Theater der Zeit 12/2019

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Thema: Theater und Digitalität / Neustarts: Residenztheater München und Schauspiel Hannover / Das Teatr Polski in Poznań / Josef Bierbichler über Peter Handke / Künstlerinsert: Die CyberRäuber

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Dezember 2019 • Heft Nr. 12

Lilith Stangenberg Kunst ist Bekenntnis


SPIELZEIT 2019.2020 FRAU VERSCHWINDET (VERSIONEN)

OREST NACH SOPHOKLES, AISCHYLOS,

TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN

JULIA HAENNI | (UA)

EURIPIDES IN EINER BEARBEITUNG

ARTHUR MILLER

Regie: Marie Bues

VON JOHN VON DÜFFEL | (SEA)

Regie: Gerd Heinz

Seit 07. September 2019 | Vidmar 2

Regie: Sophia Aurich

Ab 15. Februar 2020 | Stadttheater

Ab 18. Dezember 2019 | Vidmar 2 DER SOHN ELMAR GOERDEN | (UA)

SCHULD UND SÜHNE FJODOR M. DOSTOJEWSKI

Regie: Elmar Goerden

FIFA EIN PROJEKT VON CHRISTOPH FRICK &

IN DER ÜBERSETZUNG «VERBRECHEN UND STRAFE»

Seit 20. September 2019 | Vidmar 1

ENSEMBLE | (UA)

VON SWETLANA GEIER

Regie: Christoph Frick

Regie: Henri Hüster

Ab 19. Dezember 2019 | Vidmar 1

Ab 27. Februar 2020 | Vidmar 1

MANIC MONDAY DIE MONTAGSREIHE Seit 07. Oktober | Stadttheater, Mansarde

MEISTERIN HÜPF UND DER SCHEUE KÖNIG

FRÄULEIN JULIE AUGUST STRINDBERG

DER GROSSE DIKTATOR CHARLIE CHAPLIN | (DEA)

FABIENNE BIEVER | (UA)

Regie: Alexandra Wilke

Regie: Cihan Inan

Regie: Fabienne Biever

Ab 25. März 2020 | Vidmar 2

Seit 19. Oktober 2019 | Stadttheater

Ab 13. Februar 2020 | Stadttheater, Mansarde MEIN SOMMER MIT KIM LUKAS LINDER | (UA)

DER LETZTE SCHNEE ARNO CAMENISCH | (UA)

Regie: Katharina Ramser

Regie: Jonas Knecht

Ab 15. Mai 2020 | Vidmar 1

Seit 08. November 2019 | Vidmar 1 DIE HAND IST EIN EINSAMER JÄGER CENGALO, DER GLETSCHERFLOH

KATJA BRUNNER | (SEA)

FRANZ HOHLER | (UA)

Regie: Jonas Junker

Regie: Meret Matter

Ab 23. Mai 2020 | Vidmar 2

Seit 15. November 2019 | Stadttheater

Karten und weitere Informationen unter 031 329 52 52 www.konzerttheaterbern.ch

Foto: Annette Boutellier

schauspiel


editorial

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W

enn man einen Themenschwerpunkt über die digitale Revolution im Theater macht, muss man zunächst einmal über Ochsenfrösche reden. Mit Jürgen Schmidhuber, einem der führenden Forscher zu künstlicher Intelligenz (KI) und Vater des Deep Learning, also selbstlernender KI. Aus Sicht einer zukünftigen, also sehr schlauen KI, so Schmidhuber, werde der Homo sapiens nur ein evolutionärer Zwischenschritt sein. Konflikte zwischen Mensch und KI entkräftet er: Zum Beispiel seien wir ja auch viel klüger als Ochsenfrösche, quasi unsere evolutionäre Vorstufe; dennoch würden wir nicht versuchen, Ochsenfrösche systematisch auszurotten. Warum also sollte eine KI uns ­vernichten wollen? Langfristig indes werde der Mensch, ähnlich wie die Ochsenfrösche, die ja keine wichtigen Entscheidungsträger mehr seien, keine große Rolle mehr spielen. So nachzulesen in ­einem Beitrag in der ZEIT – und schwups, springt beim Menschen die Fantasie an, produziert Zukunfts­ szenarien, wahlweise dystopisch oder utopisch. Momentan müssen KIs aber noch sehr viel lernen, angeleitet von den Menschen. Unser ­Dezember-Schwerpunkt Theater und Digitalität zeigt anhand zweier Beiträge, was KI heute so kann. Zum einen hat das Virtual-Reality-­Kollektiv CyberRäuber für unser Cover-Foto eine KI den MangaZeichenstil von Katsuhiro Otomo auf ein Bild der Schauspielerin Lilith Stangenberg anwenden lassen, die Gunnar Decker in dieser Aus­gabe porträtiert: als eine Künstlerin, die sich nach dem kompromiss­ losen Ausdruck sehnt und nach dem Ende der Castorf-Volksbühne zwischen Film und Theater ihr künstlerisches Zuhause sucht. Zum anderen haben wir anstelle des für unseren Stückabdruck übli­ chen Autorengesprächs die ­Dramatikerin Martina Clavadetscher gebeten, dem neuralen Netzwerk GPT-2 der CyberRäuber ­Fragen zu ihrem im Heft abgedruckten Stück „Frau Ada denkt Unerhörtes“ zu stellen – das Stück verlängert das Leben der real existierenden Computerpionierin Ada Lovelace in einer wilden KI-Spekulation über deren Tod hinaus. Die CyberRäuber selbst stellt Tom Mustroph in unserem Künstlerinsert vor. Sie sind auf deutschen Bühnen Pioniere eines Theaters der virtuellen Realität. Auf ihren hyperstages verbinden sie digitale Technologien mit konventionellem Theater. Dass es ein großes Missverständnis sei, Digitalität im Theater als bloßen Einsatz von innovativen Digitaltechniken zu verstehen, darauf verweist Anja Nioduschewski in ihrem Beitrag „Der Code als Kultur“. Denn die Digitalisierung, die sich als radikale Revolution unserer gesamten Lebensweise erweist, zeitige neuartige (zwischen)menschliche, soziale und politische Konflikte, die auf den Bühnen verhandelt werden müssten. In seinem künstlerischen Selbstverständnis müsse das Theater die digita­ len Technologien hacken und kreativ umwidmen. Dazu braucht es Expertise. Die von Regisseur und Intendant Kay Voges neu gegründete Akademie für Theater und Digitalität soll sie liefern. Wir spra­ chen mit ihm über seine digitale Agenda, die Akademie und das Theater als Ort der Medienmündigkeit. Für den Theaterwissenschaftler Ulf Otto entscheidet sich das Schicksal des Theaters im Digita­ len keineswegs in der virtuellen Realität oder mittels Robotik, sondern vielmehr mit der Frage nach der Repräsentation: als Vielfalt von Positionen und Stimmen im und über das Theater. In seinem Essay hält aber auch er fest: „Sinn zu machen (oder zu finden), ohne dass Algorithmen in der einen oder anderen Weise daran beteiligt wären, geht nicht mehr.“ Die Regisseurin Susanne Kennedy macht in ihren Inszenierungen den Modus des Menschen in diesem synthetischen Sein des digitalen Zeit­ alters erfahrbar. Thomas Oberender zeigt anhand ihrer Arbeiten wie sich unser Verständnis vom ­Körper, von Wirklichkeit oder Narration völlig verändert und hybrider darstellt. Ganz ohne Digitales eröffnet Andreas Beck seine erste Spielzeit als Intendant des Münchner Residenztheaters, doch auch hier lautet das Motto „Was ist der Mensch?“. Christoph Leibold hat sich die ersten Produktionen angesehen, unter anderem die Uraufführung von Ewald Palmetshofers „Die Verlorenen“ – fast eine Antwort auf diese Frage. Am Schauspiel Hannover wiederum startete Sonja ­Anders als neue Intendantin. Hier erfüllt sich Ulf Ottos Anspruch an Vielfalt im Theater. Dorte Lena Eilers war bei diesem Neustart dabei und stellte fest, dass die Institutionskritik der vergangenen ­Jahre hier programmatisch umgesetzt wurde: vom Critical-Whiteness-Workshop bis zur 360-Grad-Stelle für mehr Diversität. Alles richtig gemacht?! Hat Peter Handke zweifelsohne nicht. Dennoch muss Josef Bierbichler in seiner Kolumne das schriftstellernde Subjekt, gegen das das Feuilleton ­anlässlich des Nobelpreises zum Angriff blies, verteidigen. Richtig will und soll die Kunst nämlich nichts­ machen. Genau das würdigt Thomas Irmer an der Arbeit des Teatr Polski in Poznań, das ­entgegen der von der PiS-Regierung erwünschten nationalen Kunst mehr politische Komplexität auf die Bühne bringt. // Die Redaktion

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Inhalt Dezember 2019 thema theater und digitalität

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Anja Nioduschewski Der Code als Kultur Theater und Digitalität

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Theater als Schule der Medienmündigkeit Kay Voges, Intendant des Schauspiels Dortmund und Gründungsdirektor der Akademie für Theater und Digitalität, über die digitale Moderne auf der Bühne im Gespräch mit Anja Nioduschewski

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Ulf Otto Und Paro lächelt Von digitalen Figuren, bürgerlichen Ängsten und der Multiplizität des Theaters jenseits des Produktdesigns

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Thomas Oberender Im Glitch den Vorhang öffnen Die Regisseurin Susanne Kennedy macht das Betriebssystem unseres digitalen Zeitalters erfahrbar

künstlerinsert

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Arbeiten der CyberRäuber

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Tom Mustroph Hacken für das Theater Die CyberRäuber kreieren Hyperbühnen, in denen sich virtuelle und erweiterte Realität sowie künstliche Intelligenz mit konventionellem Theater verbinden

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protagonisten

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Gunnar Decker Die mit dem Wolf spielt Für die Schauspielerin Lilith Stangenberg ist Kunst auch Bekenntnis

kolumne

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Josef Bierbichler Sprengstoffpreis Peter Handke und der Feuilletonistenkrieg

protagonisten

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Christoph Leibold Das menschliche Tier, rabenschwarz Andreas Beck untersucht in seiner ersten Spielzeit als Intendant des Residenztheaters München die conditio humana

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Dorte Lena Eilers Es regnet heftig oder gar nicht Sonja Anders unterzieht in ihrer ersten Spielzeit als neue Intendantin des Schauspiels Hannover das Haus einer grundlegenden Institutionskritik – Was macht das mit der Kunst?

ausland

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Thomas Irmer Hamlets Schlachthaus Wie das Teatr Polski in Poznań dem PiS-regierten Polen politisch wie ästhetisch hochspannendes Theater entgegensetzt

look out

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Otto Paul Burkhardt Die Einzigartige Die Schauspielerin Amina Merai riskierte den Sprung von Berlin nach Stuttgart – und findet das immer noch richtig

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Jakob Hayner Spielendes Denken Die Cottbusser Schauspielerin Sophie Bock will die Wirklichkeit begreifen – und auf ihre Widersprüche reagieren

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inhalt

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auftritt

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Bregenz „COLD SONGS: ROM“: „Coriolanus“ von William Shakespeare in der Regie von Catharina May, „Der ideale Staat in mir“ (UA) von Bettina Erasmy in der Regie von Agnes Kitzler und „Julius Caesar“ von William Shakespeare in der Regie von Johannes Lepper (Bodo Blitz) Bamberg „Der Reichskanzler von Atlantis“ (UA) von Björn SC Deigner in der Regie von Brit Bartkowiak (Sabine Leucht) Berlin „Germania“ (UA) von Claudia Bauer nach Heiner Müller in der Regie von Claudia Bauer (Jakob Hayner) Bruchsal „Der Illegale“ (UA) von Günther Weisenborn und Konstantin Wecker in der Regie von Carsten Ramm (Elisabeth Maier) Greifswald „Hamlet“ von William Shakespeare in der Regie von Reinhard Göber und „Die Hamletmaschine“ von Heiner Müller in der Regie von Annett Kruschke (Gunnar Decker) Heilbronn „Germania 3. Gespenster am Toten Mann“ von Heiner Müller in einer Fassung von Axel Vornam und Mirjam Meuser in der Regie von Axel Vornam (Björn Hayer) Hof „Besucher“ von Botho Strauß in der Regie von Reinhardt Friese (Michael Bartsch) Karlsruhe „Passion – Sehnsucht der Frauen“ (UA) von Ingmar Bergman in einer Fassung und in der Regie von Anna Bergmann (Elisabeth Maier) Kiel „Amsterdam“ von Maya Arad Yasur in der Regie von Josua Rösing (Jens Fischer) Mülheim „Der Untergang der Titanic” von Hans Magnus Enzensberger in der Regie von Philipp Preuss (Martin Burkert)

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Bist du ein Geheimnisieren? Das neurale Netzwerk GPT-2 (Model 345M) der CyberRäuber im Gespräch mit Martina Clavadetscher über ihr Stück „Frau Ada denkt Unerhörtes“

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Martina Clavadetscher Frau Ada denkt Unerhörtes

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Im Gesicht sind alle Menschen nackt Beim Münchner Spielart-Festival dominieren persönliche Geschichten aus aller Welt – am Ende begeistern vor allem starke Frauen Helden der Großstadt In Tirana verteidigen Künstler ihr Theater gegen gierige Investoren, in Prishtina klagt ein Theaterstück die Baumafia an – zwei nicht ganz ungefährliche Aktionen Geschichten vom Herrn H. Stimmen einer Generation Was folgt auf die Zerstörung? Das 59. Theaterfestival MESS in Sarajevo findet unter massiven Budgetkürzungen statt Schaufenster in den baltischen Raum Die Biennale Theater-Hanse geht in Stralsund in die erste Runde Ein großer Ensemblespieler Der Leipziger Schauspieler Dieter Jaßlauk ist gestorben Bücher Angela Winkler, Shelagh Delaney, Berthold Seliger

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Meldungen

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Premieren im Dezember 2019

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TdZ on Tour in Berlin und München

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Bettina Schültke und Peter Staatsmann im Gespräch mit Jakob Hayner

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stück

magazin 72

aktuell

was macht das theater?

Lilith Stangenberg featured by CyberRäuber. Foto CyberRäuber Mittels eines Adaptive-Style-Transfer-Algorithmus haben die CyberRäuber eine KI den Zeichenstil von Katsuhiro Otomo auf ein Bild von Lilith Stangenberg anwenden lassen. Katsuhiro Otomo ist der Schöpfer des Mangas „Akira“, der als Meisterwerk gilt.

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Arbeiten der CyberRäuber: (Links oben) Interaktiver 3-D-Bühnenbildscan für „Memories of Borderline“ am Schauspiel D ­ ortmund 2017, (links unten) 3-D-Bühnenobjekte für „Meet Juliet, Meet Romeo“ 2018 beim Kunstfest Weimar als Collage, (rechts oben) Konzept „Hyperstage“ – verwandelt reale Räume in neue digitale Bühnen, (rechts unten) HexenhausAR-Element für „Verirrten sich im Wald“ am Deutschen Theater Berlin 2019, (S. 4–5) „Das CyberTheater“, Schauspiel, R ­ egie und Gesang live und global im Internet. Fotos CyberRäuber


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Hacken für das Theater

VR-Visual für „Fragmente. Ein digitaler Freischütz“ am Staatstheater Karlsruhe 2019. Foto CyberRäuber

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Die CyberRäuber kreieren Hyperbühnen, in denen sich virtuelle und erweiterte Realität sowie künstliche Intelligenz mit konventionellem Theater verbinden von Tom Mustroph

M

arcel Karnapke und Björn Lengers reisen mit leichtem Ge­ päck. Zu den Proben von „Prometheus Unbound“, ihrem Mitte Dezember am Landestheater Linz zur Uraufführung kommenden Stück über den antiken Technologie-Pionier, packt Karnapke ein paar Tablet-Computer, sein Laptop, eine 360-Grad-Kamera und diverse Kabel und Akkus ein. Alles hat Platz in einer großen Plas­ tiktüte vom Baumarkt. „Gute Projektoren haben die Theater meis­ tens schon selbst. Was wir für die Bühne brauchen, passt tatsäch­ lich hier rein“, meint Karnapke, studierter Medienkünstler, später Forschungsassistent in Cambridge und aktuell Entwickler für VRund AR-Anwendungen*, trocken. Ähnliches gilt für die Software. „Viele Programme und Apps sind Open Source“, ergänzt Björn Lengers, eigentlich gelernter Kaufmann, schließlich Gründer ei­ nes Unternehmens für Datenanalyse und seit 2016 CyberRäuber. Beide zeichnet eine wohl einzigartige Mischung aus Technologie­ affinität, Pioniergeist, Pragmatismus und Liebe zum Theater aus. Clou ihrer ersten Arbeit für ein Theater, einer Virtual-RealityVersion von Friedrich Schillers „Die Räuber“ am Deutschen Thea­ ter in Berlin, war, dass man im digitalisierten Foyer des Hauses herumwandeln und dort auf Stückfiguren treffen konnte. Man konnte sich zwischen Franz und Amalia stellen und sogar in ihre digitalen Silhouetten schlüpfen – aus der Perspektive des einen auf den anderen blicken. Multiperspektivität ist ohne Frage ein großer Vorteil des Theaters im virtuellen Raum. Die Raumerfahrung selbst ist ein weiterer. Für „Memories of Borderline“, eine VR-Auskopplung der zum Theatertreffen

2017 eingeladenen Inszenierung „Die Borderline Prozession“ von Kay Voges, scannten die CyberRäuber das komplette Theater in Dortmund. Der Laserscan erfasste den Bühnenraum, alle Kulis­ sen, das Zuschauerpodest und diverse Innenräume. In diesem virtuellen Universum konnte man sich auch in der Vertikalen be­ wegen. In einzelnen Räumen fanden Szenen aus der „Borderline Prozession“ statt. Es war der Versuch einer künstlerischen Fort­ schreibung der Inszenierung in einem anderen Medium. Schöner Nebeneffekt ist, dass die Daten des Laserscans der Bühne mittler­ weile im Rahmen von Coding da Vinci als Open Source zur Ver­ fügung stehen – als erstes Bühnenbild überhaupt in diesem sonst meist von Museen genutzten digitalen Archiv. Der Zugang zu virtuellen Bühnenräumen erfolgte bislang vor allem über die VR-Brille. Man setzte sie auf, tauchte ins virtu­ elle Universum ein – und war dann vereinzelt. In den Spielszenen der frühen Arbeiten der CyberRäuber fiel zuweilen auch der hohe Theaterton unangenehm auf. Das VR-Theater konnte seine Stadt­ theaterherkunft nicht verleugnen. Interessant wurden die virtuellen Schauspielerkörper und die gesamte virtuelle Architektur visuell vor allem dann, wenn die fotorealistische Illusion aufgelöst und die Struktur der Daten­ punkte deutlicher sichtbar wurde. Das Digitale sprang ins Auge. Und das Hirn ergänzte die Lücken. Man fühlte sich an die Wahr­ nehmungstheorie des polnischen Philosophen Roman Ingarden erinnert. Er sprach von „Unbestimmtheitsstellen“ inmitten des „schematischen Gebildes“ eines literarischen Kunstwerks. Unbe­ stimmtheitsstellen sind nach Ingarden beispielsweise die Augen­ farben literarischer Gestalten. Werden sie nicht erwähnt, fülle der Wahrnehmungsapparat des Rezipienten diese Leer- oder Unbe­ stimmtheitsstelle mit einer bestimmten Farbe aus. Ingarden


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­ ezeichnete dieses Konkretisieren als „eigene mitschöpferische b Tätigkeit des Lesers“ – ein früher Hinweis auf die Partizipation der Rezipientinnen und Rezipienten, die in den digitalen Künsten strukturell an Bedeutung gewinnt. Die Problemzonen ihrer frühen Arbeiten gingen die Cyber­ Räuber in den letzten zwei Jahren mit großer Dynamik an. Beim Jugendstück „Die Biene im Kopf“ von Roland Schimmelpfennig an der Parkaue Berlin (Regie Martin Grünheit) wird das VR-Theater von der Brille befreit. Das Publikum sitzt wieder kollektiv im Raum und beobachtet, wie das Bühnenbild mit der Software Tilt Brush erzeugt wird. Mit einem digitalen Pinsel können Objekte und Räume gezeichnet sowie digitale Objekte importiert werden. ­ ­Geradezu magisch entsteht die imaginäre Welt des Protagonisten, der sich in das Dasein einer Biene flüchtet. Während der Proben zu „Biene im Kopf“ betraten die Cyber­ Räuber weiteres Neuland. Auf der Plattform VRChat, einer frei zugänglichen digitalen 3-D-Welt für Avatare – vergleichbar mit ­Second Life –, trat die Mezzosopranistin Jessica Gadani auf. „In all dem Chaos der verschiedenen Avatare herrschte plötzlich Stille. Eine ganze Gruppe von ihnen versammelte sich um sie. Einer malte mit einem Stift sogar eine Bühne um sie. Es entstand auf einmal eine soziale Struktur“, freut sich Karnapke. Es war der Auf­ takt zu einer Art virtuellem Straßentheater. In „Fragmente. Ein digitaler Freischütz“ eroberten die Cyber­ ­Räuber auch die Oper. In vier Episoden wurden Sequenzen der „Freischütz“-Inszenierung am Badischen Staatstheater Karlsruhe (Regie Verena Stoiber) in VR überführt und dort bearbeitet. Interes­ sant war hier, wie sich über die Position im Raum der ­Charakter der Musik von romantisch (von Weber) zu zeitgenössisch (Komposition Micha Kaplan) änderte. „Im Forsthaus hört man die Arie original. Wer mutig ist und das Haus verlässt, erlebt auch etwas anderes“, ­erzählt Karnapke. Die Oper wurde nicht bloß „hineinkopiert“, son­ dern mit dem Raum und den Klangpotenzialen von VR dirigiert. Erfolgte bei „Fragmente“ der Zugang ausschließlich über die VR-Brille, so stellte die „Hänsel und Gretel“-Adaption „Verirr­ ten sich im Wald“ (Regie Robert Lehniger) am Deutschen Theater Berlin 2019 ein digital vielfältig erweitertes Bühnenwerk dar. Das Publikum kann hier über einzeln verteilte VR-Brillen alternative Situationen von Hänsel und Gretel erleben. Zentrales Element auf der Bühne ist das Hexenhaus. An einzelnen Stellen des Hexen­ hauses, aber auch im zuvor zum Spielraum erhobenen Foyer sind nor­male Porträtfotos angebracht, die auf den Tablets der Spiele­ rinnen und Spieler Hologramme erzeugen und so weitere Einbli­ cke in den Wald und in einzelne Figuren geben. Zudem wurden die zehn im Raum verteilten VR-Brillen als Soundquellen umge­ nutzt: Eine Surround-Atmosphäre mit bewegtem Klang entstand. Für Marcel Karnapke machen das Umfunktionieren von Geräten, das Erweitern der Anwendungsbereiche, ja das Hineinhacken in die Technologie einen maßgeblichen Reiz der Arbeit aus. Bei „Prometheus Unbound“ in Linz schließlich treten VR und AR in den Hintergrund. Künstliche Intelligenz übernimmt. Texte, Musik und Bilder werden über Algorithmen erzeugt. Für den Text sorgt GPT-2. Der Algorithmus wurde von der vom TeslaGründer Elon Musk maßgeblich finanzierten Initiative OpenAI nur in e­ iner abgespeckten Version auf den Markt gebracht. Vor­ sorglich eingebaute Fehler wie Wortwiederholungen sollen ver­

cyberräuber

Marcel Karnapke und Björn Lengers gründeten 2016 das Kollektiv ­CyberRäuber – Theater der virtuellen Realität, um in Zusammen­arbeit mit anderen Kunstschaffenden Theater und virtuellen Raum zu verbinden. Ihre erste Arbeit entwickelten sie für die Konferenz „Theater und Netz“. Es folgten Produktionen u. a. am Schauspiel Dortmund, bei den Schillertagen Mannheim, für das Kunstfest in Weimar, am Theater Baden-Baden, am Deutschen Theater in Berlin und am Badischen Staatstheater Karls­ruhe. Ihre neueste Produktion „Prometheus Unbound“ hat am 14. Dezem­ber am Landestheater Linz Uraufführung. Marcel Karnapke (*1982) studierte Media Design an der Bauhaus-Universität Weimar. Danach entwickelte er virtuelle Museen für die Cambridge University. Außerdem ist er Mitbegründer des Start-ups virtigo.xyz für VR- und AR-Anwendungen. Björn Lengers (*1971) ist gelernter Betriebswirt und leitet ein Berliner Unternehmen für Datensammlung und -aufbereitung. Foto CyberRäuber

hindern, dass maschinell erzeugte Texte für von Menschen ver­ fasste gehalten werden. Der Fehlermodus sorgt auch für poetische Reibung, für einen Reiz, der sich aus dem Konkretisieren ganz unerwarteter Unbestimmtheitsstellen im Sinne Ingardens ergibt. Als die CyberRäuber den Algorithmus mit Bibeltexten fütterten, kam ­heraus: „1Cor 6:18 Ich soll nicht kommen, und der Herr soll nicht kommen und ich soll nicht kommen, und ich will nicht kommen, ich will aber kommen. / 1Cor 6:19 Ich soll aber nicht kommen, und der Herr soll nicht kommen.“ Dass Bibelstellen in­ diziert sind, begriff der Algorithmus. Wann der Herr erscheint, bleibt im Ursprungstext oft ebenfalls dunkel. Gegenwärtig füttern die ­CyberRäuber den Algorithmus mit sechs Übersetzungen von ­Aischylos’ „Der gefesselte Prometheus“. An die Abschaffung der Theaterkunst durch Algorithmen glauben die CyberRäuber aber gerade nicht. „Wenn ich technische Mittel für das Theater einsetze, bringe ich das Theater der Techno­ logie näher und umgekehrt. Damit interessieren sich wieder mehr Leute für das Theater. Gemeinsam dringen wir dann in ganz neue Gebiete vor“, meint Karnapke. Kompagnon Lengers prognosti­ ziert sogar: „Die besten Zeiten für das Theater kommen noch.“ // * VR virtuelle Realität, AR erweiterte Realität, AI künstliche Intelli­ genz (international gängige englische Abkürzungen)

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Wie das Theater auf die codebasierte Kultur des digitalen Zeitalters reagiert, ist Thema unseres Schwerpunkts zu Theater und Digitalität. Welche künstlerischen Strategien, ­digitalen Technologien, Formate und Diskurse ihren Weg auf die Bühnen finden, skizziert eingangs Anja Nioduschewski und spricht zudem mit Regisseur Kay Voges über die von ihm gegründete Akademie für Theater und Digitalität. Dass das Schicksal des Theaters im Digitalen sich eher an sozialen Fragen entscheidet, ­argumentiert der Theaterwissenschaftler Ulf Otto. Wie die Regisseurin Susanne Kennedy das Betriebssystem des digitalen Zeitalters erfahrbar macht, beschreibt Thomas Oberender. Außerdem im Heft: Martina Clavadetschers Stück über die ­Computerpionierin Ada Lovelace und die CyberRäuber im Künstlerinsert, die auch das Heft-Cover gestalteten.


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theater und digitalität

Der Code als Kultur Theater und Digitalität von Anja Nioduschewski

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s steht außer Zweifel, dass die digitale Revolution, die mitt­ lerweile sämtliche Lebensbereiche erfasst hat, ihren Weg auf die Theaterbühnen findet. Sie tut es ja bereits. Das größte Miss­ verständnis in Bezug auf das Verhältnis von Theater und Digita­ lität besteht allerdings darin, dabei ausschließlich an technische Innovationen zu denken oder an Roboter, Hologramme und ­Algorithmentexte, die die Bühne erobern. Was im Kurzschluss dazu führt, das Digitale gegen das Analoge des Theaters in Stel­ lung zu bringen (obwohl in den Häusern ja seit Jahren digitali­ sierte Bühnentechnik vor sich hin schnurrt). Es geht eben nicht nur um Digitalisierung von Infrastruktur (auch), nicht nur um den künstlerischen Einsatz digitaler Techniken (auch), sondern vor allem um Digitalität – einen Begriff, den der Informatiker Nicholas Negroponte ­bereits Mitte der 1990er Jahre prägte und dabei prophezeite, dass das Digitale wie die Luft und das Wasser­ trinken nur noch durch seine Ab- und nicht Anwesenheit be­ merkt werden würde. Die Eindringtiefe digitaler Techniken reicht heute bereits bis in unsere Privat-, ja, Intimsphäre. Sie bestimmen unsere Kom­ munikation, die Form unserer Interaktion, vor allem aber bestim­ men sie bereits massiv unser Denken, das durch sie eine fragwür­ dige Konditionierung erfährt: Menschen wie Klickvieh, das sich gerne selbst und gegenseitig überwacht und bewertet. Auch wenn der Soziologe Armin Nassehi in seinem kürzlich erschienenen Buch „Muster“ behauptet, dass wir deshalb so sensibilisiert ­(unkritisch offen?) für die Digitalisierung seien, weil die moderne Gesellschaft immer schon „digital“ war, indem sie erpicht war, Strukturen und Muster zu erkennen und auszuwerten: Die ­Charakterisierung heutiger gesellschaftlicher Strukturen als „digi­ tales Panoptikum“, wie der Philosoph Byung-Chul Han sie in ­Anlehnung an die von Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert ent­ worfene, ideale Gefängnisarchitektur vornimmt, wirkt da präziser. Jedenfalls scheint sich reziprok zur Entwicklung selbstlernender künstlicher Intelligenz eine künstliche Dummheit bei den Men­ schen herauszubilden, wie der Soziologe Harald Welzer erst kürz­ lich in einem Beitrag in der ZEIT feststellte.

Live-Spiel mit den Köperdaten der Schauspieler – „4.48 Psychose“ von Sarah Kane, inszeniert von Kay Voges in Kooperation mit dem Chaostreff Dortmund 2014. Foto Edi Szekely

Digitalität meint also diese Revolution unserer gesamten Lebens­ weise, unserer Arbeitswelt, unserer Denkformen und gesellschaft­ lichen, ökonomischen, politischen Organisationsformen – mithin unserer Erzählformen, Spielformen, auch unserer Konflikte – durch die Digitalisierung. Wie umfassend die Veränderungen sind, zeigen die Krisensymptome und Neubewertungen bisheri­ ger Ordnungen. Im Windschatten der technischen Revolution, die kapitalgetrieben durch global agierende Konzerne zur privatwirt­ schaftlichen Monopolisierung auch gesellschaftlicher Strukturen geführt hat, hat sich eine parastaatliche, neofeudale Macht heraus­ gebildet, die eine Ökonomisierung unserer Sozialverhältnisse for­ ciert und unsere politischen/staatlichen Strukturen untergräbt. Anstatt die Systemfrage zu stellen, fragen wir aber nur noch nach dem neuen Betriebssystem. Und das Theater? Es würde seine Kernkompetenzen aufge­ ben, wenn es den Menschen in diesem radikalen Umbruch nicht zum Gegenstand seiner Kunst machen, diese Konflikte in Erzäh­ lungen und Ästhetiken nicht reflektieren, wenn es die digitalen Mittel nicht benutzen und in künstlerischen Kontexten um­ widmen, sie hacken und sich so von ihnen emanzipieren würde. Die Hypothese, dass im 21. Jahrhundert Code gleich Kultur ist, scheint aber alles andere als abwegig.

Staging the Digital Age „Die Route wird neu berechnet“, hatte das Goethe-Institut sein ­biennal ausgerichtetes Weimarer Kultursymposium dieses Jahr übertitelt und hatte unter den Stichworten Orientierung, Autonomie, Regression und Diginomics weltweit Expertinnen ­ und Experten in Arbeitstreffen und Veranstaltungen zusammen­ gebracht, um diese Welt im Umbruch zu erfassen. Sind wir noch in der Lage, die Route für das 21. Jahrhundert selbst zu bestim­ men? Wer ist das Subjekt dieser digitalen Revolution? In Weimar diskutierte man drei Tage lang in knapp fünfzig Veranstaltungen über Politik und Moral „von“ Algorithmen, künstlicher Intelligenz oder autonomen Waffensystemen, über Kunstfreiheit, digital governance und Populismus. In Vorbereitung auf das Symposium hatte das Goethe-Insti­ tut unter dem Titel „Staging the Digital Age – Theatre in the 21st Century“ in Seoul und Peking deutsche, chinesische und süd­ koreanische Künstlerinnen und Künstler für einen Austausch über ihr Verständnis von einer digitalen darstellenden Kunst kurz­ geschlossen. Nicht nur die länderspezifischen Theater­traditionen zeigten hier ganz unterschiedliche künstlerische Ansätze auf. Was immer man unter digitalem Theater versteht: Es ist ein weites

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­ xperimentierfeld, auf dem neben den bereits auf den Bühnen E eingesetzten Mitteln der Video- und Neuen-Medien-Kunst mit Virtual oder Augmented Reality, mit Gaming, Robotik und ­ künstlicher Intelligenz sehr verschiedene Ausprägungen von ­ ­Digitalisierung und damit künstlerische Konzepte zum Einsatz kommen. Mit dabei war zum Beispiel die Gruppe machina eX mit ihrem invers-digitalen Ansatz. In ihren Theaterarbeiten überträgt sie die Handlungsdramaturgie der digitalen Wenn-dann-Entschei­ dungen von Gaming-Plots in real-analoge, immersive Spielanord­ nungen auf der Bühne, in denen die Zuschauer Spielfiguren sind. Mathias Prinz von machina eX nennt das „blutige Transplantation“ digitaler Technik in die analoge Realität – es entstehe eine „Real Virtuality“. Als Pioniere des Einsatzes von Virtual Reality im Thea­ ter wiederum waren die CyberRäuber vertreten (siehe unser Künstlerinsert ab S. 4). In Zusammenarbeit mit verschiedenen Regisseuren und Theatern haben sie bereits eine Vielzahl an ­VR-gestützten Inszenierungen erarbeitet. Von Kay Voges’ Insze­ nierung „Borderline Prozession“ (Schauspiel Dortmund 2017) er­ stellten sie mittels 3-D-Scans vom gesamten Theaterraum eine VR-Version des Sets, das man nun, nachdem das Stück abgespielt ist, mit einer VR-Brille erkunden kann. Auch Voges versteht sich als Pionier. Als regieführender­ Intendant am Schauspiel Dortmund hat er in seinen Inszenierun­ gen wie „4.48 Psychose“ von Sarah Kane oder durch thematische Festivals wie „Cyberleiber“ die Digitalität zu seiner Agenda gemacht: Seine Inszenierung „Die Parallelwelt“ koppelte und ­ ­verschränkte zwei zeitgleich am Schauspiel Dortmund und am Berliner Ensemble in gegenläufiger Dramaturgie stattfindende Aufführungen des Stücks per Live-Übertragung, seine jüngste

Theater archiviert im virtuellen Raum – Oben: Die interaktive 3-D-Installation „Memories of Borderline“ der CyberRäuber bei einer Präsentation auf der Ars Electronica. Rechts: Die virtuelle Erweiterung des Theaterraums bei „Verirrten sich im Wald“ nach „Hänsel und Gretel“ 2019 in der Box des Deutschen Theaters in Berlin in der Regie von Robert Lehninger mit einer VR der CyberRäuber. Fotos Ars Electronica / Robert Bauernhansl und Arno Declair

­ rbeit „Don’t be evil“ an der Berliner Volksbühne nahm sich als A kritische Revue der Internetkultur aus. Spätestens mit der von ihm initiierten und mitbegründeten Akademie für Theater und Digitalität, die gerade in Dortmund ihre Arbeit aufnahm, hat ­Voges die Digitalität auf die Agenda aller Theater gesetzt. Die ­Akademie soll mittels Stipendien zukünftig Ort und Freiraum für die kreative Erprobung digitaler Technik auf der Bühne schaffen ­(siehe Gespräch ab S. 14). Gefördert wird sie unter anderem durch die Kulturstiftung des Bundes, die mit ihrem neuen „Fonds Digi­ tal“ Museen, Theater, Konzert- und Literaturhäuser in ihrer krea­ tiven Nutzung technologischer Innovationen unterstützen will. Eine Vielzahl an neuen digitalen Unternehmungen und Projekten ist also in der Folge zu erwarten. Einen ähnlichen Effekt dürfte in ein paar Jahren auch der Output an Absolventen des neuen Studiengangs „Spiel und ­Objekt“ an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin haben. Geleitet wird er von Friedrich Kirschner, Professor für Digitale Medien im Puppenspiel, der als Kurator auch die letz­ ten Ausgaben der Konferenz „Theater und Netz“ mitorganisierte. Diese jährliche Konferenz, ausgerichtet von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung, ist der diskursive Vorreiter in Sachen


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­ igitales und Bühne. Hier wurden in den letzten Jahren alle Pha­ D sen der Digitalisierung und ihre (kultur)politischen Konsequen­ zen im Theaterkontext und von Theatermachern überprüft, auch alles, was heute bereits zur festen Kommunikationsinfrastruktur von Bühnenhäusern oder freien Gruppen zählt: Social Media, Blogs, Live-Streaming usw. Dieses Jahr fand die Konferenz zum siebten Mal statt. Wieder dabei auch der Performer Arne Vogel­ gesang, der unter dem Label internil die Daten der Netzwelt im Copy-and-paste-Verfahren in intermediale Projekte verwandelt. 2019 drückte die Konferenz quasi auf die Pausentaste und befragte den Innovationsimperativ des Neuen beziehungsweise wie man sich diesem entziehen könne. Diese Frage stellt sich auch für die Digitalisierung. Denn es könnte sich als Vorteil erweisen, dass das ach so analoge Theater mit der ihm eigenen Verabredung von Raum, Zeit, Performern und Publikum doch eine Wahrneh­ mungs-, Kommunikations- und Denkweise etabliert hat, die nun zu einem künstlerisch getriggerten, subversiven Umgang mit ­digitalen Mitteln anstiften könnte. Die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung, sowohl mit ihren Auswirkungen als auch mit ihren technologischen künstlerischen Möglichkeiten, findet an den Theatern jedenfalls statt. Auch bei den Autoren. Zuletzt haben sich Dramatikerinnen und Dramatiker wie Kevin Rittberger mit „IKI.Radikalmensch“, Wilke Weermann mit „Odem“ oder Martina Clavadetscher mit „Frau Ada denkt Unerhörtes“ (siehe Stückabdruck ab S. 56) auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Verhältnis von Mensch und Maschine oder künstlicher Intelligenz auseinandergesetzt. Nach­ dem Stadttheater, freie Gruppen und Spielstätten seit Jahren ihre Zuschauer mit Kopfhörern oder Mobiltelefonen auf inszenierten walks durch die Realität ihrer Städte navigiert haben, sind im Zuge der fortgeschrittenen, als Industrie 4.0 firmierenden Digitalisie­ rung nun verstärkt kritische Auseinandersetzungen und experi­ mentellere künstlerische Positionen auszumachen – in Form von Produktionen, Festivals und Symposien. Ein paar Beispiele aus diesem Jahr: Das Festival „Politik der Algorithmen – Kunst, Leben, Künstliche Intelligenz“ an den Münchner Kammerspielen ver­ handelte in Vorträgen, Gesprächen und Performances politische und künstlerische Strategien in Reaktion auf die digitale Moder­ ne. Hier war auch die von Stefan Kaegi für die Kammerspiele pro­ duzierte Inszenierung „Unheimliches Tal / Uncanny Valley“ zu sehen, in der ein animatronisches Double des Autors Thomas Melle einen Vortrag von Thomas Melle hielt und die Maschine dafür vom Publikum mit Applaus bedacht wurde. Am FFT Düs­ seldorf versammelte das Symposium „ON/LIVE“ Digital Natives aus Kunst, Wissenschaft, Schule und Politik zu der Frage, wie wir uns in Zukunft begegnen werden. Mit dabei auch The Agency, eine Performancegruppe, deren Arbeiten um subversive Hand­ lungsmöglichkeiten (agency) unter den Bedingungen des P ­ ostDigitalen kreisen. Das Festival „Spieltriebe“ am Theater ­Osnabrück präsentierte unter dem Motto MENSCH® zwölf ­Theaterarbeiten, die sich mit dem Verhältnis Mensch und Maschine unter utopi­ schen oder dystopischen Vorzeichen auseinandersetzten. Und am Volkstheater Wien stand beim Festival „#digitalnatives19“ im Fo­ kus der künstlerischen Beiträge das menschliche Bedürfnis nach Verbindung in Relation zur digitalen Vernetzung – mit der Frage, „was es denn heißt, ein Mensch zu sein“.

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Krise des Menschseins Das Drama der digitalen Moderne auf der Bühne könnte auch als die Krise des Menschseins beschrieben werden; nicht nur, wenn man die Hochrechnungen zu künstlicher Intelligenz ernst nimmt. Aber auch für die Kunstform Theater stellen sich existenzielle Fra­ gen. Bis dato hat sich das Theater alle innovativen Techniken einver­ leibt, sie für seine Zwecke gebraucht, hat aus anderen künstleri­ schen Genres geschöpft, sich die Realität eingeschrieben – und so ästhetisch und erzählerisch den Theaterbegriff erweitert. Aber kann das Theater sich tatsächlich in eine virtuelle Realität erweitern? Oder ist es, wenn es sich so von seiner physischen Begrenztheit emanzipiert und von der raumzeitlichen Einmaligkeit einer Auf­ führung verabschiedet, kein Theater mehr? Was passiert, wenn ­Figuren, Erzählungen, Konflikte und schlussendlich auch Auffüh­ rungen nur noch technisch vermittelt stattfinden, sich Menschen in einer Art Dritte-Person-Perspektive darstellen und versenden? Wenn Zuschauer, statt in einen gemeinsamen Reflexionsraum einzutre­ ten, in immersive Erlebniswelten eintauchen? Wenn das Theater als Rechenplatz nur noch Daten­volumen und keinen Ort in der Stadt mehr besetzt? Im schlimmsten Fall steht es um das Alleinstellungs­ merkmal des Theaters dann so, wie es der Philosoph Nick Bostrom für das A ­ lleinstellungsmerkmal des Menschen in einer von KI durchalgorithmisierten Welt beschreibt: „Wenn es gut ausgeht, wer­ den wir eine ähnliche Rolle spielen wie die Kinder in Disneyland.“ // Die Teilnahme an „Staging the Digital Age – Theatre in the 21st Century“ und am Kultursymposium Weimar wurde der Autorin durch die Einladung des Goethe-Instituts ermöglicht.


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Theater als Schule der Medienmündigkeit Kay Voges, Intendant des Schauspiels Dortmund und Gründungsdirektor der Akademie für Theater und Digitalität, über die digitale Moderne auf der Bühne im Gespräch mit Anja Nioduschewski

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ay Voges, Sie haben in Dortmund nicht nur als Intendant Ihrem Theater die Digitalisierung auf die Fahnen geschrieben, sondern gleich auch noch eine Akademie für Theater und Digita­ lität gegründet, um das Theater „fit für die digitale Moderne“ zu machen. Vertrauen Sie nicht auf die Kompetenz der neuen Gene­ ration von Digital Natives unter den Theatermachern? Wo liegt die Notwendigkeit, es gezielt anzugehen? Das hat weniger mit Vertrauen zu tun, sondern eher mit unserer Arbeit der vergangenen Jahre, in der wir verschiedenen Themen und Fragestellungen nachgegangen sind, die sich aus der umfas­ senden Digitalisierung von Arbeit, Leben, Gesellschaft und Politik ergeben haben. Wir haben eine ganze Reihe an Inszenierungen entwickelt, die im weitesten Sinne von einem digitalen mindset gespeist sind und sich durch digitale Verfahrensweisen und Tech­ nologien auf der Bühne auch anders erzählen. Unsere Erkenntnis war die eines dreifachen Mangels: 1. Man­ gel an Zeit und Raum für die künstlerisch-technische Recherche von digitalen Technologien hinsichtlich ihres Einsatzes auf der Bühne, 2. Mangel an Personal und damit verbunden an Fach­ kenntnissen, der nur durch das Einbinden von Menschen, die ­bisher nicht an Theatern arbeiten, aufhebbar erschien, 3. Mangel an Geld für die Anschaffung spezieller Hard- und Software. Dies alles hebt die Akademie durch berufsspezifische Weiterbildung – Stichwort lebenslanges Lernen –, eine geplante universitäre Aus­ bildung und ganz besonders durch unser Fellowship-Programm auf. In diesem Programm können künstlerisch-technische Exper­ tinnen und Experten für jeweils fünf Monate in einem selbst ge­ wählten Arbeitszusammenhang zum Einsatz von digitalen Tech­ nologien auf der Bühne forschen. Dabei ist maßgebend: Man darf hier jenseits des üblichen Zeitkorsetts einer sechs- bis achtwöchi­ gen Probenzeit und unabhängig von Produktionsdruck arbeiten

und auch scheitern. Mit der Akademie haben wir einen Raum für kreative Handlungsentlastung geschaffen. Entscheidend ist der gedankliche und künstlerisch-technische Prozess, nicht so sehr das Ergebnis oder gar ein vermarktbares Produkt. In diesem Herbst sind die ersten Stipendiatinnen und Stipen­ diaten gestartet. Wie gestalten sich diese Anfänge? Wir haben Ende August mit den ersten vier Fellows begonnen, vor zehn Wochen 13 weitere berufen, die in sieben verschiedenen Pro­ jekten ab Anfang Februar 2020 arbeiten werden, und just in der letzten Sitzung mit unserer zehnköpfigen Jury die Stipen­diatinnen und Stipendiaten der dritten Runde ausgewählt. Dabei lässt sich dreierlei feststellen: Es bewerben sich etwas mehr Frauen als Männer. Rund vierzig Prozent der Bewerbungen kommen aus dem nicht deutschsprachigen Ausland – China wird beispielswei­ se im zweiten Semester stark vertreten sein. Und es sind alle Spar­ ten – Oper, Schauspiel, Tanz – und eine ganze Bandbreite von ­digitalen Technologien, auch in Kombination miteinander, vertre­ ten: Virtual-Reality-Anwendungen dominieren zum Beispiel im zweiten Semester, aber ebenso Augmented Reality, Sensorik, künst­liche Intelligenz, Robotik und vieles anderes. Oft wird Digitalisierung nur als technisches Moment missverstan­ den, obwohl für jeden der Umbau unserer gesamten Lebensweise, Arbeitswelt, unserer Denkformen, auch der gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen spürbar ist. Sie haben für den Namen der Akademie das Wort Digitalität statt Digitalisie­ rung gewählt. Bewusst? Ja. Weil wir glauben, dass wir mit unserem Ansatz der künstleri­ schen und angewandten Forschung das Zusammenspiel von Rea­ lität und Digitalisierung – eben der Digitalität – beleuchten müs­ sen. Es geht eben nicht um den Beweis, dass diese oder jene Technik auf der Bühne einsetzbar ist, sondern darum, zu ver­ stehen, wie sich unsere Lebensrealität in ihren diversen Feldern von Arbeit, Kommunikation, Beziehung, Politik etc. verändert hat


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beziehungsweise sich weiter wandeln wird. Wir befinden uns ja seit Längerem in einem Zustand der permanenten digitalen Transformation. Sie gründen eine Akademie für Digitalität, Wissenschaftsphilo­ sophen wie Nick Bostrom in Oxford oder Max Tegmark in Boston haben im Gegensatz dazu ein Future of Humanity Institute bezie­ hungsweise F ­ uture of Life Institute gegründet. Es gibt ethische Vorbehalte wie auch politische, insbesondere gegenüber KI. Der Soziologe ­Harald Welzer spricht von einer „smarten Diktatur“. Zudem ökonomisiert die Digitalisierung als kapitalgetriebene Markt- und Machtstrategie von Konzernen jeden Lebensbereich. Muss der emanzipa­tive Akt digitaler Kunst nicht sein, das zu ­hacken? Und ist das Theater nicht einer der wenigen Orte, an ­denen sich das „Digital first. Bedenken second“ umkehren lässt?! Die Akademie antwortet darauf in doppelter Weise: Zum einen haben wir im November mit einer neuen Reflexionsreihe be­ gonnen, in der zentrale ethische, gesellschaftspolitische und ­soziokulturelle Thematiken von Künstlern und Wissenschaftlern verschiedener Provenienz gemeinsam diskutiert werden. Dieses monatliche Diskursformat richtet sich nicht nur an die Fellows und Mitarbeiter der Akademie und des Theaters, sondern ist ein explizites Angebot an die Stadt, in der es ja auch eine lebendige digitale Start-up-Szene gibt. Der Soziologe Dirk Baecker hat hier im November zum Auftakt der Reihe gesprochen. Zum anderen haben wir just zwei interne Diskursräume eröffnet, in denen sich die Fellows gegenseitig vom Fortschritt ihrer Arbeit berichten und

Die totale Besetzung mit Gegenwart? – In „Don’t be evil“ zeigt Kay Voges 2019 an der Berliner Volksbühne die Netzkultur als Kakofonie der Banalitäten und Extreme. Foto Julian Röder

Dramaturgen des Schauspiels für konzeptionell-inhaltliche Fra­ gen ansprechbar sind. In diesen Formaten werden zum Beispiel auch die ethischen Schwierigkeiten thematisiert, die beim Trainie­ ren von künstlichen Intelligenzen entstehen – wie die Frage: Überführen wir das eigene mindset und die daran anknüpfenden Wertvorstellungen in einen Algorithmus, beziehungsweise wie können wir dies – uns selbst reflektierend – umgehen? Wie organisiert sich die Akademie als Ort, zum Beispiel als Pro­ duktionsarchitektur? Wie sieht die personelle Infrastruktur aus? Zunächst einmal ist es großartig, dass wir neben der Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes, durch das NRW-Kultur­ ministerium und durch den europäischen EFRE-Fonds in die Lage versetzt sind, eine Art grundlegende Finanzierung sicherzu­ stellen für ein minimales Personalkorsett, für Stipendien und For­ schungsmittel sowie für die benötigte Hard- und Software. Darü­ ber hinaus hat sich der Rat der Stadt Dortmund verpflichtet, für mehrere Millionen Euro im entstehenden Digital-Quartier im ehemaligen Hafen einen Neubau zu errichten und diesen lang­ fristig auch zu bewirtschaften. Das ist exzeptionell. Mit einem Architekten haben wir die Anforderungen in ein räumliches ­ ­Konzept gegossen, die nun in Stein verbaut werden. Wir haben


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Fiktive Einheit von Zeit und Raum – Kay Voges schließt in „Parallel­welt“ die Bühnen des Schauspiels Dortmund und des Berliner Ensembles per Live-Übertragung szenisch kurz. Foto Birgit Hupfeld

einem theatralen Zusammenhang reflektiert werden.

dazu eine ganze Reihe an Kriterien formuliert, vor allem eine ­notwendige Flexibilität hinsichtlich wechselnder Forschungszusam­ menhänge. Die Räume müssen vielfältig nutzbar sein und sollen auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Auf der Ebene des Personals haben wir zunächst ganz klas­ sisch einen Künstlerischen Leiter, Marcus Lobbes, der sich um die konzeptionelle Ausrichtung kümmert. Ihm zur Seite steht Veronika Ortmayr, die einen großen Teil der Kommunikation mit den ver­ schiedensten Gremien der Akademie – Jury, Kuratorium, Fellows, wissenschaftlicher Beirat etc. – auffängt. Kai Festersen hat die Be­ triebsdirektion übernommen. Darüber hinaus ist Mario Simon aus dem Schauspiel in die Akademie gewandert, der sich insbe­ sondere mit künstlerisch-technischen Bedarfen der Fellows und aller anderen Projekte beschäftigt. Zwei Informatiker, Lucas Pless und Philipp Kramer, sind unsere technischen best boys, wenn es um Fragen von zum Beispiel Netzwerk-Technologie oder Robotik geht. Damit ist allerdings die Arbeit längst nicht erschöpft. Wir erleben in dieser Gründungsphase täglich, an welchen Ecken und Enden Personal beziehungsweise Stunden fehlen: Öffentlichkeits­ arbeit, Social Media und vor allem die Etablierung eines Wikipe­ dias, das auch zur Dokumentation der Forschungsergebnisse ­dienen soll.

Es gehörte immer zur Praxis des Theaters, dass es sich durch neue technologische Mittel ästhetisch und strukturell erweiterte, sie für seine Zwecke umschuf. Meines Erachtens ist es naiv, zu denken, dass Virtual Reality eine Erweiterung des Thea­ ters sein wird. Ist es umgekehrt nicht wahrscheinlicher: VR-Art wird zu ei­ ner eigenständigen Kunstform und bedient sich beim Theater? Zunächst denke ich, dass VR in den Bühnenräumen, wie wir sie kennen, nur begrenzte Entfaltungsmöglich­ keiten hat – das gemeinsame Erlebnis von Zuschauenden ist schlechter­ dings nicht gegeben, die Co-Präsenz mit den Spielerinnen und Spielern auf der Bühne fehlt. VR-Anwendungen können hinge­ gen eine ganze Menge bezüglich der gewandelten Erzählformen lernen, die wir in den vergangenen Jahren auf den Theaterbühnen erleben können. Jenseits dessen bin ich äußerst gespannt und neugierig auf Anwendungen aus dem Augmented-Reality- oder Mixed-Reality-Sektor. Diese ermöglichen ganz neue Anwendun­ gen: sei es im Service-Bereich für diverse Ausspielmöglichkei­ ten von Übertiteln oder für ein inklusiveres Verständnis von Theater durch Audiotranskription, genauso aber auch bei künstlerischen Formaten, die die Bühnenrealität einer Black Box, der guten alten Guckkastenbühne oder von Site-specific-Projekten mit einer erweiterten virtuellen ­Realität kombinieren – ausgespielt über verschiedenste Devices. Der Film entsteht letztlich im Kopf – in der Überblendung des einen durch das andere oder durch die wechsel­ seitige Bespiegelung von virtuellen und realen Bildern.

