Theater der Zeit 11/2020 - Wir sind die Baumeister. Ein Schwerpunkt über Theater und Architektur

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Per Leo & Anja Nioduschewski: Theater & Moral #4 / Neue Stücke / Tamilla Woodard über die US-Wahl Neustart Konstanz / Kolumne Ralph Hammerthaler / Abschied: Frie Leysen und Michael Gwisdek

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

November 2020 • Heft Nr. 11

Claus Leggewie / Tino Sehgal / Konstantin Jaspert / Hannelore Vogt

Wir sind die Baumeister Ein Schwerpunkt über Theater und Architektur


8.–29.5.21 stuecke.de Veranstalter

GefĂśrdert von


editorial

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E

Extra Der Aboauflage liegt bei

DOUBLE – Das Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater

r nimmt, was er kriegen kann. So lautet die genervte Titelzeile eines Artikels über Donald Trump in der Süddeutschen Zeitung am 16. Oktober 2020, dem Tag, an dem dieses Editorial entsteht. Noch ist nicht abzusehen, wie die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten am 3. November ausgehen werden. Sicher ist nur, dass die Hoffnungen, Trumps Präsidentschaft möge endlich enden, groß sind. „Ich denke zu viel nach an diesen auf den Kopf gestellten Tagen, an denen ich meinen Stimmzettel zur Abstimmung vorbereite und mir die Schuhe zubinde, um bereit zu sein, zu protestieren“, schreibt Tamilla Woodard in unserem Novemberheft. Die New Yorkerin ist seit sechs Monaten Künstlerische Ko-Leiterin des Working Theaters, einer kleinen Off-Bühne am Broadway, die sich einer großen Mission verschrieben hat. Seit mehr als 35 Jahren arbeitet das Theater einer zunehmenden Segregation der Gesellschaft entgegen, indem es Theater für und über arbeitende Menschen macht – darunter auch: der klassische Trump-Wähler. Die transformative Erfahrung von Theater, lautet die Devise, solle kein Luxus, sondern ein Grundnahrungsmittel sein – jenseits von Klassen-, Religions-, Alters-, Geschlechtsund ethnischen Grenzen. Das kleine New Yorker Theater scheint damit weiter zu sein als so manch ein Stadttheater im deutschsprachigen Raum, werden diese doch längst nicht von allen Teilen der Gesellschaft in gleichem Maße besucht. Warum? Vielleicht weil „verschlossene Häuser keine Einladung bieten“, wie es der Kölner Architekt Konstantin Jaspert formuliert. Was also tun? Bauen! Allen Corona-Sparkrisen zum Trotz entstehen in Deutschland gerade eine Reihe spektakulärer Theaterneubauten. Im Herbst 2021 ist in München das neue Volkstheater bezugsfertig, in Rostock wurde vor einiger Zeit der Gewinner­ entwurf für den Neubau des dortigen Volkstheaters gekürt. Nur in Frankfurt am Main wird noch diskutiert, ob nicht auch eine Sanierung der städtischen Bühnen denkbar wäre, um den Bestand der Gebäude zu erhalten. Denn auch dieser Aspekt ist relevant: Basiert Theater in Deutschland nicht auch auf einer traditionsreichen Geschichte? Wie unsere Stadttheater zu „dritten Orten“ des 21. Jahrhunderts werden können, diskutieren in unserem Schwerpunkt zu Theater und Architektur der Künstler Tino Sehgal, der Architekt Konstantin Jaspert und die Direktorin der Stadtbibliothek Köln Hannelore Vogt im Gespräch mit Dorte Lena Eilers. Eröffnet wird der Themenkomplex von einem Essay des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie, der sich in Frankfurt am Main mit der Frage beschäftigt hat, welche Art von Theater eigentlich die Stadtgesellschaft will. Wie aber ist es „um die viel gepriesene Einheit unserer Gesellschaft bestellt, wenn sich die begehrten Innenstädte zunehmend in Festungen des Luxus verwandeln, die für Normalbürger*innen immer unerreichbarer werden?“ Thomas Melle gibt in seinem im September in Stuttgart uraufgeführten Stück „Die Lage“ eine klare Antwort: schlecht. Christine Wahl hat die neuesten Uraufführungen der Saison gesichtet und dabei beobachtet, dass sich trotz – oder auch aufgrund der Coronakrise – der Blick der Gegenwartsdramatik auf die soziale Frage um ein Vielfaches verschärft hat. Die viel gepriesene Einheit wird sich aber wohl auch dann nicht einstellen, wenn wir alle eine bezahlbare Wohnung haben. Im vierten Teil unserer Reihe Theater und Moral stellen der Autor Per Leo und die Dramaturgin Anja Nioduschewski unserer demokratischen Gesellschaft ein bedenkliches ­Attest aus. Anlässlich der Debatte um die Cancel Culture erörtern sie, warum unsere Demokratie zwar unbedingt einen robusten Schlagabtausch benötigt, gewisse Tendenzen aber, rechte wie linke, in einen Kulturkampf abzudriften drohen. Über all diesem zu schweben scheint die senegalesische Choreografin Germaine Acogny, die Renate Klett in unserem Künstlerinsert vorstellt. Die Mutter des afrikanischen Tanzes verwandle ­Widersprüche in Kreativität. Ihr Lebensthema sei die Balance zwischen Afrika und Europa, deren Welten sich in ihren Arbeiten gegenseitig befruchten. Der Enkelin einer animistischen Priesterin, schreibt Klett, sei eben eine ganz eigene Weisheit eigen. Priester, Schamanen, Gefährten – beiden wunderbaren Menschen, von denen wir uns in diesem Heft verabschieden müssen, sind solche Komplizen zu wünschen. Am 22. September verstarben die Kuratorin und Kunstkennerin Frie Leysen sowie der Schauspieler Michael Gwisdek. Renate Klett und Thomas Wieck erinnern an sie. Aber auch der Protagonist in Zsuzsa Bánks erstem Theaterstück ist ein Kenner der letzten Dinge. Getroffen hat ihn die Frankfurter Schriftstellerin auf einer Beerdigung. Er ist Grabmacher und diente Bánk als Pate für ihren Monolog „Alles ist groß“, den wir in unserem Stückabdruck veröffentlichen. Es sei, schreibt Shirin Sojitrawalla, eine Figur, die vom Sterben so viel wisse wie vom Leben – und schon daher gut ins Theater passe. // Die Redaktion

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Inhalt November 2020 thema theater und architektur

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Claus Leggewie Die Baumeister sind wir Über die Diskussionen um einen Theaterneubau in Frankfurt am Main und die Idee eines Bürgerkonvents – Ein Essay

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Schweigende Zeugen Der Architekt Konstantin Jaspert, der Künstler Tino Sehgal und die Direktorin der Stadt­ bibliothek Köln Hannelore Vogt über Theaterräume des 21. Jahrhunderts im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

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künstlerinsert

4

Choreografien von Germaine Acogny

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Renate Klett Afrika sprich Wild, fordernd, voller Poesie – Über die Mutter des modernen afrikanischen Tanzes Germaine Acogny

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ausland

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Tamilla Woodard An diesen auf den Kopf gestellten Tagen Ein Manifest anlässlich der Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten

theater und moral #4

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Klima der Intoleranz Der Autor Per Leo und die Dramaturgin Anja Nioduschewski im Gespräch über linke Cancel Culture, rechten Bedrohungswahn und das Abdriften des demokratischen Diskurses in einen Kulturkampf

protagonisten

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Christine Wahl Liebes Prekariat, kauft Bio! Neue Stücke schärfen den Blick auf die alte soziale Frage: Premierenberichte aus Stuttgart, Leipzig, Berlin und Dresden

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Bodo Blitz Einmal Welt, bitte Intendantin Karin Becker und ihr Team wagen bei ihrem Neustart in Konstanz die direkte Konfrontation über das Spiel mit der eigenen Existenz

kolumne

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Ralph Hammerthaler Madame 100 000 Volt Lazy Hazel, wer? Über die Schauspielerin Susanne Jansen

festivals

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Sascha Westphal Brauchse Jobb? Das Favoriten-Festival 2020 in Dortmund zeigt die Licht- und Schattenseiten von bezahlter und unbezahlter Arbeit

abschied

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Renate Klett Kosmopolitin, Kettenraucherin, Kunstkennerin In Erinnerung an die Kuratorin und Festivaldirektorin Frie Leysen

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Thomas Wieck Geht mir aus dem Weg auf dem Weg zur Rampe Dem Schauspieler Michael Gwisdek zum Gedenken

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inhalt

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look out

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Friederike Felbeck Luxus und Anarchie Die Inszenierungen von Charlotte Sprenger sind ästhetische Individualistinnen – sie leben von der Freiheit der Möglichkeiten

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Theresa Schütz Technik in Frauenhänden Das feministische Performancekollektiv Swoosh Lieu feiert die Produktionsmaschine Theater mit all ihren Störungen

neuerscheinungen theater der zeitbuchverlag

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gerade jetzt – eben nicht Ein Telefonat zwischen Thomas Oberender und Jonas Zipf

auftritt

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Freiburg „Elektra“ von Sophokles in der Regie von Malgorzata Warsicka (Bodo Blitz) Gießen „Erinnya“ von Clemens J. Setz in der Regie von Titus Georgi (Shirin Sojitrawalla) Karlsruhe „Die neuen Todsünden“ (UA) von Angeliki Darlasi, Elise Schmit, Maryam Zaree, Sivan Ben Yishai, Marina Davydova, Liv Strömquist und Larisa Faber in der Regie von Anna Bergmann (Elisabeth Maier) Linz „Die Sedierten“ (UA) von Martin Plattner in der Regie von Stephan Suschke (Margarete Affenzeller) Magdeburg „Tod der Treuhand“ (UA) von Carolin Millner (Thomas Irmer) Memmingen „Die blaue Stille“ (UA) von Maya Arad Yasur in der Regie von Sapir Heller (Dietmar Bruckner) München / Nürnberg „Das Erdbeben in Chili“ von Heinrich von Kleist in der Regie von Ulrich Rasche und Jan Philipp Gloger (Christoph Leibold) Oberhausen „Herkunft“ (UA) von Saša Stanišić in der Regie von Sascha Hawemann (Sascha Westphal) Zürich „Das Wähnen (Das Weinen)“ nach Dieter Roth in der Regie von Christoph Marthaler (Shirin Sojitrawalla)

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Shirin Sojitrawalla Wozu streiten? Morgen seid ihr kalt! Die Schriftstellerin Zsuzsa Bánk hat ihr erstes Theaterstück geschrieben: Der Monolog „Alles ist groß“ handelt von einem Grabmacher, enttabuisiert den Tod und feiert das Leben

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Zsuzsa Bánk Alles ist groß

magazin

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Bye one – leave one free! Ein epochaler Bruch: Olaf Nicolais Plakatkampagne für die Berliner Schaubühne Unerwartete Aufsässigkeit Das dritte Bautzener Festival „Willkommen anderswo“ zeigt das beachtliche Niveau der Jugendbühnen

aktuell

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Meldungen

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Premieren im November 2020

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TdZ on Tour in Berlin und Bochum

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Tuğsal Moğul im Gespräch mit Natalie Fingerhut

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stück

was macht das theater?

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Titelfoto Collage von Gudrun Hommers

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Choreografien von Germaine Acogny: „Somewhere at the Beginning“ (links, gemeinsam entwickelt mit Mikaël Serre, 2015) und „Afro-dites“ (rechts, Kompanie Jant-Bi, 2012). Fotos Thomas Dorn




Choreografien von Germaine Acogny: „Fagaala” (links, gemeinsam entwickelt mit Kota Yamazaki, 2004) und „Songbook Yakaar“ (rechts, 2010). Fotos Thomas Dorn


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Afrika sprich Wild, fordernd, voller Poesie – Über die Mutter des modernen afrikanischen Tanzes Germaine Acogny

von Renate Klett

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ie ist eine Ikone, a living legend, verehrt, bewundert und gefürchtet. Germaine Acogny, Mutter des modernen afrikanischen Tanzes, hat mit ihrer École des Sables, in Senegals Hauptstadt ­Dakar gelegen, Tanzgeschichte geschrieben – und tut es noch ­heute. Wenn man über sie erzählen will, weiß man nicht, wo ­beginnen bei diesem verrückten Leben zwischen Kontinenten, Stilen und Befindlichkeiten. Vielleicht am besten mit ihrer geliebten Großmutter Alofa, einer animistischen Priesterin aus Benin. Acogny sieht sich als deren Reinkarnation, und deshalb weiß sie um die Rituale der Yoruba. Sie erleuchten und beschützen sie und alle, mit denen sie sie teilt. Als ich nach einwöchigem Recherchebesuch die École verlasse, schenkt sie mir ein kleines privates Reiseritual, indem sie meinen Heimweg mit Wasser auf den Sand markiert. Es macht uns beide glücklich und verbindet uns bis heute. Germaine besitzt die Fähigkeit, die Balance zwischen Europa und Afrika so zu halten, dass sich beide Welten gegenseitig ­befruchten. Daraus zieht sie ihre Kraft und Unabhängigkeit. Es hilft ihr, die Widersprüche in Kreativität zu verwandeln. Sie lebt

mit ihrem deutschen Mann Helmut Vogt vorwiegend in Frankreich, doch die alte Heimat ruft sie regelmäßig zurück. Von 1977 bis 1982 leitet sie die Tanzschule Mudra II in Dakar. Maurice Béjart, Direktor der École Mudra in Brüssel, wollte ein afrikanisches Pendant zu seiner berühmten Schule schaffen. Bei der Eröffnung erklärt er: „Germaine Acogny wird meine Idee verwirklichen, aber ganz anders als ich.“ Und genau das tut sie – jahrzehntelang, sehr anders, sehr afrikanisch, sehr wunderbar. Als Staatspräsident Léopold Sédar Senghor, Mitbegründer der Mudra Afrique und großherziger Förderer der Künste, in den Ruhestand tritt, werden die finanziellen Mittel für die Schule drastisch gekürzt, 1985 wird sie geschlossen. Germaine Acogny und Helmut Vogt wollen eine neue, eigene Schule gründen und kämpfen zäh und unermüdlich dafür, zunächst in Toulouse, später in Senegal. 1996 schließlich können sie ein großes Stück Land am Meer erwerben, sechzig Kilometer südlich von Dakar, in der Nähe des Dorfes Toubab Dialaw. Und dann beginnen sie – zwei Schritte vor, einen zurück – sich ihren Lebens­ traum regelrecht zusammenzubetteln: bei europäischen und

Die Martha Graham Afrikas – Germaine Acogny in „Songbook Yakaar“ (2010). Foto Thomas Dorn


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nordamerikanischen Kulturstiftungen, privaten Freunden und diversen ausländischen Botschaften. Seit 1998 unterrichten sie auf dem Grundstück, im Sand, ohne Infrastruktur und Ausstattung, aber in einer herrlichen Landschaft. 2004 wird die École des Sables offiziell eröffnet, obwohl sie noch lange nicht fertig ist. Heute erinnert dort nichts mehr an die rauen Anfangsjahre, doch den Charme des Improvisierten hat sie sich gottlob bewahrt. ­Sicher ist sie eine der attraktivsten Tanzschulen der Welt: ein Künstlerdorf mit zwei Zeltbühnen inmitten einer Landschaft aus Sand, Fels, Meer und Baobab. Die Architektur ist einfach und schön, mutet afrikanisch an, ohne folkloristisch zu sein. Germaine Acogny teilt sich das Unterrichten inzwischen mit ihrem Sohn Patrick Acogny, der seit 2015 auch Leiter der Schule ist. Sie hat eine eigene Tanzsprache erfunden, die europäische Moderne, afrikanische Tradition und zeitgenössischen Geist zusammenwirbelt und ihresgleichen sucht. Ihre Methode geht immer von der Wirbelsäule aus, die sie „die Schlange des Lebens“ nennt, und besteht aus kodifizierten Bewegungen mit Namen wie „der Hirsch“, „das Perlhuhn“ oder „der Baum“. Kontraktionen und Vibra­tionen sind wichtig, auch Wellenbewegungen und die Verwurzelung im Boden als Voraussetzung für das Sich-aufrichten-Können des Körpers. Mit ihrer Tanzkompanie Jant-Bi hat die Martha Graham Afrikas der Welt gezeigt, wie sich Gegensätze vereinen und Erkenntnisse relativieren lassen. (Jant-Bi ist Wolof, die Nationalsprache des Senegal, und bedeutet „die Sonne“). 1998 gegründet, ist die Gruppe zunächst eine reine Männer-, später eine reine Frauenkompanie. Germaine Acogny arbeitet gern mit Choreografen aus anderen Kulturen zusammen, so 1999 mit Susanne Linke bei „Le coq est mort“ oder Kota Yamazaki bei „Fagaala“ (2004). Die Formen des deutschen Tanztheaters oder des japanischen Butoh mit der afrikanischen Tradition zu verbinden, ist ein kühnes Experiment, bei dem beide Seiten viel lernen können. „Der Hahn ist tot“ beschäftigt sich mit diversen Facetten der Macht, von plump körperlicher bis zu hoch geistiger oder auch angemaßter Macht, mit schwarzer Energie, die „zivilisiert“ wird, und mit den gegenseitigen Klischees zweier Kulturen, die aufeinanderprallen. „Fagaala“ wiederum stellt die Frage des Weiterlebens nach dem Völkermord in Ruanda. Es versucht erst gar nicht, das Unfassbare fassbar zu machen, stattdessen will es Schönheit, Liebe und Humor nach der Katastrophe und gegen die Katastrophe neu erfinden. Die riskante Gratwanderung gelingt – „Fagaala“ tourte jahrelang um die Welt und gewann 2007 den renommierten ­Bessie Award in New York für die beste Tanzaufführung. 2012 hat „Afro-dites“ der Frauengruppe Premiere, dessen Titel mit dem Namen der Liebesgöttin und der assoziierten Bedeutung „Afrika sprich“ spielt. Die Tänzerinnen zeigen ihr Leben mit seinen komischen, aber auch schrecklichen Seiten, sie sprechen von Einsamkeit und Unterdrückung, Trauer und Stolz und von ihrer unbändigen Lebenslust. Es sind starke Frauen, großartige Performerinnen. Sie klagen an, leiden und bäumen sich auf, reißen das Publikum mit hinein in ihre Kämpfe. Choreografiert von Germaine und Patrick Acogny ist dies ein Abend, der einen so schnell nicht wieder loslässt. „Les éscailles de la mémoire (The scales of memory)“ ist eine Zusammenarbeit von Jant-Bi Hommes, also der Männergruppe, und Urban Bush Women aus New York. Germaine Acog-

germaine acogny

ny und Jawole Willa Jo Zollar, die Gründerin von Urban Bush­ Women, verbinden darin die Geschichten, Erfahrungen und Erinnerungen zwischen Afrika und den Vereinigten Staaten zu einer schwarzen Identitätssuche. Die sieben Frauen und sieben Männer ziehen ihre Kraft und Inspiration aus den Gegensätzen und Gemeinsamkeiten ihrer Biografien und küren den Dreiklang ­ ­Widerstand, Erinnerung und Liebe zum Thema des Stücks, das zahlreiche Tourneen absolvierte. Emotional und voller Poesie, wild, fordernd und großartig getanzt. Acogny, die auch auf der Liste der einhundert wichtigsten afrikanischen Persönlichkeiten steht, hat neben ihrer Lehrtätigkeit immer auch choreografiert und getanzt. Berühmt ist ihr Solo „Somewhere at the Beginning“, das sie 2015 gemeinsam mit dem deutsch-französischen Theaterregisseur Mikaël Serre entwickelt. Sie beschreibt darin zwei Biografien, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die ihres Vaters und ihre eigene. Der Vater identi­ fizierte sich mit den französischen Kolonialherren, für die er ­arbeitete, und distanzierte sich von der afrikanischen Kultur, in der Germaine hingegen all das fand, was ihr Leben bestimmte. Sie erzähltanzt diese Geschichte, indem sie mit glatt rasiertem Schädel und vehementer Präsenz über die Bühne tobt. Kraft und Ausdauer der nunmehr über Siebzigjährigen sind bewundernswert – man hängt an ihren Lippen, Händen, Füßen, Augen, ist begeistert von ihrem Elan, ihrer Würde und von ihrem Afrika. Maurice Béjart wollte immer „Le sacre du printemps“ mit Germaine Acogny choreografieren, aber irgendwie kam es nie dazu. Jahrzehnte später, im Rahmen des hundertjährigen Jubiläums von Igor Strawinskys Meisterwerk, entschließt sich der französische Choreograf Olivier Dubois, eine der zwölf Versionen, die er dazu plante, als Acogny-Solo zu verwirklichen. „Mon élue noire“ dauert nur eine halbe Stunde und ist unvergesslich. Weil Acogny wirklich eine Auserwählte ist, die in ihrem hölzernen Turm sitzt wie auf einem Thron, dabei ihre Pfeife schmaucht wie zu Hause und mit kleinen, präzis gesetzten Gesten und einer magischen Bühnenpräsenz das Publikum in ihren Bann schlägt – eine siegreiche Königin, kein Opfer. Das Stück lässt sie auch weiterhin nicht mehr los. Gemeinsam mit Malou Airaudo, einst Tänzerin bei Pina Bausch, später Dozentin an der Folkwangschule Essen, adaptiert sie Bauschs legen­däre Choreografie des „Sacre“ für 37 TänzerInnen aus 14 afrikanischen Ländern. Die Premiere sollte am 9. April 2020 in Wuppertal sein, gefolgt von einer Tournee durch halb Europa. Wegen Corona fand nichts davon statt. Aber es gibt eine Videoaufzeichnung von der ­Generalprobe in Senegal. Bei Pina wurde auf schwarzer Erde getanzt, hier nun auf weißem Sand vor dem Hintergrund des Meeres. Die afrikanische Version erscheint wilder, ausgreifender als ­damals, die Akteure verknäulen sich immer wieder zu dichten Menschenpulks. Sie stampfen im Sand, reißen die Arme hoch, schreien, springen im Kreis und steigern sich in eine bedrohliche Trance. Die Männer agieren meist als Gruppe, die jungen Frauen sind individualisiert. Sie werfen einander ein rotes Kleid zu, das sie zittern macht oder stoisch. Der Todestanz des Opfers ist erschütternd wie immer. Es ist eine kraftvolle, rasend schnelle Aufführung. Wenn sie endlich gezeigt werden kann, wird das Stück die Welt erobern. „Common Ground(s)“ heißt der Abend, dessen erster Teil ein getanzter Dialog von Germaine Acogny und Malou Airaudo ist. Den gibt’s leider nicht auf Video, also bleibt noch viel zu entdecken. //

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Form folgt Funktion. Nimmt man diesen Leitsatz aus der Architektur, muss die Funktion der Theatergebäude, die derzeit in Deutschland gebaut oder geplant werden, spektakulär sein. Trotzig und kraftvoll behaupten sich das neue Münchner Volkstheater sowie die Entwürfe für das Volkstheater Rostock und die Bühnen Frankfurt gegen jegliche Corona-Sparkrise. Aber bietet ein Neubau nicht auch die Chance, das Innere der ­Institution neu zu denken? Welche Theaterräume braucht eine Stadt des 21. Jahr­hun­ derts? Ein Schwerpunkt über Theater und Architektur mit dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie, dem Künstler Tino Sehgal, dem Architekten Konstanin Jaspert und der ­Direktorin der Stadtbibliothek Köln Hannelore Vogt.


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theater und architektur

Die Baumeister sind wir Über die Diskussionen um einen Theaterneubau in Frankfurt am Main und die Idee eines Bürgerkonvents – Ein Essay

von Claus Leggewie

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nfang September, die Frankfurter Theaterferien sind offi­ ziell zu Ende, noch bleibt die Glasfassade des Doppelhauses von Oper und Schauspiel am Abend dunkel. Ein Banner beschwört Vielfalt am Main: „47 Nationen unter einem Dach. Für eine weltoffene Gesellschaft ohne Rassismus.“ Drinnen wird eifrig geprobt, die Spielzeit beginnt mit einem todsicheren Shakespeare, „Wie es euch gefällt“ (Regie David Bösch), mit Sarah Kanes „Gier“ im heimer Depot, einer Heinrich-Heine-Skizze, „DeutschBocken­ land 2020“, in der Box und mit der Fortsetzung der „Stimmen einer Stadt“, bei der einheimische Autoren Frankfurter Lebens­ geschichten auf die Bühne bringen (siehe Stückabdruck S. 60). Nicht nur wegen der Corona-Pandemie fragen sich Theaterschaffende und Publikum, wie es weitergehen soll. Denn die ­Bausubstanz beider Häuser ist marode. Energetisch sind sie im Winter Emissionsschleudern und im Sommer Hitzespeicher, die Technik ist veraltet. Seit Monaten werden Neu- oder Umbaupläne kontrovers diskutiert, vor allem der Standort der Häuser: Renoviert am alten Ort oder Neubauten schräg gegenüber im Herzen der Stadt oder draußen am Osthafen? Zehn Jahre Bauzeit und eine Milliarde Baukosten müssen einkalkuliert werden, doch die Pandemie kann Zeitpläne und Finanzierung durcheinanderwerfen. Im Frühjahr 2021 stehen nach Kommunalwahlen neue politische Konstellationen an, nachdem sich Rot-Schwarz-Grün über den Standort nicht einig wurde. Die Intendanten fahren erst einmal auf Sicht, in der bangen Hoffnung, dass das Publikum treu bleibt und der alltägliche Betrieb durchhält. Und dass man junge Menschen ins Theater locken kann.

So oder doch ganz anders? – Seite 10 bis 14: Entwurf der Architekten Gerkan, Marg und Partner für die Oper und das Schauspiel Frankfurt. Fotos gmp · Architekten Gerkan, Marg und Partner

Theater der Zukunft Rund 6000 Personen aus der ganzen Republik haben eine Peti­ tion des Architekten Philip Oswalt für die Erhaltung der Bühnen am alten Platz unterzeichnet (siehe auch TdZ 04/2020). Mit dem Abriss der 1958 eröffneten Spielstätten sehen sie die Erinnerung an jahrzehntelange Theaterarbeit gelöscht. Wichtiger: Sie mahnen eine Debatte darüber an, welche Art von Theater eine rasant gewachsene und sich ebenso rasch wandelnde Stadtgesellschaft benötigen wird. Statt grundsätzlich zu werden, fragt man am besten erst einmal deren Repräsentanten, zum Beispiel eine Familie aus dem Vorort Hattersheim: Jeannette K., Planerin in einem großen Frankfurter Wirtschaftsbetrieb, wünscht sich weiterhin „große“ Theaterabende, das gehört für sie einfach zur Urbanität. Sie mag kein Repräsentationsgewese, lieber Autorenlesungen, politische Debatten und Stücke zum Zeitgeschehen. Ihr Mann goutiert auch die Pausenkanapees und ist gern eine halbe Stunde früher da, um die summende Atmosphäre aufzusaugen, bevor der Vorhang hoch­ geht. Ihre aufgeweckte Tochter (15) können sie nur schwer dahin bewegen. Theater, das ist für sie: gestelzte Texte, undurchschau­ bare Regieeinfälle, viele alte Leute. In der Tat liegt das Durchschnittsalter der Abonnenten bei sechzig, der Zuschauerschnitt bei fünfzig Jahren. Dabei bemühen sich die Bühnen intensiv um die Jüngeren, doch ausgerechnet das Projekt „All Our Futures“, das zuletzt 220 Kinder und Jugendliche aus allen Schulen und Stadtteilen ins Theater gelockt hat, ist dem Lockdown zum Opfer gefallen. Und die ganz Kleinen, die Weihnachtsstücke in die Bühnenwelt hineingezogen haben, könnten dieses Jahr leer ausgehen. Gretchenfrage: Braucht man überhaupt noch (ein) „großes“ Theater? Frankfurt hat zwei Dutzend kleinere und mittlere Bühnen: den zuverlässig avantgardistischen Mousonturm und das English Theatre, volkstümliche wie das Fritz Rémond Theater, die Komödie und die Volksbühne. Rund fünfzig freie Theatertruppen nutzen Off-Spielstätten wie die Landungsbrücken am Westhafen, das Gallustheater und die Naxoshallen, in denen der aus der ­Jugendbildung kommende Willy Praml derzeit „Antigone“ gibt.

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Gespielt wird in Bürgerhäusern, in der Brotfabrik Hausen, im ­Fechenheimer Industriegebiet, im Palmengarten und natürlich in der Alten Oper, dem letzten Renovierungsprojekt vor über dreißig Jahren. „Was, wenn man in zehn Jahren den letzten Schrei eingebaut hat – plötzlich aber feststellt, dass man eigentlich ein weniger perfektes Theater bräuchte?“, stichelt eine Bühnentechnikerin. Schauspielintendant Anselm Weber schüttelt den Kopf. Er sieht sich zuvörderst als Verteidiger der 1200 Beschäftigten, die das Theater als Arbeits- und Lebensraum Tag für Tag bevölkern und dort Handwerke ausüben, die der Gesellschaft längst abhan­ dengekommen sind: Hutmacher und Rüstmeister zum Beispiel. Weber wünscht sich das Theater der Zukunft kooperativ, politisch, offen für neue Zielgruppen. Als Beispiel der vergangenen Saison nennt er „Chinchilla Arschloch, waswas“, das TouretteStück von Helgard Haug (Rimini Protokoll) über Kontrollverlust, eine Koproduk­tion mit dem Mousonturm. Für die laufende S ­ aison hebt Weber „10 odd emotions“ der israelischen Choreografin Saar Magal hervor, eine Koproduktion mit der Dresden Frankfurt Dance Company. Auch Kooperationen mit der freien Szene soll es geben. Das hört man gerne bei ID_Frankfurt, der „Assoziation freischaffender Künstler*innen, Theoretiker*innen und Vermit­t­ ler*innen“, die einen Mangel an Probe- und Aufführungsräumen für Tanz und Performance sieht. „Räume und Infrastrukturen der städtischen Bühnen nutzen zu können und gemeinsam teamorien­ tierte Leitungsstrukturen zu entwickeln“, darin sähen Dramaturgin ­Mareike Uhl und Choreografin Hannah Dewor eine gute Gelegenheit, wie sich freie Szene und große Häuser annähern und vonein­ ander lernen könnten – über bereits erfolgte Versuche wie an den Münchner Kammerspielen unter Matthias Lilienthal oder bestehende Programme wie den Fonds Doppelpass der Kulturstiftung

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des Bundes hinaus. Das könnte im Theateralltag mächtig knirschen. Letztlich strebt die freie Szene ein eigenes Haus an, wie der Performer Jacob Bussmann unterstreicht, ein „transparent geleitetes Produktions- und Aufführungszentrum für die l­okalen Künstler*innen, in dem dezentrale und variable Formate des Thea­ters der Zukunft fest angesiedelt sein sollen“. Judith von Sternburg, erfahrene Opern- und Theaterkritikerin der Frankfurter Rundschau, warnt vor small is beautiful: Wenn das Raffinement ausgefeilter Bühnentechnik wegfiele, würden die meisten Zuschauer sehr bald etwas vermissen. Doch man müsste mehr Stücke wagen, die junge Menschen durch genau die kräftige Körperlichkeit, Lakonie und tänzerische Selbstinszenierung zu packen verstehen, die sie von Youtube und Tiktok kennen. Den größten Mangel sieht sie in der Abwesenheit fast aller der an der Fassade plakatierten Nationen im Inneren der Häuser: Die dezidiert multikulturelle Stadt (zwei Drittel der Jugendlichen kommen aus Migrantenfamilien) erscheint auf der Bühne wie auf den Rängen eher monokulturell. Tamara Marszalkowski, Theater­ rezensentin des Journals Frankfurt, das sich an hippe und junge Kundschaft wendet, sieht in Eric de Vroedts „The Nation“ im Erzählstil von Netflix einen (noch nicht ganz gelungenen) Versuch, sich an Serienformate und Sichtweisen Jüngerer heranzutasten, die über Computerspiele und soziale Medien sozialisiert worden sind und denen Frankfurt als Theaterstadt wenig sagt. Auch Intendant Weber definiert Angebote an jüngere Zuschauer nicht als freiwillige add-ons, sondern will sie dauerhaft etablieren. „Das Theater muss eine Tangente für alle Themen und Milieus der Stadtgesellschaft werden.“ Der Patronatsverein der Bühnen mit 1200 Mitgliedern treibt in der südhessischen haute volée spendable Förderer auf. Ge-


theater und architektur

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schäftsführer Andreas Hübner, von Beruf Asset-Manager, wünscht sich auch keine Theatertrutzburg, aber ein Haus, möglichst in ­einer neuen Kulturmeile der Innenstadt, das den Zeitgeist mit avancierter Technik zu erstklassiger Kunst verbindet. Frankfurt ist für den beruflich Weitgereisten die „perfekte internationale Stadt“, die „Hochkultur auf kleinstmöglichem Raum“ kann, ohne ihre ­lokalen Wurzeln zu verleugnen, also: 1848 und die 68er, Äbbelwoi und Zentralbank, das jüdische Erbe und die US-amerikanische Prägung nach dem Krieg. Nostalgie indes ist fehl am Platze, wenn gerade eine halbe Milliarde Gewerbesteuern wegbrechen und mit der Messe, den Banken und dem Flughafen gleich drei Pfeiler der südhessischen Dienstleistungswirtschaft angeknackst sind. Eine Zuspitzung sozialer Konflikte könnte die Folge sein.

Form und Inhalt Schauspieler und Techniker, Stückeschreiber und Dramaturgen bildet vor Ort die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst aus, an der Hans-Ulrich Becker den Studiengang Regie leitet. Ihm bietet der Nachwuchs kein einheitliches Bild, manche liefern unter dem Label „postdramatisch“ eher Vorgestanztes und Erwart­ bares ab und stellen politisch Korrektes gegen jegliche Mimesis, die für Becker das Alleinstellungsmerkmal des Theatermediums ausmacht. Aber mit dem alten Repertoiretheater kann man auch nicht fortfahren. Becker schweben mehr stagione, ein „ärmeres Theater“ vor, auch an „Un-Plätzen“ bis in die Peripherie. Björn Auftrag, Regisseur, Sounddesigner und Choreograf, der gemeinsam mit Stefanie Lorey auch am Schauspiel Frankfurt inszeniert hat, macht sich für Projekte am Übergang von Theater, Performance und Installation stark. Den konventionellen Spielplan erweitert er um eine forschende Perspektive, um mit dem Publikum herauszufinden, was Theater ist und vor ­allem: was nur das Theater kann. Weniger Repertoire und mehr Experimente, die auch scheitern dürfen. Dazu müsste der geschlossene Raum durchlässig, der Probenprozess und die ­ ­Gewerke, die im Theater (und für dieses) zusammenkommen, zugänglich und nicht nur an „Tagen der offenen Tür“ sichtbar werden. Auftrag ist Absolvent der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, die von Heiner Goebbels geprägt wurde. Dem Frankfurter Komponisten war Oswalts Bürger-Petition zu rückwärtsgewandt: „Ich habe nichts dagegen, wenn Theater und Oper als Museum ihrer institutionalisierten und eurozentrierten Kulturgeschichte (und das ist schon ein Euphemismus bei der Ausschließlichkeit der deutschen Sprache im Theater) erhalten blieben, wenn daneben auch Alternativen, zeitgenössische und zukünftige Produktionsweisen eine realistische Chance haben – und zwar in derselben Budgetliga, in der man derzeit die ‚Zauberflöte‘ oder den ‚Faust‘ inszeniert.“ Dem Publikum müsse man – auch nach Corona – nicht Vertrautheit, Wiedererkennung und ein heimeliges Gemeinschaftsgefühl versprechen, sondern vielmehr das Fremde und die ganze Intensität künstlerischer Erfahrung. „Berührt und erschüttert wird man nicht im Genuss des Gewohnten, sondern in der individuellen Konfrontation von etwas, mit dem man nicht gerechnet hat.“ René Pollesch, ebenfalls ein Absolvent der Gießener Schule, hat in seinem gerade am Deutschen

Theater in Berlin inszenierten Stück „Melissa kriegt alles“ dem Schauspieler Martin Wuttke ein Stichwort in den Mund gelegt: Man müsste den Bauplan des Theaters mal von oben einsehen können! Zum Verhältnis von Form und Inhalt machte Simon Strauß, Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, jüngst eine steile Alternative zur Zukunft des Theaters auf: Geht es zuvörderst um Wokeness oder um Wohnraum? Aktivisten probieren auf der Bühne soziale und politische Verfahrensweisen aus und wollen aktiv daran mitwirken, „die Welt zu einem besseren Ort zu machen“ (Florian Malzacher). Dagegen hält Jakob Hayner: „Eine Verschmelzung von Ästhetischem und Ethischem wird weder dem einen noch dem anderen gerecht. Ethik fordert unmittelbares Handeln, wovon Kunst konstitutiv getrennt ist. Eine Einheit aus beiden führt zu ihrer gegenseitigen Neutralisierung und einer Ersatzhandlung im schlechtesten Sinne. Statt zu einer Ausweitung ethischen Verhaltens kommt es zu einer Überführung in das ­Reservat der Kunst, wo es in der Trennung von Welt unberührt genossen werden kann.“ Wobei umstritten ist, was im Theater ­Repräsentation überhaupt noch heißen soll: Bedeutet es, die Stimmen aller gleichberechtigt zu Gehör und Gesicht zu bringen, oder jenseits solcher Differenzerfahrungen ein universales Interesse zu entwickeln? Die Bandbreite der Erwartungen zwischen kleinteiliger Identitätspolitik und humanitärem Universalismus an das Theater von morgen ist erwartungsgemäß riesig. Viele Gesprächs­ partner wollen schlicht das Gewohnte zurück: beste Sänger und Schauspieler, Dirigenten, Regisseure, keine Monologe auf leeren Bühnen oder Opern mit kleinem Orchester. Wenige Normalverbraucher trauen sich, Ansprüche an die Theatergewaltigen heranzutragen, wie Christian Holl, Landessekretär des Bundes Deutscher Architekten in Frankfurt: „Von einem Theater und von einer Oper im 21. Jahrhundert wünsche ich mir, dass es mich überrascht, herausfordert und anregt. Ich wünsche mir, dass es die Konflikte, die sich im Stoff verbergen, befragt und in einer Form sichtbar macht, die sie nicht erklärt. Ich wünsche mir ein Theater, das von der Lust am Raum und an der Sprache getragen ist. Ein Theater, dem ich glauben darf, dass es sich um die Zuhörerschaft bemüht, die ihm auch in 30 Jahren noch treu sein kann. Und schließlich wünsche ich mir von einem Theater der Gegenwart, dass es sich selbst die Chance gibt, etwas von der Welt, zu der es sich verhält, zu lernen, indem es den Austausch mit ihr abseits der Wege und Orte sucht, wo ihm der routinierte Zugang zum vermeintlich Bekannten schwer gemacht wird.“

Mobile Spielräume Dagegen spricht nicht, dass man dergleichen schon 1978 lesen konnte: „Ein Theater, in dem man sich nicht aufregen kann, ist ein totes Theater. Ein Theater, das seine Zuschauer aufregt, schafft Kommunikation, ist lebendiges Theater. Da unterhalten sich die Leute.“ Der Satz stammt von Karlheinz Braun, in den 1960er Jahren Leiter der Theaterabteilung des Suhrkamp Verlags, Mitgründer des Verlags der Autoren und des experimenta-Festivals 1–5 (legendär eröffnet mit Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“), Inspirator des ruhmreichen Frankfurter Theaters am

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Turm (TAT) und kurze Zeit auch „Drittel-Intendant“ des seinerzeit mitbestimmten Schauspiels. In einem Band mit dem programmatischen Titel „Mobiler Spielraum“ verfasste er schon 1970 eine gesalzene Kritik damaliger Neubauten (wie des Düsseldorfer Schauspiels): „Wer sie betritt, muss die Wirklichkeit draußen lassen, tritt ein in einen abgezirkelten Bereich, der Heil verspricht, Geborgenheit. Was versprochen wird, ist kostbar. Dieses ganz und gar monofunktionale Gebäude könnte, wäre es nicht schon Stadttheater, nur noch zur Kirche dienen.“ Kirchen wie Theater haben ihre Stellung längst eingebüßt, doch Brauns Idee mobiler multimedialer Räume sollte man im Kopf behalten und aktualisieren. Im Mousonturm hat Intendant Matthias Pees die Black Box ge­rade coronagerecht in einen runden Lehmbau verwandelt, aus dessen Fenstern 38 Zuschauer paarweise auf die Spielfläche schauen – ein Globe Theatre in ­Zeiten der Pandemie. Oder man geht mit Rimini Protokoll an die frische Luft, wie 2016, als fünfzig mit Kopfhörern ausgestattete Menschen in „Remote X“ durch die Stadtlandschaft gelenkt wurden. Da niemand ganz genau wissen kann, wie mobile Spiel­ räume morgen aussehen, schlägt Braun noch für dieses Jahr die Einrichtung eines Konvents von Theaterschaffenden, Baumeistern und Stadtplanern vor, die im Dialog mit einem Querschnitt Theaterinteressierter (und Theaterabstinenzler) intensiv über die beste Form für das Theater der Zukunft nachdenken. Katharina Liesenberg, die an der TU Darmstadt Demokratietheorie lehrt und in Frankfurt die Initiative „mehr als wählen“ und einen Bürgerrat ins Leben gerufen hat, schlägt zur Rekrutierung eine aufsuchende Methode über lokale Medien, die Kanäle der Bühnen selbst und via soziale Medien vor. Mit analogen Vorhaben wie Julia Wisserts

„Programmbeirat für Bürger:innen“ am Schauspiel Dortmund muss man jedenfalls sorgfältig umgehen, damit sie keine Rohrkrepierer werden und die Beteiligungsidee verbrennen. Die Frage „Welches Theater wünschen Sie sich?“ dürfte bei kundiger Moderation, Ausdauer und Rückbindung der Ergebnisse an die Entscheider aber ernsthafter und gründlicher durchdacht werden als bei der Volksabstimmung, die Micha Brumlik, der ehemalige ­Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, angeregt hat, bei der womöglich ein in linken wie rechten Kreisen grassierender Affekt gegen die Kultureliten obsiegen könnte.

Vorhang auf und alle Fragen offen An welchem Standort auch immer: Wünschenswert ist ein doppelt nachhaltiger Theaterkomplex, der zum einen Klima und Umwelt schont und zum anderen in eine soziale Welt passt, die wohl eine ganz andere und vermutlich härtere sein wird. Ein Ort, an den auch „Theaterferne“ gerne gehen, fast rund um die Uhr, mit Buchladen und Mediathek, Clubs und Kaffeehaus, coworking spaces und offenen Werkstätten. Solchen Ansprüchen einer erweiterten Öffentlichkeit muss – nach der altbewährten Architektenweisheit form follows function – die Gestalt der neuen Theater gehorchen. Der demokratische Effekt wäre, das Theater durch eine öffentliche Debatte über seine möglichen Ziele ins Zentrum der Stadtöffentlichkeit zurückzuholen und dabei Spielformen zu probieren, die 2030 und danach up to date sein mögen. Vermutlich werden sie kleinräumiger und experimenteller sein, in die Peripherie ausgreifen und jede Menge Improvisation erfordern. Und hoffentlich so offen sein, wie es die Glasfassade mit der WolkenDeckenskulptur schon 1958 versprochen hat. //


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Schweigende Zeugen Der Architekt Konstantin Jaspert, der Künstler Tino Sehgal und die Direktorin der Stadtbibliothek Köln Hannelore Vogt über Theaterräume des 21. Jahrhunderts im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

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rau Vogt, Herr Sehgal, Herr Jaspert, Anlass unseres Gesprächs sind verschiedene Neubauprojekte im Bereich des Theaters. Im Herbst 2021 ist in München das neue Volkstheater bezugsfertig, Rostock wartet auf den Baustart, nur in Frankfurt am Main wird noch diskutiert, ob nicht auch eine Sanierung der städtischen Büh­ nen denkbar wäre, um den Bestand der traditionsreichen Gebäude zu erhalten. Nun könnte ein baulicher Neuanfang natürlich auch die Chance bieten, das Innere der Institution neu zu denken – als Stadt­ theater einer Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Gelingt das im klassi­ schen Arrangement? Oder sind neue Architekturen vonnöten?

