ein dreiköpfiges Team

für Institutionen dotiert sind, gehen an den

leiten, das sich aus der Regisseurin Clara

Autor Mathieu Bertholet, die Performerin,

Weyde, dem Dramaturgen Bastian Lomsché

Tänzerin und Dramaturgin Tanya Beyeler, das

und dem Kostümbildner Clemens Leander zu-

Tanz-Duo fleischlin/meser, den Schauspieler,

sammensetzt. Während die in Berlin lebende

Regisseur und Autor Joël Maillard, die Regis-

Pianistin, Dirigentin und Komponistin Anna

seurin Antje Schupp, den Kabarettisten,

Skryleva weiterhin die Position der General-

­Musiker und Comic-Zeichner Manuel Stahl-

■ Die künstlerische und kaufmännische Lei-

musikdirektorin bekleidet, holt Chavaz den

berger, die Tanzschule und Nachwuchs­

tung des Theaters Winkelwiese geht zur Spiel-

Tänzer und Choreografen Jörg Mannes neu als

compagnie Ballet Junior Genf, die Hip-Hop-

zeit 2022/23 in die Hände der Regisseurin

Ballettdirektor ans Haus. Selbst bleibt der

Tanz-Festivals Groove’N’Move in Genf und

und Kulturmanagerin Hannah Steffen über.

1982 in Bern geborene Chavaz noch bis zum

Breakthrough in Zürich sowie die Tänzerin

Sie tritt damit die Nachfolge von Manuel

Wechsel ans Theater Magdeburg als Inten-

Nicole Seiler. Als Schweizer Theaterproduk­

­Bürgin an, der an das Theater Marie in Suhr

dant an der Neuen Oper Freiburg tätig.

tion 2020 wird „Der Mensch erscheint im

im

deutschsprachigen

Raum

Hannah Steffen. Foto Johannes Hofmann

Jo Fabian zu Auseinandersetzungen.

Schweizer

Theaterpreis

mit

Holozän“ von Alexander Giesche ausgezeich-

wechselt. Das Team um Steffen besteht ­außerdem aus Sabrina Hofer in der Dramatur-

■ Aus dem Kreis der zu den Autorentheater-

net, als Schweizer Tanzproduktion 2020

gie und Philine Eni, die künftig für die Kom-

tagen am Deutschen Theater Berlin eingela-

„Lumen“ von Jasmine Morand. Den June ­

munikation und Vermittlung verantwortlich

denen Autor:innen wurden die Dramatikerin

Johnson Newcomer Prize 2021 erhält die

zeichnet. Unter der neuen Leitung will sich

Amanda Lasker-Berlin und die Regisseurin und

Tänzerin und Choreografin Mirjam Gurtner.

das Haus weiterhin der Förderung junger

Autorin Milena Michalek mit dem Hermann-

Die Schweizer Preise Darstellende Künste

Dramatiker:innen verschreiben.

Sudermann-Preis, der biennal vergeben wird,

werden von den beiden eidgenössischen

gewürdigt. Lasker-Berlin erhält von der vier-

­Jurys für Tanz und Theater vorgeschlagen.

■ Axel Vornam bleibt noch bis 2026 Inten-

köpfigen Jury für ihr Werk „Ich, Wunderwerk

dant und Geschäftsführer am Stadttheater

und How Much I love Disturbing Content“

■ Im Rahmen der Verleihung des Deutschen

Heilbronn. Auf Bitten Vornams selbst wurde

den mit 5000 Euro dotierten Hauptpreis. Der

Schauspielpreises Anfang September wurde

der Vertrag nicht wie gewöhnlich um fünf,

mit 3000 Euro dotierte Hermann-Suder-

der Schauspieler, Theaterregisseur, Drama­

sondern lediglich um drei Jahre verlängert.

mann-Anerkennungspreis geht an Michalek

tiker und Drehbuchautor Klaus Pohl für sein

Seit September 2008 ist Vornam dort bereits

für ihr Stück „Das hier“. Die Preisverleihung

Hörbuch „Sein oder Nichtsein. Erinnerungen

in der Leitung und auch als Regisseur tätig.

fand am 5. September mit anschließender

an Peter Zadeks legendäre Hamlet-Inszenie-


aktuell

/ TdZ  Oktober 2021  /

preis für sein Wirken im zeitgenössischen

wieck in Sachsen-Anhalt geboren, entschied

Theaterpreis) gewürdigt. Vergeben wurde die

deutschen Theater. Er begründete die Düssel-

sie sich nach der Promotion als Philosophin

vom Bundesverband Schauspiel e. V. organi-

dorfer Kammerspiele mit und folgte später

für eine Karriere am Theater. So begann sie

sierte Auszeichnung durch die diesjährige

auf Piscator als Intendant der Berliner Volks-

1972 am Theater Bremen, um die Szene spä-

Patin Adriana Altaras. „Sein oder Nichtsein“

bühne. Der Ehrenpreis geht an das Münchner

ter am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

ist 2020 bei DAV erschienen.

Mäzen-Ehepaar Lejeune. Ihre Stiftung Herz

und als Chefdramaturgin am Schauspielhaus

für Herz – Stiftung für Leben! finanziert Herz-

Bochum maßgeblich mitzuprägen. 1995

operationen für Kinder an Orten der Welt, wo

wechselte sie von Bochum an die Berliner

sonst die Mittel dazu fehlen. Die Preisverlei-

Schaubühne, wo sie fünf Jahre als Dramatur-

hung fand am 27. August im Münchner

gin blieb. Groenewold war eine der ersten

Künstlerhaus statt.