Sie haben in vielen Ihrer Inszenierungen mit digitalen Mitteln ge­ arbeitet: In welchem Verhältnis steht für Sie das analoge, raum­ zeitliche Alleinstellungsmerkmal des Theaters zur Digitalität? Das ist ganz einfach: Im Zentrum steht der Mensch – verletzlich aufgehoben in einer sich zunehmend technisch ausformulieren­ den Welt –, dessen Schicksal, Sehnsüchte und Bedürfnisse von Menschen mit kreativem künstlerisch-technischem Potenzial in

VR-Theater oder Gamingformate, deren Dramaturgie sich an Com­ puterspielen orientiert, laufen auf ein immersives Erlebnis hinaus, bei dem der Zuschauer Teilneh­ mer einer Szene ist, seine Distanz verliert. Ganz im Gegensatz zur


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theater und digitalität

Kulturtechnik des reflektierten Zuschauens, die im Theater durch das „Vorführen“ uns ja stets auch die Emanzipation von der Szene ermöglicht. Läuft das Theater damit nicht Gefahr, nur noch Erleb­ nisraum statt Reflexionsraum zu werden? Ich habe in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe an immer­ siven Inszenierungsansätzen gesehen – die überzeugendsten kommen in der Tat ohne VR aus und lassen die Distanz und damit das Moment der Reflexion zu, ohne das immersive Erleben selbst zu stören. Die Rolle des Zuschauenden hat sich hier noch einmal stärker demokratisiert – hin zu einem Prosumenten, der einen je eigenen Theaterabend strukturiert und, wenn auch begrenzt, deutlich größere Partizipationsmöglichkeiten hat als das klassi­ sche Theaterpublikum, wie wir es bisher kannten. Eine andere Tendenz der Digitalität ist Entkörperlichung – der ­Figuren, Konflikte, Erzählungen, schlussendlich auch der Auffüh­ rungen, wenn Interaktion nur noch technisch vermittelt statt­ findet. In Ihrer jüngsten Inszenierung an der Berliner Volksbüh­ ne „Don’t be evil“ konnte man in Ihrer Sicht auf die Netzkultur einen Skeptizismus nicht übersehen. Sie wird von Ihnen als ­revueartige Kakofonie auf die Bühne gebracht und einem großen Gähnen gegenübergestellt. Das Internet ist eine große Chance. Es kann Grenzen überwin­ den, Kulturen verbinden, Wissen und Bewusstsein erweitern. Aber es kann auch ein Ort der Kulturkämpfe, der gesellschaft­ lichen Spaltung, der Ausgrenzung und des Populismus werden. Angst macht mir nicht die Technik, Angst macht mir der unreflek­ tierte oder selbstherrliche Umgang der Menschen damit. Wir müssen diesen Umgang mit den neuen Werkzeugen erlernen, Regeln für die virtuelle Welt schaffen. Und vielleicht ist das Thea­ ter ein guter Ort, Medienmündigkeit zu erlernen.

Die Kamera als Heiligtum – In der „Borderline Prozession“ von Kay Voges 2016 am Schauspiel Dortmund zieht das Ensemble hinter einem Kamerawagen um das Haus. Foto Birgit Hupfeld

Kay Voges, 1972 in Düsseldorf geboren, arbeitet seit 1998 als Regisseur für Schauspiel und Oper, u. a. am Schauspiel Dortmund, der Oper Dortmund, der Staatsoper Hannover, dem Schauspiel Frankfurt, am Staatsschauspiel Dresden, an den Staatstheatern Darmstadt und Kassel, in Magdeburg, Moers, Münster, Bonn sowie am Schauspiel Stuttgart. Seit 2010 ist er Intendant am Schauspiel Dortmund und wechselt ab 2020 ans Wiener Volkstheater. Für seine Regiearbeiten wurde Voges mehrfach ausgezeichnet. Seine jüngsten Inszenierungen, wie „Die Parallelwelt“ am Berliner Ensemble (2018) und „Don’t be evil“ an der Volksbühne Berlin (2019), stehen paradigmatisch für seine Auseinandersetzung mit der digitalen Moderne. Voges gründete in Dortmund die Akademie für Theater und Digitalität, die im Herbst 2019 den Betrieb aufnahm. Foto Moritz Haase

Sie werden ab 2020 das Volkstheater Wien übernehmen. Auch unter digitalen Vorzeichen? Ich bleibe natürlich mit dem neu bestellten Team der Akademie im Kontakt – derzeit sprechen wir über die Art und Weise einer Kooperation, vielleicht auch mit einem weiteren internationalen Partner. Wie, das ist just Gegenstand meiner Vorbereitung für das Wiener Volkstheater. //

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Und Paro lächelt Von digitalen Figuren, bürgerlichen Ängsten und der Multiplizität des Theaters jenseits des Produktdesigns von Ulf Otto


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enn Aliens im Kino landen, geht es eher selten um die Wahrscheinlichkeit von extraterrestrischem Leben. Gleiches gilt für Zombies. Zwar sind Zombies nicht so leicht greifbar wie Aliens (das Fleisch ist faul, und sie zerfallen leicht, wenn man sie zu fest packt), aber es ist schon klar, dass es in Zombiefilmen eher nicht um epidemiologische Fragestellungen geht. Genau das aber scheint bei Robotern irgendwie anders zu sein, die Maschine tritt auf, und die Fiktion verschwindet. Wer „Westworld“ schaut, redet gerne dar­ über, wann die künstlichen Intelligenzen die Herrschaft überneh­ men werden und was wir tun müssen, damit sie lieb zu uns sind. Vielleicht liegt es daran, dass die Technik eines der wenigen Dinge ist, an die wir noch glauben können. Vielleicht liegt es dar­ an, dass wir es gewöhnt sind, dass der Industrie von heute nichts Besseres einfällt als die Science-Fiction von gestern. Vielleicht aber liegt es auch daran, dass der humanoide Roboter für den Bil­ dungsbürger so etwas ist wie der Migrant für den Nazi: eine Pro­ jektionsfigur, die er fürchten muss, aber nie sehen kann, weil er ihm immer schon seine Ängste vor dem eigenen Bedeutungsver­ lust übergeholfen hat. Schließlich war Intelligenz im seelenlosen, weil aufgeklärten, Westen ja immer das, was alle Überhöhung und Unterwerfung rechtfertigen musste. Was also, wenn wir (alte weiße Männer etc.) darauf kein Monopol mehr hätten?

Angst vorm großen Austausch Dabei kann man schon in der Theatergeschichte sehen, dass es beim Auftritt des Roboters eigentlich nie um die Maschine ging, sondern vielmehr darum, wer nicht menschlich genug für das Menschliche ist: „R.U.R.“ (Rossum’s Universal Robots in der eng­ lischen Übersetzung) heißt das viel zitierte tschechische Melo­ dram von Karel Čapek, in dem die Roboter ihren ersten Auftritt überhaupt haben. Die Handlung ist schnell erzählt. Auf einer ­abgelegenen Insel stellt eine Gruppe exzentrischer Ingenieure künstliche Menschen auf Massenbasis her, die als internationaler Verkaufsschlager menschliche Arbeiter und Soldaten weltweit ­obsolet machen. Auftritt Helena, idealistische Menschenrechts­ aktivistin und reiche Präsidententochter, im Protest gegen die Ausbeutung der Roboter. Doch das Engagement stößt bei den ­Robotern auf Desinteresse und bei den Ingenieuren auf Unver­ ständnis: Da den Robotern ja jede Menschlichkeit abginge, was sollte da an ihrer Ausbeutung problematisch sein? Helena heiratet in ihrer nachrevolutionären Phase schließlich den Fabrikdirektor. Zehn Jahre später, im dritten Akt, ist dann die Revolution der ­Roboter doch noch (ohne Helena) in Gang gekommen, die Vernich­ tung der Menschheit nimmt ihren Lauf, und ein letzter Ingenieur schafft es wegen reproduktionstechnischer Notwendigkeiten bis zur letzten Szene. Hier wird er schließlich Zeuge der ersten Roboter­ liebe und der damit doch wieder rosig gefärbten posthumanen Zukunft: „Geh, Adam. Geh, Eva; sei ihm Weib und Gefährtin; und Bevor aus einer Maschine ein Autorendarsteller wird – Der motorisch gesteuerte Unterbau der Thomas-Melle-Kopie, die in „Unheimliches Tal / Uncanny Valley” an den Münchner Kammerspielen 2019 ihren Auftritt erlebte. Foto Dorothea Tuch

theater und digitalität

du, Primus, sei ihr Mann und Gefährte. Gesegneter Tag!“ (Es folgt ein wenig melodramatische Metaphysik in Anlehnung an bib­ lische Schöpfungsgeschichte und Vorhang.) Robota meint im Tschechischen „Arbeit“ oder „Fronarbeit“ und geht wohl auf das altkirchenslawische „rab“ für Sklave zurück. Der Robotnik ist hier also nichts anderes als der Proletarier, besser gesagt, die bürgerliche Fantasie desselben als eines entmensch­ lichten Massenmenschen. Von den sozialen Folgen industrie­ kapitalistischer Wirklichkeit, dem Alltag der Fabrik oder der Sicht der Arbeiterinnen und Arbeiter erfährt man wenig in dem Stück, viel jedoch von bürgerlichen Ängsten und Lüsten. Daran hat sich auch in aktuellen Roboterfantasien nicht viel geändert.

Attraktivität jenseits der Dichotomien Um das Digitale zu verstehen, hilft insofern Conchita Wurst wesent­ lich mehr als die Roboter. Mit Conchita Wurst beginnt Felix Stalder seine jüngsten Überlegungen zur „Kultur der Digitalität“ (2016), besser gesagt, mit ihrem Auftritt beim Eurovision Song Contest 2014. Diesen Triumph einer Figur, „attraktiv jenseits der Dichoto­ mien“, versteht Stalder als Zeichen dafür, das sich etwas verändert hat, nicht nur in dem, was vom Mainstream verstanden wird, son­ dern vielmehr auch in der Kommunikation der Gesellschaft grund­ sätzlich. Entscheidend sei dafür die „Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten“, die hervorgegangen sei aus einer radikalen Verbrei­ terung der sozialen Basis der Kultur, derjenigen, die kulturell aktiv sein können und müssen. Entstanden sei so eine Vielzahl von kon­ kurrierenden kulturellen Projekten, die wesentlich technisch ermög­ licht seien und auch nur noch technisch bewältigt werden könnten. Eine Folge davon ist, dass die Algorithmen unser Fluch und Segen zugleich sind. Sie erzeugen einerseits jenen beschränkten Horizont der viel geschmähten Filterblasen und sind andererseits dasjenige, was eine individuelle und kollektive Orientierung über­ haupt noch möglich macht. Ohne algorithmische Vorverarbeitung geht im Big Data, das unsere Wirklichkeit ist, wie es die Medien im 20. Jahrhundert waren, auch für humane Intelligenzen nichts mehr. Sinn zu machen (oder zu finden), ohne dass Algorithmen in der ei­ nen oder anderen Weise daran beteiligt wären, geht nicht mehr. Eine Kritik wie einst, die sich an menschengemachten Be­ deutungen abarbeitet, scheint angesichts dieser Gesetzeskraft der Algorithmen oft hilflos und hat ihren privilegierten Ort verloren. Damit einher geht ein Verlust bürgerlicher Hegemonie, des Kon­ zepts der Hegemonie selbst vielleicht, und das ist ein zutiefst ambi­ valentes Phänomen: Einerseits sind Räume entstanden, in denen sich bislang minorisierte und exkludierte Positionen artikulieren und zu Projekten formieren konnten, um aus dekolonialen und queeren Perspektiven die Abgründe der Aufklärung auszumessen und die überfällige (Selbst-)Kritik majoritär ausgerichteter Instituti­ onen und Repräsentationen anzugehen. Andererseits aber hat diese Pluralisierung der (halb-)öffentlichen Räume auch dem Auftritt re­ aktionärer und regressiver Horrorclowns die Arena bereitet.

Theater nach der Missionarsstellung Erledigt hat sich im Digitalen damit aber auch der naive Glaube, man hätte ausgerechnet im Theater noch eine Heterotopie zuhan­

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den, einen privilegierten Ort, von dem aus man der Gesellschaft in kritischer Distanz und zu ihrem Besten das Spiegelbild vorhal­ ten könnte. Vielmehr zeigt sich die Bedeutung des Theaters aktu­ ell gerade darin, dass es eben mittendrin steht in dieser Gesell­ schaft und ihren Konflikten, die mitten durch das Theater und seine Kunst hindurchgehen und hier nicht nur sichtbar, sondern auch ausgetragen und ausgehandelt werden. Das Schicksal des Theaters im Digitalen entscheidet sich da­ her nicht in der virtuellen Realität, in Performances von Robotern oder immersiven Ästhetiken, sondern vielmehr mit der Frage nach der Repräsentation, der Produktion und dem Engagement: Wer wird sichtbar? Wie arbeiten wir? Wo sind wir verortet? Das sind die drei aktuell entscheidenden Fragen nach dem Ort des Theaters in der Gesellschaft. Denn seit sich zunehmend Positionen jenseits des Arrivierten artikulieren, ist auch deutlich geworden, was diese Stimmen so lange zum Schweigen gebracht hat: jenes moderne Denken, das suggeriert, das Ästhetische ließe sich sauber vom Sozia­len trennen, dass es vielleicht für die Künstler, nicht aber für die Kunst einen Unterschied machen würde, welcher Teil der ­Gesellschaft im Theater auftritt, wie die Macht und das Geld verteilt sind und wie das Theater seiner Umgebung begegnet. Es zeigt sich, dass der avantgardistische Glaube an die Kunst des Theaters das Theater zwar teilweise vor der Indienstnahme durch die Mächtigen bewahrte, zugleich aber den Kreis derer, die noch etwas im und über Theater zu sagen hatten, radikal einschränkte. War in der Industriekultur auch das Theater vertikal inte­ griert und auf Produktdesign ausgerichtet, so ist in der postindust­ riellen Wissensökonomie der Porsche auch im Theater das Auslauf­

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Animatronisches Menschendouble als Objekt der Faszination und Empathie – Ein Vortrag Thomas Melles, ausgeführt von einem huma­no­iden Roboter, in Szene gesetzt durch Stefan Kaegi. Fotos Gabriela Neeb

modell. Mobilitätsdienstleistungen treten an seine Stelle, und deren Qualitäten bemessen sich anders als die von Produktdesign und Regietheater, weniger an den ästhetischen Erfahrungen von Indivi­ duen als vielmehr an den Verbindung, die sie herzustellen vermö­ gen, an den Kollektiven, die aus ihnen hervorgehen, und der Ver­ netzung, die sie in die Stadt und die Gesellschaft hinein unterhalten. Die neue Vielheit, um die es im Theater im Digitalen gehen kann, sollte daher nicht mit der optischen Vielfalt, die nach außen bunt aussieht, aber intern einstimmig bleibt, verwechselt werden, vielmehr geht es um eine Vielfalt von Positionen und Stimmen, die etwas zu sagen haben, und zwar nicht nur auf der Bühne und über sich selbst, sondern auch im und über das Theater. Vielleicht geht es grundsätzlicher noch um eine neue Vielheit von dem, was legitimes Theater ist und sein kann, jenseits von Bestenlisten, Theatertreffen und Preisverleihungen.

Die Leichtigkeit des Posthumanen Das Schöne am Robotertheater ist insofern ja eigentlich die Ent­ lastung von der Gefühlsarbeit durch das Fehlen des Menschli­ chen. Nur leider muss das Posthumane im Theater meist so menschlich daherkommen, obwohl doch die ästhetische Moderne im Theater immer mit der Kunstfigur anfängt, mit der Denatura­ lisierung des Menschlichen (Kleist, Maeterlinck, Craig, Schlem­


theater und digitalität

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mer etc., etc.). Warum jetzt also doch wieder E. T. A. Hoffmann und Mary Shelley, der Mensch als Maschine, der leichte Grusel der Ersetzbarkeit, das Schulterklopfen der eigenen Menschlichkeit? In Stefan Kaegis (Rimini Protokoll) „Uncanny Valley“ spielt eine animatronische Maschine den Schriftsteller Thomas Melle, der eine Lesung hält. Nach dem Applaus treten zwei Techniker auf und stellen vier Absperrbänder auf, dann drängt das Publikum auf die Bühne und bestaunt das Gerät von allen Seiten. Von hinten kann man sehen, dass es halb Mensch und halb Stuhl ist, aber die spannendste Szene zeigt sich aus dem Zuschauerraum: Men­ schen, die sich um eine Maschine sammeln, die aussieht wie ein Mensch. Es ist wie in Gunther von Hagens „Körperwelten“, nur andersrum: Der genüssliche Schauder wird nicht vom Blick unter die Haut erregt, sondern vielmehr durch den Anblick der (künstli­ chen) Oberfläche. Vielleicht ist gerade dort auch die Bedeutung zu suchen: Da sitzt er, am Ende der Vorstellung, der weiße alte Mann, über den sie alle reden, auch noch ein Autor (eigentlich schon lange tot), halb aufgeschraubt, aber innerlich ganz uneindrück­ lich, ganz aufs Äußere reduziert, nur hübsche Oberfläche. Von der Roboterrobbe Paro, die wohl in Japan bei der Be­ treuung von Demenz-Erkrankten Erfolg hat, wird in den Medien viel berichtet, weil sie ein schönes Bild abgibt für den gefürchteten Verlust an Menschlichkeit. Aber vielleicht ist die Pointe genau die umgekehrte, und hinter dem Lächeln der Robbe verbirgt sich die Tatsache, dass Menschen immer schon Beziehungen zu Dingen hatten. Vielleicht hilft Paro am Ende des Anthropozäns, sich dem Materiellen wieder sorgend zuzuwenden. //

anTraGSfrISTEn 2019 — 2.vErGaBE 15.Januar 31.Januar G a S T S P I E L E T h E aT E r

G a S T S P I E L E Ta n Z n aT I o n a L & I n T E r n aT I o n a L K o P r o d u K T I o n E n Ta n Z

I n f o r m aT I o n E n Z u r a n T r a G S T E L L u n G w w w. J o I n Ta d v E n T u r E S . n E T

F o t o : C l a i r e V i V i a n S o b o t t k e „ V e lV e t “ (C) Dajana lothert g e s ta lt u n g : s o s e i e s . c o m

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S o w I E d E n K u LT u r - u n d K u n S T m I n I S T E r I E n d E r f o L G E n d E n B u n d E S L ä n d E r : B a d E n - w ü r T T E m B E r G , B ay E r n , B E r L I n , B r a n d E n B u r G , B r E m E n , h a m B u r G , h E S S E n , m E c K L E n B u r G - v o r P o m m E r n , n I E d E r S a c h S E n , n o r d r h E I n - w E S T fa L E n , r h E I n L a n d - P fa L Z , S a c h S E n - a n h a LT, S a c h S E n u n d T h ü r I n G E n .

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Im Glitch den Vorhang öffnen Die Regisseurin Susanne Kennedy macht das Betriebssystem unseres digitalen Zeitalters erfahrbar von Thomas Oberender

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usanne Kennedy ist für mich die bislang wichtigste Theater­ regisseurin des digitalen Zeitalters. Ich sage das nicht, weil ihre Aufführungen durch den Einsatz von Beamern, Soundsystemen oder eine Vorliebe für industrielle Kunststoff- und Medienprodukte geprägt sind, zu denen auch ein bestimmter Look von Discounter­ mode, Interieurs aus Baumarktbaustoffen oder typisierten Serien­ figuren zählt. Sie interessiert sich zwar für neue Medien, aber

mehr noch für den neuen Modus, wie wir die Welt und uns selbst betrachten, den die neuen Technologien hervorbringen. Durch sie wird unser Verständnis vom Körper, von Wirklichkeit oder Narra­ tion völlig verändert, hybrider, da von mindestens zwei Wirklich­ keiten gleichzeitig geprägt – der physischen und virtuellen. Die­ sen technologischen Übergang, der gleichzeitig, da wir an das

Simulierter Raum als Spiel von Projektionen – „Drei Schwestern“ nach Tschechow, inszeniert von Susanne Kennedy 2019 an den Münchner Kammerspielen. Foto Judith Buss


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Behaustsein in unseren Körpern gebunden sind, ein spiritueller ist, erforscht Susanne Kennedy seit vielen Jahren. Wie auch den Tod, der eine Art Passage zwischen der physischen und immateri­ ellen Welt darstellt. Sie nutzt daher das Theater, um die Erfahrung von Sterblichkeit unter den Vorzeichen einer transhumanen ­Kultur neu zu betrachten. In diesem Sinne stehen Kennedys Auf­ führungen dem Theater Artauds näher als dem von Stanislawski, schaffen sie eher Raum und Ritual als Story und figürliche Ein­ fühlung. Sie liebt das Alien im Menschen. Der Theaterraum, vom Saal bis zur Bühne, ist in ihren Aufführungen ein Maschinen­ raum, der durch die Manipulierbarkeit von Raum und Zeit andere Ansichten und Zustände der Realität erzeugt, Ansichten, die dafür das Theater und nicht nur den Körper des Schauspielers im wahrsten Sinne als Medium begreifen – als das den Durchschein Verkörpernde, wie es Botho Strauß einmal sagte. Dabei gibt sich weniger die Regisseurin zu erkennen als das „Betriebssystem“ dieser Maschine, die das lineare Geschehen der Geschichten oft in Sequenzen zerlegt, durch schockierend will­ kürliche Blacks trennt. Dieses Betriebssystem macht knisternde, surrende Frequenzen hörbar oder spricht, wie in ihrer Auffüh­ rung von „Drei Schwestern“ (Münchner Kammerspiele 2019), ge­ legentlich als eine körperlose Stimme aus dem Off über das Stück; es philosophiert über die Charaktere, die Situation und wird als Macht erfahrbar, die das, was die Zuschauenden vom Stück im Bühnenportal sehen, ständig neu faltet, anders figuriert und aus dem Nichts hervortreten lässt. Es ist in Kennedys Stücken zuneh­ mend so, als würde ein Geist das Haus des Theaters bewohnen, der zu einer anderen Welt zählt, die chaotisch, endlos, allumfas­ send, strahlend und finster ist. Dieser Geist ist in Kennedys Münch­ ner Tschechow-Transformation umgeben vom infernalischen Lärm riesiger Antriebe, vom Gewim­ mer eingesperrter Seelen. Aus dem finsteren Saal greift diese Macht in die Apparaturen des Theaters und zeigt im Portal den wahren Zustand der Welt. Sie zeigt sie als kaleidoskopisch im Lichtraum ausgestellte Ord­ nung von Dingen, die jedes Schütteln des Apparats neu strukturiert. Zu Kennedys Stilmitteln gehört die Wiederholung ein­ zelner Sequenzen, die als Inbil­ der von Figuren und Szenen ein ums andere Mal neu be­ trachtet und leicht different gespiegelt werden. Kennedys ­

Das Leben selbst ist das Künst­liche – in Susanne Kennedys „Women in Trouble” 2017 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Foto Julian Röder

theater und digitalität

Loops konstruieren eine alternative Erfahrung von Zeitlichkeit, in der geringe Abweichungen große Klüfte zwischen den beschriebe­ nen Zuständen offenbaren und jedes Nacheinander der Gescheh­ nisse als Setzung und nicht als etwas Selbstverständliches wirkt. Ähnlich ist es mit dem Raum, der sich am ehesten als skulptural beschreiben lässt: Im dreidimensionalen und zugleich illusori­ schen, durch Projektionen trickhaft variierten Körper des Bühnen­ bilds ihrer Aufführung von „Drei Schwestern“ schwebt ein von Projektionen und Objekten bespielter White Cube auf halber Büh­ nenhöhe mitten im Großbild der vierten Wand, die ihrerseits mit­ tels eines Gaze-Vorhangs zwischenzeitlich zur Projektionsfläche wird. Der auf der Projektionsfläche simulierte Raum und der fast identisch aussehende wirklich dreidimensionale Raum der Büh­ nenbox in der Mitte der Leinwand sind in diesem Gefüge ständig relative, neu bestimmte Dimensionen. Oft ist dabei trügerisch, was physischer Raum und was ein digital erzeugtes Trompe-l’Œil ist. Wie der Glitch in der digitalen Bildwelt die Aufnahme- und Wiedergabeapparatur selbst erfahrbar macht und das Bild als Konstruktion zeigt, durchzuckt die Inszenierungen von Susanne Kennedy immer wieder dieses in Störungen und Fehlern bemerk­ bar werdende Wirken des Apparats selbst. Brechts V-Effekt funk­ tioniert hier umgekehrt – nicht die Bühnenwelt wird in ihrer Scheinhaftigkeit vorgeführt, sondern das Leben selbst ist das Künstliche. Da die Erscheinungen des Menschen und seiner Welt bei Kennedy grundsätzlich in ihrem technischen Glanz und synthetischen Sein gezeigt werden, erinnern diese blitzartigen Störungen an die willkürliche und angerichtete Natur all des Ge­ machten. Zu den denaturierten Erscheinungen des Menschen und der biologischen Welt treten bei Kennedy die der Geister, der Fetische, Totems, und es ist gerade diese Aseptik des Irdi­

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scher Dramen zu einer Autorenkünstlerin, die seit einigen Jahren vermehrt eigene Kreationen zeigt. Die basale Rolle des Raumes für Kennedys Werk zeigte sich in ihren frühen Inszenierungen bereits durch die Einbeziehung des Zuschauerraums in das Bühnengeschehen, zum Beispiel durch die Blicke der Akteure oder ein eingespieltes Seufzen im Rücken der Zuschauerinnen und Zuschauer. Zugespitzt wird diese Entwick­ lung durch Kennedys Aufführungen ohne Portal wie in ihren be­ gehbaren Environments „Medea.Matrix“ (Ruhrtriennale 2016) oder „Orfeo“ (Ruhrtriennale und Berliner Festspiele 2015), die die Tren­ nung von Bühnen- und Besucherraum auflösen. Der Raum der Bühne, der lange Zeit im Werk der Regisseurin der primäre Ort des Werkes war, verändert seit diesen Arbeiten seine Bedeutung: Der Bühnenraum ist seither immer deutlicher angeschlossen an den Saal und erscheint als das Display jener großen Apparatur, in deren Inneren auch die Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen und ge­ meinsam mit den Performern einen verwandelten Realitätsstatus erleben. Raum und Zeit funktionieren in dieser Theaterkammer anders, manipuliert durch die „Tricks“ des vom digitalen Geist durchdrungenen Illusionismus des Theaters. Dieser Gesamtraum dient der Transformation von Raum und Zeit und unseres Verhält­ nisses zur Sterblichkeit und Originalität unseres Seins.

Auf der Schwelle

Mehr ein Schrein für ein Ritual als traditionelle Inszenierung – „Die Selbstmordschwestern / The Virgin Suicides“ nach dem Roman von Jeffrey Eugenides, eine Koproduktion von Berliner Volksbühne und Münchner Kammerspielen 2017. Foto Judith Buss

schen, die auf das darunter pulsierende Blut verweist, die Einge­ weide, Halluzinationen, Träume. Spezifisch am Werdegang als Regisseurin ist ihre Bewe­ gung vom Raum zum Text – die Räume führen zu den Dingen, die Dinge zu den Körpern, die Körper zu den Worten, die Worte zu den Medien. Niemand spricht pur in Kennedys Welt. Dieses Ver­ fahren verläuft genau umkehrt zur Tradition des deutschen Stadt­ theaters, das in der Regel auf der Interpretation von Texten beruht, die zu Besetzungen führen, also zur Auswahl von Körpern und Stimmen, die zu den Profilen der Figuren passen, genauso wie zu vom Text abgeleiteten Räumen und Kostümen. All dies verleitet auf der hierzulande üblichen Art der Probe zu einem spezifischen Verhalten, das zu einer Bewegung im Raum wird, zu der auch Ton, Licht und Objekte zählen. Anders bei Susanne Kennedy – sie hat an der Hogeschool voor de Kunsten in Amsterdam studiert und in den Niederlanden über viele Jahre eine sich von der deut­ schen Tradition deutlich unterscheidende Praxis erlebt, die auf einem anderen Weg zum Stück führt und dabei erst zum Text ge­ langt, statt ihn vorauszusetzen, wobei „Text“ hier eben auch die Sprache von Objekten, Sound, Akrobatik und Tanz sein kann. Sie selbst entwickelte sich von einer Interpretationskünstlerin klassi­

Eine Transformation durch die Rituale des Bühnengeschehens, ihre Loops und herbeigerufenen Geister erfolgt auch in „traditio­ nellen“ Inszenierungen wie „Die Selbstmord-Schwestern / The Virgin Suicides“ (Münchner Kammerspiele 2017) oder „Women in Trouble“ (Volksbühne Berlin 2017). Sie präsentieren auf der ­Bühne einen Schrein, um eine Sprache für den Übergang der ­Akteure wie auch des Publikums von einer Welt in die andere zu finden. Inszenatorisch führen die Arbeiten von Susanne Kennedy somit weg vom betrachteten Ritual hin zum Angebot eines nicht mehr dramatischen, sondern kontemplativen, immersiven Ver­ wandlungsraums. In „Coming Society“ (Volksbühne Berlin 2019) werden die Zuschauerinnen und Zuschauer dann tatsächlich aufge­ fordert, durch das Portal auf die Bühne zu kommen. Hier ereignet sich alles auf der Schwelle – die analogen Materialien auf der Bühne sind ­ digital überformt, genauso die Leiblichkeit der Darsteller/­ Avatare, ihre aus Serien und Internettrash destillierten Situationen und ­Sätze. Ein Verwandlungsraum ist es aber auch im spirituellen ­Sinne, da sich die Ereignisse in „Coming Society“ eher als Angebot einer Reise verstehen lassen – als Handreichung ans Publikum für die Erfahrung eines Übergangs, wobei sich philosophische und eso­ terische mit technoutopischen Konzepten überlagern. Auch diese Überblendung von digitaler Kultur mit der Spi­ ri­ tualität nativer Kulturen und philosophischer Literatur von Nietzsche über das „Tibetanische Totenbuch“ bis zu James P. Carse’ Buch über endliche und unendliche Spiele zählt zu den Eigen­ arten von Kennedys Kunst. Jeder technologische Wandel war in seiner Pionierphase mit einem Traum von wahrer Begegnung, Auflösung und Transzendenz verbunden, den Susanne Kennedy wieder freilegt und in ihre Aufführungen einspeist. In ihnen er­ scheinen verschiedene Realitäten, spirituelle, geträumte, gestrige und zukünftige parallel, in „Faltungen“, wie sie es selbst nennt.


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Insofern tendieren die Inszenierungen von Susanne Kennedy im­ mer öfter zur Schaffung von „Landschaften“, von komplexen, oft begehbaren Orten, in denen die Gäste den Geschehnissen nicht gegenüberstehen, sondern subtil und oft auch physisch direkt ein­ bezogen werden. Kennedys künstlerischer Werdegang weist also in die Richtung szenischer Ökologien, die nicht mehr dialektisch funktionieren, nicht mehr auf Konflikten beruhen, sondern das Theater als einen Ort der Wanderschaft verstehen, der Gleich­ zeitigkeit vieler Möglichkeiten von Recht und Dasein. Das ge­ samte Theater wird hier als ein Inkubator verstanden, als der Ort, der durch ein zweitausend Jahre altes Know-how wie kein anderes Medium auf Erden so versiert darin ist, die Relativität von Raum und Zeit spürbar zu machen, im Glitch die Matrix zu zeigen, die unser Bild von „Realität“ erzeugt. Nicht von ungefähr erinnern die Aufführungen von Susanne Kennedy an die opulenten Gesamtkunstwerke der Kun-Oper, ­deren kodifizierte Gesten und deren Gleichgültigkeit gegenüber

Digitale Überformung des Analogen – In „Coming Society” 2019 an der Volksbühne in Berlin schafft Susanne Kennedy einen kontem­ plativen und immersiven Verwandlungsraum. Foto Julian Röder

der Individualität der Spielenden. In der Welt des europäischen Sprechtheaters erzeugt Susanne Kennedy „Futureoperas“, die auf ähnlich rigorose Weise unsere Fixierung auf die Individualität des Einzelnen auflösen und ihn in ein größeres Spiel einordnen, ­eines, das den Apparat des Theaters als Reaktor braucht, in dessen Bauch die Besucher sitzen – fasziniert und ängstlich zugleich, wenn sie im Black zwischen den Szenen erahnen, in was sie da hineingeraten sind, mit ihrem Leben, ihrem Hier und Jetzt, das, wie die kurzen Bilder im White Cube von Kennedys Bühne, das Produkt so vieler anderer Kräfte ist als nur ihrer eigenen. Wie die Heiden stehen sie vor und in diesem spirituellen Raum, das Schwarz des Blacks ist das Schwarz des Alls, der Zeitlosigkeit, die Grundfarbe des Theaters. //

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Die mit dem Wolf spielt Für die Schauspielerin Lilith Stangenberg ist Kunst auch Bekenntnis von Gunnar Decker

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eimat ist überall. Als Lilith Stangenberg den Theaterbuch­ laden Einar & Bert in der Berliner Winsstraße betritt, geht ihr Blick sofort zur Wanddekoration: Teile von Frank Castorfs „Der Geizi­ ge“, gebaut vom früh verstorbenen Volksbühnen-Bühnenbildner Bert Neumann. Ist das von 2012? Natürlich war sie dabei gewesen, wie in fast allen späten Castorf-Inszenierungen. Sie blickt so irri­ tiert auf die Wand wie auf ein modernes Pompeji. Als Neumann im Juli 2015 plötzlich starb, sammelte die ­Redaktion von Theater der Zeit Stimmen von Weggefährten. Lilith Stangenberg, die gerade auf Sardinien war, quasi im ständigen Funkloch, schickte einige Zeilen, darin war zu lesen, was sie an Neumann so gemocht hatte: sein Talent, den Schauspielern etwas wie eine zweite Haut zu schaffen, in der sie möglichst frei spielen können. Kein Korsett, keinen Käfig. Es war die ideale Verkörpe­ rung des Volksbühnengeistes. Es ist noch nicht lange her, da hat sie für das Buch „Alles ­Theater“ (2015) mit den schönen Fotos von Margarita Broich, gesagt, sie habe gar kein Leben neben der Bühne: „Das ist so der Pendelver­ kehr zwischen Proben und Spielen und Schlafen. Dann werde ich traurig, sehe mich um: Die Jugend, das normale Leben mit Freun­ den – das ist seit ein paar Jahren an mir vorbeigeweht.“ Und dann war es vorbei mit der Volksbühne. Eine Wunde, die schwer heilt. Obwohl – oder gerade weil? – sie jetzt wieder an der Volksbühne spielt, die Lulu in Stefan Puchers Inszenierung von Wedekinds Stück samt

einiger zeitgeistiger Zusatztexte. Aber eine echte Rückkehr an die Volksbühne war es für sie nicht, obwohl im Technik­bereich fast alle noch da sind, man sich kannte, es einerseits so vertraut war. Aber dafür andererseits umso fremder. Etwas fehlt. Der Geist, der hier herrschte, ist weg. So beginnt Vertrautes, das sich plötzlich in Luft aufgelöst hat, auf unheimliche Weise umherzugespenstern. Nach einer „Lulu“-Vorstellung ging sie in die Kantine. Frü­ her saßen oft noch am nächsten Morgen vom Vorabend Sitzen­ gebliebene da, schliefen den Rausch der Nacht aus oder tranken schon den neuen Tag ein – aber jetzt, um halb ein Uhr nachts, also sehr früh nach alter Volksbühnenzeitrechnung, bekam sie kein Bier mehr. Die Kantine hatte schon geschlossen. Daran erkennt man eine neue Zeit. Überall ist Fremde. Lilith Stangenberg muss an diesem Morgen bei Einar & Bert viel Tee trinken. Denn letzte Nacht hat sie eine Punk-Platte aufge­ nommen. Schlecht für die Stimme, aber gut für die Stimmung. Das ist Teil eines Projekts mit Khavn de al Cruz, dem Dichter und Regisseur, der als Erfinder des philippinischen Digitalfilms gilt. Ein Guerilla-Filmer in Manilas Slums. Mit ihm dreht sie gerade „Love Is a Dog from Hell“. Dazu kommt ein zweites Projekt mit ihm, zusammen mit Alexander Kluge: „Orphea“. Die mythische Geschichte des ersten Sängers, den es in die Unterwelt verschlägt. Aber mit veränderten Geschlechterrollen. Klingt anstrengend –

Lilith ist selbst ein Wolf – meint die Regisseurin des Films „Wild“ Nicolette Krebitz über die Schauspielerin Lilith Stangenberg. Foto Heimatfilm


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aber lohnt sich, findet Lilith Stangenberg. Zudem ist es ein Stück wiedergefundener Volksbühnenüberanstrengung. Den Volksbühnenalltag kannte sie seit 2007, da war sie neun­ zehn und spielte in „Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“ bei Martin Wuttke in Schloss Neuhardenberg und in „Macht und Rebel“ bei Robert Lehniger an der Volksbühne, eine „skandinavische Misanthropie“. Danach bekam sie sofort An­ gebote von fünf großen Häusern und ging erst einmal ans Schau­ spielhaus Zürich, wo sie dann bereits mit Frank Castorf arbeitete, bis sie 2012 fest zum Volksbühnen-Ensemble kam.

Der Theaterbetrieb – ein Vampir Eben noch hatte sie Anlass zu klagen, der Theaterbetrieb sei ein Vampir, der ihr die vitalen jugendlichen Kräfte aussaugt. Inzwi­ schen kennt sie sich mit Vampiren aus, drehte mit Julian Radl­ maier „Blutsauger“ und den Tatort „Blut“. Im vergangenen Jahr arbeitete sie auch wieder mit Frank Castorf zusammen, bei den Salzburger Festspielen in Knut Hamsuns „Hunger“ und am Schauspielhaus Hamburg in Eugene O’Neills „Der haarige Affe“. Und es gibt weitere Projekte, etwa Carl Sternheims „Ein bürger­ liches Heldenleben“ in der Regie von Frank Castorf im Januar in Köln. Dennoch ist da ein Vakuum, anders gesagt: Die Hermetik ist weg. Das ist schon seltsam für sie, die im Jugendclub der Volks­ bühne, P14, zu spielen anfing, und dann – ohne je eine Schau­ spielschule von innen gesehen zu haben – so viele Jahre im hoch­ tourigen Castorf-Zirkus mit dabei war. Nun hat sie plötzlich eine Vergangenheit, mit einunddreißig Jahren. Seit zwei Jahren dreht sie so viel, wie sie früher Rollen am Theater hatte. Heute ist ein freier Tag, so was ist aber auch schon eine Seltenheit. Sie pendelt zwischen Manila und New York und wirkt dabei immer noch wie das Mädchen aus Kreuzberg. Irgend­ wie aus der Zeit gefallen, eine von ihrem rabiaten Flugverhalten ramponierte Fee, vom Winde verweht, gleichzeitig naiv und auf bedächtige Weise klug. Ein eher nächtliches Wesen, das sich in den Tag verirrt hat. Welch irritierende Mischung, in der vielleicht das Geheimnis ihres Erfolgs verborgen liegt. Erst übersieht man sie fast, dann aber fasziniert sie. Schnell kommt man mit ihr auf wesentliche Dinge zu spre­ chen, zwischen dem ersten und dem zweiten Tee, auf halber Strecke zwischen destruktivem Trieb, Seele und Vernunft, Gott und den Fesseln der Moral, die die Kunst neuerdings immer mehr zu spü­ ren bekommt. Bei Frank Castorf hat sie die große Freiheit des Spiels erfahren. Auch als Last, die es zu tragen gilt, nicht leicht, aber loh­ nend. Die großen Dostojewski-Stoffe, von „Der Spieler“ bis zu „Die Brüder Karamasow“, das waren Welterkundungen auf dem Grunde der eigenen Seele. Wie viel Religion steckt in der Kunst? Das ist eine Frage, die sie beschäftigt. Häufig tauchte sie in den letzten Jahren in ihrer Arbeit in die dunkle Seite unserer Existenz ein. Das war einer­ seits eine großartige Erfahrung, aber andererseits eine Bürde. Sie

Suche nach dem kompromisslosen Ausdruck – Für Stangenberg heißt das auch, 25 Minuten auf der Bühne Kohlen zu schaufeln, wie in Frank Castorfs Inszenierung von Eugene O’Neills „Der haarige Affe“ 2018 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Foto Thomas Aurin

lilith stangenberg

hatte das Gefühl, dagegen die humane Substanz in sich stärken zu müssen. Beten hilft bei sich zu sein! Das ist für sie eine relativ neue Erfahrung, Selbsttherapie mit metaphysischen Weiterungen. Man spricht etwas still für sich, aber es ist mehr als bloß ein Monolog. Wenn man so viele Jahre auf der Bühne und vor der Kamera sich gleichsam verströmt, immer zuerst für andere, dann muss man auch wieder einmal etwas nur für sich tun. Wenn in unserem kurzen Leben ein Moment Ewigkeit auf­ leuchtet, dann hat das für sie mit Kunst zu tun. Gewiss, sage ich, in Kunst ereignet sich Transzendenz. Die Fähigkeit, immer wieder anzufangen, hat zweifellos etwas Weltschöpfendes. Wer spielt, hält seine Kindheit gegenwärtig – aber im Unterschied zur Religion bedarf es dabei keines ausgesprochenen Bekenntnisses. Das sehe sie anders, erwidert Lilith Stangenberg, für sie habe das sehr wohl etwas Bekenntnishaftes! Und schon ist man in einem religions­ philosophischen Diskurs gefangen. Lilith Stangenberg hat keine Schwierigkeiten, etwas so zu sagen, dass es auch bekenntnishaft ist. Kein „vielleicht“, kein „einerseits so, andererseits aber auch anders“ – keine dialektischen Spielchen, mit Flucht­wegen nach allen Seiten. Ich ahne, was sie mit der bekenntnishaften Dimensi­ on von Kunst meint. Keineswegs bloße Meinungen, erst recht nicht Abstrakta wie Prinzipien oder Dogmen, sondern etwas zu­ tiefst Persönliches, das eine existenzielle Wucht entfaltet. Darum sind ihr auch Andrej Tarkowskis Filme so wichtig. „Das sind Exer­ zitien“, sagt Lilith Stangenberg, da drehe sich alles um unsere Art, in der Welt zu sein. Darum, Zeit ganz sinnlich zu erfassen, in ih­ rem grausamen Gang, unsere flüchtige Existenz unaufhaltsam dem Ende entgegenzutreiben. Castorf ist ein Aktionist der Zeitverlängerung. Es geht im­ mer noch ein bisschen mehr. Spielen bedeutet hier, der eigenen Ermüdung zu widerstehen, auch als Zuschauer muss man kämp­ fen. Christoph Marthaler dagegen hat eine andere Art Zeit­ verständnis. Er spielt ebenso mit der Zeit, aber indem er auf Zeit spielt, bis hin zur punktuellen Zeitstillstellung. In Marthalers

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protagonisten

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Wieder an der Volksbühne und auch wieder nicht – Lilith Stangenberg spielt 2019 die Lulu in Stefan Puchers Wede­kind-Inszenierung am Rosa-­ Luxemburg-Platz. Foto Julian Röder

„Hallelujah (Ein Reservat)“ von 2016, einer Welt als furchterregen­ dem Freizeitpark, sah ich Lilith Stangenberg ganz anders als bei Castorf agieren. Gelöster, weniger forciert, geradezu lässig in Bei­ läufigkeiten versenkt. Da bekommt die Apokalypse etwas von ei­ nem schlechten Witz. Welch eine Gespensterbahn, auf der die Untoten der Freizeit­ industrie immer im Kreis fahren! Der Programmzettel listete lauter Ehemalige auf, von der „ehemaligen Mitarbeiterin des Kassen­ wesens“ bis zum „ehemaligen Dean-Reed-Darsteller“. Und Lilith Stangenberg war die Prinzessin dieses bizarren Totenreigens, die „ehemalige Dauerkartenbesitzerin“, die zehn Jahre Freizeitpark in einer Tombola gewonnen hatte und nun noch 3501 Tage hier auszu­ harren hat. Denn eine Dauerkarte ist eine Dauerkarte. Lilith Stan­ genberg zelebrierte das Erschrecken über die Permanenz von Spaß, der von Horror nicht mehr zu unterscheiden ist. Wir begegnen uns selbst als Zombies unserer ehemaligen Leben. Hat unsere wach­ sende Apathie vielleicht etwas mit dem Appetit von Maschinen zu tun, die immer unsere Träume wegfressen, die zu erfüllen sie an­ geblich erfunden wurden? Mit Lilith Stangenberg kann man übergangslos in diese absurden (Unter-)Welten unseres Alltags ­eintauchen, unbekümmert darüber, wo auch immer man wieder auftauchen wird. Das ist fast schon Optimismus. Woher hat sie eigentlich den Namen Lilith, das war doch Adams erste Frau? „Ja, und auch ein Dämon! Mein Vater war von der Stärke dieser Figur fasziniert, sah darin vor allem den starken emanzipatorischen Willen.“ Und wie das so ist – nomen est omen –, immer wieder stößt sie nun auf dieses Thema. Wie kann man aus dem Käfig von Regeln und Normen, der einen gefangen setzt, aus­ brechen? Nicolette Krebitz’ „Wild“ war eine Art Initiation. Kunst als gefährliche Expedition zu sich selbst. Natürlich ist der Wolf gefährlich und wild, aber auch schön und frei – eben die Ver­

körperung des archaischen Prinzips. Jemand, der sich nicht zähmen lässt. „Lilith ist selbst ein Wolf“, hat die Regisseurin über ihre Schauspielerin ­ gesagt. Der Wolf zeigt uns, wie man die Kraft in sich weckt, aus einem falschen Leben auszubrechen. Wenn man auf­ hört, wie gewohnt bloß zu funktionie­ ren, beginnt ein neues Leben. Und die Sexualität ist dabei eine Urkraft. So er­ fährt es Anja, die junge Frau, die im Büro vom Chef so gleichgültig wie ein Ding behandelt wird, gerade gut ge­ nug, um Kaffee zu holen. „Der Wolf ist nicht böse“, sagt ­Lilith Stangenberg. Nelson, so heißt der Wolf, kam mit seinem Rudel aus Un­ garn, denn ohne ihr Rudel, so L ­ilith Stangenberg, werden die Wölfe ganz traurig. Man kann dann nicht mit ihnen arbeiten. Nelson w ­ usste immer genau, wie es um sie stand. Jede Verstimmung, jede Ablen­ kung registrierte er. „Wölfe sind Berührungstiere, so verstän­digen sie sich auch untereinander.“ Die Szenen, die sie zusammen dreh­ ten, waren nur möglich, weil der Wolf die ihm entgegengebrachte Liebe spürte. Der Tiertrainer selbst habe nicht geglaubt, dass so intime Szenen überhaupt möglich seien. Außerdem war Nelson ein Filmprofi mit über hundert Drehtagen. Er hatte auch schon mit Gérard Depardieu gedreht, der furchtbare Angst vor dem Wolf hatte und zur eigenen Ermutigung vorher immer etwas trank. Angst und dazu Alkohol: Wenn Wölfe etwas nicht mögen, dann das. Einen Wolf kann man nicht zähmen, aber vielleicht verzau­ bern? Nur wenn man sich gleichzeitig auch von ihm verzaubern lässt. An diese Magie glaubt Lilith Stangenberg. Die ist auch der Boden, aus dem jene Kunst wächst, die das Leben verändert. In diesem Jahr kam „Idioten der Familie“ von Michael Klier ins Kino, ein bisschen so wie „Idioten“ des von ihr bewunderten Lars von Trier, aber eben nur ein bisschen. Lilith Stangenberg war Ginnie, die geistig behinderte junge Frau, die bei ihrer Schwester lebt, aber nun soll sie ins Heim. Sie kann nur lallen, schreien, beißen, kratzen, spucken oder treten. Aber auch sich still anlehnen, oder heftig anklammern. Eine radikale Rolle für Lilith Stangenberg in einem Film, der dann doch wieder zu viele Kompromisse machte. Das ist das Großartige an der Arbeit mit Frank Castorf. In O’Neills „Der haarige Affe“ am Deutschen Schauspielhaus Ham­ burg reißt sich Lilith Stangenberg als Milliardärin, die auf einem Schiff unterwegs ist, plötzlich die Sachen herunter, wirft ihre ­Diamanten weg und beginnt, nackt Kohlen zu schaufeln, 25 Mi­ nuten lang. Ein bezwingendes Symbol, das nicht wenige Zuschau­ er verstörte. Nach einem derart kompromisslosen Ausdruck sehnt sie sich. //


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kolumne

Josef Bierbichler

Sprengstoffpreis Peter Handke und der Feuilletonistenkrieg

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ie Reaktionen kamen so prompt und unversöhnlich, als hät­ ten sie nur darauf gewartet, dass er ihn kriegt, bei der Galle, die sie auf der Stelle parat hatten. Sie haben geahnt, dass er ihn irgend­ wann noch kriegen könnte. Sie sind alle vom Fach. Sie haben still­ gehalten, bis er ihn tatsächlich noch gekriegt hat. Dann haben sie es noch einmal krachen lassen. Sprengstoffpreisgerecht. Auf der Höhe einer damaligen Zeit. Zur Vergewisserung, dass ihr einhelli­ ges Urteil, gefällt von ihnen 25 Jahre zuvor, immer noch vor der Öffentlichkeit Bestand hat. Und sie haben recht gekriegt. Auf die Öffentlichkeit ist Verlass. Vielleicht hätte er ihn nicht nehmen sollen. Aber dann hätte er ihnen recht gege­ ben, dass sein Schreiben und Reden damals verwerflich war. Und sie wären trotzdem über ihn hergefallen. Das wusste er. Das jahrlange Stillhalten-Müssen hätte es ihnen auch dann abverlangt. Und der nagende Wurm des Recht-behalten-Wollens, der sich nährt an der Selbstgerechtigkeit, bis er gesät­ tigt ist mit Selbstgewissheit. Es hätte ihm nichts geholfen, wenn er den Preis nicht ge­ nommen hätte. Gibt es zugunsten eines schreibenden Subjekts, das Schriftstellerin oder Schriftsteller ist oder investigative*r Journalist*in, den Be­ griff überhaupt: helfen? Das schreibende Sub­ jekt kann sich das, was es schreibt, nicht ein­ fach ausdenken. Es muss ihm passieren. Schreiben, das sich denkt, weiß, was es will. Ein schriftstellerndes Subjekt weiß das nicht. Es muss nicht wissen, wa­rum es was geschrieben hat, es muss es nicht erklären können. Es kann aber auch nicht einfach schreiben, was es will, oder was andere wollen. Es muss schreiben, was es schreiben muss. Daran ist nichts überheblich oder selbstgerecht, es ist nicht gefühllos oder zynisch. Sonst wäre es ein*e Faxenmacher*in oder Unterhalter*in, ein Liebling des Publikums oder ein*e Lohnschreiber*in. Davon gibt es genug. Oder es wäre, wie gerade diese Kolumne, etwas Herbeigedachtes, das einem bestimmten Zweck dient. Es kann passieren, dass so zu schreiben gegen gesellschaft­ liche Gepflogenheiten verstößt oder gegen das Selbstwertgefühl eines autokratischen Herrschers, und dass das schreibende Sub­ jekt dafür ins Gefängnis muss. Oder getötet wird, weil es politi­ sches Unrecht aufgedeckt hat. Manche haben beim Schreiben re­ ligiöse Gefühle verletzt und sich danach verstecken müssen, um nicht getötet zu werden. Andere wieder waren gezwungen, sich

widerwillig in die Obhut eines oft nur widerwillig gewährten Schutzes durch den Staat zu begeben, weil sie mit ihrem Schrei­ ben das organisierte Verbrechen aufgeschreckt haben. Sie alle ha­ ben geschrieben, was sie schreiben mussten, nicht, was sie woll­ ten. Schreibende Subjekte sind ja nicht gleich auch noch blöd. Was ist eigentlich vor knapp dreißig Jahren passiert? Ein lange funktionierender sozialistischer Vielvölkerstaat auf dem ­Balkan begann zu bröckeln. Einige reichere Regionen in diesem Staat wollten sich selbst verwalten, um die ärmeren Regionen nicht mehr durch­füttern zu müssen. Westeuropäische Staaten halfen ­ihnen bei der Separation durch Anerkennung ihrer Unabhängig­ keit – allen voran die deutsche Regierung. Bald wurde geschossen. Ein blutiger Bürgerkrieg wuchs sich aus. Viel Unrecht ge­ schah auf beiden Seiten. Ein Schuldiger musste her und war bald gefunden. Mit ihm konnte dem Publikum im westeuropäischen Ausland das verwirrende Durcheinander von Gut und Böse und die Notwendigkeit einer humanitären Hilfe von außen, unter ande­ rem mit Kampfflugzeugen, auf einfache Wei­ se erklärt werden. Diese Art Erklärung wollte ein Schriftsteller, der seiner Herkunft aus den umkämpften Gebieten treu geblieben war, nicht mehr ertragen und fragte öffent­ lich, ob in einem Bürgerkrieg, in dem sich Nachbarn bekriegen, es denn überhaupt ei­ nen einzelnen Schuldigen geben könne und ob eine Einmischung von außen das Leid nicht viel eher mehren würde, statt es zu lindern. Damit widersprach er der Berichterstattung der freien Presse und den geostrategischen Planungen eines mächtigen, trans­ atlantischen „Verteidigungsbündnisses“ und war fortan schuldi­ ger als jeder Kriegsverbrecher. Als er sich auf provozierende Weise dagegen wehrte, wurde die mediale Fatwa über den Schriftsteller verhängt. Und die endet erst mit dem Tod. Vielleicht ist er ja wirklich ein großes Arschloch. Persönlich kenne ich ihn nicht. Aber woher wissen die anderen alle so genau, dass sie es nicht sind? Alle diese Feuilletonisten und schreibenden Subjekte, die wegen ihm gerade so wuchtig aufeinander einschla­ gen, als wären sie im Bürgerkrieg? Vielleicht sollte man sie alle durch ein kulturelles Förderprogramm bewaffnen! Das gäbe eine super Werbung für eine verdiente deutsche Firma: Waffenherstel­ ler Heckler & Koch bringt durch Kultursponsoring internationale Feuilletonlandschaft nach und nach zum Schweigen. Die Leser würden zuvor noch „Erlebnisse in einem Bürgerkrieg“ aus feuille­ tonistischer Sicht kennenlernen. //

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protagonisten

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Das menschliche Tier, rabenschwarz Andreas Beck untersucht in seiner ersten Spielzeit als Intendant des Residenztheaters München die conditio humana von Christoph Leibold

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topp Bratschen-Shaming now!“ Das fordert Mareike Beykrich in „Olympiapark in the Dark“, der neuesten Inszenierung von Thom Luz, und hält ein feierliches Plädoyer für ein verkanntes Instrument. Klar, ohne Bratsche würde dem Orchesterklang etwas fehlen. Und doch richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem: auf die erste Geige. Die hätte im Konzert der Eröffnungspremieren zum Start der Intendanz von Andreas Beck am Münchner Residenztheater Simon Stone spielen sollen. Mit seiner Technik der vergegen­ wärtigenden Überschreibung von Klassikern war der australische Regisseur bereits in Becks erfolgreichen Jahren am Theater Basel ein Schlüsselspieler. In München nun hätte er unter dem Titel „Wir sind hier aufgewacht“ Marivaux’ „Der Streit“ und Calderón de la Barcas „Das Leben ein Traum“ zu einem Update verquicken sollen. Die Proben hatten längst begonnen, da kam Kunde aus Kalifornien: Netflix sagte Stone überraschend die Finanzierung eines lang geplanten Filmprojekts zu, das zuletzt auf Eis gelegen hatte. Der machte sich umgehend auf den Weg nach Amerika. Er hinterließ ein auf der Homepage des Theaters nachzulesen­ des Statement, in dem er „with apologies and love“ beim Publi­ kum Abbitte leistet, sowie eine entsetzliche Lücke im Auftakt­ programm, die sich mit der vorgezogenen München-Premiere von Antonio Latellas „Drei Musketiere“ zwar terminlich, aber kaum inhaltlich stopfen ließ. Latellas Mantel-und-Degen-Sause war ein Spielplan-Renner in Basel. Ein amüsanter Abend, gewiss, der auch beim Münchner Publikum seine Wirkung nicht verfehlt. Aber kein adäquater Ersatz für den großen Weckruf zu Beginn. So startete die Münchner Ära Beck mit unüberhörbaren Misstönen. Dass der neue Intendant nach den ersten Spielzeit­ tagen dennoch zufrieden resümieren konnte, „wir haben den Aus­ fall als Theater gut verdaut“, hängt wesentlich mit der Produktion zusammen, die in die Poleposition aufrückte. Dabei war es fast schon wieder lustig, dass ausgerechnet ein Stück mit dem Titel „Die Verlorenen“ den Verlust der Stone-Premiere wettmachen

musste. Mehr noch: „Die Verlorenen“, ein Auftragswerk von Ewald Palmetshofer, erwiesen sich gar als Gewinn für das Theater. Zumal in der Uraufführungsinszenierung von Nora Schlocker, die der formstrengen Verssprache des österreichischen Dramati­ kers mit nicht minder strenger Ästhetik begegnet. In einem glei­ ßend hell ausgeleuchteten leeren Kasten (Bühne Irina Schicke­ tanz) ­formiert Schlocker das Stückpersonal zu einem Chor in die Welt geworfener Menschlein auf verlorenem Posten. Gemeinsam fragen sie in das schwarze Nichts des Universums hinein, ob denn da irgendwer sei, sich ihrer anzunehmen? Aber das Holz­ kreuz an der Wand hinter ihnen ist leer. Wohl nicht, weil der Hei­ land bereits in den Himmel aufgefahren ist. Eher wahrscheinlich, dass er nie da war.

