Theater der Zeit 11/2021 - Volksbühne Neu

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Essay Frank Raddatz: Planetarische Moral / Erik Zielke: 200. Geburtstag Fjodor Dostojewski Der Geschichtenerzähler: Mariano Pensotti / Kunstinsert Viron Erol Vert / Kolumne Erwin Aljukić

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

November 2021 • Heft Nr.11

Volksbühne Neu


schauspiel

saal 600: spurensuche (ua)

ein digitales prOjeKt (Ua)

Dokumentartheater von dura & kroesinger

von Roman Senkl und Nils Corte (minus.eins)

R: Hans-Werner Kroesinger, Regine Dura / P: 25.09.2021

R: Roman Senkl / P: 15.01.2022

spiel der illusiOnen

was ihr wOllt

von Pierre Corneille / R: Andreas Kriegenburg / P: 01.10.2021

DIE TONIGHT, LIVE FOREVER oder DAs PRINZIP NOsFERATU

von William Shakespeare / R: Rafael Sanchez / P: 21.01.2022

dOn KarlOs von Friedrich Schiller / R: Jan Philipp Gloger / P: 25.02.2022

von Sivan Ben Yishai / R: Michael Königstein / P: 08.10.2021

Kein schlussstrich!

Halt mich auf (ua) von Annika Henrich / R: Anna Stiepani / P: 04.03.2022

Bundesweites Theaterprojekt zum NSU-Komplex 21.10. - 7.11.2021

WOLKEn.heim. /Rechnitz (DEr WÜRGEENGEL) /  Das schweigende Mädchen

AMPHITRYON von Heinrich von Kleist / R: Anne Lenk / P: 26.03.2022

sCHTONK! Komödie nach dem Film von Helmut Dietl und Ulrich Limmer

von Elfriede Jelinek / R: Jan Philipp Gloger / P: 22.10.2021

R: Christian Brey / P: 22.04.2022

Bestätigung

Where i End and yOu Begin (UA)

von Chris Thorpe / R: Antje Thoms / P: 05.11.2021

Ein Liederabend über Raum und Nähe

ANFANG UND ENDE DEs ANTHROPOZÄNs (UA) von Philipp Löhle / R: Jens-Daniel Herzog / P: 19.11.2021

gOldfischgesänge (ua) Installatives Wortkonzert von Vera Mohrs und Kostia Rapoport R & ML: Vera Mohrs, Kostia Rapoport / P: 03.12.2021

Möwe.live Digitales Theater nach Anton Tschechow R: Cosmea Spelleken / P: 11.12.2021, Online Kooperation mit punktlive & Festival PERSPECTIVES

R: Sophia Bodamer / ML: Vera Mohrs / P: 20.05.2022

DER ReAKTOR (AT/UA) von Nis-Momme Stockmann / R: Jan-Christoph Gockel / P: 21.05.2022

WER IsT WIR? (ua) Szenisch-installativer Rundgang in der Kongresshalle mit künstlerischen Beiträgen von Max Czollek, Talya Feldman, Atif Mohammed Nor Hussein, Tucké Royale, Mithu Sanyal u. a. P: 27.05.2022

TriBunal ‚NsU-KOmplex auflösen‘ 03. - 05.06.2022, alle Räume Schauspielhaus

wer allein BleiBt, den Frisst der WOlf (ua) von Ceren Ercan / R: Branko Janack / P: 18.12.2021

IMPORT/EXPORT Internationales Wochenende zu Klima, Nachhaltigkeit und Verantwortung, Juni 2022

schauspiel / sPIELZEIT 2021/2022  www.StaatStheater-nuernBerg.de


editorial

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Jahre

Theater der Zeit

Extra

Der Aboauflage liegt bei double – Das Magazin für Puppen-­, Figuren- und Objekttheater

E

ine folgenschwere Fehlentscheidung über die Leitung der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz scheint endlich überwunden. René Pollesch hat die erste Spielzeit seiner Intendanz eröffnet. Aber sind die damit verknüpften Erwartungen überhaupt zu erfüllen? Auch aus Schwerin wird von einem Neustart berichtet, mit einem Panorama als Auftakt, von dem es am Ende heißt, dass „Theater noch zaubern kann“, und mit dem von nun an in einen ‚Späti Deluxe‘ als Zuschauertreff geladen wird. Letzteres kannte man in der Hauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern noch nicht. Dostojewski und kein Ende – anlässlich des 200. Geburtstags des russischen Meisters gibt Erik Zielke einen Überblick über die Bühnengeschichte von dessen ­Romanen, der freilich an Frank Castorf und Sebastian Hartmann nicht vorbeikommt und zu einer bislang nur wenig beachteten Arbeit in Cottbus führt. „Out of Sight“ hieß das Thema des Internationalen Dramatiker*innen-Workshops im Literarischen Colloquium Berlin. Verschwinden und wieder sichtbar werden bzw. machen, das ist ein literarischer Topos unserer Zeit, der auch die Theater noch lange beschäftigen wird. Aus dem Workshop in Stückauszügen und Diskussionsbeiträgen zusammengestellt in einem großen Insert, das in diesem Heft den Stückabdruck ­ersetzt. // Die Redaktion

In eigener Sache Aufgrund der Corona-Pandemie kann es bei der Auslieferung von Theater der Zeit zu Ver­­zöge­rungen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

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Oliver rOth lindh / Weingartner henrike iglesias JOhanna heusser X PersPektiven t he at e r- r ox y. c h

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Inhalt November 2021 thema volksbühne

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Thomas Irmer Der absolute Anfang wäre unbekannt Wie die Volksbühne mit René Pollesch und Florentina Holzinger den Vorhang hochzieht und zum Zirkus einlädt 10

künstlerinsert

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Installationen von Viron Erol Vert

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Ruheräume Träumen als gesellschaftliche Synthese. Der Künstler Viron Erol Vert im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

neustarts

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Manfred Zelt Schule der Empathie Der Start von Hans-Georg Wegners Intendanz am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin

protagonisten

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Erik Zielke Realismus im höheren Sinne Schuld und Bühne: Im November jährt sich der 200. Geburtstag des großen russischen Erzählers Fjodor Dostojewski. Theater greifen gern auf seine gewaltigen Stoffe zurück – ein kursorischer Überblick

theater und moral #7

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Frank Raddatz Die planetarische Moral

kolumne

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Erwin Aljukić Diversität oder Etikettenschwindel?

neuerscheinungen theater der zeit buchverlag

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Bernd Stegemann Wutkultur

protagonisten

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Renate Klett Der Geschichtenerzähler Mariano Pensottis Theater zwischen Raum und Zeit

festivals

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Sascha Westphal Unter Geistern Die erste Ruhrtriennale unter der Intendanz von Barbara Frey

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Ingo Starz „Wir sollten radikaler sein“ Über das Athens Epidaurus Festival 2021

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Anna Volkland Wie Phoenix aus der Asche Schauspiel für die Thüringer Landeshauptstadt?


inhalt

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auftritt

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Elisabeth Maier Der Reiz des Unausgesprochenen Als Grenzgängerin zwischen bildender Kunst, Literatur und Theater ist Amanda Lasker-Berlin erfolgreich

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Sabine Leucht „Heart of a beginner“ Die Münchner Schauspielerin Nina Steils liebt es, sich selbst zu überraschen

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Dresden „Asphalt“ von Tobias Rausch  Heilbronn „Hawaii“ (UA) Nach dem Roman von Cihan Acar. Für die Bühne bearbeitet von Nurkan Erpulat und Andreas Frane Karlsruhe „Medea. Stimmen“ von Christa Wolf in einer ­Bühnenfassung von Anna Bergmann  Landshut „Die Wand“ von Marlen Haushofer  Regensburg „Peer Gynt (she/her)“ Maria Milisavljević nach Ibsen Stuttgart „Ökozid“ von Andres Veiel und Jutta Doberstein ­Wiesbaden „Wuhan – Die Verwandlung“ von Clemens Bechtel und Jan Neumann  Zürich „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt

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Theresa Schütz Neue Stimmen, andere Perspektiven / 57  Wie begegnet dramatisches Schreiben Phänomenen des Verschwindens? Werkstattleiterin Maxi Obexer, Teilnehmerin Yıldız Çakar und Regisseur Anestis Azas im Gespräch mit dem Dramaturgen Mazlum Nergiz /  Theresa Schütz Ein Stück Autoethnografie wider die schönen Künste. „Campo“ von Laura Uribe / Laura Uribe Campo (Stückauszug) / Peter Dietze und Laura Ott Auftauchen /  Nora Haakh­ Ein Brunnen Ist der Mensch /  „Auf Noahs blutigem Regenbogen tanzen wir“ von Monageng „Vice“ Motshabi / Marion Acker Schmerzvolle Texturen / „Bîra Miriyan (Totenbrunnen)“ von Yıldız Çakar /  Theresa Luise Gindlstrasser Gemeinsam drauf scheißen „Graduation / Abitur“ von Dalia Taha /  Dalia Taha Graduation / Abitur

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Foto Esra Rotthoff

internationales dramatiker*innenlabor „out of sight“

OUT OF SIGHT DRAMATIKER*INNENLABOR

look out

INTERNATIONALES

„Out of Sight“ lautete der Titel des dritten Jahrgangs des Internationalen Dramatiker*innenlabors, der von 2019 bis 2021 unter Pandemiebedingungen durchgeführt wurde. Dabei entstanden vier Stücke und erste filmische Umsetzungen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Thema Verschwinden beschäftigen.

Literarisches Kolloquium.indd 57

magazin

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Realer Futurismus Die Berliner Festspiele beleben für kurze Zeit den Monumentalkörper ICC  Avantgarde mit Staubschicht Édouard Louis, Angélica Liddell und Kirill Serebrennikov beim FIND-Festival  Europäisches Netzwerk gegen den „Kulturkrieg“ Der ungarische Verein „Free SZFE“ erhält den Europäischen Bürgerpreis   Traumata, Thriller und Hunger nach Glück Der erstmals vom Schauspiel Stuttgart verliehene Europäische Dramatiker:innenPreis geht an Wajdi Mouawad  Abschied und Leidenschaft Christine Gabsch und Wolfgang Adam stehen seit fast einem halben Jahrhundert gemeinsam auf der Bühne  Bücher Jenny Erpenbeck und Günther Rühle

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Meldungen

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Premieren im November 2021

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TdZ On Tour in Berlin

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Autorinnen und Autoren, Impressum, Vorschau

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Virginija Vitkienė im Gespräch mit Thomas Irmer

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aktuell

was macht das theater?

19.10.21 12:46

Titelfoto: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Probe zum Stück „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“ von René Pollesch. Foto Christian Thiel

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Viron Erol Vert, „Ambereum“, 2018, Sound: Driftmachine, Al Hasan Al Nour, Rainforest Spiritual Enslavement, nedalot, Francesco Cavaliere, Tomoko Sauvage, Jacob Kirkegaard, Platon Buravicky, Selffish, Producer: Hanno Hinkelbein Riga International Biennial of Contemporary Art. Fotos Ivan Erofeev, Ute Müller-Tischler (Foto links)


Viron Erol Vert, „Lösch mir die Augen aus“, 2020, in Kollaboration mit Anne Duk Hee Jordan, A Handful Of Dust, Ehrenhalle, Berlin Foto: Si Wachsamann


Viron Erol Vert, „Dreamatory“, 2017, Galerie Wedding. Fotos Johannes Berger, Eric Tschernow (rechts)


Viron Erol Vert, „Geh wie Wasser, komme wie Wasser“, 2021, Studio Berlin, Kunstraum Kreuzberg Bethanien, Foto: Eric Tschernow


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künstlerinsert

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Ruheräume Träumen als gesellschaftliche Synthese Der Künstler Viron Erol Vert im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

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ie befinden sich gerade in der Südtürkei und waren kurz davor an der syrischen Grenze bei Ihrer Familie. Im Moment scheint in Deutschland der Blick auf die Flüchtlingsströme durch die Corona-Pandemie verschattet zu sein. Die Routen haben sich verändert und verlaufen nun über Belarus und Polen. Was kann man in der Türkei als Nachbarland und vor allem als Transitregion zwischen Europa und Asien darüber wahrnehmen? Ist das noch ein aufgeheiztes Thema? Wenn man in verschiedenen Ländern und Regionen, Sprachen und Kulturen sozialisiert ist und lebt, bekommt man ja zwangsläufig Verbindungsmomente und Tangenten zwischen den eigenen Lebensorten näher mit. Das hat klar immer Vor- und Nach­ teile, in meinem Falle sind es die geografischen und kulturellen urbanen Koordinaten zwischen Berlin, Athen und Istanbul, aber auch weitere Momente des Mittelmeerraums und Nordeuropas, die sich kreuzen. Man bemerkt die syrische Flüchtlingskrise, aber auch viele weitere aktuelle globale sozialpolitische Entwicklungen in dieser Geografie sehr nah, wie zum Beispiel die aktuelle Situation in ­Afghanistan und die Entwicklungen im Iran. In der Türkei sind ihre geografische Lage und die vielschichtigen historischen Ereignisse der Region Grund dafür, dass man in jedem Moment des Alltags viel näher an den globalen soziopolitischen Umwälzungen wie auch den aktuellen dieser Flüchtlings- und Migrationsthemen ist. Die Tangenten zwischen Europa und Asien, dem Kaukasus, aber auch dem Nahen Osten, Afrika und der EX-UdSSR verlaufen hier durch, und Themen wie Religions- und Kulturzugehörigkeit sind hier seit jeher wichtig. Sie beschäftigen sich seit jeher mit Identitätspolitik, was Herkunft, Religion und Genderthemen betrifft. Ist dieser sozialgesellschaftliche Reflex im Grundton Ihrer Arbeiten noch wichtig? Letztendlich, ob man will oder nicht, kriegt man gewisse Thematiken einfach in die Wiege gelegt. Wenn man sich besser ver­stehen möchte, kommt man auch zu grundsätzlichen Themen der Herkunft und der Sozialisierung. Im Falle meiner Familie ist es eine Mischung aus den verschiedenen Minderheiten und Bevölkerungsgruppen, die sich aus den Überbleibseln verschiedener christlichen, aber auch jüdischen und muslimischen Kulturgruppen aus den Zeiten des Osmanischen Reiches bis in die heutige

Türkei getragen haben. Dazu bin ich in Deutschland aufgewachsen und lebe seit über 25 Jahren in Berlin. Letztlich sind die aktuellen Themen und Fragen der Globalisierung ganz alte, gerade in der Geografie der Stadt Istanbul, in der alle Stränge meiner Familie zusammenlaufen, und als Transit­ ort und Hauptstadt eines ehemaligen Empires, welches sich immer zwischen Orient und Okzident, Osten und Westen, aber auch Norden und Süden bewegt und hin und her gependelt ist. Von Hause aus haben Sie Modedesign, später Visuelle Kunst und Textildesign studiert. Steht das nicht in einem krassen Gegensatz zu Ihrer Arbeitsweise, Räume zu entwerfen oder mit Atmosphären zu arbeiten? Wie kam es zu dieser Hinwendung vom Körper zum Raum? Ich hatte in Berlin Modedesign studiert und habe, als ich daraufhin an der Royal Academy in Antwerpen begonnen hatte zu studieren, verstanden, dass ich mich vom Arbeiten am menschlichen Körper und den Größenzuordnungen lösen wollte. Danach habe ich dann noch ein Meisterschüler in Textiler Gestaltung und experimentelle Oberfläche absolviert, weil mich das Thema Fläche interessiert hatte. Parallel hatte ich in der Berliner Clubszene als Türsteher gearbeitet, um mein Studium zu finanzieren. Das hat mich natürlich stark beeinflusst und auch inspiriert. Ich denke, dass ich in meiner künstlerischen Entwicklung, vom Design bis hin zu den künstlerisch erarbeiteten atmosphärischen Räumen, immer versucht habe, den Menschen im G ­ esamten in den Mittelpunkt zu stellen, als äußere Hülle und Bewahrer der menschlichen Seele und des Geistes, aber auch als ­Träger, Sensor und ­Objekt im Raum, selbiger am Ende auch als lebendiger Körper verstanden werden könnte. Was heute auffällt, ist, dass sich ein Trend zum Metaphysischen als Weg aus dem Chaos bemerkbar macht. Hier treffen sich die globalen Mythen der Kulturen. Sehen Sie in dieser mythologisch aufgeladenen Form eine Praxis, die in der Lage ist, unsere hergebrachten Wertzusammenhänge aufzusprengen? Was denken Sie? Ich habe seit jeher ein Interesse an Themen und Inhalten, die sich mit den verschiedenen Mythologien, metaphysischen und holistischen, aber esoterischen Traditionen auseinandersetzen. Das hat vor allem damit zu tun, dass ich sie direkt mit Inspiration und Kreativität in Verbindung setzen kann. Mich interessiert hier der Moment, wie man versucht hat, die Komplexität des Lebens, die Geografien, in denen man gelebt hat, deren Umstände und Vor­ gaben und die daraus resultierenden eigenen emotionalen und


viron erol vert

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geistigen Zustände miteinander in Verbindung und in eine ­Struktur zu setzen, um sie besser zu verstehen. Im Mittelmeerraum gibt es eine Vielzahl an Mythologien und mystische, reli­ giöse und kulturelle Traditionen, die aus genau diesem Wunsche entstanden sind. Ob es die verschiedenen anatolischen, mesopotamischen, hellenistischen, tengristischen, die abrahamitischen, aber auch westlich, nordischen Traditionen und Bräuche sind. Mich interessiert hier nicht die eine ausschließliche Tradition, sondern die ­vielen, verschiedenen in Verbindung zueinander. Jede Mythologie hat verschiedene Lösungen und Sichtweisen auf selbe Themen, das finde ich spannend. In Berlin, empfand ich, waren solche Themen lange Zeit nicht im Fokus gewesen, das vor allem aus geschichtlichen ­Gründen, denke ich. Wobei ein Besuch in einem Techno Club ­etwas sehr Archaisches und Mythologisches haben kann. Man verbindet sich auch da mit tiefen und alten Energien und seinem unbewussten Inneren, ob es durch die Musik, die Drogen oder den Sex erfolgt, den man dort haben kann. Mit dem „Dreamatory“ damals haben Sie einen Vorschlag zum Zusammenleben gemacht. Ist das Schlafen und Träumen eine Lösung? Das Dreamatory Projekt in der Galerie Wedding war für mich eine wegweisende Arbeit gewesen, weil ich mit dieser raumgreifenden Installation die Möglichkeit hatte, von den Rahmenbedingungen des Körpers, dem Objekt und der Oberfläche die vielschichtigen Themen und Unterschiedlichkeiten von Religionen, Sprachen und Kulturen auf die Ebene eines zu betretenden Raums zusammen­ zuführen. Hier ist die Idee der „sozialen Skulptur“ von Beuys Inspiration gewesen, und ich hoffte, die Idee einer Skulptur, eines ­Körpers weiter fassen, neu denken und ausweiten zu können. Als mich Bonaventure Bejeng Ndikung gefragt hatte, eine Ausstellung zu machen, waren Themen wie Bombenanschläge, Islamisierung und Radikalisierung an der Tagesordnung. Ich wollte einen Raum machen, um das Gemeinsame, das Verbindende zwischen den Menschen zu thematisieren. Letztlich sind der Schlaf und das Träumen fundamentalste Verbindungsmomente zwischen allen Menschen. Das Träumen, Fantasie, Albtraum, Tagträumen sind uns alle bekannt. Ich wollte damals einen Moment der Gemeinschaft und auch des gemeinsamen Pausierens entstehen lassen. Inspiration waren die drei Schlaf­götter der griechischen Mythologie, und es entstand eine Art Schlafraum und Labor, in dem sich das Publikum aufhalten und sich über die eigenen Träume mit anderen austauschen konnte. Diese Erfahrung versuchte ich in alle Räume darauffolgender Rauminstallationen einzubauen. Wie im „Ambereum“ zum Beispiel, welches in einer S-Bahnstation der Riga Biennale gezeigt wurde? Ich versuche, in meinen Arbeiten und räumlichen Installationen die aktuelle Zeit und ihre Themen auch immer mit der Geschichte zu sehen und zu verstehen. Oftmals findet man Lösungen und Positionen gerade auch in der Vergangenheit. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir uns immer auf der Tangente zwischen Vergangenheit-Jetzt und ­Zukunft befinden, und zwar in beide Richtungen.

Viron Erol Vert (*1975) lebt und arbeitet in Berlin und Istanbul. Er studierte am Institut für Bildende Künste der Royal Academy ­Antwerpen später an der Kunsthochschule Weißensee (KHB) in Berlin. Viron Erol Vert hat an diversen Ausstellungen in Belgien, Frankreich, Deutschland, Spanien und in der Türkei teilgenommen und war Stipendiat an der Villa Romana und an der Kulturakademie Tarabya. Foto Roland Baege

Das Ambereum verbindet Elemente der griechischen Mythologie mit Teilen der lettischen Kultur. Lettland wurde im 12. Jahrhundert durch Deutschland kolonialisiert und hat eine sehr wechselhafte Geschichte. Die lettischen Gesangstraditionen – die sogenannten Dainas – sind Vers-Gesänge und Nationalgut, welche durch die gesamte Geschichte des Landes mündlich gerettet werden konnten. In der griechischen Mythologie gibt es die Hyperborea, ein Volk im Norden, welches sich vor allem dem Gesang widmete und Apollon nahestand. Diese Verbindung durch Musik und Klang empfand ich inspirierend und habe daraufhin im Dialog mit den Kuratorinnen Solvej Ovesen und Katerina Gregos einen Klangraum erarbeitet, in dem ich mit neun zeitgenössischen Sound Künstler*innen kollabiert habe, die jeweils für eine der neun Musen stehen. In den Jahren habe ich immer mehr verstanden, dass in meinen künstlerischen Arbeiten letztlich der Mensch und seine Gegensätze im Mittelpunkt stehen, ob es die körperlichen, geistigen, seelischen oder seine sozialen und emotionalen Verbindungen sind. Deshalb möchte ich Orte schaffen, in denen Menschen zusammenkommen können, und diese Orte verstehe ich als lebendige Körper. //

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Im März 2015 wurde bekannt, dass der Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Frank Castorf durch den Museumskurator Chris Dercon abgelöst wird. Die politisch motivierte Fehlentscheidung des damaligen Berliner Staatssekretärs für Kultur, Tim Renner, verursachte einen der schwersten Langzeitschäden in der deutschen Theatergeschichte, der zum Gegenstand erbitterter Debatten wurde. Schon im Frühjahr 2018 musste nach nicht einmal einer Spielzeit die Notbremse gezogen werden, und es folgte Klaus Dörrs fast dreijährige Interimsintendanz. Nun, sechseinhalb Jahre nach Beginn dieser Geschichte, eröffnet die Berliner Volksbühne mit René Pollesch und einer Leitung neuen Typs die erste Spielzeit. Wird es auch eine neue Ära?


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volksbühne berlin

Der absolute Anfang wäre unbekannt Wie die Volksbühne mit René Pollesch und Florentina Holzinger den Vorhang hochzieht und zum Zirkus einlädt

von Thomas Irmer

D

er Rosa-Luxemburg-Platz mit dem wieder aufgestellten ­äuberrad wurde mit Demonstrationen gegen Corona-Maß­ R nahmen immer wieder zum Platz der Unruhe in Berlin, und er war es auch am Eröffnungsabend. Unter das erwartungsfroh gestimmte Volk mischten sich einige Gestalten, die zunächst ein seltsames Straßentheater unter dem Motto „Impft euch doch ins Knie“ aufführten. Eine gewisse Aufmerksamkeit war garantiert, aber Notausgänge mit Fahrradschlössern zu verriegeln, das ist ­kriminelle Sabotage und kein Ausdruck von Protest. Der Vorplatz sollte die gelassene Atmosphäre eines kleinen Zirkusbetriebs verbreiten, mit einem Zelt aus den guten, alten Zeiten des Wanderzirkus, in dem für den Herbst das Jugendtheater P14 eine Spielstätte hat und Alexander Karschnia ein Podium für Diskurs und Diskussionen kuratiert – bevor man dann wieder in den Roten und Grünen Salon einkehrt. Das Zirkusmotiv, dazu auch die zwei Wagen, die einst als Bert Neumanns Rolling-Road-Show in die Berliner Außenbezirke und bis ins Ruhrgebiet zogen, findet sich nicht nur als Dekor (das sich an den mit Spiegelfolie beklebten Eingängen fortsetzt), es soll wohl auch signalisieren: Hier geht es eher bodenständig los, erwartet mal nicht zu viel, jedenfalls erst mal nicht. Andererseits: War dies nicht auch der Ort, wo vor fünfzig Jahren Benno Besson seine Spektakel erfand und damit die Türen und Fenster des Theaters öffnete, um Luft reinzulassen?

Martin Wuttke trägt in der Pollesch-Inszenierung „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“ den Tod im Nacken. Foto Christian Thiel

Auf der großen Bühne erläutert gleich zu Beginn der Eröffnungspremiere die hinreißende Kathrin Angerer ihrem Gegenüber Martin Wuttke ein Schießkunststück: „Wir sind hier im Zirkus, Sie müssen schon danebenschießen, sonst ist es keine Kunst.“ René Pollesch hat mit „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“ das Eröffnungsstück geschrieben und inszeniert, und alle horchten gespannt hinein, wie viel Programmatik darin wohl verkündet würde. Aber auch da war man ein bisschen auf dem Holzweg, wenn auch in der richtigen Richtung. Der von Leonard Neumann entworfene und in immer wieder neue Formen gezogene seidig-orange Vorhang löst in seiner famosen Wandelbarkeit das Titel-Protagonistische ein – bis hin zu den Spitzen eines Zirkuszeltdachs. Aber dass sein Leben nun beschrieben würde, das müsste man sich dazudenken. Stattdessen ein munteres Quartett, das neben Angerer und Wuttke aus Margarita Breitkreiz und der früheren Schlingensief-Mitstreiterin ­ Susanne Bredehöft besteht. Man spricht von einer geheimnis­vollen neuen Kunstrichtung, die irgendwo im Verborgenen des Hauses im Entstehen sein soll (da waren nun nicht die Fahrradschlösser gemeint), und er­ örtert Positionen des Schriftstellers Tolstoi. Martin Wuttke tritt mit einem Marionetten-Skelett auf dem Rücken auf (das sich vielleicht erst eine Woche später bei der Premiere von ­Florentina Holzinger genauer erklärt), und an den Bühnen­ seiten stehen zwei großformatig fotografierte Zirkusartisten, die manchmal wie Mitspieler angesprochen werden. Mit dem Zirkus anfangen? Das war ja schon draußen Thema. Gegen Ende des durchaus unterhaltsamen Gedankenaustauschs heißt es dann nicht ohne Hintersinn: „Der absolute Anfang, der ­große Sprung, damit kann man ja nicht unbedingt etwas anfangen. Der absolute Anfang wäre einem ja völlig unbekannt. Wenn der Vorhang fällt, das ist eigentlich seine Geburt.“

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thema

Die andere Pollesch-Produktion war schon vor diesem ­Anfang fertig und wurde bei den Wiener Festwochen urauf­geführt. „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“ ist verglichen mit dem „Vorhang“ von ganz anderer Art und leuchtet weit in die Theater- und Filmgeschichte hinein, nachdem Martin Wuttke als Filmproduzent und Impresario in Hollywood zusammen mit Thomas Schmauser erst mal einen Stolper- und Sturz-Slapstick aufführt, der sich, ja, auch im Zirkus sehen lassen könnte. Aber eigentlich geht es um Erklärungen zu einem Tanzfilm, dessen Genre um 1938 dank neuer Technik in bildbewegten Schwung kommt und der offenbar statt der Verfilmung von Bertolt Brechts „Die Gewehre der Frau Carrar“ gedreht wird, der ein Beitrag zum noch offenen Ausgang des spanischen Bürgerkriegs gewesen wäre. Dieser noch nicht entschiedenen Geschichte in Europa wird die Enthüllung gegenübergestellt, dass in Amerika WrestlingKämpfe gescriptet werden, also mit ihren Helden für das Publikum in emotionaler Anteilnahme nach Gut und Böse durch­ geplant sind. Hier greift das Pollesch-Theater nach den schönsten Gegensätzen: Wie die Kulturindustrie sich diesen Brecht zwar nicht einverleibt, ihn dann aber doch irgendwie durch Nicht­ realisierung mitnimmt, das tippt Pollesch im Nebenbei mit an. Stattdessen Tanz mit großer Technik. Die eigentlichen Helden dieser Inszenierung sind ein von Hand bewegter Kamerakran (mit Live-Bildern von Jan Speckenbach und Marlene Blumert) und ein sogenannter spinning room, eine imposante Röhre, die sich um die eigene Achse drehen kann und mit der sich als Bar

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Das Zirkuszelt vor der Volksbühne ist vor allem Spielstätte des Jugendtheaters P 14 und Bühne für kleinere Diskursabende. Foto Christian Thiel

Rechte Seite Florentina Holzingers „A Divine Comedy“ verbindet den Totentanz mit Facetten weiblicher Lust. Foto Nicole Marianna Wytyczak

‚Fame or Shame‘ Bildeffekte fast schon wie in einer Raumstation erzeugen lassen (Bühne Nina von Mechow), wo Gläser und Flaschen von der Decke gezogen werden und Schauspieler (noch eine Form von Slapstick) die Wände hoch balancieren. Auf der Textebene werden unter anderem die Biografiewertigkeiten von Stars und Nichtstars verhandelt, wozu ein leicht pikierter Auftritt von Kathrin Angerer (ohne Gewehre) immer passt. Wo früher bei Pollesch Turner­riegen den Chor darstellten, gibt es hier eine siebenköpfige Chorus­line mit echten Revue-Moves – und das ­alles macht vor a­ llem staunen und ungeheuren Spaß. Am 26. September, Bundestagswahl und in Berlin zugleich auch Abgeordnetenhauswahl mit teilweise chaotischen Zuständen in den Wahllokalen, fand abends auf der großen Bühne eine weitere bemerkenswerte Inszenierung statt. Jürgen Kuttner, auch er bald mit seinen kultigen Ost-West-Videoschnipseln ein Rückkehrer, stellte zusammen mit Schau- und Puppenspielern die „Berliner Runde“ mit den Vorsitzenden aller an der Bundestagswahl beteiligten Parteien aus dem Fernsehen nach. Als Live-


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Reenactment, d. h. was oben auf der Leinwand als ARD-Fernsehbild ohne Ton zu sehen war, wurde auf vier Sofas darunter in Instant-Verfremdung mit Knopfkopfhörern im Ohr gesprochen und nachgestellt. Hellsichtig dieses TV-Ritual zur Kenntlichkeit verzerrend. Die Linke war auf der rechten Seite ein verdruckster Gartenzwerg, die AfD in Gestalt von Alice Weidel am linken Ende ein bellender Heavy-Metal-Freak mit Gitarre, während Inga Busch, Christine Groß und Margarita Breitkreiz die Herren Olaf Scholz, Markus Söder, Christian Lindner und deren von ihnen schnell zu erfassende Textbausteine ohne Puppen sprachen und somit zwei anderen Protagonisten den Raum für ausgelassene Komik ließen. Suse Wächter, die zusammen mit Kuttner dieses Format geschaffen hat, führte eine aufgekratzte Annalena-Baerbock-Puppe, die mit ihrem lächelnden Puppengesicht aus einem Horror-Film zu kommen schien und sich – statt Beinen die Flosse einer kleinen Meerjungfrau zurechtrückend – im hysterischen O-Ton immer wieder an Olaf Scholz anschmiegte. Während Armin Laschet als Frauenleiche im Nachthemd der Gründerzeit samt Kopfhaube sich schon in seinen bald real folgenden Untergang hineinmoderierte. Das war Polittheater vom Feinsten, schnell, wirkungsvoll, überraschend respektlos – und wahrscheinlich so nur in der Volksbühne möglich. Florentina Holzinger passt auf ihre ganz eigene Weise in diese neue Volksbühne. Ihre Dante-Performance „A Divine Comedy“ wurde zwar bei der Ruhrtriennale uraufgeführt, aber richtig lesbar oder ästhetisch entzifferbar wird sie vielleicht erst im Kontext der Volksbühne, zumindest was den Umgang mit Zitaten aus dem Wiener Aktionismus der 1960er Jahre angeht, der für die Wiener Choreografin einen anschlussfähigen Herkunftsraum darstellen dürfte. Hier ist durchaus eine Parallele zu manchen ­Arbeiten Christoph Schlingensiefs zu erkennen, in denen er kontroverse Akte der Kunst- und Performance-Geschichte (nicht nur die von Beuys) reenactete. Es geht mit einer überlangen Hypnose-Nummer los, bei der Miranda van Kuilenburg vorgeblich aus dem Publikum rekrutierte Kandidaten mit einem Fingerschnipsen in Tiefschlaf versetzt, bis dann endlich eine von ihnen als Rotkäppchen mit Dante-­ Kappe in die eigentliche Show geschickt wird, wo diese auf ­Beatrice Cordua trifft. Cordua hat nun nicht nur den passenden Vornamen, sondern war auch das Zentrum der vorhergehenden Arbeit „TANZ. Eine sylphidische Träumerei in Stunts“, ausgestattet mit der Biografie einer gefeierten John-Neumeier-Solistin, die später das Konzept ‚Nacktheit als Kostüm‘ zum Begriff machte und noch mit über 80 offensiv auf der Bühne vertritt. Auch für Cordua ist es, man sollte es kaum glauben, eine Rückkehr, denn sie arbeitete hier schon mit Johann Kresnik, als Castorfs Volksbühne dessen Tanztheater im Programm hatte. Das Inferno, das Holzinger zwei Stunden lang mit zwanzig nackten Performerinnen um diese so beziehungsreich wie geheimnisvoll auftretende Frau bis zu deren Orgasmus-Paradies inszeniert, ist wie bei Dante eine Abfolge einzelner Nummern mit hohem zirzensischen

Kathrin Angerer (oben) und Martin Wuttke (unten) in „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“. Foto Luna Zscharnt

volksbühne berlin

Schauwert aus dem Extrembereich. Baumstämme werden mit größter körperlicher Anstrengung zersägt und zerhackt, Cellos mit Skeletten auf dem Rücken gespielt – was man auf Wuttkes Skelett-Double rück­beziehen kann. Aus der Sphäre der Stunts, in die Holzinger den Tanz erweitert hat, werden meterhohe Absprung- und halsbrecherische Treppensturz-Choreografien zu ­einer riskant die Szene durchpflügenden Bikerin geboten, alles unter den von Nikola Knežević im Bühnenbild aufgehängten zwei Autos. Als ­Gegen­stück zu diesen eher mechanisch ausgeführten Totentanz-Belastungs­ figuren folgt ein kollektives Body- und ­Action-Painting, bei dem Körper, Farbe und Leinwand fast schon ineinander zu fließen scheinen. Eine fluide Orgie auf dem Weg ins Paradies, ­zumindest in den Holzinger-Himmel. Die angekündigte Produktion von Vegard Vinge und Ida Müller, die zudem Ausstattungsleiterin werden sollte, fehlt. Sie hätte eine dritte Säule werden können, als Fortsetzung von deren legendären Arbeiten im Prater und gleichsam Erweiterung dieser performativen Palette. Für eine erste Bilanz ist es freilich noch zu früh, auch was das Arbeitsmodell einer Leitung aus René Pollesch und Künstlern bedeuten soll, mit dem tendenziell der Macht­ knotenpunkt von Regie und Dramaturgie absichtsvoll aufgelöst wird. Aber die Wiederherstellung einer Volksbühne mit ihrem besonderen Klima, das aus jetzt mitleitenden Schauspieler-­ ­ Persönlichkeiten, Diskursen und vibrierenden Schauwerten entsteht, das ist zweifellos gelungen. //

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Schule der Empathie Der Start von Hans-Georg Wegners Intendanz am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin von Manfred Zelt

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o viel Anfang war nie. Hans-Georg Wegner startete seine Intendanz in Schwerin mit vier Schauspiel-Premieren, dem Opernstart mit György Ligetis „Le Grand Macabre“ und beim Tanz

mit vielversprechendem Neuanfang, bei dem die neue Chefin ­Xenia Wiest ihr neues Ensemble „Ballett X Schwerin“ vorstellte mit apokalyptischer „Nacht ohne Morgen“. Unwillkürlich denkt man an Hermann Hesses berühmte Zeilen „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Zauber ist zum Abwarten, aber dass Theater, das Schutz braucht, helfen will zu leben, hat der


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mecklenburgisches staatstheater schwerin

Generalintendant proklamiert: „Wir beginnen mit unserem Programm einen Prozess der Sensibilisierung für die Fragen, die sich eine zukunftsfähige Gesellschaft stellen sollte – und wir wollen Mut machen, an die Veränderbarkeit der Welt zu glauben. Dafür braucht es den ‚Freiraum Theater‘ als eine Schule der Empathie – den Ort, wo wir Menschen gemeinsam denken und fühlen können.“ Es gehe nicht ums Aufsehen fürs Feuilleton, sondern um Theater als Ort der Kommunikation. Dafür gibt es auch das Programm „Späti Deluxe“, das Zuschauer zur Diskussion einlädt. Und geplant ist für die nächste Spielzeit in einer ehemaligen ­Druckereihalle eine Bühne, die in einem Problemviertel unterschiedliche städtische Milieus verbinden möchte. Zuerst aber dreht sich das Theater um sich selbst. Auftakt mit „Kinder des Olymp“, eine Bühnenfassung von Alice Buddeberg und Nina Steinhilber nach dem gleichnamigen Film von Marcel Carné und Jacques Prévert, der ab 1943 in Frankreich entstand. Belichtet wird die Welt der Schauspieler und jener schillernden Figuren, die im Leben Theater spielen. Als Metapher für fantastisches Ereignis hat Bühnenbildnerin Cora Saller den Mond vom Himmel geholt und als schräge Spielfläche installiert. Pariser Theatermilieu des 19. Jahrhunderts, Dreharbeiten zum Film und die laufende Aufführung fließen ineinander. Buddebergs Inszenierung pendelt tragikomisch zwischen Sinnsuche, Zweifel, Krise und Erfolg der Künstler sowie ums Doppelleben zwischen dem Ich und der Rolle. Eine Liebeserklärung an das Theater und darin eine unerfüllte Liebesgeschichte. Diese ist bei Julia Keiling als Linke Seite: Julia Keiling als Garance und Vincent Heppner als Mimen Baptiste in der Filmadaption „Kinder des Olymp“. Foto Silke Winkler

Begleitet von ihren Ukulelen erzählen Katrin Heinrich, Julia Keiling und Christina Berger in „Odyssee“ von der unstillbaren Sehnsucht nach Gemeinschaft und einem Zuhause. Foto Silke Winkler

Diva Garance und Vincent Heppner als Baptiste Debureau eine melancholische Episode. Sozusagen lässt hier Theater vergnüglich in sein Inneres blicken. Einmal wird man wissen wollen, wer sie waren, wie sie ­waren. Dieser Vorhersage der Autorin Christa Wolf geht Patrick Wengenroth nach mit seiner literarisch-musikalischen Recherche „Utopia, meinetwegen“. Er holt Frauen mit ihren Texten und Gedichten aus der DDR-Zeit wieder hervor. Uraufgeführt im ­ E-Werk, der Bühne für Experimente. Es geht um jene, die nicht auf der Sie-hat-immer-recht-Linie marschierten. Befragt werden, die nur unter der Bedrängung durch Zensur oder gar nicht publizieren konnten oder für die a­ lternative Szene im Untergrund schrieben. Ihre Themen sind Verletzungen, die Zumutungen für Frauen, ihr Zerrissensein im Verhältnis der Geschlechter, der Widerstand gegen das System und vor allem Sehnsucht wie Hoffnung, sich frei verwirklichen zu können. Das alles steckt in dem Ruf „Ich will ein Vaterland von einer Mutter“. Wengenroth collagiert, ohne jeweils die Autorinnen zu nennen, Texte unter anderen von Christina Berger, Sarah Kirsch, Katja Lange-Müller, Inge Müller, Helga Schubert, Gabriele Stötzer und Bettina Wegner. Und er blättert in Tagebüchern von Brigitte ­Reimann, die von konfliktreichem Dasein zeugen. Die Schauspieler sind Erzähler, hier und da leider verhuschte. Mit Pep vitalisieren Jennifer Sabel und Robert Höller die Reimann-Texte. Präsent ­Hannah Ehrlichmann mit lakonischem Bericht vom banalen A ­ lltag und der Panik-Attacke einer Betrogenen. Wengenroth lockert die Berichte aus dem implodierten Land mit Liedern auf. Matze Kloppe als aktiver Musiker setzt kosmisches Rauschen ein, Melodisches und harte Beats, damit das Ensemble auch mal ins Disco-Fieber geraten kann. Zwischen dröhnender Geisterbeschwörung anfangs und leisem Ausklang ist es eine Zeitrückreise zum Mitdenken und Nachdenken darüber, was bleibt von den Dichtern. Am Ende das wehmütige Lied von Karussell mit der Zeile „Nichts ist unendlich ...“. Viel weiter zurück geht es im E-Werk mit der „Odyssee“. Also die

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neustart

abenteuerliche Irrfahrt des Königs Odysseus und seiner Gefährten bei der Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg. Die 24 Ge­ sänge von Homer nicht akademisch vom Blatt. Jan Gehler zeigt dramatische Momente als szenisches Konzert für fünf exotisch kostümierte Akteure mit Ukulelen. Nur einleitend ein chorischer Bericht wie in der Antike, danach werden Figuren gespielt, befragt, Stationen geschildert samt der Sehnsucht nach Heimkehr. Alles extrem verspielt, und alles wird mit Saiten-Klang rhythmisch gesteuert. Gehler inszeniert keine Historie, er zupft aus dem ­Mythos Szenen in bunter Mischung für den poppigen Zeitgeist. Da heißt es, wenn gegessen wird, natürlich lecker, da wird englisch gesungen „What we need is love“ oder das französische „La Mer“, und mit der Ukulele wird auch gerappt. Na ja. Im ­Ensemble herrscht ausgelassene Spielfreude, und die steigert sich bis zum gehobenen Studentenspaß mit einem alten Stoff. Bei der Schilderung antiker Schrecken auf dem Mittelmeer lässt sich ­gewiss auch an gegenwärtige Flüchtlings-Schicksale denken, aber das bleibt wohl eher dramaturgischer Wunsch als dass es den ­Zuschauer erreicht. Höhepunkt des Premieren-Reigens ist das Drama von „Mäusen und Menschen“, das Martin Nimz nach dem gleichnamigen Roman von John Steinbeck aus den 30er Jahren in einer Bühnenfassung von Nina Steinhilber inszeniert hat. Es ist die gar nicht so ferne Geschichte zweier eng befreundeter Wanderarbeiter, die sich auf einer Farm das Geld verdienen wollen, um sich ihren Wunsch nach einem kleinen Stück Land mit Farm für ­gemeinsame Arbeit und gutes Leben erfüllen zu können.

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Ein ungleiches Paar. George ist die coole, treibende Kraft, Lennie ein geistig zurückgebliebener, aber körperlich enorm starker Mann. Bei ihrem Job treffen sie auf sehr unterschiedliche Typen, wie Candy, der sie gedanklich ermutigt, oder den einsamen schwarzen Stallburschen Crooks, fast ein Philosoph (Ramsès Alfa aus Togo), und auch auf die bunte Vögelin Cathy (Jennifer Sabel), Frau des Sohns vom Boss, deren Lebensgier die Tragödie auslöst. Auf der weiten Bühnenlandschaft von Sabrina Rox mit sandigem Boden, einem Verschlag aus hellen Brettern und Bretterstapeln ringsum, hat Martin Nimz diese Story von Einsamkeit, Heimatlosigkeit, Freundschaft und zerstörtem Lebenstraum mit außerordentlicher Sensibilität inszeniert. Mit einem Rhythmus, in dem, musikalisch gesprochen, das Adagio eines armseligen ­Lebens ins Presto explosiver Gefühle wechselt. Ein paar Tupfer Komik durch den aufgedrehten Sohn (Robert Höller), sonst intensive realistische Situationen. Da überspielt kein modisches technisches Instrumentarium die Schauspieler, Nimz setzt auf sie als Gebieter der Szene, auf Charaktere, die glaubhaft erzählen. Der George von Oscar Hoppe als offener, lockerer Kerl, umsichtiger Organisator und geradezu inniger Helfer für den unbeholfenen Lennie. Diesem gibt Marko Dyrlich, oft in sich gekehrt, plötzlich panisch, gefährdete Gestalt quasi mit dem Wissen eines Psychiaters. Ein Paar mit berührender Schauspielkunst. Über den Szenen, von einem Gitarrenspieler immer wieder auf Moll gestimmt, liegt gleichsam ein elegischer Hauch von Vergeblichkeit. Man denkt, Theater kann noch zaubern. //

DIE KUNST DER WUNDE


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Realismus im höheren Sinne Schuld und Bühne: Im November jährt sich der 200. Geburtstag des großen russischen Erzählers Fjodor Dostojewski. Theater greifen gern auf seine gewaltigen Stoffe zurück – ein kursorischer Überblick

von Erik Zielke

W

as für ein Idiot!, möchte man da ausrufen. Der große Schauspieler Jens Harzer gibt den Fürsten Myschkin auf der ­Bühne des Hamburger Thalia Theaters und beweist sich einmal mehr als Virtuose der Darstellungskunst. In Johan Simons’ Inszenierung von Fjodor Dostojewskis Roman „Der Idiot“, einem

­ eeindruckenden Abend von viereinhalb Stunden Länge, strafft b und kürzt der Regisseur den monumentalen Prosatext (in einer Fassung von Angela Obst), ohne ihn zu beschneiden, ohne die Zerfranstheit des Handlungsgerüsts und das feingliedrige Arrangement der vielzähligen eigenwilligen Charaktere zu leugnen.

Am Thalia Theater Hamburg inszeniert Johan Simons Dostojewskis „Der Idiot“ in einer Bearbeitung von Angela Obst. Foto Armin Smailovic


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In dem schlichten Bühnenbild von Johannes Schütz – einige Stühle und Tische unter nackten Glühbirnen, auf dem kalten, in SchwarzWeiß gehaltenen Bühnenboden angeordnet, abstrakt an ein Schachbrett gemahnend – und in zurückhaltend historisierender Kostümierung durch Greta Goiris, die ohne jedweden Russlandkitsch auskommt, dem Grundverbrechen bei der Inszenierung von ­östlichen Klassikern, finden die Romanfiguren zueinander. Harzer spielt den einnehmenden, wenn auch verschrobenen, nervenkranken Myschkin mehr als überzeugend: ein in Gesellschaft un­ beholfener Epileptiker, bei dem man nicht weiß, ob es sich um einen jung Vergreisten oder ein großgeratenes Kind handelt. Bei einem Autor von dem Kaliber Dostojewskis kann ein Regisseur es sich leisten, auf Aktualisierungen zu verzichten. ­Simons setzt ganz auf das spannungsreiche Figurengefüge, das das Hamburger Ensemble großartig zu verkörpern weiß. Nicht ohne Grund wird der Schriftsteller immer wieder als der große ­literarische Psychologe gefeiert. Dass die Figuren nicht unmotiviert handeln, dass sie Getriebene sind – vom unbedingten Willen zum Aufstieg, von einem Ideal von Liebe, von der eigenen Eitelkeit –, das wird hier gekonnt in Szene gesetzt, ohne Eindeutig­ keiten zu behaupten, die es bei Dostojewski so wenig gibt wie in der Realität. Simons zeigt dem Publikum mit Dostojewski die ­Abgründe des Guten, die Hoffnungslosigkeit, an der auch die Hoffnungsvollen ihren Anteil haben.