Frauen, die Führungspositionen am Theater

Maike Knirsch. Foto Armin Smailovic

rung“ mit dem Therese-Giehse-Preis (ehemals

erreichten.

■ Kulturschaffende fordern Sicherheit für ­afghanische Kolleg:innen. In einem offenen Brief

■ Im Alter von 83 Jahren ist die langjährige

an die Staatsministerin für Kultur und Medien,

Direktorin des Bonner Contra-Kreis-Theaters,

Monika Grütters, forderten Anfang September

Katinka Hoffmann, am 6. September verstor-

mehrere Dutzend Kulturschaffende die sichere

ben. Die am 6. Januar 1938 in Breslau gebo-

Ausreise für „unsere kulturellen Ortskräfte“

rene Katinka Hoffmann hatte schon als Kind

aus Afghanistan, wie es darin heißt. Der Appell

ihre ersten Bühnenauftritte. Zeit ihrer Schau-

ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung er-

spielkarriere stand sie u. a. mit Charles Regnier,

schienen. Verlangt werden Verantwortungs-

Sonja Ziemann, Gunther Philipp, Corinna

übernahme und solidarisches Verhalten von-

­Genest und Heide Keller auf der Bühne. Sie

seiten Deutschlands. Die Unter­zeichner:innen

wirkte auch in zahlreichen Fernsehproduktio-

fordern die Kulturstaatsministerin persönlich

nen mit. Als erste Kommissarin im westdeut-

dazu auf, den Betroffenen ohne Zögern „eine

schen Fernsehen sorgte sie beispielsweise

sichere Ausreise zu ermöglichen“. Eine offizi-

1973 in der Serie „Frühbesprechung“ für

■ Die Körber-Stiftung zeichnet die Schau-

elle Anlaufstelle mit sicherer E-Mail-Adresse

Aufsehen. Als damals jüngste Theaterleiterin

spielerin Maike Knirsch mit dem Boy-Gobert-

soll ins Leben gerufen werden, um die Visa-

Deutschlands übernahm sie 1965 das Cont-

Preis aus. Der mit 10 000 Euro dotierte Preis

und Ausreisegesuche schnellstmöglich zu be-

ra-Kreis-Theater. Mehr als fünf Jahrzehnte

wird am 5. Dezember im Thalia Theater Ham-

arbeiten. Zu den Unter­­zeichner:innen gehören

lang stand sie der privaten Spielstätte insge-

burg übergeben. Die Jury, welcher der Schau-

unter anderem Theaterschaffende wie Thomas

samt vor. Die Mitarbeiter:innen trauern um

spieler Burghart Klaußner vorsitzt, begründet

Ostermeier (Intendant Schaubühne Berlin),

ihren Humor, ihre Spielfreude, ihre Herzlich-

ihre Entscheidung wie folgt: „Die Präsenz,

Milo Rau (Intendant NTGent) und Oliver Reese

keit und Direktheit auf und hinter der Bühne,

die Körperlichkeit, Offenheit und schauspie-

(Intendant Berliner Ensemble).

die unvergessen bleiben.

in Momenten spürbar, in denen sie – schein-

■ Zur Spielzeit 2022/23 will das Mecklenbur-

■ Der Schauspieler Joachim Bliese ist am

bar – gar nicht aktiv ins Bühnengeschehen

gische Staatstheater in Schwerin eine neue

9. September im Alter von 85 Jahren verstor-

eingreift. Ihre Begeisterung für die Theater-

Spielstätte eröffnen. Den Anstoß dazu gibt

ben. Seine Schauspielausbildung hatte der

kunst überträgt sich unmittelbar in den Zu-

einerseits die Sanierung der Studiobühne des

1935 in Kiel Geborene an der staatlichen

schauerraum.“ Seit der Spielzeit 2020/21 ist

Hauses, die für 2022 geplant ist. Anderer-

Hochschule in Hamburg absolviert. Danach

Knirsch Ensemblemitglied am Thalia Theater

seits

Wissen-

führte ihn sein Weg über das Schauspielhaus

in Hamburg.

schaftszentrums Berlin für Sozialforschung

Wien, die Städtischen Bühnen Oberhausen,

2018 fest, dass Schwerin die am meisten

das Thalia Theater Hamburg, das Schiller­

■ Zu den Ausgezeichneten der 34. Piscator-

segregierte Stadt Deutschlands sei. Im Rah-

theater Berlin und die Freie Volksbühne in

Preise gehören der belarussische Exilschrift-

men des Modellprojekts „Theater als Trieb-

Berlin. Neben dem Theater arbeitete er für

steller Alhierd Bacharevič, der Regisseur und

kraft demokratischer Stadtteil-Entwicklung“

Film, Fernsehen und Rundfunk. In seinem

Intendant Hansjörg Utzerath und das Münch-

plant das Mecklenburgische Staatstheater

Nachruf lobt ihn Michael Lang, Intendant des

ner Unternehmerpaar Irène und Erich Lejeune.

daher nun in einer ehemaligen Industriehalle

Hamburger Ohnsorg-Theaters, wo Bliese ab

Bacharevič wird für seine Romane und Essays

eine Spielstätte, die es vermag, mittels Thea-

2005 tätig war, als einen, der „alles“ gespielt

geehrt. In seinen Schriften verweist er auf die

ter zwischen verschiedenen Stadtteilen zu

hat und auch „alles“ spielen konnte.