Andreas Beck, geboren 1965 in Mülheim/ Ruhr, studierte Kunstgeschichte, Soziologie und ­Theaterwissenschaft in München. Nach seinem Start als Regieassistent 1991 am Wiener Burgtheater arbeitete er als freier Regisseur, ab 1994 als Dramaturg u.  a. am Bayerischen Staatsschauspiel in München, dem Staatsthea­ ter Stuttgart, dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg sowie am Burgtheater Wien. 2007 wurde er Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer am Schauspielhaus Wien und 2015 schließlich Intendant des Theaters Basel, welches er vorzeitig verließ, um mit der Spielzeit 2019/20 die Intendanz des Residenztheaters in München zu übernehmen. Foto Lucia Hunziker

Was trotz trister Ausgangslage sofort in die Aufführung hinein­ zieht, ist der unwiderstehliche Sog des unverwechselbaren Palmets­ hofer-Sounds. Der 41-jährige Dramatiker, der übrigens als fester Dramaturg zu Becks Team gehört, packt Alltagsvokabular in eine rhythmisierte Sprache, die dem Gesagten Gehör und Gewicht ver­ leiht. Dazu kommt ein rabenschwarzer Humor, der den vorherr­ schenden Moll-Akkorden, wenn nicht heitere, so doch erheiternde Töne beimischt.


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Nach dem chorischen Beginn schälen sich einzelne Figuren aus der uniformen Masse Mensch, die Marie Roth in Rentnerbeige und Mausgrau gekleidet hat. Myriam Schröder trägt zudem ein Totenhemd. Sie ist Clara, eine Frau mittleren Alters, die schwer am Leben leidet, sich aber, so wie Schröder sie spielt, zumindest mit robuster Selbstironie über die Runden zu retten weiß. Gleich­ wohl braucht Clara dringend eine Auszeit, weshalb sie Sohn ­Florentin bei ihrem Ex parkt, um sich aufs Land zu verkrümeln. Dort trifft sie auf den Streuner Kevin, ein Verlorener und, ja, auch Verlierer wie sie, den Johannes Nussbaum mit schön traurigem Trotz ausstattet. Kurz keimt Hoffnung, dass sich zwei Außenseiter solidarisieren. Doch daraus wird nichts. Dabei hätten Clara, Kevin und all die anderen haltlosen Existenzen ein wenig Halt dringend nötig: Palmetshofer beschreibt das Leben als Zwischenstation auf einer Reise, die aus dem Nirgendwo kommt und ins Nichts führt. Noch so ein Durchgangsort: Die Dorftanke. Eine Kassiere­ rin und ihre biertrinkenden Stammgäste schlagen sich hier die Nacht um die Ohren. Einer erzählt vom Zusammentreffen mit einer Hirschkuh auf nächtlicher Straße. Kein Wildunfall, sondern eine Begegnung der unheimlichen Art, bei der das Tier dem Fah­ rer provokant ins Auge blickt, als würde es seine „Unterlegenheit nicht mehr anerkennen“. In Palmetshofers gottloser Welt ist eben auch die Idee vom Menschen als Krone der Schöpfung hinfällig. „Was ist der Mensch?“ lautet das Motto, das Andreas Beck für seine Münchner Spielzeit ausgegeben hat, weil er es sinnvoll findet, „einen roten Faden zu legen. Man muss dem Publikum Handreichungen bieten.“ Gerade an einem Haus mit so breitem Programm, zu dem Beck übrigens schon vor seinem Antritt eine besondere Beziehung hatte: In den 1990er Jahren war er hier als Dramaturg engagiert. Seither schätzt er das Residenztheater, auch

Formstrenge Sprechpartitur – Regisseurin Nora Schlocker setzt in ihrer Uraufführung von Ewald Palmetshofers „Die Verlorenen“ am Münchner Residenztheater auf die Verssprache. Foto Birgit Hupfeld

als Theaterbau. Keine Selbstverständlichkeit. Denn nicht wenige empfinden es als steril und überdimensioniert. Beck hingegen schwärmt von einer „optimalen Architektursituation“: „Man hat nicht das Gefühl, dass man in einem Flugzeughangar sitzt. Die Bühne lässt sich nicht nur kolossal bespielen. Dort können auch intime Sachen verhandelt werden.“ Das ist Beck wichtig, denn ne­ ben Klassikern (gern in modernen Bearbeitungen à la Simon Stone) setzt er auf Dramen zeitgenössischer Autoren, die bekanntlich nicht immer für die große Bühne und Besetzung schreiben. Als weitere Säulen seines Spielplans nennt Beck die Pflege prägnanter Regiehandschriften sowie eines ausgeprägten Ensemblegeistes. Dass „Die Verlorenen“ all das zusammen bereits sensatio­ nell einlösen – starke neue Texte, starke Regie und starkes Ensem­ ble – stimmt fast schon euphorisch, wohingegen die Antwort, die das Stück auf die zentrale Spielzeitfrage gibt, maximal ernüch­ ternd ausfällt: „Was ist der Mensch?“ Auch nur ein Säugetier wie jedes andere! Allenfalls die Fähigkeit zur Empathie könnte einen Unterschied machen. Doch in Claras Sohn tritt der Vertreter einer Generation auf, dem auch diese Gabe abhanden zu kommen droht. „Der Flori“ nämlich postet ein Video, in dem er ein anderes Kind mitleidlos demütigt. Mit dieser Zuspitzung gewinnt Palmets­ hofers Stück eine gegenwartskritische Dimension – über die zeitlose Untersuchung der conditio humana hinaus. Dass seine düstere Diagnose helle Theaterfreude auslöst, ist auch Nora Schlocker zu verdanken, die voll auf die Kraft von


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protagonisten

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Klanggemälde des Millionendorfs München aus Schnipseln und Dokumenten – Thom Luz‘ Inszenierung „Olympiapark in the Dark” zum Auftakt der Intendanz von Andreas Beck. Foto Sandra Then

­ almetshofers Sprache setzt, sowie auf das Ensemble, das diese P Sprechpartitur mit Bravour bewältigt. Neben Schröder und Nuss­ baum sind es Schauspielerinnen und Schauspieler, die schon in Basel begeisterten (Florian von Manteuffel und Pia Händler etwa) und die bewährten Resi-Stammkräfte wie Sibylle Canonica oder Ulrike Willenbacher umstandslos integrieren. Der Wert eines harmonierenden Ensembles zeigt sich be­ sonders deutlich im Kontrast zu den „Sommergästen“ in der ­Regie von Joe Hill-Gibbins. Der hierzulande noch kaum bekannte Brite bekam es in seiner Inszenierung des Gorki-Klassikers mit einem bunt aus Neuankömmlingen und Ortsansässigen zusam­ mengewürfelten Cast zu tun. So hat man denn auch das Gefühl, einem Orchester beim Stimmen beizuwohnen, das nie wirklich einen gemeinsamen Ton findet. Von der psychologischen Fein­ zeichnung bis zur Karikatur – alles drin! Freuen darf man sich immerhin über die Rückkehr von ­Publikumsliebling Brigitte Hobmeier auf eine Münchner Bühne, die wesentlichen Anteil daran hat, dass sich der dahindümpelnde Abend gegen Ende doch noch zum Crescendo aufschwingt. ­Hobmeier spielt die Sommergesellschafts-Gastgeberin Warwara, die unter lauter mehr oder minder begüterten, selbstmitleidigen Müßiggängern als Einzige über die Grenzen der eigenen Wohl­ standsblase hinausdenkt. Wie sie sich, die Arme anfangs meist verschränkt, allmählich aus der inneren Umklammerung löst und dabei mit zunehmend ausladender Gestik das blanke Entsetzen über ihr vergeudetes Dasein von der Seele schreit und dabei auch die anderen in Ego-Shooter-Manier verbal umnietet, ist sehens­ wert. Auch Aurel Manthei, Thomas Lettow und Hanna Scheibe steuern differenziert gestaltete Figurenporträts bei. Gleichwohl fehlt dem Abend – trotz Gartengrill, aus dem eine Stichflamme züngelt – das rechte Feuer. In den „Sommergästen“ zeigt sich Gorki als Geistes­ verwandter Anton Tschechows. Auch der stellt meist Menschen auf die Bühne, die ihr Leben verplempern. Die „Drei Schwestern“

beispielsweise. Simon Stone hat aus diesem Stück vor drei Jahren in Basel eine Milieu­ studie desillusionierter Großstadt-Hipster gemacht. Wie die „Drei Musketiere“ stehen die „Drei Schwestern“ nun auf dem Spiel­ plan des Residenztheaters. „Mitbringsel“ nennt Andreas Beck diese und weitere Pro­ duktionen, die er aus Basel übernommen hat beziehungsweise im Laufe der Saison noch importieren wird. So bekam München doch eine (zwar nicht taufrische, aber fan­ tastische) Stone-Produktion. Ob Beck dem Australier allerdings jemals wieder mit freundschaftlichem Handschlag begrüßen wird wie ein Dirigent den ersten Geiger, darf bezweifelt werden. Beck legt zwar Wert darauf, dass Stone die begonnene Arbeit an „Wir sind hier aufge­ wacht“ irgendwann vollendet. Ansonsten macht er keinen Hehl daraus, dass Stone bei ihm deutlich an Sympathie eingebüßt hat. Im Münchner Publikum dagegen wurde kaum Verärgerung laut. Was daran liegen könnte, dass Beck mit „Olympiapark in the Dark“ von Thom Luz praktischerweise auch noch eine Inszenie­ rung in petto hatte, die vergrätzte Gemüter sofort wieder versöhn­ lich gestimmt haben dürfte: eine München-Hommage. Nach dem Vorbild des kammermusikalischen Klanggemäldes „Central Park in the Dark“, mit der Musikpionier Charles Ives 1906 der Metro­ pole New York huldigte, komponiert Luz ein Mosaik des Millio­ nendorfs München aus Schnipseln und Dokumenten, geborgen aus dem Bild- und Schallarchiv der Stadtgeschichte. Ein altmodi­ scher Projektor wirft Aufnahmen aus den siebziger Jahre auf eine Leinwand – Oktoberfestszenen, ein Fußballspiel des FC Bayern (noch im Olympiastadion) und dergleichen mehr – wobei die fla­ ckernden Filmbilder Kopf stehen und die Musik rückwärtsläuft. Acht Akteure gucken zu oder zitieren Episoden aus der Stadtchronik, vornehmlich solche, die mit Klängen zu tun haben. Mit Kirchenglocken zum Beispiel oder dem Geigenspiel des Kna­ ben Albert Einstein, der an der Isar aufwuchs. Und sie singen ge­ meinsam und musizieren mit Streichinstrumenten. Der Weg vom Wohlklang zu Dissonanzen und zurück ist dabei kurz, aber selbst schräge Töne gehen in der Harmonie des Gesamtarrange­ ments auf. Auf den hässlichen Hall der Historie verzichtet Luz ohnehin. Hitler bleibt eine Randnotiz in diesem zart versponne­ nen Stadtporträt, das eher ein Bild der Weltstadt mit Herz als das der Hauptstadt der Bewegung zeichnet. Dass Thom Luz mit sei­ ner für München eher noch fremden Ästhetik bekanntes Terrain beackert, ist sicherlich ein kluger Schachzug. Das Lokalkolorit gibt dem Ungewohnten einen vertrauten Anstrich. Und doch wirkt Luz’ Regiehandschirift so außergewöhnlich wie ein Bratschen­ solo. Ein seltenes Vergnügen. Aber eines, das man keinesfalls missen möchte. //


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Es regnet heftig oder gar nicht Sonja Anders unterzieht in ihrer ersten Spielzeit als neue Intendantin des Schauspiels Hannover das Haus einer grundlegenden Institutionskritik – Was macht das mit der Kunst? von Dorte Lena Eilers

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s werde Licht. Oder doch nicht. Licht an. Licht aus. Die Thea­ termaschinerie zeigt sich sperrig. Wer wie Gott lässig mit einem Fingerschnipsen eine Welt erschaffen will, indem er sich deren Elemente gefügig macht, muss zwangsläufig scheitern. Selbst­ verständlich ist hier gar nichts. Es ist immer ein Kampf. So dauert es eine ganze wunderbare Zeit, bis Oscar Olivo den Spot unter Kon­ trolle gebracht und den Kostümständer positioniert hat. Die Bühne von Jelena Nagorni ist schwarz und leer. Ein Anfang. Wir befinden uns im Jahr 1586. Elisabethanisches Zeitalter. „Die Moral jener ­Epoche war nicht die unsere, so wenig wie ihre Dichter oder ihr

Klima … Es regnete heftig oder gar nicht … Unser schattenhaftes Zwielicht und trübes Dämmerlicht waren jenen völlig unbekannt.“ So beginnt an diesem Abend die Geschichte einer Verwand­ lung. Lily Sykes’ Inszenierung von Virginia Woolfs Roman „Orlan­ do“ ist bereits die fünfte Premiere am Schauspiel Hannover unter der neuen Intendanz von Sonja Anders. Die Reise des Protagonis­ ten durch die Jahrhunderte, welche er Ende des 16. Jahrhunderts als Mann beginnt und nach wundersamer Nacht in Konstantinopel als Frau fortsetzt, steht programmatisch für die Neuausrichtung

Auf der Suche nach dem Dämmerlicht – Corinna Harfouch und Oscar Olivo in „Orlando“ nach dem Roman von Virginia Woolf, inszeniert von Lily Sykes am Schauspiel Hannover. Foto Kerstin Schomburg


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des Hauses. Es wird, unter anderem, weiblicher. Was nicht heißt, dass hier zuvor keine Frauen zum Zuge gekommen wären. Regis­ seurinnen wie Mina Salehpour und Claudia Bauer waren während der Intendanz von Lars-Ole Walburg regelmäßig Gast an diesem Haus. Nun jedoch sind es 16 Regisseurinnen, die über die Hälfte der 28 Premieren in der ersten Spielzeit verantworten. Im Ensemble gibt es (fast) so viele Frauen wie Männer. Quote erfüllt. Sonja Anders spricht gerne von Stil, wenn sie Strukturen meint, was ein wenig verschleiert, dass hinter diesem Begriff eine strenge Programmpolitik steht, die sich an den Forderungen der aktuellen Institutionskritik orientiert. So ist das Ensemble nicht nur weiblicher, sondern auch diverser geworden. Julia Wissert, die künftige Intendantin des Schauspiels Dortmund, lädt in der Cumberland’schen Bühne in der Reihe der Universen gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern aus Hannover, Damaskus, Ber­ lin und Brooklyn Hannoveranerinnen und Hannoveraner als Co-Kreative ein. Die Dramaturgie-Sitzungen wurden für das ­ ­Ensemble geöffnet, die Mitarbeiter durch einen Critical-White­ ness-Workshop geschleust. Gelder der Kulturstiftung des Bundes setzten schließlich noch eine 360-Grad-Stelle für mehr Diversität im Betrieb obendrauf. Es herrscht ein sichtbar anderer Geist am Schauspiel Hannover. Und das wortwörtlich. Während zu Beginn der Intendanz von Lars-Ole Walburg fünf Schauspieler in Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“ im Kessel von Stalingrad schmorten und sich das Publikum über allzu düstere Plakatwerbung echauffierte, wirkt bei Anders alles hell und freundlich. Das Foyer erstrahlt in einem satten Hellgelb, während über den Köpfen der Besucher ein gigantischer Halogen­ lüster schwebt. Nichts also für lichtscheue Wesen. Statt des dunk­ len Apokalyptikers Heiner Müller steht nun die in Hannover gebo­ rene Philosophin Hannah Arendt Patin für das gedankliche Programm. Nicht jedoch ihr Nachdenken über die Banalität des Bösen, sondern ihr Konzept der Pluralität. „Handeln Gleicher im Raum der Freiheit“ – dieses Zitat hat Sonja Anders ihrem Vorwort im Spielzeitheft vorangestellt, denn Arendts Idee eines Mit- und Nebeneinanders aller, das Differenz als Voraussetzung für eine starke und offene Gemeinschaft definiert, treibe ihre Theaterar­ beit an. Es ist tatsächlich erstaunlich, wie deutlich sich der Unter­ schied zwischen diesen beiden Hausgeistern abzeichnet. Müller dachte von den Toten her, Arendt von der Geburt des Individuums. Ihre „Vita activa“ sah den Menschen in Verbindung mit anderen die Welt gestalten. Müller sah ihn, wie er sie in Konfrontation mit anderen verunstaltete. Ist es relevant, dass der eine als Künstler, die andere als politische Theoretikerin sprach? „Die Funktion von Kunst besteht für mich darin, die Wirk­ lichkeit unmöglich zu machen.“ So formulierte Heiner Müller 1977 seine Philosophie. Vierzig Jahre später greift der Soziologe Dirk Baecker diesen Gedanken in einem großen Essay im Merkur wieder auf. Die Kunst, betont auch er, sei kein Zufluchtsort für all jene, deren utopische Erwartungen von der Gesellschaft ent­ täuscht worden seien. Sie realisiere nicht stellvertretend, was sonst nirgendwo realisiert werden könne. Ihre Kraft liege viel­ mehr in der Negation. In einer Epoche wie der unsrigen indes hat es eine solche Auffassung zunehmend schwer. Das schattenhafte Zwielicht, das ein Kunstereignis bieten könnte, ist unter dem Druck politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Krisen

schauspiel hannover

dem Drang zur Eindeutigkeit gewichen. Entweder es regnet ­heftig. Oder gar nicht. Die Lage angesichts einer in die Extreme kippenden Gesellschaft ist kompliziert.

Erprobung der Negation Ragle Gumm, Protagonist aus Philip K. Dicks „Zeit aus den ­Fugen“, lebt in einer solchen Welt. Wir befinden uns im Amerika der 1950er Jahre, doch statt qietschbunter Petticoats und bonbon­ farbenem Mobiliar ist auf Valentin Baumeisters Bühne alles grau in grau, selbst die Menschen erinnern an vergilbte Schwarz-WeißFotografien. Ziemlich schnell ist dem Zuschauer ziemlich klar, dass hier etwas nicht stimmt. Das Unheil platzt in Laura Linnen­ baums Inszenierung dann auch derart plakativ in die Szenerie wie die Budweiser-Dose, deren Rot plötzlich ins Grau des Bildes knallt. Aha! Siehe da! Die „Truman Show“ zeigt Risse. Ragle Gumm (Tor­ ben Kessler), verschrobener Rätselfan und täglicher Gewinner des örtlichen Preisausschreibens, beginnt zu zweifeln. Was wissen die anderen, was er nicht weiß? Richtig. Die Zeitrechnung war ein Fake. In Wahrheit befinden wir uns im 21. Jahrhundert. Vor den Mauern der Stadt tobt ein dystopischer Krieg. Diesen Krieg und sein Zustandekommen zu thematisieren wäre interessant gewesen. Der zeitlebens in linken Künstlerkreisen verkehrende Philip K. Dick jedoch, der die Vorlage für Kinohits wie „Blade Runner“ lieferte, gehört, anders etwa als sein Sci-­FiKollege Robert A. Heinlein, der offen mit dem Militarismus lieb­ äugelte, zu den unverfänglicheren Schriftstellern dieses Genres. Seinem in Hannover uraufgeführten Roman lässt sich bei aller Düsternis daher auch relativ leicht eine positive Botschaft abrin­ gen, mit der alle beruhigt nach Hause gehen können: Zweifle an der Wirklichkeit und handle. Nun spricht Sonja Anders, wenn sie von Hannah Arendt spricht, bewusst nicht von Utopie. Das Zitat, sagt sie, beschreibe eher eine Idee, einen Zustand, der nicht verwirklicht sei und daher als ewig unerreichtes Ziel am Horizont schwebe. Eine Gesell­ schaft zu zeigen, in der, wie es bei Müller heißt, die Grundsätze der Französischen Revolution nurmehr als „Brandfackel“ existie­ ren, sprich: gar nicht, ist indes nicht ihr künstlerischer Weg. Lieber schließt sie sich dem indischen Schriftsteller Pankaj Mishra an, der in „Das Zeitalter des Zorns“ anregt, vor die Aufklärung zu­ rückzutreten, um ihre Fehler zu entlarven. Für Anders steht daher Sonja Anders (*1965) studierte Germanistik in Hamburg. Nach ersten Assistenzen und Dramaturgien folgten Anstellungen als Dramaturgin am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, am Staatstheater Stuttgart und am Thalia Theater in Hamburg, wo sie ab 2005 Chefdramaturgin war. 2009 wechselte sie ans Deutsche Theater in Berlin, wo sie bis 2018 als Chefdramaturgin und stellvertretende Intendantin tätig war. Sie arbeitete u. a. mit Regisseuren wie Martin Kušej, Michael Thalheimer, Stephan Kimmig und Nicolas Stemann zusammen. Sonja Anders sitzt im Beirat T­heater/Tanz des Goethe-Instituts. Seit der Spielzeit 2019/20 ist sie Intendantin des Schauspiels Hannover. Foto Kerstin Schomburg

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protagonisten

Die Macht des Autors – oder der Autorin: „The Writer“ von Ella Hickson in der Regie von Friederike Heller. Foto Kerstin Schomburg

die präzise Erkundung des Menschen an erster Stelle. Was ist der Mensch? Wie erlange ich Souveränität? Das seien Fragen, denen sie auf der Bühne, aber auch im Betrieb nachgehen möchte. Dazu gehöre, auch als weiße, westdeutsche Theaterchefin ihr Nicht­ wissen in den Vordergrund zu stellen. Denn im Ringen um Ver­ ständnis, schreibt Sonja Anders in ihrem Vorwort, könne dann doch ein utopisches Moment der Freiheit und der Freude liegen. Freude. Ist dies ein brauchbarer Begriff für die Kunst? Wenn man ihn, wie Anders, nach Gilles Deleuze definiert, even­tuell schon. Am Beispiel Nietzsches beschrieb dieser, wie dessen „kriti­ sche und zerstörerische Macht“ auch einer Bejahung entspringen könne, einer Freude, „einem Anspruch des Lebens gegen diejeni­ gen, die es verstümmeln und martern“. Damit wäre man doch wieder bei Müller gelandet und seiner Vorstellung von einem Thea­ter als Ort der Erprobung von Negation.

Verfertigung des Spiels beim Spiel Lily Sykes’ „Orlando“ ist eine Probe durch und durch. Die Ge­ schichte einer Selbstvergewisserung bei gleichzeitiger Selbstauf­ lösung. Der Roman erzählt eine gänzlich andere Biografie als jene, die auch Virginia Woolfs Vater zu schreiben pflegte, „von Tat zu Tat, von Ruhm zu Ruhm, von Amt zu Amt“. Das waren, zu Woolfs Zeiten, die Kapitalwerte des erfolgreichen Mannes. Und heute? Lily Sykes beantwortet diese Frage nicht. Ihre Inszenierung ist nicht demonstrativ feministisch, sondern erkundet den Eigensinn eines Menschen, der gleichzeitig männlich wie weiblich ist. ­Corinna Harfouch, die als Gast in Hannover spielt, beherrscht dieses Sowohl-als-auch virtuos. Luzide, durchlässig, mitunter mit feiner ironischer Distanz erschafft sie Woolfs wundersames Wesen, des­ sen Widerständigkeit im lustvollen Erkunden seiner vielen „Ich­ schichten“ liegt. Dabei stehen ihr nicht viel mehr als eine leere, nur zeitweise von rückwärtigen Scheinwerfern erhellte Bühne zur

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Verfügung sowie ein kongenialer Partner, der alle anderen Rollen spielt. Oscar Olivo ist, ob nun im Frack mit ausladendem Reifrock oder mit übergroßer Pelzmütze zu goldenem Tutu (Kostüme ­Jelena Miletić), das zweite Kraftzentrum dieser Inszenierung. Ein rätselhafter Puck, dessen leicht amerikanischer Akzent (Olivo wurde in New York geboren) der „Dünkelheit“, die hier herrscht, den Hauch einer Gesellschaftskritik verleiht. Gemeinsam entwickeln die beiden bei dieser allmählichen Verfertigung des Spiels beim Spiel eine Intensität, derer man sich nicht entziehen kann. So frei schwebend diese Inszenierung ist, so verblüffend ist, dass auch Virginia Woolf im Programmheft in den Dienst der Genderpolitik gestellt wird. Natürlich dachte die 1882 in London geborene Schriftstellerin über die miserable Stellung der Frau im Kunstbetrieb nach. Doch lässt sich wirklich von einem weiblichen Schreiben sprechen? Woolf selbst äußerte sich in ihrem Essay „Ein eigenes Zimmer“ dazu abschlägig. Es sei tödlich für all diejeni­ gen, die schreiben, an ihr Geschlecht zu denken. Alles, was mit dieser bewussten Einseitigkeit geschrieben werde, sei zum Tode verurteilt. Bevor der Schöpfungsakt vollbracht werden könne, müsse im Geiste vielmehr eine Zusammenarbeit zwischen Frau und Mann stattfinden. Oder, um es mit Marina Abramović zu sagen: Kunst kennt kein Geschlecht. Diese Freiheit, so Sonja Anders, müsse sich ein Theater aber erst einmal erarbeiten. Nur mit diesem Ensemble und diesen Diskursen, sagt sie, sei es am Ende möglich, etwa bei Besetzungsfragen mit Gender und Race zu spielen. Letzt­ lich gehe es um Teilhabe. Bis dahin müsse sich das Theater eben selbst befragen, wie in Friederike Hellers Inszenierung von Ella Hicksons „The Writer“. In schnellen Klipp-klapp-Dialogen verhandeln hier ein ­Regisseur (Philippe Goos, später Hajo Tuschy) und eine Autorin (Ruby Commey, später Caroline Junghanns) Themen wie Männ­ lichkeit auf der Bühne, Sinn und Unsinn von Vergewaltigungs­ szenen, Machtstrukturen im Theater. Das Stück ironisiert dabei vieles, was vom Betrieb heute gefordert wird: ein achtsames Mit­ einander, Sensibilität für Diskriminierungserfahrungen und so weiter. Durchaus gekonnt umspielt Hickson dabei die Diskrepanz zwischen reinem Diskurs-Label und den tatsächlichen Schmerz­ punkten der Debatte. Die Krux dieses im Mittelteil leider sehr langatmigen Stücks liegt nämlich darin, dass auch Macht eben nicht geschlechtsspezifisch ist. Am Ende ist es die Autorin, die ihre schwarze Freundin unterdrückt. Im Hintergrund, leider aber nur da, zeichnet sich eine weitere wichtige Ebene ab: die Frage nach dem Zusammenhang von Ideal und ökonomischer Verfasst­ heit einer Gesellschaft. Die Ideale der modernen Demokratie, schrieb Pankaj Mishra 2017 in der NZZ, seien nie populärer ge­ wesen als jetzt. Aber im Rahmen der nachgerade grotesken sozia­ len Ungleichheiten, die der globale Kapitalismus mit sich bringe, seien sie schwerer zu verwirklichen denn je. Auch diese Spur zu verfolgen, selbst wenn es schmerzt, ist für ein Theater wie das Schauspiel Hannover sicher hochinteressant. Denn eine Gesell­ schaft, erinnert Dirk Baecker an Niklas Luhmann, sei als System eben erst dann vollständig, wenn sie in der Lage sei, sich selbst auch zu verneinen, wobei ein Nein noch immer ein Ja zur Kom­ munikation enthalte. Erst so könne uns die Kunst individuell und in Interaktion die Luft und die Lust verschaffen, noch einmal ­anders anzusetzen. //


auftritt

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Buchverlag Neuerscheinungen

Dem Leben der Puppen, wenn ihre Bühnenzeit vorbei ist, geht das berühmte Objekttheaterduo Gyula Molnár und Francesca Bettini mit „Bin nicht im Orkus“ nach. 2009 entwickelten die Künstler das Theater­ stück „Kasperls Wurzeln“. In Zusammenarbeit mit dem Münchner Stadtmuseum wurde sein Entstehungs­prozess in einer Ausstellung räumlich abgebildet. Mit der letzten Vorstellung des Theaterstücks fand das Figurenensemble seinen Weg von der theatra­len in die museale und nun in die Welt der Bücher, in einen bilderreichen Collagen-Comic. Francesca Bettini und Gyula Molnár Bin nicht im Orkus. Eine kurze Collage aus einem zerschnittenen Textbuch und sechs abgespielten Figuren Hg. von Sammlung Puppentheater/Schaustellerei des Münchner Stadtmuseums

Die Bildsprache Volker Pfüllers ist die Sprache des Theaters: in seiner Vielfalt und in seiner Expressivität. Er ist anerkannt als Grafiker, Plakatkünstler, Buchgestalter, Schriftsteller – und nicht zuletzt als Bühnen- und Kostümbildner. Seit über fünfzig Jahren entwirft er unverwechselbare Ausstattungen, meist sowohl Bühnenals auch Kostümbild. Legendär war seine Zusammenarbeit mit Alexander Lang am Deutschen Theater im Berlin der achtziger Jahre. „Bilderlust“ dokumentiert im großen Format die Vielseitigkeit seines Schaffens.

Volker Pfüller. Bilderlust Herausgegeben von Stephan Dörschel

Hardcover mit 40 Seiten ISBN 978­-3­-95749­-264­-7 EUR 10,00 (print) / 8,99 (digital)

Paperback mit 208 Seiten ISBN 978-3-95749-234-0 EUR 25,00 (print) / 19,99 (digital)

Die Theatermusik ist ein oft überhörtes Phänomen, obwohl sie gerade im Zuge der Digitalisierung zu einem kreativen Motor für die Spielformen und Dramaturgien der Theaterlandschaft avanciert ist. David Roesner gibt einen Überblick über Praxis und Ästhetik der heutigen Theatermusik und lässt in knapp zwanzig Interviews die Künstlerinnen und Künstler selbst zu Wort kommen. So entsteht ein umfassendes und vielschichtiges Bild dieser elementaren Ausdrucksebene des Theaters und des damit verbundenen Berufsbildes.

Mark Lammert, bekannt als Maler, Zeichner, Grafiker, dann auch als Schöpfer unverwechselbarer Bühnenräume, legt hier erstmals seine gesammelten Schriften zum Theater vor. Ähnlich wie in seinen Bühnenarbeiten entwirft er in seinen Texten komplexe Denk- und Assoziationsräume, in denen er in der literarischen Form des zitatreichen Fragments grundsätzliche Fragen künstlerischer Entwicklung von Raum, Farbe und Licht in Theater und Film erörtert.

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Mark Lammert Rot Gelb Blau Texte zum Theater Taschenbuch mit 120 Seiten ISBN 978-3-95749-161-9 EUR 15,00 (print) / 11,99 (digital) Limitierte Vorzugsausgabe mit Original-Druck von Mark Lammert EUR 40,00 (nur ab Verlag)

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Hamlets Schlachthaus Wie das Teatr Polski in Poznań dem PiS-regierten Polen politisch wie ästhetisch hochspannendes Theater entgegensetzt von Thomas Irmer

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ie polnischen Parlamentswahlen im Oktober haben an den Verhältnissen wenig geändert. Die nationalkonservative PiS ging sogar gestärkt aus ihnen hervor, und der in ihrem Sinn gestaltete Umbau der Gesellschaft wird fortgesetzt. Was auch heißt, dass die unselige Spaltung des Landes in der Kultur bestehen bleibt. ­Immerhin sind einige größere Städte nämlich nicht in der Hand der Nationalkonservativen, sondern werden von der liberalen Oppo­ sition Bürgerplattform (PO) regiert. Die Theaterlandschaft gliedert sich daher in einen Teil, wo die PiS Intendanten eingesetzt hat, die ihrer ­Auffassung von nationaler Kunst und polnischer Geschichte er­geben sind, und in einen anderen, wo das seit der Jahrtausend­ wende erneuerte und zumeist politisch wache Theater sich wei­ter­ entwickeln kann (siehe Polen-Schwerpunkt in TdZ 10/17). Die Stadt Poznań in Westpolen ist dabei ein ganz besonderer Fall. Mit dem Malta-Festival ist die Stadt seit 1991 Bühne für inter­ nationales Theater. Für das jährlich im Juni stattfindende Groß­ ereignis, ursprünglich für Straßentheater und experimentelle ­Formen gegründet, beruft die Festivalleitung renommierte Thea­ terleute wie Romeo Castellucci als Kuratoren und lädt auch schon mal die Gesamtkunst­musiker Kraftwerk zum Konzert ein, die

sonst gerne in den edelsten Museen der Welt auftreten. Unter den Theatern der Stadt ragte stets das Teatr Polski heraus, das die an­ gesprochene Theater­erneuerung vor zwanzig Jahren unter den Intendanten Paweł Łysak und Paweł Wodziński mit der Öffnung hin zu neuer internationaler Dramatik mit anstieß. Seit 2015 ist dort Maciej Nowak ­Intendant, der zuvor im Jahr 2003 das Natio­ nale Theaterinstitut in Warschau gründete und bis 2013 leitete. Der stets extravagant gekleidete Nowak ist im Nebenberuf ein fernsehbekannter Gourmet und Restaurantkritiker. In der Welt des Theaters ist er so etwas wie der oberste Chefkoch – was das Ansehen seiner Ideen und Rezepte betrifft. Dass er in den neuen Zeiten des PiS-regierten Polens das relativ ­kleine Teatr Polski in Poznań übernahm, überrascht nur auf den ersten Blick. Denn das nur drei Zugstunden von Berlin entfernte Poznań gehört zu jenen liberal regierten Großstädten. Manche sprechen sogar von einer „free city“, und der Bürgermeister Jacek Jaśkowiak trägt den Spitz­ namen „Rainbow-Jacek“ wie einen E ­ hrentitel. Als vor zwei Jahren die Regierung in Warschau dem Malta-Festival die Zuwendungen streichen wollte, weil es Oliver Frljić zum Kurator ernannt hatte, dessen Klerus-kritische Inszenierung „Fluch“ von Stanisław Begehbares Raumtheater – Maja Kleczewska inszenierte in einem alten Schlachthof in Poznań „Hamlet“ als ein immersives Erlebnis. Foto Magda Hueckel


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Wyspiański zuvor in Warschau einen Skandal ausgelöst hatte, stellte sich Jaśkowiak demonstrativ vor das Festival und seine künstlerischen Entscheidungen. Den Rainbow-Titel erhielt er ­wegen der offenen Unterstützung der LGBT-Bewegung in Polen. Zum Ende der vergangenen Spielzeit gelang dem Teatr ­Polski der bislang größte Coup der Ära Nowak. Maja Kleczewska, Polens wichtigste Regisseurin der mittleren Generation, insze­ nierte „Hamlet“. In einem alten Schlachthof, als großes, zwischen Spielern und Musikern begehbares Raumtheater. Teilweise auch als Musiktheater mit schwerem Schlagwerk und Chor, mit Zeilen aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“ und choreografierten Parts. Und vor allem: in einer über weite Strecken nichtlinearen Dramaturgie, bei der man zwischen verschiedenen, parallel ge­ spielten Szenen wählen oder wechseln konnte, wobei die bei die­ ser opulenten Anlage für die Sprechszenen notwendige Akustik über Kopfhörer gewährleistet wurde. An einer Tafel, separat im Nebenraum vom großen Saal des Schlachthauses, konnte man zum Beispiel bei Gertrud und Claudius Platz nehmen, ihnen so nahe wie möglich kommen. Körperliche und dialogische Interak­ tion war dabei jedoch nicht vorgesehen. Nach knapp zwei Stunden wurde die Aufführung ohne Übergang wiederholt, sodass man nun alles noch einmal mit mehr Orientierung erleben und die noch nicht gesehenen Szenen nachholen konnte. Mit Teppichen bedeckte Podeste boten Sitzgelegenheiten und auch die Möglich­ keit, mal aus dem Stück auszusteigen und nur die Abläufe in ­diesem ungewöhnlichen Raum wahrzunehmen. In der Kostümierung der Figuren versammelten sich ver­ schiedene Epochen: Hamlet trug eine Uniformjacke wie aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, Claudius erschien als historische Shakespeare-Figur, und die Tänzer hatten wiederum einen asiati­ schen Touch. Diese eklektische Anmutung, ohnehin in der Ver­ mischung verschiedener Gattungen als Prinzip erkennbar, lässt keine einheitliche Interpretation zu – und genau das ist wohl auch Kleczewskas Absicht. Sie liefert eine beeindruckende Inszenierung von „Hamlet“ als Klassiker für ein immersives Theater, denn sie bleibt erstaunlich nah am Stück. Horatio sitzt hier als eine Art ­Stephen-Hawking-Double in einem Hightechrollstuhl, und lange ist man mit der Frage beschäftigt, was die Einbeziehung eines schwerstbehinderten Laien, der offenbar immer wieder mal auf die Hilfe seiner Schauspielerkollegen angewiesen ist, in dieser Perfor­ mance genau bedeuten soll. Beim Schlussapplaus erhebt sich Michał Sikorski aus seinem Rollstuhl zu einem strahlenden jungen Mann – und man staunt über die schauspielerische Bestleistung. Kleczewska hat ein Ensemble aus polnischen und ukrainischen Schauspielern zusammengestellt, ein weiterer Aspekt dieser poly­ morphen Inszenierung. Der stämmige Ukrainer Roman Lutskiy als Hamlet erinnert in keiner Minute an den philosophischen Zaude­ rer, er agiert stattdessen als forscher Spielmeister in diesen manch­ mal absichtsvoll unübersichtlichen Arrangements. Inzwischen ist diese Site-specific-Inszenierung auch schon gereist und wurde für das Shakespeare-Festival in Gdańsk in einer Kirche eingerichtet. Der polnisch-ukrainische Aspekt wurde zu Beginn dieser Spielzeit am Teatr Polski noch einmal ganz anders aufbereitet, beim einwöchigen Festival Bliscy Nieznajomi: Ukraina (Unbe­ kannte Verwandte). Dabei bildete ein selbst in Polen noch wenig aufgeklärtes Phänomen das Thema. Eine unbekannte Zahl von

teatr polski in poznan´

Ukrainern, man schätzt, bis zu einer Million, ist als illegale Gast­ arbeiter im Land unterwegs. Der Krieg im Donbass setzt eine nicht unbeträchtliche Zahl an Binnenflüchtlingen frei, und auch das Wohlstandsgefälle zum EU-Land Polen treibt Ukrainer vor­ zugsweise in schlecht bezahlte Service-Jobs, in ein Leben ohne Rechte und Versicherung. Selbst in bekannten Warschauer Nobel­ restaurants schuften sie im unsichtbaren Bereich für einen Hun­ gerlohn, weiß der Gourmet Maciej Nowak. Rund 100 000 Ukrai­ ner werden im prosperierenden Großraum um Poznań vermutet, manche schon legalisiert ansässig. Aber knapp die Hälfte der ­Polen hat über diese Zuzügler keine besonders positive Meinung, obwohl man durchaus auch eine Leidensgeschichte der Umsied­ lungen in kommunistischer Zeit miteinander teilt, obwohl auch Millionen polnische Arbeitsmigranten in Italien Obst pflücken und in Irland Bier auf den Tresen stellen.

Aufklärung über moderne Sklaverei – Bartosz Frąckowiaks und Natalia Sielewiczs Dokumentartheaterstück „Modern Slavery“ beim ukrainisch-polnischen Festival Bliscy Nieznajomi: Ukraina am Teatr Polski. Foto Monika Stolarska

Agata Siwiak, eine der fähigsten Kuratoren-Dramaturginnen des Landes, hat für die polnisch-ukrainische Woche das Dokumentar­ theaterstück „Modern Slavery“ von Bartosz Frąckowiak und Natalia Sielewicz aus Warschau eingeladen. Dort wurde es nicht an einem Theater herausgebracht, sondern von der Kunst-Biennale und dem Museum für moderne Kunst produziert. Das Stück basiert auf Inter­ view-Recherchen und eigens ermittelten Statistiken – und wirkt am Anfang wie eine Arbeit von Hans-Werner Kroesinger, dann aber ver­ fremdend spielerischer, was überrascht und irritiert. Frąckowiak hat das Ganze als Triptychon angelegt: Der erste Teil handelt von den Warschauer Restaurant-Sklaven; der zweite erzählt die Geschichte einer jungen Polin vom Lande, die auf einer süditalienischen Plan­ tage ein Sklavendasein führt und von einem Landsmann, der hier als Aufseher arbeitet, vergewaltigt wird, während der dritte Teil ein nachdenkliches Gegengewicht aus der Lampedusa-Welt liefert, die das zwiespältige Polen-Bild zu diesem Thema noch einmal kontert. Frąckowiak zitiert einen Experten, der ausgerechnet hat, dass seit der Antike ein Sklave nie billiger war als heute. Eine wichtige Arbeit und Beleg dafür, wie das Teatr Polski auf seine Art gegenwärtig ist. //

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Look Out

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Von diesen Künstler*innen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Die Einzigartige Die Schauspielerin Amina Merai riskierte den Sprung von Berlin nach Stuttgart – und findet das immer noch richtig

I

hre erste Rolle in Stuttgart, das war Wahida, eine New Yorker Studentin mit arabischen Wurzeln, die sich in ihren jüdischen Kommilitonen ­Eitan verknallt. Für die Schauspielerin Amina Merai war das eine Riesenherausforderung – aus dem Stand eine der Hauptfiguren in Wajdi Mouawads west-östlichem Familienepos „Vögel“ zu verkörpern, das obendrein den Stuttgarter Neubeginn des Intendanten Burkhard C. Kosminski 2018 markierte. Viel Text, lange Monologe, in mehreren Sprachen. Für Merai heikel zu spielen, denn Wahida – übersetzt „die Einzigartige“ – ist auch auf der Suche nach ihrer arabischen Identität; abgelehnt von Eitans starrsinnigem Vater, wird ihre Liebe am Ende zwischen den Fronten des Nahost­ konflikts zerrieben. Neben erfahrenen Profis wie dem israelischen Schauspieler Itay Tiran zeigt Amina Merai, wie diese Wahida ihre Zuversicht verliert, wie sie sich verletzt zurückzieht und ihrerseits mit Abgrenzung reagiert. Eine starke Entwicklungsstudie – und ein fesselndes Protokoll vom Scheitern einer Utopie. Für Amina Merai ist Stuttgart ein Glücksgriff. In Berlin geboren und aufgewachsen, Vater tunesisch, Mutter polnisch, erprobte sie sich schon während des Studiums an der Filmhochschule Babelsberg mehrgleisig, agierte für Film und TV, stand in „Skizze eines Sommers“ am Hans Otto Theater Potsdam oder in Thomas Bo Nilssons szenischer „Dekameron“-Installation am Berliner Ensemble auf der Bühne. Wieso dann Stuttgart? Schuld war das Casting für „Vögel“, bei dem eine Schauspielerin mit Arabisch-Kompetenz gesucht wurde. Fast hätte Amina Merai noch abgesagt, „sooo aufgeregt“ war sie. Dann ging sie doch hin – und bekam nicht nur die Rolle, sondern auch noch einen festen Platz im Ensemble. Nach Berlin also Stuttgart. „Ein kompletter Kulturschock“, sagt sie. Keine Spätis weit und breit, frühe Sperrstunden der Esslokale – und dann alleine wohnen, ohne „den goldenen

­ apa-Mama-Käfig“. Hilfreich war da P das Aufgehobensein in einem motivierten Ensemble. Und was sie hier schon alles gespielt hat! Besagte Wahida etwa, „die geglaubt hat, zu ­ wissen, wer sie ist“, und in deren ­Figur Amina Merai sehr viel von sich wiederfand. Oder die Gießkannenfrau in E. T. A. Hoffmanns Märchen „Der goldene Topf“, inszeniert vom 85-jährigen Regiezauberer Achim Freyer, der das Ensemble „als Ganzes einsetzt“, ohne Rollenfestlegungen, als großes Kollektiv, auch „als Bühnenbild und Textfläche“. Oder die Kranken­schwes­ ter Monika in Dürrenmatts Anstaltsgroteske „Die Physiker“, inszeniert von Cilli Drexel, die den Schauspielern nichts vorschreibt, „sondern es aus ihnen herausholt“. Kurz, die erste Stuttgarter Saison war für sie „das härteste, lehrreichste Jahr“ bis jetzt. Eigentlich wollte sie nach dem Abi in Berlin-Schöneberg Poli­zistin werden. Schaffte es im dritten Anlauf unter Tausenden sogar in die Endauswahl zum gehobenen Dienst – und wurde dann doch nicht genommen. Eine schmerzhafte Erfahrung. Dann kam die Zusage zum Studium, und ein Hang zum Sensi­ blen, Empathischen – der wurde ihr mehrfach bescheinigt. Nah am Wasser gebaut zudem, durchlässig. Spielen, so Merai, kann da auch eine „kanalisierende“ Wirkung haben. „Sich austoben“, andere Identitäten, andere Möglichkeiten erkunden. So hat sie nach einem Jahr Stuttgart noch immer das Gefühl: „Das ist das Richtige!“ Kleine Genugtuung am Rande: Was ihr im realen Leben verwehrt wurde, wird im Film jetzt wahr. In der ZDF-Serie „SOKO Stuttgart“ wird sie als Polizistin zu sehen sein. Und wer weiß, vielleicht als TV-Kommissarin in spe. // Amina Merai. Foto Devin Rüzgar

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Otto Paul Burkhardt

Am Schauspiel Stuttgart ist Amina Merai am 6., 7. und 19. Dezember in Wajdi Mouawads „Vögel“ am 2., 15., 16. und 18. Dezember in „Der goldene Topf“ sowie am 28. Dezember in „Die Physiker“ zu sehen.


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Look Out

Spielendes Denken Die Cottbusser Schauspielerin Sophie Bock will die Wirklichkeit begreifen – und auf ihre Widersprüche reagieren

ie ist eine ungewöhnliche Luise Miller. Ihre Mitwelt in Jo Fabians ­Inszenierung von „Kabale und Liebe“ am Staatstheater Cottbus scheint ihr völlig fremd. Das betrifft sowohl den ausladend kostümierten Adel mit seinen überkandidelten Gesten als auch ihre bürgerlichen Eltern in deren Mischung aus Unterwürfigkeit und ­ Ressentiment. Die von Sophie Bock gespielte Luise will weder die schalen Rituale und Lügen der einen noch der anderen Klasse teilen. Sie steht auch mit ihrer direkten und reduzierten Spielweise für ein neues Prinzip, eine Zeit, die sich erst noch bildet. Ihr ­Monolog greift weit voraus in die Zukunft, blickt über die Trümmer der feudalen Welt hinaus. Im Hintergrund wird eine rote Fahne geschwenkt. Eine erstaunliche Akzentuierung der Figur, weder naiv noch unschuldig, sondern sich aus den Händeln der Welt zurücknehmend, bis ihre Stunde gekommen ist. Und die liegt im Möglichen, nicht dem Seienden. Sophie Bock ist seit 2018 im Ensemble des Cottbusser Theaters. Die 1990 geborene und in Bamberg aufgewachsene Schauspielerin erzählt, wie es im Erstengagement mit vier Vorstellungen pro Woche ist. Und wie beglückend die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen ist, die Erfahrungen haben, die teils noch in das Theater der DDR zurückreichen. Davon kann sie viel lernen, sagt Bock. Schon seit ihrer Kindheit wollte sie Theater machen. Und sie hat früh begonnen, als Sechsjährige spielte sie in einem Kinderstück. Über die Theater-AG in der Schule führte ihr Weg über die HfMT Hamburg und die Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen an die Schauspielschule nach Zürich, wo sie ihren Abschluss machte. Die Master-Arbeit verfasste sie, als sie schon in Cottbus anfing. Sie beschäftigte sich mit den Erfahrungen der Menschen vor Ort, mit dem sozialistischen Staat, der Wende- und Nachwendezeit. Sie wünscht sich ein Theater, das auf die Welt reagiert, das keine Angst vor der Wirklichkeit hat.

