Heiner Müller: Exposé fürs DDR-Fernsehen / Vegard Vinge und Ida Müller: Ein Fußballkrimi in Norwegen Kunstinsert Mark Lammert: 4 Seiten für Godard / Neustarts: München und Basel / Abschied: Volker Pfüller
EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de
Dezember 2020 • Heft Nr. 12
Kevin Rittberger | Rafael Behr | Ferat Kocak
Der Lieblingsfeind steht links Über Theater und Polizei
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editorial
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D
Extra Der Aboauflage liegt bei
40 Jahre Meta Theater. Retrospektive und Vision
ass der November noch nie zu den Wonnemonaten gehörte, steht außer Frage, und dass er diesmal besonders unerbittlich zugeschlagen hat, auch. Der zweite Corona-Lockdown zwingt die Theater wieder in den Stand-by-Modus – wie all die anderen potenziell stimmungsaufhellenden Institutionen, die Menschen in ihrer Freizeit gern aufsuchen. Moment. „Freizeit“? Denkt der gemeine Bürger da nicht eher an Spaßbäder? Wettbüros? Spielhallen? Am Ende gar an Bordelle? Welch ein Kategorienfehler, die hochkulturellen Theater tempel mit diesen Vergnügungsschuppen in einen Topf zu werfen, schimpft ein großer Teil der Kulturschaffenden: Willkommen in Runde zwei der dramatischen Systemrelevanz-Diskussion! Den Überblick behält dort am ehesten, wer es schafft, das Virus und seine Gegenspieler selbst als Theater aufzufassen – wie Dorte Lena Eilers in ihrer Kulturbetriebs- und Pandemieanalyse empfiehlt. (Wobei hier, selbstverständlich, von der episch-dialektischen Brecht-Variante die Rede ist.) Jenen, denen dieser beobachtende Blick womöglich nicht so leicht fällt – zum Beispiel, weil Covid-19 ihnen den Intendanzstart erschwert hat wie der neuen Münchner Kammerspiele-Chefin Barbara Mundel oder der frisch angetretenen Schauspielleitung am Theater Basel – sei ersatzweise das Leitmotiv aus Bonn Parks neuem Stück „Die Räuber der Herzen“ zugerufen, das wir in diesem Heft drucken: „Alles wird gut, was soll es auch sonst werden, es ist ja alternativlos.“ Christoph Leibold und Dominique Spirgi zufolge, die bei beiden Auftakten zugegen waren, scheint sich das überaus bewährt zu haben. Das Team Vinge / Müller hingegen hatte eigentlich ideale Ausgangsbedingungen, als es beim pandemiefesten Theaterfestival im westnorwegischen Dale ein historisches Fußballspiel wiederauf leben ließ. Und es war dann auch tatsächlich nicht das Virus, das das Künstlerduo mit einer üblen Grätsche auszukontern versuchte, sondern die Presse, berichtet Therese Bjørneboe: In einer rechtslastigen Medienkampagne wurde Vegard Vinge als „staatlich geförderter Popomaler“ attackiert. Aber weil der Fußballgott groß und manchmal sogar gerecht ist, gingen Vinge/Müller trotz dieses Fouls mit einem erhabenen 2:1 vom Platz. Wo – professionell – Fußball gespielt wird, ist seit jeher die Polizeipräsenz hoch. Aber andere Bereiche ziehen nach. Welche prägnante Rolle die Ordnungskräfte in seinem Leben spielen, schildert unser Kolumnist Ralph Hammerthaler in seinem „Lebenslauf mit Polizei“. Auf der Bühne hat die jüngste Debatte um rechte Netzwerke und strukturellen Rassismus in den Sicherheitsorganen fast sogar ein eigenes dramatisches Genre hervorgebracht – in dem Konsens darüber herrscht, dass die Polizei eher nicht dein Freund und Helfer ist. Warum die Antipathie auf Gegenseitigkeit beruht, erklärt der Soziologe Rafael Behr in unserem Schwerpunkt über Theater und Polizei: „Der Lieblingsfeind steht immer links“, sagt er – ein tradiertes Bild, das sich mit der Studentenbewegung in den sechziger Jahren etabliert habe. Fest steht für den Polizeiforscher allerdings auch, dass Theater als Disziplin im polizei lichen Grundlagenstudium verankert werden sollte. Was er sich davon verspricht, erläutert er im Gespräch mit dem Dramatiker Kevin Rittberger und dem Aktivisten und Politiker Ferat Kocak. Was dagegen passiert, wenn man sich aufs falsche Medium versteift und statt auf die Hoch kulturbühne unablässig in die Röhre guckt, wusste schon vor über fünfzig Jahren der Dramatiker Heiner Müller. „Myer und sein Mord“ heißt ein bisher unveröffentlichtes Exposé fürs DDR-Fernsehen, das für Müller zeitweise einen „wichtigen anonymen Broterwerb“ darstellte, wie Thomas Irmer schreibt. Wir drucken es zum 25. Todestag – als Typoskript mit originalen handschriftlichen Notizen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn der „Myer“-Text, statt in der Schublade des DDR-Fern sehens zu versauern, etwa dem genialen Jean-Luc Godard in die Hände gefallen wäre, der im Dezember seinen neunzigsten Geburtstag feiert. „Godard-Geschichte(n)“ nennt Erik Zielke seine Annäherung an die Ikone der französischen „Nouvelle Vague“, die auch Theaterregisseure maßgeblich beeinflusst hat. Im Insert gratuliert außerdem der bildende Künstler und Godard-Spezialist Mark Lammert – mit „Vier Seiten für Godard“, die er exklusiv für Theater der Zeit entworfen hat. Einen runden Geburtstag feiert auch das Berliner Theater an der Parkaue, eine der dienstältesten Kinder- und Jugendtheaterbühnen des Landes, die sich, wie Patrick Wildermann bemerkt, durch ihre siebzig wechselvollen Jahre hindurch einen erfreulichen Innovationsgeist bewahrt hat. Verabschieden müssen wir uns in diesem Heft von dem großen Grafiker und Bühnenbildner Volker Pfüller. Als Künstler ein „Meister grafisch-malerischer Zuspitzung“, war er „als Person von einer in sich ruhenden Zugewandtheit, die etwas Weltweises an sich hatte“, schreibt Friedrich Dieckmann in seinem Nachruf. Klingt nach einem, der sehr fehlen wird in diesen seltsamen Zeiten Die Redaktion des rasenden Stillstands! //
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Inhalt Dezember 2020 thema theater und polizei
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Christine Wahl Pistolen zu Puppenstuben! Polizeikritik hat Hochkonjunktur im Theater – Björn SC Deigners Schiller-Überschreibung „Die Polizey“ in Bamberg und Kevin Rittbergers „Schwarzer Block“ in Berlin
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Der Lieblingsfeind steht links Der Soziologe Rafael Behr, der Politiker und Aktivist Ferat Kocak und der Autor Kevin Rittberger im Gespräch über Theater und Polizei mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahl
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künstlerinsert
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„Vier Seiten für Godard“ von Mark Lammert
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Erik Zielke Godard-Geschichte(n) Zum 90. Geburtstag der Film- und Theaterikone Jean-Luc Godard
protagonisten
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Dorte Lena Eilers Die Unnützen und die Gekränkten Straßenszenen aus dem Lockdown
kolumne
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Ralph Hammerthaler Jetzt ist schon wieder was passiert Kurzer Lebenslauf mit Polizei
protagonisten
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Therese Bjørneboe Als der Mann mit dem Blazer den Popomaler traf Bei ihrer neuesten Produktion „Fotballspelet“ im westnorwegischen Dale werden Vegard Vinge und Ida Müller von der Skandalpresse gejagt
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Thomas Irmer Mensch Myer! Eine Entdeckung zum 25. Todestag – Heiner Müllers bislang unveröffentlichtes Drehbuch-Exposé „Myer und sein Mord“ fürs DDR-Fernsehen
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Christoph Leibold Vorhang zu für Betonköpfe Vom Lockdown überschattet, aber trotzdem im Aufbruchsmodus – Barbara Mundels Intendanzstart an den Münchner Kammerspielen
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Dominique Spirgi Falten oder Knüllen Theater als basisdemokratisches Produkt – Das neue Basler Schauspielleitungsteam setzt ein programmatisches Ausrufezeichen
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Patrick Wildermann Spiel mir das Lied vom Theater Das Berliner Kinder- und Jugendtheater an der Parkaue feiert seinen 70. Geburtstag
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Friedrich Dieckmann Immer neu und immer derselbe Dem Bühnen- und Menschenbildner Volker Pfüller zum Gedenken
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abschied
inhalt
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look out
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Christine Wahl Angewandte Emanzipation Die Berliner Regisseurin Marie Schleef arbeitet an einer weiblichen Geschichtsschreibung
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Bodo Blitz Systemsprenger Hamlet Die Regisseurin Anna-Elisabeth Frick möchte sich nie allzu sicher sein
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Darmstadt „Johanna von Orléans“ nach Friedrich Schiller in der Regie von Claudia Bossard (Shirin Sojitrawalla) Dessau „Die Eumeniden“ von Aischylos in der Regie von Christian von Treskow (Jens Fischer) Ingolstadt „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin in der Regie von Mareike Mikat (Sabine Leucht) Jena „Zur Wartburg“ (UA) von Wunderbaum und „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ nach Christa Wolf in der Regie von Lizzy Timmers (Paula Perschke) Köln „Nora“ von Henrik Ibsen in der Regie von Robert Borgmann und „Die Walküre“ frei nach Richard Wagner in der Regie von T. B. Nilsson und Julian Wolf Eicke (Sascha Westphal) Meiningen „sklaven leben“ von Konstantin Küspert in der Regie von Juliane Kann (Thomas Irmer) München „Herkunft“ von Saša Stanišić in der Regie von Felix Hafner (Sabine Leucht) Rostock „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ von Bertolt Brecht in der Regie von Elina Finkel (Tom Mustroph)
neuerscheinungen theater der zeitbuchverlag
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backstage Petras Auszüge aus einem Gespräch zwischen Armin Petras und Hans-Dieter Schütt
stück
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Liebes Reclamheft, reg dich bitte nicht auf! Der Dramatiker Bonn Park über sein neues Stück „Die Räuber der Herzen“, das er selbst am Hamburger Schauspielhaus urinszeniert, im Gespräch mit Christine Wahl
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Bonn Park Die Räuber der Herzen
magazin
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Die Kunst, keine Antworten zu geben Das Theater Oberhausen feiert mit einem Festival den großen Filme- und Theatermacher Christoph Schlingensief – gemäß der Methode, keiner Methode zu trauen Raus aus der Bubble der privilegierten weißen Frau Die dritte Ausgabe der Tagungsreihe Burning Issues auf Kampnagel in Hamburg stärkt die Sichtbarkeit marginalisierter Positionen und Perspektiven Bücher Georg Seidel, Christoph Schlingensief, Silvia Henke, Dieter Mersch, Nicolaj van der Meulen, Thomas Strässle, Jörg Wiesel
aktuell
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Meldungen
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Premieren im Dezember 2020
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Autoren, Impressum, Vorschau
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Shenja Lacher im Gespräch mit Christoph Leibold
auftritt 44
was macht das theater?
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Titelfoto Fritz Engel
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J
LG, wie die Ikone des 20. und 21. Jahrhunderts Jean-Luc odard sich selbst nennt, ist nicht zu fassen. Am 3. Dezember G wird der Meister des avantgardistischen Kinos neunzig Jahre alt. Wie soll man sich einem der herausragendsten Intellektuellen unserer Zeit annähern, der die assoziations- und zitatreiche Überforderung durch Bild, Ton, Wort auf die Spitze getrieben hat? Wie den Fehler umgehen, in einen Nachrufduktus zu verfallen an gesichts eines Werks, das höchst lebendig und keineswegs ab geschlossen ist? Immerhin feierte JLGs jüngster Film „Bildbuch“ 2018 seine Premiere in Cannes. Und wie auf ein Schaffen blicken, das in den fünfziger Jahren begann und 33 Arbeiten für das Kino einschließt – und eine noch weit höhere Anzahl an Fernseh produktionen und Kurzfilmen? Die Person JLG ist längst hinter ihrem Werk zurückgetreten, wenn nicht darin verschwunden. JLG kann man nur gerecht werden, wenn einen – wie von ihm selbst etabliert – der Mut zum Fragment nicht verlässt: Geschichte lässt sich nur erzählen über Geschichten. Wo aber soll man beginnen, wenn man über Godard und das Theater nachdenkt?
Film nach Brecht // Sein Langfilmdebüt „Außer Atem“ (1960)
GodardGeschichte(n) Zum 90. Geburtstag der Filmund Theaterikone Jean-Luc Godard von Erik Zielke
ist auch die Geburtsstunde des Jump Cut: Die Unterbrechung des Blicks durch sprunghaften Schnitt – das ist der kinematografische Verfremdungs-Effekt. Die Filmmittel werden von JLG immer wieder offengelegt, nichts scheint dem Zufall überlassen, und auch die Produktionsbedingungen der eigenen Werke werden Thema. Durch sein Œuvre zieht sich Brecht wie ein roter Faden, mal in Zitaten, mal in Anspielungen und immer wieder in der Über tragung einer Brecht’schen Dramaturgie auf die Filmkunst. Mit „Die Geschichte der Nana S.“ (1962), einem Film in zwölf Bildern, unterbrochen durch Zwischentitel, nimmt das epische Erzählen bei JLG seinen Lauf. Die kommentierende Spielweise, die Szenenbilder, das Zeigen von Situationen – all das ist ausgesprochen brechtisch und letztlich theatral. Ein weiteres Charakteristikum in der Arbeitsweise Brechts, die „Trennung der Elemente“, hat JLG sich zu eigen gemacht und bis zum Äußersten ausgereizt. Vor allem Bild und Ton funktionieren in seinen Filmen seit den siebziger Jahren als unabhängige Größen, die kein Ganzes ergeben, sondern darüber hinaus einen Assoziationsraum öffnen. Zudem ist den beiden Medienrevolutionären etwas anderes gemein: das Vergnügen am Denken.
Episches Theater – Revolutionskino // In dem Film „Die Chinesin“ (1967), in dem JLG, Dostojewskis „Dämonen“ als Scha blone nutzend, den Pariser Mai und die linken revolutionären Kämpfe im Westeuropa der kommenden D ekade vorwegnimmt und den Dimiter Gotscheff 2010 für eine gleichnamige GodardStudie an der Berliner Volksbühne aufgreift, wird die Figur Guillaume befragt: „Na, du spielst doch Theater hier. Oder kommt mir das nur so vor?“ Der marxistische Schauspieler antwortet: „Pass auf, ich werd dir mal was zeigen. Dann weißt du vielleicht, was Theater ist. Die jungchinesischen Studenten hatten in Moskau vor dem Grab von Stalin demonstriert. Und natürlich haben die russischen Soldaten sie zusammengeschlagen und mit Knüppeln traktiert. Und am
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nächsten Tag haben sich die Studenten als Zeichen des Protests vor der chinesischen Botschaft eingefunden und dazu auch alle Journalisten der westlichen Presse eingeladen. (…) Und dann ist ein junger Chinese gekommen und sein Gesicht war vollkommen mit Verbänden und Pflastern bedeckt. Und der fing an zu schreien: ,(…) Seht, was sie mir angetan haben, diese Revisionistenschweine!‘ atürlich auf ihn gestürzt Da haben sich diese Schmeißfliegen n und angefangen, ihn mit ihren Blitzlichtern unter Beschuss zu nehmen, während er seine Verbände abnahm. Sie haben erwartet, jetzt ein völlig verstümmeltes Gesicht zu sehen (…). Er zeigte sein Gesicht, und auf einmal haben alle gesehen, dass er völlig unverletzt war. Du kannst dir vorstellen, wie sauer die Journalisten da waren. (…) Keiner von ihnen hat begriffen, dass das richtiges Theater war, wahres Theater. Eine Reflexion über die Realität. Es war genau so etwas wie bei Brecht oder bei Shakespeare.“
CINEMARXISM // Es ist bekannt, in welche Richtung JLG die eigene Arbeit forcierte. Es geht um nicht weniger als: politisch Filme zu machen. Einen subversiven Impetus und ein politisches Bewusstsein weist schon der junge Mann JLG in den fünfziger Jahren auf, als er als Filmkritiker Stellung bezieht. Sein zweiter Kinofilm „Der kleine Soldat“ (1963) legt den Finger in die klaffende französische Wunde: Algerien. Es folgt die Radikalisierung – und das filmische Bekenntnis zu den Kämpfen der Zeit. Frauenfrage, Vietnam, Verabschiedung der bürgerlichen Kleinfamilie, bewaffneter Widerstand, das Ende realsozialistischer Experimente. All das ersetzt für den Filmemacher nicht den Versuch der Revolte über die inhaltliche Auseinandersetzung hinaus. Sein avanciertes Kino ist immer auch Absage an das kommerzielle Kino. Die schrittweise Aufhebung jeglicher Figurenpsychologie und die zunehmende Zersetzung der Erzählstruktur entziehen sich dem Filmgeschäft. Sein zeitweises Verschwinden Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, also auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, hinter dem Filmkollektiv Groupe Dziga Vertov, beschreibt den Versuch, sich der Markenbildung und einem bürgerlichen Begriff von individuellem Künstlertum zu verweigern. Die Gründung seiner eigenen Produktionsfirma heißt auch: Aneignung der Produktionsmittel, Erkämpfung eines Stücks Freiheit. „CINEMARXISM“ lässt der unermüdliche Parolendichter JLG einen Vertreter der Black Panther Party in „Sympathy for the Devil“ (1968) an eine Hauswand schreiben. A film based on the play by // Shakespeare zum Beispiel. Das dichte Verweisnetz von JLG ist u nübersichtlich. Malerei und Lite eschichte liefern ihm Referenzen. ratur, Musik, Popkultur und G In „Detektive“ (1985) kommt es zu einem Wiedersehen mit den Figuren aus Shakespeares „Der Sturm“. Allerdings bildet „King Lear“ (1987) als einziges Werk mit dramatischer Vorlage eine Ausnahme. Die wiederkehrenden I nserts zeigen den suchenden Ansatz dieses Königsdramas: „King Lear – Fear and Loathing“, „King Lear – A Study“, „An Approach“, „King Lear – A Clearing“. Auch seinen Shakespeare liest JLG mit Brecht. In apokalyptischer Zukunft muss der Stoff in dieser Verfilmung wiederentdeckt werden. Auf der Suche nach einer Erzählung und ihren Gründen wird William Shakespeare Junior der Fünfte, dargestellt vom Theaterregisseur Peter Sellars, zu Rate gezogen. Das Theater-
jean-luc godard
Der französisch-schweizerische Drehbuchautor und Regisseur Jean-Luc Godard wurde 1930 in Paris geboren. Er zählt neben Claude Chabrol und François Truffaut zu den prägendsten und innovativsten Vertretern der sogenannten „Nouvelle Vague“, einer Stilrichtung, die wegweisend für das französische Kino wurde. Mit seinem ersten Langfilm „Außer Atem“ mit Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg gelang Godard 1960 der Durchbruch. Durch innovative Stilmittel wie den Jump Cut sowie den Einsatz von Handkameras und Tageslicht avancierte der Film zum Klassiker der europäischen Filmgeschichte. Es folgten zahlreiche Filme, die sich durch eine essayistische Erzählweise vom Mainstreamkino abgrenzten. Godard wurde mit vier Berliner Bären, zwei Goldenen Löwen in Venedig, einer Goldenen Palme in Cannes und dem Ehrenpreis für sein Lebenswerk beim Filmfest von Locarno geehrt. Foto dpa
stück, das zu den meistgespielten weltweit gehört, ist nur noch in Fragmenten und Versatzstücken erfahrbar. JLG lässt seine Film figuren kreisen um die immergleichen Fragen: Wer ist Lear, wer Cordelia? Was können wir wissen über ihre Geschichte, und wie ist Theater vierhundert Jahr nach der Entstehung dieser Tragödie möglich? Keine Selbstverständlichkeiten nirgends.
Medienarchäologie // „The revolution will not be televised“, hat Gil Scott-Heron 1970 gedichtet. JLG ist angetreten, den Gegenbeweis zu erbringen. Er ist kein Medienstürmer, sondern ein ewiger Experimentator, dem allerdings nie die Technik allein genug ist, der beharrlich fragt nach der Beziehung von Medium, Form und Inhalt. Fernsehen, Videozeitalter, der privatisierte Filmkonsum am Laptop in der Vereinzelung – das sind keine Gründe zur Resignation, sondern ein Anreiz zu einem neuen, noch zu erfindenden Umgang, der Sehgewohnheiten und eingefahrene Mechanismen abermals zu unterlaufen weiß. Im Theaterbetrieb mehren sich die Stimmen, man müsse reagieren auf das digitale Zeitalter, so als ließe sich das durch bloße Forderungen angehen. TikTok etwa, jenes soziale Videoportal, das für die digital natives wohl schon selbstverständlich ist, solle seinen Weg auf die Bühnen finden. Die Technologie scheint kein großes künstlerisches Thema zu sein, einem Diktat folgt die Kunst ohnehin nicht. Ästhetisch interessant und reizvoll könnten die neuen Bil derwelten aber doch sein. Seiner Zeit wie so oft voraus ist JLG, dem schnellen Improvisateur mit der Kamera, ein längst mustergültiger Coup gelungen, indem er in „Bildbuch“ Videosnippets, Netz- und Filmfundstücke arrangiert und durch professionell g eführte Handy kameraaufnahmen ergänzt. In dem einzigenInterview, das er zu diesem Film zu geben bereit war, weiß JLG auch genau, wo er am besten gezeigt werden solle: Nicht etwa in den großen Kinos, sondern eher in Kulturzentren, im Zirkus oder im Theater. Also da, wo Öffentlichkeit und Publikum zu vermuten sind. // „Vier Seiten für Godard“ von Mark Lammert Ein Originalbeitrag für Theater der Zeit (Seiten 4 bis 7) Fotos Seite 4: dpa, Seite 5: Google Street View, Seite 7: Étienne-Jules Marey, CC BY-SA 3.0 <http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/>, via Wikimedia Commons. Grafische Gestaltung Sibyll Wahrig
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Rechte Netzwerke, Rassismusvorwürfe, verkrustete Strukturen: Keine staatliche Institution wird zurzeit so grundsätzlich hinterfragt wie die Polizei. Auch auf den Bühnen hat das Thema Konjunktur. Aber wie genau schauen Theaterleute auf die Sicherheitsorgane – und was denken Polizeiforscher über die Polizeidramatik? Wie stellt sich die Lage aus der Sicht von Betroffenen dar, zum Beispiel im Berliner Stadtteil Neukölln, der seit Jahren von rechtsextremen Anschlägen erschüttert wird? Und warum ist die Institution so schwer zu reformieren? Ein Schwerpunkt zum Thema Theater und Polizei mit Stückrezensionen sowie einem Gespräch zwischen dem Dramatiker Kevin Rittberger, dem Polizeisoziologen Rafael Behr und dem Aktivisten und Politiker Ferat Kocak.
Foto Fritz Engel
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theater und polizei
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Pistolen zu Puppenstuben! Polizeikritik hat Hochkonjunktur im Theater – Björn SC Deigners Schiller-Überschreibung „Die Polizey“ in Bamberg und Kevin Rittbergers „Schwarzer Block“ in Berlin von Christine Wahl
A
ls Antanas Mockus 1995 Bürgermeister von Bogotá wurde, galt die kolumbianische Hauptstadt als eine der gefährlichsten Metropolen der Welt. Das neue Stadtoberhaupt – Philosoph und Mathematiker von Beruf – brachte zur Bekämpfung der hohen Kriminalitätsrate lauter Ideen mit, die dem Image vom welt fremden Theoretiker alle Ehre machten. So bestand eine seiner ersten Amtshandlungen darin, die korrupte Verkehrspolizei zu ersetzen – durch Pantomimekünstler. Für ihr Fehlverhalten von Mimesis- und Ironie-Fachkräften durch den Kakao gezogen zu werden, würde potenzielle Verkehrssünder – so glaubte Mockus – wirksamer abschrecken als die einschlägigen Bußgeldverfahren. Außerdem standen in Bogotá bald Tauschaktionen auf der Agenda, bei denen jeder, der eine Waffe abgab, im Gegenzug Kinderspielzeug ausgehändigt bekam. Pistolen zu Puppenstuben und Polizisten zu Performern? Was aus gängiger realpolitischer Sicht als rührend idealistische Spinnerei erscheint, zeitigte de facto erstaunliche Ergebnisse. Die Zahl der Verkehrsunfälle sank während Mockus’ knapp dreijähriger Amtszeit um mehr als fünfzig Prozent, die Mordrate gar um siebzig. Mit dieser Erfolgsgeschichte des „artivistischen“ Eingreif theaters – einer Praxis also, die Kunst (art) mit Aktivismus (activism) verbindet – beginnt das vor sechs Jahren von Florian M alzacher zusammen mit dem Festival steirischer herbst herausgegebene Buch „Truth is Concrete. A Handbook for Artistic Strategies in Real Politics“. Deutlich wird in dem Band, der viele Beispiele interven tionistischer Kunstaktionen versammelt, allerdings auch, welchen Ausnahmecharakter solch eine friedliche Übernahme der Exeku tive durch die Performative à la Mockus hat. Dass das Verhältnis zwischen der Kunst und den staatlichen Ordnungskräften in aller Regel deutlich konfrontativer (und real politisch weniger wirkungsvoll) ist, lässt sich zurzeit im Theater sehr gut beobachten. Infolge der jüngsten Black-Lives-Matter-Demons
tra tionen in den Vereinigten Staaten und der neuerlichen Auf deckung rechter Netzwerke in den deutschen Sicherheitsorganen hat aktivistische Polizeikritik auch auf den Bühnen Hochkonjunktur. In einem Auftragswerk fürs ETA Hoffmann Theater Bamberg hat Björn SC Deigner zum Beispiel Friedrich Schillers Fragment „Die Polizey“ aktuell überschrieben – wofür es sich tatsächlich lohnt, die Vorlage etwas genauer in den Blick zu nehmen. Schillers lediglich 15 Seiten umfassender Text – verfasst zwischen 1799 und 1804, mithin etwa zur Entstehungszeit der modernen Polizei – spielt im nachrevolutionären Paris und hat eher den Charakter einer Materialsammlung als einer fertigen Dramenskizze. Der hedonistische Vaudeville-Charakter und gleichermaßen abgründige Halbwelt- Appeal – gegossen in blumige Formulierungen von Paris als „der Frauen Paradies“ und „der Männer Fegefeuer“ – können es momentweise fast mit Jacques Offenbachs „Pariser Leben“ aufnehmen. Oder mit dem London von Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“, in der der städtische Polizeichef Brown seinem engsten Freund, dem Gangsterboss Mackie Messer, auf dessen kulinarisch zusammengeklauter Hochzeitsparty mit einem Tänzchen gratuliert. Auch der Polizeichef, den Schiller sich für Paris vorstellt, ist mindestens so zwiespältig wie die ihm anvertraute Stadt. Wenngleich – anders als im Fall von Brechts Brown – bei ihm nichts auf Korrumpierbarkeit hindeutet. Im Gegenteil: Privat ein „Mensch von Herz und Geist“ mit einem „jovialischen, gefälligen Character“, dessen „schönes Betragen“ ihm im Laufe der Handlung – so stellt Schiller in Aussicht – vielleicht sogar „eine liebenswürdige Gemahlin … erwirbt“, hat der Ordnungshüter die Spezies des Homo sapiens qua Beruf einfach „zu sehr von ihrer schändlichen Seite gesehen, als daß er einen edeln Begriff von der menschlichen Natur haben könnte“. Mehr noch: Die „Polizey“-Karriere hat den „jovialischen Character“ zunehmend „ungläubiger gegen das Gute und gegen das Schlechte toleranter“ gemacht: Ein grauzonaler Ambivalenztopos, der sich gleichermaßen strukturell, in der Beschreibung des Polizeiapparats als Ganzem, wiederholt. Unter dem Vermerk, „auch die Nachtheile der Polizeyverfaßung“ seien unbe-
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thema
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lichen Gendarmerie über das „Dritte Reich“ bis zum Polizeiversagen in Rostock-Lichtenhagen 1992 führt. Und zum NSU-Prozess 2015, wo der ehemalige Polizist Jörg W. – als Zeuge – zu seiner vorübergehenden Mitgliedschaft im Ku-Klux-Klan verhört wird. Bei Deigner gibt es nicht mehr das tägliche konkrete Außen in Gestalt einer quirlig herausforderungsreichen Metropole, keine „poetische Schilderung der Nacht zu Paris als des eigentlichen Gegenstandes und Spielraumes der Polizey“ also, wie Schiller sie vorhatte. Sondern es existiert praktisch nur noch die Institution selbst – als nationalistische bis rechtsextreme Kontinuität in entsprechenden historischen Modellsituationen. Und während Schiller sich vorstellt, dass „die OffiAuch in Kevin Rittbergers Recherchestück „Schwarzer Block“ am Berliner Gorki Theater ist die zianten und selbst der Chef der PoliPolizei nicht dein Freud und Helfer – hier mit Karim Daoud im Zentrum des Wasserwerfers. zey … zum Theil auch als PrivatperFoto Marcus Lieberenz/bildbuehne.de sonen und als Menschen in die Handlung verwickelt seyn“ müssen, steht bei Deigner ein Chor auf der Bühne, der ausdrücklich „keine Vielzahl an Individuen“ ist, dingt im Drama darzustellen, deutet Schiller eine gewisse Unschärfe zwischen dem staatlich legitimierten Gewaltmonopol sondern selbst als „Entität“ auftritt. und krimineller Gewalt an: Die Polizei könne „die Bosheit … Entsprechend beginnt Daniel Kunzes Bamberger Ur zum Werkzeug brauchen“, schreibt er; „der Unschuldige kann inszenierung mit einer uniformierten, in Reih und Glied grupdurch sie leiden, sie ist oft genöthigt … schlimme Mittel anzupierten Polizeiformation, die zunächst die Europahymne summt und anschließend beginnt, xenophobe berufsgruppenwenden – Die Verbrechen ihrer eignen Offizianten haben eine gewiße Straflosigkeit.“ spezifische Witze zu erzählen („Mein Humor ist so schwarz, der würde in Amerika von der Polizei erschossen werden“). ZuAn diesem Punkt antizipiert Schiller polizeikritische Diskurse, wie sie heute etwa der Philosoph und Sozialtheoretiker mindest wenn man die Aufführung, wie ich, infolge des pandeDaniel Loick ausformuliert. „Es lassen sich strukturelle Gründe miebedingten Lockdowns nur im Videomitschnitt sehen kann, dauert es eine Weile, bis klar wird, dass sich zwischen den finden, aus denen die Polizei immer eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem geltenden Recht bewahren muss“, schreibt Schauspielern, die im Folgenden für die einzelnen Szenen imLoick in dem von ihm herausgegebenen Band „Kritik der Polizei“ mer wieder in unterschiedlichen Konstellationen aus der Foraus dem Jahr 2018. Da es ihr qua Funktion obliege, „das allgemeimation heraustreten, lauter lebensgroße Puppen befinden: Auch in der Inszenierung werden zaghafte individuelle Zweine Gesetz in einer konkreten Situation zur Anwendung zu brinfel, Beschwerden und Befehlsverweigerungsversuche von der gen“, sei die Polizei notwendigerweise darauf angewiesen, sowohl Institution absorbiert oder abgebügelt, hat der Einzelfall keine das Recht als auch die Situation jeweils eigenständig zu inter Chance gegen die Struktur. pretieren. Somit vermische sich in ihr, so Loick im Rückgriff auf Und diese Struktur – darin besteht eine der deutlichsten ZuWalter Benjamin weiter, eine „rechtserhaltende“ mit einer „recht spitzungen gegenüber der Vorlage – wird bei Deigner unmittelbar setzenden“ Funktion. Und dieser „Ermessensspielraum“ werde aus der Kriminalität geboren. Während das staatliche Gewalt von der Institution – darin besteht ja auch die zentrale Kritik etwa monopol bei Schiller „lediglich“ prinzipiell gefährdet ist, in krimider Black-Lives-Matter-Bewegung – nicht nur systematisch im nelle Gewalt zu kippen, erscheint Letztere in der Überschreibung Sinne der (weißen) Mehrheitsgesellschaft angewendet, sondern für die Polizei als geradezu konstitutiv. In den ersten Minuten des damit eben auch mehr oder weniger direkt gegen (ethnische und soziale) Minderheiten gerichtet. exekutivgeschichtlichen „Rittes“ tritt die Schauspielerin Ewa Rataj Björn SC Deigners „Polizey“-Überschreibung lässt sich im als Eugène François Vidocq an die Rampe, ein schillernder Grunde als abendfüllende Illustration dieses polizeikritischen GeSchwerstkrimineller, der Historikern tatsächlich als Gründungs genwartsdiskurses zusammenfassen. Der vorliegende Text sei „ein figur der modernen Kriminalistik gilt. Vidocq – Spitzname: „das Ritt durch die dunkle Nacht der Institution Polizei“, lautet der erste Wildschwein“ – war im Paris des frühen 19. Jahrhunderts nach mehreren Gefängnis- und Kerkeraufenthalten zum Polizeispitzel Satz des Stückes, das in schlaglichtartigen Szenen von der kaiser
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und schließlich zum Chef der wahrscheinlich weltweit ersten Privatdetektei aufgestiegen. Auf der Bamberger Bühne bekennt sich Ratajs Vidocq in einer Art Polizeiverhör, dessen Duktus ans Brecht’sche Lehrstücktheater erinnert, aller erdenklicher moralischer Verkommen heiten und massiver Kapitalverbrechen schuldig – von der Kameradenbespitzelung über wiederholten Diebstahl bis zum Mord. „Du bist der richtige Kerl für uns, Vidoqc, … die Polizei ist dein neues Zuhause“, konstatiert der Polizeichor am Ende der Szene, die in Deigners Text mit „Der Mörder / Sûreté“ (Sicherheit) überschrieben ist und den Satz enthält: „Nicht trotz, sondern weil er ein Mörder ist, taugt er zum Polizisten.“ Bald hängen – in einem suggestiven Bild – in ihre Einzelteile zerlegte Puppenkörper vom Schnürboden, und immer wieder wird mit demütigenden Verhör- oder Festnahmepositionen gearbeitet. Natürlich kann man die Geschichte der Polizei so erzählen: als angewandte aktivistische Institutionskritik aus der Außenperspektive, die die zu Recht viel diskutierten Strukturdefizite auf der Bühne noch einmal abbildet. Wesentlich tiefer als in einem Leitartikel zum Thema steigt man damit allerdings nicht ins Sujet ein. Im Berliner Maxim Gorki Theater tritt jener Moment, in dem „die Polizey“, wie bei Schiller, „auch etwas gutes wirkt“ und etwa „einen knoten lößt“, natürlich ebenso wenig ein wie in Bamberg. In Berlin liegt das aber sozusagen a priori in der Natur der dramatischen Sache. Denn Kevin Rittbergers Stück, das hier zur Uraufführung kommt, heißt nicht „Die Polizey“, sondern „Schwarzer Block“: eine mit umfangreicher Recherche linker Historie und linken Widerstandes beginnende Antifa-Hommage, die auch genau das sein
Der „Chor der Polizei“ tritt in Björn SC Deigners Bamberger Schiller-Überschreibung „Die Polizey“ nicht als Vielzahl an Individuen auf – sondern als Entität. Foto Martin Kaufhold
theater und polizei
will; die die RAF ebenso ausspart wie tiefere Grabungen in der DDR-Diktatur mit ihrem antifaschistischen Gründungsmythos und bei dem eine gewisse Romantisierung also offenbar bewusst eingepreist ist. In mindestens zwei Punkten herrscht dafür hier absolute Klarheit. Erstens: „Ein Schwarzer Block rettet der Demokratie den Arsch.“ Und zweitens: „Ein Schwarzer Block weiß, dass die Polizei nicht dein Freund und Helfer ist.“ Sebastian Nübling inszeniert den Abend als hochenergetische (und coronasichere) Live-Video-Performance, die über weite Strecken aus dem benachbarten Gorki-Container in den Zuschauersaal übertragen wird – und in der der einzige Polizist, der mit einem Monolog auftritt, gleich einen wesentlichen Punkt anspricht: „Glaubt ihr Einsacht netto reicht / Für meine Familie? / Es reicht nicht! / Und so verkaufe ich nach Dienstschluss / Kühlschränke und anderes konfisziertes Zeug / Für das ich nichts zahlen muss“, bekennt Aram Tafreshian als Einsatzpolizist – um von dem sicher aufschlussreichen Klassismusthema aber schnell wieder abzubiegen, die Gesichtszüge hinterm Visier zu verzerren und auf dumpfe Stammtischsprüche einzuschwenken: „Ich verliebe mich ja auch im Urlaub nicht / Ernsthaft in eine Südländerin / Das hat wirklich gar nichts mit Rassismus zu tun / Ich geh gern zum Griechen und höre Grime“. Wie die Polizei zu reformieren wäre, wäre tatsächlich eine interessante Frage, auch fürs Theater; und dialektische Strukturanalysen würden garantiert helfen. Der aktivistische Theaterblick hingegen legt, wenn man ihn realpolitisch ernst nimmt, eher die abolitionistische Variante nahe: eine grundsätzliche Abschaffung der Polizei zugunsten alternativer sozialer Modelle. Womit wir wieder bei Antanas Mockus wären: Performer statt Polizisten! Warum diese Erfolgsgeschichte inzwischen ein Vierteljahrhundert her ist, ohne offenbar erfolgreiche Nachahmer gefunden zu haben – auch darüber ließe sich sicher ein erhellender Polizei-Theaterabend machen. //
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Der Lieblingsfeind steht links Der Soziologe Rafael Behr, der Politiker und Aktivist Ferat Kocak und der Autor Kevin Rittberger im Gespräch über Theater und Polizei mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahl
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err Behr, Herr Kocak, Herr Rittberger: Die Polizei steht zurzeit nicht nur im Fokus politischer Debatten, sondern ist auch auf den Bühnen sehr präsent. Am Berliner Maxim Gorki Theater läuft zum Beispiel Kevin Rittbergers Antifa-Stück „Schwarzer Block“, dessen Protagonisten sich erwartungsgemäß einig sind, dass es sich bei der Polizei nicht um „deinen Freund und Helfer“ handelt, sondern um eine rechtslastige Truppe mit rassistischen Tendenzen. Herr Behr, was sagen Sie – als Polizeisoziologe und ehemaliger Polizist – zu diesem Image? Rafael Behr: Das subjektive Empfinden der politischen Verortung entspricht durchaus diesem Bild, und zwar auf beiden Seiten. Die „linken Zecken“, der „schwarze Block“ – das ist für Polizisten und Polizistinnen tatsächlich der Lieblingsantagonist. Der Lieblingsfeind steht immer links, nie rechts. Ein Bild, das sich mit der Entstehung
der Studentenbewegung in den sechziger Jahren etabliert hat und somit eine lange Tradition besitzt. Der schwarze Block bringt die intellektuelle Auseinandersetzung sozusagen auf die Straße, nach dem Motto: Wir stellen uns physisch dem Staat und der Polizei entgegen. Insofern ist mir klar, dass es Positionen im Leben gibt, aus denen heraus man diese Perspektive auf die Polizei entwickeln kann. Herr Kocak, ist Ihre Position vielleicht eine solche? Sie sind Aktivist, Politiker der Partei Die Linke und wurden 2018 Opfer einer mutmaßlich rechtsextremen Anschlagsserie, die Berlin-Neukölln seit Jahren erschüttert. Ihr Auto brannte, die Flammen griffen auf das Haus Ihrer Eltern über. Die Anschläge sind bis heute nicht aufgeklärt.