Aktualität von Faschismus und Autoritaris-

vermitteln. Das Projekt soll von Herbst 2022

mus, warnt vor den psychologischen und ge-

bis 2025 laufen.

lerische Neugier von Maike Knirsch sind auch

sellschaftlichen

Konsequenzen

stellte

eine

Studie

des

totalitärer

Verhältnisse und ruft dazu auf, diese nicht

■ Wie erst im September bekannt gegeben

einfach als Phänomene der Vergangenheit ab-

wurde, ist die Dramaturgin Gabriele Groene-

zustempeln. Utzerath erhält den Lebenswerk-

wold am 29. Juli verstorben. 1947 in Oster-

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

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aktuell

/ TdZ Oktober 2021  /

Premieren

Oktober 2021

Altenburg Theater T. Brussig: Helden

Rott, 02.10.); P. Chesnot: Bi mi to Huus,

Frankfurt am Main Künstlerhaus Mou-

schaukel (B. Kraft, 22.10., UA); H.

wie wir (M. Kressin, 02.10.); A. Tsche-

Klock fief? (G. Fuchs, 16.10.); S. Horn-

sonturm Companhia Brasileira de Teatro:

Kipphardt: Bruder Eichmann (T. Jonigk,

chow: Der Heiratsantrag / Das Jubiläum

bach:

Frietsch,

Sem palavras  / Ohne Worte (M. Abreu,

23.10.); R. Goetz: Reich des Todes (S.

(J. Jochymski, 08.10.); F. Zeller: Vater

29.10.); N. Cohen: Die Sache mit dem

01.10., DEA); D. Niangouna: De ce

Bachmann, 30.10.)

(J. Hasse, 23.10.)

Vogel (C. Mikosch, 30.10.)

côté  / Diesseits (D. Niangouna / Compag-

Krefeld Theater F. Schiller: Wilhelm Tell

Bamberg E. T. A.-Hoffmann-Theater R.

Chemnitz Theater P. Löhle: Jede Stadt

nie Les Bruits de la Rue, 26.10., DEA)

(M. Gehrt, 01.10.); M. Abu Saleh: Hei-

Goetz: Reich des Todes (S. Broll-Pape,

braucht ihre Helden (M. Huber, 02.10.);

Schauspiel W. Gombrowicz: Yvonne, die

materde (B. Murkus, 02.10.); n. H. C.

08.10.); P. Gärtner: Gold (W. Weermann,

C. Knödler / F. d. l. Motte Fouqué: Undi-

Burgunderprinzessin

Andersen / B. Winzen / n. D. Ungureit:

10.10.)

ne (C. Knödler, 17.10.); Selma – Ein

22.10.)

Berlin Berliner Ensemble A. Miller: He-

Leben

Bestier,

Göttingen Deutsches Theater J. Rasch-

30.10.)

xenjagd (M. Koležnik, 07.10.); A. Birch:

21.10., UA); A. d. Saint-Exupéry  /  A.

ke: Was das Nashorn sah, als es über die

Landshut kleines theater – Kammer-

Anatomie eines Suizids (N. Leopold,

Rehschuh: Der kleine Prinz (M. Eitner-

andere Seite des Zauns schaute (K.

spiele Euripides: Medea (S. Grunert,

28.10.) Deutsches Theater F. M. Dosto-

Acheampong, 23.10.); I. Karnauchowa /

Ramser, 02.10.); P. Wortsman: Der täto-

02.10.); B. Steets: Marilyn Monroes

jewski: Der Idiot (S. Hartmann, 23.10.);

L. Braussewitsch: Die feuerrote Blume

wierte Mann (K. Barz, 08.10., UA); N.

letztes Band (S. Grunert, 16.10.) Lan-

G. Hauptmann: Einsame Menschen (D.

(J. Kerbel, 29.10.)

Ritter: Alles Lüge und immer wieder

destheater Niederbayern D. Seidler: The

Löffner, 29.10.); H. v. Kleist: Michael

Cottbus Staatstheater A. Tafreshian / S.

wächst das Gras (N. Ritter, 21.10., UA)

King’s Speech (S. Kohrs, 01.10.) R. W.

Kohlhaas

30.10.)

Hentschel: Richard 3 (A. Tafreshian,

Graz Schauspielhaus E. Jelinek: Das

Fassbinder: In einem Jahr mit 13 Mon-

Schaubühne E. Louis: Wer hat meinen

02.10.); A. Lindgren: Mio, mein Mio (U.

Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht

den (C. Tröger, 08.10.); J. Genet: Die

Vater umgebracht (Qui a tué mon père)

Müller, 24.10.)

mit mir!) (F. Mayr, 01.10.); Kampf der

Zofen (M. Bartl, 20.10.)

(T. Ostermeier, 07.10.) RambaZamba

Darmstadt Staatstheater A. Lepper:

Lüge! Eine Manifestation (E. Bakirova,

Leipzig Schauspiel K. Höller: Ein Wahn-

Theater B. Freytag: Der Golem (J. Höh-

Hund wohin gehen wir (A. Luque,

13.10.)

sinn was Menschen einander (K. Plötner,

ne, 01.10., UA) Sophiensaele O. H.