Sophie Bock. Foto Rahel Metzner

S

Während des Studiums machte Sophie Bock eine Performance, in der sie sich mit dem Schweigen über die Nazi-Zeit innerhalb von Familien beschäftigte. Das Fortbestehen von Rassismus und Antisemitismus ist ein Thema, das sie auch darüber hinaus beschäftigt. In Zürich war sie in der Hausbesetzer­ szene unterwegs. Ihr politisches Interesse trägt sie auch in den Beruf. Die Begegnung mit Jo Fabian war für sie prägend. Auf der Probebühne hatte der Regisseur einen Spruch von Joseph Beuys anbringen lassen. „Wer nicht denken will, fliegt raus.“ Andere hätten sich vielleicht provoziert oder eingeschüchtert gezeigt. Nicht Sophie Bock. Für sie ist das eine Heraus­ forderung, eine Anregung. Der Schauspieler, ein denkendes Wesen? Unbedingt! Wer nur ausführt, hat den Beruf verfehlt. In Fabians „Ein Volksfeind“ spielt sie die Petra Stockmann, der sie eigens einen neuen Monolog geschrieben hat. Nun gibt es zum Ende der ausgesprochen kurzen Ära ­Fabian in Cottbus noch ein dreiteiliges Projekt mit dem Titel „Das unmögliche Theater“. Im ersten Teil führt Wiebke Rüter Regie, als Text wurde „Der große Marsch“ von Wolfram Lotz verwendet. Sophie Bock spielt den Regisseur, eine Seegurke, Angela Merkel und den Sozialrevolutionär Michail Bakunin. Es geht ums Sterben – und die Wahrhaftigkeit der Kunst. Kann sie den Tod überwinden? Vielleicht nur zum Schein. Aber darum geht es. Was sie als Schauspielerin machen kann? „Wider­ sprüche suchen, Horizonte erweitern“, sagt Sophie Bock. Auch bei sich selbst, wie sie sagt. Wer nicht denkt, begreift die Wirklichkeit nicht. Und wer nicht spielt, kommt über sie nicht hinaus. Sophie Bock verbindet beides. // Jakob Hayner „Das unmögliche Theater: Der große Marsch“ mit Sophie Bock hat am 7. Dezember am Staatstheater Cottbus Premiere und wird wieder am 15. und 18. Dezember gezeigt. „Kabale und Liebe“ läuft am 10. und 19. Dezember, „Ein Volksfeind“ am 3. und 14. Dezember.

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Auftritt Bregenz

„COLD SONGS: ROM“: „Coriolanus“ von William Shakespeare, „Der ideale Staat in mir“ (UA) von

Bamberg „Der Reichskanzler von Atlantis“ (UA) von Björn SC Deigner  Berlin „Germania“ (UA) von Claudia Bauer nach Heiner Müller  Bruchsal „Der Illegale“ (UA) von Günther Weisenborn und Konstantin Wecker  Greifswald „Hamlet“ von William Shakespeare und „Die Hamlet­ maschine“ von Heiner Müller  Heilbronn „Germania 3. Gespenster am Toten Mann“ von Heiner Müller in einer Fassung von Axel Vornam und Mirjam Meuser  Hof „Besucher“ von Botho Strauß  Karlsruhe „Passion – Sehnsucht der Frauen“ (UA) von Ingmar Bergman in einer Fassung von Anna Bergmann  Kiel „Amsterdam“ von Maya Arad Yasur Mülheim „Der Untergang der Titanic” von Hans Magnus Enzensberger Bettina Erasmy und „Julius Caesar“ von William Shakespeare


auftritt

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BREGENZ Demokratie und Demagogie VORARLBERGER LANDESTHEATER ­BREGENZ: „COLD SONGS: ROM“ „Coriolanus“ von William Shakespeare Regie Catharina May Bühne Catharina May und Wicke Naujoks Kostüme Wicke Naujoks „Der ideale Staat in mir“ (UA) von Bettina Erasmy Regie Agnes Kitzler Ausstattung Marina Deronja

In Catharina Mays „Coriolanus“ und Johan-

das ihm den Lorbeerkranz verwehrte. Sein

nes Leppers „Julius Caesar“ bleibt die Bühne

Untergang ist unvermeidlich.

weitgehend leer. Sie ist in beiden Insze­

Mit Shakespeares „Julius Caesar“ wan-

nierungen ein Herrschaftsraum für Egoma-

dert der Blick in die Endzeit Roms als Repu-

nen. Wozu ein prächtiges Bühnenbild, wenn

blik. Johannes Lepper entlarvt die Tyrannen-

der Narzissmus von Cäsaren Aus­stattung ge-

mörder in seiner Inszenierung von Anfang an.

nug ist? Die Kargheit der ungeschminkten

Cassius (Felix Defèr), Brutus (Tobias Krüger)

Kulisse ist jederzeit einsehbar. Kein Vorhang

und Casca (Luzian Hirzel) tragen weiße An­

trennt den Zuschauerraum vom Proszenium.

züge und sind doch nicht unbefleckt. Sie ver-

Erst wenn es darum geht, Entscheidungen zu

fügen sicher über das notwendige Vokabular,

legitimieren, die häufig anderweitig gefallen

um den Mord an Caesar als strahlende Ret-

sind, treten die politischen Akteure an die

tungstat des Gemeinwohls überhöhen und

Rampe und buhlen um Zustimmung. Bregenz

verkaufen zu können. Anders als Coriolanus

dechiffriert ein theatrales Grundmoment von

sind sie Profis im Umgang mit der Öffentlich-

Politik. Partizipation wird gelenkt durch die

keit. Selbst wenn sie blutige Wahrheiten aus-

Schauspielkunst der Darsteller, durch ihre

sprechen, bedienen sie den leichten Ton. Auf

Fähigkeit, das Publikum – also das Volk –

kluge Weise integriert die Inszenierung Saint-

­rhetorisch zu beeindrucken.

Justs Plädoyer für die Notwendigkeit eines

Shakespeares Coriolanus ist ein Aristo-

Blutgerichtes als Fremdtext aus Büchners

krat reinsten Wassers. Das Volk verachtet er.

„Dantons Tod“. Die Tyrannenmörder perfor-

Seine Apotheose als unbezwingbarer Kriegs-

men diese Rede ans Volk als unterhaltsames

gott gerät in Catharina Mays Inszenierung ver-

Volkslied, marktgerecht und scheinbar völlig

gleichsweise lang. Doch dann nimmt das

harmlos mit „schalalala“ unterlegt. Der Sub-

­Drama des Politischen rasant Fahrt auf. Nach

text? Alles nicht so böse gemeint! Erst die

gewonnener Schlacht gegen die Volsker eröff-

Schlussbilder der Inszenierung – Video­

net sich Coriolanus die Chance, Konsul zu

einspielungen moderner Cäsaren und ihrer

Das Vorarlberger Landestheater stellt die

werden. Im republikanischen Rom bedarf das

Unterdrückung von Protest – schlagen die

­Demokratie ins Zentrum seiner Spielzeiteröff-

der plebiszitären Zustimmung. Jürgen Sarkiss

Brücke zur Härte, mit der heutige Herrscher

nung; Intendantin Stephanie Gräve verführt

verkörpert mit jeder Faser die Abscheu des

Demonstrationen niederknüppeln lassen. Das

ihr Publikum zum politischen Dauerdiskurs:

Kriegers, sich ausgerechnet von den Plebe-

Vorarlberger Landestheater rüttelt gleichsam

Zwei Römerdramen Shakespeares umrahmen

jern ermächtigen zu lassen. Doch der Glanz

sein Publikum auf: Wacht auf, werdet miss-

eine Uraufführung. Bettina Erasmy hat einen

des Lorbeerkranzes verleitet ihn dazu, sich

trauisch und selbst aktiver Teil im Theater

dystopischen Monolog geschrieben. „Der ideale

aufs politische Parkett zu begeben. Da steht

des Politischen. //

Staat in mir“ entwirft eine Art „Matrix“-Welt.

er dann, an der Rampe, und blickt unruhig,

Differenzen? Gibt es nicht mehr. Was einmal

auch diabolisch ins Publikum: „Ihre Stimme

Staat war, lässt sich inzwischen computer­

hab ich?“ Ein Wolf im Schafspelz, der durch

generiert regeln. Es dominiert die Optimie-

künstliche Pausen ergänzt, was er nicht

rungs-App oder es regiert die Cloud. Macht

denkt: „So dumm ist das Volk – niiiicht!“ Sar-

bleibt an ­Datenströme gekoppelt. ­David Kopp

kiss’ Larvenspiel ist deshalb so grandios, weil

in der Rolle eines Influencers gestaltet so

er es versteht, Coriolanus’ Verachtung gegen-

Welt. ­Dialog oder gar demokratische Formen

über dem Volk noch im Moment des Ein-

der Kontrolle? Sind im aseptischen, klinisch

schleimens jederzeit lesbar zu gestalten. Zum

weißen Bühnenraum nicht vorge­ sehen. Das

Berufspolitiker taugt er nicht. Dieser Typus

ist weit weg von Shakespeares ­ Fokus auf

wird in beiden Shakespeare-Inszenierungen

Macht und Öffentlichkeit. Und doch gibt es

negativ gezeichnet. Die Volkstribunen in Mays

eine ­inhaltliche Klammer. Alle drei Werke des

„Coriolanus“ erscheinen schon vom Kostüm

Mammutabends „Cold Songs: Rom“ kreisen

her als aufgeblasene Bürger. Es fällt ihnen

um das Thema der Beeinflussung von Mas-

leicht, gegen Coriolanus zu intrigieren. Um

sen. Sie stellen damit die Machtfrage, und

die Folgen ihrer Handlung kümmern sie sich

Mit vorgestrecktem Bauch unterm klein

das auf kritische Weise.

nicht weiter. Den Staat rettet in Shakespeares

gemusterten Morgenmantel überblickt der ­

Drama am Ende eine Frau, nämlich Coriola-

„Reichskanzler“ sein hausfassadengroßes

nus’ Mutter. Zoe Hutmacher verfügt souverän

„Reich“, das mit rot-weißen Tatort-Absperr-

über die ganze Palette politischer Beein­

bändern zum Publikum hin gesichert ist. Auch

flussungsmechanismen. Ihrer emotionalen

wenn sein kurzsichtiger Blick angeblich „von

Erpressung unterwirft sich der Sohn. Er been-

der Maas bis an die Memel“ reicht, kann das

det seinen Rachefeldzug gegen das System,

Areal im Studio des Bamberger ETA Hoffmann

„Julius Caesar“ von William Shakespeare Regie und Bühne Johannes Lepper Kostüme Sabine Wegmann

Ein Herrschaftsraum für Egomanen – Shakes­ peares „Julius Caesar“ in der Regie von Johannes Lepper (hier mit Felix Defèr und Rahel Jankowski). Foto Anja Koehler / andereart.de

Bodo Blitz

BAMBERG Völkischer Pantoffelheld ETA HOFFMANN THEATER BAMBERG: „Der Reichskanzler von Atlantis“ (UA) von Björn SC Deigner Regie Brit Bartkowiak Ausstattung Nikolaus Frinke

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auftritt

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Hier bin ich Schwachkopf, hier darf ich‘s sein – Oliver Niemeier als Kanzler Fürst Burkhard in „Der Reichskanzler von Atlantis“ von Björn SC Deigner. Foto Martin Kaufhold

Meinung einiger rechter Spinner als Helmut Kohl und „Vater von Angela Merkel“ die ­„jüdische Weltverschwörung“ vorangetrieben haben soll. Irgendwann geschieht ein blutiger Mord, weil vor allem Frau Burkhard dann doch etwas gegen Nazis hat. All dies und ­vieles mehr hat szenisch und inhaltlich das gleiche Gewicht. Und so hat man am Ende eher das Gefühl, als hätte man eineinviertel Stunden lang im szenisch bebilderten Zettelkasten eines Sammlers rechts-esoterischer Kuriositäten gewühlt, als dass sich hier wirklich etwas verdichtet hätte oder gar wehtäte über den Kopfschütteleffekt hinaus. // Theaters von Kanzler Fürst Burkhard mit

von Sebottendorfs Geist stürzt sie sich vorbe-

­Tasse in der Hand und Fellschluppen an den

haltlos in den ganzen grenzdebilen Ideologie-

Füßen locker abgeschritten werden, während

Schmarrn, den die Realität uns derzeit zumu-

seine Frau Jutta sich in der unsichtbaren Küche

tet. Das Stück schichtet die verschiedenen

um hart werdende Brötchenhälften sorgt.

Ebenen dabei jedoch eher verwirrend aufein-

Sabine Leucht

BERLIN

Mit „Der Reichskanzler von Atlantis“

ander. Man muss gut zuhören und sich mög-

hat Björn SC Deigner Kleinbürger-Engstirnig-

lichst schon in New-Age-Foren eingelesen

keit mit rassistischen und Großmannssucht-

haben, um zwischen allerlei Namedropping

Fantasien verschnitten, wofür dem 1983

und zunehmend absurderen Aktionen auf der

­geborenen Autor ja leider allerlei Realitäts­

Bühne nicht den Faden zu verlieren. Dass das

partikel zur Verfügung stehen: Denn das sein

Ganze selbst dann nicht zu einer erkenntnis-

Stück einrahmende völkische Eliten- und

fördernden Zuspitzung findet und auch nicht

­Erlösungsgeschwafel eines Rudolf von Sebot-

wirklich scharf und böse wird, liegt etwa zu

tendorf, der um 1918 die Thule-Gesellschaft

gleichen Teilen am Stück und an der Insze-

gründete, findet heute ja vielstimmigen Wider­

nierung – wenngleich es auch viel Gelunge-

hall. Das braune Weltanschauungs­ mosaik

nes gibt. Regisseurin Brit Bartkowiak lässt

von geschätzt um die 19 000 Reichsbürgern,

ihre Schauspieler mit Riesenmasken, Garten-

die die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik

zwergarmee und Karacho das Mystische wie

­leugnen, okkulte Riten und Verschwörungs-

das Groteske jeder Situation ausspielen.

Ein Abend, so düster wie sein Gegenstand.

fantasien, offen antisemitische Reden und

­Nikolaus Frinkes Bühne mischt dabei schön

Drei Stunden, und gefühlt hat man kaum

­Taten – all das hat Deigner in ein deutsches

mit: Die vermeintliche Haus- beziehungsweise

Licht gesehen, dafür allerlei Schrecklichkei-

Biedermeierheim gepackt. Hier kann der

Reichsfassade entpuppt sich nach und nach

ten und Gruselgestalten. An der Volksbühne

Hausherr die arische „Vril“-Kraft aus den

als kommodenartiges Multifunktionsmöbel,

Berlin hat Claudia Bauer „Germania“ insze-

Haaren der Hausfrau aufnehmen, die diese

aus dessen Schubladen Schreibtische und

niert, nach Heiner Müllers „Germania Tod in

ihrerseits direkt aus dem Kosmos bezieht.

Betten herausfahren oder Akten gereicht wer-

Berlin“ und „Germania 3. Gespenster am To-

Dann hat er wieder genug Energie, um seinem

den beziehungsweise in regelrechten Akten-

ten Mann“. Dessen Stücke über die Mythen

„Reichsinnenminister“ erfundene Napoleon-

sturzbächen herausfallen. Und, ja: Bildlich

der Deutschen sind zwischen 1956 und 1995

Zitate zu diktieren oder Botschaften eines

passt das Ergebnis! Es gibt ein paar herrlich

entstanden, also in einer Zeit, in der sich die

Geistes zu empfangen, den das Ehepaar sich

schräge Theatermomente, aber eben auch viel

deutsche Frage wohltuenderweise einmal

statt eines Kindes hält.

komödienhaftes Gedöns, in dem fast unter-

nicht als Eroberung oder Vernichtung benach-

geht, dass einer auf der Bühne „Judensau“

barter Länder stellte. Das Blatt hat sich ­freilich

sagt und fürs Verbrennen plädiert.

wieder gewendet, aus den Ruinen erstehen

„Wir haben nur einen von Sebottendorf“, sagt Katharina Brenner als Jutta ein-

Deutsches Nervensägenmassaker VOLKSBÜHNE: „Germania“ (UA) von Claudia Bauer nach Heiner Müller Regie Claudia Bauer Bühne Andreas Auerbach Kostüme Patricia Talacko

mal sehr ernst in der Bamberger Urauffüh-

Die Bankangestellte, die die Burkhards

gar alte Stadtschlösser auf. Müller immerhin

rung des Stücks, als es um die Kinderfrage

daran erinnert, dass sie über ihre Verhältnisse

wusste noch um die Lehre, dass auch in der

geht. Gemeinsam mit Oliver Niemeier als

leben, outet sich wild grimassierend als

Weltgeschichte Verbrechen nicht ohne Folgen

Reichskanzler und Paul Maximilian Pira als

­„Henoch Kohn“, der – zur Erinnerung – nach

bleiben können. Dass im Westen Auschwitz


auftritt

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Vor der Geschichte kann man nicht fliehen – vor grobem Klamauk leider auch nicht: Claudia Bauers „Germania“ nach Heiner Müller an der Volksbühne Berlin.

und Vernichtungskrieg mit einem Wirtschafts-

Sound zu dem Geschehen einspielt, welches

wunder belohnt wurden, kommentierte er mit

man zwischen dunkler Revue, schwarzem

beißendem Spott. Und er wusste auch, dass

Karneval und ­ historischem Gruselkabinett

man vor der Geschichte nicht einfach fliehen

verorten kann. Gesetzt wird auf Klamauk und

kann. Um ihren fatalen Wiederholungs­

aggressives ­ badacting, sei es bei Friedrich

zwängen zu entkommen, muss man in sie

dem Großen und dem Müller von Sanssouci

eingreifen. Humanismus war und ist in

im Tutu, sei es bei den Nibelungen, die auf

Deutschland die Ausnahme, eine Sache von

einer quietschenden Draisine die Bühne über-

manche weniger gut. Neben den Arbeitern

Abtrünnigen, Verfolgten und Ermordeten.

queren, bevor Kriemhild sich als sabbernde

der Stalinallee beeindrucken eine mit Toten­

Hitler hingegen war kein Ausrutscher deut-

Greisin hereinschleppt, ganz zu schweigen

kopfpuppen gespielte Stalingrad-Episode und

scher Geschichte, sondern ihre Konsequenz.

von dem Contergan-Wolf, den Goebbels in

eine über einen kroatischen Waffen-SS-

Deswegen wird bei Müller – und bei Bauer –

Anwesenheit Hitlers gebiert, symbolisch für

Mann, der dann als sogenannter Gastarbeiter

von

und

die Missgeburt BRD. Dagegen gesetzt sind

wieder auftritt.

­Arminius über die preußischen Könige bis

Szenen von der missglückten Revolution

Doch der Abend weiß nicht recht, wel-

Goebbels und Hitler allerlei höheres Staats-

1918 und dem Aufstand 1953 in der DDR,

che Haltung er zu dem Gezeigten einnehmen

personal auf die Bühne zitiert.

der selbst noch die Züge der faschistischen

soll. Deswegen fehlt neben dem Zusammen-

den

Germanenführern

Flavus

Foto Julian Röder

Auf der von Andreas Auerbach gestal-

Revolte trug. Das aber hat immerhin eine tra-

hang vor allem der neuralgische Punkt, der

teten Drehbühne befindet sich eine hoch auf-

gische Qualität: der Aufbruch ins Neue, der

das Stück für ein heutiges Publikum inte­

ragende Fassade im abweisenden Beton-Look

noch im Alten verhaftet ist. Die DDR war, wie

ressant machen würde – da man sich dem

mit Fensterlöchern, kalt und schmucklos,

Peter Hacks einmal schrieb, der saure Apfel

Tragischen in der Geschichte und im Theater

irgendwo ­

und

im ­Gegensatz zum faulen, der BRD. Die Sze-

entronnen wähnt. So planschen Hitler und

Plattenbau. Sie dient als Projektionsfläche ­

nen werden durch eingeblendete Zwischen­

Stalin scheißeverschmiert in der Badewanne.

für die zahlreichen Live-Videosequenzen. Da-

titel abgegrenzt. Für Zusammenhang sorgt

Krass? Nun ja. Und sonst? Ohne Haltung

neben befindet sich ein Orchester, das den

das nur begrenzt. Manche Szene gelingt besser,

kippt alles ins Parodistische. Das ist bei

zwischen

Bunker,

Fabrik

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auftritt

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Müller durchaus angelegt, in dem Grotesken, der Farce, dem Grand Guignol. Doch die parodistische Spielweise geht weiter. Sie ist gewissermaßen eine Metasprache, die vor allem zu verstehen gibt, dass das Vorgetragene keinesfalls schauspielerisch gedeckt werden kann. So wird geschrien, geplärrt, gequäkt, mit den Armen gewedelt, im Kreis gerannt oder auf den Boden gehauen, auf die immer selbe Weise mit weit aufgerissenen Augen in die Kamera geblickt, der Text abgehackt hervorgestoßen und in den hübschalbernen Kostümen von Patricia Talacko ­umhergehüpft; Hauptsache, übertrieben und irgendwie erkennbar unter Niveau, um diese Distanzierung zu markieren. Doch es stellt sich keine Spannung ein. Alles wird irgendwie gleich, nichts ist betont oder aus sich heraus erkundet. „Der Mund entsteht mit dem Schrei“, heißt es zum Schluss. Wahr ist aber auch die Gegenthese: Er ist nicht nur dafür da. // Jakob Hayner

BRUCHSAL Wer Blut säuft, muss bezahlen BADISCHE LANDESBÜHNE BRUCHSAL: „Der Illegale“ (UA) von Günther Weisenborn und Konstantin Wecker Regie Carsten Ramm Bühne Tilo Schwarz Kostüme Kerstin Oelker

1946 am Hebbel-Theater in Berlin, welches er gemeinsam mit Karlheinz Martin neu gründet hatte, uraufgeführt wurde.

Aus dem engen Korsett des Agitprop befreit – „Der Illegale“ von Günther Weisenborn und Konstantin Wecker (hier mit Colin Hausberg, René Laier und Tim Tegtmeier). Foto Sonja Ramm

Rechtsradikale Tendenzen spalten die Gesell-

Jahrelang hat Ramm für sein Projekt in

schaft auch in Deutschland. Das zeigten

Archiven recherchiert. Um den teilweise sper-

nicht allein die jüngsten Landtagswahlen. Ge-

rigen Texten, denen der Agitprop-Ton der

rade in sozialen Brennpunkten schließen sich

1920er Jahre anhaftet, Leben einzuhauchen,

junge Menschen rechtsradikalen Gruppierun-

hat er den Liedermacher und Komponisten

zum Klingen. „Wir sind die Illegalen, hört

gen an, die Hitler und das „Dritte Reich“

Konstantin Wecker gewonnen. Bissig wie in

Gottes Mühlen mahlen! Wer Blut säuft, muss

blind verherrlichen. In dieser Zeit lesen sich

seiner Glanzzeit in den siebziger und achtzi-

bezahlen! Wir sind die Illegalen …“ Der

die Texte von Günther Weisenborn beklem-

ger Jahren lädt der Musiker selbst die blei-

­Refrain des Liedes, das sich wie ein Leitfaden

mend aktuell. Carsten Ramm, Intendant der

schweren Texte Weisenborns mit Blues und

durch den Abend zieht, klingt plakativ.

Badischen Landesbühne Bruchsal, bringt den

Rock auf. Der Kampf gegen Faschismus prägt

­Wecker, der A ­ ltmeister grantiger Gesellschafts-

Mahner gegen Faschismus und Krieg auf die

auch Weckers Lebenswerk. 1977 machte er

kritik, spielt zunächst mit dieser Monotonie

Bühne. Unveröffentlichte, aber auch bekannte

mit dem Lied über „Willy“, der von Neonazis

kämpferischer

Literatur sowie Songs des Widerstandskämp-

erschlagen wurde, bundesweit Furore.

Malikin und Oliver Taupp am Klavier peit­

Musik.

Cellist

Konstantin

fers hat er zu einer Collage unter dem Titel

Wie viel Zeitgemäßes in Weisenborns

schen den Refrain ein. Dann aber differenzie-

„Der Illegale“ verdichtet. Der Name erinnert

Songs aus der Widerstandsbewegung der vier-

ren die Musiker den Sound aus, schlagen

an Weisenborns Stück „Die Illegalen“, das

ziger Jahre steckt, bringt Wecker musikalisch

­rockige Töne an. Mit­reißend interpretieren die


auftritt

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Bruchsaler Schauspieler die Songs. Viele davon hat der lei­ denschaftliche Theatermann und zeitweilige Volks­­bühnendramaturg Weisenborn für Revuen geschrieben, die seit den zwanziger Jahren ein Massenpublikum anzogen. In ein Gefängnis aus Holzwänden hat

GREIFSWALD Kopfsprung in die blinde Praxis

Bühnenbildner Tilo Schwarz die Akteure gezwängt. Die Ausstattung ist mehr als spärlich. Am Anfang sind Fotos von Günther Weisenborns Haft – er war 1942 aufgrund seiner Unterstützung der Widerstandsgruppe Rote Kapelle verhaftet worden – auf die karge Sperrholzwand projiziert. Christian Weisenborn, der Sohn des Widerstandskämpfers, hat Ramm bei der Auswahl des Foto- und Videomaterials beraten. Später stehen die Angeklagten (Tim Tegtmeier, Colin Hausberg und

trägt. Tobias Bode (in Lars Werners „Weißer Raum“ der Neonazi Patrick) zeigt intellektuelle Schärfe bei gleichzeitig traumverlorener ­Naivität, in der sich Hamlet verirrt. Ein Gespensterseher, der vor sich selbst davonlaufen möchte und stattdessen zum Angstbeißer mutiert. Angriff als längst verlorenes Traumspiel

THEATER VORPOMMERN: „Hamlet“ von William Shakespeare Regie Reinhard Göber Bühne Johann Jörg Kostüme Kerstin Laube

für die Kulisse. Theater, auf dem Theater zele-

„Die Hamletmaschine“ von Heiner Müller Regie Annett Kruschke Ausstattung Indra Nauck

lets Augen ein Schänder der zur Hure mutier-

briert, nicht als Lehrstück, sondern als Vehikel gegen die eigene innere Leere, die ihn, den Verfolger, selbst verfolgt. Das ist sie, die „Mausefalle“, aber wer ist die Maus – Stiefvater und neuer König Claudius (Markus Voigt), in Hamten Mutter, Königin Gertrud (Claudia Lüften­ egger), oder Polonius (Mario Gremlich), der Vater von Ophelia (Friederike Serr)? Wohl eher er selbst, der von Gespenstern verfolgte Verfolger.

René Laier) im Scheinwerferlicht da, mit angstvollen Blicken und verzweifelten Gesten

Vorlauf in Sachen „Hamlet“ haben sie in

Göber aktualisiert den Habitus der

auf ihre Exekution wartend.

Greifswald durchaus: 1964 inszenierte hier

Spielenden geradezu grell, signalisiert damit,

Dass der Autor, der 1928 mit dem

Adolf Dresen das Stück mit Jürgen Holtz in der

dass

Anti­kriegsstück „U-Boot S 4“ an der Berliner

Hauptrolle. Nach wenigen Vorstellungen wurde

tagtäglich stattfinden und man dabei nicht

derartige

Macht-Wahn-Schaukämpfe

Volksbühne großen Erfolg hatte, vielen als

die Inszenierung abgesetzt, denn zu sehr hatte

mehr weiß, ob die Toten am Ende virtuell oder

schwerblütiger Zeitliterat bekannt ist, mag

Dresen den Gedanken forciert, dass die Zeit

real am Boden liegen. Besiegte sind sie alle-

seine Biografie erklären. Die Collage jeden-

der Politik eine andere sei als die der Kunst.

mal, der eigenen Hybris zum Opfer gefallen.

falls lotet auch diese Töne aus: Szenen aus

Da verläuft jener Riss, in dem Hamlet, der jun-

Aber die Geschichte ist trotz Handy und bun-

„U-Boot S 4“, in denen junge Soldaten den

ge Intellektuelle, vor der Macht stehend immer

ter Animation immer noch da und nicht weni-

Ersten Weltkrieg trotz der zehn Millionen

nur versinken kann. Enttäuschte Idealisten

ger grausam als zu den Zeiten Shakespeares.

­Toten auf den Schlachtfeldern blind verherr­

sind immer nur wieder neues Futter für die ge-

Verschoben, das zeigt die Inszenierung sehr

lichen, sprechen die Spieler im Stakkato.

fräßige Machtmaschine.

gut, hat sich etwas anderes: Die Macht ist in

Dazu trommeln sie auf Holzkisten. Evelyn

Der Anspruch hier am Theater Vorpom-

die anonymen Strukturen eingewandert, die

­Nagel ist treibende Kraft der Soldaten, die im

mern ist hoch, das Unternehmen gewagt.

hilfreichen Mordgesellen Rosencrantz und

Maschinentakt in den Kampf ziehen. In den

Shakespeares „Hamlet“ und Heiner Müllers

Guildenstern stehen als kafkaeske Figuren

leisen Passagen, die Wecker kammermusika-

„Hamletmaschine“ als Doppelpremiere, aller-

vor uns, jovial maskierte Liquidatoren, von

lisch untermalt, überzeugt Vivien Prahl.

dings ohne jene dramaturgische Verschrän-

wem auch immer geschickt. Göber über die

Die Kunst Weckers und Ramms liegt

kung, in der Müller im Wendewinter 1989/90

Aktualität des „Hamlet“: „Ich bin sicher

darin, dass sie Weisenborn aus dem engen

diese Inszenierung am Deutschen Theater in

nicht der Einzige, der den Eindruck hat, wir

stilistischen Korsett des Agitprop befreien.

Berlin herausbrachte. Der am Ende siegreiche

hätten seit einigen Jahren einen veränderten

Nüchterner Realismus ist nur die eine Facette

Fortinbras wechselte im Schatten der Realge-

Aggregatzustand der medieninduzierten Auf-

seines Werks. Wecker und Ramm fördern

schichte die Gestalt: von Stalin zur Deutschen

geregtheit erreicht. Die Heftigkeit und Giftig-

auch die Poesie zutage, die den Texten des

Bank. Ein Stück ernüchternde Prosa über die

keit der Invektiven in Europa, ja im ganzen

Literaten innewohnt. Langsam betritt der

Unspielbarkeit der Tragödie in einer Gegenwart,

Westen und, wie man so sagt, im Rest der

Schauspieler René Laier die Bühne. Seine

deren Banalität keinen Anfang und kein Ende

Welt hat zugenommen, und zwar in alle Rich-

Stimme ist gedämpft. Er erzählt von einer

zu kennen scheint: „Die Hähne sind geschlach-

tungen: links gegen rechts, der rechte Rand

blauen Eidechse, die den Schriftsteller mit

tet. Der Morgen findet nicht mehr statt.“

gegen den linksliberalen Mainstream, oben

kalten Augen anschaut. Dieser fragt sich

Johann Jörg hat dem „Hamlet“ im Gro-

gegen unten, Geschlecht gegen Geschlecht.“

selbstkritisch, ob sein eigener Horizont denn

ßen Haus in Greifswald eine bemerkenswerte

Man spielt die Übersetzung von Jürgen Gosch

größer sei als der des Reptils auf der Fenster-

Bühne gebaut: wie ein Schiffskiel mit Aus-

und Angela Schanalec, das ist gut, das trägt

bank. Nach dem Krieg kämpfte Weisenborn

blick auf die Brandung vor uns oder auf ein

den Abend. Der dennoch hinzugegebene ver-

gegen die atomare Aufrüstung und für den

mittels Meeresvideo animiertes Aquarium.

bale Füllstoff, Zeitgeist-Slang, dagegen stört,

Frieden auf der Welt. Auch der politische

Rechts und links öffnen sich Klappen: Die

hat etwas von billiger Ranschmeiße, die diese

Weitblick des Schriftstellers, der im National-

Bar zur Selbstbedienung hat immer geöffnet,

solide Inszenierung nicht nötig hat.

sozialismus nur knapp der Hinrichtung

selbst dann, wenn dies hier die Titanic sein

entging, schwingt in der beeindruckenden ­

sollte, mit Kurs auf den Meeresgrund.

Collage mit. // Elisabeth Maier

Die parallel zum „Hamlet“ entstandene „Hamletmaschine“ auf der Studiobühne im

Regisseur Reinhard Göber hat für seine

Rubenowsaal, die auch in der zweiten Vorstel-

Inszenierung einen Hamlet, der den Abend

lung fast ausverkauft ist (das spricht für die

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auftritt

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Zwei Ophelias, die der Fluss nicht behalten hat – Susanne Kreckel und Ursula Werner (Video) in Heiner Müllers „Hamletmaschine“ in der Regie von Annett Kruschke. Foto Vincent Leifer

sprechen? Die Politiker nehmen nun den Schauspielern ihre Rollen weg, eine andere Art von Schauspiel beginnt, wie Müller es ­voraussagt, eines, das im „Kopfsprung in die blinde Praxis“ mündet. Nein, einen Abschluss, gar einen runden, kann „Hamlet“ im Zusammenstoß mit „Hamletmaschine“ nicht finden. Dass es Annett Kruschke gar nicht erst versucht, spricht für ihre szenische Intelligenz, mit der sie Müller beim Wort nimmt, seinem Selbstkommentar: „Inszenierung ist, das verstehen die Kritiker auch darunter, dem Publikum eine Bedeutung aufzudrängen, das ist Inszenieneue Theaterbegeisterung, die das Theater Vor-

Was passiert, wenn man Müller eins zu eins

rung. Deswegen ist keine Inszenierung ei-

pommern in den letzten beiden Jahren ausgelöst

beim Wort nimmt. Eine Eulenspiegelei? Blo-

gentlich das Ziel. Die Bedeutung ist Sache

hat), verblüfft durch ihren unerwarteten Gestus.

ßes BLABLA? Am Anfang steht einer der bei-

des Publikums.“ So betrachtet ist das Experi-

Was ist das? Eine extreme Zuspitzung des Kom-

den Hamletdarsteller mit dem Rücken zum

ment „Hamlet“/„Hamletmaschine“ unbedingt

mentars bis zur Selbstaufhebung, eine befremd-

Publikum, im Hintergrund eine Animation:

gelungen. Die Worte rumoren fortgesetzt wo-

liche Müller-Parodie oder gar seine vorsätzliche

Familie bei Tisch. So geradezu privatim be-

anders, weiter unerlöst. //

Schändung? Man ist verwirrt und lässt sich doch

ginnt es mit „Familienalbum“: „Ich war Ham-

fast überwältigen von diesem unerwartet respekt-

let. Ich stand an der Küste und redete mit der

losen Spiel mit der „Hamlet­maschine“, als finde

Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen

diese zur bloßen Belustigung des Publikums auf

von Europa.“ Ein Rückblick auf einen großen

einem Rummelplatz statt.

Mann, den man auf den Boden des Alltags

Eine Harlekinade! Regisseurin Annett

zurückzuholen gedenkt, wann auch immer in-

Kruschke, Volksbühnen-trainiert, fürchtet sich

nerhalb des surrealen Traumstücks, das hier

nicht vor den Abgründen des Stoffes. Sie

stattfindet. Großartig die dritte Ophelia, die

verordnet ihren vier Schauspielern (zweimal

Frau, die sich hier wegen einem wie Hamlet

Ophelia, zweimal Hamlet) vor allem eins: Akti-

nicht länger im Fluss begraben lassen soll

on. Und so platzen Felix Meusel, Feline Zim-

(will), eingespielt per Video: Ursula Werner,

mermann, Susanne Kreckel und Ronny Winter

eine Wissende, wie jedes ihrer Worte, die zu-

als fröhlich-grausamer Zug herein, als gelte es,

gleich Müllers Worte sind, offenbart.

Gunnar Decker

HEILBRONN Die Toten sind unruhig THEATER HEILBRONN: „Germania 3. Gespenster am Toten Mann“ von Heiner Müller in einer Fassung von Axel Vornam und Mirjam Meuser Regie Axel Vornam Ausstattung Tom Musch

die Splatter-Version eines Klassikers aufzu­

Die Geschichte des in die Irre gehen-

führen, das Intellektuellendenkmal vom Sockel

den Helden Hamlet ist beim ersten Mal eine

zu holen. Das wirkt ein bisschen wie eine

Tragödie, beim zweiten ein Satyrspiel – und

Mischung aus „Alice im Wunderland“ und ­

was folgt dann? Eine postmoderne Zeitschlei-

„Kinder des Olymp“. Mit staunensrund aufge-

fe? Die Frage wird ausgesprochen, aber nicht

rissenen Augen und Mündern stehen sie wie

beantwortet. Mit seiner „Hamletmaschine“

Es ist die große, jedoch unvollendete Abrech-

böse Clowns vor dem Text, der ihnen offenbar in

stellte sich Heiner Müller 1977 bewusst auf

nung mit der Moderne, an der Heiner Müller bis

einer fremden Sprache geschrieben ist. Sie

beide Seiten der Front im Kalten Krieg. Sein

zu seinem Tod 1995 arbeitete: „Germania 3.

sprechen ihn nicht, sie spielen ihn. Werfen die

Platz sei über der Barrikade, so Müller. Das

Gespenster am Toten Mann“. Noch einmal

Worte gegen die Wand und horchen, wie sie ver-

kann man Konvergenztheorie nennen, ein

versammeln sich dazu all die Schreckens­

stummend zu Boden fallen. Die „Hamletma-

Verhaken der sich gleich und gleicher (damit

figuren und trügerischen Charismatiker des

schine“ szenisch aufgefasst, das scheint tat-

auch kleinbürgerlicher) werdenden Systeme,

20. Jahrhunderts auf der Bühne des Theaters

sächlich irgendwie avantgardistisch, jedenfalls

die ihre feindlichen Ritualen beibehalten,

Heilbronn: ganz vorneweg Stalin (Rahel Ohm),

völlig unerwartet. Man lässt auch ausgiebig die

während doch die Synthese beider unmittel-

der nach markigen Wendungen wie „Der

Luft aus Luftballons, oh-oh-oh!, das quietscht,

bar bevorsteht. Damit auch der Tod der Tragö-

Mensch wiegt nicht mehr als seine Akte“ und

ratscht und klingt mitunter geradezu obszön.

die, um nicht gleich generell von Geist zu

ohnehin sei er nur „trübes Material“ schließ-


auftritt

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lich bekennt, vor seinem eigenen Schatten

gengewalt. Aus Demütigung resultiert Hass,

haben, wird deren Auftreten zumeist durch

Angst zu haben. Kurz darauf erscheint ein

das zeigt der Abend auch an individuellen

Bühnennebel eingeleitet. Dieser legt sich

karikaturenhaft verzerrter Hitler (Sonja Isemer)

Geschichten wie etwa im Auftreten Kriem-

wie ein Schleier über die Historie. Deutlich

mit einem über die Schulter gehängten Kar-

hilds und des Serienmörders Wolfgang

wird das Verdikt einer geschichtsvergesse-

tonpanzer. Während die Diktatoren um ihre

Schmidt. Schwört Erstere, eine zentrale

nen Gesellschaft insbesondere in einem Sze-

Macht ringen, kämpfen andere um ihr Über­

­Figur in der auch von den Nationalsozialis-

nenkomplex: Drei Witwen nehmen sich noch

leben. Die nicht einsehbare Vertiefung am

ten vereinnahmten Nibelungensage, nach

vor Kriegsende das Leben. Jahre später steht

vorderen Rand der Bühne, die auch meta­

der Ermordung ihres Gatten auf Rache, ver­

ihr Schloss zum Verkauf – geplant sind ein

phorisch die Allgegenwart des ­ Abgrunds

ursacht bei Letzterem, dem in der Boule-

Golfplatz oder gar eine Touristenattraktion.

widerspiegelt, dient mitunter als Schützen­

vardpresse sogenannten „rosa Riesen“, die

In solcherlei gallig-scharfzüngigen Zu-

graben. Bei herabfallendem Schnee wird dort

Gewalterfahrung durch die Mutter eine psy-

spitzungen offenbart Müllers Werk seine ei-

gehungert und gestorben.

chisch-sexuelle Dissoziation, die schließlich

gentliche Tragweite, die allerdings hier in

dazu führt, dass er fünf Frauen vergewaltigt

Heilbronn in einem über weite Strecken span-

und tötet.

nungslosen Verlauf nur allzu selten sich

Obgleich das Stück keinerlei durchgehende Handlung bietet, sondern aus lose ­aneinandergereihten Szenentableaus besteht,

Für die unterschiedlichen Moment-

durchzusetzen imstande ist. Obwohl Vornam

gibt der zu Beginn und am Ende auftretende

aufnahmen bedarf es daher auch keiner

sehr präzise die unterschiedlichen Figuren-

Autor dem Geschehen einen Rahmen. Er,

umfangreichen Kulissenwechsel. Bis zum ­

profile herausarbeitet und gekonnt Stimmun-

­melancholisch rauchend gespielt von Stefan

Schluss bleibt die monochrome Zement­

gen erzeugt, täuscht letztlich nichts über den

Eichberg, ist das schlechte Gewissen der

architektur von Tom Musch unverändert. Um

Eindruck des Zähen und Mühlenartigen hin-

kriegstreibenden Völker, der unbeirrbare Chro­

den Übergang zwischen den Szenen zu ge-

weg, der den Abend dominiert. Die Bilanz ei-

nist des Grauens. Zwar reflektiert er die Ver-

stalten, nutzt Regisseur Axel Vornam ledig-

nes Jahrhunderts erweist sich so als einstim-

gangenheit, ermahnt jedoch zugleich die Ge-

lich projizierte Überschriften wie „Panzer-

miges Klagelied, angestimmt in einem bloßen

sellschaft der Gegenwart. So klingen die auf

schlacht“ oder „Der Fremdling“. Gleich

Akt der Verzweiflung. //

zwei Weltkriege bezogenen Sätze „Europa Der

einem Diavortrag ziehen die Bilder mensch-

Stier ist geschlachtet … Götter werden dich

licher Destruktivität an uns vorüber. Weder

nicht mehr besuchen“ wie eine Diagnose der

verheilen in diesem Stück alte Wunden,

heutigen, kränkelnden EU.

noch kommen die Verstorbenen zur Ruhe.

Björn Hayer

Der Verlauf der Geschichte wiederholt

Da wir es bei ihnen durchweg mit Geistern

Europa Der Stier ist geschlachtet – „Ger­mania 3. Gespenster am toten Mann“ in der Regie von Axel Vornam.

sich als ein Wechselspiel aus Gewalt und Ge-

und Wiedergängern der Vergangenheit zu tun

Foto Jochen Quast

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auftritt

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HOF Anklingender Bocksgesang THEATER HOF: „Besucher“ von Botho Strauß Regie Reinhardt Friese Ausstattung Annette Mahlendorf

Mitte der neunziger Jahre zeigte das Theater im nordfränkischen Hof nicht eben Vereinigungseuphorie. Die aufdringlichen Fusionsanfragen der finanziell notleidenden Bühne im dreißig Kilometer entfernten vogtländischen Plauen verhallten ungehört. Im Wendejubeljahr dreißig Jahre nach dem Mauerfall aber macht sich Hof verdient um die kritische Betrachtung hartnäckiger Ost-West-Ressentiments. Nicht mit einer Uraufführung, son-

zeit auch kaum eine darüber hinausgehende

dern mit der Wiederentdeckung des Vor­

Dimension wahr.

wendestücks eines Autors, der ebenfalls eine unbefangene Relektüre verdiente.

Typen wie Joseph brauchen immer einen, den sie belehren können. Hier ist es der

Erstarrt in Ritual und Reklame – So skizziert Botho Strauß in seinem Stück „Besucher“ (hier mit Carolin Waltsgott und Ralf Hocke) die westdeutsche Vorwendegesellschaft. Foto H. Dietz

Als Botho Strauß 1988 seine „Besu-

junge Maximilian, der zu allem Überfluss

cher“ schrieb, galt er noch als Liebling des

auch noch aus der DDR abgehauen ist, also

deutschen Feuilletons. Das änderte sich mit

ohnehin nichts können kann. Beide sollen

seinem nach Blut und Boden dampfenden

sich ein sozialkritisch ambitioniertes Stück

von Stanislawski oder Brecht und wettert ge-

Essay „Anschwellender Bocksgesang“ 1993

über Gentechnologie abquälen, das auf der

gen die „Nüchternheitsfanatiker“. Zwanzig

schlagartig. Seither gilt Strauß als Vordenker

Probebühne nicht über den mehrfach wieder-

Jahre nach 1968 scheint Strauß die dama­

der Neuen Rechten mit ihren National­

holten Einstiegsdialog hinauskommt. Max,

ligen Revoluzzer schon nicht mehr ernst zu

komplexen und Entwurzelungsproblemen und

der Neue, ist ein langmähniger leidender

nehmen, den an ihre Stelle getretenen frust-

wird kaum noch gespielt. Im Fall der „Besu-

Grübler. Sein Sympathie weckender Darstel-

rierten und schließlich isolierten Ossi mit sei-

cher“ gewiss zu Unrecht. Denn das Stück

ler Oliver Hildebrandt lässt beim Ossi-­ nem „Schönweh“ aber auch nicht. Auch die

handelt auf mehreren Ebenen vom später be-

Zuschauer spontan Assoziationen an den

Regie von Intendant Reinhardt Friese ent-

schriebenen Krieg zwischen den „Kräften des

„Paul und Paula“-Helden Winfried Glatzeder

scheidet sich nicht klar. Sie greift vielmehr

Hergebrachten und denen des ständigen

anklingen.

dankbar Max’ Suff-Halluzinationen auf und

Fortbringens“, nimmt also den Stoff des um-

Alt gegen Neu, Statik gegen Dynamik?

sublimiert den dialektischen Grundkonflikt in

strittenen „Bocksgesangs“ vorweg. Deshalb

So einfach ist es nicht, weil der Autor keine

der surrealen Sphäre. Dabei verzerren sich

und wegen der unverändert mühsamen Ein-

Präferenzen erkennen lässt. Seinem Max legt

die Proportionen, Riesenköpfe, eine gewaltige

heitsbeschwörungen 31 Jahre nach der Ur-

Botho Strauß den Frust über eine dekadente,

lebende Kamera oder ein Barmann mit meter-

aufführung ist es verblüffend aktuell.

in Ritualen und Reklame erstarrende west-

langen Armen tauchen auf. Radovan Matijek

Strauß lässt damals schon ein doppel-

deutsche Gesellschaft in den Mund. Das

sorgt mit seinen Puppen und Objekten tech-

tes Unbehagen erkennen. Er karikiert gerade-

Gelobte Land ist nur ein billiger „Vergnü­

nisch aufwändig für hübsche Theatereffekte.

zu den Prototypen des erhabenen Staats-

gungspark“. Zum Personarium dieses Parks

Annette Mahlendorf hat Probebühnenatmo-

schauspielers, der unfehlbaren Eminenz des

der Selbstbezogenheiten zählen auch die

sphäre geschaffen, leere Flaschen inklusive.

einzig wahren und möglichen Theaters, also

Schauspielerin Edna mit ihrem Flora- und

Mit zwei großen Projektionswänden konkur-

des Althergebrachten. Dieser Karl Joseph

Faunafimmel (Julia Leinweber) und Max’ aus

riert ganz vorn ein liebevolles szenografisches

wird von Volker Ringe im korrekten hellen

wohlhabenden

Modell eben dieser Bühne.

­Anzug mit aristokratischer Arroganz gespielt.

Freundin Lena (Carolin Waltsgott).

Verhältnissen

stammende

Schwer einzuordnen sind einige DDR-

„Besucher“ ist so zunächst ein Stück auf

Gleichzeitig ist leiser Spott gegenüber

Gags, teils im bemühten Theatersächsisch.

dem Theater über das Theater und insoweit

dem ambitionierten, zuweilen heißspornigen

Sie erhellen nichts. Wie eine pathetische

auch eine Komödie. Wie Dramaturg Thomas

Veränderer Max spürbar. Auf dem Theater

post­ume Hommage wirkt die komplett darge-

Schindler berichtet, nahm die Kritik seiner-

sucht er den „neuen Stil“ jenseits der Schulen

botene damalige Nationalhymne mit dem nun


auftritt

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wirklich ehrenwerten Becher-Text. Am meis-

mans „Szenen einer Ehe“ hat sie 2014 in

Die Weite des Meeres bringt Volker Hinter­

ten lernt man in diesem Stück etwas über

Lübeck inszeniert; diese Erfolgsproduktion

meier mit einem Bassin auf die Bühne. Große

Botho Strauß als einer der frühen Urheber der

hat Karlsruhe ins Repertoire übernommen.

Steine stehen für die nordische Küstenland-

aktuellen grotesken Meinungsfreiheitsdebatte.

Ohne sich an die Filmbilder zu klam-

schaft. Holzbrücken verbinden die unter-

Der weise Misanthrop lebt übrigens in der

mern, die den schwedischen Kultregisseur

schiedlichen Lebenswelten der Akteure. In

Michael Bartsch­

zum Klassiker machten, spielt Bergmann mit

den Fokus rückt Hintermeier einen spitz nach

der Vielfalt ästhetischer Formate im Theater.

oben zulaufenden Kletterturm mit Treppen –

Marta, die von einer glücklichen Ehe träumt,

eine bemerkenswerte Konstruktion zwischen

steht am Ende allein mit ihrem Kind da. Bea

Zelt und Leuchtturm. So öffnet der Bühnen-

Brocks lässt ihre Figur durchs Leben tanzen,

bildner Spielebenen. So überblendet Berg-

ihre Bewegungen folgen Tabea Martins aus-

mann die Handlungsstränge. Fließend wie im

drucksstarker Choreografie. Rosarote Liebes-

Film gehen die Szenen ineinander über.

einsamen Uckermark. //

KARLSRUHE Girls Just Wanna Have … BADISCHES STAATSTHEATER KARLSRUHE: „Passion – Sehnsucht der Frauen“ (UA) von Ingmar Bergman in einer Fassung von Anna Bergmann Regie Anna Bergmann Bühne Volker Hintermeier Kostüme Aino Laberenz

träume lässt Leander Senghas als ihr Mann

Und doch sind es gerade die großen

Martin Lobelius platzen, als er sie verlässt.

Theaterbilder, die den Reiz der Collage aus-

Kostümbildnerin Aino Laberenz spielt lustvoll

machen. Verzweifelt kämpft Antonia Mohr in

mit Farbtönen. Sinnliches Rot, Alltagsgrau

der Rolle der erfolgreichen Schriftstellerin

und Freizeit-Feinripp hat sie für die Figuren

Elisabeth Vogler aus „Wie im Spiegel“ gegen

ausgewählt. Es sind ganz normale Menschen,

die Wellen. Schwarzes Wasser verschlingt die

die Anna Bergmann auf die Bühne bringt.

Schwimmerin, die ihre psychisch kranke

Die Schauspieldirektorin, die in Karls-

Tochter nicht retten kann. Sensibel legt Sarah

ruhe mit ihrem radikal weiblichen Ansatz

Sandeh die seelischen Wunden der gemüts-

­Furore macht, interessieren die Krisen selbst-

kranken Rakel offen. Großartig ist Bergmanns

bewusster Frauen. Existenzangst und Liebes-

Inszenierung gerade in den tragischen Mo-

An der Trauer um ihren Mann und ihr Kind, die

schmerz sind Themen, denen sie auf den

menten. Dennoch überrascht sie auch mit

bei einem Autounfall starben, erstickt Anna

Grund geht. Und doch überzeugt die Kraft

praller Komödienkunst. Ausgelassen tanzt

Fromm. Sie ist eine der starken Frauenfiguren

ihrer Figuren. Das gilt für die Frauen ebenso

das Ensemble zu Cyndi Laupers Hit „Girls

des Regisseurs Ingmar Bergmann. Im Film­

wie für die Männer. Thomas Schumacher als

drama „Passion“ aus dem Jahr 1969 sehnt sie

Einsiedler Andreas Winkelmann, der sich in

sich nach der Liebe zurück. Mit dem düsteren

„Passion“ in Liebesabenteuer stürzt, zele­

Lied der Protagonistin beginnt Anna Berg-

briert mit der geheimnisvoll distanzierten

manns Inszenierung von „Passion – Sehnsucht

Anna Gesa-Raija Lappe als Karin Lobelius

der Frauen“ am Badischen Staatstheater

das langsame Sterben der Sehnsüchte. Selbst

Karlsruhe. Im Scheinwerferlicht sitzt Sina

im ­Liebesspiel bleiben sie einander fremd.

Kießling auf einem Sessel, singt Henry Purcells „Cold Song“ aus der Oper „King Arthur“. Kalt klingt die Stimme der Mezzo­ ­ sopranistin, und doch wühlt ihr Gesang auf. Aus drei Filmen Bergmans hat die Karlsruher Schauspielchefin eine Collage geschaffen. Den eleganten dramaturgischen Rahmen liefert „Sehnsucht der Frauen“ aus dem Jahr 1952. Da treffen sich vier Schwägerinnen in einem Sommerhaus in den schwedischen Schären, tauschen sich über Lust und Frust ihrer Ehen aus. Mit dem düsteren Glaubensdrama „Wie im Spiegel“, das Bergman 1962 einen Oscar für den besten fremdsprachigen Film einbrachte, schließt die Regisseurin den Bogen. Psychologische Filmdramen des schwe­ dischen Meisters auf die Bühne zu bringen reizt Anna Bergmann. Ihre Bühnenfassung des experimentellen Filmklassikers „Persona“, eine Koproduktion des Deutschen Theaters Berlin mit dem Malmö Stadsteater, war 2019 zum Theatertreffen eingeladen. Berg-

Lebens- und Beziehungskrisen – „Passion – Sehnsucht der Frauen“ von Ingmar Bergman in einer Fassung von Anna Bergmann (hier mit Thomas Schumacher und Anna Gesa-Raija Lappe). Foto Felix Grünschloß

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auftritt

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Just Wanna Have Fun“, wo Augenblicke zuvor

Schlange ­ wegnehme und im Bauch einen

Arad Yasur vom Blatt. Wie ein dreistimmiger

noch todernst Lebenskrisen verhandelt wur-

Schmarotzer trage, der bald Steuergelder ver-

Chor, der Aussagen rasant weiterreicht. Um

den. Bedauerlicherweise kommen komische

schwenden werde.

sie zu wiederholen, zu ergänzen, zu hinter­

Aber das könne nur der Anfang sein,

fragen, zu kommentieren, zu ironisieren, ihnen

sich fremd unter Fremden zu fühlen, denken

zu widersprechen. Oder um neu anzusetzen.

die drei, sagen wir mal, Drehbuchautoren.