Hamburg: Wie in einer Galerie versammelt sich das Romanpersonal an der Bühnenhinterwand. Bühne: Johannes Schütz. Foto Armin Smailovic

Dass dieser Idiot ausgerechnet jetzt über die Bühne des Thalia Theaters wandelt, liegt nicht allein an der Anziehungskraft des wuchtigen Textes, sondern auch am Jubiläumsjahr. Vor 200 Jahren wurde Fjodor Michailowitsch Dostojewski in Moskau, dem zweiten Zentrum des zaristischen Russlands neben Sankt ­Petersburg, geboren. Und nun werden also landauf, landab Dostojewskis gegeben. Zu den gewagteren Unternehmungen zählt zweifelsohne das Cottbusser Projekt „Catabasis. Die Dämonen“, das Deutschlanddebüt von Boris Yukhananov. Von wem? ­Yukhananov ist kein Unbekannter – oder sollte es zumindest nicht sein. Er arbeitet vorrangig in seiner russischen Heimat als Regisseur und leitet in Moskau seit 2013 das Elektrotheater ­Stanislawski, das unter ihm zu einer der ersten Adressen für ­internationale Künstler und die russische Neoavantgarde gleichermaßen geworden ist. Yukhananovs Umgang mit Dostojewskis Revolutionsroman gestaltet sich denkbar frei. Das dem Titel vorangestellte Wort ­„Catabasis“ verweist den Zuschauer ins Reich des Mythischen und stimmt ein in eine Höllenfahrt. Aber diese Inszenierung ist nicht


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allein ein abgründiges Unterfangen: Als Vertreter eines inter­ disziplinären Arbeitsansatzes vermengt Yukhananov Schauspiel und Tanz, Musik und bildende Kunst zu einem sehr lebendigen Abend. Hier findet keine russische Provinzstadt im 19. Jahrhundert ihren Platz auf der Bühne, hier operiert keine umstürz­ lerische Zelle vergangener Zeiten im Grenzbereich von revolutionärem Eifer und blindem Terrorismus. Motivisch nimmt sich Yukhananov des Textes an und versetzt ihn in eine nahe Zukunft. Alltagsszenen werden, tänzerisch verfremdet, auf die Bühne und mit dialogischen Passagen aus dem Roman in Verbindung gebracht. In einer Zeit, in der Gott tot ist und auch revolutionäre Ideen scheinbar beerdigt sind, macht der Regisseur ein neues Heiligtum aus. Die Künstliche Intelligenz wird zur neuen unbeherrschbaren wie unantastbaren Herrscherin in diesem knapp zweieinhalbstündigen Theaterabend. Diesem Ansatz konsequent folgend, ist die KI nicht nur thematisch präsent, sondern wird zur Ko-Autorin und schreibt Dostojewskis Text fort. Eine durchaus streitbare Idee, die aber allein aufgrund der offenkundigen Spielfreude sehenswert ist. Die Neigung, Dostojewskis häufig monumentale, immer psychologisch durchstiegene Texte einem Publikum anders als durch einsame Lektüre näher zu bringen, ist kaum zu leugnen. Blickt man auf die Oper, so fallen einem schnell Sergej Prokofjews „Der Spieler“, Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ und Mieczysław Weinbergs „Der Idiot“ ein. Die dem Musiktheater ­eigene Formstrenge wird – bei aller faszinierenden Kraft, die vor allem letzteres Werk für sich beanspruchen kann – den unübersichtlichen Schreibanordnungen Dostojewski nur schwer gerecht.

200. geburtstag fjodor dostojewski

Unter den prominenten Filmemachern haben sich Andrzej ­Wajda, Akira Kurosawa und Aki Kaurismäki, Luchino Visconti und Jean-Luc Godard, Bernardo Bertolucci und Robert Bresson der Romane und Erzählungen des moskowitischen Schriftstellers angenommen. Albert Camus hat sich Dostojewski – oftmals als Vorläufer des literarischen und philosophischen Existenzialismus verdammt und gepriesen – 1959 schreibend zugewandt, indem er dessen Roman „Die Besessenen“ (auch unter dem Titel „Die ­Dämonen“ bekannt, was dem Original weitaus näherkommt) zu einem gleichnamigen Theaterstück verarbeitet, das längst zum Dramenkanon gehört. Camus verdichtet das Opus anhand der ­Figur Schigalew auf die Frage nach revolutionärer Gerechtigkeit, nach entmenschlichtem Humanismus, letztlich dem Verhältnis von Freiheit und Diktatur. Knapp vierzig Jahre später ist der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin aus der Schule des Moskauer Konzeptualismus mit seinem Bühnentext „Dostojevskij-Trip“ einen anderen dramatischen Weg gegangen: Sein Stück spielt in einer Welt, in der der Glaube an Ekstase durch Hochkultur noch nicht erloschen ist. „Ich will theatralisches Heroin, LSD, China White“, heißt es da. Und so lässt sich eine Gruppe von sieben Junkies euphorisch auf eine besondere drogeninduzierte Reise ein, den

„Catabasis. Die Dämonen“ im Staatstheater Cottbus: Die Hölle als groteskes, prophetisches Miniaturbild der politischen, ideologischen und menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Foto Marlies Kross

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Als Koproduktion des Lausitz Festivals mit dem Staatstheater Cottbus und dem Stanislavsky Electrotheatre aus Moskau inszeniert Boris Yukhananov Dostojewskis „Catabasis. Dämonen“. Foto Marlies Kross

www.hellerau.org

titelgebenden Trip in die Welt von Dostojewski. Der Dealer verhilft den literarisch Abhängigen mit kleinen Pillen zeitweilig in die Haut von Romanfiguren aus „Der Idiot“. Aber Achtung, wo Dostojewski draufsteht, können tödliche Folgen nicht aus­ geschlossen werden. Diese eher assoziative Annäherung an Literatur und insbesondere an den bärtigen Russen kennt man an deutschen Bühnen, wenn auch intellektuell ganz anders durchdrungen, vor ­allem durch Frank Castorf. Das Ausufernde von Dostojewskis

­ rosa findet seine theatrale Entsprechung in dessen Bühnen­ P versuchen. Er hat seit Ende der neunziger Jahre bekanntlich einen Dostojewski nach dem anderen auf die Bühne gehoben. Die Castorf’sche Arbeitsweise der Fortschreibung und Überlagerung, der Verknüpfung und Überspitzung, die bei Dostojewski eben kein Ende, sondern ihren Höhepunkt findet, sind hinlänglich ­beschrieben worden. Erwähnt sei aber, dass der kühne Regisseur sich nicht nur des Dostojewski’schen Hauptwerks, den sechs ­großen Romanen (von „Dämonen“ 1999 bis zu den überbordenden „Brüdern Karamasow“ 2016 zwischen Wien und Berlin), angenommen hat, sondern dass er durch seine Bearbeitungen auch unbekannterer Texte (u. a. „Die Wirtin“, „Ein schwaches Herz“, „Der grüne Junge“) der vielleicht wichtigste Vermittler des Russen im deutschsprachigen Raum der Jetztzeit ist. An diese gedankenreichen Dostojewski-Theatralisierungen reichen am ehesten die Spektakel von Sebastian Hartmann heran, der, sichtlich beeinflusst von Castorfs Theaterarbeiten, seinen e­ igenen Zugang zu Dostojewskis Texten gefunden hat. Den Anfang machte er zum Abschluss seiner Intendanz am Schauspiel (ehemals Centraltheater) Leipzig mit dem Soloabend „Traum“ (nach der Erzählung „Traum eines lächerlichen Menschen“), zuletzt legte er am Staatsschauspiel Dresden 2019 seine Version von „Schuld und Sühne“ vor. Am selben Haus erarbeitete er bereits im Vorjahr „Erniedrigte und Beleidigte“, euphorisch aufgenommen und zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Diese bildstarke Inszenierung zeigte neben dem Können Hartmanns das kaum erschöpfliche Potenzial der Vorlage. Auf der düster eingerichteten Bühne wurden Versatzstücke aus dem Roman Abend für Abend neu und anders zusammengesetzt und damit ein Prinzip aus Texttreue und Improvisation etabliert, das dem Autor gerecht wird. Schnell ist die Behauptung in den Raum gestellt, die Bühnenadaptionen von Werken aus Dostojewskis Feder wären nur zeitgeistige Erscheinungen, eine dümmliche Laune von Dramaturgen, lieber Filme und Romane auf dem Theater zu geben, als sich auf die Suche nach genuin dramatischen Stoffen in Vergangenheit oder Gegenwart zu machen. Das ist vielleicht nicht ganz

10./11.11.2021

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falsch. Aber kann ein solcher Vorbehalt ein Grund sein, den Reizen der Texte des alten Russen, vor denen auch Theatermacher nicht gefeit sind, zu widerstehen? Mittlerweile können die Bühnenfassungen von Dostojewskis Prosaschriften auf eine beacht­ liche Aufführungsgeschichte zurückblicken, die mit Dramatisierungsversuchen durch Zeitgenossen des Meisters beginnt und mit der Inszenierung von „Die Brüder Karamasow“ 1910 durch Konstantin Stanislawski – wohl eher nicht unter Postmodernismusverdacht stehend – einen ersten Höhepunkt erlebte. Vieles spricht gegen die Theatralisierung von Dostojewskis Texten. Ist es überhaupt möglich, Aberhunderte Seiten Prosa­ material auf der Bühne zu ihrer Geltung zu verhelfen? Sind die erzählten Konflikte nicht oft kaum darstellbar, weil sie sich im Inneren und nicht im Mit- und Gegeneinander der Figuren abspielen? Und eine gewichtige Frage gesellt sich dazu: Darf und soll man Fjodor Dostojewski, als junger Mann noch Sozialist, aber schon bald ein Reaktionär, ein christlicher Fundamentalist, ein Anti-Westler, vielleicht auch Antisemit, Platz im Theater ein­ räumen? Der russische Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Michail Bachtin hat bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Fährten zu den Antworten auf diese Fragen gelegt. Dostojewski hat in seinen literarischen Werken keineswegs nur nach einem Ausdruck für seine eigenen wechselhaften Positionen zu Gesellschaft und Politik gesucht, die dem Leser dann als literarisierte Pamphlete vor die Augen kommen. Bachtin hat anhand von Dostojewskis Texten das Konzept der

­ olyphonie und Dialogizität formuliert: Gleichberechtigte StimP men ganz unterschiedlicher Figuren mit ihren eigenen Geschichten kommen hier zum Tragen und sind mitnichten bloßer Spiegel des Innenlebens ihres Autors. Dostojewski vertritt in seinen Werken keine Meinungen, er zeigt das Nebeneinander verschiedener Haltungen. Seine Figuren sind für ihn individuelle Träger von Welt. Wer das begreift, dem wird schnell ersichtlich, warum Dramaturgen und Regisseure auf den umstrittenen Schriftsteller zurückgreifen. Er bietet etwas an, das im Gegenwartstheater höchst selten ist. Wie oft geht es auf den Bühnen heute um die Zurschaustellung tagespolitischer ­Haltungen, nicht nur um Moral in einem abstrakten Sinn, sondern auch um das mantraartige, bekenntnishafte Aussprechen derselben? Und wie oft tritt das im Theater Dargestellte nur gepaart mit einem Werturteil über dasselbe auf? Dabei könnten wir wissen, lernten wir von Dostojewski, dass die Darstellung der Welt in ihrer Plastizität schon einen Wert hat – und dass sie es ist, die sinnlich Erkenntnis schafft. „Man nennt mich einen Psychologen: Das stimmt aber nicht. Ich bin nur Realist im höheren Sinne, das heißt, ich schildere alle Tiefen der menschlichen Seele“, heißt es bei Dostojewski. „Schuld und Sühne“ heißt der berühmte Roman, er benennt auch zwei der gewaltigen Themen für das Theater. Dostojewski scheute nicht den Blick aufs Abgründige, auf Gottesnarren und Verbrecher, Getriebene und Verzweifelte. Auf, wie wir seit Freud wissen, gewöhnliche Perverse und Neurotiker, auf ganz normale Menschen wie uns also. //

Ayşe Güvendiren / DE Dimitris Lolis / gr Nadir Sönmez / Tr Axel Cornil / BE Wiktor Bagiński / Pl DÉLIT B.-MALTHET / Fr, DE Jaz Woodcock-Stewart / UK Joachim Gottfried Goller / AT & Studio Beisel / de

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theater und moral #7

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Kann der anthropozäne Diskurs von Gotthold Ephraim Lessing oder Friedrich Schiller und ihrer Etablierung der Bühne als moralisches Gefechtsfeld lernen? Soll sich angelehnt an deren erfolgreiche Strategie der Vorhang für Trauerspiele um Landschaften, um verlorene Wälder und Moore, ein Requiem für eine ausgestorbene Tier- oder Pflanzenart heben? ­Sollen diejenigen, die gegen eine „Vergewaltigung der Natur“ (Heiner Müller) protestieren und für einen „Naturvertrag“ (Michel Serres) plädieren in der Spur von Nathan dem Weisen oder Wilhelm Tell als die besseren Menschen präsentiert werden, während die Vertreter des Homo oeconomicus die Rollen der verkommenen Adeligen übernehmen?


frank raddatz

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Die planetarische Moral von Frank Raddatz

A

uch wenn momentan niemand weiß, wohin die sich aus der ökologischen Misere entwickelnden Turbulenzen führen, implizieren sie unabweisbar Fragen nach den Maximen der Lebens­ führung. Gesamtgesellschaftlich nehmen die Spannungen zwischen jenen, die sich mit künftigen Generationen bzw. gegenüber ihren Kindern und Kindeskindern solidarisch zeigen und ihren um das Prinzip Ego zentrierten Kontrahenten, die demonstrativ auf das Klima und die Verknappung der Ressourcen pfeifen, stetig zu. Zweifellos ist die Kollision des neoliberalen Menschenbilds mit dem Prinzip Verantwortung, verkörpert von jenen Teilen des sozialen Gefüges, die eine Einstellung des „Kriegs gegen die Zukunft“ (Philipp Blom) fordern, bühnentauglich. Nur werden ­ Kämpfe, insbesondere wenn ihnen eine immense geschichtliche Schubkraft innewohnt, nicht auf dem Feld der Moral entschieden. Sie enden in der Regel auch nicht mit dem Sieg der Einsichtigen, wie bereits Henrik Ibsen mit „Der Volksfeind“ (1882) exemplarisch demonstrierte. Seither hat sich wenig geändert. Noch immer kommen die Profite und die ökonomische Macht denjenigen zugute, die im ­Namen der Produktivität die (planetarischen) Rahmenbedingungen ausblenden. Noch immer rechnet sich ein derartiges Vorgehen, auch wenn es langfristig derart kostenintensive Nebeneffekte zeitigt, dass die Verluste die Gewinne schließlich um ein Vielfaches übertreffen. Bislang hat sich das Kapitalozän als äußerst kreativ ­erwiesen, wenn es galt, seine finstersten Schattenseiten durch zeitliche und räumliche Verlagerungen zu exterritorialisieren. Aktuell verfolgt das globale Publikum noch mehr als weniger entspannt, ob es den Konzern- und Staatenlenkern und ihren ‚erfinderischen Zwergen‘ (Brecht) noch rechtzeitig gelingen wird, den fossilen ­Pferdefuß abzustreifen, ehe die Erderwärmung die arktischen Pole abschmilzt. Ein ungebremster Anstieg des Meeresspiegels löst eine Migrationswelle von Küstenbewohner ins Landesinnere aus, auf den ein irreversibler Abfall des Bruttosozialprodukts folgt. Angesichts sich stapelnder Konsumartikel verpuffen die moralischen

In einem Zusammenschluss zwischen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen forciert das „Theater des Anthropozän“ den Konflikt zwischen „Mensch und Natur im Anthropozän“. Bild Tanja Ebbecke

Apelle und kommen kaum über die ohnmächtige Bitte der „Johanna der Schlachthöfe“ (1931) hinaus, das Kapital möge seine eigene Logik korrigieren. Dem Stückeschreiber zufolge besitzen symbolische Gesten sogar verdeckenden Charakter. Wenn vorbildliche Thea­ termacher eine CO2-reduzierte Kunstausübung propagieren, wird damit suggeriert, dass es nicht um Gesetze sowie internationale Abkommen geht, sondern um individuelles Verhalten. Was nur begrenzt der Fall ist, wenn selbst regionale Umstrukturierungen nicht ausreichen, den Klimawandel an den nationalen oder kontinentalen Grenzen zu stoppen. Evident handelt es sich um ein globales Problem. Enorm schwierig gestaltet sich in diesem Kontext, dass keine verbindliche Definition von Klimagerechtigkeit existiert. Haben zum Beispiel diejenigen Staaten, die über Jahrzehnte die Speicher der Atmosphäre füllten, das Recht, diese Aktivität zu annullieren, obwohl signifikant ist, dass Emissionen etwa 120 Jahre in der Atmosphäre bleiben und der Westen die ihm zustehenden Kapazitäten im Gegensatz zu China und Indien bereits überdehnt hat? Das Beispiel zeigt zudem, dass das anthropozäne auch immer ein wissenschaftliches Theater sein muss. Ganz gleich, an wen es sich wendet, ob an Verbraucher, Bürger, menschliche oder nicht-menschliche Erdbewohner, sein Diskurs fragt, wie sich das Verhältnis des Sozialen zum planetarischen Habitat gestalten lässt, sind Expertisen, Satellitenprogramme und Simulationen unabdingbar, um auszuloten, welche Regeln im Miteinander gelten sollen oder können. Derartige Spielräume und Optionen sind ohne die Erdsystemwissenschaften weder beschreib- noch als Kausalzusammenhang erfassbar. Wie aber ist ein derartiger Wahrheitsdiskurs für die Kinder der Nebeneffekte des wissenschaftlichen Zeitalters auf die Bühne zu bringen? Sicherlich lässt sich in dieser Hinsicht von René ­Pollesch lernen. Sein sogenanntes Diskurstheater hat bereits viele Suhrkamp-Bände verarbeitet, auch wenn es keine Diskurse abbildet, sondern sie theatralisiert. Meist mit Mitteln der Komik. Diese Versöhnung von Logos und Komödie ist theatralisch als unbedingt innovativ einzustufen. Auch die anthropozäne Wahrheit wäre gut beraten, anstatt in moralinsauren Gewändern in Netzstrümpfen aufzutreten, um dann à la Martin Wuttke über die ­Bühne zu hopsen. Dass die anthropozäne Szene mit schweren Gewichten umgeht, ist kein Einwand. Sicherlich liegt das Vaudeville fern, wenn UN-Generalsekretär Antonio Guterres, den Uno-

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theater und moral #7

Klimareport 2021 vor Augen, die Alarmstufe Rot für den Planeten ausruft, weil er weiß, dass angesichts dieser Entwicklung schon bald viele Millionen menschlicher Leben in Gefahr sind. Als Bertolt Brecht in den 1930er und 40er Jahren vor einem vergleichbaren Abgrund stand, entschied er sich ebenfalls für das Komische. Um den Schlächtern keine übermenschliche Größe zu verleihen, reduzierte er sie auf ihre kleinste Größe. Adolf Hitler wird zum Chef einer Gangsterbande, die den Blumenkohlmarkt unter ihre Kontrolle bringt. Anders als „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ hat er „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ nicht fertiggestellt. Diesen anti-autoritären Ansatz verwarf Theodor W. Adorno mit Verweis auf das Leid der vielen Abermillionen Toten. Eine weitere Position legte Heiner Müller mit „Die Schlacht“ vor, eine Art Horrorkabinett des Dritten Reichs inklusive des Zweiten Weltkriegs: ein keineswegs humorfreies Angst-Lust-Gemisch verlängert die Ästhetik des Schreckens ins Groteske. Angesichts der zu erwartenden Opfer ist das kollektive Anstimmen eines moralischen ­Kanons zwar moralisch gerechtfertigt, aber womöglich sind stattdessen Valentinaden und Chaplinesken das probate Mittel, den ökologischen Gräuelszenarien ins Auge zu schauen? Wie anders können die absurden Posen oder Possen und Verrenkungen ins szenische Bild gerückt werden, mit denen schöne, weil unschul­ dige Seelen (Hegel) den Fetisch Produktivität umtanzen. Dessen Zweck paradoxerweise darin besteht, dass freiheitsliebende Ein­ zelne in möglichst großen Prestigeobjekten auf vier Rädern über versiegelte Flächen spazieren fahren, wohlwissend, dass dadurch das eigene Habitat ruiniert wird. Dagegen bestimmt Bruno Latour nicht die närrische oder obszöne Kehrseite der Subjekte aufgrund ihrer unendlichen Kapazität zu begehren zur Grundfigur der neuen Epoche, sondern ­Ödipus. Denn das Anthropozän ist eine Tragödie des Wissens. Der Mensch der Moderne intendierte mit dem Fortschritt so ­wenig wie James Watt mit der Verbesserung der Dampfmaschine die Verpestung der Atmosphäre. In den Modernen (Latour) offenbart sich im 21. Jahrhundert wie zu Zeiten ihrer antiken Vorgänger eine Schieflage zwischen Wissen und Nicht-Wissen (Foucault), die sie wie Goethes Zauberlehrling aktuell kaum auszubalancieren vermögen. Geht der thebanische Protagonist in die Irre, als er versucht, dem ihm geweissagten Bedrohungshorizont zu entkommen, ziehen sich heute auf globaler Ebene vermeintliche Nebeneffekte zum zentralen Narrativ zusammen, das wie ein Verhängnis das Schicksal der jungen Generationen überschattet. Deswegen ist das Anthropozän allerdings kein Schicksal. Im Gegenteil handelt es sich um einen Kampfbegriff, der auffordert, unter allen Umständen das durch menschliche Aktivitäten gefährdete Gleichgewicht der Sphären zu bewahren und die in Bewegung geratenen ökologischen Parameter zu stabilisieren. Aus der Perspektive Bangladeschs, wo bereits heute Menschen bei Gefahr für Leib und Leben vom Klimawandel zur Migration gezwungen werden, erscheint die Erderwärmung wie ein Schicksal, weil sie kaum zur Emission fossiler Brennstoffe beigetragen ­haben. Kulturgeschichtlich haben erst fundamentale Umbrüche in den antiken Gesellschaften unseres Kulturraums wie z. B. die Etablierung des Anthropozentrismus und Imperative rigoroser Natur­ beherrschung wie: „Macht euch die Erde untertan!“ den Boden für

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die ökologische Katastrophe bereitet. Das Klimabeben lässt sich daher nur beruhigen, wenn grundlegende Weichenstellungen der Kultur revidiert werden. Der Philosoph Peter Sloterdijk hält vor diesem Horizont eine Überarbeitung der moralischen Hardware für unumgänglich. Die Überwindung der anthropozänen Krise als „Zivilisierung der Globalisierung“ beruht, „falls sie erfolgreich vonstattengeht, auf der Synergie von Recht, Wissenschaft und Technik“1. Alle Modifikationen aber sind zum Scheitern verurteilt, „wenn es nicht gelingt, sie in einen umfassenden Wandel einzubetten, der die moralischen und spirituellen Antriebssysteme der Globalisierung erfasst. Ein solcher Wandel müsste die Ausmaße einer Kulturrevolution annehmen“2. Wie eine derartige tiefgreifende Zäsur aussieht, macht ­Latours Votum für eine „anti-kopernikanische Wende“ deutlich. Der Planet wird nicht länger als toter Himmelskörper unter anderen betrachtet, sondern als eine Singularität: Es handelt sich um den einzigen uns bekannten Stern, der Leben hervorgebracht hat und seitdem kontinuierlich beherbergt. Im Zuge dieses Paradigmenwechsels werden aus Objekten Akteure und Aktanten, aus toten Dingen Wirkmächte. Der Fokus auf das Leben befreit die Erde wie ihre nicht-menschlichen Bewohner vom Objektstatus. Die aktuelle Debatte um Tierrechte veranschaulicht, was es ethisch bedeutet, ob eine Landschaft oder nicht-menschliche Erdbewohner als ­Ressource begriffen oder als Quasi-Subjekte, denen juristisch Rechtsansprüche zugebilligt werden. Eine Bühne auf Grundlage des Naturvertrags ist auf die Anerkennung des Anderen in nichtmenschlicher Gestalt gebaut. Ein Theater des Territoriums, das die „Initiative für angewandte Melancholie“ mit dem Projekt „anthropos ex“ 2022 in dem Schweizer Biosphärenreservat Entlebuch situieren möchte, setzt einen Akt der Anerkennung voraus. Denn mit einem toten oder verstummten Boden kann sich niemand ins Vernehmen setzen. Das geht allein mit Subjekten. Diese grundlegende Revision des Konzepts von Natur und Kultur kulminiert im Gaia-Diskurs. Philipp Blom: „Die Erde als Göttin und Akteurin, als Gebärerin und Handelnde ist etwas anderes als die Erde als bloße Oberfläche, aufgerissen, zubetoniert, durchbohrt, verbrannt, gerodet, verseucht.“3 Das Konzept der Kritischen Zonen leitet die „Renaissance (…) einer nichtbiblischen dramatischen Weltkonzeption“4 ein; geschichtsphilosophisch nimmt durch diese Rehabilitation „eine nichtabrahamitische Konzeption der Erde neue Gestalt“5 an. Der Planet tritt an die Stelle des verlorenen Zentrums, während die mytho-poetisch besun­ genen Wirkmächte unter wissenschaftlichen Auspizien Kontur gewinnen: „…, was die Antike als Mythos erzählte, kann heute mit wissenschaftlichen Metaphern neu erzählt werden: So entsteht eine wandelbare Konzeption von der Erde als Biosphäre, als komplexem Or­ ganismus mit einer Vielzahl von Stimmen, als Akteur in einem ­gigantischen Netz existenzieller Abhängigkeiten, in dem auch Homo sapiens zappelt. Gaia beginnt wieder zu sprechen“. Gaias Rede aber führt an die Grenzen des Humanen, denn ihre Verhaltensweisen können, so der New Yorker Medienwissen1 Peter Sloterdijk: „Das Experiment Ozean“, S. 60 – 76, in: Was geschah im 20. Jahrhundert?, Berlin 2017, S. 72. 2 a.a.O 3 Blom, a. a. O., S. 103. 4 Philip Blom: Das große Welttheater, von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs, Wien, 2020, S. 101. 5 a. a. O., S. 102.


frank raddatz

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schaftler Eugene Thacker, „nur auf der radikal nicht–mensch­ lichen Ebene der Tiefenzeit erkannt werden“6. Im erdgeschichtlichen Kontext tritt die Unzulänglichkeit der anthropozentrischen Grundformel: ‚Der Mensch ist das Maß aller Dinge!‘ besonders deutlich hervor. Wie aber lässt sich der moralische Kompass an einem Magnetpol kalibrieren, der im Jenseits des Humanen verortet wird? Vor zwei Jahrhunderten hat Johann Wolfgang von ­Goethe das bittere erste Gebot unseres Himmelskörpers in einem Dreizeiler verdichtet:

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REBELL. POET. REVOLUTIONÄR.

Und so lang du das nicht hast Dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde. Auch wenn nach sechs Jahrtausenden Städtebau das Fleisch mittlerweile aus den Fabriken zu kommen scheint, ist die Akzeptanz der existenziellen Eckpfeiler des Daseins die Voraussetzung dafür, dass sich unsere Spezies nur temporär im Hotel Gaia einrichtet. Zugleich umreißt Goethes Formel das Dionysische, das allem Theater genetisch eingeschrieben ist. Beim Dionysischen handelt es sich um einen planetarischen Effekt. Jedes Jahr knospen die Pflanzen und findet ein rhythmischer Wechsel zwischen Werden und Vergehen statt. Analog werden auf dem Feld der Kultur die Dionysien im Frühling gefeiert und ist Dionysos der einzige Gott, der sterben kann. Nach dem Winter erfolgt alljährlich seine Wiederauferstehung. An diesen planetarischen Rhythmen ist entgegen den Illusionsbildungen von Jenseits- und Unsterblichkeitsglauben und all den säkularen und bequemen Verdrängungs- und Verlagerungsstrategien das Leben der allermeisten Erdbewohner gebunden, einmal abgesehen von den Bärtierchen und ähnlichen Spezies wie Schleimpilzen, die sich bislang dem biologischen ­Logos entziehen. Das Anthropozän besagt nichts weniger als den Anbruch eines neuen Zeitalters, in dem die herkömmlichen Spielregeln des holozänen Kirschgartens nicht länger gelten. Der menschengemachte Klimawandel drängt den Diskurs an den Rändern jenes Mahlstroms einer Umwertung der Werte, an der Friedrich Nietzsche um den Preis des Wahnsinns scheiterte. Dabei geht es weniger darum, einen Spielplatz für unschuldige Seelen zu errichten, als eine Kunst zu entwerfen, die, wie es Friedrich Hölderlin ­erträumte, der Natur zu Hilfe eilt und eine Technosphäre, die ­Prothesen für die Natur (Müller), entwickelt. *** ENDE ***

ANDREAS KLEINERT THOMAS WENDRICH

EIN FILM VON DREHBUCH

ALBRECHT SCHUCH IOANA

IACOB

JÖRG

SCHÜTTAUF

JELLA

ANJA

SCHNEIDER

HAASE

JOEL

BASMAN

EMMA

BADING

„Herausragendes Drama, das der Persönlichkeit und dem Werk des Autoren und Rebells Thomas Brasch ein Denkmal setzt. … Lieber Thomas ist großes Kino.“ BLICKPUNKT:FILM

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6 Eugene Thacker: Im Staub dieses Planeten – Horror der Philosophie, Berlin 2020. LT_AZ_TheaterderZeit_86,5x240+3_PSO_LWC_Improved_02.indd 1

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kolumne

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Diversität oder Etikettenschwindel? von Erwin Aljukić

es geradezu ist, Denkmuster zu hinterfragen und zu durchbrechen, Utopien und Freiräume zu denken, ist bereits seit mehreoder der Bruder, der vielleicht eine Körperbehinderung hat: Macht ihn das nicht ren Jahren eine Bewegung zu erkennen; ausgelöst durch das Staatstheater Darmweniger zum Bruder, sondern eher zu einem realistischen Abbild einer Gesellschaft, in stadt, nun etwa Bestandteil mehrerer Häuser – wie auch etwa der Münchner Kam­ dem sich die Zuschauer wiedererkennen merspiele, deren Ensemble-Mitglied ich können?“, so die Vorsitzende des BFFS, dem bin, den Zugang und die Teilhabe von größten Schauspielerverband Deutschlands, Künstler*innen mit körperlicher und kognibei ihrer Laudatio im Rahmen des Panels „A Path Forward – wie Genderbalance und tiver Behinderung nicht nur als ein Special ­Diversität Hand in Hand gelingen“. oder Highlight einer Inszenierung zu verEigentlich würde ich mich als einer stehen, sondern selbstverständlich zu prakder bekanntesten Schauspieler mit Behintizieren – mit allen Bewusstseinswerdungen auf allen Seiten – vom Zugang zur Ausbilderung in Deutschland über diese Worte freuen, hätte es jedoch nicht folgenden Vordung bis hin in den Berufsalltag. Mehr als meine nicht-behinderten fall gegeben: Wochen zuvor wurde ich vom Mehr als ein Programmhighlight: Der Schauspieler Erwin Aljukić fordert BFFS angefragt, zu diesem Panel ein StateKolleg*innen muss ich stets und immer eine selbstverständliche Teilhabe von wachsam sein, wofür ich bei jeder einzelment zu geben, was ich auch gerne tat. Bei Künstler*innen mit Behinderung an der Frage, ob denn bei der Veranstaltung nen Szene einstehe, welche Botschaft ich Kulturinstitutionen. Foto Paul Hutchinson hier vermittle; so können Dramaturgen, auch Schauspieler*innen mit Behinderung repräsentiert werden, da ich dies als äußerst Choreografen oder Regisseure noch so versuchen, mir ihre Sichtweise zu rechtfertigen, meine nun langjähwichtig finde, bejahte man dies – sollte jedoch die bereits eingeladene gehörlose Regisseurin absagen, würde man mich einladen. rige Erfahrung hat mir bewiesen, dass sich meine zuvor empfunEinen Tag vor der Veranstaltung sah ich vollkommen zufällig, dene Intuition im Nachhinein stets beim Publikum und in den Kritiken widergespiegelt hat – ob positiv oder negativ. dass die Position ersetzt wurde durch einen Schauspieler, welcher die LGBT-Community repräsentierte. Diese Sichtbarkeit war jedoch Ja, ich als Schauspieler muss der Erfahrung des Regisseurs vertrauen. Er muss dies aber genauso! bereits durch einen anderen Vertreter gegeben – wie auch in mehrfacher Form die der PoC. Unfassbar jedoch für mich waren vor alWo wird der Anspruch um Gleichberechtigung und Selbstlem die Ausreden, mich hier nicht einbezogen zu haben. Auf meine verständlichkeit eingelöst, und wo werden Narrative auf der BühForderung, dann auch nicht als Feigenblatt für den bunt- diversen ne erzählt, die sich jedoch nicht in der Realität wiederfinden? Stichwort: Entlohnung! Blumenstrauß herhalten zu wollen, hieß es, aus technischen Gründen könne man das Statement nicht zurückziehen. Wo werden Künstler*innen mit Behinderung tatsächlich Diversität, Chancengleichheit, Teilhabe – Schlagworte, die genauso entlohnt, haben dieselben Verträge wie ihre nicht-behinderten Kolleg*innen, und wo werden eventuell Konstrukte geaktuell geradezu inflationär verwendet werden. Schaut man sich und benutzt, die etwa einer Gleichbehandlung auch in dieser jedoch die Film- und Fernsehwelt an, wird die Gruppe von Menschen mit Behinderung, welche ja zehn Prozent der GesamtbevölForm entgegenstehen? Nein, es geht nicht nur um die Möglichkeit der Teilhabe, es kerung ausmacht, nicht einmal im Bruchteil abgebildet. Merkwürdig im Hinblick auf eine Branche, die sich so vielgeht um die tatsächliche Einlösung von Ansprüchen, in der es in keinem Bereich eine Diskrepanz zwischen dem gesetzten Etikett fältig gibt wie nie zuvor, Sichtbarkeit unterschiedlichster marginalisierter Gruppen einfordert. der Diversität und der Realität gibt. Das muss und kann nur von Nur die tatsächliche Einlösung von Sichtbarkeit von Mendenen eingefordert werden, die es betrifft – und welche die beste schen mit Behinderung als ein vollkommen selbstverständlicher Expertise hierin haben. Bestandteil der Medienwelt (siehe hier beispielhaft USA oder EngWir müssen sehr genau darauf achten, inwieweit diese ­Forderungen in der Realität sichtbar und überprüfbar sind – und land) wird auch gesellschaftliche Prozesse in Gang bringen; endwo es sich um Etikettenschwindel handelt, Menschen/ lose Debatten oder Diskussionen tun dies nicht! Künstler*innen mit Behinderung instrumentalisiert werden. Wo aber Einschaltquoten und Marktwerte darüber entscheiUm an den Eingangssatz der BFFS-Vorsitzenden zu erinden, was medial momentan „sexy“ ist, ist die Welt des Theaters zum Glück hehreren Zielen gewidmet; in einer Sphäre, deren Aufgabe nern: ja … und?!?! //


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Bernd Stegemann. Foto Katrin Ribbe

Exklusiver Vorabdruck

Wutkultur Bernd Stegemann


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Bernd Stegemann

Wutkultur Woke Wut Linke Identitätspolitik etabliert im Gegensatz zur rechten eine komplizierte Wutkultur. Sie muss die Thymos-Spannung der Opfer hochhalten und immer wieder neu entfachen. Zugleich muss sie die wütenden Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft abwehren, indem sie diese wie in einer japanischen Kampftechnik auf sie selbst zurückwendet. So erklärt sich, warum sich beide Identitätspolitiken gegenseitig befeuern. Die rechte Wut wird nicht als Ausdruck sozialer Probleme ernst genommen, sondern soll vor allem eine Gefahr für linke Identitäten sein. Rechte Wut wird zum individuellen Charakterfehler erklärt, während linksidentitäre Wut Ausdruck der falschen Verhältnisse ist. Mit diesem doppelten Standard werden permanent neue Konflikte produziert. Denn es werden nicht nur alle nicht-linksidentitären Wutkollektive provoziert, sondern es wird ebenso der Universalismus und Gleichheitsanspruch der bürgerlichen Milieus bekämpft. Um in diesem Wechselspiel Sieger zu bleiben, wendet die linke Identitätspolitik ihre Paradoxien immer radikaler an. Jeder Versuch, auch die rechte Wut als Teil des politischen Spektrums zu verstehen, wird kategorisch abgelehnt. Wer die „Sorgen der Bürger“ ernst nehmen will, macht sich in ihren Augen bereits verdächtig. Der einfache Grund, warum linke Identitätspolitik ihre doppelten Standards so vehement durchsetzen will, besteht in ihrem politischen Machtanspruch. Würde die Wut der „weißen Menschen“ nicht als Beweis ihrer Schuld angesehen, sondern als verstehbares Aufbegehren anerkannt, bräche das Fundament linker Identitätspolitik zusammen. Ihre doppelten Standards sind das Betriebsgeheimnis ihres Erfolgs. In jedem einzelnen ihrer Argumente finden sie sich wieder. Darum droht die größte Gefahr für sie inzwischen nicht von der Seite der rechten Wut, sondern von der Seite, die ihren strategischen Einsatz der Doppelstandards öffentlich kritisiert. Die Wut linker Identitätspolitik richtet sich immer stärker gegen die neutrale Position des Universalismus. Die raffinierteste Abwehr besteht darin, den Universalismus

zum Partikularismus der „weißen Menschen“ zu erklären. Mit diesem logischen Trick sägt die linke Identitätspolitik ­jedoch an dem Ast, auf dem sie selbst sitzt. Denn wenn es keinen Universalismus in der Gleichheit mehr gibt, entfällt auch ihr Fundament für eine Gleichheit, mit der Minder­ heiten gleiche Recht fordern können. Wer den Universalismus der Menschenrechte ablehnt, öffnet die Türen zur­ Hölle, in der wieder das Recht des Stärkeren gilt. Doch diese Gefahr wird ignoriert, da der kurzfristige Gewinn aus den doppelten Standards zu verlockend erscheint. Um diesen Kampf der doppelten Standards gegen die Gleichheit des Universalismus zu gewinnen, muss der Wut-Pegel hoch bleiben. Nur ausreichend große Erregung kann das Wutkollektiv zusammenschweißen und es damit gegen rationale Argumente immunisieren. Die Vehemenz des Aufschreis wird zur stärksten Waffe gegen den zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Darum betreibt linke Identitätspolitik ein elaboriertes Wutmanagement. Damit die Anlässe für Kränkungen nicht ausgehen, müssen die Gegenwart und die Vergangenheit nach Ereignissen durchsucht werden, über die man sich empören kann. So entsteht die „wokeness“ als wichtigster Lieferant immer neuer Kränkungen. Wer „woke“ ist, ist erwacht und findet mit geschärften Sinnen nun den kleinsten Anlass für Empörung. Der Woke erfüllt in der linken Wutkultur eine wichtige Funktion. Er liefert den notwendigen Nachschub an Aufregung, um die linke Wut-Spannung hochzuhalten. Die Erwachten fügen sich perfekt ins pietistische Weltbild und radikalisieren die Suche nach Empörungsgründen. Wenn alle weißen Menschen von Natur aus Rassisten sind, erhöht sich die Zahl der empörungsfähigen Ereignisse ins Unendliche. Was als Mikroaggression in US-amerikanischen Colleges schon vor Jahrzehnten für den permanenten Nachschub an Kränkungen sorgte, wird nun zur allgemein verfügbaren Erregung. Die einfache Frage „Woher kommst du?“ löst, wenn sie von einem weißen Menschen gestellt wird, Wut aus. Denn in den empörungsbereiten Ohren klingt diese Frage nach der Unterstellung, dass die nicht-weiße Person womöglich aus einem anderen Land kommen könnte.


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sogar noch belohnt. Gelten die Affekte der Rache ansonsten Ebenso können die „Tränen der weißen Frau“ zu einem als bedenkliche Zeichen von Zivilisationsverlust, so ist die Skandal taugen. Wenn eine rassistisch motivierte Tat öffentwütende Stimme, die aus einer Opferperspektive nach lich betrauert wird, sollen schwarze Menschen ablehnen, ­Vergeltung ruft, ein anerkannter Beitrag zur Öffentlichkeit. dass weiße Frauen ihre Anteilnahme durch Tränen ausdrüJedes Medium, das im Markt der Aufmerksamkeit mithalten cken dürfen. Die Unterstellung besteht darin, dass weiße will, braucht inzwischen mindestens eine wütende OpferFrauen mit ihren Tränen nur selbst zum Mittelpunkt der stimme unter seinen Beiträgern. Trauer werden wollen. So wird eine weitere paradoxe Situa­ Das Geschäftsmodell der Opfer-Wut ist so einfach wie tion geschaffen, in der Weiße es nur falsch machen können. erfolgreich. Müssen die Stimmen derer, die nicht als Opfer Stehen sie ohne Gefühle abseits, wird ihnen Empathielosiggelten, Argumente finden und keit und ein rassistisches Desingrößere Zusammenhänge erteresse vorgeworfen. Zeigen sie läutern, um ihrer Meinung eine ihre Gefühle und weinen, wolRelevanz zu geben, kann die len sie nur die Aufmerksamkeit Opfer-Stimme allein auf sich auf sich lenken. Und wie in alselbst und die eigene Kränkung len paradoxen Situationen gibt schauen. So entsteht die Textes keine Lösung. Die Macht liegt form des One-Trick-Pony: „Ich genau darin, dass Weiße in eine bin wütend“ wird zum Ausausweglose Situation gebracht gangspunkt des immer gleichen werden. Der Weiße handelt unTextes, der gegen eine vermeinthintergehbar falsch, weil er ein liche Übermacht anbrüllt. Dass Weißer ist, womit er zwangsläudie Behauptung, eine marginalifig immer neue Beweise für seisierte und darum übersehene ne Schuld produziert. Opferposition zu bekleiden, Ist die Tür zur negativen InBernd Stegemann spätestens in dem Moment zur terpretation „weißer“ Gefühle Wutkultur Lüge wird, wo sie regelmäßig in einmal durchschritten, kann in Leinengebundenes Hardcover einem überregionalen Medium jeder Handlung und in jeder mit Fadenheftung erscheint und vielfältigen ZuFormulierung eine rassistische EUR 12,00 (print) / 9,99 (digital) spruch erhält, wird ausgeblenKränkung gesehen werden. Die ISBN 978-3-95749-341-5 det. Getreu der alten Lehre zum Verlag Theater der Zeit Hermeneutik des Verdachts Machterhalt befolgen die Verbestimmt dann das Klima, in ­ walter der Opfer-Wut den Ratdem Kommunikation stattfinschlag: Wenn du herrschen den muss. Ein Keks, der von willst, musst du es im Gewand des Dieners tun. dunkler Schokolade ummantelt ist und Afrika heißt, wird So hat der öffentliche Wettbewerb zwischen rechter und dann ebenso zum rassistischen Skandal wie das Adjektiv links-woker Identitätspolitik einen klaren Sieger. Und damit „schwarz“ in „Schwarzfahren“ oder „Schwarzarbeit“. Dass findet die paradoxe Methode der linken Identitätspolitik ihre in beiden Fällen nicht „schwarze“ Menschen gemeint waren, abschließende Formel. Solange sie es schafft, genügend spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie die absurde Mühe, Nachschub an Empörung zu generieren, und solange ihre die eine Gesellschaft aufwenden muss, um die immer neuWut als legitimer Ausdruck der Unterdrückten erscheint, so en Kränkungen zu beruhigen und den alltäglichen Gebrauch lange behält sie die Macht über die Regeln der öffentlichen der Sprache zu korrigieren. Kommunikation. Darum steht im Zentrum dieser Wut­ Bei dem Projekt der woken Wutkultur geht es nicht um kultur der gut bewachte Bereich des Opferstatus. Dass die einen Plan, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, sonOpfer-Wut so viel erfolgreicher ist als die Täter-Wut der rechdern es geht um die Lust an der inflationären Empörung. ten Identitätspolitik, gibt hingegen Anlass, zum Abschluss Wer sich gekränkt fühlt und es schafft, seiner individuellen noch einmal anders über die Wutkultur der Spätmoderne Kränkung eine allgemeine Gültigkeit zu geben, ist nicht nur nachzudenken. berechtigt, seine Wut öffentlich auszuleben, er wird dafür

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Der Geschichtenerzähler Mariano Pensottis Theater zwischen Raum und Zeit von Renate Klett

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ie erste Aufführung, die ich von Mariano Pensotti sah, war „La Marea“, 2006 in Brüssel beim Kunstenfestival des arts. Sie ist mir unvergesslich bis heute. Wir, das waren viele Menschen, Festivalbesucher, Passanten, Neugierige liefen nachts die Rue de Flandre entlang, eine kleine Straße mit vielen Geschäften, in denen Merkwürdiges geschah. Durch die Schaufenster beobachteten wir Paare beim Essen oder Streiten, beim sich Langweilen oder Küssen. Auf die Fenster projizierte Untertitel verrieten ihre Gedanken, die oft konträr zu den gezeigten Situationen daherkamen. Es war faszinierend, die Straße entlangzuschlendern, wie ein Voyeur in die Fenster zu starren und sich die Lebensfetzen zusammenzureimen. Ich ging jede Nacht hin, und jedes Mal war es anders, nicht in dem, was geschah, sondern in dem, was ich – und sicher auch viele andere – dort hineininterpretierten.