20.10., UA)

Hamburg Schauspielhaus K. Schuma-

02.10., UA); Y. Reza / E. Helmlé: Kunst

Kim: Like Daughter, Like Mother – Ta-

Dessau Anhaltisches Theater n. M. Mit-

cher / S. Jević: Making of Sophie Scholl

(F. Hoffmann, 03.10.); I. Müller: Forces

king care of Motherhood (O. H. Kim,

chell: Vom Winde verweht (K. Gehre,

(K. Schumacher, 02.10., UA); F. Fiedler:

of Nature (I. Müller, 06.10., DEA); G.

02.10., UA); Interrobang: Deep Godot

01.10., UA); T. Dorst / U. Ehler: Wie Dill-

Monte Mortale (F. Fiedler, 15.10., UA);

Grass / C. Bauer / M. Döpke: Die Rättin

(Interrobang, 09.10., UA); C. R. v. Don-

dapp nach dem Riesen ging (C. Senge-

n. V. Jestin: Hitze (M. Spaan, 23.10.,

(C. Bauer, 08.10.); S. Kilter: White Pas-

gen Frost / F. Reimer: Sogar dein Tod war

wald, 14.10.); U. A. Sandig: Monster wie

UA); G. Pigor: Tiere im Theater (G. Pigor,

sing (T. Bruncken, 14.10., UA); A. Mah-

ein Geschenk – Eine Séance für Walter

wir (K. Plötner, 16.10., UA)

30.10., UA) Thalia Theater F. Schiller:

ler / J. Schulte: La Bohème (A. Mahler,

Laden-Gast (C. R. v. Dongen Frost / F.

Dortmund Theater D. S. Craig: Kein

Die Räuber (M. Thalheimer, 30.10., UA)

29.10., UA)

Reimer, 21.10., UA) Volksbühne L. Jen-

leichter Fall (J. Weißert, 01.10.); n. M.

Hannover Freies Theater H. Weiss:

Linz Landestheater F. Melquiot: Die Zer-

ning / M. Mechow / n. J. Cortázar: Letzter

Svolikova: europa verschwindet … (I.

Faces – During the Pandemic (H. Weiss,

trennlichen (Les Séparables) (J. Kerbel,

Stand I: allos autos (L. Jenning / M. Me-

Sedlack, 02.10., UA); n. J. Steinbeck:

01.10., UA); K. Möller: Die Einsamkeit

08.10.); F. Hebbel / S. Lietzow: Die Nibe-

chow, 20.10., UA)

Früchte des Zorns (M. Peschel, 10.10.);

der Stadt in mir (K. Möller, 01.10., UA);

lungen (S. Lietzow, 09.10.); J. W. v. Goe-

Biel/ Solothurn TOBS D. Schwaben-

N. Fernández: Mädchenschule (A. Tenti,

D. Jacobs  /  M. Netenjakob: Extrawurst

the:

land: Brave New Life (D. Schwabenland,

15.10., DEA); K. Šagor: Ich lieb dich (B.

(R. Lewandowski, 15.10., UA) Schau-

Diem, 29.10.)

23.10., UA)

Geurkink, 23.10.); n. G. E. Lessing / A.

spiel T. Köck: Klimatrilogie (M. Bues,

Lübeck Theater F. Heinrich: Frerk, Du

Bielefeld Theater C. Wahlefeld: Cry

Gruhn: Nathan (A. Gruhn, 29.10.); n. A.

09.10.); M. Shelley: Frankenstein (C.

Zwerg! (K. Ötting, 15.10.); A. Gmeyner:

Baby. Janis Joplin – Leben am äußeren

Ernaux: Der Platz (J. Wissert, 30.10.,

Weyde, 14.10.); C. Baron: Ein Mann sei-

Automatenbüfett (Z. Wey, 29.10.)

Rand der Wahrscheinlichkeit (M. Heicks,

UA)

ner Klasse (L. Holzhausen, 21.10., UA)

Mainz Staatstheater W. Shakespeare / G.

14.10., UA)

Dresden Staatsschauspiel S. Voima / n.

Jena Theaterhaus M. Vojacek Koper: All

Geue: Der Widerspenstigen Zähmung (S.

Bochum Schauspielhaus n. M. Bul­

J. Molière / n. T. Piketty: Der Tartuffe oder

By MySelfie (S. Lacher, 01.10., UA); A.

v. Batum, 07.10.)

gakow / n. J. S. Bach: Passion I und II (R.

Kapital und Ideologie (V. Lösch, 02.10.,

Schupp: Die mutige Mehrheit (1 – 3) (A.

Mannheim Nationaltheater S. Harges­

Borgmann, 08.10.); M. McDonagh: Der

UA); I. Schulze: Die rechtschaffenen

Schupp, 21.10.)

heimer / A. Akgün / S. Keskinkılıç-Brück:

Kissenmann (G. Clemens, 16.10.); n.

Mörder (C. Bauer, 22.10., UA) Theater

Kassel Staatstheater n. E. Lubitsch / N.

body* (B. A. Schmutz, 22.10., UA)

Sophokles: Ödipus, Herrscher (J. Simons,

Junge Generation A. Tuckermann / N.