Auf Fehlerfreiheit orientiert und deshalb schwer zugänglich für Kritik von außen – Ein Polizeibeamter während des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007. Foto Fritz Engel
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Ferat Kocak: Das hat in mir eine große Angst hervorgerufen, die sich mit der Zeit immer mehr von den Tätern weg hin zur Polizei verlagert hat, weil bezüglich des rechten Terrors in Neukölln ein Skandal nach dem anderen zutage trat. Immer wieder wurden Verbindungen zwischen den Nazi-Strukturen und den Sicherheitsbehörden publik. Menschen wie ich, die sich aktiv gegen rechts engagieren, wissen nicht, wer uns schützen soll, wenn diejenigen, die eigentlich dafür verantwortlich sind und vom Staat dafür bezahlt werden, selbst Teil dieser Strukturen sind. Herr Rittberger, Sie haben für Ihr Stück sehr viele Interviews in der linken Szene geführt. Gab es auch Gespräche mit Polizisten? Kevin Rittberger: Der Polizist*innen-Monolog, der im Stück als antagonistische Position funktioniert, ist in Anlehnung an eine Person aus meinem früheren Freundeskreis entstanden, deren Worte mir noch im Ohr liegen. Außerdem habe ich mit Aram Tafreshian, dem Darsteller, weiter am Monolog gefeilt. Mein Hauptanliegen aber war, aus der Bewegung heraus zu sprechen. Und damit meine ich nicht die Bewegung, die in Schnellroda oder auf den Straßen von Dresden ihr Zentrum sieht, sondern die linke Bewegung. Deshalb habe ich mit vielen aktiven Antifaschist*innen gesprochen. Herr Behr, hätten Sie sich als Wissenschaftler, der sich dezidiert mit Polizeistrukturen auseinandersetzt, im Stück eine stärkere Differenzierung gewünscht, die vielleicht auch die Vielfalt und möglichen Ambivalenzen innerhalb der Polizei in den Blick nimmt? Behr: Ich frage mich oft, warum meine Studierenden, die ja alle Polizisten werden wollen, so ungern „Tatort“ schauen. Die sagen: Das bildet unsere Realität nicht ab. Aber den Anspruch, dass dort die Wirklichkeit gezeigt wird, habe ich gar nicht an einen Film oder ein Theaterstück. Dafür bräuchte ich ja keine Kunst! Für mich sind das Lehrstücke, die mich inspirieren, auch mal die Ebene zu wechseln und mich in die Betroffenen einzufühlen. Wenn es allerdings tatsächlich um die Abbildung von Realität ginge, würde ich schon sagen: Hier gibt es einige Dinge, die ich ein bisschen anders sehe. Welche wären das? Behr: Wir müssten uns zum Beispiel erst einmal darüber verstän digen, was wir meinen, wenn wir von Strukturen reden, was wir meinen, wenn wir von Einzelfällen reden, und was wir meinen, wenn wir von der Polizei sprechen. Das sind ja ganz unterschied liche Fallkonstellationen. Ich halte zum Beispiel die Beteiligung an einer Chatgruppe für eine andere Kategorie als verpatzte Ermittlungen oder Ermittlungen, die eine ganze Organisation betreffen wie den NSU-Komplex. Das muss man schon auseinanderhalten. Haltungen, die innerhalb der Polizei geäußert werden – gegenüber den Kollegen und den Subkulturen der einzelnen Milieus –, sind nicht identisch mit den Strukturen, die die Polizei repräsentieren. Kocak: Ich stimme Ihnen zu, es gibt Strukturen im Staatsapparat und in den Sicherheitsbehörden, die den NSU begünstigt haben und ähnliche Fälle weiterhin begünstigen. Aber die Polizei in ihrer Gesamtheit ist nicht identisch mit der Struktur, denn in der Polizei gibt es beispielsweise auch einen Mehmet, einen Ali, eine Ayşe. Cousins und Cousinen von mir arbeiten bei der Polizei. Trotzdem haben wir an einem Punkt ein gemeinsames Problem. Denn auch sie betreiben Racial Profiling.
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Ihre Cousins und Cousinen übernehmen die diskriminierende Polizeipraxis, Menschen allein aufgrund ethnischer Merkmale zu kontrollieren, ohne dass konkrete Verdachtsmomente gegen sie vorliegen? Kocak: Dieser Rassismus wird in der Institution sozusagen automatisch mit erzeugt. Wenn meine Cousins und Cousinen in Neukölln auf dem Hermannplatz sind, gucken sie sich arabische Jungs ganz anders an als einen Jürgen oder einen Phillip, der an ihnen vorbeiläuft. Rittberger: Herr Behr, ich möchte eine Aussage von Ihnen zitieren, die ich in einem Interview in der Zeit gelesen habe. Dort sagen Sie etwas, was Sie auch hier im Gespräch eingangs schon angerissen hatten, nämlich: „Es gibt eine lange Tradition linker Feindbilder in der Polizei. Das hat sicherlich mit dem RAF-Terrorismus zu tun, der sich ja heute noch in der Organisationsstruktur der Polizei widerspiegelt.“ Diesen Satz würde ich jetzt gern einmal umformulieren. Wir stellen uns vor, es wäre das Jahr 2050, wir hätten unglaublich viele notwendige Reformen des Polizeiapparats erlebt, und der Satz würde wie folgt klingen: „Es gibt nun eine kurze Tradition rechter Feindbilder in der Polizei. Das hat sicherlich mit dem NSU-Terrorismus zu tun, der sich heute noch in der Organisationsstruktur der Polizei widerspiegelt.“ Ich weiß, Herr Behr, das ist reichlich spekulativ und utopisch. Aber nehmen wir einmal an, es gäbe wirklich einen Linksruck in der Polizei. Was müsste dafür jetzt passieren?
Rafael Behr wurde 1958 in Mainz geboren und ist seit 2008 Professor für Polizeiwissenschaften mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg. Er leitet die Forschungsstelle Kultur und Sicherheit (FoKuS). Behr war 15 Jahre lang selbst als Polizeibeamter bei der hessischen Bereitschaftspolizei und im Polizeipräsidium Frankfurt am Main beschäftigt, bevor er Soziologie und Psychologie studierte. Foto privat Ferat Kocak, geboren 1979 in Berlin, ist Kommunalpolitiker der Linken im Stadtteil Neukölln. Nachdem auf ihn ein Anschlag verübt wurde, engagiert sich Kocak auf vielfältigen Wegen gegen rechts. Unter „der_neukoellner“ twittert er regelmäßig zu der Anschlagsserie, die Neukölln seit Jahren erschüttert und bisher nicht aufgeklärt wurde. Ferat Kocak arbeitet außerdem für die Kampagnenwebseite Campact e. V., wo er Strategien gegen Rechtsextremismus entwickelt. Foto Ferat Kocak DIE LINKE Berlin Kevin Rittberger wurde 1977 in Stuttgart geboren. Er studierte Neuere deutsche Literatur und Publizistik in Berlin. Als Autor und Regisseur arbeitet er an Häusern wie dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg, dem Deutschen Theater Berlin oder dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Rittberger ist Preisträger des Kurt-Hübner-Regiepreises und des Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreises. Im September 2020 wurde sein Stück „Schwarzer Block“ am Maxim Gorki Theater Berlin uraufgeführt. Foto Birgit Kaulfuss
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Zwischen Gut und Böse herrschen kaum Zwischenkategorien – Polizisten beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007. Foto Fritz Engel
Behr: Das verlangt in der Tat viel Fantasie! Ich sehe diese Bereitschaft oder diese Tendenz eigentlich überhaupt nicht, weil eine linke Utopie immer mit einer Infragestellung des Nationalstaates zu tun hat, und wir wissen, dass Polizisten und Polizistinnen in der Regel nicht aus Milieus kommen, die dieser Utopie anhängen. Dass es da zu einer Umkehrung kommen könnte, wäre für mich nur vorstellbar, wenn rechte Gewalt gegen staatliche Institutionen artikuliert würde, wenn es zum Beispiel Angriffe auf Symbolfiguren des Staates gäbe; Entführungen, Erpressungen oder Morde, wie es die RAF praktiziert hat. Dann könnte ich mir vorstellen, dass man sagt: Das müssen wir ähnlich bekämpfen wie die Linken. Rittberger: Das wäre ja durchaus wünschenswert, dass die gleichen Maßnahmen wie zu RAF-Zeiten jetzt gegen rechts ergriffen werden! Nur geschieht das nicht, selbst nach dem Mord an Walter Lübcke ist nichts passiert. Es gibt ja die berühmte Hufeisentheorie, der zu folge die bürgerliche Mitte gleich weit vom linksextremen wie vom rechtsextremen Pol entfernt ist – und gegen die Linke mächtig protestieren, weil sie argumentieren, dass auch die Mitte nicht frei von Extremismus ist. Ich finde ja das Bild, auf das der Lyriker und Publizist Max Czollek den Sachverhalt in seinem Buch „Gegenwartsbewältigung“ gebracht hat, passender: Ein Geodreieck, und in der Mitte oben ist ein rechter Winkel. Trotzdem wünschte man sich ja im Moment geradezu, dass die Hufeisentheorie in der Polizei angewendet würde – wenigstens das! Aber noch nicht einmal an diesem Punkt sind wir ja, wenn wir uns die rechtsextremen und völkischen Tendenzen in der Polizei anschauen. Wie kommen wir denn dahin, Herr Behr, dass die staatlichen Behörden sich stärker zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen? Behr: Wie mir scheint, wird das im Moment durch die Reaktion auf rassistische Umtriebe in der Polizei tatsächlich versucht. Da stellt man sich ja zumindest rhetorisch in die Tradition der Ver teidiger einer demokratischen Grundordnung. Ich kenne auch einen Polizeipräsidenten, der sich dezidiert und aktiv gegen die AfD gewendet hat. Der kriegt Morddrohungen.
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Sie sprechen von dem Oldenburger Polizeipräsidenten Johann Kühme. Behr: Es ist in der Tat nicht ganz einfach, sich so zu exponieren in der Polizei. Zum einen hat es dort keine Tradition, sich offensiv zu artikulieren, und zum anderen ist es teilweise auch verboten. Polizisten dürfen zum Beispiel bei einer Demo nicht aktiv politische Äußerungen von sich geben, weil sie dem Neutralitätsgebot unterliegen. Es ist sehr schwer, Polizisten überhaupt dazu zu bringen, ihre eigene politische Haltung zu artikulieren; gerade dann, wenn sie jenseits der CDU angesiedelt ist. Man wird in der Polizei relativ schnell als Linker attribuiert, und das fängt bei der SPD an. Der Querschnitt der Polizei hat eher einen konservativen Kern, ich würde sie aber nicht faschistoid oder faschistisch nennen. Womit Sie übrigens recht haben, Herr Kocak: Die Vorstellung, dass man automatisch etwas gegen Rassismus tun könnte, indem man dezidiert Migranten in die Polizei holt, ist naiv. Kocak: Meine Cousins und Cousinen haben links gewählt, bevor sie zur Polizei gingen. Als ich vor den letzten Wahlen mit ihnen gesprochen habe, erzählten sie, dass sie den Wahl-O-Mat-Test gemacht haben. Bei dem einen Cousin kam die CDU heraus, bei dem anderen die AfD. Da gibt es eine krasse Entwicklung, die zeigt, dass Menschen, die in dieses System hineinkommen, sich darin auch verändern. Ist das so, Herr Behr? Behr: Ich glaube, die Organisationskultur in der Polizei ist so dominant, dass sie das Naturell der Menschen überformt. Sie werden in einen Herrschaftskontext hineinsozialisiert. Das betrifft Menschen mit Migrationshintergrund genauso wie biodeutsche. Aber sie sind deshalb noch keine Rassisten. Ich würde auch bei der Polizei nicht von einer durch und durch rassistischen Organisation sprechen. Was es zweifellos gibt, ist eine starke Fixierung auf Ordnung sowie eine Hierarchie- und Gesetzesgläubigkeit, die verhindert, dass man in Zusammenhängen von linker Theorie denkt. Rittberger: Herr Behr, Herr Kocak ist nicht der Einzige, dessen Auto in Brand gesteckt wurde und der Angst hat. Es gibt einen Buchhändler in Neukölln, auf den drei Anschläge verübt wurden. Und es gibt den unaufgeklärten Mord an Burak Bektaş ... … der im April 2012 in Neukölln auf der Straße erschossen wurde. Rittberger: Würden Sie sagen, dass da jetzt etwas unternommen wird? Oder sind das nur Lippenbekenntnisse, die der Berliner Innensenator Andreas Geisel und die neue Polizeipräsidentin Barbara Slowik abgeben, während in Wahrheit alles vertuscht wird? Behr: Ich kenne mich in der Schutzpolizei besser aus als in der Kriminalpolizei. Was die rassistischen Anschläge und nicht aufgeklärten Morde in Neukölln betrifft, bin ich kein Spezialist. Aber ich glaube der Berliner Polizei, dass sie selbst erschrocken ist über die rassistischen Äußerungen in ihren Kreisen. Ich sehe im Moment keine Evidenz für einen strategischen Plan, etwas nicht aufzuklären. Rittberger: Herr Kocak, würden Sie sagen, es wurde in letzter Zeit etwas zur Aufklärung unternommen? Kocak: Es wurde eine Ermittlungsgruppe nach der anderen eingerichtet. Aber gefühlt nicht, um die Fälle selbst aufzuklären, sondern die Skandale, die während der Ermittlungen passiert sind, zu rechtfertigen. Es gab zum Beispiel ein Treffen eines LKA-Beamten
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mit einem Nazi oder einen Polizeibeamten, der im Bereich Rechtsextremismus ermittelt hat und selbst eine Vertrauensperson der Verdächtigen war. Ein Staatsanwalt wurde aufgrund von Befangenheit abgezogen, weil er einem der Neonazis kommuniziert haben soll, er müsse sich keine Sorgen machen, er sei auf seiner Seite, er würde AfD wählen. Rittberger: Eine weitere Gefahr sehe ich in der Meta-Politik und Agitation der Rechten. Was als rechtmäßig angesehen wird, wird immer weiter nach rechts verschoben. Stichwort Remonstration – darum geht es auch ganz am Anfang in meinem Stück: Der KappPutsch 1920, wo sich remonstrierende Polizeieinheiten dem Befehl des Reichspräsidenten, die Republik zu beschützen, verweigert haben. Einhundert Jahre später gibt es wieder Agitatoren – etwa Björn Höcke und Jürgen Elsässer – die Beamte dazu auffordern, zu remonstrieren. Das bedeutet, auch wenn der Einsatzbefehl anders lautet, eine Antifa vom Platz zu fegen, obwohl die sich genauso versammeln darf wie Rechtsextreme. Hier werden Kippmomente ersehnt, um dem Tag X näher zu kommen. Einen wuchtigen Kickboxing-Tritt eines Polizisten gegen einen wehrlosen Demonstranten wie neulich bei der Interkiezionale – Ferat Kocak hat es auf Twitter gepostet – kann man sich gegen Pegida- Demonstranten nicht vorstellen. Herr Höcke beschwört ein ganz konkretes Bedrohungsszenario herauf, wenn er der Bundespolizei und dem Verfassungsschutz die Dienstverweigerung empfiehlt, da in späteren Zeiten, nämlich dem Fall der Machtübernahme der AfD, „abgerechnet“ würde. Das sind Versuche, die Exekutive von
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung abzukoppeln und einen anderen Maßstab anzulegen, mehr noch: eine andere Gesetzlichkeit. Das kann drastische Verschiebungen bedeuten. Behr: Ich verwende das Wort Remonstration anders. Nicht als Aufforderung von rechts an Beamte, gegen Recht und Ordnung zu verstoßen, sondern es ist ein im Beamtenrecht festgelegtes Recht, gegen eine Maßnahme, die ein Vorgesetzter anordnet, Widerstand zu leisten. Wenn ein Vorgesetzter beispielsweise befiehlt, nehmt diese Leute fest und haut denen erst mal zehn Stockschläge auf den Hintern, angenommen so etwas gäbe es, dann müsste der Beamte remonstrieren und sagen, das ist grundgesetzwidrig. Das darf ich nicht tun. Ich halte eine andere Ebene der Veränderung für viel wich tiger. Ich denke an die Berufsvertretungen. Ich bin zum Teil entsetzt über den Sprachgebrauch bei den Gewerkschaften der Polizei. Da ist von Gewerkschaft nichts mehr zu spüren. Eine reine Horrorshow. Was die an Sprache benutzen, ist von der AfD nicht mehr weit entfernt. Menschenverachtend, kritikverachtend, alles verachtend, was nicht Mainstream ist. Von dieser Institution geht eine viel größere Gefahr aus als von einem Polizisten, denn die Gewerkschaften geben sozusagen das Denken und Sprechen vor. Gewerkschaftliche Artikulation müsste sich verändern. Weil von dort Interessen der Polizei eben auch in die Gesellschaft transportiert werden. Aber eine veränderte Denk- und Sprechweise könnte doch bereits in der Ausbildung vermittelt werden.
NATIONALES PERFORMANCE NETZ N Ä C H S T E
A N T R A G S F R I S T E N
NPNSTEPPING OUT
GASTSPIELE THEATER
KOPRODUKTIONEN & GASTSPIELE TANZ
N E U S TA R T K U LT U R H I L F S P R O G R A M M TA N Z
N AT I O N A L
N AT I O N A L & I N T E R N AT I O N A L
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Informationen zur Antragstellung www.jointadventures.net Das NPN wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie den Kultur- und Kunstministerien folgender Bundesländer unterstützt: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. NPN-STEPPING OUT im Rahmen des Hilfsprogramms Tanz ist Teil von NEUSTART KULTUR, eine Initiative der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
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Behr: Die Veränderung bereits in der Ausbildung beginnen zu lassen, ist in der Tat ein sehr schwieriges Unterfangen. Erstens ist die Polizei in ihrer Ausbildungsphilosophie sehr stark auf Rechtlichkeit ausgerichtet. Deshalb nennen sie sich auch Rechtstechnokraten mit Gewaltlizenz. Zweitens existiert eine sehr stark verein fachende Haltung. Ich nenne das Dominanzkultur. Der Begriff kommt von der Psychologin Birgit Rommelspacher, die 1995 ein Buch unter diesem Titel geschrieben hat. Polizisten werden in diese Dominanzkultur hineinerzogen. Ihnen wird klargemacht: So wie wir die Dinge sehen, so sind sie richtig. Wir entscheiden, was ein Verdacht ist, was kein Verdacht ist. Wir entscheiden, wer anständige Bürger und nicht anständige Bürger sind. Wir entscheiden, wer kontrolliert wird, wer nicht kontrolliert wird. Das ist sehr viel mehr als bloßer Rassismus. Die Dominanz sorgt dafür, dass man in binären Kategorien von wir und die anderen, Recht und Unrecht denkt, und die Zwischenräume überhaupt nicht diskutieren kann. Was wäre dann ein möglicher Lösungsansatz? Behr: Ich habe gestern eine sehr interessante Debatte mit hochrangigen Politikern in Berlin gehabt, die mich fragten, wie es wäre, mehr Seiteneinsteiger in die Polizei zu lassen, also Soziologen, Politologen und so weiter. Das wäre tatsächlich eine sehr große Herausforderung. Politische Bildung ist in der Polizei Mangelware. Antirassismustraining gibt es zu wenig. Und zwar nicht, weil die Polizei rechts ist oder rassistisch, sondern weil sie davon überzeugt ist, dass sie zu den Guten gehört. Dass sie in ihrem Kern fundamental richtig orientiert ist. Kocak: Wir fordern seit mittlerweile einem Jahr einen Unter suchungsausschuss zum rechten Terror in Neukölln. Die Aufklärungsrate ist gleich null. Welche Verbindungen gibt es zu den Ermittlungsbehörden? Die Petition hat mehr als 25 000 Unterzeichner. Aber wir bekommen das Ding nicht durch. Innensenator Andreas Geisel von der SPD müsste dafür sein, aber scheitert an der Dominanzkultur der Polizei, die sagt, nein, wir wollen uns nicht auf die Finger schauen lassen. Behr: Auch ich sehe mit großer Sorge, wie die AfD im Moment sehr bestrebt ist, Sympathien bei Polizisten zu erlangen. Ich sorge mich deshalb, weil so viel geschwiegen wird in der Polizei. Diejenigen, die mehr wollen als nur gehorchen, die sich Fragen stellen, werden angefeindet. Ich würde aber nicht sagen, dass die Polizei schon rechts abgedriftet ist. Nehmen wir das Versammlungsrecht. Polizisten sagen, sie schützen das Versammlungsrecht – und nicht die Nazis. Ich weiß noch, wie ich damals an der Startbahn West in Frankfurt stand. Rechtsgrundlage war das Hausrecht der Flughafengesellschaft. Und das mussten wir dann gegen Tausende von Leuten verteidigen. Ich war mir bewusst, dass das eine unzureichende Begründung ist. Aber vielmehr bekommen die Polizisten auch nicht angeboten. Daher richtet sich meine Kritik auch nicht an die Polizisten vor Ort, sondern an die Innenministerien, die solche Töne vorgeben. Wir sprechen hier immer nur über kleine Bausteine einer Reform. Aber lässt sich die Struktur auch als Ganzes reformieren? Oder ist das naiv gedacht? Behr: Nein, das ist nicht naiv. Man kann etwa die Ausbildung oder die Zugangsbedingungen zur Polizei ganz grundsätzlich reformieren, indem man eine andere Art von Auswahl trifft. Die Auswahl
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richtet sich derzeit noch sehr stark nach Disziplin und Sekundär tugenden. Zudem müsste man junge Anwärter frühzeitig ertüchtigen, eine Metaebene zu ihrem Beruf zu entwickeln. Auch sollte die Karriereleiter offen sein für Leute von außen. Oftmals wird mir aber vonseiten der Polizei gesagt, dazu habe man nicht genug Personal und Geld. Dabei gab es bereits in den neunziger Jahren eine Art Aufbruchstimmung in der Polizei. Auch strukturell! Es ging um flachere Befehlshierarchien, Dezentralisierung, Mitspracherecht für Führungsbeamte und so weiter. Sich als Bürgerpolizei und eben nicht als Staatsschutzpolizei zu definieren, war ein Trend, der aus Nordrhein-Westfalen in die Polizei getragen wurde. Ich habe den Begriff Bürger nicht so gerne, aber man könnte es auch übersetzen in Menschenrechtsschutz-Polizei. Diese Diskussion gab es bereits. Seit 9/11 allerdings weht in der Polizei wieder ein anderer Wind. Es geht erneut in Richtung law and order, es geht um das Durchsetzen von Gesetzen und nicht das Aushandeln. Das sind Konjunkturen, durchaus keine linearen, sodass auch wieder andere Zeiten kommen könnten. Was ich hinsichtlich der Reformierbarkeit der Strukturen für wichtig erachte, ist die Reform oder gar Abschaffung des Beamtenrechts. Polizisten sind Beamte auf Lebenszeit. Wenn Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul Rassisten aus der Polizei rausschmeißen will, dann geht das nicht so einfach. Der wichtigste Punkt aber, der Reformen entgegensteht, ist der Umgang der Polizei mit Fehlern. Die Polizei ist auf Fehlerfreiheit orientiert. Wenn ihr nachgewiesen wird, dass sie einen Fehler gemacht hat, wird reflexartig dichtgemacht, gemauert, es entsteht ein closed shop, eine defensive WagenburgMentalität. Daher auch die vielen Sonderkommissionen und die zusätzlichen Ermittlungsstellen, die die Fehler der anderen überprüfen sollen. In der Regel immer nur intern. Nie von extern. Alles ein Ausdruck einer fundamentalen Dominanzkultur. Es heißt dann immer: Ihr könnt da nicht mitreden, ihr kennt die Wahrheit nicht. Das ist eine ganz große, fast neurotische Abwehr gegenüber Kritik und Mitsprache von außen. Deswegen sind wir gerade in dieser absurden Diskussion, dass die Polizei absolut keinen Polizeibeauftragten will. Ich fände das eminent wichtig. Möglicherweise hat die Abwehr von Reformen, die ja auch ein Reflektieren der bisherigen Vorgehensweisen erfordern, auch mit dem Tätigkeitsfeld zu tun. Jemand, der Einsätze plant und durchführt, muss im Zweifelsfall schnell handeln, heißt: kann sich langes Zweifeln nicht leisten – und agiert daher mehr oder weniger nach Schema. Behr: Das spielt mit Sicherheit eine Rolle. Ebenso wie die Kredibilität. Einer, der in der Polizei Verantwortung übernehmen will, muss nachgewiesen haben, dass er in prekären Lagen erfolgreich war. Dazu eine berühmte Szene aus Hamburg. Die Hafenstraße war ja in den achtziger Jahren ein extrem umkämpfter Ort. Autonome beziehungsweise Linke und Polizei manövrierten sich in fast bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Stimmung war so aufgeheizt, dass es selbst in Polizeikreisen hieß, heute gibt es bei uns Tote. In dieser Situation hat der damalige Erste Bürgermeister Henning Voscherau gesagt: Schluss. Ich biete Mietverträge für die besetzten Häuser an, die Polizei zieht sich zurück. Das gab natürlich Widerstand ohne Ende vonseiten der Polizei, die nicht klein beigeben wollte. Voscherau aber hat dadurch die Logik der Eskalation durchbrochen. Das ist sozialer Frieden.