Hannelore Vogt: Lassen Sie mich zunächst aus dem Bereich der Bibliotheken berichten. Auch für den Hauptsitz der Stadtbibliothek Köln wurde ein Neubau geprüft; letztlich entschied sich die Stadt für eine Generalsanierung. Wenngleich wir uns aufgrund steigender Besucherzahlen in den vergangenen Jahren nicht beklagen können, haben wir die Planungen für die Generalsanierung zum Anlass genommen, die Rolle der Bibliothek neu zu denken – und zwar nach dem dänischen Modell der „Four Spaces“. Dieses Modell teilt Kultureinrichtungen in Orte der Inspiration,

Ein Theater wie ein Transformer – Das The Shed in New York kann seine Spielfläche über eine ausfahrbare Hülle quasi verdoppeln. Foto Iwan Baan / The Shed


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Orte des Lernens, Orte des Treffens und Orte der Performance ein. Daraus abgeleitet, beziehen wir die Bürgerinnen und Bürger – unter dem Motto „Explore, Create, Share“ – in unsere Programme mit ein. Lernen erfolgt eben nicht nur aus Büchern oder übers Zuschauen, sondern auch durch eigenes Tun. In speziellen WorkshopFormaten probieren wir ungebremst Neues aus – beispielsweise den Umgang mit neuen Technologien. Vor sieben Jahren war es der 3-D-Drucker, dann die Virtual Reality, dann Robotics – Themen wie Nachhaltigkeit, Klima und Umwelt kamen hinzu. Die Kurse werden von ehrenamtlichen Spezialisten oder von Schülerinnen und Schülern, unseren „Junior Experts“, durchgeführt. Dieser „Space for Performance“ ändert die Rolle unserer Besucherinnen und Besucher hin vom Konsumenten zum Produzenten. „Space for Performance“ – das klingt fast zeitgenössischer als „Stadttheater“. Offenbar war dafür kein Neubau nötig. Vogt: Der Bau ist zunächst nicht der zentrale Punkt. Die Veränderung beginnt in den Köpfen. Wir starteten mit neuen, partizipativen Formaten. Um neue Orte zu gestalten und zu erproben, setzen wir auch das „Design-Thinking“ ein und entwickeln in einem interaktiven Prozess gemeinsam mit der Stadtgesellschaft unsere Planungen. Herr Jaspert, auch für die Neugestaltung der Bühnen Köln war ursprünglich ein Neubau im Gespräch. Sie hatten damals einen sehr spannenden Entwurf ins Rennen geschickt, der das Theater nach außen hin inszenieren und damit öffnen sollte. Sogar die Werkstätten sollten für Passanten öffentlich einsehbar sein. Frau Vogt hat gerade verdeutlicht, wie sich eine Institution auch ohne Neubau reformieren kann. Was halten Sie als Architekt dagegen? Konstantin Jaspert: Grundsätzlich bieten wir als Architekten mit den Gebäuden ja „nur“ die Plattform für kulturelle Veranstaltungen. Wir schaffen „schweigende Zeugen“ dessen, was dort stattfinden soll. Es ist aber immer wichtig, einen Mehrwert durch die Architektur zu generieren, die über die reine Nutzung hinausgeht. Sie haben das Wort geäußert: Inszenierung. Das ist in der Architektur ein wesentlicher Aspekt. Wie führe ich jemanden wo hin? Welchen Mehrwert biete ich, der über die reine Nutzung hinausgeht? Demnach: Ja, es braucht neue Bauten. Ich sage aber: Wir müssen mehr Mut haben. Ich erlebe oft, gerade unter den Kulturschaffenden, dass der Mut fehlt, auch einmal über den Tellerrand zu schauen und eine Nutzung zuzulassen, die neue Formen der Darstellung generiert. Häufig heißt es: Ein Ausstellungsgebäude ist ein Ausstellungsgebäude, da kann sonst nichts stattfinden. Oder: Eine Oper ist eine Oper. Zudem versuchen wir, Räume zu schaffen, die nach außen strahlen. Dazu gehörte damals, dass die Werkstätten Teil des städtischen Lebens werden. Aber auch ungewöhnliche Inszenierungen wie das Stapeln von Räumen in die Höhe hatten wir vorgesehen, sodass ein spannungsvolles Besteigen eines Theaterraumes möglich gewesen wäre, um von dort einen Blick über die Stadt zu haben. Das sind Inszenierungen, die auch Spaß machen – neben der eigentlichen kulturellen Leistung. Mich wundert, dass sich offenbar gerade Theaterleute gegen neue Formate sperren, da sich Theater in seiner Selbstwahrnehmung doch eigentlich als „moderne Agora“ versteht. Mit welcher Be­ gründung werden derartige Entwürfe abgelehnt?

theater und architektur

Konstantin Jaspert, 1961 in Trier geboren, ist seit 2000 Partner und eines von vier Gründungsmitgliedern des Architekturbüros JSWD in Köln. Zuvor arbeitete er bei Schuster Architekten in Düsseldorf und war Partner des Architekturbüros Jaspert & Steffens in Köln. Von 2001 bis 2004 war er Vorstandsmitglied im Bund Deutscher Architekten. Foto Christa Lachenmaier Der deutsch-britische Künstler Tino Sehgal wurde 1976 in London geboren und lebt in Berlin. Seine weltweit gezeigten Werke nennt er „konstruierte ­Situationen“, die nicht dokumentiert werden dürfen. 2018 kuratierte er im Vorfeld der Eröffnung des interdisziplinären Kulturzentrums The Shed in New York das Festival „A Prelude to the Shed“ in Kollaboration mit dem Architekten Kunlé Adeyemi. Foto dpa Hannelore Vogt, geboren 1958 in Marktbreit, ist ­Direk­torin der Stadtbibliothek Köln, die 2015 zur „Bibliothek des Jahres“ ernannt wurde, genauso wie die Stadtbücherei Würzburg, die sie davor ­leitete. Sie ist weltweit als Referentin für Bibliotheksmarketing, Kundenorientierung, Inno­va­tions­ management und Personalentwicklung tätig. Foto Stadtbibliothek Köln

Jaspert: Die damalige Intendantin in Köln, Karin Beier, hatte sich ja im Grunde an die Spitze der Bürgerbewegung gesetzt, die gegen einen Neubau war. Es ging um das Bewahren der alten Bausub­ stanz. Wir können nicht sagen: Jawohl, wir machen alles neu, bewahren aber das Alte, und eigentlich bleibt alles, wie es war. Ich fand es enttäuschend, dass so wenig Pioniergeist da war. Klar, möglicherweise erzeugt das Neue Einschränkungen, mindestens aber Veränderungen. Man kann aber auch etwas gewinnen. Dieser Abwägungsprozess findet meiner Meinung nach zu wenig statt. Mut, Herr Sehgal, ist in Ihrem Fall regelrecht ein künstlerischer Motor. Sie haben 2018 in New York ein s­ pek­takuläres Gebäude miteröffnet: The Shed, ganz bescheiden der Schuppen genannt, in Wahrheit aber eine Multifunktions­halle, die sich wie ein Trans­ former verdoppeln kann, indem sich die Hülle auf Schienen vom Kerngebäude trennt. Hier kann, so scheint es, alles stattfinden, was sich bewegt. Nehmen Sie den Mangel an Mut im deutsch­ sprachigen Theaterraum ebenfalls wahr? Tino Sehgal: Erst einmal finde ich es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass es das Stadttheatersystem nur im deutschsprachigen Raum gibt und ähnliche Förderstrukturen nur in Frankreich. Wir haben es hier also mit einer regional verankerten Kultur zu tun; in New York gibt es streckenweise Theaterkunst mit ähn­ lichem Anspruch, dann aber zumeist unterfinanziert. Ansonsten strukturieren sich Theateraufführungen oft als kommerziell ­orientiertes Entertainment, wie etwa im West End oder am Broadway. Das nur vorneweg als Kontext. Was nun für das herkömmliche Theaterformat und die entsprechenden Bauten spricht, ist, dass wir in einer extrem individualistischen, um nicht zu sagen: der Gefahr der Vereinzelung unter­

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dingt schlimm, persönlich bin ich früher lieber ins Theater gegangen und hatte dort die intensiveren Erlebnisse als in Ausstellungen. Mein künstlerischer Ansatz war dann, Aufführungen zu kreieren, die ein individu­ elleres, weniger vorgegebenes Verhalten seitens der Besucher ermöglichen. Vogt: Theater wie auch Bibliotheken sind ja ursprünglich als monofunktionale Räume gedacht worden. Wenn man ein Gebäude neu plant, ist es deshalb wichtig, dass sich die Institution hinterfragt und neu defiDem Theater bei der Arbeit zuschauen – Der Entwurf von JSWD Architekten für die Bühnen Köln sah vor, Passanten über einen Graben Einblicke in die Werkstätten zu ermöglichen. 2011 entschied sich niert. Auch wir haben ein die Stadt Köln indes gegen einen Neubau und für eine Sanierung. Foto JSWD klassisches Publikum, das die Bibliothek als Ort der Ruhe besucht. Manche sagen etwa, unliegenden ­Gesellschaft leben. Zwar werden uns erst einmal Formate, sere neue Bibliothek im multikulturellen Stadtteil Köln Kalk sähe gar nicht mehr aus wie eine Bibliothek. Es ist aber eine! Wir haben die uns auf eine bestimmte Uhrzeit verpflichten und die auf ein Publikum im Singular, also als Kollektivkörper setzen, tendenziell eben auch ein anderes, oft junges und technikaffines Publikum – beides gilt es auszubalancieren. Mir gefällt der Satz von Willem de immer fremder. Gleichzeitig gibt es aber genau deswegen ein großes Bedürfnis nach Gemeinschaft. Darin liegt die große Chance der Kooning, der an der Kunstakademie in Rotterdam steht: „I have to Theater. Das Problem liegt meines Erachtens in der Rigidität des change to stay the same.“ Die Definition „Dritter Ort“ spielt für uns Formats. Wir leben auch in einer wahlbasierten Gesellschaft. Dieses eine ganz wichtige Rolle. freiheitliche Prinzip spiegelt sich in dem Format einer Bibliothek Sehgal: Das erinnert mich an Orte wie das Kulturzentrum SESC oder einer Ausstellung viel mehr wider: Ich kann kommen, wann ich Pompéia von Lina Bo Bardi oder das neue SESC 24 de Maio in São will. Grundsätzlich gibt es also zwei ganz unterschiedliche Modi: Öff­ Paulo. Dort gibt es Aufführungen, Ausstellungen, Bibliotheken, Leute machen Sport, es gibt einen Zahnarzt, ein Schwimmbad auf nungszeiten (Bibliothek, Ausstellung, Einkaufen) und Verabredung (Konzert, Theater, Kirche), der eine individualisiert und wahl­orien­ dem Dach, und auf einem Stockwerk liegen lediglich Tatami-Matten, einfach nur, um sich auszuruhen. Diese Art von Bauten tiert, der andere kollektiv und mit klareren Verhaltensvorgaben. müsste die Politik stärker fördern. Die Theater, und da würde ich Herrn Jaspert recht geben, müssen sich die Frage stellen, wie sie mehr Diversität in ihren Vogt: Stichwort Öffnungszeiten: Wir differenzieren inzwischen zwischen Servicezeiten und Öffnungszeiten ohne Personal. Die Formaten zulassen könnten. Das heißt nicht, dass unsere ­regio­nale Kultur, wie zum Beispiel das Regietheater, verunmögBesucherinnen und Besucher haben einen RFID-Ausweis und ­ können sich an einigen Standorten die Bibliothek selbst öffnen. licht werden soll. Es muss aber auch klar sein, dass ein jüngeres Früher lagen diese Räume, wenn nicht geöffnet war, einfach brach. Publikum wahrscheinlich weniger getrimmt ist auf die relativ rigiden Formate, in denen alle zur gleichen Zeit anwesend sein müssen, in die gleiche Richtung schauen, nicht sprechen und so weiter, sondern mehr darauf, individualisiert zu wählen. Das ist auch nicht unbe-

Selbstbewusst, elegant und ­sensibel – So betitelte das Preis­gericht den Gewinnerentwurf des Büros Hascher Jehle Archi­ tektur für den Neubau des Volks­ ­theaters Rostock. Bau­beginn soll im Jahr 2023 sein. Foto CtrlViz / München


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Nun fungieren sie als klassischer dritter Ort, als Ort des Aufenthalts und des miteinander Tuns. Jeden Montag, früher ein Schließtag, nutzen nun etwa 1800 Personen die Zentralbibliothek. Das ist ein supergutes Argument, der Politik zu zeigen: Menschen brauchen konsumfreie Orte mit hoher Aufenthaltsqualität in einer Stadt. Ein Problem, mit dem unsere Stadttheater kämpfen, sind tatsäch­ lich die Zugänge. Dabei geht es auch ganz generell um Hemm­ schwellen. Die „Trutzburg“ Stadttheater wird leider eben noch nicht, wie Bibliotheken, von Menschen aller Herkünfte und Klassen besucht. Herr Jaspert, Ihre Entwürfe wollen Gebäude durch Glas­ fronten durchlässiger machen, damit sich auch der Theaterlaie hin­ eintraut. Was könnte die Architektur darüber hinaus beisteuern? Jaspert: Die Architektur muss ja erst einmal die Einladung aussprechen. Das Wahlversprechen, von dem Herr Sehgal sprach, muss dabei schon am Eingang sichtbar sein. Ich kann aussuchen, ob ich in schwindelnde Höhen steige, eine Lounge oder Café betrete, zwischendurch einen Bereich aufsuche, der vielleicht eine Bibliothek bereithält, oder auf direktem Wege in den Theatersaal gehe. Allein das ist eine Inszenierung. Verschlossene Häuser bieten keine Einladung. Das ist auch der Grund, warum man gerne Glas benutzt oder, wie The Shed in New York, eine Bühne bereithält, die sich völlig entkleiden kann. Das ist spannend! Auch ich sage nicht, dass man das klassische Format Theater nicht mehr spielen kann. Aber so wie alle Bereiche des Lebens einer Veränderung unterliegen, müssen zumindest neue Denk­

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modelle zugelassen werden. Die vielfältigen Formate machen in den Bibliotheken, wie Frau Vogt zeigt, den Erfolg aus. Am Schluss ist man als Architekt aber nur der Befehlsempfänger. Wir bekommen eine Beschreibung mit dem Programm: tausend Zuschauer, Hinterbühne, Seitenbühne, Hauptbühne und so weiter. Schon wenn man nur Kleinigkeiten verändert, heißt es oft, nein, das können wir nicht machen, dann kann ich meinen Prospekt nicht hoch genug ziehen, unabhängig davon, was man gewinnen könnte an Alternativinszenierungen. Vogt: Aber der Denkwandel muss in den Häusern passieren und von den Mitarbeitenden gelebt werden. Sie als Architekt sind der Umsetzer dessen, was hier passieren soll. Es gibt von Simon ­Sinek das Buch „Start with Why“. Wofür tun wir es? Das ist die zentrale Frage, unsere Zielsetzungen sind dann nachgeordnet; wir müssen die emotionale Wahrnehmung der Menschen im Blick haben. Wir ermuntern unser Team, Dinge auszuprobieren, auch einmal Unfertiges zu präsentieren, und nicht „ja, aber“ zu denken. Herr Sehgal, auch The Shed will ein Ort für alle Bürgerinnen und Bürger New Yorks sein. Nun liegt dieses Gebäude in den Hudson Yards, einem Viertel der Superreichen. Thomas Hirschhorn ging 2013 mit seinem Gramsci Monument extra in die South Bronx, um mit den Leuten vor Ort Theater zu machen. Kommen bei The Shed wirklich Leute aus ärmeren Vierteln hierher? Sehgal: Die Diskussion, die wir heute haben, ist ja eine, die mit dem Fun Palace von Cedric Price und Joan Littlewood bereits in

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den sechziger Jahren angestoßen wurde. Das Projekt hatte zwar viele prominente Unterstützer, wurde aber letztlich nicht realisiert, wahrscheinlich hat Politik und potenziellen Geldgebern die Idee nicht ausreichend eingeleuchtet. Das ist bis heute so. Auch bei Gebäuden wie dem Centre Pompidou in Paris wird ersichtlich, wie diese Geschichte weiterging. In dem ursprünglichen Entwurf von Renzo Piano und Richard Rogers gab es eigentlich keine ­Wände. Mitte der achtziger Jahre waren es dann sogar die Kuratoren selbst, die wieder feste Wände einzogen und der Pionierleistung der Architekten ein Ende setzten. Tendenzen, die Disziplinen stark abzugrenzen und konventionell zu interpretieren, gibt es auch innerhalb der Belegschaft des Shed. Bei der Volksbühne mit Chris Dercon wurde – vielleicht ein bisschen ungeschickt – der Versuch unternommen, so etwas wie The Shed oder das V-A-C in Moskau oder das OGR in Turin zu etablieren. Aber das ist natürlich mit den vorhandenen institutionellen und architektonischen Strukturen schwer. Damals kam mir zu Ohren, dass die Kostümabteilung unheimlichen Druck gemacht hat, wohl weil ihr die geringe Auftragslage Angst gemacht hat. Realisieren konnten wir so etwas nicht im Shed selbst, sondern im „Prelude to the Shed“, einem viel kleineren Gebäude von Kunlé Adeyemi. Oder man macht es wie Frau Vogt: eine Politik der kleinen Schritte, wo nicht gesagt wird, etwas wird grundsätzlich anders gemacht. Vogt: Beides ist wichtig: kleine Schritte, aber auch große Würfe. Ich sehe das auch nicht als One-Person-Show. Nur wenn ich als Leitung die Kostümabteilung rechtzeitig mitnehme, entwickelt auch die Kostümabteilung eine Dynamik und Flexibilität. Ich bin gerade mit der Sanierungsplanung beschäftigt: in Deutschland extrem schwierig. Es werden Räume bis ins kleinste Detail geplant, lange bevor das Bauen beginnt. Oft ist es dann schwierig, auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Wir haben „White Spots“ im Gebäude definiert, die als eine Art Pop-up-Space gestaltet werden können und leicht veränderbar sind, um zu verhindern, dass sie, 2020 geplant, bei der Eröffnung 2024 bereits nicht mehr bedarfsgerecht sind. Es gilt, in der Festgelegtheit und Vordefinition der Bauordnung etwas mehr Kreativität zu finden. Sehgal: Aber der Wille muss da sein – und sich auch in Budgets zeigen. Pop-up ist ja schön und gut, aber wenn es keine Budgets dafür gibt, ist eine Institution fürs 21. Jahrhundert kaum möglich. Letztlich läuft es auch beim The Shed sehr schlecht, es wurde gleich von mehreren Richtungen angefeindet, auch vonseiten der bildenden Kunst in NYC. Sie haben vorhin das Wort „experimen-

In den Stadtraum eingebunden – Der Entwurf des Münchner Volks­ theaters der Architekten Lederer Ragnarsdóttier Oei. Das Haus soll 2021 bezugsfertig sein. Foto LRO Lederer Ragnarsdóttier Oei

tell“ benutzt, das man auch in Bezug auf Kunst ja schnell verwendet. Aber was heißt experimentelle Kunst? Es heißt auch, dass ein Experiment scheitern kann. Das muss auch ein Politiker aushalten können, das muss eine Leitung aushalten können. Es müssen im Grunde alle Glieder der Kette eine Pionierleistung erbringen wollen. Aus meiner Sicht kommt das fast nie zusammen und wenn, dann ist es ein immenser Kraftakt. Vogt: Auch wir haben zunächst keine Sondermittel bekommen, es war aber der Wille da, etwas Neues zu entwickeln. Also haben wir Mittel umgewidmet und uns mit unseren Angeboten, ohne der Politik hinterherzulaufen, auch an den übergeordneten städtischen und gesellschaftlichen Zielen orientiert wie Multikulturalität, Diversität, Digitalität oder Integration. So etwas wird gerne gefördert. Manchmal aber, da haben Sie recht, fangen wir klein an und zeigen, dass Dinge funktionieren. Das macht es dann leichter, Mittel zu akquirieren, um größere Visionen zu verfolgen. Was wird kommen? Ich sehe in Trendreports, dass YouTube, Podcasts und Audiobooks ein Thema sind. Also richten wir jetzt ein SocialMedia-Studio zur Selbstproduktion ein. Von bürokratischen Bauvorschriften, Herr Jaspert, können Sie wahrscheinlich ein Lied singen. Jaspert: Experimentell ist eine Vokabel, die kein Bauherr gerne hört. Denn darin steckt, wie Herr Sehgal schon sagte, dass man auch scheitern kann. Wenn aber eine Immobilie scheitert, kostet das viel Geld. Und das will kein politisch Verantwortlicher mittragen. Deshalb wird immer wahnsinnig konservativ gehandelt. Was muss geschehen? Im Grunde, wie bei allen Dingen, die einen Schritt nach vorne machen, brauchen Sie in der Entscheidungsebene Leute, die mit Herzblut für eine Sache kämpfen. Wir als Architekten könnten zudem die Vokabel von experimentell in „flexibel“ umwandeln. Räume, die mehr können als nur ein Format. Damit wäre ja schon eine Menge gewonnen. Denn Formate ändern sich auch. Was heute Zeitgeist ist, ist in zehn Jahren vielleicht schon wieder alt. Häuser stehen aber nun mal sehr lange. Sehgal: Das war auch der Kernsatz von Liz Diller, deren Büro den Shed gebaut hat: „Wir wissen nicht, wie Kunst in dreißig Jahren aussehen wird, also entwerfen wir einen flexiblen Bau.“ Wir brau-


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chen Orte der situativen Verkörperung, an denen wir uns als Bürgerinnen und Bürger verständigen können; die auch staatliche Orte sind, das ist unsere kontinentaleuropäische Tradition. Die Geschichte zeigt, dass die Struktur solcher Rituale auch möglichst die fundamentalen Werte und Strukturierungen der Gesellschaft aufnehmen sollte, sonst droht ihnen ein Verlust an Relevanz. Ich habe aber umgekehrt überhaupt nicht den Eindruck, dass das Theater so unglaublich konventionell ist. Die Frage ist ja, ob die Verabredung, zu einem bestimmten Zeitpunkt vor Ort zu sein und konzentriert eine Aufführung zu verfolgen, wirklich zu ent­ grenzen ist, ohne die ganze Kunstform aufzugeben? Sehgal: Genau, aber die damalige Idee in Berlin, mit dem Kino Babylon, den Kunstwerken, dem Flughafen Tempelhof und der Volksbühne ein Kunst- und Kulturkonglomerat zu schaffen, hätte die strengen Grenzen zwischen Verabredungsmodus und Öffnungszeitenmodus durchlässiger gemacht. Das Problem war, Herr Jaspert hatte das gerade schon erwähnt, experimentell hört sich sehr schnell nach Geld... Jaspert: … Geldvernichtung an. Sehgal: Flexibel wurde damals begriffspolitisch eben mit neoliberal gleichgesetzt. Wenn man an den Kernstrukturen des Spiels rührt, schreien die Leute ganz schnell Stopp, weil es sich natürlich auch institutionell äußert, im Budget, in der Abteilungsstruktur, denn da hängen ja auch Arbeitsplätze dran. Wenn das jährliche Ankaufsbudget der Nationalgalerie mittlerweile nur noch 60 000 Euro und das Programmbudget ihrer sechs (!) Häuser nur ca. fünf bis zehn Prozent des jährlichen Budgets eines größeren Schauspielhauses wie zum Beispiel der Volksbühne oder eines mittelgroßen Opernhauses beträgt, fällt das noch nicht einmal auf, da dort nicht unmittelbar Arbeitsplätze mit Festanstellung dranhängen – und das, obwohl das Besucheraufkommen in den Ausstellungshäusern höher liegt. Sie wollen das Repertoiretheater abschaffen? Denn das Theater­ budget deckt ja auch die Gehälter der vielen Angestellten mit ab, die am Herstellungsprozess der Kunst beteiligt sind. Sehgal: Nein, das habe ich ja eingangs gesagt. Es braucht aber auch multidisziplinäre Orte wie die schon erwähnten. „Flexibel“ in diesem Sinne, das würde schon reichen. Denn dann bleibt es der Leitung oder den einzelnen Künstlern überlassen, in welcher Form sie arbeiten. Frau Vogt hätte auch nicht Abteilungen entlassen, weil sie sie nicht mehr braucht, sondern anders eingesetzt. Jaspert: Auch aus Sicht der Architektur können und wollen wir nicht verlangen, das Theater völlig zu entgrenzen. Es gilt eher, Formate zu finden, um diese Häuser als Kulturbausteine der Stadt auch tagsüber für ein Publikum zu beleben. Das meine ich mit multifunktional. Und dann schafft man es vielleicht auch, die 1800 Personen von Frau Vogt in die Häuser zu locken. Das erhöht die Affinität der Politik. Und es gibt dafür durchaus schon Tendenzen. Derzeit läuft ein Wettbewerb für die Sanierung der Komischen Oper in Berlin. Die wünschen sich, dass auch Besucher Einblick haben können in das Tagesgeschäft. Natürlich so, dass dieses nicht gestört wird. Da sind wir Architekten gefragt. Ein Appell an unser aller Kreativität. //

PREMIEREN NOVEMBER 2020 BIS JANUAR 2021 MUSIKTHEATER BROADWAY FOREVER Die große Heidelberger Musical-Gala 18. November 2020 WAS FRAG ICH NACH DER WELT! Ein Barock-Musiktheater | Regie Claudia Isabel Martin 27. November 2020 OVER MY HEAD I HEAR MUSIC Ein Gospel-Fest mit Chaz’men Williams-Ali 5. Dezember 2020 LULU von Alban Berg | Regie Axel Vornam 17. Januar 2020

SCHAUSPIEL ENDSPIEL von Samuel Beckett | Regie Holger Schultze 19. November 2020 MICHAEL KOHLHAAS nach Heinrich von Kleist | Regie Markus Dietz 12. Dezember 2020 DER SPRECHER UND DIE SOUFFLEUSE von Miroslava Svolikova | Regie Britta Ender 17. Dezember 20202 | Deutsche Erstaufführung

TANZ OSCILLATION Choreografie und Konzept Iván Pérez 7. November 2020 | Uraufführung ZUSAMMEN

Zweiteiliger Abend | Choreografie Iván Pérez 23. Dezember 2020 TANZBIENNALE HEIDELBERG

5.-13. Februar 2021

JUNGES THEATER MIO, MEIN MIO 10+ nach Astrid Lindgren | Regie Markolf Naujoks 8. November 2020 OX & ESEL 5+ von Norbert Ebel | Regie Natascha Kalmbach 26. November 2020 UND AUSSERDEM SIND BORSTEN SCHÖN 3+ nach Nadia Budde 10. Januar 2021 | Uraufführung

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vereinigte staaten

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An diesen auf den Kopf gestellten Tagen Ein Manifest anlässlich der Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten

Am 3. November wird in den Vereinigten Staaten ein neuer Präsident gewählt. Weltweit sind die Hoffnungen groß, dass die Zeit Donald Trumps, unter dessen Präsidentschaft Hass und Gewalt insbesondere gegen People of Color massiv zunahmen, endlich ein Ende finden wird. Das Working Theater in New York arbeitet seit mehr als 35 Jahren einer wachsenden Segregation der Gesellschaft entgegen, indem es Theater für und über arbeitende Menschen macht. Die transformative Erfahrung von Theater, lautet die Mission, solle kein Luxus, sondern ein Grundnahrungsmittel sein. Tamilla Woodard ist seit sechs Monaten neue Künstlerische Ko-Leiterin des Off-Broadway-Theaters. In ihrem Manifest beschreibt sie, wie sie trotz der Coronakrise, die natürlich auch die New Yorker Theater mit voller Härte traf, an der Idee einer gemeinschaftsstiftenden Funktion von Theater, das Klassen-, Geschlechts-, Alters- und ethnische Grenzen überwindet, festhält. Indem es bedeutsame, zugängliche und erschwingliche Produktionen unabhängig von Herkünften oder sozioökonomischem Status anbiete, sagt Woodard, sei das Working Theater bestrebt, die Vielfalt der Stadt stets anzuerkennen und gleichzeitig zu versuchen, die Menschen in ihrer gemeinsamen Menschlichkeit zu vereinen. Ein kraftvoller Appell im Vorfeld der Wahlen.

Was ist der Wert des Theaters in Zeiten wie diesen? – Der New Yorker Stadtteil Manhattan im März 2020 während des Lockdowns. Fotos Ariel Orr Jordan

Tamilla Woodard. Foto Mike Jackson

von Tamilla Woodard

I

ch bin Ko-Leiterin eines kleinen Off-Broadway-Theaters. Das Theater ist 35 Jahre alt. Und seit sechs Monaten habe ich die ­ehrenvolle Verantwortung, seine sprichwörtlichen Türen weitere 35 Jahre offen zu halten. Ich begann meine Arbeit nur wenige Augen­blicke, nachdem die Realität der Pandemie in den Vereinigten Staaten unabweisbar zutage trat. Die Frage, mit der ich unmittelbar konfrontiert wurde, war somit nicht die typische. Wir fragten uns nicht: Was sollen wir in meiner Antrittssaison programmieren?


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Sondern wir standen vor gänzlich existenziellen Fragen. Was ist überhaupt der Wert des Theaters in Zeiten wie diesen? Welche Verantwortung haben wir als Künstler, Geschichtenerzähler und Glaubensstifter, wenn das Land aus den Fugen gerät? Im Februar wurde Covid-19 bekannt. Im März wurde das Theater geschlossen. Der Mai fügte den Namen George Floyd der unendlichen Liste schwarzer Körper hinzu, die brutal misshandelt wurden, und meine Wut entflammte und drohte, mich gänzlich zu verschlingen. Der August war voll von politischen Zusammenkünften, pomp and circumstances und einem Anstieg hasserfüllter ­Rhetorik. Der September blutet in den Oktober hinein, und da sind wir nun. Ich frage mich immer noch: „Was ist der Wert des Theaters in diesen Zeiten? Welche Verantwortung haben wir als Künstler? Wo soll man angesichts dieser Fragen beginnen? Mir wird klar, dass es eigentlich keinen Ausgangspunkt und schon gar keinen Anfang gibt. Wir waren schon einmal hier, befinden uns in einer Schleife, deren Umfang so groß ist, dass es schwierig ist, die Kurven zu erkennen. Tatsächlich denke ich an eine Zeit (oder gar Zeiten) vor meiner Geburt, als Künstlerinnen und Künstler anderer unruhiger Epochen mit Bedingungen konfrontiert waren, die denen, die mich jetzt umgeben, nicht unähnlich sind – eine Welt, die scheinbar auf dem Kopf steht und die ausnahmsweise einmal das Potenzial hat, wirklich umgestülpt zu werden. Heute denke ich an Audre Lorde, James Baldwin, Charles White und dessen Gemälde großfäustiger schwarzer Körper. Ich denke an eine Aufnahme von Baldwin, in der er sagt, der Künstler sei anwesend, um die Wahnvorstellungen der Gesellschaft zu korrigieren und, wie es ein Liebender tue, dem Geliebten die Möglichkeit zu geben, sein Selbst zu reflektieren. Ich denke an Theater als Praxis – als eine Probe für Zukünftiges, einen Ort, an dem wir unseren Glauben an die Möglichkeit des Handelns trainieren, damit wir irgendwann wirklich handeln. Wo wir ideale Bedingungen schaffen, um sowohl die Katastrophe als auch die

Theater sollte kein Luxus, sondern ein Grundnahrungsmittel sein – Diese Devise des Working Theaters wirkt in den verlassenen Straßen von Manhattan umso schlagender. Foto Ariel Orr Jordan

Revolution zu erproben. Hat Audre Lorde nicht etwas Großartiges über die „Suche nach einem Jetzt“ geschrieben, „das eine Zukunft hervorbringen könnte“? Ich denke an das Theater als eine Handlung und nicht als einen Ort. Besonders jetzt, da die „Orte“, an denen Theater konventionell stattfindet, für öffentliche Versammlungen geschlossen sind. Ich überlege, was die notwendige Handlung des Theaters sein sollte, um eine Zukunft zu erschaffen, die unsere kollektive Menschlichkeit fördert und unsere menschliche Schwäche anerkennt. Besonders jetzt, angesichts der erschreckenden kulturellen und politischen Spaltung in diesem speziellen Moment in der ­Geschichte der Vereinigten Staaten – ja, in der Geschichte vieler Nationen. Besonders jetzt, inmitten schmerzlicher Rassenunruhen und schreiender Ungleichheit hier an diesem Ort, den ich mein Zuhause nenne. Ich denke an das Theater als eine Gemeinschaft von Menschen. Am fruchtbarsten ist es, wenn diese Gemeinschaft aus ­einer Vielzahl von Perspektiven und Erfahrungen besteht, die sich über Klassen-, Religions-, Alters-, Geschlechts- und ethnische Grenzen hinweg überschneiden. Bei einer Live-Aufführung geht es eben nicht nur um die Aufführung, sondern auch um die ­Gemeinschaft, in der man sie erlebt. Ich denke an das Theater als ein Instrument der Gerechtigkeit und Gleichheit und nicht als ein Luxusprodukt. Ein Werkzeug, das allen angeboten wird, die es nutzen wollen, jenseits wirtschaftlicher Voraussetzungen oder körperlicher Fähigkeiten. Ein Werkzeug, das Orte in Willkommensräume verwandelt, in denen wir uns alle treffen, um uns gegenseitig Geschichten darüber zu


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erzählen, wer wir sind und von welcher Welt wir träumen. Ein Werkzeug, das den Unterschied zur Tugend macht und die Angst vor dem „Anderen“ unterdrückt. Ich denke an Theater als einen Zauberspruch oder einen Zaubertrank. In einer Zeit, in der wir nicht alle die gleichen Erfahrungen machen, die gleiche Realität teilen, können wir diese ­magischen Worte der Vorstellungskraft einsetzen und Szenarien der menschlichen Existenz kreieren, die unsere Selbstreflexion stärken (wie es Baldwin für notwendig hält). Wir können Be­ dingungen für Veränderungen schaffen, das Verlangen nach Gerechtigkeit schüren und die Psyche dazu anregen, sich ­ weiterzu­ent­wickeln. Vielleicht bräuchten wir in der Tat sogar einen Exorzismus. Ich denke an Theater als eine Zeitreise. In diesem Fall besteht unsere Aufgabe als Theatermacher nicht nur darin, das Jetzt zu reflektieren, sondern eine Projektion der Zukunft zu ent­ werfen. Wir können unsere eigenen Versuchspersonen sein, die über die bloße Innovation hinaus echte Erfindungen anstoßen. Tatsächlich denke ich an das Theater als etwas Wesentliches. Oder, genauer gesagt, mir wird die Tatsache wieder bewusst, dass das Einzige, was im Kunstschaffen wesentlich ist, die Notwendigkeit ist, einander zu erreichen. Mit allen notwendigen Mitteln. Und die Notwendigkeit ist die Mutter aller Erfindung. Was ist der Wert des Theaters? Ist es die Einübung in Entwicklung? Wagen wir es, die Verblendung der Gesellschaft, in der wir jetzt leben, zu korrigieren, und beginnen wir, uns aktiv vorzustellen, was sein sollte, sein kann, sein muss? Wie Platons „For-

vereinigte staaten

men“ könnte das Theater tatsächlich ein Ort sein, an dem wir das Ideal erschaffen – nicht als ein Hirngespinst, sondern als ein ­Modell, perfekt konzipiert. Vielleicht klingt das alles zu theoretisch, philosophisch oder sogar unsinnig. So oder so ist das, was ich hier schreibe, sicher nicht konkret – aber, wie es in Bezug auf Platons „Formen“ heißt: Auch wenn die Formen selbst abstrakt sind, bedeutet es nicht, dass sie nicht real sind. Ich denke zu viel nach an diesen auf den Kopf gestellten Tagen, an denen ich meinen Stimmzettel zur Abstimmung vor­ bereite und mir die Schuhe zubinde, um bereit zu sein, zu protestieren. Ich probe auch, schreibe und versuche, weiter Theater zu machen. Und ich weiß, auch ohne darüber nachzudenken, dass Theater eine Erfindung ist und dass es bei der Erfindung nicht nur um die Metamorphose des Gegenstands geht. Es geht auch um die Metamorphose des Benutzers. Das versteht man unter Praxis – und wir haben lange Zeit dafür geprobt, dass sich endlich etwas ändert. // Aus dem Englischen von Dorte Lena Eilers.

Tamilla Woodard ist Künstlerische Ko-Leiterin des New Yorker Working Thea­ters und Mitbegründerin von PopUP Theatrics. Kürzlich wurde sie zu einer der fünfzig „Women to Watch on Broadway“ ernannt. Sie ist Absolventin der Yale School of Drama, wo sie derzeit unterrichtet. In einem Interview auf www.theaterderzeit.de/2020/11 berichtet sie über ihre Arbeit.

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Theater und Moral „Von Veranstaltern ausgeladene Kabarettisten. Zensierte Karikaturisten. Pauschal verbotene Demonstrationen.“ Mit diesen Schlagworten ködern der Schriftsteller und Youtuber Gunnar Kaiser und der Journalist Milosz Matuschek seit Anfang September Unterzeichner für ihren „Appell für freie Debattenräume“. Als US-amerikanisches Vorbild diente den Initiatoren der „Letter on Justice and Open Debate“, der im Juli im Harpers’s Magazine veröffentlicht wurde. Beide Aufrufe beklagen eine Degeneration des öffentlichen Diskurses durch eine identitätspolitische Cancel Culture. Über die grundlegenden Unterschiede dieser beiden „Appelle“ und die Nähe der deutschen Variante zu rechten Narrativen sprechen der Autor Per Leo und die Dramaturgin Anja Nioduschewski im vierten Teil unserer Reihe Theater und Moral.

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Klima der Intoleranz Der Autor Per Leo und die Dramaturgin Anja Nioduschewski im Gespräch über linke Cancel Culture, rechten Bedrohungswahn und das Abdriften des demokratischen Diskurses in einen Kulturkampf

Anja Nioduschewski: Per Leo, Sie sind von Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser, den Verfassern des „Appells für freie Debatten­ räume“, der sich gegen eine identitätspolitische Cancel Culture aufstellt, angefragt worden, diesen zu unterzeichnen. Sie haben abgelehnt und das öffentlich begründet. Sie sähen zwar die dort angesprochenen Probleme, die die Strategie des Deplatforming für den öffentlichen Diskurs bedeuten, teilten aber nicht den ­Befund: die Gefährdung der Demokratie. Sie zitierten indirekt Alexis de Tocquevilles „Tyrannei der Mehrheit“ als tendenziell im­ mer gegebene Gefahr in einer Demokratie. Allerdings haben wir es bei der Cancel Culture ja mit der öffentlichkeitswirksamen Macht von Minderheiten zu tun, im doppelten Sinne: sozial und bezogen auf den Umstand, dass nur zwei Prozent der Bevölke­ rung Twitter nutzen: ein Ort, an dem die Konflikte ausgetragen werden. Wie bringen Sie das zusammen? Per Leo: Tocqueville hat am Beispiel Amerikas die Tendenz der demokratischen Öffentlichkeit beschrieben, in eine Tyrannei der Mehrheit zu verfallen. Mit ihm berufe ich mich bewusst auf die revolutionskritische, aber nicht reaktionäre Perspektive eines alt­ liberalen Adligen. Dass es eine Minderheit ist, die diese Öffentlichkeit herstellt, ist bei ihm schon mitgedacht. Da unterscheidet sich das Amerika des 19. Jahrhunderts nicht so sehr von den demokratischen Gesellschaften der Gegenwart. Mir ging es darum, dass Demokratien immer Kampfarenen sind. Da geht es robust zu. Auch unfair. Es wird auf allen Seiten mit harten Bandagen gekämpft. Genau das gehört zur Demokratie. Wogegen ich mich verwahre, ist diese mitlaufende Behauptung, dass Demokratie etwas Schönes sei, dass es da ein Gespräch gebe, in dem – mit Jürgen Habermas’ berühmter Formel gesprochen – der zwanglose Zwang des besseren Arguments geachtet wird, wo man friedlich und respektvoll Meinungen austauscht und sich am Ende die vernünftigere Meinung durchsetzt. Solche Debatten finden durchaus statt, und sie sind als Ideal auch wünschenswert, aber man Darf der Neonazi noch reden wie ein Neonazi? – In Claudia Bauers Inszenierung von Peter Richters „89/90“ (Schauspiel Leipzig) wurden während des Gastspiels beim Berliner Theatertreffen rassistische Begriffe überpiept. Foto Rolf Arnold / Schauspiel Leipzig

darf die politische Natur demokratischer Konflikte nicht unterschlagen. Den demokratischen Normalfall zugunsten eines realitätsfernen Ideals zu überhöhen, verschleiert mehr, als es erhellt. Kommen wir also zu den Problematiken, die zurzeit unter dem Label Cancel Culture zusammengefasst werden. Ist Cancel Cul­ ture der Normalfall? Ich würde den Begriff Cancel Culture grundsätzlich vermeiden. Man kann ihn natürlich benutzen, aber dann sollte man genau sagen, was damit gemeint ist. Mir scheint die einseitige Kritik an der sogenannten Cancel Culture Teil des Problems zu sein. Nicht sie allein ist gefährlich. Mich besorgt vor allem die Geschwindigkeit, mit der zwei sich wechselseitig bekämpfende Lager dabei sind, in einen Kulturkampf hineinzurauschen. Weil sie zur Bildung weltanschaulicher Lager führen, sind Kulturkämpfe auf Dauer tatsächlich demokratiegefährdend. Woher rührt denn auf identitätspolitisch-aktivistischer Seite be­ ziehungsweise auch gesamtgesellschaftlich diese aggressive, un­ bedingte Haltung? Warum ist der Diskurs so überdreht, funda­ mentalistisch? Ich sehe zwei sich wechselseitig verstärkende Bewegungen. Einerseits eine linksliberale Tendenz, im Namen von Gleichheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Moral bestimmte Meinungen im öffentlichen Raum nicht mehr zu tolerieren und damit den Streit abzuwürgen, bevor er überhaupt begonnen hat. Und auf der anderen Seite sehe ich die Gegentendenz, sich selbst als Opfer linker Repression zu inszenieren und dabei auch nicht vor Diktaturvergleichen zurückzuscheuen. Das wäre auch meine Kritik an dem „Appell“: Man macht dort mit abstrakten Formulierungen ein ­Bedrohungsszenario auf, das als Projektionsfläche für alle mög­ lichen Beschwerden dient, während man sich vor genauer ­Beschreibung drückt. So wird verschleiert, dass hinter dem, was als Übertreibung zu Recht kritisiert wird, reale Probleme stehen: Es gibt ja Ungleichheit, es gibt Diskriminierung, es gibt Ausgrenzung. Und es gibt eine Mobilisierung von rechts, bei der sich eine identitäre und autoritäre Ideologie zunehmend als „Widerstand“ gegen gesellschaftliche und staatliche Zwänge inszeniert.