Whitby: Sein oder Nichtsein (C. Weise,

Thea­ terhaus TiG7 Theater Trennt e.V.

17.10.); n. J. M. Coetzee: Schande (Dis-

Wood  /  G.

(P.

09.10.); n. E. M. Remarque: Der Funke

S. Keskinkılıç-Brück: Milk Shot II (S.

grace) (O. Frljić, 30.10.)

Schönwald, 09.10.); Janosch / M. Grün-

Leben (L.-O. Walburg, 22.10., UA); F.

Keskinkılıç-Brück, 27.10., UA)

Bonn Junges Theater F. Breinersdorfer:

heit: Oh, wie schön ist Panama (M.

Holzinger: A Divine Comedy (F. Holzin-

Mülheim Theater an der Ruhr L. v.

Die weiße Rose – Die letzten Tage der

Grünheit, 23.10.); J. Raschke: Was das

ger, 29.10.)

Trier  / C. Beradt: Europa oder die Träume

Sophie Scholl (J. Heuwinkel, 06.10.);

Nashorn sah, als es auf die andere Seite

Kiel Theater H. v. Kleist: Michael Kohl-

des Dritten Reichs (P. Preuss, 30.10., UA)

M. Seibert: Die Surfguards – Nur das

des Zauns schaute (N. Søgaard, 30.10.)

haas (D. Yazdkhasti, 02.10.); W. Shake-

München Kammerspiele Paper Tiger:

eine Leben (M. Seibert, 29.10., UA)

Essen Schauspiel n. F. Baum: Der Zau-

speare: Maß für Maß (D. Karasek,

Heart Chamber Fragments (T. Gebing,

Bremen Theater Ö. v. Horváth: Kasimir

berer von Oz (A. Spaeter, 23.10.); n. A.

15.10.); S. Stephens: Country Music (L.

07.10.); S. Ben Yishai: Like Lovers Do

und Karoline (A. Zandwijk, 02.10.); F.

Tuckermann / n. M. Zaeri / n. U. Krappen:

Gappel, 29.10.)

(Memoiren der Medusa) (P. Karabulut,

Rothenhäusler / J. Eichberg / T. Schlesin-

Der Mann, der eine Blume sein wollte

Klagenfurt Stadttheater A. Schnitzler:

09.10.,

ger: Revue. Über das Sterben der Arten

(compagnie toit végétal., 24.10.)

Reigen (M. Lolić, 07.10.)

Schmidt fährt über die Oder (A. Haber-

(F. Rothenhäusler, 29.10., UA)

Esslingen Württembergische Landes-

Köln Schauspiel E. Ruge: Metropol (A.

mehl, 19.10., UA); S. Brandes / D. Fell–

Bremerhaven Stadttheater T. Stoppard:

bühne W. Becker / B. Lichtenberg: Good

Petras, 01.10., UA); V. Woolf: Orlando

Hernandez  /  J. Gräfner/ N. Jahnke/ J.

Rosenkranz und Güldenstern sind tot (T.

Bye, Lenin! (M. Bartl, 09.10.)

(L. Bihler, 02.10.); n. H. Müller: Atem-

Kappauf / J.-C. Hieronymus/ D. Seidel / J.

(A.

Kriegenburg,

Schwalbenkönig

in

Jahreszeiten

Weber:

(G.

(S.

Diamond

Sky

(M.

Koležnik,

Des Kaisers neue Kleider (B. Winzen,

Die

Wahlverwandtschaften

UA);

A.

Habermehl:

(C.

Frau


aktuell

/ TdZ  Oktober 2021  /

Weber/ S. Winkler / F. Wiesner / H. Wolff/

ger: Der Bärenberg (A. M. Erl, 02.10.,

Schwerin Mecklenburgisches Staats-

Tiran, 23.10., ÖEA); N. Erdmann: Der

L. Wöllisch: Heidi weint – Eine Gefühls-

UA)

theater P. Wengenroth: Utopia, meinet-

Selbstmörder

versammlung (N. Jahnke, 23.10.) Resi-

Osnabrück Theater E. Hickson: The

wegen (P. Wengenroth, 01.10., UA); J.

mann, 29.10.); L. Pauwels: Stadt der

denztheater A. Neumann: Es waren ihrer

Writer (C. Drexel, 16.10.)

Steinbeck: Von Mäusen und Menschen

Affen (L. Pauwels, 30.10., UA) Kosmos

sechs (M. Borczuch, 08.10., UA); n.

Potsdam Hans Otto Theater n. G.

(M. Nimz, 07.10.); Ensemble / J. Geh-

Theater P. Neugschwentner / A. Madrei-

Aristophanes  /  T. Luz: Die Wolken, die

Hauptmann / E. Palmetshofer: Vor Son-

ler  /  n. Homer:

ter:

Vögel, der Reichtum (T. Luz, 10.10., ­

nenaufgang (M. A. Schäfer, 29.10.)

10.10.); n. S. King / W. Goldmann: Mise-

Sendlhofer, 12.10., UA)

UA); A. Mortazavi / C. Umpfenbach: Ur-

Rendsburg

ry – Schriew üm dien Läben (A. Müther,

Wilhelmshaven Landesbühne Nieder-

teile (Revisited) – Nach dem Prozess (C.

Landestheater und Sinfonieorchester L.