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Rittberger: Es scheint, als ob die Polizeibehörde, wie sie hier skizziert wurde, nicht aus sich heraus zu reformieren ist oder zumindest nicht sehr leicht. Um den Missbrauch des Gewaltmonopols zu verhindern, bräuchte es einfach externe Beobachtungsstellen. Was könnten das für welche sein? Behr: Es mehren sich tatsächlich die Stimmen, die besagen, dass sich die Zivilgesellschaft mehr einmischen müsse. Ich gebe auch deshalb gerne Interviews, weil ich darauf vertraue, dass sich die Zivilgesellschaft zunehmend engagiert in der Kritik an den be stehenden Verhältnissen. Und zwar auf einer Ebene, die die Polizei sonst gerne abbügelt, nämlich keine Ahnung zu haben und nicht über Herrschaftswissen zu verfügen. Ich glaube schon, dass es da im Moment eine Aufbruchstimmung gibt. Die Polizei ist, was ihr Selbstverständnis angeht, gerade sehr in Bedrängnis und sucht nach Auswegen. Möglicherweise sorgt auch der Druck aus der Politik dafür, mehr zuzulassen. Das haben wir an der Rassismus-Studie gesehen, die Horst Seehofer zunächst mit großer Geste abgelehnt hat: Nach einigen Wochen musste er zumindest teilweise einlenken. Die Alltags forschung ist wie ein kleines Schlüsselloch in das Schlafzimmer der Polizei. Neues Wissen könnte dazu führen, dass sich die Polizei doch noch weiterbewegt. Kocak: Ich würde eher sagen, der Zivilgesellschaft werden Brotkrumen zugeworfen, während der Etat weiter steigt, um die alten Strukturen zu reparieren. Wie bei einem alten Fernseher aus den siebziger Jahren, wo man immer wieder schaut, was man reparieren kann, damit er wieder eine Zeit lang funktioniert – aber eigentlich brauchen wir einen neuen Fernseher. Rittberger: Wobei der neue Fernseher, Stichwort Gesichtserkennung, vielleicht auch nicht besser ist. Studien aus den USA zeigen, dass sich racial profiling im Bereich algorithmic bias und künstlicher Intelligenz fortsetzt. Kocak: Jetzt hast du aber den neuen Fernseher anders interpretiert. (Lachen.) Sie würden die Polizei abschaffen und durch neue Strukturen ersetzen wollen? Kocak: Ich sag mal so: In Deutschland sind wir noch nicht so weit, dass wir über abolish the police sprechen können. Aber defund the police, also Aufgaben der Polizei anders zu verteilen, um das
Die Organisationskultur in der Polizei ist so dominant, dass sie das Naturell der Menschen zu überformen droht – Einsatz bei der AntiG20-Demo „Welcome to Hell“ in Hamburg 2017. Foto Fritz Engel
ewaltmonopol zu dezentralisieren, wären kleine Reformen, die G eine größere Veränderung anstoßen könnten. Herr Behr, Sie haben eingangs gesagt, dass Sie den „Tatort“ Ihren Studenten gerne als Lehrstück empfehlen. Was ließe sich denn aus einem „Tatort“ – oder aus Kevin Rittbergers Stück – unterm Strich lernen? Behr: Ich amüsiere mich immer bei Vereidigungsfeiern und anderen Hochanlässen, wenn gesagt wird, was ein Polizist alles lernen soll. Da steht ein Wort im Zentrum: Ambiguitätstoleranz. Was ja heißt, sich nicht eindimensional zu bewegen, Spannungen aushalten zu können und so weiter. Das aber wird überhaupt nicht gelehrt! Bei uns wird Ambiguitätsabwesenheit gelehrt – und Eindeutigkeit. In den „Tatorten“ oder im Theater trifft man mitunter auf Positionen, zu denen man sich nicht eindeutig verorten kann. Dieses Spannungsfeld halte ich für sehr produktiv, weil es abbildet, was einen als Polizistin und Polizist in der Realität erwartet. Gewissensbisse zum Beispiel. Wie gehe ich damit um, wenn ich eine Familie morgens um fünf aus dem Bett holen muss, weil sie abgeschoben wird. Paradoxien zu antizipieren in einer Situation, in der man nicht unter Handlungszwang steht, sondern Zeit hat, sich in das Geschehen empathisch hineinzuversetzen, halte ich für eine sehr produktive und lehrreiche Form des Theaters. Es erzeugt eine Metaebene, keine realistischen Abbilder, sondern Anregungen zum Denken und Fühlen. Auch Irritationsgefühle! Wenn Kultur irritiert, ist das nicht das Schlechteste. Also: Mehr Polizisten ins Theater? Behr: Wenn ich was zu sagen hätte, dann würde unsere Ausbildung im ersten Semester aus zwei Fächern bestehen: Theaterspiel und Rhetorik. Aber? Behr: Ich habe leider nichts zu sagen. //
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Die Unnützen und die Gekränkten
Straßenszenen aus dem Lockdown von Dorte Lena Eilers
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onntagabend, kurz vor dem Lockdown, findet in Berlin ein paradoxes Schauspiel statt. Trotz steigender Corona-Zahlen ist die Stimmung auf der Straße prächtig. Die ganze Stadt scheint auf den Beinen, und auch wir sind unterwegs, um noch einmal ins Kino zu gehen, bevor alles schließt. Auf dem Weg dorthin passieren wir etliche Clubs, aus deren provisorisch aufgestellten Zelten laute Elektromusik wummert, dem Gegröle nach zu urteilen begeistert gefeiert von einer nicht gerade kleinen Masse Mensch. Ich denke noch: Tu es nicht! Und doch sehe ich, wie mein Arm emporschießt und empört auf die jubelnde Menge deutet: How dare they? Wie können sie nur? Schon ist es geschehen. Für Bertolt Brecht bildete die Straßenszene das Grund modell epischen Theaters. Eine Person beobachtet einen Unfall und berichtet später hinzugestoßenen Passanten davon. Allein den Vorgang konkret zu beschreiben, ist in der Regel kompliziert genug. Doch bei diesem Unfall namens Corona sind wir immer auch Teil des Straßengeschehens. Das Virus, sagt der bildende Künstler Mark Lammert in dem aktuellen Journal der Akademie der Künste, stelle eine „globale Gleichzeitigkeit“ her, die uns
„letztendlich in eine gemeinsame soziale Erfahrung“ zwingt. Ohne Probenzeit werden wir so zu Protagonisten eines Theaterstücks, dessen Regisseur, welch Kränkung der Menschheit, ein pathogener RNA-Haufen ist. „Das Virus“, lese ich auf der Internetseite des Münchner Theatermachers Alexeij Sagerer, „komponiert ungefragt.“ Auch das noch. Theatermachern, deren Spielfeld die Gesellschaft gerne ja ist, müssten die sozialen Spannungen in der Corona-Zeit eigentlich ein perfektes Szenario liefern, drohte ihnen nicht selbst ein erheblicher Schaden. Der zweite Lockdown trifft die Kultur szene – vor allem die vielen Freischaffenden und temporär angestellten Künstler – erneut mit voller Härte. In der Veranstaltungsbranche, backstage wie on stage, herrscht seit Monaten Alarmstufe Rot. Verbände, Gewerkschaften und Künstlerinitiativen zu haben, die unermüdlich politische Lobbyarbeit leisten, um der großen und arbeitsrechtlich diversen Gruppe der prekär Beschäftigten
Was ist die Existenz eines Bordells gegen die Abwertung eines Bordells? – Heike M. Goetze scheut mit ihrer Premiere von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg jedenfalls nicht den Blick ins Nachtklub-Milieu. Foto Arno Declair
straßenszenen aus dem lockdown
eine angemessene Absicherung zu erkämpfen, ist daher ein großes Glück. Brechts Unfallbeobachter würde sagen: Absolut souverän. Doch das Virus wäre nicht Virus und damit ein erschreckend guter Regisseur, würde es nicht lässig mit den unterschiedlichsten Genres jonglieren. Wer es schafft, sich trotz der eigenen Ver strickung neben Brechts Beobachter zu positionieren, erkennt die nahezu schwindelerregende Varianz der viralen Dramaturgie: Da findet man das Kafkaeske in behördlichen Verordnungen, das Groteske in Corona-Verschwörungstheorien, die Lecture Per formance in Drostens Podcast, die Tanzchoreografie bei kontaktfreier Begrüßung sowie die Tragödie, wenn es um Einsamkeit, Gewalt und den Tod von Menschen geht. Selbst das Ein- und Ausatmen, sagt der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl in einem Interview mit dem Wissenschaftsverlag De Gruyter, werde zu einem politischen Akt. Welches Genre hat das Virus wohl für unser Stadttheater vorgesehen? Text! Der Souffleur in Brechts Straßenszene kramt hektisch in seinen Unterlagen. Anders als im ersten Lockdown entstanden in den Intendantenbüros deutschsprachiger Stadttheater nach Bekanntgabe der erneuten Schließung Textformen ganz dring licher Art. Viele Intendanten waren enttäuscht, einige entsetzt, andere regelrecht zornig über die Maßnahmen der Regierungen.
Man habe, so die Argumentation der offenen Briefe und Protestschreiben, doch alles richtig gemacht. Dank streng eingehaltener Abstandsregeln, reduziertem Publikumsverkehr und Maskenpflicht seien Theater, Opern und Museen absolut sichere Orte. Das Publikum konnte dem zustimmen, doch dem Virus war das egal. Trotz ausgeklügelter Hygienekonzepte schossen die Fallzahlen in die Höhe. Hilft es, in einer Situation, in der 75 Prozent der Ansteckungen nicht mehr verortbar sind, andere skeptisch zu beäugen? In den Statements der Intendanten jedenfalls war der Begriff der Solidarität auffallend zentral. Es gelte, schreibt auch die Akademie der Künste, die Vielfalt einer Gesellschaft zu erhalten, um Krisen zu überwinden und Konflikte auf friedliche Weise zu lösen. Ist aber zu viel Vielfalt vielen womöglich zu viel? Andrea Gronemeyer zumindest, Intendantin der Münchner Schauburg, sah in der grobkörnigen Formulierung der Bundesregierung, alle „Freizeiteinrichtungen“ zu schließen, Theater „in die bizarre Nachbarschaft von Bordellen und Spielhallen“ gestellt. Könnte ihr Haus hüsteln, es würde es tun, beherbergte es doch selbst von 1967 bis 1972 einen verruchten Nachtklub – für die Jugendlichen ihres Kinder- und Jugendtheaters vielleicht nicht ganz uninteressant. Auch Martin Kušej schaffte es in seinem Statement, eine doppelte Pirouette zu drehen. In seinem Furor über Spielhallen und Wettbüros ignorierte er elegant, wer sein Haus, das Wiener Burgtheater, fördert. Casinos Austria, Österreichs großer Glücksspielkonzern, gehört zu den Hauptsponsoren des Theaters; auf der Internetseite wird ihm sehr freundlich dafür gedankt. Hä?, denkt Brechts Beobachter und kratzt sich am Kopf. Was ist nur bloß mit dem Theater los? Wo sind sie hin, die „Dreigroschenopern“, „Zuhälterballaden“ und Boxerstücke? Die Dostojewskis, Genets und Horváths? Hat Theater vielleicht doch ein Klassismusproblem? Ein Leser namens Hans Zisch argumentiert auf nachtkritik jedenfalls ganz anders: „Ich halte die Nennung von Theatern ,in einem Atemzug mit Messen, Kinos, Freizeitparks, Vereinssport und Fitnessstudios …, aber ebenso mit Wettbüros und Bordellen‘ für absolut treffsicher. Denn Theater haben doch von all dem genau sehr viel. Kino / Castorf, Freizeitpark / Signa, Vereinssport / Gonzo, Fitnesstudios / Natural Theatre of Oklahoma, Wettbüros / machina ex, Bordelle / Bo Nilsson. Um nur ein paar zu nennen. Welches Theater wäre nicht gern all das Genannte gleichermaßen?“ Ein Mann betritt die Straßenszene und stellt sich etwas linkisch als dramenschreibender Strafverteidiger vor. „Hören Sie“, sagt er forsch und reißt sein Smartphone in die Höhe. Aus dem Gerät erklingt der Mitschnitt eines Deutschlandfunk-Interviews. Man habe, wettert da der Berliner Rechtsanwalt Peter Raue, die Falschen eingesperrt und die Richtigen laufen lassen. Der Mann mit dem Smartphone drückt auf Stopp. „Ja, ja“, ruft er laut und schaut die Umstehenden scharf an. „Wer sind wohl die Richtigen? Und wer die Falschen? Sind es diejenigen im Parkett, die, dort noch brav mit Maske, hinterher unmaskiert zusammenstehen? Oder jene in der Galerie, die nach einer virenfreien Vernissage ihre Dachterrasse zum coronafreien Dancefloor umfunktionieren? Sie haben 15 Minuten Pause. Dann stimmen wir ab!“ Gerechtigkeit ist eben, das zeigt uns das Virus allemal, nur mit einer gewissen Portion Unschärfe zu haben. Die Pilkentafel in Flensburg hat das ganz fachmännisch formuliert: „Wir halten
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Blick, ein ästhetischer und vielleicht sogar ein utopischer Blick. nichts davon, dass sich jetzt alle ungerecht behandelt fühlen“, verEine Arbeit, die jenseits der kapitalistischen Logik abläuft, sich meldet das freie Theater auf seiner Internetseite. „Wir halten das Virus per se für ungerecht.“ Christian Thielemann ist da, ganz aber im Kunsttempel auch nicht verschanzen sollte. Denn: Wer den Blick nicht schweifen lässt, wird blind. Stardirigent, natürlich anderer Meinung. In den Tagesthemen orakelt er, mit fast filmreifem Blick: „Die Frage ist doch, wer hier Als echter Straßenszenen-Akteur lässt sich das Medien- und Performance-Kollektiv Ligna begreifen. Statt einen Kunsttempel jetzt eigentlich für wen bezahlt?“ An der Gruppe in der Straßenszene schießen zwei Autos vorbei. „Folgen Sie diesem Wagen“, suchte es 2010 einen Konsumtempel auf – einen jener Orte also, ruft eine Männerstimme spitz. Ein Passant singt die „Ballade von den der Lockdown zum Ärger vieler derzeit verschont. Unter dem der Ambiguitätstoleranz“. Glasdach des Einkaufszentrums, hieß es in seiner Performance Hinter all der Wut und dem Zorn indes, das spüren Beob„Erste Internationale der Shopping Malls“, versammle sich idealtypisch die ganze Stadt. Im Grund sei es ein utopischer Ort, denn achter und Unfallopfer gleichermaßen, steckt ein Szenario, das wo sonst werde der Mensch derart direkt mit den vergeblichen verheerender zu werden droht als jeder Crash. Wer Mitte November das Jahresgutachten der sogenannten Versuchen konfrontiert, in den Waren das Wirtschaftsweisen las, konnte SchuldanalyGlück zu suchen. Kein Wunder, dass Lignasen und Abgrenzungsdebatten getrost sauGründer Ole Frahm und Torsten Michael„Folgen Sie sen lassen. Die Schließungen von Gastgesen auch auf den derzeitigen Lockdown eiwerbe, Kultur und Sport im November, hieß diesem Wagen“, ruft eine nen etwas anderen Blick haben: „Natürlich“, es da, habe vergleichsweise glimpfliche Folschreiben sie auf Anfrage, „bleiben die BühMännerstimme spitz. gen für die Konjunktur, da die betroffenen nen des Alltagslebens geöffnet. Die Theater Branchen keinen großen Anteil an der Unhaben im letzten halben Jahr versäumt, für diese Bühnen Stücke zu erarbeiten, die für ternehmenslandschaft hätten. „Die Unnützen“, nennt Mark Lammert diese Gruppe diese – ja absehbare – Situation geeignet wäliebevoll-provokant, die wirtschaftlich und so auch politisch keine ren. Sich darüber zu beklagen, dass die eigenen Bühnen mit ihren aufwendigen Apparaten geschlossen werden, ist einerseits verRolle spielt. Kaum ist dies ausgesprochen, entsteht in der Straßenszene ständlich, verstellt aber den Blick darauf, was Theater gesellschaftlich außerhalb der Häuser leisten könnte: nämlich eben die RefleTumult. Der Song „Über die Unsicherheit menschlicher Verhältnisse“ erklingt, wird jedoch gleich wieder abgewürgt, da mit Polixion dieser, unserer jetzigen Situation.“ Allerdings ließen sich auf diesen urbanen Bühnen schlecht die Repertoire-Stücke aufführen, tikern in der Regel nicht zu spaßen ist. Bambergs Finanzreferent Bertram Felix versucht es trotzdem. Die Stadt Bamberg hatte Ende die zum Bildungsauftrag der Theater und Selbstvergewisserung der bürgerlichen Gesellschaft dienten – aber wäre, fragen sie, Oktober angekündigt, den Kulturetat drastisch zu kürzen. Auf Radio Bamberg schlug der Finanzreferent daraufhin vor: Man solle nicht ein halbes Jahr Zeit gewesen, über entsprechende Konzepte nachzudenken und diese zu realisieren? „Insofern spiegeln die doch einmal die Perspektive wechseln. Der Kultur werde nicht 25 Prozent weggenommen, sondern es würden 75 Prozent erhalTheater die Bundesregierung, die auch keine Programme für die Schulen oder massenhafte Tests aufgesetzt hat. Es scheint, dass ten. Die Passanten schauen sich an. Keiner lacht. Der Fall Bamberg ist in der Tat ein unheilvolles Zeichen. Er aus den vielen Versuchen der Theater der letzten zwanzig Jahre, ihre Häuser zu verlassen, erstaunlich wenig dauerhafte Praxis gewird als Beginn einer kommunalen Kulturschmelze gesehen, die folgt zu sein scheint – (Ausnahmen bestätigen die Regel).“ in städtischen Haushalten – der Deutsche Kulturrat läuft dagegen Vielleicht ließen sich aus der Kränkung der Theater heraus Sturm – unter dem Schlagwort der „freiwilligen Ausgaben“ allzu leicht durchführbar scheint. Freiwillig. Klingt das nicht wie Freiwirklich neue Komplizenschaften bilden. Alexeij Sagerer würde sagen: Im Außen findet sowieso das wahre Theater statt. Und zeit? Wie Tanzunterricht, Lesezirkel, Fußballtraining, Chinesischdazu gehört auch, wie es Daniel Klajner, Intendant des Theaters kurse und ja, eben auch: wie ein Theaterbesuch? Kann also, im Bedarfsfall, eben weg? „Wir stehen auf dem Prüfstand“, formuliert Nordhausen, formuliert, die verschiedenen Branchenbereiche jetzt nicht gegeneinander auszuspielen. Auch Amelie Deuflhard, es Martin Kušej in seinem Brief alarmiert. Deshalb die ganze Wertedebatte. Deshalb das akribische Überprüfen des Listen Intendantin auf Kampnagel in Hamburg, schlägt in einem Interview im Deutschlandfunk vor, über den „elitären Status“ der „Kulplatzes, auf dem Theater, Konzerthäuser und Museen bei den turtempel“ zu reflektieren und sie für die Gesellschaft weiter zu Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie geführt öffnen. „Unser Wille zu spielen“, sagt Klajner, „ist übermächtig. werden. Doch ist Aufwertung des eigenen Tuns durch Abwertung anderer wirklich ein probates Mittel? Dabei sind wir kreativ, flexibel, zu fast jedem Kompromiss bereit, arbeiten bis über die Leistungsgrenzen hinaus und spielen sofort „Ich wurde nur Zeuge dieses Unfalls“, sagt Brechts Unfallbeobachter zu den umstehenden Passanten, „weil ich nicht in eidann, wenn wir wieder dürfen.“ nem klassischen Büro sitze. Weil ich meine Zeit damit verbracht Applaus brandet auf. Brechts Beobachter deutet auf die Strahabe, hier diese Straße entlangzugehen. Nur so konnte ich beobße. „Wir, die wir beobachten, sind die Zeugen dieser Unfälle. Wir versuchen zu formulieren, was auf den Straßen des Landes pasachten, was geschah. Hatte Zeit zu überlegen, wie die Dinge laufen.“ Dieser Blick, der entbunden ist von wirtschaftlichen Verwersiert. Etwas Besseres, liebe Politiker“, und sein Blick geht streng in die Kamera, „etwas Besseres kann Ihnen in Krisen nicht passietungszusammenhängen, ist die Arbeit des Künstlers. Es ist ein weitschweifiger Blick, ein soziologischer Blick, ein literarischer ren.“ Black. //
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Ralph Hammerthaler
Jetzt ist schon wieder was passiert Kurzer Lebenslauf mit Polizei
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as erste Mal, dass ich einen Polizisten nicht nur auf der Straße, sondern auch in einer Wohnung sah, war leider bei mir zu Hause. Meine Mutter wollte meinen Vater anzeigen; wenig später zog sie die Anzeige zurück. Damals war ich noch klein, und ich war auch noch nicht groß, als ich von einem Polizeiwagen gestoppt wurde, ich auf meinem Fahrrad, unvorteilhaft auf der linken Spur der Straße. Der Polizist auf dem Beifahrersitz kurbelte das Fenster herunter, und weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfiel, tat ich empört: Bin ich zu schnell gefahren? Diese Frage überging der Polizist und wies mit erhobenem Zeigefinger darauf hin: Rechtsfahren ist amtlich. Das habe ich mir bis heute gemerkt, woran man sieht, dass das gern praktizierte, an die Einsicht appellierende Bürgergespräch der Polizei nicht immer vergeblich ist. Das zweite Mal, dass ich einen Polizisten in einer Wohnung sah, noch dazu in seiner eigenen, war in Rosenheim. Max arbeitete dort für die Kripo. Ich glaube, er mochte mich, und ich mochte ihn auch, aber viel mehr noch mochte ich seine Tochter, die mich zwar auch mochte, aber nicht so, wie ich es gebraucht hätte. Oft wirkte Max ein wenig zerknirscht, und einmal ließ er ein paar Worte fallen, die ich schwer vergessen kann: Du musst es so sehen, Ralph, wir haben nur mit Abschaum zu tun. Als ich dem Theater verfiel, sah ich immer wieder Polizisten auf der Bühne, das waren selten echte Menschen, weil meistens komisch und lächerlich gemacht, schon wegen der Uniform, die noch das Echteste war. Habt euch nicht so, brummte ich, in euren Kostümen seht ihr auch nicht besser aus, wie arme Verwandte der Polizei. Einmal spielte ich selbst einen Polizisten, in Paris, wo ich im Théâtre de la Ville in der Regie hospitierte. Auf der Probe sprang ich für einen erkrankten Schauspieler ein, immerhin eine Bühne, auf der schon Sarah Bernhardt gestanden hat. Uniform trug ich nicht, dafür einen Trenchcoat. Die im Trenchcoat gelten als cool. Das bisschen französischer Text ging mir leicht über die Lippen. Danach, bei der Besprechung, hatte der Regisseur ein dämonisches Grinsen im Gesicht: toll, so ein Bulle mit deutschem Akzent. „Die Gesellschaft“, schreibt Krimi-Autor Wolf Haas, „geht her und gibt dem Polizisten Spitznamen, wo man im Grunde genommen nicht von Achtung reden kann. Ich weiß nicht, woran es liegt, vielleicht ein bisschen an der Angst, der Polizist könnte hergehen und die Gesellschaft verhaften.“ Auch für den Moment, in dem die Polizei ins Spiel kommt, hat Haas die richtigen Worte gefunden: Jetzt ist schon wieder was passiert.
Nach den Terroranschlägen in New York 2001 fuhr ich für eine Reportage zwölf Stunden lang Streife mit der Polizei durch den Berliner Regierungsbezirk. Marco, der Fotograf, gestand, dass er für Polizistinnen schwärmte, alle gut trainiert. Die Stimmung in der Stadt war nervös, plötzlich war Terror kein Fremdwort mehr. Zugeteilt wurden wir einem beflissenen Gespann, das unser Abenteuer wie staatsbürgerlichen Unterricht aussehen ließ, eindeutig zu wenig Schimanski. Darum stiegen wir nach der Pause in eine andere Streife. Die beiden Polizisten erwiesen sich, wenngleich in Uniform, als Cops im Trenchcoat. Als der erste Notruf eintraf, drehte sich einer zu uns um und rief: festhalten, Jungs! Die Sirene heulte auf und leuchtete in die Nacht. Der andere sagte: Jetzt geht’s langsam los. Aber den Täter haben wir nicht gefasst. Vor einem Wohnhaus, gegenüber einer Kita, war ein verdächtiger Gegenstand abgestellt worden, eine dicke schwarze Akten tasche. Unsere Streife fuhr hin. Aber anfassen wollte die Tasche dann keiner. Könnte sie explodieren? Wie würden Sie entscheiden? Solche Fälle überließen sie gerne dem Chef. Der musste extra herkommen und überlegen, ob es einen Roboter brauchte, der die Bombe schneller zusammenschießt, als sie sich zu explodieren traut. Er scheuchte uns weg, ehe er im Licht der Taschenlampe an den Schnappschlössern zog. In Kreuzberg gerieten Gruschenka und ich an Nachbarn mit viel Alkohol und Gerumpel, verlässlich zu laut. Einmal flehte uns die Tochter an, die Polizei zu rufen. Es war kurz nach Mitternacht. 110 gilt oft als Lösung, wenn auch nicht immer die schnellste, denn niemand ging ran, auch beim zweiten Mal nicht. Erst als Gruschenka mit dem Handy anrief, hob jemand ab. Wir hörten Schreie und einen Krach, als würden Möbel zerlegt. Dann flüchtete die Tochter heulend das Treppenhaus hinunter, ich also raus und ihr nach, ohne einen Schimmer, was mich erwartete. Unten bei den Briefkästen sah ich sie liegen, sie schrie und zappelte, und im selben Moment stürzten Polizisten herein. Einer, der mich für den Angreifer hielt, warf sich mutig entgegen: Was ist hier los? Wäre ich schwarz und in Minneapolis zu Hause, ich wäre nicht mehr am Leben. Ich denke an Max und die anderen, und ich denke nicht schlecht von ihnen. Trotzdem sage ich meinen Gästen im Theater an der Ruhr, einer Polin, einer Chinesin, einem Syrer und einem Senegalesen, die alle Deutsche sind: Sicherer als zurzeit könnt ihr euch in Mülheim nicht fühlen. Keine Polizei. Denn gerade sind dreißig Polizisten in der Stadt wegen rechtsradikaler Umtriebe aus dem Dienst entfernt worden. //
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Als der Mann mit dem Blazer den Popomaler traf Bei ihrer neuesten Produktion „Fotballspelet“ im westnorwegischen Dale werden Vegard Vinge und Ida Müller von der Skandalpresse gejagt von Therese Bjørneboe
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n einem Jahr mit geschlossenen Sälen stellte es sich als Vorteil heraus, dass es weder ein Theater noch ein Kulturhaus im kleinen Dorf Dale in Westnorwegen gibt. Hier organisiert das Regie-Paar Torkil Sandsund und Miriam Prestøy Lie seit 2013 ein Festival. Als sie das Programm für dieses Jahr planten, hatten sich ressourcen-
stärkere Festivals bereits genötigt gefühlt, ihre Ausgaben aufgrund von Corona abzusagen. Die Unsicherheit in der Theaterszene war demnach groß, weswegen sich Sandsund und Prestøy Lie in der Verantwortung sahen, ein Zeichen der Hoffnung zu setzen. Das
2:1 für Vinge und Müller – Das Künstlerduo wiederholt in „Fotballspelet“ den legendären Erfolg der norwegischen Nationalmannschaft gegen England im Osloer Ullevål Stadion 1981. Fotos David Zadig
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estival ins Internet zu übertragen, war für sie keine Option. Sie F hätten es als „Armutszeugnis“ empfunden, nicht nur für die Kunst, sondern auch für ihr Theaterfestival, das in erster Linie ein Treffpunkt sein soll: ein Live-Erlebnis, bei dem sich Kunst und Publikum, darunter viele Weitgereiste, begegnen. So gaben die Festivalleiter den Künstlern den Auftrag, neue Arten der Publikumsbegegnung zu erforschen. Der Choreograf Jonas Øren tanzte zehn Tanzsolos in zehn verschiedenen Gärten, andere Inszenierungen spielten sich in Bootsschuppen, den Privatautos des Publikums (angeleitet via Handy) oder draußen auf dem Fjord ab. Das eigentliche Flaggschiff des Festivals aber war „Fotballspelet“ (Fußballspiel), die neuste Arbeit von Vegard Vinge und Ida Müller. Ursprünglich nur als Ausstellung ihrer Fußballsammelkarten-Gemälde gedacht (die in Berlin bereits 2017 im „Nationaltheater Reinickendorf“ das Herz vieler Zuschauer höherschlagen ließen), ließ sich Vinge bei einer ersten Besichtigung in Dale vom großen Fußballinteresse der Einwohner und der lokalen Fußballanlage inspirieren. Offenbar wurden bei ihm Erinnerungen an das legendäre Länderspiel zwischen Norwegen und England im Ullevål Stadion in Oslo 1981 wach, als Norwegen die Briten 2:1 schlug. In der zweiten Septemberwoche sollte es also zu einer Wiederholung des legendären Länderspiels kommen, doch führten Sturmwarnungen und Platzregen zunächst dazu, dass man die Inszenierung vom großen Kunstrasenplatz hinunter ins Zentrum
vegard vinge und ida müller
von Dale in ein Fachgeschäft für Farben verlegen musste. Neben dem epidemischen und meteorologischen Bedrohungsszenario hatte die Festivalleitung allerdings auch noch eine Krise ganz anderer Art zu managen. Vegard Vinge und Ida Müller hatten vorgesehen, als Fußballspieler Kinder der hiesigen Musik- und Kunstschule zu engagieren. Als Torkil Sandsund und Miriam Prestøy Lie im Internet jedoch in Zusammenhang mit Vinge und Müller auf Begriffe wie „Popomaler“ und „Stuhlgangkunst“ stießen, fragten sie sich: Wie würden die Eltern der Kinder darauf reagieren? Die Begriffe entstammen einer Medienhetzkampagne, mit der das deutsch-norwegische Künstlerduo in diesem Jahr konfrontiert war. Sie begann damit, dass auf einem anonymen FacebookProfil ein Videoclip der Vorstellung „John Gabriel Borkman“ gepostet wurde, Vinges und Müllers Ibsen-Bearbeitung, die 2013 im Prater der Berliner Volksbühne lief. In dem Video ist Vegard Vinge zu sehen, wie er mit einem Pinsel im Hintern versucht, ein Bild zu malen. Es handelt sich um eine Sequenz von 44 Sekunden Länge, herausgeschnitten aus einer Vorstellung, die (annähernd) zwölf Stunden dauerte. Das Facebook-Profil trägt den Namen „Verschwendungsombudsmann“ und soll offenbar die Funktion erfüllen, die Verschwendung öffentlicher Mittel zu beanstanden. Die Person, die den Account betreibt (vielleicht ist es sogar eine Gruppe), hat dabei eine Vorliebe für Künstler – und schnell erkannt, wie effektiv es ist, Dinge aus dem Kontext zu reißen. Rasch nahm sich die rechtslastige
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aktuelle inszenierung