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theater und moral #4

Die Missstände, die Sie gerade genannt haben, wären mit demo­ kratischen Mitteln ja durchaus zu beheben. Dennoch greifen linke identitätspolitische Aktivisten zu anderen Mitteln, die die Form von Selbstjustiz annehmen. Da will niemand mehr eine Debatte führen. Öffentlichkeit wird nur noch als Raum benutzt, in den man eine Anklage, eine Forderung hineinstellt. Warum greift man zu reaktionären Mitteln – Shitstorm und Boykott –, um pro­ gressive Ziele durchzusetzen? Ich kann nicht in fremde Köpfe gucken, darum weiß ich nicht, warum jemand etwas tut. Aber ich würde Ihrer Problemanalyse auch nicht zustimmen. Wir sind da wieder bei Tocqueville. All das kann stattfinden. Und es ist nicht schön. Aber das Problem besteht für mich eher darin, dass diese intoleranten Verhaltens­ weisen sich durch Nachahmung rasant verbreiten. Minderheiten von allen Seiten setzen mittlerweile auch dort Standards, wo eigentlich Unabhängigkeit nicht nur geboten, sondern auch möglich wäre. Beispielsweise im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den sogenannten Qualitätsmedien, wo man unter professionellen Bedingungen wesentlich besser differenzieren könnte. Stattdessen aber wird auch dort der Kulturkampf oft durch Parteinahme mitbefeuert. Der demokratische Diskurs, die Differenzierung, das Argument – all das muss sich gegen diese Tendenz durchsetzen. Die öffentliche Hand finanziert ja Universitäten, Rundfunkanstalten und Theater nicht, damit sie Partei ergreifen, sondern damit sie unabhängig arbeiten können. Zudem würde ich die deutsche von der amerikanischen Situation unterscheiden. Soweit ich das beurteilen kann, ist das Problem in den USA viel größer, was auch mit einer Campus-Kultur zu tun hat, in der Studenten ihren Forderungen an die Universitäten als zahlende Kunden ökonomischen Nachdruck verleihen können. Der „Appell“ hatte ja ein amerikanisches Vorbild im Harpers’s Magazine. Aber obwohl die Lage in Amerika dramatischer ist, argumentiert der „Letter“ viel differenzierter. Indem er die Kritik an zwei Seiten adressiert,

Per Leo, geboren 1972 in Erlangen, ist Schriftsteller und Historiker. Er studierte in Freiburg und Berlin Philosophie, Neuere und Neueste Geschichte und Slawistik. Sein Romandebüt „Flut und Boden“ stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises 2014. Zusammen mit Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn veröffentlichte er 2017 das viel diskutierte Buch „Mit Rechten reden“. Foto Alexa Geisthövel

Anja Nioduschewski, geboren 1971 in Sondershausen, ist Autorin und Dramaturgin. Nach einem Journalistikstudium in Leipzig und Edinburgh war sie unter anderem Redakteurin von Theater der Zeit sowie von 2008 bis 2013 Dramaturgin am Centraltheater in Leipzig. Im Verlag Theater der Zeit erschien das von ihr herausgegebene Buch „Katrin Brack. Bühnenbild / Stages“ (2010) sowie aktuell das zu­ sammen mit Dorte Lena Eilers herausgegebene Arbeitsbuch „StückWerk 6“ (2020). Sie lebt als freie Autorin in Berlin. Foto David Baltzer

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nämlich an die autoritäre Trump-Rechte und an diejenigen Linken, die ihr zustimmungsfähiges Gerechtigkeitsideal mit in­ akzeptabler Intoleranz durchzusetzen versuchen, nimmt er der Eskalation den Wind aus den Segeln. Ihn hätte ich vielleicht unterschrieben. Sie sprechen von Kulturkampf. Nun werden spätestens mit der Ausladung von Achille Mbembe als Eröffnungsredner der Ruhr­ triennale, mit der Ausladung von Lisa Eckhart als Autorin beim Hamburger Literaturfestival Harbour Front, mit der zeitweiligen Löschung eines Beitrags von Kabarettist Dieter Nuhr von der Web­ site der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder auch mit Serdar Somuncus und Florian Schroeders gelöschter Radio-Podcast-­ Passage vorrangig Kulturschaffende und Intellektuelle gecancelt, die mit komplexen oder im Sinne der Satire politisch nicht unmit­ telbar korrekten Arbeiten Gesellschaftskritik liefern. Die Institu­ tionen, Festivals, Medien reagieren auf Cancel-Forderungen aller­ dings fast ängstlich, verunsichert, verteidigen die Meinungsfreiheit eher zögerlich. Woher rührt diese Verunsicherung? Es ist tatsächlich Teil des Problems, dass diejenigen, die darüber entscheiden, was gesendet wird, wer auftreten kann und so weiter, einem Druck nachgeben, bevor er überhaupt artikuliert wird. So wie im Fall Lisa Eckhart, wo es die vermeintlichen Gewalt­ androhungen gar nicht gegeben hat. Gegeben hat es ein anderes problematisches Verhalten: Zwei Autorenkollegen waren nicht bereit, zusammen mit Eckhart aufzutreten. Das ist ihr gutes Recht. Genauso wie es das gute Recht von Margarete Stokowski war, nicht in der Buchhandlung Lehmkuhl in München zu lesen, in der Bücher des rechten Antaios-Verlags auslagen. Damals hat der Buchhändler Michael Lemling meines Erachtens souverän reagiert und gesagt: Na gut, dann findet die Lesung eben nicht statt, ich kann mir ja von einer Autorin nicht das Sortiment ­diktieren lassen. Genau das Gegenteil ist nun bei Lisa Eckhart passiert. Statt den beiden Autoren das Fernbleiben zu empfehlen, hat man den Veranstaltungsort Nochtspeicher Sicherheitsbedenken äußern lassen, in deren Namen man dann Eckhart auslud. Das war reines Kopfkino. Eine autosuggestive Drama­ tisierung auf Kosten der Autorin. Dabei wirkt zudem der Vorwurf der Kontaktschuld, die in Deutsch­ land auch beim Umgang mit Rechten eine Rolle spielt, den Sie in Ihrem Buch „Mit Rechten reden“ kritisch beleuchtet haben. Was ließe sich anhand dieser Ausgrenzungsstrategien lernen? Wir dürfen nicht ausblenden, dass es von rechter Seite ja tatsächlich Diskurskaperungsstrategien gibt. Dabei geht es darum, sich taktisch die Werte der Gegenseite anzueignen. Statt: „Ausländer raus!“ oder „Wir wollen nur Deutsche auf der Bühne sehen“ sagen sie: „Die Meinungsfreiheit ist gefährdet!“ Die Berufung auf Verfassungsrechte ist aber viel schwerer zu kontern als die offen ideologische Offensive. Und genau da beginnt für mich ein Kulturkampf, der konkrete Probleme nicht mehr lösen will, sondern sie nur zum Anlass nimmt, um die Lagerbildung zu forcieren. Dazu eignen sich Fragen mit einer Entweder-oder-Struktur oder einfache Alternativen besonders gut. Auch die Cancel-Culture-Debatte hat sich schnell weg vom Einzelfall hin zu einer Metadebatte ­bewegt. Auf der einen Seite steht ein Lager, das sagt, die Cancel


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Culture bedroht unsere Demokratie – und auf der anderen Seite ein Lager, das das Problem linksliberaler Intoleranz rundweg leugnet. Ein wichtiges Strukturmerkmal unserer Kulturkämpfe ist zudem die Täter-Opfer-Rhetorik. Statt Differenzierungen vorzunehmen und Widersprüche auszuhalten, werden Konflikte zunehmend in ­Täter-Opfer-Beziehungen aufgelöst. So dramatisiert man politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu Verfassungs- und Moralfragen. In dieser Debatte herrscht im Übrigen eine große Begriffsverwirrung. Ein Klima der Intoleranz ist etwas anderes als eine Einschränkung von Meinungsfreiheit. Es kann für eine Demokratie auf Dauer zum Problem werden, aber der Rechtsstaat ist bei uns nun wirklich nicht gefährdet. Die im Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit ist ja zunächst mal ein Abwehrrecht gegenüber Eingriffen des Staates. Aber gibt es staatlicherseits Einschränkungen der Meinungsfreiheit? Im Großen und Ganzen nicht. Aber auch hier muss man den Einzelfall betrachten. Zum Beispiel hat Felix Klein, der Regierungsbeauftragte zur Bekämpfung des Antisemitismus, im Falle von Achille Mbembe mit dem Prüfsiegel staatlicher Autorität eine Ausladungsempfehlung an die Ruhr­ triennale ausgesprochen. Natürlich kann man kontrovers über Mbembe diskutieren – aber warum nicht anlässlich eines solchen Auftritts? Solange sie nicht die Gerichte beschäftigen, sollten ­solche Fragen den Staat nichts angehen. Die Lagerbildung wird ja auch von links durch die Betonung von ethnischen oder geschlechterspezifischen Kategorien im Kampf um Gleichberechtigung unfreiwillig verstärkt und führt schlimms­ tenfalls zu einer unsolidarischen Segmentierung in Gruppen­ zugehörigkeiten. Ist das der Bruch mit den universalistischen Prinzipien der Linken? Hundertprozentig universalistisch ist die Linke ja nie gewesen. Und die Gegenüberstellung von Universalismus und Partikularismus wäre hier für mich die falsche Alternative. Trotz universalistischer Werte wie Gleichheit oder Gerechtigkeit wurden und werden von der Linken natürlich auch Gruppeninteressen vertreten. Es gab dort immer schon eine identitätspolitische Dimension, was zum Beispiel Edward P. Thompson als „making of the working class“ beschrieben hat. Ganz ähnlich hat eine postkoloniale Theoretikerin wie Gayatri Chakravorty Spivak auch von „strategischem Essenzialismus“ gesprochen. Um zwischen der patriarchalen Männermacht im eigenen Land und dem vergifteten Universalismus

der britischen Kolonialmacht zu einer eigenen Sprache zu finden, musste die Befreiung indischer Frauen im Namen einer Gruppe formuliert werden. Das Problem ist also nicht Identitätspolitik als solche, sondern die Verabsolutierung des Unterschieds. Denn mit der Verleugnung des universalistischen Aspekts ist die Chance vertan, mit anderen eine gemeinsame Grundlage herzustellen. Die Theater in Deutschland haben in einem großen Aufhol­ moment die identitätspolitische Agenda übernommen, haben Antirassismusklauseln geschaffen, gestalten ihre Ensembles ­ ­diverser, überprüfen ihre Aufführungspraxen hinsichtlich diskri­ minierender Inhalte und Ästhetiken. Sie sind Autor. Die Frage, wie Künstler angesichts heutiger Sensibilitäten Kunstfreiheit in Anspruch nehmen, stellt sich unmittelbar. Ist diese neue Selbst­ kontrolle ein positiver Widerstand für Sie? Für mich als Autor sind Widerstände die Substanz, aus der Kunst entsteht. Das kann einen inneren oder familiären Konflikt genauso betreffen wie einen gesellschaftlichen oder politischen. Ein Künstler, der seinen Widerstand nicht gefunden hat, macht keine Kunst. Ich habe mich beispielsweise immer wieder an der deutschen Erinnerungskultur abgearbeitet und dabei auch fundamentale Kritik am Holocaust-Mahnmal geübt, ohne mich aber gleichzeitig der rechten Forderung nach einem „Schlussstrich“ an den Hals zu werfen. Der schmale Grat bestünde für mich darin, sich zu polarisierenden Fragen durchaus meinungsstark zu äußern, ohne damit aber den Kulturkampf zu befeuern. In alter marxistischer Terminologie könnte man statt von Widerständen auch von Widersprüchen reden, die sich in ihrer Dialektik eben nicht umstandslos auflösen lassen. Die Kunst lebt davon, solche Widersprüche auszuhalten. Und das Theater wäre für mich genau der Ort, an dem man die Konflikte, die komplexen Problemlagen und gesellschaftlichen Antagonismen darstellen könnte. All das könnte man auf der Bühne verhandeln, statt sich mit ­vorauseilender Vorsicht nur der Repräsentation des Guten zu verschreiben. Deshalb kommt mir das Theater von außen betrachtet gerade so uninteressant vor. Mir scheint, es geht da oft nur um die Repräsen­ta­tion von etwas, das sowieso schon entschieden ist. Wenn aber politische Ideale die Bühne regieren, dann muss auch der Feind des Ideals idealisiert und von der Bühne ausgeschlossen werden, oder noch besser: auf der Bühne. Das wäre aber kein Theater mehr, sondern nur noch ein theatralisches Gericht. //

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11. bis 13. November Biografische Projekte Vier künstlerische Erkundungen Regie: Jule Bökamp, Mathis Dieckmann, Marina Dumont, Jannik Graf 16. November »Montags an der ADK« Aussichten. Einsichten. Gespräche. Aleida Assmann Anglistin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin 11. Dezember (Premiere) | Schauspiel Stuttgart Nord »Mermaid Cut« nach Hans Christian Andersen Regie: Julian Mahid Carly

Weitere Informationen unter www.adk-bw.de

26. November (Premiere) | Theater Ulm »Am Königsweg« Schauspiel von Elfriede Jelinek Regie: Benjamin Junghans

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Liebes Prekariat, kauft Bio! Neue Stücke schärfen den Blick auf die alte soziale Frage: Premierenberichte aus Stuttgart, Leipzig, Berlin und Dresden von Christine Wahl

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ein, die düstersten Prognosen sind nicht eingetroffen. Es wird nicht landauf, landab Albert Camus’ „Pest“ gespielt. Auch im Post-Shutdown-Theater gibt es Gegenwartsdramatik. Und Hochkonjunktur hat darin nicht die neue Maskenpflicht, sondern die gute alte soziale Frage. Die Journalistin etwa, die sich in Thomas Melles Stück „Die Lage“ am Schauspiel Stuttgart zusammen mit vielen milieuver-

wandten Leidensgenossen auf Wohnungssuche begibt, ist überzeugt, dass „die soziale Frage unserer Zeit“ im Mietproblem liegt. „Es geht nicht mehr um das Wie, sondern um das Ob“, also ­darum, „ob man überhaupt noch was bekommt“, ruft sie dem Makler ins Pokerface. Es geht aber auch noch ganz anders. Denn selbst dieses „Ob“-Stadium, das ja immerhin auf einem soliden MöglichkeitsParadoxien aushalten – In „Melissa kriegt alles“ versammelt René Pollesch nostalgische Revolutionärsdarsteller im hippen bolschewis­tischen Einrichtungsdesign. Foto Arno Declair


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fundament fußt, muss man schließlich erst einmal erreichen. Bei den Protagonisten anderer Dramen – zum Beispiel den Zwillingen Taylor und Ronny Schmetterling, die bei den Autorentheatertagen im Deutschen Theater Berlin auf der Bühne stehen – ist das nicht unbedingt der Fall. „Nichts haben wir jemals gewonnen“, erklärt Ronny in Dorian Brunz’ „beach house“, einem der drei ­Gewinnertexte des DT-eigenen Gegenwartsdramatik-Festivals, das in Koproduktion mit der Hauptstadtbühne vom Schauspiel Leipzig inszeniert wurde. Überhaupt existieren zwischen dem Stuttgarter Milieu, das die Uraufführungsregisseurin Tina Lanik mit einem Schauspielerquintett (Boris Burgstaller, Josephine Köhler, Marietta ­Meguid, Jannik Mühlenweg und Sebastian Röhrle) in wechselnden Rollen in Szene gesetzt hat, und dem Leipziger Stück­ personal jede Menge signifikanter Unterschiede. Während auf der einen Bühne der Mittelstand im einheitsblauen BusinessLook zur uniformen Blondhaarperücke von Wohnungsbesichtigung zu Wohnungs­besichtigung tingelt und über hochpreisige Küchentischober­flächen streicht, die genauso aalglatt sind wie die Gesichter der Makler, trudelt auf der anderen das Prekariat durch eskapistische Jahrmarktsverheißungen und muss wiederholt feststellen, dass es an Geld für Zigaretten fehlt. Wobei der Uraufführungsregisseur Philipp Preuss das Rummelplatz-­ Ambiente, das Brunz in seinem Stück als Handlungsort vorsieht, gekonnt entfolklorisiert: Julia Preuß und Felix Axel ­Preißler bewegen sich als Zwillingspaar in schauspielerischer Hochform durch ein leuchtendes Neonröhrengerüst der Bühnenbildnerin Ramallah Aubrecht. Und während man in Stuttgart gern in Richtung Komödie übersteuert, ist man in Leipzig durchaus auch in Zwischentönen zu Hause. Aber das, was die Figuren hier wie dort anstreben – und wie viel Selbstdemütigungsarbeit sie dafür investieren –, ist strukturell vergleichbar. Melles Bobo-Klientel erniedrigt sich für einen lichtdurchfluteten Stuckalt- oder Designneubau in angesagter ­Citylage vor dem Wohnraumvermittlungspersonal. Brunz’ Unterschichtszwillinge hegen ähnlich metaphernträchtige Immobilienträume und prostituieren sich ihrerseits, um an Geld für ein entsprechendes Lotterielos zu kommen. Als sie eines schönen (Geburts-)Tages an der Rummelbude tatsächlich den Haupt­ gewinn ziehen – „vier Wochen Florida, eigenes Beach House, ­Hollywoodschaukel mit Meerblick“ –, gehen sie dem alten kapitalistischen Topos von der Aufstiegsmobilität auf den Leim. Von dort, wo sie sind, geht es ja sowieso nicht mehr weiter nach unten. Das sieht bei Melles Wohnungsbesichtigern, die in der gehobenen Kategorie von „eintausendvierhundertachtzig Euro ­ im Monat, Provision drei Monatsmieten, Kaution zwei Monats­ mieten“ miteinander konkurrieren, anders aus. Die wissen, dass sich das Aufstiegsparadigma erschöpft hat, professionelle Gegenwartsanalysen längst nicht mehr „Die feinen Unterschiede“, sondern „Die Abstiegsgesellschaft“ heißen und Karrierewege heute eher von der Angestellten zu Hartz IV führen als vom Teller­ wäscher zum Millionär. „Die Räume werden immer kleiner / Und größer zugleich / Aber nicht für uns“, bringt die Journalistin den Paradigmenwechsel vom Aufstiegsversprechen zur Abstiegsangst als mittelständischen Handlungsmotor auf den Punkt.

neue stücke

Das macht die Figuren in Melles Demütigungsshow tendenziell parkettnäher als Brunz’ Zwillingspaar, zumal Ronny und Taylor generell schwer zu verorten sind. Das „beach house“ wirkt, als wolle es sich – hochgezogen aus lauter bewährten Bauelementen vom Glückslos über den Traum vom Haus (am Meer) bis zur dafür geleisteten Erniedrigungs­ arbeit und der schlussendlichen Fundamentalenttäuschung – als zeitlose sozialdrama­tische Essenz in der Bühnenlandschaft platzieren. Namentlich verschwistern sich hier ein evozierter Osthintergrund (DDR-­Eltern der siebziger und achtziger Jahre tauften ihre Söhne mit signifikanter Vorliebe Ronny) und angelsächsische Herkunftsassoziationen (Taylor) zu einem unspezifischen Prekariatsmilieu. Und durch die theaterhistorische Brille betrachtet, flirtet die Rummelplatz-Konstellation zum einen mit Ödön von Horváths „Kasimir und Karoline“, ­während der Soziolekt zum anderen – Brunz spendiert jedem zweiten Substantiv großzügig ein vorangestelltes „verdammt“ oder „verfickt“ – an die britische „In-Yer-Face“-­ Dramatik der 1990er Jahre erinnert. Auch was den Plot betrifft, lässt Mark Ravenhills damaliger Bühnenbestseller „Shoppen und Ficken“ aus Thomas Ostermeiers und Jens Hilljes DT-Baracke grüßen: Körperliche und seelische Gelderwerbserniedrigung hier wie dort; verändert haben sich ­lediglich die Verfahrenstechniken. Als die Zwillinge feststellen, dass die real existierende Kapitalismuslotterie noch den „gottverdammtesten“ Hauptgewinn an Zugangsbarrieren knüpft – sie müssen eine Eigenbeteiligung aufbringen –, lässt sich Taylor zwecks Kapitalerwerbs in einem neuen Netzformat demütigen: In Brunz’ Stück sind Videoclips, in denen Menschen 15 Minuten lang widerstandsfrei angebrüllt, beschimpft und verbal in Grund und Boden gespuckt werden, gerade der letzte heiße Scheiß. Unterm Strich bleibt eine Erkenntnis, die für die Zuschauer weniger unerwartet kommt als für das Stückpersonal: Der fremde Speichel lässt sich hinterher schwerer von den Klamotten wischen als vorher angenommen. Gemessen daran scheinen die Demütigungen, denen sich Melles Apartmentjäger in Stuttgart aussetzen müssen, durchaus verkraftbar: Über den beim Besichtigungstermin live zu erbringenden Schnarch- und Stöhnproben blickt halt so manches Paar – nun ja – in seine tiefsten Beziehungsabgründe. Eine junge Frau, die in hohem Bogen aus dem Eigenheimroulette fliegt, weil ihr Auserwählter die milieueigenen Disktinktionsspielregeln nicht beherrscht, rammt dem unwillentlichen Spielverderber im Affekt ihren Stilettoabsatz in den Augapfel. Fazit: Selbst die zeitgemäßeste soziale Frage kann geradewegs in die gute alte Ehe-Splatter-Farce abdriften. Fakt ist: Konstruktive Problemlösungsvorschläge sollten ­weder die Stuttgarter Mittelstandswohnungssuchenden noch die Leipziger Prekariatszwillinge erwarten. Am allerwenigsten von jenen Kolleginnen und Kollegen, die in René Polleschs jüngs­ tem Abend „Melissa kriegt alles“ das Deutsche Theater Berlin bevölkern – obwohl es sich eigentlich um das dafür prädestinierte Milieu handelt. Auf Nina von Mechows origineller RussenchicBühne sitzen leicht sentimentale bis schwer nostalgische Revolutionärsdarsteller, die kollektiv von der „Zärtlichkeit des Kriegskommunismus“ träumen. Hammer und Sichel sind zum pittoresken Ornament geworden, das die Zimmertapete ziert, und

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die großen Behauptungen trägt man mittlerweile als maßgeschneiderte Luxus-Fashion vor sich her – weshalb häufige Garderobenwechsel ausdrücklich vorgesehen sind. In der spektakulärsten Klamotte steckt Martin Wuttke, der von einer Art Nachthemd in „Prawda“-Optik umschlackert wird – jener russischen Tageszeitung namens „Die Wahrheit“, die schon vor der Februarrevolution 1917 in Russland erschien und zu Sowjetzeiten das „Zentralorgan“ der KPdSU war. Kein Wunder, dass die gegenseitige Versicherung, wie gut man aussieht, leitmotivisch den Abend grundiert. Dass der angewandte konsumistische Materialismus zum Marxismus keineswegs in einem antagonistischen Widerspruchsverhältnis steht, wissen wir ja nicht erst, seit Bertolt Brecht und Helene Weigel in Westautos vorm BE vorfuhren oder Gudrun Ensslin in einer Hamburger Modeboutique verhaftet wurde. Bankenüberfallspläne hegt – apropos RAF – im Übrigen auch Polleschs Bühnensextett, dem neben Wuttke Kathrin Angerer, Franz Beil, Jeremy Mockridge, Bernd Moss und Katrin Wichmann spur­ angehören: ein der Woody-Allen-Filmkomödie „Schmal­ ganoven“ entlehnter Handlungsstrang, der sich in der aktuellen Folge von Polleschs Diskurstheaterserie mit Referenzen an die Schauspielerin Gena Rowlands, den Philosophen und Kultur­ wissenschaftler Joseph Vogl sowie den Theatertheoretiker und -praktiker Bertolt Brecht verknüpft. Das Vorgängerformat „(Life on earth can be sweet) Donna“ über die Straßenszene als Grundmodell des epischen Theaters, ebenfalls am DT, offenbart hier rückblickend echte Cliffhanger-Qualitäten. Auch in Nina von Mechows postbolschewistischem Devotio­ nalien-Stübchen, das immer mal wieder kurz in sich zusammenfällt, geht es also weiter mit der allenthalben anschlussfähigen Frage nach der idealen (Bühnen-)Kulturtechnik, dem Verhältnis zwischen dem Dramatischen und dem Epischen und somit – wenn man so will – zwischen dem unmittelbaren Betroffenheitsaffekt und dem aus der Ego-Blase heraustretenden, analysegetriebenen Draufblick. Die Empfehlung, die das Polleschtheater aktuell zur Handhabung dieses Dauerkonflikts ausspricht, lautet: Paradoxien aushalten! Und es sagt auch, wie das seiner Meinung nach funktioniert, nämlich über den Königsweg der Trance: Er habe da, erklärt Franz Beil, „neulich so ’n Buch angefangen zu lesen“, über den 1980 verstorbenen amerikanischen Psychiater Milton H. Erickson, den bedeutendsten Experten der modernen Hypnose. Der behaupte, es gebe „nicht nur die klassische Variante mit Finger hin und her oder Pendel oder so“, sondern man könne jemandem

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auch einfach erst „das eine sagen und dann das andere, das dem komplett widerspricht“. Ein Phänomen, das außertheatral, so Beil weiter, im Prinzip bei jedem Gang in den Supermarkt erlebbar sei, nämlich „wenn ich zum Beispiel sage, ich krieg Hartz IV, und trotzdem wird mir gesagt, kauf möglichst alles Bio“. Trance bedeute also, mit anderen Worten: „Du hast diese Bio-Eier im Kopf und steuerst dann bei Rewe auf die Ja!-Kisten zu.“ Mal sehen, wie es innertheatral mit den veränderten Bewusstseinszuständen weitergeht: to be continued in der nächsten Pollesch-Staffel, in Kürze am DT und anderswo. Während die „soziale Frage“ in Berlin also vorerst ergebnislos vertagt werden muss, begegnet man in Dresden, im Kleinen Haus des Staatsschauspiels, einem Milieu, das selbige längst gelöst haben will. Allerdings ist sein marxistischer Praxistest so niederschmetternd verlaufen, dass es selbst schon nach kurzer Zeit wieder von der Bildfläche verschwand: Thomas Freyer hat mit „Stummes Land“ (Stückabdruck in TdZ 10/2020) ein neues DDRPorträt geschrieben, das als nettes Beisammensein weithin identifikationstauglicher Zeitgenossen beginnt und sich zum historischen Aufklärungsstück über die nationalistische Basis des real existierenden Sozialismus entwickelt. Vier alte Freunde um die vierzig, die in der DDR gemeinsam zur Schule gegangen sind – intellektuelles, tendenziell kosmopolitisches Milieu –, plaudern in Tilmann Köhlers Ur-Inszenierung zunächst völlig unverdächtig über Esthers Kochkünste, Lauras Kinder und Daniels erfolgreiches Berufsleben zwischen London, Paris und New York. Die Zuschauer sitzen dabei, gleichsam als Partygäste der zweiten Reihe, im Viereck um die minimalistisch ausgestattete Spielfläche. Bis exzessiver Weingenuss und der Psychotrickmaster Soska, der so aussieht, als ob er schon früher immer alle zu den letzten Wahrheiten provoziert hätte, die Runde dazu treiben, sorgsam verborgene Rassismen zu offen­ baren. Anschließend finden sich die Schauspieler – Benjamin Pauquet, Karina Plachetka, Oliver Simon und Fanny Staffa – in einem formal komplett veränderten zweiten Teil in der Zeit der Eltern- und Großeltern-Generation wieder. In modellhaften Momentaufnahmen verlebendigen sie – aus Kindersicht – exemplarische Fälle vom Verschweigen, Verdrängen und Verbiegen der Geschichte, die sie zwischen staubigen Akten­ deckeln finden: Zeugnisse von Großvätern, die plötzlich selbst wie Hitler klingen, wenn sie den Arbeiteraufstand am 17. Juni abkanzeln und de facto Ernst Thälmann zitieren, von Stasi-Vätern, die zu ­Spionagezwecken mit Altnazis kollaborieren und so fort.


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Interessanterweise findet zeitgleich zur Freyer-Premiere nur ­wenige Kilometer entfernt, im Saal des Dresdner Festspielhauses Hellerau, eine thematisch ähnliche Geschichtsaufarbeitung statt – mit einer ganz anderen Herangehensweise: Der russische Theaterregisseur Maxim Didenko zeigt eine neue Bühnenfassung von Kurt Vonneguts Roman „Schlachthof 5“ – und begibt sich damit direkt ins ­Zentrum historischer Deutungsansprüche und Instrumentalisierungen. Der Roman thematisiert die Bombenangriffe auf Dresden vom Februar 1945, die der Autor selbst als amerikanischer Kriegs­ gefangener im Keller des titelgebenden Schlachthauses mit­ erlebte – und die durch die DDR-Geschichte hindurch bis heute zu einem Symbol verschiedener ideologischer Vereinnahmungs­ versuche ­geworden sind. Didenko reagiert auf die Verengung mit der künstlerischen Strategie der Vervielfältigung; mit Assoziationsund ästhetischer Komplexitätssteigerung. Sein Abend ist Konzert, Erzählung, Raum- und Videoinstallation, Oper und choreografische Performance in einem: In einem tiefer gelegten weißen Bühnenraum überschreibt der Schauspieler Wolf-Dieter Gööck Vonneguts Erinnerungen, die in einer

Und jetzt bitte den Blickwinkel ändern – In Maxim Didenkos „Schlacht­ hof 5“-Inszenierung am Dresdner Festspielhaus Hellerau fordert Werner Gööck mehrfach zum Sitzplatzwechsel auf. Foto Stephan Floss

­ etareflexion immer auch das Erinnern selbst thematisieren, mit M einer neuen Textfassung des Dramaturgen Johannes Kirsten, die wiederum von Tänzerinnen und Tänzern auf den Emporen gleichzeitig in Bewegungssprache übersetzt wird, während Künstler des AuditivVokal-Ensembles Dresden die eigens für den Abend geschaffene Musik des russischen Komponisten Vladimir Rannev interpretieren. Explizit zur Multiperspektivität gezwungen werden auch – freundlich, aber bestimmt – die Zuschauer: Gööck fordert sie im Laufe des Abends mehrfach zum Sitzplatzwechsel auf. Gleichermaßen blickwinkelpotenziert endet Freyers Abend am Staatsschauspiel – nämlich in einer einzigen, aus der DDRHistorie herausführenden Gegenwartsanklage, die wirklich kein realkapitalistisches Defizit und keinen Schuldigen auslässt. Und Black. Vorhang zu – und alle sozialen Fragen wieder offen. //

FÖRDERPROGRAMME

FÜR ERHALT UND STÄRKUNG DER FREIEN DARSTELLENDEN KÜNSTE

für Künstler*innen/-gruppen, Produktionsorte, Netzwerke, Festivals und Akteur*innen Alle Informationen dazu unter www.fonds-daku.de


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Einmal Welt, bitte Intendantin Karin Becker und ihr Team wagen bei ihrem Neustart in Konstanz die direkte Konfrontation über das Spiel mit der eigenen Existenz von Bodo Blitz


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­ r-Form davon, dass seine Frau beim Lesen der Todesnachricht E mit dem Kopf vornüber schlägt. In dieser Szene sitzt Katrin Huke als Anna Quangel aber aufrecht. Sie zerreißt den Brief Stück für Stück in kleine Papierschnipsel. Diese souveräne spielerische ­Distanzierung vom Erzählbericht steht für Annas klaren Widerstandswillen. Ihr Mann Otto wird ihre Position teilen, und das, ohne dabei sein Wesen der Unauffälligkeit preiszugeben. Wie ­Sebastian Haase über sein zurückhaltendes, beherrschtes und bescheidenes Spiel diesen Otto verkörpert, ist beinahe filmisch und große Schauspielkunst. Vieles an dieser Eröffnungsinszenierung liest sich wie ein verheißungsvolles Versprechen. „Alles aus sich selbst heraus“, so formuliert Chefdramaturgin Doris Happl das inszenatorische

ie Eröffnungspremiere einer neuen Intendanz gleicht einem Spießrutenlauf. Programmatisch soll sie sein, und das auf doppelte Weise: ein inhaltliches wie ästhetisches Ausrufezeichen. Intendantin Karin Becker und ihr Team haben sich für Hans ­Falladas letzten Roman entschieden. „Jeder stirbt für sich allein“ setzt dem Widerstand in schweren politischen Zeiten ein Denkmal. Die Intendantin lässt an der Aktualität des Stoffes keinen Zweifel: „Uns ist dieser Auftakt mit Fallada sehr wichtig. Gerade weil die Demokratie erneut unter Druck gerät.“ Schirin Khodadadian betont mit ihrem klugen Inszenierungsbeginn die Perspektive von uns Jedermännern und -frauen. Das wird im Bühnenbild von Carolin Mittler unmittelbar einsichtig. Auf einer ansteigenden, schrägen Fläche setzt sich das Zuschauerparkett gespiegelt fort. Der Auftritt des Ensembles erinnert an einen hektischen Kampf um die angeblich besten Plätze. Aber wo sind diese zu finden? Weiter hinten? Ist nicht die Nachbarschaft entscheidend? Nach wiederholtem Umsetzen sind Falladas Figuren endlich platziert. Die anfäng­ liche Passivität bedeutet jedoch keinen dauerhaften Schutz vor den Fallstricken der Aktivität. Zudem: Ist passives Verhalten zu bestimmten Zeiten nicht gleichbedeutend mit einer gefähr­ lichen Form von unterlassener Aktivität? Genau das erfahren Falladas Protagonisten, Frau und Herr Quangel. Die Feldpost vom Fronttod ihres einzigen Sohnes wird zum Wendepunkt ihrer vorherigen politischen Indifferenz. Beide sind klug genug, sich mit der Formel vom Heldentod fürs Vaterland nicht abspeisen zu lassen. Anna Quangel geht noch einen Schritt weiter. Sie stellt alltägliches Mitläufertum und damit auch ihren Mann Otto radikal infrage. Und Otto versteht sofort. Er muss seine gewohnten Wege verlassen, wenn er Anna als Partnerin nicht verlieren möchte. Es beginnt ein Widerstand, der sich aus Ein ungeheuerlicher Sagenstoff, erzählt mit einfachsten Mitteln – Kristo Šagors privatem Leid entwickelt. Otto Quangel schreibt „Nibelungenleader“ (hier mit Thomas Fritz Jung). Links: Philipp J. Ehmanns Postkarten, die den Krieg der Deutschen und immersives Theaterprojekt „Generation Extinction“. Fotos Bjørn Jansen auch Hitler mit deutlichen Worten kritisieren. Er verteilt sie überall in Berlin. Tatsächlich wurde das Berliner Ehepaar Hampel im Jahr 1942 für dieses symbolische Tun vom Nazi-­ Grundprinzip. Das gilt insbesondere für die Musik. Statt digitaler Regime hingerichtet. Jenen Kern des historisch Verbürgten lässt Einspielung performen und singen die Schauspieler. Dieses Fallada in seiner epischen Skizze der Quangels unangetastet. Da­Primat der Bühne bedeutet einen Verzicht auf Illusionstheater. rin lauern allerdings die Fallstricke des Dokumentarischen. Zur Dafür werden die Zuschauer auf der Ebene von Situationskomik Stärke der Konstanzer Inszenierung gehört, dass an Falladas und Artistik entlohnt. Ja, diese Inszenierung von Alltagstragik unterhält. Ingo Biermann als Kommissar Escherich legt den nihilisSockel lehrreicher Epik durch vielfältige Differenzen auf der ­ tischen Kern seiner Figur bis zum Exzess offen. Sein expressives ­Ebene des Spiels gerüttelt wird. Dadurch entsteht MehrstimmigSpiel wäre komödiantisch, wenn der dabei zutage tretende Opporkeit. Das hängt mit Luk Percevals kluger Fassung zusammen, die tunismus nicht so traurig wäre. Und doch, trotz aller unbestreit­ hier verwendet wird. Jede Figur wechselt darin permanent baren Vorzüge, entgeht die Konstanzer Inszenierung am Ende ­zwischen Er- und Ich-Form. Die Heterogenität des Erzählteppichs nimmt in Kodadadians Regie noch zu. Häufig wird etwas ganz nicht der Gefahr des Dokumentarischen. Die Auserzählung der Hinrichtung sorgt für eine auch ermüdende Dominanz des anderes gespielt als erzählt. Otto Quangel etwa berichtet in

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Ist passives Verhalten zu bestimmten Zeiten nicht gleichbedeutend mit unterlassener Aktivität? – Das fragt Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ in der Inszenierung von Schirin Khodadadian. Foto Theater Konstanz / Ilja Mess

­ pischen. Dabei bleibt die lange Zeit durchgehaltene Ästhetik der E Differenz auf der Strecke. Die Botschaft schien zu wichtig. Theater pur bietet auch die Eröffnungsinszenierung des Jungen Theaters. Dort stellt sich Kristo Šagor gleich doppelt vor, als Leiter der Sparte sowie als regieführender Autor seines neuen Stückes „Nibelungenleader“. Multiperspektivität schafft Šagor in seiner Stückfassung dadurch, dass jede seiner sechs Figuren auch als Erzähler auftritt. Kritische Sichtweisen auf Herrschaft und ­Geschlechterverhältnis strukturieren den Abend. Besonders an dieser Erzählkonstruktion ist, dass neben Siegfried, Gunther, Hagen, Kriemhild und Brunhild auch Etzel von Anfang an Teil des Spiels ist. Kriemhilds Weg zu Etzel (Thomas Fritz Jung) wird dadurch verständlicher. Darf Kriemhild an Etzels Hof blutige ­Rache üben, weil Etzel ihre Perspektive vollständig einzunehmen vermag? In Konstanz könnte man das annehmen. Šagor verhebt sich nicht am ungeheuerlichen Sagenstoff – vielleicht auch deshalb, weil er auf kausale Neuinterpretationen verzichtet. Er interessiert sich vor allem dafür, wie etwas spielbar bleibt. Mit einfachsten Requisiten werden fabelhafte Situationen angedeutet, entstehen Drachen, lässt sich Unsichtbarkeit imaginieren. Mehr als eine Menge Holzlatten braucht es dazu nicht. Das Ensemble tritt permanent aus den eigenen Rollen heraus. Wiederkehrende Fragen strukturieren dann die rasche Narration: Was ist ein König? Was ist Liebe? Šagors Erzählprinzip gleicht in Ansätzen der frechen Art und Weise, mit der Schriftsteller Michael Köhlmeier antike Sagen vor dem Hintergrund des Existenziellen durchleuchtet. Die Konstanzer Inszenierung hat zudem keine Scheu vor Typisierungen. Gunther (Ioachim-Wilhelm Zarculea) bleibt auch bei Šagor der tollpatschige Versager, welcher er schon in der Fassung von Moritz Rinke war. Julian Mantajs Siegfried muss seinen Horizont der unmittelbaren Tat nicht überschreiten. Jonas Pätzold darf Hagen eifersüchtig spielen. War er als Kind nicht selbst in Kriemhild verliebt? Das Ensemble nutzt solche

e­ ingängigen Zuspitzungen auch für blitzartige Spielszenen nahe am Theatersport. Und doch kommt die kritische Reflexion nicht zu kurz. Bineta Hansen als Kriemhild und Johanna Link in der Rolle der Brunhild wirken nicht nur gedanklich weiter, als ihre Rollen es zu­ lassen. Ihr dominantes und herausragendes Spiel sorgt auf der Bühne für Gleichberech­ tigung. Teamorientiert tritt Karin Becker auf. Zehn Schauspielerinnen und Schauspieler des Ensembles unter Vorgänger Christoph Nix konnten bleiben. Kommunikation nach innen wie außen ist Programm. Sie steht bei Philipp J. Ehmanns immersivem Theater­ projekt „Generation Extinction“ im Zentrum. Sechs Zuschauerinnen und Zuschauer werden zu kriminalistischen Recherchen an vier Orten in der Konstanzer Innenstadt eingeladen. Sie begeben sich im Wortsinn auf Spurensuche einer jungen Protagonistin. Deren Kampf um das Klima droht ins Radikale zu kippen. Dabei kommunizieren die Zuschauer mitein­ ander, entdecken Hinweise in den grandios ausgestatteten Bühnenräumen, lesen schriftliche Dokumente, sortieren Bilder, erhalten per Funkgerät Informationen. Ehmanns Plot ist allerdings zu eindimensional auf einen angeblichen Entscheidungszwang der Aktivistin angelegt: Soll sie ein Kraftwerk lahmlegen oder einen Politiker attackieren? Den Zuschauern bleibt die direkte Begegnung mit Figur und Schauspielerin jenseits des Akustischen zudem verwehrt. Es dominiert die Ästhetik des indirekten Verweises. Insofern sehnt man sich an diesem Abend nach all dem, was der Auftakt in Konstanz ansonsten zu bieten hatte: ­direkte Konfrontation über das Spiel mit der eigenen Existenz. //

Die 1968 in Stuttgart geborene Karin Becker begann ihre Theaterlaufbahn als Dramaturgie- und Regieassistentin an der Württembergischen Landesbühne in Esslingen. Nach Stationen am Jura Soyfer Theater in Wien und am Theaterhaus Stuttgart arbeitete sie am Schauspiel Stuttgart als Produktionsleiterin. 2005 war sie für das Festival Theater der Welt in Düsseldorf tätig. Nach ihrer Anstellung als Produktionsleiterin am Deutschen Schauspielhaus Hamburg war sie von 2009 bis 2015 Künstlerische Betriebsdirektorin und Stellvertretende Geschäftsführerin am Schauspiel Hannover sowie von 2015 bis 2020 Künstlerische Betriebsdirektorin am Thalia Theater Hamburg. Seite der Spielzeit 2020/21 ist Karin Becker Intendantin des Theaters Konstanz. Foto Ilja Mess / Theater Konstanz


kolumne

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Ralph Hammerthaler

Madame 100 000 Volt Lazy Hazel, wer? Über die Schauspielerin Susanne Jansen

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erüchte, pff. Darauf gebe ich nichts. Aber interessant sind sie schon. Zum Beispiel: Wer Susanne Jansen die Hand gibt, erhält einen elektrischen Schlag. Ehrlich gesagt, dieses Gerücht habe ich gerade erfunden, um sie, die Schauspielerin und Sängerin, einzufangen. Die Begegnung, der Stromstoß, kurzzeitige Erleuchtung, dann Blackout. Das alles erklärt leider gar nichts oder höchstens ein wenig – zu wenig, wenn du mich fragst. Aber zum Erklären bin ich nicht da. Für mich heißt sie von jeher und jetzt und für alle Zeit Madame 100 000 Volt. „Kaputte Automaten“ nennt sie ihr zweites selbst geschriebenes Stück. Ende November kommt es im Berliner Theater unterm Dach heraus, mit ihr als eine der drei Figuren, die im Psycho- und Therapieduktus, also fast selbst schon automatisiert, ihre gebeutelte Existenz beklagen. Susanne sagt: Welche Zielgruppe?, werde ich oft gefragt. Dumme Frage, denke ich, weil künstlerisch ohne Wert. Das ist Marketing-Sprech. Für Leute, sagt Susanne, die Leute sehen wollen, die kaputtgehen. Für Leute, werfe ich ein, die kaputtgehen wollen. Sie lacht. War aber nicht als Witz gemeint. Das automatisierte Geplapper soll sich in aller Ruhe selbst zersetzen. Damit wäre uns allen geholfen. „Haaach!“, lässt Susanne eine Figur ausrufen, „ich bin schon wieder so energiegeladen, dass die Glühbirnen durchbrennen, wenn ich den Lichtschalter anmache.“ Im Publikumsgespräch würde ich den Finger heben und die beliebteste aller Fragen stellen: Ist das autobiografisch gemeint? Lichtschalter, Glühbirnen, Blackout. Offen gestanden, ich fange an, die neunziger Jahre zu verklären, das große Jahrzehnt des deutschsprachigen Theaters. Castorf, Schlingensief, Schleef, Marthaler, Ciulli, Baracken-Ostermeier und Nibelungen-Sagerer mit dem größten Projekt eines unabhängigen Theaters, dazu der Boom neuer Stücke. Und das Theaterhaus Jena. Von Anfang an war Susanne dort im Ensemble, und haaach!, rufe ich, sobald ich den Lichtschalter gefunden habe, ich kenne sie schon seit 25 Jahren. Dass sie mir nicht gleich aufgefallen wäre, ist bei 100 000 Volt schwer vorstellbar. „Jeder Blick, den man auf die exaltierte Susanne Jansen wirft, lohnt sich.“ Hoho, da war ich noch Kritiker für die Süd­ deutsche. „Hellblaue Augenlider, rote Perücke, luftiges Kleidchen, silberne Pumps – diese Mutter spreizt, wenn sie plappert, die Finger,

als wäre der Nagellack noch nicht trocken. Sie reitet hausfrauenhexenhaft auf dem Stil des Staubsaugers und schlängelt sich das Saugrohr um ihre Glieder. Sie ist der schillerndste unter den OffStars dieser deutschen Erstaufführung.“ Es handelte sich um „Wollt ihr das totale Schuldgefühl?“ von Karen Finley. Auch wenn man sich nicht selbst zitieren soll, ist es gerade passiert. Für Susi, finde ich, kann ich das tun. Durchtrieben war ihre Nummer mit der Bluessängerin Lazy Hazel im Theatercafé, eine kleine Jazzband zur Seite, die sie mit ihren Ansprüchen nervte. Dabei sprach sie nur amerikanisches Englisch, ganz lässig, wie sie es als Austauschschülerin gelernt hatte. Sie sang herrlich, aber verfluchte ihr Schicksal, heruntergejazzt, auf den Hund gekommen, mit einer begriffsstutzigen Band in Jena gelandet. Heulend flüchtete sie sich auf den Schoß eines Mannes im Publikum. Die Stadt war bestürzt, was für ein trauriges Leben – ehe sie das Spiel durchschaute. Von da an war der Abend Kult. Später, nach dem aufgebrauchten Chaos in Jena und somit der besten Zeit, nahm sie Lazy Hazel mit ans Schauspiel Hannover. Damals sah ich aus wie Amy Wine­ house, sagt sie. Die hat meinen Look geklaut! (Wobei dann Amy, könnte man anfügen, der dunklen Spur von Lazy Hazel gefolgt ist.) Wenn zwei Schauspieler von fünf eine Woche vor der Premiere aussteigen, liegt das Wort von der Krise nahe. Und der Autor fragt sich, um die Uraufführung bangend, was er falsch gemacht hat. Dieser Autor war ich, mit dem Stück „Hier ist nicht Amerika“, einem Theaterwestern über Carlos, der seinen Lehrer für Philosophie und Schusswaffen erschossen hat; in Düsseldorf hingen längst die Plakate aus. Und dann kam sie, Suzel Lazy Hazel, schon in der Eisenbahn das Stück analysierend und Text paukend, sich allenfalls fragend, warum ihr die Rolle nicht sofort angeboten worden war, weil sie ihr, ganz klar, auf den Leib geschrieben war, Beatriz, die Wirtin des Saloons. So stürzte sie sich mit ihrer Glühbirnen zerschmetternden Energie in die Proben, dass einem am Ende nur ein Licht aufgehen konnte. Heute sagt Susanne: Ich habe mein Leben ausgefegt. Und ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, klingt gut oder nicht gut, also, wenn du mich fragst, bohrst du da lieber nicht herum. In „Kaputte Automaten“, ganz am Anfang, sagt eine Frau zu einem Mann: „Also Klaus, du warst ja nun in Japan ...“ Darunter steht die Regieanweisung: „Es folgt eine zweiminütige Pause.“ Das leuchtet mir ein. //