13.10.)

sachsen Nord S. V. Bungarten: Tot sind

Umpfenbach, 21.10.); M. Frisch: Graf

Vekemans: Gift. Eine Ehegeschichte (K.

Stendal Theater der Altmark P. Turrini:

wir nicht (M. J. Schuster, 23.10.)

Öderland (S. Bachmann, 22.10.) Team-

Chatten, 13.10.)

Josef und Maria (R. Messing, 23.10.)

Schleswig-Holsteinisches

Odyssee

(J.

Gehler,

(P.

Jordan  /  L. Koppel-

Kleingartenverein

Zukunft

(M.

Project

Reutlingen Die Tonne B. Herold / T. B. Hoff­

Stuttgart Altes Schauspielhaus und Ko-

FESTIVALS

S.T.R.I.P. (J. Eisa, 27.10., DEA) Volks-

mann / M. Schneider-Bast / M. Schnei-

mödie im Marquardt F. v. Schirach: Gott

Gießen Institut für Angewandte Theater-

theater C. Marlowe: Edward II. (C.

der / H. Thun / Y. Shamir / K. Eppler: Res-

(M. Schulze, 29.10.) Schauspiel W.

wissenschaft Diskurs35: Porous (11.10.-

Stückl,

Unser

pekt (E. Urbanek, 19.10., UA); K.

Mouawad: Seuls (W. Mouawad, 09.10.);

17.10.)

Fleisch, unser Blut (J. Glause, 16.10.,

Schultze: Walking around (Lustwandeln)

T. Köck: Algo Pasó (la última obra) (T.

Mannheim Theaterhaus TiG7 Theater

theater

R.

G.

15.10.);

Kamatham:

J.

Glause:

UA); B. Park / B. Roessler: Gymnasium

mit Neruda (E. Urbanek, 29.10., UA)

Köck, 23.10., UA)

Trennt e.V Labor für Beklemmung und

(B. Park, 17.10., UA)

Rostock Volkstheater P. Zadek / n. C. Za-

Tübingen Landestheater Y. Ronen / D.

Betroffenheit – Reden am Ende des Vor-

Münster Theater N. Haratischwili: Löwen­

vattini: Das Wunder von Mailand (K.

Schaad: (R)Evolution (T. Weckherlin,

stellbaren (16.10.-17.10.)

herzen (S. L. Kleff, 03.10.)

Lauterbach, 16.10.); W. Lotz: Die PolitiEin berührendes

Naumburg Theater A. Tschechow: Der

kerDokument (A. Zacek, 23.10.); n. Aristophadeutsch-

Bär & Der Heiratsantrag (S. Neugebauer,

nes  / S. Hornung:Trennung Frauen im Parlament deutscher

22.10.)

(S. Hornung, 23.10.)

Nürnberg Staatstheater P. Corneille: Spiel der Illusionen (A. Kriegenburg, Müller-Schwefe 01.10.);Hans-Ulrich S. B. Yishai: Die Tonight, Live und Susan Todd (Hg.)

Buchpremiere mit Lea Draeger und schreiten (J. Schmidl, 02.10.); L. HübThomas Thieme ner / S. Nemitz: Furor (K. Brune, 12.10.); Schloss Neuhardenberg E. Künneke: Der Vetter aus Dingsda (A. 26. Juni 2011, 17 Uhr Rudolstadt Theater K. Küspert: fort

DIE 30 30 WICHTIGSTEN WICHTIGSTEN ARBEITEN Saarbrücken Überzwerg – Theater am Kästnerplatz Spielstark –A20. Weimar Deutsches Nationaltheater & A AUS US 3 30 0 JAHREN IM M GROSSFORM GROSSFORMAT T Kinder-, Jugend- und Familientheaterfestival Staatskapelle S. Gößner: Mongos (B. REICH BEBILDER BEBILDERT T UND U (24.09.-09.10) K KOMMENTIERT OMMENTIERT Heidenreich, 13.10.) 01.10.)

Wien brut toxic dreams: The Art of As-

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king your Boss for a Raise (toxic dreams, 01.10., UA); S. Lanner: Mining Minds

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Heim / Rechnitz (Der Würgeengel) / Das

Schwedt / Oder Uckermärkische Büh-

schweigende Mädchen (J. P. Gloger,

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22.10.) Theater Mummpitz n. M. Bolli-

(L. Franke, 15.10., UA)

Frey, 10.10.); L. Kirkwood: Moskitos (I.

Forever oder Prinzip Nosferatu (M. ISBNDas 978-3-942449-02-1 346 Seiten 25,00 € / 41,90 CHF

Königstein, 08.10.); E. Jelinek: Wolken.

Leistenschneider, 16.10.)