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Online-Zeitung Nettavisen der Sache an und titelte reißerisch: che die geflügelten Worte wiederholte: „Fußball ist nicht Kunst. „Staatlich geförderte Popomalerei erntet Spott im Ausland: WahnFußball ist nicht Kultur. Fußball ist Fußball.“ Auch Fußball-Mersinn“. Der Verfasser des Artikels, der Journalist Espen Teigen, ist ein chandising-Artikel standen zum Verkauf. Vinge selbst wirkte in früherer politischer Berater von Sylvi Listhaug, Abgeordnete der Warhol der seinem Fußballfetisch gleichzeitig wie der Andy rechtspopulistischen Fortschrittspartei (FrP) und frühere JustizmiSchauspielkunst (Warhol hatte Fußballgrößen wie Toni Schumanisterin in der Regierung von Erna Solberg (im Januar trat die FrP cher und Franz Beckenbauer porträtiert) sowie wie ein Autoaus der Koalition mit den Konservativen aus). Die ausländischen grammjäger auf der Jagd nach einer Vaterfigur. „Fotballspelet“ war ein auf vielen Ebenen nostalgisches ErlebQuellen, die Teigen zitierte, waren Medien aus Ungarn und Russland. Auch von anderen Medien wurde die „Popomaler“-Sache nis, was sich für ein norwegischsprachiges Publikum bereits im Titel abzeichnete. Das Wort „spel“, das Nynorsk ist, also auf norweaufgegriffen, wie etwa vom Dagbladet, einer der drei großen Tageszeitungen in Norwegen, die selbst als liberal gilt, oder vom staat gischen Dialekten und nicht auf der dänischen Schriftsprache balichen norwegischen Rundfunk- und siert (Norwegen war bis 1814 fast 450 Jahre unter dänischer Krone) spielt Fernsehsender NRK. Das für seine Kulturberichterstattung ehemals recht im Gegensatz zu „spill“ (das Es war ein denkwürdiger Anblick, nämlich Bokmål oder Riksmål ist) auf sogeangesehene Dagbladet interviewte den altmeisterlichen Künstlerpromi Odd nannte „historiske spel“, also Histo als das Dale Musikkorps in rienspiele an. Die unbestreitbar volksNerdrum, ein Maler und Autor, der Uniformen mit unverkennbarem mit seiner neokonservativen Malerei tümliche Theaterform in Norwegen – im Stil der Alten Meister durchaus und damit ein echtes Heimattheater. Ida-Müller-Look anmarschiert kam Diese „historiske spel“ handeln von erfolgreich ist und sich nie eine Gelegenheit entgehen lässt, gegen den und die „Internationale“ anstimmte. Heldentaten aus der lokalen Ge Norwegischen Kulturrat und seine schichte und haben eine einende Mittelvergabe zu Felde zu ziehen. und „patriotische“ Funktion. Der „Sind die Volksvertreter so feige, dass Cocktail, den Vegard Vinge und Ida sie es nicht wagen, das zu stoppen?“, fragte Nerdrum und bekam Müller aus pathoserfüllten Tableaus, Comic-Kunst, Videos aus dem prompt von der FrP-Politikerin Silje Hjemdal eine Antwort. GeDorf und Höhepunkten des Länderspiels von 1981 angerührt hatgenüber der Online-Zeitung Nettavisen behauptete sie, sich hinter ten, gewürzt mit dem überzeugenden Zeitlupenspiel der Kinder, das „Armlängen-Abstands“-Prinzip zu stellen, ein in der norwegigehörig viel Rauch und einem Schuss Cheerleader-Tanzakrobatik, schen Kulturpolitik verwendeter Begriff, der im Sinne der Kunsthatte – wie sich herausstellte – eine entwaffnende Wirkung auf den freiheit besagt, dass eine Armlänge Abstand zwischen Politik und Journalisten Espen Teigen von Nettavisen, der vermutlich in ErwarKunst bleiben soll, was beispielsweise bedeutet, dass Mittel durch tung eines riesigen Skandals nach Dale gereist war. „So lief es, als der Mann mit dem Blazer den Popomaler traf“ lautete die Titelzeile dazwischengeschaltete unabhängige Institutionen wie einen Kulturrat vergeben werden. Allerdings, so sah es Hjemdal, gelte dies seines anschließenden Artikels. nur unter gewissen Bedingungen: „Jeder, der Farbe aus seinem Darin äußerte Teigen zwar viele Vorbehalte, etwa, dass Anus spritzen lassen möchte, soll das volle Recht dazu haben. „trotz einer Bewilligung von drei, vier Millionen Kronen“ die EinAber es setzt voraus, dass er es aus seiner eigenen Tasche bezahlt trittskarten „rund 350 Kronen pro Kopf“ gekostet hätten und man dafür zwei Stunden lang draußen im strömenden Regen habe ste(…), dass er es in seiner Freizeit macht, und nicht, dass die Steuerzahler dafür zur Kasse gebeten werden.“ In Dale wurde die Gefahr, hen müssen. Auch den Hinweis, dass „Vegard Vinge der Allgedass die Eltern kalte Füße bekommen, dadurch abgewendet, dass meinheit vor allem durch mehrere Theatervorstellungen bekannt“ geworden sei, „die Stuhlgang, Urin und gerne das Malen mit das Festival fälschlicherweise lediglich Ida Müllers Namen im Programm angab. „Ich ließ den Fehler stehen“, räumt Miriam Hilfe eines Penis involvieren“, konnte er sich nicht verkneifen. Dennoch zog er den Schluss, dass in Zeiten, in denen „PatriotisPrestøy Lie lachend ein. Die vollständigen Informationen über die Gruppe habe sie dem Abendzettel beigefügt. mus und Nationalgefühl“ in der norwegischen Gegenwartskunst oftmals fehlten, ausgerechnet dieser Abend genau diese Gefühle „Fotballspelet“ wurde am 11. September angepfiffen, unter den Blicken stolzer Eltern und mit dem Direktor der Musik- und erzeugte. „Die Vorstellung fesselte die Aufmerksamkeit des Publikums, trotz des grauenhaften Wetters.“ Kunstschule in der Rolle des Schiedsrichters. Es war ein denkwürWie der aufmerksame Leser registriert haben wird, fiel diger Anblick, als das Dale Musikkorps in Uniformen mit unverkennbarem Ida-Müller-Look anmarschiert kam und auf dem Platz Espen Teigen nicht auf, dass das Dale Musikkorps die „Internatiovor dem Farbenhandel die „Internationale“ und „Der Sieg folgt nale“ zu Gehör brachte (tatsächlich sogar zweimal). Das ist vielunseren Fahnen“ aus den Glanztagen der norwegischen Arbeiterleicht einer „Verdrängung“ geschuldet, genauso gut kann es aber bewegung anstimmte. Die Fenster waren mit Panini-Sammelkarsein, dass er sie schlicht und ergreifend nicht erkannt hat. ten-Gemälden bedeckt, das Firmenschild in Kinderhandschrift Das Spiel endete mit 2:1 für Vinge und Müller. Dennoch steht nach dieser „Charmeoffensive“ die Frage im Raum: Wie wird sich mit „Die Helden von Ullevål“ übermalt. Nachdem Vinge das Pub aden manövriert hatte, stieß man likum nach und nach in den L das Gefühl, von Skandalpresse und Smartphones verfolgt zu werdort auf den legendären Radiojournalisten Bjørge Lillelien sowie den, auf die zukünftigen Vorstellungen der Truppe in Norwegen auswirken? // Aus dem Norwegischen von Alexander Sitzmann. den Fußballbuch-Autor Dag Solstad in Gestalt einer Puppe, wel-
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protagonisten
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Mensch Myer! Eine Entdeckung zum 25. Todestag – Heiner Müllers bislang unveröffentlichtes Drehbuch-Exposé „Myer und sein Mord“ fürs DDR-Fernsehen
von Thomas Irmer
Das am besten und ausführlichsten gestaltete Treatment „Myer und sein Mord“ behandelt die Rolle des Fernsehens selbst in Form einer Parabel: Der Hauptfigur, einem kleinen Angestellten in London, wird nach der Anschaffung eines Fernsehgeräts die Frau fremd, da diese sich in den Moderator einer Ratgebersendung ver chon lange, bevor der Sendebetrieb des DDR-Fernsehens am 31. Dezember 1991 eingestellt wurde und die Büros entspreliebt und den Gatten vernachlässigt. Dieser plant, nachdem er vergeblich das Äußere des Fernsehstars zu imitieren versucht hatte, chend dem Einigungsvertrag bereits aufgelöst waren, hatte ein den Mord am Moderator. Der wiederum stirbt v orher von selbst an Hefter mit Texten Heiner Müllers das Fernsehzentrum in Berlin Adlershof verlassen. Es handelte sich um 29 nicht datierte und einer Alkoholvergiftung. Und zwar – Verwechslung von Präsenz vom Autor nicht gezeichnete Typoskriptseiten, unveröffentlicht und vermeintlichem Live-Charakter des Mediums – noch bevor und bislang in der umfangreiseine letzte Sendung zu sehen chen Sekundärliteratur zu Heiist. In einer finalen Wendung ner Müller nicht behandelt. wiederholt sich die AusgangsChrista Vetter, die den situation, denn die Frau verfällt „Myer und sein Mord“ ähnelt in auch dem seinem Vorgänger Hefter bewahrte und seinerzeit seiner Lakonie und seinem bösen Witz an sich nahm (er wäre wohl ähnlichen Nachfolger des Moderators. Das Fernsehen selbst sonst im Müll gelandet), war in Müllers frühen Prosastücken. stellt gleichsam sein eigenes den 1960er Jahren DramaturProblem dar. gin für Fernsehspiele beim In der „Hamletmaschine“ Fernsehen der DDR und zuvor am Berliner Maxim Gorki Thewird Heiner Müller später ater tätig gewesen, wo sie Arbeiten von Müller betreut hatte. Das schreiben: „Fernsehen der tägliche Ekel am verordneten FrohKonvolut umfasst insgesamt 15 Texte in unterschiedlicher Ausfühsinn.“ „Myer und sein Mord“ ist der einzige Entwurf für ein Original-Drehbuch in diesem Konvolut und ähnelt in seiner Lakonie rung, vom ausgeschriebenen Treatment bis zur knappen Skizze und seinem bösen Witz Müllers frühen Prosastücken wie „Der als vermutlicher Stoffprobe: Entwürfe für kleine Fernsehspiele beziehungsweise eventuelle Literaturverfilmungen. Bankrott des großen Sargverkäufers“, geschrieben 1951. Das TreatDiese Entwürfe schrieb Heiner Müller in den Jahren nach ment muss jedenfalls zum Werk gerechnet werden. Alle anderen Entwürfe verarbeiten Welt-Literatur (Poe, 1961 offenbar als Auftragsarbeiten. Der biografische Hintergrund sind die Hungerjahre nach dem Ausschluss aus dem Schrift Mérimée, O. Henry, Hawthorne, Twain, Hašek) und den heute unbekannten Arthur Rundt, einen deutschen Amerika-Emigranten. stellerverband. Kulturgeschichtlich kommt die planvoll vermehrte Einmal mehr wird also die Stoffbeute in der amerikanischen LiteProduktion von Fernsehspielen im Deutschen Fernsehfunk ratur deutlich, die Heiner Müller hier für noch Kommendes Anfang der sechziger Jahre hinzu, als Stoffe für das noch junge sammelt. Darüber hinaus dürfte die erzählerische Raffung von Medium gefragt waren: für Müller ein wohl wichtiger anonymer Broterwerb in der Beauftragung durch Christa Vetter. komplexen Geschichten als Erfahrung in sein Schreiben mit eingegangen sein. Stofflich haben die 15 Entwürfe wenig bis gar nichts mit Vom Fernsehen indes wurde kein einziges Projekt weiter Müllers bis dahin entstandenem Werk zu tun und dürften zwar keine besonders komplizierte, aber doch ungewöhnliche Aufgabe vorangetrieben. Im hier faksmilierten Myer-Typoskript sind die für ihn dargestellt haben. Trotzdem gibt es Bezüge zu späteren Korrekturen ganz offensichtlich von Heiner Müllers Hand. // Arbeiten zu entdecken. Mit Dank an Wolfgang Rindfleisch
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Foto David Baltzer (Heiner Müller) / spyrakot– stock.adobe.com (Fernsehgeräte)
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Vorhang zu für Betonköpfe Vom Lockdown überschattet, aber trotzdem im Aufbruchsmodus – Barbara Mundels Intendanzstart an den Münchner Kammerspielen von Christoph Leibold
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enn es stimmt, was manche sagen – nämlich, dass Geschichten am besten von ihrem Ende her erzählt werden sollten –, dann ist dies eine eher traurige Geschichte. Dabei handelt sie eigentlich von der Aufbruchsstimmung eines Anfangs. An den Münchner Kammerspielen ist Intendantin Barbara Mundel neu gestartet. Keine leichte Aufgabe als Nachfolgerin von Matthias Lilienthal, der nach zähem Beginn zuletzt große Erfolge feierte. Die Messlatte liegt entsprechend hoch. Doch daran verschwendet Mundel längst keine Gedanken mehr. Die neue Mannschaft an den Kammerspielen hat ein viel größeres Problem: Corona. Falk Richter, als Hausregisseur Teil des neuen Leitungs teams, sagt eine Woche vor Beginn der neuen Spielzeit: „Die mit Corona verbundenen Einschränkungen sind ein so schwerer Eingriff in die Kunstfreiheit, dass wir uns fragen müssen, wie wir überhaupt noch aufregendes Theater machen können? Das hat für mich die Frage nach Matthias Lilienthal so dermaßen überschattet, dass ich daran gar nicht mehr denke. Ehrlich gesagt, denke ich oft eher: Hoffentlich findet die Premiere statt!“ Immerhin, sie kann stattfinden, wie auch eine stattliche Reihe weiterer Premieren seit dem 8. Oktober, an dem Richter die Spielzeit mit einem eigens zu diesem Anlass geschriebenen Stück eröffnet. Ein vielversprechender Auftakt. Doch keine vier Wochen nach diesem Aufbruch folgt der vorläufige Abbruch der Saison. Lockdown! Das traurige Ende dieser Geschichte. Aber von vorn: An jenem 8. Oktober, an dem es losgeht, steht Barbara Mundel im Foyer der Kammerspiele, um das hereintröpfelnde Publikum zu begrüßen. Normalerweise wäre bei so einer Eröffnungspremiere das Gedränge groß. Weil Abstandhalten aber das Gebot der Stunde ist, dürfen nur 200 Menschen ins Schauspielhaus mit seinen rund 650 Plätzen. Die Atmosphäre ist entsprechend gedämpft, fürs Erste aber hilft die Euphorie des Anfangs über die Tristesse des dünn besetzten Zuschauerraums hinweg. Auf der Bühne tritt die Kunst die Flucht nach vorn an und macht die Situation zum Thema. Das verrät schon der Titel von Falk Richters Stück: „Touch“, also: „Berührung“. Zu erleben ist ein Patchwork aus gespielten und getanzten Szenen (Choreografie Anouk van Dijk), die die gängigsten Facetten der Gemüts- und Geisteszustände bündeln, die unser pandemiegebeuteltes Gemeinwesen beherrschen: Verschwörungstheoretisches und Untergangsprophetisches; Verunsicherung und Vereinsamung. Auf der Spielfläche liegen künstliche Eisplatten, vereinzelt wie Schollen im Meer. Ähnlich verloren irrlichtern die Tänzerinnen und Tänzer, Schauspielerinnen und Schauspieler anfangs auf der Bühne umher, getrieben von frostigen Elektro-Sounds. Sie weichen einander aus, meiden die Begegnung. Das ist den geltenden Hygieneregeln geschuldet, hier aber auch plausibles Erzählprinzip. Später stecken mehrere Akteure in Plexiglashäuschen, wo sie gegen durchsichtige Wände anrennen, zuckend und zappelnd wie Fliegen unterm Glassturz. So machen van Dijk und
Sehnsucht nach Nähe unter Plexiglashäuschen – Falk Richters Auftaktinszenierung „Touch“, hier mit Joseph Gebrael (links) und Erwin Aljukić. Foto Sigrid Reinichs
münchner kammerspiele
Richter die Kehrseite der Berührungsangst sichtbar: eine ungestillte Sehnsucht nach Nähe. Im steten Wechsel zwischen Tanz und Text entwickelt „Touch“ schnell einen ansprechenden Spielrhythmus, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Aufführung inhaltlich lange kaum vom Fleck kommt. Da ist vieles allzu bekannt und auch redundant (so zumindest der Eindruck bei der Premiere; wir kommen später darauf zurück). Auf die gegenwartsdiagnostische Bestandsaufnahme im ersten Teil folgt in der zweiten, stärkeren Hälfte der Blick aus einer imaginierten Zukunft zurück auf diese Gegenwart. Die durch Corona getriggerte Angst vor dem sprichwörtlichen „Ende der Welt, wie wir sie kannten“ erweist sich aus dieser Perspektive als Sorge einer wohlhabenden, weiß dominierten Mehrheitsgesellschaft, die vor allem den Verlust ihres privilegierten Lebensstils fürchtet, der auf postkolonialer Ausbeutung und rassistischer Ausgrenzung basiert. Höhepunkt des Abends ist eine fulminant jelinekartige Suada, performt von Schauspielerin Anne Müller, die sich, ausstaffiert mit Reifrock und Perücke, als Kaiserin MarieAntoinette selbstmitleidig über ein Volk erregt, das sie immerfort enthaupten will, und zynisch über Flüchtlinge echauffiert, die besser mal hätten schwimmen lernen sollen (dann würden sie nicht im Mittelmeer ertrinken), um sich schließlich, wie weiland Horst Seehofer, über die Abschiebung von 69 Asylbewerbern zum 69. Geburtstag zu freuen. Marie-Antoinettes gibt es eben immer wieder, damals wie heute. Touché! Zudem erfreulich an dieser Inszenierung: Obwohl sie Corona offensiv thematisiert, fühlt sie sich in keinem Moment nach keimfreiem Theater an, allein schon, weil hier die stattliche Anzahl von 13 Menschen die Bühne füllt. Mit großer Besetzung hat auch Jan-Christoph Gockel Ernst Tollers autobiografisches Buch „Eine Jugend in Deutschland“ adaptiert: zehnköpfiges Ensemble, dazu Puppen von Michael Pietsch. Toller selbst tritt als Marionette mit dunklen schwarzen Augen und fragendem Blick auf: hinreißend. Ansonsten aber entpuppt sich der Abend als uninspiriert zusammengestöpselte Kombination aus Schauspieler- und Puppentheater mit (Live-)Videound Gesangseinlagen. Anything goes, aber nichts zündet. Auch der Versuch, Tollers Lebenserinnerungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Münchner Räterevolution von 1918/19 mit den Biografien der Schauspieler zu koppeln (der 81-jährige Walter Hess zum Beispiel wurde ein paar Monate vor Tollers Tod 1939 geboren), kommt über die Anfangsidee nicht hinaus. Immerhin aber präsentiert sich auch hier ein Theater, das sich nicht auf pandemiekonformes Kleinformat zurechtstutzen lassen will. „Wir wollen uns weiterhin was trauen!“, sagt Barbara Mundel. Und: Sie will offen auf die Stadt zugehen. Auf die ganze Stadt wohlgemerkt. „Welche Form von Verdrängung findet hier statt? Wie divers ist München wirklich? Wer lebt an den Rändern?“ Das sind essenzielle Fragen, die sie beschäftigen. „Das ist nicht München-spezifisch, sondern in vielen Groß städten ein Riesenproblem, aber in München ganz besonders. Es fehlen Freiräume. Darum fragen wir uns: Wie schaffen wir es, mit unserer künstlerischen Arbeit über das Zentrum dieser Stadt, in dem wir rein geografisch angesiedelt sind, hinauszuwirken?“
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Eine Antwort darauf: Mundel möchte möglichst viele „Menschen in künstlerische Prozesse verwickeln“. Exemplarisch dafür: „Habitat / München“, eine Tanzperformance mit zwölf Münchnerinnen und Münchnern, deren nackte Leiber Choreografin Doris Uhlich zu den Techno-Beats eines DJs aufeinanderprallen lässt. Die zwölf klatschen sich auf ihre blanken Bäuche und Brüste oder lassen Schenkel und Pobacken auf den Bühnenboden platschen, dass es klingt wie beim Schnitzelklopfen. Ihre kollektive Nacktheit hat etwas Egalitäres: Alle setzen sich gleich ungeschützt den Blicken des Publikums aus. Andererseits treten die Unterschiede diverser Körperformen besonders offenkundig zutage. Was an „Habitat / München“ darüber hinaus sichtbar wird: Barbara Mundel schreibt die performanceorientierte, postdramatische Linie von Matthias Lilienthal fort. Jan-Christoph Gockels Toller-Abend ist die einzige Inszenierung im Eröffnungsreigen, die auf den Text eines Autors aus dem Literaturkanon zurückgreift. Zudem ist Mundels Ensemble noch ein Stück diverser als das ihres Vorgängers, umfasst es doch nun auch Menschen mit
Barbara Mundel wurde 1959 in Hildesheim geboren. Sie studierte Neuere deutsche Literageschichte und Theaterwissentur, Kunst schaft und arbeitete als Dramaturgin an Häusern wie dem Theater Basel, der Volksbühne Berlin und den Münchner Kammerspielen. Von 1999 bis 2004 war sie Direk torin des Luzerner Theaters und von 2006 bis 2017 Intendantin am Theater Freiburg. Dort widmete sich Barbara Mundel der programmatischen Frage nach dem „Stadttheater der Zukunft“. Mit der Spielzeit 2020/21 übernahm Mundel als Nachfolgerin von Matthias Lilienthal die Intendanz der Münchner Kammerspiele. Foto Maurice Korbel
Handicap. In „Touch“ zum Beispiel spielt der glasknochenkranke Erwin Aljukić mit. Die wegen einer neuromuskulären Erkrankung auf den Rollstuhl angewiesene Lucy Wilke ist mitsamt ihrer Produktion „The Scores that shaped our friendship“ über Intimität und fragwürdige Körpernormen aus der freien Szene an die Kammerspiele gewechselt. Und in „Ich bin’s Frank“ steht die mit Trisomie 21 geborene Julia Häusermann auf der Bühne. Deren Performance feiert die Kraft der Behauptung. Häusermann schlüpft mit Hingabe in verschiedenste Rollen, vom Schlagersternchen bis zum titelgebenden Seifenopernhelden Frank Lewinsky aus „Verbotene Liebe“, und bleibt doch auf bewundernswerte Weise stets ganz bei sich. Im jugendstilvergoldeten Rahmen des Schauspielhauses, das viele noch immer als Hort einer hehren Schauspielkunst herkömmlicher Art gewahrt sehen wollen, ist das eine starke Setzung. Gleiches gilt für „Liebe. Eine argumentative Übung“. Das Stück der israelischen Autorin Sivan Ben Yishai, das als Stimmenchor angelegt ist, verhandelt unter anderem weibliche Körperscham. Regisseurin Heike M. Goetze macht daraus ein Solo für Schauspielerin Johanna Eiworth, die weite Teile des Abends in schambefreiter Nacktheit agiert.
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Auf feministische Perspektiven legt Barbara Mundel als erste Frau an der Spitze der Münchner Kammerspiele besonderes Augenmerk. Eine der Nebenspielstätten, die ehemalige Kammer 2, hat sie in Therese-Giehse-Halle umgetauft. Zudem grüßt die legendäre Münchner Schauspielerin nun als Büste im Foyer des Schauspielhauses, das bisher ausschließlich männliche Theaterheroen bevölkert haben. Während die Herren aus Bronze gegossen sind, hat Künstlerin Kate Isobel Scott Giehses Charakterkopf aus Pappmaché geformt. In der Wahl des Materials steckt einiges an Symbolkraft: Flexibilität und Formbarkeit statt Starre und Sturheit. Auch Barbara Mundel will als Theaterchefin definitiv kein Betonkopf sein. „Sie versucht“, berichtet Falk Richter, „Leute in flachen Hierarchien zusammenzubringen. Alle können und sollen sich einbringen. Vom leitenden Regisseur bis zum Hospitanten werden alle gehört.“ Corona hat diesen Austausch allerdings erheblich erschwert. Ensemble-Versammlungen zum Beispiel konnten bisher nur digital abgehalten werden: eine Hypothek für die Teamgeist-Findung. Mittlerweile wirkt das aber beinahe wie ein Luxusproblem. Kurze Chronologie der sich zuspitzenden Lage: Durfte das Publikum anfangs die Masken während der Vorstellung noch abnehmen, wurde schon bald Mund-Nasenschutz für die gesamte Aufführungsdauer Pflicht. Es folgte in Bayern die Reduzierung der maximal zulässigen Zuschauerzahl von 200 auf lediglich 50. Und noch während Barbara Mundel gemeinsam mit anderen Intendanten in einem offenen Brief an die Staatsregierung gegen diese Verordnung protestierte, wurde in Berlin der neuerliche Lockdown beschlossen. Fatal, findet Mundel. Die Theater müssten offenbleiben – nicht trotz, sondern wegen der Pandemie, denn „die Corona-Krise ist nicht nur eine medizinische und wirtschaftliche Krise. Unsere Gesellschaft steht unter massivem Druck. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist gefährdet. Gerade deshalb brauchen wir jetzt kulturelle Angebote. Wir müssen über die Zukunft und das Zusammenleben unserer Gesellschaft sprechen.“ Am Abend vor dem Lockdown zeigen die Kammerspiele noch einmal „Touch“. Interessant, wie sich die Wahrnehmung seit der Premiere verändert hat. Erschienen Falk Richters Reminiszenzen an den Corona-Frühling damals ein wenig abgegriffen (weil seit den Lockerungen nach dem Lockdown bereits von neuen Erfahrungen überschrieben), wirken sie nun, die neuerliche Schließung vor Augen, fast schon kassandrahaft verstörend. „Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen“ hat Barbara Mundel als Motto für ihre erste Spielzeit ausgegeben. Die Realität zeigte ihrerseits kein Einsehen und verschonte das Theater nicht. Im Anschluss an die vorerst letzte Vorstellung von „Touch“ am 1. November gibt es noch einen Zuschlag: „Last Assembly“. Eine letzte Versammlung, bis Punkt Mitternacht die Lichter ausgeknipst werden. Eine Art Open-Stage-Programm. Lucy Wilke singt im Duo mit ihrer Mutter Bluesiges. Falk Richter liest einen Text über Europa. Lukas Karvelis aus dem „Touch“-Ensemble tanzt ein Solo. Es ist wie bei einem Leichenschmaus, fröhlich trotz des betrüblichen Anlasses. Dabei wird eine unerschütterliche Energie spürbar, die Optimismus weckt: Dass sich das Theater nicht unterkriegen lässt! So bekommt diese traurige Geschichte doch noch ihr hoffnungsvolles Ende. //
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Falten oder Knüllen Theater als basisdemokratisches Produkt – Das neue Basler Schauspielleitungsteam setzt ein programmatisches Ausrufezeichen von Dominique Spirgi
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ls das Theater Basel „heimatlose Helden“ und „die letzten Fragen zum drohenden Ende der Welt“ zum roten Faden der Spielzeit erklärt hatte, war das Coronavirus noch nicht von Fledermäusen auf die Menschheit übergesprungen. Als die neue „Basler Compagnie“, wie sich das Ensemble selbst nennt, die konkrete Arbeit aufnahm, war es aber längst so weit, dass die Pandemie zum fast alles beherrschenden Hindernis geworden war. Es handelte sich also um einen Neustart unter mehrfach erschwerten Bedingungen, und das war nicht nur der Corona-Krise geschuldet. Benedikt von Peter, der von Luzern nach Basel berufen worden war (und bis zum Ende der Spielzeit mit einem halben Bein immer noch dort ist), musste seine erste Basler Saison auf einer Baustelle beginnen. Im großen Haus mit Baujahr 1975 wurden in der verlängerten Sommerpause die Fassade und der Bühnenturm totalsaniert.
Das hinderte von Peter und sein Team aber nicht daran, beim Auftakt zur neuen Ära im Oktober gleich mit der ganz großen Kelle anzurichten. Dabei nahm der neue Intendant einen personellen Kollateralschaden in Kauf: Die kaufmännische Direktorin Henriette Götz verließ das Haus. Als Begründung wurden „unterschiedliche Auffassungen zwischen ihr und dem neuen Intendanten über die zukünftige Führung des Theaters“ angegeben. Dem Vernehmen nach hatte Götz auf einen vorsichtigeren, das heißt sparsameren Neubeginn gepocht. Bei der Spielzeiteröffnung im von Umbauten glücklicherweise verschont gebliebenen Schauspielhaus ist, abgesehen von den ausgedünnten Sitzreihen im Zuschauerraum und der
Theater, von dem man mehr sehen möchte – Antú Romero Nunes` Basler Eröffnungsinszenierung „Metamorphosen“ mäandert lustvoll durch Stile und Formen, hier mit Aenne Schwarz (links) und Anne Haug. Foto Maurice Korbel
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Art nicht ganz aufgehen wie bei der zweiten Schauspielproduk Maskentragepflicht, aber nichts von Krise zu spüren. Zumindest tion – oder aber komplett in der Bedeutungslosigkeit versanden. äußerlich nicht, denn inhaltlich geht es sehr wohl um die ganz große Krise – diejenige der Gott- und Menschheit, wie sie der römische Alle drei Varianten sind bei diesem Neubeginn zu erleben. Dichter Ovid in seinem monströsen Versepos „Metamorphosen“ Für das Projekt „Das Ende der Welt, wie wir es kennen“ hat die ausgebreitet hatte. Da kommt so ziemlich alles vor, was seinerzeit Compagnie – hier mit dem auch auf der Bühne präsenten Schauan griechisch-römischem Mythen- und Tragödienstoff zur Verfüspiel-Ko-Direktor Jörg Pohl als Primus inter Pares – mit David Lindemann einen Autor hinzugezogen, der gegenwärtig ja höchstaktuelle gung stand und bis heute in der Weltliteratur seinen Widerhall finUntergangs- und Überlebensthesen zusammenballt und ad absurdet. Der Stoff könnte ganze Spielpläne füllen, hier wird er in einen Abend gepackt. Man könnte auch sagen verquirlt, zuweilen etwas dum führt. Und man hat sich – welch treffliche und überaus praktioberflächlich verhuscht, aber immer wieder zu konzentrierten und sche Idee – auf der großen Opernbühne in die hyperrealistische abgründigen Momenten vertieft. Szenerie einer postapokalyptischen Welt eingenistet, die der ungarische Theaterausstatter Márton Ágh für die Mammutoper „Saint Berührend-komisch ist zum Beispiel der Monolog Medeas, François d’Assise“ von Olivier Messiaen geschaffen hat, mit der von zeitgenössisch transformiert zur Suada einer frustrierten Hausfrau. Peter als regieführender Intendant einen ambitionierten (wenn auch Zu erleben ist ein fulminant alle stilistischen Grenzen überschreietwas langfädigen) Neubeginn in der Operntendes Spiel, das unter der klugen Regie des Schauspiel-Ko-Leiters Antú Romero sparte markiert hatte: Zu sehen ist ein verwahrloster Parkplatz vor einem zerstörten Nunes mit überraschenden Volten aufwarEs ist eine ulkige Gruppe, französischen Hypermarché, auf dem sich tet und zudem in hintersinnige – und zudie sich hier zur Zivilisationsmüll stapelt und über den sich weilen auch in irrwitzige Albernheiten mündende – Satyr-Momente führt. Etwa als von lädierten Hochspannungsmasten aus postapokalyptischen WG sich der Darsteller des Tereus darüber bemit verkohlten schwarzen Papiervögeln beklagt, dass er als Vegetarier in der ihm aufzusammengeschlossen hat. setzte Leitungen spannen. Es ist eine ulkige Gruppe, die sich hier getragenen Rolle eine tatsächlich dargebotene Fleischpastete verspeisen muss, die am Ende der Welt zur postapokalyptischen vorgeblich seinen getöteten Sohn enthält. WG zusammengeschlossen hat. Da ist der Im Endloslied „Metamorphosen“ geht es, wie der Titel besagt, professorale Prepper, ein intellektueller Post-Hippie mit Dreadlocks, um die ständige Verwandlung, um die Geschichte und um GeschichSturmgewehr und Tarnanzug, der in einem doktrinären Demokratieten, wie sich die Menschheit von der göttlichen Ordnung (oder besser verständnis dafür sorgt, dass der totale Survival-Modus trotz aller eigentlich: vom göttlichen Chaos) zu emanzipieren versucht und Hoffnungslosigkeit aufrechterhalten bleibt. Er ist der einzige Mensch, letztlich daran scheitert. Nunes und das elfköpfige Ensemble haben der noch übrig geblieben ist, wenn man von Zven absieht, der zum hierfür einen Text verfasst, der sich wild und klug, berührend und Zombie mutiert ist, dem der „instabile“ Fleischvorrat Sorgen bereitet. unbändig witzig sowie lustvoll zwischen Stilen und Formen hinDazu kommt ein Androide mit dem Namen der griechischen Erdendurchmäandriert. Und für die hervorragende Live-Band unter der göttin Gaia, der sich scheut, das frisch heruntergeladene Programm Leitung von Anna Bauer hat Johannes Hofmann eine Reihe eingänfür „Schuld, Gewissen, Verantwortung“ zu aktivieren. Und schließgig swingender Songs komponiert, bei denen das Schauspielensemlich runden die niemals totzukriegenden Wesen Kakerlake, Bärtierble seine hohen gesanglichen Qualitäten unter Beweis stellen kann. chen und Pilz die Überlebensgesellschaft ab. Das alles verbindet sich zu einem stimmigen und sehr stimSie haben sich in dieser Welt nach deren eigentlichem Ende mungsvollen Ganzen. Nach einem vielleicht etwas schleppenden zusammengefunden und beschlossen, untereinander nicht zu Beginn gerät man als Zuschauer in einen regelrechten Sog. Das Fressfeinden zu werden, sondern stattdessen zusammen Wehrneue Schauspielensemble gibt hier ein großes Versprechen ab auf übungen durchzuführen und mit den Vorräten sorgsam umzugeein Theater, von dem man mehr sehen möchte, das ein Fest für hen. „Es reicht für alle! Es reicht nicht für immer, aber es reicht für alle“, sagt der Professor immer wieder. Und wenn das WCtolle Schauspielerinnen und Schauspieler (und hier auch Musikerinnen und Musiker) sein will und kann. Papier auszugehen droht, muss zu einem verantwortungsvollen Mit der Spielzeiteröffnung setzt das neue Leitungsteam – Umgang mit selbigem aufgerufen werden: „Falten oder knüllen“ neben Nunes der Schauspieler Jörg Pohl sowie die beiden Dramawird somit zur Kardinalfrage. turginnen Anja Dirks und Inga Schonlau – aber auch ein proDer rund anderthalbstündige Abend überrascht und vergrammatisches Ausrufezeichen. In Abgrenzung zum literarischen gnügt vor allem zu Beginn mit hinreißend komischen Momenten. Theater des nach München abgewanderten Vorgängers Andreas Das ist nicht zuletzt das Verdienst der Kostümverantwortlichen Beck, der die Neudichtung klassischer Stoffe zur „Basler DramaHelen Stein und Lena Schön, die grotesk-komische Wesen erturgie“ erklärt hatte, setzt die neue Leitung vorerst voll auf die Proschaffen haben. Auch hier ist ein Ensemble zu erleben, das mit seiner bis an (aber kaum je über) die Grenze zur Posse reichenden jekttheaterschiene. Und auf ein Theater, das die Compagnie in die Textfindung und Inszenierung mit einbezieht, um – wie das Spiellust überzeugt. Mit fortlaufender Dauer verliert das sich wiederholende Spiel Quartett selbst betont – die im Bühnenbetrieb nach wie vor verbreiteten hierarchischen Strukturen aufzuweichen. um Überlebensstrategien in einer Welt, in der es eigentlich nichts Das kann zu einem so vorzüglichen Resultat führen wie bei Überlebenswertes mehr gibt, aber an Spannung. Mehr und mehr „Metamorphosen“. Es kann aber auch auf überaus vergnügliche verfängt sich das Geschehen in einer diskursiven Endlosschleife.