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Brauchse Jobb? Das Favoriten-Festival 2020 in Dortmund zeigt die Lichtund Schattenseiten von bezahlter und unbezahlter Arbeit

von Sascha Westphal

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er Besen ist riesig, mit dem Demian Wohler den Boden in der Werkhalle im Union Gewerbehof fegt. Aber das muss er wohl auch sein. Schließlich sind die Ausmaße des Raums enorm. Nach und nach zieht er seine Bahnen zwischen den in der Halle aufgestellten Tischen. Indessen staubt Lucie Ortmann die grünen Zimmerpflanzen ab, die in einem anderen Areal des Raums stehen. Es sind ganz alltägliche Arbeiten, denen Wohler und Ortmann im Zuge des Installationsprojekts „Aufstand aus der Küche: II_VerSammlung DO“ für kurze Zeit nachgehen. Aber sie bekommen an diesem Ort und in diesem Rahmen eine ungeheure symbolische Bedeutung. Die Inszenierung ist von der 1975 entstandenen feministischen Videoarbeit „Semiotics of the Kitchen“ der USamerikanischen Künstlerin Martha Rosler inspiriert. Während das Publikum durch die Installation schlendert, sich von der Gruppe produzierte Video-Reenactments von Roslers Arbeit ansieht oder die auf den Tischen aufgebahrten Arbeitsgegenstände aus diesen Videos betrachtet, wie eine Kamera und einen Laptop, einen ­Notizblock und einen Becher, erledigen die Performerinnen und Performer klassische Hausarbeiten. Kunst und Staubwischen, das wirkt auf den ersten Blick wie ein eklatanter Widerspruch. Und das soll es auch. Denn schon der Gedanke, dass Hausarbeiten sich nicht mit Kunst vereinbaren lassen, dass hier zwei Welten zusammenkommen, die nicht zusammengehören, verrät viel über die Mechanismen und Konditionierungen unserer Gesellschaft. Staubwischen und Fegen, Saugen und Spülen gehören eben nicht nur nicht ins Reich der Kunst. Sie werden im Kreislauf kapitalistischer Verwertung in der Regel nicht mal als geldwerte Arbeit anerkannt. Gegen diese Logik, die über Jahrzehnte hinweg (Haus-)Frauen und Mütter in die Abhängigkeit von ihren berufstätigen Ehemännern gedrängt hat und auch heute noch das Leben aller prägt, wenden sich Mareike Hantschel, Lucie Ortmann, Jessica Prestipino, Katrin Ribbe und Demian Wohler mit ihrem Langzeitprojekt „Aufstand aus der Küche“. In dem Augenblick, in dem das Publikum beginnt, inspiriert von den Aktionen der Performerinnen und Performer sowie von Roslers Videoarbeit, die auch ein Alphabet all der Gegenstände und Verrichtungen einer Hausfrau war, über sein eigenes ­„Alphabet der Arbeit“ nachzudenken, bekommen alltägliche Auf-

gaben und Arbeiten ein anderes Gewicht. Man wird sich bewusst, wie viel Zeit man am Tag mit Arbeiten verbringt, die nicht entlohnt werden, und stellt so die Grundpfeiler eines Systems infrage, das von jedem Einzelnen höchste Produktivität und absolute Selbstoptimierung verlangt. Genau dieses Hinterfragen bestehender Verhältnisse hat dieses Langzeitprojekt, das zuvor schon in Hannover, Oberhausen und Köln zu sehen war, zum Kernstück des diesjährigen Favoriten-Festivals gemacht. Unter der Überschrift „While We Are Working“ haben Fanti Baum und Olivia Ebert insgesamt zwanzig Produktionen aus der freien Szene Nordrhein-Westfalens nach Dortmund eingeladen. Mit dieser programmatischen Klammer konnten sich die beiden Kuratorinnen, die nun zum zweiten Mal hintereinander die Leitung des mittlerweile im Zwei-Jahres-Rhythmus stattfindenden Festivals innehatten, noch konsequenter als vor zwei Jahren von den Anfängen der Favoriten, die 1985 unter dem Namen Theaterzwang ins Leben gerufen wurden, lösen. Was einmal als Leistungsschau der freien Gruppen und Theater Nordrhein-Westfalens konzipiert war, ist bei ihnen zu einer offenen und vielgestaltigen Befragung unserer Wirklichkeit geworden. Eine Arbeit wie „Aufstand aus der Küche“ reflektiert dabei nicht nur das Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Sie lenkt auch den Blick auf den künstlerischen Arbeitsprozess und bindet sogar das Publikum mit ein, indem sie allen Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit gibt, ihr eigenes „Alphabet der Arbeit“ zu formulieren und die Installation so zu erweitern. Dadurch entsteht eine Offenheit, die in den Augen von Fanti Baum und Olivia Ebert ein zentraler Aspekt eines anderen, widerständigen Produzierens in der freien Szene ist. Es geht nicht mehr ausschließlich darum, eine Arbeit auf die Bühne zu bringen, die dann nach einigen wenigen Aufführungen schon wieder abgespielt ist. Diese letztlich von einer kapitalistischen Verwertungs­ logik geprägte Produktionsweise weicht vielmehr immer häufiger einer Arbeitsform, die den Prozess der Produktion stärker ins Zentrum rückt. Der „Aufstand aus der Küche“ lässt sich immer wieder neu anzetteln und erweitern. Dieser Ansatz, dass eine Produktion fortwährend im Fluss sein kann und sich vielleicht einem Ort oder auch einem Festival anpasst, findet sich auch in dem von Thomas Lehmen ersonnenen „Ersten Oberhausener Arbeitslosenballett“ wieder. Im Rahmen des Festivals gastierte er nicht einfach mit seiner in Oberhausen entstandenen Produktion, sondern probte und erarbeitete sie


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für Dortmund und die Favoriten noch einmal neu. Zu einigen der Arbeitslosen, mit denen er in Oberhausen eine Choreografie entwickelt hatte, die die Kunst als Gegenwelt zu unserem von Arbeit oder eben Arbeitslosigkeit geprägten Alltag feiert, kamen Dortmunderinnen und Dortmunder, die sich auf den Aufruf „Brauchse Jobb? Wir machen Kunst!“ hin gemeldet hatten. Über dieser Performance, die ausgehend von zahlreichen Schlagworten wie Geld und Angst, Kunst und Arbeit jeder Performerin und jedem Performer die Freiheit ließ, ganz sie oder er selbst zu sein, schwebt zweifellos der Geist von Christoph Schlingensief. Wenn alle Beteiligten ihr persönliches Bekenntnis zur Kunst abgeben und dann etwas performen müssen, um einen Vertrag und fünfzig Euro auf die Hand zu kriegen, ist das natürlich eine ironische Abrechnung mit den Verhältnissen auf dem Arbeits(losen)markt. Zugleich erinnert diese Aktion aber auch an das „Nature Theater of Oklahoma“-Kapitel aus Franz Kafkas Roman „Der Verschollene“. Alle können teilnehmen, und jeder und jede kann sich auf eigene Art einbringen. Der eine rezitiert einen selbst geschriebenen Text, der andere singt einen Song, wieder andere spielen Instrumente. So wird die Kunst-Arbeit im „Ersten Oberhausener Arbeitslosenballett in Dortmund“ zu einer Form der Selbstermächtigung. Kunst, wenn sie so demokratisch ist, wie sie Thomas Lehmen versteht, befreit den Menschen von den Zwängen der Arbeitswelt und den Zumutungen der Arbeitslosigkeit. Eine ähnliche Form von Ermächtigung schwebt auch dem Kollektiv KGI vor, das in Zusammenarbeit mit dem Gelsenkirchener Musiktheater im Revier und dem Ringlokschuppen Ruhr die Performance „Und jetzt alle! – Eine Oper“ entwickelt hat. Fünf Performerinnen und Performer treten in fantastischen, an opulente Operninszenierungen erinnernden Kostümen auf und warten voller Hoffnung und voller Schrecken auf ein einschneidendes

Die Entstehung der Oper aus dem Geiste des Office – „Und jetzt alle! – Eine Oper“ von KGI in Zusammenarbeit mit dem Gelsen­ kirchener Musiktheater im Revier und dem Ringlokschuppen Ruhr. Foto Judith Lorenz/MiR

Ereignis, das um 21:21 Uhr stattfinden soll. Die Erwartung schürt Ängste und löst einen absurden Aktionismus aus, in dem sich die hierarchischen Struk­turen am Arbeitsplatz spiegeln. Die Ankündigung baut Druck auf, der Panik und Konkurrenzdenken hervorbringt. Aus der Verknüpfung solcher Vorgänge, die alltägliche Arbeits- und Bürosituationen gezielt überspitzen mit opernhaften Gesangseinlagen und melodramatischen Gesten, entsteht eine satirische Dekonstruktion der Arbeitswelt mit all ihren absurden Ritualen. Auch das Genre der Oper wird dabei dekonstruiert, allerdings gleich wieder liebevoll zusammengesetzt. Wie das „Erste Oberhausener Arbeitslosenballett“ ist auch „Und jetzt alle! – Eine Oper“ ein gezieltes Spiel mit dem Dilettantischen, aus dem eine neue Art der Freiheit erwächst. Kunst muss eben nicht perfekt sein. Durch den Corona-bedingten Lockdown hat die diesjährige Ausgabe der Favoriten eine zuvor nicht geplante Dimension erhalten. Dank entsprechender Genehmigungen vonseiten der Stadt Dortmund konnten alle Gruppen ihre Produktionen so aufführen, wie sie ursprünglich entstanden waren. So erinnerten die Vorstellungen an die Zeit vor der Pandemie und rückten das große Überthema Arbeit in ein etwas anderes Licht. Die Produktionen kreisten nicht nur um verschiedene Aspekte dieses Themas. Sie erinnerten einen zudem daran, dass jedes Kunstwerk, jede Aufführung im ganz konkreten Sinn Arbeit ist … eine Arbeit, der die einzelnen Künstlerinnen und Künstler monatelang nicht nach­ gehen konnten. //


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Kosmopolitin, Kettenraucherin, Kunstkennerin In Erinnerung an die Kuratorin und Festivaldirektorin Frie Leysen von Renate Klett


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frie leysen

Kulturstiftung des Bundes aufgenommen. Sie hielt ein Jahr lang durch, dann ließ sie sich von mir vertreten. Auch wenn sie aus­ l  s Frie Leysen 1994 in Brüssel das Kunstenfestivaldesarts gezeichnet Deutsch sprach, waren ihr Hunderte Seiten Antragsgründete, das die Zweisprachigkeit Belgiens schon im Titel trägt, prosa einfach zu viel. Sie fand die Begabten schon immer besser auf Reisen als auf dem Papier. hatte sie die so simple wie geniale Idee, die Inszenierungen in den Theatern der Brüsseler Sprachgemeinschaften auszutauschen. In Wohl auch deshalb stürzte sie sich mit Feuereifer in ein neues Abenteuer. Nach zwölf Jahren als Kunsten-Leiterin übergab den flämischsprachigen Häusern präsentierte sie französischsprachige Aufführungen und umgekehrt. Das war ein Risiko und sie das Festival an ihren langjährigen Mitarbeiter Christophe Slagfunktionierte anfangs schlecht, aber sie ließ nicht locker, und allmuylder und heuerte 2007 bei Meeting Points an. Dieses Festival der arabischen Kultur mit Sitz in Brüssel fand in seiner fünften mählich gewöhnte sich das Publikum daran. Heute finden es alle fast normal, aber es brauchte eine Initiatorin wie Frie Leysen, um Ausgabe, die sie kuratierte, in neun arabischen Städten statt, plus Berlin und Brüssel. Ich stelle sie mir vor, wie sie hin- und herjettet den Stein ins Rollen zu bringen. 1950 in Hasselt geboren, studierte sie Kunstgeschichte an zwischen Amman, Damaskus, Beirut, Ramallah, Kairo, Alexandria und den Vereinigten Arabischen Emiraten – viel rauchend, der Universität Leiden mit dem Schwerpunkt mittelalterliche Kunst. Dass sie sich später dem Gegenteil zuwandte und sich nur schlecht schlafend und voller verrückter Ideen. Danach muss ihr Theater der Welt 2010 in Essen und Mühlnoch fürs zeitgenössische Kunstschaffen interessierte, ist typisch für sie, und sie spottete gern darüber. Jahrelang leitete sie das fläheim wie ein Spaziergang vorgekommen sein, obwohl das Festival mit seinen wechselnden Orten und Direktoren es durchaus in mische Kulturzentrum de­Singel in Antwerpen, das Theater, Tanz, Musik, Performance und Architektur sich hat. 2012 programmierte sie für die Berliner Festspiele das Foreign Afaus Flandern und dem Rest der Welt fairs Festival, 2014 wurde sie Prozeigte und zu einem wichtigen StützDer Künstler muss die Welt grammdirektorin der Wiener Festwopunkt des internationalen Austauschs darstellen, wie er sie sieht, wurde. chen. Allerdings überwarf sie sich noch vor Beginn mit der Leitung und Später gründete sie gemeinsam und nichts und niemand darf mit Guido Minne das Kunstenfestiprogrammierte nur eine Spielzeit. Diplomatie“, kom„Theater ist nicht ­ valdesarts, das sie vor allem als Plattihn davon abhalten. form für sorgfältig ausgewählte Dementierte sie ihren Rückzug. Frie Leysen hatte drei Grundsätze, die sie bütanten verstand. Sie liebte ihre hochhielt. Erstens: Lade die richtigen Künstler ein. Zweitens: UnKünstler, auch wenn sie durchfielen, förderte und beschützte sie. Und wehe, man war nicht einverstanden mit ihrer Auswahl – terschätze das Publikum nicht. Drittens: Bleibe nicht zu lange im dann konnte sie recht ungemütlich werden. Aber der Rückblick selben Job. gibt ihr recht. Nicht von ungefähr wurde das Kunsten der TreffSie hat viele Preise und Auszeichnungen erhalten, unter punkt in Europa für Festivaldirektoren und solche, die es werden ­anderem einen Ehrendoktor von der Freien Universität Brüssel. wollten. In Fachkreisen galt es jahrelang als das wichtigste FestiMan munkelte auch, das belgische Königshaus habe sie in den Stand einer Baronesse erhoben. Wenn man sie darauf ansprach, val Europas, wenn nicht der Welt. Mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung ging man bei ihr „einkaufen“ und folgte den winkte sie ab – es schien ihr fast peinlich zu sein. Wenn wir uns bei etablierten Festivals trafen, in Avignon Trends, die sie setzte. Sie überredete viele ihrer Kollegen zu koproduzieren statt oder bei Golden Mask in Moskau, dann hatten wir – Frie Leysen vom Kunsten, Marie- Hélène Falcon vom Festival TransAmériques einzuladen. Überhaupt war sie eine große Überredenskünstlerin, in Montreal und ich von Theater der Welt – viel Spaß daran, the nicht aus Berechnung, sondern aus Überzeugung. Sie überredete Flamen und Wallonen zusammenzuarbeiten, und sie überredete three wicked witches zu spielen. Wir hielten Gericht, lästerten, was das Zeug hielt, und schworen uns, dass unsere Festivals niemals William Kentridge, in Brüssel eine Oper zu inszenieren – es war so langweilig sein würden. Daran haben wir uns gehalten. die erste von vielen, die noch folgen sollten zwischen dem Théâtre Als sie 2014 den prestigeträchtigen Erasmus-Preis in Amsde la Monnaie und der Metropolitan Opera in New York. Frie Leysen konnte sehr streng sein, auch verletzend, aber terdam verliehen bekam, hielt sie eine fulminante Rede gegen posie konnte auch, und das war häufiger der Fall, sehr generös und litische und finanzielle Einflussnahme in der Kunst: Der Künstler witzig sein, überschwänglich und mitreißend. Die Kosmopolitin, muss die Welt darstellen, wie er sie sieht, er muss sie analysieren Kettenraucherin und Kunstkennerin galt vielen jungen Kuratound kritisieren, und nichts und niemand darf ihn davon abhalten. ren, besonders Kuratorinnen mit ihrer Gradlinigkeit und RadikaSchließlich gab es noch die koreanische Episode. 2015 eröfflität als Vorbild. In Deutschland wurde man früh auf sie auf­ nete Frie Leysen als Künstlerische Leiterin das Asian Arts Theatre merksam. So wurde sie beispielsweise in die Auswahljury der im südkoreanischen Gwangju, wo sie zuständig war für das „westliche Kontrastprogramm“. Danach war sie wie von der Bildfläche verschwunden. Vielleicht war sie damals schon krank. Die einen sagten, sie sei in Davos, andere verorteten sie in Brüssel. Am „Theater ist nicht Diplomatie“ – Unter diesem Motto versammelte 22. September 2020 ist Frie Leysen verstorben. Wir werden sie nie Frie Leysen die berührendsten und verstörendsten Künstler auf vergessen. // ihren Festivals. Foto Ilja Höpping / WAZ FotoPool

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abschied

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Geht mir aus dem Weg auf dem Weg zur Rampe Dem Schauspieler Michael Gwisdek zum Gedenken von Thomas Wieck

M

an sprach davon im Lande, es gäbe in Karl-Marx-Stadt, am hochseriösen Schauspielhaus, einen verwegenen Darsteller, der übe stundenlang den Colt ziehen, nonchalant, elegant oder gar beidhändig zwei Colts um den großen Finger beider Hände ­wirbelnd, jäh stoppend, um dann … aber dazu kam er nie … abzudrücken. Hier bereitete sich in der sächsischen Industriestadt Ende der sechziger Jahre jemand seltsam realitätsfern auf eine filmische Weltkarriere vor. Dabei schätzte man ihn als durchaus intelligenten jungen Schauspieler – als melancholisch einsam umwitterten Karl Moor, als einen fast aus allen Kurven fliegenden, überkochenden Pantalone und als den von der Arroganz der Macht durchglühten Kreon. Aber merkwürdig: An den endlichen Zusammenbruch des Kreons kann ich mich nicht entsinnen, vielleicht auch deshalb, weil: Ein Gwisdek brach ungern zusammen, das war seine Sache nicht, das open ending. Er wollte das Spiel immer weitertreiben ins schier Endlose. Seine wahrlich behände Intelligenz, diese sinnlich aus­ brechende „körperliche“ Klugheit, gebändigt vom schauspielerischen Grundhandwerk der kalkulierten Wirkungen, animierte seine Partner, kräftig mitzumischen. Derart organisierte er sich seine Szenen auf der Bühne. Nach fünf guten Jahren in KarlMarx-Stadt war es für ihn hohe Zeit, zurück nach Berlin zu gehen, ins theatralische Zentrum, und da kam für ihn nur das auffälligaufregende Theater des Benno Besson infrage. „Wir kamen mit ‚Diener zweier Herren‘ zu einem Gastspiel an die Volksbühne“, erzählte Gwisdek in einem Gespräch 2019. „Vor der Vorstellung hab ich all meinen Kollegen gesagt: ,Entschuldigt, ich will heute Abend hier engagiert werden. Ich werde anders spielen als bisher, ich sag euch das gleich, geht mir aus dem Weg auf dem Weg zur Rampe, ich spiele heute um mein ­Leben.‘ So hab ich die Nummer gespielt, ich hatte es ja angesagt, brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, hatte gemacht, was ich wollte, und dann habe ich mich in die Kantine gesetzt und mit Usch (Ursula) Karusseit gesprochen. Sie sagte: ,Na, das wär’ doch was, wenn du hier bei uns.‘ – Ich hab gesagt: ,Aber wie soll ich das

machen …‘ ,Warte mal!‘ Eine Viertelstunde später kam Benno rein, setzte sich an den Tisch … und nichts passierte. Dann sagte Usch: ,Na, der Micha, der würde gerne hier bei uns arbeiten!‘ ,Mhm, na ja, wie Sie sich da durchgesetzt haben an der Rampe … hat mir imponiert … ich brauche Schauspieler, die wissen, wo … Ich habe keine Lust, Schauspielunterricht zu geben …‘ Ich war engagiert!“ Jetzt wurde es ernst, denn hier spielte eine hochbegabte Bande junger Schauspieler, allesamt „Räuber“-gestählt. Unter ­ihnen wieder Hauptmann zu werden, war Gwisdeks künftige Aufgabe. Wie es gehen konnte, zeigte ihm Besson: „Bei meiner ersten Probe sagte er – ich machte da einen Gang: ,Auf den Bühnen ­Europas kann man so nicht gehen!‘ Diesen totalen Anspruch hat Benno – Theater für Europa, für die Welt. Er wurde auch be­lächelt. Aber er sagte nicht: ,Ich baue mir ein Volksbühnchen auf, wo man keine Sorgen hat.‘ Er wollte für die Welt Theater machen. Und das finde ich überhaupt nicht übertrieben, sondern völlig richtig. Dieser Anspruch lag immer drunter. Und damit musste man sich auseinandersetzen. Und wenn das nicht da ist, zieht man schnell ins Mittelmaß ab“, so Gwisdek in einem Interview 1978. Er hielt sich dran. Er lässt nach „Berliner Art“ die Sätze fallen, verschleppt und dehnt manche Wörter übermäßig; Ausdruck von Arroganz des Hauptstädters. Sein Vorbild, der Mime und Tragöde in eins, Rolf Ludwig, beherrschte das meisterhaft. Der andere soll doch denken, was er will. Ich hab meins gesagt. Basta. Aber ich kann’s gern noch mal wiederholen, wenn’s denn sein muss, der unterdrückte Narzissmus begehrt auf und setzt sich durch. Kennt der Berliner tatsächlich ein Ende, geraten ihm nicht sämtliche Punkte, die er setzt, doch nur zu Pausenzeichen? Wahrscheinlich … Gwisdeks Figuren scheinen von einem Gesetz durchdrungen. Sie sind ewig Aufstrebende, sich Arrangierende und doch die Lücke im System Suchende. Geraten sie unter den Zwang einer Sozialrolle oder ergreifen sie freiwillig eine solche, dann unterwerfen sie sich selten ihr gänzlich. Sie passen sich ihr nur widerwillig an, in ihrem Innersten werden sie letztlich diese Rollen­ muster/-zwänge nie akzeptieren, weil sie allesamt im Grunde ihrer selbst kein anderer sein wollen als der, den sie in sich sehen und wähnen, nach dem sie sich sehnen. Er geht und läuft und wandert durch die Stücke, er umschwärmt das Publikum und sucht trotzdem einen Ort der Ein-


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michael gwisdek

Inszenierung 1978 an der samkeit. Er wirbt, umgarnt, Volksbühne. Dann folgte, nun wehrt sich, begehrt auf und schon am Deutschen Theater, zerfließt im Selbstmitleid, so fast vergessen der unnach­ fremdes Mitleid tückisch heiahmliche sprachliche Parforceschend. Sein Tun und Lassen, ritt mit Dieter Montag, hohe sein Sprechen und Schweigen Kunst des Sprechens, Denkens ist ganz den Interessen der Figur unterstellt. Je kräftiger ­ und Handelns: „Wolokolamsker Chaussee I“ (1985) als Prodie Interessen der Figuren vom Schauspieler ausgespielt werJohannes R. Bechers log zu ­ „Winterschlacht“ in der Regie den, umso besser bedient er sein ureigenes schauspielvon Alexander Lang. Beide saßen eng nebeneinander, nahekünstlerisches Interesse: gehört, gesehen, beachtet, bewundert zu regungslos auf zwei simplen Stühlen zwölf Minuten lang spieler zu werden – vom Mit­ allein auf der Bühne, schutzlos wie vom Zuschauer. Michael dem Publikum ausgeliefert. JeGwisdek beherrschte diese der Wimpernschlag, jede unhohe Kunst auf eine eigene willkürliche Bewegung, jedes Art: Körperlicher Furor und die Hüsteln oder Stocken wäre eine Suada seiner Figuren verhandwerkliche Katastrophe, schlangen, wenn es galt, alles um sich herum und versetzten hätte den Strom der Gedanken, Bilder und Emotionen zerstört. das Publikum in höchstes Entzücken. Ein letztes Mal waren die Auch sein Schweigen ist drei „Müller-Spieler“ noch einmal unvergesslich, im Schlussoftmals außerordentlich beredt, weil er sich dazu zwingen bild der „Lohndrücker“-Aufmuss. Das geht nun wirklich führung 1988 vereint, in einer metaphorischen Szene hohen gegen seine Natur. So ist er selbst im Schweigen, im InneStils, die drei Schauspieler gleich den dargestellten Figuhalten hochaktiv und absolut präsent. Aber er konnte seine ren für immer aneinandergekettet in ihrem unlösbaren Figur auch abschalten, seine Konflikt ausharrend in alle Figur versinken lassen, aus dem Ewigkeit – letztes Bild des verRennen nehmen, beiseitestellen. In diesen Momenten war geblichen Wartens auf die UtoEin Mann, der wusste, wie man lässig einen Colt zieht – Michael Gwisdek (oben) in „Der Bau“ von Heiner Müller 1980 an der er der Schauspieler Gwisdek, pie von einer sozialistischen Volksbühne Berlin. Foto Adelheid Beyer, Akademie der Künste, Berlin, dennoch beeindruckend an­ Gesellschaft. Archiv Volksbühne Berlin, Nr. 6500 wesend, indem er die NichtigMichael Gwisdek sagt sich 1990 los von den Bühnenkeit der Figur, ihre Abwesenbrettern, die zu diesem Zeitheit eindrucksvoll betonte, so punkt nicht mehr die Welt bedeuteten: „Wir haben uns damals so erreichte er den berühmten schauspielerischen „Nullpunkt“. verstanden, dass wir politisches Theater machen. Aber nicht in An der Volksbühne fand er die entscheidenden Partner seiner Theaterzeit, Dieter Montag und Hermann Beyer. Sie verdem Sinne, dass wir uns wie eine verschworene Gemeinde hingesetzt und gesagt haben, wir legen hier jetzt mal ‘ne Bombe! Man schworen sich zu der Arbeit an Heiner Müllers Stücken, wühlten hat sich politisch auseinandergesetzt in der Zeit, und zwar sehr sich durch seine ungewohnten Texte und tief hinein in seine prostark. Aber die konkrete Arbeit war aus unserem Leben empfunvokante Ästhetik. Sie spielten in „Die Bauern“, im „Bau“, und als krönenden Abschluss dieser Zeit teilten sie sich die eine Figur des den. Wir haben Glück gehabt … Ich bin weggegangen vom TheaMacbeth. „Hermann Beyer, Dieter Montag und Michael Gwisdek ter, weil ich wusste: Besser kann es nie mehr werden. Ich war von als Trio von Fuchsteufel, Fleischer und Finsterling“, schrieb die Gott begnadet, in dieser Zeit zu leben. Ich hab das alles durch. Und mehr kannst du nicht, als mit den Leuten zusammen gearTheaterkritikerin Sybille Wirsing. Heiner Müller erklärte: „Gwisbeitet zu haben.“ (Gwisdek 2019) dek spielte das Mannequin der Macht, den Herrscher auf dem Er entschwand endgültig in die Filmstudios und betrat fröhLaufsteg. Montag war der Darsteller der Angst. und Beyer war das lich den roten Teppich, von dem er immer geträumt. Gehirn und der Täter.“ Dazwischen spielten Gwisdek und Beyer ein skandalöses Am 22. September ist Michael Gwisdek im Alter von 78 Jahren in Berlin verstorben. // Duo tödlicher Langeweile, Leonce und Valerio in Jürgen Goschs

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Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Luxus und Anarchie Die Inszenierungen von Charlotte Sprenger sind ästhetische Individualistinnen – sie leben von der Freiheit der Möglichkeiten­

W

ie viel Freiheit nehme ich mir, und wie viel erkämpfe ich mir? Charlotte Sprenger hat ihr Mantra sehr bewusst gewählt. In ihrem siebten Jahr als Regisseurin überrascht sie in ihren Aufführungen mit einer Purheit und Subjektivität, die sie inzwischen an große Häuser wie das Thalia Theater Hamburg, das Deutsche Theater Berlin, ans Theater Basel, nach Linz und Karlsruhe geführt haben. Denn Charlotte Sprenger kann Nein sagen und sucht nach dem, was sie berührt und was sie nahe an sich heranziehen kann. Nach einem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften kommt die 1990 Geborene 2013 ans Theater und inszeniert zum ersten Mal. Die Erfahrung macht ihr deutlich, mit welcher Kraft und in welcher Klarheit ihr Wunsch zu inszenieren schon längst bereitlag. Als Regie­ assis­tentin am Schauspiel Köln leitet sie ab 2016 in einem Vierergespann die Außenspielstätte Britney – eine experimentelle Zelle, deren Laufzeit leider von vornherein auf ein Jahr begrenzt ist. Charlotte Sprenger löst chemische Reaktionen zwischen eigenwilligen Texten aus und verknüpft weit auseinanderliegende Universen: Da trifft schon mal Fritz Kater auf Wenedikt Jerofejew, oder sie adaptiert Romane von Saša Stanišić, Bov Bjerg und Jonas Hassen Khemiri. Mit ihrer Version von „Clockwork Orange“ nach dem Roman von Anthony Burgess legt sie eine Punktlandung am Theater der Keller in Köln hin, dem sie bis heute sehr verbunden ist. Die Inszenierung wird 2018 mit dem Heidelberger Theaterpreis ausgezeichnet. Im gleichen Jahr wird sie mit ihrer Adaption von Jonas Hassen ­Khemiris Roman „Alles, was ich nicht erinnere“ zum Festival Radikal jung eingeladen. Beides junge, schnelle und in üppiger Vielfalt entworfene Inszenierungen, die den Schauspieler ins Zentrum stellen. „Ohne mich geht es nicht, aber ohne Schauspieler geht es gar nicht“, sagt Sprenger. Ihr biografischer Hintergrund, beide Eltern sind Schauspieler, hat ihr, wie sie sagt,

ein Urvertrauen mit auf den Weg gegeben. Wie eine Berech­ tigung, sich in diesem Umfeld zu bewegen. Ganz unzeitgemäß nennt sie den amerikanischen Regisseur John Cassavetes als ein wichtiges Vorbild. Ihre Inszenierung „Opening Night“ nach seinem gleichnamigen Film am Thalia Theater Hamburg wird zu einem Leuchtturm des kreativen ­Widerstands gegen den Lockdown, der das Ensemble nur wenige Tage nach Probenbeginn besonders hart trifft: Als „Corona-­ Therapie-Gruppe“ verlagert Sprenger die Proben in die Sphäre von ZoomVideokonferenzen, bis nach zwei Monaten die realen Treffen wieder beginnen können. Am Ende krönt die wochenlange Ausdauer eine OpenAir-Aufführung im Eingangsbereich des Thalia Theaters in der Gaußstraße: Die Stimmen der Schauspieler wandern den Zuschauern via Kopfhörer direkt ins Ohr. „Die Verlagerung der Proben ins Internet lag wohl auf der Hand“, sagt Sprenger. Dennoch ist die Konsequenz, mit der das Ensemble neue Wege ging, für viele ­andere Theaterleute interessant und inspirierend. Nun bereitet sie eine Inszenierung zu Alfred Hitchcock am Theater Basel vor – im Zentrum der Stückentwicklung steht eine Figur „wie er“. Sprengers Aufführungen entfernen sich gezielt von Vorlagen, wie hier von der tatsächlichen Biografie Hitchcocks, und verdichten das Material jenseits von Authentizität. Das macht ihre Arbeiten zu ästhetischen Individualistinnen. Vergeblich sucht man bei Sprenger Ähnlichkeiten oder eine Corporate Identity, ihre Inszenierungen leben vielmehr von der Freiheit ihrer Möglichkeiten und einer handwerklich wie über der Wasseroberfläche schwebenden Leichtigkeit. „Theater ist doch ein Luxus, wir müssen Spaß haben!“ // Charlotte Sprenger. Foto Markus Bachmann

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Friederike Felbeck „Hitchcock im Pyjama“ in der Regie von Charlotte Sprenger am Theater Basel ist wieder am 1.,6., 8., 10., 11., 12., 15., 20. und 21. November zu sehen. Ihre nächste Premiere findet am 20. Dezember am Deutschen Theater Berlin statt, wo sie „Mercedes“ von Thomas Brasch inszeniert.


Look Out

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Technik in Frauenhänden Das feministische Performancekollektiv Swoosh Lieu feiert die Produktionsmaschine Theater mit all ihren Störungen

ea ex machina“, die jüngste Produktion des feministischen Performancekollektivs Swoosh Lieu, hätte eigentlich im Frühjahr im Frankfurter Mousonturm Premiere gefeiert. Corona­ bedingt müssen sich Liebhaberinnen ihrer Arbeiten nun bis Herbst 2021 gedulden, um herauszufinden, welche queerfeministische Technovision die selbst ernannten „Theatermaschinistinnen“ auf der Bühne entfalten werden. Überbrücken ließe sich die Zeit mit dem Verweilen auf den Webseiten ihres künstlerischen Forschungsprojekts „A Feminist Guide to Nerdom“, dem Lauschen ­ ihrer Hörspielversionen von „Who Cares?!“ und „Who Moves?!“ oder der (ohnehin stets wert­ vollen) Lektüre Donna Haraways, deren Werk in ­ Swoosh Lieus Arbeiten spürbar hineinwirkt. Die Inszenierung „Who Cares?! – Eine vielstimmige Personalversammlung der Sorge­ tragenen“ (2016) ist der erste Teil der Trilogie „What Is the Plural of Crisis – ein performativer Krisenbericht in verteilten Rollen“ und bringt das Publikum zunächst mit den Stimmen interviewter Sorge-Arbeiterinnen zusammen: Pflegerin, Erzieherin, Blindenassistentin, Sexarbeiterin – sie alle berichten von ihrem Arbeitsalltag, von schlechter Bezahlung, mangelnder Wertschätzung, der eigenen Erschöpfung und dem Wunsch nach mehr Anerkennung. Auch das visuelle Feld wird bespielt: Fünf Performerinnen, die je ein weib­liches Rollenbild in einem Tableau vivant verkörpern, treten der Versammlung bei. Gleiches gilt für Medea, Nora, Antigone oder Mascha, die (imaginär) teilnehmen, indem Performerin ­Katharina Speckmann jene Dramenverse zitiert, die die Figuren gleichfalls als Sorge-Arbeiterinnen markieren. Zum Schluss ­treten in der Videoprojektion weitere Akteurinnen einer spekulativen Zukunft vor die Kamera und berichten leidenschaftlich über ihr Leben nach der großen „Care-Revolution“. Ein unglaublich starker Abend, der nicht nur Kritik an einem Theater

Swoosh Lieu (v.l.n.r.: Rosa Wernecke, Katharina Pelosi und Johanna Castell). Foto Swoosh Lieu

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äußert, das mit dem Spielen kanonischer Texte trotz Neuinterpretationen fortlaufend bestimmte Frauenbilder reproduziert und dabei ökonomische Verstrickungen (wie die Relation von Geschlecht und Lohnarbeit) im Unsichtbaren lässt, sondern es gerade mit Mitteln des Theaters schafft, widerständige feministische Konstellationen zu präfigurieren. Im zweiten Teil „Who Moves?! – Eine performative Mon­ tage der Beweggründe“ werden zehn Frauen hörbar, die sich – nicht zuletzt aufgrund von Ungerechtigkeiten, die ihnen in der Folge von Flucht oder Migration widerfahren sind – in verschiedenen politischen Be­ wegungen engagieren. Die auf Tische projizierten Bilder zu ihren Geschichten werden erst durch „weiße Machttechniken“ sichtbar, indem das vornehmlich weiße Publikum weiße Blätter unter die Projektionen schiebt. Die Inszenierung lädt so zur Reflexion ein, wie und wes­ sen Geschichten im Theater sicht- und hörbar gemacht werden. Der letzte Teil „Who Reclaims – Ein collagierter Streifzug durch die Raum­ frage“ zeichnet Frauen auf, die sich in Frankfurt um das Wie­deraneignen, Neuschaffen und ­Beschützen wertvoller Räume kümmern, welche marginalisierten Menschen geschützte Orte des Zusammenseins öffnen. Dazu passend wird das Publikum während der Aufführung aus dem Theatersaal heraus- und mit einem Bus in den Stadtraum hineinbefördert. Mit dieser Trilogie sind Katharina Pelosi, Johanna C ­ astell und Rosa Wernecke, die sich während ihres Studiums der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen kennengelernt haben und bereits seit 2009 als Swoosh Lieu (vornehmlich in Frankfurt) gemeinsam produzieren, auch überregional bekannt ge­ worden. Sie sind Theatermaschinistinnen, insofern ihre Raum-/ Klanginstallationen stets durch immens präzises Handwerk bestechen – und sie sind es auch, weil sie das Theater und seine Produktionsmaschine als „Ort des Rauschens beziehungsweise Raschelns“ zu pflegen und mit all seinen Störungen zu feiern wissen. // Theresa Schütz

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gerade jetzt – eben nicht Ein Telefonat zwischen Thomas Oberender und Jonas Zipf

THOMAS OBERENDER: … Ich glaube, dass die aktuelle, von Covid verursachte Zwangspause

dass das nicht teurer wäre, als all die För­derungen Thomas Oberender. Foto Christoph Neumann

ockdown, Veranstaltungsverbot, Shutdown, Social Distancing … das sind die neuen Schlagworte und Realitäten der CoronaPandemie, die auch zu einer weltweiten Wirtschaftskrise avan­cierte. Liegt aber in dieser globalen Corona-Krise, in diesem erzwungenen Innehaltenmüssen auch eine Chance? Das liegt an uns, „was wir jetzt daraus machen“. Dieser Überzeugung ist Jonas Zipf, Theatermann und Werkleiter von JenaKultur. Er suchte sich in der gesamten ­Bundesrepublik hochkarätige Gesprächs­part­ ner*innen, allesamt Geisteswissen­ schaft­ ler*in­nen oder Künst­ler*in­nen, um dies ­aus­zuloten. Versammelt sind diese Gespräche in dem im November bei Theater der Zeit erscheinenden Recherchenband „Inne halten: Chronik einer Krise. Jenaer Corona-­Ge­spräche“, herausgegeben von Jonas Zipf und Birgit Liebold. Wie veröffentlichen einen Auszug ­ davon: ein Telefonat zwischen Thomas Oberender, dem künstlerischen und geschäftsführenden Direktor der Berliner Festspiele / Gropiusbau, und Jonas Zipf.

und Sonderhilfen, die es auch jetzt schon gibt –, dann würden sich viele Streitigkeiten sofort entspannen und auf eine andere Ebene verlagern. Denn dann geht es nicht mehr um die Grundlebenssicherung, die für viele Menschen aktuell ein hartes Thema ist, sondern eher da­rum: Wie wollen wir arbeiten? Geht das an zwei Tagen auch von zu Hause? Wofür soll unsere Arbeit stehen? Ist sie nachhaltig? Was soll sie bewirken? Motiviert sie Menschen, sich im Bereich social care zu engagieren, weil das plötzlich viel besser bezahlt wird als ein Grundeinkommen? Wer darf da mitwirken? Dürfen Spekulanten weiter auf Lebensmittel, Wohnen und Staatsschulden wetten? Und so weiter. Die Umweltphilosophin Barbara Muraca hat darüber viel geschrieben. Also wenn man, um auf unseren Bereich zurückzukommen, die Frage der Anstellungsform von der Grundsicherung entkoppeln

Jonas Zipf. Foto Tina Peißker

L

­genommen würde – und man hat ausgerechnet,

könnte, und zwar auch wirklich entkoppeln von Wettbewerbsgedanken, wenn man das unterbrechen könnte, wäre das ein Riesenschritt, den wir in dieser Krisenzeit intensiv diskutieren sollten. JONAS ZIPF: Also letztlich ginge es darum, unser Menschenbild zu befragen: Entsteht die Motiva­ tion zur Arbeit immer nur aus der Belohnung für Leistung? Entsteht Anerkennung nur durch Geld? Die Frage wäre ja, ob wir das Grundeinkommen

die beste Zeit ist, um über ein leistungslos gewährtes, sprich Bedin-

als gesamtgesellschaftliches Modell benötigen? Oder ob dieses

gungsloses Grundeinkommen zu sprechen. Plötzlich müsste in die-

­Modell nicht erst mal das Spannungsfeld zwischen Kunst und Insti-

ser Gesellschaft niemand davor Angst haben, seine Krankenkasse,

tution auflösen könnte? Also ein Modell wie das früher in Frankreich,

Altersvorsorge und Grundversorgung (Wohnraum, Nahrung, Kleidung)

bevor es weggekürzt wurde: Eine Grundsicherung für die Künst­

nicht bezahlen zu können. Wenn uns ­ diese Prekarisierungsangst

ler*innen, »Intermittants du spectacle« genannt.


auftritt

/ TdZ  März   Januar  2018 2020 / /

Neuerscheinungen Buchverlag

THOMAS OBERENDER: Die große Revolution wäre ja, das gesamt­

THOMAS OBERENDER: Das Grundeinkommen ist kein Einheitslohn für

gesellschaftlich zu betreiben. Und damit auch einen anderen Arbeits-

alle. Ich denke, dass die Entlastung eher in den öffentlichen Ver­

begriff durchzusetzen. Wenn Sie sich vor Augen führen, was eben

waltungen spürbar wäre, die sich sonst mit 1000 Antrags- und

alles nicht als Arbeit verstanden und mit Anerkennung oder Renten-

Beihilfefragen beschäftigen. Differenzierte Gehälter oberhalb der ­

ansprüchen honoriert wird – von der Kindererziehung bis zur

Basisversorgung würden weiterhin bestehen.

Pflege von Angehörigen, dann ist das nicht gerecht. JONAS ZIPF: Wenn das indivi­ duelle Ein­

Ich sehe diese Debatte tatsächlich in einem

kommen nicht mehr von Projektgeldern

größeren Zusammenhang. Da geht es

abhängt, würde auch die häufige

nicht nur um einen neuen »Green Deal« als Konjunkturprogramm, sondern um die Frage, wie wir unsere Lebenspraxis in andere Zusammenhänge

einbetten,

indem wir uns auf das Nachhaltige, das weniger Zer­ störerische, das Heilende konzentrieren – also etwas, das unsere Gesellschaft in der Art, wie sie mit dem Planeten und den Menschen umgeht, dringend entwickeln muss. Dafür müssen wir neue Strukturen schaffen, die der

Selbstausbeutung von Künstlern

Wenn man die Diskussion der Arbeit in diese neue Nachdenklichkeit einbettet, sprächen wir über ein gänzlich anderes Verständnis von Daseinssicherung, Daseinsfürsorge, die dabei unseren Planeten als Ganzes im Blick hat.

Daseinsfürsorge dienen, und nicht

und Künstlerinnen auf­hören, die ja für das Geld oft wesentlich mehr arbeiten als sie be­ antragt haben. Härtere oder weniger begehrte Arbeiten würden besser bezahlt. THOMAS OBERENDER: Das wäre interessant. Prinzipiell wäre für jeden Künstler wie auch jeden Handwerker oder Studenten das Leben gesichert.

Thomas Oberender JONAS ZIPF: Das würde die gesamte

der Wettbewerbslogik folgen. Also wenn man die Diskussion der Arbeit in

Diskussion verändern und sie verliefe

diese neue Nachdenklichkeit einbettet, etwa so, wie es beispielsweise Bruno Latour seit Jahren vorschlägt, dann geht es nicht nur um ein Bewusstsein für den Arten- und Klimaschutz, sondern um neue

viel stärker entlang der konkreten Erfordernisse der Kunst. Das wäre extrem spannend. Wir würden stärker über das reden, was sonst ja ständig wegschmilzt, den eigentlich künstlerischen Etat. //

­politische und aktivistische Konzepte zum Schutz der lokal verwurzelten Commons. Dann sprächen wir über ein gänzlich anderes Verständnis von Daseins­sicherung, Daseinsfürsorge, die dabei unseren Planeten als Ganzes im Blick hat. JONAS ZIPF: Es wird darauf ankommen, so kann man es auch formulieren, wie wir aus der Krise rauskommen und ob wir wirklich begreifen, um welche wesentlichen Dinge es gehen muss … »Less is more« war vorher ein Punkt. Worauf kommt es an? Was ist mir am wichtigsten? Nach Corona arbeiten und konsumieren wir dann vielleicht ein bisschen nachhaltigkeitsgerechter, regionaler, saisonaler, virtueller. Und in unseren Kunst-Institutionen versuchen wir uns auch auf das Wesentliche zu konzentrieren. Denn das Modell des Bedingungslosen Grundeinkommens würde die staatliche Förderung von Kultur-Institutionen auf zwei Fragen konzentrieren: Welche Rolle will die öffentliche Hand spielen und für welche Kostenarten ist sie zuständig? Wir würden uns nur noch um die betrieblichen Rahmenbedingungen und um die jeweiligen, vor allem finanziellen, Ressourcen für die Produktion kümmern. Denn die Leute selbst wären davon entkoppelt.