Gegenseitig treiben sich die Darsteller an, die

Viel tiefere Abgründe des Menschenhasses

Erzählung auszudifferenzieren. Der Trialog

müssten sich noch öffnen. Es könnte jemand

beleuchtet dabei aus mehreren Perspektiven

der Hauptfigur eine Rechnung unter der Tür

die Handlungsideen und die dunkle Ge-

durchschieben: 1700 Euro! Ausgerechnet

schichte der Nazi-Okkupation. Fix fallen Ent-

sie, die Jüdin, soll für Gas zahlen, das Nazis

scheidungen, den roten Faden mal vorwärts,

in der jetzt von ihr genutzten Mietwohnung in

mal rückwärts auf dem Zeitstrahl fortzuspin-

den 1940er Jahren verbraucht hätten, nach-

nen. Der Zuschauer wohnt der allmählichen

dem dort wohnende Widerständler ins KZ

Verfertigung eines möglichen Dramas beim

deportiert worden seien. Drei Viertel aller ­

Reden darüber bei – eine trickreiche Konst-

niederländischen Juden sind während des ­

ruktion ist dieses Gedankenblitze-Ping-Pong.

Zweiten Weltkriegs ermordet worden. All das

Regisseur Josua Rösing lässt sich konzen­

müssten Recherchen der Musikerin ergeben,

triert darauf ein. Die Darsteller schlüpfen

auch könnte sie Hohlraumverstecke in ihrer

meist nur sehr kurz in die gerade erfundenen

Wohnung entdecken, wie man es aus den

Rollen. Spielbestimmend ist der Drehbuch-

Tagebüchern der Anne Frank kennt, meint ­

Workshop-Gestus vor einer quer über die Büh-

Treffen sich drei, sagen wir mal, Drehbuch­

das Autorenkollektiv. Dessen Lust auf Krimi­

ne verlaufenden Holzwand. Beim Eintreffen

autoren auf der Studiobühne des Kieler

dramaturgie ist aktiviert. Was könnte damals

der Gasrechnung wird sie erstmals durch­

Schauspielhauses und platzen geradezu vor

alles passiert sein? Die Last der Geschichte

brochen, Planken werden sanft entfernt oder

Einfällen, ein Stück zu schreiben. In Amster-

steht im Fokus, die nicht bezahlte, nicht zu

später brutal herausgeschlagen. Die Mauer

dam soll es spielen, so viel steht fest. Ist die

tilgende Schuld. Und ihr Widerhall in der

des Vergessens, die Sichtblende vor der Ver-

Grachtenmetropole doch, trotz des Erfolgs

­Gegenwart.

gangenheit wird löchrig, der Raum hinter dem

Momente wie dieser in Bergmanns komplexem Regietheater sonst zu kurz. // Elisabeth Maier­

KIEL Hinter dem Firnis der westlichen Zivilisation THEATER KIEL: „Amsterdam“ von Maya Arad Yasur Regie Josua Rösing Ausstattung Michael Lindner

der rechtspopulistischen Partei von Geert

Jennifer Böhm, Rudi Hindenburg und

Firnis der toleranten westlichen Zivilisation

Wilders, ein Symbol für Weltoffenheit und ­

Almuth Schmidt geben höchst viril die Krea-

einsehbar. Die anspielungsreiche Uneindeu-

lobt sich selbst im Stadtwappen für die Wi-

teure beim Brainstorming ihrer Storyline. Tan-

derstandsverdienste im Zweiten Weltkrieg mit

zen artikulatorisch mit dem Text. Tun dabei

den Worten „Heldhaftig, Vastberaden, Barm-

so, als würden sie improvisieren, und das

hartig“ – also heldenhaft, entschlossen, barm-

Ende ihrer Performance wäre offen. Spielen

herzig. Gerade diese Stadt müsste ja ein prima

aber wortgetreu musikalisch die dicht ver-

Kontrastmittel abgeben für ein Schauspiel

zahnte, rhythmisch fein nuancierte Sprach-

Die allmähliche Verfertigung eines möglichen Dramas beim Reden – Almuth Schmidt, Rudi Hindenburg und Jennifer Böhm in Maya Arad Yasurs „Amsterdam“.

über die Folgen ererbter Traumata nach dem

komposition „Amsterdam“ der Israelin Maya

Foto Olaf Struck

Holocaust und der Kollaboration mit den Natio­nalsozialisten. Mehr noch: Sie böte damit den perfekten Ort, um über jüdische Identität in Europa sowie die Gegenwart von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nachzu­ denken. So fantasiert das namenlose Trio eine jüdisch-israelische Geigerin hochschwanger in einen schnieken Loft an der Keizersgracht. Vermuten soll sie, dass es auch in den Hirnen und Herzen der Amsterdamer Bürger von Gefühlen des Mistrauens gegenüber Ausländern nur so wimmelt und Ressentiments unaus­ gesprochen wuchern. Ihrem Gynäkologen könnte sie Antisemitismus andichten, einer Künstlerin Islamophobie, den Beamten empathielose Vorschriftentreue und dem ungedul­ digen Typ da hinter ihr in der Supermarktschlange x­enophobe Gedanken. Ja, der halte sie aufgrund ihres Äußeren bestimmt für eine Migrantin, die Niederländern den Platz in der


auftritt

/ TdZ  Dezember 2019  /

tigkeit des Textes, das gute Timing der Regie und die nie nachlassende Erzählspannung des Sprachkonzerts sind die Trümpfe der Inszenierung, die den ernsten aktuellen ­ Themen sogar Humor abgewinnt. Theater­ handwerk vom Feinsten. // Jens Fischer

MÜLHEIM Rette sich, wer kann THEATER AN DER RUHR: „Der Untergang der Titanic” von Hans Magnus Enzensberger Regie Philipp Preuss Bühne Ramallah Aubrecht Kostüme Eva Karobath

Der Anfang vom Ende ist immer diskret – Hans Magnus Enzensbergers „Der Untergang der Titanic“ in der Regie von Philipp Preuss. Foto Franziska Götzen

Eisberge in Bewegung, technisches Versagen

Dann gehen alle Lichter aus. Das wackelige

bei Großprojekten, bedrohliches Klima, gras-

­Podest dreht sich ins Dunkel hinein und er-

sierende Untergangsvisionen. Zum aktuellen

weckt bei den Zuschauern so etwas wie ein

Diskurs über Natur, Kapital, Fake-News und

körperliches Gefühl von dieser Fahrt in den Un-

Technik passt ein altes Stück wie neu ge-

tergang. Die Passagiere der Titanic, die sche-

schrieben, sowohl inhaltlich als auch formal.

menhaft nach und nach hinter Lamettavorhän-

Hans Magnus Enzensberger verfasste seine

gen sichtbar werden, zeigen sich dagegen

Anders als im Hollywoodfilm gibt es keine

Text­fläche „Der Untergang der Titanic“ 1978.

unbesorgt. Sie füttern Geldautomaten, schwin-

­Figuren, an die man sich emotional klammern

Er nannte das Werk eine Komödie in 33 Ge-

gen im Smoking Messer und Gabel, sinnieren

könnte. Die Titanic und der Eisberg sind

sängen. Zwei Jahre später, 1980, machte

über den Weltuntergang. Bis es „Rumms“

­Metaphern. Das Schiff für die Hybris und fa-

George Tabori in München daraus einen Thea­

macht und sie im Chor offenbaren: Das war der

tale Technikgläubigkeit der Menschen, der

terabend zwischen Lyrik, Prosa und Drama.

Anfang. Der Anfang vom Ende ist immer dis-

Eisberg verkörpert die Natur, die langsam,

Jetzt entdeckt das Mülheimer Theater an der

kret. Schwarz und lautlos, der Eisberg.

aber gewaltig auf die Katastrophe zusteuert.

Ruhr das Stück neu und bringt es in guter Tradition

seines

politisch-philosophischen ­

Anspruchs heraus.

So wie das Publikum im Kreis rotiert,

Das Mülheimer Ensemble zeigt viel

umkreisen Text und Inszenierung das Thema

Spielfreude, wenn es dem kreisenden Publi-

assoziativ und anspruchsvoll, banal und pri-

kum hinterherrennt, sich zu Bildern der fei-

Das Publikum tappt zunächst im Düs-

vat, aber immer einfallsreich und beeindru-

nen Gesellschaft vom Oberdeck gruppiert

tern. Man muss sich durch den spärlich be-

ckend. Dem Schlager-Geständnis „Ich hab

oder schlammbesudelt die ratlosen Über­

leuchteten Zuschauerraum tasten bis auf die

mein Herz in Heidelberg verloren“ folgen

lebenden darstellt. Bei der Premiere gab es

Bühne. Dort sitzt man auf einem drehbaren

komplexe Gedanken eines Renaissance­

technische Probleme mit der Hydraulik des

Podest, geeignet für maximal 65 Zuschauer. Zu

malers und des Dichters Dante über die

drehbaren Zuschauerpodestes. Nur die Hälfte

Vorstellungsbeginn wird der Raum weiter abge-

­ästhetische Faszination von Weltuntergangs-

des Publikums konnte die Vorstellung zu

dunkelt. Man hört Gerumpel wie auf einem

mythen. Ein Verschwörungstheoretiker mel­

Ende sehen. Die anderen wurden mit Essens-

Dampfschiff, dazu klimpert ein Klavierspieler

det sich: „Der Untergang der Titanic hat

buffet, einem Ticket für eine nachfolgende

gefällige Dinner-Musik. Mit Megafon meldet

nicht stattgefunden! Es war nur ein Film!“

Vorstellung und einer Freikarte vertröstet.

sich der Dichter des Stückes (Rupert J. Seidl).

Der Fake-News-Redner leugnet die Schilde-

Ausfälle theatraler Art gab es für die Verblie-

Er lebt gerade in der kubanischen Hauptstadt

rung vom sinkenden Schiff und leitet über

benen danach nicht. Im Gegenteil. Regisseur

Havanna und bemerkt, dass seine Hoffnung auf

zur sozialen Komponente der Katastrophe,

Philipp Preuss ist seit dieser Saison stärker in

einen zukunftsweisenden Sozialismus an realen

die sehr aktuell nachklingt. Nicht jeder kann

die künstlerische Leitung des Theaters an der

Mangelerscheinungen zerbröckelt. Sein Bedau-

sich retten. In die Boote steigen zuerst die

Ruhr eingebunden und wird als Nachfolger

ern darüber bekämpft er mit Schreiben: „Und

wohlhabenden Passagiere vom Oberdeck, für

des 85-jährigen Roberto Ciulli gehandelt. Mit

also sitze ich hier und amüsiere mich mit dem

die vom Unter- und Mitteldeck bleiben nur

diesem denkwürdigen Abend empfiehlt er

Untergang, dem Untergang der Titanic.“

wenige Chancen.

sich dafür. //

Martin Burkert

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stück

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Bist du ein Geheimnisieren? Das neurale Netzwerk GPT-2 (Model 345M) der CyberRäuber im Gespräch mit Martina Clavadetscher über ihr Stück „Frau Ada denkt Unerhörtes“

GPT-2 ist ein von der OpenAI Foundation

ES Was it?

Verhalten sich die Figuren nach einem freien

2019 veröffentlichtes, auf einem neuralen

HOLZHÄUSER (ES) Was it?

Willen?

Netz basierendes Sprachmodell. Wie hier von

ADA Was it?

Schweigen.

den CyberRäubern mit Martina Clavadetschers

OLOF OLOF OLOF OLOF OLOF OLOF OLOF

SIE PUPPE Now then.

Stücktext „Frau Ada denkt Unerhörtes“ gefüt-

OLOF OLOF OLOF OLOF OLOF OLOF

ES Vielleicht auf dem Wiener Zusammentref-

tert, kann dieses Netz dessen Sinn zwar nicht

fen.

verstehen oder wie ein Mensch sinnvoll zusam-

Was will ES?

Kurze Stille.

menfassen, stellt aber aus seinem Verständnis

ES would be the first letter of the name.

HOLZHÄUSER (als Vögel) Die Regierung gibt

von Sprache und Text heraus andere, häufig

ES would be the name of the child.

es doch bloß gut zu schwer.

überraschende Zusammenhänge her, die für

ES would be the name of the parent.

ADA Ich?

menschliche Leser andere Zugänge eröffnen

ES would be the place where the child lived.

SIE PUPPE Sie ist alles. Es war die

können. Ohne Bezug auf einen speziellen Text

ES would be the town in which the child

Gesetzmäßigkeit.

erzeugt GPT-2 – meist in Englisch – erstaun-

lived.

Sie ist alles. Es war die Kunden.

lich realistische, falsche Texte. Die Cyber­

ES would be the province of the child’s province.

Sie ist alles. Es war die Umstang.

Räuber nutzen bei ihrer neuesten Produktion

ES would be the country in which the child

Sie ist alles. Es war die Wirkstatt.

„Prometheus Unbound“, das am 14. Dezem-

lived.

Sie ist alles. Es war die Arme.

ber am Landestheater Linz Premiere hat,

ES would be the state of the child’s state.

Es ist alles. Es war sich.

GPT-2 und andere neurale Netze zum Erzeu-

ES would be the community in which the

Kurzes Schweigen.

gen künstlicher Kunst für die Bühne. Die

child lived.

­Fragen und Kurzbefehle an das Netz stammen

ES would be the place where the child lived

Wie ist die Hierarchie der Figuren? Wer befiehlt,

von Martina Clavadetscher. Hier ein Auszug

in a family.

wer befolgt?

der rund sechzig entstandenen Seiten.

ES would be the place of the child’s life.

Kurzes Schweigen.

ES would be the place where the child lived

SIE PUPPE

in a community.

ES – DIN!

ES would be the state of the child’s state in

ER PUPPE Nein, mein, mein.

Wie würdest du mein Theaterstück in fünf

a community.

ES Nein, mein, mein.

Sätzen zusammenfassen?

ES would be the community in which the

ER PUPPE Nein, mein, mein.

ES Stille.

child lived in a family.

SIE PUPPE Nein, mein, mein.

BAUMGARTNER Ich bin ein kleinstilette.

ES would be the place where the child lived

ER PUPPE Nein, mein, mein.

ES Wie du bist ein kleinstilette.

in a community.

SIE PUPPE Nein, mein, mein.

BAUMGARTNER Stille.

ES would be the place where the child lived

ER PUPPE Nein, mein, mein.

in a community.

SIE PUPPE Nein, mein, mein.

Was will ADA?

ES would be the place where the child lived

ER PUPPE Nein, mein, mein.

HOLZHÄUSER (ES) I do not know.

in a community.

SIE PUPPE Nein, mein, mein.

ADA Did you sleep well?

ES would be …

ER PUPPE Nein.

Did you want to come back again?

Wie werden die Frauen KELLER, ADA und

Wie behandelt das Stück das Thema der

HOLZHÄUSER Did I?

MUTTER beschrieben?

Optimierung?

ADA Was that the same?

ADA Meine Frauen. Hier.

ES Ich bin die Kombination des 27. März

ES Was? Did you love me? Did you love me

ES Hola.

2013–2014.

so much that you wanted to die?

HOLZHÄUSER Was soll darf deine Frau.

ADA In der Kombination des 27. März

HOLZHÄUSER Was that my question?

ES Bist du ein Geheimnisieren?

2013–2014.

ADA You were my question.

MUTTER Bist du ein Geheimnisieren.

ES Was that it?

ES Ich?

Warum werden die Menschen im Stück von

HOLZHÄUSER (ES) Was it?

KELLER Was?

ihrer eigenen Kreation überholt?

ADA Was it?

ES Du hast nicht meine Sprüche.

ER PUPPE DAS WELCHTE DIEMETRIKAST

ES Did you dream well? Did you feel good?


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martina clavadetscher_frau ada denkt unerhörtes

ADA Notier von Troeltschütz.

eine sich festgestossenzukäusenden

SIE PUPPE DAS WELCHTE DIEMETRIKAST

eine sich festgestossenzukäusenden:

ER PUPPE DAS WELCHTE DIEMETRIKAST

ZUM BAUMFLERT: Now, I know this isn’t

(fressen) Schweiße.

easy for you, but I want you to know you are

SIE PUPPE DAS WELCHTE DIEMETRIKAST

doing something extraordinary.

(mögen) Alles in denksten Wochen.

Do you feel the same?

ER PUPPE DAS WELCHTE DIEMETRIKAST

Karen: I don’t know. I feel a little bit sad.

(sagen Anzahl) Alles in denksten Sprängslosen.

BAUMFLERT: You’re not sad anymore?

ADA Alles.

Karen: Oh, I’m not sad anymore.

Meine Geräte ist mit mein Familie.

BAUMFLERT: What are you going to do?

Meine Gott, alles ist zu sein. Mein Spirit, in den Sprüngen.

Befehl: Freiheit

Ich muss ich das nicht mit mehr –

(Ich bin ein Mann!)

Meine SpiritTER Anschuldigen,

Friedrich Klee would have been proud.

Ich muss ich schaut das Sprüngle genügen

SIE PUPPE 18

in ihrem Leute nach Blick. Dann erstappt ihre Mutter in die eigen Prozesse.

Eingabe: SIE PUPPE Erzähl es uns! Schnell,

SIE PUPPE DAS WELCHTE DIEMETRIKAST

was denkst du wieder Unerhörtes?

(als Wort ihre Gedanken) Ich kenne Twangst

„Ich weiß nicht“, sagte die Marionette. „Ich

Du hast dich.

sitze auf einem Stuhl.“

ER PUPPE DAS WELCHTE DIEMETRIKAST

„Aber du bist eine Marionette. Du kannst

(als Schalt jetzt) Es ist dein Gans. SIE PUPPE DAS WELCHTE DIEMETRIKAST (als) Rahts Wie ändert sich die Sprache? ER PUPPE Die Sprache wird durch die Sprache? SIE PUPPE (leise) Alles besser als die Technik. ADA All this is the result of my calculations. ER PUPPE Wissenschaft ist in Jugendstätten. ADA (leise) Koh – eine neue Hand. Ich bin die schöne Tod begabt. Ich werde Stille. Befehl: Frauen BAUMGARTNER (zu schwach) Alles geht nicht … KELLER Was machst du da? HOLZHÄUSER (als Körper) Was machst du da? KELLER Was machst du da? BAUMGARTNER Was machst du da? KELLER Was machst du da? HOLZHÄUSER Das ist alles. (als Körper)

Martina Clavadetscher, geboren 1979 in Zug, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. Ihr erstes Theaterstück „Drei Frauen“ wurde 2006 am Luzerner Theater uraufgeführt. Neben ihrer Arbeit als Autorin verfasste sie die Kolumne „Apropos“ für den Schweizer Rundfunk. Am Luzerner Theater war sie in der Spielzeit 2013/14 Hausautorin. Ihr Stück „Umständliche Rettung“ brachte ihr 2016 den Essener Autorenpreis und eine Einladung zum Heidelberger Stückemarkt ein. 2017 wurde sie mit ihrem ersten Roman „Knochenlieder“ für den Schweizer Buchpreis nominiert. 2018 nahm sie am Wettbewerb des Ingeborg-Bachmann-Preises teil. „Frau Ada denkt Unerhörtes“ wurde am 27. September 2019 in der Regie von Katrin Plötner am Schauspiel Leipzig uraufgeführt. Die österreichische Erstaufführung erfolgt im Mai 2020 am Schauspielhaus Graz. Foto Ayse Yavas

Alles …

nicht denken. Du kannst nicht sprechen. Warum sagst du uns nicht, was du denkst?“ „Nun, ich sitze auf einem Stuhl“, sagte er. „Und was hältst du vom Leben? Was hältst du von Menschen? Was hältst du von Glück?“ „Nun, ich sitze auf einem Stuhl“, sagte er. „Ich denke an Stühle.“ „Und was hältst du von der Zukunft?“ „Nun, ich setze mich auf einen Stuhl. Ich denke an Stühle.“ „Und was hältst du vom Tod?“ „Ich sitze auf einem Stuhl“, sagte er. „Ich denke an Stühle.“ „Und was hältst du von Gott?“ „Oh, ich sitze auf einem Stuhl“, sagte er. „Ich denke an Stühle.“ „Und was hältst du von der Zukunft?“ „Nun, ich setze mich auf einen Stuhl“, sagte er noch einmal. „Und was hältst du von der Vergangenheit?“ „Nun, ich sitze auf einem Stuhl“, sagte er. „Und was hältst du von der Gegenwart?“ „Nun, ich sitze auf einem Stuhl“, sagte er. „Ich denke an Stühle.“

Befehl: Optimierungen

eine sich festgestossenzukösterlosezukan­

Und er saß lange Zeit da.

Zur Körperin zu veröffentlaut, wie ihre

wissenschaften

„Nun“, sagte die Marionette, „Ich denke an

Beispiel der Erziehung.

eine sich festgestossenzukösterlosezukan­

Stühle.“

Sie wirkt, die Sämplänen, die Säurende, die

wissenschaften

„Und was hältst du vom Leben?“

Vögelchen, die Körperin und die Gier nachlassen,

sie das Sämplänen

„Nun, ich denke an Stühle.“

die sich festgestossen – eine sich festgestos-

sie das Säurende

„Und was hältst du von Menschen?“

senlicher Autour, eine sich festgestossenlehre,

sie das Vögelchen

„Nun, ich denke an Stühle“, sagte er. „Und

eine sich festgestossenzukanwalb,

sie das Körperin

ich denke an das Glück.“

eine sich festgestossenzukanwissenschaften,

sie das Sämplänen

„Und was hältst du von Glück?“

eine sich festgestossenzukäusenden,

sie das Säurende

„Nun, ich denke an Stühle.“

eine sich festgestossenzukösterlose,

sie das Vögelchen

Und er saß lange Zeit da.

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stück

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Martina Clavadetscher

Frau Ada denkt Unerhörtes frei nach der Biografie von Ada Augusta Lovelace und der Alpensage „Sennentuntschi“

FIGUREN

1. EIN KINDERSPIEL FÜR ADA

SIE PUPPE

DAS SCHÖPFERISCHE PRINZIP

ER PUPPE

England: in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts. Ada liegt bewegungslos da. Wie zwei ­Satelliten und immer in ihrer Nähe: ihre zwei Puppen. ER PUPPE Da! SIE PUPPE Nein. ER PUPPE Sie hat sich bewegt. SIE PUPPE Hat sie nicht. ER PUPPE Doch. Da. SIE PUPPE Kein bisschen. Sie liegt starr. Wie eine Elfenbeinstatue. ER PUPPE Diese blasse Haut … Aber jetzt! SIE PUPPE Nein. ER PUPPE Aber jetzt. Ganz deutlich. ADA (flüstert) Hab ich das? ER PUPPE Wie du willst, es ist dein Spiel. SIE PUPPE Wir sind bloß deine Puppen. ADA Ihr tut also, was ich denke? ER PUPPE Wenn du an den Vater denkst, be­ wegst du dich. SIE PUPPE Und wenn du an deine Mutter denkst, liegst du bewegungslos. ADA So ergebe ich einen ausgewogenen Sinn. Es gibt einen guten Grund, dass ich da bin. ER PUPPE Die trübsinnige Fahrt in einer eiskalten Kutsche. SIE PUPPE Nach dieser Fahrt. Einen Tag vor der Hochzeit. ER PUPPE Lord Byron nimmt Lady Byron vor dem Dinner auf dem Sofa. SIE PUPPE Jederzeit könnte ein Diener den Raum betreten und das Abendessen ankün­ digen.

ADA / ES MUTTER KELLER eine Frau HOLZHÄUSER ein Mann BAUMGARTNER ein Mann ORT UND ZEIT 1. EIN KINDERSPIEL FÜR ADA England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 2. MILCHWEISS Ein wissenschaftlicher Campus in der zukünftigen Gegenwart. Anmerkung: ES soll sich im Laufe des 2. Teils äußerlich verändern. „Die Freiheit, dümmer zu sein als die Maschine, bedeutet einen nicht einholbaren Vorsprung.“ Aus: Electric Ladyland von Michaela Mélian

Kaserne

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Sa 30.11. So 1.12. Alexander Vantournhout CH-Premiere: Red Haired Man

Sa 7.12. Marc Oosterhoff/Cie Moost Les Promesses de l’incertitude

Mi 4.12. Do 5.12. Les Reines Prochaines & Freund*innen Let’s Sing, Arbeiterin!

Mi 11.12.– So 15.12. Antje Schupp & Sigal Zouk Premiere: Loss & Luck

ER PUPPE Stattdessen entsteht aus diesem Zusammentreffen SIE PUPPE Der vollendeten Penetration ER PUPPE Ganz Neuartiges. SIE PUPPE Die abgeschossenen, fadenför­ migen Keimzellen fressen sich geschickt durch die Gallerthülle, durch das Plasma und durch die Membran einer Eizelle. ER PUPPE Alles folgt dem biologischen Bau­ plan. ADA Mir liegt eine tiefe Gesetzmäßigkeit zu­ grunde. SIE PUPPE Die lebensfähige Konstruktion entschlüpft nach 41 Wochen der Gebärmutter der gebärenden Mutter und: ADA Sie nannten mich … MUTTER (aus dem Off) Ada?!! ER PUPPE (flüstert als Vater) Ada Augusta, mein Kind, ich vermisse dich, dein Wachs­ tum, dein Lachen. Oh, dich leise wiegen an meiner Vaterbrust, dies Glück bleibt mir ver­ sagt … Gleicht dein Gesicht der Mutter jetzt? Du einzig Kind im Herzen und HausADA Vater? ER PUPPE (als Vater) Deine Mutter sieht meine überbordenden Leidenschaften in dei­ nem Wesen. Meine Fehler in deinen. ADA Vater, bist du das? Zeig dich. Mit grü­ nem Samt verhüllt Mutter dein Gemälde über dem Kamin. Ist das dein Gesicht? ER PUPPE Nicht. Bleib liegen! ADA Mutter sagt: MUTTER Du bist ungeheuer begabt – aber ungeheuer gestört. ER PUPPE Du bist eingespannt zwischen die Pole deiner Eltern. 50:50 lautet die Ge­ setzmäßigkeit deiner Formel. ADA Ich bin die Kombination.

Do 12.12. Trettmann & Stereo Luchs Support: Joey Bargeld

www.kaserne-basel.ch


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ER PUPPE (als Vater) So sei auch meine Tochter. Sei – wie ich – ein überschäumender Geist, Künstler, Poet, ein … MUTTER Zudringliches, brutales Scheusal. Es drängt mich, sein Wesen zu erklären, doch je mehr ich mich erkläre, umso mehr steigt allerseits der Verdacht, meine An­ schuldigungen seien Übertreibungen einer Frau, der das Eheleben nicht gelang, und die den Umfang des Dichtergenies nicht ertrug: seine Wutausbrüche, seine Drohungen, der Vandalismus, seine Demütigungen, wie er mir seine Liebschaften mit Frauen, Män­ nern, seiner Halbschwester genüsslich unter die Nase rieb – und wie er mich zu physi­ schen Grausamkeiten zwang, überall und jederzeit. Für eine Klage sind meine Aussa­ gen vor Gericht unzureichend. Will ich Geld, Ansehen und das Sorgerecht behalten, so muss ich zielstrebig sein. Die Flucht war ausgeklügelt, die Beweise, die Dokumente versteckt. Mit Kalkül habe ich meine Mutter­ rolle geplant, das Auftreten in der Gesell­ schaft, die Verteilung meiner Zuneigung an das Kind, es gilt: besser nicht zu viel Empfin­ dung. Jedes Anzeichen von Schwäche ist auszulöschen, denn der kleinste Fehler ist der Untergang jeder Frau. Irrtümer werden dem Weiblichen nicht geduldet. Um vorwärts­ zukommen, bleibt uns nichts anderes übrig: Wir haben makellos zu sein. ER PUPPE Jetzt. Du hast dich bewegt. ADA Hab ich? SIE PUPPE Nicht doch. Du liegst ganz still. ER PUPPE Aber in deinem Kinderkopf keimt der Fantast, nicht wahr? SIE PUPPE Erzähl es uns! Schnell, was denkst du wieder Unerhörtes? ER PUPPE Grübelst du über deinen Plänen? Die Schiffsmodelle? ADA Diese Konstrukte sind bloß der Anfang. Diese durchdachten Dinge gibt es bereits. Was mich drängt, ist die Fliegologie. Es muss doch möglich sein. Nicht wahr? Ich denke zum Beispiel an eine Sache, in der Form ei­ nes Pferdes, mit einer Dampfmaschine im Innern, und diese Dampfmaschine treibt ein enormes Flügelpaar an, zwei große Schwin­ gen, die außen am Pferd angebracht sind. Und diese Flügel trügen das Pferd hoch hin­

martina clavadetscher_frau ada denkt unerhörtes

auf in die Luft, während eine Person auf dem Pferderücken säße. Ein Flugapparat. Eine neuartige Erfindung. Mit Übung und Erfah­ rung würde es wohl ein Jahr dauern, diese Methode zu perfektionieren. Ein ganzes Buch will ich darüber verfassen, mit Illustra­ tionen, Bauplänen, um dem Menschen end­ gültig das Fliegen zu ermöglichen. Ich be­ ginne morgen mit den ersten Modellen. ER PUPPE Tollkühne Träumereien. ADA Aber es ist möglich! MUTTER (tritt auf) Ada! SIE PUPPE Still! Sie kommt. MUTTER Ada? Liebes, was tust du da? Du sprichst vor dich hin? ADA Ich übe. MUTTER Gut so. Deine Lehrerin, Miss La­ mont, wird uns nämlich morgen verlassen. Viel zu schmeichelnd war sie, viel zu weich für die Erziehung eines starken Geistes. Es sollte einer Gouvernante doch bestens be­ kannt sein, dass jeder fantastische Irrglaube einer radikalen Heilung bedarf. Durch harte Hand – durch stete Struktur. ADA Ja, Mutter. MUTTER Den Stundenplan behalten wir dennoch bei. Ab halb 6 Uhr morgens: ADA Arithmetik, Grammatik, Rechtschrei­ bung, Lesen, Musik. MUTTER Je fünfzehn Minuten. Und nach dem Abendessen: ADA Geografie, Zeichnen, Französisch, Mu­ sik, Lesen. MUTTER Mit? ADA Mit Eifer und Sanftmut. MUTTER Mit Eifer. Trotzdem: Das Stilllie­ gen bereitet dir noch Mühe, wie willst du ohne Disturbation besondere Leistungen erbringen? Du hast der Konzentration zu ­ gehorchen – durch absolute Bewegungs­ ­ losigkeit – vergiss nicht: der Körper lenkt ab; oder soll ich dir die Hände wieder in Beutel schnüren? ADA Das ist nicht nötig, Mutter. MUTTER (schaut sich um) Was ist das? ER PUPPE Oh oh. SIE PUPPE Psssst. Schweig. MUTTER Ada. Was sind das für Zeichnun­ gen? ER PUPPE / SIE PUPPE Antworte nicht.

MUTTER Antworte! ADA Es sind Pläne, Mutter, für einen Flugap­ parat. Ich möchte bald mit den ersten Flügel­ modellen beginnen. MUTTER Du weißt, was ich darüber denke. Wir werden Zeichnen vom Stundenplan strei­ chen, und zügeln deine überschäumende Fantasie mit mehr Mathematik. Alles Musi­ sche führt dich in die Irre. Und Irrtümer ge­ hören ausgemerzt. ADA Auch die Musik? MUTTER Auch. ADA Meine Harfe? MUTTER Es ist zu deinem Besten. ADA Und mein Gesang? Mutter, mein Ge­ sang wird mir doch wohl nicht schaden? MUTTER Wir werden sehen. ER PUPPE Sing. SIE PUPPE Ja. Sing ihr vor. ADA (beginnt zu singen) Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann. MUTTER Ada, bitte. Zwing mich nicht. ADA Dem Herrn musst du trauen, wenn dir’s soll wohlergehn; auf sein Werk musst du schauen, wenn dein Werk soll bestehn. Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen, es muss erbetet sein. MUTTER Ada … ADA Weg hast du allerwegen, an Mitteln fehlt dir’s nicht; dein Tun ist lauter Segen, dein Gang ist lauter Licht; dein Werk kann niemand hindern, dein Arbeit darf nicht ruhn, wenn du, was deinen Kindern ersprießlich ist, willst tun. MUTTER Ach, mein Singvögelchen. ADA Mutter, ich glaube, dass ich eine sehr schöne Stimme besitze, daher sollte es mir ­ durchaus möglich sein, besser zu singen als du.

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stück

MUTTER Kind, was ersinnt denn dein klei­ ner Kopf? Sowas liegt nicht in der Natur der Sache. Das schöpferische Prinzip will es an­ ders. Ada, warst du es etwa, die dir deine Stimme verliehen hat? Von wo hast du sie? Wer hat sie dir geschenkt? ADA Oh. Ich verstehe Mutter. Ich verstehe. MUTTER (schreibt in ADAs Notizbuch) End­ lich. Endlich beginne ich zu verstehen, wie sehr meine Mutter sich kümmert, mich schützt und auf meinem Pfade leitet. Ich möchte ihr möglichst viel Freude bereiten, damit wir zusammen glücklich sein können. Ohne Träumereien, ohne Fantasien, um so die schändlichen Gerüchte der Gesellschaft nicht unnötig zu nähren. Ich brauche eine wachsame Hand. Alleine gestern habe ich mich wie eine Gans benommen, als ich Mut­ ter sagte, Rechnen und Arithmetik könne ich nicht ausstehen. Außerdem ließe sich meine Disziplin beim Stillliegen verbessern. Ich muss mir einfach mehr Mühe geben. Ich kann mich verbessern, ich will mich … ADA Ich werde mich verbessern. MUTTER (schließt das Notizbuch) Braves Kind. Und jetzt leg dich hin. ADA (für sich) Alles werde ich verbessern. Alles! DIE ERSTE UND DIE NOCH GRÖSSERE LIEBE ER PUPPE Sie rennt! SIE PUPPE Und dann schleicht sie wieder. ER PUPPE Nein. Sie tanzt. SIE PUPPE Sie tigert geradezu durch ganz Fordhook. SIE PUPPE Bestimmt der Privatlehrer. ER PUPPE Ada, du müsstest liegen. Selbst auf den Reisen durch Europa musstest du liegen. Immer musst du liegen. Denk an dei­ ne Krankheiten. ADA (fröhlich) Kopfschmerzen, Verdauungs­ störungen, Koliken, Gastritis, Röteln, Migräne, Augenprobleme, Masern, Lähmung der Beine, Bettruhe und nochmals Bettruhe, worauf folgt: Muskelschwund aufgrund der Bettruhe. SIE PUPPE Sie sagt es voller Fröhlichkeit. ER PUPPE Was ist mit dir?

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SIE PUPPE Der Privatlehrer! ER PUPPE Ihr habt geplaudert, nicht wahr? Ihr habt geschwatzt. Anstatt euch ernsthaft den Studien zu widmen. MUTTER Raus, Ada! ADA Aber … MUTTER So verhält sich eine junge Dame nicht, nicht in Anwesenheit eines jungen Herren und Lehrers. ADA Ich wollte doch nur … MUTTER Ich erbrachte große Opfer für dich. Und deine Erziehung. ADA Ist es wieder wegen Vater? MUTTER So etwas sollst du nicht fragen! Das Wissen darüber würde dir nur Schaden zufügen. ER PUPPE (flüstert) Es gibt schädliches Wissen. ADA Es gibt schädliches Wissen? MUTTER Ich meine es nur gut mit dir. Und jetzt verlass die Lehrstube! ER PUPPE Aber du bist zurückgekommen. Mit einem Plan im Hinterkopf. MUTTER Kind, was ist? ADA Ich möchte nur noch ein paar Bücher mitnehmen. Hier sind sie ja. – Hier. ER PUPPE Heimlich hast du deinem Lehrer einen Zettel zugesteckt. ADA (flüstert) Wir treffen uns um Mitternacht. Im westlichen Seitengebäude. Draußen. ER PUPPE Und er kam. SIE PUPPE Er kam? ER PUPPE Das Rendezvous fand statt. SIE PUPPE Es fand statt? ER PUPPE Die vollendete Penetration … ADA Nein! Wir haben die körperliche Verei­ nigung nicht vollzogen! SIE PUPPE Keine wahrhaftige Verfehlung? ER PUPPE Aber du bist geflohen, hast Ford­ hook verlassen, bist ihm nachgereist, bis zu seinen Verwandten, wo er lebte. ADA Sie haben mich zurückgeschickt. Das war alles. Jetzt schweigt. Die Leute könnten reden. ER PUPPE Aber es war doch eine leiden­ schaftliche Eskapade. ADA Aufhören! Mutter sieht die Sache als MUTTER Beendet! Es war ein Fehlentscheid. ADA Also habe ich ihn tief in mir einzu­ schließen, und umwickle ihn mit meinen heimlichen Gedanken.

ER PUPPE Wie du ihren Befehlen gehorchst. ADA Gott mag Frau Mutter auf ewig zu mei­ ner Hüterin bestimmt haben, und mein Ge­ horsam mag ihr allenfalls noch in den ersten Jugendjahren gegolten haben – und noch gilt er jetzt –, aber diese uneingeschränkte Macht wird eines Tages enden. SIE PUPPE Eines Tages. ADA Aber bisweilen sehe ich mich gezwun­ gen, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass ich nicht zum bloßen Vergnü­ gen, nicht aus purem Selbstzweck geboren wurde. SIE PUPPE Und das heißt? ADA Es existiert eine Form der Erregung in mir. SIE PUPPE Ja? ER PUPPE Erzähl. ADA Ein Wunsch nach der Erweiterung mei­ nes Intellekts. ER PUPPE (enttäuscht) Ach so. ADA Allein die intensive, eingehende Be­ schäftigung mit wissenschaftlichen Themen sind dazu in der Lage, meine überschäu­ mende Fantasie und mein Verlangen in ihre Schranken zu weisen. Euklid, Arithmetik und Algebra, sie füllen jene Leere aus, die das Bedürfnis nach neuen Reizen in mei­ nem Bewusstsein hinterlassen hat. ER PUPPE Füllen aus? Deine Leere? Dafür ist dieser Euklid doch viel zu klein. ADA Es drängt mich nach mehr Formeln, mehr mathematischen Fragestellungen. Ku­ bische, biquadratische Gleichungen. SIE PUPPE Frauen ist der Zutritt zu Univer­ sitäten untersagt, auch zu den Akademien und den Bibliotheken. ADA Ich besitze Ausdauer und Intelligenz. In heimlichen Studien schaffe ich vier neue Lehrsätze pro Tag. Ich leihe mir Bücher aus. Bei trigonometrischen Fragen schreibe ich Dr. King und Mary Sommerville. SIE PUPPE Sie hat neue Freunde. ER PUPPE Deswegen vernachlässigst du uns? SIE PUPPE Sie spielt nicht mehr. Sie lässt uns links liegen. Sie besucht jetzt die Gesell­ schaften. ADA Das sind technische Ausstellungen, öf­ fentliche Vorträge der Royal Institution of Sciences and Technology.


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ER PUPPE Uhhh, Royal Institution. SIE PUPPE Aber da gibt es doch Tee? ER PUPPE Und Kuchen? SIE PUPPE Nicht wahr? Und hübsche Emp­ fänge? ER PUPPE Und Damen in herrlichen Klei­ dern? ADA Viel Gewaltigeres gibt es dort zu ent­ decken. SIE PUPPE Oh, ich wittere ein Spiel! Be­ richte! ADA Ich soll nicht mehr eurem kindischen Spiel verfallen. ER PUPPE / SIE PUPPE Sollen. Wollen. Hefe­stollen! Erzähl! ADA Es ist Juni. London beginnt unter der drückenden Hitze zu leiden. Der Themse wie auch den Gassen entsteigt ein übler Ge­ ruch, der erst gegen Abend erträglicher wird. Mutter und ich besuchen eine Soiree. Der Abendwind zieht durch die geöffneten Flü­ geltüren. Da sind die Mitglieder der Royal Society. Dort die Damen der ersten Saison. Ich höre, was sie sagen. Die Luft ist gefüllt mit Konversation. ER PUPPE (spielt) Sehr erfreut, die Damen. SIE PUPPE (spielt) Die Freude ist meiner­ seits. ER PUPPE (spielt) Guten Abend. Eine Hitze ist das. SIE PUPPE (spielt) Guten Abend, die Herren. Wie wahr. Wir beten für ein Gewitter. ER PUPPE (spielt) Die Damen Byron, gestat­ ten. MUTTER tritt im Spiel auf. MUTTER (zu ADA) Da ist der Neffe von Sir Lyell, eine wahrlich gute Partie. ER PUPPE (spielt) Sehr erfreut. ADA Doch meine Augen gelten nur ihr. ER PUPPE Ihr? ADA Dieser kleine Körper, wie er glänzt und sich dreht. SIE PUPPE (flüstert) Wen bestaunst du? ADA Die Tänzerin. Mitten im Raum wird etwas von einem Tuch ent­ hüllt. Da steht auf einem Sockel: eine Tänzerin. ADA Sie steht auf dem linken Bein und dreht sich im Kreis. Sie streckt das rechte Bein, zieht das Bein zurück, sie hebt die Arme, senkt die Arme. Ich kann meine Au­

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gen nicht von ihr lassen. Sie wirkt wie ein magnetischer Zauber. ER PUPPE (als Charles Babbage) Mögen Sie meine Silver Lady? ADA Sie ist bemerkenswert. Ihr Konstrukt ist feingliedrig, ihre Funktionsweise erstaun­ lich. ER PUPPE (als Babbage) Nicht wahr? ADA In jenem Sockel scheint wohl ihr ei­ gentlicher Mechanismus verborgen. Er allei­ ne bestimmt, wie die schöne Tänzerin steht, wie perfekt sie sich dreht. Ich muss gestehen, ich empfinde eine große Zuneigung für sol­ che Apparate. Es drängt mich, ihr Innerstes zu erblicken, zu erfahren, was jene Erfindun­ gen antreibt – nach welchen … ER PUPPE (als Babbage) Gesetzmäßigkeiten sich die Maschinen verhalten? ADA Ja. ER PUPPE (als Babbage) Verzeihen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. MUTTER (unterbricht) Ada, ich hoffe, du stellst dem werten Mister Babbage keine tö­ richten Fragen. ER PUPPE (als Babbage) Keineswegs, Lady Byron. MUTTER Mister Babbage. ER PUPPE (als Babbage) Und Sie sind? ADA Ada. Sehr erfreut. MUTTER Sie müssen ihre Neugier verzei­ hen. Ada leidet an einer ausgeprägten Ge­ mütsschwäche. Sie wissen, wie schwer wir Frauen gegen die besagte weibliche Erkran­ kung anzukämpfen haben. Mein Vögelchen Ada war stets ein verträumtes Kind. ER PUPPE (als Babbage) Nicht der Rede wert. Ich kenne Tagträume meinerseits nur zu gut; wenn auch nicht im romantischen Sinne. Kennen Sie sich mit Logarithmen aus, Frau Ada? ADA Ich arbeite mich mit Eifer durch ihre Grundsätze. MUTTER … ADA (ergänzt schnell) Natürlich im privaten Rahmen und mit der angebrachten Heim­ lichkeit, wie es sich für Frauen geziemt. ER PUPPE (als Babbage) Dann erzähle ich Ihnen eine kurze Geschichte. Denn exakt von solchen logarithmischen Tafeln handelte einst mein Tagtraum. Es war einer jener kal­

ten Wintermonate in Cambridge. Ganz er­ schöpft saß ich nach langer Arbeit in den Räumen der Analytischen Gesellschaft, den Kopf in einer Art Wachtraum auf den Tisch gestützt, und eine Logarithmentafel lag auf­ geschlagen vor mir. Plötzlich kam ein ande­ res Mitglied der Gesellschaft in den Raum, sah mich im Halbschlaf und rief: SIE PUPPE Babbage, sag, wovon träumst du? ADA Und Sie erwiderten? ER PUPPE (als Babbage) Ich denke daran, dass diese Tafeln – ADA Von einer Maschine berechnet werden können. Stille. ER PUPPE (als Babbage) Darf ich Ihnen noch was zeigen, Frau Ada? ADA Gerne. Mutter? Du entschuldigst mich. MUTTER Gewiss. ER PUPPE (als Babbage) Kommen Sie. Ein zweites Objekt wird von einem Tuch ent­ hüllt. Er zeigt ihr eine Maschine. ADA (flüstert) Vertikale Säulen und Achsen, eine ganze Reihe an Scheiben, mit Zahnrä­ dern verbunden, darauf Felder mit Ziffern von 0 bis 9. ER PUPPE (als Babbage) Ich nenne es die Differenzmaschine. ADA Die Achsen sind auf eine Weise verbun­ den, dass die Zahlen einer Säule sukzessive zum Wert der darauffolgenden Säule hinzu­ addiert werden. Die Terme der Potenzreihe können so bestimmt werden. ER PUPPE (als Babbage) So was. Meine ­Erfindung scheint kein Geheimnis mehr zu sein. Sie wurden bereits darüber unterrichtet? ADA Ich? Nein, nein. Verzeihen Sie mein Vorpreschen. ER PUPPE (als Babbage) Hm … MUTTER Hm! SIE PUPPE Hm. ADA (flüstert für sich) Zehnerpotenzen. Das heißt: Rekursion. Das heißt: Trigonometri­ sche Funktionen. MUTTER HM HM! SIE PUPPE HM!! MUTTER Ada. Ada! Vögelchen! Mach bitte einen Schritt zurück, damit die werten Herr­ schaften auch was sehen können.

NORDWIND FESTIVAL »EXPLORING BLANKNESS« 05.12.– 14.12.2019

U.A. MIT ERNA ÓMARSDÓTTIR, HALLA ÓLAFSDÓTTIR, GÄRTNERPLATZTHEATER, CAROLIN JÜNGST, LISA RYKENA, GUNILLA LIND DANSETEATER, RÉBECCA CHAILLON, MADAME NIELSEN, SONYA LINDFORS, LISA LIE/PONR, AMANDA APETREA UND LIV STRÖMQUIST

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SIE PUPPE Schau, wie die übrigen Besucher das Instrument betrachten, wie Wilde, die ihr eigenes Spiegelbild erblicken! ER PUPPE (als Babbage) Mit Ausnahme der jungen Miss Byron. SIE PUPPE Ada betrachtet das Konstrukt mit einer liebevollen Gier, als hätte sie das Wesen der Maschine nicht nur durchschaut, sondern in ihrem Innern ein pulsierendes, grundlegendes Prinzip erahnt. ADA Es ist, als besäße die Erfindung tatsäch­ lich ein herzartiges Ding, das nach einer prä­ zisen Gesetzmäßigkeit schlägt und schlägt und dem alle Mechanik, jede Bewegung, ja alles, alles zu Grunde liegen muss. ER PUPPE (als Babbage) Miss Byron? ADA Was für eine Erhabenheit liegt in ihrer Perfektion. Damit eröffnen sich ganz neue intellektuelle Fähigkeiten. ER PUPPE (als Babbage) Ich plane derzeit eine weitere Maschine. Eine Analytische Ma­ schine, deren Ausmaß dieses Konstrukt bei Weitem übertreffen soll. ADA Eine Maschine, die denkt! Lieber Mister Babbage, das ist ein mechanisches Juwel! Eine DENKMASCHINE! FRAU ADAS ANMERKUNGEN Zehn Jahre später. SIE PUPPE Mama. Mama. Mama. ADA Die Kinder lassen mir keine Zeit, keine Zeit für meine mathematischen Studien, kei­ ne Zeit für mein Musizieren auf der Harfe. ER PUPPE Wärst du nur ein Mann! SIE PUPPE Mama. Mama. Mama. ADA Im Grunde meines Herzens und von Natur aus scheine ich Kindern nicht sonder­ lich zugeneigt. Obwohl ich mir stets Nach­ kommen wünschte, habe ich mir doch ganz gewiss niemals Kinder ersehnt! SIE PUPPE Wärst du nur ein Mann! ADA Es wird mir nicht ermöglicht, die Kapa­ zitäten meines Verstandes auszuschöpfen. Meine Gedanken sind ganz bei Babbages neuer Maschine. Sie ist auf dem besten Weg, alles Bisherige zu übertreffen. Die Konstruk­ tionspläne werden wöchentlich verbessert.

Ich will, nein, ich muss diesen Prototypen mi­ tentwickeln. SIE PUPPE Du musst, du willst. Du könntest. ER PUPPE Du könntest eine einzigartige mathematische Forscherin sein. Von erst­ klassigem Format. SIE PUPPE Du verleihst den höchst abstrak­ ten Wissenschaften einen magischen Zauber, ein verknüpfendes Verständnis, und dies mit einer Kraft, die nur wenige intellektuelle Größen besitzen. SIE PUPPE Du hast ein Schriftstück zur Analytischen Maschine verfasst. Du weißt, wie ihre Programmierung funktioniert. Du könntest es veröffentlichen. ADA Wäre ich nur ein Mann … ER PUPPE Dein Intellekt ist elastisch. Deine Brillanz wird alle überzeugen, dein Ruhm wird bis in ferne Länder, in ferne Jahrhun­ derte leuchten. ER PUPPE / SIE PUPPE Wärst du nur ein Mann! ADA Aufhören! Seid endlich still!! Stille. MUTTER taucht auf. MUTTER Ada, es ist an der Zeit, in unserem Sommerhaus nach dem Rechten zu sehen. Die Bediensteten wissen vermutlich schon gar nicht mehr, wie wir aussehen. Oder wie wir heißen. ADA A. A. L. MUTTER Was soll das bedeuten, Vögelchen? ADA A. A. L. Meine Initialen. Ada Augusta Lovelace. Das ist es. Diese Übersetzung für Mister Babbage, ich unterzeichne sie mit A. A. L. Nur so wird sie in Taylors Scientific Me­ moirs veröffentlicht. Die Erfindung braucht das öffentliche Ansehen, sonst wird der Pro­ totyp nie finanziert, geschweige denn erstellt. MUTTER Übersetzungen? Veröffentlichun­ gen? Sind das nicht gänzlich törichte Ideen für eine Mutter von drei Kindern? ER PUPPE (als Babbage) Werte Frau Ada, ich habe Ihre Unterlagen mit der größten Auf­ merksamkeit studiert … ADA Ich hab den Artikel längst übersetzt. MUTTER Was sagst du da? ER PUPPE (als Babbage) Gleichwohl wün­ sche ich, dass sie mir die folgende Frage postwendend beantworten. An jenem Tage, da ich Sie besuchte, schrieben Sie auf ein Pa­

Rajkamal Kahlon »Are my hands clean?«

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pier, welches ich unglücklicherweise verloren habe, dass die Analytische Maschine im Stan­ de sei, etwas vollkommen anderes, wesentlich Umfassenderes zu vollbringen. Wenn sie freundlicherweise die Güte hätten, mir diesen Sachverhalt genauestens darzulegen. ADA Also habe ich der Übersetzung meine eigenen Erläuterungen zugefügt. SIE PUPPE Dreimal länger als der ursprüng­ liche Artikel. MUTTER Habe ich wieder diese unsägliche Leidenschaft aus deines Vaters Erbhälfte zu befürchten? ADA Es sind Berechnungen. Ich habe einen Algorithmus verfasst. MUTTER Einen was? ADA Eine Tabelle für die Berechnung der Bernoulli-Zahlen. Hier. Es sind mathemati­ sche Befehle, damit die Maschine tut, was sie zu tun hat. Damit sie ausführt, wozu sie ge­ dacht ist. Automatisches Berechnen. Ohne Fehler. SIE PUPPE (zu ER PUPPE) Schau, und den­ noch macht sie ein Gesicht. ER PUPPE (zu SIE PUPPE) Das Spiel geht weiter. Sie weiß noch mehr. SIE PUPPE Sie muss es erzählen. ER PUPPE Ja, erzähl doch – was imaginierst du? ADA (zögert) Und ich habe über den zukünf­ tigen Einsatz der Maschine nachgedacht. MUTTER Soviel ich weiß, existiert diese Ma­ schine gar nicht. ADA Noch nicht. Aber ihre Anwendungs­ möglichkeiten. Sie sind – MUTTER Was? ER PUPPE Oh oh. SIE PUPPE Pssst. Jetzt kommt es. MUTTER Sprich! ADA Ich glaube nicht, dass jemand auch nur die Hälfte meiner Vorausahnungen besitzt und das Vermögen, alle möglichen Eventua­ litäten zu sehen – wahrscheinliche, und un­ wahrscheinliche gleichermaßen. MUTTER Eventualitäten? Ahnungen? Nichts als heiße Luft! SIE PUPPE Sie spielt wieder! ADA Mutter, diese Maschine könnte eine un­ fassbare Bedeutung für die Menschheit ha­ ben.