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theater basel
der noch jungen Saison so Vielleicht hätte dem Abend spielfreudig präsentiert ab und zu ein etwas hierarhatte, so uninspiriert wie chischerer inszenatorischer sein selbst verfasster Text. Eingriff gutgetan. Zwei Tage nach der Dass Theater als baPremiere von „Hitchcock sisdemokratisches Erzeugim Pyjama“ folgte der Quanis auch ganz grundsätzsi-Lockdown. Der Schweilich scheitern kann, zeigt sich bei der dritten Schauzer Bundesrat verfügte Ende Oktober für öffentlispielproduktion mit dem che Veranstaltungen eine Titel „Hitchcock im PyjaObergrenze von 50 Persoma“. Dieses wiederum von der Compagnie verfasste nen. Nach einer kurzen Verschnaufpause entschloss Projekt kam schon mal mit drei Tagen Verspätung zur sich das Theater Basel dazu, trotz allem weiter zu Uraufführung – nicht etwa, weil ein Ensemblespielen. Allerdings nur noch auf der Kleinen Bühne und mitglied erkrankt war, sondern weil drei weitere Progezwungenermaßen vor lediglich 50 Zuschauerinbentage nötig gewesen nen und Zuschauern. seien, wie das Theater kurz Aber wie! Chefdrama vor der Premiere mitteilte. turin Inga Schonlau hat Aber da hätten wohl von ihrer früheren Arbeitsauch drei weitere Wochen Das neue Schauspielleitungsteam des Theaters Basel (v. l. n. r.): Antú Romero stelle am Zürcher Theater Probenzeit nicht mehr geNunes (1983*) war zuvor Hausregisseur am Maxim Gorki Theater Berlin Neumarkt ein Mitbringsel reicht, um einen Theatersowie am Thalia Theater in Hamburg. Die Dramaturgin Inga Schonlau abend zustande zu bekommit nach Basel gebracht, (1970*) arbeitete vor ihrer Basler Leitungstätigkeit an Häusern wie dem das einen die relative Einmen, der ansatzweise so Theater Freiburg oder dem Zürcher Theater Neumarkt. Anja Dirks (1970*) etwas wie Hand und Fuß samkeit im spärlich be leitete zuvor das Festival Theaterformen in Braunschweig und Hannover setzten Zuschauerraum verhat. Zu Beginn sitzt eine sowie das Festival Belluard Bollwerk International in Freiburg im Üechtland. Gruppe von Menschen – gessen lässt: „Café Populaire“ Der Schauspieler Jörg Pohl (1979*) war Ensemblemitglied des Schauspielder höchst begabten Autoallesamt im Pyjama – auf hauses Zürich sowie des Thalia Theaters Hamburg. Foto Christian Knörr einem übergroßen ovalen rin Nora Abdel-Maksoud, die hier auch als Regis Bett um einen langhaarigen Guru herum, der sich, seurin brillieren kann. Und ans Publikum gerichtet, als Alfred Hitchcock vorstellt. Er sei nicht die ein fantastisches, hinreißend komödiantisches Darstellerinam Inhalt, sondern vor allem am Suspense interessiert, sagt er. nen-Quartett (der eine Mann sei hier für einmal mitgemeint) zur Die Schlafanzüge und das Bett suggerieren, dass hier ein traumVerfügung hat, je hälftig zusammengesetzt aus der Urbesetzung wandlerisches Psychogramm der Titelfigur ausgebreitet werden und der Basler Compagnie. soll. Abdel-Maksoud macht das, was man in vielen Comedy- Programmen vorgesetzt bekommt: Sie seziert das gendergerechte Um das einigermaßen verstehen zu können, muss man im Programmzettel nachlesen, dass (Alb-)Träume in Hitchcocks und politisch korrekte Dasein der Bildungsklasse, bis die geifernWerk eine wichtige Rolle gespielt hätten. Dass der Master of Susde Furienhaftigkeit ausbricht. Im Mittelpunkt steht eine HospitzClownin, die Wege sucht, die deklariert Benachteiligten dieser pense ein Blondinenquäler gewesen sei. Und dass er hier seiner verstorbenen Muse Tippi Hedren – das ist die Blondine aus dem Welt satirisch zu amüsieren. Und die, von ihrer inneren Stimme überwältigt, mehr und mehr touretteartig aus dem Korsett der Horror-Klassiker „Die Vögel“ – in die für sie bereitete Unterwelt nachzusteigen habe. Wie einst Orpheus seiner Geliebten Eurydike Rücksichtnahme ausbricht. Die Autorin und Regisseurin vermittelt dies mit einer bosin den Hades folgen musste, um als Prototyp des Männlichen so etwas wie die weibliche Quelle seiner Inspiration wiederzufinden. haft-tiefgründigen Hintersinnigkeit, die alles bislang auf diesem Gebiet Erlebte in den Schatten stellt: großes Theater halt und So also ist es im Programmzettel zu lesen. Das alles wirkt auf der Bühne kaum nachvollziehbar. Regisnicht nur Comedy. Am Schluss applaudieren die lediglich 50 Zuschauerinnen seurin Charlotte Sprenger hat symbolbeladene, mehr oder weniger aber willkürlich hingeworfene Szenen-Versatzstücke aneinanund Zuschauer im mit rund 270 Plätzen ausgestatteten Saal beidergereiht, in denen die Darsteller niemals Halt finden. An der nahe so, als wäre er voll. Und alle sonnen sich, amüsiert und auch Rampe wird chargiert, im Pool sich herumgewälzt. Dabei wirkt nachdenklich, im Gefühl, welch ein Glück es ist, dass Theater irdas neue Ensemble, das sich in den ersten beiden Produktionen gendwie doch noch sein kann. //
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Spiel mir das Lied vom Theater Das Berliner Kinder- und Jugendtheater an der Parkaue feiert seinen 70. Geburtstag
von Patrick Wildermann
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ls aus der kleinen schwarzen Handtasche die Hymne „God Save the Queen“ erklingt, kommt Bewegung in die Gruppe. Schauspieler Denis Pöpping auf hochhackigen Schuhen verwandelt sich in „Ihre Majestät“, zwei Kollegen schieben ihm einen bereitstehenden Ohrensessel unter und lassen den huldvoll Winkenden durch Reihen begeisterter Untertanen fahren. Alles ohne Worte. Und stopp. Regisseur Gregory Caers unterbricht die Szene, bespricht mit seinem achtköpfigen Ensemble die passende pantomimische Jubelexpression und den authentisch-königlichen Einstieg in das Plüschmöbel. Bei dem akribischen Bilderschöpfer muss jedes Detail sitzen. Caers – geboren in Brüssel und bis vor Kurzem Künstlerischer Leiter am Jugendtheater Hofplein in Rotterdam – probt im Theater an der Parkaue gerade das selbst erfundene Stück „Pythonparfum und Pralinen aus Pirgendwo“ für Menschen ab fünf. Das spielt in einem Hotel aus versunkenen Zeiten und beschwört eine Atmosphäre schrulliger Nostalgie. Der Regisseur, der den schwedischen Filmemacher Roy Andersson („Songs from the Second
Floor“) zu seinen Vorbildern zählt, lässt hier eine Reihe seltsamer Charaktere aufeinandertreffen und in stummen Choreografien die verschiedensten Welten ineinanderfallen. „Ich versuche, Geschichten wie ein Maler zu erzählen“, sagt Caers. Er arbeitet zum ersten Mal an Berlins jungem Staatstheater, seine Produktion soll das große Weihnachtsstück werden. „Pythonparfum“ erfüllt zwar nicht gerade die Erwartungen an ein marktgängiges Unterhaltungsmärchen. Aber das ist für Parkaue-Verhältnisse wiederum wenig ungewöhnlich. Das Kinder- und Jugendtheater in Lichtenberg hat gerade seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Ein Jubiläum, das gleich in mehrfacher Hinsicht in eine Umbruchzeit fällt. Zum einen wirbelt natürlich auch hier die Corona-Pandemie die Spielpläne ordentlich durcheinander. Zum anderen wird das Haus momentan von einem Interimsteam aus Intendant Florian Stiehler, Chef regisseur Thomas Fiedler, der leitenden Dramaturgin Jutta Wangemann sowie Dorothea Lübbe geführt, die für Community und Vermittlung zuständig ist. Ein wilder Cowgirl-Ritt über die Metaebenen – Sahar Rahimis Eichendorff-Lektüre „I´m gonna ride till I can`t no more“ mit Leicy Valenzuela und Johannes Schäfer. Foto Christian Brachwitz
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Im vergangenen Jahr musste ja der langjährige Intendant Kay Wuschek zurücktreten, nachdem Rassismusvorfälle in der Produktion „In 80 Tagen um die Welt“ bekannt geworden waren und sein eigener Führungsstil massiv in die Kritik geriet. Erst zur Spielzeit 2021/22 übernimmt mit Christina Schulz – zuvor Leiterin der Bundeswettbewerbe der Berliner Festspiele – und dem freien Regisseur Alexander Riemenschneider eine neue Doppelspitze das Theater. Keine Zeit also, an Kontinuitäten zu arbeiten. Aber das passt zur wechselvollen Geschichte. Das Haus mit der Adresse Parkaue 29 hat eine Reihe historischer Brüche und Verwerfungen hinter sich. Es hat zwei Diktaturen und eine Wende erlebt, eine höhere Knabenschule beherbergt, die 1934 den Namen Joseph-Goebbels-Schule verpasst bekam, und wurde 1948 von der Sowjetischen Militäradministration zum Haus der Kultur der Sowjetunion, Filiale für Kinder umgewidmet – mit Angeboten in Chorgesang, Volkstanz, Naturkunde, Ballett und Schauspiel, einer Mini-Sternwarte unterm Dach sowie einem Kino und einem Theater. Wobei auf der Bühne wegen Materialengpässen nicht wie geplant mit der Er öffnungsinszenierung „Du bist der Richtige“ des Intendanten Hans Rodenberg losgelegt werden konnte. Die musste ins spä tere Gorki-Theater ausweichen. Erst am 16. November 1950 wurde – mit der neunzigsten Vorstellung des „Richtigen“ – das Theater der Freundschaft eingeweiht. Ein Haus, das sich als erste Bühne ausschließlich für Kinder und Jugendliche in Berlin etablieren konnte. Nach der Wende allerdings klang den Kulturpolitikern Theater der Freundschaft ein bisschen zu sehr nach Marx-undLenin-Kumpanei. Weswegen – in der Intendanz von Manuel Schöbel – das Carrousel Theater an der Parkaue daraus wurde, das bald in zwei Dutzend Schreibvarianten existierte. 2005 dann übernahm Kay Wuschek das damals finanziell angeschossene Haus, das vormals sogar ein eigenes Orchester unterhalten hatte. Nicht nur dem Namen nach stellte er die Parkaue neu auf. Er öffnete das Theater vor allem für neue Regiehandschriften, lud Künstler wie Milan Peschel („Das doppelte Lottchen“, „Der Fischer und seine Frau“) oder den Dokumentartheatermacher Hans-Werner Kroesinger ein („Die Kindertransporte“, Kindersoldaten“), die zuvor noch nicht für junges Publikum gearbeitet hatten. Im flämischen Theater – das Gregory Caers mit Recht „Belgiens weltweit größten Exporthit“ nennt – hat dieses Wandern zwischen der Erwachsenen- und der Kinder-und-Jugend-Sparte schon lange eine viel größere Selbstverständlichkeit. „In Deutschland scheint mir die Trennung sehr rigide“, so Caers. Wuschek hat die Parkaue aber vor allem auch für Künstlerinnen und Künstler der freien Szene geöffnet. Eine Produktion wie die Kinderbuchbearbeitung „Bettina bummelt“ durch das Kollektiv Two Fish um Angela Schubot und Martin Clausen ist noch heute im Repertoire, die „Räuber-Hotzenplotz“-Inszenierung der Gruppe Showcase Beat Le Mot hat Legendenstatus. Die ShowcasePerformer nehmen den Otfried-Preußler-Klassiker diskursiv auseinander und setzen ihn vor in der Regel tobendem Publikum höchst vergnügt neu zusammen. Auch für die aktuelle Chefdramaturgin Jutta Wangemann war der „Hotzenplotz“ ein „Aha-Erlebnis“ – als Theater, das für
theater an der parkaue
Kinder und Erwachsene gleichermaßen funktioniert. Sie selbst hat schon an der Volksbühne, für die Berliner Festspiele sowie am HAU gearbeitet – und setzt in ihrer Interimssaison auf künstlerische Handschriften, „die mit der Theatersituation spielen, Machtverhältnisse durchsichtig machen und oft in kollektiven Arbeitsprozessen entstehen“. „Der Dominoeffekt“ ist so ein Beispiel – ein Theater parcours, den Thomas Fiedler nach dem gleichnamigen Sachbuch des Italieners Gianumberto Accinelli eingerichtet hat. Der beschreibt Ursache-Wirkung-Phänomene in der Natur und erklärt zum Beispiel, wieso ein Farbstoff, der im England des 18. Jahrhunderts hergestellt werden soll, eine Kaktusplage in Australien auslöst. „Wir wollten möglichst verschiedene Theatersprachen lernen“, sagt Wangemann über den Ansatz ihrer Umbruch-Spielzeit. Gerade auf der großen Bühne 1 soll nicht länger Sprech- und Repräsentationstheater bedient werden; der Kanon, auch der schulische, wird infrage gestellt. „Eigentlich habe ich normales Theater erwartet“ – das hört die Dramaturgin zum Beispiel in den Nachgesprächen zur Produktion „I’m gonna ride till I can’t no more“ gelegentlich. Die eigenwillige „Eichendorff-Lektüre“ der Regisseurin Sahar Rahimi, Mitgründerin des Kollektivs Monster Truck, nimmt sich mit den Novellen „Das Marmorbild“ und „Das Schloss Dürande“ klassischen Oberstufen-Stoff vor – macht daraus aber einen Cowgirlwilden Ritt über die Metaebenen am künstlichen Lagerfeuer und befragt die Frauenbilder der Romantik ebenso wie die gedankliche Prärie, in der Eichendorff siedelt. Coronabedingt ist die Arbeit im Moment nicht, wie ursprünglich geplant, als Klassenzimmerstück zu sehen, sondern auf der kleinen Bühne 3 des Hauses. Wie auch die tolle Produktion „Wutschweiger“ – ein niederländisches Stück über zwei Kinder, die mit dem schmerzhaften Abstieg der Eltern umgehen müssen. Den unverstellten Blick auf soziale Realitäten gönnt sich die Parkaue aber nicht nur in der Fiktion. Die gesamte Bühne 2 ist gegenwärtig unter dem Schlagwort „Community“ für partizipative Projekte aus dem Kiez geöffnet, das Programm verantwortet Dorothea Lübbe, die zuvor schon am Stendaler Theater der Altmark die Bürgerbühne wiederbelebt hat. Ein halbes Jahr lang ist Lübbe recherchierend durch den Kiez gezogen, hat Allianzen mit kulturellen und sozialen Trägern geschmiedet. Jetzt gibt es – unter mehr als einem Dutzend Formaten – etwa eine Open Stage für Jugendliche, die bei Gangway e. V. angedockt ist, einer Organisation, die sich um junge Wohnungslose wie um Schulverweigerer kümmert und sie in Songwriting, Producing und anderen Künsten schult. „Das Community-Theaterprojekt“, so Lübbe, „steht durchaus in der Tradition der Parkaue.“ Kürzlich hat sie mit Kristin Wardetzky gesprochen, die zu DDR-Zeiten als Theaterpädagogin am Theater der Freundschaft beschäftigt war. Von ihr erfuhr sie, dass die Partizipation von Kindern und Jugendlichen auf der Bühne – im Theater für junges Publikum bis heute meist auf Jugendclubs beschränkt – schon damals eine Selbstverständlichkeit am Haus war. Man nannte es einfach nur anders. Aber das Carrousel der Namen hat ja auch Tradition an der Parkaue. //
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Immer neu und immer derselbe Dem Bühnen- und Menschenbildner Volker Pfüller zum Gedenken
von Friedrich Dieckmann
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ohin er griff auf vielen Schaffensfeldern, mit Feder, Stift oder Pinsel: Stets ist ihm das Außerordentliche gelungen. Bei alledem hat er nichts von sich her gemacht; dieser Meister grafischmalerischer Zuspitzung, dem Grotesken, Satirisch-Geschärften wie dem Alltäglich-Absurden zugetan, war als Person von einer in sich ruhenden Zugewandtheit, die etwas Weltweises an sich hatte. Der Drang zum Regieführen, dem andere bühnenbildnerische Hauptgestalten seiner Generation nachgaben, lag ihm fern, Volker Pfüller blieb, abgesehen von gelegentlichen Ausflügen in die Malerei, in den Grenzen dessen, was man mit einem Notwort angewandte Kunst nennt. Mit einer stupenden stilistischen Sicherheit bewegte er sich innerhalb ihrer mit einer Vielseitigkeit, die nicht leicht ihresgleichen hatte. Subjekt und Objekt, in unserer Zeit schwerer denn je zu vereinbaren, das Prägnant-Persön liche und die Wirkung nach außen, bildeten in seinem künstle rischen Tun eine Einheit von exemplarischer Eigenart. Pfüller hielt, was die etablierte freie Kunst unter dem Druck von Film und Fotografie weithin verlernt hat, am Menschen fest als dem Gegenstand der Kunst, indem er dieses Menschenbild mit einer physiognomischen Prägnanz schärfte, die der Übermacht der technischen Medien auf ganz eigene Weise entgegnete. Was er farbensprühend und umrisssicher vom Menschen wusste und mitteilte, war das, was der Naturalismus der technischen Selbstabbildung zwangsläufig verbarg, es war das Bild einer Wahrheit, die die Verzweiflung, die im Innern eines entborgenen Ganzen nistet, den Köpfen nicht selten einbeschrieb. Dies auch und gerade bei den szenischen und figürlichen Vorzeichnungen zu Stücken, die dieser Grundverzweiflung spezifischen Ausdruck geben, sei es „Dantons Tod“ oder „Medea“, „Iphigenie“ oder „Don Karlos“, „Penthesilea“ oder „Die Dreigroschenoper“. Warum hat er damals am Deutschen Theater Berlin nicht „Faust“ in die Hand genommen, das Großprojekt, das sich 1985 nach überlangen Probenanläufen in nichts auflöste? Die Frage ist rhetorisch, denn der Regisseur, mit dem er es hätte zustande
ringen können, war in der Titelrolle besetzt: Alexander Lang, mit b dem zusammen Pfüller in den achtziger Jahren Berlins Hauptbühne eroberte. „Dantons Tod“ am Deutschen Theater mit Danton und Robespierre als Doppelrolle eines Darstellers, Christian Grashof, war nach Stücken von Hauptmann und Toller der Durchbruch; mit Recht nehmen Pfüllers Vorzeichnungen zu Szene und Figurinen der Aufführung in dem Bildband, den der Verlag Theater der Zeit 2019 zu Pfüllers achtzigstem Geburtstag herausbrachte, einen breiten Raum ein. Es war ein Glücksfall, dass dieses Buch zustande kam. Pfüller, schon von Krankheit gezeichnet, hat daran von Anfang an mitgearbeitet. Bei der Buchvorstellung in einem viel zu kleinen Raum des Deutschen Theaters zeigte der Andrang des P ublikums, was die Theaterleitung sich offenbar nicht hatte vorstellen können: wie sehr dieser Protagonist einer großen Theaterzeit sich in die Herzen des Publikums eingeschrieben hatte. Das von Stephan Dörschel edierte Buch bringt alle Seiten der Pfüller’schen Kunst in Sicht, die theaterbezogene, die den Begriff des Bühnenbildnerischen von jeher überstieg, da sie immer ein Mit- und Vorabinszenieren mit den Mitteln des Zeichenstifts war, ebenso wie die plakat- und buchgrafische und schließlich die malerisch-freie, die mit Stillleben und Landschaften eine Gegenwelt zum Theater eröffnete. Mit seinen zumeist großformatigen Plakaten griff Pfüller wirkungsvoll in den Großraum des städtischen Lebens ein, in dem es damals noch Litfaßsäulen gab; er tat es erst in Berlin, später in München und in den letzten Jahrzehnten zuweilen in dem kleinen, schönen, kulturdurchtränkten Rudolstadt, wo er sich, im Bunde mit dem Regisseur Alexander Stillmark, von Steffen Mensching, einem ingeniösen Intendanten, immer wieder zur Mitarbeit gewinnen ließ. Mit einem Großplakat für das Maxim-Gorki-Theater hatte er einst Berlin-Mitte e robert, gleichsam mit gezogenem Degen war der 27-Jährige auf die Berliner Plakatbühne gesprungen, mit einem ausladend schönen Farblinolschnitt, der Max Frischs „Don Juan“ in ebendieser Haltung darstellte, mit einer ornamentalen Flächigkeit der Kostüm behandlung, die beste französische Schule verriet. Er mag der Kollegenschaft damals wie ein Kraftmeier vorgekommen sein, der aus den erzgebirgischen Wäldern, die seine Kindheit umstanden,
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volker pfüller
hervorbrach, um eine Zunft, an der Vitalität das am wenigsten hervorstechende Merkmal war, an die Hoch-Zeiten der Gattung zu erinnern. Das geschah im Jahre 1966, nach sieben in Berlin verbrachten Fach- und Hochschuljahren, und es dauerte danach noch einige Jahre, ehe sich ein Plakatwerk entfaltete, in dem, jenseits von Theaterpremieren, das großformatige Porträt eine besondere Rolle spielte. Picasso und Johannes R. Becher, Beckett und Oskar Maria Graf, Kafka und Majakowski – sie alle brachte er mit unfehlbarem Strich und raffiniert eingesetzter Farbigkeit zu exemplarischer Erscheinung. Als ich ihn einmal um eine Umschlagzeichnung zu einem kleinen Buch über die Unbeziehung von Wagner und Verdi bat, verlieh er diesen beiden Rücken an Rücken eine unverwechselbare Bildhaftigkeit. Der Bildband von 2019, dessen Herausgeber mit der Überschrift „80 Jahre Bilderlust“ darauf deutete, dass Pfüller die Kunst in die Wiege gelegt war, tippt dessen Plakatschaffen nur an; mit Recht legt er den Hauptakzent auf die Theaterzeichnungen. Aber auch seine Buchkunst kommt in Sicht; es fehlt nicht, dass der Leser versucht, bei ZVAB, der Zauberformel der Buchversessenen, noch die eine oder andere dieser mit immer neuen Techniken und Stilbezügen operierenden Bildbegleitungen zu erwerben, sei es „Der Zauberer Wizz“ oder „Esel, Eisbär, Mensch, Milchreis und Hut“, ein Buch voller Bild- und Wort kapriolen, deren Witz alle Klippen vermeidet, auf die dieses Genre sonst wohl aufläuft. „Künstler gibt es vielerlei, oft sind sie talentiert dabei“, lautet der Doppelvers zu einem Bild, auf dem ein blondschöpfiger Maler mit der Linken kopfüber an einem Turnring hängt und dabei mit der Rechten eine Leinwand bemalt. Hat Pfüller Ahnen in deutscher und europäischer Kunst? Das szenenbildnerische Genre der Arrangementzeichnung fand er bei Neher und von Appen vor, die es für Brecht wiederbelebt hatten, und durchdrang es mit einem Duktus, der von ferne an den genialen Rodolphe Töpffer erinnerte, dessen Bildergeschichten vom Herrn Altholz alias Vieux Bois schon Goethe entzückt hatten. Natürlich gehört Toulouse-Lautrec zu Pfüllers Bezugsgrößen; mit derselben Sicherheit wie der Pariser Meister entzieht sich Pfüller der Gefahr physiognomischer Als Künstler ein Meister der Zuspitzung, als Person zugewandt und weltweise – der Grafiker und Bühnenbildner Volker Pfüller (1939–2020). Foto Wolf Erdel Diminution, die allem Karikaturistischen innewohnt, und treibt die Umrisse in ein Groteskes, das mit dem Unheimlichen spielt. Woher immer er Bis zuletzt hat Volker Pfüller bei schwindenden Kräften in dem Anregungen nimmt, künstlerische wie technische, er verwanihm menschlich wie künstlerisch kommensurablen Umfeld ge delt sie sich an, ohne dass sie zur Manier geraten; er ist immer neu und doch immer derselbe. Die Wirkung, die von alledem arbeitet, das Steffen Mensching ihm in Rudolstadt bot. Erst als die jüngste Premiere über die Bühne gegangen war, erlaubte er es der auf die Schüler- und Schülerinnenschar ausging, die er an verschiedenen Orten, am längsten in Leipzig, um sich versammelKrankheit, ihn von der Bühne des Lebens abzuberufen. Die Trauer über den Verlust, den Kunst und Leben erlitten haben, ist groß; te, muss stupend gewesen sein; bei der Buchvorstellung vor einem Jahr nahm Philipp Stölzl gleichsam stellvertretend für sie wird gemildert durch das Wissen um eine Werkhinterlassenschaft, deren Lebendigkeit fundamental ist. // sie das Wort.
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Look Out
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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.
Angewandte Emanzipation Die Berliner Regisseurin Marie Schleef arbeitet an einer weiblichen Geschichtsschreibung
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ie wurde eigentlich die Currywurst erfunden? Zumindest für die Berliner Lebensqualität ist das ja keine ganz unwesentliche Frage. Marie Schleefs Theaterabend „Name Her“ im Ballhaus Ost jedenfalls gibt darauf eine in vielerlei Hinsicht überzeugende Antwort. In einer furiosen Slapsticknummer führt die Performerin Anne Tismer vor, wie der Berliner Gastronomin Herta Heuwer eines schönen Septemberabends im Jahr 1949 bei einem buchstäblichen Aus rutscher hinter ihrem Imbisstresen das Currypulver auf die Brühwurst mit dem Tomatenmark fiel. Und weil eine Gastronomin, zumal in den Nachkriegsjahren, natürlich keine Lebensmittel verschwendet, wird der kulinarische Betriebsunfall nicht in der Mülltonne entsorgt, sondern selbstaufopferungsvoll zum Abendbrot verzehrt. Der Rest ist Legende – und Herta Heuwer nur eine von Hunderten verschwiegener Geschichtsschreiberinnen, denen man in Schleefs achtstündiger Inszenierung begegnet. Alphabetisch nach Namen geordnet und in vier jeweils neunzigminütige Blöcke sortiert, entblättert sich tatsächlich ein ganzes Lexikon von Blitzableiter-Erfinderinnen und DNA-Entschlüsselerinnen, von U-Boot-Ingenieurinnen, Komponistinnen, Philosophinnen und Autorinnen, das die weitverbreitete These Lügen straft, der Weg des Homo sapiens aus der Steinzeit bis ins Hightech-Zeitalter sei genuin von maskulinem Innovationsgeist gepflastert. Neben vielem anderen ist „Name Her“ auch ein Abend über Frauen, für deren Erfindungen nicht selten männliche Kollegen die Preise eingeheimst haben. Obwohl weibliche Perspektiven zurzeit ja durchaus en vogue sind, besitzt Marie Schleefs Herangehensweise Seltenheitscharakter: Leider beschränkt sich der Feminismus im Theater oft auf das Anprangern kanonischer Frauenrollen, über deren Vorsintflutlichkeit sich sowieso alle längst einig sind. Hier dagegen rücken die Frauen wirklich ins Zentrum, krampffrei und ohne vordergründige Agenda-Last. Schleefs Ar-
beiten markieren sozusagen den Unterschied zwischen proklamierter und angewandter Emanzipation. Die diesbezügliche Selbstverständlichkeit der 1990 in Göttingen geborenen Regisseurin hat sicher auch damit zu tun, dass sie aus einer (Theater-)Welt kommt, in der Frauen viel unhinterfragter zum Kanon gehören: Als sie am Bard College in New York Theater und Performance studierte, habe sie – „ohne das zu reflektieren“ – viele Bücher von Frauen gelesen, erzählt Schleef: „Es gibt dort eine ganz andere Autorinnenkultur.“ Auf den Theatergeschmack kam die in einer kosmopolitisch geprägten, mehrsprachigen Familie aufgewachsene Regisseurin während ihrer Highschool-Zeit in Südafrika, wohin sie sich eigeninitiativ auf ein Stipendium beworben hatte. Auf ihre New Yorker Theaterausbildung sattelte sie später noch ein Berliner Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ auf und assistierte nebenbei an der Volksbühne bei Susanne Kennedy. Dort traf Marie Schleef auch auf Anne Tismer – die sich in ihrer Diplominszenierung „Die Fahrt zum Leuchtturm“ nach Virginia Woolf mit einer Szene unsterblich machte, in der sie über gefühlte zwanzig Minuten die Bühnenwände neu strich. Jetzt, in „Name Her“, steht Tismer nicht nur als Soloperformerin an der Rampe, sondern hat auch entscheidenden Anteil an der Erarbeitung des Abends – genau wie die Bühnenbildnerin Jule Saworski, die für die weibliche Enzyklopädie eine ganz eigene Bildsprache gefunden hat. Wann Marie Schleefs nächste Inszenierung herauskommt – „Die Blechtrommel“ am Schauspiel Köln – steht coronabedingt leider genauso in den Sternen wie die weiteren Aufführungstermine von „Name Her“. Ein kleiner Über brückungstipp: das Onlineprojekt #womenwhoshouldnotbe forgotten, in dem die Regisseurin „Kuriositäten rund um feministische Themen“ sammelt und beispielsweise erklärt, was Bidets mit Geburtenraten zu tun haben. Unbedingt aufschlussreich! // Marie Schleef. Foto Lea Hopp
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Christine Wahl
Look Out
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Systemsprenger Hamlet Die Regisseurin Anna-Elisabeth Frick möchte sich nie allzu sicher sein
ptimismus strahlt die Regisseurin aus, Offenheit und Freude. Wer länger mit ihr spricht, kann sich leicht vorstellen, wie gern Schauspielerinnen und Schauspieler mit ihr arbeiten. Denn Anna-Elisabeth Frick räumt ihrem Ensemble jede Menge Freiheiten ein. Das funktioniert auch deshalb, weil Texte für sie nicht absolut gelten. „Den Text?“, fragt Anna Frick schelmisch, um nach einer kurzen Denkpause selbst zu antworten: „Ja, den gibt es auch.“ Frick feiert das Fragmentarische. Von „Gerüst“ ist bei ihr häufig die Rede, von „Assoziationen“ und „Atmosphäre“. All das unterstreicht ihre Denkbewegung des Hinterfragens und Suchens. Jede der zwölf Vigilien aus E. T. A. Hoffmanns Novelle „Der goldne Topf“ bricht sie in ihrer Freiburger Inszenierung aus der Spielzeit 2017/18 auf je einen zentralen Grundge danken herunter. Das eröffnet dem Ensemble Raum zur Improvisation. Hoffmanns Protagonist stürzt selbstredend nicht mitten hinein in einen Marktstand, wie in der Eingangsnarration des Kunstmärchens vorgesehen. Anselmus’ Tollpatschigkeit transportiert sich in Fricks Regie so schlicht wie spielerisch über einen verspäteten Theaterauftritt, von den Schauspielkollegen lustvoll ausgestellt und entsprechend negativ kommentiert. Das schärft den Blick auf die Rolle des Außenseiters. Fricks Inszenierungen bestechen durch Abstraktion. Sie spüren Grundlegendes auf und eröffnen gerade dadurch SpielRäume. Von ihren Schauspielerinnen und Schauspielern verlangt die Regisseurin, den Theaterraum immer mitzudenken. In diesem Punkt bekennt sie sich zum performativen Theater. Ihre aktuelle „Felix-Krull“-Inszenierung am Nationaltheater Mannheim eröffnet nicht zufällig den Assoziationsraum einer Hinterbühne. Disparates dominiert. Die Dekonstruktion von Einheitlichkeit weitet den Blick. Matthias Breitenbach, Annemarie Brüntjen und Eddie Irle irrlichtern als Dreifachbesetzung des Felix Krull durch den Raum, verschieben Requisiten und spie-
Anna-Elisabeth Frick. Foto Merle Appelt
O
len sich warm. Es wirkt so, als statteten sie ihre Inszenierung selbst aus. Willkommen auf der Bühne des Lebens! Grenzen fordern die 1989 in Darmstadt geborene Regisseurin heraus. Ihr Interesse an Thomas Manns „Felix Krull“ ist nicht zufällig von Sympathie für eine Figur geprägt, die vorgegebene Grenzen überschreitet. Bereits Fricks eigener universitärer Werdegang in Köln, Venedig und Berlin sowie an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg vereint Musik, bildende Kunst und Theater. Darin spiegelt sich die Lust, Perspektiven zu wechseln. Auch als Regisseurin beherrscht Anna Frick u nterschiedliche künstlerische Sprachen, von Filmüber Tanz- bis zu Musiktheaterelementen. Explizite Verweise etwa auf einen Song oder ein Gemälde sorgen häufig für tragende Grundtöne. Sie verhindern nicht zuletzt Beliebigkeit im weiten Assoziationsraum und bleiben gleichzeitig erfrischend weit entfernt von eindeutigen Setzungen. Ganz bewusst entzieht sich Frick dem binären Wertungs system von „richtig“ oder „falsch“. Vieles ist erlaubt, nur eines nicht: sich allzu sicher zu sein. Die Leichtigkeit, mit der AnnaElisabeth Frick inszeniert, spart Tragik allerdings nicht aus. Die Regisseurin besitzt ein ausgesprochenes Gespür für die Nöte der Ungeliebten oder Ausgegrenzten. Besonders kostbare Momente ihrer Inszenierungen gehören Figuren, die ihren verborgenen Verletzungen auf emotionale Weise Ausdruck verleihen. Machtspiele entlarvt Frick auf der Bühne spielerisch und schnell. Ihren Hamlet am Landestheater Schleswig-Holstein zeichnet sie als einen „Systemsprenger“, für den kein Platz vorgesehen ist im gesellschaftlichen Konformitätszwang. So groß die Regisseurin als Künstlerin das Wollen schreibt, so klar kritisiert sie auch das Müssen. Ihre Arbeiten bleiben darüber erfrischend utopisch, damit auch politisch. // Bodo Blitz „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ in der Regie von Anna-Elisabeth Frick am Nationaltheater Mannheim ist wieder am 17. und 26. Dezember zu sehen. Ihre nächste Premiere – „In den Gärten oder Lysistrata Teil 2“ von Sibylle Berg – findet am 30. Januar im Hans Otto Theater Potsdam statt.
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Auftritt DARMSTADT „Johanna von Orléans“ nach Friedrich Schiller DESSAU „Die Eumeniden“ von Aischylos INGOLSTADT „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin JENA „Zur Wartburg“ (UA) und „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ nach Christa Wolf KÖLN „Nora“ von Henrik Ibsen und „Die Walküre“ frei nach Richard Wagner MEININGEN „sklaven leben“ von Konstantin Küspert MÜNCHEN „Herkunft“ von Saša Stanišić ROSTOCK „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ von Bertolt Brecht
auftritt
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DARMSTADT
Claudia Bossard, die in Darmstadt zuletzt Roberto Bolaños Mammutwerk „2666“ mit viel
DESSAU
Sinn für die unterschiedlichen Realitätsstufen
Willkommen auf der Metaebene
des Romans zu Leibe rückte, konzentriert sich diesmal am Beispiel Schillers auf Jeanne d’Arc als Projektionsfläche. Dazu versetzt sie das Ganze dorthin, wo man sich von Berufs
STAATSTHEATER DARMSTADT: „Johanna von Orléans“ Am Beispiel Friedrich Schillers Regie Claudia Bossard Ausstattung Elisabeth Weiß
Miss Liberty
wegen mit Projektionen beschäftigt: ins Filmgeschäft. Blockbuster-Musik schwillt an, auf der Bühne wird ein Bluescreen-Set aufgebaut, und im Hintergrund lockt der bei Filmdrehs obligatorische Wohnwagen. Auf der großen Leinwand werden Computerspiellandschaften
ANHALTISCHES THEATER DESSAU: „Die Eumeniden“ von Aischylos Nachdichtung und szenische Bearbeitung von Walter Jens Regie Christian von Treskow Bühne Nicole Bergmann Kostüme Kristina Böcher
eingeblendet, später flimmern Werbungen al„Du bist jetzt heilig. Enjoy!“, ruft die histori-
ler Art darüber, kleine Videos künden von den
sche Jeanne d’Arc der Schiller’schen Jungfrau
Privatvergnügungen des Erzbischofs, und ge-
Es wird Großes passieren. Nachdem Ungeheu-
von Orléans hinterher. Die fährt sodann im Su-
gen Ende geht der Mond hoch oben auf schöne
erliches geschehen ist. Ein göttlicher Fluch
perwoman-Kostüm und mit nach oben gereck-
Bildschirmschoner-Wanderschaft. Zuvor eskor-
initiierte eine Gewaltorgie biblischen Ausma-
ter Faust in den Unterboden. Die echte Johanna
tiert eine üppige filmische Vulva-Parade die
ßes. Hass erzeugte Hass in der scheinbaren
endet bekanntlich auf dem Scheiterhaufen, die
Leibesvisitation der Jungfrau. Kurzum: Die
Unbedingtheit eines maschinellen Prozesses.
Schiller’sche stirbt auf dem Schlachtfeld.