Neun Episoden, drei davon auf der Straße, etwa ein Motorrad­ unfall, und wenn man am nächsten Morgen wieder zur Rue de Flandre kam, hatten die Geschäfte wieder ihre Auslagen und ­Kunden, und niemand ahnte was vom nächtlichen Gespenster­ reigen. So muss Theater doch sein, dachte ich, eine Verschwörung gegen die Welt, für die Welt, ein Traumwissen, das verstört und heilt. Aber nach vier Nächten war alles vorbei. Seither habe ich Pensottis Arbeiten aufmerksam verfolgt, jede war anders, doch alle hatten sie etwas Verschwörerisches, Doppel­ bödiges. Im Rückblick ist es interessant, „La Marea“ mit dem 14 Jahre später entstandenen Mammut-Projekt „Diamante“ zu vergleichen. Beim Frühwerk geht man durch eine reale Straße in einer realen Stadt und schaut den Bewohnern beim Leben zu. Das ist

Wie in einer Telenovela: In „Diamante“ blickt man in die Häuser einer Gated Community und erfährt von Konflikten, Verwicklungen und Enttäuschungen der Fabrikarbeiter*innen. Foto Annette Hauschild


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voyeuristisch und lustvoll, man hört sie nicht sprechen, aber liest ihre Gedanken. In „Diamante“ dagegen befindet man sich in einer Gated Community, die der deutsche Fabrikbesitzer für seine Arbeiter mitten im Dschungel erbaut hat, mit „besten Absichten“ und fester Hierarchie. Jeder muss ein Musikinstrument lernen, die Kinder kriegen Theaterunterricht, alles soll schön und gut sein, und ist es natürlich nicht. Das Dorf verfällt, die Menschen wollen weg. Die Häuser nehmen die gesamte Bühnenfläche ein. In beliebiger Reihenfolge geht man von einem zum anderen und schaut den Menschen beim Leben zu. Durch die großen Fenster nimmt man an ihren Verwicklungen, Enttäuschungen, Freuden und Zweifeln teil, sieht zu, wie sie streiten, brüllen, trinken, weinen, sich verbünden oder verwerfen. Die Geschichten entwickeln sich in parallelen Zehn-Minuten-Takes, und man hat alle Hirne voll zu tun, die vielen PuzzleTeile zusammenzusetzen. Aber was anfangs interessant ist, läuft sich leer, je länger es dauert – und es dauert sechs Stunden! Schließlich fühlt man sich wie in einer Telenovela: zu stereotyp die Personen, zu vorahersehbar die Zuspitzungen. Wo „La Marea“ rätselhaft blieb und dadurch eine ganz eigene Magie entwickelte, wird hier alles ausbuchstabiert und dadurch vorhersehbar, und die auf die Fenster projizierten Kalendersprüche machen es auch nicht besser. 1973 in Buenos Aires geboren, studierte Pensotti Film, ­Theater und bildende Künste zunächst in seiner Heimatstadt, ­später in Spanien und Italien. Er schrieb Theaterstücke und Filmdrehbücher, experimentierte mit Dramoletten aus eigener oder fremder Feder und begann, eine Theatergruppe aufzubauen, die er „La Marea“ (Die Gezeiten) nannte. Die meisten ihrer Mitglieder sind heute noch dabei. Pensotti sieht sich als Geschichtenerzähler. „Alle meine ­Arbeiten beruhen auf der Spannung zwischen Realität und Fiktion“, sagt er. „Es interessiert mich zu beobachten, wie sich das reale ­Leben einer Person verändert durch die Fiktionen, mit denen sich diese Person umgibt.“ Die beiden Ebenen greifen dabei oft so sehr ineinander, dass sie sich vermischen und ihre jeweiligen Wahrheiten nicht mehr eindeutig sind. „Cineastas“ von 2013 ist ein gutes Beispiel dafür. Die kompatible Bühne (wie immer von Mariana ­Tirante entworfen) stellt zwei Spielflächen übereinander. Unten beschwören, diskutieren und lügen sich vier Filmemacher, zwei Frauen zwei Männer, ihr durch die Filmarbeit verändertes Leben zurecht. Oben werden die Filmszenen geprobt/gespielt, die das auslösen. Das ist raffiniert und überzeugend ineinander verwoben, mal komisch, mal erschütternd und immer lebensecht. Der Komödienregisseur, der von seiner unheilbaren Krankheit erfährt, bringt seine Todesangst in sein Filmprojekt mit ein. Die eine ­Regisseurin wird von ihrem Mann verlassen, woraufhin sie die Auflösung der Sowjetunion in ihren Film hineinschmuggelt, die andere verzweifelt an ihrem Drehbuch und muss schließlich eine von der französischen Filmproduktion zusammengestückelte Version davon akzeptieren. Der Experimentalfilmer, der bei McDonald’s schuftet, klaut Geld aus der Kasse, um seinen Revo­ lutionsfilm zu verwirklichen. Die Verquickung von Kunst und ­Leben ist unaufhaltsam und beschädigt beide Seiten. Was im Film plausibel ist, muss es im Alltag nicht sein. Es ist eines der besten und erfolgreichsten Stücke Pensottis und wurde auf unzähligen Festivals in Europa, Nord- und Süd-

mariano pensotti

amerika gezeigt. „Ich liebe solche großen Tourneen“, bekennt er. „Sie sind anstrengend, aber auch sehr inspirierend. Die immer neuen Begegnungen mit einer neuen Stadt, einem neuen Publikum, das ist so aufregend. Das Stück verwandelt sich mit jedem neuen Publikum, jeder neuen Stadt. Wir haben keinen Einfluss darauf – es geschieht einfach, und das ist faszinierend.“ Zwei Jahre später kommt „Cuando vuelvo a casa seré otro“ heraus (Wenn ich heimkehre, werde ich ein anderer sein) mit ähnlichen Transgressionen von Sein und Schein. Das Stück beruht auf einer wahren Geschichte. Zu Beginn der Militärdiktatur vergräbt ein junger Mann belastende Papiere, eine Waffe und ­Musikkassetten mit politischen Liedern im Garten seines Vaters. Jahrzehnte später, als der neue Besitzer des Grundstücks einen Swimmingpool im Garten baut, kommen die Indizien wieder ans Licht, was für einige Menschen das Leben krass verändert. In einer Art tragischer Burleske werden die Einzelschicksale geschildert, vom gescheiterten Bühnenautor, dessen einziges ­Erfolgsstück sich ein ominöser Doppelgänger angeeignet hat, bis zur Popsängerin, die versucht, die Kampflieder ihres Vaters, die auf der Kassette eingegraben waren, neu zu beleben, was misslingt. Lauter Scheiternde, lauter Missvergnügte, die durch den überraschenden Fund zur Kopie ihrer selbst werden.

Mariano Pensotti setzt Einzelschicksale wie Puzzleteile zu einem Gesamtkunstwerk zusammen. Foto Bea Borgers

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Pensotti: „Ich schreibe sehr viel, eigentlich ununterbrochen, aber was ich schreibe, sind nicht Theaterstücke, sondern Gedanken, Ideen, Erkenntnisse – manchmal verwende ich die in Stücken, manchmal nicht und verlasse mich auf meine Inspiration. Der Ausgangspunkt kann ein Text sein, eine Musik oder Fotos. ,La ­Marea‘ beispielsweise wurde inspiriert durch die Fotos von Jeff Wall. Seine Bilder wirken wie Schnappschüsse, aber sie sind natürlich streng inszeniert. Während der Proben müssen wir dann die Theatralität des Textes, der Musik oder der Fotos finden. Aber starten muss ich immer von einem Nullpunkt.“ Er betont auch, dass ihm der Wechsel zwischen Theateraufführungen und Installationen im öffentlichen Raum gefällt. „Das hält mich wach.“ Ein schönes Beispiel dafür war sein Beitrag zu „Ciudades Paralelas“, (2010), bei dem acht ausgesuchte Regisseure aus verschiedenen Ländern Performances in ungewohnter Umgebung vorführten. Er wählte den Berliner U-Bahnhof Möckernbrücke und setzte vier Schriftstellerinnen mit Computer auf die Bahn­ steige. Deren Beobachtungen wurden auf Großleinwände hinter ihnen übertragen, das Publikum drängte sich um sie herum und wurde sofort „verarbeitet“ in den Live-Roman, der so entstand. Es war ein fröhliches Spektakel zwischen Überwachung und Neugier, während der Zugverkehr unbeirrt weiterging und die Bahnsteige immer voller wurden mit Menschen, die den Roman lasen, der sie selbst waren. Wie „Cineastas“ erzählt auch das 2012 entstandene „El pasado es un animal grotesco“ (Die Vergangenheit ist ein groteskes Tier) die Verwandlung von vier Menschen. Wieder sind es zwei Frauen und zwei Männer, aber diesmal erstreckt sich die

Pensottis neuestes Stück „Los Años“ feierte Premiere bei der ­dies­jährigen Ruhrtriennale. Darin erzählt er die Geschichte der Protagonist*innen simultan in Zukunft und Vergangenheit. Foto Isabel Machado Rios

­ eobachtung über zehn Jahre. Welthistorische Ereignisse von 9/11 B bis zur argentinischen Finanzkrise spiegeln sich im Leben der Akteure. Fakt und Fiktion vermischen sich, und die unermüdlich rotierende Drehbühne mit ihren Schränken und Kämmerchen vermittelt Sog und Gefahr des Absturzes. Pensottis gekonnte ­Mischung aus Komik und Alltagstragödie lässt seine Aufführungen schweben und macht sie nie ganz fassbar. „In Südamerika kann man vom Theatermachen nicht ­leben. Wir haben das große Privileg, dass wir viele Einladungen aus ­Europa bekommen, das hilft uns, dass wir weiterarbeiten können. Ohne diese Gastspiele gäbe es uns wohl gar nicht mehr. Anfangs habe ich sehr viele, sehr blöde Jobs gemacht, um die Theaterarbeit zu ermöglichen. Da war ich immer zerrissen zwischen meinen beiden Leben. Doch dank der vielen Einladungen und Co-Produktionen können wir jetzt von der Theaterarbeit leben. Das ist ein schönes Gefühl.“ Mariano Pensotti hat im Laufe der Zeit einen unverwechselbaren Erzählstil entwickelt aus Tempo und Temperament, mit scharfen Schnitten und vielschichtigen Situationen. Die Figuren und ihre Narrative entwickelt er gemeinsam mit seinen exzellenten Darsteller*innen. Seine Obsession mit „Charakteren, die immer an der Grenze sind, jemand anderes zu werden, oder die sich


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besser fühlen würden, wenn sie jemand anderes wären“,wie er es umschreibt, beflügelt die Fantasie der Schauspieler und springt zurück auf den Regisseur und Autor. Für das Publikum ist das manchmal verwirrend, aber immer faszinierend. „Arde brillante en las bosques de la noche“ entstand 2017 als Auftragsarbeit des HAU Berlin zum 100-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution. Das „Lodernde Leuchten in den Wäldern der Nacht“ ist ein verzwicktes Stück, bei dem das Theater in Film übergeht und von Marionetten beobachtet wird. Alles verändert sich unaufhaltsam, alles ist miteinander verbunden und behält doch seinen eigenen Sinn. Drei Protagonistinnen, die Professorin, die den Glauben an die Revolution, die sie unterrichtet, schon längst verloren hat, die idealistische Guerillakämpferin, die enttäuscht nach Deutschland zurückkehrt und dort mit dem Leben nicht mehr klarkommt, die TV-Moderatorin, deren soziales Eingreifen mit Prügel belohnt wird – sie alle sind verloren und verfestigt zugleich, unterwandert von Angst und Schuldgefühlen, verzweifelter Selbstironie und Identitätsverlust. Es leuchtet und lodert und irrlichtert in den nächtlichen Wäldern des Theaters, dass einem der Atem stockt und die Augen brennen. Pensottis jüngstes Stück „Los Años“ kam im letzten Sommer bei der Ruhrtriennale heraus und erzählt die Geschichte von vier Freunden aus der Perspektive von 2021 und 2051. Wie immer geht es um zwei Männer und zwei Frauen zwischen Glücksgefühl und Scheitern, Ratlosigkeit und Rachegelüst. In „Die Jahre“ zeigt sich Geschichtenerzähler Pensotti in Höchstform. Wie er die Charaktere und ihr Verhalten in Gegenwart und Zukunft verwischt und vermischt, ihre witzigen, mitunter auch zynischen Räson­ nements zu einem Zeitbild stilisiert oder ins Leere laufen lässt, vermeintliche Schicksale und das Aufbegehren dagegen in der Balance hält, das ist meisterhaft. Am berührendsten ist die Geschichte von Raoul, einem kleinen Jungen ohne Bleibe, ohne Hoffnung, dem der Filmemacher bei seiner Dokumentation über verfallende Architekturikonen begegnet. Daraufhin tauscht er die Gebäude gegen den Menschen, filmt und füttert den Jungen und lässt sich von ihm überreden, mit gefälschten Dokumenten als sein Vater zu agieren, um ihn in der Schule anzumelden, wo er jeden Tag zwei warme Mahlzeiten erhält. Die Protagonisten verrennen sich in den Zeitsprüngen und verknoten ihre vorweggenommene Zukunft mit der gelebten Gegenwart. Am Ende trösten sie sich mit einem alten Theaterstück, das sie gemeinsam aufführen wollen. Es wird sehr viel geredet in diesem Stück (und sehr schnell, wie in Argentinien üblich), und um nicht immer auf die Übertitel zu starren, statt auf die Bühne, muss man in Kauf nehmen, dass einem vielleicht ein paar ­Wendungen entgehen. Aber das ist im Leben ja genauso. Mariano Pensotti, der auch Filme macht und neuerdings auch Opern inszeniert, gehört sicher zu den spannendsten zeitgenössischen Regisseuren weltweit. Das liegt auch an seinem formidablen Ensemble: lauter Vollblutschauspieler*innen, die bei aller Unterschiedlichkeit seiner Arbeiten stets als solche zu erkennen sind. Wenn man sie zusammen spielen sieht, spürt man förmlich, wie sie miteinander, aneinander gewachsen sind. Das ist im europäischen Theater eher selten. //

mariano pensotti

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Die Festivals 2021 Ruhrtriennale Athens Epidaurus Festival | PHOENIX-Theaterfestival Erfurt


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RUHRTRIENNALE

Unter Geistern Die erste Ruhrtriennale unter der Intendanz von Barbara Frey von Sascha Westphal

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bendliches Licht fällt durch die hohen Fenster in die imposante Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck. Es taucht die stillgelegte Fördermaschine samt ihren unterschiedlich großen Antriebsrädern in ein abgründiges Zwielicht. Die riesigen Artefakte einer längst vergangenen Zeit der Industrialisierung, die aus dem Boden der Halle herauszuwachsen scheinen, sind das zentrale Bühnenbild-Element in Barbara Freys Adaption von Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“. Martin Zehetgruber hat entlang der Maschinenteile nur noch einige Stapel mit Büchern und eine Reihe von Musikinstrumenten platziert. Mehr braucht es nicht, um das Publikum mit dem Unheimlichen zu konfrontieren, in dem sich nach Freud Vertrautes immer mit Unvertrautem mischt. Es ist eine grandiose Bildsetzung, die Barbara Frey, die neue Intendantin der Ruhrtriennale, für ihre erste eigene Festival-­ Inszenierung gewählt hat. Kultur und Industrie vereint in einem gigantischen Raum, der von Verfall und Wandel erzählt. Die Geister der Vergangenheit sind hier noch überaus lebendig, und so wird es auch noch lange bleiben. Das Unheimliche dieses Ortes wird zum Nukleus von Freys Annäherung an Edgar Allan Poes Erzählungen des Schreckens und lässt sich doch nicht ganz von ihnen vereinnahmen. Die Spielstätte behauptet ihre Eigenständigkeit und weist damit über die Inszenierung und die Kunst an sich hinaus. Genau das war gerade in ihren ersten Jahren der Geist der Ruhrtriennale. Ein großes internationales Musik- und Theaterfestival an Orten der Arbeit, die ihre einstige Bestimmung verloren haben. In den vergangenen Jahren war die Ruhrtriennale allerdings gleich in mehrere Stürme geraten. 2020 hat die Corona-Pandemie den Grund für die Absage des Festivals geliefert, obwohl im Spätsommer die Theater in NRW öffnen durften. Allerdings hatte die damalige Intendantin Stefanie Carp schon vorher keine sehr glückliche Figur gemacht. Die Diskussionen um den BDS und antisemitische Haltungen von Künstlern und Intellektuellen, die im ersten Carp-Jahr das Hin und Her um ein Konzert der schottischen Band Young Fathers und im letzten Jahr die Einladung von Achille Mbembe ausgelöst hatten, haben nicht nur den Blick auf die Kunst verstellt. Sie waren auch eine schwere Belastung für die Ruhrtriennale. Dabei haben sie eigentlich nur ein größeres, weit

Bei „Der Untergang des Hauses Usher“ liegt der Schatten der Industrie­ vergangenheit über dem Bühnengeschehen. Foto Matthias Horn

über das Festival hinausweisendes Problem offen gelegt und einige essenzielle Fragen aufgeworfen. Welche Rolle spielen persönliche Haltungen und das politische Engagement einzelner Künstler für Häuser und Festivals, die sie einladen? Oder anders gefragt, ist unsere Gesellschaft an einem Punkt angekommen, an dem sie nur noch Werke und Ideen von Menschen akzeptiert, die bestimmte politische und gesellschaftliche Normen einhalten? Bedauerlicherweise sind diese im gegenwärtigen intellektuellen Klima ebenso umstrittenen wie notwendigen Fragen in der aufgeheizten und in Teilen tendenziösen Kontroverse um Stefanie Carp weitgehend untergegangen. Statt einer thematischen Auseinandersetzung kam es zu Scharmützeln um Personalien. Indem Barbara Frey in ihrer ersten Arbeit für die Ruhrtriennale das Besondere, teilweise sogar Einzigartige der industriellen Spielstätten derart akzentuiert, setzt sie ein sehr deutliches und auch sehr kraftvolles Zeichen. Das Festival kehrt mit ihr zu seinen Ursprüngen zurück, zu Inszenierungen, die man in Gedenken an Gerard Mortier, den Gründungsintendanten der Ruhrtriennale, als „Kreationen“ beschreiben könnte. Arbeiten, die den Ort, an dem sie entstehen, aufgreifen und nicht kaschieren und dabei noch die Grenzen zwischen den einzelnen Genres und Formen verflüssigen. Genau diesem Ansatz folgt Barbara Frey mit „Der Untergang des Hauses Usher“. In den ersten zwanzig Minuten ihrer Inszenierung schlagen zwei Pianisten an ihren Konzert­ flügeln parallel die gleichen Akkorde an und arbeiten sich so durch die gesamte Klaviatur, von den schrill-spitzen hohen Tönen zu den dräuenden tiefen Tönen. Es ist ein langer, bewusst enervierender Gang von einem Extrem zum anderen, wobei beide von Unheil und Schrecken künden. Frey etabliert so nicht nur eine Atmosphäre des Unheimlichen, die mit Poes Prosa korrespondiert und den Weg des Abends zwischen Wahnsinn und Tod antizipiert. Sie lässt dem Publikum zugleich auch Zeit, die Welt dieser Halle und die Welt ihrer Inszenierung in sich aufzunehmen. Die Radikalität dieses (Neu-)Anfangs schwebt sowohl über der Inszenierung, die Poes wohl berühmteste Erzählung mit einigen anderen seiner Werke verschneidet, als auch über dem ­gesamten Festival. Das heißt allerdings auch, dass sich beide, ­Inszenierung und Festival, an dem Versprechen dieser ersten 20 Minuten messen lassen müssen. Wie ihre Adaption von James Joyces „Die Toten“, die Frey am Ende ihrer Intendanz am Schauspielhaus Zürich inszeniert hat und die im Rahmen der Ruhr­ triennale als Gastspiel in der Bochumer Jahrhunderthalle zu ­sehen war, ist auch dieser Abend nach Edgar Allan Poe eine quasi in Zeitlupe ablaufende Geisterbeschwörung. Von dem Moment

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Radikale Zärtlichkeit: Mette Ingvartsen setzt dem DokumentartheaterStoff mit „The Life Work“ eine beruhigte Bewegungschoreografie entgegen. Foto Katja Illner

an, in dem das sechsköpfige Ensemble eng aneinander gedrückt von der Seite auftritt und sich im Gänsemarsch durch die Weite der Maschinenhalle bewegt, herrscht ein Ton höchster Künstlichkeit. Frey sucht nach einem schauspielerischen und choreogra­ fischen Äquivalent zu Poes Sprache, die sich immer wieder in Adjektiv-Kaskaden über den Leser ergießt, und findet es in artifiziellen Gesten und manierierten Posen. Das ist reizvoll, weil es das Ensemble vom Zwang realistischer Darstellung befreit und alle direkt aus den Tiefen des Unbewussten schöpfen können, ­verführt aber auch zu Exzessen wie Michael Maertens Auftritt, in dem er als C. Auguste Dupin, der Detektiv aus Poes Kurzgeschichte „Der Doppelmord in der Rue Morgue“, auf höchst outrierte Weise über das Wesen von Scharfsinn doziert und dabei sich und Poes Text der Lächerlichkeit preisgibt. In Momenten wie diesem schlägt Freys radikaler Formwille in eine kunstgewerbliche ­Anstrengung um. Noch radikaler als Barbara Frey geht Florentina Holzinger zu Werke. „A Divine Comedy“, ihre neue Performance, die Motive aus Dantes „Göttlicher Komödie“ aufgreift, war wohl die Produk­ tion des diesjährigen Festivals, die mit der größten Spannung

e­ rwartet wurde. Und zumindest in einer Hinsicht wurden diese ­Erwartungen auch nicht enttäuscht. Denn die enormen Ausmaße der Duisburger Kraftzentrale haben Holzinger die Möglichkeit eröffnet, ein wahrhaft zirzensisches Spektakel zu inszenieren. Ein Spektakel, in dem sie ganz ihrer Lust an Tabubrüchen frönen kann. Allerdings bricht der Abend ausgerechnet unter der Last sich ständig überbietender Show- und Provokationsnummern in sich zusammen. Was auch immer an kritischen, unsere Zeit und das Theater reflektierenden Überlegungen in diese von Dante inspirierte Reise durch die Hölle, das Fegefeuer und den Himmel geflossen sein mag, verflüchtigt sich schon bald in sportiven ­Anstrengungen, Kunstnebelschwaden und aktionistischem Blutund Farbgekleckse. Die Bilder sind groß und raumgreifend, zerplatzen aber schneller als Seifenblasen. Wenn Barbara Freys erste Ruhrtriennale so etwas wie ein Leitmotiv hatte, dann war es das Unheimliche. Es war in Holzingers Show, in deren Zentrum eine hypnotisierte Performerin als Wiedergängerin Dantes stand, ebenso präsent wie in „Bählamms Fest“, Olga Neuwirths „Musiktheater in 13 Bildern“, das von dem britischen Regieduo Dead Centre als ironisches Schauerspiel inszeniert wurde. In einem an englische Moor- und Heidelandschaften erinnernden Bühnenbild lassen Ben Kidd und Bush Moukarzel neben (Frauen-)Mördern und Werwölfen auch noch monströse Superhelden auftreten und holen das von Neuwirth vertonte und von Elfriede Jelinek zugespitzte Schauermärchen Leonora Carringtons in unsere popkulturelle Gegenwart. In schillernden Videoprojektionen beschwören sie weibliche Albträume und männliche Allmachtsfantasien herauf und huldigen zugleich Carringtons surrealen Bildwelten, in denen die Gespenster des Patriarchats und die Monster der (Schauer-)Romatik Hand in Hand gehen. So ist ein eindrucksvoller, bewusst brüchiger Stil- und Genremix ­entstanden, der in seiner Darstellung einer monströsen Familie einen bemerkenswerten satirischen Biss entwickelt. Um den Horror, der auch ein Teil der Kleinfamilie sein kann, dreht sich auch Gisèle Viennes französischsprachige Perfomance „L’étang / Der Teich“, die auf einem kurzen Drama Robert Walsers basiert. Fritz hat das Gefühl, von niemandem geliebt zu

MARKUS&MARKUS THEATERKOLLEKTIV DIE BRIEFFREUNDSCHAFT PERFORMANCE NOVEMBER 10 11 12 13

TICKETS SOPHIENSAELE.COM FON 030 283 52 66 SOPHIENSTR. 18 10178 BERLIN


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werden, weder von seinen Eltern noch von seinen Geschwistern. Also inszeniert er seinen Selbstmord in einem Teich und beobachtet dann, wie seine Familie reagiert. Vienne verwandelt diese dramatische Skizze zusammen mit den beiden Schauspielerinnen Adèle Haenel und Ruth Vega Fernandez in ein unheimliches Porträt elterlicher Gewalt und kindlicher Verlorenheit. Ganz langsam bewegen sich die beiden Performerinnen durch einen kalten weißen Raum. Dazu erklingen verstärkt und verzerrt die Geräusche, die sie dabei machen. Alles in dieser reduzierten Familienaufstellung ist beängstigend und verstörend. Fritzʼ Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung ebenso wie die gläserne Härte und Kälte der erwachsenen Figuren. Adèle Haenel und Ruth Vega Fernandez spielen zwar keine Gespenster, aber ihr so präzises wie artifizielles Spiel erschafft Menschen, die unter dem Druck der bürgerlichen Verhältnisse praktisch alles Menschliche verloren haben. Die wohl radikalste Arbeit dieser Ruhrtriennale war zugleich auch die leiseste und zarteste. Für „The Life Work“ hat die Choreografin Mette Ingvartsen eine Art japanischen Garten ins Folkwang Museum hineingebaut. Durch diese Landschaft, die Künstliches und Natürliches auf vertraute und zugleich unver-

Das Unheimliche als Leitmotiv: In „Bählamms Fest“ werden weibliche Albträume und männliche Allmachtsfantasien in einer Moorlandschaft beschworen. Foto Volker Beushausen

traute Weise verknüpft, bewegen sich gemessenen Schrittes vier ältere Damen, die schon vor Jahrzehnten aus Japan nach Deutschland gekommen sind. Während vom Band ihre Geschichten erklingen, gehen sie meist meditativen Tätigkeiten nach. Nur ­ wenn traditionelle japanische Lieder erklingen, singen sie live mit. Die Musik führt sie für Momente zurück in der Zeit, in ein anderes Land und ein anderes Leben. Ihre Erzählungen von Japan und Deutschland, von Alltäglichem und Weltveränderndem, von ­Fukushima und Corona, von Atombomben und familiären Konflikten sind klassischer Dokumentartheater-Stoff. Aber Mette Ingvartsen verweigert sich den typischen Mustern des Genres und setzt ihnen eine wundervolle, gänzlich unspektakuläre Bewegungs­ choreografie entgegen. Wie die ersten 20 Minuten von Barbara Freys „Der Untergang des Hauses Usher“ ist auch „The Life Work“ eine Entdeckung der Langsamkeit und der Kraft, die in ihr liegt. //

NEXT CULTURE #4 Die Welt ist veränderbar Symposium für rassismuskritische Haltung, Solidarität und Weltverbesserung KINDERKINDER Sanjay und sein Meister OTHER EUROPE Perspektiven auf Identität und Vielfalt Europas OLIVIA HYUNSIN KIM / DDANDDARAKIM Banana’s Back! ARIEL EFRAIM ASHBEL AND FRIENDS Delivered – The Moonstruck Salon URG L HAMB E G GOD’S ENTERTAINMENT Unter dem Teppich A N P KAM HAJUSOM Morgen Grauen. Welche Monster kommen noch? BENJAMIN VAN BEBBER / LEO HOFMANN A Singthing

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ATHENS EPIDAURUS FESTIVAL

„Wir sollten radikaler sein“ Über das Athens Epidaurus Festival 2021

von Ingo Starz

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ann man sich einen eindrucksvolleren Spielort vorstellen als das antike Theater von Epidauros? Und lässt sich ein anderer Platz finden, der ähnlich die Tradition des europäischen Theaters veranschaulicht? Das Athens Epidaurus Festival bespielt neben den beiden Theatern von Epidauros, das römische Odeion des Herodes Attikus in Athen und seit 2006 auf halber Strecke ein ehemaliges Industriegelände an der Peiraios 260. Das antike Theatererbe ist der unveränderliche Kern des Festivalprogramms. Das bestätigt auch eine Koproduktion mit der Schaubühne Berlin. Thomas Ostermeier brachte Anfang September in Epidauros zwar keine klassische Tragödie auf die Bühne, aber eine dem Genius Loci verpflichtete Neuschreibung des Ödipus-Mythos, verfasst von Maja Zade. Herausgekommen ist ein „ödipus“, der zu Recht kleingeschrieben ist. Die Geschichte um eine Industriellenfamilie mit Ferienvilla in Griechenland enthält zwar alle notwendigen dramaturgischen Parallelen, Zades Text zerredet aber Sachverhalte und lässt einen originären Ton oder metaphorische Sprachkraft vermissen. Der Mythos bleibt erkennbar, verliert aber weitgehend seine existenzielle Bedeutung. Da hilft es wenig, dass Jan Pappelbaums Bühnenraum an die Urformen von Haus und Herd erinnert und Caroline Peters als Christina (alias Iokaste) ein paar gute Momente hat. Dieser neue „ödipus“ ist nicht nur für das antike Theater von Epidauros zu klein dimensioniert. Und zu ­füllen vermag er das weite Theaterhalbrund erkennbar nicht. Katerina Evangelatos, die seit September 2019 das Festival leitet, ist eine eloquente Gesprächspartnerin, die ihre Sache mit Herzblut vertritt. Die Frage, ob das antike Erbe die DNA des Festi-

27./28.11.

Bitte nicht schütteln! Konfliktscheues Musik-Theater Theater Winkelwiese Zürich

1./3./5.12. 3./4.12.

vals bilde, bejaht sie sofort. Und sie fügt hinzu, dass ihr die Pflege und Fortschreibung dessen ein persönliches Anliegen sei. Evangelatos, die Tochter eines Theaterwissenschaftlers und Regisseurs, ist mit Hochkultur aufgewachsen und in eigenen Regiearbeiten durch sorgfältige Stückanalyse aufgefallen. Ihr Festivalprogramm widerspiegelt dieses dezidierte Interesse am Theatertext. Das macht ­einerseits die Auswahl der Regisseure für die Klassikeraufführungen in Epidauros deutlich, andererseits der neue Programmfokus „Contemporary Ancients“ mit vier Stückaufträgen sowie einer zugehörigen Buchreihe, welche die Werke in Originalsprache und englischer Übersetzung veröffentlicht. Schaut man auf eine der vier im Kleinen Theater von Epidauros präsentierten Uraufführungen überkommen einen jedoch Zweifel, ob eine Neuschreibung alter Stoffe wirklich zeitgenössische Dramatik befördert. „Phaedra on Fire“ von Amanda Michalopoulou gleicht eher einer TV-Soap denn einer Familientragödie. Wo ist das zeitgenössische griechische Theater abseits von Tradition und Neuschreibung? Die Frage beantwortet sich, wenn man die Spielorte an der Peiraios 260 aufsucht, wo neue Formen von Theater und Tanz zu Hause sind. Hier waren diesen Sommer Produktionen zu sehen, die verraten, wie es um das Gegenwartstheater in Griechenland bestellt ist. Drei Beispiele mögen als Antwort dienen. Die Theaterregisseurin und Schauspielerin Sofia Marathaki präsentiert die Stückentwicklung „The Forest“, die auf dem Roman „Barkskins“ von Annie Proulx basiert. Unter Einschluss der dokumenta­ rischen Theaterpraxis breitet Marathaki ein Panorama nordamerikanischer Geschichte aus, das von kolonialer Landnahme, Ausbeutung natürlicher Ressourcen und deren Folgen erzählt. In kurzen Szenen wird die Geschichte des Familienunternehmens Duke & Sons dargestellt, welches im vorrevolutionären Nordamerika startet. Marathakis Szenenfolge beginnt in der Gegenwart

verdeckt von Ariane Koch Kellertheater Winterthur

GO TELL von Junge Marie / Julia Haenni Heitere Fahne Bern

THEATER MARIE

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und arbeitet sich geschickt ins 18. Jahrhundert zurück, wo sich eine neu formierende Gesellschaft gleichsam auf Erbsünden gründet, deren soziale und ökologische Verwerfungen bis heute fortwirken. Baumstümpfe bestimmen den Bühnenraum, der ­einige sinnfällige Bilder hervorbringt. Die Figuren erhalten darin leider wenig Raum zur Entfaltung, das Geschehen bleibt stakkatound holzschnitthaft. Statt des dokumentarischen Einschubs, der griechische Gegenwart ins Spiel bringt, hätte man sich mehr erzählerische Ruhe und eine intensivere Figurenzeichnung ­ ­gewünscht. Geht Marathakis Blick zu den USA und globalen Fragen, zielt Pantelis Flatsousis’ „National Fashion Show“ auf der Griechen Kern: die Fustanella. Der weiße, gefaltete Männerrock, der die Wachsoldaten vor dem Parlament kleidet, entzückt Touristen und gemahnt die Hellenen an die revolutionären Anfänge des modernen Staats vor 200 Jahren. Die Fustanella gehört wie Acropolis und Ouzo zur griechischen Identität, obschon sie in verschiedenen Balkanregionen anzutreffen ist. Flatsousis hat mit seinem Team eine Recherche zum Kleidungsstück und dessen wechsel­ voller Geschichte unternommen. Das Resultat ist eine moderierte Modenschau, welche von der Zukunft des Jahres 2121 auf das einstige nationale Symbol blickt – einer Zukunft, in der die Nationen einem weltüberspannenden digitalen Empire gewichen sind. Die Fustanella wird zum Objekt kritischer Analyse und wechselnder Moden. Die Performer im Männerrock überwinden spielerisch die Grenzen von Geschlecht und Nation. Pantelis Flatsousis gelingt eine kluge Befragung griechischer Identität, ein interessanter ­Catwalk mit Schwächen in der Moderation. Anestis Azas schließlich verbindet in „The Republic of ­Baklava“ zwei Themen, die kaum aktueller sein könnten: die griechisch-türkischen Beziehungen und die jüngste Flüchtlingskrise. Azas und sein Team entfalten zusammen mit dem Autor Gerasimos Bekas ein Stück, das vom Handel mit Baklava ausgeht, der süßen Blätterteigpastete, welche in Südosteuropa wie im Nahen Osten zu Hause ist. Die Handlung berichtet von den negativen Erfahrungen eines türkisch-griechischen Ehepaars in der griechischen Provinz, von der nachfolgenden Ausrufung einer Republic of Baklava, der Aufnahme von Flüchtlingen und dem Scheitern des utopischen Projekts. Das alles ist gut erzählt und noch besser performt. Die Rollen- und Ortswechsel der vier Akteure kommen bildstark auf die Bühne, die dokumentarische Anmutung des ­Geschehens gewinnt schillernde Präsenz. Musik und Sound sind bedeutungsreiche, theatrale Bindemittel. Dieser Alltagsblick auf eine türkisch-griechische Ehe mag keine Tiefenbohrung sein, überzeugt aber im sprachlichen und gestischen Ausdruck. Die Öffnung der zunächst auf eine Familie konzentrierten Handlung hin zu einer politischen Aktion bleibt dramaturgisch blass, macht aber vor dem Hintergrund der historischen Migrationsbewegungen im Ägäisraum Sinn. Die Beispiele zeigen eine jüngere, kritische Generation von Theatermachern, die neugierig nach außen schaut. Das deutschsprachige Theater ist dabei eine zentrale Referenz. Umgekehrt findet die griechische Szene bislang nur wenig internationale Beachtung, wessen sich Katerina Evangelatos bewusst ist. Sobald die Unsicherheiten der Corona-Pandemie gewichen sind, will sie mit den Vorbereitungen für einen Showcase ausgewählter griechi-

Anestis Azas verbindet in „The Republic of Baklava“ die griechischtürkischen Beziehungen und die jüngste Flüchtlingskrise. Foto Vasia Anagnostopoulou

scher Produktionen beginnen. Neben einem ganzjährigen Educationprogramm für junge Theaterleute und einer vermehrten ­Anzahl von Koproduktionen soll diese Bestenlese für Aufmerksamkeit im Ausland sorgen. Reicht dies aus, um das griechische Theater fit für die Zukunft zu machen? Der Mittdreißiger Pantelis Flatsousis würde diese Frage wohl verneinen und auf Mängel im System und die ökonomische Abhängigkeit der Theater vom Markt verweisen. Er hat „Im Herzen der Gewalt“, die zweite Schaubühnenproduktion am Festival gesehen und schwärmt von der Meisterschaft des Erzählers Thomas Ostermeier. Das deutschsprachige Theater ist für ihn wie andere Kollegen eine antreibende Kraft, eine Ermunterung: „Wir sollten radikaler sein.“ //

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PHOENIX-THEATERFESTIVAL ERFURT

Wie Phoenix aus der Asche Schauspiel für die Thüringer Landeshauptstadt? von Anna Volkland

hierfür selbstorganisiert arbeitenden Bürger*innen hat längst begonnen: Das städtische Haus konnte – als Symbol der Hoffnung in dunkler Zeit – im Dezember 2020 endlich gekauft werden, Genossenschaftsanteile von bald einer Million Euro sind gesammelt, die Umbaupläne beschlossen. Schauspiel soll hier zukünftig wie  as 2003 von der Stadt Erfurt aufgegebene Schauspielhaus wird zum genossenschaftlichen KulturQuartier und Montavons Musikthea­ der stattfinden – in Form von Gastspielen, innerhalb eines bunten Kulturprogramms. Angesichts von Hoffnungen auf ein neues terhaus zum Transformationsprozess gebeten, junge Theaterschaffende tauchen auf, und Grundsatzfragen zur Zukunft des öffentlich subven­ städtisches Ensemble klingt das ernüchternd. Dennoch veranstalten im September 2021 die Schauspie­ tionierten Stadttheaters werden gestellt. lerin Anica Hapich, 2016 bis 2021 auch Kann ein einmal verlorenes Schauspielhaus Vorstandsmitglied des jemals wieder auf­ ensemble-netzwerks gebaut werden? Die e.V., und der Regisseur Geschichte, die hier Jakob Arnold, beide Initiator*innen des jun­ nur in Bruchstücken erzählt werden kann, gen ensemble-netzwerks, gemeinsam mit einem hat – optimistisch bekleinen Team ein viertrachtet – einen noch offenen Ausgang. Sie tägiges Theaterfestival innerhalb des drei­ beginnt in den 1990erJahren in der vielerorts wöchigen KulturQuartier Festivals im alten auf Kulturabbau fokusSchauspielhaus. Prosierten (ostdeutschen) Nachwendezeit, hat zu grammatisch heißt es „PHOENIX– rise up tun mit kulturpolitischer Ignoranz, Verfall Rauch über dem Balkon des ehemaligen Schauspielhauses – das PHOENIX-Theater­ from the pandemic!“, festival in Erfurt steht für Aufbruchswillen und eine Menge Fragen. und jahrzehntelang und im Kernprogramm Foto Anna Spindelndreier schlafenden Thea­ter­ präsentiert es vier immobilien, aber auch während der Pandemie produzierte Inszeeiner neuen Generation gestaltungswilliger Bürger*innen, einer bemerkenswert mitnierungen junger Theaterhochschulabsolvent*innen, teils zum ersten Mal mit einem live vor Ort anwesenden Publikum. Aber glieder- wie überzeugungsstarken Kulturgenossenschaft, aufbruchswilligen, stadtpolitisch engagierten Akteur*innen und mit diesem „Rise up“ ist noch mehr gemeint. ­beharrlichen Kulturinitiativen. Und zuletzt findet sich unter den Hier wird nicht auf einen staatspolitischen Auftrag zur Protagonist*innen auch eine hoffnungsvoll angereiste Gruppe ­Kultur- und Kunstproduktion gewartet – das verbindet die ehrenjunger Theaterschaffender, die – trotz, oder gerade wegen, der amtlich Engagierten des KulturQuartiers Erfurt e.V., die sehr viel Zeit, Energie und privates Geld in ihre Vision einer lebendigen physische Kulturräume so lange verunmöglichenden Pandemie – dem Schauspiel und einem experimentierfreudigen Theater offenen Stadt investieren, und die freischaffenden Theaterleute. Wobei Letztere nicht ohne öffentliche Gelder arbeiten können. wieder eine selbstbewusste Stimme geben will. Und zwar hier, in der Mitte Deutschlands, wo seit 2003 die einzige LandeshauptDer PHOENIX-Eröffnungsabend beginnt mit einem für ­Silvesternächte und Neujahrsmorgen typischen Schwefelgeruch, stadt ohne eigene Schauspielsparte ihr Theaterhaus am Rande der Innenstadt hinter hohen Bäumen verfallen lässt. eine rote und eine grüne Nebelkerze werden im Laufe des Fes­ tivals immer wieder angezündet – der Rauch kann symbolisch Oder besser: verfallen ließ. Denn der Umwandlungs­prozess in ein „Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft“ vereinendes, multifür vieles stehen: den Aufbruchswillen, den Neustart – und eine Menge Fragen. funktionales KulturQuartier Erfurt durch die seit vielen Jahren

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„Ob das Sprechtheater in Erfurt ­Allerdings wurde im März 2021 eine Chance haben wird, ist noch ein Stadtratsbeschluss zum „Trans­ nicht gewiss“, wird die erste formationsprozess Theater Erfurt“ Rednerin des Abends, Kultur­ durchgesetzt: Für wen und mit Quartier-Aufsichtsratsmitglied wem zukünftig welches Theater Inga Hettstedt eingestehen. Der gemacht werden soll, soll nun folgende Redner ist der Präsident ­diskutiert werden, auch mit Bür­ der Kulturpolitischen Gesellschaft ger*innenbeteiligung. Einfach wird und parteilose Dezernent für Kuldas nicht. Fast ein Viertel der Thürintur und Stadtentwicklung der Landeshauptstadt, Dr. Tobias Knobger Wähler*innen entschied sich am 26.09. für ein Kreuz bei der lich, der – ginge es nach ihm, und nach ihm allein geht es nicht – rechtsextremen AfD – sie dürften sich kaum ein „Theater als Demoeine feste Schauspielsparte wieder in Erfurt installieren wollen würde, kratieraum“ wünschen. Bereits jetzt droht auch die AfD beständig, so sagt er. Und fügt im gleichen Satz ungelenk vage hinzu: „oder dem Erfurter Opernprogramm die Mittel zu kürzen – so etwa im Febman muss auch offener denken“. Offener gedacht hat man in ruar 2020, als Zitate von Höcke und Hitler auf den Pausenvorhang Erfurt schon 1997, als u. a. die regierende CDU befand, um ­ der „Lohengrin“-Premiere projiziert wurden (die auf dem Blog des Schauspielproduktionen zu erl­e­ Theaters Erfurt noch nachzulesen ben, könne man ja auch flugs ins Die Schauspielerin Anica Hapich und der Regisseur Jakob sind). Die Akteur*innen des Kulbenachbarte Weimar fahren, das Arnold sind Initiator*innen des Festivals in Erfurt. Sie sehen mit dem DNT ein traditions­ turQuartiers Erfurt, die unabhänErfurt als kraftvolles Zentrum des Theaternachwuchses. gig von Parteibeschlüssen und im reiches Mehrspartenhaus besitzt. Foto Anna Spindelndreier solidarischen Geist zu agieren Dessen ungeachtet – denn Musiktheater und Orchester gab es versuchen, betonen die guten ­ ebenfalls nebenan –, baute man Beziehungen zu vielen Mitarbei­ ­ ein neues gläsernes Opernhaus, dessen Kastenform von Anfang an ter*in­nen des Theaters Erfurt. Es geht ihnen um breite bunt-gol­ mehr Modernität versprach als der für dessen Leitung engagierte dene Bündnisse, die sie in die Stadt und Region hinein pflegen. Generalintendant Guy Montavon jemals einzulösen gebeten worAber die Politik solle nicht aus der Verantwortung entlassen werden war. Genannt wird es – Achtung, V-Effekt! – „Theater Erfurt“, den, Kunst und Kultur zu fördern, betont Tely Büchner, Vorstandsgeboten wird vor allem ein glanzvolles Opern-, Operetten- und Konmitglied des KulturQuartiers Erfurt – und u. a. Geschäftsführerin der Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Erfurter Stadtrat. zertprogramm mit dem sommerlichen Höhepunkt der Domstufenfestspiele, dessen Publikum 2018/19 gut ein Drittel der Gesamt­ Das wie ein Pop-up-Store konzipierte PHOENIX-Theaterfesbesucher*innenzahl ausmachte. tival sammelte seine Gelder aus verschiedenen Quellen. Präsentiert wurde zeitgenössisches Schauspiel bzw. musikalisches Physical the­ Das Haus beansprucht jährlich elf Millionen Euro des mageren städtischen Kulturetats, bei einem Gesamtetat von 26 Milliatre mit Musiker*innen – und mit Darsteller*innen, die sich selbst ihr Thema gesucht und eine jeweils eigene Text- und Aufführungsonen Euro, während die programmatischen Ambitionen Montavons seit nun mehr fast zwanzig Jahren in der „Entdeckung form gefunden hatten: Katharina Kurschat (Frankfurt a. M.) fragte vergessener Opernwerke des 19. Jahrhunderts“ bestehen. Für wen in einer virtuos Sprache, Tanz, Musik und Bild verbindenden Arbeit wird hier produziert? über Ada Lovelace, wem die fantastische Intelligenz der AlgorithSeit Sommer 2020 wird die Frage nach der Zukunft des men heute dienen muss; Elina Brams Ritzau (Essen) performte charismatisch und wandlungsfähig in einem queeren Konzert wil­Theaters Erfurt verstärkt öffentlich und auf kulturpolitischer Ebene in der Stadt kritisch diskutiert, „Debatte um Wiedereinführung des des Begehren; Nicolai Gonther (Frankfurt a. M.) folgte in seiner „Killdozer-Operette“ einem Selbstjustiz in Gottes Namen übenden Schauspiels“ nennt das der Mitteldeutsche Rundfunk sogar. Aber auch hier geht es um mehr. In einem offenen Brief der SKV Erfurt, weißen US-Amerikaner. Die Bochumer Regiearbeit von Constanze Hörlin zeigte Schnitzlers „Reigen“ mit Maike Elena Schmidt und die die freie (!) Kulturszene der Stadt vertritt, heißt es: „Aus unserer Sicht agiert das Theater Erfurt zu sehr als geschlossener Raum […]. Helge Salnikau im genderfluiden Rollenwechsel und bewies, dass In Anbetracht der rechtsextremistischen, demokratiefeindlichen Sexszenen ohne male gaze vielfältig, humor- und lustvoll gespielt und intoleranten Stimmen in Politik und Zivilgesellschaft“ komme werden können. Die Vorstellungen hinter und vor dem Eisernen der kulturellen Bildung höchste Bedeutung zu. Es brauche „DebatVorhang waren an allen Tagen ausverkauft, das Publikum alters­ ten zu der Definition dessen, was wertvolle Kunst und Kultur sind“. mäßig gemischt und im Applaus beeindruckend stürmisch – fragDie nochmalige Verlängerung der Amtszeit Montavons los auch ein Effekt des Besonderen, den die kurz wiederbelebte, lange verlassene Theaterbühne mit sich brachte. // auf dann ein Vierteljahrhundert konnte nicht verhindert werden. .