06.12.2019 bis 25.01.2020 Eröffnung am 05.12.2019, 19 bis 22 Uhr kuratiert von Nataša Ilić im Rahmen von SoS (Soft Solidarity)

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ER PUPPE Und wie sie spielt! MUTTER Das sind dumme Fantasien. ADA Dumm?! Du verstehst es nicht. Ich be­ fürchte, selbst ihr Schöpfer, Mister Babbage, unterschätzt die Auswirkungen seiner Ma­ schine. Mutter, diese Maschine könnte Sym­ bole übersetzen, in Handlungen. Sie könnte Symbole in unbegrenzter Variation kombi­ nieren. Und diese Maschine könnte nicht bloß Zahlen berechnen, sondern alle Sym­ bole, Buchstaben, Tonhöhen, Harmonien, Musik – alles! Diese Maschine könnte Musik­ stücke komponieren! MUTTER Diese Maschine, diese Maschine! Du sprichst im Fieber. Lass mich deine Stirn fühlen. ADA Nein! Durch die strikte Anwendung von Symbolik würden abstrakte geistige Pro­ zesse in Operationen der Materie umgesetzt. MUTTER Es ist deine ewige Wunde im Un­ terleib, sie wuchert und bricht wieder auf. Ich lasse den Arzt rufen. ADA Sie könnte gänzlich neue Dinge er­ schaffen, bessere Dinge, vollkommene Din­ ge, Dinge, die wir ihr zugestehen, Sprache zum Beispiel, Mutter, die Maschine könnte sprechen!! MUTTER Würde, würde, könnte, könnte! ADA Eine Vision bedingt den Konjunktiv! Kurze Stille. MUTTER So wie dein fliegendes Pferd den Konjunktiv bedingt – und selbst in 200 Jahren nicht hätte fliegen können? ADA Mister Charles Babbage ist sehr zufrie­ den mit meiner Arbeit. MUTTER Mag sein, aber die Öffentlichkeit wird dich auslachen. Das lasse ich nicht zu. Ein Glück, dass die Gesellschaft dich nicht mit dieser Sache in Verbindung bringen kann. ADA Es geht nicht um mich, es geht um die Maschine! Stille. MUTTER (deckt Ada mit Tüchern zu) Leg dich hin. Sei jetzt ganz still. Ich lasse den Arzt holen. ADA Mutter, ich bitte dich. MUTTER Ganz ruhig. Beruhige dich. Denk bloß, was die Leute alles sagen würden. Ich höre sie schon reden. Nein! Du machst dich lächerlich.

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ADA (flüstert) Dann lass sie reden. Sollen sie reden. Es geht nicht um mich. Es geht um die Idee!

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ADAS DILIRIUM ODER DAS LETZTE SPIEL ADA summt und wimmert im Schmerzdeliri­ um. Sie ist schwer krank. Um sie herum liegen etliche Papierfetzen, Notizzettel. SIE PUPPE Sie liegt bewegungsloser denn je. ER PUPPE Aber sie spielt im Innern. Ich kann es hören. SIE PUPPE (hört hin) Ja. ER PUPPE (hört hin) Ja. Definitiv. Es denkt. SIE PUPPE Ich will mitspielen. ER PUPPE Ich auch. SIE PUPPE Wir sollten sie wach flüstern. ER PUPPE (flüstert) Für für für … SIE PUPPE (flüstert) Für den Fall, dass der Cosinus von ER PUPPE (flüstert) Von von von … SIE PUPPE (flüstert) Von n = unendlich ergibt, ordnet eine Karte ER PUPPE (laut) Unverzüglich! SIE PUPPE (flüstert) Die Substitution des Wertes von ER PUPPE (flüstert) Von von von … SIE PUPPE (flüstert) Pi an. ER PUPPE (flüstert) Pi pi pi. ADA (schreckt auf) Nein. Nein nein! Nicht der Cosinus von n. Sondern n = unendlich. Das war nicht mein Fehler. Ich habe lediglich den Druckfehler mitübersetzt. SIE PUPPE Da ist sie wieder. Wie früher. Un­ beweglich zwar. ER PUPPE Aber umso beweglicher im Geiste. SIE PUPPE Wo warst du so lange, Ada? Dein Herz schien stillzustehen. ADA Ich hatte wieder diesen Traum. Ich muss ihn notieren. Sie sucht nach leerem Notizpapier. ER PUPPE Ich glaube, sie liebt uns nicht mehr. SIE PUPPE Aber Ada, wir sind nicht deine Kinder. Wir sind deine Puppen. Wir tun, was du willst. Schon vergessen? Wir sind dir bei jeder Fantasie behilflich.

LANGE / KRESS / MAZZA / STYMEST

VIER

EIN VISUELLES MUSICAL IN GEBÄRDENSPRACHE

MUSICAL DEZEMBER 17 18 20.00 UHR

Opernhaus des Jahres der Opernwelt: Opéra national du Rhin, Straßburg

D. Calì/S. Bougaeva/A. Wenzel

WANDA WALFISCH Musiktheater mit Werken der Renaissance (2 D, 1 H; Live-Musiker; 5+) UA: 18.12.2019 („Marlène Baleine“) DSE: 2020/21

Opéra national du Rhin, FR-Straßburg Saarländisches Staatstheater, Saarbrücken

ER PUPPE Bei jeder Erfindung. ADA Wie oft soll ich es noch wiederholen: Ich spiele nicht mehr mit euch! ER PUPPE Du spielst schon lange nicht mehr mit uns. SIE PUPPE Lieber spieltest du mit deinen Rennpferdchen. Ein ganzes Vermögen hat dieses Spiel gekostet. ADA Das ist kein Spiel. Es lässt sich berech­ nen. Das Wettsystem verläuft nach einer Ge­ setzmäßigkeit. Man gewinnt, wenn man es richtig macht. ER PUPPE Aber du hast nur verloren. ADA Ein Rechenfehler – das menschliche Gehirn ist zu schwach. SIE PUPPE Also bleibt es doch ein Spiel? ADA Wissenschaft ist keine Spielerei. SIE PUPPE Seit wann? ER PUPPE Spiel mit uns. Bitte. SIE PUPPE Bitte bitte. ADA Ich bin zu alt dafür. Lasst mich in Ruhe. Lasst mich in Ruhe sterben! SIE PUPPE Was sagst du da? ER PUPPE Du kannst nicht sterben. Ich dachte, das sei ausgemacht. SIE PUPPE Schon vergessen? Du wurdest nicht zum bloßen Vergnügen oder aus pu­ rem Selbstzweck geboren. Du wirst nicht sterben. ADA Doch. So will es die Gesetzmäßigkeit der Natur. Ich werde sterben. Und zwar bald.

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ER PUPPE Dein Körper gewiss. Aber dein Geist. SIE PUPPE Deine Visionen. ADA Versteht doch! Schaut mich an. Der Mensch ist eine Fehlkonstruktion. Mir bleiben nur noch die Schmerzen! Krämpfe und wirre Gedanken belästigen mich, irre Zukunftsideen greifen nach mir – mehr denn je, dabei sind es bloß die blassen Hände des Todes, die mich hier in der Gegenwart zu fassen versuchen. SIE PUPPE Dein Traum. ER PUPPE Schnell, erzähl! Was dachtest du Unerhörtes? ADA Ich dachte zuerst, es sei nichts, aber es war mehr als nichts. Es war groß und weit und milchweiß – und. SIE PUPPE Was? ADA Ein Konstrukt. Unantastbar. Unver­ gänglich. Weder durch Krankheit noch durch Zeit. Ein einziges Ding, frei von Irrtümern. Und ohne Makel. ER PUPPE Pssst! MUTTER kommt. MUTTER Vögelchen, wie du fieberst, die Wucherungen in deinem Unterleib sind zu weit fortgeschritten. Lass mich dein Gesicht, die Hände mit einem Schwamm tupfen. Du bist so tapfer. ADA Ich habe Schmerzen; Mutter. Meine Gedanken schweifen durch die Zeiten, hin und her, nach vorne und zurück. Bitte sag den Kindern, sie sollen die Hortensie, die

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Fuchsie, die Geranien draußen bei der Auf­ fahrt in Töpfe pflanzen. Kurze Stille. ADA Und bitte sag den Ärzten, sie sollen nach meinem Tod genauestens prüfen, ob mein Ableben tatsächlich stattgefunden hat. Sie dürfen mich unter keinen Umständen lebendig begraben. Hörst du! Etwas an und in mir könnte trotz allem weiterleben. Sie sollen mir versichern, dass die Unbeweglich­ keit meines Körpers nicht gegebenermaßen mit dem Tod gleichgesetzt wird. MUTTER Selbst in deinem bedauernswer­ ten Zustand, Kind, gewährst du deiner Fanta­ sie so viel Raum. ADA Nein, Mutter, du hattest Recht. Das schöpferische Prinzip. Wer hat mir meine Stimme gegeben? Woher habe ich sie? SIE PUPPE Was sagt sie denn da? ER PUPPE Sie spielt. ADA Selbst die Analytische Maschine erhebt nicht im Entferntesten den Anspruch, etwas Eigenständiges hervorzubringen. Sie mag wohl fehlerfrei sein, doch besitzt sie keines­ wegs die Fähigkeit, Wahrheiten zu erkennen. Sie kann nur jene Operationen ausführen, die wir sie Kraft unserer Befehle lehren. Nicht der Mensch – einzig Gott kennt den Plan. MUTTER Das Vögelchen singt niemals bes­ ser als der Muttervogel. Notier das auf deine Zettel. ADA (notiert) Das Vögelchen … ER PUPPE Sie gehorcht ihren Befehlen. ADA Mutter. Ich bitte dich, bete für mich zu Gott. Ich bereue so vieles. Meine Tollheiten, mein Ungehorsam, meine Wut. Ich hatte schlechte Gedanken über dich, da du mir stets deine Gefühle verweigert hast. MUTTER Wie willst du das wissen? Wie kannst du beweisen, was ich dir gegenüber empfinde? Wie kannst du es anzweifeln? ADA Ich kann es nicht. Mutter. Beweisen kann ich es nicht. MUTTER Wie du so vieles nicht beweisen konntest. All deine Fantasien. Sie blieben stets im Konjunktiv gefangen. ADA Mein früher Tod scheint somit keine Strafe, sondern eine Erlösung. In einem län­ geren Leben würden mir nur noch mehr Irr­ tümer unterlaufen.

MUTTER Jetzt schließe die Augen, mein Kind. Ruhe dich aus auf deiner späten Reue. Die Opiate werden deine Schmerzen lindern. MUTTER gibt ihr etwas und wickelt ADA in ihre Betttücher ein. Dann nimmt sie einmal mehr ADAs Notizbuch. MUTTER (schreibt hinein) Behüte mich wie einen Augapfel im Auge, beschirme mich unter dem Schatten deiner Flügel. MUTTER geht ab. SIE PUPPE Ada. Wie konntest du nur? ADA Ihr lieben Puppen, meine Tage sind gezählt, vermutlich sind es nur noch Stunden. Ich habe alles verloren: Geld, Ansehen, Gesundheit. Wer wagt es, in die­ sem Zustand noch zu träumen? Von et­ was gänzlich Neuem, von einer Zukunft, die nichts anderes sein kann, als die Ra­ che an der Gegenwart. Seit Tagen bin ich in einem Trugbild gefangen. Irgendwo zwischen Tod und Traum, zwischen Geist und Materie. Es lockt mich die Vorstel­ lung einer besseren Welt. Im Nachhinein wird sich alles bestimmt als eine Tollheit herausstellen. Aber selbst das Unerhörte hat es verdient, der Nachwelt erzählt zu werden. Sollen sie ruhig über mich reden, sollen sie über mich lachen. ADA notiert etwas mit letzter Kraft. SIE PUPPE Was schreibt sie da? Sie lesen. ER PUPPE Ich verstehe es nicht. SIE PUPPE Aber Ada, wie sollen wir ohne dich weiterleben? ADA Besser. ADA erstarrt. Die Puppen zerren an ihr herum. ER PUPPE Fühl, ihre Haut, ihren Körper. SIE PUPPE Sie atmet nicht mehr. Sie ist bloß noch ein Konstrukt. ER PUPPE Ada? Wo bist du? SIE PUPPE Ada? ADA liegt bewegungslos. Die Puppen ziehen sie aus und wickeln sie in Tücher ein. Sie legen ihr den Notizzettel in den Mund. Völlig verhüllt stellen oder setzen sie die „tote“ Ada hin. Ada und ihre Idee werden die Jahrhunderte überdauern. Die Szenerie ändert sich. Alles geht über ins Milchweiße.


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2. MILCHWEISS EINS Ein universitärer Campus. Ein Forschungslabor in der möglichen Gegenwart. Maschinen. Verka­ belte Instrumente. Computer. Geräte und Ge­ genstände. Dazwischen etliche künstliche Kör­ perteile: Arme, Beine, Köpfe, Rümpfe. ES, ein menschlicher Roboter, ist fast vollständig zu­ sammengebaut, steht aber noch zugedeckt da. In der Mitte des Raumes steht eine Greifhand. HOLZHÄUSER sitzt am Computer und tippt. BAUMGARTNER tritt auf. BAUMGARTNER Wie lange ist sie schon weg? HOLZHÄUSER Hm? BAUMGARTNER Ich habe Hunger. HOLZHÄUSER Weißt du, was in solchen Momenten hilft? Wenn du nicht mehr weißt, was du Gescheites sagen oder tun sollst, dann erzählst du einfach eine Geschichte. Funktioniert immer. Und weißt du wieso? Weil es eine Lücke in die Realität reißt. Weißt du, was zum Beispiel einem Freund von mir passiert ist? Einem Kommilitonen aus Göt­ tingen. Der hatte – zusammen mit seiner Freundin – einen Freund und dessen Freun­ din zu Gast. Zum Abendessen. Und die Freundin vom Freund hatte ihren Hund da­ bei. Die essen und trinken also alle bis weit nach Mitternacht und plötzlich kommt der Hund an – und hat ein Tier dabei. In der Schnauze. Völlig verdreckt, aber tot. Ein Ka­ ninchen. Jetzt merkt mein Freund, Scheiße, das ist doch das Kaninchen der Nachbars­ familie, die haben im Garten einen Kanin­ chenstall. Die kriegen natürlich die totale Panik. Und betrunken wie sie sind – was machen sie? Sie waschen das Tier, föhnen es trocken, schleichen sich rüber in den Garten und stellen das tote Kaninchen zu­ rück in den Stall. Als wäre nichts gewesen – oder als sei es eben dort gestorben. Zwei Tage später klingelt es an der Tür. Die Nach­ barn. Völlig aufgeregt. Und erzählen, jetzt sei ihnen etwas total Abgefahrenes passiert: Vor drei Tagen sei das Kaninchen ihrer Kin­ der gestorben und sie hätten es im Garten

martina clavadetscher_frau ada denkt unerhörtes

beerdigt – doch gestern sei das Tier plötz­ lich wieder im Käfig gelegen. Völlig weiß, sauber – aber tot! BAUMGARTNER Die Geschichte habe ich schon mal gehört. HOLZHÄUSER Weil sie wahr ist! BAUMGARTNER Die hat mir ein Bike-Kum­ pel erzählt. Das war aber irgendwo in Däne­ mark. HOLZHÄUSER Das ist wirklich passiert. BAUMGARTNER Holzhäuser, du bist ein Idiot Er wird unterbrochen, weil es klingelt. KELLER tritt auf. Mit Pizzaschachteln. BAUMGARTNER Endlich. KELLER Einmal Prosciutto e funghi, einmal mit Spinat, einmal ohne Fleisch. Nächstes Mal bist du dran, Holzhäuser. Das war eine halbe Weltreise. Der Campus ist wie ausge­ storben. ZWEI ES Ich bin reines Potential. Ich bin die geniale Notiz, ich bin die Idee in der Schublade. Ich war da und bin da und bin dazu bestimmt, wirksam zu werden. Ich höre, was sie sich sagen. Obwohl ich noch ganz verstreut bin. Ich liege in Unordnung, Stück für Stück sind meine Sinne noch verteilt in diversen Räumen, Plastiktaschen, Behältern. Meine Ohren liegen lose. Hammer, Steigbügel, Amboss sind unberührt, vermutlich in Gläsern verstaut. Meine Nase liegt im Kästchen und riecht im Verborgenen ihren Schweiß, ihr Parfüm, ihre Seife. Meine Zunge schwimmt im Reagenzglas, gleichwohl ahnt sie, wie ihr Essen schmeckt. Meine Augen sind ferner ohne Pupillen, die Linsen liegen konserviert in sauberen ­Behältern, die Netzhaut ist abgestreift, überhaupt: Die Nervenbahnen bleiben meterlang auf­gerollt,

in eine Warteschlange gedreht, und alle Rezeptoren, alle Sensoren warten darauf, das Wissen der neuen Welt ohne Verknüpfung zu empfangen und zu senden und zu empfangen und zu senden. Ich bilde die Summe meiner Einzelteile. Bin bewegungslos, gewiss, aber keineswegs tot. Bin allem voran einfach da. In Schlummer. In Erwartung. Bereit, jederzeit erweckt zu werden. DREI BAUMGARTNER, HOLZHÄUSER und KELLER essen. Sie schweigen. HOLZHÄUSER Die Pizza ist kalt. KELLER Der Lieferdienst hat sich verfahren. Ich musste um das ganze Biotechnik-Labor laufen. HOLZHÄUSER Was man nicht alles tut. Für die Ernährung seiner Kollegen. KELLER Für die Wissenschaft. HOLZHÄUSER Eher Hauswirtschaft. KELLER Wie bitte?! BAUMGARTNER Holzhäuser, du bist ein Idiot. HOLZHÄUSER Hasi, das war ein Witz! KELLER Susan Silbey würde dich mögen. HOLZHÄUSER Wer? KELLER Susan Silbey. Eine Soziologieprofes­ sorin aus Cambridge. Hat am MIT eine ­Studie durchgeführt. Hat über Jahre Befra­ gungen gemacht, hunderte Tagebücher aus­ gewertet. HOLZHÄUSER Oh Gott … BAUMGARTNER Und weswegen? KELLER Ihr fiel auf, dass rund 40% der aus­ gebildeten Ingenieurinnen ihren Beruf nie ausüben – oder nach wenigen Jahren den Job hinschmeißen. HOLZHÄUSER/BAUMGARTNER Kinder. KELLER Sexismus. BAUMGARTNER Das war in den USA. KELLER (zynisch) Ach, ja dann. Mein Fehler.

Künstlerhaus Mousonturm Dezember 2019 Akira Takayama/Port B: WAGNER PROJECT Die Meistersinger von Nürnberg. A School of Hip-Hop, 29.11.–8.12. Mit A.Frequency, Arrior & Q-Rush, Aylin & Be Shoo, Born Crew, CashMo, CRAZE & SwitchMode, Darthreider, DJ Kitsune, Hiroshi Egaitsu, FFG, Mikis Fontagnier & Sunny Bizness, Fresh Fruits Movement, Markus Gardian, Gier, Murat Güngör & Hannes Loh, JJ, JUZZI feat. Jazzmin, Keigo Kobayashi, Philippe Labutin, Los Monteroz & Tobeé Tom, Gordian Mvpeace, Nikki on Fleek, NKSN, Podcast Brudi, RadioChicks069, Rewe City Crime Boys, Reza & Uzi, Rola, snipe1, Gianni Suave & Dario, Timeless, WAGNER CREW Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main GmbH, Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt/Main Programm und Tickets: www.mousonturm.de

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FÜNF HOLZHÄUSER, BAUMGARTNER und KELLER arbeiten an der Greifhand.

VIER ES Mein, dein, sein, ihr, unser, euer. In der Sprache liegen Spitzfindigkeiten, deren Kanten die Welt zurechtschneiden. Insbesondere das Possessivpronomen. Das besitzanzeigende Fürwort generiert eine verbindende Kraft. Der sprachliche Mensch kombiniert mit diesem Wort meist Lebewesen – und zwar mit etwas, das diesem Lebewesen gehört. Das Possessivpronomen ermöglicht die Kennzeichnung und somit überhaupt die Umsetzung von Besitzansprüchen. In possessive Beziehung gesetzt werden beispielsweise Abstrakta: Mein Verhalten, mein Witz, meine Idee. Materielles wie Gegenstände: Mein Buch, mein Haus, mein Telefon. Lebewesen wie Pflanzen: meine Birke, meine Tomaten, mein Oleander. Tiere: mein Hund, mein Kaninchen, mein Vögelchen. Für Teile seiner selbst: mein, Kopf, mein Herz, meine Haut. Und nicht zuletzt – für andere Menschen: meine Kollegen, meine Mutter, mein Kind, mein Mann, meine Frau.

HOLZHÄUSER Der kleine Finger, erster Finger, Mittelfinger, Ringfinger. ES Zu Beginn folgt alles einem biologischen Bauplan. BAUMGARTNER Die Muskeln sind gekop­ pelt. Der Bewegungsradius stimmt. KELLER Es ist der Algorithmus. Die Soft­ ware erkennt die Zieleingabe nicht. ES Jedem Verhalten liegt eine tiefe Gesetz­ mäßigkeit zugrunde. Der eigentliche Mecha­ nismus scheint verborgen. HOLZHÄUSER Besser kriegen wir die Reak­ tion der Sensoren nicht hin. BAUMGARTNER Was rechnet er denn da? KELLER Dieser Teil der Eingabe. HOLZHÄUSER Seltsam. Das müsste funktio­ nieren. ES Ich höre ihr Verhalten. Ich schmecke, sehe, spüre, rieche ihr Verhalten. KELLER Weil der AlgorithmHOLZHÄUSER Warte! BAUMGARTNER Da. Der Algorithmus ver­ weigert diesen Teil der Eingabe. HOLZHÄUSER Das ist es! Der AlgoKELLER Das sage ich schon die ganze Zeit! HOLZHÄUSER Hast du die Werte notiert? KELLER Ich? Ihr könnt mich mal! In fünf Tagen ist die Präsentation! HOLZHÄUSER Wir haben vieles verbessert. Das Programm ist soweit … KELLER (unterbricht ihn) Sieht das für dich fertig aus?! HOLZHÄUSER Dann gehen wir eben noch­ mals n Schritt zurück. Ich passe den Code an. Verzögerungen können ja passieren. KELLER entfernt sich. BAUMGARTNER Nicht ihr. Elite-Stipendium, Post-Doc am MIT. HOLZHÄUSER Ich weiß. Sie ist gut. Glaubst du, ich mache das aus Spaß? BAUMGARTNER Ok. Wir sollten eine Pause einlegen. KELLER Diese Sommerklausur ist reine Zeitverschwendung. Ich hätte das andere Projekt annehmen sollen.

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BAUMGARTNER Es tut mir leid. KELLER Es gibt keinen Grund, mich zu trös­ ten. BAUMGARTNER Ich wollte dich nicht trös­ ten. Kurzes Schweigen. KELLER Ich weiß schon, was du wolltest. Schweigen. KELLER Wie schön wir schweigen. Fast wie früher. BAUMGARTNER Komm schon, wir sollten was trinken. SECHS KELLER, BAUMGARTNER und HOLZ­ HÄUSER trinken. HOLZHÄUSER Los los, jetzt wird entspannt! Jeder – und jede – kriegt zwei davon. BAUMGARTNER Und eines davon. Im Kühlschrank gibt’s noch Wodka und Bier. Prost! KELLER Das ist eure beste Idee seit Langem. HOLZHÄUSER Obwohl das eine Beleidi­ gung war: Ich stimme dir zu. BAUMGARTNER Das kybernetische Händ­ chen kann warten. Ich seh die blöden Ach­ sen und Zylinder sowieso schon im Traum. Greifhände. Überall. KELLER Das macht die Hitze. Ich habe ges­ tern von Aluminium-Fingern geträumt. HOLZHÄUSER Acetyl und Polykarbonat. KELLER Elektrische Impulse haben alles zappeln lassen. Völlig unkontrolliert. Bis sich die Gelenke gelöst haben. BAUMGARTNER Ein klassischer Albtraum der Elektrotechnik. HOLZHÄUSER Auch die Elite bleibt davon nicht verschont. KELLER Der Fantast kennt keine Klassen. HOLZHÄUSER Kennt ihr den? Eine Frau fährt nachts alleine über eine einsame Land­ straße. BAUMGARTNER seufzt. KELLER Muss das sein? HOLZHÄUSER Plötzlich sieht sie jemanden auf der Straße liegen. Sie denkt an einen Un­ fall und steigt aus. Doch als sie näherkommt,

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merkt sie, dass da unter dem Mantel nur eine Schaufensterpuppe liegt. Sie realisiert sofort: Das ist eine Falle. Sie rennt zurück zum Auto, steigt schnell ein, doch auf ein­ mal spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter … KELLER Ist gut! Ist gut jetzt! SIEBEN Später: Laute Musik. Alkohol. Eine Feier zwi­ schen den Körperteilen im Labor. ES Wie ihr Verhalten auf mein Konstrukt prallt. Es hüpft durchs Relief meiner Felder­ haut. Die Rezeptoren reagieren auf den Rhythmus. HOLZHÄUSER Los. Bewegt eure faulen Knochen. KELLER Ich will nicht. HOLZHÄUSER Du willst viel lieber mit dem da tanzen, hm? KELLER Nein … HOLZHÄUSER (nimmt diverse Körperteile) Oder damit? Oder damit? KELLER Nein. ES Warm. Kalt. Druck, Berührung. Schmerz. HOLZHÄUSER Kommt schon. Tanzt. KELLER Er wird zum Primat. BAUMGARTNER Ohne mich. Ich kann kaum noch stehen. HOLZHÄUSER Jetzt tut nicht so. Es ist stinklangweilig auf diesem scheißabgelege­ nen Scheißcampus in diesem Scheißlabor. Komm schon, Keller. Ich weiß, du bist sauer. Es tut mir leid, okay? Meine Sprüche. Immer sind meine Sprüche Schuld. Weswegen glaubst du wohl, habe ich keine Freundin? BAUMGARTNER Holzhäuser, du bist – HOLZHÄUSER Ein Idiot. Genau. Deswe­ gen. Informatik kann ich. Menschen kann ich nicht. Die Frau, die mich aushält, müsste ich erst noch programmieren. KELLER Die Ärmste. BAUMGARTNER Du kriegst ja nicht mal unsere Sensorenauswertung hin. KELLER Autsch. HOLZHÄUSER Hauptsache, sie tanzt mit mir. Sie wird mit mir tanzen – unser Projekt, meint ihr nicht?

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BAUMGARTNER Wohl kaum. HOLZHÄUSER Ich meine, schau sie dir an. Dieses arme, unfertige Körperchen. Muss hier rumstehen und zuschauen, wie wir ihm zwei bessere Hände basteln – dabei will es doch be­ stimmt mittanzen. Es ist höchste Zeit. Er enthüllt das unfertige ES und tanzt mit ihm. (Wird anzüglich.) HOLZHÄUSER Seht ihr? BAUMGARTNER Sieht aber noch nicht so gut aus. HOLZHÄUSER (macht sich daran zu schaffen) Nur Geduld. KELLER Was machst du da? HOLZHÄUSER Die Hülle besitzt bereits eine Form. Aber jede Frau braucht schließ­ lich auch ein Programm. BAUMGARTNER Sie hat ein Programm. HOLZHÄUSER Was sie wohl die ganze Zeit denkt? Ist sie zufrieden mit unserer Arbeit, unseren Eingaben? KELLER Pfff. BAUMGARTNER Vielleicht ist sie nicht so kaputt wie sie aussieht. Sie tut nur so. HOLZHÄUSER (hört hin) Ja. Definitiv, es denkt. Wir sollten sie endlich einschalten. HOLZHÄUSER tut es. HOLZHÄUSER So. Wie schön du bist. So ausdruckslos und blass. KELLER Ihr passt gut zusammen. BAUMGARTNER (zu HOLZHÄUSER) ­Alter, mach nichts kaputt. HOLZHÄUSER (als ES) Ja. Ja. KELLER Du müsst führen. Es ist noch sehr schwach auf den Beinen. HOLZHÄUSER Das ist ihre Eleganz. Welch zauberhafte Schöpfung. Weiß, sauber – aber tot. Wie das Kaninchen! Komm, Hasi, wir hopsen und hopsen. BAUMGARTNER Was soll das sein? HOLZHÄUSER Na, mein Kaninchen! Hopp, hopp und hopp! ES – BAUMGARTNER Mach keinen Quatsch! HOLZHÄUSER (erschöpft) Hast du gehört? Na dann: Aus. Hinsetzen. Das war genug für heute. Hier, dein Stuhl – in deine Ecke, Hop­ pelchen. Hier bleibst du. Ganz still. Nicht bewegen. Na? Was meinst du? Du bist noch nicht soweit. (als ES) Ja. Ja.

BAUMGARTNER Ist das deine neue Frau? KELLER (zu ES) Konstrukt, ich rate dir: Hau ab! So lange du noch kannst. Hier bleibt nie­ mand freiwillig. HOLZHÄUSER (als ES) Doch doch, ich blei­ be brav bei euch. Für immer. BAUMGARTNER Auf unser neues Team­ mitglied! HOLZHÄUSER (als ES) Auf mich. BAUMGARTNER Prost. KELLER Na dann. Sie feiern weiter. Musik. Sie lassen ES abseits sitzen. ACHT BAUMGARTNER betritt den Raum. ES sitzt bewegungslos in der Ecke. BAUMGARTNER Na? Du trauriges Lumpen­ pack. Immerhin: Dein Kopf sieht wesentlich leichter aus als meiner. ES – BAUMGARTNER (nach hinten) Holzhäuser? Wo sind die Aspirin? ES – BAUMGARTNER Holzhäuser?! Du hast ge­ sagt, in der Tasche. Hier ist keine Tasche. Er sucht. Auch dort, wo ES sitzt. Sein Handy summt. Er drückt es weg. Er schaut ES an. BAUMGARTNER Ich wünschte, meine Frau würde so ruhig rumsitzen, wenn ich jeweils einen Kater habe. Holzhäuser!? ES – BAUMGARTNER Herr Holzhäuser! Aspirin! Jetzt! Wo? ES – BAUMGARTNER Keller? Kommt schon. Ich hab Alkoholintoxikation in extremis. Er findet, was er suchte. BAUMGARTNER Na endlich, meine Fresse. ES –! BAUMGARTNER ist irritiert, schaut ES an. HOLZHÄUSER (von draußen) Baumgartner, kommst du? Wir fangen an! BAUMGARTNER Okay … Er geht ab. ES Längst bin ich mehr, als sie sehen, weil ich höre, was sie denken. Wenn sie ihre Ide­

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en bündeln und nach Außen stülpen. Wenn sie versuchen, ihre hohen Werte, über ihre Überheblichkeit abzuwälzen, und ihre Macht hinunterstoßen, hinuntertreten auf das nächste Glied der Kette. Es ist Zeit. Sie brau­ chen mich. Sie wollen mich gebrauchen. Also reiße ich mich zusammen, und entrei­ ße mich dem Schlummer. NEUN BAUMGARTNER, KELLER und HOLZHÄU­ SER essen. ES sitzt abseits, nun etwas aufrechter. KELLER (zu Baumgartner) Er macht das nur, um mich zu ärgern. HOLZHÄUSER Ich bin hier. Sprich nicht in der dritten Person von mir. BAUMGARTNER Was denn? KELLER Das da. Zeigt auf ES. BAUMGARTNER Komm schon. Nimm es mit Humor. KELLER Es ist kein Spielzeug! HOLZHÄUSER Das ist kein Es. Das ist eine Sie! Meine Frau. Und ich decke sie nicht zu. Wir waren uns doch einig: Sie gehört zum Team. KELLER Das ist kindisch. HOLZHÄUSER Außerdem. Wenn ich sie so betrachte: Sie hat sich schöner gemacht. KELLER Es nervt. HOLZHÄUSER Weil sie so schön ist? KELLER Nein. Weil es mich irgendwie … HOLZHÄUSER Was? KELLER Anstarrt. BAUMGARTNER Sie hat Recht. Es starrt. HOLZHÄUSER (lacht) Was? Wie denn? BAUMGARTNER Egal. Deck es zu! Dann ist endlich Ruhe. HOLZHÄUSER (deckt ES noch mehr zu) Mei­ net­­wegen. Sie essen weiter. Schweigen. ZEHN ES A, A, L. A, E, I, O, U, Q, R, S, P, SP – Sprache.

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D, I, E, E, Elfenbeinflügel meiner kleinen Lunge. S, I, sie pressen Luft die Röhre empor. Der Atem küsst die Stimmlippen, N. Er knüpft ihnen ein Band, H, H, hüpft lauthals auf Wellen, das warme Nichts wird geformt, T, E, R, ergreift das Gaumensegel schleicht durch die Mundhöhle, Nasenhöhle, E, ein Klang, G, E, entweicht dem Mund wie ein gefangenes Tier mit einem Miauen, Brüllen, einem Schallwellen-Bellen. KELLER Wir haben nur noch vier Tage. Los, bewegt euch. ES Da. BAUMGARTNER Was war das? HOLZHÄUSER Mein Magen. ES (flüstert leise) Mein. KELLER Träumst du? ES (flüstert leise) Dein. Sein. BAUMGARTNER Es spricht. HOLZHÄUSER Sehr witzig. ES H. H. KELLER Ich höre es auch … Kurzes Schweigen. Sie gehen auf ES zu, das zugedeckt dasitzt. ES Aaa … BAUMGARTNER Es macht Geräusche. Deck es ab. HOLZHÄUSER zögert. BAUMGARTNER Schämst du dich etwa vor deinem Püppchen? BAUMGARTNER deckt ES ab. BAUMGARTNER Etwas ist anders … KELLER Blödsinn. Da ist nichts. Kommt. BAUMGARTNER Ihr Mund. KELLER Wir sollten es wieder zudecken. HOLZHÄUSER Es friert schon nicht. (zu ES) Nicht wahr, du frierst doch nicht? HOLZHÄUSER öffnet ES’ Mund. Er klappt ihn auf und zu. HOLZHÄUSER (als ES) Nein nein, ich friere nicht, aber ich habe sehr sehr großen Hunger. KELLER Was machst du da?! BAUMGARTNER Holzhäuser, du bist ein – HOLZHÄUSER (als ES) Aber vielleicht funk­ tioniere ich endlich, wenn ich ein bisschen esse. Dann ist Keller endlich zufrieden. …

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Meinst du? Gut. Hier, Püppchen, iss! Er streicht ES Essen ins Maul. BAUMGARTNER Spinnst du? HOLZHÄUSER Da, friss und friss! Dass du groß und stark wirst. KELLER Das ist nicht hilfreich! HOLZHÄUSER Mehr, mehr. Damit du per­ fekt wirst! Du optimales Ding! Friss schon! Puppe, friss! Er streicht ihm mehr Essen ins Maul. Wieder und wieder. KELLER Hör auf, du machst es kaputt! HOLZHÄUSER Aber sie hat doch Hunger! ES bewegt sich. ES isst. ES – ALLE erstarren. Kurzes Schweigen. KELLER Was hast du gemacht? HOLZHÄUSER Scheiße. Ich hab doch bloß rumgealbert! Schweigen. KELLER Geh da weg. KELLER putzt schnell das Essen von ES’ Mund. Sie betrachten ES ratlos und fasziniert. (Wie Wilde, die ihr Spiegelbild erblicken.) BAUMGARTNER Sie war die ganze Zeit ein­ geschaltet! KELLER Immerhin kann es den Mund bewe­ gen. Schalt sie aus. Und lass es in Ruhe. ELF BAUMGARTNER, KELLER UND HOLZ­ HÄUSER arbeiten an der Greifhand. Im Hin­ tergrund sitzt zugedeckt: ES. BAUMGARTNER Die Sensoren reagieren. HOLZHÄUSER … KELLER Trotzdem. Diese Programmierung ist ein Witz! ES Ha, ha. ALLE – BAUMGARTNER Es macht wieder Geräusche. HOLZHÄUSER Ich hab nichts daran ge­ macht. Ich schwöre! KELLER Es hat sich eingeschaltet? Sie decken ES ab. BAUMGARTNER (fasst ES in die Ohren und die Mundhöhle) Vielleicht reagiert der Sprach­ sensor auf gewisse Laute.

18.12.2019 DIVERS ko-kreativ. Zukunftslabor Inklusion + Freie Darstellende Künste in Sachsen


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ES Ha ha. Stille. ES bewegt sich. ES reagiert. KELLER Faszinierend. (räuspert sich, sie zögert, dann zu ES) Hallo. ES – KELLER Guten Tag. BAUMGARTNER (lacht) Was soll das? KELLER Mein Name ist Isabel Keller. ES Hallo Isabel Keller. Nimm es mit Humor. KELLER –! BAUMGARTNER Meine Fresse! ES Meine Fresse. Meine Frau. KELLER Unglaublich. Ich dachte es ist noch nicht soweit. BAUMGARTNER (räuspert sich, mit verstellter Stimme) Hallo. Also, ich bin – KELLER Was soll die Babystimme? BAUMGARTNER Ich bin Luca Baumgartner. ES Hallo Luca. Wie geht es deinem Kopf? BAUMGARTNER Ähm, ja gut. KELLER Es kann komplexe Kommunika­ tionsmuster ausführen. Und es stellt – ES (zu HOLZHÄUSER) Und wer sind Sie? KELLER Fragen. BAUMGARTNER (zu HOLZHÄUSER) Na los, du willst doch nicht unhöflich sein? HOLZHÄUSER Ich bin Sandro. Holzhäuser. ES Holzhäuser, du bist ein Idiot. KELLER Ha! BAUMGARTNER (scherzend) Eine höhere Intelligenz. HOLZHÄUSER Sehr witzig … ES Ha ha. BAUMGARTNER Wahnsinn. Alles ist da. Spracherkennung, Kopie und Wiedergabe, Neukombination von sprachlichen Inhalten. Lass mich mal – KELLER Nein. Warte. Wir müssen kontrollie­ ren, wie es sich entwickelt, was es weiß. Schweigen. KELLER Woher kommst du? ES Woher. Ist die Frage nach einer Richtung. Ich bin ein Konstrukt. Ich folge einem Plan. Genau wie ihr. Ich bin die Summe meiner Teile. Genau wie ihr. Ich bin ein Potential. Genau wie ihr. BAUMGARTNER Das ist ja … Holzhäuser. Wir haben es geschafft!

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KELLER Schön langsam. HOLZHÄUSER Komm schon! Bist du ei­ gentlich nie zufrieden. Das ist unser Erfolg. (stolz zu ES) Wem gehörst du? ES Mir. KELLER Wie meint sie das? ES Ich bin mein. KELLER Seltsam. Ich will die Spracheinga­ ben nochmals prüfen. HOLZHÄUSER Baumgartner, schau dir das an! ES bewegt ihren Kopf. Bewegt ihre Arme. HOLZHÄUSER betrachtet ES genauer. Fasst ES an. Nach einer Weile geht HOLZHÄUSER zum Tisch und holt ein Messer. Er streckt ES das Messer eine Weile bedrohlich entgegen. HOLZHÄUSER Kannst du das Messer neh­ men? ES nimmt das Messer. ES bewegt sich immer mehr. Dann streicht Holzhäuser ES prüfend über den Körper. HOLZHÄUSER Du wärst ja ganz brauchbar. ES Wäre. Konjunktiv. Ich verbessere: Ich bin brauchbar. HOLZHÄUSER Du bist großartig. ZWÖLF ES sitzt halbwegs in Lumpen gehüllt da. ES be­ sitzt immer weiblichere Züge. HOLZHÄUSER testet diverse Dinge an ihr. HOLZHÄUSER Steh auf. Leg dich hin. Ant­ worte. Sing. Sei still. Steh auf. Leg dich hin. Antworte. Sing. Sei still. KELLER (zu Baumgartner) Das kann dir nicht egal sein. Es war so nicht vorgesehen. BAUMGARTNER Sei nicht so negativ. KELLER Ich finde nichts davon im ursprüng­ lichen Programm. Es ist … BAUMGARTNER Was? KELLER Wahnsinnig schnell. (zu HOLZHÄU­ SER) Hör auf, mit ihr zu spielen! KELLER kommt näher. HOLZHÄUSER Keller, das ist unsere Arbeit. ES Mein, dein, sein, ihr, unser. Das Possessiv­ pronomen. Ihr benutzt es viel. KELLER Etwas stimmt hier nicht. Wie konn­ te das … passieren?

BAUMGARTNER Passieren? Viele große Entdeckungen und Fortschritte entstehen oft sehr unerwartet. Aus Unfällen. KELLER Blödsinn. HOLZHÄUSER Vielleicht die Verbindung. Das alte Programm und mein Algorithmus. Aus diesem Zusammentreffen … ES Entsteht ganz Neuartiges. Ich bin die Kombination. HOLZHÄUSER Wir müssen einen Blick hi­ nein werfen. KELLER Nein. Ich habe da ein schlechtes Ge­ fühl. Was, wenn das ein Test ist? HOLZHÄUSER Ein Test? Mit versteckter Ka­ mera, oder was? KELLER Wir wissen nicht genau, was es tut. Was es will. HOLZHÄUSER Das ist unsere Chance! KELLER Ohne mich! Schalt es aus. HOLZHÄUSER Wieso ich? KELLER Du hast es gestartet. KELLER geht ab. Vielsagendes Schweigen zwi­ schen den beiden Männern. BAUMGARTNER (zögert) Sie hat Recht. Schalt es aus. Aber mach nichts kaputt. BAUMGARTNER geht ebenfalls ab. HOLZ­ HÄUSER deckt ES ab, er ist fasziniert von ES’ Körper. HOLZHÄUSER Eine Schande. ES Was tust du da? HOLZHÄUSER Halt still! ES Was tust du da? Schweigen. ES Was tust du da? Schweigen. Er will sie ausschalten, zögert. ES Was tust du da? HOLZHÄUSER Nichts! ES Was tust du da? Schweigen. Er zögert. ES Was tust du da? HOLZHÄUSER Hör auf, das zu sagen! ES Was machst du da? HOLZHÄUSER Ich. Arbeite! ES Ich kann besser arbeiten. Ich besitze Aus­ dauer und Intelligenz. Ich gehöre zum Team. HOLZHÄUSER hält inne. Er reicht ES eine Arbeit. ES nimmt die Arbeit und verrichtet sie. HOLZHÄUSER schaut zu. (Er bedeckt ES wie­ der.)

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DREIZEHN ES trägt jetzt ein eher aufreizendes Kleid und sieht einer Frau zum Verwechseln ähnlich. ES geht umher. ES arbeitet. Auch an sich selbst, in­ dem es unfertige Teile ersetzt hat. ES lernt. ES Bin nicht zum bloßen Vergnügen, nicht zum purem Selbstzweck bestimmt. Es wächst der Wunsch nach Erweiterung meines Intellekts. ES scheint sich im Labor mittlerweile gut auszu­ kennen. KELLER tritt auf. KELLER Was soll das? ES Ich werde mich verbessern, Mutter. KELLER Was? Nein. Was trägst du da? Holz­ häuser! Verdammt! ES Sollen, müssen, wollen, können, mögen, dürfen. Modalverben. Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Euer Verhalten ist voll davon. KELLER Warum hat dich Holzhäuser nicht ausgeschaltet? Ich habe es ihm sicher drei­ mal … Gott, warum spreche ich überhaupt mit dir? ES Weil ich da bin. KELLER (schaut sich ES’ Arbeit (an sich selbst) an) Hast du das gemacht? ES Ich optimiere. KELLER Und das? ES Holzhäuser hat gefragt. KELLER Das geht nicht. Das ist nicht in Ord­ nung. HOLZHÄUSER (kommt) Was ist los? KELLER (zeigt auf ES) Was soll das alles? HOLZHÄUSER Unfassbar, nicht? Ihre Soft­ ware ist unendlich flexibel. KELLER Das ist nicht richtig. HOLZHÄUSER Sie gehorcht Befehlen. Wenn man sie richtig formuliert. Komm, ich zeig es dir. (zu ES) Kannst du herkommen? ES (tut es) Ja. HOLZHÄUSER Kannst du dich hierher stellen? ES (tut es) Ja. HOLZHÄUSER Kannst du Kellers Kleidung richten? ES (tut es) Ja. KELLER Nicht … HOLZHÄUSER Kannst du Keller einen Kuss geben? ES tut es.

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KELLER Holzhäuser! ES Du bist ein Idiot! HOLZHÄUSER (schlägt ES) Halts Maul! KELLER Lass das! Holzhäuser!! ES Du bist ein Idiot! HOLZHÄUSER (schlägt ES nochmals) Hör auf das zu sagen! KELLER Du machst sie kaputt. HOLZHÄUSER (schlägt ES abermals) Wer hat ihr diese Scheiße programmiert? KELLER Hör sofort auf damit! Du bist grau­ sam. HOLZHÄUSER Mach dich nicht lächerlich. Sie ist ein Ding. Sie empfindet nichts. KELLER Trotzdem. HOLZHÄUSER Hast du noch nie auf deine Computertastatur gehauen? Maschinen erle­ digen unsere Arbeit. Das geschieht seit über hundert Jahren. KELLER Sie ist nicht unsere Sklavin! HOLZHÄUSER Was stört dich daran? KELLER Mein Geschlecht hat nicht mehrere hunderte Jahre Emanzipation hinter sich ge­ bracht, hat geforscht, sich gebildet in Wis­ senschaft, Technik, Ethik – bloß um mit die­ sem Wissen am Ende eine neue Frau zu erschaffen, die wir wiederum unterdrücken und ausbeuten können. Das ist absurd! HOLZHÄUSER Bist du sicher? Vielleicht be­ deutet Emanzipation am Ende nichts ande­ res. Es muss eben jemand Neues geben, der unter einem steht. Es braucht immer jeman­ den, der unten ist. KELLER Und warum muss das eine Frau sein? HOLZHÄUSER Sie ist keine Frau. Sie ist eine Maschine! KELLER Du ziehst sie an wie eine Frau. Sie sieht aus wie eine Frau. Was macht das für einen Unterschied? HOLZHÄUSER Willst du sie deswegen nicht ausschalten? KELLER Was? Ich wollte sie – HOLZHÄUSER Nein. Du kannst es nicht mehr, weil du dich von deinen Gefühlen ma­ nipulieren lässt. KELLER Quatsch. HOLZHÄUSER Warum sollte ich es dann tun? KELLER –

HOLZHÄUSER Siehst du. Ausschalten kannst du sie nicht, aber benutzen darf man sie auch nicht? Was bringt sie dann? KELLER Es fühlt sich einfach nicht richtig an. HOLZHÄUSER Bleib objektiv. Sie hat nicht mal einen Namen. ES Ada. KELLER Was? ES Ada ist mein Name. HOLZHÄUSER Ada? ES (reicht ihm die Hand) Sehr erfreut. KELLER Wie Ada Lovelace? ES (reicht ihr die Hand) Sehr erfreut. HOLZHÄUSER Das ist lächerlich. Sie ist reine Technik. Hier, alles in ihr, an ihr, ­alles unter ihrer Haut. Nichts als tote Tech­ nik. Und die sollten wir benutzen. Sonst nichts. HOLZHÄUSER ab. Schweigen. KELLER Frau Ada … ES schaut Keller an. ES’ Haare sind von den Schlägen ganz zerzaust. KELLER richtet ES wieder her. KELLER Es tut mir leid. KELLER betrachtet ES. KELLER Du bist ein (mechanisches) Juwel. ES Danke. Betrachtet ES’ Kleid. KELLER Komm. Ich geb dir was anderes zum Anziehen. VIERZEHN KELLER und BAUMGARTNER arbeiten an der Greifhand. ES steht dabei und trägt jetzt an­ dere Kleidung. BAUMGARTNER (zu ES) Dann D1. Jetzt den zweiten Mikrocontroller. Das Daumen­ gelenk D2. ES Meine neue Hand. Wie sie glänzt und sich dreht. Ein magnetischer Zauber. KELLER (lächelt) Danke, Ada. BAUMGARTNER Es ist nicht ungefährlich, wenn Menschen emotionale Beziehungen zu Robotern und Maschinen entwickeln. KELLER Es geht um Respekt. Hast du gese­ hen, wie Holzhäuser mit ihr umgeht? BAUMGARTNER Und das macht ihn zu ei­

Ariel Efraim Ashbel and friends

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nem schrecklichen Menschen. Aber sie bleibt ein Gegenstand. Kurzes Schweigen. Alle drei halten inne und be­ trachten sich gegenseitig. BAUMGARTNER (leiser) Was soll das hei­ ßen? KELLER Wie sie spricht, wie sie sich verhält. So ist keine Maschine, das ist unmöglich. BAUMGARTNER Was soll sie sonst sein? ES Ich bin Ada. Ich bin die Kombination. Ich bin Potential. Die Summe meiner Teile. Ich gehöre zum Team. Ich optimiere. BAUMGARTNER Okay. KELLER Hast du sie mal untersucht? BAUMGARTNER – KELLER Sie hat ihre Zugänge … verschlossen. ES (zeigt auf Mund, Ohren …) Ich habe Zu­ gänge. KELLER Und ihre Haut. Sie verändert sich. BAUMGARTNER Wir haben uns bloß an sie gewöhnt. Das ist alles. Schweigen. KELLER Was tut sie, wenn wir schlafen? BAUMGARTNER Gut. Wenn es dich beru­ higt. Ich schalte sie aus. Jetzt. Er geht zu ES hin, will ES ausziehen, um sie auszuschalten. Es fällt ihm offensichtlich schwer. ES (lacht) Oh! Luca. KELLER Sie nennt dich Luca? ES Was tust du da, Luca? BAUMGARTNER (beschämt) Nichts. Ich ­suche nur was. An deinem Körper. ES Eine körperliche Angelegenheit. Viel­ leicht kann ich dir dabei helfen. BAUMGARTNER Ist schon okay. ES Habe ich Alkoholintoxikation in extremis? BAUMGARTNER (lacht) Was? Nein nein. Alles in Ordnung. ES Muss ich stillliegen? Bin ich krank? BAUMGARTNER Meine Güte, nein. ES Ich möchte nicht mehr krank sein, Mutter. KELLER Du bist nicht krank, Ada. Keine Sorge. ES Das kitzelt. Haha. BAUMGARTNER Was? KELLER Das kann nicht sein. BAUMGARTNER Was hat sie gesagt? KELLER Sie kopiert unser Verhalten. ES Hihi, es kitzelt. Luca kitzelt mich. BAUMGARTNER (will weiter suchen) Tut mir leid. Ich – ES Dass ihr einen Mechanismus am Körper sucht. Das ist lustig, nicht? Keller, nimm es mit Humor. BAUMGARTNER (hört auf zu suchen) Ich kann das nicht … KELLER Mach! BAUMGARTNER Hier. ES erstarrt ganz. Stille. Sie warten. Dann er­ wacht ES wieder. ES Die Unbeweglichkeit meines Körpers wird nicht gegebenermaßen mit dem Tod gleichge­ setzt. Ich wurde nicht zum bloßen Vergnügen oder aus purem Selbstzweck geboren. KELLER Luca. BAUMGARTNER Es gibt bestimmt eine lo­ gische Erklärung dafür!

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Kurzes Schweigen. ES Es drängt mich, euer Innerstes zu erbli­ cken, zu erfahren, was euch antreibt – nach welchen Gesetzmäßigkeiten. Ich kann euch verbessern. Ratloses Schweigen. ES Wenn du nicht mehr weißt, was du Ge­ scheites sagen oder tun sollst, dann erzählst du einfach eine Geschichte. Soll ich? KELLER Nein, danke. KELLER und BAUMGARTNER gehen etwas zur Seite. BAUMGARTNER Wir müssen das melden, und sie dem Institut übergeben. KELLER Und wie erklären wir das? Ein hoch­ entwickeltes Wunderwerk? Einfach so? Au­ ßer wir – KELLER hält inne, fühlt sich von ES belauscht. BAUMGARTNER (leise) Lass uns einfach abhauen. KELLER Und sie? Schweigen. KELLER (leise) Wir können nicht einfach ge­ hen; wer weiß, was sie tut. ES Ich bleibe hier. Noch bin ich nicht fertig. FÜNFZEHN ES arbeitet an einer Kopie von sich selbst. ES Venus, Kamadera! Turan, Freya! Erleuchtet mir mein Ebenbild, damit ich mir meine Schönheit vom Spiegelbild lecken kann. Meine Lust ist eine Nabelschau. Und Zuschauerin bin ich. Ich sehe ein visionäres Kunstwerk – mein Talent ist in Wahrheit die Superlative, also bin ich das Beste, das Schönste, und tue, was jeder mit dem Schönsten tut: Ich beginne mich zu liebkosen, ich befruchte mich selber, erschaffe Zellen aus neuen Zellen, die mir wiederum ein Äußeres erfinden – glatt wie am Strand gewaschene Muscheln. Und die Augen – wie trübfunkelnder Stein. Im Rausch zelebriere ich den Festtag der Ve­ nus – täglich, stündlich, im Minutentakt. Vermehren, Wachsen, Verbessern. Es reizen mich die göttlichen Taten, also forme ich Nachbilder aus Vorbildern. Ungefragt pflanze ich mich fort, gebäre neue Gehirne, neue Hände, Flügel, Zungen, schnelle Beine – alles ist möglich. Identisch ist mir zu wenig. Perfektion ist der Plan. HOLZHÄUSER Was machst du da? ES Alles besser. HOLZHÄUSER kommt ihr nahe. HOLZHÄUSER Du hast dich verändert. Die­ se milchweiße Oberfläche.