Videoarbeiten Annalena Fröhlichs stützen
All das liegt beim Herunterdimmen des Saal-
Nachruhm ist beiden sicher. Die lange Liste der
die blühende Fantasie der Regisseurin ganz
lichtes in der Vergangenheit. Im Anhaltischen
Jeanne d’Arc-Adaptionen zeigt, dass diese Frau
wesentlich und weiten zudem die Assozia
Theater Dessau vollziehen sich nur noch rück-
für vieles herhalten muss, ganz egal, ob man sie
tionsräume des Stücks und seiner Akteure.
blickende Erzählungen, symbolische Gesten
als Heilige verkitscht oder als Heldin verehrt.
Die erscheinen hier als Comicfiguren: schrill,
und Versuche eines Neuanfangs. Unheimlich
Mit jeder Deutung verbinden sich spezifische
eindeutig, klischeebeladen.
posttraumatisch wirkt die Atmosphäre des gru-
Frauenbilder, und die stehen an Claudia Bos-
Zwischen den stark überzeichneten
selfinsteren Bühnenbilds (Nicole Bergmann).
sards Johanna-Abend im Fokus. Im Programm-
Charakteren nimmt sich Anabel Möbius als
Zudem dramatisiert Jürgen Grözinger jeden
heft spricht sie davon, dass eine Leerstelle blei-
Johanna von Orléans geradezu randständig
Satz unter Verwendung eines umfangreichen
be, weil es die eine Wahrheit über Johanna
aus. Ihre Auftritte sparen mit körperlicher
Arsenals an Perkussionsinstrumenten. Um
eben nicht gebe. Diese Leerstelle füllt ihre In-
und stimmlicher Präsenz. Die von Elen Gourio
Pathos kümmert sich die Grande Dame des
szenierung mit Witz und szenischer Energie.
verkörperte Jeanne d’Arc, die auch die ein-
Dessauer
Schauspiels,
Christel
Ortmann.
Alles beginnt informell: Während die
gangs erwähnte Schlusspointe raushaut,
Priesterlich graziös schreitet sie an den Par-
Zuschauer ihre Plätze erreichen, pirscht sich
agiert da überlegen. Ähnliches ließe sich frei-
kettreihen vorbei auf die Bühne und fasst im
die historische Jeanne d’Arc, gespielt von der
lich auch über die historische im Vergleich
hohen klassischen Ton die ersten beiden Teile
14 Jahre alten Schülerin Elen Gourio, gemein-
zur Schiller’schen Johanna sagen. Wie dem
der „Orestie“ des Aischylos, deren dritten Teil
sam mit Béla Milan Uhrlau, der die Ritter La
auch sei, Bossard und ihr Ensemble umkreisen
„Die Eumeniden“ bilden, zusammen.
Hire und Lionel verkörpert, an den Text heran.
die im Stück gesetzten Themen von allen
In seiner gen Troja gerichteten Kriegs-
Es geht um Frauen, Theater, Macht und Gen-
Seiten: Frauenbilder, Gewaltfantasien, Macht
gier opferte Agamemnon für den Beistand der
der. Ein launiger Prolog auf weißen Plastik-
gelüste. Das ist durchaus anregend, doch das
Götter einst die Tochter, dafür schlachtete ihn
stühlen und ein herzliches Willkommen auf
Ganze geht nicht ohne Müdigkeit vonstatten.
später seine Gattin Klytaimnestra ab, die dar-
der Metaebene. Schillers Text geizt bekannt-
Der kurz vor der Premiere noch mal einge-
aufhin von ihrem Sohn Orest getötet wurde,
lich wie so viele seiner Stücke mit Frauenrol-
dampfte Abend kämpft mit der Konzentrati-
der wiederum nun verfolgt wird von seinen
len. Nur ein Anknüpfungspunkt für diesen iro-
on. Stark ist er immer dann, wenn er sein
Schuldgefühlen, verkörpert durch die Erin
nisch feinsinnigen und aufrichtig albernen
Thema fokussiert und Johanna in gewisse
nyen, unterweltlich-furchterregende Furien.
Einstand. Der Ton ist gesetzt, und im Laufe
Traditionslinien stellt, von Hannah Arendt
In Dessau werden sie von sieben Opernchoris-
des Abends sind es vor allem und immer wie-
(„Die Banalität des Bösen“) bis zu Greta
tinnen in lumpig schwarzen Gewändern ge-
der die Auftritte von Uhrlau, die Kurzweil ga-
Thunberg („How dare you“). Dass Frauen auf
spielt. Mit tierischen Lauten, sich wiegenden
rantieren. Zum Glück tritt er in den zwei pau-
dem Theater als Hexen, Heilige oder Huren
Körpern, stampfenden Füßen, unisono skan-
senlosen Stunden verhältnismäßig oft auf.
gute Chancen haben, gehört zum Subtext
dierten Anklagen und gesanglichen Einlagen
dazu wie die Gewissheit, dass Superfrauen
fordern sie unter Anleitung ihrer schnoddrig
Als Heilige verkitscht oder als Heldin verehrt – Claudia Bossard sucht mit ihrer „Johanna von Orléans“ (hier mit Anabel Möbius und Robert Lang-Vogel) die Leer stelle zwischen den Klischees. Foto Nils Heck
schon mal auf dem Scheiterhaufen landen,
kecken Anführerin (Yevgenia Korolov), die ar-
während ihre männlichen Kollegen gen Büh-
chaische Vergeltungsspirale weiterzudrehen.
nenhimmel fahren. Schiller hin oder her: It’s
Nächstes Opfer: Orest (Andreas Hammer). Er
a man’s world. //
saut sich schuldtrunken an einer Opferschale Shirin Sojitrawalla
mit Blut ein, krampft daraufhin als unendlich
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Schuld und Sühne – In Aischylos’ „Die Eumeniden“ (hier mit Yevgenia Korolov) regeln das nicht mehr die Götter, sondern Recht und Gesetz. Foto Claudia Heysel
INGOLSTADT Im Nasenloch eines gefrorenen Riesen STADTTHEATER INGOLSTADT: „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin Regie Mareike Mikat Bühne Simone Manthey Kostüme Anna Sörensen
Dass dieses Schattenspiel albern ist, sieht einsames Häufchen Elend auf dem Boden he-
fokussiert im grellen Licht der Wahrheitsfin-
man selbst in der hausinternen Videoversion
rum und behauptet, der Muttermord sei ihm
dung vor allem darauf, wie Athene, indem sie
des Abends, auf die ich zurückgreife, weil der
vom Lichtgott Apoll (Tino Kühn) befohlen
für Orests Unschuld stimmt, den knappen
„Shutdown light“ Mareike Mikats Inszenie-
worden. Dieser stapft bestätigend auf Kothur-
Schuldspruch in ein Patt verwandelt, was –
rung von Vladimir Sorokins „Der Schnee-
nen hinzu, goldglitzernd sein Anzug, aristo-
im Zweifel für den Angeklagten – letztlich
sturm“ vorübergehend vom Spielplan gefegt
kratisch arrogant der Auftritt.
Freispruch bedeutet. Friede, Freude, Eier
hat. Da sitzt also die Müllerin als riesiger
kuchen? Nicht in Dessau.
Schatten auf der Rückwand der großen Büh-
Da ist nichts aufdringlich aktualisiert. Mit höchst eindringlicher Bilderfantasie über-
Statt die matriarchal gesinnten Erin
ne des Stadttheaters Ingolstadt – und um sie
führt Regisseur Christian von Treskow den Kon-
nyen in die patriarchal gesinnte Zeit zu inte
herum springt das Zamperl, das ihr Mann
flikt aus der Antike in ein modernes Gerichts-
grieren, werden sie durch Athene gehirnge
sein soll. Irgendwann versinkt es kopfunter
drama, das unter Anleitung von Athene abläuft,
waschen und mit dem Versprechen auf Ehre,
zwischen zwei steil aufragenden Bergen, de-
wiederum von Christel Ortmann gespielt. Sie
Ansehen und Wohlstand ruhiggestellt. Aus den
ren Gipfel Brustwarzen krönen. Ja, albern ist
plädiert, nicht Götter sollen ihr Gerechtigkeits-
Erinnyen werden die Eumeniden, die Wohl-
das schon, aber alles andere als falsch. Denn
empfinden durchsetzen, sondern zu unabhängi-
meinenden. Dieser Coup Athenes ist nicht der
auch Sorokins 2010 erschienener Roman hat
gen Schöffen erklärte Bürger ab sofort Recht
Gerechtigkeit geschuldet, sondern ihren politi-
zwei Seiten. Mindestens zwei. Da ist zunächst
sprechen. Aufgrund dieser zivilisatorischen Er-
schen Interessen. Die dem Kopf des Zeus’ Ent-
seine liebevolle Wilderei in der russischen Li-
lösung werden „Die Eumeniden“ gern insze-
sprungene bezeichnet sich als Freundin der
teratur des 19. Jahrhunderts: Ein Landarzt
niert – als Fortschrittsjubel darüber, die Blutra-
Männer, deren Macht und Prestige sie fördern,
macht sich mitten im russischen Winter auf
che durch den juristischen Wortstreit abgelöst
stützen und erhalten will. Klar, dass die das
in ein Dorf, in dem eine Epidemie wütet, und
zu haben. Hinreißend extemporiert gelingt die-
toll finden. Orest jedenfalls jubelt über Athe-
gerät dabei in einen Sturm. Setting, Motive
ser im Duell des Orest-Verteidigers Apoll und
nes Eingriff wie ein Torschütze, während die
und Personenkonstellation erinnern an Tols-
der anklagenden Chorführerin. Die Souffleuse
Choristinnen noch eine weitere Demütigung
toi, Puschkin und Tschechow, das sich immer
rennt kopfschüttelnd über die Bühne, wenn
erfahren. In der letzten Szene müssen sie alle-
weiter entfernende Ziel an Kafka. Das Gefühl
sich die beiden im heutigen Alltagsjargon Argu-
samt mit Gesetzbuch, Fackel sowie Stirnkranz
der wohligen Vertrautheit aber verhindern fast
mente und Gegenargumente um die Ohren hau-
als Miss Liberty posieren. „So …“, sagt Athene,
beiläufig eingestreute Elemente eines Sci-Fi-
en, wie etwa maskulinistische und feministi-
zündet sich eine Zigarette an und blickt herab-
Märchens: Die Epidemie verwandelt Men-
sche Deutungsmuster des Muttermords.
lassend ins Publikum. So, da müssen wir also
schen in maulwurfsähnliche Untote, das „Mo-
Anschließend müsste eigentlich wie
aufpassen auf die Demokratie, die anfällig ist
bil“, mit dem der Arzt Garin und sein Kutscher
bei Ferdinand von Schirachs Stücken die Ur-
für Ausgrenzung, aber auch für Missbrauch,
Krächz unterwegs sind, wird von fünfzig Mini
teilsfindung per Abstimmung des Publikums
wie Europas Autokraten derzeit belegen. Es
pferdchen gezogen, von denen keines „größer
erfolgen – wird es doch immer wieder als be-
triumphiert also eine inhaltlich wie schauspie-
als ein Rebhuhn“ ist. Die Schlittenkufen bre-
zeugende, zu überzeugende Bürgerversamm-
lerisch überzeugend kritische Sicht auf den
chen unter anderem im Nasenloch eines gefro-
lung angesprochen. Aber Treskow interes
großen Gründungsmythos des bürgerlichen
renen Riesen, und eingangs erwähnter Müller
sieren nicht die Folgen der Rhetorikshow. Er
Rechtsstaates. //
Jens Fischer
ist tatsächlich ein Zwerg.
auftritt
/ TdZ Dezember 2020 /
Aus der Kollision dieser beiden Ebenen ent-
in derselben Nacht stirbt, wird vom Krächz-
wecken kann. Aber auch filmische Einspie-
steht in retrofuturistischer Sprache das beun-
Darsteller Péter Polgár mit dessen unerschüt-
lungen von verschneiten Waldwegen gibt es,
ruhigende Bild einer Gesellschaft, das sich
terlicher Fröhlichkeit erzählt, während Garin
das Hologramm einer Radiosprecherin oder
auf das heutige Russland, aber auch auf die
von einer Truppe Chinesen „gerettet“ wird,
eben ein albernes Schattenspiel: Das passt in
Illusion der Naturbeherrschbarkeit beziehen
die mit ihren Gasmasken wie Stormtrooper
seiner
lässt, die uns in diesen pandemischen Zeiten
aussehen.
prächtig zusammen wie zum Stoff. //
gerade um die Ohren fliegt. Bei Sorokin wie in
Aussagen über das Mienenspiel der
Ingolstadt bleibt das dem Leser respektive
Schauspieler kann man anhand der Videoauf-
Zuschauer selbst überlassen, weil weder der
zeichnung ebenso wenig treffen wie über die
süffige Roman noch der ihm darin ebenbür
Güte des Soundtracks, der nach einer Kom-
tige Abend mit Botschaften wedeln. Ja, viel-
position des Musikers Enik live im Bühnen-
leicht kommen die Tumulte im Kräfteverhält-
hintergrund angerührt wird. Was man sieht –
nis von Herr und Knecht bei Mikat etwas zu
ohne die Instrumente und Werkzeuge zu
kurz, weil sie Garin am Ende nur wenige Se-
erkennen, mit denen sich hier mehrere En-
kunden alleine im Schneesturm herumirren
semblemitglieder als Geräuschemacher und
lässt. Bei Sorokin nutzt sich sein gerade er-
Musiker betätigen –, aber akustisch nur erah-
wecktes Herrenmenschendenken dabei gehö-
nen kann. Sehr klar wird hingegen die schöne
rig ab, und der Leser hat ausreichend Zeit zu
Balance zwischen nostalgisch und futu
dezidierten
Heterogenität
ebenso
Sabine Leucht
JENA Stadt der Gespenster THEATERHAUS JENA: „Zur Wartburg“ (UA) Regie Wunderbaum Ausstattung Cornelia Stephan
bewundern, wie der Autor in dieser Figur die
ristisch anmutenden Bühnenzitaten und Er-
moderne Rastlosigkeit ad absurdum führt, die
zählweisen. Die Schauspieler tragen bunte
wir so gerne für Zielstrebigkeit halten. Hier
Kopftücher und Russenmützen, um die Pro
kriecht das von Martin Valdeig gespielte
tagonisten herum bemühen sich fünf weitere
„Doktorchen“ so rasch wie kleinlaut zurück in
Erzähler um den Fortgang der Geschichte,
das Mobil, das auf Simone Mantheys nahezu
schwenken an Angelruten hängende Lämp-
leerer Bühne ein multifunktionaler, mit Fellen
chen für den Sternenhimmel oder bringen
bedeckter Divan ist. Dass der für eine gänz-
Kunstschnee aus Blasrohren direkt an den
Wer aus Jena kommt, der kennt die Wartburg.
lich andere Lebensart stehende, mit der Ge-
Mann. Mit bestrumpften Armen werden die
Jene rustikale Eckkneipe im sogenannten Da-
genwart seiner „Pferdis“ zufriedene Kutscher
Minipferdchen markiert, und knirschende
menviertel, die von ihren Betreibern Rolf und
Schritte im Schnee wie sämtliche Sturm
Doris bis zu ihrem Besitzerwechsel 2019 über
geräusche werden live erzeugt. Mit dieser
zwanzig Jahre hinweg hingebungsvoll geführt
handgemachten Ästhetik unterläuft die Ingol-
wurde. Zuvor funktionierte die Wartburg in den
städter Oberspielleiterin charmant die Erwar-
sechziger bis achtziger Jahren wie so viele
tungen an ein magisch-realistisches Bebil
Kneipen zu dieser Zeit als rustikales und güns-
derungstheater, das der Roman durchaus
tiges Speiselokal der Preisstufe eins, der nied-
Sci-Fi-Märchen in pandemischen Zeiten – „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin in der Regie von Mareike Mikat. Foto Jochen Klenk
„Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ nach Christa Wolf Regie Lizzy Timmers
rigsten Preiskategorie der DDR. Für den vom Tage geplagten Arbeiter ein dankbares Angebot: Warum allein zu Hause kochen? Auch bei Rolf und Doris gab es bis zuletzt deftige Speisen für den kleinen Geldbeutel. Heute, ein Jahr nach Schließung des Lokals, trifft sich das Ensemble von Wunderbaum – dem Leitungskollektiv des Theaterhauses Jena – auf der Hauptbühne im täuschungsechten Nachbau der Wartburg. Noch einmal über die guten alten Zeiten, die Ängste der Gegenwart und die Hoffnungen von morgen resümieren. Noch ein Bierchen und ein Schnaps, bevor endgültig Feierabend ist. Das Kneipeninterieur, das eigens für die Produktion in der Kneipe ab- und im Theater wieder aufgebaut wurde, lässt so manches Herz der im Publikum anwesenden Stammgäste höherschlagen. Dennoch bleiben auch die skeptischen Blicke nicht aus: Die Vergangenheit kann man eben nicht so einfach wieder aufleben lassen. Oder etwa doch?
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Vereint im Rausch – „Zur Wartburg“ von Wunderbaum (hier mit André Hinderlich) im Originalinterieur der gleichnamigen ehe maligen Jenenser Kneipe. Foto Joachim Dette
Kneipier Rolf (hervorragend: Elisa Ueberschär) stellt sich nicht nur als freundlicher Wirt mit Thüringer Zungenschlag heraus, er ist gleichzeitig Chronist des Abends. Liebevoll blättert er im Gästebuch der Wartburg. Wenn Wunderbaum eines besonders gut kann, dann ist es respektvoll und gleichzeitig humorvoll an Themen heranzugehen, ohne sie dabei ins Lächerliche zu ziehen. Für den Abend hat das Ensemble lange Gespräche mit ehemaligen Gästen geführt, deren Identitäten auf der Bühne von Schauspielern verkörpert werden, die einzeln an den Tischen Platz nehmen. Helene (unaufhaltsam komisch: Pina Bergemann) pumpt ganz selbstverständlich Milch für ihr Kleinkind ab, während sie abwechselnd Schnaps und Weißwein in sich hineinschüttet. Tresenhocker Jannik (Leon Pfannenmüller) hat einige Feuertricks auf Lager, die biedere Sandra (Mona Vojacek Koper) bestellt vorsichtshalber nur Kaffee und hat kein Interesse daran, ihren Ex Ronny
gemeinsam mit Schauspielerin Charlotte
Wolfs Vergangenheit als IM „Margarete“, als
(André Hinderlich) an diesem Abend in der
Puder. Mit der zweiten Premiere in dieser
Schreibende, Denkerin und als sich Erinnernde.
Kneipe zu treffen. Oma Margot (Henrike Com-
Spielzeit, dem Kammerspiel „Stadt der Engel
Beide Abende können als Beiträge zu
michau) ordert wie jeden Abend ihre Brat
oder The Overcoat of Dr. Freud“, begibt sich
dreißig Jahren Wiedervereinigung verstanden
kartoffeln, und der blinde Klaus (André Hin-
die Icherzählerin auf die Spuren von Christa
werden. Es scheint, als würde Wunderbaum fra-
derlich), ein ehemaliger DDR-Schauspieler,
Wolf, deren letzter Roman (2010) auch ein
gen, ob die Menschen wirklich mit sich selbst
sitzt am Ecktisch und schwelgt in alten Zeiten,
biografisches Projekt des Erinnerns verfolgt.
und miteinander vereint wurden. Wie tritt es in
als er noch den Hamlet auf einer ostdeutschen
Die Protagonistin befindet sich Anfang der
Erscheinung, das Gemeinsame? Offenbart es
Bühne gegeben hat. Welche genau das waren,
neunziger Jahre in Los Angeles, auf Einla-
sich in der Kneipe, im Theater, in der Stadt oder
daran kann sich niemand mehr so recht erin-
dung des Getty Centers rekonstruiert sie Brie-
nur in den Erinnerungen? //
nern. Zwischendurch geht es immer wieder an
fe einer verstorbenen Freundin, die aus dem
die Jukebox, um sich den Abend mit einem
nationalsozialistischen Deutschland in die
Mix aus Latin Disco Hits, Oktoberklub und Eu-
Vereinigten Staaten emigrierte. In der Fremde
rodance Musik zu versüßen oder zumindest
wird sie immer wieder auf ihre Identität als
auszuhalten. Die Kneipe ist ein wichtiger Ort
Deutsche zurückgeworfen. Der Bühnenraum,
für die stets wiederkehrenden Menschen, hier
ein ehemaliger Lokschuppen (der Koopera
werden sie ernst genommen, hier wird ihnen
tionsort Kassablanca), den Charlotte Puder
noch zugehört. Vereint im Rausch des billigen
zunächst im Alleingang bespielt, ist groß und
Alkohols geben sie sich gegenseitig Trost,
voll ablenkender Dinge, die mit der Geschich-
streiten und tanzen miteinander. Ihr sozialer
te wenig zu tun haben. Das Bühnenbild selbst
Hintergrund ist egal, es trinken schließlich alle
ist karg: ein Sessel, eine Lampe und grelles
(außer Sandra), um nicht allein zu sein. Be-
Licht (die gleißende Sonne Kaliforniens?).
rührend dargestellt ist diese Sehnsucht nach
Nebenspielplatz ist die ohnehin schon vor-
Gemeinschaft, umso tragischer das Ende der
handene Bar. Der knapp eineinhalb Stunden
Wartburg. Kneipier Rolf stellt die Stühle hoch
dauernde Monolog wirkt in sich gekehrt. Un-
und knipst das Licht aus. Zurück bleiben wie-
beweglich und abgeklärt sinniert die Figur,
der nur die Erinnerungen.
als sei sie eigentlich zu müde, um ihre Kon-
Eine ganz andere Reise in die Vergan-
flikte ernsthaft aufarbeiten zu wollen. Puder
genheit unternimmt Regisseurin Lizzy Timmers
hangelt sich dennoch mühevoll durch Christa
Paula Perschke
KÖLN Falsche Leben SCHAUSPIEL KÖLN: „Nora“ von Henrik Ibsen Regie, Bühne und Musik Robert Borgmann Kostüme Bettina Werner „Die Walküre“ frei nach Richard Wagner Regie und Bühne T. B. Nilsson und Julian Wolf Eicke Kostüme Lena Bösch und T. B. Nilsson
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Am Ende geht Nora einfach. Das von Sophia
Gegenwart zu holen. Aus dem protofeministi-
platz“, heißt es, habe sich mit modernen
Burtscher gespielte Model nimmt sich die
schen Befreiungsdrama wird das Protokoll
Klassiker-Interpretationen einen Namen ge-
Freiheit, ihren Mann Helmer, einen weltbe-
einer Menschwerdung. Die heutige Gesell-
macht. Seit einigen Jahren gehöre aber auch
rühmten Fotografen und Creative Director,
schaft mag sich wie Helmer „open minded“
ein ganz besonderes, „Hugr“ genanntes Pro-
ebenso wie ihre beiden Modepüppchen-Kin-
geben, aber diese wie eine Fackel vor sich
gramm für junge Erwachsene zum Portfolio
der zu verlassen. Was 1879 bei der Urauffüh-
hergetragene Toleranz erleuchtet und erwärmt
dieses Hauses, das an die Wirtshausbühnen
rung von Henrik Ibsens Schauspiel noch eine
nichts. Nicht zufällig ist Borgmanns Bühnen-
erinnert, auf denen Thomas Bernhards „Thea-
Provokation war, scheint mittlerweile voll-
bild ein steriler weißer Raum, in den mal de-
termacher“ auftreten musste.
kommen selbstverständlich. Das weiß auch
korative, mal provokante Versatzstücke wie
Im Theatersaal, in dem die meisten
Robert Borgmann. Also verlagert er in den
ein edles Sofa oder auch ein kopfüber aufge-
Plätze von Skeletten besetzt sind, hängen zahl-
letzten Momenten seiner dezidiert heutigen
hängter gehäuteter Pferdekörper geschoben
lose Geweihe, die Gänge schmücken kitschige
Bearbeitung des Stücks plötzlich den Schwer-
werden. Leben kann in diesem Umfeld nie-
Schinken idyllischer Berglandschaften. Dio-
punkt der Inszenierung.
mand, aber es macht sich gut für Fotos zu
ramen, in denen Mitglieder des „Hugr“-
Zuvor drehte sich praktisch alles um
Werbekampagnen für Luxusprodukte. Und
Programms stumm seltsame Jagd- und Natur-
Nora, dieses strahlende Glamour Girl, das von
wie der Raum ist auch die Sprache, die Nora,
szenen darstellen, verbreiten eine morbide
zahllosen Followern in den sozialen Medien
Helmer und die anderen sprechen, nichts als
Atmosphäre, zu der auch die Sammlung von
gefeiert wird. Doch plötzlich rückt der von
verlogener Schein. Alles ist „mega“ und „krass“,
Handfeuerwaffen passt, die man mit einiger Ir-
Peter Miklusz gespielte Helmer ins Zentrum
ständig wird etwas „geliked“. Die sozialen
ritation an einer der Wände des Hauses ent-
des Geschehens – auf der Bühne wie auch
Medien haben die neue Bourgeoisie ihrer
deckt. Auch das Geschehen auf der Bühne, auf
auf den beiden Monitoren, über die Live-
Seele beraubt. Ihr Leben ist nur ein mediales
der das „Heidi’s“-Ensemble in abstrusen Kulis-
Videobilder und gerade aufgenommene Fotos
Abziehbild, das Borgmann bewusst mit groben
sen eine Schauspielversion von Richard Wag-
flimmern. Der Mann, der zuvor immer mit ei-
Strichen karikiert, um schließlich in Noras
ners „Walküre“ probt, trägt eindeutig Bern
ner Mischung aus Arroganz und Coolness
Entscheidung und Helmers Zusammenbruch
hard’sche Züge. Die inzestuöse Melodramatik
agiert und sich selbst zum Maßstab aller Din-
einen Schimmer von Hoffnung zu finden. Viel-
der Oper verdichtet sich zu einer ironischen
ge erhoben hat, bricht gänzlich zusammen.
leicht können sie sich doch noch aus dem fal-
Dekonstruktion Wagner’scher Leitmotive.
Seine Models nehmen ihn gar nicht mehr
schen Leben lösen.
Doch letztlich verdankt „Die Walküre“
In ein falsches Leben führt einen auch
ihren Reiz nicht dieser grandios dilettan
tings an und steigen schließlich gar über ihn
T. B. Nilssons und Julian Wolf Eickes immer-
tischen Demontage. Weitaus spannender und
hinweg. Von dem zappeligen Jungen, der sich
sive Perfomance-Installation „Die Walküre“.
hintergründiger ist Nilssons und Eickes Por
mit Macho-Allüren als Macher gerierte, ist nur
Nilsson und seine Mitstreiter haben die Außen-
trät des Theaters und der Menschen, die sich
noch ein greinendes Häufchen Elend übrig.
spielstätte am Offenbachplatz in ein fiktives
ihm verschreiben. Die wenigen Zuschauer,
Für Borgmann geht es nicht mehr nur
Theater samt Kneipe und kleiner Künstlerzim-
die sich drei Stunden lang im „Heidi’s“ auf-
um die Befreiung Noras, die dem Puppen-
mer verwandelt. Das „Heidi’s am Offenbach-
halten und durch dessen Räume geleitet wer-
wahr, rempeln ihn während eines Fotoshoo-
haus entflieht. Auch Helmer muss erkennen, dass seine Welt nur ein mit teuren Spielzeugen vollgestopftes Kinderzimmer ist. Die durch nichts gestützte Anmaßung Helmers war in Peter Miklusz’ Spiel von Anfang an offenbar. Sein hektischer Aktionismus und sein krampfhaft um Jugendlichkeit bemühtes Auftreten sind Teil einer Täuschung, der er selbst erlegen ist. Auf der einen Seite inszenierte er sich in den sozialen Medien als viriler Macho mit Sportwagen. Auf der anderen Seite gab er den toleranten Künstler. Doch letztlich sind beides nur Rollen, die er nie wirklich ausfüllen konnte. Insofern offenbart sich Helmer erst bei seinem Zusammenbruch als Mensch mit echten Gefühlen. So hat Robert Borgmann tatsächlich einen Weg gefunden, Ibsens Schauspiel in die Aus dem protofeministischen Befreiungsdrama wird das Protokoll einer Menschwerdung – Robert Borgmanns „Nora“ (hier mit Justus Maier). Foto Krafft Angerer
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den, können mit allen Performerinnen und Performern ins Gespräch kommen. Dabei entpuppt sich diese Theatergemeinschaft als eine Art Kunstsekte, aus der es, die Skelette deuten es an, kein Entkommen gibt. Dieses Theater ist ein wahrhaft monströser Raum, der alle Beteiligten an ein Leben kettet, das eigentlich gar keins ist. Die Kunst verwandelt die Menschen in Nilssons und Eickes Gesamtkunstwerk in lebende Tote, die nur eine Perspektive haben: als Skelette in den Zuschauerreihen zu enden. // Sascha Westphal
MEININGEN Verfremdungspalaver auf der Showbühne MEININGER STAATSTHEATER: „sklaven leben“ von Konstantin Küspert Regie Juliane Kann Ausstattung Vinzenz Hegemann
„Weltspiegels“ durch den Raum, dessen Markenzeichen es ist, das Elend der Welt in Sechs-Minuten-Geschichten zu erzählen. Das entspricht in etwa auch der Struktur von
Wo senegalesische Schiffe die Nordsee leerfischen – Konstantin Küsperts „sklaven leben“ (hier mit Björn Boresch und Ulrike Walther) in der Regie von Juliane Kann. Foto Marie Liebig
Vor knapp zwei Jahren kam das Stück „skla-
Küsperts Gedankenspielen. Dann aber treten
ven leben“ des Dramaturgen Konstantin Küs-
zur Musik von „Dalli Dalli“, einer ZDF-Spiel-
pert am Schauspiel Frankfurt zur Urauffüh-
show aus den siebziger, achtziger Jahren,
braucht. Da ist die eingeflochtene Nacherzäh-
rung. Zum richtigen Zeitpunkt, denn die
zwei Frauen und zwei Männer in weißen Con-
lung von H. G. Wells’ „Zeitmaschine“, in der
Debatte um Postkolonialismus hatte die deut-
férencier-Anzügen auf und kündigen an, dass
es auch um eine Sklavenhaltergesellschaft mit
sche Öffentlichkeit gerade in größerem Um-
nun etwas „nicht Unterhaltsames unterhalt-
überraschender Vertauschungspointe geht (die
fang erreicht. Küspert verknüpft in seiner ge-
sam präsentiert“ werde. Dieser Bezug auf
ehemalige Arbeiterklasse ernährt sich von der
radezu essayistischen Revue dabei nicht nur
eine Show aus dem Steinzeitalter des linea-
ehemaligen Bourgeoisie), eine willkommene
den historischen Begriff des Sklaven mit der
ren Fernsehens, die jüngere Menschen wahr-
zusätzliche Ebene. Die Geschichte Kongos als
Arbeit in der prekären Dienstleistungswelt
scheinlich erst googeln müssen, wirkt ziem-
Privatkolonie des belgischen Königs wird als
heute, sondern arbeitet auch mit der Grund-
lich verrutscht. Da wären die „heute-show“
Schnellreferat dargeboten und ein paar Mo-
idee, Afrika und Europa, Nord und Süd samt
im ZDF oder Jan Böhmermanns freches „Neo
mente später in der Perspektive gedreht mit
Ressourcen- und Flüchtlingsströmen zu ver-
Magazin Royale“ geeigneter gewesen, die
dem Hinweis, dass Belgien heute kurz vor dem
tauschen. Senegalesische Schiffe fischen die
Geschichten von Sklavenmarkt und Dienst
Zerfall steht. In Nordirland gibt es immer noch
Nordsee leer, und Europäer wandern in afrika-
leistungsausbeutung mit einem Unterhal-
Religionskriege – 250 Jahre nach der Auf
nische Sozialsysteme ein, die sie zusätzlich
tungsformat zu kontern.
klärung. Und in Thüringen, so der Schlenker
mit ihren Kinderscharen belasten. Vertauscht
Letztlich aber geht es auch gar nicht um
ins Lokale, müssen Einheimische in hiesigen
wird ebenso die Ost-West-Migration, wenn
„Dalli Dalli“, sondern in erster Linie um die
Diamantenminen schuften. An diesem Punkt
Skandinavier sich in der moldawischen Alten-
Conférenciers, die Regisseurin Juliane Kann
allerdings hat man die Lektion längst gelernt.
pflege verdingen müssen. Das ist ein guter
als Grundelement der Inszenierung auf fast
Nach einer überraschenden Volte vom ameri-
Verfremdungstrick zur Verdeutlichung der
leerer Bühne wählt. Die vier Showmoderato-
kanischen Abolitionisten John Brown zum
Verhältnisse in einer Art Zerrspiegel. Davon
ren – Björn Boresch, Matthias Herold, Katharina
schwarzen Soulsänger James Brown (in der Art
bloß zu erzählen, trägt allerdings nicht allein.
Walther, Ulrike Walther – können in diesen
hätte eigentlich alles sein müssen), erklären
Das ist die Herausforderung.