(S. Lanner, 14.10., UA); L. Lukkarilla:

kneading to the 3rd millennia (L. Lukka-

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TdZ · Juni 2011

/ 85 /


tdz on tour

/ TdZ Oktober 2021  /

Es geht wieder los! Endlich auch für unseren Buchverlag. Nach einer langen pandemiebedingten Pause fand am 3. Sep­ tember im Theater Plauen-Zwickau die erste Buchpremiere unter Präsenzbedingungen statt. Was gab es zu feiern? Die Ära von Intendant Roland May, der seit 2009 die Geschicke am Haus leitet. Bis 2022 wird er noch im Amt sein, Grund genug, zurückzublicken auf 13 Jahre erfolgreiche Theater­ arbeit in der Region. In dem soeben im Verlag Theater der Zeit erschienenen Buch resümieren Intendant und Beleg­ schaft die künstlerische Entwicklung der vor 20 Jahren v.l.n.r.: Jürgen Pöckel (Musiktheaterdirektor), Roland May (General­inten­ fusio­nierten Theater der Städte Plauen und Zwickau. Zahl­ dant), Annett Göhre (Ballettdirektorin) sowie Harald Müller (Verlagsleiter reiche Inszenierungsfotos dokumentieren ihre Arbeit. Theater der Zeit). Fotos André Leischner Anz_TheaterDerZeit_178x120.qxp_Layout 1 08.09.21 12:57 Seite 1

+ bundeskongress#3

02. und 03.11.2021 freies werkstatt theater köln die kunst der krise

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/ 86 /

Anmeldung ab 01.10.2021 www.flausen.plus/info-kongress

gefördert durch:

in Kooperation mit:

Kulturamt

Medienpartnerschaften:


impressum/vorschau

/ TdZ  Oktober 2021  /

Bernhard Doppler, Kulturjournalist, Berlin Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Björn Hayer, Kritiker, Lemberg Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Daniele Muscionico, Theaterkritikerin, Zürich Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Hannah Neumann, Theaterwissenschaftlerin, Siegen Matthias Schumann, Theaterkritiker, Hamburg Theresa Schütz, freie Autorin und Theaterwissenschaftlerin, Berlin Shirin Sojitrawalla, Theaterkritikerin, Wiesbaden Lara Wenzel, freie Autorin, Leipzig Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin Erik Zielke, Theaterredakteur, Berlin

www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

Thema Zu Hunderten werden im Oktober wieder junge Menschen ihre Ausbildungen an den Theaterhochschulen beginnen. Doch welche Bühnenzukunft steht ihnen bevor? Wird sich die Lage auf dem sowieso schon angespannten Arbeitsmarkt durch die Corona-Pandemie weiter verschärfen? Wir sprechen in unserem Schwerpunkt zum Thema Ausbildung mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Theaterhochschulen, stellen mit Anna Luise Kiss die neue Rektorin der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin vor und befassen uns mit den Zugangsvoraussetzungen insbesondere für das Fach Schauspiel, die nach wie vor verhindern, dass auf unseren Bühnen Diversität wirklich Realität werden kann.

Herausgeber Harald Müller Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Martin Müller (Assistenz), Ricarda Hillermann (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Elena Corsi +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 76. Jahrgang. Heft Nr. 10, Oktober 2021. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 06.09.2021 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

Neustart Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Wer hätte gedacht, dass sich die Berliner Volksbühne unter der neuen Intendanz von René Pollesch diese Floskel zum Motto macht? Das Haus, das in den vergangen vier Jahren vor allem mit diversen Führungswechseln und einem Skandal um Machtmissbrauch von sich reden ­gemacht hat, hielt sich lange Zeit hinsichtlich der Spielplangestaltung eher bedeckt. Erst Ende August, knapp einen Monat vor ­Eröffnung, verkündete das Haus sein Programm. Doch wirklich Neues entdeckte man dort nicht: Die ersten Premieren werden hauptsächlich von Pollesch selbst und dem Jugendclub P14 bestritten. Wir haben uns die Eröffnung angeschaut. Ob man darüber ­reden oder lieber schweigen sollte, erfahren Sie im nächsten Heft.

Das Zirkuszelt vor der Berliner Volksbühne kurz vor René Polleschs Intendanzstart. Foto David Baltzer / bildbuehne.de

Matt Cornish, Theaterwissenschaftler, Athen / USA

Die hfs Ultras, ein an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin gegründetes Frauenkollektiv. Foto Monika Keiler

Vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN Oktober 2021

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2021/10

/ 87 /

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. November 2021.


Was macht das Theater, Traute Hoess? Frau Hoess, erinnern Sie sich an

mich ein Lernprozess. Ich habe

Ihre erste Begegnung mit Robert

verstanden, welche Möglichkei-

Wilson?

ten sich in dieser Wilson-Form

Die erste Arbeit von Bob Wil-

eröffnen. Im Sound kann man

son habe ich bereits 1976 auf

alles ändern. Wenn ich in der

einem Festival in München ge-

Laune war, konnte ich der Frau

sehen, eine Performance von

Peachum etwas Verrückteres ge-

ihm und Christopher Knowles,

ben, etwas Schrilleres, oder auch

der ja bis heute für ihn die

mehr Traurigkeit. Zwölf Jahre

­Texte schreibt. Persönlich be-

lang waren Jürgen Holtz und ich

gegnet bin ich ihm erst, als ich

Herr und Frau Peachum, wir sind

für die Rolle der Frau Peachum

mit der Inszenierung um die

in der „Dreigroschenoper“ am

ganze Welt gereist – und auch ­

Berliner Ensemble vorgespro-

zusammen gealtert.

chen habe – oder genauer War die „Dreigroschenoper“ Ihre

gesagt: vorgesungen, mit der ­ „Ballade von der sexuellen Hö-

Lieblingsarbeit mit Wilson?

rigkeit“. Ich war wahnsinnig

Die „Shakespeare Sonette“ zäh-

aufgeregt.