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Look Out

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Von diesen Künstler*innen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Der Reiz des Unausgesprochenen Als Grenzgängerin zwischen bildender Kunst, Literatur und Theater ist Amanda Lasker-Berlin erfolgreich

A

ls das Geiseldrama in Gladbeck im Sommer 1988 die Menschen in ganz Deutschland in Atem hielt, war Amanda LaskerBerlin noch nicht geboren. In ihrem Theaterstück „Ich Wunderwerk und how much I love Disturbing Content“ gewann sie damit bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater in Berlin einen der Preise. In dem Stück setzt sich die 27-Jährige mit der Macht der Medien auseinander, die nach Schlagzeilen gieren und so zu Mittätern werden. Das Fernsehpublikum heizt diese Jagd nach Sensationen an, macht sie erst möglich. „Ich, die nichts anderes mag als flimmernde Bildschirme“ ist eines der Leitmotive in der Szenenfolge. In ihre Sprache brennen sich Emotionen ein. Aufgewachsen in GladbeckRentfort, war die Autorin seit frühester Jugend mit den Erinnerungen an die Geiselnahme konfrontiert. Sie schreibt von dem Mörder mit den glatt gebügelten Hemden, von der Angst der Menschen in den schrecklichen Stunden der Gefangenschaft in einem Linienbus. Bis heute haben sich die Fotos von damals ins kollektive Gedächtnis gebrannt. In ihrer sinnlich bewohnten Wortwahl erfasst die Künstlerin Bilder, Klänge und Gerüche in dem Stadtteil Rentfort. Da ist sie aufgewachsen, spricht von Pizza Rentfort, „der es mit der Sauce Hollandaise“ übertreibt: „Wenn ich ehrlich bin, mag ich übertreiben.“ So entwirft sie das Bild eines Stadtteils, der nicht zur Ruhe kommt. Als Grenzgängerin zwischen bildender Kunst, Literatur und Theater hat sich Amanda Lasker-Berlin konsequent entwickelt. Nach einem Studium der Freien Kunst an der Bauhaus-Univer­ sität in Weimar studierte sie an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg Regie. Seit frühester Jugend schon ist das Theater ihre Leidenschaft. Bei ihrem ersten selbst geschriebenen Theaterstück „Wolkenkratzer 1988“ hat sie selbst Regie geführt und das ganze Drumherum organisiert. Mit ihrer natürlichen ­Autorität und ihrer freundlichen Art fällt es ihr leicht, Menschen zu begeistern und zu motivieren. „Einen Text auf die Bühne zu

bringen, das hat mich immer herausgefordert.“ Deshalb war es für sie schlüssig, das Regiehandwerk zu erlernen. Zugleich ist das Schreiben ihre Triebfeder geblieben. Wer ihre Romane liest, ist nicht nur berührt von der Sprachkraft, von den feinen Charakterzeichnungen, die der jungen Künstlerin da gelingen. Es sind Porträts von großer Reife. In ihrem ersten Roman „Elijas Lied“ erzählt sie die Geschichte dreier Schwestern, die ungleicher nicht sein könnten. Knapp zusammengefasst, geht es um Ausgrenzung, um das Leben mit einer Behinderung und um das Abdriften ins rechte Milieu. Doch Amanda Lasker-Berlins Themen sind weit größer. Sie erzählt von der Sprachlosigkeit in einer Zeit, die in der Reizüberflutung zu ertrinken droht. Diese Momente des Innehaltens machen den Reiz ihrer Texte aus. Auch die politische ­ Dimension denkt sie mit. In „Iva atmet“ steht zwar ebenfalls eine Fami­ liengeschichte im Vordergrund. In der Biografie der Großmutter aber arbeitet sie die Kolonialgeschichte der Großmutter in Deutsch-Südwestafrika auf. In der Corona-Pandemie hat die junge Künstlerin ihre Abschluss­ inszenierung gemacht, da wählte sie Herta Müllers „Atemschaukel“. Das Proben auf Abstand, die erschwerten Bedingungen in der Theaterarbeit hat sie überwunden, weil das junge Team Wege fand, gemeinsam zu proben. Dass die Arbeit am Ende nur digital gezeigt werden durfte, bedauert sie sehr. Die Sprache der Literaturnobelpreisträgerin habe ihr eigenes Schreiben inspiriert. „In meiner Inszenierung ging es darum, Bilder zu finden, die den Klang der Worte erfassen – ebenso wie das Schweigen.“ Die faszinierende Sprachkunst Herta Müllers übersetzt ­Lasker-Berlin mit ihren jungen Kolleginnen und Kollegen aus dem Schauspiel-Studiengang in starke Bilder. Mit vergilbten Stoff­ bahnen bewegen sie sich über die Bühne, erzählen die Geschichte des 17-Jährigen aus Siebenbürgen, der ins Arbeitslager in der Sowjet-Ukraine deportiert wurde. Tiefgründig und reif ist diese Regiearbeit, die den Schmerz der Geschichte in Bilder, in Klänge und vor allem in große Gesten der Stille fasst. // Elisabeth Maier Amanda Lasker-Berlin. Foto Nora Battenberg-Cartwright

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Look Out

/ TdZ  Oktober   /  / November  2021 2021

„Heart of a beginner“ Die Münchner Schauspielerin Nina Steils liebt es, sich selbst zu überraschen

ina Steils steht nicht gerne im Mittelpunkt. Schon gar nicht als Nina Steils. „Bloß nicht!“, grinst die 29-Jährige, die in ihrem ersten Engagement nach dem Schauspielstudium am Mozarteum Salzburg gehofft hatte, „erst mal schauen zu können, was die anderen machen und vielleicht mal einen Briefträger zu spielen“. Im jungen Ensemble des Münchner Volkstheaters aber muss jede*r sofort Verantwortung übernehmen. Seit 2017 hat Steils so 17 Rollen und fast ebenso viele Regiehandschriften kennengelernt und konnte doch oft im gut durchrhythmisierten Ganzen untertauchen, das überraschend viele Abende ins Zentrum stellten. Ob sie nun in der von Christina Tscharyiski inszenierten Oktoberfest-Gaudi „Am Wiesn­ rand“ von Stefanie Sargnagel als einer von fünf maskierten und wattierten Flöhen auf einem Riesenbierbauch herumsprang oder in Maya Arad Yasurs „Amsterdam“ (Regie: Sapir Heller) Teil eines tänzerisch-akrobatischen Vexierbildes war. Und doch funkelte stets auch die pulsierende Sensibilität heraus, die jede Steils-Figur besitzt. Als einsamer Mensch unter lauter Horror-Figuren starb ihre Elisabeth in Christian Stückls HorváthAbend „Glaube Liebe Hoffnung“, der sie am Ende als Zombie wiedersah. Schrill kann sie nämlich auch. Im Frida-Kahlo-Kostüm den Blur-Hit „Song 2“ zur Unkenntlichkeit zerbrüllen? „Woohoo“! Kein Problem! Diese gewisse Zartheit bleibt ihr selbst dann. Steilsʼ bisherige Paraderolle aber ist die stille Herta in Werner Schwabs Wirtshausgroteske „Übergewicht, unwichtig: Unform“: ein manisch kaugummikauendes Hascherl, das plötzlich von innen heraus zu leuchten beginnt. Wie spielt man eine, der der Text Dauerprügel verordnet, unter den zur Premiere im Mai noch harten Corona-Auflagen? Daran hätten sie und Vincent Sauer, der den Kalli spielt, sich in Abdullah Kenan Karacas Inszenierung langsam herangetastet; er an das Schlagen, sie an das Geschlagenwerden nur mit Worten und der entsprechenden Haltung.

Nina Steils. Foto Gabriela Neeb

N

Alles andere als tastend verlief der Weg der gebürtigen Traunsteinerin ans Theater. Als ihr nicht besonders kulturaffiner, aber „superaufmerksamer“ Vater der Siebenjährigen einen Theaterkurs vorschlug, war die gleich „ganz fanatisch“. Ab der achten Waldorfschul-Klasse war alles „final entschieden“, auch wenn dank vieler Tanz- und Gesangsstunden zunächst das Musicalfach winkte. Steils verdingte sich als „Singing Waitress“ in Alfons Schuhbecks Teatro, spielte im Musical „Grand Hotel“ am Münchner Gärtnerplatztheater und tingelte mit einer Wanderbühne durch die bayerische Provinz, wo die Kollegen wussten, dass man Schauspiel auch studieren kann. An der Otto Falckenberg Schule schaffte es ihre Bewerbung immerhin in die zweite Runde. „Ich wurde aber auch ein bisschen ausgelacht. Während meine Mitbewerber im Warteraum ganze Stücke analysierten, wusste ich nicht mal, woher mein Monolog ist.“ Jetzt lacht Nina Steils selbst – ein reizendes, gluckerndes Übersprungslachen. Nein, eine intellektuelle Schauspielerin sei sie nicht, sie reagiere eher intuitiv auf die Situation und die Kollegen. Ihr „heart of a beginner“ sei schnell zu begeistern, sie powere sich gerne aus – und am liebsten überrasche sie sich selbst. „Wenn ich nachdenke, warum meine Rollen oft so anstrengend sind, muss ich mir eingestehen, dass es meistens meine eigene Idee war.“ Sie mag Figuren, die möglichst weit weg von ihr selbst sind – und gerne klein: „Wenn ich denken müsste, das könnte mein Abend werden, ich glaube, da würde alles zumachen“. Keine Gefahr bei der Rolle der Margarita Iwanowna Pereswetowa, die sie demnächst in Nikolai Erdmanns postrevolutionärer Satire „Der Selbstmörder“ spielt. Eine Figur der Marke Bei-Streichungen-Übriggeblieben, die sich aber, schmunzelt Steils, langsam fülle. Gut möglich also, dass es trotzdem ihr Abend wird. // Sabine Leucht „Der Selbstmörder“ (Regie: Claudia Bossard) hat am 6. November im brandneuen Münchner Volkstheater Premiere. Dort ist Nina Steils aktuell in mehreren Produktionen zu sehen.

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/ TdZ November 2021  /

blick wechsel INTERNATIONALES FIGUREN THEATER FESTIVAL

16.11. BIS 20.11. 2021

16.03.  BIS 19.03. 2022

b e s t e f r e u n d e  e i n  g a n z e s jahr

22.06.  BIS  25.06. 2022

Gefördert durch:

Unterstützt durch:

Ausschreibung für Autorinnen des Jugendtheaters

KATHRIN-TÜRKS-PREIS 2022 Die Burghofbühne Dinslaken lobt gemeinsam mit der Niederrheinischen Sparkasse RheinLippe und der Stadt Dinslaken den Kathrin-Türks-Preis 2022 aus. • Der Preis ist mit 5.000 Euro dotiert und beinhaltet die Uraufführung (inkl. regulärer Tantiemenregelung) im Folgejahr. • Der Preis richtet sich ausschließlich an Frauen. • Das Stück soll sich an Jugendliche ab 12 Jahren richten. • Das Stück muss frei zur UA bzw. DSE sein

Senden Sie bitte bis zum 15. November 2021 sechs gedruckte Exemplare des Manuskripts ohne Autorinnenkennung, ein separates Titelblatt mit Autorinnenkennung, ein digitales Exemplar des Manuskripts im PDF-Format (per mail an: scherer@burghofbuehne-dinslaken.de) und eine kurze Vita an: Burghofbühne Dinslaken KTP 2022 Gerhard-Malina-Straße 108 / 46537 Dinslaken


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Designkonzept: www.jungkommunikation.de

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Wissenschaft trifft Kunst EINE KOOPERATION DER EXPERIMENTA UND DES THEATERS HEILBRONN

JETZT TS TICKE ! N R E SICH

17. BIS 21.11.2021 MEHR INFOS UNTER WWW.SCIENCE-THEATRE-FESTIVAL.DE

Das ID_Tanzhaus Frankfurt Rhein-Main ist ein Projekt von ID_Frankfurt e.V. Unterstützt durch DIEHL+RITTER/TANZPAKT RECONNECT, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen der Initiative NEUSTART KULTUR. Hilfsprogramm Tanz

13.11.2021

WWW. IDTANZHAUSFRM. DE

Berlin

4.11.

Alle Termine der Freien Tanzszene in Frankfurt Rhein-Main im ID_Tanzkalender

Theater der Dinge

Schaubude

Internationales Festival des zeitgenössischen Figuren– und Objekttheaters Gefördert von www.schaubude.berlin


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Auftritt Dresden „Asphalt“ von Tobias Rausch  Heilbronn „Hawaii“ (UA) Nach dem Roman von Cihan Acar. Für die Bühne bearbeitet von Nurkan Erpulat und Andreas Frane  Karlsruhe „Medea. Stimmen“ von Christa Wolf in einer ­Bühnenfassung von Anna Bergmann  Landshut „Die Wand“ von Marlen Haushofer  Regensburg „Peer Gynt (she/her)“ Maria Milisavljević nach Ibsen Stuttgart „Ökozid“ von Andres Veiel und Jutta Doberstein ­Wiesbaden „Wuhan – Die Verwandlung“ von Clemens Bechtel und Jan Neumann  Zürich „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt


auftritt

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DRESDEN Im Kreisverkehr voran STAATSSCHAUSPIEL DRESDEN / BÜRGERBÜHNE „Asphalt“ von Tobias Rausch Regie: Tobias Rausch

Die mit dem Auto verbundenen Emotionen,

kann sie sich bei einer der gemeinsamen

Leidenschaften, Absurditäten und Perversio-

Aktio­nen in der Mitte. Darunter eine Choreo-

nen vorzuführen, rechtfertigt aber den Ein-

grafie mit rot-weißen Absperrlatten, benutzt

satz. Im Programmheft schreibt Kurt Möser

wie Stabhochsprungstäbe oder Lanzen, denen

von den „Heimlichen Lüsten“, von der Illu­

die Spieler schließlich erliegen.

sion eines rationalen, zweckorientierten Auto-

Wochen nach dem einsetzenden Mega-

mobils. Zufällig lief wenige Tage vor der

Stau scheint die Lösung zu nahen. Die Insas-

Premiere Mitte September eine Fernseh-­ ­

sen steigen doch aus, schlagen Zelte auf der

Doku, in der einige Männer einräumten, ihr

Autobahn, also dem Neumarktpflaster, auf,

Klein­panzer habe etwas Phallisches.

werfen den Grill an, entdecken sich wieder.

Von „Roadtrip“, wie angekündigt, kann

Die Vernunft scheint über den Technizismus

indessen kaum die Rede sein. Man kommt,

zu siegen. Aber nein, plötzlich ruckelt die

Einsteigen bitte zum Autotheater! Ich erwische

wie immer häufiger auf den realen Roads der

Schlange doch ein paar Meter weiter, alles

einen SEAT Cupra im schwarzen Leichen­

Fall, ja nicht voran. Aber der Begriff des

stürzt wieder ans Steuer. Die Tankstellen sind

wagendesign. Ein erster prüfender Blick sagt:

­Weges spielt in den Texten häufig eine Rolle,

doch nicht ausgetrocknet, im zynischen Finale

Zu nichts nutze außer zum Schnellfahren, der

ebenso das Trendwort „Disruption“. Denn wir

wird vielmehr ein Bohrturmgerüst errichtet,

Tacho beginnt praktisch erst bei 160. Ein

stehen am Scheideweg, vor radikalen Verän-

das erneut Öl spuckt. Oder doch nur Wasser?

Paar Ski oder ein Fahrrad bekommt man hier

derungen auch unserer selbst und unserer

Es wird jedenfalls immer heißer, und „der

jedenfalls nicht unter. Er ist einer von 18

Mobilitätsgewohnheiten durch selbstgerufene

Asphalt steigt“. Man ziehe seinen eigenen ­

Neuwagen, die im Kreis auf dem Dresdner

Geister, die wir gar nicht loswerden wollen.

Schluss: Es geht immer so weiter! Oder: Es

Neumarkt warten. Die Verbindung nach drau-

Nur selten vermitteln die Bühnen­

ßen hält ein zusätzlicher Lautsprecher. Anzu-

bürger dieses mit dem erhobenen Zeigefinger,

stecken an einen jener 18 weiteren Wagen,

etwa bei einer verkehrsökologischen Vor­

die nun einen zweiten Kreis bilden, hupend,

lesung im Spielplatz der mit Sand gefüllten

fluchend, genervt, wie es sich im Stau gehört.

Schaufel eines Radladers. In der von Forsche-

Denn von diesem sich weltweit bilden-

rin Maike vorgeführten Zwangsmobilität und

den Mega-Stau erzählt die Zentralgeschich-

indirekten Stimulierung von mehr Autover-

te, vorgetragen von einem Podium im Mittel-

kehr erkennt man unschwer den Verkehrs­

punkt der konzentrischen Autokreise. Sie

ökologen Udo Becker von der TU Dresden,

beginnt scheinbar harmlos in einer Zeit, „als

der auch tatsächlich ihr Professor ist, wie

unsere Autos immer klüger wurden“, ihr

sich herausstellt. Solche Unterhaltungen, gar

Tempo drosselten und schließlich stehen

Interaktionen, sind nicht immer möglich,

blieben, um zu grübeln. Aber die Insassen

auch wenn man sich einmischen möchte.

konnten nicht aussteigen, Mensch und Auto

Manche Spieler lassen sich darauf ein, wenn

waren längst eine Symbiose eingegangen

an der Station noch etwas Zeit bleibt, andere

und voneinander abhängig. Wie es dazu

möchten ihr per Mikrofon übertragenes Solo

kam, erzählen die Szenen und Geschichten

hinter Autoscheiben konzentriert abspulen.

bleibt alles ganz anders. //

Michael Bartsch

HEILBRONN Kulturkämpfe zwischen Ein-Euro-Shops STADTTHEATER HEILBRONN „Hawaii“ (UA) Nach dem Roman von Cihan Acar Für die Bühne bearbeitet von Nurkan Erpulat und Andreas Frane Regie: Nurkan Erpulat Musikal. Leitung: Michael Haves Ausstattung: Gitti Scherer

der 19 Bürgerbühnenspieler im Außenkreis,

So sind beispielsweise die Berichte

die nervös jeweils ein paar Stationen weiter-

­einer leidenschaftlichen Reiseleiterin zu hören.

rücken. Ein durstiges Radler-Opfer im sport-

Möglichst nicht verpassen sollte man die Be-

lichen Kampfanzug springt außerdem in den

kenntnisse des mit „Entbeamtungen“ befass-

Suppenduft wabert über Heilbronn. In der In-

Lücken herum.

ten Verwaltungshirsches Wolfgang in seinem

dustriestadt produziert nicht nur die Firma

alten Daimler. „Ich liebe mein Auto, und

Knorr ihre Soßen. Arbeiterkultur hat da einen

Tobias

gleichzeitig hasse ich es!“ Er philosophiert

hohen Stellenwert. Und es gibt ein Stadtvier-

Rausch ungeachtet der mindestens mahnen-

über die Erotik von Kratzgeräuschen, die Äs-

tel namens „Hawaii“, dessen Ruf von Drogen

den und skeptischen Tendenz. Mit dieser ge-

thetik des Malheurs, die Vergänglichkeit. Sein

und Kriminalität geprägt ist. Das ist alles

nialen Idee der Auto-Spielkreise erfüllt er

Auto hängt voller Krawatten, andere sind mit

­andere als ein Sehnsuchtsort, wie der Name

sich einen langgehegten Wunsch. Der kostet

Grünpflanzen oder Landkarten vollgestopft.

suggeriert. Der Journalist Cihan Acar hat ei-

Es sei kein Stück für oder gegen das Auto,

betont

Bürgerbühnenleiter

Nach einem Crash kompensiert eine

nen Roman geschrieben, der die Risse in der

Sängerin auf dem Barkas-Abschleppwagen

Gesellschaft der schwäbischen Stadt offen-

ihre Nervosität mit Einsingübungen, während

bart. Dort leben Menschen aus 154 Natio-

der Fahrer dem nächsten Wagen etwas doziert.

nen. Das scharfe Zeitporträt des 257 Seiten

Bitte einsteigen ins Autotheater! Auf dem Dresdner Neumarkt inszeniert die Bürgerbühne mit „Asphalt“ einen Auto-Spielkreis.

Eine Mutter schildert sarkastisch den Urlaubs-

starken Romans hat der Berliner Regisseur

reisestress im Familienauto, während der „an-

Nurkan Erpulat nun am Theater Heilbronn

geheiratete Verwandte“ ausrastet. „Donʼt stop

zum ersten Mal auf die Bühne gebracht. Im

Foto Sebastian Hoppe

me now“, tönt es von Queen dazu. Auflockern

Zeitraffer zeichnet das junge Ensemble des

das Staatsschauspiel freilich einigen Aufwand, auch wenn Autohäuser sponsorten.

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auftritt

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Zwischen Müll und Drogenspritzen sucht Kemal nach einer eigenen Persönlichkeit. Bahadir Hamdemir fängt seine Wut und Verzweiflung in Videosequenzen ein. Foto Jochen Quast

allem mit Worten fügen diese Menschen sich Schmerz zu. Schwerblütig ist der zweieinhalbstündige Abend dennoch nicht. Dafür sorgt der musikalische Leiter Michael Haves mit seiner Band, die mit Pop- und Rockrhythmen Leichtigkeit in das gesellschaftliche Panoptikum streut. Wenn Regina Speiseder mit ihrer S ­ opranstimme den Hit „Mad World“ der britischen Band Tears for Fears ins Mikrofon haucht, schwingt darin der ganze Wahnsinn der zerrissenen Stadtgesellschaft mit. // Stadttheaters das Bild einer Stadt, in der

Die Perspektivlosigkeit in Cihan Acars Roman

Welten auseinanderklaffen.

zeigen Nurkan Erpulat und der Heilbronner

„HNX“ ist in riesigen, leuchtenden

Chefdramaturg Andreas Frane in Szenen, die

Lettern auf Gitti Scherers Bühne zu lesen.

sie griffig und karg aneinanderreihen. Die Dreh-

Daneben steht ein rotes Schrottauto. Damit

bühne macht schnelle Wechsel möglich. Das

lenkt die Ausstatterin in der Uraufführung

Szenario peitscht Kemal Arslan durch eine

den Blick auf die „Bronx“ der Großstadt, in

Welt, die ihm nur eine kriminelle Karriere

der rund 126   000 Menschen aus unter-

und Schlägereien zu bieten scheint. Gar zu kli-

schiedlichen Kulturen leben. In Acars schrof-

scheehaft zeichnet Erpulat die Szenen mit sei-

fem, sprachlich fast farblosem Roman liefern

ner Ex-Freundin Sina. In der Welt der reichen

sich nicht nur Gangs erbitterte Kämpfe. Die

Leute fühlt sich Kemal wie ein Aussätziger. Lisa

rechtsradikale Bürgerbewegung „Heilbronn,

Schwarzer zeigt ihre Rolle zu abstrakt, als dass

wach auf“ kämpft gegen die „Kankas“

die gesellschaftlichen Barrieren sichtbar wer-

(deutsch: Blutsbrüder). Dazwischen flaniert

den könnten. Insgesamt fehlt es der packenden

Kemal Arslan durch schmutzige Straßen, de-

Regiearbeit an politischer Tiefenschärfe.

ren Menschen um eine gemeinsame Identität

Stark zeigen Erpulat und das Heilbron-

ringen. Acar, der HipHop und Fußball liebt,

ner Ensemble dagegen die kulturellen Grä-

ist selbst in Heilbronn aufgewachsen.

Elisabeth Maier­

KARLSRUHE Ein politisch scharfkantiges Spiel um Macht STAATSTHEATER KARLSRUHE „Medea. Stimmen“ von Christa Wolf in einer Bühnenfassung von Anna Bergmann Regie: Anna Bergmann Bühne: Jo Schramm

ben, die die Menschen trennen. Nachdem

Gefangen in einem Glaspalast ringt die Kol-

Zwischen Müll und Drogenspritzen

seine Träume vom schillernden Leben als

cherin Medea um ihr Leben. Jason, der Held

sucht auch sein Protagonist nach einer eige-

Fußballstar zerplatzt sind, gerät Kemal Arslan

und Argonaut, hat sie aus ihrem zerfallenden

nen Persönlichkeit. Weil er sich bei einem

komplett aus der Spur. Tief verletzt dieses

Land entführt und ins reiche Korinth ge-

illegalen Autorennen verletzt hat, platzte sei-

Scheitern den Stolz des jungen Türken. Seine

bracht. Dort aber findet sie keine Heimat:

ne Karriere als Profi bei einem türkischen

Eltern sind über diese fehlende Zukunfts­

„Ich bin Medea, die Zauberin, wenn Ihr es

Erstligisten. Der junge Schauspieler Doğa

perspektive verzweifelt. Zlatko Maltar als

denn so wollt. Die Wilde, die Fremde. Ihr

Gürer spielt den jungen Mann aus einer

­Vater kauft ­seinem Sohn einen Job, zu dem

werdet mich nicht klein sehen.“ Größe und

­Migrantenfamilie, der seinen Platz in der Ge-

ihn Regina Speiseder in der Rolle der Mutter

Erhabenheit dieser starken Frauenfigur in

sellschaft sucht. Wut und Verzweiflung, aber

mit viel Feingefühl überredet. Schön arbeiten

der Mythologie hat Christa Wolf in ihrem

auch Unsicherheit strahlt er aus, wenn er

die Schauspieler da den Konflikt zwischen

­Prosatext „Medea. Stimmen“ 1996 radikal

durch die Straßen stromert. Die hat der

den Migranten-Generationen heraus. „Hawaii“

umgedeutet. Da ist sie nicht länger die F ­ urie,

­Videokünstler Bahadir Hamdemir in einem

ist auch die Geschichte einer gescheiterten

die ihren Bruder und die eigenen Söhne töte-

starken Filmszenario eingefangen, das über

Integration in eine Gesellschaft, die sich

te und dann die Tochter des Königs Kreon,

die drei Leuchtbuchstaben eingespielt wird.

gegen andere Kulturen sperrt. Weil sie in

die neue Frau ihres untreuen Mannes, ver­

Die schmutzige Atmosphäre von Hoch­

­diesem System nicht landen können, ziehen

giftete, wie das Euripides 431 vor Christus in

häusern und Ein-Euro-Shops, der ruhige Fluss

sich die Migranten in ihre eigene Welt zurück.

seiner Tragödie vorgab. Diese Medea darf

und die Leuchtreklamen spiegeln die wirre

Wie schnell diese Isolation in radikale Posi­

Mensch sein. Die Karlsruher Schauspielche-

Gedankenwelt des Protagonisten. Immer

tionen und in Gewalt münden kann, führt

fin Anna Bergmann hat den vielstimmigen

weiter spinnt er sich in seine No-Future-­

das ­Ensemble in den starken Kampfszenen

Text als politisch scharfkantiges Spiel um

Haltung ein.

vor. Nicht nur mit Schlägen und Waffen, vor

Macht inszeniert.


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Große Frauenfiguren: Anna Bergmann spielt mit Spuren der Geschichte und schafft doch eine zeitgenössische Medea-Interpretation. Foto Thorsten Wulff

Die gläserne Bühnenkonstruktion von Jo

Bergmann ist wie Christa Wolf in der ehema-

Schramm bannt Medea in eine enge Zelle.

ligen DDR aufgewachsen. Den Zerfall eines

Durch Scheiben ist sie von den anderen Men-

politischen Systems hat sie selbst erlebt.

schen getrennt. In Zeiten der Pandemie spie-

­Diese Zeiterfahrung spiegelt sie in den Film-

gelt diese Setzung die Isolation, unter der alle

sequenzen aus Medeas alter Heimat Kolchis,

leiden. Schramms Zellen nehmen den Men-

gedreht von Sebastian Pircher. Die über­

schen die Möglichkeit, sich zu berühren.

trieben farbtrunkene Ästhetik erinnert ebenso

­Suche nach der weiblichen Perspektive auf

­Allein die Sprache ist ihnen geblieben. Doch

wie die antiquierten Kostüme von Lane

das Theater der Gegenwart. Zwar bleibt

die Korinther zu verstehen, das fällt Medea

Schäfer und Wicke Naujoks an verstaubte ­

­Medea eine Fremde, eine Geflüchtete, doch

schwer. Nicht nur ihr schwarzes Haar und der

DEFA-Märchenfilme. Da macht der König

hält sie der kaltherzigen, auf Machtkalkül

dunkle Teint machen sie zur Außenseiterin.

Aietes, Medeas Vater und Herrscher von ­

­gegründeten Gesellschaft einen Spiegel vor.

Mit Gesten und Blicken ringt Sarah Sandeh

­Kolchis, eine unglückliche Figur, die André

Obwohl Anna Bergmann mit Spuren der

darum, verstanden zu werden. Ihr Balanceakt

Wagner mit viel Hintersinn dekonstruiert. Um

­Geschichte lustvoll spielt, ist ihre Medea ein

zwischen Kraft und Zerbrechlichkeit trifft ins

das Publikum mit den Eckdaten der Mytholo-

Kind unserer Zeit.

Herz. Die Kälte, die ihr Thomas Schumacher

gie vertraut zu machen, erscheinen die

als Jason entgegenschmettert, schmerzt. An

Helden der Antike im Zeichentrickfilm des ­

die gemeinsame Ebene anzuknüpfen, die

virtuosen Videokünstlers.

einst Liebe war, glückt beiden nicht.

Das Machtvakuum in der Zeitenwende

Dagegen gelingen Sandeh mit der

füllt Bergmann mit starken Frauen. Faszinie-

­Königstochter Glauke, anmutig porträtiert von

rend dreht die junge Swana Rode, einst

der Schwedin Frida Österberg, Augenblicke

­Medeas Schülerin, die Verhältnisse um, klam­

tiefer Liebe. Wenn die Frauen, die seit Euripi-

mert sich selbst an die Macht. Dabei ver­

des stets Feindinnen waren, einander an der

wickelt sie sich und andere in ein Lügen­

kalten Glasscheibe die Hände reichen, ist das

gespinst. Klug zeigt die Schauspielerin, wie

nicht nur schön. Beherzt fegen die zwei Spie-

diese falschen Wahrheiten zum Erfolg führen.

lerinnen Klischees von der wahnsinnigen

Den ersten Astronomen der Korinther Akamas –

Elisabeth Maier

LANDSHUT Maximaler Minimalismus DAS KLEINE THEATER LANDSHUT „Die Wand“ von Marlen Haushofer Regie: Sven Grunert Bühne: Helmut Stürmer

Kindsmörderin weg, wie sie die Medea-­ in Wolfs Text ein Mann – besetzt Bergmann Rezeption seit Jahrhunderten prägen. Diese

mit einer Frau. Sina Kießling legt ihre Figur

Interpretation schwingt in Bergmanns kom-

als kluge Ratgeberin an, die Menschen

Für die Theater müssen sich die Monate des

plexem Ansatz dennoch mit. Die Schauspie-

schnell durchschaut. Dagegen ist ihr Gegen-

zweiten Lockdowns angefühlt haben wie das

lerin und Opernsängerin Österberg singt drei

part Leukon, der zweite Astronom am Hofe,

permanente Anrennen gegen eine undurch-

Arien aus der Oper von Luigi Cherubini, die

bei Jannek Petri ein trunkener Liebender, der

dringliche Wand. Da wurden Proben abge­

das klassische Bild der Mörderin aufflammen

Medea verfallen ist.

halten und immer wieder neue Premieren­

lassen. Virtuos spielt die Regie mit Kontrasten.

Große Frauenfiguren findet das Ensem-

termine angesetzt, doch die Rückkehr zum

Trotz tiefer, poetischer Momente ist die

ble in Christa Wolfs sprachstarker Umdeu-

Spielbetrieb musste angesichts nicht ab­

Karlsruher Inszenierung vor allem ein Spiel

tung des Mythos. Das Regieteam denkt den

ebben wollender Corona-Wellen ein ums

um Macht. Die 43-jährige Regisseurin Anna

Ansatz der Autorin weiter, überträgt ihre

­andere Mal verschoben werden.


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auftritt

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jedoch nicht wieder. Als die Erzählerin sich ­

sichtbaren vierten Wand bleibt. Fast wirkt es

tags drauf auf die Suche macht, versperrt ihr

so, als würde Koschitz dieses grandiose Solo

eine unsichtbare Wand den Weg. Auf unab­

nur für sich selbst spielen. Und doch zieht sie

sehbare Zeit auf sich selbst zurückgeworfen,

das Publikum hinein in einen Sog, nimmt es

richtet sie sich notgedrungen in einem Leben

mit auf die rauschhafte Reise ins Innere, wo

in der Bergwelt und in Einsamkeit ein. Ihre

sich in der Beschränkung (von der der Roman

Aufzeichnungen bilden den Romantext.

erzählt und die sich die Inszenierung auferlegt

Im Kleinen Theater Landshut hat Büh-

hat) unermessliche Gedankenfreiräume auftun.

nenbildner Helmut Stürmer ein Häuschen auf

Jetzt, da man es wieder lässt, kann das

die Spielfläche gestellt, das wie eine Kreu-

Theater Wände zum Einsturz bringen. Diese

zung aus Gewächshaus und Käfig anmutet.

Aufführung ist der beste Beweis dafür. // Christoph Leibold

Neben der Draht-Konstruktion stehen einige Gerätschaften: ein Kübel, eine Leiter, auch ein Paar Stiefel, außerdem ein Bildschirm, der fahle Live Close-Ups von Julia Koschitz zeigt, die im Innern der Behausung auf einem

REGENSBURG

Quader kauert, strähniges Haar, nur in Unterwäsche. Das Bild, das sich bietet, lässt an den österreichischen Entführungsfall Natascha

Lesart und Regie

Kampusch oder die Kellergefangene E ­ lisabeth Fritzl denken. Doch Haushofers R ­ oman ist weit mehr als ein Report aus der Gefangenschaft. „Geburt. Tod. Die Jahres­zeiten. Wachstum und Verfall“, darum gehe es, notiert die Protagonistin einmal. Zurück­geworfen auf sich selbst, mit nur einer Hand voll Tieren als Ge-

THEATER REGENSBURG „Peer Gynt (she/her)“ Maria Milisavljević nach Ibsen Regie: Julia Prechsl Bühne: Valentin Baumeister Kostüme: Anna Brandstätter

fährten, Wind, Wetter und dem Kreislauf der Natur ausgesetzt, findet sie zu einer inneren Maximaler Minimalismus: Schauspielerin Julia Koschitz durchlebt Alleinsein und Isolation auf wenigen Quadratmetern. Foto Gianmarco Bresadola

Freiheit, fügt sich, nein, nicht in ihr Schick-

„Ich will nicht gerettet werden, okay?“, stellt

sal, sondern in das, was man den natürlichen

Peer unmissverständlich klar. Und Ingo ist

Gang der Dinge nennen möchte.

fassungslos. Kurz zuvor hat Peer ihn vom

Der Roman verhandelt die ganz großen

Traualtaltar weggezerrt und seine Ehe zer-

Themen, Grunerts klug gekürzte Adaption

stört, noch bevor sie geschlossen wurde. Für

folgt ihm darin, ohne auf entsprechend große

Ingo scheint das aber das geringere Problem.

Intendant Sven Grunert, Intendant des Klei-

Gesten zu setzen. Im Gegenteil: Regisseur

Ihn verstört etwas anderes: Er hat ein Ange-

nen Theaters Landshut, und Schauspielerin

und Darstellerin sind ein enormes Risiko ein-

bot gemacht, von dem er glaubt, Peer könne

Julia Koschitz hatten den Plan, Marlen Haus-

gegangen, wagen maximalen Minimalismus.

es unmöglich ablehnen; hat Haus, Hof und

hofers Roman „Die Wand“ für die Bühne zu

Von dem Würfel, auf dem Koschitz anfangs

Herz geboten. Aber Peer weist ihn brüsk zu-

bearbeiten, bereits im Sommer letzten Jahres

sitzt, wird sie auch in den folgenden 70 Spiel-

rück, vollkommen desinteressiert an einem

gefasst, also schon nach dem ersten Lock-

minuten nie aufstehen. Mehr Reduktion geht

Leben in kleinbürgerlicher Sicherheit.

down. Doch aus der für Herbst 2020 geplan-

kaum. Statisch oder gar langweilig aber wirkt

Ingo hieß bei Henrik Ibsen Ingrid, war

ten Premiere wurde nichts. Sie konnte erst

die Inszenierung nie. Die fernseh- und kino­

also eine Frau, und ist in Maria Milisavljevićs

ein geschlagenes Jahr und vier Terminver-

erfahrene Schauspielerin („Der letzte schöne

Klassiker-Bearbeitung nun zu einem Mann

schiebungen später stattfinden.

Herbsttag“, „Im Schatten der Angst“) vermag

geworden. Peer hat zwar seinen Namen be-

Die Gründe für die Wahl des Stoffs lie-

es, allein mit Mienenspiel und Sprachgestal-

halten, aber ebenfalls das Geschlecht ge-

gen auf der Hand. Alleinsein und Isolation

tung die Fieberkurve der Figur vom Selbstver-

wechselt, so, wie es der Titel ankündigt:

sind zentrale Themen des 1963 erschiene-

lust bis zur Selbstfindung zu durchmessen und

„Peer Gynt (she/her)“.

nen Buches – mithin Erfahrungen, die viele

das ganze Spektrum der Gefühle von Wut und

Es ist nicht schön, wie Ibsens Original-

Menschen während der staatlich verordneten

Verzweiflung über Resignation und Gleichmut

Peer Ingrid erst verführt und dann sitzen lässt.

Häuslichkeit in der Corona-Krise machen

bis zu innerem Frieden und Erkenntnis-Eupho-

Und die spannende Frage ist nun natürlich,

mussten.

rie auszuloten. Gleichförmiges Ticken einer Uhr

ob Milisavljevićs weiblicher Peer in derselben

Haushofers namenlose Ich-Erzählerin

und flächige Soundscapes, die wie ferne Erin-

­Situation, wenn schon nicht in der Sache an-

will mit einem befreundeten Ehepaar ein

nerungen an eine versunkene Welt hereinzu­

ders, so doch im Ton irgendwie einfühlsamer

Wochenende auf einer Hütte im Gebirge ­

wehen scheinen, schaffen Atmosphäre. Mehr

und weniger rücksichtslos auftritt. Die Ant-

verbringen. Ihre Bekannten brechen am ersten

braucht es nicht für diesen atemberaubenden

wort lautet: nicht wirklich. Klug so, vermeidet

Abend noch mal kurz auf ins Tal, kehren

Theaterabend, der konsequent hinter der un-

es Milisavljević doch dadurch, stereotype


auftritt

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Geschlechterbilder zu reproduzieren. Weitaus ­

­dieselben Dinge wie ihr männliches Pendant,

einzuwenden, außer, dass diese Kraftmeierei

interessanter ist ohnehin, wie wir Zuschauerin-

spricht auch viel Ibsen-Original-Text. Aber:

es um keinen Deut interessanter macht. Im

nen und Zuschauer mit solchen Klischees in

Peer tritt hier doppelt in Erscheinung. Marlene

Gegenteil: Maria Milisavljevićs neue Lesart

unseren Köpfen auf die Vorgänge blicken.

Hoffmann gibt der jugendlichen Variante der

eines alten Klassikers gerät unter die Räder

Ibsens narzisstischer Sinnsucher steht

Titelfigur eine schöne Impulsivität. Katharina

einer Regie, die über Feinheiten weitgehend

in einer Reihe mit großen Dramenfiguren wie

Solzbacher spielt deren erwachsenes Alter Ego

hinwegwalzt. //

Shakespeares Hamlet oder Goethes Faust, die

und tritt dabei immer wieder aus der Handlung

unser kollektives Gedächtnis geprägt ­haben.

heraus, um von außen auf sich und die Ereig-

Sie alle sind keine strahlenden Helden, ihr

nisse zu blicken. Milisavljević lässt sie sich als

Umgang mit den Ophelias, Gretchens und

Frau um die 40 vorstellen („also 20 Jahre post

­Ingrids dieser Welt ist höchst fragwürdig. Und

Blüte“), selbstironisch, aber ohne Verbitte-

doch neigen wir zur Nachsicht mit ihnen, weil

rung, denn die zunehmende Unsichtbarkeit für

sie sich auf den schmerzlichen Weg zum

den männlichen Blick bedeutet auch wach-

eigenen Wesenskern gemacht haben, eine ­

sende Freiheit, wie Peer feststellt.

aus den Fugen geratene Welt einzurenken

Milisavljević wertet auch die anderen

ver­ suchen, oder zu ergründen, was sie im

Frauenfiguren auf. Mutter Aase beispiels­

­Innersten zusammenhält. Wo so hehre Ziele

weise hat einen Monolog bekommen, in dem

angestrebt werden, scheinen weibliche Kolla-

sie sich an ihrer Rolle als Alleinerziehende

teralschäden unvermeidlich, und wir sehen

abarbeitet. Leider pflügt Silke Heise unge-

den Herren nun schon so lange zu bei ihrem

bremst durch den Text. Ihr wie überhaupt der

Treiben, dass wir uns daran gewöhnt haben,

ganzen Inszenierung von Julia Prechsl hätte

ihre Fehler zu verzeihen.

man etwas von der unaufgeregten Souveränität

Christoph Leibold

STUTTGART Merkel vor dem Jüngsten Gericht SCHAUSPIEL STUTTGART: „Ökozid“ von Andres Veiel und Jutta Doberstein Regie: Burkhard C. Kosminski Bühne: Florian Etti Kostüme: Ute Lindenberg

Aber wie reagieren wir auf derart egozen-

von Peer-Darstellerin Katharina Solzbacher

trisches Verhalten bei Frauenfiguren? Um das

gewünscht. Auf regennasser, mit Lametta-like

am Beispiel von Ibsens dramatischem Ge-

glänzenden Fransenvorhängen aus Kunststoff

Beim Einlass werden Ohrstöpsel gereicht – es

dicht herauszufinden, hat Maria Milisavljević

verhangener Bühne (Valentin Baumeister) und

sei mit „lauten Geräuschen“ zu rechnen. Tat-

Peers Geschlecht vertauscht, die Figur jedoch

unter lärmendem Schlagwerk-Gedöns (Musik:

sächlich, gegen Ende des Abends prasseln

bewusst weder sympathischer noch unsym­

Fiete Wachholtz) hat Prechsl ein oft grelles

plötzlich Hunderte Plastikflaschen vom Schnür­

pathischer gemacht. Ihre Peer erlebt und tut

Bilderbogentheater angerichtet, das wenig

boden auf die Bühne. Ja, auch Theater kann

Raum für Reflexion lässt. Die Aufführung

auf spektakulär machen. Zum Saison­ start

kommt über weite Strecken so präpotent da-

in Stuttgart ging es nämlich darum, Andres

her, wie man das vor allem von Regiezampa-

Veiels im November 2020 zur ARD-Prime-

nos alter Schule kennt. Vielleicht sollte das ja

Time gesendeten TV-Streifen „Ökozid“, der die

gerade die Pointe sein: dass sich eine Regis-

deutsche Klimapolitik im Jahr 2034 vor dem

seurin einer als typisch männlich angesehenen

Internationalen Gerichtshof anklagen lässt,

Ästhetik bedient. Dagegen ist rein gar nichts

aufs Theater zu übertragen. Und zwar so, dass

Auf regennasser Bühne und unter lärmendem Schlagwerk-Gedöns inszeniert Julia Prechsl ein oft grelles Bilderbogentheater, das wenig Raum für Reflexion lässt. Foto Martin Sigmund

nicht nur ein braver Abklatsch herauskommt. Denn der Film, in dem Angela Merkel vor einer Art Jüngstem Gericht steht, hatte als Mix aus Doku und Sci-Fi schwer Aufsehen erregt, erinnerte an die monströsen TV-Schauprozesse aus der Schirach-Werkstatt, bot zudem TopMimen wie Ulrich Tukur und Medien-Prominenz wie Ingo Zamperoni auf. „Ökozid“ auf dem Theater – funktioniert das? Die Bühnenfassung von Andres Veiel und Jutta Doberstein wirkt jedenfalls ­ weniger aufgedonnert, verzichtet auf den ­Katastrophismus des Films. Von Sturmfluten, in deren Folge das Den Haager Gericht eva­ kuiert werden musste, ist nun nicht mehr die Rede. In Stuttgart eröffnet eine Gastrednerin aus dem westafrikanischen Sierra Leone den Abend: Yvonne Aki-Sawyerr, Bürgermeisterin von Freetown, einer Millionenstadt, in der erst 2017 Überflutungen und Erdrutsche Hunderte

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Theaterbilder der Klima-Katastrophe: In „Ökozid“ ziehen 31 Staaten des globalen Südens die Industrienationen in einem Gerichtsprotokoll aus der Zukunft zur Verantwortung. Foto Julian Baumann

Lakonik, gibt hier die kühle Abwieglerin, die eine Emotionalisierung der Klimadebatte „nicht für zielführend“ hält, dort die Ex-­ Politikerin, deren in Großaufnahme fast unbewegtes Gesicht im Prozess nur wenig ­ ­Regung und doch so etwas wie Einsicht er­ ahnen lässt. Veiels fiktionales Gericht endet 2034 mit dem Urteil, „dass durch staatliche Todesopfer forderten. „The climate change is

wollten. Wie sich die SUV-Produktion zur Cash-

Pflichtverletzungen bei der Abwehr des Klima­

real“, sagt sie, nach Zahlen der Weltbank sei

cow entwickelte. Wie Merkel die strengeren

wandels universal geltende Menschenrechte

bis 2050 mit rund 216 Millionen Klima-

Emissions-Grenzwerte der EU-Kommission be-

verletzt wurden“. Dass dies nicht nur wol­

flüchtlingen zu rechnen.

kämpfte, um die aufs „Luxussegment“ fixierte

kige Utopie bleibt, zeigt ein ähnlicher, rea-

Regie im folgenden Stück führt Inten-

deutsche Autoindustrie zu schonen. Veiels Sze-

ler Spruch des Verfassungsgerichts vom

dant Burkhard C. Kosminski. „Ökozid“ sollte

nario suggeriert, dass eine Abkehr von dieser

April 2021. Und apropos Selbstbestätigung:

zu Beginn seiner vierten Saison in Stuttgart

Politik eintreten wird: So klagt vor dem Gericht

­Kosminskis Regie setzt da am Ende eher war-

auch ein kalkulierter Paukenschlag am Tag

2034 ein – nach der Übernahme durch Tesla –

nende Kontrapunkte, blendet Greta Thunbergs

vor der Bundestagswahl sein. Der Kernplot

übriggebliebener Daimler-Manager, dass er von

„How dare you“-Rede aus dem Off ein und

bleibt: Im Jahr 2034 fordern 31 Staaten des

den geliebten Edelkarossen nur noch „Einzel-

schiebt den ganzen Plastikmüll unaufhaltsam

globalen Südens vor dem Internationalen Ge-

stücke auf Bestellung“ herstellen dürfe.