Rollen den Text auf ein gewisses Tempo brin-
die weißen Anzugträger, dass nun, nach circa
In Meiningen schmettern zu Beginn
gen und auch mal schnell in eine Figur
achtzig Minuten, die wegen Corona beschränk-
des Stücks (das der Rezensent aufgrund des
reinswitchen. Aber sowohl Küsperts zunächst
te Aufführungsdauer abgelaufen sei. Das
pandemiebedingten Lockdowns nur auf Video
noch verblüffender Vertauschungstrick als
Stück war allerdings schon vorher zu Ende. //
sehen konnte) die Fanfaren des ARD-
auch die Conférencier-Idee sind schnell ver-
Thomas Irmer
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MÜNCHEN Trainingseinheit im Identitätendschungel MÜNCHNER VOLKSTHEATER: „Herkunft“ von Saša Stanišić Regie Felix Hafner Ausstattung Camilla Hägebarth
Camilla Hägebarths Bühne ist ein bis zur
szenen auf die Hochbühne geklettert wird
Schlüsselszene seines Romans ausgeweitet
und wo es genügt, sich einen weißen Roll
hat. Hafner macht dafür die Gangway zur Tri-
kragenpulli an- und den Kragen über den
büne, auf der sich in Zeitlupe Körper und
Kopf zu ziehen, um Stanišićs demente Groß-
stumme Gesichter vor Angst, Anspannung und
mutter zu markieren. Diese ist mehr noch als
schließlich Jubel verzerren. Es war der letzte
im Buch das Zentrum des Geschehens. So-
Triumph der jugoslawischen Mannschaft, be-
lange das Erinnern und Fabulieren nicht ab-
vor sie und der Vielvölkerstaat auseinanderbra-
bricht, ist sie lebendig. Dieses hehre Ziel sorgt
chen. Schon in der Halbzeitpause wurde über
auf der an sich nüchternen Bühne für einige
Unruhen in Kroatien und Slowenien berichtet.
schöne Bilder. So ersteht etwa im Gegenlicht
Woher kommst du? Diese „rückständige
in einem Raum aus Gaze der letzte Tanz von
und destruktive“ Frage nach der Herkunft be-
Stanišićs Eltern vor dem Krieg wieder auf –
antwortet Saša Stanišić mit optionalen Gegen-
ebenso wie das nächtliche Abhotten der Mi
fragen. Woher kommst du? Aus Jugoslawien,
grantenjugend in der Heidelberger Vorstadt.
das es nicht mehr gibt? Also aus Bosnien-Her-
Brandmauer offener Arbeitsort. Zwei herunter-
Dem 28-jährigen Regisseur und seinem
zegowina? Aus Višegrad an der Drina, wo er
gelassene Zugstangen machen auf Ballettsaal,
jungen Team gelingt ein so munterer wie nach-
1978 geboren wurde? Aus dem Bergdorf
und zu einer Mischung aus extrahohem Podest
denklicher Abend, in dessen Fugen Blenard
Oskoruša, wo seine Urgroßeltern lebten und
und überbreitem Hochsitz führt eine Gangway
Azizaj Bewegungschoreografien pflanzt, die
auf allen Grabsteinen sein Fami lienname
aus Stahl hinauf. Die Schauspieler sind unter-
sich mit Clemens Wengers Musik mal atmo-
steht? Oder aus Heidelberg, wo er an einem
schiedlich grau gewandet und machen sich
sphärisch verbinden, mal aber auch nur be-
regnerischen Tag des Jahres 1992 auf der
schon mal warm, denn was nun folgt, ist eine
müht wirken. Dann wieder erzeugen über
Flucht vor dem Krieg ankam? Von „der Aral“,
Art Trainingseinheit im Identitätendschungel,
raschend simple Mittel ein beeindruckendes
zwischen deren Zapfsäulen er mit anderen Ju-
zu der aus dem Off ein paar Stimmen ertönen,
Maximum an Wirkung: Sechs Overhead
gendlichen Gespräche „über Religion, Alufel-
die den Wert von Großeltern oder das Zuhause-
projektoren können Bilder an die Rückwand
gen und Fortpflanzung“ führte? Oder aus Ham-
sein in der Muttersprache thematisieren, die
werfen, ad hoc eine Neunziger-Jahre-Schul-
burg, wo er der Vater eines kleinen Sohnes ist?
Heimat, die Freunde bedeuten, oder das
szene entstehen lassen, einzelne Protagonis-
Hafners Inszenierung jongliert mit all
Fremdbleiben in der Fremde.
ten ins rechte Licht setzen oder blenden. Zu
diesen Fragen und hält sie in der Luft, ohne
Nach dem Theater Oberhausen hat sich
einem kleinen Meisterstück gerät darüber
deshalb unverbindlich oder allzu leichtge-
nun auch das Münchner Volkstheater an den
hinaus die Pantomime anlässlich des legen-
wichtig zu wirken. Es gibt auch Platz für Wut,
Erinnerungsroman „Herkunft“ gewagt, mit
dären Europapokal-Halbfinales zwischen Roter
für Trauer, Schmerz und Angst. Und für den
dem Saša Stanišić 2019 den Deutschen
Stern Belgrad und dem FC Bayern 1991, das
Zufall, denn am Ende bestimmt ein roter
Buchpreis gewann. Die vom Autor genehmigte
der 13-jährige Stanišić mit seinem Vater be-
Plüschwürfel über den Ausgang des Abends.//
Textfassung bringt dessen assoziatives Gefüge,
sucht und der 40-jährige Stanišić zu einer
Sabine Leucht
sprachliche Finesse und philosophischen Subund Metatext trotz naturgemäßer Kürzungen erstaunlich unbeschadet vom Papier auf die Bühne. Wobei Regisseur Felix Hafner und seine sechs Akteure sich vornehmlich für das Allgemeingültig-Überzeitliche im Familien geschichtlich-Anekdotischen interessieren. Jan Meeno Jürgens, Pola Jane O’Mara, Jakob Immervoll, Jonathan Müller, Nina Steils und Anne Stein erzählen mal chorisch, mal durcheinander, mal den Erzählfaden weiterreichend aus wechselnden Perspektiven und in verschiedenen Rollen. So entsteht nach und nach und analog zur Sprung- und Fragmenthaftigkeit der Vorlage ein szenisches Mosaik, in dem für herausgehobene Spiel
Woher kommst du? – Eine Frage, die zahlreiche Gegenfragen generiert: Felix Hafners Inszenierung von Saša Stanišićs „Herkunft“ (hier mit Pola Jane O‘Mara und Nina Steils). Foto Gabriela Neeb
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Ein vom Kapitalismus angewiderter Kapitalist – Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ in der Regie von Elina Finkel. Foto Dorit Gätjen
seurin Finkel hat sich, so scheint es, bei dieser Puntila-Gestalt weniger an den herkömmlichen Bossen des alten Westeuropas orientiert, sondern eher an der Klasse der ExKomsomolzen, die im rekapitalisierten Russland zu Oligarchen wurden. Aber auch manche Aufsteigerfigur des digitalen Kapitalismus mag man in diesem Puntila erkennen. Knecht Matti navigiert mit Schlauheit durch den Irrgarten der Launen des Chefs. Er rebelliert ein wenig, erkennt instinktsicher eigene Vorteile. Und ausgerechnet dann, wenn er sich für andere einsetzt, verteidigt er am klarsten die Marktlogik. Er ist es, der Puntila auf dem Tagelöhnermarkt drängt, die Kontrakte zu machen. Denn die, die Arbeit suchen und sie verrichten können, brauchen Geld. Geld und Arbeit hat Puntila. Und weil Puntila in dieser frühen Schlüsselszene mal
ROSTOCK Jeder ist jedem ein Knecht VOLKSTHEATER ROSTOCK „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ von Bertolt Brecht Regie Elina Finkel Ausstattung Norbert Bellen
Der Herr indes ist der Feilscherei und Aus-
wieder die Menschlichkeit übermannt, die
beuterei längst überdrüssig. Vor der kalten
alkoholisch
Kraft der kapitalistischen Vernunft flüchtet er
natürlich, treibt Matti ihn zum nüchternen
kontaminierte
Menschlichkeit
sich in den Suff. Da kann er noch Mensch
Vollzug an. Kapitalismus wird von unten ge-
sein. Er kann Witze reißen, Wärme beim Per-
macht, kann nur im – wie auch immer erkauf-
sonal suchen und vor allem der disziplinier-
ten – Einverständnis von unten funktionieren.
ten Etikette seiner in höhere Sphären drän-
Das macht diese Inszenierung ganz wunder-
genden Tochter entfliehen. Wenn er säuft,
bar deutlich.
dieser Puntila, dann ist er Mensch, freilich
Als Knechte und Mägde ins System
ein aasiger Mensch, in dieser Degenerations-
eingebunden sind auch die anderen Figuren.
stufe hinreißend gespielt von Frank Buch-
Tochter Eva etwa, gefangen in einem über
wald. Seinem Puntila graut regelrecht vor den
dimensionierten Kleid (Ausstattung Norbert
Anfällen schrecklicher Nüchternheit, die ihn
Bellen), bleibt unfähig zum Aufbruch ins
ereilen, wenn der Stoff zur Neige geht und er
eigene Glück. Katharina Paul legt mit ihren
Elina Finkel, im ukrainischen Odessa gebore-
dann wieder Knecht des Kapitalismus wird,
Ausbruchsversuchen aus diesem Kleider
ne Regisseurin und Dramenübersetzerin, hat
herrschender Knecht, gegenüber dem Gesin-
gefängnis bezaubernde Slapsticks hin. Die
Bertolt Brechts im finnischen Exil geschrie-
de, und im Gelde watend, gewiss, aber den-
mehr als zweieinhalb Stunden lange Insze-
bene Kapitalismuskomödie „Herr Puntila und
noch Knecht dieser Weltordnung.
nierung wird niemals langweilig, weil Finkel
sein Knecht Matti“ am Volkstheater Rostock
Auf glitzernder Showbühne, unter-
auch den fünf- bis achtköpfigen Chor aus En-
schön auf poppigen Neoliberalismus ge-
stützt von einem mal in Pink glänzenden, mal
semblemitgliedern und Studierenden der
trimmt. Denn in ihrer Inszenierung ist der, der
mit Kittelschürzen neckisch anproletarisier-
Rostocker Hochschule für Musik und Theater
noch an den Markt glaubt, an das Aushandeln
ten Cheerleaderchor beiderlei Geschlechts,
variantenreich einsetzt, mal als Gesangs
von Arbeitskraft und Kapital, gar nicht mehr
präsentiert Buchwald mit sichtlicher Freude
combo, mal als kommentierendes Landpro
der Großbauer und Agrarkapitalist Puntila,
an der Groteske den vom Kapitalismus ange-
letariat, mal mit mitreißenden Choreogra
sondern der prekär beschäftigte Matti.
widerten Kapitalisten. Freilich ist dessen
fien zwischen kollektivem Fensterputzen und
Matti, gespielt von Luis Quintana, ist
Menschsein kontaminiert, ist lediglich von
Step Dance.
der Checker, der den Handel um Arbeitskraft,
der Bewusstseinserweiterung durch den Suff
Dem klein gesparten Rostocker Ensem-
Lohn und zu ergatternde Regenerationszeit
möglich, ist Fratze von Menschlichkeit. In
ble ist ein großer Wurf gelungen. Sollten
längst durchschaut hat. Und der versucht,
nüchternem Zustand blitzt bei diesem Punti-
Theaterbesuche wieder als systemrelevant
nicht nur für sich, sondern auch für andere
la die alte Gefährlichkeit, die Raubtierhaftig-
eingestuft werden, lohnt sich die Reise in den
seiner Klasse den besten Deal herauszuholen.
keit des Geschäftemachers grell auf. Regis-
Norden. //
Tom Mustroph
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Exklusiver Vorabdruck
backstage
PETRAS
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backstage
PETRAS Das Theater von Armin Petras ist eine quirlige, überdrehte, wilde, improvisierende, rasende, kindliche Spielbude. Der 1964 in Meschede Geborene leitete das Schauspiel in Nordhausen und Kassel, er war Intendant am Berliner Maxim Gorki Theater und in Stuttgart. Regie landauf, landab, ohn’ Unterlass. Er ist ein Perfektionist des Unfertigen, in dessen Inszenierungswerk die Traurigkeit kostbare Schattenflecke auf Lichtungen der Clownerie zaubert. Als sei Theater eine Kinderzeichnung: wenige Striche – mehr braucht man nicht! In Gesprächen mit Hans-Dieter Schütt erzählt er von seinem Leben als ein „Immerwerker“, der nur die Unablässigkeit leben kann, nicht die Lässigkeit. Seine Devise: Nutze den Tag, der in jeder Sekunde steckt. Stets ein Leben zwischen Ost und West – von Freiheit bleibt eines: die Suche danach. Zu Wort kommt auch sein Alter Ego, der erfolgreiche Stückeschreiber Fritz Kater. Unter diesem Pseudonym schreibt Petras eine Dramatik jener Verwundungen, die den Menschen treffen, wenn er zu schmächtig ist für die Kälte der Welt.
Sie jagten von Inszenierung zu Inszenierung. Landauf, landab, über viele Jahre. Arbeiten Sie zu rasant? Nein, eigentlich arbeite ich langsam. Mein Tag besteht durchschnittlich aus sieben Stunden Probe und drei Stunden irgendwas. Ergibt zehn Stunden. Und die Dinge beleuchten sich ja auch manchmal gegenseitig. So wie in der Kirche die drei Seiten vom Triptychon, am Altar. Diese Mixtur oder Parallelität gibt es, weil ich alles, was ich sagen will, unbedingt sagen möchte, solange ich noch Interesse daran habe. Rauschhaftes Inszenieren, motorfixes Adaptieren von literarischen Werken, Arbeit wahrlich als Leben. Es geht um das Problem, dass ich das, was mich heute bewegt, morgen möglicherweise gar nicht mehr sagen kann. Werden Sie sich fremd, wenn Sie nicht arbeiten? Freizeit ist für mich schwierig – ich habe es versucht mit Hobbys. Und? Ich kann Bäume absägen.
Ihr Arbeitsfeld als Regisseur und Autor blieb mit den Jahren äußerst umfangreich. Regisseur Werner Herzog sagt, er konzipiere einen Film, an einem zweiten schreibe er, einen dritten bereite er unmittelbar vor, einen drehe er, und bei einem weiteren laufe die Postproduktion. Bei mir sind die Vorgänge weniger geordnet. Bis da was reif ist, das kann Jahre dauern. Auf meinem Schreibtisch liegen kleine, große Stapel, manchmal nur ein paar Fotos oder auch ein Blatt Papier mit Begriffen oder Notizen. Lauert da Oberflächlichkeit? Klar. Was ich mache, ist Fragment, Bruchstück, Baustein, ich bin gern Skizze. Ich brauche Geschwindigkeit. Und auch die Flucht. Ich langweile mich schnell.
Intendant waren Sie, sind Regisseur und Autor. Wie organisiert sich da ein Ausgleich? Da gab es keine wirkliche Balance, es war allzeit ein offener Kampf. Die unterschiedlichen Kräfte zerren. Wenn es eine Zeit des Schreibens gibt, muss anderes zurückgedrängt werden. Da gibt es keine feste Regeln, leider auch keine Regelmäßigkeit. Sie sprachen von einem „offenen Kampf“. Mit welchem Ziel? Möglichst sinnvoll zu verwittern (lacht). Weil sich die Gesellschaft und der eigene Körper ständig ändern, muss man den Mut haben, etwas, das man bis gestern gut und erfolgreich und unangefochten tat, morgen über Bord zu werfen. Nie ist eine Bedingung des Lebens so, dass sich Kampf erledigt hätte. Das lehrt die Natur, auch die des Menschen.
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Es gelingt kaum, den Regisseur Petras auf eine künstlerische Handschrift „festzunageln“. Dass ich mich selber ästhetisch nicht gern festlege, hat natürlich zur Folge, dass bei meinen Inszenierungen immer irgendwer enttäuscht ist. Aufgrund von Erwartungen. Martin Kippenberger sagt: Mein Stil besteht darin, keinen Stil zu haben. Die Bedingungen diktieren unsere Möglichkeiten.
Theater dort für die Region gemacht wird. Genau diese Verankerung, die Reflexion der wirklichen Probleme der Leute, die da leben, schafft ein ganz anderes Bewusstsein für Theater. Sie beschwören als Regisseur die Gruppe – aber sind Sie auch ein Gruppenmensch? Ich brauche die Gruppe. Leider bin ich asozial, und das Gegenteil von einem Guru bin ich sowieso.
PETRAS
backstage
Es bestimmen nicht die Ideen, die wir haben? Ich glaub‘ nicht, dass Ideen die Bedingungen diktieren, es ist umgekehrt. Und ich stelle mich den Bedingungen. Das heißt Woran erkennt man Gurus? Schwer zu sagen. Vielleicht daran, dass sie keine Körzumeist: den Widerspruch auszuhalten zwischen Ersehntem und perscham haben. Man sieht‘s an den Bäuchen bestimmter Möglichem. Meist bleibt der Mensch ja in dem stecken, was ihm möglich ist, obwohl er sich ganz woanders hin sehnt, also: Er ist Kollegen, die werden wie ein Zepter getragen. Talent und Egomanie in Verbindung könein Wesen, das sich selber nicht nen sehr hässlich aussehen, wirklich gelingt. Auch, weil es jedenfalls für mich. immer irgend eine niedere VerloSchauspieler brauchen das ckung gibt, immer eine Tendenz aber sehr oft. Also diesen zur Bequemlichkeit, immer ein Hang zum eigenen Vorteil, der Glauben, dass der, dem sie nicht unbedingt das Beste ist. ihre ganze Kraft und ihre ganDer Mensch ist zumeist die verze Liebe widmen, auch wirkkörperte Unwahrscheinlichkeit, lich der Größte ist. dass am Ende alles wirklich gut backstage Sind Schauspieler mitunter ausgeht. Aber bevor etwas abgleitet ins Resignative oder Zyauch Marionetten? nische, können doch nützliche Kleists Aufsatz über das MarioSicherungen eingebaut sein, sie nettentheater ist die intelligenHans-Dieter Schütt sind ein Ziel, mit dem zwar keiteste Antwort darauf. Gehen Sie backstage ne Ewigkeit zu bauen ist, aber aus dem Theater hinaus ins sodoch jeder Tag, und die Sichegenannte Leben: SeltsamerweiPETRAS se trifft man die meisten Mariorungen haben Namen: GemeinPaperback mit 176 Seiten und netten unter jenen Leuten, die samkeit, Spiel, Aufrichtigkeit. zahlreichen Abbildungen danach gieren, Fäden zu ziehen. Ich habe Freude daran, dass alISBN 978-3-95749-295-1 les so relativ ist: der Sinn und EUR 18,00 (print) / 14,99 (digital) Was macht denn ein Regisder Unsinn, die Stärke und die Schwäche, der Erfolg, der Missseur anderes, als Fäden zu erfolg aber auch. ziehen? Das wahre Abenteuer besteht Ist Ihnen egal, wo Ihr Theater stattfindet? im Verknäueln. Die Probe ist wie eine Suche nach der richtiNein. Es gibt zum Beispiel zwei Sorten von Theaterleuten. gen Tür. Vielleicht eine Tür, die im Grunde unsichtbar ist: Seit Jahren fahren wir mit den Händen die Wände ab, um sie endDie einen machen ihr Theater, egal, wo sie sind. Eine RobertWilson-Inszenierung sieht in Tokio so aus wie in Berlin oder lich zu finden. Es ist schwer. Aber es gibt sie. Bei vier Stunden Probe kommt es darauf an, eine halbe oder dreiviertel Stunde auf dem Mars. Es gibt also Menschen, die gehen unantastbar durch die Welt, sie spenden ihr Theater, sie verteilen ihre gemeinsam auf ein außergewöhnliches Energieniveau zu gelangen. Sozusagen in einen Empfindungsbereich, als habe Gabe. Die anderen, und zu denen gehöre ich, die docken an, man eine Schallmauer durchstoßen. Auf den Proben meldet sie geraten aus den Alleen, in denen das Theater Schmuck entfaltet, immer wieder in Schmutzecken. Sie interessieren sich jedes Mal ein Hunger, zu vergleichen mit dem Hunger eines Dachdeckers, der an die frische Luft und die Welt von sich massiv für das, was links und rechts neben dem Theater passiert – in den Seitenstraßen. Und damit ändert sich ihr oben sehen will. Es muss uns der Wunsch treiben, spielend einen Zustand zu fühlen, bei dem man seinem langweiligen Theater, es versucht, Fühlung zur Gegend aufzunehmen. Wenn ich nach Brüssel oder Odessa fahre, sehe ich, dass Leben entronnen ist.
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Liebes Reclamheft, reg dich bitte nicht auf! Der Dramatiker Bonn Park über sein neues Stück „Die Räuber der Herzen“, das er selbst am Hamburger Schauspielhaus urinszeniert, im Gespräch mit Christine Wahl Bonn Park, in Ihrem neuen Stück gibt es ein
streicheln und zu ihm zu sagen: Es wird
Ihre Texte entstehen während des Proben
Wiedersehen mit den berühmten Theater
schon alles gut, reg dich nicht so auf! So eine
prozesses?
brüdern Franz und Karl aus Friedrich Schillers
Geste ist „Ocean’s Eleven“.
Ja, ich mag es, die Stücke so zu entwickeln.
Jugendwerk „Die Räuber“. Allerdings heißen
Wenn wir sieben Wochen Zeit haben, sammeln
sie bei Ihnen nicht Moor, sondern Ozean und
Der Satz „Alles wird gut“ zieht sich tatsächlich
wir die ersten dreieinhalb Wochen Material.
weisen auch sonst große Ähnlichkeiten zu den
leitmotivisch durch Ihr Stück, gern ergänzt um
Anschließend schreibe ich eine Woche, und
Kultgangstern um George Clooney und Brad Pitt
die Wendung: „Was soll es auch sonst werden,
dann ist schon mal ein großer Teil des Stückes
auf, die in Steven Soderberghs Heist-Movie
es ist ja alternativlos.“ Weniger philanthropi-
da. Ich schreibe gern direkt für die einzelnen
„Ocean’s Eleven“ den Tresor eines Casino
sche Zeitgenossen dürften das eher ironisch als
Leute. Im Idealfall kommen die Texte dann
hotels knacken.
optimistisch lesen.
einfach zu den Personen, und man braucht gar
Die Idee, Schillers „Räuber“ mit „Ocean’s
Unser Vorhaben war tatsächlich, etwas be
nicht mehr so viel Probenzeit.
Eleven“ zu verbinden, kam mir schon vor fünf
dingungslos Zuversichtliches zu schaffen –
Jahren. Ich mag den Film sehr, weil er so be-
allerdings mit dem Wissen, dass das wahr-
Franz und Amalia, die bei Ihnen – völlig anders
dingungslos zuversichtlich ist. Es geht immer
scheinlich nicht gelingt. Was zählt, ist der
als bei Schiller – eine geradezu symbiotische
alles glatt, es gibt für jedes Problem eine Lö-
kompromisslos ehrliche Versuch, man zwingt
Beziehung führen, lesen keine Zeitung mehr,
sung, für alles existiert ein Plan, und am Ende
sich zur Naivität. Diese Akkumulation be-
weil es keine Debatten mehr gibt, sondern „nur
wird immer alles gut. Selbst wenn es zwi-
ängstigender Dinge – vom ehemaligen ameri-
noch zwei Meinungen zu allem“. Auch ein weit-
schendurch scheinbar katastrophal läuft, stellt
kanischen Präsidenten über den Rechtsextre-
verbreitetes Phänomen, oder?
sich letztlich heraus, dass das nur Teil des
mismus und die Pandemie bis zur daraus
Als Mensch, der viel Zeit im Internet ver-
Planes war: Ein schönes und wichtiges Ge-
folgenden Wirtschaftskrise, dem Klimawandel
bringt, merke ich, dass immer dieselben drei,
fühl, das ich sehr vermisse in meinem Leben.
und all den anderen Weltende-Szenarien –
vier Leute die Meinung diktieren. Das wird
fühlt sich ja an wie eine vibrierende Schub
wahrscheinlich in jeder Blase ähnlich sein:
Sie arbeiten an einem Erbauungsabend? Und
lade, die man in sich trägt und ständig mit
Es kristallisieren sich Meinungsführer heraus,
das ausgerechnet mit den „Räubern“?
der inneren Hand zuhält.
was gefühlt zu immer mehr Polarisierung
Die Casinoräuber in „Ocean’s Eleven“ sind
führt, bis man irgendwann in einer fiktiven
zwar eigentlich Verbrecher, aber man findet
„Die Räuber der Herzen“ haben gegen diese
Welt von Gut und Böse lebt, in so einer Art
sie richtig super. Sie sehen gut aus, sind gut
Schublade eine sehr zeitgenössische Selbst-
Star-Wars-Realität: Es gibt diese Fronten,
gekleidet und haben keine Waffen. Nicht ein
achtsamkeitstechnik entwickelt, die auch vor
aber keine Differenzierung mehr.
einziges Mal wird jemand erschossen, nie
Eskapismus nicht zurückschreckt. Als endlich
muss jemand zurückgelassen werden, es
alles bereit ist zum großen Coup, den Karl – ein
Werden in der analogen Theaterwelt noch De-
fallen keine Kraftausdrücke, alles ist sehr läs-
zartbesaiteter junger Mann mit „komplizierten
batten geführt?
sig und charmant.
Gefühlen“ – über viele Textseiten hinweg einge-
Ich weiß gar nicht, ob das zurzeit überhaupt
fädelt hat, warten die Kollegen vorm Casino ver-
möglich wäre. Es existieren ja viele andere
Was man von den „Räubern“ bei Schiller in
geblich auf ihn. Es geht ihm leider nicht so rich-
Probleme in den Theaterbetrieben. Es geht
der Tat nicht behaupten kann. Während dort
tig heute; er zieht es vor, zu Hause ein paar
ums Geld, um die Existenz. Es gibt Leute, die
Klöster überfallen und Nonnen vergewaltigt
Folgen seiner Lieblingsserie zu schauen.
auf der letzten Rille laufen. Man motiviert sich
werden, wollen Ihre Casinoräuber bestenfalls
Das ging auf eine Absage zurück, die ich per
immer wieder, etwas anzuschmeißen, was
mal gewaltfrei „die Werte des Katholizismus
SMS auf eine Geburtstagseinladung bekom-
dann jedes Mal kurz vorher abgesagt wird.
per se hinterfragen – aber auch das muss nicht
men habe: „Ich bleibe jetzt lieber im Bett
unbedingt sein“. Sie treten für „flache Hierar
und schaue ,Buffy‘.“ Damit kann ich viel an-
„Die Räuber der Herzen“ sollten eigentlich An-
chien“ ein, sprechen auf Augenhöhe über ihre
fangen; ich kenne das auch von mir: Am Mon-
fang November Premiere haben, die Nachricht
Be ziehungen und berühren einander immer
tag verabredet man sich für Freitag, und je
vom neuerlichen Theater-Shutdown traf Sie in
wieder „liebevoll mit den Fußsohlen oder
näher der Tag rückt, desto mehr wollen beide
der Endprobenphase. Jetzt ist die Premiere erst
Ellenbogen“.
absagen. Ich habe keine Ahnung, woran das
einmal verschoben, ein neuer Termin steht noch
Schillers „Räuber“ sind wütend, ängstlich,
liegt. Es ist aber scheinbar ein weitverbrei
nicht fest.
enttäuscht – und eigentlich auf der Suche
tetes Phänomen. Vieles, was im Stück vor-
An dem Tag, an dem Angela Merkel und die
nach Ruhe. Ich hatte das Bedürfnis, das
kommt, ist während der Produktion so oder so
Ministerpräsidenten zusammensaßen, um die
Reclamheft in den Arm zu nehmen, es zu
ähnlich passiert oder gesagt worden.
Maßnahmen zu beschließen, haben wir auf
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Jetzt, im Shutdown, wird erst einmal wieder ge-
der Probe ständig den Newsticker aktualisiert. Dann sickerte langsam durch: Die Gastronomie macht zu, der Einzelhandel bleibt geöffnet, Tattoo- und Nagelstudios müssen schließen, Friseure bleiben geöffnet – und dann kam nichts mehr. Da dachten wir: Wow! Uns wurde schlagartig klar, wie unwichtig wir eigentlich sind: Nagelstudios haben es auf die Liste der Erwähnenswerten geschafft, wir nicht. Entweder sind Nagelstudios also sehr viel wichtiger, als man denkt – oder Theater ist sehr viel unwichtiger. Und, was meinen Sie? Nagelstudios finde ich sehr wichtig, dagegen ist nichts einzuwenden. Beim Theater bin ich zwiegespalten: Ich liebe das Theater, ich habe eine richtig tolle Gruppe in Hamburg, die Proben machen sehr viel Spaß. Aber wenn man den Blick öffnet auf die gesamte Theaterlandschaft, fragt man sich schon manchmal: Ist das relevant? Für wen macht man das eigentlich noch? Inwiefern? Dieser Kanon, der irgendwann einmal von der Gesellschaft als Hochkultur definiert worden
Bonn Park, geboren 1987 in Berlin, wuchs in Berlin, Korea und Paris auf, studierte Slawische Sprachen und Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin, später Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin und Regie an der Zürcher Hochschule der Künste. Parallel dazu entwickelte er erste Arbeiten als Regisseur und Autor an der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf, wo er hospitierte, und drehte Filme. Seine Stücke, die er häufig auch selbst inszeniert, wurden vielfach prämiert, unter anderem mit dem Innovationspreis des Heidelberger Stückemarkts 2011, dem Else-LaskerSchüler-Dramatikerpreis 2015, dem Jugendjurypreis der Essener Autorentage 2016, dem ersten Preis des Stückemarkts beim Berliner Theatertreffen 2017 sowie dem Friedrich-Luft-Preis 2019. Seine für November geplante Uraufführung von „Die Räuber der Herzen“ am Schauspielhaus Hamburg musste aufgrund des Lockdowns verschoben werden. Ein neuer Termin stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Foto Niklas Vogt
ist, ist auf eine Art unpenetrierbar. Immer
streamt. Schauen Sie Inszenierungen im Netz? Wenn das Kernmerkmal des Theaters verschwindet – dieses minimum requirement, dass es in einem Raum stattfindet, wo physische Anwesenheit der kleinste gemeinsame Nenner ist –, ist Theater nur noch ein Tab in meinem Browser neben Netflix und YouTube, und es stellt sich die Frage, ob es auf diese Art existenzfähig ist. Meistens ist es einfach von vorn abgefilmt. In den ersten fünf Minuten sind noch alle dabei, dann klingelt das Telefon, man geht mal auf die Toilette, und Vorspulen ist auch sehr beliebt, am liebsten mit der Behauptung, man hätte es gesehen. Ich wünsche mir, dass die Theater als Statement keine Streams anbieten, einfach eine Ansage machen: Das gibt’s nur in einem Raum bei uns. Was haben Sie zuletzt live im Theater gesehen? Eine der letzten Aufführungen war René Polleschs „Probleme Probleme Probleme“ am Schauspielhaus Hamburg. Ich mag die Seele dieser Abende, die immer sehr warm sind. Das ist tröstende Unterhaltung, die einfach Spaß macht. Zwar durchdringe ich die Texte
wieder kommt er auf die große Bühne, und
intellektuell nach wie vor nicht – an meinem
immer wieder wird von den Theatern gesagt:
ist eben: Reicht das? Gerade in dieser aktuel-
ersten Pollesch-Abend habe ich ungefähr
Wir mögen dieses Stück ja auch nicht, aber
len Debatte, wenn man groß behauptet: Nein,
zwei Prozent verstanden, jetzt bin ich viel-
die Leute kommen halt, die wollen den
Theater ist nicht nur Unterhaltung, Theater
leicht bei neun. Aber auf einer sinnlichen
Schauspieler XY als Karl sehen, da können
ist Kunst? Und dazu kommt dann noch, dass
Ebene fühle ich mich sehr gemeint und ver-
wir Schulklassen reinsetzen! Und die Frage
ich oft im Theater nicht mal unterhalten bin.
standen. //
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Bonn Park
Die Räuber der Herzen nach „Die Räuber“ von Friedrich Schiller
-´-,-{@ VERBRECHER*INNEN @}-,-´AMALIA FRANZ OZEAN DER ALTE OZEAN KARL OZEAN FAUSTY SPIEGELBERG FISTO SPIEGELBERG SHORTY SNAKE MAGIC GIRL
ERSTER AKT Erste Scene Vor dem Waldgefängnis von Hinterpommern. LIED: DJ TOMEKK FT. KURUPT, G-STYLE, TATWAFFE – GANXTAVILLE PART III https://www.google.com/search?client=firefoxb-d&q=GANXTAVILLE+Part+III DIE RÄUBER DER HERZEN Die Türen des Gefängnisses öffnen sich. Heraus tritt ein gutaussehender Typ, dessen Krawatte fast gebun den ist und das Hemd fast vollständig zugeknöpft. Der Anzug sieht zum Glück teuer aus, das Brusthaar zu gepflegt. Er hat einen obszön lässigen, aber auch sehr erstrebenswerten Gang. Wäre es das Jahr 2001, nie mals würden wir ihn von der Bettkante stoßen. (Doch leider ist es oft das Jahr 2020, in dem wir jede*n von der Bettkante stoßen.) Es ist Karl Ozean. Niemand hat Karl Ozean abgeholt. Niemand hat vor dem Gefängnis auf Karl Ozean gewartet. KARL Hm. Niemand da. Kein Freund, kein Feind. O Pharao! Ich dachte vielleicht, naja, es kommt jemand, es würde sich jemand freuen, dass ich endlich rauskomme. Vielleicht meine
Freundin Amalia oder mein Bruder Franz oder mein Vater, der alte Ozean, möglicherweise. Mich deucht aber schon auch, dass, naja. So. Alles gut. Nicht so schlimm. Komplizierte Gefühle, aber auch nicht so schlimm. Ich hass die eh alle, ich hab die richtig lieb. Aber egal. Ich habe so komplizierte Gefühle, ich muss das Casino meines Vaters ausrauben. Ich räum das aus, das Casino meines Vaters, dann wird sicher alles besser. Der wird sich wundern. Ich hab den echt lieb, aber hassen tu ich den auch so richtig. Alles nicht so einfach, aber auch nicht so schlimm. Ich mach jetzt Selbstgespräche, weil ja niemand da ist und mich niemand liebt, und niemand da ist, wenn ich nach sechs Monaten aus dem Bau komme. Das interessiert niemanden, mich interessiert das, meine Gefühle sind sehr beschädigt, es kann nur heißen, man hat mich vergessen oder man hasst mich sowieso, aber das ist auch alles gar nicht schlimm, es wird schon alles gut, es kann mir nichts passieren außer alles. Ich kann doch einfach mit mir selbst einen Coup planen. Hey, Kollege, Freund, Vertrauter, ich hab einen Plan, um das Grandhotel&Casino L‘Ozean auszuräumen. Bist du verrückt? Das ist das am besten gesicherte Gebäude auf der Welt! Ich weiß. Kameras, Wachmänner, Safes, Laser, Türen, Codes, Plastikkarten, Irisscans, Roboter, Algorithmen, neuste Technologie, Bodenvibrationserkennung, Panzerstahl. Na, du kennst mich, kein Problem, schakalaka. Und wie ich dich kenne. Musik wäre voll nett. Es kommt zuversichtliche Diebstahlmusik. Montage szene I: Karl stellt sich selbst den Plan vor. KARL Und dann verschwinden wir über das Rollfeld mit den Hunderttausendmillionen. Und dem da. Genau, und dem da. Jetzt brauchen wir nur noch eine Bande. Aber hier ist ja einfach niemand. SNAKE (war die ganze Zeit da) Hey! Ich bin doch nicht niemand. KARL Oh, sorry. SNAKE Okay. KARL Hast du Lust, das Grandhotel&Casino L‘Ozean auszuräumen? Springt ‘n hübsches Sümmchen für dich raus.