RECHERCHEN 159 Inne halten: Chronik einer Krise Jenaer Corona-Gespräche Herausgegeben von Jonas Zipf und Birgit Liebold

158 Seiten ISBN 978-3-95749-317-0 EUR 18,00 (print) / 14,99 (digital)

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Auftritt Freiburg „Elektra“ von Sophokles  Gießen „Erinnya“ von Clemens J. Setz  Karlsruhe „Die neuen ­Todsünden“ (UA) von Angeliki Darlasi, Elise Schmit, Maryam Zaree, Sivan Ben Yishai, Marina Davydova, Liv Strömquist und­

Linz „Die Sedierten“ (UA) von Martin Plattner  Magdeburg „Tod der Treuhand“ (UA) von Carolin Millner  Memmingen „Die blaue Stille“ (UA) von Maya Arad Yasur  München / Nürnberg „Das Erdbeben in Chili“ von Heinrich von Kleist  Oberhausen „Herkunft“ (UA) von Saša Stanišić  Zürich „Das Wähnen

Larisa Faber

(Das Weinen)“ nach Dieter Roth


auftritt

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FREIBURG Archetypen der Gewalt THEATER FREIBURG: „Elektra“ von Sophokles Regie Malgorzata Warsicka Ausstattung Agata Skwarczynska

wenn Klytaimnestra ihre Tochter aufsucht.

was sie will. Das letzte Wort bleibt Chrysothe-

Dann erhält der Begriff der „Gerechtigkeit“

mis: Ihr wiederholter Wunsch nach Ehe, Kin-

eine neue Klangdimension: War es nicht der

dern und Familie verklingt im schwarzen

Vater Agamemnon, der seine eigene Tochter

Bühnenraum. Sechs Harfen, lange Zeit vom

Iphigenie opferte, um in den Trojanischen

Ensemble dissonant bespielt, bleiben nun

Krieg ziehen zu können? Wie könnte eine

stumm. Der Himmel ist fern. // Bodo Blitz

Mutter diese Tat verzeihen? Anja Schweizer bleibt nur ein einziger Auftritt, um der mütterlichen Antithese zu Elektras Welt Gewicht zu verleihen. Gerade weil ihre Klytaimnestra partielle Schuld eingesteht und sogar

GIESSEN

den Kontakt zur Tochter sucht, gewinnt sie Die Bühne gleicht einer apokalyptischen

Glaubwürdigkeit.

Landschaft. Verdorrte Äste lassen vergangene

Zwischen diesen konträren Polen wer-

Verheerungen erahnen. Die kreisrunde schwar-

tet Warsicka die dritte Frauenfigur deutlich

ze Öffnung zum Bühnenhintergrund bleibt

auf. Stefanie Mrachacz verkörpert Elektras

verschlossen. Sie erlaubt Assoziationen einer

Schwester Chrysothemis. Ihr weißes Kostüm

Sonnenfinsternis. Dem Zuschauer wird schnell

ist Programm: Chrysothemis hofft auf ein

klar, dass diese „Elektra“ direkt in die Krise

Ende der Rachespirale. Mrachacz balanciert

führt und nicht aus ihr heraus.

ihre Figur auf dem schmalen Grat eigener,

Das Milchtreteln des Universums STADTTHEATER GIESSEN: „Erinnya“ von Clemens J. Setz Regie Titus Georgi Ausstattung Jochen G. Hochfeld

Das Theater Freiburg erweitert unter

aber kaum erfüllbarer Wünsche nach einem

Intendant Peter Carp seinen polnischen Re-

normalen Familienleben. Sie ergreift keine

gie-Schwerpunkt. Nach Ewelina Marciniak

Partei und wird so selbst zur Partei der Ge-

Der österreichische Schriftsteller Clemens J.

nun also Malgorzata Warsicka. Anders als

waltlosen. Elektras Hoffnungen auf die eine,

Setz besitzt ein herausragendes Talent für das

Marciniak inszeniert Warsicka eher vom kla-

erlösende Tat setzt Chrysothemis die Utopie

Abseitige. Seinen Figuren ist das Eigenartige

ren und kognitiven Konzept aus und weniger

individuellen Lebensglückes entgegen.

förmlich eingeschrieben. Es sind keine Aller-

über die Ebene opulenter Bildlichkeit. Dieser

Doch die Männer sind bereits unter-

weltsmenschen, sondern absonderliche Ge-

Art der streng planenden Regie kommt die

wegs. Victor Calero als Pylades bereitet den

stalten, die hemmungslos auf der Schwelle

antike Schicksalstragödie entgegen. Mit der

Weg für Orest. Seines Auftrages gewiss, ver-

zwischen Alltag und Irrsinn torkeln. In jüngs-

Prägnanz einer Schachspielerin treibt die Re-

kündet er den angeblichen Tod Orests. Cale-

ter Zeit nimmt die Technik und die Frage, wie

gisseurin ihre Figuren unerbittlich und zügig

ros Pylades beherrscht die Sprache der Lüge

künstliche Intelligenzen dem Menschen die-

in die unausweichlich tödliche Konfrontation.

so sicher, dass er Gehör finden und in den

nen oder ihn zu ersetzen trachten, einen gra-

Karol Nepelskis chorische sowie elektroni-

Palast eintreten kann. Ihm wäre die umge-

vierenden Raum in seinem Werk ein. Auch in

sche Klangwelten verdichten die Atmosphäre

hende Ausführung von Elektras Racheplan

„Erinnya“, 2018 am Schauspielhaus Graz

auf archetypische Weise. Lange Zeit domi-

zuzutrauen. Wie anders dagegen Orest, den

uraufgeführt, beschäftigt Setz sich mit tech-

niert Elektras Perspektive. Sie muss ihre

Tim Al-Windawe gebeugt, fahrig, ja getrieben

nischen Innovationen und ihren Konsequen-

Mutter hassen, hat diese doch ihren Vater ­

zeichnet. Al-Windawes Orest trägt schon vor

zen. Im Zentrum des Stücks steht Matthias,

Agamemnon bei dessen Heimkehr aus dem

der Tat an ihrer Last, welche Caleros Pylades

ein psychisch kranker junger Mann, der mit-

Trojanischen Krieg heimtückisch ermordet.

nicht zu schultern hat.

tels eines Kopfhörers das sagt, was ihm vor-

Laura Angelina Palacios wirft sich in Sopho­

Wenn sich die kreisrunde Tür zum

gesprochen wird. Für Matthias ist das die

kles’ düstere Elektra-Figur mit ihrem ganzen

­Palast doch öffnet, wird der Blick frei auf das

Rettung, verunmöglicht ihm seine Krankheit

Körper. Sie schreit ihre Wut heraus. Ihre Dis-

Schlagzeugsolo der Percussionistin Teresa

doch den zwanglosen Kontakt mit anderen.

sonanzen korrelieren mit der Atonalität des

Grebchenko. Dieses überraschende Moment

Doch die Maschine hat ihre Tücken, oft

chorischen Gesangs. Alle Hoffnungen Elek­

der Inszenierung steht für die kurzfristige

kommt ziemlicher Blödsinn heraus bei dem,

tras ruhen auf der Rückkehr ihres Bruders

Faszination der Tat. Und verweist Grebchen-

was Matthias sagt. Ganz zu schweigen davon,

Orest. Nur der Mord an ihrer Mutter, so Elek-

kos bunter Hermes-Hutschmuck nicht auf die

dass er mit den Hörern auf dem Kopf aus-

tras Zwangsvorstellung, kann Erlösung brin-

Ebene der Götter, ihr diabolisches Grinsen

sieht, wie man sich Mork vom Ork vorstellt.

gen. Doch das Tor zum Palast bleibt ver-

beim Solo auf deren Schadenfreude? Als ihr

In Gießen sagt der schreiend gelbe, mit

schlossen, vom Bruder ist zunächst nichts

Solo vorüber ist, tritt die Percussionistin ab.

Noten bedruckte Pullover, den er zu Beginn

zu sehen. Mehrstimmigkeit stellt sich ein,

Das Schlagzeug bleibt als totes Requisit zu-

trägt, schon alles. Das Oberteil markiert ihn

rück. Orest wankt mit blutenden Händen

als ­Außenseiter par excellence. Sein neues

Zügig in die tödliche Konfrontation – Laura Palacios und Stefanie Mrachacz in Malgor­zata Warsickas „Elektra“-Inszenierung. Foto Britt Schilling

durch die entzauberte Szenerie. Der Krieger

Gerät ermöglicht es ihm, ohne den viel zitier-

Aigisth (Martin Müller-Reisinger), so ent-

ten ­Delay, also ohne eine Verzögerung, die er

schlossen er auftritt, wird seinem Schicksal

selbst zum Nachdenken bräuchte, zu spre-

nicht entgehen. Und Elektra? Kniet eher, als

chen. Dazu muss er kurz an den Kopfhörer

dass sie steht. Keine der Parteien bekommt,

fassen, und schon wirkt er wie neu program-

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Das Outfit sagt alles – Lukas Goldbach als Außenseiter par excellence in Clemens J. Setz’ „Erinnya“. Foto Rolf K. Wegst

Vom Umgang mit dem Fremden spricht dieser Abend Bände. Dabei ist sein Titel natürlich griechischen Rache- und Plagegeister, die Erinnyen. Wie diese beißen sich auch die

miert. Derart wiederhergestellt, möchte seine

­digitalen Helfer in den Alltag. Das Stück führt

Freundin Tina ihn nun endlich ihren Eltern

vor, wie man sich ihnen hingibt, um einen

vorstellen. Das Zusammentreffen offenbart

störungsfreien Lebenslauf zu garantieren.

dann nicht nur die Gräben zwischen den Ge-

„Wer lebt, stört“, heißt es in Tankred Dorsts

nerationen, sondern auch Fluch und Segen

„Mosch“. Matthias verkörpert diesen Satz in

moderner Technik.

KARLSRUHE

kein Zufall, sondern eine Anspielung auf die

Gestalt von Lukas Goldbach auf ebenso be-

Fiebertraum des letzten Fischs BADISCHES STAATSTHEATER KARLSRUHE: „Die neuen Todsünden“ (UA) von Angeliki Darlasi, Elise Schmit, Maryam Zaree, Sivan Ben Yishai, Marina Davydova, Liv Strömquist und Larisa Faber Regie Anna Bergmann Bühne Stefan Strumbel / Julia Katharina Berndt Kostüme Lane Schäfer / Wicke Naujoks

Als Problem des Stücks und der Insze-

rührende wie komische Weise. Wie nicht von

nierung erweist sich, dass der Abend zu lange

dieser Welt sitzt er da und mampft Joghurt,

um diese Gräben herum kreiselt und zu kei-

zuckt – wie einst Rain Man im gleichnamigen

nem Kern vordringt. Bühnenboden und Rund-

amerikanischen Filmdrama – mit schief ge-

horizont sind mit orangefarbener Lackfolie

legtem Kopf und starrt Löcher in die Luft. So

tapeziert. Darauf verewigen sich die Darstel-

einem hilft auch ein Kurkuma Latte nicht

ler, indem sie Sprüche oder Büchnerzitate

mehr auf die Beine. Der gesellschaftliche

kritzeln, Männchen oder das Yin-Yang-Sym-

Umgang mit psychischen Auffälligkeiten

bol malen, ohne dass das irgendwohin führen

dient dem Stück als Nährboden. Dabei wartet

würde. Wohlwollend könnte man sagen, Re-

es mit hübschen Setz-Seltsamkeiten auf: an-

gisseur Titus Georgi belasse Clemens J. Setz’

statt „ziemlich“ etwa „Ziegenmilch“ zu sa-

Eine Tänzerin mit Fischmaul peitscht ihren

Science-Fiction-Drama in seiner futuristi-

gen, die Frage zu stellen, ob man erst einen

Körper bis zur Erschöpfung. An den hektischen

schen Unausdeutbarkeit. Dabei scheint er

Mord und dann eine Darmspiegelung absol-

Bewegungen ist ihre Angst abzulesen. Hinter

sich ohnehin weniger für seine visionären

vieren soll oder besser umgekehrt, oder die

ihr streiten sich zwei Kundinnen mit dem Ver-

Gedanken als für seine zwischenmensch­

herrliche Formulierung vom „Milchtreteln des

käufer, wer den letzten Silbersaibling in den

lichen Krisenmodi zu interessieren. Carolin

Universums“ zu erfinden. Über das begrenzte

Einkaufswagen packen darf. Elise Schmits

Weber als Tinas Mutter und Roman Kurtz als

dramatische Potenzial des Stoffes täuscht

„Fisch im Limbus“ ist einer von sieben Tex-

ihrem Vater gelingt es, die elterlichen Sorgen

das allerdings ebenso wenig hinweg wie Geor-

ten europäischer Autorinnen, die Mahatma

und Befindlichkeiten spielerisch auf den

gis Regie­einfälle. Dass die Beziehungen zwi-

Gandhis sieben Todsünden aus dem Jahr 1925

Punkt zu bringen. Die Mutter pocht aus Sorge

schen den Figuren so behauptet daherkom-

neu lesen. Fast hundert Jahre später sind die

um das eigene Seelenheil auf Matthias’ Nor-

men, liegt ­indes weder an der Inszenierung

mahnenden Worte des Pazifisten ­ aktueller

malität, während der Vater jede Ungereimt-

noch am ­Ensemble, sondern an den aktuellen

denn je. „Genuss ohne Gewissen“ ist eine der

heit als persönliche Beleidigung auffasst.

Abstands­regeln. //

Shirin Sojitrawalla

Sünden, die er damals anpran­gerte.


Sieben Künstlerinnen, die nicht nur formal

verbundenen Reisebeschränkungen ist diese

unterschiedliche Wege gehen, hat die Karls-

Vielstimmigkeit wichtiger denn je.

ruher Schauspielchefin Anna Bergmann ein-

Allerdings haben Bergmann und ihr

geladen, „Die neuen Todsünden“ in Kurz­

Team die Chance vertan, Brücken zwischen

dramen zu interpretieren. Die Luxemburgerin

den Szenen zu schlagen. Zudem ist deren

Schmit setzt auf eine Dystopie. Ihren Toten-

­literarische Qualität sehr unterschiedlich. Liv

tanz der Zivilisation inszeniert die Regisseu-

Strömquist hat zur Todsünde „Reichtum ohne

rin als Oper. Der Musiker Clemens Rynkowski

Arbeit“ eine schräge Groteske geschrieben,

hat Schmits Sprachmelodie in eine Partitur

die zum derben Sketch verkümmert. „How to

gekleidet, die dem Text Tiefenschärfe gibt:

end extreme wealth?“, fragt die schwedische

„Pandemie, ­Artensterben, Erde hat Fieber!“

Autorin, die mit feministischen Comics von

Tanz und ­Musik machen Schmits politische

sich reden macht. Eine Antwort bleiben ihre

Skizzen zum Gesamtkunstwerk. Die ästheti-

Protagonisten mit den klingenden Namen

ba• kann digital! Online Workshops Digitale Beratung Methoden und Konzepte

www.bundesakademie.de

auftritt

/ TdZ  November 2020  /

sche Gratwanderung setzt die Opernsängerin

Dr. Blinky Blanky und Dr. Blumi Blami schul-

und Schauspielerin Frida Österberg, neu im

dig. Glitzerkostüme und Plateauschuhe, die

Ensemble, brillant um.

vor dem1 Schloss in Karlsruhe geschaffen hat,12:28:56 Lane Schäfer und Wicke Naujoks geschaffen TdZ_Nov_2020.indd 06.10.2020

Obwohl die inhaltliche Klammer durch

haben, verstärken den plakativen Eindruck.

mit Differenzen. Zentrales Element ist ein

Gandhis sieben Todsünden vorgegeben ist, sind

Das Ensemble um die aufgekratzte Modera­

­sakraler Raum, der in blutig rotes Licht ge-

die Perspektiven der Autorinnen so unter-

torin Lucie Emons flüchtet sich ins Lachtheater.

taucht ist. Davor stehen zwei Heiligenfiguren,

schiedlich wie ihr Hintergrund. In Zusammen-

Kulturelle Unterschiede, die sich in

die nur auf den ersten Blick an die Mutter

arbeit mit dem Stadttheater im schwedischen

den Texten offenbaren, spiegeln die Bühnen-

Gottes erinnern. Der Faltenwurf des Gewands

Uppsala und dem Nationaltheater Luxemburg

bildner Stefan Strumbel und Julia Katharina

ist der einer Burka. Der Künstler aus der

hat Bergmann die Künstlerinnen ausgewählt.

Berndt in der Raumkonzeption. Klug spielt

Nachbarstadt Offenburg, der den Heimat­

In Zeiten der Coronapandemie und den damit

der Graffiti-Künstler, der den „Bürgerthron“

begriff kritisch hinterfragt, erschafft nicht nur ein multikulturelles Universum. Die Sonnenstrahlen über dem Altar sind aus Packbändern mit der Aufschrift „Fragile“ geklebt. So zeichnet er das Bild des zerbrech­lichen Kontinents Europa. Den Verlust einer gemeinsamen Sprache spiegelt Bergmann auch in den unterschiedlichen künstlerischen Formaten. Die deutsche Filmschauspielerin und Autorin ­Maryam Zaree, geboren in Teheran, erzählt im Dokumentarfilm „Deutsche Küche“ vom Aufkeimen rechtsextremer Tendenzen. Dem steht Sivan Ben Yishais poetischer Text „40 Grad im Schatten (Aber kein Schatten hier)“ gegenüber. Betörend schön spricht Sarah Sandeh das Gebet einer Dichterin am Versöhnungstag Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Wunderbar arbeitet die Schauspielerin die Tiefe des Texts heraus, der die Flüchtigkeit überwindet: „Und die Erde fiebert, gehirnentzündet, 10 000 Grad.“ In starken Sprach­ bildern porträtiert die Wahlberlinerin, die in Tel Aviv geboren wurde und die dort auch studiert hat, die israelische Gesellschaft, die hinter der Grenze Europas zwischen Glauben und Krieg zerrissen wird. // Elisabeth Maier In den „Neuen Todsünden“ werden Körper bis zur Erschöpfung hochgepeitscht – hier Frida Österberg in Anna Bergmanns Karlsruher Inszenierung. Foto Thorsten Wulff

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auftritt

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LINZ Die Tablettendosis zählt LANDESTHEATER LINZ: „Die Sedierten“ (UA) von Martin Plattner Regie Stephan Suschke Bühne Momme Röhrbein Kostüme Angelika Rieck

Sie machen sich noch an Wähl­ schei­ ben­ telefonen zu schaffen und leben auch sonst im Mief einer abgelaufenen Zeit: Vier Na­ch­ barinnen einer bescheidenen Vorgartensiedlung, die in Martin Plattners Stück „Die Sedierten“ die Abgehängten darstellen, vom Überraschend vital – Gunda Schanderer springt in Martin Plattners Stück „Die Sedier­ten“ aus dem Hausschuh. Foto Christian Brachwitz

System zwar politisch korrekt am Leben ge-

Schanderer), in giftiger Verwandtschaft ge-

haltene, aber im Unglück und Hass auf sich

meinsam eine der Wohnstuben. Daneben trau-

selbst (und alles andere erst recht) schmoren-

ert die lichtscheue „Frau hinter Roll­ laden“

de Frauen. Schon bald am Beginn fällt der

(Katharina Hofmann) ihrem schlimmen Casa-

Begriff Abort – das Signalwort für das genuin

nova-Gatten hinterher. Und die „Frau auf Gar-

österreichische Genre der Fäkaliendramen. In

tenliege“ (Johanna Orsini-Rosenberg) ver-

sie Schwab und mit ihm das Poptheater der

Stephan Suschkes Uraufführungsinszenie-

sucht, ihre Wallungen in Schach zu halten

1990er bildlich geprägt haben. Die Welt ist

rung in den Linzer Kammerspielen wird es

und nützt jede Gelegenheit, ihren im dazu­

aseptischer, die Oberflächen sind glatter ge-

zwar nie so schmutzig wie üblicherweise in

gehörigen Müllcontainerverschlag hausenden

worden. Bodentiefe Fenster schützen aber

nämlichen Dramen Werner Schwabs. Doch

Sohn (Jakob Kajetan Hofbauer) zu demüti-

auch nicht vor dem Alleinsein. Die Medika-

wandelt der Tiroler Dramatiker Plattner hier

gen. Sie nennt ihn – apropos Verdinglichung –

mente sind die letzten Gesellen. Dereguliert

klar auf den Spuren seines steirischen Vor-

„ang’rotzes Sacktuch“. Er schnüffelt sich Tag

lassen die Protagonistinnen alles Gehässige,

gängers. Wie in dessen Kultstück „Die Präsi-

für Tag mit Pattex in den Deliriumshimmel,

das man heute vor allem in Onlineforen

dentinnen“ stülpt sich auch hier die innere

über den er in einer schönen Videoprojektion

­findet, an ihrer jeweiligen Nächsten aus. Halb

Lebensbefindlichkeit in sprachlichen und op-

auch einmal Big-Lebowski-like schwebt.

mechanisch, halb menschlich – schwankend

Die richtige Tablettendosis ist alles,

zwischen Angsthemmern, Schmerzmitteln

Plattners metrisch geordnete Sprache,

was an dieser Wohnadresse noch zählt. Und

und Stimmungsaufhellern – spricht „es“ aus

die zwanghaft alles Lebendige verdinglicht,

Plattner katalogisiert die Farbpracht dieser

den Figuren heraus. Eine beachtliche Lesart:

weil sich die Figuren selbst wie Gegenstände

Existenzregulatoren quer durch die Dialoge in

an den Rand gedrängte Frauen, die zu Avata-

begreifen – diese Kunstsprache braucht Raum.

allen Gelbtönen: „Hinigerkanarienvogelgelb“,

ren ihrer selbst geworden sind. //

Und Regisseur Suschke gewährt ihn, ohne

„Zigarettenfingergelb“, „Gummihandschuh-

gleich eine Sprechoper daraus zu machen. Da

gelb“ – und bitte nicht zu vergessen die „klo-

tischen Gewaltakten nach außen.

heißt es „Komm außer Haus ich? / Auf den

steingelben Schlafanstoßer“! Das Sprechen

Weg-Gehsteig muss ich.“ Oder: „Zieh zu mich /

miteinander ist ein Monologisieren neben­ein­

wie ein Vorhang.“ Suschke schlägt nicht in

ander, dominiert von unheimlichen Subs­tan­

die voyeuristische Kerbe, sondern platziert

tivierungen („Restlebenverwalterinnen“, „Ver-

die Mieterinnen in drei eng nebenein­ ander

­ant­wortungsgefühliges“). Die Satzenden ras-

angeordneten, schlichten, aber im Grunde

ten ein wie Gefängnistüren: „Mein Sprechen

wertfreien Wohnwaben mit Glasfront samt

mit dir ist nun beendet.“ So klar wie hier

vorgelagerten Thujen und Terrassen. Die Ver-

hört man Werner Schwab in der zeitgenös­

armung ist nicht vorrangig materieller, sondern

sischen österreichischen Dramatik selten

vielmehr zwischenmenschlicher Natur. Hier

heraus. Und vielleicht ist das schon der ­

läuft also kein 08/15-Sozialdrama ab.

Hauptgrund, warum dieser Abend auch wie

Eine „Frau vom Fenster“ (Eva-Maria

ein Déjà-vu wirkt.

Aichner) bewohnt mit ihrer Halbschwester,

Die Vereinsamung, so könnte man

die zugleich eine Nachtschwester ist (Gunda

­sagen, sieht heute allerdings schicker aus, als

Margarete Affenzeller

MAGDEBURG In den Köpfen blühen die Landschaften THEATER MAGDEBURG: „Tod der Treuhand“ (UA) von Carolin Millner Regie Carolin Millner Ausstattung Maylin Habig


auftritt

/ TdZ  November 2020  /

Magdeburg und die Treuhand, das ist viel-

hätte es tatsächlich eines auf harten Recher-

Undine-Romantik kommt man jedenfalls nicht

leicht ein besonders traumatischer Fall. Mit

chen basierenden Dokumentartheaters à la

an. Und wenn nicht der reale Herr Oberländer,

dem Schwermaschinenbau-Kombinat Ernst

Hans-Werner Kroesinger bedurft. Doch die

letzter SKET-Generaldirektor – gespielt von

Thälmann (SKET) stand eine der größten Fir-

Autor-Regisseurin entschied sich dagegen

Anja Signitzer – auftreten würde, wäre auch der

men am Ende der DDR zur Disposition, mit

und für eine Art Lebensgefühl-Aufarbeitung

engere Magdeburg-Bezug noch dünner. Der

30 000 Beschäftigten in 18 Betrieben. Das

von SKET-Magdeburgern.

Inszenierung, die sich selbst als „Stückent-

SKET dürfte auch einer der größten Fische für

Diese sitzen in Gestalt von zwei Frauen

wicklung“ ausweist, ist deutlich anzumerken,

die zugleich in westdeutschen Maschinen­bau-

und zwei Männern an einem Wasserbassin,

wie sie ihr Material aus privaten Gesprächen

Vorständen tätigen Treuhand-Manager gewe-

das auch eine Schleuse sein könnte oder viel-

und nicht etwa Recherchen entwickelt hat.

sen sein, denn hier ließen sich lästige Konkur-

leicht einmal auch industriell genutzt wurde.

Dass aus dieser Massenentwurzelung

renten abwickeln und zugleich deren lukrative

Maylin Habigs Bühnenbild lässt verschiedene

der Boden für rechte Stimmungen wurde und

Ost-Europa-Geschäfte abgreifen. Diese auch

Deutungen zu, ebenso wie der Titel „Tod der

mit welcher Kaltblütigkeit und Arroganz die

persönlich profitable Vernichtung wurde sogar

Treuhand“ auf ihr Absterben wie auch ihre

Manager ihre Ziele erreicht haben, das wird

mit staatlichen Beihilfen gefördert, sodass

Ermordung verweist. Die vier sind aber nicht

alles hier und da mit angespielt. Am Ende flu-

sich ab 1997 die Europäische Kommission

nur Alltagsmenschen, sondern an ihrem Be-

ten Pflanzen in die Schleuse, als ob die Natur

mit den Vorgängen befasste.

cken der Erinnerung auch halb-amphibische

diese bewusst herbeigeführten Fehlentwick-

Ganz so hart wollte Carolin Millner, im

Wesen – mit Schwanzflossen oder Neptun-

lungen der Wiedervereinigung ausgleicht. Von

benachbarten Halle/Saale geboren und in

Dreizack auf dem Kopf. Dem Dokumentari-

dieser freundlichen Harmlosigkeit ist man in

Stuttgart aufgewachsen, die Sache zum Ver-

schen wird also mit Poetischem begegnet und

der Erwartung einer Aufklärung und Neu­

einigungsjubiläum nicht angehen. Sie inter-

dem Untergangskapitalismus mit Undine-­

bewertung dieser auf Jahrzehnte noch nach­

essierte, „wie viel die Treuhand überhaupt

Romantik, was für ein Treuhand-Stück immer-

wirkenden Ereignisse schwer irritiert. Wenn

noch machen konnte und was nicht auch

hin eine ganz neue Richtung ergeben könnte.

das der Blick der ost-west-deutschen Millen-

schon vorher entschieden war“. Das klingt,

Der Einstieg erfolgt mit privat wirken-

nials auf ihre Herkunftsgeschichte sein soll,

als hätte es noch eine geheime Macht ge­

den Gesprächen über Urlaub und Theater.

dann haben Helmut Kohls „blühende Land-

geben, der die Abwicklungs- und Privatisie-

Bald wird in Rückblenden deutlich, dass sich

schaften“ zumindest in deren Köpfen verhee-

rungsbehörde hilflos ausgeliefert gewesen

hier ehemalige Werksangehörige erinnern: die

rend gesiegt. //

wäre. Für eine solche These, die alle Erkennt-

Frauen bezeichnenderweise in der Verqui-

nisse zur Treuhand und die Erfahrungen der

ckung mit Männerbeziehungen, die Männer

Betroffenen praktisch auf den Kopf stellt,

typischerweise etwas verdrossener. Ein Potpourri von Kurzszenen beginnt, in denen im

Thomas Irmer

MEMMINGEN

Kleinformat so gut wie alles vorkommt, was Unklare Undine-Romantik – Iris Albrecht und Christoph Förster als Wasserwesen in Carolin Millners „Tod der Treuhand“ in Magdeburg. Foto Nilz Böhme

man im Allgemeinen über die Treuhand und ostdeutsche Großbetriebe so weiß. Warum die

Das weiße Raufen

Figuren dafür auch Wasserwesen sein sollen, wird nicht klar. Auf der höheren Ebene der

LANDESTHEATER SCHWABEN: „Blaue Stille“ (UA) von Maya Arad Yasur Regie Sapir Heller Ausstattung Valentina Pino Reyes

Die blaue Stille ist weiß. Weiß wie ein OPSaal und weiß wie eine Zahnarztpraxis – die die beiden Protagonisten des Abends später tatsächlich heraufimaginieren. Weiß strahlt auch die gynäkologische Praxis, in der sie sich gleich danach befinden – und in der zur Abwechslung mal er die Beine breitmacht. Weiß sind schließlich auch die beiden selbst: Weiße Unterwäsche er, weiße Unterwäsche sie, auf den Köpfen tragen sie weiße Perücken, an den Füßen weiße Badelatschen. Und zu ­ allem Überfluss befinden sie sich auch noch in einem monochrom weißen Raum, in dem sie eingeschlossen sind. Das kann ja heiter werden: Weder finden sie, das Ehepaar, dem wir hier zuschauen, den

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auftritt

/ TdZ November 2020  /

„Die blaue Stille“ ist blütenweiß in Sapir Hellers Inszenierung in Memmingen – hier mit Agnes Decker und Jens Schnarre. Foto Karl Forster

zu helfen, so das bittere Fazit. Einem Landestheater, das so etwas als Uraufführung auf die Bühne wuchtet, dagegen sehr wohl: Auf nach Memmingen! //

Dietmar Bruckner

MÜNCHEN / NÜRNBERG Sehnsucht nach der Solidargemeinschaft Schlüssel, um die verdammten Türen aufzu-

Urlaub erinnern. Beinahe gelänge ihnen da-

kriegen, noch wissen sie den Code. Wahr-

bei eine Anmutung von Nähe, wäre da nicht

scheinlich werden sie in dem Iglu, den sie sich

Betty. Betty ist die abgetrie­ bene Tochter.

im Lauf ihres Lebens geschaffen haben, auch

­Betty, die wie ein Gespenst durch ihre Erin-

gemeinsam verrecken.

nerungen spukt. Sie, gespielt von Franziska

Mit dieser klaustrophobischen Szene

Roth mit „Glaubt-bloß-nicht, dass-ihr-mich-

beginnt die Uraufführung „Blaue Stille“ am

loswerdet“-Eindringlichkeit, ist die wahre

Landestheater Memmingen. Vor sechzig Jah-

Hauptperson der „Blauen Stille“.

RESIDENZTHEATER MÜNCHEN: „Das Erdbeben in Chili“ von Heinrich von Kleist Regie und Bühne Ulrich Rasche Kostüme Romy Springsguth STAATSTHEATER NÜRNBERG: „Das Erdbeben in Chili“ von Heinrich von Kleist Regie Jan Philipp Gloger Austattung Tanja Berndt

ren hätte man bei dem, was hier stattfindet,

Im Unterschied zur Stückvorlage – und

auf Martin Walsers „Zimmerschlacht“ getippt.

damit wird es endgültig spannend – steht sie

Nun aber ist die 1976 in Israel geborene Maya

in Memmingen ganz real auf der Bühne. Rosa

Arad Yasur die Autorin, und mit Erstaunen

Schleifchen im Haar und ganz in Schwarz,

nimmt man zur Kenntnis, dass Geschlechter-

singt und summt sie, spielt mal Geige, mal

und Ehekrieg seitdem nichts an Schärfe ver­

Klavier oder robbt aufreizend langsam über die

Im November 1800 zog Heinrich von Kleist

loren haben. Noch immer verletzt man sich

Bühne. Sie bleibt der Stachel im Gewissen

aus dem Anblick eines frei stehenden Tor­

zielsicher, weil man die wunden Stellen des

­ihrer (Fast-)Eltern. Zugegeben: Dass Regisseu-

bogens „erquickenden Trost“. Wie hier die

anderen kennt, noch immer ist man aber zu-

rin Sapir Heller sie als Bühnenfigur kurzerhand

einzelnen Steine so zusammengefügt waren,

sammen. Denn auch das ist klar: Sie und Er,

dazuerfunden hat, ist eine kühne Idee. Aber

dass sie als Ganzes ein stabiles Konstrukt er-

wie sie hier nur heißen, werden auch künftig

das Experiment gelingt: Betty wird schnell zur

gaben, nährte in ihm die Hoffnung, dass auch

wenig Freude aneinander haben und sich das

nicht wegzudenkenden Korsettstange, sie gibt

er Halt finden könnte, „wenn Alles mich

Leben zur Hölle machen, die Autorin lässt da-

der Aufführung Halt und hilft über die eine

­sinken lässt“. Dieses Zitat (aus einem Brief

ran wenig Zweifel. Yasmina Rezas Stück „Der

oder andere Länge hinweg. So etwas geht oft

Kleists) hat Jan Philipp Gloger seiner Büh-

Gott des Gemetzels“ schwebt oft wie ein böser

schief, hier aber funktioniert es.

nenadaption von „Das Erdbeben in Chili“ am

Geist über der Szenerie. Nur, dass sich da vier

Großen Anteil daran hat auch das in­

Staatstheater Nürnberg vorangestellt, formu-

fertigmachen und hier nur zwei. Ein danse ma-

einander verkrallte Paar, dargestellt von

liert Kleist in seiner Novelle doch eine ganz

cabre, bei dem Yasur die leichteren und ele-

­Agnes Decker und Jens Schnarre. Sie gibt die

ähnliche Utopie: die vom empathischen

ganteren Pointen setzt.

Schöne als Biest, er den melancholischen

Schulterschluss zwischen den Überlebenden

Daneben lädt das Stück zu vielfachen

Versager. Gemeinsam sind sie unschlagbar in

der titelgebenden Naturkatastrophe, die die

Assoziationen ein, von Ingmar Bergmans „Sze-

ihrer verzweifelten Ausweglosigkeit. Zwar

gemeinsame Erfahrung von Not (vorüberge-

nen einer Ehe“ bis zu Edward Albees „Wer hat

­haben sie endlich damit begonnen, das unter

hend) eint. Für Kleists Protagonisten, das

Angst vor Virginia Woolf?“, von S ­ artres „Bei

den Teppich Gekehrte kurz anzuschauen,

Liebespaar Josephe und Jeronimo, scheint

geschlossenen Türen“ bis zu ­Becketts absur-

aber wirklich weitergebracht hat es sie nicht.

sogar Rettung im Untergang zu liegen. Wegen

den Endspielen. Wie dort sind auch bei Maya

Sie bleiben Gefangene ihrer Sprachlosigkeit,

Unzucht wurden sie zum Tode verurteilt.

Arad Yasur einige skurril-­komische Momente

der blauen Stille, die eigentlich eine klinisch

Doch weil der Erdstoß auch Kerkermauern

eingebaut. Etwa, wenn sich die beiden im Ver-

weiße ist. Dass sie sich dabei im Memminger

zum Einsturz bringt, kommen sie frei. In den

lauf ihrer Schlacht zaghaft (beinahe) berühren

Theater auf einer ganz realen Drehbühne be-

Wirren nach der Katastrophe finden sie Auf-

oder gemeinsam an einen (fast) gelungenen

finden, ist eine weitere Pointe. Ihnen ist nicht

nahme in einer Gruppe von „Menschen von


auftritt

/ TdZ  November 2020  /

allen Ständen durcheinander“, die gemeinsam

oft von einer zum anderen weiterwandert, ehe

in einem paradiesischen Tal lagern „als ob

er auf den Höhepunkten der Erzählung in cho-

das allgemeine Unglück alles, was ihm ent­

rischem Sprechen verdichtet wird. Das alles

ronnen war, zu einer Familie gemacht hätte“.

kennt man von Rasche zur Genüge. Dennoch:

Kleists Sehnsucht nach einer Solidar-

Der Dynamik kann man sich auch diesmal wie-

gemeinschaft, die sich angesichts eines all-

der kaum entziehen. Allerdings will Rasche

gemeinen Ausnahmezustands formiert und so

mehr als nur die Fieberkurve der Novelle nach-

dem einzelnen Haltlosen Halt gibt, scheint in

zeichnen. Er überblendet die Geschichte mit

Zeiten der Coronapandemie gerade beson-

der Gegenwart und montiert Texte zur Corona-

ders, nun ja, virulent. Auch am Münchner

krise in die Erzählung. Auch da gab es anfangs

Residenztheater steht „Das Erdbeben in Chili“

so etwas wie einen neu entdeckten Gemein-

neu auf dem Spielplan. In der Szene, in der

schaftssinn. Der allerdings ging rasch wieder

(wie es bei Kleist heißt) „der menschliche

verschütt, etwa unter den Schuldzuweisungen,

Geist wie eine schöne Blume aufzugehn“

wer für die globale Ausbreitung des Virus

scheint, färben sich in Ulrich Rasches Insze-

­verantwortlich zu machen sei. Ähnliches ge-

nierung drei vordem kalt-weiß leuchtende

schieht bei Kleist. Das Idyll im lieblichen Tal

Lichtquadrate im Hintergrund warm-orange

ist nur von kurzer Dauer. Josephe und Jeroni-

wie bei einem Sonnenaufgang, als bräche

mo werden alsbald von einem wütenden Mob

nun ein goldenes Zeitalter an, und die Musik,

erschlagen, weil ein Kirchenmann predigt, ihr

die die komplette Aufführung grundiert

angeblicher Frevel habe das Erdbeben als

­(Komposition Nico van Wersch), säuselt aus-

Gottes Strafe über die Menschen gebracht. ­

nahmsweise friedlich, während sie sonst vor-

Der Traum von der Solidarität bleibt demnach

zugsweise unbehagliche Tonlagen anstimmt –

schon bei Kleist Wunschdenken. Dass seine

vom bedrohlichen Schwebeton einer Orgel,

Novelle damit zum Lehrstück für unsere Ge-

der Unheil verheißt, bis zur schlagwerkdomi-

genwart taugt, hätte man freilich auch ohne

nierten Klangexplosion, wenn es eintritt.

Einschübe von Coronatexten verstanden.

Jan Philipp Gloger inszeniert „Das Erdbeben in Chili“ als Wortkonzert vor schlichter Bret­terwand – hier mit Amadeus Köhli. Foto Konrad Fersterer

zu der schlichten schwarzen Holzbretterwand,

Dazu marschiert ein neunköpfiges, ge-

Die einzigen Fremdtexte, die Jan

vor der Gloger sein dreiköpfiges Ensemble

mischtgeschlechtliches Ensemble gegen die

­Philipp Gloger ins Spiel bringt, stammen von

agieren lässt. Sascha Tuxhorn gibt den Kleist-

unermüdlich kreisende Drehscheibe an und

Kleist selbst (siehe oben). Und auch sonst

Erzähler, Pauline Kästner und Amadeus Köhli

zelebriert Kleist. So etwas wie Figuren­

übt sich der Nürnberger Schauspieldirektor in

vertreten die Perspektive der Liebenden.

zuordnung gibt es nur andeutungsweise.

Zurückhaltung, vor allem im Vergleich zu

Glogers Inszenierung ist der Zweifel an

Liegt der Erzählschwerpunkt bei Josephe,

Rasche, bei dem sich die Drehbühne zwar ­

der Utopie von Anfang an eingeschrieben. Als

sprechen ­zunächst die Frauen, steht Jeroni-

diesmal nur dreht, statt wie sonst auch noch

die entsprechende Szene ansteht, muss

mo im Mit­telpunkt, übernehmen die Männer.

hydraulisch in die Höhe zu fahren und spek-

Kleist-Vertreter Tuxhorn die beiden anderen

Mit ­ Fortschreiten des Abends deklamieren

takulär in Seitenlage zu kippen. Und doch ist

mit energischen Gesten antreiben. Die Ge-

zunehmend alle gemeinsam, wobei der Text

der Aufwand beträchtlich, zumal im Vergleich

schöpfe wissen eben schon im Voraus, dass ihr Schöpfer hinter der Idylle kein Happy End für sie vorgesehen hat. Also fügen sie sich seinen Anweisungen nur widerwillig. Während Ulrich Rasche im barock-­ katholischen München ein theatrales Hochamt in Szene gesetzt hat, bietet Jan Philipp Gloger im protestantisch geprägten Nürnberg eher einen Wortgottesdienst an, der auf Kleists Sprache setzt sowie auf den eindringlichen Vortrag eines präzise die Nuancen dieser Sprache auskostenden Darsteller-Trios. Gloger sucht weniger den Effekt. Weniger wirkungsvoll indes ist das nicht. Im Gegenteil: Man fühlt sich weniger bepredigt. // Christoph Leibold

Anmarschieren gegen die Drehscheibe – Das Münchner Resi-Ensemble in Ulrich Rasches Kleist-Aufführung. Foto Sandra Then

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auftritt

OBERHAUSEN Splitter eines Lebens

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erzählt und berichtet, wie er nach seiner Pen-

Wolf Gutjahrs offene (Dreh-)Bühnenkons­

sionierung im Jahr 1978 seine Uniform und

truktion, auf die verschiedene Elemente ge-

den dazugehörigen Mantel abgeben wollte,

schoben werden können, unter anderem auch

strahlt Torsten Bauer eine überwältigende,

eine Reihe kleiner Zellen, die zusammen

ganz natürliche Freundlichkeit aus. In seiner

eine deutsche Sozialbauwohnung ergeben,

sanften Stimme liegt ein wohlwollendes

begüns­tigt den fragmentarischen und assozi-

­Lächeln, das sich auch in seinen Augen spie-

ativen Charakter des Abends. So wie Stanišić

gelt. Doch dann schlägt sein Ton von einem

in seinen Erinnerungen hin und her springt

Augenblick auf den anderen um. Er spricht

und bewusst auf eine geschlossene Erzählung

zwar immer noch von Muhameds Freundlich-

verzichtet, reiht Sascha Hawemann Momente

keit und davon, wie sie während des Krieges

aneinander, die sich mal zu Szenen verdich-

in Bosnien höchstwahrscheinlich einem ge-

ten und manchmal einfach Schlaglichter

samten Hilfskonvoi das Leben gerettet hat.

bleiben. Die Brechungen des Romans spie-

Aber sein Bericht verwandelt sich in ein

geln sich auch in der Entscheidung, den Er-

„Großvater Muhamed war der freundlichste

Schreien, in dem sich Wut und Verzweiflung

zähler von einem Schauspiel-Trio verkörpern

Mann“, heißt es einmal in „Herkunft“, Saša

mischen. Die heitere Stimmung der Szene ist

zu lassen. Gelegentlich bilden Henry Morales,

Stanišićs poetischer und vielschichtiger Be-

für immer verloren. Was bleibt, ist ein Aus-

Ronja Oppelt und Daniel Rothaug dabei eine

fragung seiner Biografie und damit der Ge-

druck des Schmerzes, der einen bis ins

Einheit. Dann erzählen sie gemeinsam und

schichte seiner Familie. Und so wie Torsten

Innerste durchdringt. Muhamed hat die ­

geben Stanišićs Sätze wie einen Staffelstab

Bauer in diesem Moment in der blauen Uni-

Menschen in seinem Konvoi durch seine ­

weiter. Aber meist agieren sie jeweils für sich.

form eines jugoslawischen Eisenbahners vor

Freundlichkeit retten können. Aber wie viele

Unterschiedliche Erinnerungen beleuchten

einem steht, glaubt man das sofort. Während

hatten nicht dieses Glück.

unterschiedliche Facetten von Stanišićs Per-

THEATER OBERHAUSEN: „Herkunft“ (UA) von Saša Stanišić Regie und Stückfassung Sascha Hawemann Bühne Wolf Gutjahr Kostüme Ines Burisch

er von Muhameds Zeit als Bremser auf der

Torsten Bauers so überaus eindring­

sona. In Henry Morales lebt das Kind in

Bahnstrecke zwischen Sarajevo und Višegrad

liches Solo in der Rolle von Saša Stanišićs

Višegrad wieder auf. Daniel Rothaug spielt

Großvater mütterlicherseits ist nur ein kleiner

den Jugendlichen, der sich nach der Flucht

Moment in Sascha Hawemanns Bühnenadap-

aus Bosnien in Deutschland zurechtfinden

tion des mit dem Deutschen Buchpreis aus-

musste. Und Ronja Oppelt bewegt sich zwi-

gezeichneten Romans. Ein Splitter unter vie-

schen den Identitäten und Lebensphasen und

len. Dennoch offenbart sich in dieser kurzen

schlüpft auch mal in die Rolle von Sašas ers-

Szene die ganze Dimension von Hawemanns

ter Freundin in Heidelberg.