Wilson

hat

das

natürlich gemerkt – und aus ­ Silberpapier eine kleine Kugel geformt, die er vor mich auf den Tisch legte. Diesen Punkt sollte ich ansingen. Das hat sofort etwas bewirkt. Der Körper bekommt eine Spannung, der Blick fokussiert sich – und auf einmal habe ich das Lied ganz anders empfunden. Wilson hat gar nicht erklärt, was

Licht, Sound, Sprache, Kostüme, Bühne: Man kann es von außen betrachtet immer kaum glauben, aber die streng choreografierten, minutiös komponierten Inszenierungen des Gesamtkunstwerkers Robert Wilson stellen für Schauspielerinnen und Schauspieler, der Dialektik sei Dank, tatsächlich ein hochmotivierendes Spielfeld der Freiheit dar. Am 4. Oktober feiert der große Magier des Theaters seinen 80. Geburtstag. Wir haben Traute Hoess, eine seiner zentralen Protagonistinnen – sie spielte unter anderem Frau Peachum in der „Dreigroschenoper“ sowie die Nell im „Endspiel“ – zu ihren magic moments in der Arbeit mit Robert Wilson befragt. Traute Hoess (links, gemeinsam mit Jürgen Holtz) in Robert Wilsons „Dreigroschenoper“. Foto Lesley Lesie-Spinks

er vorhat, er hat es einfach ge-

len genauso zu meinen Lieblingsstücken. Die waren völlig anders als die „Dreigroschenoper“. Ich hatte eine Glatze, trug Pump­ hosen, saß auf einem Hochrad und sprach diese wunderbaren Zeilen: „O weh, was gab die Liebe mir für Augen. Sie sieht ­ das Wahre nicht, nur das Verkehrte.“ Bei Wilson sitzen auch die Schauspielerinnen und Schauspieler, die gerade keinen Auftritt haben, so gerne hinter der Bühne und hören zu! Er öffnet den

macht. So ist die Arbeit mit einen magischen Moment beschrieben. So ­

Raum für den Text. „Endspiel“ habe ich auch

etwas verändert einen Raum vollkommen. ­

geliebt. Da gab es diesen Moment, in dem

Natürlich nur, wenn man sich darauf einlässt.

Jürgen Holtz und ich aus unseren Tonnen

­Fähigkeit, Konzentration zu schaffen. Er be-

Wilson gilt als jemand, der seine Inszenierun-

vier spielen, ganz lustig klimpernd – ich hätte

ginnt die Proben oft damit, dass alle zusam-

gen bis ins Kleinste durchchoreografiert. Wo

Bob Wilson aber nie gefragt, wieso wir das

men für eine Minute schweigen. Jede und

entstehen die Räume für die Schauspielerinnen

eigentlich machen sollen. Man macht es.

jeder um ihn herum kommt dadurch zur

und Schauspieler?

Und dann merkt man plötzlich, für sich

Ruhe, bis so etwas wie ein gemeinsamer

Wilson schreibt einem nie vor, was man zu

selbst, wieso es Sinn ergibt. Angela Winkler,

Atem entsteht. Wilson hat auch oft gesagt, er

denken hat. Er schafft Gesamtkunstwerke aus

die in einer Voraufführung war, hat mir zur

finde es das Schwerste für eine Schauspiele-

Klang, Architektur, Lichtdesign, Musik, Kos-

Premiere eine Karte geschrieben und über

rin oder einen Schauspieler, einfach auf der

tüm und Maske, die streng in der Form sind,

diese Szene geschwärmt: „Traute, die Hände

Bühne zu stehen und still zu sein. Veran-

eine ungeheure Präzision besitzen – aber für

wollen leben!“

schaulicht hat er das mit einer Geschichte

die Spielenden entsteht eine große Freiheit

über die Sängerin Jessye Norman, mit der er

und Leichtigkeit. Ich weiß noch, dass ich zu

Was wünschen Sie Wilson zum 80. Geburtstag?

eng befreundet war. Norman hatte einen Auf-

Beginn der Arbeit an der „Dreigroschenoper“

Ein ganz langes Leben! Ich wünschte, dass er

tritt kurz nach 9/11, den sie eigentlich absa-

alles richtig und besonders schön machen

in einen Jungbrunnen fiele und ich auch,

gen wollte. Er hat ihr zugeredet, doch auf die

wollte. Wilson kam zu mir in die Garderobe

­damit wir noch mal zusammen um die Welt

Bühne zu gehen, denn gerade jetzt bräuchte

und sagte, er finde es wirklich toll, was ich

reisen könnten. Ich wünsche ihm, dass er bei

es ihre Stimme. Sie ist dann auch aufgetre-

spiele, auch sehr komisch – aber ich solle

Kraft bleibt und einfach weiterarbeiten kann.

ten. Aber zu Beginn des Konzerts konnte sie

nicht so sehr auf diese Komik drücken. Ich

Es gibt ja sonst niemanden wie ihn. //

zehn Minuten lang nicht anfangen zu singen.

solle nur 80 Prozent davon zeigen, nicht die

Diese zehn Minuten Stille hat Wilson als

vollen 100. Die „Dreigroschenoper“ war für

ihm immer gewesen: voller Überraschungen. Wie haben Sie die Proben mit ihm erlebt?

kommen und mit weißen Handschuhen Kla-

Zunächst mal hat Wilson eine besondere

Die Fragen stellte Patrick Wildermann.


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