Richtung Publikum – den Zuschauern vor die

richtshof pro Jahr 60 Milliarden Euro Scha-

Komplexe Fragen – Wahlverhalten,

denersatz von der Bundesrepublik, weil diese

Sorge um Arbeitsplätze, Probleme der Trans-

„durch Abschwächung und Blockade europä-

formation – lässt der griffige Plot lieber außen

ischer Klimaschutzmaßnahmen ihre völker-

vor. Er ist nicht wirklich kontrovers angelegt

rechtliche Pflicht verletzt“ habe. Kosminski

und trägt Züge einer Selbstbestätigung, auf

setzt trotz gelegentlicher Großvideo-Bilder –

der richtigen Seite zu stehen. Auch Regisseur

Gerhard Schröder bei den Kohlekumpels,

Kosminski dürfte die Gefahr eines Einbahn-

­Angela Merkel vor schmelzenden Gletschern –

straßen-Verlaufs dieser Doku-Fiction gespürt

auf Sprechtheater, inszeniert ein klassisches

haben. So lässt er eine Anklägerin in eine

Gerichtssaal-Drama: mit formellen Wortge-

­wilde Wutrede ausbrechen, baut eine Gospel-

fechten zwischen Anklage und Verteidigung,

session ein, schaltet um auf Gaga-Talkshow

mit Justiz-Sprech wie „keine weiteren Fra-

und lässt es Plastikflaschen hageln. Und die Angeklagte, Dr. Angela Merkel,

gen“. Nicht unbedingt fesselnd, doch alles lebt von der Brisanz der Zeugenaussagen.

die 2034 dann 80 Jahre alt wäre? Souverän

Breiten Raum erhält das SUV-Bashing:

agiert in dieser Rolle Nicole Heesters. Sie ver-

Wie ab etwa 2005 plötzlich alle Eltern ihre

zichtet auf Imitations-Versuche, unterspielt

­Kinder „mit einem Panzer zur Schule“ fahren

eher und erreicht feinste Ambivalenzen durch

KICK OFF WOCHENENDE

03. - 05.12.2021 Infos und Anmeldung unter iti-germany.de Internationales Theaterinstitut – Zentrum Deutschland

Füße. //

Otto Paul Burkhardt

WIESBADEN Als wir eines Morgens in der Pandemie erwachten HESSISCHES STAATSTHEATER WIESBADEN „Wuhan – Die Verwandlung“ von Clemens Bechtel und Jan Neumann Regie: Clemens Bechtel Bühne: Till Kuhnert

DIE ITI AKADEM E Akademie für junge Kulturschaffende

Das Festival Theater der Welt und die Zukunft von Internationalität, Transnationalität und Diversität in den darstellenden Künsten. Gefördert durch:


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Viele dürften im vergangenen Jahr einen ominösen Gregor-Samsa-Moment gespürt haben. Man wachte auf und konnte nicht fassen, in welcher Welt man sich befand. Beklemmend und surreal erschien dieser Film, dessen ­Arrangeur noch immer an den Strippen unseres Lebens zieht: Corona. Es liegt daher nahe, Franz Kafka, diesen Großmeister für Panik, Furcht und Wahn, zu konsultieren, um die Atmosphäre in der Pandemie zu erfassen. ­ Wie formidabel dieser Brückenschlag gelingt, lässt sich derzeit an der Uraufführung „Wuhan – Die Verwandlung“ am Hessischen Staatstheater Wiesbaden studieren.

v

„Wuhan – Die Verwandlung“ verbindet Franz Kafkas „Verwandlung“ mit der pandemischen Gesellschaft. Damit rüttelt es an den Festen, auf denen das ökonomische und gesellschaft­ liche Selbstverständnis gründet.

Es beginnt gruselig: Vor uns auf einem

dessen auf der Intensivstation. Andernorts ist

Bett windet sich eine geschlechtslos anmuten-

man noch dabei, die immunologische Gesell-

de, zierliche Person (Ipek Özgen) mit Glatze,

schaft umzusetzen. Zum Beispiel in einer

während wir einer musikalischen Mixtur aus

3er-WG, deren Bewohner sich in harten Dis-

schauriger Geräuschkulisse und Beatmungs-

kussionen um Normrigorismus und Freiheits-

maschine beiwohnen. Dazu spricht eine Erzäh-

liebe voneinander entfremden. Zu den wohl

lerfigur hinter einer Plexiglasscheibe die ersten

stärksten Charakteren des Abends zählt

Sätze aus der berühmten Erzählung „Die Ver-

­Steffi, kraftvoll gespielt von Lena Hilsdorf, die

­Denn sowohl die braunen Wände als auch der

wandlung“ des Prager Autors. Nur scheint sich

früh noch die ganze Melancholie sprengt und

Boden tragen ein Netzmuster, erinnernd an

hierbei, wie der weitere Verlauf des Abends

im Lockdown über den Zuwachs an Freizeit

sich überlagernde Fäden. Enge, Sehnsucht

nahelegt, nicht allein eine Verwandlung eines

jubelt, bevor sie später selbst in die Depres­

und Aggression über die Hoffnungslosigkeit

Menschen in einen Käfer, sondern mithin

sion abgleitet. Tiefe Angst bemächtigt sich

bilden ein emotionales Ineinander, das in

­einen Virusträger zu ereignen. Immer wieder

ihrer. In einem bewegenden Monolog spricht

­Kafkas Text seinen Anfang wie auch sein Ende

wird Gregor Samsa gleich einem Geist, der

sie von der „Wohnung, mein Sarg“. Sie sei

nimmt. Denn wofür steht der in Wiesbaden

bald schon nur noch von einer Computer­

„Rapunzel ohne Zopf“, mit Maske „unsicht-

zuletzt jämmerlich durch ein Kakerlakengift

stimme überlagertes Kauderwelsch zum Publi-

bar in der totalen Sichtbarkeit, aber allein“.

vor die Hunde gehende Samsa? Ihn nur für

kum zu sprechen vermag, im weißen Bettlaken

Um ihrer Einsamkeit zu entfliehen, packt sie

den Erreger zu halten, griffe zu kurz. Vielmehr

über die Bühne schlurfen – vor allem dort, wo

verzweifelt den gerade auf der Bühne befind-

repräsentiert er das Fremde schlechthin, das

Covid-19 seine ersten Opfer erfasst.

Foto Karl und Monika Forster

lichen Samsa, klammert sich an ihm fest, bis

sich wie der oftmals bedrohliche Klanghinter-

Passend zu dem aus verschiebbaren,

ihr gewahr wird: Das ist der Tod, das Virus.

grund mitten in die heimischen Gefilde der

kubischen Räumen sich zusammensetzenden

Rasch stürzt sie zum Desinfektionsspender,

Protagonisten schleicht. Mit ihm steht alles

Bühnenbild (Kulisse: Till Kuhnert) erzählen

reibt sich überall mit dem Mittel ein und

zur Disposition. „Wie aber, wenn jetzt alle

Clemens Bechtel (Regie) und Jan Neumann

­kauert sich unter das Waschbecken.

Ruhe, aller Wohlstand ein Ende […] haben

mehrere Geschichten parallel. Wir treffen auf

Wie alle anderen Personen des Stücks

sollte?“, lautet die Kafka entlehnte Frage.

ein durch das Virus aus allen Banden des Da-

bleibt auch sie isoliert. Häufig stehen sie weit

„Wuhan – Die Verwandlung“ ist zum Glück

seins geworfenes Ehepaar (Michael Birnbaum

auseinander oder werden durch das Glas ge-

kein banales Corona-Stück, es rüttelt energie-

und Anne Lebinsky). Während er ohnmächtig

trennt. Dass sich all diese heterogenen Wirk-

voll an den Festen, auf denen das ökonomi-

zu Hause die Quarantäne hinter sich bringen

lichkeiten überlappen, zeigt sich in virtuoser

sche und gesellschaftliche Selbstverständnis

muss, befindet sich seine infizierte Frau in-

Genauigkeit noch im feinsten Detail der Kulisse.

gründet. //

DAS THEATER RAMPE SUCHT AB DER SPIELZEIT 2023/24 EINE NEUE LEITUNG (M / W/ D) MIT KÜNSTLERISCHER RISIKO­ BEREITSCHAFT UND VISIONEN FÜR EINEN THEATERBETRIEB. BEWERBUNGSSCHLUSS: 10. JANUAR 2022 THEATERRAMPE.DE/AUSSCHREIBUNG

Björn Hayer


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ORT

Nicht weit bis zum moralischen Bankrott: In Zürich setzt Nicolas Stemann mit seiner Inszenierung „Der Besuch der alten Dame“ auf eine Ästhetik des „Armen Theaters“.

x x

Foto Zoé Aubry

THEATER Stück Angaben

einstiger Liebhaber Ill sie geschwängert und anschließend die Vaterschaft verleugnet hatte. Seither zu unermesslichem Reichtum gekommen, macht sie der darbenden Kleinstadt nun ein unmoralisches Angebot: „Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet.“ Entrüstet lehnen die Güllener ab. Doch als sie schon bald darauf in Ills Krämerladen teuren Tabak und edlen ­Cognac ordern und anschreiben lassen, wird klar: Bis zum moralischen Bankrott ist es nicht weit. Bei Stemann dagegen wird mit barer Münze bezahlt. Das Pfund, mit dem er wuchert, sind seine Darsteller, die den Text mit Bereits die vage Aussicht auf die Rückkehr zu

selbstverschwenderischer Spiellust performen,

Wohlstand verleitet die Menschen in Güllen

ihn anfangs nüchtern nacherzählend referie-

dazu, Geld auszugeben, das sie nicht haben.

ren, um später zunehmend in die Rollen hin-

In diesem hemmungslosen Leben über die

ein- und zwischen den Figuren hin und her zu

Verhältnisse erkennt Stemann das wieder,

hüpfen, um sie mal mit Understatement, mal

was im großen Stil in dieser Welt geschieht.

in der Überzeichnung plastisch werden zu las-

Denn was wäre der ökologische Raubbau am

sen, angetrieben von Beats, die DJane Camilla

Planeten, von dem vor allem der wohlhaben-

Sparksss an den Turntables live beisteuert.

dere Teil der Erdbevölkerung profitiert, ande-

Rudolph begeistert durch natürliche Lässig-

res als ein kollektives Leben auf Pump? In

keit, bei Ziółkowska wirkt alles artifizieller, mit-

Stemanns Inszenierung flimmern denn auch

unter eine Spur zu angestrengt. Er übernimmt

Videobilder Plastik-vermüllter Ozeane über

vor allem Ills Part, sie den der alten Dame,

die Bühnenwände – der Ausfluss unserer

gelegentlich aber switchen sie Rollen, was das

Überflussgesellschaft. So gesehen hat das

Schillernde der Figuren betont. Ill ist ja nicht

Nicolas Stemann weiß, was er seinem Publi-

Verhalten der bettelarmen Bewohner von Dür-

nur Opfer von Claires Rache, sondern auch der

kum schuldig ist. Eine Neuinszenierung von

renmatts Provinznest Güllen sehr viel mit

typische alte weiße Mann, der meint, man

Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten

dem Lebensstil begüterterer Klassen in der

möge ihn für Taten von einst nicht verurteilen,

Dame“ zum 100.Geburtstagsjahr des Dramati-

Weltstadt Zürich und anderen Metropolen der

weil man damals halt glaubte, mit Frauen so

kers im Züricher Pfauen, 65 Jahre nach der

westlichen Welt zu tun.

umspringen zu dürfen. Vice versa ist Claire

ZÜRICH Moral und Postmoderne SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt Regie: Nicolas Stemann Bühne / Video: Claudia Lehmann Kostüme: Marysol del Castillo

nicht bloße Täterin.

Uraufführung des Stücks ebendort, gehört

Dass Stemann für seine Inszenierung

zum Pflichtprogramm. Dumm nur, dass die

eine Ästhetik gewählt hat, die man früher als

Am Planeten versündigen sich alle zu-

zum Klassiker avancierte Tragikomödie – abge-

„armes Theater“ bezeichnete, darf man in die-

sammen. In einer Szene schleppen Ziółkowska

sehen vom aufführungsgeschichtlichen Lokal-

sem Zusammenhang als Statement begreifen.

und Rudolph unzählige Schuhkartons auf die

bezug – auf den ersten Blick so gar nicht zu

„Der Besuch der alten Dame“ ist eigentlich ein

Bühne, Folge eines Online-Shoppingrausches

Zürich passen will. Handlungsort ist das bank-

Stück für große Besetzung, aber der Regisseur

nach dem Motto: Jetzt bestellen, bezahlt wird

rotte Städtchen Güllen, ein im wahrsten Sinne

spart sich ein üppiges Ensemble ebenso wie

irgendwann später. Die Quittung für den ge-

des Wortes abgehängtes Kaff, an dem die

opulente Ausstattung. Auf weitgehend leerer

dankenlosen Konsum aber kommt mit dem

Fernzüge ohne Halt vorbeidonnern. Was, bitte-

Bühne und in schlichter Schwarz-Weiß-Kostü-

Klimawandel. Solche dazu improvisierten

schön, haben die in prekären Verhältnissen

mierung teilen sich Patrycia Ziółkowska und

­Szenen gibt es vergleichsweise wenige in der

lebenden Güllener mit dem erkennbar nicht

Sebastian Rudolph den gesamten Text, spre-

Aufführung. Stemann inszeniert erstaunlich

am Hungertuch nagenden Theaterpublikum in

chen Bürgermeister, Lehrer und Pfarrer. Und

eng am Text, nur dass er eben sehr frei damit

Zürich gemein, das im aktuellen Ranking der

natürlich die Hauptfiguren Alfred Ill und Claire

umgeht.

teuersten Städte der Welt auf Platz eins steht?

Zachanassian. Letztere, die titelgebende alte

ebenso auf ihre Kosten wie Fans von Stemanns

Nun, die Parallelen mögen nicht sofort

Dame, kehrt nach Güllen zurück, das sie vor

spielerisch-performativer Regiehandschrift. //

offensichtlich sein, Stemann aber findet sie.

vielen Jahren verlassen musste, nachdem ihr

So

kommen

Dürrenmatt-Kenner

Christoph Leibold


DRAMATIKER*INNENLABOR

Foto Esra Rotthoff

OUT OF SIGHT

INTERNATIONALES

„Out of Sight“ lautete der Titel des dritten Jahrgangs des Internationalen Dramatiker*innenlabors, der von 2019 bis 2021 unter Pandemiebedingungen durchgeführt wurde. Dabei entstanden vier Stücke und erste filmische Umsetzungen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Thema Verschwinden beschäftigen.


OUT OF S IGHT

Neue Stimmen, andere Perspektiven

D

des Maxim Gorki Theaters, sondern auch auf Bühnen in Kairo und Istanbul gezeigt. Mehdi Moradpour (Deutschland), Sivan Ben Yishai (Israel), Ebru Nihan Celkan (Türkei) und Anastasiia Kosodii (Ukraine) waren die vier Autorinnen und Autoren, die im Folgejahrgang zum breit aufgestellten Thema „Krieg im Frieden“ recherchierten, reisten und schrieben. Auch hier wurden szenische Lesungen der entstandenen Stücke realisiert, die zudem in internationale Festivals (Future of Europe Festival in Berlin, War in Peace Festival in Stuttgart) eingebettet waren, wodurch die Perspektiven der Schreibenden noch mehr Sicht­ und Hörbarkeit erhielten und die Möglichkeit zur Vernetzung verstärkt wurde. Der dritte und letzte Jahrgang beschäftigte sich unter dem Titel „Out of Sight“ mit verschiedenen Facetten des Phänomens „Verschwinden“ – zum Beispiel dem Verschwinden von Sprachen oder auch dem Verschwinden von Menschen in politischen Systemen. Hierfür hat das Labor die kurdische, in Berlin lebende Autorin Yildiz Çakar, die in Berlin geborene und in Ramallah aufgewachsene Dalia Taha, den südafrikanischen Theaterautor und -regisseur Mongeng „Vice“ Motshabi und die mexikanische Performancemacherin Laura Uribe zusammengebracht. Es entstanden vier sehr unterschiedliche Theatertexte, für die pandemiebedingt gemeinsam mit dem Maxim Gorki Theater anstelle szenischer Lesungen filmische Umsetzungen entwickelt wurden, die auf der Projektseite des LCB weiterhin zugänglich sind. Darüber hinaus wurden bei der Abschlussveranstaltung des Labors „dramatische Lesungen“ der Stücke präsentiert, bei denen weniger ein inszenatorischer Zugriff für das Theater als der literarische Text selbst im Vordergrund stand. Damit solch ein Austausch internationaler Autoren auch angesichts existierender Sprachbarrieren gelingen kann, haben die Kooperationspartner mit zahlreichen Dolmetschern und Übersetzerinnen zusammengearbeitet und alle Texte (wie auch die filmischen Lesungen) gleich in mehrere Sprachen über­ setzen lassen, um so nicht nur untereinander einen Diskurs auf Augenhöhe zu ermöglichen, sondern um auch mit Blick auf das Publikum die so bereichernden Perspektiven und Stimmen möglichst vielen Interessierten zugänglich zu machen.

as Internationale Dramatiker*innenlabor wurde 2015 initiiert und in insgesamt drei Jahrgängen als gemeinsames Kooperationsprojekt des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB), des BerlinerMaxim Gorki Theaters / Studio , des Neuen Instituts für Dramatisches Schreiben (NIDS), des Schauspiels Stuttgart sowie der Robert Bosch Stiftung realisiert. Die konzeptionelle Idee hinter einem solchen Labor bestand darin, Theaterautorinnen und -autoren aus verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern zusammenzubringen, um über einen längeren Zeitraum gemeinsam zu einem gesellschaftspolitisch relevanten Thema zu recherchieren, sich gegenseitig in den Herkunftsländern zu besuchen und einander bei der Stückentwicklung zu begleiten. Auf diese Weise rückten der Entstehungs­ prozess, die Ressource Zeit, das gegenseitige Kennenlernen und Reisen stärker in den Vordergrund. Nichtsdestotrotz bestand das Ziel eines jeden Jahrgangs darin, dass die Teilnehmenden je ein Stück schreiben, welches dann in Formaten wie zum Beispiel einer szenischen Lesung einem inter­ nationalen Literatur- wie auch Theaterpublikum präsentiert werden konnte. Für jeden Jahrgang bestimmten die Kooperationspartner Werkstattleitende in der Funktion von Mentoren. Das waren zunächst Theaterautor und ­regisseur Kevin Rittberger, dann das Gründerinnen-Duo des NIDS, Maxi Obexer und Sasha Marianna Salzmann, und zuletzt erneut Maxi Obexer gemeinsam mit dem Autor und Dramaturgen Mazlum Nergiz. Eine Jury, die Werkstattleitende sowie Vertreterinnen und Vertreter der Kooperationspartner umfasste, wählte schließlich für jeden Jahrgang die drei bis vier Teilnehmenden aus. So setzten sich unter dem Titel „Hilfe, das Volk kommt. Empörung, Engagement, Aufbrüche und Sackgassen“ im ersten Jahrgang 2015/16 Ariane Koch aus der Schweiz, Zainab Magdy aus Ägypten und Ahmet Sami Özbudak aus der Türkei unter anderem mit dem Verhältnis zwischen aktuellen Protestbewegungen und möglichen Formen politischen Theaters auseinander. Die entstandenen Stücke wurden 2016 nicht nur im Rahmen des Theaterfestivals „Uniting Backgrounds – Theater zur Demokratie“ als szenische Lesungen im Studio 58

Die Teilnehmenden des Dramatiker*innenlabors 2019–2021 (v.l.n.r.) Mongeng „Vice“ Motshabi, Yildiz Çakar, Dalia Taha, Laura Uribe. Foto Tobias Bohm

THERESA SCHÜTZ


OUT OF S IGHT

WIE BEGEGNET DRAMATISCHES SCHREIBEN PHÄNOMENEN DES VERSCHWINDENS? Werkstattleiterin Maxi Obexer, Teilnehmerin Yildiz Çakar und Regisseur Anestis Azas im Gespräch mit dem Dramaturgen Mazlum Nergiz

hat mich vor allem die Körperlichkeit deiner Sprache begeistert, weshalb ich dich 2018 einfach fragen musste, ob du dir nicht vorstellen könntest, an dieser Werkstatt teilzunehmen und ein Stück zu schreiben. Was hast du damals gedacht, als die Anfrage kam und wie war dein Verhältnis zum Theater vor deiner Teilnahme?

Maxi Obexer, Foto Tobias Bohm

Mazlum Nergiz: Maxi, du hast 2014 gemeinsam mit Sasha Marianna Salz­ mann das Neue Institut für Dramati­ sches Schreiben (NIDS) gegründet. Was war der Anlass, ein Institut für Dramatisches Schreiben zu gründen? Maxi Obexer: Was mir als Theater­ autorin gefehlt hat, war die Auseinandersetzung mit Theatertexten auch mit Blick auf ihre Sprachkunst und ihr eigenständiges sprachkritisches Potenzial. Es ging uns also darum, für Theaterautorinnen und -autoren wieder einen innovativen Ort für diese auch literarische Kunst zu schaffen. Zeitgenössische Dramatik ist eine Kunstform, die ja alle Sprachgattungen umfasst, vom Szenischen, Dialogischen, Chorischen, Dokumentarischen, Lyrischen bis zum Performativen. Und weil es uns immer um politische Themen ging und geht, wollten wir die Suche nach neuen Formen unterstützen. Denn gerade politische Stoffe erfordern zuallererst eine Befragung der Form. Das NIDS ist also ein Ort für die Entwicklung von innovativen Theaterformen – die ins Theater gehören, aber auch in die literarischen Institutionen. Stark machen wollen wir diese Auseinandersetzung auch wieder für die Theater- und die Literaturwissenschaft, wo die dramatische Kunst sehr lange marginalisiert war. Wichtig war uns auch, Zugänge für Autorinnen und Autoren zu schaffen, die ganz unterschiedliche, nicht lineare Lebensläufe vorweisen und damit von klassischen universitären Ausbildungsprogrammen ausgeschlossen sind. Neben den wenigen Ausbildungsorten und den Theatern brauchen wir weitere Orte für diese Kunst. Und ich bin sehr dankbar über die Möglichkeit einer solchen Förderung und für die besondere Konstellation dieses Internationalen Dramatiker*innenlabors, bei dem das Maxim Gorki Theater, das Literarische Colloquium Berlin und das NIDS zusammen­ wirken konnten.

Yildiz Çakar: Ich muss zugeben, dass ich zunächst sehr überrascht war. Ich komme aus einem Land, in dem es offiziell nicht erlaubt ist, kurdisch zu sprechen. Es kommt immer noch vor, dass Menschen in türkischen Städten angegriffen oder sogar umgebracht werden, wenn sie kurdisch sprechen oder auch nur kurdische Lieder hören. Vor diesem Hintergrund war überraschend und außergewöhnlich, dass ich eingeladen werde, auf Kurdisch einen Text zu schreiben. Das war für mich eine große Anerkennung für mein Schreiben und für meine Sprache. Ich hatte vor einigen Jahren schon einmal überlegt, mich mit Theater zu beschäftigen, es dann aber verworfen. Als die Anfrage kam, war ich froh über eine neue Gelegenheit. Das Internationale Dramatiker*innenlabor mit allen Begegnungen und Gesprächen war eine großartige Schule für mich. Dank ihm schreibe ich sogar gerade mein zweites Stück. Nergiz: In den letzten Jahrgängen des Labors hat sich eta­ bliert, dass die entstandenen Stücke am Maxim Gorki The­ ater oder auch am Schauspiel Stuttgart als szenische Le­ sungen realisiert wurden. Unser dritter Jahrgang fiel nun leider in die Zeit der Pandemie. Nichtsdestotrotz sind alternativ wunderbare Videoarbeiten und filmische Lesun­ gen der Texte in Kooperation mit dem Maxim Gorki Theater entstanden. Anestis, du hast eine filmische Umsetzung von Laura Uribes Text „Campo“ inszeniert. Wie ging es dir, als du den Text bekommen hast? Anestis Azas: Für mich war es zunächst ein Schock, diesem Text zu begegnen. Er beschäftigt sich mit Frauen, die Ange-

Nergiz: Yildiz, du bist vor allem als Lyrikerin, Romanautorin und Verfasserin von Essays bekannt. Als Leser deiner Texte 59


hast du, Anestis, gerade schon beschrieben, mit welchem Verfahren sich Laura mit dem thematischen Komplex von Abwesenheit auseinandergesetzt hat, nämlich mit einer Form exzessiver Polyphonie. Mit welchen poetischen Ver­ fahren hast du, Yildiz, dich an das Thema herangetastet? Yildiz Çakar: Bevor ich nach Berlin kam, habe ich lange als Journalistin für eine kurdische Zeitung gearbeitet und in dem Zusammenhang musste ich auch häufig über Fälle verschwundener Menschen berichten. So verfügte ich gewissermaßen bereits über Material. Es gibt so viele Menschen, die von der Polizei verhaftet wurden, verschwanden, und danach nie wieder zurück nach Hause kamen. Vor dem Galatasaray-Gymnasium in Istanbul trafen sich zum Beispiel wöchentlich Gruppen von Müttern verschwundener Kinder, die sogenannten „Samstagsmütter“, die wissen wollten, was mit ihren Kindern passiert ist. Eine Mutter, die ich interviewt hatte, sagte mir: „Ich erwarte nicht, dass mein Sohn zurückkommt, aber ich erwarte einen Grabstein, an dem ich weinen und mein Leid zum Ausdruck bringen kann.“ Dieses Zitat hatte ich beim Schreiben immer im Kopf. Die Mütter rechnen nicht mehr damit, dass ihre Kinder noch am Leben sind, brauchen aber einen Ort für ihre Trauer, selbst wenn es nur ein Stein ist. Da habe ich verstanden, dass für sie verschwunden sein schlimmer ist als der Tod.

Nergiz: Die dritte Werkstatt „Out of Sight“ hat sich mit dem Themenfeld des Verschwindens auseinandergesetzt. Nun

Bei dem Gespräch handelt es sich um einen gekürzten und für die schriftliche Druckfassung sprachlich überarbeiteten Auszug aus einer Panel-Diskussion zu „Out of Sight“, die am 31. August 2021 den dramatischen Lesungen der vier Stücke vorausging und zugleich als Abschlussveranstaltung für das Internationale Dramatiker*innenlabor konzipiert war. Yildiz Çakar wurde von Celil Kaya simultan ins Deutsche übersetzt. Die Aufzeichnung der Veranstaltung ist auf der Homepage des Literarischen Colloquiums Berlin verfügbar. 60

Yildiz Çakar und Mazlum Nergiz, Foto Tobias Bohm

hörige, meist Kinder, im Drogenkrieg in Mexiko verloren haben. Er erzählt von der Suche nach den verschwundenen Körpern und Gräbern in einem korrupten, patriarchalen System. Mein Bild von Mexiko war bis dahin sehr oberflächlich, war geprägt von amerikanischen Filmen, in denen in der Welt der Drogenkriege alles bunt und sexy ist. Insofern hatte der Text eine sehr starke Wirkung auf mich. Laura Uribes Art zu schreiben und ihre Arbeitsweise hatten Ähnlichkeiten zu dem, wie ich in Griechenland gemeinsam mit Prodromos Tsinikoris arbeite. Sie hat viel vor Ort recherchiert, Feldforschung gemacht, Interviews geführt und das wandert in ihr Stück ein. Collagenartig ergänzt sie aber auch andere Textsorten wie persönliche Texte, poetische Zitate oder fiktive Szenen. So entsteht eine ästhetisch ris­ kante, aber sehr spannende Komposition. In unserer filmischen Umsetzung habe ich versucht, dieser Ästhetik der Collage zu folgen.

v.l.n.r.: Maxi Obexer, Mehdi Moradpour, Anestis Azas, Celil Kaya, Yildiz Çakar, Mazlum Nergiz, Foto Tobias Bohm

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EIN STÜCK AUTOETHNOGRAFIE WIDER DIE SCHÖNEN KÜNSTE „CAMPO“ VON LAURA URIBE THERESA SCHÜTZ

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ie in Mexiko geborene Performancemacherin Laura Uribe, die in Deutschland bislang vor allem mit ihrem Gastspiel „Mare Nostrum“ (unter anderem 2017 beim Festival Theaterformen in Hannover) bekannt wurde, hat im Rahmen des Internationalen Dramatiker*innenlabors ihr erstes Theaterstück verfasst. Darin erfahren wir zunächst, wie mexikanische Mütter und Großmütter lernen, mit Drohnen umzugehen, weil sie ihnen bei der Suche nach ihren verlorenen Kindern helfen. Anschließend erzählt der zwölfjährige Tavo, wie nach und nach seine drei Onkel und auch sein Vater verschwanden. Und Nancy Bustos und Mirna Medina berichten, wie sie die Leichname ihrer Söhne fanden und in Einzelteilen selbst bergen mussten. Aufgrund fehlender Geräte, fehlenden Personals und fehlender Zeit können Ermittlungen und Untersuchungen nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden, so bezeugen es auch eine Polzeiinspektorin und eine rechtsmedizinische Gutachterin. „Campo“ widmet sich der bereits seit Jahrzehnten real stattfindenden Tragödie Zehntausender verschwundener und weiterhin verschwindender Menschen in Mexiko. Hinter den Entführungen und Verschleppungen vornehmlich junger Männer stecken häufig Drogenkartelle oder andere organisierte Banden; Korruption und Justizversagen stützen diese Verbrechen. Laura Uribe hat bei ihren Recherchereisen mit zahlreichen Menschen vor Ort Interviews geführt, deren Positionen als „Augenzeugenberichte“ in ihr Dokumentartheaterstück eingeflossen sind. Auf diese Weise verstärkt sie die Stimmen derer, die sich – wie Tavos Großmutter María Herrera – zusammenfinden, um jene Aufklärungsarbeit zu leisten, die die Behörden ihnen verwehrt. Gemeinsam suchen sie nach den Körpern ihrer Kinder, klagen öffentlich an und bitten um Unterstützung der Regierung, ohne gehört zu werden. So dokumentiert „Campo“ sowohl die verschiedenen Perspektiven von Akteuren vor Ort als auch die ungeheure Machtlosigkeit ungehörter Mütter in einem patriarchalen, korrupten System. Nach und nach schreibt sich die Autorin, im Personenverzeichnis ausgewiesen als „L. U.; Feldforscherin und Dramatikerin“, in die montierten Gesprächspassagen ein. Sie fragt sich, wie ein solches Stück gespielt werden könne und worin eigentlich ihre eigene Rolle im Prozess der Stückentwicklung bestehe. Was legitimiert sie, bei Laura Delgado im Wohnzimmer zu sitzen und sich von ihr bei einem Sandwich erzählen

zu lassen, wie sie seit neun Jahren auf die Rückkehr ihres Sohnes wartet? „Bist du nur hier, um Material zu sammeln, zum Schreiben?“, fragt sich L. U. selbstkritisch. Auf diese Weise dokumentiert Uribe nicht nur die Stimmen der Betroffenen, sondern auch ihr eigenes Unbehagen, reale Schicksale zum Material eines Theaterabends zu machen. „Campo“ wird damit zu einer methodologischen Reflexion über die Ethik von Rechercheprozessen, über die eigenen Privilegien und die Ungleichheiten, die gerade nicht gemindert, sondern eher zementiert werden. Und es stellt ganz grundsätzlich die Frage, wie politisches Theater oder auch politisches Theatermachen heute überhaupt möglich sind. Und so schließt „Campo“ – ohne weiteres dokumentarisches Material – mit einem möglichen fiktiven Szenario und einer Ode: Ersteres fragt, ob sich nicht vielleicht in Anlehnung an Tania Brugueras Konzept „nützlicher Kunst“ (useful art) eine international vernetzte Agentur zur Adoption verschwundener Körper gründen ließe. Gerade über das Mitwirken berühmter Persönlichkeiten, die mit der Aufmerksamkeit, die ihnen medial zukommt, Aufmerksamkeit auf die abwesenden Körper lenken und so weltweit Druck ausüben könnten, ließen sich Gelder generieren, mit denen wiederum Wissenschaftler neue Technologien für das Aufspüren von Verschwundenen entwickeln könnten. Ist eine solche intervenierende Form der Kunst gesellschaftlich wirksamer oder erweist sie sich zuletzt auch nur als utopische Fantasie privilegierter Kunstschaffender? Letzteres legt die abschließende „Ode an das Schäbige“ nahe, in der Uribe den „Palast der schönen Künste“ als Metapher für westliche Kunstinstitutionen anruft und beklagt, dass es ihr angesichts der auf der Welt existierenden Gewalt und Grausamkeit schlicht nicht möglich sei, „inmitten all dieser Schrecken Schönheit“ auf die Bühne zu bringen, sondern nur, „was keiner sehen will“. Wenngleich es irritiert, dass sie mit der „Schönheit“ ausgerechnet ein ästhetisches Paradigma aufruft, das keinesfalls mehr zeitgemäß ist, lädt die „Ode an das Schäbige“ damit allerdings auch ein, über den Konnex von der Entstehung der Ästhetik als Lehre von der Schönheit und seiner historischen Parallelität zum Kolonialismus nachzudenken und so selbstkritisch die Fundamente der eigenen Kunsttempel, Geschmackspräferenzen und Ästhetik­Theorien auszugraben und freizulegen. „Campo“ auf die Bühnen zu bringen, könnte hierfür ein guter Anfang sein. 61


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Ein Zufallspanorama des Phänomens des Verschwindenlassens in Mexiko. Gebiete, die außerhalb des Radars liegen, keinerlei Chronologie. Der Text beruht auf Augenzeugenberichten, der Teilnahme an „Suchaktionen“ und der Begleitung von Angehörigen, die mit dem Verschwinden eines geliebten Menschen umgehen müssen. Anmerkung: Einige Namen wurden geändert, um die Identität der Erzählenden zu schützen. Andere nicht. Die Wirklichkeit wurde nur sehr geringfügig verändert, auch wenn der Eindruck täuscht. [...]

CAMPO LAURA URIBE

Aus dem mexikanischen Spanisch von Franziska Muche C A M P O: ACKER FELD GELÄNDE LAGER LAND: Vom Lateinischen campus („Ebene“, „Schlachtfeld“). Das Wort campo bezieht sich auf das freie Land, fernab von Stadt oder Dorf. Campo nennt man auch das Feld, in dem sich eine Armee während einer kriegerischen Handlung aufhält, und seine Umgebung. Als Campo bezeichnet man auch das Land, das man bestellen kann, einen Acker, wo man etwas sät oder anbaut. Mexiko ist ein fruchtbares Land, es eignet sich gut für den Anbau. In Mexiko sät man Körper. + LETTY HIDALGO / MONTERREY, Nueva León Letty Hidalgo steuert die Drohne, die über das Miniaturlager fliegt LETTY HIDALGO: Ich heiße Letty Hidalgo und weiß seit 2015, wie man Drohnen einsetzt. Eine Anthropologin erzähl­ te mir damals von den Möglichkeiten dieser Geräte. Mit ihnen können wir weiter sehen, als unser Auge reicht, wenn wir auf die Berge steigen. So wie ich mussten auch viele andere mexikani­ sche Mütter verschwundener Kinder lernen, mit Drohnen umzugehen, wenn wir unsere Kinder im Gelände finden wollten. Wir lassen die Drohnen über Gebiete fliegen, wo die sogenannten Sicherheitshäuser der Drogenkartelle liegen. Man benutzt sie für Entführungen und Morde. Häufig liegen in ihrem Umkreis Massengräber. Sie sind alle zu mir gekommen, Mütter, sogar Groß­ mütter zwischen 60 und 70. Gemeinsam haben wir geübt, um mithilfe der Technik das Gelände zu be­ zwingen, das seit Jahren vom organisierten Verbre­ chen beherrscht wird. Wir können besser mit Drohnen umgehen als die Bundespolizei. Wir haben Polizisten beigebracht, wie man Drohnen fliegen lässt. Ins Gelände vorzu­ dringen, macht Angst. Man weiß nicht, was man vorfindet. Deshalb sind diese Drohnen für uns ein wichtiges Werkzeug bei der Suche nach unseren Schätzen. Wir lernen gerade, wie man mit der Drohne Tempe­ raturunterschiede am Boden aufspürt und so auf Massengräber stößt. Seit wir Drohnen benutzen, haben wir mehr als 1600 Gebeine und 43 Körper gefunden, sie liegen in einem Kühlraum der Rechtsmedizin und warten darauf, dass man sie identifiziert und ihren Fami­ lien übergibt. Unser Land ist jetzt ein Erntefeld der Körper, ein Schlachtfeld. Drohnen sind teuer. Gemeinsam mit allen Müttern haben wir drei Feste organisiert, die Eintrittskarten für zehn Pesos ver­

kauft und mit dem Erlös diese Drohne für knapp 30,000 Pesos gekauft; sie kam aus den USA. Mittlerweile sind wir echte Expertinnen für diese Geräte. (Die Drohne fliegt über das Publikum.) [...] + EL CANELO / JALISCO, MÉXICO. Huachicoleo: Huachicol ist gepanschter Alkohol. Im mexikanischen Spanisch bezeichnet man so auch gepanschten oder gestohlenen Treibstoff (Benzin oder Diesel). „Huachicoleros“ sind Personen, die Treibstoff, meistens Benzin, stehlen und damit handeln.1 19. November 2018 Nancy Bustos: Ich bin Nancy Bustos, die Mutter von Oscar Edu­ ardo Núñez Bustos. Oscar hieß auch El Canelo, „der Zimt“, wegen seiner roten Haare. Meinen Sohn haben vermummte Männer mitge­ nommen ... Genau dieselben, die ihm wenige Mo­ nate zuvor eine rosige Zukunft als Huachicolero versprochen hatten. Sie zahlten 300 Pesos pro Tag. 20. November 2018 Die Ermittlungsakte zum Verschwinden meines Sohns wurde am 20. November 2018 unter dem Aktenzeichen D­I/64519/2018 registriert, von der Sonderstaatsanwaltschaft für vermisste Personen. Die Ermittlungen konnten keinerlei Ergebnis er­ bringen, weil die Anklagevertretung, ein gewisser Erasmo Carlos Badillo Ceballos, letztlich nur seine Litanei herunterbetete: Señora, haben Sie Geduld, wir ermitteln bereits. Wir überprüfen die Informationen, die Sie uns gegeben haben, ein Ergebnis erhalten Sie zeitnah. Seien Sie unbesorgt, der Einsatz muss nur noch genehmigt werden. Verlieren Sie nicht den Mut. Ich verlor den Mut, denn ich hatte ihnen genau be­ schrieben, wer die Huachicoleros waren, die meinen Sohn mitgenommen hatten. Ich hatte ihnen Namen und Adressen gegeben, auch Facebookprofile. Sogar Hinweise, wo sie sie finden könnten. Die Staatsantwaltschaft hatte für meine Worte nur taube Ohren. 23. November 2018 Ich erhielt eine anonyme Nachricht von einem der jungen Männer, die meinen Sohn mitgenommen hatten: 1

https://es.wikipedia.org/wiki/Huachicol 62

Wir haben Carlos in den Brunnen Ojo de Agua geworfen. Ich musste ihn mit Kalk bedecken, damit er nicht stinkt. Sie werden ihn nicht finden. Oscar hieß auch El Canelo, Zimt, wegen seiner ro­ ten Haare. Als ich die Nachricht gelesen hatte, verschwamm alles vor meinen Augen. An diesem Tag beschloss ich, mich auf die Suche nach meinen Sohn zu machen. Ich nahm Schaufel und Machete mit. Zwei Monate lang fand ich weder den Brunnen Ojo de Agua, noch hörte ich etwas von der Staats­ anwaltschaft für Vermisste, obwohl man dort wusste, dass ich Oscar Eduardo suchte, in einem geheimen Massengrab. Ich las die Nachricht immer wieder. Ich konnte den verfluchten Brunnen nicht finden ... Bis mir jemand sagte, Ojo de Agua, das Wasserauge, läge ungefähr dort, wo die Huachicoleros Benzin ab­ zapften; und ich, mit all meiner Angst, nahm mei­ nen Mut zusammen und ging ihn dort suchen. Nach mehreren Tagen der Suche fiel mir die Sache mit dem Kalk ein, von dem in der Nachricht die Rede war. 4. Januar 2019 Ich fing an, Müll und Unkraut zu beseitigen und nach weißen Flecken zu suchen. Ich fand sie. Unter den Kalkflecken fand ich die Öffnung des Brunnens, in den sie meinen Sohn angeblich ge­ stoßen hatten. Etwas sagte mir, dass er dort unten war, aber wir wussten nicht, wie tief der Brunnen war und wie wir hinunterkommen sollten. Zuerst warfen wir einen Stein, um herauszufinden, wie tief er war, dann banden wir eine Freundin an ein Seil, damit sie hinuntersteigen konnte. Und meine Freundin sagte: Hier ist dein Sohn! Am 4. Januar 2019, anderthalb Monate nach seinem Verschwinden, fand ich meinen Sohn, Oscar Eduardo. Ich fand ihn allein und unter den Drohungen der Huachicol­Barone: Wir haben dich im Auge! Auf dem Körper meines Sohns lag Müll, Unkraut und ein Stein, den man auf ihn gelegt hatte, damit man ihn nicht so leicht finden konnte. Durch den Stein war der Körper von oben nicht zu sehen. Ich erkannte ihn an seiner Kleidung und an der Form seiner Beine. Als ich ihn gefunden hatte, rief ich die Ermittler an und sagte ihnen, dass ich den Körper meines Sohns gefunden hätte, in einem Brunnen. Die beiden Polizisten kamen. Ich hatte den Körper meines Sohns gefunden und dachte, mein Martyrium hätte nun ein Ende. Als die Polizisten kamen, zeigte ich ihnen, wo die Leiche lag. Ich bat sie ausdrücklich um äußerste Sorgfalt bei der Exhumierung, denn wenn sie das Unkraut und den Müll, mit denen man die Brunnenöffnung be­ deckt hatte, nicht richtig entfernten, konnte alles auf Oscar fallen. Die Fachleute, die die Exhumierung vornahmen, ignorierten mich. Sie verwiesen mich außerdem hinter die Absper­ rung, obwohl ich laut Opferschutzgesetz das Recht hatte, am Rand des Grabes zu stehen. Von weitem sah ich, wie man meinen Sohn aus dem Brunnen holte, in einem schwarzen Plastiksack.


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Ich konnte also nicht sehen, in welchem Zustand sein Körper war. Ein Transporter der Gerichts­ medizin fuhr mit meinem Sohn davon. Damals dachte ich, die Arbeit wäre korrekt erledigt worden. Die Anklagevertretung, also Erasmo Carlos Badillo Ceballos, bat mich um ein paar Tage Geduld, damit Autopsie und DNA­Abgleich ordnungsgemäß statt­ finden konnten, danach würde ich den Körper mei­ nes Sohns zurückbekommen. Eine Woche verging, ohne dass ich von ihnen hörte. 9. Januar 2019 Ich ging zum Gebäude der Rechtsmedizin, aber niemand dort konnte mir die geringste Auskunft zum Körper meines Sohns geben. Das Forensik­ Institut von Jalisco steckte mitten in der Kühllaster­ Krise. Dutzende Familienangehörige von Verschwun­ denen standen Schlange, um zu erfahren, ob ihr Verwandter zufällig unter den 337 Leichen war, die man über zwei Jahre lang in den beiden Kühllastern gelagert hatte. Mir war das egal und ich schrie sie verzweifelt an: Ich will den Körper meines Sohns sehen! Ich will den Körper meines Sohns sehen, ver­ dammte Scheiße! Ich ließ nicht locker und setzte mich sechs Stunden lang vor Badillos Büro. Badillo sah mich manchmal durch den Spalt an, den die gelblichen Jalousien seines Büros offen ließen. Es wurde acht Uhr abends. Badillo löschte das Licht in seinem Büro, kam her­ aus und sagte zu mir: Das Problem ist, Señora, der Körper ist unvollständig. Wie, der Körper meines Sohns ist unvollständig? Der Herr Anwalt wollte dazu nichts mehr sagen. Ich dachte, der Stein und die Zeit hätten seinen Körper vielleicht zweigeteilt, aber nicht vollständig? 11. Januar 2019 Ich war seit acht Uhr morgens auf der Rechtsmedizin. Nachdem ich stundenlang gedrängt hatte, verriet mir eine Sozialarbeiterin des Forensik­Instituts von Jalisco, dass es sehr wohl rechtsmedizinische Fotos meines Sohns gab. Sie fragte mich: Wollen Sie die Fotos wirklich sehen? Er ist mein Sohn, natürlich will ich sie sehen. Und der Kopf? Mein Sohn hat keinen Kopf? Wo haben die seinen Kopf gelassen? Señora, der Körper, der uns gebracht wurde, hat keinen Kopf, wir wissen nicht, ob er sich noch am Exhumierungsort befindet oder nicht. Sagte mir das Personal der Rechtsmedizin. Als ich auf den Fotos gesehen hatte, dass meinem Sohn der Kopf fehlte, rief ich diesen Drecksack Badillo an: Warum haben Sie mir das nicht gesagt? Warum sind Sie nicht sofort zum Brunnen zurückgekehrt, als Sie das gemerkt haben und haben ihn geholt? Der Beamte hatte darauf keine Antwort. Ich konnte nicht glauben, was man mir da sagte: Wie konnte es sein, dass sie nicht wussten, wo sein Kopf war? Niemand wusste etwas. Sie sagten mir nur, sie würden ihn noch holen. 12. Januar 2019 Am folgenden Tag nahm ich Schaufel und Machete und machte mich wieder auf die Suche nach mei­ nem Sohn.