Inszenierung. Auf der einen Seite bleibt er

Im Lauf seines Lebens zerfällt ein

extrem nah an seiner Vorlage. Auf der ande-

Mensch zwangsläufig in verschiedene Perso-

ren macht er sich „Herkunft“ ganz und gar zu

nen und Identitäten. Dem einen oder anderen

eigen. Alles in dem Roman ist Bericht und

fällt das vielleicht gar nicht auf. Die Zeit glät-

Erzählung. Auf eine brillante Weise hat

tet die Brüche. Doch für Saša Stanišić und

Stanišić seine Erinnerungen und die seiner

seine Familie, die im Vielvölkerstaat Jugosla-

Familie literarisch und philosophisch über-

wien aufgewachsen sind, hat der Krieg nicht

formt. Jede noch so kleine Episode ist zu-

nur zu biografischen Rissen geführt. Er hat

gleich auch eine grundsätzliche Reflexion

ihr Leben zersplittert. Das gilt auch für seine

über das Erinnern und den transitorischen

Großmutter Kristina, die im Zentrum des Ro-

Charakter jeder menschlichen Identität.

mans steht. Gleich in der ersten Szene sieht

Hawemann greift diese Strategie auf

die über Achtzigjährige, langsam ihre Erinne-

und durchbricht sie zugleich wieder. Wenn

rungen verlierende Frau ein Mädchen auf der

Torsten Bauers freundliche Erzählung zu

Straße, in dem sie sich selbst wiedererkennt.

­einem Klageton wird, brechen aus der Erzäh-

Sascha Hawemann nimmt diesen Gedanken

lung all die Emotionen hervor, die Stanišić

auf und verdoppelt Kristina. Allerdings spie-

durch Sprache gebändigt hat. So entwickelt

len Lise Wolle und Anna Polke nicht nur zwei

die Inszenierung eine Unmittelbarkeit, die

Versionen einer Frau. In ihren Auftritten spie-

„Herkunft“ trotz der Nähe zum Roman in ein

gelt sich das Schicksal Jugoslawiens. Wäh-

genuin theatrales Erlebnis verwandelt. Die

rend Lise Wolle für den Traum von einem alle

Bühne erinnert anders als die Sprache.

vereinenden Staat steht, zeigt sich in Anna Polkes Darstellung einer alten, ihrer Demenz ausgelieferten Frau der Zerfall einer großen

In Saša Stanišićs „Herkunft“ spiegelt sich das Schicksal Jugoslawiens – hier mit Lise Wolle. Foto Kathrin Ribbe

Idee in ein nationalistisches Denken. Was einmal war, ist für immer verloren. // Sascha Westphal


auftritt

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ZÜRICH Druck auf der Sprechblase SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH: „Das Weinen (Das Wähnen)“ nach Dieter Roth Regie Christoph Marthaler Bühne Duri Bischoff Kostüme Sara Kittelmann

Es ist natürlich verführerisch, diesen Abend als Corona-Stück der Stunde zu begreifen. Schließlich spielt das Ganze in einer Apotheke, und die dient spätestens heutzutage als Marktplatzersatz. Die Wahrheit ist: Das Stück wurde vor der Corona-Krise erdacht. Der sogenannte Lockdown hat die Premiere im März vereitelt und führt jetzt dazu, dass man den Abend als Medizinisch indiziertes Männertragen – Das Zürcher Ensemble in Christoph ­Marthalers Dieter-Roth-Abend „Das Weinen (Das Wähnen)“. Foto Gina Folly

Parabel auf unsere infektiöse Gegenwart liest.

noch Lebenden in himmlisch höhere Blöd-

Dabei beginnt es wie eines der Kunstwerke

sinnshöhen. Der auf Dieter Roth basierende

Dieter Roths. Der Schweizer Künstler ließ

Bühnenhit „Murmel Murmel“ von Herbert

Schokolade vergammeln und Gewürze ver-

Fritsch aus dem Jahr 2012 an der Berliner

schimmeln – zu sehen in den bekanntesten

Volksbühne ist zu Recht unvergessen. Auch

Museen der Welt und längst nicht so ekel­

bei Marthaler gipfelt die konkrete Poesie

erregend wie der konkrete Nagelpilz, mit dem

Roths in dadaistischen Choreografien und

Tschaikowsky, Satie, Schubert, aber auch

Christoph Marthaler seinen Dieter-Roth-Abend

verbalen Nonsens-Girlanden („Was hat er im

John Dowland, Victor Herbert oder Carole King

eröffnet.

Auge / Ein Auge / Wasser hatter im Auge? / Er

verströmen sie fidelen Nihilismus.

Auf einem Video ist in Nahaufnahme

hat Wasser im Auge ...“ und so fort). Natür-

Den Systemausfall, der Menschen ge-

zu sehen, wie ein solcher Nagel sich aus-

lich geht es bei ihm vergleichsweise ver-

radewegs in die Apotheke führt, umkreist

wächst und behandelt wird. Zum Glück be-

druckst und langsam zu.

Marthaler ebenso leichtfüßig wie urkomisch.

tritt bald die erste Apothekerin die Bühne,

Das Frauenquintett hat zwar „Druck

Der Rest ist Quatsch edelster Sorte. Mal spielt

und das Video verschwindet. Insgesamt fünf

auf der Sprechblase“, schweigt aber doch

die Waage verrückt, dann setzt sich der Was-

Frauen, alle in weißen Kitteln und mit ge-

ausgiebig. Ab und zu kommt ein 08/15-Männ-

serspender wie einst R2-D2 in Bewegung,

schäftsmäßigen Blicken, fuhrwerken in dieser

lein (Magne Håvard Brekke) im Anzug und mit

hier flackert das Licht, dort spinnt die Elek­

Apotheke herum. Duri Bischoff hat ihnen

komischem Hut auf die Bühne, womöglich ein

trik. Kindereien wie diese geben dem Abend

raumhohe Regale aufgestellt, in denen Medi-

Kunde. Auf jeden Fall hat er kein Gewicht, die

sein freundliches Gesicht. Das Fröhliche und

kamentenschachteln lagern wie Büchsen­

elektronische Waage zeigt „0“ an, und die

Verspielte ergänzt die Inszenierung mit poeti-

suppen. Auf einem steht „Magen“, auf einem

Frauen tragen ihn wie einen Gegenstand hin-

schen Einsichten und Sprachkunststückchen

anderen „Drüse“, ein drittes verspricht

aus. Später hört er nicht mehr auf zu reden,

vom Feinsten. Vom Horizont heißt es einmal

schlicht „Fit“. Und während wir zu gern

tritt dann als Running Gag und Jesusver-

vielsagend, er sei nicht ein Strich, er sei ein

wüssten, welche Medikamente das bewerk-

schnitt auf die Bühne, bevor er mit geschul-

Wort. So wie auch „Apotheke“ kein Laden für

stelligen, formen die Frauen ihre Lippen zu

tertem Apothekerkreuz seine Via Dolorosa ab-

Medikamente ist, sondern ein Wort. Das

Mozarts „Lacrimosa“ aus seinem Requiem.

schreitet. Eine Lachnummer, wie von Monty

­Ensemble füllt es mit albernem Leben, ent-

Eine Totenmesse ist auch dieser

Python erschaffen. Derweil hört sich Nikola

wirft einen Ort des Heilsversprechens und des

Abend. Kein Abend über Dieter Roth, aber

Weisse Langspielplatten an, parliert Liliana

Leerstandes. Die Zuschauer und Zuschaue-

einer für ihn. Sein Text „Das Weinen (Das

Benini auf Italienisch, verhaken sich Susanne-

rinnen spielen perfekt mit, im Pfauen müssen

Wähnen)“ liefert den Rahmen. Er selbst beti-

Marie Wrage und Olivia Grigolli kunstvoll in­

ohnehin alle ihre Masken aufbehalten. Ein

telte es als Tränenmeer. Und was wäre eine

einander, schaut Elisa Plüss herrlich soigniert

Gespenster-Parkett – und das ideale Publi-

Totenmesse anderes als ein Tränenmeer? Wie

im Laden herum. Fünf Frauen, die auf beque-

kum für diese fein gesponnene Jenseits­

bei Roth und bei Marthaler nicht anders zu

mem Schuhwerk wahlweise wie Engel oder

fantasie. //

erwarten, überführen sie die Verzweiflung der

sterbende Schwäne schweben. Mit Musik von

Shirin Sojitrawalla

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stück

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Wozu streiten? Morgen seid ihr kalt! Die Schriftstellerin Zsuzsa Bánk hat ihr erstes Theaterstück geschrieben: Der Monolog „Alles ist groß“ handelt von einem Grabmacher, enttabuisiert den Tod und feiert das Leben Zu den wiederkehrenden Verlautbarungen

Zsuzsa Bánk einen letzten Höhepunkt zu er-

Nach ihrem Abitur arbeitete die Tochter unga-

neuer Intendantinnen und Intendanten ge-

reichen. Für ihr Monodrama, das neunte und

rischer Eltern zuerst als Buchhändlerin, bevor

hört, Theater für die jeweilige Stadt machen

letzte der Reihe, hat sich die in Frankfurt

sie Publizistik, Politikwissenschaft und Lite-

zu wollen, sprich: die Geschichten und Gege-

lebende Autorin für einen Grabmacher als

ratur in Mainz und Washington ­ studierte.

benheiten vor Ort in die Spielzeitgestaltung

Pate entschieden.

Gleich für ihren ersten, 2002 erschienenen

einzubeziehen. Das hörte man auch 2017

Ein Grabmacher macht Gräber, beglei-

Roman „Der Schwimmer“, eine Kindheitsge-

beim Amtsantritt von Anselm Weber und

tet die Verstorbenen auf ihrem letzten Gang,

schichte aus dem Ungarn der fünfziger, sech-

seiner Stellvertreterin Marion Tiedtke am

bettet sie zur letzten Ruhe. Auf einer Beerdi-

ziger Jahre, erhielt sie gewichtige Preise.

Schauspiel Frankfurt, die gemeinsam mit

gung sei ihr die stille Figur im Hintergrund

Auch ihre folgenden Bücher, der Erzählungs-

dem Literaturhaus der Stadt eine Reihe mit

aufgefallen, erzählt sie. Sie habe sich mit

band „Heißester Sommer“, die zauberhafte

Monodramen initiierten, in Auftrag gegeben

dem Mann getroffen, sei einen Tag mitgelau-

Dreiecksgeschichte „Die hellen Tage“ und

bei namhaften Schriftstellern und Schriftstel-

fen, und er habe sehr offen über seine Arbeit

der Briefroman einer Frauenfreundschaft

lerinnen. Eine schöne Idee, die es Prosa-

berichtet. All sein Wissen, aber auch seine

„Schlafen werden wir später“ waren äußerst

schriftstellern ermöglichte, sich dramatisch

Macken und seine Offenherzigkeit, seine ab-

erfolgreich, wenngleich es Stimmen gab, die

auszuprobieren. Zudem brachte sie das Thea-

sichtslose Pietätlosigkeit sind in die Figur

ihnen Gefühligkeit und Sentimentalität vor-

ter mit Leuten der Stadtgesellschaft in Kon-

geflossen. Der Schauspieler Nils Kreutinger

warfen. Zsuzsa Bánk ist bekannt für lange

takt. Die Kollegin der Frankfurter Rundschau

verkörpert ihn als interessanten Angeber, der

Sätze, die sich in Schleifen vorwärts bewe-

konstatierte damals zu Recht: „,Stimmen ei-

mal wie ein Wanderprediger, mal wie ein

gen. Es ist eine Prosa, die einen ganz eigenen

ner Stadt‘ gehört zu den reizvollsten Ideen,

Disco­könig erscheint. Eine schillernde Figur,

Sound und Sog entwickelt.

die das Schauspiel Frankfurt unter Anselm

die vom Sterben so viel weiß wie vom Leben

Ihr Grabmacher erinnert auch an

Weber ausgeheckt hat.“

und nicht nur deswegen wie gemacht ist fürs

die berühmtesten Totengräber der Theater­

Das Konzept sieht vor, dass eine reale

­Theater. „Mein Thema ist immer das Leben

geschichte, jene aus Shakespeares „Hamlet“.

Frankfurter Figur Pate steht für einen etwa

nach einer Katastrophe“, hat die 1965 ge­

Die beiden wissen ebenso viel über das, was

einstündigen Monolog. Autoren wie Wilhelm

borene Zsuzsa Bánk einmal gesagt. Das ist

sie tun, und nehmen das Sterben doch auf

Genazino, Teresa Präauer oder Angelika

auch das Thema ihres Grabmachers, der je-

die leichte Schulter. Der namenlose Grab­

Klüssendorf folgten dem Angebot. Es war

den Tag mit den Katastrophen der anderen

macher aus „Alles ist groß“ scheint ein Nach-

nicht alles Gold, was da herauskam. Oft zu

zugange ist. Für Bánk ist er keine typische

fahre. Wie das berühmte Shakespeare-Duo

dokumentarisch und zu wenig poetisch oder

Frankfurter Stimme, sondern jemand, der am

bringt auch er es fertig, inmitten der Toten

andersherum und häufig auch einfach zu

Rand steht und im Trubel einer Großstadt

ein Liedchen anzustimmen. Dabei ist er eine

bieder in Szene gesetzt. Wie geplant läuft

eher untergeht, wie alles andere auch, das an

durch und durch theatrale Figur und gleich-

das Projekt nach drei Jahren in dieser Spiel-

den Tod und das Sterben gemahnt. Bánk ver-

zeitig ein Experte des Alltags, wie man ihn

zeit aus, nicht ohne mit „Alles ist groß“ von

hilft diesen Themen zum großen Auftritt.

sich an einem Rimini-Protokoll-Abend vor-

SCHULE DES WET TERS: SCHNEE

Ein Tanzstück unter stürmischen Voraussetzungen von Lisa Freudenthal | Uraufführung [7 plus] ab 4. November 2020

Infos & Karten 0341. 486 60 16 | www.tdjw.de


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stellen könnte. Doch „Alles ist groß“ ist kein

den Spaß an der ganzen Sache an, die Lust,

Dokumen­ tartheater, sondern die poetisch

rund sechzig Minuten einer Figur und ihren

überhöhte Verdichtung einer realen Figur. Der

Uneindeutigkeiten zu widmen. Auch Zsuzsa

echte Grabmacher arbeitet auf dem Fried-

Bánk hat ihr erster Theatertext Freude berei-

hof Heiligenstock, im Nordosten Frankfurts:

tet. In ihren Romanen und Erzählungen ver-

„Ohne diesen Grabmacher wäre das Stück in

zichtet sie auf direkte Rede und Dialoge.

dieser Form, mit diesen ­Details, nicht ent-

Wie ist es für sie gewesen, Sätze zu for-

standen. Klar, dazugedichtet habe ich eine

mulieren, die ein Schauspieler auf der Bühne

Zsuzsa Bánk ist eine vielfach ausgezeichnete Romanautorin. In Frankfurt kann man sie jetzt auch als Dramatikerin erleben – und erfährt in ihrem Monolog „Alles ist groß“ von einem Grabmacher genauso viel über das Sterben wie über das Leben. Foto Gaby Gerster

ganze ­Menge, mein Grabmacher erkennt sich

sprechen soll? Man klopfe sie anders ab, ant-

womöglich nicht wieder, wenn er das Stück

wortet sie. Und: „Ich habe mir beim Schrei-

des Memento mori (Sei dir der Sterblichkeit

sieht, aber er hat mir den Kern dazu ge-

ben immer ausgemalt, wie das jemand sagen

bewusst). „Hey, wozu streiten!? / Morgen

schenkt“, erläutert Zsuzsa Bánk.

gemäß ist auch ihr Grabmacher ein wandeln-

würde. Ob man wirklich so reden kann. Die

schweigt ihr / Warum rennt ihr? / Morgen seid

Das führt auf der Bühne zu einem

langen, spiralhaften, oftmals mäandernden

ihr kalt / Warum streitet ihr? / Morgen seid ihr

ebenso aufschlussreichen wie unterhaltsamen

Sätze, die Sie in meiner Prosa finden, tau-

reglos“, mahnt er das Publikum ebenso

Ergebnis, was auch daran liegt, dass der Re-

chen hier nicht auf. Ich habe versucht, den

schnoddrig wie hellsichtig. So wie ein Fried-

gisseur Kornelius Eich den Inszenierungs-

Text prägnanter zu fassen, kürzer, heftiger,

hof ein Ort ist, an dem man viel übers Ster-

wünschen der Autorin folgt: „Grundsätzlich:

deutlicher.“ Es sei neu gewesen für sie, eine

ben und Leben lernen kann, ist auch das

lieber schräg und komisch als betont traurig.

Figur nicht über ihre Taten und Wahrneh-

Thea­ter ein Ort für letzte Fragen. Ein Gedan-

Unbedingt das Komische und Überzogene an

mung, sondern allein über ihre Sprache zu

ke, dem Zsuzsa Bánk zustimmt: „Um nichts

den Stellen herauskehren, die das gestatten.

entwickeln, fügt sie an. Auch bei den Proben

anderes geht es doch, auf der Bühne, in der

Das immanent Groteske herausstellen.“ Zsuzsa

war sie mehrmals zugegen: „Dort zu erleben,

Literatur! Was sind unsere großen Themen?

Bánk kann wahrscheinlich froh sein, dass In-

wie Nils Kreutinger meine Erfindung lebendig

Liebe und Tod. Vor was fürchten wir uns, was

tendant Anselm Weber, der sonst alle Folgen

macht, wie er die Figur über ihre Sprache

zieht uns immer wieder in seinen Bann, was

der Reihe inszeniert hat, bei ihrem eine Aus-

ausgestaltet und entwirft, das war ein Ge-

verschreckt uns? Liebe und Tod.“

nahme gemacht hat. Speziell mit seinen bei-

schenk.“

In einem früheren Gespräch hat sie

den zum Abschluss präsentierten Texten von

Thematisch fügt sich ihr erstes Thea-

einmal verraten, dass das Wort Himmel ihr

Martin Mosebach und Lars Brandt hat er sich

terstück zu ihrem im September erschiene-

Lieblingswort sei. Das passt. Zu hellen Tagen

nicht mit Ruhm bekleckert beziehungsweise

nen neuen Buch „Sterben im Sommer“, in

wie zu dunklen Stunden. Zum Raum zwi-

zum Ausdruck gebracht, dass ihn diese

dem sie über den Tod ihres Vaters schreibt.

schen Diesseits und Jenseits und zur Leich-

­Monodramen nicht inspirieren. Ganz anders

Ein Trauerbuch. Beiden Texten gemeinsam ist

tigkeit und Hochgestimmtheit, mit der Zsuzsa

Kornelius Eich, der oft bei Anselm Weber

ihr lebensbejahender Gestus, ja, ihre zum

Bánk ihn durchschreitet. //

assistierte. Seiner Inszenierung merkt man ­

Ausdruck gebrachte Lebensfreude. Natur­

Shirin Sojitrawalla


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stück

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Zsuzsa Bánk

Alles ist groß Grundsätzlich: lieber schräg und komisch als betont traurig. Unbedingt das Komische und Überzogene an den Stellen herauskehren, die das gestatten. Das immanent Groteske herausstellen. (singend) I want to live I want to give I’ve been a miner for a heart of gold. I ’ve been to Hollywood, I’ve been to Redwood. I crossed the Ocean for a heart of Gold. I’ve been in my mind. It’s such a fine mind. That keeps me searching for a heart of Gold. And I’m gettin old. Heute wirklich: Johnny Cash. Urne mit Johnny Cash. Gestern Erdbestattung mit Beethoven. Klavierkonzert Nummer drei, C-Moll, Opus 37. (singend) Dingdingdingding – pingping. Stand so auf der CD. Jeden Tag höre ich Musik, immer Lieblingsstücke. Musik, die ein ganzes Leben zusammenfasst. Auf den einen Nenner bringt. Jeden Tag höre ich die Lebensläufe dazu, lerne die Leben kennen, jeden Tag höre ich Trauerreden. Das Tolle: Alle Menschen werden am Ende gut. Ja: Alle sind am Ende gut! Rückblickend gut. Retrospektiv gut. Rückwärts gesehen gut. Rückwärts gewandt gut. Mit dem Rücken zum Grab gut. Mit dem Gesicht zum Tod gut. Aber das hätte man doch gemerkt, oder? Wenn jetzt alle mal gut wären, oder? Alle mal so plötzlich gut. Einfach gut. Kein falsch. Kein blöd. Kein nervig. Kein ätzend. Kein bös. Also, ich hätte das gemerkt. Mir wäre das aufgefallen. Sicher. De mortuis nil nisi bene. Über die Toten nur Gutes. Nichts Schlechtes über die Toten. Es kommt zum Ende – und alle sind gut. Das Ende ist da, und alle sind gut. Warum denn nicht gleich so? Mann, warum denn nicht von Anfang an so? Alle haben am Ende dieses goldene Herz. Ein Herz aus Gold. Und diesen fine mind. Such a fine mind. Nur gute Gedanken hat dieser fine mind. Natürlich. Logisch. Ist ja klar. Ein Geist gefüllt mit guten Gedanken. Ein Kopf gespeist aus guten Gedanken. Ein Gutegedankenkopf. Ein Feinergedankenkopf. Die kleinen Verbrechen des Lebens – vergessen. Die kleinen Garstigkeiten im Charakter – verpufft. Die kleinen Schmerzpartikel des Zusammenlebens, diese Reibeflächen – gab es die überhaupt? Die kleinen Widersprüche im Lebenslauf – sind aufgelöst. Kleinere Sünden – och, nicht erwähnenswert. Größere? Fanden nie statt. Todsünden oder Verbrechen sind in diesen Lebensabrissen eh unbekannt. Gab es nicht! Nee, niemals. Gab’s einfach nicht. Nie wurde gelogen. Nie geschlagen. Getreten. Geohrfeigt. Verängstigt. Erpresst, unter Druck gesetzt. Hintergangen. Ausgegrenzt. Vernichtet.

Diese Verben kann man streichen, aus der Trauerrede direkt raus. Raus mit diesen Tu-Wörtern! Es ist eine Welt, in der alle Menschen gut sind. Eine Welt aus Freundlichkeit. Ohne Misstöne. Eine gute Welt mit guten Menschen. Eine Welt aus Menschenliebe. Für gute Menschen eine gute Welt. Schöne, gute Welt! Jeden Tag höre ich so ein bis drei Lebensläufe. Über die kleinen Lautsprecher dringen sie aus der Trauerhalle zu uns nach hinten: Ein Abriss, die kurze Zusammenfassung eines Lebens, mit dem ich nie zu tun hatte. Mit dem ich es jetzt zu tun kriege. Reduziert auf acht bis zwölf Minuten. Eingekocht wie Sirup. Eingedickt wie Marmelade. Ich weiß, wen ich auf seinem letzten Weg begleite. Wen wir zu seinem letzten Plätzchen hinaustragen. Im Schnelldurchlauf höre ich das Wichtigste, die Stichpunkte einer Biographie. Das Herausragende. Oder – es ist nichts Herausragendes dabei. Manchmal gibt es einfach nichts. Kaum etwas, das erwähnt, das gesagt werden müsste. Da war nichts Großes. Das Leben war eher klein. Eher klein und wenig. Manchmal gibt so ein Leben gar nicht viel her. Manchmal will es nicht viel erzählen. Manchmal hat es nichts zu sagen. Hinter der Trauerhalle, an einem Tisch mit fünf Stühlen – da sitzen wir. Die Pietät hat mir schon vorher gesagt, haben wir einen mit Rollator oder sind alle lauftüchtig. Wir warten auf unseren Einsatz, unser Kommando, wir reden nicht, wir schweigen und lauschen. Hinter der Orgel, unter dem kleinen Kasten mit den Lämpchen. Manchmal – da drifte ich ab und verliere mich in Gedanken, an meine Frau, mein Kind, falle kurz in meinen Tagtraum. Aber ich kehre rechtzeitig zurück, immer kehre ich rechtzeitig zurück. An der Wand steht eine Liege – sollte jemand umfallen, sollte jemand einen Schwächeanfall hinlegen. Daneben der Feuerlöscher, der Verbandskasten. Und die Kreuze. Ja, natürlich die Kreuze. Fünf große Holzkreuze mit Stab haben wir zur Auswahl. Zwei mit dem Gekreuzigten, und drei ohne, schlicht und glatt. Sind Messdiener dabei, tragen sie das Kreuz voran. Aber meistens trägt es einer von uns. Kreuz übrigens nur bei Erdbestattung. Das sind dann vier am Sarg plus einer mit Kreuz. Bei Feuerbestattung gibt es kein Kreuz. Am Rednerpult in der Trauerhalle sind drei Tasten. Drückt man sie, gehen bei uns die Lämpchen an. Erstens: Chor. Die Musik muss laufen. (singt) I’ve been to Hollywood, I’ve been to Redwood.

11 / 2020

REBECCA WEINGARTNER HECKE / RAUTER / WILLMANN MIXED PICKLES # 9 HENRIKE IGLESIAS NTANDO CELE / MANAKA Empowerment Prod. theater–roxy.ch


zsuzsa bánk_alles ist groß

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Nanana, undsoweiter. Zweitens: Orgel. Der Organist beginnt zu spielen. Drittens: Kondukt. Meine Lampe, ich bin gemeint. Sargzug. Leichenzug. Totenzug. Wir sind dran. Heute kein Kreuz. Heute bei Helmuth kein Kreuz. Ein Countryfan. In Nashville war er sogar. 1974 die erste Frau tot. Zwanzig Jahre später, 1994, die zweite Frau tot. Als Kind der Krieg, die Bunker, die Bombennächte, die Armut, die Entbehrung, der verlorene Vater – ist ja immer gleich in dieser Altersgruppe. Später: War er Kioskbesitzer, Versicherungsvertreter. Noch später: Hatte er einen Schlaganfall, kam ins Pflegeheim. Schlaganfall, fremde Hilfe. So im Wechsel. Und dann: Herzstillstand. „Daher wollen wir an dieser Stelle Danke sagen. Den lieben Menschen von der Seniorenresidenz. Allen voran Alma, die Lieblingspflegerin, die an seiner Seite war, als Helmuth starb.“ Kinder, Enkelkinder. War er so toll? So ein guter Mensch? „Sein Charme und sein Witz“ – den hatten am Ende übrigens alle. Man könnte glauben, wir leben in einer Welt voller Witz und Charme. Wär ja schön. Das müsste man doch merken, das hätte man doch schon gemerkt. Das wäre uns doch aufgefallen. Also mir, mir wäre das sicher aufgefallen. Wenn hier alles so witzig wäre! Wenn alle so charmant wären! Erst später kann man etwas ablesen. Erst später ahnt man, welches Leben sich unter dieser Haut, in dieser Asche verbirgt. Welche Blutfarbe durch diese Adern geströmt ist. Blass, dunkel, rot, blau. Später erst sieht man: Kommt jemand zum Grab? Wird es gepflegt? Überhaupt besucht? Oder verwaist es? Steht da noch jemand und weint? Steht da noch jemand und klagt den Himmel an? Boxt gegen die Wolken? Tritt gegen die Wolken? Liegen da Blumenbouquets für 200 – oder faulen die Lilien? Mein Lämpchen leuchtet, Kondukt, ich bin gemeint: Totenzug. Ich nehme meine Mütze. Streiche über den Schirm. Fusselfrei. Picobello. Ich gehe los. Sagen wir, ich schreite. Jetzt passt es, oder? Schreiten! Ich drücke auf den Knopf fürs Glockengeläut. Die Glocke läutet. Ich atme ein und gehe los. Ich trage meinen Anzug. Im Sommer mein Kurzarmhemd, im Winter mein Langarmhemd. Den Mantel im Winter. Den Mantel bei Starkregen. Hier, auf dem linken Ärmel das Wappen der Stadt: weißer Adler auf rotem Grund, mit Goldkrone. Blaue Zunge, blaue Krallen. Dazu die dunkle Krawatte. Die schwarzen Lederhandschuhe. Auch im Sommer Handschuhe. Handschuhe immer. Weil uns sonst die Hände verbrennen, wenn wir den Sarg hinablassen. Das Seil würde uns sonst die Hände verbrennen. Alles schon passiert. Alles schon geschehen. Alles schon so, genau so gesehen. Aber Lederhandschuhe bei 30 Grad! Darunter meine Gärtnerhände. Nach dem Grabausheben geschrubbt. Vor einer Stunde war ich noch in meiner Gärtnerkleidung. Arbeitsschuhe,

Arbeitshosen, Fleecejacke, Mütze. Ich muss ordentlich aussehen. Für diesen letzten Gang muss ich ordentlich aussehen. Meine Schuhe sind geputzt, mein Haar ist kurz geschnitten, mein Bart gestutzt. Mein Mantel ist abgebürstet. Keine Schuppen. Kein Haar. Kein Stäubchen darauf. Den Sarg tragen wir zu viert. Sargtragen ist Schwerstarbeit. Knochenarbeit. Einer zieht den Sarg auf den Bahrwagen, und dann heben wir den Sarg zu viert. Mir ist gleich, ob ich rechts oder links trage. Ich bin Linkshänder. Gehen Sie mal 300 Meter mit 50 Kilo am Arm und an der Schulter! Mindestens 50 Kilo! Durchqueren Sie mal 18 hektar! Gehen Sie mal den Weg hinab und wieder hinauf! So wie er sich unter den Eiben in die Länge zieht und biegt und krümmt. Vorne gehen die Starken. Der Kopf ist schwerer als die Füße. Und wer’s mit dem Rücken hat, macht nur noch Urne. Sollen die Jungen ran. Sollen die Jungen den Sarg tragen. Die Anfänger. Heute ist Urne. Der Countryfan ist Urne. Also gehe ich allein. Ich betrete meine Bühne. Wie aus dem Nichts tauche ich auf. Als wäre es ein Trick. Ein bisschen Magie. Die Tränen fließen – und ich stehe da. Ich warte auf das Nicken. Der Redner, der Pfarrer gibt mir das Zeichen, ich gehe los. Ich schreite. Sechs Schritte vielleicht. In der großen Trauerhalle nicht mehr als sechs Schritte. Über mir auf der Kuppel sitzen die Tauben im runden Fenster, schlagen mit den Flügeln, gurren und schauen zu. Ich ziehe meine Mütze ab. Ich verbeuge mich vor der Urne. Ich ziehe meine Mütze auf. Ich nehme die Urne in die Hände. Ich drehe mich zur Trauergesellschaft. Halbe Drehung. Ich drehe mich zum Ausgang. Viertel Drehung. Die Türen öffnen sich. Ich führe den Zug an. Ich bin der erste in der Reihe. Hier lang, bitteschön. I walk the line. Später bin ich der letzte, der geht. Ich zeige den Weg, ich schreite voran. Drei, vier Meter Abstand zu den ­anderen. Nicht mehr. Auf keinen Fall mehr. Hinter mir Husten, Schneuzen, kein Reden. Ein bisschen Flüstern. Vor meiner Brust ein Gefäß aus Metall, aus Keramik, aus Holz – und darin steckt das Leben. Achtzig Jahre Leben, mit vielen Abzweigungen darin. Mit vielen Wegen, Kreuzungen, Gabelungen, Umwegen, Sackgassen, Sperrungen. Zweiundneunzig Jahre Leben – oder weniger, manchmal auch nur zwanzig Jahre, manchmal bloß acht. Aber dann keine Urne, dann Sarg. Bei Kindern nie Urne. Bei Kindern immer Sarg. Am Anfang hatte ich Angst, es war aufregend, mein Herz klopfte laut, ­bambambam!, meine Hände waren heiß, meine Wangen, ich hatte Angst, ich könnte stolpern. Die Urne könnte mir aus den Händen fallen. Malen Sie sich mal den Rest aus. Denken Sie sich mal den Rest. Jedes Mal gehe ich den Weg vorher ab. Wenn es geregnet hat, präge ich mir die Pfützen ein, nach einem Sturm sammle ich die Äste auf. Ich will beim Gehen nicht zu Boden schauen müssen. Nicht an einem Ast hängenbleiben. Der Weg muss frei sein. Dieser Gang ist schwer genug. Für die Leute hinter mir? Der schwerste Gang. Klar.

Siegmar Zacharias mit Neha Chriss, Eroca Nicols, Mithu Sanyal u.a.

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Ich richte meinen Blick geradeaus nach vorne, ich suche mir einen festen Punkt – und gehe. Ich achte darauf, ob alle folgen. Keiner soll zurückbleiben. Ich höre auf das Knirschen unter den Schuhsohlen. Ich gehe nicht zu schnell, auch nicht übertrieben langsam. Das habe ich eine Weile ­ausprobiert, erst lernen müssen. Früher bin ich zu schnell gelaufen, ich hatte keine Zeit. Ich hatte das Tempo von draußen, ja, von draußen, da, dort draußen, von den Bürgersteigen des Lebens. Von den Kreuzungen, den Ampeln, den Zebrastreifen, von den Einkaufsstraßen und Märkten des Lebens. Den Turbo in mir, immer so mit hundert Sachen im zweiten Gang. Aber hier, für diesen Gang gibt es nur eine richtige Geschwindigkeit. Einen Hauch bewegter, einen Tick dynamischer – und es wird zu schnell. So im Todestempo eben. Wenn Sie sich das vorstellen können. Im GeleitTempo. Im Übergangs-Tempo. So als wären wir knapp über dem Boden. Wir versuchen – zu schweben. Wir üben – das Schweben. Gestern war viel Rollator. Heute keiner. Heute rote Luftballons. Ein Mädchen trägt einen Strauß roter Herzluftballons. Heute Johnny Cash. (singend) It‘s these expressions I never give That keeps me searching For a heart of gold And I‘m getting old Keeps me searching For a heart of gold And I‘m getting old Ich bleibe am Grab stehen. Duft von Erde. Duft von feuchter Erde. Duft von Jahreszeit. Duft von Wetter. Am Morgen habe ich das Erdloch ausgehoben. Mit dem Urnenspaten, unserem Handbagger. Bis zur Markierung. Tiefe: 70 bis 80 Zentimeter. Größe des Urnengrabs 80 mal 80. So. Habe die Grabmatten ausgelegt. Für die saubere Umrandung. Dann die Schubkarre weggebracht. Fünfzig Meter weiter am Weg unter die Kastanie gestellt. Am Grab soll keine Schubkarre stehen. Das Grab soll nicht nach Arbeit aussehen. Am Grab bitte keine Arbeitsgeräte, keine Hinweise auf Arbeit. Am Grab bitte nur ausgesetzte Zeit. Nur aufgehobene Zeit. Am Grab nur Zeitlosigkeit. Oder Zeichen, Anzeichen, die gehen auch, die sind erlaubt, die sind gewünscht, von denen gerne jede Menge – die Menschen warten ja nur darauf. Hinter der Friedhofsmauer kommen sie ohne Zeichen aus, doch am Grab ist alles gut für ein Zeichen. Für eine Botschaft aus dem Jenseits, aus dem Zwischental, dem Verbindungstunnel zwischen Erde und ­Himmel. Oder Erde und Hölle. Wenn der Regen plötzlich aufhört – oder wenn er plötzlich beginnt: ein Zeichen. Eine dunkle Wolke – oder aber ein wolkenloser Himmel: ein Zeichen! Ein Gewitter – oder das Ende eines Gewitters: Seht nur, ein Zeichen! Ein Vogel, der aus dem Baum hochflattert und schnell davonfliegt. Oder einer, der von oben langsam herabgleitet und sich in der Baumkrone verfängt. Alles Zeichen! Ich lasse die Urne an ihrer Kette hinab. Ich verbeuge mich und verschwinde hinter den Menschen. Ich gehe ein paar Schritte, ich stelle mich unter einen Baum. Ich halte Abstand, bleibe aber in der Nähe. Ich bin auf alles gefasst. Einmal ist ein Kind ins Grab gesprungen!

Da bin ich aber sofort los, sofort! Für die anderen habe ich mich schon aufgelöst. Keiner sieht mich. Zwar sind mir alle gefolgt, aber jetzt sieht mich niemand mehr. Die Menschen vergessen mich sofort. Sie setzen mich in die Landschaft und – ich werde zu einem Baum. Ich werde zu einem Gegenstand des Friedhofs, zu einem Stein, einem Busch. Keiner prägt sich mein Gesicht ein. Ich bin so etwas wie ein Niemand. Der Pfarrer wird zur Feier eingeladen, der Pfarrer wird dazugebeten. Mich lädt niemand ein. Weil man mich schon vergessen hat. Zwei Minuten später schon vergessen hat. Aber ich schaue mir die Gesichter an. Ich sehe die Leute in der ersten Reihe. Die Töchter und Söhne, die Ehemänner, Ehefrauen. Ich ahne, was dem vorausgegangen ist. Ich meine, es an den Gesichtern ablesen zu können. Der Tod zeichnet ja etwas in so ein Gesicht. Der Tod zieht seine Furchen. Seine Gräben. Schränkt die Farbpalette ein, pinselt sein Grau bis Schwarz auf. Wie heißt das noch? Kein Toter ist so tief begraben wie eine erloschene Leidenschaft? Ich sehe die Leute in der letzten Reihe. Die irgendwie dabeistehen, aber nicht so richtig dazugehören. Die kaum jemand wahrnimmt. Aber ich sehe sie, ich schaue sie an und ordne sie ein. Alte vergessene Freunde? Jemand aus einem Leben, das nebenher lief? Geheim? An einem anderen Ort? Der Tod macht die Menschen klein. Im Angesicht des Todes schrumpfen sie, gehen sie ein. Ich sehe sie am Grab kleiner werden. Ich kann zusehen, wie sie einlaufen und sich zusammenziehen, wie alles an ihnen kleiner wird, ihr Kopf, ihre Füße, ihre Schultern, ihr Rücken – wenn sie sich später abwenden, gehen sie als Zwerge. Winzig. Ich schaufle die Erde zurück, schließe das Grab. Höre auf den Sound der Erde. Drisch, Drisch. Der Winter ist lauter. Wintererde ist lauter. Sommererde nicht so laut. Aber das kann dauern. Manchmal stehen sie lang, wollen nicht gehen, manchmal dreht sich wer um und läuft zurück, kann sich nicht verabschieden, kein Ende finden. Ich warte und dränge nicht. Ich habe Zeit. Ich werde ja dafür bezahlt, dass ich Zeit habe. Das Mädchen lässt die Luftballons für Helmuth steigen. Zwei bleiben im Baum hängen. Alle drehen sich langsam um und gehen los, bereit ihr Leben wieder aufzunehmen, sich dem Draußen-Tempo zu nähern. Ziehen zum Alten Zollhaus die Straße runter. Danach ist alles still und leer. Ich bin Grabmacher. Es ist eine gute Arbeit. Alle sagen: Wie kannst du das machen? Meine Frau sagt: Wie kannst du das machen? Meine Mutter sagt: Wie kannst du das machen? Meinem Kind habe ich noch nicht gesagt, was ich mache. Doch wenn ich mich selbst frage: Bedrückt mich das?, antworte ich: Nö. Nö! Klar, macht schon nachdenklich. Man hofft, man bleibt noch eine Weile verschont. Wird noch eine Weile vergessen und nicht aufgerufen. Man weiß, das alles hier kann schnell vorbei sein, sehr plötzlich vorbei sein. Aber es ist eine gute Arbeit. Ein guter Beruf. Es ist ruhig, ich bin draußen. Und alles ist groß. Der Blick zum Taunus: groß. Der Blick ins Freie: groß.

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MATTHAEI & KONSORTEN DIE SUMPFGEBORENE

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Keine Stadt hier. Kaum eine Idee von Stadt hier draußen. Heiligenstock ist eher Park als Friedhof. Friedhof nebenbei. Der Himmel: groß. Nah und groß. Und wir sind klein darunter. Ich bin klein darunter. Ist das Leben verrutscht, rückt es sich hier zurecht. Das Grün: groß. Der Rasen: groß. Die Baumkronen: groß. Die Eichen, Kiefern, Birken, die Eiben: alle groß. 18 Hektar Fläche. Gewann eins bis zwölf. Trauerhain, FdU – das Feld der Ungenannten. Ist unser Name. Wir nennen es so. Wer kein Geld hat oder keine Angehörigen oder beides nicht, der endet hier. Den bettet die Stadt ins Rasengrab. Den bringt sie im Rasengrab unter. Wie heißt das noch? Elend ist unbegrabner Tod. Auch für die Ungenannten ziehen wir uns um. Natürlich. Dunkler Anzug mit Krawatte, Handschuhe, Mütze mit Schirm – muss sein. Für jeden. Auch für die, zu denen niemand kommt, von denen sich niemand verabschiedet. Auch für sie bleibt es das gleiche Ritual. Wird es der gleiche Ablauf. Wenn sonst keiner kommt, um Adieu zu sagen, machen wir das. Wir sagen Adieu. Im Anzug. Das hat jeder verdient. Jeder. Adieu. Ich weiß, wo sie liegen. Auch wenn es keinen Stein, keine Platte gibt, auch wenn das Gras später auf nichts hindeutet, kenne ich jedes Grab, auch diese unsichtbaren Gräber kenne ich. Ich finde die unsichtbaren Gräber blind. Ich bin zufrieden. Ich bin Grabmacher. 5000 Bestattungen im Jahr in dieser Stadt. Kann man sich ja ausrechnen, wie viele pro Woche, pro Tag. Ja, rechnen Sie ruhig. Von Montag bis Freitag. Um neun geht’s los. Um drei ist Schluss. Aber gestorben wird ja nicht gleichmäßig. Mal sind es vier am Tag. Mal die ganze Woche keiner. Letzte Woche war sehr ruhig. Der Tod verteilt sich nicht in gleichen Abständen. Der Tod ist unregelmäßig. Er kennt kein Nacht oder Tag, er braucht keine Uhrzeiten, keine Jahreszahlen, er kommt und geht, wie er will. Wie es ihm gefällt. Wie er Lust hat. Wie es ihm Spaß macht. Ja, und nimmt mit, wen er kriegen kann. Hundert Grabmacher sind wir. Darunter eine Frau. Jeder hat seine Friedhöfe. Jeder hat seine Lieblinge. Mein Bezirk ist Frankfurt Ost. 25 Mitarbeiter auf 13 Friedhöfen, darunter zwei jüdische. Nieder-Erlenbach Neu, Nieder-Erlenbach Alt, Berkersheim, Fechenheim, Bergen-Enkheim, undsoweiterundsoweiter. Und hier, Heiligenstock, die Luxuslinie, mein liebster. Grabmacher? Keiner kann damit etwas anfangen. Grabmacher? Ja, Grabmacher. Der Mann fürs letzte Geleit. Der Mann für den Schlussakkord. Für den nachklingenden, abebbenden Ton nach dem Schlussakkord. (summt) Für das mhhhhhmmmhhh. Grabmacher – kann man doch sehr leicht übersetzen, jedes Kind kann das sofort übersetzen:

Kaserne

Ich mache das Grab. Ich bin der, der das Grab macht. Sowas kann man nicht lernen. Es ist keine Ausbildung, da geht man nicht

drei Jahre zum Friedhof und lernt Gräber ausheben, Särge tragen, Urnen halten, Schirmmützen aufziehen, neutral schauen. Angemessen neutral schauen. Nicht übertrieben, einfach nur angemessen neutral. (zeigt) So ungefähr. Man fängt eines Tages einfach damit an. Und dann ist man es. Das kann nicht jeder, wenige können es. Und einer muss es schließlich machen. Alle wollen, dass diese Arbeit getan wird. Aber alle sagen, wie kannst du diese Arbeit machen? Wie kannst du nur? Wenn ich davon erzähle, schauen die Leute komisch, gehen zwei Schritte weg von mir. Als würde ich den Tod bringen! Als könnte ich ihn übertragen! Ich bin das doch nicht! Deshalb sage ich oft nur, ich arbeite auf dem Friedhof. Nichts weiter. Und mehr wollen die Leute nie wissen. Sage ich Friedhof, werden sie sofort stumm. Höchstens: Oh. Oder: Oh, Friedhof. Sage ich Friedhof, kriegen die Leute sofort Angst. Sage ich Friedhof, werden die Leute schon nervös. Fangen an, sich zu kratzen. Früher hießen Leute wie ich Totengräber. Aber das klang wohl irgendwie igitt. Tot und Grab oder graben in einem Wort – das geht nicht mehr. Deshalb bin ich ein GrabMACHER. Machen klingt besser. Das klingt nach Technik, nach Handwerk, nach Können, nach Energie und Geschwindigkeit: Machen. Das passt zur Stadt. Jeder macht hier ständig etwas. Wurschteln, Im-Zick-Zack-Rennen, Betrügen, Zocken, Dinge verkaufen, immerzu verkaufen, verkaufen, verkaufen. Nichts machen: gibt’s hier nicht. Macher, machen: Klingt doch besser. Verdrängt das kleine Wörtchen Grab daneben. Machen ist stärker. Machen – macher – am machsten. Ja, das Machen ist es! In dieser Stadt denken doch alle: Wir sterben nicht. Nee, wir nicht. Alle sind so dumm zu denken: Wir sind für die Ewigkeit gemacht. Alle tragen diese Ewigkeits-Visagen zur Schau. Die Stadt ist jung, die Stadt ist Leben. Die Stadt ist Licht. Ihre Lichter gehen nie aus. Es gibt keinen Augenblick der Stille in dieser Stadt. Keinen Moment des Schweigens. Nee, hörmal, gibt’s nicht. Nicht einmal nachts um vier. Auch nachts um vier ist irgendwo ­irgendetwas zu hören. (Macht Lärmgeräusche.) Brooooaaahhh. Schschschschsch. Achten Sie mal darauf. Die Stadt ist Laufen. Ein Wettlauf, ein lärmender Wettlauf. Die Stadt ist Rennen. Die Stadt ist aus Rennbahnen gebaut. Galopp, Galopp, immer Galopp, Galopp. Aus Rennpisten. Heute Trab, morgen im Grab. Niemand denkt hier an den Tod. An das Ende. Sie vielleicht? Diese Stadt kommt ohne Ende aus. Das Ende wird nicht mitgedacht. Das Ende hat keinen Platz. Sie kommen wahrscheinlich auch ohne Ende aus!