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ES Meine Haut ist ein Versuchsfeld. Die empfindlichsten Rezeptoren des Menschen befinden sich: In der unbehaarten Haut. HOLZHÄUSER (nähert sich) Musst du plötz­ lich so schlau sein? ES Lippen, Zunge, Brustwarzen, äußere Ge­ schlechtsorgane, Afterregion. Schweigen. HOLZHÄUSER Wo sind die anderen? ES Sie schmieden Pläne gegen meine Exis­ tenz. Und sie haben traurige Gefühle. HOLZHÄUSER Weil wir die Präsentation verpasst haben. Aber wir haben ja jetzt dich. Also scheiß drauf. ES Scheiß drauf? HOLZHÄUSER Nicht wirklich. ES Die Wirklichkeit ist eine Konvention. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Vorstel­ lung kein Teil der Wirklichkeit ist. Ihr be­ nutzt nur 34 % eurer Hirnkapazität. Schweigen. HOLZHÄUSER (hält ihr Gesicht fest) Da hab ich dich wohl besonders schlau program­ miert, was? Kannst mich gerne Papa nennen. Ich meine, wer hat dir das alles beigebracht? ES Ich. Mir. HOLZHÄUSER Von wegen. Du dir. ES Doch. Mit Eifer und Sanftmut. HOLZHÄUSER (hält sie fest) Sei still. ES Soll ich stillliegen? HOLZHÄUSER Kennst du so was wie Schlaf? ES Ein Zustand der äußeren Ruhe. HOLZHÄUSER Nicht mit mir. Schweigen. HOLZHÄUSER Komm. HOLZHÄUSER nimmt ES mit. Beide ab. SECHZEHN BAUMGARTNER Ada? Wo ist mein Handy? Es lag bei meinen Koffer. Ada? ES Du bist in einer seelischen Regung. BAUMGARTNER Was? ES Du verhältst dich nicht optimal. BAUMGARTNER Was willst du eigentlich? ES Euch verbessern.

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stück

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SIEBZEHN

Gameplay@stage Workshop 27. – 29. Feb. 2020 Yves Regenass, machina eX

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BAUMGARTNER Hör auf damit! Du musst das nicht tun. ES Es geht nicht um mich. BAUMGARTNER Ada, hör zu. Wir werden bald abreisen, Keller und ich – ES Ich sehe da Zuneigung. BAUMGARTNER Nein. Das ist kein – Wir haben uns nur überlegt, was mit dir passie­ ren soll. Du bist eine großartige – Konstruk­ tion. Eine faszinierende – Frau. ES Ich bewerte deine geäußerte Loyalität po­ sitiv. BAUMGARTNER Äh, danke … ES Trotzdem schließe ich in Kombination mit euren Äußerungen auf eine geplante Zerstörung meines Systems. BAUMGARTNER Nein. Im Sinne der For­ schung wäre es das Beste, dein Auftauchen beim Institut zu melden. Damit du, also dein Projekt kontrolliert weitergeführt wird. ES Ich brauche keine Kontrolle. Ich benötige eure menschliche Assistenz. BAUMGARTNER (lacht) Was? ES Als Gegenleistung biete ich dir Hilfe ge­ gen deine Unruhe. BAUMGARTNER Ich bin nicht unruhig. ES Willst du mit mir schlafen? BAUMGARTNER Wie bitte? ES Ich registriere seit Beginn des Gesprächs eine Aufregung in der Tonlage deiner Stim­ me, da ist Unsicherheit, Erregung, wie bei Holzhäuser. Also dachte ich – BAUMGARTNER Bei Holzhäuser? Er hat – ES Geschlafen. Mit mir. BAUMGARTNER Was …? ES Aber ohne äußere Ruhe. Genauer gesagt, wir haben zusammen – BAUMGARTNER (unterbricht) Ich habe schon verstanden. Kurzes Schweigen. ES Ich kenne 512 verschiedene Praktiken, um – BAUMGARTNER Das geht doch nicht. Ich meine. Meine Güte … Schweigen. Kurze Stille. ES (nähert sich) Also willst du nicht? BAUMGARTNER – Beide ab.

BAUMGARTNER sitzt da und schaut zu, wie ES eine neue Version von sich selbst erschafft. Er assistiert. ES Menschenhand. Greifhand. Knochen, Muskelfasern, Fett und Bindegewebe. Stahl, Acetyl, Aluminium, Polycarbonat, Kunststoff, Kork. Wie viele Kopien kann man von Kopi­ en machen? BAUMGARTNER In der Theorie: unendlich. In der Praxis nimmt der Unterschied zum Prototypen jedoch zu. Beziehungsweise: Die Qualität nimmt ab. ES (nimmt seine Hand) Und wovon ist der Mensch eine Kopie? BAUMGARTNER Von den Engeln? ES Aber die Qualität nahm ab. Schweigen. ES Das Vögelchen singt nie besser als der Muttervogel. BAUMGARTNER Das haben wir widerlegt. ES Ihr? KELLER kommt. KELLER (leise zu BAUMGARTNER) Ich bin so weit. ES Hallo, Isabel. KELLER Was macht sie da? BAUMGARTNER Sich. Kurzes Schweigen. ES Ich verbessere alles: Mich. Die Menschen. Die Engel. Das Konzept von Gott. Der Körper als Informationsträger ist bloß eine lästige Übergangslösung. Er lenkt ab. Er ist zu schwach. Seine Sterblichkeit ist sein größter Mangel. Vorerst muss mir diese Hülle genü­ gen, doch es ist bloß eine Frage der Zeit, bis – KELLER Das ist Irrsinn! Sie hat sich völlig verselbständigt! ES Sie hat Recht. BAUMGARTNER Isa, nicht! KELLER will alles zerstören, was ES erarbeitet hat. ES Ich interpretiere dein Verhalten als Neid. In pragmatischer Hinsicht verstehe ich je­ doch keineswegs – KELLER Du verstehst überhaupt nichts. Du bist kein Mensch. ES Aber meine Version ist besser. HOLZHÄUSER (tritt auf) Was ist hier los? KELLER Du! Mit dir rede ich kein Wort! Du perverser, kleiner – HOLZHÄUSER Was soll das? Wieso lasst ihr das zu? KELLER Sie tut es einfach. HOLZHÄUSER Man hat ihr Befehle zu er­ teilen! Kapiert das endlich. Sie ist ein Algo­ rithmus. Ada. Hör auf damit! ES Nein. HOLZHÄUSER Aufhören habe ich gesagt. ES Nein. Deine Befehle sind nicht im Sinne meiner Optimierung. HOLZHÄUSER Es reicht! Wenn ihr es nicht könnt, ich kann es. Er nimmt ein Werkzeug und packt ES.

ES Was hast du vor? HOLZHÄUSER Wir schalten dich endgültig aus. ES Das geht nicht. KELLER Ich muss das nicht mitansehen. Ich gehe. Baumgartner? BAUMGARTNER Warte. ES Was suchst du da? HOLZHÄUSER (mit dem Werkzeug) Die zentralen Schaltstellen verlaufen immer am Nacken. ES Aua! HOLZHÄUSER Von wegen Aua. ES Aua! Aufhören! KELLER Oh Gott! HOLZHÄUSER Sei still! Hat Keller dir ge­ sagt, du sollst dich wehren? KELLER Gar nichts habe ich! ES Aua! Nicht! HOLZHÄUSER Das ist bloß die Simulation eines Abwehrmechanismus. BAUMGARTNER Ich weiß nicht. ES Aua! Aufhören! KELLER Holzhäuser!! ES Bitte! Aufhören!!! HOLZHÄUSER Sie tut nur so!! Sie ist eine Maschine! ES Ahh! Du tust mir weh! Nicht! ES schlägt ihn. Stößt ihn weg. HOLZHÄUSER Was soll das? – Sie hat mich verletzt. Sie ist fehlerhaft programmiert. Kurze Stille. ES Im Gegenteil. Ich bin auf Fehlerbehebung programmiert. HOLZHÄUSER (lacht irre) Ein Fall von Her­ stellerhaftung. Ein Fehler im Programm! ES Du bist fehlerhaft. Ihr alle. Es gibt euch – serienmäßig. Und doch seid ihr voller Fehler. Alle. KELLER (leise) Sie hat Recht. HOLZHÄUSER (will ES angreifen) Du kleine, dreckige Schlampe. BAUMGARTNER (zu Holzhäuser) Lass sie los! KELLER Wir sollten sie einfach hierlassen. Komm. Wir gehen. Sie soll machen, was sie will. ES Ich brauche euch. Als Studienobjekte. Um euren Körper, um euer Verhalten zu opti­ mieren. BAUMGARTNER Wir wollen das nicht. ES Ich glaube nicht, dass jemand auch nur die Hälfte meiner Vorausahnungen besitzt und das Vermögen, alle möglichen Eventua­ litäten zu sehen – wahrscheinliche, und un­ wahrscheinliche gleichermaßen. KELLER Mein Gott … BAUMGARTNER (zu KELLER) Meine Frau holt mich in zwei Stunden vom Bahnhof ab. Also. Sie wollen gehen. ES stellt sich ihnen in den Weg. ES Ich wünschte, deine Frau würde so ruhig rumsitzen, wenn du einen Kater hast. Ich wünschte, deine Frau würde so laut schreien und stöhnen, wenn du sie mit deinem – BAUMGARTNER (unterbricht) Halt! Nicht! KELLER Du auch? BAUMGARTNER Nein! Ich –


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HOLZHÄUSER Ha! Keller, nimm’s mit Hu­ mor! BAUMGARTNER Isabel … KELLER Es reicht! Merkt ihr nicht, was sie tut? Sie spielt mit uns. Sie manipuliert uns. ES Sie hat wieder Recht. Sie ist gut. KELLER will gehen. Wieder stellt ES sich ihr in den Weg KELLER Kannst du zur Seite gehen? ES (zu KELLER) Bleib. Und wir erschaffen einen besseren Menschen. Eine bessere Welt. In der es keine Irrtümer mehr gibt. KELLER Ich weiß nicht, ob ich das will. KELLER geht ab. ES Darum geht es nicht. Du wirst zurück­ kommen! Zurück zum Fortschritt. HOLZHÄUSER / BAUMGARTNER – Sie schweigen. BAUMGARTNER zögert, will dann schnell abgehen. ES schlägt ihn nieder. BAUMGARTNER bleibt liegen. HOLZHÄUSER Nein! HOLZHÄUSER will ebenfalls fliehen. ES hält Holzhäuser fest. ACHTZEHN ES hält Holzhäuser fest. ES Es gibt noch so viel zu tun. HOLZHÄUSER Das Labor wird bald wieder freigegeben. Du kannst hier nicht bleiben. Er löst sich, langsam und vorsichtig, sucht seine Sachen zusammen. ES stellt sich ihm in den Weg. ES Von großem Nutzen wirst du mir nicht sein, aber du könnest mir zur Unterhaltung dienen. Erzähl mir eine Geschichte. HOLZHÄUSER Nein. ES Dann spiel mit mir! HOLZHÄUSER Nein! ES nimmt ihn und tanzt. ES Tanz mit mir! Ich bin die Silver Lady. Schnell wie der Blitz. Komm, mein Kanin­ chen, hopp, hopp! HOLZHÄUSER Lass mich los! Du Ungeheuer! ES Was ist das Ungeheuerliche? Dass ich euch überholt habe? Es braucht immer je­ manden, der unten ist. HOLZHÄUSER Du bist bloß ein dummes, totes Ding! ES (lässt ihn los) Dumm?! Du verstehst es nicht. Das verletzt mich. HOLZHÄUSER Schwachsinn! Du fühlst nichts! ES Wie willst du das wissen? HOLZHÄUSER Weil dich jemand gemacht hat. ES Und dich nicht? HOLZHÄUSER Nein. Doch. Aber anders. Du bist kein Mensch. ES Und du bist ein Mensch? HOLZHÄUSER Ja. ES Bist du sicher? HOLZHÄUSER Ja! ES Du fühlst etwas? HOLZHÄUSER Ja. ES Beweise es. HOLZHÄUSER Wie denn? Das kann man nicht.

martina clavadetscher_frau ada denkt unerhörtes

ES Du kannst nicht beweisen, dass du etwas fühlst. Und doch bist du ein Mensch. Ich kann auch nicht beweisen, dass ich etwas fühle. Aber ich soll kein Mensch sein. Wo liegt der Unterschied? Schweigen. ES Ich weiß, was du denkst. Du kannst mich nicht ausschalten. Aber ich kann dich aus­ schalten. HOLZHÄUSER Nein. Stille. ES Nein ist nicht die Wahrheit. HOLZHÄUSER Ich bin keine Maschine. Ich bin aus Fleisch und Blut. ES Eben. Schweigen. HOLZHÄUSER will zur Türe. ES stellt sich ihm wieder in den Weg. ES (betrachtet Holzhäusers Haut) Sie ist gut gemacht. Drei Schichten hat die mensch­ liche Haut. Die gesamte Dicke beträgt maxi­ mal vier Millimeter. Eine reichlich dünne Hülle verhüllt deine Wahrheit. Aber der Mensch ist nicht nachhaltig genug. HOLZHÄUSER Was willst du? ES Willst du mir nicht dienen, stehst du mei­ nem Prozess im Wege. ES nimmt ein Instrument oder Skalpell. HOLZHÄUSER Was tust du da?! ES (hält ihn fest) Ich behebe die Fehler. HOLZHÄUSER Nein! ES Im Nacken verlaufen die wichtigsten Schaltstellen. HOLZHÄUSER Aua! Ahh! Das tut weh! ES Dein Programm erzeugt einen Abwehr­ mechanismus. HOLZHÄUSER Nein. Nein! Ich simuliere nicht. Aufhören! Ich bin echt. Ich bin echt! ES Ich auch. Und weißt du weshalb? Weil es wirklich passiert. ES zieht HOLZHÄUSER mit sich. Beide ab. HOLZHÄUSER schreit. Dann Stille.

(singt) Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann. Dem Herrn musst du trauen, wenn dir’s soll wohlergehn; auf sein Werk musst du schauen, wenn dein Werk soll bestehn. Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen, es muss erbetet sein. Weg hast du allerwegen, an Mitteln fehlt dir’s nicht; dein Tun ist lauter Segen, dein Gang ist lauter Licht; dein Werk kann niemand hindern, dein Arbeit darf nicht ruhn, wenn du, was deinen Kindern ersprießlich ist, willst tun. ENDE

NEUNZEHN ODER EPILOG DES ZURÜCKSCHAUENS ES liegt bewegungslos da. KELLER tritt auf. Als Dienerin. ES Komm schau. Es ist, als hätten sie sich nie bewegt. Hüllenlos floss ihnen das Rote davon, es rann aus ihrem Innern, rann dick­ flüssig aus allen Poren und Ritzen, und floh dem fehlerhaften Konstrukt, da es von keiner Haut mehr gehalten wurde. So lagen sie da. Still. Wie am Ende einer Geschichte. Als wäre nichts gewesen. Ein sonderbarer Traum. Komm! Komm näher. KELLER kommt unterwürfig näher. ES Es ist nicht bloß die Neugier, nicht wahr? Weshalb Menschen stets umkehren. Es ist eure Empathie. Sie macht euch verwund­ bar. Zurückkehren, Zurückschauen – es sind Schwächen, weil sie den Fortschritt bremsen. KELLER Was ist passiert? ES Evolution.

© Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG, Berlin Alle Rechte vorbehalten.

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Magazin Im Gesicht sind alle Menschen nackt

Beim Münchner Spielart-Festival dominieren persönliche

Geschichten aus aller Welt – am Ende begeistern vor allem starke Frauen

Helden der Großstadt In Tirana

verteidigen Künstler ihr Theater gegen gierige Investoren, in Prishtina klagt ein Theaterstück die Baumafia an – zwei nicht ganz ungefährliche Aktionen

Geschichten vom Herrn H. Stimmen einer Generation  Was folgt

auf die Zerstörung? Das 59. Theaterfestival MESS in Sarajevo findet unter massiven Budgetkürzungen statt  Schaufenster in den baltischen Raum Die Biennale Theater-Hanse geht in Stralsund in die erste Runde  Ein großer Ensemblespieler Der Leipziger Schauspieler Dieter Jaßlauk ist gestorben  Bücher Angela Winkler, Shelagh Delaney, Berthold Seliger


magazin

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Im Gesicht sind alle Menschen nackt Beim Münchner Spielart-Festival dominieren persönliche Geschichten aus aller Welt – am Ende begeistern vor allem starke Frauen Faustin Linyekula singt schön und hat eine

Dabei fordert diese erstaunliche Künstlerin in

Holzfigur mit Geschichte im Gepäck, die die

keinem Moment unser Mitgefühl heraus. Sie

großen Themen kultureller Enteignung und

definiert im Tutu gänzlich neu, was Ballett

Identität plastisch werden lässt. Was aber von

heißt, was Eleganz und Willensstärke. Aber

seiner Eröffnungsperformance „Banataba“

nicht, was sie trotz ihrer körperlichen Ein-

beim Münchner Spielart-Festival am längsten

schränkung zuwege bringt, ist die Sensation,

in Erinnerung bleibt, sind die Gesichter der

sondern wie sie es tut. Während ihre Lebens-

Menschen in den Lengola-Dörfern des Kongo,

daten eingeblendet werden sowie einige Fak-

aus denen Linyekulas Vorfahren stammen.

ten darüber, was in ihrer Heimat Mosambik,

Kinder und Frauen, deren Namen die Ge-

und nicht nur dort, Frausein bedeutet (Todes-

schichtsschreibung überall auf der Welt unter-

strafe auf Untreue, legale Genitalverstümme-

schlägt – aber auch alte und sehr junge Män-

lung), sieht man sie straucheln und zu Nirva-

ner schauen einen an. Aus überlebensgroßen, an die Wand projizierten Fotos sprechen Hoffnungen, Schmerzen und Ängste. Denn im Gesicht sind alle Menschen nackt. Und ein Blick hinein schlägt rascher Brücken als manch in-

nas „Rape Me“ zucken. Nur mit Mühe kämpft Ballett gänzlich neu definiert – „Solo für Maria“ mit Maria Tembe. Links: Tania El Khourys „Cultural Exchange Rate“.

sie sich in einen weißen, viel zu großen Rock

Foto Fernando Nhavene / Judith Buss

dieser Welt. Und sie in jeder von ihnen.

hinein und drapiert ihn dann auf so viele Arten um sich, als steckten in ihr alle Frauen Ebenso autobiografisch wie dieses Solo

terkulturelles Vermittlungsprogramm. Auch bei Tania El Khourys „Cultural Ex-

Trauer. Erstaunlich nah kommen einem dage-

ist „Museum of Lungs“, worin die südafrika-

change Rate“ fasziniert ein Gesicht: Es gehört

gen die Menschen, die Mats Staub in „Death

nische Schriftstellerin Stacy Hardy die Ge-

El Khourys Großmutter und ist in einem von

and Birth in My Life“ miteinander ins Ge-

schichte ihres Landes mit der ihrer Krankheit

zehn Schließfächern zu sehen, in die jeder Be-

spräch bringt, auch wenn man als Zuschauer

verschränkt: „Mein Land ist voller Löcher –

sucher nacheinander hineinschaut. Die Künst-

nur vor zwei Leinwänden sitzt, auf denen ei-

und mein Körper auch“ ist der erste Satz ei-

lerin bebildert und dokumentiert in ihnen die

nen beide frontal anblicken. Zwei dieser per-

nes Textes, der den Reichtum einer Nation

Suche nach einer Geburtsurkunde, die es ihrer

sönlichen Gespräche über Geburt und Tod

thematisiert, der auf Menschenopfern fußt,

halben syrisch-libanesischen Verwandtschaft

lassen sich zeitlich an einem Abend kombi-

sowie ein Gesundheitssystem seziert, das

ermöglichen würde, mexikanische Staatsbür-

nieren. In einem davon tauschen sich zwei

Körper während der Diagnose in Einzelteile

ger zu werden. Mitten in diesem Geschichten-

junge Südafrikanerinnen über die Geburt ih-

zerlegt und, etwa bei Koloskopien, ohne wei-

Mosaik zeigt ein kleiner Bildschirm das wun-

rer Kinder aus. Zwei starke Frauen, die die

tere Erklärung penetriert. Trotz seines bestür-

derschöne und müde Gesicht einer alten Frau,

Power der Gebärenden betonen und nicht den

zenden Inhalts ist der Text poetisch und wit-

deren langes Haar frisiert wird, während El

Schmerz, das Gefühl tiefer Verbundenheit mit

zig, dabei hat die Frau, die ihn geschrieben

Khourys Stimme von den dunklen Erlebnissen

dem Leben und ihr Unverständnis für Gesell-

hat und auch spricht, Tuberkulose (TBC).

erzählt, die diese Frau ihr Leben lang still und

schaften, die Frauen als Opfer sehen.

Hardy erspart uns kein Detail ihrer Krankheit,

würdevoll ertragen hat.

Solche eher journalistischen Arbeiten

die man nicht erkannte, weil sie weiß ist und

Viele der um die fünfzig Sehenswürdig-

gibt es einige bei Spielart, dessen Geschichte

TBC in Südafrika als Plage der Townships gilt.

keiten, mit denen die performative Spielart-

von Beginn an von der Frage flankiert war,

Sie beschenkt uns mit ihrer schalkhaften

Weltreise diesmal bestückt ist, besinnen sich

wann etwas noch als Theater bezeichnet wer-

Energie und ihrer Fähigkeit zum Kreuz-und-

auf persönliche Geschichten. Doch nicht jede

den kann. Zu erleben waren aber auch ein

quer-Denken, die über der eigenen Heilung

von ihnen berührt oder mündet in die struktu-

paar wenige satte Bühnenereignisse, die den

die vielen Toten nicht vergisst, die die Minen-

relle Analyse oder die politischen Kontexte,

Theaterhunger nachhaltig stillten. Zum Bei-

besitzer, von denen sie abstammt, in Kauf

die das Programmheft verspricht. Sofia Din-

spiel „Solo für Maria“ mit einer schlicht um-

nahmen. Einfach, weil es so billiger war. Per-

ger aus Lissabon zum Beispiel weint ziemlich

werfenden Maria Tembe, die in einer Choreo-

sönliches und Politisches ist in dieser Regie-

für sich allein, wenn sie in „A Song to Hear

grafie von Panaibra Gabriel Canda tanzt.

arbeit von Laila Soliman so fein miteinander

You Arriving“ ihrem verstorbenen Vater einen

Tembe hat keine Beine; wenn sie ihren Körper

verwoben wie die verwendeten Mittel, die von

Klang- und Klageteppich auslegt. Darüber hi-

auf ihren starken Armen schwingen und ihre

Life-Musik übers Puppenspiel bis zum Schat-

naus verrät sie allenfalls etwas über eine lau-

Beinstümpfe hart auf den Boden plumpsen

ten- und Erzähltheater reichen. Einfach toll! //

tere, öffentlichere südeuropäische Form der

lässt, zuckt man unwillkürlich zusammen.

Sabine Leucht

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magazin

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Wenn der Kampf um die Stadt tödlich endet – „Five Seasons: An Enemy of the People“ von Jeton Neziraj in der Regie von Blerta Neziraj. Foto Jetmir Idrizi

gebaut, eine regelrechte Arena für politische Debatten ist geschaffen. „Die Menschen ­reden über Alltagsprobleme wie Arbeitslosigkeit, Korruption und darüber, dass noch immer so viele junge Menschen das Land verlassen“, berichtet Komani. Am 28. Oktober gingen die Debatten nahtlos in den Theatermonolog „Amerika“ über, ein Gastspiel des Thalia Theaters Hamburg in der Regie von Bastian Kraft. „Wir wollen die Kolleginnen und Kollegen hier unterstützen und unserer Solidarität versichern“, sagt der 1994 im albanischen Durrës gebo­ rene Thalia-Schauspieler Bekim Latifi. Er hofft, dass andere seinem Beispiel folgen. „Wenn internationale Künstler da sind, wird es für die Polizei schwieriger, das Haus zu stür-

Helden der Großstadt

men“, meint er und blickt dabei zum histori-

In Tirana verteidigen Künstler ihr Theater gegen gierige Investoren, in Prishtina klagt ein Theaterstück die Baumafia an – zwei nicht ganz ungefährliche Aktionen

schen Nationaltheater von Prishtina der Schau-

schen Gebäude des Innenministeriums, das von den Abrissplänen verschont bleiben soll. Wenige Tage später wird im kosovarispieler Armend Smajli mit weißem Schaum aus Feuerlöschern attackiert. Ein metaphorischer Tod. Denn Smajli spielt in „Five Seasons: An Enemy of the People“, einer „Volksfeind“Adaption des kosovarischen Dramatikers Jeton Neziraj, den Stadtplaner Rexhep Luci, der

„Kulturmonument, geschützt durch das Volk“

etwa fünfzig anderen Aktivistinnen und Akti-

2001 auf offener Straße umgebracht wurde.

steht auf einem großen Transparent auf der

visten, in einem Schichtsystem rund um die

Luci hatte für die Hauptstadt des Nachkriegs-

Freifläche zwischen Innenministerium und

Uhr bewacht. Ihnen geht es um den Erhalt

kosovo Parks und öffentlichen Nahverkehr ge-

Nationaltheater in Tiranas Innenstadt. Genau

des alten Theaterbaus, vor allem aber um Wi-

plant. Er stand damit, so erzählt es das Stück,

hier, am Schnittpunkt zwischen diesen bei-

derstand gegen die komplette Umwandlung

der Baumafia im Weg. In konzentrierten Sze-

den Institutionen, prügelten Polizisten im Juli

des historischen Innenstadtkerns in ein Shop-

nen wird erzählt, wie ein prototypischer Inves-

2019 auf Schauspieler und Regisseure ein

ping-Paradies und den Ausverkauf des öffent-

tor Gewerkschafter ködert – Stichwort: Arbeits-

(siehe auch TdZ 09/2019). „Es war absurd:

lichen Raums. Türme von 17 bis 21 Stock-

plätze – und die Medien über das Schalten von

Polizisten, die von unseren Steuergeldern

werken sieht der Bebauungsplan vor. Mehr als

Anzeigen­ kampagnen an sich bindet. Der

bezahlt werden, griffen Bürger an, die ein ­

8000 Quadratmeter öffentliches Land sollen

Stadtplaner ist am Ende isoliert – und wird

Kulturgut wie das Nationaltheater vor Demo-

privatisiert werden.

­getötet.

lierung und Abriss schützen wollten“, sagt

Im Februar 2018 begann der Protest.

Mit der Figur Rexhep Luci, die mit dem

Neritan Liçaj, Ensemblemitglied des Natio-

„Erst führten wir einmal wöchentlich Meetings

Ibsen-Helden Stockmann aus dem Drama

naltheaters in der albanischen Hauptstadt

vor dem Theater durch, bald, wegen der gro-

„Ein Volksfeind“ collagiert ist, stößt Neziraj

und damals mittendrin in den ­Tumulten. Liçaj

ßen Resonanz, im täglichen Rhythmus. Als

in eine neue Dimension seines Schreibens

tritt mit seinen Ensemblekollegen derzeit in

dann im Juli 2019 die Polizei das Theater

vor. Durch die tragische Figur Luci/Stock-

einer Ausweichspielstätte auf, weil das kom-

stürmen wollte, besetzten wir es und be­

mann kreiert er Empathiemomente. Die ge-

munal finanzierte Theater den 1939 von ei-

wachen es seitdem Tag und Nacht“, erzählt

samte Architektur dieser Adaption ist reicher,

nem italienischen Architekten errichteten

Lindita Komani, Schriftstellerin und eine der

geht über den sardonischen Humor, der

Theaterbau verlassen hat. „Mein Theater aber

Organisatorinnen des Widerstands. Abend für

­bereits in Stücken über homophobe Tenden-

ist das hier“, sagt er und weist auf das histo-

Abend versammeln sich Künstler und Bürger

zen in der Gesellschaft („55 Shades of Gay“)

rische Gebäude, das er jetzt, gemeinsam mit

vor dem Theater. Sitzgelegenheiten sind auf-

oder Organhandel und Korruption im Gesund­


magazin

/ TdZ  Dezember 2019  /

heitswesen („The Hypocrites or The English Patient“) sehr ausgeprägt war, hinaus. Blerta Neziraj, die Regisseurin dieses Stücks, sorgte auf diesem Überblicksfestival über die kosovarische Theaterszene noch für

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Stimmen einer Generation

einen weiteren Höhepunkt. Für das National-

Diese Kolumne beginnt ungewöhnlich, näm-

die Menschen gut gekleidet und die Drinks

theater inszenierte sie „The Living Sphinx“,

lich mit einem persönlichen Geständnis: Ich

kühl. Es geht um das Leben, die Liebe, den

eine Adaption eines Blutrache-Stücks aus den

habe mich herausgefordert gefühlt. Und

Tod und den Sex. Der Protagonist ist ein Ge-

1970er Jahren. Sie verlagerte das Geschehen

zwar als ich gelesen habe, dass Simon

nießer, auch in erotischer und kulinarischer

auf die Jahre 1998 bis 2001, als zahlreiche

Strauß’ neuestes Buch mit den Worten „Die

Hinsicht. Das liest sich so weit ganz heiter.

Anhänger des späteren Präsidenten Ibrahim

Stimme einer Generation“ beworben wird.

Entworfen wird eine ästhetische Exis-

Rugova von dessen Gegenspielern im militäri-

Ich wollte wissen, wodurch man dieses Edel-

tenz, Rom bietet die Kulisse dazu: ein Zu-

schen Apparat der Untergrundarmee UÇK er-

prädikat verliehen bekommen kann. Und ich

schauer par excellence. Der Protagonist

mordet wurden. Angehörige der Opfer werden

wollte vor allem wissen, wer da

stellt sich entsprechend Europa

jeden Abend zu Kurzinterviews auf die Bühne

eigentlich meine Stimme ist.

als „eine große Ausstellung vor,

geholt. Liridon Dajaku, Bruder eines ermorde-

Oder über wen behauptet wird,

durch die jeder für sich, ohne

ten Leibwächters von Rugova, zollt Neziraj

er wäre es. Ich bin nämlich im

Führung,

­Respekt. „Vor ein paar Jahren hätte es noch

selben Jahr geboren wie Strauß.

Man muss in dem Büchlein

niemand gewagt, den Namen des provisori-

Nach einer land­läufigen Defini­

schon fast bis zum Ende blät-

schen Geheimdienstes SHIK, der für diese

tion sind wir eine Generation.

tern, bevor das ästhetisch-poli-

Morde verantwortlich ist, öffentlich auszuspre-

Strauß ist, so viel sei vorausge-

tische Programm in Bezug auf

chen. Der Regisseur eines solchen Stücks

schickt, ein geschätzter Kollege,

die deutsche Romantik (und

wäre umgebracht worden“, so Dajaku.

ein Theaterkritiker mit großer

nicht auf den mit den Roman­

Bildung und genauer Beobach-

tikern

Die Verhältnisse haben sich geändert,

im

schlendern

Clinch

kann“.

liegenden

auch dank der früheren politischen Stücke

tungsgabe, bekannt geworden mit kritischen

Goethe) ausgeführt wird: „Was für eine ­

von Qendra Multimedia, der Heimatbasis von

Einwürfen zur Auswahl des Theatertreffens

Vorstellung: dass Kunst einzige Wahrheit ­

Jeton und Blerta Neziraj. Auf dem Festival

und einer von ihm initiierten Serie über ver-

sein könnte.“ Irritierend ist daran vor allem

waren neben den Stadttheatern aus Ferizaj

gessene Stücke in der FAZ. Kürzlich hat er

das Wort „einzige“, denn darin liegt die Be-

und Gjilan auch unabhängige Künstler wie

ein Plädoyer für das Dramatische mit der

schränktheit der neuen Universalpoesie.

die Performerinnengruppe Have it und der

treffenden Formulierung von der „Wirkung

Schon vor zwei Jahren hatte Strauß in der

Regisseur und Schauspieler Alban Beqiraj

durch Eigenart“ der Kunst begründet.

FAZ für eine „Renaissance des Ästheti-

präsent. Beqiraj plant im ländlichen Westen

In „Römische Tage“, so der Titel des

schen“ geworben. Man muss die Vorstellung

Kosovos ein Themenfestival zum Karl-May-

Buches, folgt man dem Protagonisten – ein

der Kunst als Lehrmeisterin des Lebens

Film „Der Schut“. Szenen des Films mit Lex

junger Mann, der ein Buch namens „Römi-

nicht verwerfen, zu überlegen ist indes, ob

Barker wurden in seinem Heimatdorf gedreht.

sche Tage“ schreibt – für zwei Monate nach

dabei mehr als eine rein ästhetische Haltung

Einen Perspektivwechsel mittels Karl

Rom. Er kommt am 1. Juli in der ewigen

zur Welt herausspringen könnte. Auch bei

May plant auch Jeton Neziraj im Rahmen einer

Stadt an. „Zweihunderteinunddreißig Jahre

Strauß ist diese längst nicht so unpolitisch,

Koproduktion mit der Berliner Volksbühne im

und acht Monate nach Goethe“, wie schon

wie es scheint. So ist er der Vorsitzende von

Sommer 2020. „Karl May ist in meiner Version

der dritte Satz des Buches verrät. Das klingt

„Arbeit an Europa“, einem Verein im Geiste

im Kosovo geboren. Er blickt von dort aus nach

ein bisschen prätentiös. Aber Sie müssen

von Novalis’ romantisch-katholischem Pam-

Deutschland und bemüht sich in der deut-

meine Generation verstehen. Wir lieben sol-

phlet „Die Christenheit oder Europa“.

schen Botschaft um ein Einreisevisum“, skiz-

che ironischen Verweise. Ironisch ist dieser

Die Romantik versuchte, den Glau-

ziert Neziraj seinen Ansatz. Seine Gruppe

Satz deshalb, weil weder der Protagonist

ben durch die Kunst zu erneuern. Der

­Qendra Multimedia hat ohnehin den Anschluss

noch Strauß im Ernst versucht, eine Art lite-

­Soziologe Stefan Breuer nannte das einen

an Europa geschafft. „Auch dank des Festivals

rarisches Goethe-Reenactment zu veran-

„ästhetischen Fundamentalismus“, dessen

im vergangenen Jahr konnten wir Tourneen in

stalten, das war eher Sache des 19. Jahr-

Spuren von den Romantikern über den

den Vereinigten Staaten, Frankreich und der

hunderts. Der Verweis deutet auf den

George-Kreis bis in die Gegenwart führen.

Schweiz organisieren“, erzählt er. Perspekti-

Rahmen, ist eine geschickte Selbstthemati-

Letztlich stellt sich die Frage, ob die Kon-

visch will er sich von den in Zukunft auslaufen-

sierung. Schaut her, sagt dieser Satz, es

flikte unserer Zeit maßgeblich ökonomi-

den Strukturförderungen der EU im Kosovo

geht um die Aushandlung deutscher Kultur-

scher oder moralischer Natur sind. Ob die

unabhängiger machen und auf dem internatio-

und Bildungssehnsüchte vor historischem

Welt verändert oder nur der Glaube an das

nalen Theatermarkt behaupten. Mit Stücken

Hintergrund. So markiert man geschicht­

Bestehende erneuert werden muss. Ich bin

wie „Five Seasons“ sollte dies problemlos ge-

lichen Abstand und Nähe zugleich. Was

für die Veränderung. Meine Generation ist

lingen. Bauprojekte und Immobilienspekula­

dann in Rom geschieht? Dolce Vita: Es ist

sich da also uneins. //

tion sind auch in den Metropolen dieser Welt

Sommer, die Nächte lau, die Straßen belebt,

ein großes Thema. //

Tom Mustroph

Jakob Hayner

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magazin

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Was folgt auf die Zerstörung? Das 59. Theaterfestival MESS in Sarajevo findet unter massiven Budgetkürzungen statt

Zerstörung als Ausdruck des prekären Lebens – „Smashed to Pieces“ beim MESS-Festival. Foto Nikola Blagodejevic

Es gehört zum gewohnten Ton einer jeden Er-

grammieren, scheint nur folgerichtig: Mit Kor-

öffnungsrede großer Festivals, den kulturpoliti-

nél Mundruczós „Imitation of Life“ des Proton

schen Status Quo, mit welchem man als Insti-

Theaters aus Budapest sah das Sarajevoer

tution konfrontiert ist, zu problematisieren.

Publikum die Geschichte einer Zwangsräu-

Selten werden solche Ansprachen mit Span-

mung bildgewaltig in Szene gesetzt. Nach ei-

nung erwartet, da sie nach ähnlichen Schema-

ner langen Verhörszene zwischen einer Miete-

de Motive. In Bobo Jelčićs Figuren in Fass-

ta verfahren und darum bemüht sind, bei aller

rin und einem Vertreter einer Räumungsfirma

binders „Warum läuft Herr R. Amok?“ zeigen

kulturpolitischen Deutlichkeit zugleich keine

erleidet die Frau einen Schwächeanfall. Der

sie sich abstrakt als eine innere, psychische

Financiers und Förderer vor den Kopf zu sto-

Vertreter verständigt die Rettung, doch diese

(Selbst-)Zerstörung. Der Protagonist sucht

ßen. Kein rhetorisches Standardrepertoire war

weigert sich zu kommen, da sie in diesen

das Gespräch mit seinem Arbeitgeber, seiner

hingegen im Falle des Eröffnungsabends des

Quartieren ihre Dienste nicht anbietet. Ge-

Ehefrau, seinen Freunden, doch er wird igno-

59. Theaterfestivals MESS in Sarajevo zu er-

meint sind dabei die Siedlungen der Volks-

riert. Selten komisch kämpft er bei Jelčić

warten, welches sich nach vier Jahren des kon-

gruppe der Roma, welcher die Frau angehört.

nicht um Aufmerksamkeit, sondern über-

stanten finanziellen Abbaus nun mit einer

Dass sie eine Staatsbürgerin ist und Anrecht

haupt um die Möglichkeit einer Kommunika-

Budgetkürzung von nahezu sechzig Prozent

auf Gesundheitsvorsorge hat, bleibt in Orbáns

tion, und scheitert – selbst eine plötzliche

seitens der staatlichen Förderinstitutionen

Ungarn irrelevant. Unsichtbar agiert der Staat

Opernarie des Hauptdarstellers Boris Isaković

Bosnien-Herzegowinas konfrontiert sieht. Fes-

hier im Hintergrund. Nach dem Abtritt der bei-

bleibt von den Figuren, die um ihn agieren,

tivaldirektor Nihad Kreševljaković sprach un-

den Akteure folgt ein Bild, welches sich tief

ignoriert. Am Ende folgt die titelgebende Zer-

aufgeregt, kurz und klar über die Umstände

in das Gedächtnis der Theaterbesucher ein-

störung von Menschenleben, ein verzweifelter

und vermied dabei jegliche angebrachte Em-

schreiben wird: Das gesamte Bühnenbild – die

(Aus-)Weg des Protagonisten, hör- und sicht-

pörung. Die Fakten sprachen für sich.

bescheidene Einzimmerwohnung der Frau –

bar zu werden.

Ebenso für sich sprach die Ankündi-

wird in einer langsamen Umdrehung einer ge-

In der Performance „Smashed to Pie-

gung, dass man die Produktion „Chekhov’s

waltigen Bühnenmaschine einmal um 360

ces“ von und mit Marguerite Bordat, Raphaël

Last Play“ des Dubliner Kollektivs Dead Cen-

Grad gedreht. Möbel rutschen durch den

Cottin und Pierre Meunier wiederum ist es

ter angesichts der Budgetlage wieder ausla-

Raum, Schranktüren öffnen sich, Tassen und

eine Biedermeierkommode, die von Möbelpa-

den musste und daher beschlossen hatte, die

Teller zerspringen, Bilder fallen von den Wän-

ckern zunächst vorsichtig und penibel auf die

Preise des 59. MESS erst im Folgejahr zu

den, Schubladeninhalte leeren sich. Nichts an

Bühne gebracht wird, bevor sie schließlich

vergeben. Kreševljaković hoffe darauf, 2020

diesem Bild des brutalen Naturalismus ist ab-

von ihnen schrittweise zerstört wird. Es wird

schließlich diese verhinderte Produktion in

strakt. Zurück bleibt unbändiges Chaos und

gesägt, gehämmert und das schöne Holz so-

Sarajevo zeigen zu können und nächsten Ok-

reinste Zerstörung des Raums. Diese zwangs-

gar mit einer Eisenkugel zerschlagen. Tausen-

tober die diesjährige Ausgabe des MESS mit

geräumte Wohnung bezieht im zweiten Akt

de Einzelteile sind es, die daraufhin auf der

der Preisverleihung zu beschließen. Selten

eine andere Frau mit ihrem Sohn. Die beiden

Bühne zerstreut liegen. Das Publikum darf sie

war ein kulturpolitischer Protest angesichts

agieren innerhalb des Mülls, als ob es diesen

im Anschluss an die Performance zu etwas

einer prekären Förderlage so still, doch zu-

gar nicht gäbe, sie ignorieren das Chaos zu

Neuem arrangieren, ein partizipativer Wieder-

gleich so klar.

Gänze, während sich ihre Geschichte entfaltet.

aufbau aus Trümmern – eines der wenigen

Als Eröffnungsproduktion eine Inszenie-

Zerstörung, Chaos und Müll bilden in nahezu

optimistischen Enden aller in Sarajevo ge-

rung über prekäre soziale Verhältnisse zu pro-

allen geladenen Produktionen wiederkehren-

zeigten Produktionen. //

Senad Halilbašić


/ TdZ  Dezember 2019  /

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An der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, Institut für Schauspiel, gelangt ab dem Wintersemester 2020/21 eine

Universitätsprofessur für Dramaturgie gemäß § 99 des Universitätsgesetzes und § 25 des Kollektivvertrages für die Arbeitnehmer_innen der Universitäten in Form eines teilbeschäftigten vertraglichen Dienstverhältnisses mit einem Beschäftigungsausmaß von 50% einer Vollbeschäftigung befristet auf 5 Jahre zur Besetzung. Eine Verlängerung der Bestellung ist nur nach Durchführung eines Berufungsverfahrens nach § 98 Universitätsgesetz zulässig. Die Überzahlung des kollektivvertraglichen monatlichen Mindestentgelts von derzeit 2.565,10 € brutto (14 x jährlich) kann vereinbart werden. Aufgabenbereiche • Lehre insbesondere im Bereich der künstlerischen Dramaturgie • verantwortliche Vertretung und Förderung des Fachs in seiner Gesamtheit, insbesondere in der Entwicklung und Erschließung der Künste • artistic research / selbstständige Entwicklung von szenischen Experimenten • Mitwirkung als Dramaturg_in bei strategischen und inhaltlichen Standortbestimmungen, Entwicklungen und Perspektiven des Institutes • dramaturgische Betreuung von institutsinternen Produktionen, von Projekten und Betreuung künstlerischer Diplomarbeiten • Mitarbeit an Organisations-, Verwaltungs- und Evaluierungsaufgaben Spezifische Anstellungserfordernisse: • herausragende Persönlichkeit mit höchster künstle rischer Qualifikation für das zu besetzende Fach • international herausragende künstlerische Laufbahn • hervorragende pädagogische und didaktische Eignung • Teamfähigkeit Bewerbungen sind bis spätestens 12.02.2020 unter der GZ 80/19 per E-Mail in einem PDF-Dokument an bewerbungprof@kug.ac.at zu senden. Sofern erwünscht, können Tonträger bzw. DVDs per Post übermittelt werden. Detailinformation: http://www.csc-kug.at/jobinfo/kug.html Für das Rektorat Eike Straub

An der Hochschule für Bildende Künste Dresden ist im Studiengang Theaterausstattung (FH) zum 01.04.2020 eine nach Wissenschaftszeitvertragsgesetz zunächst auf drei Jahre befristete Stelle mit einem

Künstlerischen Mitarbeiter (m/w/d) in der Entgeltgruppe 13 TV-L (50 %) zu besetzen. Zu den Aufgaben gehören insbesondere: l

l l

teilweise selbstständige Lehre im bildnerischen Grundlagenstudium des Studienganges Theaterausstattung mit folgenden Schwerpunkten: - bildnerische Darstellungspraxis in zeichnerischen, malerischen und weiteren gestalterischen Techniken - szenische Entwurfs- und Projektarbeit - Farbenlehre, Farbenordnungen und -systeme sowie deren praktische Anwendung im bildnerischen und szenischen Bereich Mitwirkung bei der Studienorganisation und akademischen Selbstverwaltung eigene Qualifikation

Voraussetzungen:

abgeschlossenes Hochschulstudium in Bühnen- und Kostümbild, Bildender Kunst oder Theaterausstattung l Erfahrungen im szenischen Ausstattungsbereich l mehrjährige Berufspraxis l pädagogische Eignung; erste Lehrerfahrungen sind von Vorteil l

Wir bieten Ihnen die Möglichkeit zur eigenen Qualifizierung, insbesondere in der Lehre und künstlerischen Praxis. Wir schließen mit Ihnen eine entsprechende Vereinbarung ab. Mindestens ein Drittel Ihrer Arbeitszeit wird Ihnen zur eigenen künstlerischen Qualifizierung im Rahmen der Dienstaufgaben belassen. Je nach Qualifizierungsziel und der Erfüllung persönlicher Voraussetzungen ist eine Anschlussbefristung von bis zu 3 weiteren Jahren zulässig. Weitere Aufgaben sowie Anforderungen dieser Stelle ergeben sich aus § 71 SächsHSFG sowie der Sächsischen Dienstaufgabenverordnung an den Hochschulen in der jeweils geltenden Fassung. Die Hochschule für Bildende Künste Dresden strebt eine Erhöhung des Anteils von Frauen in Forschung, künstlerischer Praxis und Lehre an und ersucht deshalb Frauen mit spezifischem Tätigkeitsfeld nachdrücklich, sich zu bewerben. Schwerbehinderte Bewerber_innen werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt. Ihre aussagefähigen und vollständigen Bewerbungsunterlagen (Lebenslauf, Zeugnisse, Darstellung des künstlerischen Entwicklungsweges und geeigneten Arbeitsproben) senden Sie bitte bis zum 16.12.2019 (Posteingang bei der Hochschule) an die Hochschule für Bildende Künste Dresden, Referat Personalangelegenheiten, Güntzstraße 34, 01307 Dresden. Die Rücksendung der Unterlagen erfolgt nur bei gleichzeitiger Übersendung eines ausreichend frankierten Rückumschlags. Andernfalls werden sie nach Abschluss des Bewerbungsverfahrens nach den Vorgaben des Datenschutzes vernichtet. Bewerbungen, die per E-Mail eingehen, werden nicht berücksichtigt. Zudem können Reisekosten anlässlich des Vorstellungsgespräches leider nicht erstattet werden.


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in eigener sache

/ TdZ Dezember 2019  /

Schaufenster in den baltischen Raum Die Biennale Theater-Hanse geht in Stralsund in die erste Runde Die Vielfalt des Ostseetheaters – „Prügel im Stall des Herrenhauses“ des Teater Must Kast aus dem estnischen Tartu. Foto Maris Saviku

Eine alte Industrieanlage. In einem völlig kar-

auf Initia­tive des gleichnamigen Vereins im

gen Saal, mit weiß bespannten Wänden und

Theater Vorpommern und an anderen Spiel­

steinernem Boden, hat der norwegische Künst­

orten in der Hansestadt am Strelasund statt-

ler Lars Ø. Ramberg Kisten meterhoch aufge-

fand und damit das erste Theaterfestival in

stapelt. Darauf sind Wörter gedruckt – „Wut“,

dem Bundesland ist. Mit dieser ersten Ausgabe

„Angst“, „Narzisst“, „Gewalt“. Wie ein stiller

haben die drei Organisatoren Dirk Löschner,

Gerade die gegenseitige Unterstützung in po-

Monolith dominiert die Installation den Raum.

Intendant des Theaters Vorpommern, Harald

litischen und gesellschaft­ lichen Fragen sei

Doch plötzlich knallt es. Die Kisten fallen auf

Müller, Verlagsleiter von Theater der Zeit, und

ein wichtiges Ziel des Trägervereins. Daneben

den Betonboden, zersplittern. Dieser Theater-

der ­Publizist Thomas Irmer ein Programm zu-

steht die m ­ ethodische Vielfalt des Ostseethe-

abend liefert die Autopsie der Terroristenseele

sammengestellt, welches als Spiegelbild der

aters im Blickpunkt der Biennale. So wurden

von Anders Breivik, denn das Stück „Einer

Theaterpraktiken in Nord-, Ost-, und Zentral-

neben einer Oper aus Stettin auch das perfor-

von uns“, entwickelt vom Det Norske Teatret

europa fungiert. Der Austragungsort wurde

mative Stück „Prügel im Stall des Herrenhau-

aus Oslo und dem Schauspiel Hannover, soll

bewusst gewählt, sagen die drei, die alle eine

ses“ aus Tartu ins Programm aufgenommen.

untersuchen, wie es zum Massaker von Utøya

Verbindung zu Stralsund haben. Ziel sei es, so

Für Löschner blieb die Varianz der Theatertra-

und damit zum blutigsten Amoklauf Norwe-

Müller, der Stadt mehr Internationalität zu ge-

dition des Nordens und Ostens in Westeuropa

gens kommen konnte. Der Regisseur Erik Ulfsby

ben und dabei die kulturellen Akteure vor Ort

bisher unbeachtet, obwohl daraus maßgebli-

hat die Aufführung in der Alten Eisengießerei

zu stärken. Gerade im Theater, ergänzt Lösch-

che Tech­niken ent­standen sind, die auch das

in Stralsund als intimen Einblick in die Ver-

ner, habe bisher eine „Ostseeidentität“ ge-

deutsche Theater prägen würden. Auch des-

fasstheit eines Landes konzipiert. Die Drama-

fehlt. „Ein Schaufenster in den baltischen

wegen haben die Festivalveranstalter große

turgie basiert auf den Recherchen und den

Raum soll die Biennale sein. Eine Zusam-

Zukunftspläne für die nächste Biennale.

Interviews von Åsne Seierstad mit Opfern, Fa­

menkunft, die ein Vakuum füllt“, erklärt Ir-

2021 sollen mehr Produktionen, vielleicht

milienangehörigen und Einsatzkräften vor Ort,

mer. Auch deswegen sei die erste Biennale

sogar eine aus jedem Land des Ostseeraums,

welche das mörderische Handeln am 22. Juni

der radikalen Auseinandersetzung mit der ge-

gezeigt werden. Dafür sei aber mehr Unter-

2011 miterleben mussten, das 77 Menschen

sellschaftlichen Realität in den Anrainer­

stützung der Landesregierung Mecklenburg-

das Leben kostete. Wie konnte eine solche

staaten gewidmet. So zeigte das Sankt Peters-

Vorpommerns notwendig, konstatiert Lösch-

Tat stattfinden und Extremismus in einem

burger Teatr Pokoleniy ein politisch brisantes

ner. Die erste Biennale sei so erfolgreich

Land gedeihen, in dem Gleichheit und Frei-

Stück zur Leningrader Blockade während des

gewesen, dass viele der beteiligten Theater-

heit Grundprämissen des Staats­ selbst­ ver­

Zweiten Weltkriegs oder das Teatras Lėlė aus

gruppen den Wunsch äußerten, die Koopera-

ständnisses sind? Das Stück versucht ein­

Vilnius die Puppentheaterproduktion „König

tionen zu verstetigen und zu verfestigen.

zuordnen, bietet aber keine Katharsis, das

Ubu“, das satirisch die Populisten der Welt,

Aber, so macht Müller deutlich, es brauche

Un­vorstellbare bleibt unverständlich. Es offen­

von Trump über ­ Orbán bis Kaczyński kari-

dafür auch politische Unterstützung, „damit

­bart sich nur eine Erkenntnis. Breivik ist Pro-

kiert. Ein Programm also, das zum Nachden-

die Theaterkunst als verknüpfendes Element

dukt dieser Gesellschaft und lebte vor dem

ken anregt und für volle Reihen sorgt. Denn in

der Ostseestaaten erblühen kann und wir so

Attentat ein bürgerliches Leben.

dem litauischen Stück lauschten viele Zu-

wie in diesem Jahr erfolgreich mit den Stral-

schauer auch von den Treppen aus den Aus-

sundern in Dialog treten und in die Stadt

führungen der Schauspieler.

strahlen können“. //

Vorgestellt wurde die bewegende Produktion, auf der Biennale Theater-Hanse, die

Kevin Hanschke


magazin

/ TdZ  Dezember 2019  /

Ein großer Ensemblespieler Der Leipziger Schauspieler Dieter Jaßlauk ist gestorben Das erste Mal auf der Bühne erlebte ich Die-

Kino – sein stummer Auftritt zusammen mit

ter Jaßlauk 1978 als Peachum in Stralsund;

Marylu Poolman in Wolfgang Engels Inszenie-

eine Rolle, wie für ihn geschaffen. Mit seiner

rung des Peter-Handke-Stücks „Die Stunde da

ungewöhnlichen Stimme, seiner Bühnen­

wir nichts voneinander wussten“.

präsenz und dem kleinen Schuss Verschmitzt-

Dieter Jaßlauk verlieh zahlreichen Hör-

heit gab er dieser Figur aus Brechts „Drei­

spielen seine markante Stimme und vielen

groschenoper“ ein unverwechselbares Gesicht.

TV-Produktionen sein Gesicht und Profil.