Wir holten nach und nach den Müll raus, räumten alles weg. Ein Freund von Oscar, der mich an jenem Tag be­ gleitete, stieß auf Haare und als ich die Farbe sah, wusste ich, es waren seine. Mein Sohn war rothaarig. Der Junge unten im Brunnen fing an, zu weinen und sagte: Señora, hier ist sein Kopf ... Sie haben ihm die Augen zugetapet! Ja, dort fanden wir den Kopf meines Sohns, wir ganz allein, und ich nahm ihn an mich, noch mit Haut und Haaren. Man musste nur das Unkraut und den Müll weg­ räumen, um seinen Kopf zu finden. Dort, im selben Brunnen, in dem ausgebildete Forensiker bereits die „Exhumierung“ aller sterblichen Überreste vor­ genommen hatten. Nach dem Fund rief ich Badillo an und sagte ihm, dass ich den Kopf meines Sohns gefunden hätte. Badillo Ceballos sagte, ich solle den Kopf im Brun­ nen lassen, sie würden ihn am nächsten Tag holen. Wenn ich ihn nicht da ließe, könnten sie ihn auch nicht bergen. Wer bitte kommt auf die Idee, ich könnte den Kopf meines Sohns zurücklassen! Glaubten die im Ernst, ich würde warten, bis sie Zeit hätten, endlich die Arbeit zu machen, die sie von Anfang an verpfuscht hatten? Seine Antwort machte mich so wütend, dass ich den Kopf meines Sohns mit nach Hause nahm. Zuhause angekommen, wusste ich nicht, was ich mit Oscar machen sollte. Ich legte seinen Kopf ins Kühlfach. 13. Januar 2019 Am nächsten Tag brachte ich ihn zurück in den Brunnen. Nach mehreren Stunden kamen sie wieder zum Brunnen, die Leute der Staatsanwaltschaft und der Rechtsmedizin, um Oscar Eduardos Schädel zu holen, mit Tape über den Augen und fehlendem Kiefer. Bitte sehen Sie jetzt richtig nach! Lassen Sie nicht noch mehr liegen. Nach mehreren Stunden sagten die Forensiker, da sei nichts mehr. Natürlich glaubte ich ihnen nicht und kam am nächsten Tag wieder. Noch einmal zu diesem verfluchten Brunnen, um dort vorzufinden, was die Forensiker übersehen hatten: Hand und Kiefer meines Sohns. Ich konnte es nicht fassen. Am liebsten wäre ich gestorben. Wollte mich in den Brunnen stürzen, mich an­ zünden, was weiß ich ... Ich war so voller Wut, wie ein Mensch nur sein kann. Das sollten Fachleute sein, die sollten gute Arbeit machen! Warum hatten sie den Brunnen dann nicht richtig durchsucht ... Wie kann es sein, dass ich und die Freunde meines Sohns seine Überreste finden und die Forensiker nicht? Nach diesem neuerlichen Fund beschwerte ich mich noch einmal bei Badillo, bei der Staatsanwalt­ schaft. Badillo sagte mir: Es sei zu spät für einen neuen Einsatz. Señora, steigen Sie bitte nicht mehr in den Brunnen, das behindert die Ermittlungen. Welche Ermittlungen? Ich habe doch alles allein ge­ macht, den Brunnen gefunden, in dem mein Sohn lag; ihnen gesagt, dass ich ihn gefunden hatte; ich 63

habe seinen Kopf und den Rest seines Körpers gefun­ den und die Schuldigen benannt, die niemals verhört oder festgenommen wurden. Ich habe alles gemacht. Sie haben ihn nicht mal ordentlich exhumiert. 14. Januar 2019 Zum dritten Mal fand ein Einsatz im Brunnen statt um – endlich – alle sterblichen Überreste von Oscar Eduardo mitzunehmen, nicht aber das Beweis­ material, das noch vor Ort war und das vielleicht wichtig sein könnte, um die Schuldigen ausfindig zu machen: Dort lagen zum Beispiel blutbefleckte Kleidung, Zigarettenstummel und ein ebenso blut­ befleckter Stein, den man neben dem Kopf meines Sohns gefunden hatte. Das alles ließen sie liegen. 19. Februar 2019 Heute konnte ich endlich den Leichnam meines Sohns entgegennehmen, den ich selbst nach und nach gefunden hatte. Bis heute wurde niemand für irgendetwas zur Rechenschaft gezogen. [...] + LAURA DELGADO / MONTERREY, N.L. L.U: Für unsere Recherchen fuhren wir nach Mon­ terrey, um Interviews mit Letty Hidalgo und Laura Delgado zu führen, mit zwei Müttern, die ihre Söhne suchen: Roy und Carlitos. Als ich bei Laura Delgado ankam, war es kurz vor zwei. Sie empfing mich sehr freundlich und hatte mir ein Sandwich gemacht. Laura Delgado: Es ist nicht viel, aber immerhin. Du hast bestimmt Hunger. L.U: Danke, Laura, das sieht toll aus. Stört dich die Kamera hier? Laura Delgado: Überhaupt nicht, ich bin es ge­ wohnt. L.U: Es schmeckt wunderbar. Ich wollte dir keine Umstände machen. Laura Delgado: Das sind doch keine Umstände. Es ist Vollkornbrot mit Biosalat und Biotomate. Chili­ soße? L.U: Gerne. Ist das Carlitos? Laura Delgado: Ja, der, der und der da auch. Also, Carlitos ist der, den man auf allen Fotos sieht. Hier in der Küche steht sein Altar. Ich spreche jeden Tag mit ihm, zünde Räucherstäbchen an, denn irgend­ wie ... hab ich das Gefühl, er hört mich besser, wenn ich räuchere. L.U: Bestimmt hört er dich ... Vielen Dank, dass du dir Zeit nimmst. Hoffentlich halte ich dich nicht zu lange auf. Wie beginnt man mit einer Unbekannten ein Gespräch über ein so schmerzliches Thema? Und wozu eigentlich? Laura Delgado: Keine Sorge. Ich habe nichts vor. Das Fitness­Studio hat heute geschlossen. Du hast Glück. L.U: Machst du viel Sport? Laura Delgado: Ich arbeite in einem Fitness­ Studio. Als Trainerin. L.U: Verstehe. Du siehst sehr jung aus. Laura Delgado: Naja. Man tut, was man kann. Oder was einem bleibt. Seit das mit Carlitos passiert ist, bin ich den ganzen Tag im Fitness­Studio. Schwitzen hilft.


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L.U: Es ist mir unangenehm, in ihre Privatsphäre einzudringen. Warum interessiert mich das Leben der anderen? Wie lange ist das mit Carlitos her? Laura Delgado: Schon neun Jahre ... Lange ... Aber ich weiß, dass mein Sohn lebt und auch, dass er nicht mehr ganz richtig im Kopf ist. Ich träume von ihm, als wäre er verblödet oder verrückt. Auf der Straße sehe ich mir immer die Bettler an, ich habe das Gefühl, irgendwann finde ich ihn in einem die­ ser Penner wieder. L.U: Entschuldige Laura, ich habe die Aufnahme­ taste nicht gedrückt. Aber egal, umso besser, dann können wir uns in Ruhe unterhalten. Warum zum Henker muss ich alles aufnehmen? Ich will mit ihrem Unglück nicht hausieren gehen. Wozu mache ich das alles? Laura Delgado: Wie du willst, ich bin es gewohnt. Kaffee? L.U: Ja, danke. Nett von dir. Laura Delgado: Mich besucht ja niemand. Darum muss ich es ein bisschen ausdehnen. L.U: Wir lächeln beide. Sehen uns sekundenlang an, als wollten wir ein wenig mehr über die andere herausfinden. Ihr interessierter Blick lässt mich die ungestellte Frage beantworten. Ich mache Theater. Dokumentartheater. Ich schreibe und inszeniere Stücke, die auf der Wirklichkeit be­ ruhen. Augenzeugenberichte, wahre Geschichten. Laura Delgado: Über mich könntest du einen gan­ zen Roman schreiben. L.U: Laura lächelt und bietet mir Zucker an. Kein Zucker, danke. Laura Delgado: Wie gut, dass es Menschen gibt, die sich dafür interessieren. Die meisten denken, wir spinnen – die suchen Knochen, wie Hunde, die spin­ nen doch – , denken die Leute. Und erinnern hilft mir. Naja, mal will man sich erinnern und mal nicht. L.U: Es ist bestimmt nicht leicht. Du hast ein sehr schönes Haus. Laura Delgado: Danke. Es ist das einzige Haus, das Carlitos kennt. Deswegen kann ich hier nicht weg. Eigentlich wollte ich mit ihm nach Cancún ziehen, aber dann war es zu spät. Ich hatte mich gerade von Carlos scheiden lassen – Carlitos Vater – und wollte wegziehen, weil es hier immer schlimmer wurde. Stell dir vor, nebenan waren Gangster eingezogen und jeden Tag hörte ich ein Mädchen weinen und schreien, aber was willst du machen? Anzeige erstatten? Ha, am nächsten Tag bist du tot. Carlitos war gerade mal ein Teenager und eines Tages fand ich bei ihm ein Tütchen Marihuana, da sagte ich, wir gehen fort von hier. Ich fuhr nach Cancún und ging auf Wohnungssuche. Sobald ich mich eingerichtet hatte, wollte ich Carlitos nach­ holen, aber dazu kam es nie. Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Ich wollte Carlitos anrufen und sein Handy war aus, also rief ich seinen Vater an. Der sagte mir, Carlitos würde schlafen, er sei gerade nicht da, das Handy sei kaputt, lauter Lügen ... Bis er es mir nicht mehr ver­ heimlichen konnte. Er sagte mir nur, Carlitos sei „etwas passiert“. Ich nahm den ersten Flug zurück. Während des ganzen Flugs fingerte ich an einem Passfoto von Carlitos herum, das ich in der Brief­

tasche hatte. Als ich rauskam, seinen Vater sah und er mir sagte, dass Carlitos entführt worden war, ging ich in die Knie. Ich hatte einen Ohrring in der Hand, den ich im Flugzeug abgenommen hatte, ich drückte ihn so fest, dass meine Hand blutete. Schau, hier sieht man noch die Narbe. Das ist neun Jahre her ... Neun Jahre ... In manchen Nächten lief ich im Schlafanzug auf die Straße, ohne Schuhe, und dann ging oder rannte ich zu dem Berg dort. Ich lief zu diesem Berg, weil dort sein Handy zu­ letzt geortet wurde, aber da war nichts ... L.U: Während Laura mir ihre Geschichte erzählt, betrachte ich das Haus, die Gegenstände, alles wirkt, als sei die Zeit stehengeblieben. Mein Blick bleibt an einer Zimmertür hängen und ich frage mich, was ist da passiert? Woher kommt das Loch in der Tür?

damit der Geruch nicht verfliegt. Ich sehe mir Fo­ tos an, schreibe ihm, Carlitos’ Spitzname war „Di­ fus“, ich habe einen Blog, der auch so heißt, „Difus“, dort schreibe ich ihm oft. L.U: In diesem Augenblick begann mein Bauch wehzutun. Gleichzeitig dachte ich, wenn ich nur etwas Konkretes tun könnte, etwas Echtes. Wenn ich ihr nur helfen könnte, Carlitos zu finden ... Ich drücke ihre Hand. Sehe sie an. Sie sagt: Danke. Ich danke dir, Laura, für alles. Ich hatte Laura sechs Stunden lang zugehört, kam ins Hotel und kotzte das ganze Sandwich wieder aus. Laura und ich, wir sahen uns nie wieder. Manchmal lese ich den Blog, in dem Laura ihrem Sohn schreibt. Ich werde dieses Sandwich nie vergessen.

Laura Delgado: Auf diesem Berg war ich mit der Polizei, allein, nachts, tagsüber und ja, dort gab es ein halbfertiges Haus, aber darin fand ich nur Müll. Dann erzählte man mir von einem Gut auf der an­ deren Seite und ich ging hin. Man verliert die Angst. Ich kam an und tja..., die Küche voller Blut, in einer Ecke stapelten sich die Schädel, ein Pool voller Erde und Leichen und dabei war der Besitzer ein Beamter, stell dir vor. Aber wie gesagt, ich habe keine Angst mehr, wenn mir welche folgen, sehe ich ihnen ins Gesicht und sage, los, bringt mich um, ich bin sowieso schon tot, dann machen sie kehrt ...

12. November 2019 L.U: 18:00 Uhr. Landung in Mexiko­Stadt. Ich habe Feldforschung in Monterrey betrieben und Mitglieder des FUNDENL­Kollektivs ge­ troffen (das steht für Gemeinsam für unsere Verschwundenen in Nuevo León). Ich bin noch dabei, die unvorstellbare Zahl verschwundener Men­ schen in Monterrey zu verarbeiten, da ruft mich um 18:15 Uhr die Leiterin von „Out of sight“ an – der Schreibwerkstatt, an der ich teil­ nehme – und bittet mich, meinen Flug nach Tel Aviv zu stornieren, der eigentlich heute um 23:00 Uhr geht. Der Grund: Eine Bombe war in der Nähe des Hotels explodiert, in dem die Leiterin uns ande­ re Dramatiker erwartete. Israel hatte die Gren­ zen geschlossen und es war nicht sicher, nach Ramallah zu reisen, der Heimatstadt einer der Dramatikerinnen des Projekts und der Ort, an dem wir zusammengekommen wären. Aufgrund dieser Ereignisse müsse die Schreib­ werkstatt in Palästina verschoben werden, bis sich die Lage bessere. Wenn sie sich denn bes­ sert ...

L.U: Was soll ich ihr bloß sagen, was tun ... und ich frage mich, wie komme ich darauf, dass ich immer etwas dazu sagen muss, oder denken, oder eine Meinung haben ... Laura Delgado: Hier ist es schlimm, aber wenn ich fortgehe, verzichte ich auf meinen Sohn, Carlitos kennt doch nur dieses Haus. Die Geister würden mich ohnehin verfolgen, egal, wohin ich gehe. Ich würde alles mitschleppen, also bleibe ich lieber hier und wenn ich nach Hause komme, habe ich das Gefühl, bei ihm zu sein. Ein Jahr lang war ich weg vom Fenster, ich wurde eingewiesen, wurde richtiggehend verrückt. Vieles weiß ich nicht mehr, nur noch, dass ich ein Handy hatte, das ich nie losließ, damit rief ich jeden Tag Carlitos an. Jeden Tag, zu jeder Zeit, ich tat nichts anderes, rief ihn nur an, und nichts. Eine Zeitlang kam noch das Rufzeichen, dann sprang direkt die Mailbox an. Ich weiß noch, wie ich einmal zwei Anrufe von unbekannten Nummern bekam – Carli­ tos, bist du das? Ich hole dich, sag mir, wo – Dann legten sie auf. Danach fiel ich ins Koma und wachte erst sechs Monate später wieder auf. Im Augenblick geht es mir ganz gut, aber das täuscht. Wenn es dunkel wird, verbrennst du innerlich. Du verbrennst nach und nach, das muss irgendwie raus. Das da ist sein Zimmer, es sieht noch so aus, wie er es hinterlassen hat. Tut mir leid, ich habe nicht mal die Tür repariert, sie hat immer noch ein Loch. Car­ litos Vater war sehr brutal, irgendwann habe ich Kickboxen gelernt und ihn ausgeknockt. Seitdem hat mich der Kerl nie wieder angefasst. Dort schließe ich mich ein, in Carlitos Zimmer, wenn es in mir schwarz wird. Die Nachbarn sagen bestimmt, jetzt schreit die Verrückte wieder her­ um, aber das ist mir egal. Ich rieche an seinen schmutzigen Sachen, ich habe sie nicht gewaschen, sie riechen noch nach ihm und sind gut verpackt,

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21:56 Uhr. Ich fühle mich ungefähr so, wie es der mexikanische Dichter Javier Sicilia in sei­ nem Twitter­Account beschreibt: „Am Ausmaß des Verbrechens scheitert die Sprache. Das Scheitern der Sprache ist nichts anderes als die Niederlage der Ideen, die Unfähigkeit, zu benennen und damit zu verstehen, was geschieht.“ Die Schreibwerkstatt in Palästina hat nie statt­ gefunden. So fühle ich mich, von Nichtverstehen durch­ drungen ... Kurdistan, Südafrika, Palästina, Mexiko – war­ um hat man sich dafür entschieden, Dramatiker aus diesen scheißbrutalen Ländern zu fördern? Vielleicht fühlt sich die Erste Welt schuldig und will etwas wiedergutmachen, indem sie Dritte­ Welt­Künstler in widrigen Umständen unter­ stützt. [...]

© Laura Uribe und Franziska Muche


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AUFTAUCHEN PETER DIETZE UND LAURA OTT

Schwitzhütte für das traditionelle Temazcal, Foto LCB

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Gemeinsam entschieden wir uns für das Wagnis. Am nächsten Tag fuhren wir nach Tepoztlán, weit aus der Stadt hinaus und fanden uns unter Palmen wieder, vor besagter Lehmhütte, daneben ein künstlicher Wasserfall, ein Lagerfeuer. Die beiden Schamanen, ein Mann und eine Frau, begrüßten uns, boten uns eine Kräutermixtur an und erklärten, dass wir nun zusammen die Ahnen anrufen würden. Dass wir nach kurzer Zeit Atemnot bekämen, die aber nur eine Reaktion des Geistes sei, der Angst habe, zu wenig Sauerstoff zu bekommen, von dem aber immer genug in der Luft wäre, sodass wir über diesen Punkt hinausgehen und die Angst einfach aushalten sollten. Den Körper übernehmen lassen. Er wüsste, was zu tun sei. Vorerst mussten wir unsere Körper aber noch selbst dirigieren. In der Dunkelheit, der Enge der Hütte und der Hitze fiel es uns schwer, Platz zu finden. Als der Gesang anhob, war die Kühle des Lehmbodens bereits verflogen. Fast blind konzentrierten wir uns auf unsere Atmung, um der drohenden Besinnungslosigkeit etwas zu entgegnen. Als die Rufe der anderen nicht mehr zuzuordnen waren, blieben uns nur der Geschmack der Kräuter und die Furcht vor der Ohnmacht. Die Panik kam, wir atmeten weiter. Plötzlich gab es diesen einen Moment. Wir spürten unseren Körper und auch die Körper der anderen. Jeder in der Lehmhütte rief und sang, schrie, johlte. Es war unwirklich und fühlte sich doch unmissverständlich so an, als verbanden wir – verschieden und doch harmonisch – uns durch unsere Laute, unsere Stimmen. Das war der Moment, eindeutig, der uns zu einer einzigartigen Gruppe zusammenwachsen ließ. Wir kühlten uns im Wasserfall ab, aßen, zogen unsere Schuhe an. Waren wir davor noch eher höflich miteinander, hatte sich nun etwas verwandelt, gelöst. Diese offene Schicht, die nun unvermittelt freilag, ermöglichte unseren intensiven Austausch und führte zu den entstandenen dramatischen Texten. Sie tragen die Spuren unserer Reise weiter.

as Literarische Colloquium Berlin versteht sich seit seiner Gründung in den sechziger Jahren nicht nur als Ort für die Präsentation von literarischen Arbeiten, sondern in gleichem Maße auch als Haus der entstehenden Literatur, des Dialogs über das Schreiben, während es passiert. Und obwohl sich Theater- und Literaturbetrieb in den vergangenen Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen voneinander entfernt haben, hat das dramatische Schreiben inzwischen wie­ der einen festen Platz im Programm des Hauses. Nicht zuletzt dank des Internationalen Dramatiker*innenlabors, das seit 2015 in drei Durchläufen Theatertexte und Schreibende aus der ganzen Welt nach Berlin und von hier aus wieder in die Welt brachte. Die Teilnehmenden verbrachten intensive Monate miteinander, im direkten Austausch wie auch digital. Sie vertieften sich gemeinsam in die Recherche, aber auch in die eigenen Stücke und begleiteten einander während des gesamten Entstehungsprozesses. „Out of Sight“ lautete der Titel des letzten Dramatiker*in­ nenlabors mit Laura Uribe, Monageng „Vice“ Motshabi, Yildiz Çakar und Dalia Taha unter der Leitung von Maxi Obexer und Mazlum Nergiz. Vorgesehen waren Aufenthalte in Berlin ebenso wie Reisen nach Südafrika, Mexiko und Palästina. Die erste Reise führte uns nach Mexiko-Stadt. Nach einigen Tagen vor Ort fragte uns unsere Gastgeberin Laura Uribe, ob wir gemeinsam an einem Temazcal teilnehmen wollten, einem traditionellen Heilungsritual der indigenen Bevölkerung Mesoamerikas. Das Ritual war uns bisher unbekannt, wir erfuhren aber, dass es unter Anleitung zweier Schamanen stattfinden würde. Mehrere Stunden sollten wir in einer durch heiße Steine aufgeheizten Lehmhütte sitzen. Sollten wir die Gruppe einer so anstrengenden und intimen Situation aussetzen? Wollten sie sich dieser körperlichen Erfahrung im Kreis der Gruppe wirklich stellen? Sagten sie nur aus Höflichkeit oder, schlimmer noch, aus Gruppendruck zu? 65


„AUF NOAHS BLUTIGEM REGENBOGEN TANZEN WIR“ VON MONAGENG „VICE“ MOTSHABI NORA HAAKH

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in junger Mann, fast noch ein Junge, liegt im Sterben. Getroffen von mehreren Schüssen, verblutet er in einem Maisfeld. „Ein Brunnen. Ist der Mensch. Wenn man ein, zwei Löcher reinmacht.“ Seine Mutter sammelt die blutige Erde auf. Ihre Hände ballen sich zu Fäusten. Diese Szene ist der Ausgangspunkt des Stückes „Auf Noahs blutigem Regen­ bogen tanzen wir“, das der Regisseur und Dramatiker Monageng „Vice“ Motshabi im Rahmen des Internationalen Dramatiker*innenlabors „Out of Sight“ entwickelt hat. Das Thema der Schreibwerkstatt war das Verschwinden, eben auch das Verschwinden von Menschen: „Irgendwo zwischen hier und und und irgendwoanders. Unklar wo genau, dort verweilt der junge Mann.“ Behutsam und wütend zeichnet das Stück Umstände und Nachgeschichte des Todes beziehungsweise des Mordes an dem jungen Mann Tumelo Mogotsi nach und führt dabei vor, wie Diskurslandschaft und Justizsystem auch heute von kolonialem Erbe und strukturellem Rassismus geprägt sind. Denn der junge Südafrikaner starb auf dem Grund und Boden der reichen weißen Familie Van Vuuren, bei der die halbe Stadt, auch seine Mutter, in Anstellung steht. Der Sohn des Grundbesitzers feuerte die Schüsse ab. Japie, der Freund des Toten, der den Mord zur Anzeige

bringt, ist ein stadtbekannter Junkie. Wer wird ihm glauben, dass die weißen Jungen ihn und Tumelo als Zielscheiben für Schussübungen missbraucht haben? Ist ein Maisdiebstahl und damit ein Handeln der Van Vuurens aus Notwehr nicht viel wahrscheinlicher? Auf der Polizeiwache, die sich nur widerwillig mit dem Fall beschäftigt, wird erst mal der Zeuge verhaftet, der zum Mord aussagen will. Anhand des Drängens auf Aufarbeitung durch die verwaiste Mutter und des Wirkens eines politischen Aktivisten führt das Stück vor, wie auf dem Polizeirevier, in der Kirche und schließlich auch vor den Toren der Maisfarm über mögliche Verläufe des Tathergangs spekuliert wird. Dabei entlarvt Motshabi jene strukturelle Gewalt und Denkstrukturen, die die Normalisierung rassistischer Ungleichheit bis hin zum tödlichen Ausgang aufrechterhalten. Die Form von deskriptiven Monologströmen, aus denen heraus sich die Dialogpassagen ergießen, hat Motshabi als Resultat seines Drangs nach sowohl Dramatik als auch Prosa beschrieben. Die Spannung zwischen diesen Genres sieht er in präkolonialen Formen mündlicher Erzählungen aufgelöst, in denen mündliche Literatur (oder „Orature“, um den Begriff des Linguisten Pio Zirimu aufzugreifen) performativ aus­ gedrückt wird. Die Auseinandersetzung mit diesen künstleri66

v.l.n.r.: Dela Dabulamanzi, Lara-Sophie Milagro, Zandile Darko, Jonathan Aikins in der filmischen Realisierung von Motshabis Stück

EIN BRUNNEN IST DER MENSCH


Monageng „Vice“ Motshabi, Foto Lutendo Malatji

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schen Mitteln, so Motshabi, ermögliche ihm ein bewusstes Navigieren mit den Formen, in denen „die Worte aus ihm heraus explodieren“. Der Autor findet poetische, starke Worte für die Spannungsräume zwischen Leben und Sterben, zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen strukturellem Rassismus und kolonialer Gewalt und ihrem Fortwirken in Verwaltung und Vorurteil. Das mehrstimmige und oft schonungslose Gesellschaftsporträt wird dabei behutsam durch die chorische Sprechanordnung aufgefangen, in denen auch der Tote noch zu Wort kommt. Die filmische Umsetzung des Textes durch Lara-Sophie Milagro ist auf mehreren Ebenen bemerkenswert. Milagro, selbst Schauspielerin, arbeitet regelmäßig als Autorin und Regisseurin und ist, neben Dela Dabulamanzi und Jonathan Aikins, seit der Gründung 2009 Mitglied des afrodeutschen Kollektivs Label Noir. Dieses hat seitdem in zahlreichen Projekten die Spielräume Schwarzer Lebenswelten und Präsenz auf der Bühne, im Diskurs und in der Gesellschaft erprobt und ausgeweitet. In „Auf Noahs blutigem Regenbogen tanzen wir“ können einige intertextuelle Bezüge zu deutschsprachiger Dramatik ausgemacht werden: Ein Mensch wird als Zielscheibe instrumentalisiert, der hier – im Gegensatz zu Schillers Wilhelm Tell – keinen Apfel, sondern einen Kürbis auf dem Kopf trägt. Maisfelder begrenzten auch in „Mais in Deutschland und anderen Galaxien“ von Olivia Wenzel eine Mutter­Sohn­Aus­ einandersetzung mit dem Aufwachsen eines Schwarzen Kindes in einer strukturell rassistischen Umgebung. Motshabis Stück aber spielt im komplexen gesellschaftspolitischen Panorama des heutigen Post­Apartheid­ und Post­Mandela­ Südafrikas. Einen Text zu inszenieren, der in einen spezifischen lokalen Kontext eingebettet ist, ist eine wiederkehrende Herausforderung internationaler Dramatik. Wie viel Wissen kann vorausgesetzt werden? Wird der Schwerpunkt auf das Kontextspezifische oder auf das Kontextübergreifende gelegt? Für die dreißigminütige Filmadaption hat sich Lara-Sophie Milagro entschieden, die Diskursschauplätze zu reduzieren und explizit einen weiteren hinzuzufügen: das heutige Berlin, mitten in seiner postkolonialen Aufarbeitung, selbst Schauplatz von strukturellem Rassismus und Gewalt. Musik von Rio Reiser erinnert mit rotziger Rebellenpose an die alltägliche Anstrengung politischen Aktivismus und die Trägheit des Systems. Wir sehen die Darstellerinnen und Darsteller von Label Noir in ihren eigenen vier Wänden, beim morgendlichen Aufstehen, auch einige Kinder sind dabei. Als beginne ein neuer Tag in „Happyland“. So nennt Tupoka Ogette das Wahrnehmungskonstrukt, das die alltägliche

Ungerechtigkeit strukturellen Rassismus wirksam ausblendet oder verdeckt und unsichtbar macht. Ausgeblendet wird er vor allem durch und für diejenigen, die so positioniert sind, dass sie vom Status quo profitieren. Verdeckt werden vor allem die Erfahrungen derer, die davon schmerzvoll betroffen sind. Der Weg der Darstellenden durch Berlin führt durch Straßen, deren Namen immer noch an Menschen erinnern, deren Kolonialverbrechen bekannt sind. In roten Kostümen, die auf die Figur des politischen Aktivisten im Stück verweisen, trifft sich das Ensemble vor dem U­Bahnhof „Mohrenstraße“. Milagro schafft so einen entschieden transparenten Rahmen, der die eigene Position im heutigen Berlin inmitten der weiterhin oft nur unwillig geführten Auseinandersetzung mit kolonialer Vergangenheit und rassistischen Kontinuitäten selbstbewusst als Zugang zum Stück wählt. Ästhetisch bringt die in ruhigen Bildern eingefangene Umsetzung theatrale und filmische Mittel zusammen und spielt mit dem Kontrast zwischen Bühnenraum und Außenaufnahmen. Da tauchen Schatten­ silhouetten auf, Nahaufnahmen der Sprechenden werden mit Landschaftsaufnahmen überblendet, dann wird wieder aus konzentrierten Ensemblemomenten herausgezoomt und die Theaterbühne selbst als Dreh­ und Schauplatz sichtbar. Die von Lara­Sophie Milagro konzipierte filmische Lesung überzeugt als konzentriertes Ensemblestück, das die Ereignisse vorstellt und im reduzierten Stil einer Lesung unbedingt empathisch bleibt. Die unterschiedlichen Positionen des Diskurskosmos werden vor­, nie ausgestellt. Im Zentrum steht der Schmerz der Mutter, die um ihren Sohn trauert. Diese Setzung schützt sowohl Text als auch Inszenierung davor, ins Pamphlethafte abzurutschen oder es sich in der Distanzierung bequem zu machen. Stattdessen kreiert die Ensemblepräsenz von Label Noir als Gemeinschaft von Individuen, die als Schauspielende glänzen und zugleich auch ihre Positionierung als Aktivistinnen und Aktivisten transparent machen, einen Eindruck von Zeugenschaft im Sinne von Haraways „Staying with the Trouble“. So ist es nur konsequent, dass zum Ende zur Musik von Sona Jobarteh, der Londoner Musikerin, auf deren Kora unter anderem alte Griot-Melodien ein weltweites Publikum erreichen, nicht nur zur Reflektion der eigenen Position im komplexen, alltäglich wirksamen Gefüge rassistischer Denk- und Handlungsstrukturen aufgefordert, sondern auch an Oury Jalloh erinnert wird, dessen Tod in deutschem Polizeigewahrsam zwar als Mord nachgewiesen, jedoch weiterhin nicht aufgearbeitet worden ist. „Irgendwo zwischen hier und und und irgendwoanders. Unklar wo genau, dort verweilt der junge Mann.“ 67


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SCHMERZVOLLE TEXTUREN „BÎRA MIRIYAN (TOTENBRUNNEN)“ VON YILDIZ ÇAKAR MARION ACKER Wiederholungen und Paraphraie lässt sich die Intensität sen versucht der Text das Un­ leidvoller Affekte literarisch vererträgliche einzufangen, die Ge­ mitteln, noch dazu in einer fühle von Ruhelosigkeit und Sprache, deren Gebrauch lange Ohnmacht gegenüber einer als Zeit verboten war? Sich der ei„dämonisch“ wahrgenommenen genen Muttersprache bedienen Staatsgewalt und ihre Auswirzu dürfen, ist für die 1978 in kung auf das subjektive ZeitAmed (türkisch: Diyarbakir) geempfinden der vom jahrelangen borene, heute in Berlin lebende Warten Zermürbten. Schriftstellerin Yildiz Çakar alles Für dieses Empfinden hat andere als selbstverständlich. der Regisseur Bashar Murkus in Dass der im Rahmen des interseiner filmischen Interpretation nationalen Dramatiker*innendes Textes das Bild eines nielabors „Out of Sight“ entstanmals endenden Laufbands gedene Text „Bîra Miriyan“ auf funden, in dem sich Bewegung Kurdisch verfasst ist, kann daund Stillstand hoffnungslos mither als Ausdruck eines künstleeinander verschränken. Obwohl rischen Freiraums und einer der Film nur eine der Geschichbewussten Selbstverortung geten zur Darstellung bringt, die wertet werden. Der Titel des Çakars Stück in additiver Abfolge versammelt, so visualisiert Stücks, dessen deutsche Übersetzung durch Sivan Kalesh das fortschreitende Auf­der­Stelle­Treten doch einen Aspekt, „Totenbrunnen“ lautet, spielt auf das mysteriöse Verschwinder die Semantik des gesamten Textes prägt und für dessen den Tausender Menschen an, die in den neunziger Jahren, als „Gang“ strukturbildend wirkt. Auch der Text scheint nicht so der sogenannte Kurdenkonflikt im Südosten der Türkei einen recht vom Fleck zu kommen, weil er keine linear verlaufende Höhepunkt erreichte, ermordet, mit Säure überschüttet und Handlung entwirft, sondern nach einem repetitiven Muster in Brunnen geworfen wurden. Diese Gräuelgeschichte hat gestaltet ist, das durch die mehrmals wiederkehrende, jeÇakar, die neben ihrer Tätigkeit als Korrespondentin und weils als gliedernde Zwischenüberschrift fungierende Frage Redakteurin für kurdische Zeitungen bisher vor allem als „Wohin gehen die Toten?“ deutlich ausgestellt wird. Formal Lyrikerin und Prosaschriftstellerin in Erscheinung getreten ist, bietet der Text jeder einzelnen Stimme ihren eigenen Raum in eine literarische Form gebracht, in der sich Politisches und zur Artikulation, mehr noch: Er wird selbst zu jenem ersehnten Poetisches gegenseitig durchdringen und zu einem hybriden Ort für die Trauer und das Gedenken, indem er die Mütter von Text verbinden. ihrem Unheil erzählen, sie sukzessive zu Wort kommen lässt Zwischen Selbstgespräch und Dialog, Klagegesang und und dadurch das Schweigen bricht, das ein Ausdruck represnarrativem Gestus oszillierend, lässt Çakar in ihrem Debüt als siver Verhältnisse ist: „Weder ließen sie uns ein Grab zum BeDramatikerin verschiedene Mütter auftreten, deren Reden ten, noch erlaubten sie uns zu reden.“ Erst am Ende verflechein gemeinsamer Wunsch vereint: der Wunsch nach Gewissten sich die einzelnen Stimmen zu einem vielstimmigen Chor, heit über den Verbleib ihrer verschwundenen Söhne oder sodass aus dem Nacheinander ein Miteinander entsteht, das zumindest deren sterblicher Überreste. Der Mischung unternicht nur trostspendend und zusammengehörigkeitsstiftend schiedlicher, sich einer eindeutigen Gattungszuordnung entwirkt, sondern auch die Serialität der Gewalt unterminiert, die ziehender Ausdrucksformen entspricht der existenzielle das Stück in seiner Struktur nachvollzieht. „Wie ein schwarzes Modus der Schwebe „zwischen Sein und Nichtsein“, der die Tuch der Reihe nach sich kräuselt“, führt „Bîra Miriyan“ durch Möglichkeit des Abschiednehmens verhindert und von den die Seelenlandschaften seiner Protagonistinnen und schafft Müttern als quälende Ambivalenz erlebt wird. „Niemand soll somit eine schmerzgetränkte Erinnerungstextur, in die indivimir sagen, tot und verschleppt seien dasselbe“, „ich weiß duelle und kollektive Leiderfahrungen eingewoben sind. weder, ob er tot ist, noch weiß ich, ob er lebt.“ In insistenten 68

Yildiz Çakar, Foto privat

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GEMEINSAM DRAUF SCHEISSEN „GRADUATION / ABITUR“ VON DALIA TAHA

v.l.n.r.: Die Schauspielerinnen Zainab Alsawah, Sandra Selimović, Katharina Nesitowa in der dramatischen Lesung des Stücks im LCB

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THERESA LUISE GINDLSTRASSER den nur angedeuteten Aktioiba, Deema und Lama, nen ihres abwesenden Vaters die drei Protagonistinnen in und werden von Hiba und Dalia Tahas Theaterstück Lama mit Druck beantwortet. „Graduation /Abitur“, sind sieb­ Im Vorlesen von Gedichten zehn Jahre alt. Kurz vor ihrem reflektiert sie die klaustroSchulabschluss begehen sie phobische Enge eines Leeinen Akt des Aufbegehrens, bens zwischen Checkpoints. „starten eine Revolution“ und Und zaubert zugleich Visiounterbrechen den Fortgang nen von hoffnungsvollem der Zeit mit einem zu sechs Neubeginn, von einer „ersten aufeinanderfolgenden SzeNacht auf dieser Welt“ in den nen ausgedehnten Moment. Raum. Aber nachdem Hiba „Gleicher Ort. Gleiche Zeit. den nach Anleitung ihrer Unmittelbar danach“, heißt Großmutter gebauten Moloes in den Regieanweisungen. towcocktail präsentiert – „es Die 1986 in Berlin geborene muss explodieren“ –, verund in Ramallah aufgewachschwindet sie aus der Dreierkonstellation. Die Gruppendynasene Autorin Dalia Taha begibt sich mit ihren Protagonistinnen mik produziert auch in dieser Revolution eine neue Spaltung. in diesen revolutionären Moment hinein. Entreißt ihn dem VerTaha, die neben Theatertexten auch Romane und einen gessen und behauptet einen Möglichkeitsraum, in dem alles Gedichtband veröffentlicht hat und derzeit im Auftrag des infrage gestellt werden kann, einer, der sich gegen sein eigeRoyal Court Theatre in London tätig ist, schafft mit ihrem neunes Verschwinden in der Erzählung einer von wirklichen Enten Stück eine poetische, ins Grundsätzliche verweisende scheidungen geprägten, konsequent in eine Richtung verlauÜberformung einer ganz konkreten Realität. Knappe Dialoge fenden Biografie behauptet. voller jugendlich­lebensweltlicher Verweise treffen auf nachBei allem Aufbegehren bleibt ein Rückzieher möglich. denkliche Erzählpassagen, treffen auf vorsichtig zur Debatte Oder mit Deemas Worten: „Los, wir gehen nach Hause. Wir gestellte Parolen. In einer nur aus Regieanweisungen bestekommen in die Schule. Morgen. Schreiben unsere Prüfungen. henden Szene sollen diese als Graffiti den Raum beherrWir flirten mit Jungs. Wir machen unser Abi. Wir lassen das schen. Das wahrscheinlich wichtigste Wort des gesamten alles hinter uns.“ Eine ausgesprochen prekäre Situation. Textes wird im Dreiklang „Freiheit Freiheit Freiheit“ bekräftigt. Schließlich wird das Schänden der Fahne – Hiba, Deema und Aber: „Habt ihr schon mal von jemandem gehört, der was anLama reißen sie herunter und scheißen darauf – mit einem gestellt hat und nicht gefasst wurde?“ Nein, haben Hiba, DeeJahr Gefängnis oder 10 000 Dollar Strafe geahndet. Und auch ma und Lama nicht. Viel schlimmer. Sie haben zum Beispiel mit dem Verlust der Krankenversicherung und des Rechts auf von Mohammed gehört, der nichts angestellt hat und trotzHochschulbildung bestraft. Für die drei Schülerinnen im Westdem festgenommen wurde. jordanland stehen also mindestens ihre individuellen Zukünfte Im Hineinzoomen in einen Moment voller Energie und auf dem Spiel. Sehnsucht nach Freiheit unter drei jungen Frauen gelingt es Aber nicht nur die. Weitaus grundsätzlicher stellt „Gradua­ Taha, die darin wirksamen Spannungen wie unter einem tion / Abitur“ die Frage, wie ein gemeinsamer Moment voller Brennglas zu fokussieren. Was passiert mit den Menschen, Freiheits­Energie aussehen könnte. Ob eine solche Energie wenn sie eine Fahne herunterreißen? Was ist davor bereits drei Individuen auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören verpassiert? Und wie lässt sich so ein prekärer Point of no Return mag. Und ob eine solche Verschwörung nicht auch neuen erzählerisch einfangen? Irgendwann ist kein Rückzieher mehr Zwang, den Zwang der Gruppe nach Einheit, hervorrufen kann. möglich. Die Zeit zerbricht in ein Davor und ein Danach. „Geht „Scheiß auf diesen Staat, scheiß auf dieses Land, scheiß auf man so über Grenzen? Macht man das so, wenn man was tun diese Schule“, formuliert Lama zu Stückbeginn selbstbewusst. will? Man springt einfach und schaut nicht mehr zurück.“ Aber Deemas Zaudern mit der Radikalität Lamas und ihr Wunsch Tahas Text schaut. nach Alltagsroutine gründen in der Auseinandersetzung mit 69


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GRADUATION / ABITUR (I) Hiba löst Knoten an einem Seil. Eine Fahne fällt vom Himmel und flattert zu Boden. Hiba: Wir haben die Fahne runtergerissen! Mädchen gemeinsam: Whoooooooowhoooooo whooooooo Deema: Fuck! Hiba: Wir haben die Fahne abgenommen! Lama: Fuck fuck fuck fuck! Wir haben die Fahne runtergerissen! Deema: Scheiß auf das hier! Lama: Scheiß auf diesen Staat, scheiß auf dieses Land, scheiß auf diese Schule. Hiba: Diese Stadt. Lama: Diese Welt. Hiba: Fuck! Scheiß auf Jungs! Lama: Wir haben es gemacht. Wir haben es wirklich gemacht! Deema: Scheiße. Fuck. Hiba: Wir haben es geschafft. Deema: Scheiße. Fuck! Hiba: whohooooooo WHOHOOOOOOOOO Deema: Fuck! Lama: whohowhwooooowhwooooooo Hiba: Wir übernehmen die Schule! Lama: Wir übernehmen das Land! Deema: Seht uns zu! Lama: Wir hängen sie ab. Hiba: REISSEN ALLES NIEDER. Lama: Seht uns dabei zu, wie wir noch mal neu beginnen. Hiba: Das kommt in den Nachrichten. Lama: Nein? Hiba: Ja? Deema: Was? Hiba: Ja? Deema: Warte mal. Was? Was kommt in den Nachrichten? Hiba: Das. Die Schule. Alles. Lama: Fuck. Ja. Deema: Die Schule kommt in den Nachrichten? Lama: Glaubst du, sie machen sie dicht? Deema: Was? Lama: Für die Ermittlungen? Deema: Ermittlungen? Hiba: Ja, sie/ Deema: Welche Ermittlungen? Hiba: Hier. Die Schule. Das alles. Deema: Welche Ermittlungen? Lama: Hör auf, immer dasselbe zu fragen! Deema: Du hast gesagt, das ist nichts Ernstes. Hiba: Niemand wird davon erfahren. Deema: Warte mal. Wie ernst ist es? Hiba: Was stimmt eigentlich nicht mit dir? Deema: Bullen­ernst? Lama: Die Fahne abhängen ist was Ernstes Hiba: Für so ne Scheiße wird man verhaftet. Deema: Also ist es ernst.

DALIA TAHA

ins Deutsche übersetzt von Gerhild Steinbuch

Hiba: Aber darum geht‘s doch. Wir starten/ Deema: Aber/ Hiba: Starten eine Revolution. [...] Deema: Was, wenn uns jemand gesehen hat? Hiba: Es ist drei Uhr morgens. Deema: Was, wenn uns gerade jemand beobachtet. Was, wenn sie gerade Anzeige erstatten! Hiba: Uns beobachtet kein Mensch. Wir sind seit einer Stunde hier. Deema: Aber sie haben Kameras. Hiba: Nachts können sie uns nicht sehen. Deema: Vielleicht sollten wir sie einfach wieder aufhängen! Hiba und Lama: Was? Deema: Ich mein, wenn das was Ernstes ist. Hiba: Du hast gewusst, dass es was Ernstes ist. Deema: Aber nicht Bullen­ernst. Lama: Wir können sie nicht wieder aufhängen! Deema: Das ist unser letztes Schuljahr. Hiba: Eben. Lama: Ja. Eben. Hiba: Deswegen haben wir‘s doch gemacht. Wir mussten was tun, solange wir noch können. Bevor alles vorbei ist. Deema: Und wenn sie uns die Prüfungen nicht mehr schreiben lassen? Lama: Niemand weiß, dass wir das waren. Deema: Aber was, wenn doch? Hiba: Niemand wird davon erfahren. Deema: Vielleicht werden wir gerade beobachtet. Hiba: Werden wir nicht. Es ist spät. Alle schlafen. YOOOO. Beobachtet ihr uns? LECKT MEINEN ARSCH ...YOOOOO.. Komm her und leck meine Pussy. Gelächter Deema: Hör auf. Hiba: Siehst du? Nichts? YOOOOOOO Deema: Aber wir müssen doch unsere Bewerbun­ gen schreiben/ du auch, Lama Lama: Ist mir egal, Deema. Deema: Los, wir hängen sie einfach wieder auf. Los, wir gehen nach Hause. Wir kommen in die Schule. Morgen.

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Schreiben unsere Prüfungen. Wir flirten mit den Jungs. Wir machen unser Abi. Wir lassen das alles hinter uns. Lama: Und dann was? Deema: Wir leben. Lama: Wir leben? Deema: Ja. Wie Erwachsende. Wir werden erwachsen. Arbeiten, Geld verdienen, willst du kein Geld verdienen? Lama: Was für Erwachsene? Schau dir mal die Erwachsenen um uns herum an. Deema: Ich will Geld verdienen. Hiba: Wir sollten auf die Fahne scheißen. Deema: Was? Lama: Ja! Hiba: Los, wir scheißen auf die Fahne! Deema: Ich häng sie wieder auf. Ich klettere da wieder hoch. Und ich häng sie wieder auf. Lama: Lass das, Deema. Deema: Ich will damit nichts zu tun haben. Lama: Du hast damit zu tun. Deema: Meine Mutter bringt mich um. Hiba: Los, wir scheißen drauf. Los, wir scheißen auf die verdammte Fahne. Deema: Sie kriegt einen Herzinfarkt. Lama: Komm schon, Deema. Deema: Sie schneidet mich in Stücke und verfüttert mich an die Hunde. Hiba: Los, wir scheißen auf die Fahne! Hiba: Damit sie wissen, dass es uns wichtig ist Lama: Ja, damit sie wissen, dass es uns wirklich wirklich wichtig ist. Deema: Ach, kommt schon! Hiba: Was? Deema: Sie sperrt mich zu den Hunden. Das schwör ich! Hiba: Willst du denn nicht auf die Fahne scheißen? Deema: Es ist nicht so, dass ich nicht auf die Fahne scheißen will. Ich will das wirklich. Aber/ Hiba: Deema, du musst! Deema: Es ist bloß eine Fahne. Lama: Komm schon, Deema. Scheiß einfach drauf und dann gehen wir nach Hause. Deema: Ihr seid meine Freundinnen. Alle drei gehen in die Hocke und scheißen auf die Fahne. Deema: Ich kann nicht. Hiba: Du musst. Deema: Ich meine, dass ich nicht scheißen kann. Lama: Mach schon. Deema: Ich kann nicht! Ich kann einfach nicht! Hiba: VERDAMMTE SCHEISSE. Deema: Ich versuch‘s ja! Ich muss gerade einfach


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nicht! Hiba: Du musst dich irgendwie verewigen. Deema: Was? Hiba: Wir haben uns alle verewigt. Du musst dich auch verewigen. [...] (V) [...] Lama: Ich will nach Hause. Hiba: Was? Lama: Ich fühl mich krank. Hiba: Schau mal, Lama. Schau mal, was ich mitgebracht hab. Deema: Was ist das? Hiba: Das hab ich gebaut. Fast ganz allein. Lama: Wann? Hiba: So schwer war das nicht. Lama: Ist das, was ich denke, das es ist? Hiba: Meine Großmutter hat‘s mir gezeigt. Deema: Das ist nicht dein Ernst. Hiba: Schau. Wir werden niemandem wehtun/ Deema: Du hast eine Bombe gebaut? Hiba: Einen Molotov. Deema: Das ist eine Bombe. Hiba: Ihr müsst das nicht so sehen, wenn ihr das nicht wollt. Deema: Wie sollen wir es denn sonst sehen? Hiba: Seht es als Schrei. Als jemand, der auf den Tisch haut. Wieder und wieder. Seht es als Finger. Lama: Also explodiert das wirklich? Hiba: Wenn die Anleitung stimmt/ Deema: Welche Anleitung? Hiba: Meine Großmutter hat mir die Anleitung gegeben, bevor sie gestorben ist/ Deema: Sag mir, dass das ein Witz ist. Lama: Das ist ernst/ Hiba: Es ist eine einfache Anleitung, man braucht nur ein paar Dinge/ Lama: Ich will wirklich nach Hause. Hiba: Man nimmt alles, was man zuhause hat / Ihr könnt euch nicht vorstellen, was man alles zu Hause herstellen kann/ Wenn das die Leute wüssten! Deema: Ich hab gedacht, du verarscht uns. Hiba: Hab ich nicht! ... Schaut mal hier hab ich die Nägel reingemacht...ich hab ein bisschen Öl, ich hab Mehl, ich hab ein paar spitze Gegenstände. Lama: Ich fühl mich wirklich krank. Deema: Wir können keine Bombe hier lassen. Hiba: Wir lassen sie nicht hier. Deema: Wo dann? Hiba: Die Straße runter gibt es dieses Gebäude oder vielleicht das/ Deema: Wir sind am Arsch. Hiba: Es muss explodieren. Lama: Ich falle gleich in Ohnmacht. Deema: Heute deponieren wir eine Bombe und was kommt dann? Dann bringen wir Menschen um? Hiba: Ohne das werden sie uns nicht zuhören. Deema: Sie werden uns foltern. Sie werden unsere Häuser

abreißen. Sie werden unsere ganze Familie verhaften­ Sie werden uns in winzige Zellen stecken. Sie werden in unser Essen pissen. Hiba: Irgendwer muss das tun. Deema: Komm schon Hiba. Lass uns nach Hause gehn. Hiba: Wir können nicht nach Hause. Deema: Bitte. Hiba: Wir können nicht nach Hause. Ich kann nicht Ich kann nicht Es muss explodieren. Lama atmet sehr tief ein. Zittert plötzlich, als würde sie in eine andere Welt übertreten (hat einen Anfall) (VI) Gleicher Ort. Gleiche Zeit. Unmittelbar danach. Lama liegt. Hiba ist weg. Überall Graffiti. Deema blättert ein paar Seiten um, und liest/ Sie blättert ein paar Seiten um, und liest/ Sie blättert ein paar Seiten um, und liest/ Sie blättert ein paar Seiten um, und liest/ Erinnerst du dich an deine erste Nacht auf dieser Welt? Das war nicht deine erste Nacht in Kinshasa Deine erste Nacht in Jerusalem, Deine erste Nacht in Buenos Aires; Du wurdest vielleicht neben einem Wolkenkratzer geboren Oder in einem stillen Dorf am Fluss Aber das war deine erste Nacht auf dieser Welt. Weder Dörfer noch Städte begrenzten den Ort deiner Geburt Weder Länder noch Kontinente Sondern Planeten und Galaxien Dein Name stand vor Monaten fest Und Menschen beschrieben dich: als wütend, ruhig, nachdenklich, klug... Aber du bist ein seltsames Geschöpf, näher am All als an uns Wir überwinden sie nicht die Verlegenheit in den ersten Minuten nach der Ankunft eines Gasts indem wir nach seiner Reise fragen. Ob wir dich im Kreissaal erwarteten oder dich auf der Straße fanden wir wissen nicht, nicht genau wie du hierher kamst. Und auch wenn wir sie dir hingelegt haben die sauberen Handtücher und Laken können wir dir nicht sagen: Fühl dich wie zuhause wir fühlen uns selbst noch immer nicht so. Wir tun so, als würde sie uns gehören aber wir sind, wie du zu Gast in dieser Welt jetzt ist ein guter Moment um sich daran zu erinnern­ Und das ist deine erste Nacht im Angesicht der Welt. Und obwohl du noch nicht hier warst als es heute Morgen regnete, ist das Gras noch feucht. Später wird sich alles wiederholen deine Faust wird sich öffnen und schließen öffnen

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und schließen du wirst Tag und Nacht unterscheiden, dann wirst du sie anstarren, die anderen Gesichter. Irgendwie, die Wissenschaft weiß noch nicht wie, wirst du deine ersten Worte sagen, und die Erwachsenen werden dich bitten sie nochmal zu sagen Und aus irgendeinem Grund wird das wunderschön sein Später bekommen der Fluss und die Wolkenkrat­ zer Namen, und die schnelle U­Bahn Dann wirst du glauben, dir gehört die Welt dir gehört ihr Inventar wie deine Schwester oder deine Kinder und du wirst Kriege führen können und Wälder entwurzeln und doch, egal wie hartherzig du bist, gibt es Augenblicke deines Lebens, in denen dich etwas berührt dich an dein erstes Zuhause erinnert; zum Beispiel der Anblick der Hügel. Aber alles zu seiner Zeit. Jetzt bist du zerbrechlich und wunderschön und man beobachtet dein Gesicht. Das ist deine erste Nacht im Angesicht der Welt und weil es wie Weihnachten ist behandeln sie dich wie ein Geschenk aber wenn wir es oft genug sagen: Das ist deine erste Nacht im Angesicht der Welt Das ist deine erste Nacht im Angesicht der Welt werden wir verstehen dass du eine Reisende bist von weit weg die gerade in der Herberge ankam. Es stimmt, dass draußen ein Sturm tobt aber die Tür der Herberge steht immer offen und du und der Sturm tretet zusammen ein Zusammen ­ tretet ihr ein du und der Sturm Lama: Das ist ein schönes Gedicht. Deema: Du bist wach. Lama: Ja. Deema: Bist du ok? Lama: Ja. Ich glaube schon. Deema: Kannst du mich sehen? Lama: Ja. Deema: Kannst du deine Hand bewegen. Lama: Hab ich gerade. Deema: Wie viele Finger? Lama: Ich kann sehen! Deema: Wie viele? Lama: Das war bloß ein Anfall. Deema: Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Ich wusste nicht was ich tun soll. Lama: Wie lange war ich weg? Deema: Nicht länger als sonst.