13.11. bis 26.11. Unordnungen mit Flinn Works, Klitclique, Laila Soliman, Deena Abdelwahed u.a.

Fr 20.11. bis So 22.11. Laila Soliman Wanaset Yodit

Fr 13.11. & Sa 14.11. Unordnungen Flinn Works Learning Feminism from Rwanda

Fr 20.11. & Sa 21.11. Joana Tischkau PLAYBLACK

Sa 14.11. Unordnungen Marilú Mapengo Námoda & Teresa Vittucci Emergencies

Di 24.11. Unordnungen Kadiatou Diallo, Stacy Hardy & Edwin Ramirez KIN-SHIP-ING

Unordnungen

Unordnungen

Mi 4.11. Konzert: Sophie Hunger Sa 28.11. & So 29.11. Premiere: Compagnie Tabea Martin Nothing Left

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Sie, ja Sie! Diese Stadt ist immer nur Anfang. Fängt immer nur an. Ständig fängt sie an. Immerzu muss sie anfangen. Sie hat einen Zwang, immerzu anzufangen. Wacht morgens auf und fängt schon an. Schläft abends nicht ein, sondern fängt lieber wieder an. Sie verachtet die Nacht und liebt den Morgen, wenn der Wecker klingelt und der Tag beginnt. Diese Stadt ist immer nur Anfang, oder gerade mittendrin. Gerade dabei. Gerade bei dieser einen Sache. Dann schon wieder bei der nächsten. Sagt immerzu: Heute, heute, heute. Immerzu: Jetzt, jetzt, jetzt. Erst am Totenhaus merken die Leute: Oh, Mist, es gibt den Tod. Also doch. Hoppla, hatte uns niemand gesagt, hatten wir ganz vergessen, hatten wir gar nicht mehr so eingeplant. Gar nicht mehr so auf dem Schirm. Erst wenn sie im Zellengang sitzen und warten, dass wir die Türen für sie öffnen, merken sie: Oh, das ist er. Das ist er also. Unser Zellengang, das sind 15 Kühlzellen nebeneinander. Fürs letzte Treffen. Meist ohne Gespräch. Also, ohne hörbares Gespräch. Hier liegen sie wartend, aufgebahrt für die letzten gemeinsamen Stunden. Sogar eine Dreier-Zelle gibt’s. Falls alle gleichzeitig sterben. Alle auf einmal: Vater, Mutter, Kind. Als die Bauarbeiten am Hauptfriedhof waren, wurde in unseren Zellen zwischengelagert. Die reine Leichenspedition – aus der Stadt hoch zu uns und von uns dann runter zur Bestattung. Da war Bewegung drin! Da war was los! Aber – ist schon komisch, wenn die Leute überrascht sind, weil sie vom Tod erwischt werden. Als hätte ihnen das keiner gesagt. Als hätte man ihnen verschwiegen, dass ein Mensch eines Tages stirbt. Dass der Tag kommt. Dass wir Menschen sterben. Dass es am Ende unseres Plans steht. Und dass sich dieser Plan immer erfüllt: ausnahmslos, ohne Ausnahme. Dass wir dafür vorgesehen sind. Dass nur das und nichts anderes unsere Vorsehung ist. Nein, nichts anderes. Dass sich unser Tod bereit hält, sobald wir auf der Welt sind. Dass er mitläuft. Sich aufstellt, losgeht, sprintet, die Lust am Laufen verliert, einen Umweg geht, uns aber nie aus den Augen verliert, sondern irgendwann anklopft und sagt: Hallo. Oder nichts sagt. Nur anklopft, sich setzt und wartet. Überall macht er das – nicht nur am Krankenbett, Sterbebett. Überall hängt er doch rum – an der Autobahnauffahrt Schwanheim-Goldstein, nachts an der Hanauer Landstraße, im Park auf einer Bank im Schatten, Louisa, Stadtwald, Günthersburgpark, auf dem Fußballplatz, Tennisplatz, im Freibad schwimmt und taucht er mit, er steht im Aufzug, in der Tiefgarage oder an den Bahngleisen – da hockt er viel, da kauert er oft. Da verbringt er gerne Zeit. Ich wohne an den Gleisen Richtung Süden. Unter mir die Züge, über mir die Flugzeuge. Die sehe ich vom Küchenfenster. Wenn ich frühstücke, morgens um sechs. Im Sommer schon früher, da fange ich schon um sechs hier oben

an und gehe um drei, das ist schön im Sommer. Ich halte den warmen Tee in meinen Händen und schaue aus dem Fenster. Fühlt sich nach Leben an. Spricht von Leben, zeugt von Leben. Der Tee, dazu mein Toast, mein Käse, meine Marmelade. Das Radio läuft, Musik und Nachrichten. Überall ist Leben. Alles ist mit Leben gefüllt. Von Leben umgeben. Fürs Leben gemacht und gedacht. Fürs Leben entworfen. Ich stehe am Fenster und schaue auf den Verkehr. Die Lichter an der ­Kreuzung gehen an und aus, das gleiche Spektakel jeden Morgen. Wenige Autos um die Zeit, aber das Leben beginnt anzuklopfen, das Leben meldet sich zurück, der Lärm setzt schon ein, die Geschwindigkeit beginnt schon aufzudrehen. Der Pulsschlag dieser Stadt. Ihr Nervenkostüm. Ihre Hirnrinde. Ich schaue in das Morgengesicht meiner Frau. Müde, aber voller Leben. Nachtnah, aber voller Leben. Verschlafen, schläfrig, aber voller Leben. Ich nehme noch einen Schluck Tee, die Toten rufen, ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn und gehe, die Treppen hinab, vom dritten Stock hinab und dann quer durch die Stadt, durchs erwachende Leben, durch den schlagenden Puls hoch zu meinem Hügel der Stille. Oh! Die Moslems sind da! Aber da habe ich nicht viel zu tun. Jetzt gehen sie zum islamischen ­Bestattungsfeld. Zum Gräberfeld der muslimischen Kinder. Sie tragen den Sarg selbst. Sie legen den Leichnam selbst ins Grab. Der Imam im grauen Umhang hält den winzigen Leichnam. Ein Kind unter einem weißen Tuch. Keine Frauen am Grab. Heute nicht. Einer steigt hinein und legt den Leichnam ab. Sie schaufeln das Grab selbst zu. Alles, was ich zu tun habe: Ich muss es zeitig am Morgen ausheben. Ich lege die Schaufeln für die Angehörigen bereit. Wird ein Erwachsener beerdigt, stelle ich eine Leiter ins Grab. Damit sie hinabsteigen können. Bei Kindern keine Leiter. Ich räume die Dinge später weg. Das Blech, die Schaufeln. Mehr muss ich nicht tun. Es ist eine stille Arbeit. Die Toten sind still. Die Bäume sind still. Es gibt wenige Besucher hier oben. Manchmal zieht ein Nordic Walker den Hügel hinauf. Im Herbst kommen die Kindergärten zum Kastanien-Sammeln, die Kinder gießen ihre hellen Stimmen über den Rasen, über die Gräber – großzügig, verschwenderisch. Viel Lebensgeräusch. Sehr viel davon. Ich mag, wenn es still ist. Ich mag keinen Lärm. Ich kann den Lärm immer weniger ertragen. Immer schlechter aushalten. Hinter der Baumreihe, da hinter den Steinen hört man ein bisschen Landstraße. Aber das stört nicht. Ein bisschen Stadtverkehr von der Friedberger Warte Richtung Osten. Im Ernst: Heiligenstock schwebt über der Stadt. Wie auf einem unbewohnten Planeten hier. Sommer oder Winter – macht keinen Unterschied für mich. Bei Frost und Eis müssen wir mit dem Schlagbohrer ran. 2006 war der härteste

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Winter, Minus 18 Grad am Morgen, Eis-Hände, Eis-Ohren, tränende Augen, die Luft wie ein Messer. Das Ausheben an Eistagen, das ist schwer. Die Erde ist hart und störrisch. Wie Stein. Die will einfach nicht. Dazu viel Schneebereitschaft – unsere Rufbereitschaft für den Schneedienst. Im Dunkeln fahre ich die Konduktwege ab und streue Split aus der Hand. Wir Grabträger dürfen nie rutschen. Nie! Der Sommer war lang und heiß, die Klimawandelsommer fangen jetzt an, das wird noch was. Wir haben nur mit Schlagbohrer ausgehoben, mit der Schaufel ging gar nichts mehr. Die Erde wie Beton. Diese vier riesigen Kiefern da hat der Sommer zerstört. Getötet. Hat er auf dem Gewissen. Wir haben nur die Jungbäume bewässert, aber die haben es auch nicht alle geschafft. Haben einfach nicht genug Wasser bekommen. Nichts zum Trinken gehabt. Und jeden Tag über 30 Grad. Das hält doch kein Baum aus! Immerhin hat der Weihnachtsbaum überlebt. Da vorne, die große Tanne vor der Trauerhalle. Noch immer samtig grün. Noch immer üppig. Im Advent kriegt sie wieder ihre Lichterkette. Nur für uns spielt das Wetter eine Rolle. Die Angehörigen kümmert es nicht. In den Menschen ist Winter. Draußen ist Sommer, Frühling, Herbst – aber in ihnen ist Winter. In den Menschen liegt Bodenfrost. In ihren Blutbahnen fließt das Blut knapp über Null, knapp über dem Gefrierpunkt. An heißen Tagen bibbern sie. Das macht der Tod mit ihnen. Das macht die Halle mit ihnen. Der Tod fängt schon mal an – und den Rest übernehmen die Trauerhallen. Unsere städtischen Kühltruhen, unsere Winkel der Ruhe, unsere letzten Ecken des Stillstands, die letzten Quadratmeter für das Andere. Lasst doch mal die Sonne rein!, möchte ich rufen. Mann, reißt doch mal die Fenster auf! Dieses alte, abgelegte Wort, hier fällt es uns wieder ein: Ehrfurcht. Schreiben Sie es mal auf, sagen Sie es mal, denken Sie es mal: Ehrfurcht. Furcht und Ehre. Oder was heißt das? Ehre und Furcht? Furchtlos ist der Geehrte? Furcht in der Ehre? Keine Ehre ohne Furcht? Ehre dem, der fürchtet? Nur wer fürchtet, wird auch geehrt? Das zusammengenommen, in einem Wort. So verschränkt, als Paar. Ziehen Sie es mal ganz langsam auseinander: E h r f u r c h t. Und schon wird Ihnen kalt. Schon fangen Sie an zu zittern. Ich bin Grabmacher. Das heißt, mein Anzug ist maßgeschneidert. Der Schneider kommt und nimmt Maß. Ich habe zwei Anzüge, fünf Hemden mit langem Arm, fünf mit kurzem. Die Hemden wasche ich zuhause, der Anzug muss in die Reinigung. Schlimm sieht der aus, wenn es heftig regnet. Einen Schirm tragen wir nicht, haben ja keine Hand frei für den Schirm. Der Pfarrer geht mit Schirm. Wir nicht. Regen, Pfützen, Schlamm, Erde – und meine Hose ist ruiniert.

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Am Anfang? Ja, am Anfang hatte ich Träume. Klar hatte ich die. Ich immer unter einer dunklen Wolke, die zog nicht weiter. So eine schwarze, tiefhängende, jeden Moment aufreißende und lostobende Gewitterwolke. Aber nie riss sie auf und tobte los. Setzte sich nur jede Nacht in meinen Traum – fett und düster und träge. Aber jetzt schlafe ich gut. Schon lange. Der Tod kommt nicht in meinen Traum. Er macht Halt vor meinem Traum. Halt vor meinem Bett. Vor meinem Kopfkissen. Ich bin ausgeschlafen am Morgen. Punkt Sieben fangen wir an. Wir sind zu zwölft. Die Chefin plus zwölf Männer, die sich übers Grün verteilen. Gräber ausheben. Für den Sarg: drei bis vier Männer. Für die Urne: reicht einer. Gartenarbeiten, Rasenmähen, mit dem Rasenmäher über den Trauerhain. Den Platten macht das nichts, den gravierten Namen mit ihrem von – bis macht das nichts. Büsche stutzen, Bäume schneiden, am Denkmalplatz welke Blumen einsammeln. Die Chefin sagt, was zu tun ist. Wir gehen die Bestattungspläne durch. Grünflächenamt 67.51.2. Zeit: 12 Uhr. Art: Trauerfeier und Bestattung. Art 2: Urne. Friedhof: Heiligenstock. Name: Fischer, Christl. Bemerkung: Urne kommt eine Stunde vor Trauerfeier. Überurne. Orgel. Gefüllte Schale. Grab: 04 0176 c UG, vorne links. Grabart: Urnenwahlgrabstätte. Pietät:: Walter. 1. Kontrolle: Gianni. 2. Kontrolle: Ich. Siebentausend Gräber mit Nummern. Da kann schon mal was schiefgehen. Darf nicht passieren? Passiert aber. Ist uns passiert. Ist mir passiert. Ja, echt, einmal hatten wir das falsche Grab ausgehoben. Den ganzen Vormittag das falsche Grab ausgehoben. Den ganzen ­Vormittag den Schweiß von der Stirn gewischt, die Schaufel aufgesetzt, uns abgestützt für eine Pause, einen Schluck Wasser getrunken und dann weitergegraben – leider an der falschen Stelle. Ein Meter dreißig mal zwei Meter zwanzig – völlig umsonst. Ein Meter achtzig tief – völlig umsonst. Als wir uns mit dem Sarg genähert haben, ist mir plötzlich sehr heiß ­geworden. Als ich davor stand und gemerkt habe: Sch…, es ist das andere! Es ist das Grab daneben. 0134 ist es und nicht 0135. Sehr heiß unter meiner Mütze. Ich hab’s dem Pfarrer geflüstert. Mit der Zeit kennt man ja alle und weiß, wer verträgt einen Spaß. Wer kann gar nicht lachen. Hat nie lachen gelernt. Die Angehörigen haben es gar nicht gemerkt. Wir haben entschieden, der Sarg bleibt stehen und wird nicht versenkt. Erst später dann, ins richtige Grab. Das wir noch ausheben mussten. Ja, das gab Ärger. So ein Mist! Deshalb jetzt immer zwei Kontrollen. Zwei Augenpaare. Vier Augen. Fehler sind bei uns nicht vorgesehen. So eine Bestattung muss ­reibungslos geschehen. Muss surren. Und gleiten. Widerstandslos. Das Sterben ist ja Fehler genug. Die Beerdigung muss fehlerfrei sein. Also, ich bin Grabmacher. Ich mache eine Arbeit, die keiner machen will. Von der kaum jemand etwas weiß. Von der sich alle abwenden. Oder? Wie viele Grabmacher kennen Sie? Wie viele Grabmacher lassen Sie an ihrem Tisch essen? Alle denken doch, das bringt Unglück. In meiner Nähe zu sein, bringt sofort Unglück. Das Komische ist: Jeder braucht mich. Jeder will, dass es mich gibt.

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Die Menschen würden verzweifeln, wenn es mich nicht gäbe. Jeder will, dass ich diese Arbeit erledige. Umbettungen zum Beispiel. Umbettung – das klingt fast schön, oder? Bett – das klingt doch weich, nach Decke und Kissen, warm und weich. Heißt aber: Alles wieder aufbuddeln und raus. Die Familie geht zurück in die alte Heimat – und nimmt die Großmutter mit. Die Familie geht ­zurück in die Türkei – und nimmt den Vater mit. Die Familie geht zurück nach sonstwohin – und nimmt die Mutter mit. Obwohl ich denke: Lasst den Toten die Ruhe. Lasst sie liegen, lasst sie hier. In dieser Erde. Das weiße Leinentuch ist nach Jahren lila-schwarz. Viel besser und einfacher für uns, man wurde im Leinentuch begraben. Am schlimmsten ist so ein Zinksarg. Zinksärge – die sind wie Bunker. Sollten Sie jemals einen Bunker brauchen, verstecken Sie sich in einem Zinksarg. Öffnen Sie mal so einen Zinksarg für eine Umbettung und versuchen Sie nicht umzufallen. Denken Sie: Kloake, brackiges Wasser, gekippter Teich – und dann denken Sie noch etwas dazu. Denken Sie: faul, modrig, ­verschimmelt, vergoren – und dann denken Sie noch etwas dazu. Ist die Pacht abgelaufen, zahlt keiner mehr fürs Grab, dann gibt die Chefin es frei. Wir öffnen es und entfernen den Sarg, wir räumen es. Ich muss schauen, ist noch Fleisch an den Knochen. Klebt da noch was, hängt da noch was. Oder sind es nur noch Knochen. Also, Leinen macht die Sache viel einfacher für uns. Auch Urnen sind einfach. Die Urnen verrotten und die Asche der Toten vermischt sich mit der Erde. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Heißt doch so. Wir heben das Grab tiefer aus und versenken die Knochen, dann schaufeln wir Erde darauf. Das Grab kann wieder verkauft werden, der nächste Sarg kann kommen – Doppelbelegung. Aber erst planiere ich es. Und streue Grassamen. Das Gras beginnt langsam zu wachsen. Es lässt sich Zeit, es dauert. Vielleicht weigert es sich auch. Weigert sich, an dieser Stelle zügig zu wachsen. Überhaupt zu wachsen. Die Knochen bleiben. Die Knochen sitzen tief in der Erde. Irgendwann sind alle Wiesen voller Knochen. Wir gehen über Knochenwiesen. Da sprießt der Rasen, da zeigen sich die Gänseblümchen. Da springen die Eichhörnchen. Sie lieben unsere Knochenwiesen. Ich war Fahrer, jetzt bin ich Grabmacher. Ich habe Pakete ausgeliefert. Gelbe Jacke, Scanner, immer am Rennen. Immer im Dauerlauf. Immer mit der Uhr in der Hosentasche. Immer mit der Uhr am Handgelenk. Immer gegen die Zeit. Immer mit Warnblinker. Immer das dämliche Hupen im Rücken. Geht doch nicht schneller, wenn einer hupt! Dann wurde verkauft, ich sollte Einzelunternehmer werden. Nein Danke, habe ich gleich gesagt, nicht mit mir. Die anderen waren früher Bäcker oder Heizungsinstallateure. Gianni war Fischer. Ja, wirklich. Fischer in Kalabrien. Seit er elf war, ist er mit seinem Vater jede Nacht hinaus aufs Meer. Winter, Sommer, kaltes Wasser, warmes Wasser. Kein Samstag, kein Sonntag, kein

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Wochenende, kein freier Tag. Keine Freizeit. Kein Feierabend um halbvier. Mit zwanzig kam er nach Deutschland. Erst Hauptfriedhof, da war schon sein Onkel Grabmacher, dann Bockenheim, dann zu mir, Heiligenstock. Ich frage ihn, vermisst du das Meer? Er sagt, nein. Ich frage ihn, vermisst du die Sonne? Nein, sagt er. In Italien ist das Grabmachen anders. Sagt Gianni. Nach 15 Jahren verlässt jeder sein Grab, alle werden herausgeholt. Umbettung ist Standard. Auch wenn noch Fleisch dran ist. Die Knochen werden mit Alkohol gereinigt und kommen in eine kleine Knochenschublade. Schild drauf, Name drauf. Die kennen Sie doch, diese Wände auf italienischen Friedhöfen. Schwarzglänzend unter der Sonne des Südens. Mit goldenen Schriftzügen und Fotos. Sind Knochenwände. Reine Knochenwände. Ein Nord-Süd-Gefälle? Ja, gibt es. Sogar bei den Trauernden. Die Südländer schreien und weinen, sie schimpfen mit dem Tod, sie wollen ihn verjagen, vertreiben, die Südländer schütteln die Köpfe, sie klammern, sie raunen in dieser Endlosschleife neinneinneinnein, nonononono. Einmal hat sich eine Mutter auf den Sarg geworfen. Wir standen an der Grube, hatten soeben den Sarg angehoben, wollten den Sarg gerade hinablassen – und in diesem Augenblick wirft sie sich auf den Sarg. Bäng! Noch einmal sechzig Kilo mehr. Oder siebzig. Italienerin. Die Tochter war 21. Im Sarg die 21jährige Tochter. Ich kann’s verstehen, ja, klar, kann ich. Aber meine Schulter! Die Nordländer sind gefasst und still. Meistens. Sie klagen still, sie weinen still. Sie tragen wenig nach außen, machen vieles mit sich selbst aus. Nach innen. Sie schlucken. Und gehen danach zum Leichenschmaus. Leichenschmaus! Zum Schmaus der Leiche! Gianni kann kochen. Ja, und wie der kochen kann! Hätte auch Koch werden können! Mittags schicken wir ihn hoch, damit er für alle Spaghetti mit Scampi macht. Spaghetti Carbonara. Spaghetti Vongole. Ich sage, ich grabe das für dich aus, und du gehst hoch kochen. Viele Italiener hier am Heiligenstock. Portugiesen. Ich sag Ihnen was: Wir haben eine tolle Stimmung! Wir verstehen uns ohne viel Reden. Wir nicken, geben uns Kommandos ohne Ton. So ungefähr. (zeigt Kommando, gibt Zeichen) Neulich hat Gianni seinen Autoschlüssel unter die Schirmmütze gesteckt. Und ihn dann vergessen. Als wir den Sarg absetzten, um uns zu verneigen, zog er die Mütze ab, und KLONK!, schlug der Schlüssel auf den Sarg. Ja, und da versuchen Sie mal nicht zu lachen! Einfach weiter im Text und nicht lachen! Weh tun nur die Kindergräber. Die schmerzen. Hier, unter der Brust, über dem Bauchnabel. Das kann man nicht wegschieben, das kann man nicht ausschalten. Das kann man nicht wegatmen, nicht wegdenken. Das kann man kaum aushalten. Das ist wie Teer. Heiß ausgegossen und dann hart geworden. Ein Meter mal ein Meter das kleinste. Das bricht Ihnen das Herz. Ich muss nicht weinen, wenn ein 92jähriger stirbt. Nee, muss ich nicht. Warum denn? Hat doch alles gehabt, alles erlebt, mehr darf man nicht erwarten, mehr kann man nicht kriegen als 92!

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Aber bei dem Jungen musste ich. Letzten Herbst, die Jahreszeit, wenn es früh dunkel wird. Feucht, düster, klamm und neblig. Ein Autounfall, draußen auf der Landstraße, Berger Schützenhaus Richtung Maintal. Sie kennen das, diese Herde Schafe, wenn man Bergen verlässt, – und dann die Route direkt in den Tod. Jemand war Vater und Sohn auf der Landstraße ins Auto gerast. So ein besoffenes Arschloch. Da denkt man: Der liebe Gott hat diese Scheißkarteikarte verschlampt. Irgendso ein Scheißengel hat sie in der Konferenz mit seinem Scheißflügel erwischt und keiner hat es gemerkt. So ein Scheißengel im ersten Lehrjahr hat sie beim Fortschweben in den scheißhimmlischen Gulli getreten. Der Vater hat überlebt, der Junge war sofort tot. Der Vater kam mit eingegipstem Arm zur Beerdigung, humpelnd, mit Krücke. Stand mit Gips und Armschlaufe am Grab und musste seinen Sohn beerdigen. Der hatte kaum Zeit für ein DAVOR gehabt. Ganz wenig Zeit für ein DAVOR. Wie der Vater geredet hat! Über die Unvorhersehbarkeit des Lebens. Nee, ich glaube: des Todes, ja, so ist es richtig, so muss es sein, über die Unvorhersehbarkeit des Todes. Mann! Ich hätte schreien wollen: So ein besoffenes Arschloch muss ins Grab! Aber nicht der Junge! Das besoffene Arschloch! Nicht der Junge! Grabmacher bin ich. Hebe das Grab aus. Das große, das kleine. Die Urne bringe ich allein. Den Sarg mit den Kollegen. Ich gehe um drei, ich gehe zurück ins Leben. Ich lasse die Stille hinter mir und gehe ins Leben. Fühlt sich warm an. Fühlt sich heiß an. Auch an kalten Tagen fühlt es sich heiß an. Mit jedem Schritt wird es lauter, manchmal ohrenbetäubend laut. Flugzeuge, Autos, Menschen, Stimmen, Straßenbahnen, Sirenen. Die Leute rennen, reden, streiten. Wie sie rennen! Wie sie immerzu reden müssen! Und Streiten. Hey, wozu streiten!? Morgen schweigt ihr. Warum rennt ihr? Morgen seid ihr kalt. Warum streitet ihr? Morgen seid ihr reglos. Ich kann ablesen, was DAVOR geschehen ist. So setzt sich die Trauergemeinde zusammen, so sehen die Gesichter aus. Ja, ist leicht abzulesen: Kleines Leben, großes Leben. Wenig Leben, viel Leben. Karges Leben, reiches Leben. Klasse Leben. Scheiß Leben. Kann ich sehen, kann ich den Gesichtern in der Trauerhalle ansehen. Manchmal kommen drei und keiner weint. Manchmal 150 und alle weinen. Ja, alle. Alle 150. Echt. Wenn die halbe Stunde nicht reicht, weil sie länger weinen wollen und für die doppelte Belegung zahlen. Also zweimal die halbe Stunde. Dreißig Minuten mal zwei. Da kann ich ablesen, wie das DAVOR war. Ganz einfach ablesen.

zsuzsa bánk_alles ist groß

Das Von-Anfang bis Gestern-Noch. Ich kann sehen, wie es mit dem Glück war. Ob es eins gab. Ob es da war. Ob das Glück die Hand gereicht hat – und jemand vielleicht gesagt hat: nein Danke. Ob das Glück die Hand gereicht hat – und jemand so dumm war und gesagt hat: jetzt gerade nicht. Ob das Glück die Hand gereicht hat – und jemand gesagt hat: äh, später vielleicht. Also, ich mache das nicht. Ich warte nicht auf die bessere Gelegenheit. Den rechten Augenblick. Bis es für mein DAVOR dann zu spät ist. Bis mein DAVOR über Nacht plötzlich abgelaufen ist. Peng – vorbei ist. Ach, man muss auch nicht alles bis ins letzte verstehen – man muss: leben. Also: Das Glück reicht mir die Hand – und ich sage, ja bitte! Das Glück bestreicht mein Toast mit Marmelade und ich sage, Dankeschön, und wünsche mir einen guten Appetit. Das Glück reicht mir die Hand – und ich sage, ja, passt mir gerade. Klar hab ich Zeit. Das Glück reicht mir die Hand – und ich sage, nein, nicht später, jetzt. Ja, passt. Genau jetzt passt es. Der Tod ist doch schließlich verrückt. Nicht das Leben.

© Zsusza Bánk

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Zeitschrift für Theater und Politik

Abo-Vorteile

Per Leo & Anja Nioduschewski: Theater & Moral #4 / Neue Stücke / Tamilla Woodard über die US-Wahl Neustart Konstanz / Kolumne Ralph Hammerthaler / Abschied: Frie Leysen und Michael Gwisdek

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November 2020 • Heft Nr. 11

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Theater der Zeit November 2020

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auftritt

/ TdZ  März   Januar  2018 2020 / /

Buchverlag Neuerscheinungen

Ein Panorama zeitgenössischen Schreibens für die Bühne in 25 Porträts. Soll man die Lage der zeitgenössischen Dramatik als dramatisch be­ zeichnen? Nein! Unsere Bestandaufnahme im aktuellen „Stück-Werk 6“ zeigt, dass nicht nur eine neue, diversere Generation von Dramatikerinnen und Dramatikern auf den deutschsprachigen Bühnen reüssiert, sondern dass formal wie thematisch die Entwicklungen der letzten Jahre in ihren Texten produktiven Widerhall gefunden haben.

Was können wir, was werden wir aus Corona gelernt haben, wenn die Pandemie eines Tages vorbeigegangen sein sollte? Liegt in dieser globalen Krise, in diesem erzwungenen Innehaltenmüssen auch eine Chance? Jonas Zipf, Theatermann und Werkleiter von JenaKultur, geht mit seinen hochkarätigen Gesprächspartner*innen diesen Fragen nach. Mit Beiträgen von u. a. Hartmut Rosa, Thomas Oberender, Bernhard Maaz, Aleida Assmann, Stephan Lessenich und Volkhard Knigge.

Arbeitsbuch 2020 Stück-Werk 6 Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt Herausgegeben von Dorte Lena Eilers und Anja Nioduschewski

RECHERCHEN 159 Inne halten: Chronik einer Krise Jenaer Corona-Gespräche Herausgegeben von Jonas Zipf und Birgit Liebold

Paperback mit 144 Seiten ISBN 978-3-95749-299-9 EUR 24,50 (print). EUR 19,99 (digital)

Paperback mit 158 Seiten ISBN 978-3-95749-317-0 EUR 18,00 (print). EUR 14,99 (digital)

Die 22. Ausgabe der Reihe SCÈNE präsentiert acht zeitgenössische Theatertexte aus Frankreich, Belgien, Québec und der Schweiz. Thematisch im Mittelpunkt stehen der Umgang mit einer dystopischen Gegenwart und die Zukunftsperspektiven einer Generation, die mit globalen Krisen, Turbokapitalismus und Werteverfall aufgewachsen ist.

Dieser reich bebilderte Gesprächsband schil­dert die Reise einer eigenwilligen Schauspielerin, die 1980 im sowjetischen Kasan beginnt, den Leser durch die Wirren des Systemumbruchs in ein ein­sames norddeutsches Dorf führt, von russischen Schamanen, hilflosen Intendanten und palästinen­sischen Macho­-Frauen erzählt und mit ihrer Theater­ arbeit mit Dimiter Gotscheff und Frank Castorf noch lange nicht endet. Mit Gedichten von Valerie Tscheplanowa und einem Nachwort von Josef Bierbichler.

Buchpremiere am 14.11.2020, Berliner Ensemble Scène 22 Neue französischsprachige Theaterstücke Herausgegeben von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Dorte Lena Eilers backstage TSCHEPLANOWA

Paperback mit 332 Seiten ISBN 978-3-95749-300-2 EUR 22,99 (print). EUR 17,99 (digital)

Paperback mit 144 Seiten ISBN 978-3-95749-276-0 EUR 18,00 (print). EUR 14,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Magazin Bye one – leave one free! Ein epochaler Bruch: Olaf Nicolais Plakatkampagne für die Berliner Schaubühne Unerwartete Aufsässigkeit Das dritte Bautzener Festival „Willkommen anderswo“ zeigt das beachtliche Niveau der Jugendbühnen


magazin

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Bye one – leave one free! Ein epochaler Bruch: Olaf Nicolais Plakatkampagne für die Berliner Schaubühne

Der Titel dieser neuen Imagekampagne der

Historie der teuer beleuchteten Gesichter.

­Einrichtungsmarkt, Netto, N ­ orma, Penny und

Berliner Schaubühne lässt schon aufhorchen.

­Juergen Teller porträtierte 2013 Nina Hoss,

Büro Plus. „Nothing for Nothing“ ist eine

„Nothing for Nothing / Try Again“ hat der

Lars Eidinger und Kollegen im überhellen,

Hommage an Schnäppchenjäger-Kultur und

Konzeptkünstler Olaf Nicolai sie genannt.

unterkühlten Wasserleichen-Look rund um

Alles-muss-raus-­Men­talität.

Nichts für nichts / Versuch’s noch mal? Das

­einen Waldsee. Die Agentur-Ostkreuz-­Gründer

Immerhin, das ist unprätentiöser als

klingt nach nihilistischem Grundrauschen,

Ute und Werner Mahler inszenierten schwarz-

manches, was die Kollegen vom Deutschen

nach einem Sisyphos-gemäßen Wissen um

weiße Sachlichkeit vor wechselnden urbanen

Theater sich schon als Imagekampagne ha-

die Vergeblichkeit aller Neustart-Bemühun-

Brutalismus-Kulissen. Pari Dukovic – der

ben einfallen lassen. Wenn sie beispielsweise

gen. Eher un­typisch für die Selbstwahrneh-

schon Barack Obama und Scarlett Johansson

Erdoğan und Kim Jong-un Handpuppen aus

mung von ­ Thomas Ostermeiers Theater, so

fotografiert hatte (!) – komponierte eine

dem Kasperletheater anmontierten oder über

weit man weiß.

versessene Strecke auf Hochglanzmadetail­

ein Angela-Merkel-Bild mit pennälerhaftem

gazin-Niveau. Alles very artsy.

Provokationskichern schrieben: „Mach voran

peare-affine Bühne unter dem Eindruck der

Zuletzt rückte Christian Jankowski den Spie-

MUTTER“. Nicolai dagegen sucht in Zeiten

pandemischen Erschütterungen der Gegen-

lerinnen und Spielern etwas härter zu Leibe

erschwerter Planbarkeit die Leerstelle. Man

wart zum wahren Kern ihres britischen

und inszenierte sie als Opfer sogenannter

könne auf die Plakate mit der Hand schrei-

Lieblingsdramatikers gedrungen ist. Vom ­

„sleeping pranks“ – dieser im Netz kur­sier­

ben, „was am jeweiligen Abend läuft. Wie bei

­Literaturprofessor Harald Bloom stammt die

enden Mode, schlafende Menschen zum Bei-

einem Wandertheater“, schlägt er vor. Schön

Analyse: „Alle großen Figuren – Falstaff,

spiel mit Obst zu dekorieren. John Bock

und gut. Aber warum die Billigheimer-­

Hamlet, Shylock, Macbeth, King Lear, Kleo-

schließlich, der wilde Aktionskünstler und

Rahmung? Gibt es am Lehniner Platz künftig

patra – waren Nihilisten. Sie alle glauben, wie

Filmemacher, ließ das Ensemble in der ver-

Rabattaktionen für die Corona-bedingt redu-

Hamlet: ‚Der Rest ist Schweigen‘ – das be-

gangenen Saison unter dem Titel „Im ver­

zierten Plätze („buy one – leave one free!“)?

deutet die An­nihilation, das Nichts.“

beulten Universum“ nebst Mobiliar im Raum

Oder sind hier die drastischen Kultur-Spar-

herumschweben Der verschwindende Körper

maßnahmen von morgen schon eingepreist?

– deutete er sich da schon an?

Müssen wir uns darauf einstellen, dass die

Möglich natürlich, dass die Shakes-

Dazu würde der Umstand passen, dass Nicolai – ein hochpolitischer, Documenta-­ bewährter Künstler, der NS-Justiz-Opfern und

Jetzt also die totale Abstraktion. Nur

Ensemble-Fachkräfte der Schaubühne einem

Deserteuren Denkmäler setzt – ausgerechnet

noch Farbe und Form. Als hätte die Schau­

Theater der kostengünstigen Farbenspiele

von den Plakaten radiert hat, was dem Thea-

bühne den Kandinsky-Weg beschritten, vom

weichen? Und welches Image will sich das

ter bis dato besonders lieb und teuer war: die

„Hafen von Odessa“ über den „Blauen Rei-

Haus hier eigentlich geben? Wir haben doch

Schauspielerinnen und Schauspieler. Statt

ter“ zur Bauhaus-Phase und den Linien-­

schon einen Theaterdiscounter in Berlin. //

Menschen bietet Nicolai nur bunte grafische

Explosionen

Flächen an. Blaue Pfeile auf gelbem Grund,

Wobei Kandinsky bekanntlich ein theoso­ ­

Linien, die auf einen Fluchtpunkt in unend­

phischer Obskurantismus-Fan war, dessen

Marke

licher Ferne zulaufen, rot-weiße Absperrband-

Traktat „Über das Geis­tige in der Kunst“ jen-

Optik zu blauer Kästchenreihe. Ein epochaler

seits von Waldorf-Kreisen viel Kopfschütteln

Bruch.

ausgelöst hat. Solche Tendenzen traut man

Sieben Spielzeiten lang hat die Schaubühne namhafte, international tourende Foto-

Patrick Wildermann

„Komposition VIII“.

Janosch

Ostermeiers Haus kaum zu. Muss man zum Glück auch nicht.

grafinnen und Fotografen engagiert, um das

Es hilft, wie so oft im Theater, den

Ensemble in Szene zu setzen. Eine gepflegte

­Beipackzettel der Dramaturgie zu lesen. Olaf

KOMM, WIR FINDEN EINEN SCHATZ Regie: Felix Bachmann

Nicolai, erfährt man da, hat sich in seiner

Hat die Berliner Schaubühne den Kan­ dinsky-Weg beschritten? Oder eher den Poco-Pfad? Bei der Enträtselung von Olaf Nicolais Plakatkampagne hilft der dramaturgische Beipackzettel. Foto Silke Briel

grafischen Setzung an der „Ästhetik von

St. Pauli Theater Hamburg

­Wer­be­­bro­­schü­ren“ orientiert. Und tatsäch-

Premiere: 20. November 2020

lich: All die Komposi­ tionen aus Kästchen, Kreisen, Zacken und Ausrufezeichen sind eins zu eins dechiffrierbar. Pate standen Kataloge von Discountern wie Aldi, Poco ­

MERLIN VERLAG

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Unerwartete Aufsässigkeit Das dritte Bautzener Festival „Willkommen anderswo“ zeigt das beachtliche Niveau der Jugendbühnen

„Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn!“

den leider nicht erledigten Gründen für die

Beim Festival „Willkommen anderswo“ im

Einrichtung der Bautzener Bürgerbühne.

Und täglich grüßt der Gartenzwerg – „Schau. Platz.Angst“ vom Jungen Theater Heidelberg beim Bautzener Festival. Foto Lucia Bartl

Bautzen

Die Auftaktinszenierung traf genau die-

ging der Wunsch von Faust aus dem gleich­

ses Motto und die Erinnerungen im 30. Jahr

namigen Goethe-Klassiker tatsächlich in Er-

der Deutschen Einheit. „Abgehauen“ zeigt,

füllung – dreieinhalb Tage lang, draußen bei

wie im Sommer 1989 eine Clique, eine Ju-

den Grünanlagen, in den Foyers und vor allem

gendband, ihre Flucht über Ungarn in den

Deutschen Theaters Berlin, mit der man

bei den ausverkauften Abendvorstellungen.

Goldenen Westen plant. Es sind die Erleb­

­genau die Generation Handy ansprach. Wer

Denn es war eine gute Idee, das Festival­

nisse von Schauspieler und Regisseur Mirko

ahnte schon, dass die bunt aufgepeppten und

deutscher Mitmach-Jugendbühnen mit dem ­

Brankat­ schk, nachgespielt vom Sorbischen

schlagfertigen Spieler aus den Garderoben

Spielzeitauftakt in Bautzen zu verbinden. Die

Jugendtheater mit vielen Schülern des Sor­

des Bautzener Theaters spielten und chat­

Abonnenten, ein halbes Jahr auf Entzug, wur-

bischen Gymnasiums in Zusammenarbeit

teten und nicht etwa aus Berlin? Die ani­

den gar mit Sekt empfangen. Sie trafen auf

mit dem Steinhaus-Verein, der selbst oft Ziel

mierende interaktive Performance machte

eine im Durchschnitt höchstens halb so alte,

rechter Attacken war. An der Geschichte

­allerdings auch auf ein Risiko des teils im­

quirlige und zwitschernde Schar von Gästen.

bleibt leider unklar, was an der späten DDR

provisierten Onlinetheaters aufmerksam. Der

Der Ausrichter, das vor drei Jahren

so unerträglich war. Denn ihren Lebens­hunger

­Faden der Ursprungsidee ging nämlich bald

aus dem Bautzener Theater ausgegründete

stillen die vitalen Darsteller durchaus, ihre in

verloren. Stattdessen fahndete das Publikum

Thespis-Zentrum, hat sich prächtig ent­

Deutsch und Sorbisch vorgetragenen Lieder

nach Ikarus, überlieferungsgemäß zwar von

wickelt. Dass seine weitere Finanzierung an-

zeigen es am besten. „Drüben“ tatsächlich an-

der Sonne versengt, aber dennoch immer wie-

geblich wackeln soll, mag man nicht glauben.

gekommen, haben sie sich „alles ganz anders

der auf dem Bildschirm.

Thespis war als Bürgerbühne die Antwort des

vorgestellt“. Da wird es nachdenklich.

Deutsch-Sorbischen

Volkstheater

Idee des Jugendklubs Metamorphos*in des

„Schau.Platz.Angst“ nannte das Junge

Theaters auf die flüchtlingsfeindlichen Über-

Corona-Einschränkungen sind allge-

Theater Heidelberg seinen Beitrag. Genau zum

griffe und Demonstrationen 2016. Der dritte

genwärtig. Statt eines ausgeführten Kusses

Festivalmotto passend, denn Angst steckt hin-

Festivaljahrgang 2020 begann auch konse-

hält das Pärchen ein Schild „Knutsch“ hoch.

ter der Abgrenzung der kräftig verspotteten

quent mit einem Prolog auf der „Platte“, dem

Der Theater-Jugendclub Chemnitz konnte

Spießer, verschanzt in der Festung ihrer Garten-

Kornmarkt, einem beliebten Treff und De-

nicht ausreichend proben und sendete nur

zäune, von Gartenzwergen bewacht. Unerwarte-

monstrationsort, der damals Hauptschauplatz

einen Trailer. Die Kammerklicke München,

te junge Aufsässigkeit vom Neckar, gewürzt mit

der Auseinandersetzungen war. „Die Bürger

die Jugendbühne der Kammerspiele, schickte

einem Seitenhieb auf die dahindümpelnde

sind einfach nicht gewöhnt, dass wir hier

mit einem ästhetisch ungemein ansprechen-

Städtepartnerschaft zwischen Bautzen und Hei-

Leute aus anderen Ländern haben“, sagte

den Film nach Shakespeares „Sturm“ mehr

delberg, und überdies sehr ansprechend ge-

Oberbürgermeister Alexander Arends (SPD)

als nur einen Ersatz. Prosperos Vertreibung

spielt. Es gab langen Applaus.

zur Festivaleröffnung.

ist ja auch eine Fluchtgeschichte, und im

Thespis-Mitbürger aus Bautzen berich-

Bei der Thespis-Gründung 2017 konn-

­Natur- oder Ruinenambiente spielen skurrile

teten über ihre Lebenswege, am weitesten ge-

te man noch skeptisch sein. Ein Zeichen zivi-

Gestalten zwischen Märchen und Plunder

reist war das Dylan Quinn Dance Theatre aus

len Engagements – aber garantieren gute

und Punk ihre Empfindungen aus.

Nordirland. Das Finale bestritt die Dresdner

­Absichten allein schon gutes Theater? Über

Noch älter sind die antiken Götter- und

Bürgerbühne mit dem bewährten Hit „Ich bin

die Flüchtlings-Monothematik hat sich das

Sagengestalten aus Ovids „Metamorphosen“,

Muslima – Haben Sie Fragen?“. Ein junges,

Zentrum inzwischen hinausbewegt. Die bei-

heute Mitarbeiter der Olymp GmbH, die ent-

sehr kommunikatives Festival, das ohne päd-

den Bautzener Beiträge zum Festival zeugten

sprechend

agogischen Zeigefinger sein humanistisches

von Qualität. Das diesjährige Festivalmotto

über das Internet Selbstoptimierungslehr­

„Wider alle Grenzen“ lag wiederum dicht bei

gänge für Narzissten anbieten. Eine köstliche

ihrer

Fachressortzuständigkeit

Grundanliegen vermittelte. // Michael Bartsch


KUNSTFORUM Band 270 lesen:

exhibit!