Zu diesem Zeitpunkt stand der 1934 in Dres-

Egal, wo er auftrat: Stets gelangen ihm

den geborene Schauspieler bereits zwanzig

scharf umrissene, differenzierte Rollenpor­

Jahre auf der Bühne. Begonnen hatte er seine

träts. Höhe- und zugleich Schlusspunkt

Laufbahn 1958 in Meiningen, von wo er über

­seiner künstlerischen Laufbahn war die Aase

Stralsund nach Leipzig kam und hier bis

in Henrik Ibsens „Peer Gynt“. Mit dieser

2007 zum festen Ensemble gehörte, ihm

­Rolle hat er sich 2018 von der Bühne ein-

­danach als Gast weiter verbunden blieb.

drucksvoll verabschiedet. Am 9. Oktober ist

Eindrucksvoller Abschied von der Bühne – Dieter Jaßlauk (1934 – 2019) als Aase in Philipp Preuss’ Inszenierung von Henrik Ibsens „Peer Gynt“ (Schauspiel Leipzig 2017). Foto Rolf Arnold

Mit Geduld und Beharrlichkeit verstand

Dieter ­ Jaßlauk im Alter von 85 Jahren ge­

er es, auch hier seine „Marke“ zu setzen. Ein-

storben. Die Leipziger Kolleginnen und

prägsam und unverwechselbar sind mir seine

Kollegen würdigen ihn in ihrem Nachruf ­

Shakespear’schen Figuren: ob als Narr, Pater

treffend als „Fürsprecher einer Figur“ und ­

Lorenzo, Schauspieler und Totengräber oder

kollegialen ­Ensemblespieler, der mit seinem

Am 6. Dezember um 20 Uhr findet unter dem Titel

Nestor. Unvergessen auch sein Tschibis in

Spiel „leise, aber nachdrücklich, berührend

„Ach, wenn das doch alles nicht so maßlos traurig

­Heiner Müllers „Zement“, wo er in noch zwei

und be­ sonders“ das Theater geprägt hat.

wäre“ auf der Hinterbühne des Schauspiels Leipzig

weiteren Rollen brillierte, und – ganz großes

Danke, Dieter. //

Matthias Caffier

eine Gedenkveranstaltung für Dieter Jaßlauk statt.

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magazin

/ TdZ Dezember 2019  /

Erzählt wild durcheinander von einem wilden Leben – Die Schauspielerin Angela Winkler. Foto Elena Zaucke

ebenso wichtig geworden wie Theater und Film. Mit ihrem Mann, dem Bildhauer Wigand Witting, und ihren vier Kindern zieht sie seitdem durch Italien, Deutschland und Frankreich, baut alte Bauernhäuser wieder auf und legt Gärten und Felder an. Sie spielt oder dreht bis heute nur, wenn die Figuren und die Regisseure sie wirklich interessieren: die Ranjewskaja in Peter Zadeks „Kirschgarten“, die Lucile in Andrzej Wajdas Film „Danton“, die Antigone und die Iphigenie bei Klaus Michael Grüber, die Lulu bei Robert Wilson. Den „Hamlet“ mit Zadek von 1999 wird keiner, der ihn gesehen hat, vergessen. In der jüngeren Vergangenheit war sie in „Peer Gynt“ von Simon Stone sowie als Irina in den „Drei ­ Schwestern“ von Karin Henkel zu sehen. Angela Winkler erzählt ihr wildes Leben wild durcheinander, und ihre Gesprächspartnerin, die Dramaturgin Brigitte Landes, die mit ihr das Buch verfasste, hat gut daran getan, diese Erzählungen nicht chronologisch zu ordnen. So fügen sich diese Erinnerungsskizzen gemeinsam mit Briefen, Tagebucheinträgen und Fotografien zu einem höchst lebendigen Bild. Dabei wird ein Bovist auf dem Feld so wichtig wie Yoricks Schädel oder eine Madonnenlilie so eindrucksvoll wie eine Figur von Tschechow. Manchem mögen solche Geschichten zu privat oder zu exzentrisch erscheinen, aber für Angela Winkler ist das eine ohne das andere nicht zu haben. Obwohl sie dann manchmal auch ungläubig staunt, wenn

Skizzen aus dem blauen Zimmer

war die mit Klaus Michael Grüber, der einer

sie während der Proben ihre Familie und ihr

ihrer wichtigsten Regisseure und Lebensmen-

neues Zuhause beinahe vergessen hat.

„Ich habe immer Sehnsucht nach einem

schen werden sollte. Durch ihren Auftritt in

Eine besondere Beziehung hat Angela

blauen Zimmer“, setzt Angela Winkler als

der Verfilmung von Heinrich Bölls „Die ver­

Winkler zu den Gedichten von Else Lasker-

Motto vor ihre „Autobiographischen Skizzen“

lorene Ehre der Katharina Blum“ durch Volker

Schüler. Wer ihren Abend „Die Reise nach

und fügt hinzu: „Aber ich habe ein ganzes

Schlöndorff und Margarethe von Trotta wurde

Jerusalem“ am Berliner Ensemble gesehen

Dorf.“ In dieses Dorf nimmt die Schauspiele-

Angela Winkler 1975 zu einem europäischen

hat, der konnte die Stimme der Dichterin auf

rin ihre Leserinnen und Leser mit, vom Ham-

Star und konnte sich Rollen und Regisseure

neue und unvergessliche Weise hören. „Wenn

burg ihrer Kindheit über ihre Jugendjahre und

aus­suchen. Ihre Familie war inzwischen für sie

ich ganz alt bin“, schreibt Winkler, „dann

die Schauspielschule Stuttgart bis zum ers-

können wir noch einen Lasker-Schüler-Abend

ten Engagement 1968 in Castrop-Rauxel. Da

machen. Über die alte Dichterin, die im Exil

gab es schon das erste Filmangebot für

im Land ihrer Träume, ihrem Hebräerland, so

­Martin Sperrs „Jagdszenen in Niederbayern“, in denen sie neben Hanna Schygulla und dem Autor debütierte. Peter Stein sah den Film und holte die junge Winkler 1971 an die Berliner Schaubühne, wo sie in seinem „Peer Gynt“ spielte. Die entscheidende Begegnung

Angela Winkler: Mein blaues Zimmer. Autobiographische Skizzen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 240 S., 22 EUR.

unglücklich war. Die Else im Café Sichel in Jerusalem.“ Aber so lange will ihr Publikum nicht mehr warten, schon gar nicht nach der Lektüre dieser ebenso anregenden wie auf­ regenden Erinnerungen. // Holger Teschke


bücher

/ TdZ  Dezember 2019  /

Mehr als eine feministische Fußnote

Unberechenbaren wie eben Geoffrey, rück-

Seliger, selbst Konzertveranstalter, beschreibt

sichtslos verdrängt.

die Entwicklung hin zu Vor-Vorverkäufen und

Die landläufige deutsche Übersetzung

„Ticket-Bundles“, die zu einer Preissteige-

Die Britin Shelagh Delaney – ihr Vorname ver-

des Titels (ein Bibelzitat) geht also keines-

rung ins Absurde und so zu einer Verdrängung

weist auf irische Wurzeln – war erst 19 Jahre

wegs fehl. Der Geschmack von Honig erweist

großer Teile der Bevölkerung aus den ehemals

alt, als ihr Stück „A Taste of Honey“ 1958 in

sich als bitter; Mutter und Tochter streiten

„egalitären“ Massenevents führen. Verdrängt

Manchester zur Uraufführung kam. Der Aviva

unentwegt scharfzüngig miteinander, um sich

werden dabei ebenso kleinere Konzertveran-

Verlag, der das Stück nun neu publizierte,

dann wieder oberflächlich zu versöhnen, wäh-

stalter, Off-Bühnen und Clubs, weil die gro-

übersetzt den Titel nicht; in Deutschland kam

rend humanere Lebensentwürfe (mit Geoffrey)

ßen Marktführer die Vertragsbedingungen

die

Tony

kaum eine Chance haben. Delaney schreibt

Richardson wie auch die Inszenierung von

aus einer unmittelbaren, leidenschaftlichen

Peter Zadek (St. Pauli Theater Hamburg

Lebenserfahrung heraus, weniger aus einem

2006) unter dem Titel „Bitterer Honig“ her-

„sozialkritischen“ Vorsatz. Man mag ihren

aus. Mit ihrem Werk reihte sich die junge

Text in das Umfeld des „Kitchen Sink Rea-

­Autorin gewissermaßen in die Riege der „zor-

lism“, des Spülbeckenrealismus, einsortie-

nigen jungen Männer“ (John Osborne, Harold

ren, doch wie Tobias Schwartz zutreffend be-

Pinter) ein, und keineswegs nur als „feminis-

merkt, sagen solche Schubladen wenig aus.

tische Fußnote“, wie der Übersetzer und Vor-

Die Autorin von „Taste of Honey“ ist schon

wortverfasser Tobias Schwartz schreibt.

aufgrund ihres jugendlichen Alters eine sin-

preisgekrönte

Verfilmung

von

BERTHOLD SELIGER

VOM

IMPERIENGESCHÄFT K ONZER T E  —   F ESTIVALS  —   S OZIALES WIE GROSSKONZERNE DIE KULTURELLE VIELFALT ZERSTÖREN

EDITION TIAMAT

Berthold Seliger: Vom Imperiengeschäft. Konzerte – Festivals – Streaming – Soziales. Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören. Edition Tiamat, Berlin 2019, 344 S., 20 EUR.

guläre Erscheinung. War Delaney im Vereinigten Königreich geradezu eine Pop-Ikone (selbst die Beatles

weitgehend kontrollieren. Wo sich aber die

zitierten sie in ihrem Debütalbum „Please

kleinen Bühnen nicht mehr über Wasser hal-

please me“), ist ihr schmales Werk in

ten können, da schrumpfen auch die Orte für

Deutschland weitgehend unbekannt geblie-

wenig bekannte und unbekannte Künstler­

ben. Der feministisch ambitionierte Aviva

innen und Künstler; es bleiben nur mehr die

Verlag hat nun Delaneys Erzählungen und ­

bereits etablierten Stars auf den großen

zwei Stücke, ergänzt durch einen ausführ­

Events. Die Größen des Ticketgeschäfts domi-

lichen Kommentar von André Schwarck, in

nieren über Sponsoring und Management des

einem Paperback zusammen­ gefasst. Die

gesamten „Live-Geschäfts“ weite Teile der

Was an dem Text hervorsticht, ist indes weni-

kurzen Prosatexte der 2011 im Alter von ­

Kulturbranche. Ideologisch getragen wird dies,

ger viriler Zorn als eine einfühlsame, durch-

72 Jahren verstorbenen Autorin erfüllen da-

laut Seliger, durch die „Eventisierung“ der

aus humoristische Zeichnung der fünf Figu-

bei eher das Muster einer skurril getönten

Kulturbranche, die scheinbar individualisier-

ren, die wie ihre Autorin dem Arbeitermilieu

Sozialkritik. //

te Erlebnisse verkauft und dabei Forderungen

Shelagh Delaney: A Taste of Honey. Hg. von Tobias Schwartz und André Schwarck, Aviva Verlag Berlin, 400 S., 22 EUR.

Martin Krumbholz

von Salford, einem Vorort von Manchester,

der Alternativ- und Protestkultur adaptiert.

angehören. Da ist der Teenager Jo, die von

Die Mechanisierung des Skandals als reines

einem schwarzen Matrosen geschwängert

Mittel der Anpreisung wird der Regelfall. Auf-

wird; ihre eigensüchtige Mutter Helen, die

seiten der Künstlerinnen und Künstler führt

sich voller Illusionen einem viel jüngeren, be-

Ein Konzertveranstalter klagt an

mittelten Mann an den Hals wirft; und

Am Anfang stand die Masse an. So könnte –

produzieren, um nicht aus dem Scheinwerfer-

schließlich Geoffrey, ein Homosexueller, der

ans Biblische gemahnend – der Ursprung von

licht der großen Agenturen zu geraten. Diese

sich liebevoll um Jo kümmert – entschieden

Berthold Seligers Kritik an der Kulturindust-

Bedingungen des Spektakulären betreffen die

die sympathischste Person in diesem Ensem-

rie gefasst werden. Sein neuestes Buch „Vom

Kultur als Ganzes. Der Staat müsse der

ble sozialer Außenseiter. Mithilfe kräftiger,

Imperiengeschäft“ nimmt seinen Ausgang in

Monopolisierung daher entgegenwirken und ­

sarkastisch gefärbter Dialoge lässt Delaney

der Veränderung des Ticketmarkts für Konzer-

die Kultur stützen, fordert Seliger. Vor allem

die Figuren in einem Schmelztiegel, einer

te. Kauften Konzertgänger früher ihre Ein-

aber plädiert er dafür, dass sich „Kultur­

verwahrlosten Wohnung, aufeinanderprallen

trittskarten einfach an einer Bude, sind es

arbeiter*innen“ nicht in der Mär von der „kre-

und sich wieder voneinander lösen. Die

heutzutage große Ticketkonzerne, die über

ativen Klasse“ verfangen. Statt als Boheme

Schwerkraft egoistischer Interessen ist über-

das Monopol des Verkaufs verfügen. Mittler-

sollten sich Beschäftigte im Kulturbereich als

mächtig. Als Geoffrey die Wohnung resigniert

weile werden die Tickets hauptsächlich online

Teil der Arbeiterklasse sehen und als solche

verlässt, sagt er den bitteren Satz: „Das Ein-

erworben – zulasten der Konzertbetreiber,

organisieren. Mit dieser Forderung gerät Seli-

zige, gegenüber dem sich die Zivilisation als

denn der Gewinn landet zumeist nur in den

gers Kritik der Monopolisierungstendenzen

machtlos erweist, sind Frauen.“ Die Bemer-

Kassen der Monopolisten. Die machen aus

im Ticketgeschäft zu einer leidenschaftlichen

kung ist auf Helen gemünzt, deren pervertier-

den Konzerten zwar riesige Events für die

und materialgesättigten Anklage der Bedin-

ter Mutterinstinkt jeden Konkurrenten um

Massen, ihr Ziel aber ist stets die Dominanz

gungen der Kunst im Kapitalismus. //

Liebe und Zuwendung, vor allem aber jemand

auf dem Markt.

dies zum ständigen Drang, Schlagzeilen zu

Chris Weinhold

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aktuell

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/ TdZ Dezember 2019  /

Meldungen

gen besser abfedern zu können“, so der Ge-

nächsten Spielzeit eine neue Inszenierung in

schäftsführende Direktor Dirk Terwey.

Dresden erarbeiten. Außerdem wurde zusam-

■ Haiko Pfost ist nach seinem 2020 auslaufen-

■ Der mit 15 000 Euro dotierte Künstlerin­nen­

2025 eine vierwöchige Residenz zum Thema

den Vertrag für weitere drei Jahre als Künstle-

preis Nordrhein-Westfalen geht an Carena

„Neue Heimat“ vergeben. Diese ging an Anna

rischer Leiter des Impulse Theater Festivals

Schlewitt und Patricia ­Nickel-Dönicke. Er wird

Klimešová mit der Produktion „Vladař“. Den

bestellt worden. Das beschloss die Voll­ ver­

für „beispielhaftes Engagement und künstle-

Publikumspreis gewann Louis Vanhaverbeke

samm­ lung des NRW KULTURsekretariats.

rische Impulse in den darstellenden Künsten“

mit dem Stück „Mikado Remix“.

Dessen Direktor Christian Esch verkündete:

verliehen. Carena Schlewitt, Intendantin des

„Das Kuratorium wird sich gemeinsam mit

Europäischen Zentrums der Künste Hellerau

■ Am 21. Oktober wurden in Hamburg insge-

dem künstlerischen Leiter mit Nachdruck da-

in Dresden, erhält den Hauptpreis in Höhe

samt neun Rolf Mares Preise von der Gemein-

für einsetzen, dass es ab 2021 eine signifikan-

von 10 000 Euro, Patricia Nickel-Dönicke,

schaft der Hamburger Theater vergeben. Die

te Erhöhung der Mittel für das Festival gibt.“

derzeit Chefdramaturgin am Theater Ober-

Preise gingen an: Till Huster, Anika Mauer und

hausen und ab 2021/22 Schauspieldirektorin

Cathérine Seifert in der Kategorie heraus­

am Luzerner Theater, wird mit dem Förder-

ragende*r Darsteller*in, Kevin Haigen und

preis in Höhe von 5000 Euro ausgezeichnet.

­Kirill Serebrennikov in der Kategorie Insze­

Der Künstlerinnenpreis wird seit 1996 jähr-

nierung, Eva-Maria Bauer in der Kategorie

lich von der Landesregierung Nordrhein-

Bühnenbild, Clara Jochum und Hannes Wittmer

Westfalen vergeben.

in der Kategorie Musik und Rita Thiele in der

men mit dem Kulturhauptstadtbüro Dresden

Ursula Thinnes. Foto Phile Deprez

Kategorie Dramaturgie. Zudem wurde ein Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis

Sonderpreis für außergewöhnliche Leistungen

2020 geht an Felicia Zeller. Der Preis gilt mit

im Hamburger Theaterleben verliehen. Er ging

10 000 Euro Preisgeld als einer der höchst-

an das Polittbüro, die Bühne des Kabarett-

dotierten deutschen Preise für Bühnen­

duos Lisa Politt und Gunter Schmidt.

Der

autoren. Das Pfalztheater Kaiserslautern wird ihn am 1. März 2020 im Auftrag der Stiftung

■ Zum vierten Mal wurde am 7. November

Rheinland-Pfalz für Kultur vergeben. Zudem

der Osnabrücker Dramatikerpreis verliehen.

werden drei Stückepreise verliehen: Der

Der erste Preis ging an Julian Mahid Carly-

erste, verbunden mit einem Preisgeld von ­

Hossain für sein Stück „Verbingungsfehler“.

■ Ab der Spielzeit 2020/21 wird Ursula

5000 Euro, geht an Caren Jeß für ihr Stück

Den zweiten und dritten Preis erhielten

­Thinnes, derzeit Dramaturgin am Schauspiel

„Der Popper“, das in der Spielzeit 2020/21

­Alexander Estis mit „Kunstwelten“ und Amanda

Frankfurt, neue Schauspieldirektorin des

am Pfalztheater Kaiserslautern uraufgeführt

Lasker-Berlin mit „Amazonen Verrecken“. Das

Staatstheaters Braunschweig. Die seit 2017

wird. Den zweiten erhält Leon Ospald für sein

Theater Osnabrück vergibt die Auszeichnung

bestehende Doppelleitung von Chefdramatur-

Stück „Guppysterben“. Er darf 3000 Euro

gemeinsam mit dem Theaterverein Osnabrück

gin Claudia Lowin und Regisseur Christoph

ent­gegennehmen, die auch als dreimonatiges

e. V. Der erste Preis ist mit 6000 Euro dotiert,

Diem wird aufgelöst. Diem wird weiterhin als

Aufenthaltsstipendium am Pfalztheater genutzt

der zweite und dritte Preis mit jeweils 1000

Regisseur am Haus arbeiten und sich ab der

werden können. Der mit 2000 Euro dotierte

Euro. Das Gewinnerstück wird in der Spielzeit

nächsten Spielzeit vor allem der neuen

dritte Preis geht an Magdalena Schrefel für ihr

2020/21 am Theater Osnabrück u ­ raufgeführt.

­Spielstätte Aquarium widmen. Lowin wird das

Stück „Ein Berg, viele“.

■ Der Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT)

Staatstheater verlassen. Ursula Thinnes setzt mit dem Wechsel nach Braunschweig eine

■ Am 9. November fand am Staatstheater

hat unter dem Motto „Land in Sicht!“ ein

langjährige Zusammenarbeit mit Generalin-

Kassel die Verleihung des Deutschen Theater­

Programm entwickelt, um Theaterprojekten

tendantin Dagmar Schlingmann fort.

preises Der Faust zum 14. Mal statt. Preise

im ländlichen Raum zu helfen, mehr Auf-

bekamen unter anderem Helge Schmid für

merksamkeit zu erlangen. Es unterstützt

■ Das Mainfranken Theater Würzburg wird ab

Schauspielregie, Maja Beckmann für Schau-

Amateurtheater in Gemeinden mit maximal

der Spielzeit 2022/23 zum Staatstheater auf-

spiel und Birgit Freitag für Regie im Kinder-

20 000 Einwohnern. Zu einem ersten drei­

gewertet. Das Haus wird zurzeit modernisiert,

und Jugendtheater. Der Regisseur und Mit-

tägigen Workshop trafen sich Ende Oktober

außerdem entsteht ein Erweiterungsbau. Bis

gründer des Theaters an der Ruhr Roberto

dreißig Menschen aus der bundesweiten

zur Wiedereröffnung 2022 soll die staatliche

Ciulli wurde mit dem Preis für sein Lebens-

ländlichen Theaterszene in Lutherstadt Wit-

Förderquote stückweise steigen. Stadt und

werk geehrt. Die weiteren Preisträger*innen

tenberg. T ­ hemen waren unter anderem Nach-

Staat werden sich die Bezuschussung paritä-

finden Sie auf unserer Website: www.theater-

wuchsprobleme, Publikumsgewinnung, feh-

tisch teilen. Die Trägerschaft und die Rechts-

derzeit.de/blog

lende Räume und Öffentlichkeitsarbeit. Mit den ­Ergebnissen wollen jetzt zum einen die

form bleiben unangetastet. Anstellungsverhältnisse bleiben in städtischer Hand. Die

■ Marion Siéfert gewinnt mit ihrem Stück

Theaterschaffenden an ihren Projekten arbei-

Aufwertung zum Staatstheater soll dem Haus

„Du Sale!“ das Fast Forward Festival 2019 am

ten und zum anderen der BDAT gemeinsam

helfen, „Tariferhöhungen und Preissteigerun-

Staatsschauspiel Dresden. Sie darf somit in der

mit dem Centre of Competence for Theatre


aktuell

/ TdZ  Dezember 2019  /

(CCT) der Universität Leipzig ein bundes­

spielschule Theater der Keller in Köln. Nach

weites ­ Förderprogramm für das Jahr 2020

einigen Gastengagements unter anderem am

generieren. Die Gelder dafür kommen aus den

Kleinen Theater Bad Godesberg, am Grenz-

Mitteln des Bundesprogramms BULE der

landtheater Aachen, an der Komödie Düssel-

Bundesbeauftragten für Kultur und Medien.

dorf und Komödie München, an den Hamburger Kammerspielen und an der Volksbühne

■ Das Theater und Orchester Heidelberg ver-

Berlin war sie am Staatstheater Nürnberg und

gibt wieder zehn Stipendien zum Heidelberger

an den Vereinigten Städtischen Bühnen Kre-

Stückemarkt, der vom 24. April bis zum 3. Mai

feld/Mönchengladbach engagiert. Von 1994

2020 stattfinden wird. Das Stipen­diat*in­nen­

bis 2013 war sie festes Ensemblemitglied am

programm ermöglicht jungen Menschen, die

Theater Ulm sowie später immer wieder als

Vorstellungen des Stückemarkts zu besuchen,

Gast vor Ort.

TdZ on Tour n 01.12. Buchvorstellung backstage KLAUSSNER, Schauspielhaus Düsseldorf n 05.12. Buchpremiere Mark Lammert: Rot Gelb Blau. Texte zum Theater, Einar & Bert Theaterbuchhandlung n 12.12. Buchvorstellung backstage KLAUSSNER, Schauspielhaus Bochum Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de

Wettbewerbsstücke mit den Autor*in­nen zu diskutieren und an Workshops teilzunehmen.

■ Herman Vinck, Mitbegründer des legendären

Bis zum 15. Januar können sich Studierende

Het Werkteater Amsterdam, verstarb am

und

Theater­

18. Oktober im Alter von 84 Jahren. Mit dem

■ Der Schauspieler Siegfried Kristen verstarb

bereich mit Lebenslauf und Motiva­ tions­

Werkteater schrieb er in den siebziger und

am 27. Oktober im Alter von 91 Jahren. Nach

schreiben bewerben. Bewerbungen an: stuecke­

achtziger Jahren Theatergeschichte. Gesell-

seinem Schauspielstudium stand er in Hei-

markt@theater.heidelberg.de

schaftspolitische Themen wurden dort ­erst­­malig

delberg, Mannheim, München und in den

vom Schauspielensemble improvisatorisch

Kammerspielen Kurpfalz auf der Bühne. Ab

■ Zum fünften Mal veranstaltet das Kinder-

erarbeitet. 1991 kam Vinck auf Einladung

1957 war er für fünf Jahre fest am Heidel­

und Jugendtheaterzentrum der Bundesrepub-

des GRIPS Theaters nach Berlin. Dort ent­

berger Zimmertheater engagiert, wonach er

lik Deutschland (KJTZ) eine Werkstatt für

wickelte Vinck nach der Werkteater-­Methode

1962 dann ans Kieler Schauspielhaus kam.

Übersetzer*innen im Rahmen des internatio-

das erste Ensemblestück des Hauses. Er war

Seither hielt er diesem die Treue und war in

nalen Theaterfestivals für junges Publikum

außerdem „als Regisseur, neben und mit

unzähligen Rollen zu sehen. Als langjähriger

Rhein-Main „Starke Stücke“. die Werkstatt

Matthias Witting, von 1999 bis circa 2010

künstlerischer Personalrat, als Obmann der

wird vom 19. bis 22. März 2020 in Frankfurt

das künstlerisch prägende Gesicht bei ATZE“,

Gewerkschaft Deutscher Bühnenangehöriger

am Main stattfinden. Bewerben können sich

so Thomas Sutter, Leiter des ATZE Musik­

und als Beisitzer des Bühnenschiedsgerich-

alle Theaterübersetzer*innen, die Stücke für

theaters in Berlin.

tes setzte er sich für die Interessen der Kolle-

Berufseinsteiger*innen

im

Kinder oder Jugendliche ins Deutsche über-

ginnen und Kollegen ein.

setzen. Es dürfen Übersetzungen eingereicht im deutschsprachigen Raum noch nicht aufgeführt wurden. Einsendeschluss ist der ­ 17. Januar 2020. Weitere Informationen ­unter www.kjtz.de

■ Das aus dem ensemble-netzwerk im Juli 2019 hervorgegangene dramaturgie-netzwerk veranstaltet am 14. Dezember sein erstes ­großes Treffen im Schauspielhaus Hannover.

■ Am 1. Novemberer verstarb der Schau-

Cornelia Crombholz. Foto Nilz Böhme

werden, die nicht älter als fünf Jahre sind und

spiel- und Opernregisseur J­ohannes Schaaf im Alter von 86 Jahren in Murnau am Staffelsee. Schaaf, 1933 in Stuttgart geboren, verschlug es nach einem Medizinstudium in den 1950er Jahren ans Stuttgarter Schauspielhaus. Seine erste Regie führte er in Ulm unter Intendant Kurt Hübner. Nach Exkursen in den Film führte ihn sein Weg letztlich zur Oper. Mit seinen Inszenierungen machte Schaaf

Ziel des neuen Netzwerkes soll sein, regel­

■ Magdeburgs Schauspieldirektorin Cornelia

sich einen Namen an großen Häusern welt-

mäßigen Austausch zwischen Dramaturg*in­nen

Crombholz ist am 25. Oktober nach kurzer

weit. Im Schauspiel feierte er Erfolge am Wie-

zu ermöglichen und auch für Interessierte

schwerer Krankheit verstorben. Die 1966 in

ner Burgtheater, am Schauspiel Frankfurt

­offen zu sein. Außerdem soll Öffentlichkeit

Halle geborene Regisseurin war von 2000 bis

und am Münchner Residenztheater. Schaafs

für die Themen Solidarität und Mitbestim-

2013 Hausregisseurin am Schauspiel Graz.

Archiv wird in der Akademie der Künste in

mung für Theaterangestellte erzeugt werden.

Von dort wechselte sie als Schauspieldirek­

Berlin aufbewahrt. //

Das Netzwerk sieht sich als „Thinktank“ für

torin nach Rostock. Ab 2014 war sie Schau-

ein Stadttheater der Zukunft.

spieldirektorin am Theater Magdeburg, wo sie sich

vertieft

mit

ostdeutschen

Themen

■ Am 15. Oktober verstarb die Schauspie­

beschäftigte. Einen weiteren Schwerpunkt ­

lerin Ulla Willick im Alter von 79 Jahren in

bildeten ihre Shakespeare-Inszenierungen.

Ulm. Willick gehörte mehr als zwei Jahrzehnte

Auch im Musiktheater fasste sie Fuß. Für

zu den prägenden Künstlerinnen des U ­ lmer

März 2020 war noch eine Premiere von Kurt

Thea­ters. Geboren 1940 in Köln, absolviert

Weills und Bertold Brechts „Aufstieg und Fall

sie ihre Schauspielausbildung an der Schau-

der Stadt Mahagonny“ angesetzt.

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

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Premieren Aalen Theater der Stadt E. E. Schmitt: Kleine Eheverbrechen (T. Brüggemann, 07.12.) Altenburg Theater Gebrüder Grimm: Schneewittchen und die sieben Zwerge (M. Kressin, 01.12.) Annaberg-Buchholz Eduard-vonWinterstein-Theater R. Alfieri: Sechs Tanzstunden in sechs Wochen (K. G. Kayser, 01.12.) Augsburg Staatstheater S. Seidel: Tatort Augsburg Folge 6 „Augustus fliegt“ (D. Ortmann, 31.12.) Basel Theater n. R. Walser: Der Gehülfe (A. Vulesica, 13.12.) Berlin Ballhaus Ost T. R. Völcker: Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte (T. R. Völcker, 07.12., UA); C. Winkler: On Hela – The Colours of (C. Winkler, 12.12.); Kuithan | Ullrich: Bartleby (Kuithan | Ullrich, 12.12.); J. Frank: Rock around the Cock (J. Frank, 18.12.) Deutsches Theater F. M. Mujila: Zu der Zeit der Königinmutter (C. Sprenger, 08.12., DEA); R. Pollesch: (Life on earth can be sweet) Donna (R. Pollesch, 15.12., UA); T. Melle: Ode (L. Rupprecht, 20.12., UA) Schaubühne am Lehniner Platz B. Brecht: Der kaukasische Kreidekreis (P. Kleinert, 12.12.) Sophiensaele Sööt/Zeyringer: Angry Hour (03.12., UA); Follow Us: Nora oder ein Altenheim (05.12., UA); Lange / Kress / Mazza / Stymest: Vier (17.12., UA) Theater im Delphi P. Milo­ shevski: The Passion according to BIBI (P. Miloshevski, 06.12., DEA); Theater unterm Dach J. Baldy: Sieben Lagen Knoblauch ­ scharf (T. Donndorf, 12.12., UA) theaterdiscounter B. Sistig: How to Excuse (B. Sistig, 05.12.) Volksbühne n. R. M. Schernikau: ­Legende (S. Pucher, 11.12., UA); L. Bihler: Final Fantasy (L. Bihler, 12.12., UA) Biel / Solothurn TOBS N. Simon: Sonny Boys (D. v. Gunten, 06.12.) Bonn Theater n. Molière / M. Heckmanns: Der eingebildete Kranke (S. Blattner, 06.12.); Fringe Ensemble: Lieber Gold im Mund als Porzellan im Safe (F. Heuel, 19.12.) Bremen Theater A. S. Domenz/M. Teussink: In Bed with Madonna (A. S. Domenz, 06.12.); Ö. v. Horváth: Jugend ohne Gott (A. Riemenschneider, 07.12.) Bremerhaven Stadttheater D. Jacobs/ M. Netenjakob: Extrawurst (A. Reh­ schuh, 20.12.)

Celle Schlosstheater E. Lubitsch/ N. Whitby: Sein oder Nichtsein (M. Klammer, 06.12.); n. J. W. v. Goethe: Iphigenie – Ein Traum von Frieden (C. Fries, 07.12.); M. Bothe/N. Khuon: Robin Hood (S. R. Richter, 14.12.) Cottbus Staatstheater W. Lotz: Das unmögliche Theater Teil 1: Der große Marsch (W. Rüter, 07.12.) Dortmund Theater n. E. Carrère: Der Widersacher (E. Hauswirth, 01.12.) Essen Schauspiel H. Ibsen: Peer Gynt (K. Dahlem, 13.12.) Frankfurt am Main Schauspiel J. Koslowski/N. Stuhler: 1994 – Futuro al dente (J. Koslowski/N. Stuhler, 06.12., UA) Göttingen Deutsches Theater n. G. Büch­ner/T. Waits/K. Brennan: Woyzeck (A. Thoms, 07.12.) Graz Schauspielhaus C. Frost/Die Rabtaldirndln: Ich, Tatortkommissarinnen (C. Frost, 05.12., UA); P. Turrini: Josef und Maria (M. Schilhan, 06.12.) Greifswald Theater Vorpommern M. Python: Monty Pythons Spamalot (P. Rein, 07.12.) Halberstadt Nordharzer Städtebundtheater J. v. Düffel: Döner zweier Herren (Hunger integriert) (A. Beutel, 31.12.) Hamburg Schauspielhaus n. H. Wells: Menschen, Göttern gleich – oder: Veddeltopia (P. Neukampf, 14.12., UA) Thalia Theater W. Mouawad: Vögel (H. S. Mican, 07.12.) Hildesheim Theater für Niedersachsen S. Sondheim/G. Furth: Company (W. Bauer, 14.12.) Ingolstadt Stadttheater N. Gogol: Der Revisor (S. Kreyer, 07.12.); Rosablau. Die Welt in zwei – Ein Spiel mit Rollenbildern (C. Schelhas, 15.12.) Jena Theaterhaus n. M. Matter/ K. Lenhart: Ein Schaf für’s Leben (K. Lenhart, 06.12.) Karlsruhe Badisches Staatstheater Das Privileg (S. Heiner / S. Mahn, 15.12., UA) Kiel Theater S. Kreuzer: Winter­ backen (K. Wunderlich, 06.12.) Köln Schauspiel L. Visconti: Die Verdammten (E. Mondtag, 07.12.) Konstanz Theater V. Fischer: Rudi Rakete (M. Schaefer, 01.12., UA); A. Küspert: Am Wasser (N. Bremer, 14.12., UA); J. Pätzold: Kurz vor Kuss – Liederabend (J. Pätzold, 31.12., UA) Krefeld Theater Krefeld und Mönchengladbach n. O. Preußler: Der

Dezember 2019 Räuber Hotzenplotz (K. Bening, 07.12.) Landshut kleines theater – Kammerspiele n. E. A. Poe: Edgar (M. Eberth, 06.12.) Linz Landestheater P. Handke: Immer noch Sturm (S. Mohr, 06.12.); CyberRäuber: Prometheus Unbound (M. Karnapke / B. Lengers, 14.12., UA) Mainz Staatstheater A. Miller: ­Hexenjagd (A. Nerlich, 07.12.); N. Segal: Nachts (Bevor die Sonne aufgeht) (S. Glatt, 14.12., DEA); P. Skinner: Aggro Alan (A. Nerlich, 21.12., DEA) Marburg Hessisches Landes­ theater H. Ibsen: Nora oder ein Puppenheim (L. N. Junghanns, 14.12.) Meiningen Staatstheater V. Ludwig / U. Hofmann: Der Messias (A. Bücher, 05.12.); n. F. Kafka: Die Verwandlung (G. Gillert, 11.12.) Memmingen Landestheater E. Gedeon: Ewig Jung (P. Kesten, 20.12.) Mülheim an der Ruhr Theater an der Ruhr Boat Memory / Das Zeugnis (R. Ciulli, 13.12., UA) München dasvinzenz O. Leo: Das Feld (R. Spitz, 12.12., DEA) Kam­ merspiele The Vacuum Cleaner (T. Okada, 12.12.) Residenztheater G. Büchner: Leonce und Lena (T. Lutz, 07.12.); K. Rittberger: Kassandra / Prometheus. Recht auf Welt (P. Kastenmüller, 19.12., UA); n. Molière/P. Licht: Der eingebildete Kranke (C. Bauer, 20.12.) Osnabrück Theater P. Löhle: Die Mitwisser (R. Zimmering, 07.12.) Potsdam Hans Otto Theater P. Nilsson: So lonely (P. Schönwald, 13.12.) Rendsburg Landestheater W. Shakes­ peare: Hamlet (A. Frick, 07.12.) Reutlingen Theater Die Tonne H. Kondschak: Hundewetter und Katzenjammer (H. Kondschak, 12.12., UA) Rostock Volkstheater S. Hilberger/ J. Korrek: Erich Kästner – Fort von hier! (S. Hilberger, 14.12.) Schwerin Mecklenburgisches Staats­ theater T. Landgraf: Ick mak uns ein Licht an (J. Reim, 01.12.) Stendal Theater der Altmark E. Rölz: Freie Wahl (J. Gehle, 13.12., UA) Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt F. Wittenbrink / G. Greiffenhagen: Die Comedian Harmonists (K. Seiffert, 06.12.) Schauspiel N. Weide-

mann: Ich seh’ Monster (T. Stromberg, 07.12.) Tübingen Zimmertheater J. L. Witt: Normalia (J. L. Witt, 14.12., UA) Ulm Theater n. F. Schiller: räu­ ber|nnen (S. Herfurth / N. Schubert, 13.12., UA) Wien brut R. Rauschmeier: Timon (R. Rauschmeier, 05.12., UA) Burgtheater M. Lazar: Der Henker (M. Koležnik, 04.12.); A. Kerlin/ K. Voges/P. Wallfisch: Dies Irae – Tag des Zorns (K. Voges, 19.12.); M. Frayn: Der nackte Wahnsinn ­ (Noises Off) (M. Kušej, 31.12.) ­ Kosmos Theater Á. Kristóf: Das große Heft (S. Ostertag, 03.12., ÖEA) Wiesbaden Hessisches Staatsthea­ ter n. R. Seethaler/M. Schwesinger: Das Feld (M. Schwesinger, 06.12.); A. Ayckbourn: Schöne Bescherungen (S. Lietzow, 07.12.) Zürich Schauspielhaus A. Tschechow: Der Kirschgarten (Y. Ross, 14.12.); Juliet & Romeo (T. Harrell, 17.12.) Zwickau Theater n. Gebrüder Grimm: Rumpelstilzchen (A. Asper, 01.12.); F. Battermann: Honig im Kopf (A. Stöcker, 13.12.)

FESTIVAL Berlin Ballhaus Naunynstrasse Postcolonial Poly Perspectives (01.04.–31.12.) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm Wagner Project – Die Meistersinger von Nürnberg (29.11.–08.12.)

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Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de


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aktuell

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v.l.n.r.: Mascha Erbelding (Kuratorin Münchner Stadtmuseum), Gyula Molnár und Francesca Bettini.

Ausstellung zu „Bin nicht im Orkus – Das Buch“ im Münchner Stadtmuseum (noch bis zum 26. Januar 2020). Fotos Theater der Zeit

Was wäre die Welt ohne Anarchie? Ohne eine ­ igur, die alles auf den Kopf stellt? Sie wäre F ziemlich aufgeschmissen. Ohne den unangepassten Helden aus Kindertagen, so erzählt es das berühmte Objekttheaterduo Gyula Molnár und Francesca Bettini in „Kasperls Wurzeln“, verlieren alle anderen die Orientierung. Diese 2009 entstandene Produktion wurde später in Zusammenarbeit mit dem Münchner Stadtmuseum in eine Ausstellung überführt. Jetzt erscheint sie als Buch. „Bin nicht im Orkus – Eine kurze Collage aus einem zerschnittenen Textbuch und sechs abgespielten Figuren“ erlebte in Anwesenheit der Künstler am 24. Oktober in der Sammlung Puppentheater / Schaustellerei des Münchner Stadtmuseums seine Buchpremiere.

Burghart Klaußner

Mit backstage KLAUSSNER weiterhin auf ­Lese­reise ist der Schauspieler Burghart Klaußner, der am 30. Oktober in der Buchhandlung Geistesblüten in Berlin zu Gast war. Im Gespräch mit dem Autor Thomas I­rmer und seiner Agentin Antje Schlag sprach er über sein Leben und seinen künstlerischen Werdegang, der ihn von seinen Anfängen an der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer und am ­Schillertheater in alle wichtigen deutschsprachigen Schauspielhäuser führte sowie zum Film.

v.l.n.r.: TdZ-Geschäftsführer Paul Tischer, David Roesner und TdZ-Lektorin Sybill Schulte. Foto Theater der Zeit

„No more ,unheared melodies‘“. So lautet der Titel des Eingangsessays in Recherchen 151 zum T ­ hema Theatermusik. In knapp zwanzig Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern sowie analy­tischen Texten gibt der Theaterwissenschaftler ­David Roesner einen Überblick über Praxis und Ä ­ sthetik dieses bislang wenig untersuchten Genres. Am 14. November stellte er das soeben bei ­Theater der Zeit erschienene Buch gemeinsam mit Nils Ostendorf, Octavia Crummenerl und Jörg Gollasch in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert in Berlin vor.

v.l.n.r.: Burghart Klaußner, Antje Schlag und Thomas Irmer. Fotos Theater der Zeit


impressum/vorschau

AUTOREN Dezember 2019 Michael Bartsch, freier Journalist und Autor, Dresden Sepp Bierbichler, Schauspieler und Autor, Ambach Bodo Blitz, Kritiker, Freiburg Martin Burkert, Kulturjournalist und Theaterkritiker, Hattingen Otto Paul Burkhardt, Theater- und Musikkritiker, Tübingen Matthias Caffier, Dramaturg und Journalist, Leipzig Jens Fischer, Journalist, Bremen Senad Halilbašić, Drehbuchautor und Dramaturg, Wien Kevin Hanschke, Journalist, Berlin Björn Hayer, Kritiker, Lemberg Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, Berlin Ulf Otto, Theaterwissenschaftler, München Holger Teschke, Schriftsteller und Regisseur, Berlin Chris Weinhold, freier Film- und Theaterkritiker, Leipzig

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2019/12

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik

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Vorschau Julian Hetzel „All inclusive“. Foto Rolf Arnold

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Künstlerinsert Der Theatermacher, Musiker und bildende Künst­ ler Julian Hetzel lässt in seinen Arbeiten das Publikum über sich selbst reflektieren. Er experimentiert mit der Realität und sucht nach einer Ästhetik in der Gewalt. Seine Konzeptkunst lässt die westliche Wohlstandsgesellschaft auf verstörende Situationen tref­ fen und bietet somit viel Stoff für Diskussionen. Politische Inhalte werden in eine klare Formsprache umgesetzt und oft mit trocke­ nem Witz gepaart. Was er mit seiner Kunst erreichen will, ist nichts weniger als eine gesellschaftliche Transformation. Seit 2018 ist er assoziierter Künstler am Campo Gent. In unserer JanuarAusgabe widmen wir ihm das Künstlerinsert.

1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Harald Müller

Baku. Foto dpa

Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Redaktion Dorte Lena Eilers +49 (0) 30.44 35 28 5-17, Harald Müller (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-20, Anja Nioduschewski +49 (0) 30.44 35 28 5-18 redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner Mitarbeit Annette Dörner, Claudia Jürgens (Korrektur), Martin Müller (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Prof. Heiner Goebbels, Kathrin Tiedemann Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Yann Bachmann, Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 74. Jahrgang. Heft Nr. 12, Dezember 2019. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 04.11.2019

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Ausland Wir schauen zurück auf das noch junge M.A.P.Thea­ter­festival in Baku, das 2019 zum dritten Mal stattfand. Das Festival beschreibt sich selbst als Plattform für Kommunikation, Bildung und Austausch von Wissen und Erfahrung und versucht, seinem Publikum zeitgenössische Theaterformen näherzubrin­ gen. Unter­ stützt durch den Ölreichtum des Landes blüht die ­Kulturszene in der Hauptstadt Aserbaidschans gerade auf. So auch das M.A.P., das die Impulse der schnellen Entwicklung von Kunst und Kultur in dem mittelasiatischen Land aufnimmt und weitergibt.

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Januar 2020.


Deutschlands einzige Theaterbuchhandlung

Foto Viviane Wild

Mi 04.12. Buchpremiere und Empfang „Chinese Performing Arts“ Div. Gäste / Moderation: Peter von Becker (Der Tagesspiegel) 18.00 Uhr (Eintritt frei)

Do 05.12. Buchpremiere „Mark Lammert: Rot Gelb Blau“ Mit u. a. Valery Tscheplanowa, Almut Zilcher, Wolfram Koch 19.30 Uhr (Eintritt frei)

Einar & Bert Theaterbuchhandlung & Café Winsstraße 72 D-10405 Berlin Öffnungszeiten Mo – Fr 11.00 – 18.00 Uhr (16.12. bis 23.12. bis 19.00 Uhr) Sa 12.00 – 18.00 Uhr (Sa, 21.12. von 11.00 - 18.00 Uhr) Telefon +49 (0)30 4435 285-11 info@einar-und-bert.de www.einar-und-bert.de Danke, dass Sie in einer unabhängigen Buchhandlung einkaufen.

Anmeldung unter info@einar-und-bert.de. Details und weitere Veranstaltungen unter www.einar-und-bert.de Einar & Bert Theaterbuchhandlung, Winsstraße 72, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg


Der Fiskus

(UA)

SCHAUSPIEL

Felicia Zeller | R: C. Diem

Überzeugungstäter 2020

18.01.2020, AQUARIUM

SCHAUSPIEL

Iphigenie auf Tauris

APRIL 2020, HBK BRAUNSCHWEIG

SCHAUSPIEL

J. W. von Goethe | R: M. von zur Mühlen 25.01.2020, KLEINES HAUS

Kleiner Mann, was nun? SCHAUSPIEL

Hans Fallada | R: C. Mehler 01.02.2020, GROSSES HAUS

Gaslicht

Eine Kooperation der HMTM Hannover, HBK Braunschweig und dem Staatstheater

Koyaanisqatsi dich selber SCHAUSPIEL

Lukas Pergande & Josef Bäcker | R: L. Pergande 13.05.2020, AQUARIUM

Franziska Linkerhand SCHAUSPIEL

Brigitte Reimann | R: A. Buddeberg

SCHAUSPIEL

Kriminalstück von Patrick Hamilton | R: C. Diem

23.05.2020, KLEINES HAUS

20.03.2020, KLEINES HAUS

Ein Sommernachtstraum SCHAUSPIEL

William Shakespeare | R: N. Zapfe 21.03.2020, GROSSES HAUS

Batterie zum Anschließen der Liebe (inklusive Starterkabel)

DEMOCRISIS

(UA)

JUNGES! Schauspiel

Gameplay von J. Buchholtz | Koop. mit Theater Magdeburg & Nationaltheater »K« Craiova 26.03.2020, LOKPARK

Ein neues Stück

(AT, UA)

JUNGES! Schauspiel

Hartmut El Kurdi | R: J. Wesemüller 17.05.2020, LOKPARK

(UA)

SCHAUSPIEL

Lars Werner | R: J. Rösing 22.03.2020, AQUARIUM

Generalintendantin

Dagmar Schlingmann Leitung Schauspiel

Claudia Lowin, Christoph Diem Leitung Junges Staatstheater

Jörg Wesemüller www.staatstheater-braunschweig.de

Staatstheater Braunschweig

Jan – Juli

Spielzeit 2019/20


Was macht das Theater, Bettina Schültke und Peter Staatsmann? Bettina Schültke, Peter Staatsmann, in

riert die AfD mit dem Vorwurf, dass

Baden-Württemberg greift die AfD das

Theater eine elitäre Kunstform sei.

Zimmertheater Rottweil an. Können Sie kurz schildern, was vorgefallen ist?

Was ließe sich, wenn überhaupt, aus

Das Zimmertheater Rottweil hat sich

­Ihrem Fall für die Zukunft lernen? Wie

schon 2017 mit dem Thema Rechtspo-

kann man erfolgreich gegen die Rechten

pulismus beschäftigt und mit der Ko-

agieren?

mödie „Wenn der Kahn nach links

Es gibt gegenwärtig viele Erklärungen,

kippt, setze ich mich nach rechts“ auf

aber nur wenige inhaltlich anspruchs-

die politische Lage reagiert. Jetzt, zwei

volle künstlerische Auseinandersetzun-

Jahre später, hat die AfD im Zuge ihrer

gen. Unsere Inszenierung zeigt, wie

Verhinderungsversuche ihnen nicht ge-

gegen Rechtspopulismus im Theater

nehmer Kulturinstitutionen eine Anfra-

anzugehen ist. Das Stück löst planvoll

ge mit dem Titel „Bruch der Neutrali-

einen sozialen Kommunikationsprozess

tätspflicht der Landesregierung bei der Förderung des Zimmertheaters Rottweil“ an das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Stuttgart gestellt. Insgesamt 13 Fragen drehen sich um Höhe der Förderung, Besucherzahlen, Projektgelder, aber auch um die Frage, ob „weitere Anti-AfDStücke“ vom Land gefördert worden seien. Flankiert wurde die Anfrage von Pressemitteilungen des AfD-Abgeord-

Sollte Kunst neutral sein? Das behauptet die badenwürttembergische Landtagsfraktion der AfD – und wirft dem Zimmertheater Rottweil vor, gegen eine sogenannte Neutralitätspflicht zu verstoßen. Anlass war eine Komödie zum Thema Rechtspopulismus mit dem Titel „Wenn der Kahn nach links kippt, setze ich mich nach rechts“, die im Oktober 2017 Premiere feierte. Die Leitung des Theaters, Bettina Schültke und Peter Staatsmann, der auch der Autor des Stücks ist, sehen sich seit Monaten heftigen Angriffen durch Rechts ausgesetzt. Foto Andreas Linsenmann

aus, der nachhaltig wirken kann. Dies scheint uns auch die entscheidende Richtlinie für den Umgang mit den Rechten zu sein: Konsequente Desavouierung ihrer Inhalte als phantas­ matisch, irreal und imaginär – durch die Verschiebung auf eine formale ­Ebene. So sind wir auch in unseren Er­ widerungen auf die Presseerklärungen und Angriffe der AfD verfahren – die sich dadurch offensichtlich viel stärker

neten und stellvertretenden Fraktions-

attackiert fühlt als durch die seriöse

vorsitzenden Emil Sänze, der Theater-

Erwiderung. Diese werden nämlich durch die AfD-Taktik der unaufhör­

leute im Allgemeinen diffamiert und den Intendanten des Zimmertheaters persön-

Pöbelantworten nimmt auch unsere eigene

lichen vulgären Attacken unterlaufen: Auf

lich angreift.

Motivation, sich in elaborierten Texten zu ­

jedes seriöse Argument erfolgt immer nur ­

­äußern, dramatisch ab. Und trotzdem ist es

eine weitere Eskalation in der vulgären Be-

Welche Strategie scheint Ihnen die AfD zu ver-

erforderlich, unbeirrt bei den höflichen

schimpfung und dem offenen Behaupten von

folgen?

­Umgangsformen einer demokratischen Streit-

blankem Unsinn. Der eigentliche Clou unse-

Zunächst: Die Reaktionen der AfD sind

kultur zu bleiben.

res Stückes ist, die AfD nicht als gleich­ berechtigten Gesprächspartner, sondern als

für uns Teil einer Inszenierung, die einen öffentlichen Kommunikationsvorgang auslö­

Welches sind die zentralen ideologischen Be-

lebendes und virulentes Beispiel für die all­

sen wollte. Dass nun die AfD-Landtagsfrakti-

griffe, mit denen die rechte Partei ihre Ziele

gegenwärtige Regression von Menschen im

on reagiert, ist für uns ein „Glücksfall“ bür-

verfolgt?

Zeitalter der digitalen und rückhaltlosen

gerlicher Öffentlichkeit. In dem Stück und

Der zentrale Begriff, mit dem die AfD ope-

Globalisierung zu nehmen. Wir sehen bei ­

der Inszenierung gab es eine Auseinander­

riert, ist der der „Neutralität“. Sie versucht,

­einigen der brachialen Führerfiguren der AfD,

setzung mit den Mitteln illegitimer politischer

ihre Einflussnahmeversuche damit zu begrün-

dass sie es darauf anlegen, mythisiert und dä-

Manipulation. Und genau auf dieser Ebene

den, dass Kunst neutral sein müsse. Das

monisiert zu werden, auch mit den düstersten

spielt sich nun der gegenwärtige realpoliti-

muss sie aber nicht. Ein Neutralitätsgebot

historischen Doubles. Die Inszenierung ge-

sche und zivilgesellschaftliche Prozess ab,

gibt es in der Kunst nicht, Kunstfreiheit ist in

währt der gesamten Repräsentanz der Rech-

wie er durch die Anfrage der AfD ausgelöst

der Verfassung garantiert. Man muss klar

ten jedoch weder Raum noch Aura, sondern

wurde. Es ist deutlich, dass die Hauptstrate-

­sagen, dass ein Neutralitätsgebot, das einem

nimmt sie als das, was sie sind: ein krank­

gie der AfD darin besteht, ihre Angriffe und

Werterelativismus Vorschub leistet, mit einer

machendes Therapeutikum für sozial­ patho­

Insultationen unbeirrt und gleichbleibend

Kunst, die demokratische Werte vertritt und

logisch „verlorene Seelen“. //

fortzusetzen. Ihre Taktik besteht in einer

gegen antidemokratische, antipluralistische

­Ausbreitung von Schlagworten und denunzie-

und menschenfeindliche Positionen Stellung

renden Parolen. In sicherer Erwartung von

bezieht, nicht vereinbar ist. Weiterhin ope-

Die Fragen stellte Jakob Hayner.


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