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[Pause] Etwas länger. [Pause] Also bist du dir sicher, dass du ok bist? Lama: Wo sind wir? Deema: In der Schule. Das ist der Schulhof. Lama: Es ist dunkel. Nachts war ich noch nie hier. Deema: Hier, trink das Wasser. Ich hab dir welches geholt. Lama: Wie spät ist es? Deema: Es ist ziemlich spät. Lama: Was machen wir hier? Deema: Wir hatten was zu erledigen. Lama: Wer ist wir? Deema: Du, ich und Hiba. Lama: Hiba war hier? Deema: Ja. Lama: Wo ist sie? Deema: Keine Ahnung. [Pause] Ich weiß nicht, wo sie hin ist. Wie fühlst du dich? Lama: Ich bin ok. [Pause] [...] Lama: Hey, was ist das? Sie bemerkt die Graffiti an den Wänden

We passed by here./ Wir sind hier vorbeigekommen Lama: Hast du das geschrieben? Deema: Nein. Lama: Wer war das? Deema: Keine Ahnung. Lama: Gibt es mehr davon? Deema: Ja. Es gibt mehr davon. Lama: Wo? Deema: Da. Schau. Lama: Oh ja, stimmt. Ich hab sie im Dunkeln nicht gesehen. Wo fangen sie an? Deema: Keine Ahnung. Aber sie sind überall. Die ganze Stadt is vollgeschrieben. Lama: Ja? Deema: Ja. Die ganze Stadt. Lama: Es ist schön, aufzuwachen und alles ist voller Wörter. Deema: Ja. Lama: Als würde die Stadt träumen. Deema: Hmm. Lama: Glaubst du, dass wir die Träume der Stadt sind? Deema: Vielleicht. Lama: Wo, glaubst du, werden wir ankommen, wenn wir ihnen folgen?

Deema: Keine Ahnung. Vielleicht geht es einfach immer weiter. Lama: Ja. Vielleicht gehen wir einfach immer weiter mit. [Pause] Lama: Ist Hiba dort? Deema: Vielleicht Ja. Vielleicht läuft sie mit, Zäune entlang, über Fassaden, auf dem Asphalt. [Pause] Lama: Ja. Ich seh sie vor mir! Sie lachen Deema: Ja. Lama: Hmmhmm Lama: Kannst du noch was vorlesen? Deema: Was soll ich dir vorlesen? Lama: Dieses Gedicht, das letzte. Ich glaube, das mag ich bis jetzt am liebsten. Deema: Ja [Pause] Erinnerst du deine erste Nacht auf dieser Welt?

© Dalia Taha, Gerhild Steinbuch

Impressum „Out of Sight“ ist ein Kooperationsprojekt des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB), des Maxim Gorki Theaters/Studio Я, des Neuen Instituts für Dramatisches Schreiben (NIDS), der Robert Bosch Stiftung und des Schauspiel Stuttgart. Autorinnen und Autoren: Marion Acker, Literaturwissenschaftlerin, Berlin Peter Dieze, Literaturvermittler LCB, Projektkoordinator „Out of Sight“, Berlin Theresa Luise Gindlstrasser, Dramatikerin und Theaterjournalistin, Wien Dr. Nora Haakh, Kulturwissenschaftlerin, Theatermacherin und Dramaturgin, Berlin Laura Ott, Literaturvermittlerin LCB, Projektkoordinatorin „Out of Sight“, Berlin Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Redaktion: Theresa Schütz Gestaltung: Gudrun Hommers Korrektorat: Annette Dörner Wir danken Laura Ott und dem LCB für die Zusammenarbeit.

Karten 0341 12 68 168 www.schauspiel-leipzig.de

MIT: DOUBLELUCKY PRODUCTIONS, ANNA SCHIMKAT & HAUPTMEIER | RECKER, CLUB REAL, HGB LEIPZIG, STEFANIE WENNER

THEMENSCHWERPUNKT #1 72


/ TdZ  November 2021  /

Die Badische Landesbühne (BLB) e. V. ist seit dem Jahr 1951 ein Schauspieltheater als Einspartenhaus mit einem eigenständigen Kinder- und Jugendtheater. Neben Aufführungen am Standort Bruchsal liegt ein Schwerpunkt entsprechend dem Landesbühnenauftrag in einer umfangreichen Gastspieltätigkeit in 16 Mitgliedskommunen und weiteren Gastspielorten in ganz Baden-Württemberg. Der Sitz der Landesbühne ist die Große Kreisstadt Bruchsal mit etwa 45.000 Einwohnern. Dort stehen im Bürgerzentrum zwei Spielsäle (Rechbergsaal mit Großbühne und 600 Sitzplätzen, Studio Hexagon mit 94 Sitzplätzen) zur Verfügung. Das Kinder- und Jugendtheater verfügt über eine eigene Spielstätte mit 50 Sitzplätzen. Die als Verein organisierte BLB umfasst einen Etat von 4,4 Mio Euro und beschäftigt 72 Mitarbeitende. Der Verein besteht aus 16 Mitgliedskommunen und vier Landkreisen sowie dem Land BadenWürttemberg. Aufgrund des Eintritts in den Ruhestand des langjährigen Intendanten suchen wir zum nächstmöglichen Zeitpunkt und damit zur Vorbereitung und Übernahme ab der Spielzeit 2022/2023 eine

Intendanz (m/w/d)

Stellenkennziffer 2021-0051 Ihre Aufgaben

Im Rahmen der organisatorischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten realisieren Sie einen Spielbetrieb mit künstlerisch-kreativem Anspruch zwischen Tradition und Moderne. Besonderen Wert legt die BLB auf ein vielfältiges Angebot für Kinder und Jugendliche im Rahmen ihrer Sparte „Junge BLB“ sowie auf die Öffnung des Programms und der Formate, um einer immer diverser werdenden Gesellschaft Rechnung zu tragen. Mit der Intendanz ist auch die Möglichkeit und Verpflichtung eigener Inszenierungen verbunden.

Ihr Profil

Sie sind eine Persönlichkeit mit Erfahrungen im Theater, insbesondere im Leitungsbereich. Sie zeichnen sich durch persönliches Engagement, künstlerisches Profil, Kreativität und Experimentierfreude aus. Sie sind stark in der internen und externen Kommunikation. Ihr Führungsstil ist kollegial, teamorientiert und basiert auf dem Verhaltenskodex des Deutschen Bühnenvereins. Für die Position sind Führungserfahrung und ein abgeschlossenes Hochschulstudium wünschenswert, vorzugsweise in den Bereichen Germanistik, Kunstgeschichte, Literatur oder Theaterwissenschaft, oder eine vergleichbare Qualifikation, die der Aufgabenstellung gerecht wird.

Unser Angebot

Es handelt sich um eine Vollzeitstelle. Wir bieten eine dem Theater angemessene leistungsgerechte Vergütung im Rahmen eines 5-Jahres-Vertrages. Eine Vertragsverlängerung ist möglich. Durch Eintritt in den Ruhestand endet auch die Tätigkeit der bisherigen Verwaltungs- und technischen Leitung zum Ende der Spielzeit 2021/2022. Wir bieten Ihnen die Möglichkeit, sich in das Verfahren zur Nachbesetzung einzubringen. Die Badische Landesbühne engagiert sich für Chancengleichheit. Daher begrüßen wir alle Bewerbungen – unabhängig von Geschlecht, kultureller Herkunft, Religion und Lebensweise oder Behinderung. Bei Fragen zum Aufgabengebiet wenden Sie sich bitte an die Vorsitzende der BLB e. V., Oberbürgermeisterin Cornelia Petzold-Schick (Tel. 07251/79-210) Für Fragen zum Ausschreibungsverfahren steht Ihnen gerne der Hauptamtsleiter der Stadt Bruchsal, Wolfgang Müller (Tel. 07251/79-215) zur Verfügung. Haben Sie Interesse? Dann würden wir Sie gerne kennenlernen und freuen uns über Ihre Online-Bewerbung bis 30.11.2021 unter www.bruchsal.de/stellenangebote. Bitte fügen Sie auch Ihre konzeptionelle Vorstellung zur Badischen Landesbühne bei und nennen Sie uns Ihre Gehaltsvorstellungen.

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Die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main (HfMDK) ist Hessens Hochschule für Musik, Tanz, Theater und die Vermittlung dieser Künste. Sie versteht sich als Bildungseinrichtung, die Kunstpraxis, Forschung und Lehre verbindet. Im Fachbereich 3 ist zum 1. Oktober 2022 folgende Stelle zu besetzen:

W2-Professur (w/m/d) Schauspielpraxis für Bühne und Film im Ausbildungsbereich Schauspiel

Zur Erweiterung des Ausbildungsprofils wird eine herausragende Persönlichkeit gesucht, die das Fach Schauspielpraxis forschend und lehrend vertritt und im Kontext einer Kunsthochschule innovativ methodisch-didaktisch weiterentwickelt, auch in Bezug auf das Berufsfeld Film und Medien. Mit der Bewerbung ist ein Konzeptpapier zu Kompetenzvermittlung und zukunftsorientierten Weiterentwicklung des Studienfachs einzureichen. Den vollständigen Ausschreibungstext entnehmen Sie bitte der Rubrik „Stellenangebote“ auf unserer Homepage unter www.hfmdk-frankfurt.de. Erste Fragen beantwortet Ihnen gerne Frau Friederike Vogel, Geschäftsführerin Fachbereich 3, Telefon: 069 154007-203, Mail: Friederike.Vogel@hfmdk-frankfurt.de Die Bewerbungsfrist endet am 20. November 2021.


/ TdZ November 2021  /

Magazin Realer Futurismus Die Berliner Festspiele beleben für kurze Zeit den Monumentalkörper ICC  Avantgarde mit Staubschicht Édouard Louis, Angélica Liddell und Kirill Serebrennikov beim FIND-Festival Europäisches Netzwerk gegen den „Kulturkrieg“ Der ungarische Verein „Free SZFE“ erhält den Europäischen Bürgerpreis Traumata, Thriller und Hunger nach Glück Der erstmals vom Schauspiel Stuttgart verliehene Europäische Dramatiker:innen-Preis geht an Wajdi Mouawad Abschied und Leidenschaft Christine Gabsch und Wolfgang Adam stehen seit fast einem halben Jahrhundert gemeinsam auf der Bühne Bücher Jenny Erpenbeck und Günther Rühle

Foto Eps51 / CGI: bus.group, The Sun Machine is Coming Down – Kunst im ICC, Immersion, ICC Berlin, 2021

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magazin

/ TdZ  November 2021  /

Realer Futurismus Die Berliner Festspiele beleben für kurze Zeit den Monumentalkörper ICC So schafft man Liebhaber.

lichen Schatten und ge-

Ein gefühltes halbes Men-

punkteten Lichtern im-

schenleben lag das Berliner

merhin in ein Miniweltall,

ICC wie ein an den Strand

durch das das Raumschiff

gespülter Riesenwal an der

ICC zumindest in der Vor-

einstigen Rennstrecke Avus.

stellung zu gleiten schien.

Leblos, ja sterbend wirkte

Überhaupt funktio-

auch der Bau. Seit der

nierten vor allem jene In-

Schließung im Jahre 2014

terventionen, die sich auf

lag er, unterbrochen nur

den Raumschiffcharakter

von einer Zwischennutzung

einließen. Die Schaukäs-

als Geflüchteten-Unterkunft,

ten des Bühnenbildners

grau und vor sich hin stau-

und Installationskünstlers

bend in Berlins Verkehrslärm.

Markus Selg muteten wie

Im Oktober, zur Fei-

Proben von Exkursionen

er des 70. Geburtstags der

auf fremden Planeten an. Cyprien Gaillard hatte den

Berliner Festspiele, schaltete der scheidende Intendant Thomas Oberender für zehn Tage noch einmal die

Das ICC: 313 Meter Länge, 89 Meter Breite, fast 40 Meter Höhe, eine knapp eine Million Kubikmeter umbaute Fläche – reanimiert für zehn Tage. Ein Ver­sprechen für die Zukunft? Foto Peter van Heesen

Lichter an. Es ist seine

an sich schon eindrucksvollen Kontrollraum des ICC mit künstlichen Gesteinsproben ausgestattet.

wohl größte Tat in der ge-

Friedrich Kittler hielt als

samten achtjährigen Intendantenzeit. Denn

die Säle von partizipativ betriebenen Lichtin-

Geist aus dem Jenseits Vorträge zur Ontologie

er ließ nicht nur Luft rein in die knapp eine

stallationen erhellt.

der Medienwissenschaft, zum Sein des Da-

Million Kubikmeter umbaute Fläche (313

Da passte auch perfekt das Motto, das

Meter Länge, 89 Meter Breite, fast 40 Meter

Oberender sich bei David Bowie ausgeborgt

Auch das passte wunderbar in diesen

Höhe) sowie Strom und Wasser fließen. Vor

hatte. „The Sun Machine Is Coming Down“,

Zwischenraum, diese Zwischenzeit, die „Sun

allem ließ er Menschen hinein, die vom futu-

sang Bowie zehn Jahre vor der ICC-Eröffnung

Machine …“ hier eröffnete.

ristischen Interieur schwer begeistert waren.

das erste Mal. Es ist, wie der Text verriet, ein

Man fühlte sich beim Durchstreifen

Die Schritte gedämpft vom Teppichboden

Lied über ein freies Musikfestival irgendwo in

dieser Sonnenmaschine natürlich an den fer-

mit dem Kugelmuster blickte man aus den

London. Es hatte extraterrestrischen Besuch

nen Schwesterbau erinnert, den Palast der

abgerundeten Fenstern auf die D ­ ächer der

mit Abkömmlingen vom Planeten Venus. Di-

Republik. Der war in seinem entkernten Zu-

Stadt und den danebenstehenden Funk-

verse Flugkörper tauchten auf und Augen, die

stand zum Kunstobjekt geworden, 2004 als

turm, der seinerseits wie eine start­ bereite

in Regenbogenfarben den Himmel absuchten.

Volkspalast, initiiert von der damals noch

Rakete wirkte. Man betrat Säle wie den riesi-

Ein Festival war auch dieses hier. Und

recht jungen Kunstinstitution Sophiensaele.

gen, 5000 Menschen fassenden Kongress-

wie ein Raumschiff, das aus der Sonne kam,

Jetzt feiert das alte Westberlin noch einmal

saal. Auch kleinere Säle begeisterten auf-

vielleicht mit Fusionsenergie angetrieben wie

den alten Prachtbau. Ihm ist ein besseres

grund der ­ Paneele an der Decke, die

die Sonne selbst, mutet schließlich der futu-

Schicksal als dem Pendant im Osten zu

ebenfalls Raumschiff-Futuristik ausstrahl-

ristische Riesenbau an, der im Jahre 1979

­wünschen. Viele neue Fans hat er in diesen

ten, den trans­ parenten Übersetzerkabinen,

als Antwort Westberlins auf den 1976 eröff-

zehn Tagen immerhin gewonnen, sodass das

die sich im Halbrund um das Zentrum

neten Palast der Republik im Ostteil erstmals

Grundproblem des teuren Betriebs vielleicht

schmiegten. Die Vintage Lowtech der Ar-

seine Schotten öffnete.

doch noch einmal innovativ betrachtet wer-

zwischen also.

beitsplatten an den Sitzen ließ die Herzen

Die Kunst im Festival ging meist unter

den kann. Schade nur, dass jetzt neben dem

höher schlagen. Man klappte das Brett vor

im gewaltigen Korpus der Maxi-Bühne. Tino

Modell des ICC am Eingang eines des Palas-

sich als Schreibfläche herunter. Links wurde

Sehgals Bewegungsübersetzung von Ludwig

tes fehlte. Ohne seinen mittlerweile aus­

eine Lampe sichtbar. Und weil die brannte,

van Beethovens Musik in „The Joy“ verebbte

radierten Zwilling aus der anderen Galaxie ist

und weil das viele ­Besucherinnen und Besu-

nur in einem der Säle. „Malam/Night“ von

das ICC nicht denkbar. //

cher einfach ausprobieren mussten, waren

Grace Ellen Barkey führte als Spiel mit nächt-

Tom Mustroph

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/ TdZ November 2021  /

Avantgarde mit Staubschicht Édouard Louis, Angélica Liddell und Kirill Serebrennikov beim FIND-Festival Im letzten Jahr fiel Pandemie-bedingt das

Forderung nach dem Einzug von mehr Politik

Fleischs mit der „schwarzen Seele“ (O-Ton)

Festival Internationale Neue Dramatik an der

ins autobiografische Schreiben. Er hängte da-

eines dunkelhäutigen Performers zu erlangen

Berliner Schaubühne aus. In diesem Jahr

her Bilder der französischen Präsidenten

sei, wirkt aber anachronistisch. Preisung von

wurde es mit weitgehend gleich gebliebenem

­Sarkozy, Hollande und Macron an eine Wäsche-

Patriarchat und Heterosexualität – auch hier

Programm wiederholt. Das ist einerseits ver-

leine. Die in ihren jeweiligen Amtszeiten erlas-

klatschen die Hände im Akkord.

dienstvoll. Andererseits wirkte FIND in die-

senen Gesetze hatten ihren Anteil am Krank-

Queeres nacktes Fleisch präsentierte

sem Jahr seltsam aus der Zeit gefallen.

heits- und Verwahr­losungszustand des Vaters.

„Outside“, die Hommage von Kirill Serebren-

Es muss eine Revolution her. Dies be-

Die Anklage war so berechtigt wie ästhetisch

nikov an den durch Selbstmord gestorbenen

hauptete Édouard Louis zum Abschluss sei-

dürftig umgesetzt. Louis schritt ansonsten

Pekinger Fotografen Ren Hang. Serebrenni-

ner Ein-Mann-Show „Qui a tué mon père?

verschiedene Mikrofonstandorte für seinen ­

kov stellte recht originalgetreu die Bilder von

(Wer hat meinen Vater umgebracht)“. Er ern-

­Monolog ab und versuchte sich an Karaoke-­Dar­

Nacktheit von Mensch, Tier und Pflanze nach,

tete zustimmenden Applaus – im ansonsten

bietungen früherer Lieblings-Pop-­Songs. Eksta-

die Hang zu einem Star der künstlerischen

Umstürzen wenig zugeneigten bürgerlichen

tischen Beifall gab es dennoch, wie auch bei

Pornografie werden ließen. Er lässt auch ein

Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Aber L ­ ouis

der

Alter Ego des Fotografen gelassen durch die

hatte sein Publikum gefangen genommen mit

einstigen Performance-Stars Angélica Liddell.

Frauen-über-30-Beschimpfungsarie

des

Bildwelten spazieren. Sexualität wird bei ihm zu etwas nebenher Befreienden.

seiner Coming-of-Age-Geschichte im so prole-

Liddell nahm sich in „The Scarlett Let-

tarischen wie homophoben Milieu ­eines Dorfs

ter“ des gleichnamigen Romans von Nathaniel

„Outside“ wird hier zur Gegenthese

in Nordfrankreich.

Hawthorne an. Dort geht es um eine purita­

des Opferseins aus „Qui a tué …“ und des

nische Gemeinde, die in manchen Zügen ver-

heterosexuellen Weihestücks von Liddell.

Verblüffend war an diesem von Thomas autobiografischen

blüffende Parallelen zu Louisʼ Aufwachsort

In der durch Kontaktbeschränkungen

Abend, wie tief verankert im familiären Umfeld

aufweist, und in dem ein außerehelich ge-

geprägten, mit Angst vor fremden Körpern

des 1992 geborenen Louis die Ablehnung­­

zeugtes Kind zum Skandalauslöser wird. Liddell

und deren Dünsten und Säften aufgeladenen

von Homosexualität, ja die Brutalisierung und

macht daraus eine schwarze Messe mit ihr als

spät-pandemischen Gegenwart wirkt aber

Engführung von Sexualität überhaupt, ge­

Priesterin und einer Schar nackter, meist jun-

auch das seltsam entrückt. FIND, viele Jahre

wesen sein muss. Diverse sexuelle Revolutio-

ger Männer, die in immer neuen Formationen

lang ein wunderbares Entdeckungswerkzeug

nen waren da längst über den Globus gefegt;

um sie kreisen. Liddell inszeniert dieses Be-

neuer Tendenzen, entpuppt sich in dieser ver-

im dörflichen Milieu von Louisʼ Kindheit

gierde-Geschehen vor samtroten Vorhängen,

spätet präsentierten Ausgabe von bejahrten

schien aber selbst um die Jahrtausendwende

mit bombastischen Klängen (Sounddesign:

Arbeiten längst arrivierter Künstler*innen als

wenig davon angekommen zu sein. Dass in

Antonio Navarro) und ebenso bombastischer

enttäuschend abgestanden. // Tom Mustroph

­einem zweiten Erzählstrang die kapitalistische

Lichtregie (Jean Huleu) sehr eindrucksvoll.

­Arbeitswelt und das neokapitalistisch entkern-

Ihre These, dass Frauen über 40 wegen des

te Gesundheits- und Sozialwesen Frankreichs

eigenen welkenden Fleischs angesichts des

als verantwortliche Instanzen des körperlichen

noch frischen der Jüngeren zu giftenden Megä-

Niedergangs des Vaters angeklagt wurden, hat

ren würden und Rettung nur in der Verschmel-

sicher seine Berechtigung. Wie auch Louisʼ

zung älteren weiblichen – und weißen –

Ostermeier

inszenierten

Gegenthese des Opferseins: „Outside“ ist die Hommage von Kirill Serebrennikov an den durch Selbstmord gestorbenen Pekinger Fotografen Ren Hang. Foto Ira Polar


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/ TdZ  November 2021  /

Europäisches Netzwerk gegen den „Kulturkrieg“ Der ungarische Verein „Free SZFE“ erhält den Europäischen Bürgerpreis

Solidaritätsaktion der ADK-Student*in­nen im September 2020 nach der Privatisierung der Budapester Universität für Film und Theaterkunst. Foto Steven M. Schultz | ADK­

Ungarischen Studierenden der Dramaturgie

installierte der Ministerpräsident Viktor Orbán

wurden an der Akademie für Darstellende

dort einen Stiftungsrat auf Lebenszeit, der sie

Kunst in Ludwigsburg (ADK) ihre Abschluss-

in seinem Sinn weiterführen soll – auch wenn

zeugnisse verliehen. Ein Jahr, nachdem die

sich die politischen Verhältnisse ändern soll-

ungarische Universität für Film- und Theater-

ten. Danach traten 70 Prozent der Führungs-

kunst (SZFE) von einer regierungsnahen,

und Lehrkräfte der Universität zurück und die

privaten Stiftung übernommen worden ist, ­

Studierenden besetzten das Gebäude für

Lehrkräften und den Studierenden aus Un-

durften die Absolventen ihre Abschlüsse im

71 Tage. „Mit diesen politischen Entschei-

garn. Für Schweeger ist die Kooperation der

Rahmen des Programms „Emergency Exit“ in

dungen wurde unsere akademische Freiheit

Auftakt für weitere Projekte mit den Partner­

Deutschland zu Ende bringen. Da ihre Hoch-

verletzt“, bringt es Upor auf den Punkt.

universitäten und mit Free SZFE.

schullehrer und Dozenten aus politischen

Diese Freiheit holten sich die unga­

Glücklich ist der Dramaturgie-Absol-

Gründen nicht weiter an der Hochschule be-

rischen Akademiker zurück, indem sie die

vent Dániel Herczeg, dass er seinen Master-

schäftigt wurden, haben sie ihre Kurse und

„Free SZFE“-Gesellschaft gründeten. Die

Abschluss an der ADK in Ludwigsburg

Projekte in Workshops gemacht, die ihre ehe-

Künstlerin Kata Csató, die als Dozentin Pup-

machen durfte. In dieser internationalen ­

maligen Dozenten anboten. Dass die jungen

penspiel lehrt, ist Präsidentin des Vereins,

Zusammenarbeit sieht der Absolvent auch ­

Künstlerinnen und Künstler ihre Ausbildung

der die internationalen Studienabschlüsse für

Chancen: „Gerade für uns als Vertreter der

abschließen konnten, hat ein Netzwerk von

die rund 150 Studierenden möglich macht.

jungen Theatergeneration ist es wichtig, in

fünf europäischen Universitäten möglich ge-

Zwölf Jahre lang hat sie an der Universität in

europäischen Netzwerken zu denken und zu

macht. Dafür wird ihr Verein „Free SZFE“ jetzt

Budapest unterrichtet. „Die Studierenden

arbeiten.“ Ein weiterer Schwerpunkt des jun-

mit dem Europäischen Bürgerpreis ausge-

mussten sich entscheiden, ob sie diesen poli-

gen Dramaturgen ist digitales Theater. Gerade

zeichnet. Seit 2008 verleiht das Europäische

tischen Wandel mitmachen, oder ob sie für

in diesem Bereich verspricht er sich wichtige

Parlament diesen Preis, bei dem es um Ver-

ihre Werte einstehen, was bedeuten würde,

Impulse von den anderen Theaterkulturen in

ständnis und um Solidarität geht.

dass sie weniger Möglichkeiten haben, künst-

ganz Europa. //

„Wir arbeiten jetzt frei, frei, uns selbst

lerisch zu arbeiten.“ Neben der Akademie in

auszubeuten“, schildert László Upor das exis-

Ludwigsburg sind auch das Mozarteum in

tenzielle Dilemma, in dem er und seine Mit-

Salzburg, die Filmakademie Wien, die War-

streiter stecken. Der ehemalige Vize-Rektor

schauer Theaterakademie mit ihrer Puppen-

der SZFE ist Dramaturg, Theaterwissenschaft­

spiel-Fakultät und die Scuola Teatro Dimitri

ler und Übersetzer. Er war als Rektor vor­­

in Verscio mit im Boot. Das Goethe-Institut in

gesehen, wurde aber von der Regierung nie

Budapest unterstützt den Austausch.

ernannt. Als die Universität in eine private

„Eine politische Notwendigkeit“ ist

Stiftung umgewandelt wurde, trat er zurück.

diese europäische Kooperation für Elisabeth

Upor spricht in der ungarischen Gesellschaft

Schweeger, der künstlerischen Direktorin und

von einem „Kulturkrieg“, der aus seiner Sicht

Geschäftsführerin der ADK. „Unser Projekt

bereits seit zwei Jahrzehnten schwelt.

findet im Rahmen des Bologna-Systems statt

Immer wieder sei die Universität ange-

und berücksichtigt die europäischen Richt­

griffen worden, weil diese angeblich von eini-

linien zur Förderung des internationalen Aus-

gen „liberalen Hochschullehrern“ dominiert

tauschs.“ Zudem profitiere nicht nur ihre

werde, die die Studierenden zu beeinflussen

Hochschule immens von der Zusammenarbeit

suchten. Mit der Umwandlung der Hochschule

mit den hochqualifizierten künstlerischen

Elisabeth Maier

Claire Dowie

FAST FOOD FAST FASHION FAST SATT Theater am Markt Eisenach Premiere: 13. November 2021

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magazin

/ TdZ November 2021  /

Traumata, Thriller und Hunger nach Glück Der erstmals vom Schauspiel Stuttgart verliehene Europäische Dramatiker:innenPreis geht an Wajdi Mouawad Als er vom Preis erfuhr, dachte er:

unterhaltsamer und doch tiefgrün­

„Die haben sich geirrt!“ Nein, ha-

diger Fantasie-Trip, der zuweilen ins

ben sie nicht. Bereits im Juli

Surreale kippt: ein Lehrstück auch

2020 war klar, dass der erstmals

über ein eher fluides frankophones

vergebene Europäische Drama­

Theaterselbstverständnis, das philo-

tiker:in­nen-Preis an Wajdi Moua-

sophischen Diskurs und anspruchs-

wad geht. Doch erst jetzt, im Okto-

vollen Boulevard nicht als Wider­

ber 2021, konnte covidbedingt

spruch begreift. Kurzum, starker

die Verleihung der Auszeichnung,

Gedanken-Freejazz auch zum The-

vom

ma Identität: „Ich weiß nicht, was

Kunstministerium

Baden-

Württemberg mit 75 000 Euro ge-

es ist, aber es ist nicht verloren.“ Der

fördert, im Schauspiel Stuttgart

internationale

Durch-

über die Bühne gehen. Und zwar

bruch gelang Mouawad mit seinem

nicht nur mit preisenden Reden.

noch in Kanada entstandenen, spä-

Sondern als Wochenend-Festival

ter verfilmten Erfolgsdrama „Verbren­

mit Aufführungen, Audiowalks, Autorengesprächen

und

mehr.

Neben dem Hauptpreis wurde ­

Wajdi Mouawad während der Matinee zur Verleihung des Drama­tiker:innen-Preises im Gespräch mit Moderator Peter Michalzik. Foto Björn Klein

nungen“ (2003, DSE 2006), das Traumata des libanesischen Bürgerkriegs verhandelt und den Autor

auch der Europäische Nachwuchs­

auch hierzulande bekannt machte.

dramatiker:innen-Preis, von der

Ähnlich ent­wickelte sich Mouawads

Stiftung SHR Holding mit 25 000

viersprachiges Stück „Vögel“ (2017),

Euro dotiert, verliehen – an die britische

nach Frankreich floh – und mangels Bleibe-

mit dessen deutschsprachiger Erstaufführung

­Autorin Jasmine Lee-Jones.

recht 1983 weiter ins kanadische Quebec

Kosminski 2018 in Stuttgart antrat: Das Fa-

Dass es diese Preise nun gibt, war ein

auswanderte. Mouawad wurde Stücke-Schrei-

milienepos um eine jüdisch-arabische Love-

Herzensanliegen von Burkhard C. Kosminski,

ber, Schauspieler, Regisseur, Intendant und

story avancierte zum „Stück der Stunde“,

dem Stuttgarter Schauspielchef, der seine

lebt wieder in Frankreich, wo er seit 2016 in

nachgespielt an der Wiener Burg, am Ham-

­Arbeit hier mit internationalen Aspekten berei-

Paris das Théâtre national de la Colline leitet.

burger Thalia und rund 15 weiteren Bühnen.

chert und dies durch die Gründung eines Euro-

Wie das Erlebte in seine Arbeit ein-

Libanesisch, arabisch, französisch, ka-

pa-Ensembles bekräftigt hat. Dessen Leiter

fließt, hat weniger mit therapeutischem

nadisch – wo sich Mouawad denn verorte,

Oliver Frljić, der Regisseur Simon Stephens

­Schreiben oder mit politischem Appelltheater

wollte der Jury-Vorsitzende Peter Michalzik

und die Intendantin Barbara Engelhardt, die

zu tun, auch wenn, wie in seinem Stück

wissen. „Mit diesen ganzen Nationen und

mit dem Straßburger Théâtre Maillon eine kon-

­„Littoral“, zwei Statements – „eine Geschichte

­Religionen“ könne er sich nicht identifizie-

zeptuell „europäische Bühne“ leitet, waren

erzählen“ und „einen Anschlag machen“ –

ren, so Mouawad, er sehe sich da eher „als

sich zumindest darüber einig, dass Theaterar-

sich manchmal sehr nahe rücken. In seinen

Mieter“. Seine Texte versuchen, Gräben zu

beit unter dem Motto „Rewriting Europe“ sich,

bisher rund 30 Dramen bebt das alles nach:

überwinden, ein Aspekt, den auch Laudator

verkürzt formuliert, viel eher mit einzelnen

Gewalt und Krieg, Flucht und Wut – oft mit

Thomas Maagh hervorhob. Es ist wundersam

Menschen, auch mit gefährdeten oder inhaf-

der Wucht antiker Tragödien. Doch sein Thea-

mit diesen Stücken. Mouawad will, so sagt er,

tierten Individuen und Gruppen in ganz Euro-

ter zeigt auch ein Faible fürs Unerklärbare,

durchaus beim Zuschauer gleichsam „eine

pa beschäftigen sollte als mit der wirtschafts-

einen Hang zu abenteuerlichen Thrillerplots

Bombe im Kopf auslösen“. Doch bei allem

orientierten und brüchigen Institution EU.

und eine ausschweifende Fabulierlust. Zum

Zorn, bei aller Verzweiflung vermeidet er all

Aber zunächst zum Preisträger: Wajdi

Beispiel „Seuls“, ein Bühnensolo von und

jene Schuldzuweisungen und scheinbaren

Mouawads Biografie ist von Nahost-Konflik-

mit Wajdi Mouawad, das als Kopfreise eines

moralischen Gewissheiten, wie sie hierzu­

ten geprägt, die sein Theater grundieren.

Studenten zwischen Montreal, Beirut und ­

lande zum Nahost-Konflikt oft schnell zur

1968 in Dair al-Qamar, einem Bergort im

St. Petersburg spielt: Aberwitzig, wie Moua-

Hand sind. Das verleiht diesen Stücken trotz

Libanon, geboren, verbrachte er dort seine ­

wad hier Kategorien wie Slapstick, Ich-­Suche,

allem auch etwas Helles, Tröstliches. //

Kindheit, bevor seine christlich-maronitische

Mythos und Menschheitsfragen durchein­

Familie 1976 mit ihm vor dem Bürgerkrieg

anderwirbelt. Heraus kommt ein verrückter,

Otto Paul Burkhardt


magazin

/ TdZ  November 2021  /

Leidenschaft und Abschied Christine Gabsch und Wolfgang Adam standen seit fast einem halben Jahrhundert gemeinsam auf der Bühne – jetzt sagen sie Adé

Hier stehen Christine Gabsch und Wolfgang Adam in „Das Haus am See“ als Ethel und Norman Thayer auf der Bühne. Foto Dieter

Es sei zwar „manches dabei“, aber ihr Privat-

zurück. Der 73-jährige Wolfgang Adam wieder-

leben spiele sie nicht auf der Bühne, antwor-

um erscheint als ein offener und kluger

tet Christine Gabsch auf die Frage, wie viel

Gesprächspartner. Also doch Trennung von ­

Authentisches in der Chemnitzer Inszenie-

­Rolle und gemeinsamem Leben. Nicht immer

rung von Ernest Thompsons „Das Haus am

von Leben und Theater, denn beide bekunden,

See“ durchschimmere. „Meine Frau würde

wie gute Bühnenstoffe in das Leben „draußen“

sagen ,viel‘“, hatte ihr Bühnen- und Lebens­

hineinspielen, wie man sich durchaus kontro-

als beliebte Institutionen im Ensemble.

partner Wolfgang Adam zuvor lächelnd ge­

vers an ihnen begeistern und reiben kann.

Adams Theaterbiografie spricht von mehr als

äußert. Solche unterschiedlichen Akzente

Letztlich erwärmte sich das Paar an seiner ähn-

250 Rollen! Einen Sohn und eine Tochter

aber muss man schon herausfordern bei ei-

lichen Auffassung von Theater immer wieder.

­zogen sie groß und waren schon in Sichtweite

Wuschanski

nem Paar, das seit einem halben Jahrhundert

Aufgewachsen aber sind sie in sehr

des nominellen Rentenalters noch beweglich

gemeinsam auf der Bühne und in der gemein-

unterschiedlichen Städten. Die Kunststadt

genug, 2013 Intendant Carsten Knödler an

samen Küche steht. Wo „die Suppe gerne mal

Dresden habe sie früh geprägt, berichtet

das Schauspiel Chemnitz zu folgen.

überkocht“, wenn beide naturgemäß einmal

Christine Gabsch. Sie tanzte als Kind in ei-

Diese acht Jahre seien noch einmal

nicht einer Meinung sind.

ner Gruppe der Palucca-Hochschule, begeg-

eine „tolle Erfahrung“ gewesen, schwingt Dank-

Das sind sie auch in der seit Mai auf

nete später im Madrigalchor Kreuzkantor

barkeit für ein erfülltes Leben als Bühnen-

dem Chemnitzer Spielplan stehenden Ab-

Rudolf Mauersberger. Ihre ältere Schwester

künstlerin und -künstler mit. Die Leiden-

schiedsinszenierung nicht, die wie für diesen

nahm sie ins Theater mit, wo sie mit acht (!)

schaft sei weiter ungebrochen, aber eben,

Anlass und das außergewöhnliche Paar ge-

Jahren unter anderem Wagners „Tristan und

weil man diesen anstrengenden Beruf „im

schrieben scheint. Ein Vorschlag, auf den

Isolde“ sah. Die Stadt sei vielleicht „ein

Vollbesitz seiner physischen und mentalen

Regisseur Philipp Otto dankbar einging, ­

bisschen vermufft“ und vom Dünkel ein­

Fähigkeiten“ ausüben müsse, nehmen beide

nachdem beide schon in Henning Mankells

genommen, aber man begegne überall die-

mit der 50. Spielzeit einen relativ gelassenen

„Treffen am Nachmittag“ als ein langjährig

sen und jenen Leuten. Wolfgang Adam redet

Abschied. Denn Schauspielerei habe auch et-

verheiratetes Paar auf der Bühne standen.

weniger über das intimere, familiäre Erfurt,

was „mit Angst und Druck und Quälerei“ zu

­Einem lange geübten Ritual folgend ziehen

wo er bis zum Abitur blieb, als über die

tun, und man will nicht an den Punkt kom-

beide sommers in das „Haus am See“ ein.

­Studienjahre in Berlin.

men, wo man peinlicherweise von der Souff-

Die Liebe des Paares ist noch nicht verschlis-

Sie sind sich begegnet, als Wolfgang

leuse abhängig wird.

sen, spürt man. Aber der ehemalige Professor

Adam 1972 an das Gerhart-Hauptmann-­

kämpft mit seinen Schrullen und seinen

Theater Görlitz-Zittau kaum. Da einte sie be-

aktiver Form verbunden bleiben werden, kön-

80 Jahren, Familienkonflikte und sein nach-

reits eine Gemeinsamkeit, die der Ausbildung

nen beide noch nicht sagen. Als Zuschauer

lassendes Gedächtnis holen ihn ein. Integrie-

an der Staatlichen Schauspielschule Berlin

gewiss, Kunstgenießer und Bildungsreisende

rende, aber ebenso bestimmte und bestim-

nämlich. Über 40 Jahre blieben sie sich und

können sie jetzt erst recht bleiben. An einen

mende Kraft ist seine Frau.

Zittau treu, dessen Bühne Anfang der 1990er

„goldenen See“ wie im Stück, an einen fer-

Die Schauspielerin Christine Gabsch

nur als ABM-Theater überlebte und immer

nen Sehnsuchtsort jenseits von Chemnitz

aber wäre nicht die Frau, „die es mit einem

wieder schmerzhafte Kürzungen hinnehmen

werden sie jedenfalls nicht emigrieren. //

solchen Stiesel ausgehalten hätte“, blickt sie

musste. Beide galten den Theaterfreunden

Ob sie nach 2022 der Bühne noch in

Michael Bartsch

/ 79 /


/ 80 /

magazin

/ TdZ November 2021  /

Was auf dem Spiel stand

von 1988 am Deutschen Theater samt

gleichsam auf die Geständnis- und Selbst­

„Kannst du, was war, begraben?“-Zitat begut-

kritikzwang-Methoden seiner Jugend zurück-

An einem Tag im Juli 1986 lernt die 19-jäh-

achten, und von Heiner Müller stammt wie­

fällt. Auf der symbolischen Ebene dieses be-

rige Katharina in der Nähe des Berliner

derum das Motto für den zweiten Teil des

sonderen Paars der ersten und der letzten

Alexan­ der­ platzes den wesentlich älteren

Romans: „Nach dem Trojanischen Krieg / war

DDR-Generation heißt das, sie haben dem,

Hans kennen. Sie werden sofort ein Paar,

Troja museumsreif.“

was nun kommt, weder nach innen noch nach außen etwas entgegenzusetzen.

­obwohl Hans verheiratet ist und seine Familie nicht verlassen will. Sie werden, bei aller

Die Autorin legt für die Schilderung der

Ungleichheit, sogar ein ideales Paar, das die

Nachwende den Ton einer rasant brutal ge-

Liebe in immer wieder neuen gemeinsamen

schilderten Chronik an, und tatsächlich hat

Entdeckungen feiert, einschließlich der klei-

man so etwas in der jüngeren Literatur und

nen Jubiläen ihrer Geschichte. Bis alles

speziell im Genre Wenderoman so noch nicht

kippt und bricht, so wie das Land, in dem

gelesen. Neben den großen Romanen von

sie leben.

Jenny Erpenbeck: Kairos. Penguin Verlag, München 2021, 381 S., 22 EUR.

Jenny Erpenbeck erzählt diese un­ gewöhnliche Liebesgeschichte vor dem sehr genau geschilderten Kulturmilieu der späten DDR. Erzählperspektivisch handelt es sich

Uwe Tellkamp, Peter Richter und zuletzt Ingo Schulze und Lutz Seiler steht nun „Kairos“ von Jenny Erpenbeck. Übrigens Enkelin des Gründers dieser Zeitschrift. // Thomas Irmer

um eine Recherche, für die nach dem Tod von Hans zwei Kartons mit verschiedenen Materia­ lien ausgepackt und gesichtet wer-

Es geht hier keinesfalls um DDR-gebildete

den. Die größeren Zusammenhänge ent­

Anspielungskunst, sondern mit all diesen

stehen freilich auf einer anderen Ebene, als

meist

es das scheinbar lose geordnete Material

geschichtlich aber bedeutenden und deshalb

Wer Theatergeschichte schreibt, wird selbst

selbst hergeben dürfte. Dafür ist der meist in

heute auch leicht nachzuschlagenden Insze-

ein Gegenstand der Theatergeschichte; das

kurzen Szenen und ­damit vorwärtsdrängend

nierungen – Katharina besucht Castorfs „Das

gilt für Eduard Devrient, von dem wir am

erzählte Roman einfach zu souverän kom­

trunkene Schiff“ und selbstverständlich auch

meisten über das deutsche Theater der ersten

poniert.

Alexander Langs legendäre „Danton“-Insze-

Hälfte des 19. Jahrhunderts wissen, und das

Hans, freier Feature-Autor beim Rund­

nierung – um ein spezifisches Klima, eine

gilt für Günther Rühle, der der Devrient des

funk, und Katharina, die nach einem mit­

bestimmte Atmosphäre, mit der die Autorin

20. Jahrhunderts ist: Seine beiden voluminö-

gestaltenden Beruf im Theater strebt, aber

eben auch schildert, was mit dem Ende der

sen Bände über das deutsche Theater von

dafür noch unsicher ist, sind zwar zunächst

DDR auf dem Spiel stand – und was ihre

1887 bis1945 und von 1945 bis 1966 ge­

nur in ihrem Liebeskokon mit dem Besuch

Katharina gerade zu entdecken beginnt. ­

hören in jede größere deutsche Bibliothek.

einschlägig bekannter Lokale beschäftigt.