Ausstellen als künstlerische Praxis

cken! e d t n e Jetzt stforum.de un www.k

„* die ausstellung ist das tor. * sie ist das loch, durch welches betrachter eine andere dimension betreten. * sie ist plattform der kongregation der offenen. * sie ist die ladestation neuer formen von energie und information.“ — Gelitin, (Künstlergruppe mit Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reither und Tobias Urban) in einer Gesprächsrunde zum aktuellen Band 270 „exhibit! Ausstellen als künstlerische Praxis“

Jetzt mehr erfahren: www.kunstforum.de/270


aktuell

Meldungen

/ TdZ November 2020  /

direktorin wird die am Theater bereits bekannte

über hinaus aufmerksam zu machen. Neben

Regisseurin Uta Koschel, Chefdramaturg wird

14 weiteren Männern und Frauen erhielt sie

Oliver Lisewski. Den Posten des Opern­direktors

die Auszeichnung im Oktober von Bundes­

übernimmt Wolfgang Berthold.

präsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss

Lisa Jopt. Foto Nina Gschîssl

Bellevue.

■ Markus Trabusch bleibt ab der Spielzeit 2021/22 für fünf weitere Jahre Intendant des

■ Rolf Bolwin ist mit dem Bundesverdienst-

Mainfranken Theaters Würzburg, wie der Baye-

kreuz geehrt worden. Er war 25 Jahre lang

rische Rundfunk berichtetet. Vorausgegangen

Geschäftsführender Direktor und Vorstand

war dieser Entscheidung eine kontroverse

des Deutschen Bühnenvereins. Die Auszeich-

­Debatte. Kritik gab es insbesondere am Füh-

nung erhielt er für sein Engagement für das

rungsstil des 58-Jährigen.

Kulturland Thüringen und die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft.

■ Der Schauspieldirektor Matthias Gehrt verlässt zum Spielzeitende 2021/22 das Theater

Josefine Israel. Foto Werner Bartsch

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Krefeld und Mönchengladbach, um als freischaf­

■ Lisa Jopt kandidiert für das Präsident­schafts­

fender Regisseur weiterzuarbeiten. Gehrt, der

amt der Genossenschaft Deutscher Bühnenange-

zur Spielzeit 2010/11 an das Gemeinschafts-

höriger (GDBA). Bisher war die Schau­spielerin

theater gekommen war, wird nach seinem

erste Vorsitzende des von ihr mitbegründeten

Weggang weiterhin die von ihm begründete

ensemble-netzwerks. Der derzeitige Präsident

Reihe „Außereuropäisches Theater“ kuratie-

der GDBA, der ehemalige Musical­ darsteller

ren. Über die Neubesetzung der Position soll

und Choreograf Jörg Löwer, wird nicht wieder

in enger Abstimmung mit dem Schauspiel­

zur Wahl antreten. Jopts Kandidatur stellt an-

ensemble voraussichtlich bis zum Frühsom-

gesichts der bisherigen männlichen Präsiden-

mer 2021 entschieden werden.

ten einen Paradigmenwechsel dar und setzt ein Zeichen für eine diversere Bühnenland-

■ Die Performerin und Choreografin Floren­

schaft.

tina Holzinger wird in der Kategorie „Dar­ stellende Kunst“ mit dem österreichischen

■ Friedrich Meyer wird ab Ende August 2021

Outstanding Artist Award 2020 geehrt. Wie

neuer Geschäftsführer am Deutschen Schau-

Der Standard berichtet, erhalten in diesem

■ Der mit 10 000 Euro dotierte Boy-Gobert-

spielhaus Hamburg. Der gebürtige Berliner ist

Jahr 14 Künstler*innen und Initiativen die

Preis der Körber-Stiftung für den schauspiele-

seit 2016 Kaufmännischer Direktor der Stif-

Auszeichnung, die sich an Akteur*innen der

rischen Nachwuchs an Hamburger Bühnen

tung Staatstheater Augsburg. Er folgt auf

jüngeren bis mittleren Generation richtet und

geht in diesem Jahr an Josefine Israel. Die

­Peter F. Raddatz, der nach acht Jahren als

mit je 10 000 Euro dotiert ist.

29-jährige Schauspielerin ist seit der Spielzeit 2015/16 festes Ensemblemitglied am

Kaufmännischer Geschäftsführer in den Ruhe­

■ Die Schauspielerin Sandra Hüller ist mit

Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Aktuell

dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet wor-

ist sie in Karin Beiers Rainald-Goetz­ Insz­

■ Rolf Dörnen, der designierte Intendant des

den. Geehrt wurde sie nicht nur für ihr Enga-

nierung „Reich des Todes“, in „Anatomie

Theaters Vorpommern, hat ein neues Leitungs­

gement auf der Theaterbühne und der Kino­

eines Suizids“ unter der Regie von Katie ­

team für das Mehrspartenhaus in Greifswald,

leinwand, sondern insbesondere dafür, auf

­Mitchell sowie in „Häuptling Abendwind“ von

Stralsund und Putbus vorgestellt. Schauspiel-

soziale Missstände im Kulturbetrieb und dar-

Christoph Marthaler zu sehen.

stand geht.


aktuell

/ TdZ  November 2020  /

■ Im Wiener Prater wurden im Oktober zum

Künstler*innen und Gruppen aller Sparten

21. Mal die Nestroypreise für die besten Leis-

sowie an Produktionsorte und Festivals der

tungen der vergangenen Theatersaison in

freien Szene in Deutschland richten.

­Österreich vergeben sowie die beste Aufführung im deutschsprachigen Raum ausgezeich­

■ Das Schauspielhaus Bochum hat mit einem

net. Letztere wurde in diesem Jahr die Insze-

Spiel- und Kunstparcours seine neue Spiel-

nierung „Der Mensch erscheint im Holozän“

stätte Theaterrevier eröffnet. Die ehemalige

von Alexander Giesche am Schauspielhaus

Zeche Eins am Rand der Bochumer Innen-

Zürich. Christoph Marthaler erhielt den Nest-

stadt wird ab sofort als Bühne für das Kinder-

roypreis für sein Lebenswerk.

und Jugendtheater genutzt. Für Konzept und Programm ist die Drama Control verantwort-

■ Die Verleihung des deutschen Theaterprei-

lich, ein divers besetzter Jugendaufsichtsrat

ses „Der Faust“ findet am 21. November 2020

mit 15 Kindern und jungen Erwachsenen.

am Staatstheater Hannover statt, aufgrund

Ermöglicht wurde die Gründung des Theater-

der aktuellen Situation allerdings in sehr

reviers durch eine Förderung des Ministeri-

­kleinem Rahmen. Es werden herausragende

ums für Kultur und Wissenschaft NRW in

künstlerische Leistungen in acht Kategorien

Höhe von 1,3 Millionen Euro.

geehrt. Den Preis für das Lebenswerk erhält der ­Choreograf William Forsythe.

■ Theapolis, das größte Portal für TheaterProfis und -Stellenangebote im deutschspra-

Bei den Vereinigten Bühnen Bozen ist ab der Spielzeit 2022-23 die Position

der Intendanz (m/w/d) neu zu besetzen.

Die Vereinigten Bühnen Bozen (VBB) sind das größte eigenproduzierende deutschsprachige Theater in Südtirol. Sie teilen sich einen ensuite-Spielbetrieb mit anderen Institutionen im Stadttheater Bozen. Gesucht wird eine engagierte Persönlichkeit, die aufgrund ihrer bisherigen Kenntnisse und Erfahrungen die VBB erfolgreich und zukunftsorientiert führt.

■ Im Oktober hat sich im Berliner Grips

chigen Raum, hat in einer mehrwöchigen

­Theater der Verband der Theaterautor*innen

Testphase begonnen, einen Gagenspiegel für

(VTheA) gegründet. Ziel ist es, die beruflichen

Theaterschaffende zu erstellen. Mithilfe aus-

Interessen der Theaterautor*innen zu vertre-

gewerteter Daten kann Theapolis seinen Mit-

ten. Ein weiteres Bestreben besteht darin, der

gliedern nun Auskünfte zu Gagen, Vergütungs­

Bedeutung von Theatertexten sowohl in der

modellen und Vertragskonditionen geben.

Öffentlichkeit als auch innerhalb des Bühnen­

Hierfür wurde ein Sharing-Modell entwickelt,

betriebs zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen.

mit dem die Teilnehmenden Vertragsinforma-

Zum ersten Vorsitzenden wurde David Giesel-

tionen mit Theapolis teilen können, wofür sie

mann, zur zweiten Vorsitzenden Maxi Obexer

wiederum im persönlichen Gespräch Gagen-

Brüder Humboldt sowie Kolonialismus und

und zur Schatzmeisterin Felicia Zeller gewählt.

Auskünfte von Theapolis erhalten. Mittels ei-

Kolonialität – stehen von Anfang an auch

nes regelmäßigen Datentransfers bleibt die

aktuelle gesellschaftspolitische Themen im ­

■ Im Zusammenhang mit Neustart Kultur –

Gagen-Datenbank aktuell, und die Auskünfte

Mittelpunkt. Von Januar bis Ende März 2021

dem Zukunftsprogramm der Beauftragten der

gewinnen an Präzision.

ist das Haus vier Tage pro Woche für das

(BKM) – baut der Fonds Darstellende Künste

■ Ab dem 17. Dezember 2020 öffnet schritt-

ginnt ab Ostern 2021.

sein Programm zur Stärkung frei produzieren-

weise das Humboldt Forum in Berlin. In vier

der Künstler*innen mit dem Maßnahmenpaket

größeren Phasen soll es die zahlreichen For-

#TakeThat weiter aus. Für die Erweiterung der

mate und die Vielfältigkeit des Programms

Förderprogramme stehen bis zu 65 Millionen

über ein Jahr hinweg präsentieren. Neben

Euro zur Verfügung. #TakeThat umfasst elf

den drei Kernthemen des Humboldt Forums –

Programme, die sich an frei produzierende

Geschichte und Architektur des Ortes, die

Bundesregierung für Kultur und Medien

Detaillierte Informationen erhältlich bei: Dr. Barbara Weis, Präsidentin der VBB: barbara.weis@theater-bozen.it Schriftliche Bewerbungen bis spätestens 20.12.2020 an obige Email-Adresse mit dem Betreff „Bewerbung Intendanz“ erbeten.

­Publikum geöffnet. Der reguläre Betrieb be-

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

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THEATERRAMPE.DE

DIE GESELLSCHAFT VON HERBORDT/MOHREN VIER LABORE UND EINE PERFORMANCE AUFTAKT: 11. NOVEMBER 2020

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Premieren Aachen Theater M. Pyschny: Das Ende von Eddy // Cyborg 2020 – Where is my mind (T. Wiesner, 18.11., UA) Annaberg-Buchholz Eduard-von-Winterstein-Theater n. Gebrüder Grimm/ M. Linke: König Drosselbart (A. Ingen­ haag, 18.11.); C. Higgins: Harold und Maude (K. G. Kayser, 29.11.) Ansbach Theater R. Willemsen: Habe Häuschen. Da würden wir leben (R. Arnold, 11.11.); H. C. Andersen: Das hässliche Entlein (L. Svobodova, 18.11.); F. P. Max Kruse: Urmel aus dem Eis (M. Borowski, 21.11.); A. K. Otto Reutter: In fünfzig Jahren ist alles vorbei (A. Krauße, 28.11.) Baden-Baden Theater M. Uhl: Stadt Land Oos (M. Uhl, 06.11.) Bamberg E. T. A.-Hoffmann-Theater P. Maar/U. Limmer: Herr Bello und das blaue Wunder (J. Vetten, 21.11.) Basel Theater N. Abdel-Maksoud: Café Populaire (N. Abdel-Maksoud, 01.11.); D. Lindemann: Zehn unbekümmerte Anarchistinnen (M. Frank/B. Nichele, 10.11.); n. Homer: Odysse – Eine Irr­ fahrt nach Homer (A. Romero Nunes, 13.11.); n. O. Preußler: Der Räuber Hotzenplotz (A. Romero Nunes/J. Pohl, 27.11.) Vorstadttheater n. A. M. Mar­ tin: Die wahre Geschichte von Regen und Sturm (C. Huldi, 07.11.); M. Köhl­ meier: Die Märchen (G. Durler, 20.11.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volks­ theater n. O. Preußler/M. Lingnau/W. Adenberg: Räuber Hotzenplotz und die Mondrakete (F. Ritter, 28.11.) Berlin Berliner Ensemble E. Kästner: Fabian oder Der Gang vor die Hunde (F. Castorf, 13.11.); E. Jelinek: Schwarzwasser (C. Tscharyiski, 28.11.) Deutsches Theater T. Mann: Der Zau­ berberg (S. Hartmann, 20.11.); A. Strindberg: Fräulein Julie (T. Kuljabin, 22.11.) Grips Theater Z. Drvenkar: Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück (R. Neumann, 20.11., UA) Sophiensaele C. Winkler: It’s all forgotten now (C. Winkler, 12.11., UA); V. Stern: Sleeping Duties (V. Stern, 19.11., UA) Bern Konzert Theater n. L. Hall: Net­ work (J. Lepper, 06.11., SEA) Biel / Solothurn TOBS M. Bieri/M. Merker/ A. Hitz: All you can be! (M. Merker, 01.11., UA) Bielefeld Theater M. Shelley: Frankenstein (Tuschy/Suske, 07.11.); O. Preußler: Der Räuber Hotzenplotz (M. Heicks, 14.11.) Bochum Schauspielhaus H. Ibsen: Peer Gynt (D. D. Pařízek, 07.11.); A. Beaty/D. Roberts: Wie Rosie den Käse­ kopter erfand (S. Hasenbrink, 08.11.); G. Brant: Am Boden (S. Kowski, 28.11.); M. Ende: Die unendliche Ge­

schichte (L. Colthof, 28.11.) Bonn Contra-Kreis-Theater D. Jacobs/ M. Netenjakob: Extrawurst (H. Johan­ ning, 19.11.) Junges Theater n. F. Brei­ nersdorfer: Die weiße Rose – Die letzten Tage der Sophie Scholl (J. Heuwinkel, 27.11.) Theater H. v. Kleist: Der zerbro­ chene Krug (J. Groß, 07.11.); L. Carroll: Alice im Wunderland (S. Solberg, 21.11.) Bregenz Vorarlberger Landestheater E. Kästner: Pünktchen und Anton (C. May, 07.11.) Bremen bremer shakespeare company T. Crouch: Ich, Caliban (P. Schultz, 05.11., DEA); P. T. Yan: Eine kurze Chronik des künftigen China (M. Schönecker, 06.11.); T. Crouch: Ich, Cinna (E. Roßbander, 06.11., DEA); n. Gebrüder Grimm/P. O. Runge: Vom Fischer und seiner Frau (M. Meyer, ­ 25.11.) Theater A. E. Şipal: Mutter Vater Land (F. Abt, 05.11., UA); L. ­­ Soliman/n. Y. Akbalat/A. Omer: Wana­ set Yodit (L. Soliman/Y. Akbalat/A. Omer, 12.11., UA); n. H. v. Kleist/ E. Maci/R. Meyer: WÜST oder Die ­Marquise von O…. – Faster Pussycat! Kill! Kill! (E. Jach, 20.11., UA) Bremerhaven Stadttheater F. Schiller: Kabale und Liebe (T. O. Niehaus, 07.11.); J. v. Düffel: Robin Hood (F. Schütz, 19.11.) Bruchsal Badische Landesbühne A. Lindgren: Meisterdetektiv Kalle Blom­ quist (M. Hedderich, 06.11.); A. Ayck­ bourn: Halbe Wahrheiten (R. Messing, 19.11.); Y. Reza: Kunst (C. Ramm, 21.11.) Celle Schlosstheater L. Hübner/S. Ne­ mitz: Furor (M. Kindervater, 06.11.); M. Frayn: Der nackte Wahnsinn (T. Mater­ na, 13.11.); A. Gavalda: Zusammen ist man weniger allein (R. Guderian, 27.11.) Chemnitz Theater S. Hornung: Arche Noa. Das Ende vom Schluss (M. Huber, 21.11.); L. Braussewitsch/I. Karnau­cho­ wa: Die feuerrote Blume (J. Kerbel, ­ 28.11.) Darmstadt Staatstheater A. Raffalt: Alaaddin und die Wunderlampe (A. Raffalt, 15.11., UA) Dessau Anhaltisches Theater P. Glass: Orphée (M. Kreutzfeldt, 15.11.); M. Decar: Nachts im Ozean (M. Decar, 26.11., UA); J. Schlachter/n. C. Collo­ di: Pinocchio (J. Schlachter, 29.11.) Detmold Landestheater M. Heckmanns: Ein Teil der Gans (S. Behrendt, 14.11.); M. Vattrodt: Ein großer Aufbruch (A. Schilling, 20.11.) Dinslaken Burghofbühne K. Aissen/ A. Pegler: Farm der Tiere (D. Schnae­ gelberger, 06.11.); M. Spaan: Sommer (M. Schombert, 13.11., UA)

November 2020 Döbeln Mittelsächsisches Theater n. G. Courteline: Der häusliche Friede (R. Schulze, 13.11.) Dortmund Theater S. Kane/n. V. Woolf: Das Mrs. Dalloway Prinzip / 4.48 Psy­ chose (S. Kara, 14.11.); A. Lepper: La Chemise Lacoste (D. Duszczak, 26.11.); K. Mitchell/L. Kirkwood: Die Schöne und das Biest (A. Gruhn, 27.11.) Dresden Staatsschauspiel R. W. Fass­ binder/F. X. Kroetz/M. Fengler: Wunsch­ konzert + Warum läuft Herr R. Amok? (L. Rupprecht, 06.11.); J. Fuchs/L. F. Baum/C. Rast: Der Zauberer von Oz (C. Rast, 07.11.) Theater Junge Generation N. Wood: Diamond Sky (P. Schön­ wald, 07.11.); n. F. Wolf/N. Zapfe: Die gestohlene Weihnachtsgans Auguste (N. Zapfe, 21.11.) Eggenfelden Theater an der Rott F. S. Wilhelm Müller: Eine Winterreise (R. Vierlinger, 13.11.); n. H. C. Andersen: Des Kaisers neue Kleider (E. M. Schwab, 28.11.) Esslingen Württembergische Landesbühne E. Erba: New York Marathon (L. Tetzlaff, 18.11., DSE) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm Sepia Sepia (L. Trucs, 26.11., UA); Sticky Matter (A. Mahgoub, 27.11., UA) Schauspiel J. W. v. Goe­ the: Die Wahlverwandtschaften (L. Nie­ lebock, 07.11); A. Eisenach: Eternal Peace (A. Eisenach, 20.11., UA) Freiburg Theater A. Lindgren: Pippi Langstrumpf (M. Götz, 14.11.); H. Ib­ sen: Hedda Gabler (L. Bunk, 20.11.) Göttingen Deutsches Theater N. Ritter/ n. R. Majewski: Alles Lüge und immer wieder wächst das Gras (N. Ritter, 07.11., UA) Graz Schauspielhaus E. Jelinek: Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!) (F. Mayr, 20.11.) Halle Neues Theater F. Kafka: Das Ur­ teil (H. Pockrandt, 07.11.); E. Jelinek: Die Schutzbefohlenen (J. Fedler, 13.11.); A. Petras: Münchhausen (R. Jaku­ baschk, 21.11.); K. Wolf/W. Kohl­haase/­ G. Fischer: Solo Sunny (M. Brenner, 27.11.) Hamburg Schauspielhaus n. F. Nietz­ sche/n. M. MacLane: Ecce Homo oder: Ich erwarte die Ankunft des Teufels Teil 1 (M. Pross, 04.11.); n. F. Schiller: Die Räuber der Herzen (B. Park, 06.11., UA); Ö. v. Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald (H. M. Goetze, 07.11.); C. Collodi: Pinocchio (B. Bürk, 07.11.) Hannover Schauspiel F. Landerer/En­ semble o. Curious Nature: The Return (F. Landerer, 12.11., UA); n. Gebrüder

Grimm: Aschenputtel (S. L. Kleff, 14.11., UA); T. Henning: Every heart is built around a memory (T. Henning, 20.11., UA) Heilbronn Theater J. Raschke: Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute (K. Bran­ ­ katschk, 01.11.); n. O. Preußler: Der Räuber Hotzenplotz (P. Benecke, 07.11.); S. Ellis: How to date a Feminist (N. Brück, 14.11.); M. Chase: Mein Freund Harvey (R. Vogtenhuber, 21.11.) Ingolstadt Stadttheater n. F. Pavlíček/n. V. Vorlíček/H. Kallmeyer: Drei Hasel­ nüsse für Aschenbrödel (M. Diaz, 22.11.); M. A. Yasur: Amsterdam (M. Sabaschus, 27.11.) Innsbruck Tiroler P. Löhle: Eine Weih­ nachtsgeschichte (V. Koch, 15.11.); P. M. Kraxner: Alter Ego (P. Jescheck, 27.11.) Kaiserslautern Pfalztheater S. Beckett: Endspiel (A. Rehschuh, 07.11.); J. v. Düffel/O. Preußler: Die kleine Hexe (S. Schmelcher, 21.11.); N. Ebel: Ox & Esel (M. Kamp, 26.11.) Kassel Staatstheater F. Richter/n. F. u. Attar: Welcome to Paradise Lost (G. Rueb, 06.11., UA); Ö. v. Horváth: Kasi­ mir und Karoline (J. Knorr, 29.11.) Kiel Theater I. Lausund: Bin nebenan. Monologe für zuhause. (A. Pullen, 20.11.); K. Wunderlich: Winterbacken (N. Tippelmann, 21.11.); n. H. C. An­ der­sen/R. Schimmelpfennig: Der Zinn­ soldat und die Papiertänzerin (N. Tippelmann, 21.11.); S. Stephens: Country Music (L. Gappel, 28.11.) Klagenfurt Stadttheater n. R. Kipling/R. Persché: Das Dschungelbuch (I. Pison, 14.11.) Köln Schauspiel G. Grass: Die Blech­ trommel (M. Schleef, 29.11.) Konstanz Theater H. Böll: Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (F. Autzen, 13.11.); D. Zipfel/M. Dineen: Monsta (22.11.); M. Ende: Der satanarchäolü­ genialkohöllische Wunschpunsch (T. Fransz, 29.11.) Krefeld Theater Krefeld und Mönchengladbach S. Beckett/E. Tophoven: End­ spiel (M. Gehrt, 01.11.); S. Kassies: Schaf (K. Bening, 14.11.); Don Pas­ quale (18.11.); n. H. C. Andersen/B. Winzen/n. D. Ungureit: Des Kaisers neue Kleider (B. Winzen, 28.11.) Landshut Kleines Theater – Kammerspiele M. Haushofer: Die Wand (S. Grunert, 14.11.) Landestheater Niederbayern S. Tilch: AzzurroDue (S. Tilch, 13.11., UA); W. Allen: Geliebte Aphrodite (V. Wolff, 20.11.)


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Leipzig Cammerspiele n. Euripides: Die Troerinnen/Hekabe (A. Schiela, 19.11.) Schauspiel Y. Reza: Kunst (F. Hoffmann, 18.11.); V. Vorlíček/M. Macourek: Ara­ bella oder Die Märchenbraut (S. Beer, 22.11., UA) Theater der Jungen Welt Schule des Wetters: Schnee (L. Freu­ denthal, 04.11., UA); n. L. Lionni: Fre­ derick (J. Sontag, 21.11.); M. U. Kling: Das NEINhorn (N. Bussenius, 27.11.) Linz Landestheater L. Carroll: Alice im Wunderland (N. Neitzke, 08.11.); T. Bernhard: Alte Meister (S. Suschke, 21.11.); J. Nestroy: Der böse Geist Lum­ pazivagabundus (G. Schmiedleitner, 28.11.) Theater Phönix E. Etschel/L. Fuchs: Winnetou eins bis drei und am Ende stirbt Karl May (E. Etschel, 17.11., UA) Lübeck Theater J. Sobol: Ghetto (M. C. Lachmann, 06.11.); W. Mouawad: Vö­ gel (P. Holzwarth, 27.11.); M. Ende: Momo (A. Werner, 28.11.) Magdeburg Puppentheater R. Schu­ berty/n. W. Holzwarth: Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat (R. Schuber­ ty, 14.11.); n. T. Storm/F. A. Engel: Der kleine Häwelmann (F. A. Engel, 21.11.) Theater G. Feydeau: Floh im Ohr (F. Alder, 27.11.); J. v. Düffel/O. Preußler: Die kleine Hexe (G. Lukas, 29.11.) Mannheim Nationaltheater n. M. Haus­ hofer: Die Wand (P. Schnieke, 10.11.); M. Moradpour: ein körper für jetzt und heute (J. Weisskirchen, 27.11.); H. v. Kleist: Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe (C. Weise, 28.11.) Meiningen Staatstheater É. Louis: Im Herzen der Gewalt (A. Stauch, 19.11.); B. Nĕmcová/n. V. Vorlíček: Drei Hasel­ nüsse für Aschenbrödel (G. Gillert, 21.11.) Memmingen Landestheater Schwaben Die Füße im Feuer (K. Mädler, 06.11., UA) Mülheim an der Ruhr Theater n. L. v. Trier: Europa oder die Träume des drit­ ten Reiches (P. Preuss, 20.11., UA); M. Ende: Momo (M. Neumann/s., 28.11.) München Metropol Theater S. Kane: 4.48 Psychose (J. Schölch, 17.11.) Residenztheater n. L. Gorelik: Mehr Schwarz als Lila (D. Kranz, 07.11.,

UA); R. Schimmelpfenning: Der Kreis um die Sonne (N. Schlocker, 14.11., UA); F. v. Schirach: Gott (M. Färber­ böck, 20.11.) Münster Wolfgang Borchert Theater D. Kehlmann: Heilig Abend (M. Zanger, 19.11.) Naumburg Theater M. Heckmanns: Finnisch (B. Schöne, 13.11.); U. Hub: An der Arche um acht (K. Trosits, 28.11.) Neuss Rheinisches Landestheater n. G. E. Lessing: Nathan@WhiteBoxX (S. Clemens, 07.11.); P. Barlow/n. C. Dickens/U. Syha: Eine Weihnachts­ geschichte (S. Weber, 14.11., DEA) Neustrelitz Theater und Orchester GmbH L. Carroll: Alice im Wunderland (T. Rese, 15.11.) Oldenburg Staatstheater U. Syha: Das Institut (E. Hannemann, 21.11., UA); n. J. Spyri/M. Grön: Heidi (I. Putz, 22.11.) Osnabrück Theater E. Kästner: Die ­Konferenz der Tiere (K. Birch, 08.11.) Paderborn Theater – Westfälische Kam­ merspiele The Tiger Lillies: Struwwel­ peter (Shockheaded Peter) (T. Kleine­ möller, 21.11.) Parchim Mecklenburgisches Staatstheater n. Gebrüder Grimm: Vom Fi­ scher und seiner Frau (F. Voigtmann, 01.11.) Potsdam Hans Otto Theater M. Dela­ porte/A. d. l. Patellière: Der Vorname (M. Peters, 20.11.) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Landestheater und Sinfonieorchester L. Hübner/S. Nemitz: Frau Müller muss weg (R. Ortmann, 08.11.); H. Ibsen: Nora (A. Marusch, 28.11.) Reutlingen Theater Die Tonne Stück­ entwicklung Jugendgruppe: Kann ich mal kurz mit dir sprechen? (M. Schneider/S. Omlor, 05.11., UA); D. Wasserman/n. K. Kesey: Einer flog über das Kuckucksnest (E. Urbanek, 26.11.) Rostock Volkstheater L. Hippe/C. Pintarelli: Sky is the Limit (A. Quintana, 06.11.); P. Dehler/n. Gebrüder Grimm: Rapunzel (P. Dehler, 20.11.); A. d. Saint-Exupéry: Der kleine Prinz (L. S. Langhoff, 29.11.)

Rudolstadt Theater M. Chase: Mein Freund Harvey (H. Olschok, 21.11.); L. Hübner/S. Nemitz: Furor (K. Brune, 27.11.) Saarbrücken Staatstheater A. v. Graf­ fenried/M. Bieri: Donkey der Schotte und das Pferd, das sich Rosi nannte (B. Bruinier/M. d. Cervantes, 08.11., DEA) Überzwerg - Theater am Kästnerplatz S. Wirsen: Klein (E. Kraemer, 01.11.) Schwedt/Oder Uckermärkische Bühnen n. J. K. Grimm: Die Bremer Stadtmusi­ kanten (O. D. Marlis Hirche, 21.11., UA); D. S. J. W. Adam Long: Shakes­ peares sämtliche Werke… leicht ge­ kürzt (F. Ranglack, 27.11.) Schwerin Mecklenburgisches Staatstheater H. Schmidt/Ensemble: Wildes Land II – MV am Tag X (H. Schmidt, 03.11.); n. Gebrüder Grimm: Vom ­Fischer und seiner Frau (F. Voigtmann, 03.11.); M. Ende: Die unendliche ­Geschichte (J. Keiling, 25.11.); n. C. Dickens: De Geist von Wiehnacht (K. Waldmann, 29.11.) St. Gallen Theater R. Pape/n. R. Kipling: Das Dschungelbuch (P. Besson, 14.11.) Stendal Theater der Altmark P. Maar: Eine Woche voller Samstage (U. Cyran, 14.11.); J. M. R. Lenz: Das Schicksal stellt mich auf eine Nadelspitze (J. Gehle, 21.11.); A. Petras/J. Koepp/n. P. Høeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee (L. Villinger, 28.11.) Stralsund Theater Vorpommern n. R. Bradbury/A. Kruschke: Fahrenheit 451 (A. Kruschke, 14.11.); E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (R. Göber, 21.11.) Stuttgart Altes Schauspielhaus A. R. Gurney: Love Letters (B. Hille, 20.11.) Junges Ensemble Deep Inside (14.11., UA) Komödie im Marquardt V. Hey­ mann: Dinner for one – Wie alles be­ gann (K. Eppler, 27.11.) Schauspiel Robin Hood (C. v. Rad, 22.11.) Tübingen Landestheater C. Collodi: Pinocchio (O. Zuaschneid, 07.11.); ­ S. Ellis: How to date a feminist (G. Ture­ cek, 20.11.); C. Roos/J. Wockenfuß: Irgendwie Irgendwo Irgendwann (C. Roos, 27.11., UA); J. Steinbeck: Jen­ seits von Eden (J. Jochymski, 28.11.)

Zimmertheater C. Soland: Rallye – Ich komme! (C. Soland, 28.11., UA) Ulm Theater E. Jelinek: Am Königsweg (B. Junghans, 26.11.) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle n. F. Kafka: Die Ver­ wandlung (J. Kann, 24.11.) Wien brut toxic dreams: The Art of ­Asking your Boss for a Raise (03.11., UA); G. Müller/D. Bourbon: Sodom ­Vienna (19.11., UA); A. Eynaudi: Noa & Snow – Poem #5 a gentle experiment between the everyday and the event (21.11.); Nesterval: Goodbye Kreisky. Willkommen im Untergrund (25.11., UA) Burgtheater O. Wilde: Bunburry (A. Latella, 20.11.); W. Shakespeare: Richard II. (J. Simons, 27.11.) Kosmos Theater B. Martins/H. Rang/R. Schy­ manski/F. Wartenberg: Gib mir ein F – aus der Reihe Stay with the trouble #6 (F. Wartenberg, 27.11.) Theater Nestroyhof Hamakom R. Klüger: weiter le­ ben (S. Ostertag/K. Herm, 15.11.) Wilhelmshaven Stadttheater S. Bunge /S. Faupel: Der fliegende Holländer – Ein Liederabend nach Richard Wagner u. a. (S. Bunge, 14.11.); A. Christie: Zeugin der Anklage (N. Pichler, 21.11.) Würzburg Mainfranken Theater D. v. Klaveren: Mozarts Schwester (29.11.); W. Erlbruch: Ente, Tod und Tulpe (29.11.) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater Gör­ litz K. Slawek: Die Schöne und das Biest (D. Szalma, 07.11.); n. S. King/W. Goldman: Misery (G. Stosz, 28.11.) Zürich Theater Kanton A. Lindgren: Mio, mein Mio (A. Mutzig, 14.11.) FESTIVAL Dresden Staatsschauspiel Fast Forward (12.11.–15.11.)

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Am 22. September fand die Buchpremiere des neuen Bandes der „Backstage“-Reihe in der Berliner Akademie der Künste statt. Die Schau­ spielerin Valery Tscheplanowa und Dorte Lena

Schauspielerin Hanna Hilsdorf, TdZ-Chefredakteurin Dorte Lena Eilers und Schauspielerin Valery Tscheplanowa (v. l. n. r.)

Eilers, die Chefredakteurin von Theater der Zeit, sprechen darin über Tscheplanowas Kindheit im sowjetischen Kasan und ihre Erfahrungen in der Theater- und Filmwelt, die oft mit Kämpfen gegen den Betrieb – und für die Kunst – einhergingen. Die Schauspielerin Hanna Hilsdorf, die zusammen mit Valery Tscheplanowa in Frank Castorfs legendärer „Faust“-Inszenierung auf der Bühne stand, war ebenfalls zum Buchpremierengespräch eingeladen und fügte ihm die Perspektive einer jüngeren Schauspielgeneration hinzu. Die Eröffnungsrede hielt zu Beginn die Direktorin der Sektion Darstellende Kunst Nele Hertling.

TdZ on Tour

Hanna Hilsdorf und Dorte Lena Eilers (v. l.)

n 14.11. Buchpremiere „Scène 22 – Neue französische Theaterstücke“, Berliner Ensemble, Berlin n 05.12. Buchpremiere „Backstage Petras“, Staatstheater Cottbus n 06.12. Buchvorstellung „Backstage Petras“, Volksbühne Berlin Valery Tscheplanowa Fotos Marcus Lieberenz

Anders als gewohnt fand die Verleihung des diesjährigen Mar­t in-Linzer-Theaterpreises pan­de­mie­bedingt nicht im Mai, sondern am 13. Sep­ tember statt. Der Preis wird jährlich von Theater der Zeit im Gedenken an ihren langjährigen Kritiker und Re­ dak­teur Martin Linzer (1931– 2014) vergeben und zeichnet jeweils am Ende einer Spiel­ zeit ein Ensemble oder eine freie Gruppe für außer­ gewöhnliche Leistungen aus. Das Schauspielhaus Bochum als Preisträger bestimmte in diesem Jahr der Alleinjuror Jakob Hayner, der insbe­ sondere das heraus­ ragende Ensemble mit Schau­ spie­ lerinnen wie Sandra Hüller und Gästen wie Jens Harzer hervorhob.

Bettina Linzer, Dorte Lena Eilers, Jakob Hayner, Susanne Linzer und Irmgard Linzer (v. l. n. r.)

n 08.12. Buchvorstellung „Backstage Petras“, Theater Bremen Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de

Gina Haller, Schauspielerin und Ensemble­ sprecherin des Schauspielhauses Bochum

Johan Simons, Intendant des Schauspielhauses Bochum Linzerpreis-Juror Jakob Hayner

Fotos Daniel Sadrowski


impressum/vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN November 2020 Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien Michael Bartsch, freier Journalist und Autor, Dresden Bodo Blitz, Kritiker, Freiburg Dietmar Bruckner, Kulturredakteur, Nürnberg Friederike Felbeck, Regisseurin und Autorin, Düsseldorf Natalie Fingerhut, freie Autorin, Hamburg Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Renate Klett, freie Autorin, Berlin Claus Leggewie, Politikwissenschaftler, Gießen Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Per Leo, Schriftsteller und Historiker, Berlin Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Anja Nioduschewski, Autorin und Dramaturgin, Berlin Theresa Schütz, freie Autorin und Theaterwissenschaftlerin, Berlin Shirin Sojitrawalla, Theaterkritikerin, Wiesbaden Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Thomas Wieck, Theaterwissenschaftler und Autor, Berlin Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin Tamilla Woodard, Regisseurin, New York

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/11

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

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Vorschau Foto David Balzer / Bildbuehne.de

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Thema Sie steht nicht nur im Fokus politischer Debatten, sondern zeigt auch im Theater hohe Präsenz: die Polizei. Kevin Rittberger lässt sie in seinem neuen Stück am Berliner Maxim Gorki Theater als Antagonistin des „Schwarzen Blocks“ auftreten. Und in Bamberg hat Björn SC Deigner Schillers Dramenfragment „Die Polizey“ aktuell überschrieben. Wie positioniert sich das Theater in der erhitzten gegenwärtigen Diskussion? Unser Schwerpunkt beleuchtet das Verhältnis zwischen der Bühnenkunst und den uniformierten Ordnungskräften.

Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Hannah Krug (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 75. Jahrgang. Heft Nr. 11, November 2020. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 05.10.2020

Neustarts Auch diesen Herbst hat sich das berühmte Intendantenkarussell gedreht – und den Münchner Kammerspielen zur Abwechslung mal eine Intendantin beschert. Eine, die mit ihrem Theater der Realität den Kampf ansagen will: „Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen“, lautet das Credo von Barbara Mundel und ihrem Team für die bayerische Landeshauptstadt. Christoph Leibold hat die ersten Premieren besucht und weiß, ob die neue Thea­terdirektorin die Welt tatsächlich schon aus den Angeln gehoben hat. Und auch am Theater Basel gab es einen Paradigmenwechsel: Wie sich Anja Dirks, Antú Romero Nunes, Jörg Pohl und Inga Schonlau als neues Schauspielleitungsteam unter Intendant Benedikt von Peter in die Spur gelegt haben, berichtet Dominique Spirgi.

Barbara Mundel. Foto Maurice Korbel

Herausgeber Harald Müller

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Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Dezember 2020.


Was macht das Theater, Tuğsal Moğul? Herr Moğul, viele Ihrer Stücke thematisie-

Barockzeit. Högel, der mit dem Tod der

ren die Entwicklungen an unseren Kran-

Patienten spielt, um sie wieder ins Le-

kenhäusern. Sie sind aber nicht nur Dra-

ben zurückzuholen – das hat etwas irre

matiker und Regisseur, sondern selbst

Absurdes, im negativen Sinne Gottglei-

auch Arzt: Wie sehen Sie den Klinikalltag?

ches.

Als ich von Niels Högel las, war meine erste Reaktion: Das hätte überall in

Die drei Kriminalfälle im Stück wurden nur

Deutschland passieren können.

durch jahrelanges Wegschauen möglich. Begünstigt das Krankenhaus-System die-

Der Krankenpfleger hatte Patienten lebens-

ses Wegschauen, und ist es umso wich­

bedrohliche Medikamente gespritzt und

tiger, dass man im Theater hinschaut?

wurde in 85 Fällen des Mordes schuldig

Wir leisten zwar alle bei der Approbation

gesprochen.

das Ärztegelöbnis, den modernen hippo-

Das System ist so überfordernd, das me-

kratischen Eid. Aber der ökonomische

dizinische Personal so unter Druck, dass

Druck ist so groß geworden, dass be-

man gar nicht mehr die Möglichkeit oder

stimmte ethische Fragen hintangestellt

die Lust hat zu fragen, wie es dem Kolle-

werden. Chefärzten werden Bonuszah-

gen geht oder wie er seinen Job macht.

lungen in Aussicht gestellt, wenn sie in

Durch die Agenda 2010 und die Privati-

einer bestimmten Zeitspanne noch mehr

sierung der Kliniken haben Konzerne die

operieren – und bei Schwestern und

Krankenhäuser zu Dienstleistungsunter-

Pflegern wird gekürzt. Ob die Gesell-

nehmen gemacht: Wir müssen gewisse Leistungen erbringen, damit das Haus ein Plus erwirtschaftet. Dafür werden viele OPs durchgeführt, die womöglich gar nicht indiziert sind. Was hat Corona mit Ihnen als Regisseur gemacht? Mein Stück „Deutsche Ärzte grenzenlos“ sollte im März in Münster uraufgeführt werden. Zwei Stunden davor waren wir im Lockdown, weil 25 Leute im Theater positiv getestet wurden, das war heftig.

Tuğsal Moğul ist diplomierter Schauspieler, Regisseur, Anästhesist und Notarzt. Neben seiner Fünfzig-Prozent-Stelle in einem Lehrkrankenhaus in Münster arbeitet Moğul als Autor und Regisseur. Sein Stück „Wir haben getan, was wir konnten“ läuft aktuell am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Am 26. Januar 2021 folgt im Theater Münster die Uraufführung von „Deutsche Ärzte ­ gren­zenlos“. Wir haben anlässlich der steigenden Corona-Zahlen mit Tuğsal Moğul über den Zustand unseres Gesundheitssystems ­gesprochen. Foto Linda Rosa Saal

schaft an sich die Würde des anderen anerkennt und Mitmenschen Respekt zollt, spiegelt sich im Krankenhaus wider. Ich glaube sowieso, dass das Krankenhaus einen Mikrokosmos unserer Gesellschaft viel deutlicher abbildet, als Theater es bisher kann. Hier operieren alle Nationalitäten und Ethnien, aber auf der Bühne ist es noch nicht Alltag, Hamlet mit einem Schauspieler aus ­Kamerun zu besetzen – ohne dass das kontextualisiert wird. Wenn also das Krankenhaus die Gesell-

Die Münsteraner Uraufführung wurde ins

schaft abbildet, kann das Wegschauen als

nächste Jahr verschoben. Unterdessen

symptomatisch angesehen werden?

kam ein neues Stück von Ihnen im Malersaal

Alle Figuren haben die Nähe zu Krankheit

Gerade das, was wir an politischen Haltungen

des Hamburger Schauspielhauses heraus: „Wir

und Tod – das war in der Barockzeit durch die

weltweit beobachten können, findet man na-

haben getan, was wir konnten“.

Pest und den Dreißigjährigen Krieg auch so.

türlich im Krankenhaus wie unter einem

Derzeit dürfen dreißig Zuschauer in diesen

Zudem der schöne Schein: Unter den kunst-

Brennspiegel vergrößert. Da trifft man den

Saal, in der Premiere saßen gefühlt zwanzig

vollen Perücken mieft es, es modern die Pil-

Erzkonservativen ebenso wie den links­

Kritiker und zehn reguläre Besucher. Das

ze. Für mich gab es eine Parallele zu diesen

liberalen Menschen, den Hartz-IV-Empfänger

fühlt sich eher wie ein mündliches Staatsexa-

durchökonomisierten Krankenhäusern, die

und die Professorin. Und was die Werte

men an – ich muss ehrlich sagen, da hätte ich

immer schöner werden: diese Empfangsberei-

der Gesellschaft angeht: Die Durchökonomi­

nicht Schauspieler sein wollen. Es ist wichtig,

che mit ihren Klavieren, die eher wie Hotel­

sierung finden wir letztlich überall – in den

weiterzumachen – aber so viel schwerer, den

foyers anmuten – aber hinten läuft die Ma-

Krankenhäusern aber führt sie dazu, dass

Zauber herzustellen!

schinerie mit viel zu wenig Personal und

ethische Fehlentscheidungen getroffen wer-

Ressourcen. Und wenn ein Apotheker Chemo-

den. Du siehst Ärzte und Schwestern rennen,

Im Stück kommt Musik von Henry Purcell vor,

therapie-Medikamente an die Patienten wei-

alle sind im Stress. Das mag in vielen Berufen

die Kostüme enthalten Barockelemente. Ich

tergibt, die nur zehn Prozent des Wirkstoffs

so sein. Aber wenn es um Menschen geht, um

musste an die Herrscher dieser Zeit denken –

enthalten, das aber bei den Kassen voll ab-

Leben und Tod, ist Ökonomie kein passendes

völlig der Realität enthoben und von Macht be-

rechnet – diese Hybris, sich über Leben und

Konzept. //

sessen.

Tod zu erheben, das passt schon auch in die

Die Fragen stellte Natalie Fingerhut.



MAILLON Theater Straßburg Europäische Bühne

20

21 maillon.eu

Ryoji Ikeda / Halory Goerger / Romeo Castellucci / Sasha Waltz & Guests / Antoine Laubin / Camille Dagen & Emma Depoid / Flinn Works (Lisa Stepf & Sophia Stepf) / Dorothée Munyaneza / Théo Mercier & Steven Michel / Bruce Gladwin — Back to Back Theatre / Koen Augustijnen & Rosalba Torres Guerrero / Chloé Moglia & Marielle Chatain / She She Pop / Gisèle Vienne / Tabea Martin / Baro d’evel / Emke Idema / Frank Castorf / Philippe Quesne / Ivana Müller / Renaud Herbin & Tim Spooner / Marguerite Bordat & Pierre Meunier / Clédat & Petitpierre / Hubert Colas / Marion Siéfert / Claire Diterzi & Stéphane Garin / Quarantine / Étienne Saglio / Marc Oosterhoff / Peeping Tom / Métilde Weyergans & Samuel Hercule / Alexander Vantournhout + Themenschwerpunkte + Tagungen mit europäischen Künstlern + Residenzen + Moving Borders, europäisches Projekt


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