­Kairos – der richtige Moment. Hans wieder-

In dem ersten Band hatte er als ein

Nach und nach rückt die Autorin jedoch die

um, dessen künstlerische und intellektuelle

Nachlebender das „Theater der Republik“ er-

Kulturwelt für ihre Protagonisten in den Vor-

Sozialisation in die frühen Jahre der DDR mit

gründet, um Erfahrungen und Orientierungen

dergrund, vor allem sehr viel aus der Ost-­

den Namen Brecht, Eisler, Dessau und auch

für die westdeutsche Theatergegenwart zu

Berliner Theaterwelt. So wird zunächst im

Becher fällt und für den es durchaus ein rea-

gewinnen, in die er zur gleichen Zeit als

Ganymed beiläufig ein Pianist erwähnt, der

les Vorbild geben könnte, wird von der Nach-

­Kritiker aktiv einbezogen war. Das brachte ihn

wie Heiner Müller aussieht. Später wird Hans

wende förmlich beiseite gefegt. Da ist die

in Konflikt mit einem neuen Herausgeber, der

das von Grischa Meyer entworfene Plakat zu

Liebe schon zerbrochen und hat sich in ein

hieß Joachim Fest und brachte ihn als Kriti-

Heiner Müllers „Lohndrücker“-Inszenierung

sadistisches Ritual von Hans verwandelt, der

ker zum Verstummen, indem er ihn als

nur

kurz

angeführten,

theater­

Günther Rühle erinnert sich

m   aterial für die nächste schicht

HILFE!   ABER:... D   as Knistern, wenn man Wasser in einen Tontopf mit trockener Erde giesst.

P  remiere 27.11.2021 & 28. ⁄ 29.11. & 5.12.2021  www.schlachthaus.ch    |  Rathausgasse 20/22  |  3011 Bern F  ür alle ab 6 Jahren | material für die nächste schicht ist Gewinner des STELLA*20 - Darsteller.Kunst.Preis   für Junges Publikum (Stück «bis einer heult»)


bücher

/ TdZ  November 2021  /

­Redakteur beförderte: Rühle redigierte fortan

Mannes, der nie von sich selbst reden mochte

die Intendanz des dortigen Schauspielhau-

das gesamte Feuilleton, musste aber das

und es nun ganz „von selbst“ tut, skizzen-

ses. Vom Beobachter wird er zum Akteur

­Theaterressort an einen konservativen Kolle-

haft und lakonisch. Die Eltern und Großel-

des ­ Thea­ ters und gerät auch hier auf ein

gen abgeben. Als dieser Neuenfels’ umwäl-

tern kommen in Sicht, albtraumhaft fällt den

Kampffeld, sowohl mit seinem Entschluss,

zende Frankfurter „Medea“-Inszenierung in

­Autor die Nazizeit mit Hitlerjugend und Ein-

Fass­binders Frankfurter Bauinvestoren-Drama

einer Weise missbilligte, dass Rühle sich be-

berufung zum Krieg an, Stationen eines

auf­ ­ zuführen, das es immerhin zu einer ge-

wogen sah, ins eigene Blatt eine Gegenkritik

­Berufslebens erstehen, das nach der Promo-

schlossenen Vorstellung mit Kritikern bringt

zu setzen, durfte er dort überhaupt nicht

tion zum Kulturjournalismus findet und bei

(die jüdische Gemeinde hatte die Premiere

mehr über Theater schreiben. „Ich werde euch

blockiert), wie auch mit seinem Einsatz für

alle überleben“, knirschte er einmal nach

Einar Schleef, dem er gegen den brachialen

dem Ver­lassen des fürstlichen Herausgeber-

Widerstand der Kritik erstmals ein Spielfeld

Zimmers; nicht ohne Genugtuung vermerkt

als Regisseur gibt. Nach fünf Jahren gibt

er, dass ihm das gelungen sei.

Günther Rühle: Ein alter Mann wird älter. Hg. von Gerhard Ahrens. Alexander Verlag, 232 S., 22,90 Euro

Er tut dies, inzwischen 97 Jahre alt, in einem gerade erschienenen Buch, das im Haupttitel „Ein alter Mann wird älter“ und im Untertitel „Ein merkwürdiges Tagebuch“ heißt. Das Letztere ist eine Untertreibung. Denn dieses Tagebuch ist nicht nur merk-

Rühle das Amt wieder auf, sein Fazit lautet: „40 Jahre Kritiken verfertigen entspricht fünf Jahren unsanfter Intendanz.“ Dies alles und noch vieles andere berührt sein von einem alten Weggefährten, ­Gerhard Ahrens, musterhaft herausgegebenes Tagebuch mit einer Eindringlichkeit, die aus dem Beiläufigen erwächst und es immer wie-

würdig, es ist außerordentlich, abgewonnen nicht nur dem Alter, sondern auch einer

einer konservativen Zeitung andockt, wo er

der zu Formulierungen bringt, die so persön-

fortschreitenden, bis zur Leseunfähigkeit­ ­

erfährt: „Für kein künstlerisches Instrument

lich wie umfassend sind. Hat man jemals so

­gehenden ­Augenerkrankung, die den Autor

ist Politik so empfindlich wie für das Thea-

schön über die Seele reden hören wie in die-

nötigte, den dritten Großband seiner Thea­

ter. Es kann sich ändern, wie es will, es

sem Buch auf Seite 104? Den Abschied vom

ter­geschichte, der die Jahre nach 1966 be-

bleibt immer die Doppelnatur: Schaubühne

Lebenswerk, dem dritten Band der großen

handelt, als Fragment beiseitezulegen. Ein

und Tribüne.“

Theatergeschichte, empfindet Rühle als tief-

Rühle, dem Neuen, Umstürzenden zu-

greifenden Schmerz, „wie Shylocks Pfund

Beil, hat es zusammen mit dem Akademie-

gewandt, durchmisst hier auf seine Weise

Fleisch aus dem lebendigen Leib“; dann fragt

archivar Stephan Dörschel unternommen,

„das neue demokratische Kampfjahrzehnt

er sich: „Wurde ich jenem entzogen, um das

das Manuskript zu vervollständigen und zum

des Theaters“; als sich herumspricht, dass er

hier zu beginnen?“ Er meint das Tagebuch,

Druck zu befördern.

an der FAZ keine Kritiken mehr schreiben

das ihm das Subjektive, das Persönliche aufer-

Die Aufzeichnungen des in einer weit-

darf, verwahren sich mehr als zwanzig Regis-

legt, mit maximalem Ertrag. „Schreiben ist wie

läufigen Wohnung betreut, aber allein leben-

seure und Schauspieler öffentlich gegen den

ein Strom, der einen fortträgt. Er fließt auch

den Mannes, dessen Augen so schwach ge-

Maulkorb. Als Feuilleton-Chef macht er den

rückwärts. Aus wie vielen Menschen besteht

worden sind, dass er sowohl am Computer als

Kulturteil der Zeitung zu dem umfassenden

man?“ heißt es einmal und über sein erstes

am Aufwärmherd manchmal folgenreich da-

Forum, das er heute noch ist, dann aber

Theatergeschichtsbuch: „Das Buch ist ein Kof-

nebentippt, verschränkt auf eine denkwür­

­erreicht ihn, der die zum Greifen nahe Profes-

fer der Zeit“. Das gilt auch und erst recht für

dige Weise den Alltagsbericht vom Kampf mit

sorenlaufbahn ausgeschlagen hat, eine Offerte,

dieses Lebensdokument eines Mannes, der nie

der Krankheit in Phasen des Widerstands wie

die einen anderen Positionswechsel be­deutet:

von sich selbst sprechen wollte und von Alter,

des Ermattens mit Erinnerungen, die aus die-

Hilmar Hoffmann, der initiative Frankfurter

Krankheit, Behinderung dazu gebracht wurde,

ser täglichen Anspannung aufsteigen, willen-

Kulturdezernent, gewinnt den über Sechzig-

es auf einzigartige Weise zu tun. //

los gleichsam und zur Verwunderung eines

jährigen als Nachfolger Adolf Dresens für

Kaserne

hilf- und kenntnisreicher Freund, Hermann

12.11. bis 30.11. Unordnungen mit

Mykki Blanco, Kieron Jina, Schwald/Leuenberger, La Perla, Lyra Pramuk, Rosaceae, David Wallraf, Cécile Malaspina, Teresa Vittucci & Colin Self, INES Institut Neue Schweiz, Anouchka Gwen, Nadia Beugré, feministischer salon basel: Maria von Känel, Gini Bermond u.a.

Fr 12.11. Unordnungen Konzert: Mykki Blanco anschliessend Party Mi 17.11.– So 21.11. Premiere: Schwald/Leuenberger Touch Isolation Fr 19.11. Unordnungen Konzert: Lyra Pramuk

Friedrich Dieckmann

Mi 24.11. Unordnungen Teresa Vittucci & Colin Self DOOM Unordnungen

So 28.11. Unordnungen Nadia Beugré L’Homme rare

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aktuell

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Matthias Pees. Foto Jörg Baumann

Meldungen

/ TdZ November 2021  /

Team um Steffen besteht außerdem aus

■ Die 84-jährige Schauspielerin Nicole Heesters

­Sabrina Hofer in der Dramaturgie und Philine

erhält den diesjährigen FAUST-­Theaterpreis für

Eni, die künftig für die Kommunikation und

ihr Lebenswerk. Heesters wurde 1937 in

Vermittlung verantwortlich sein wird. Steffen

Potsdam geboren, wuchs in Österreich auf

absolvierte erst ein Studium der Literatur,

und absolvierte eine Schauspielausbildung

Philosophie und Soziologie in Kiel, bis sie ihr

am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Sie hatte

Regiestudium an der Zürcher Hochschule der

Engagements an vielen b ­ edeutenden deutsch-

Künste antrat. Das Theater Winkelwiese

sprachigen Bühnen,­darunter in Düsseldorf, am

­versteht sich seit den 1960ern als Zentrum

Thalia Theater Hamburg, am Schauspielhaus

für zeitgenössische Schweizer Dramatik.

Bochum, den Staatlichen Schauspielbühnen

Unter der Leitung Steffens soll besonderes ­

Berlin, am Theater in der Josefstadt Wien, am

Augenmerk auf zeitgenössischen Stoffen und

Residenztheater München, Schauspielhaus

der Förderung von Dramatiker*innen liegen.

Zürich. Neben dem Theater ist sie auch für zahlreiche Fernsehrollen bekannt, unter ande-

■ Tina Brüggemann, bisherige Chefdramatur-

rem war Heesters die erste weibliche „Tatort“-­

gin am Theater Aalen, wird zur Spielzeit

Ermittlerin. Für ihre schauspielerischen L ­ eis-

2023/24

die

Ko-Intendanz

übernehmen.

­­tungen wurde Heesters 2000 der Curt Goetz-

Brüggemann wird das Haus gemeinsam mit

Ring verliehen, 2014 wurde sie mit dem

dem derzeitigen Intendanten Tonio Klein-

Nestroy-Theaterpreis in der Kategorie „Beste ­

■ Der bisherige Leiter des Künstlerhauses

knecht leiten. Kleinknecht hat seinen Vertrag

Schauspielerin“ geehrt und 2020 ­erhielt sie den

­Mousonturm, Matthias Pees, löst im nächsten

bereits bis August 2028 verlängert. Das

Theaterpreis vom Bundes­verband Schauspiel.

Jahr den scheidenden Thomas Oberender als

Theater hatte zuletzt ein deutlich größeres ­

Intendant der Berliner Festspiele ab. Pees wird

Haus – zusammen mit dem Programmkino,

■ Der Wiener Bühnenverein hat die diesjähri-

zum 1. September 2022 nach Berlin beru-

der Musikschule und einem Eventbetrieb – in

gen Nominierungen für den von ihm verliehe-

fen. Seit 2013 leitet er das Künstlerhaus

der Stadtmitte gebaut bekommen.

nen Nestroy-Preis auf der bekannt gegeben. Den Nestroy-Preis für ihr Lebenswerk erhält

Mousonturm in Frankfurt am Main, das er somit vorzeitig verlassen wird. Zuvor war er lei-

■ Die Theater und Orchester in Niedersachsen

die Autorin Elfriede Jelinek. Auch die Gewin-

tender Dramaturg der Wiener Festwochen

befürchten nach Veröffentlichung des aktu­

nerin in der Kategorie „Bestes Stück“ steht

(2010–2013), Gründer und Ko-Geschäfts-

ellen Haushaltsplanentwurfs der niedersäch-

bereits fest. Miroslava Svolikova erhält die

führer des internationalen Produktionsbüros

sischen Landesregierung für 2022/23 Ein­

Auszeichnung für ihren Text „Rand“, urauf-

prod.art.br in São Paulo (2004–2010), Pro-

bußen in Millionenhöhe. Der Entwurf sieht vor,

geführt am Schauspielhaus Wien. In zwölf

grammdramaturg der Ruhrfestspiele Reck-

die anstehenden Tariferhöhungen im Öffentli-

weiteren Kategorien werden herausragende

linghausen (2003–2004) und Theaterdrama-

chen Dienst für die Theater teilweise nicht zu

Leistungen an den Wiener und den anderen

turg am Schauspiel Hannover (2000–2003)

übernehmen. Allein dem Staatstheater in

österreichischen Bühnen sowie überregionale

und an der Berliner Volksbühne (1995–2000).

Hannover würden infolgedessen 1,2 Millio-

deutschsprachige Inszenierungen in der Kate­

nen Euro pro Jahr fehlen. Damit käme die

gorie „Beste Aufführung“ ausgezeichnet. Die

■ Die künstlerische und kaufmännische

Nichtübernahme der anstehenden Tariferhö-

Preis­verleihung findet am 21. November statt

­Leitung des Theaters Winkelwiese geht in die

hungen faktisch einer Kürzung gleich. Ge-

und wird vom ORF übertragen.

Hände der Regisseurin und Kulturmanagerin

meinsam richten die Geschäftsführung und

Hannah Steffen über. Hannah Steffen tritt zur

die Gewerkschaftsvertretungen den dringen-

■ Das Nationaltheater Mannheim hat den ersten

Spielzeit 2022/23 die Nachfolge des bis­

den Appell an die politischen Entschei­

Jahrgang an Stipendiat*innen des im Juli 2021

herigen Theaterleiters Manuel Bürgin an, der

dungsträger*innen, die Kosten der Tariferhöhun­

gegründeten Instituts für Digital­ dramatik be-

an das Theater Marie in Suhr wechselt. Das

gen zu übernehmen.

kannt gegeben. Die neun Künst­ler*innen sind:


aktuell

/ TdZ  November 2021  /

Jchj V. Dussel, FEELINGS (Jil Dreyer & Josef

gründet das Kuratorium seine Entscheidung.

6. September verstorben. Hoffmann war an

Mehling), Seda Keskinkılıç-Brück, Ralph Tha-

Der Lessing-Preis wird alle zwei Jahre vergeben

Häusern, wie dem Staatstheater Wiesbaden

rayil, Wilke Weermann, Niels Wehr, Lars Werner

und knüpft an die Tradition des Lessing-Preises

engagiert. Außerdem wirkte sie auch in zahl-

und Zelal Yesilyurt. Man habe mit ihnen

der DDR an, der von 1955 bis 1989 vom Kul-

reichen Fernsehproduktionen mit. Nach dem

Künstler*innen gefunden, die mit ihren unter-

turministerium der DDR vergeben wurde. Der

Tod ihres Vaters, Kurt Hoffmann, hatte die ge-

schiedlichen künstlerischen Hintergründen und

Hauptpreis ist mit 20 000 Euro dotiert. Die drei

rade einmal 28-Jährige 1965 als Direktorin

Arbeitsweisen für ein breites Spektrum dessen

Lessing-Förderpreise, jeweils mit 5 000 Euro

das Bonner Contra-Kreis-Theater übernommen.

stehen, was Autor*innen­ schaft im digitalen

dotiert, gehen an die Journalistin und Schrift-

Sie wurde damit just zur jüngsten Theater­

Raum be­ deuten kann. Im Rahmen von vier

stellerin Jackie Thomae, an die Sängerin,

direktorin Deutschlands und prägte als Thea-

Workshops mit Expert*innen und Mentor*innen

Schauspielerin und Texterin Anna Mateur und

terkünstlerin die Bonner Kulturszene.

aus ­Technik, Kunst und Wissenschaft sollen die

an die Journalistin, Publizistin und Sachbuch-

Stipendiat*innen Impulse für ihre eigene

autorin Jasna Zajček. Die Preisverleihung fin-

■ In Madison/Wisconsin starb am 9. Oktober

Schreibpraxis erhalten. Parallel dazu werden sie

det am 26. November in Kamenz statt.

2021 der Hochschullehrer für Literatur­

in den Theaterbetrieb des Nationaltheaters

wissenschaft und Kulturgeschichte und Autor

Mannheim eingebunden, um ihre digitalen und

■ Die Verlegerin Krista Jussenhoven ist am 27.

zahlreicher literaturgeschichtlicher und kul­

hybriden Arbeiten weiterentwickeln zu können.

September in Folgen eines Unfalls und nach

tur­­historischer Schriften Jost Hermand. Ab

Erste Ergebnisse werden im Rahmen eines The-

wochenlanger Krankheit im Alter von 79 Jah-

1958 in den USA lebend, beeindruckte vor

menwochenendes im Januar 2022 präsentiert.

ren verstorben. Jussenhoven leitete gemein-

allem die thematische Breite, die er bearbei-

sam mit ihrem Mann Helmar Harald Fischer

tete, vor allem seien hier seine Forschungen

■ Wilfried Schulz, Generalintendant des Düs-

den Kölner Verlag „Jussenhoven & Fischer –

zu Brecht, Heiner Müller und Peter Weiss

seldorfer Schauspielhauses, erhält den Lessing-

Theater & Medien“. Vor ihrer Selbständigkeit

­genannt. Ein ausführlicher Nachruf folgt.

Preis 2021 des Freistaates Sachsen. Ausge-

als Verlegerin leitete sie unter anderem den

zeichnet wird Schulz für seine Verdienste von

Theaterverlag im S. Fischer-Verlag.

TdZ ONLINE EXTRA

2009 bis 2016 als Intendant am Staatsschauspiel Dresden. In dieser Zeit habe er den

■ Im Alter von 83 Jahren ist Katinka Hoffmann,

­Begriff des Stadttheaters zu neuem Leben er-

langjährige Direktorin des ältesten Bonner

weckt und mit neuer Bedeutung gefüllt, be-

­Privattheaters, dem Contra-Kreis-­Theater, am

THEATER

PERFORMANCE

Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

TANZ

www

MUSIK

WIR SIND UMGEZOGEN!

Das FFT eröffnet seine neue Spielstätte im KAP1 am Düsseldorfer Hauptbahnhof! Rund 20 Jahre nach der Gründung hat das FFT nun erstmals ein Zuhause, in dem sich alles unter einem Dach befindet. Die Bühne I mit 235 Plätzen, die kompakte Bühne II, das großzügige Foyer und weitere Räume öffnen sich der Kunst, der Stadt und den Menschen.

6. NOVEMBER

FFT Düsseldorf, Konrad-Adenauer-Platz 1, 40210 Düsseldorf

fft-duesseldorf.de Das FFT wird gefördert durch die Landeshauptstadt Düsseldorf und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

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aktuell

/ TdZ November 2021  /

Premieren

November 2021

Altenburg Theater Altenburg-Gera GmbH

Bielefeld Theater O. Preußler: Der

ter, 21.11.); M. Decar: Nachts im Ozean

Ingolstadt Stadttheater H. Kallmeyer:

A. Christie: Die Mausefalle (J. Stein­berg,

­Räuber Hotzenpltz (M. Heicks, 06.11.); C.

(M. Decar, 26.11., UA)

Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (M.

12.11.); Brüder Grimm: Rumpeltielzchen

Franke: Two women waiting for … Han­

Dinslaken Burghofbühne A. Rößler:

Diaz, 20.11.)

(M. Kressin, 25.11.)

nah Arendt und Mary McCarthy zwischen

Bang Boom Bang (A. Rößler, 05.11., UA);

Innsbruck Tiroler Landestheater P. Löh­

Annaberg-Buchholz Eduard-von-Win-

Amerika und Europa (C. Franke, 07.11.,

U. Bierbaum: Grrrls (M. Mönch, 07.11.,

le: Eine Weihnachtsgeschichte (V. Koch,

terstein-Theater E. Rottmann: Die Eis­

UA); O. Bukowski: Warten auf‘n Bus (M.

UA); D. Greig: Eine Sommernacht (A.

14.11., ÖEA)

bärin (A. Schreiter, 04.11.)

Heicks, 18.11., UA)

Scherer, 12.11.)

Jena Theaterhaus Ö. v. Horváth/M. Prä­

Ansbach Theater Balladen. Geliebt. Ge­

Bochum Schauspielhaus K. Brunner:

Döbeln Mittelsächsisches Theater M.

kels: Sladek (L. Timmers, 04.11.)

fürchtet. (R. Arnold/S. Effmert, 18.11.)

Jeder Tag ein Vollmond (K. Brunner/

Ende: Der satanarchäolügenialkohhölli­

Kaiserslautern Pfalztheater K. Köhler:

Baden-Baden Theater J. Herzberg: Lieber

G. Haller/R. Kübar, 13.11., UA); U. Lang­

sche Wunschpunsch (O. Hais, 19.11.)

Deine Helden – Meine Träume (H. Dem­

Arthur (F. Stuhr, 12.11., UA); P. Löhle: Die

heinrich/M. C. de’Nobili: Vortex (U. Lang­

Dresden Staatsschauspiel B. Freitag:

mer, 12.11.); A. Ayckbourn: Schöne Be­

Bremer Stadtmusikanten (T. Höhne, 28.11.)

heinrich/M. C. de’Nobili, 18.11.); M. Ende:

Frei.Drehen (B. Freitag, 04.11., UA); L. F.

scherung (A. Rehschuh, 13.11.); J. v.

Bamberg E. T. A.-Hoffmann-Theater P.

Die unendliche Geschichte (L. Coltof,

Baum: Der Zauberer von Oz (C. Rast,

Düffel/n. O. Preußler: Die kleine Hexe (S.

Maar/U. Limmer: Herr Bello und das blau­

20.11.)

06.11.); A. Ayckbourn: Ab jetzt (N. Sy­

Schmelcher, 27.11.)

en Wunder (J. Vetten, 13.11.); P. Maar:

Bremerhaven Stadttheater Aischylos:

kosch, 13.11.)

Köln Schauspiel N. D. Calis: Die Lücke

Bello und das blaue Wunder (J. Vetten,

Die Eumeniden (K. Ladynskaya, 13.11.);

Esslingen Württembergische Landes-

2.0 (N. D. Calis, 01.11.); N. Stuhler/n. I.

13.11.); B. S. Deigner: Der endlos tippen­

J. v. Düffel: Robi Hood (F. Schütz, 19.11.);

bühne P. Süskind: Der Kontrabass (M.

Gontscharow: Oblomow Revisited (L. Per­

de Affe (M. Loibl, 19.11.); E. d. Filippo:

M. Down/N. Barnes: Spaceman (B. S.

Keller, 05.11.); R. Goscinny: Der kleine

ceval, 12.11., UA); D. Gaitán/n. G. Arria­

Die Kunst der Komödie (S. Schug, 26.11.)

Henne, 25.11.)

Nick (J. Müller, 20.11.)

ga: Der Wilde (D. Gaitán, 19.11., UA)

Bautzen Deutsch-Sorbisches Volksthea-

Bruchsal Badische Landesbühne J. v.

Göttingen Deutsches Theater M. Ende:

Landshut Landestheater Niederbayern

ter K. Küspert/A. Küspert: Der Reichs­

Düffel/O. Preußler: Die kleine Hexe (W.

Der satanarchäolügenialkohöllische Wunsch­

S. Tilch: AzzurroDue (S. Tilch, 06.11.,

bürger (S. Wolfram, 26.11.); M. Gavran:

Tobias, 05.11.); G. Greene: Unser Mann

punsch (M. Beichl, 28.11.)

UA); O. Preußler: Die kleine Hexe (W. M.

Lachen verboten (J. Jamnik a., 27.11.)

in Havanna (C. Ramm, 18.11.); T. Walser:

Graz Schauspielhaus C. Jeß: Eleos. Eine

Bauer, 21.11.)

Berlin Berliner Ensemble D. Kelly: Der

Die Empörten (A. Schilling, 20.11.)

Empörung in 36 Miniaturen (D. Foerster,

Leipzig Schauspiel E. Akal: Hotel Pink

Weg zurück (D. Bösch, 27.11., UA)

Chemnitz Theater N. Koljada: Die Polo­

04.11.); S. V. Bungarten: Garland (A. Vu­

Lulu (P. Richter, 19.11., UA); K. Brunner:

Biel / Solothurn TOBS n. H. v. Kleist/

naise von Oginski (P. Magelli, 13.11.)

lesica, 06.11., UA); n. F. S. Fitzgerald:

Die Kunst der Wunde (K. Plötner, 28.11.,

D. Epstein: Die Marquise von O... (D. Ep­

Dessau Anhaltisches Theater F. L.

Making a Great Gatsby (C. Bossard,

UA); Arabella oder Die Märchenbraut (S.

stein, 12.11.)

Baum: Der Zauberer von Oz (J. Schlach­

26.11.)

Beer, 28.11., UA)

Greifswald Theater Vorpommern J.

Linz Landestheater C. Fillers/S. Schnitz­

Raschke: Petty Einweg (A. Beutel, 11.11.);

ler: Zwei Tauben für Aschenputtel (N.

F. Pinkus: Aladin und die Wunderlampe

Neitzke, 14.11., ÖEA); L. Carroll: Alice im

(J. Kerbel, 27.11.)

Wunderland (N. Neitzke, 18.11.); K.

Hamburg Schauspielhaus J. Conrad: Der

Mann: Mephisto (S. Suschke, 27.11.)

Geheimagent (F. Castorf, 12.11.); C. Col­

Magdeburg Puppentheater W. Holz­

lidi: Pinocchio (B. Bürk, 13.11.); SIGNA:

warth: Vom kleinen Maulwurf, der wissen

Die Ruhe (Signa (Signa u. Arthur Köstler),

wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat

19.11., UA); J. Sobrie/R. Ruëll: Wut­

(R. Schuberty, 07.11.); H. Hawemann:

schweiger (K. Schumacher, 20.11.); P.

Die Katze, die tut, was sie will (A. Scheib­

Esterházy: 33 Variationen auf Haydns

ler, 23.11.); T. Storm: Der kleine Häwel­

[mosse] WINTERSEMESTER 2021.22

19H c.t.*

DO 04. NOV 2021

DIE BEWEGLICHKEIT DER SZENE JULIANE VOGEL er mit Stefan Will

LECTURES an der humboldt-universität zu berlin *Ort Die MOSSE LECTURES werden voraussichtlich, unter Einhaltung der Infektionsschutzregeln, im Senatssaal der HU, Unter den Linden 6, stattfinden und zugleich als Live-Stream zu verfolgen sein. Informationen zur Teilnahme auf der Webseite www.mosse-lectures.de oder nach Anmeldung unter info@mosse-lectures.de

19H c.t.*

KONSTANZ

DO 09. DEZ 2021

DIE GEGENWART DER KOMÖDIE

BARRIE KOSKY de Mazza mit Ethel Matala BERLIN

THEATER DER GEGENWART PERFORMANCE UND POLITIK

19H c.t.*

DO 13. JAN 2022

GENT

MILO RAU thausen mit Karin Krau 19H c.t.*

DO 10. FEB 2022 19H c.t.*

DO 27. JAN 2022

Bild: »People relax inside social distancing circles in Ghent« Fotografie, aufgenommen von einer Drohne am 29. März 2021 © REUTERS/Bart Biesemans

WELCHE PR ÄSENZ BR AUCHT DIE GEGENWART ? HANS ULRICH GUMBRECHT her mit Jonas Lüsc

DRAMATURGY, A SECRET WEAPON BUDAPEST ILDIKÓ ENYEDI ler mit Lothar Mül

STANFORD

Die MOSSE LECTURES an der Humboldt-Universität zu Berlin sind eine Veranstaltungsreihe der MOSSE FOUNDATION und der FRIEDRICH STIFTUNG

VERANSTALTER Institut für deutsche Literatur KONTAKT UND INFORMATION T 030.2093 9652

mosse_lectures Mosse-Lectures @mosse_lectures www.mosse-lectures.de info@mosse-lectures.de

Schädel (V. Bodó, 26.11., DEA); T. Bün­

mann (F. A. Engel, 27.11.)

ger: Listen to my Story (T. Bünger, 26.11.,

Mainz Staatstheater B. Quaderer: Für

UA) Thalia Theater n. H. Ibsen: Die Wild­

immer die Alpen (F. Heller, 27.11., UA)

ente oder Der Kampf um die Wahrheit (T.

Memmingen Landestheater Schwaben

Örn Arnasson, 09.11.); D. Foster Wallace:

A. Lustgarten: Lampedusa (M. Schönfeld,

Neon in alter Vertrautheit (S. Zimmler,

05.11.); R. Kipling: Das Dschungelbuch

12.11., UA)

(M. Böttcher, 06.11.)

Hannover Schauspiel A. Birch: Anatomy

Mönchengladbach Theater F. Dürren­

of a suicide (L. Rupprecht, 26.11.); F. M.

matt: Die Physiker (M. Delinić, 14.11.);

Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Kel­

Schaf (27.11.)

lerloch. Bei nassem Schnee (L. Holzhausen,

München Kammerspiele T. Köck: Eure

28.11.) Theater an der Glocksee J.

paläste sind leer (J. Gockel, 13.11., UA);

Vietzke/D. Pförtner/G. Gros/A. ­Casabianchi:

N. Abdel-Maksoud: Jeeps (N. Abdel-­

Ich. Held. (J. Vietzke/D. Pförtner/G. Gros/A.

Maksoud, 21.11.); I. Müller: Fäden (I.

Casabianchi, 05.11.) Freies Theater H. El

Müller, 25.11., UA) Residenztheater F. X.

Kurdi/U. Willberg: Toxic (U. Willberg, 06.11.,

Kroetz: Agnes Bernauer (N. Schlocker,

UA); A. Betz: Eltern richtig erziehen (S. Tröt­

18.11.); n. . Euripides/n. Ovid/n. Sappho:

schel, 20.11.); Das kleine wilde Tier (W.

Die Unerhörten. Technoide Liebesbriefe

Schlüter, 28.11., UA)

für antike Heldinnen nach Sappho, Ovid,

Heilbronn Theater O. Wilde: Bunbury

Euripides u.a. (E. Jach, 20.11.); B. M.

(M.

­Bukowski: Marienplatz (27.11.)

Everding,

12.11.);

C.

Kettering:

Schwarze Schwäne (E. Perrig, 17.11., UA)

Münster Theater W. Shakespeare: Was ihr

Hildesheim Theater für Niedersach-

wollt (J. Prechsl, 04.11.); J. Stock/

sen W. Becker/B. Lichtenberg: Good Bye,

J. Magruder/S. Birkenhead: Triumph der

Lenin! (G. Boeden, 13.11.)

Liebe (A. Lenz, 13.11.); P. Shaffer/


aktuell

/ TdZ  November 2021  /

H. Demming: De swatte Kumelge (H.

Bräuniger, 05.11., UA); P. Maar: Eine

­Fischer, 26.11.)

Woche

Naumburg Theater U. Hub: An der ­Arche

13.11.)

voller

Samstage

(U.

Cyran,

um Acht (K. Trosits, 27.11.)

Stralsund Theater

Neuss Rheinisches Landestheater n. G.

Laufs/W. Jacoby: Pension Schöller (M.

Büchner: Woyzeck@Whiteboxx (K. Kum­

Priebe, 27.11.)

mer, 05.11.); P. Barlow/n. C. Dickens:

Stuttgart Schauspiel V. Heymann: Din­

Eine Weihnachtsgeschichte (S. Weber,

ner for one – Wie alles begann (K. Eppler,

Vorpommern

C.

06.11., DEA); F. v. Delft/W. Muller: Cash

26.11.)

(J. Bitterich, 12.11., DSE)

Tübingen Landestheater I. Bachmann:

Oldenburg Staatstheater F. Schiller:

Der gute Gott von Manhatten (F. Angerer,

­Maria Stuart (K. Barz, 06.11.)

27.11.) Zimmertheater Tübingen P. M.

Osnabrück Theater W. Kadour: Chronik

Ripberger: Alleinheit. Das Universum ­

einer Stadt, die wir nicht kennen (C.

bleibt ‘ne Nullnummer (P. M. Ripberger,

Schlüter/W. Kadour, 07.11., DEA); W. Ka­

20.11., UA)

dour: Chronik einer Stadt die wir nicht

Ulm Theater n. H. C. Andersen/A. Flache:

kennen (C. Schlüter/W. Kadour, 07.11.,

Die Schneekönigin (A. Flache, 04.11.); D.

DEA); R. Schami: Fatima oder die Befrei­

Kehlmann: Die Vermessung der Welt (A.

ung der Träume (M. Diaz, 14.11., UA); R.

Flache, 04.11.)

Schami: Fatima oder die Befreiung der

Wasserburg am Inn Theater A. Segerer:

Träume (M. Diaz, 14.11., UA)

Rotkäppchen … oder so ähnlich (A. Sege­

Parchim Mecklenburgisches Staats­

rer, 21.11.)

theater Adventsgeschichten 2021 (K.

Weimar Deutsches Nationaltheater &

Mickan, 27.11.)

Staatskapelle n. A. Ernaux: Die Jahre (J.

Pforzheim Theater R. Cooney: Außer

Neumann, 14.11.); Zwischen Liebe und

Rand und Band (U. Schürmer, 05.11.);

Zorn. 1969 - 1975 (H. Weber, 19.11.)

E. Schmitt: Kleine Eheverbrechen (M.

Wien brut D. Bourbon/G. Müller: Sodom

Delinić, 06.11.); n. A. Lindgren: Ronja

Vienna (D. Bourbon/G. Müller, 03.11.,

Räubertochter (M. Löchner, 30.11.)

UA); O. Soulimenko: Immortality Day (O.

Potsdam Hans Otto Theater H. Ibsen:

Soulimenko, 12.11., UA); D. Uhlich: Tank

Die Stützen der Gesellschaft (S. Hawe­

/ site-specific (D. Uhlich, 17.11., UA); S.

mann, 19.11.)

Mayer: Bones & Wires. Die Seele der

Regensburg Theater S. Massini: Ladies

­Dinge (S. Mayer, 23.11., UA) Burgtheater

Football Club (J. G. Goller, 06.11., DEA); W.

J. Osborne: Zoes sonderbare Reise durch

Shakespeare: Richard III (G. Schmiedleit­

die Zeit (S. Buckmaster, 13.11., UA); O.

ner, 13.11.); R. Telfer/Gebrüder Grimm: Die

Schmaering: Ich, Ikarus (M. Harnisch­

Bremer Stadtmusikanten (R. Telfer, 27.11.)

macher, 14.11., ÖEA); Ö. v. Horváth:

Rendsburg

Geschichten aus dem Wiener Wald (J. ­

Schleswig-Holsteinisches

Landestheater und Sinfonieorchester J.

­Simons, 18.11.)

Schlachter: Aladin und die Wunderlampe

Wilhelmshaven Landesbühne Nieder-

(B. Geyer, 11.11.)

sachsen Nord A. Christie: Mord im Orient­

Reutlingen Theater Die Tonne See the

express (R. Teufel, 13.11.); G. Kreisler:

real me (J. Riedel, 11.11., UA)

Heute Abend: Lola Blau (M. Schönfeld,

Rostock Volkstheater A. Strindberg:

20.11.)

Fräulein Julie (J. Lewicka, 05.11.)

Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater D.

Rudolstadt Theater I. Budischowsky:

Fo/F. Rame: Offene Zweierbeziehung (A.

Rumpelstilzchen (K. Stahl, 03.11.); I.

Gusner, 19.11.)

­Budischowsky: Rumpelstilzchen (K. Stahl,

Zürich Theater Kanton N. Wood: No

06.11.); D. Williams: Kleider, Kleider, Klei­

­Planet B (K. Stark, 12.11., SEA)

der (D. Williams, 09.11., UA); D. Williams:

Zwickau Theater n. Brüder Grimm/A.

Kleider, Kleider, Kleider (D. Williams,

Asper: Rumpelstielzchen (A. Asper, 28.11.)

09.11., UA); A. Kaye Campbell: Die ­Glaubensmaschine (A. Quintana, 27.11.); A. Kaye Campbell: Die Glaubensmaschine

FESTIVAL

(A. Quintana, 27.11.)

Frankfurt am Main Künstlerhaus Mou-

Saarbrücken sparte4 A. Woltz: Gips

sonturm Tanzfestival Rhein-Main 2021

oder wie ich an einem einzigen Tag die

(28.10.–14.11.)

Welt

06.11.)

Magdeburg Puppentheater 13. Interna­

Überzwerg A. Woltz: Gips oder wie ich an

tionales Figurentheaterfestival Blickwech­

einem einzigen Tag die Welt reparierte

sel Beste Freunde – Ein Ganzes Jahr

(S. Rolser, 06.11.)

(16.11.–20.11.)

reparierte

(S.

Rolser,

Schwedt/Oder Uckermärkische Bühnen T. Esche/S. Zabelt: Das Geheimnis der Vier (T. Esche, 27.11.)

Schwerin Mecklenburgisches Staatstheater R. Kricheldorf: Villa Dolorosa (S. L. Kleff, 21.11.); De Geist von Wiehnacht (K. Waldmann, g. Seidel, 28.11.)

Stendal Theater der Altmark R. Reini­ ger: Futur Eins: Leben auf dem Mars (A.

TdZ ONLINE EXTRA

www

Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de

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/ 86 /

tdz on tour

/ TdZ November 2021  /

Kanada ist Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Aus diesem Anlass geben wir mit dem Theater der Zeit Spezial Kanada ­einen Einblick in die aktuelle zeitgenössische Theaterszene des flächenmäßig zweitgrößten Staates. Die Heftpremiere feierten wir zusammen mit unseren Leserinnen und Lesern in der Kanadischen Botschaft in Berlin. Zu Gast waren per Video-Liveschalte u. a. der Regisseur Ravi Jain (Toronto), die Theatergründer James Long und Maiko Yamamoto (Vancouver) und die Perfomancekünstlerin Émilie Monnet (Montréal). Begleitet wurde der Abend von einer Live-MusikPerformance des Frontmanns Joel Gibb der kanadischen Band The Hidden Cameras. Unterstützt wurden die Publikation und die Veranstaltung durch das Canada Council for the Arts, der Regierung von Kanada und der Vertretung der Regierung von Québec in Berlin.

HOTEL PINK LULU

Paul Tischler, Geschäftsführer Verlag Theater der Zeit. Fotos Theater der Zeit

Paula Perschke, Frank Weigand, Redakteure TdZ Spezial Kanada im Gespräch.


impressum/vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN November 2021 Erwin Aljukić, Schauspieler, München Michael Bartsch, Theaterkritiker, Dresden Otto Paul Burkhardt, Theaterkritiker, Stuttgart Friedrich Dieckmann, Essayist und Schriftsteller, Kritiker, Berlin Björn Hayer, Kritiker, Lemberg Thomas Irmer, freier Autor, Theaterkritiker, Berlin Renate Klett, Theaterkritikerin, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, Theaterkritiker, München Sabine Leucht, Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Theaterkritikerin, Tübingen Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Ute Müller-Tischler, Kulturamtsleiterin, Berlin Frank Raddatz, freier Autor, Dramaturg, Berlin Ingo Starz, freier Autor, Basel Bernd Stegemann, freier Autor, Dramaturg, Hochschullehrer, Berlin Anna Volkland, Dramaturgin, Berlin Sascha Westphal, Theaterkritiker, Dortmund Erik Zielke, Theaterredakteur, Berlin TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2021/11

www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

/ 87 /

Vorschau

Thema Zu Hunderten werden im Oktober wieder junge Menschen ihre Ausbildungen an den Theaterhochschulen beginnen. Doch welche Bühnenzukunft steht ihnen bevor? Wird sich die Lage auf dem sowieso schon angespannten Arbeitsmarkt durch die Corona-Pandemie weiter verschärfen? Wir sprechen in unserem Schwerpunkt zum Thema Ausbildung mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Theaterhochschulen, stellen mit Anna Luise Kiss die neue Rektorin der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin vor und befassen uns mit den Zugangsvoraussetzungen insbesondere für das Fach Schauspiel, die nach wie vor verhindern, dass auf unseren Bühnen Diversität wirklich Realität werden kann.

Müchner Volkstheater. Foto Baureferat

Herausgeber Harald Müller

Die hfs Ultras, ein an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin gegründetes Frauenkollektiv. Foto Monika Keiler

/ TdZ  November 2021  /

Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Harald Müller, Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Mitarbeit Sybill Schulte (Korrektur), Lina Wölfel (Assistenz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Elena Corsi +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 76. Jahrgang. Heft Nr. 11, November 2021. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 04.10.2021 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

Neustart Die Freude war riesig: Das Münchener Volkstheater ­eröffnete am 15. Oktober sein neues, spektakuläres Haus im alten Schlachthofviertel – nach dreijähriger Bauzeit pünktlich, skandalfrei, schön. Das bisherige Haus – eine umgebaute Turnhalle – an der Brienner Straße konnte das Theater wegen Baufälligkeit nicht länger nutzen. Aber bleibt das Volkstheater auch im prächtigen Neubau ein forderndes „Volkstheater“ im eigentlichen Sinne, ­jenseits von Folklore und Heimattümelei? Unser Korrespondent Christoph Leibold untersucht den Zusammenhang von neuer ­Architektur und neuem Theater und bewertet den Neustart am neuen Ort.

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Dezember 2021.


Was macht das Theater, Virginija Vitkienė? Das Programm für die Kultur-

serbischen Novi Sad die dritte ­

hauptstadt Kaunas im nächsten

Kulturhauptstadt nächstes Jahr –

Jahr richtet sich sehr stark auf

ein Stück über den Philosophen

die Geschichte der Stadt und

Emmanuel Lévinas, der aus Kau-

ihre modernistische Architektur

nas stammt und dessen Haus als

aus den 1920er und 1930er Jah-

Teil der Architekturführungen be-

ren aus, als Kaunas die Haupt-

sichtigt werden kann. Außerdem

stadt Litauens war. Wie kommen

wird auch an die spezifisch litau-

Theater und Performance dazu?

ische Kultur des Widerstands in

Es gibt insgesamt sieben Pro-

Sowjetzeiten erinnert, etwa mit

grammlinien, eine davon be-

dem 50. Jahrestag der Selbstver-

steht aus Tanz und Theater

brennung von Romas Kalanta,

bzw. Performance. Schon im

die im Mai 1972 anti-sowjetische

letzten Jahr hat das Litauische

Proteste der Jugend in Kaunas

Zentrum für Tanz damit begon-

­auslöste, die heute als Vorboten

nen, in Zusammenarbeit mit

der

dem Fernsehen Tanzprojekte

gelten und schließlich mit zu

an fünf eigens ausgewählten

1989/90 geführt haben.

Unabhängigkeitsbewegung

Orten der von Ihnen angesprochenen Architektur zu veran-

An großen Namen fehlt es nicht:

stalten. Der zeitgenössische

Robert Wilson wird eine Adaption

Tanz ist so mit der modernen

von Oscar Wildes „Dorian Gray“

Architektur von Kaunas ver-

inszenieren,

bunden, und das wird sich im

kommt, und das Werk von Yoko

Hauptprogramm nächstes Jahr fortsetzen. Für die Architektur wird es ganz spezielle Stadtführungen geben, aber man kann sie eben auch mit dem Tanz auf besondere Weise er­

Dr. Virginija Vitkienė (Jahrgang 1975) ist Kuratorin, Kunstkritikerin und seit 2015 Direktorin von „Kaunas – European Capital of C ­ ulture 2022“. Im Rahmen des Programms zur Kulturhauptstadt kuratiert sie außerdem die Ausstellung von William Kentridge „That which we do not remember“ in Kaunas (Januar bis November 2022). Gesamt­programm unter www.kaunas2022.eu. Foto Martynas Plepys

Marina

Abramović

Ono, darunter auch Videos von ­ihren Performances, wird in einer Retrospektive gezeigt. Außerdem William Kentridge mit einer großen Ausstellung, der, was viele nicht wissen, familiäre Wurzeln in Litauen hat und der

leben. Und wir wollen natür-

hier selbst seine „Drawing Les­

lich auch für die weniger be-

sons“ als lecture performance präsentieren

kannten Seiten der Stadt interessieren und zu

­Corona-Reisebeschränkungen nicht mehr so

Entdeckungen einladen.

zu gestalten war. In der diesjährigen Ausgabe

wird. Sie können international aber auch et-

im August konnten wieder einige internatio-

was entdecken, wie beispielsweise den Zirkus

Wie ist das litauische Theater in das Programm

nale Künstler präsentiert werden. Der litaui-

von Roberto Magro, dessen Temperament uns

eingebunden?

sche Teil von ConTempo 2022 ergibt sich aus

Litauern nahesteht und der auch Theaterfans

Wir waren von Anfang an bestrebt, die Zeit vor

einer Auswahl von Bewerbungen, die also

völlig überraschen kann.

Kaunas 2022 für die Entwicklung neuer Ver-

durchaus Wettbewerbscharakter hat und da-

anstaltungen und Festivals zu nutzen. Das

mit neue Gruppen wie das Kosmos Theater in

Was aber, wenn Corona mal wieder alles infrage

Ganze folgt einer Strategie für insgesamt

Kaunas zum Beispiel ins Programm holt und

stellt?

zehn Jahre, beginnend mit der erfolgreichen

für ein größeres Publikum entdeckt. Nächstes

Inzwischen sind wir erfahren mit den Maß-

Bewerbung und für fünf Jahre nach dem

Jahr wird es über 100 Veranstaltungen ge-

nahmen, und ein großer Teil des Theater­

Hauptstadtjahr. Es geht also sehr stark um

ben, und zwar nicht nur in Kaunas, sondern

programms wird im Sommer und Herbst ge-

die sogenannten Nachhaltigkeitseffekte. Für

auch in der gesamten die Stadt umgebenden

zeigt. Wir sind natürlich Optimisten. Aber

den Theaterbereich wurde deshalb 2019

Region gleichen Namens, das heißt viele der

wenn es wieder Einschränkungen der Platz­

ConTempo gegründet, ein Festival für un­ge­

einheimischen Produktionen werden im länd-

kapazität geben sollte, so wird das sicher da-

wöhnliche Theaterformen, in dem vor allem

lichen Raum gezeigt. Die Grundidee des ge-

durch ausgeglichen, dass viele Produktionen

auch die freie Szene des Landes vorgestellt

samten Programms besteht indes darin, dass

im Repertoire ihrer jeweiligen Institutionen

wird, neue Gruppen, die sich anders organi-

die litauische Szene in einem internationalen

verankert sind und noch lange nach dem Kul-

sieren und präsentieren als das bisher in

Kontext präsentiert wird, was dann hoffent-

turhauptstadtjahr gezeigt werden. Das ent-

­Litauen üblich war. Der erste Jahrgang von

lich weitere Entwicklungen anstößt. Das Natio­

spricht ja dem Prinzip der Nachhaltigkeit

ConTempo war sehr international ausgerich-

naltheater Kaunas wiederum koproduziert mit

unter diesen besonderen Umständen.

tet, was für das folgende Jahr wegen der

dem luxemburgischen Esch – neben dem

Die Fragen stellte Thomas Irmer


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