03./05./06.12.2020 Learning Feminism from Rwanda Flinn Works und Künstler*innen aus Ruanda (DE/RW) 04./05.12.2020 FLAGS Paula Rosolen/Haptic Hide (DE)
www.hellerau.org
11./12.12.2020 Erbstücke Spezial: Isadora Duncan Jérôme Bel (FR)
SNAKE Okay. KARL Dann brauchen wir noch ein paar gute Leute. Ich weiß auch schon genau, wo wir sie finden. Ok, gut, alles klar. SNAKE Wieso führst du immer noch Selbstgespräche? Ich bin doch hier und du hast mich auch bemerkt. KARL Ich mag mich einfach. SNAKE Okay. Snake. KARL Hi, Snake. Karl Ozean. Hast du ein Auto? SNAKE Ja. Und auch komplizierte Gefühle. KARL Ich weiß. Na, dann zum Flughafen! Montageszene II (natürlich immer noch Musik): Snake erklärt Karl, während sie rasant Cabriolet fahren, ihre komplizierten Gefühle und umgekehrt, es geht viel um Väter und Mütter, Beziehungen und Schwierigkeiten, sich sozial in Gruppen zu navigieren. Häppchen von Zusammenhängen fliegen an uns vorbei wie der Fahrt wind der Freiheit. SNAKE So schwierig immer alles. KARL Angst, dass mein Herz aufhört zu schlagen! SNAKE Mutter und dann ist ganz Deutschland abgebrannt. KARL Der Mond auf die Erde stürzte, da. SNAKE Egal. Wird schon alles! KARL Ja, wird schon alles! Das ist Shorty. (ÜBERTITEL:) Baden-Baden. Städtischer Zoo. Auftritt Shorty. KARL Shorty kann jedes Schloss öffnen. Groß, klein, riesig, winzig, hart, weich, spitz, rund, traurig, lustig, egal. Und zwar nur mit Geräuschen, die sie macht. Außerdem liebt sie Tiere sehr. Shorty trägt einen Käfig in der Hand mit einem Tier. Sie macht lustige Geräusche, der Käfig öffnet sich und das Tier fliegt in die Freiheit. Karl macht ein albernes Geräusch von früher, und Shorty erkennt es sofort. SHORTY Karl Ozean! Was überfallen wir? KARL Das Grandhotel&Casino L‘Ozean. SHORTY Gehört das nicht deinem Alten? KARL Ja. SHORTY Hast wohl komplizierte Gefühle. KARL Mhm. SHORTY Okay! Das ist voll in Ordnung. Hab ich auch, immer mehr in letzter Zeit. Was ist das auch für ein Kalenderjahr! Mir geht’s echt nicht gut, wow! Ich dachte, naja, nach der Kindheit, da wird alles sicher besser, aber dann wurde alles noch schlimmer als Teenager, und ich dachte, ich muss erst mal zwanzig werden, dann wird das schon alles, aber alter Hottogaul, sind die Zwanziger beschissen! In den Zwanzigern habe ich mir nur noch gewünscht, wieder ein Kind zu sein, und ich weiß, bei allen Schätzen des Mammons, ich hab alles gehasst, als ich ein Kind war. Naja, hoffentlich
18./19.12.2020 Loss & Luck Antje Schupp (DE/CH) & Sigal Zouk (IL/DE) 18. – 20.12.2020 Geometrisches Ballett – Hommage à Oskar Schlemmer Ursula Sax/Katja Erfurth (DE)
bonn park_die räuber der herzen
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werd ich bald dreißig, da soll ja dann alles ganz lässig sein, wie die Zwanziger, nur in lässig. Aber alles gut! Wir müssen einfach nur zusammenhalten. Dann wird das alles schon irgendwie. Ich bin dabei. Irgendwo ist ein Schloss aufgegangen. SHORTY Ich muss echt aufpassen, was ich sage! Dabei liebe ich reden doch so sehr. KARL Immer noch die alte Shorty. SNAKE Snake! SHORTY Cool, wie geht’s? SNAKE So lala! SHORTY Wird schon alles gut! Sind wir alle? KARL Natürlich nicht. SHORTY Die Spiegelberge? KARL Die Spiegelberge! (ÜBERTITEL:) Buenos Aires. Auftritt Fausty und Fisto Spiegelberg. FAUSTY Ich wette zwanzig, dass du es nicht schaffst, einen Fehler einzugestehen und um Verzeihung zu bitten! FISTO Und ich wette fünfzig, dass du es nicht schaffst, etwas zu äußern, das dich stört, statt in Passivaggression zu entkommen! FAUSTY Ha! Dann wette ich hundert, dass du mir niemals einen Kuss auf den Mund geben wirst, obwohl du mich sehr liebhast, dass du niemals deine Enttäuschung über die Welt überwinden kannst und wieder Lust auf die Zukunft hast! FISTO Na, wenn das so ist, dann wette ich das Doppelte, dass du mir niemals ein Lied singen wirst, in dem du mir deine uneingeschränkte Zuneigung mitteilst, dass du es nicht mehr in diesem Raumzeitkontinuum schaffst, dein Misstrauen gegenüber allen Lebewesen abzulegen und deine Irritation zu überwinden und wieder froh zu sein, einfach wieder froh zu sein! FAUSTY Na, warte! Dir zeig ichs! FISTO Was zeigst du mir? FAUSTY (zorniger) Ich zeige dir alles, das Universum, die bedingungslose Liebe, Freundschaft und sanfte Hände! FISTO (weiterhin sehr zornig, sich die Ärmel hoch krempelnd) Nicht, wenn ich dir zuerst, das Universum, die bedingungslose Liebe, Freund KARL Fisto! Fausty! FISTO/FAUSTY Karl! Weicher Verbrecher, bezaubernder Schurk‘. Nicht mehr in Franken? KARL Schon lang. FISTO Leipzig? KARL Nee, nee. FAUSTY Ach, du warst ja im MAX. KARL JVA Hinterpommern. FISTO Wie war der Knast? Seife fallen gelassen? KARL Klar.
FAUSTY Zigaretten gegen M&Ms getauscht? KARL Sicher. FISTO Besuch gehabt und durch die Scheibe gesprochen? KARL Niemals. FAUSTY Der gute alte einsame Karl! Wie geht’s? KARL Mittel. Echt mittel! FISTO Ja, viel los grad. Was für ein Jahr! FAUSTY Verstehen tut man wenig, aber schlecht geht es einem dafür! FISTO Wir schlagen uns so durch, ich hasse meinen Bruder mehr denn je. FAUSTY Ich auch. Ich glaube, es bedeutet, ich hasse mich selbst. Aber es wird schon alles gut. FISTO Mir brennt so viel auf der Seele, aber was einen nicht umbringt, das bringt einen nicht um! FAUSTY Ich habe das Gefühl, nicht hier zu sein. Irgendwie bin ich nicht hier. Meine Anwesenheit FISTO Ist nicht da. SHORTY Ja, genau. Das. KARL Uns fehlt noch (ÜBERTITEL:) Las Vegas. Das Mirage. Auftritt Magic Girl. Macht Zauber. KARL Ein Zauberer. Magic Girl. Wie geht es dir? MAGIC GIRL Sehr, sehr, sehr, sehr. Sehr. Sehr. Gut. Ich bin dabei.
ERSTER AKT Zweite Scene Im Grandhotel&Casino L‘Ozean. Franz Ozean, Amalia, der alte Ozean. Alle können Fremdländisch, außer der alte Ozean. (Am Ende kommt aber sicher raus, dass er sehr wohl Fremdlän disch kann und immer alles verstanden hat oder viel leicht auch nicht.) Casino-Choreografie. FRANZ ODER AMALIA (in Fremdländisch) Er ist was?!?!?! Jetzt schon? Aber wie kann das sein! Das ist unmöglich! FRANZ ODER AMALIA (in Fremdländisch) Was ist unmöglich? FRANZ ODER AMALIA (in Fremdländisch) Karl ist aus dem Gefängnis raus. FRANZ ODER AMALIA (in Fremdländisch) Was? Aber das ist unmöglich! DER ALTE OZEAN Was ist unmöglich? FRANZ ODER AMALIA Hallo, Vater! DER ALTE OZEAN Hallo, Franz! FRANZ ODER AMALIA Hallo, Väterchen! DER ALTE OZEAN Hallo, Amalia! FRANZ ODER AMALIA Wie geht’s?
DER ALTE OZEAN Gut. Und dir? FRANZ ODER AMALIA Auch gut. Und dir? FRANZ ODER AMALIA Ja, gut. Schlecht. DER ALTE OZEAN Ja, mir auch. FRANZ ODER AMALIA Mir auch. FRANZ ODER AMALIA Oh! Vater! Nun. Es ist. Der Karl ist tot! FRANZ ODER AMALIA Ja, genau. Der Karl ist gestorben. DER ALTE OZEAN Unmöglich! Was sagst du da, Sohn? FRANZ ODER AMALIA Franz sagt, der Karl ist tot. Und ich sage das auch. DER ALTE OZEAN Aber Amalia, woher? FRANZ ODER AMALIA Gerade kam der Anruf aus der Irrenanstalt. Er hat sich erhängt mit Tabletten. DER ALTE OZEAN Aber er war doch im Gefängnis! FRANZ ODER AMALIA Ja, Väterchen. Die Gerichtsmedizin hat neu evaluiert. Sie sagten, er hatte eine höllenfarbene Unruhe in sich, die sich ausgebreitet hat auf Hirn-Herz-Handkoordination. Er war ein rastloses und verwirrtes Elend. DER ALTE OZEAN Das kann nicht sein. Mein Karl würde nie. Du vielleicht, Franz! Aber nicht mein Karl. FRANZ ODER AMALIA Wie bitte? DER ALTE OZEAN Oder du, Amalia! FRANZ ODER AMALIA Wohl wahr. DER ALTE OZEAN Deine Tränen, Amalia, ich weiß nicht, deine Tränen kenne ich nicht so gut, aber deine, Franz, deine fühlen sich närrisch und vergnüglich an. FRANZ ODER AMALIA Aber nein, Väterchen. Zutiefst unglücklich bin ich. FRANZ ODER AMALIA Ich auch, Väterchen. DER ALTE OZEAN ODER AMALIA Geliebt hast du ihn sowieso nicht. FRANZ ODER AMALIA Doch sehr. FRANZ ODER AMALIA Aber du mich dafür nicht. Und ihn umso doppelter. FRANZ ODER AMALIA Wer hat das gesagt? FRANZ ODER AMALIA Ist doch egal. DER ALTE OZEAN ODER AMALIA Ach, Franz! Ich liebe alle Säugetiere auf dieser Welt. FRANZ Lüge! Lüge, solange ich keine Eier lege oder mir keine Blätter aus den Achseln wachsen. DER ALTE OZEAN ODER AMALIA Schön! Ist das Schiller? FRANZ Nein, das ist Franz! Dein Sohn Franz, (auf sich deutend wie bei Pollesch) der hier, der sensible, feine, jähzornige, missgünstige, traumatisierte, witzige, zweitschönste Sohn vom alten Ozean.
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AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Beruhige dich! FRANZ Nein, ich beruhige mich nicht, Amalia! AMALIA In Ordnung! FRANZ Ihr denkt immer, ich bin ein schlechter Kerl. AMALIA Karl! DER ALTE OZEAN Nicht, Amalia! FRANZ ODER AMALIA ODER DER ALTE OZEAN Grrr! Ihr denkt immer, ich bin ein schlechter Kerl! Ich mache irgendetwas Durchtriebenes und dann bin ich gleich die Arschgeburt. Aber nein, schaut doch mal hier in mein Biopic, in meine ganz eigene Montageszene, in mein Leben auf dieser Rolle. Montageszene III? Oder IV? Wer zählt schon! DER ALTE OZEAN ODER AMALIA Das ist doch nur Kevin allein zu Haus. FRANZ ODER AMALIA ODER DER ALTE OZEAN Ja, klar ist das Kevin allein zu Haus und das nur kannst du gleich bei lebendigem Leibe mit Diesel und Kerosin übergießen und vor einem schaulustigen Großstadtpublikum verbrennen, ach was, einen ganzen Genozid kannst du begehen an allen Nurs und Vielleichts und ein Bisschens. Wir schauen uns diesen Film an und denken, Mann, der arme Kevin, toll, wie er das alles macht, seine Eltern haben ihn zu Hause an Weihnachten vergessen und er ist erst acht oder neun oder irgendwas Einstelliges, und dann verteidigt er das Haus gegen Einbrecher und am Ende schmückt er sich nicht mal damit und ist einfach froh, dass alle wieder da sind. Und das Gesicht seiner Mutter sagt, ihre Tränen sagen es auch, ihr Herz, ihre Seele, und die ganze Familie und deren Organe und Geister auch: Das passiert uns nie wieder! Nie wieder vergessen wir den Kevin oder irgendetwas anderes, was wir um alles auf der Welt lieben! FRANZ ODER AMALIA ODER DER ALTE OZEAN Und dann, zwei Jahre später, kommt Kevin allein in New York raus. Gibt es etwas Grausameres? Das ist mein Leben. Ich wurde vergessen eins bis eine Million, jetzt auf DVD und Blu-Ray. Und wehe jemand nimmt es mir jetzt noch übel, wenn ich vor Hass und Neid schäume und kaum meine Augäpfel in den Kopfhöhlen behalten kann, weil ich so bitter enttäuscht bin von euch allen. Ich mache schlimme Dinge, basta! Das ist mein Leben. Ein fürchterlicher Mensch sein! FRANZ ODER AMALIA (in Fremdländisch) Sshhh. Alles gut. Alles gut. Alles wird schon werden. Du bist ein ganz feiner Mensch. FRANZ ODER AMALIA (in Fremdländisch) Okay. FRANZ ODER AMALIA (in Fremdländisch) Wir müssen jetzt das Väterchen aufs Kreuz legen.
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FRANZ ODER AMALIA (in Fremdländisch) Ja. DER ALTE OZEAN Rede deutscher! FRANZ ODER AMALIA Verzeih, Vater. Väterchen. Karl ist tot. FRANZ ODER AMALIA Ja, er ist tot. FRANZ ODER AMALIA Dein ältester Sohn ist gestorben. Du änderst jetzt das Testament und überträgst uns das Grandhotel&Casino. DER ALTE OZEAN Ich muss erst trauern. Tschüss. (ab) FRANZ ODER AMALIA Meinst du, er hat‘s geschluckt? FRANZ ODER AMALIA Natürlich, ich kenne doch unser Väterchen. Ich habe so oft gelogen, dass ich noch nie die Wahrheit zu ihm gesagt habe, sodass er denkt, alles, was ich sage, ist wahr, denn er kann sich nicht vorstellen, dass ich mein ganzes Leben lang nur gelogen habe. FRANZ ODER AMALIA Ich hoffe wirklich, dass du das gesagt hast, und nicht ich. FRANZ ODER AMALIA Und dann gehört uns das alles hier. Und auch der Schlüssel zum geheimsten Tresor. Dort, wo es ist. Was wir alle wollen. FRANZ ODER AMALIA Ja, Liebling. FRANZ ODER AMALIA Nenn mich nicht so. LIED: WIR RAUBEN UNS SELBER AUS, UND DANN WIRD SICHER ALLES GUT. KARL/FRANZ/AMALIA Wir rauben uns selber aus, unser eigenes Casino, und dann, und dann, dann wird sicher alles gut.
ZWEITER AKT Erste Scene Im Wald. In einer Villa. In einer Villa im Wald. Lässige, zuversichtliche Musik. KARL Herrschaften, das ist das Grandhotel&Casino L‘Ozean. Es gehört meinem Vater. Ich habe es hier für euch nachgebaut, ihr befindet euch in einer eins-zu-eins-Kopie des Grandhotel&Casino L‘Ozean. Es ist das schönste und größte Casino in ganz Franken. An einem Wochentag sind dort viele hundert im Tresor. Doch dieses Wochenende finden dort die deutschen Meisterschaften statt. Das heißt, wir können mit mindestens tausend rechnen. SHORTY Tausend! (pfeift vor Staunen) KARL Wie ihr seht, ist der Tresor ganz zentral, also genau in der Mitte, genau hier, da, wo alle Gäste spielen und stehen und oben steht ganz groß
Tresor drüber. Das liegt daran, dass mein Vater gerne immer das Gegenteil von dem macht, was alle anderen machen. Andere bauen ihre Tresore in Keller hinter viele dicke Stahltüren und Fingerabdruckgeräte und Sicherheitsmenschen. Mein Vater stellt es als Augenzuckerl direkt in die Mitte und schreibt Tresor drüber. Andere lieben ihre Kinder und würden alles für sie tun, mein Vater findet das albern und er vergisst uns oft auf dem Spielplatz und kauft dafür allen anderen Kindern ein Eis. Es wird ein absolutes Kinderspiel, wir gehen rein, holen uns die Tausend und verschwinden. Und natürlich das, wofür wir alle hier sind. Das. Das holen wir uns auch. Es gibt überhaupt keine Hindernisse. Mach mal ‘n Trick! Magic Girl macht einen Trick. FISTO Ich habe eine Frage. FAUSTY Ich habe auch eine Frage. KARL Ja, bitte. FISTO Ich würde gern der Anführer unserer Bande sein. FAUSTY Das wollte ich auch fragen. Aber ich hätte auch eine Frage gestellt: Darf ich der Anführer unserer Bande sein? So wie ich es nämlich angekündigt habe. Eine Frage stellen. Warum sagst du, ich habe eine Frage, und dann stellst du gar keine Frage. FISTO Sorry. Du hast recht. FAUSTY Kein Problem. Hier sind deine zwanzig. FISTO Hat es dich wirklich so gestört? FAUSTY Nein, ich habe mich wahrscheinlich etwas hineingesteigert. FISTO Hier sind deine fünfzig. Mach mal ‘n Trick! Magic Girl macht einen Trick. KARL Ja, find ich gut. SHORTY Ich auch. SNAKE Okay. MAGIC GIRL Sehr gut. FAUSTY Alright. Jetzt, wo wir die Anführer sind. FISTO Gibt es etwas, was wir euch sagen müssen. FAUSTY Natürlich wussten wir schon, dass wir die Anführer werden. FISTO Als ihr alle gestern dieses und jenes gemacht habt, da. Montageszene IV oder V: Wie Fisto und Fausty schon alles wussten und einen eigenen Plan ausgeheckt haben. FAUSTY Und deshalb wussten wir, dass wir heute die Anführer von Karls Bande werden. MAGIC GIRL Sehr beeindruckend. FISTO Und als Erstes wollen wir flache Hierarchien. FAUSTY Keine Anführer! FISTO Alle dürfen alles entscheiden!
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SHORTY Nee, bitte nicht. Könnt ihr nicht einfach Anführer sein? KARL Ja, seid doch einfach die Anführer. FISTO Na gut. FAUSTY Wenn ihr das so wollt. FISTO Dann ist das ab jetzt ein triple Job. FAUSTY Ja. Ein triple Job. Wir räumen nicht nur das Casino von Karls Dad aus. FISTO Das hier ist das Nonnenkloster. Es liegt circa fünf Meilen nördlich des Grandhotel&Casino L‘Ozean. FAUSTY Es ist sehr gut zu erreichen und deswegen werden wir dort alle nicht hingehen. FISTO Und wir werden dort keine Sexualstraftaten begehen. FAUSTY Und auch werden wir uns hinterher nicht auf geschmacklose Art und Weise damit schmücken. FISTO Vielleicht werden wir mal die Werte des Katholizismus per se hinterfragen, aber auch das muss überhaupt nicht sein. FAUSTY Live and let live. FISTO Vier Meilen südöstlich davon, verbunden durch einen unterirdischen Tunnel. FAUSTY Ist die größte Gemeinde der Region. FISTO Einfache Leute, aber auch extravagante. FAUSTY Kinder, Frauen, Männer, Haustiere, und zurück. FISTO Auf gar keinen Fall werden wir dort vorbeigehen. FAUSTY Und wir werden kein Öl über die Häuser und Lebewesen gießen. FISTO Und dann auch keinen Funken hineinschmeißen. FAUSTY Denn Existenzen verbrennen zu unserer Belustigung, so was machen wir nicht. FISTO Habt ihr das verstanden? KARL/SHORTY/SNAKE Verstanden. FAUSTY Eigentlich ist es ein quadruple Job. FISTO Denn wir werden uns auch nicht mit anderen jähzornigen und enttäuschten Menschen auf einer Waldlichtung treffen und uns gegenseitig abschlachten. FAUSTY Oder sogar ein quintuple Job. Denn wenn wir mit unserer Partnerin eine Beziehung beenden, dann werden wir sie nicht abstechen. FISTO Eigentlich ist es einfach ein nicht endenderuple Job. FISTO/FAUSTY nicht endenderuple Job der Freundlichkeit und Zuneigung. FAUSTY Und keine Waffen! FISTO Keine Waffen! FAUSTY Denn nur weil der Schiller das schreibt heißt es nicht, dass wir das auch machen.
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FISTO Er denkt, er ist Allison von Umbrella Academy. Aber er ist nicht Allison von Umbrella Academy. FAUSTY Einfach nein. Einfach nein. FISTO/FAUSTY Einfach nein! FISTO Ab jetzt nur gutes Aussehen und Humor. FAUSTY Nur Charme und gepflegte Klamotten. FISTO Wir begehen nur noch FISTO/FAUSTY die guten Verbrechen! SHORTY Wieso Karl das Casino seines eigenen Vaters ausräumen will? Obwohl er doch als ältester Sohn sicher der Alleinerbe ist und sowieso alles bekommt. Ja, das wissen wir nicht. Ja, genau. Das wissen wir einfach nicht. Menschen sind kompliziert. Gefühle sind auch einfach kompliziert und schwierig. Vielleicht werden wir es nie verstehen. Vielleicht hat er einen größeren Plan. Und vielleicht auch nicht. Aber irgendwie verstehen wir‘s doch. Am Ende nämlich, verstehen wir es irgendwie doch, Karl. Vielleicht ergibt es einfach sehr sehr viel Sinn, das Casino seines eigenen Vaters auszuräumen, obwohl man es sowieso bald besitzt und einfach warten könnte und man bis dahin doch auch sowieso willkommen dort ist und der Vater gar nichts ahnt, und denkt, es sei alles in Ordnung. Aber Gefühle sind manchmal einfach kompliziert, und am Ende, am Ende, da verstehen wir es vollständig und lückenlos. Ich begreife es einfach. Und wir sind dabei. KARL Das hast du hübsch gesagt. Fausty fasst sich an das Herz. Irgendetwas ist passiert. Vielleicht hat sich ein Schloss geöffnet. Er geht kurz mal weg in einen der Spielautomaten, die dort aufge baut sind. Nach einer Weile kommt unten mehr Blut raus, als es noch gesund ist. SHORTY Und dann ist ja noch dieses Ding. Dieser Gegenstand. Dieser vielversprechende Gegenstand. Ich hoffe, es ist meine Anwesenheit. Ich hoffe, es ist meine Anwesenheit, die mich zurück in diese Welt bringt. Und wenn nicht, dann haben wir ja die Tausend. Und tausend, das ist ein hübsches Sümmchen. Denn für Materialismus, dafür braucht man ein hübsches Sümmchen. Und ich sag euch eins, Materialismus ist toll, ich liebe es einfach so sehr, Dinge zu kaufen, weil es die Löcher in meiner Seele stopft, und mein Gott, sind die Löcher groß dieses Jahr, und er stopft sie einfach, manchmal nicht ganz, aber es hilft doch schon sehr und das ist gut. Deshalb kaufe ich mir gerne Sachen und dafür brauchen wir das hübsche Sümmchen. Alles wird gut, was soll es auch sonst werden, es ist doch alternativlos. Es muss ja gut werden. Dann kommt Fausty wieder raus und hat eine Banda ge um den Unterarm. Er wischt das Blut vom Boden auf und sagt
FAUSTY Alles gut! KARL Ich liebe euch, Leute! Die Räuber berühren sich liebevoll mit den Fußsohlen oder Ellenbogen. MAGIC GIRL Sehr, sehr, sehr gut.
ZWETER AKT Zweite Scene Im Grandhotel&Casino L‘Ozean. Amalia und Franz. Oder Franz und Amalia. (Alles wird gut Lied?) AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Guten Morgen! AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Guten Morgen. AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Hast du heut schon die Zeitung gelesen? AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Nein. Ich lese keine Zeitung mehr. AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Wa rum? AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Wegen der Paywall! Wegen der Paywall! Und weil alles furchtbar ist! Was stand denn drin? AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Dass alles furchtbar ist. Es gibt auch nur noch zwei Meinungen zu allem. AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Eine falsche und eine richtige. AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Aber meine Meinung ist anders! Meine Meinung ist vielleicht differenziert. Ein bisschen hier, ein bisschen da. Aber das gibt es wohl nicht mehr. AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Weißt du noch, als man sich über Dinge ausgetauscht hat und Debatten geführt hat? AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Nein. AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Egal, es wird schon alles gut werden. AMALIA ODER FRANZ (in Fremdländisch) Natürlich, alles wird gut. LIED ALLES WIRD GUT, WAS SOLL ES AUCH SONST WERDEN, ES IST JA ALTERNATIVLOS AMALIA UND FRANZ (in Fremdländisch) Gut. Gut. Alles wird gut. Was soll es auch sonst werden,
EINE BACKSTEINHAUS PRODUKTION | TANZ PREMIERE: 3.12.2020 THEATERRAMPE.DE
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es ist ja alternativlos. LIED ENDE. Der alte Ozean hat sich wohl versteckt hinter einem Baccarat-Tisch, anders kann man sich sonst die Reak tion von Franz oder Amalia nicht erklären. FRANZ ODER AMALIA Vater! Hast du etwa gelauscht mit deinen alten Ohren? DER ALTE OZEAN Niemals! Ihr habt doch sowieso nur in fremden Zungen gesprochen. FRANZ ODER AMALIA Hm! DER ALTE OZEAN Und in fremden Zungen sprecht ihr doch nur, wenn ihr etwas zu verbergen habt. FRANZ ODER AMALIA So ist es nicht! Wir sprachen über die alltäglichen Dinge wie die Angst vor allem und die unberechtigte Hoffnung, dass doch alles gut werden wird. DER ALTE OZEAN Kein Wort glaub ich dir! FRANZ ODER AMALIA Aber so ist es wirklich gewesen. FRANZ ODER AMALIA Ja, so war es wirklich. DER ALTE OZEAN Hm, hm! Es ist dasselbe mit dem Karl und seinem Tod. Ich glaube dir das einfach nicht. Dir hingegen, dir glaube ich es. FRANZ ODER AMALIA Aber warum denn, Vater? DER ALTE OZEAN Es ist so ein Gefühl, ich bin ein Casinobesitzer und spüre einen Betrug. Und ich kenne euch sehr gut! Sicher werdet ihr einen guten Grund haben, zu lügen oder die Wahrheit zu sprechen. FRANZ ODER AMALIA (für sich) Armer alter Vater, nicht nur alte Ohren, sondern auch alte Ansichten über seine Liebsten, über die Menschen an sich, Mitleid haben wir für ihn, weil er immer noch glaubt, am End‘ sind alle gute Seelen. FRANZ ODER AMALIA Sicher, Vater. Du spürst also einen Betrug. So wie die letzten drei Male, als man versuchte, dein Casino zu bestehlen? Montageszene VII FRANZ ODER AMALIA Einmal, da hat eine Pensionistin ihre ganze Pension an einem Automaten verspielt. Sie tat dir so leid, dass du ihr immer mehr Eimer mit Vierteldollarmünzen hingestellt hast, bis sie endlich den Jackpot geknackt hatte. FRANZ ODER AMALIA Ein anderes Mal brachte ein Minderjähriger stümperhafte Imitate von Jetons mit ins Casino und verlor trotzdem alles. Dann, als er mit seinem letzten gefälschten Jeton auf die Doppelnull beim französischen Roulette setzte, da hast du die Cuvette eigenhändig auf seine Gewinnzahl gelegt und ihn ausbezahlt und dich auch noch mit ihm gefreut, obwohl alle gesehen haben, dass du das Spiel manipuliert hattest.
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FRANZ ODER AMALIA Und nicht vergessen haben wir auch, als ein Zauberer das Casino betrat und unendlich viele Münzen aus deinen Automaten und hinter deinen Ohren hervorholte und sie sich alle einsteckte. Du hast nur applaudiert. Magic Girl holt unendlich viele Münzen (vielleicht auch mal ‘ne 100-Dollar-Note oder eine goldene Kredit karte) hinter dem Ohr des Vaters hervor und steckt sie sich ein. DER ALTE OZEAN Was soll ich sagen. Ich liebe einen charmanten Betrug. FRANZ ODER AMALIA Schade, dass du nie so nett zu uns warst. DER ALTE OZEAN Ihr habt mich auch zu selten betrogen. FRANZ ODER AMALIA Ist das so! Was spürst du gerade? DER ALTE OZEAN Unerschütterliche Verwirrung. FRANZ ODER AMALIA Nicht, dass jemand dich betrügen möchte? DER ALTE OZEAN Nein! FRANZ ODER AMALIA Niemand aus deiner Familie? DER ALTE OZEAN Wie sprichst du nur! Ist der Karl am Leben? FRANZ ODER AMALIA Nein, der Karl ist tot und er schrieb seinen Abschied auf ein Schwert mit seinem Blut, ein Abschiedsschwert, und das war eine Liste mit 25 Gründen, warum er sich jetzt umbringt und nun rate wohl, wer den zweiten Platz gemacht hat! DER ALTE OZEAN Du? FRANZ ODER AMALIA Nein! DER ALTE OZEAN Nein, doch nicht du? FRANZ ODER AMALIA Grrr, nein! Du! Du, Vater, du! DER ALTE OZEAN Nein, nein, O Pharao, doch nicht mein Karl, doch nicht so, ich kann nicht! Ich, der zweite Platz. Ich muss! Ich. Mein Herz, es brennt wie dieses Jahr und die Wälder. Ich muss mich zurückziehen. FRANZ ODER AMALIA Hier ist das Schwert. Sieh es dir an, wenn du nur der Hälfte von uns glaubst. Der alte Ozean zieht sich zurück. FRANZ ODER AMALIA Es wird mir so Nacht vor den Augen. FRANZ ODER AMALIA Du kneifst doch nicht etwa? FRANZ ODER AMALIA Alles lebt, um traurig wieder zu sterben. FRANZ ODER AMALIA Ist das schlimm? FRANZ ODER AMALIA Ich weiß nicht. Ich bin so unruhig. Wer kann mir meine Ruhe wiedergeben?
MÜLLER/ RINNERT + PAUL FRICK NOTHING WILL BE ARCHIVED
INTERROBANG FAMILIODROM – EIN EMPOWERMENT NACH ROUSSEAU
FILM/THEATER DEZEMBER 03 04 05 06
PERFORMANCE + LIVESTREAM DEZEMBER 08 09 | 19.30 DEZEMBER 12 13 | 16.00
FRANZ ODER AMALIA Warum bist du unruhig? Wegen unserem Plan? FRANZ ODER AMALIA Nein, doch nicht deswegen. FRANZ ODER AMALIA Sondern? FRANZ ODER AMALIA Wegen allem! FRANZ ODER AMALIA Wegen allem? Wegen allem allem? FRANZ ODER AMALIA Ja, beim Mammon! Wegen allem. Es ist so, jedes Jahr, da passieren schöne Sachen und da passieren hässliche Sachen, man ist mal gut drauf und mal schlecht. Und für all diese Ereignisse und Erinnerungen, da gibt es Fächer, wie ein Expeditregalsystem, verstehst du? Und alles hat seine Ordnung, dort diese und dort die anderen. Es hat seine Übersicht und seine Ordnung. Aber dieses Jahr, da kam so viel rein, so viel Unruhe und gespenstische Kreische, Ereignisse aus der Hölle und rostige Sätze, die dir die Adern aufschlitzen, und du in der ständigen Angst lebst, eine Blutvergiftung zu haben. FRANZ ODER AMALIA Und es sind viele, ganz viele, viele viele verschiedene Dinge, ich rede nicht von einer Handvoll oder weniger als hundert, es sind deutlich mehr als hundert, man kann es nicht mal mehr zählen, wie die Sterne am Himmel, weil man nicht weiß, welchen man schon gezählt hat und welchen man sich nur einbildet und welcher nur ein Satellit ist. Und sie rasen in mir und sie werden mehr und mehr zu einer Masse, zu einer dickflüssigen, nebligen, angstfarbenen Masse, und es wird alles gut. Was denn auch sonst? Es ist ja alternativlos. FRANZ ODER AMALIA Genau, es wird alles gut. Lenken wir uns ab. FRANZ ODER AMALIA Ja, ablenken! FRANZ ODER AMALIA Ich glaube, noch ein Jahr, das schaff ich nicht. FRANZ ODER AMALIA Klar, schaffst du das! FRANZ ODER AMALIA Stimmt! Schaff ich locker. Franz und Amalia berühren sich liebevoll mit den Fü ßen oder den Ellenbogen.
ENTRE ACTE Das Lied der beeindruckenden Sätze und Vokabeln aus „Die Räuber“ von Friedrich Schiller CHOR Hum! Hum! Hum! Hum! Jemini! Jemini! Jemini! Jemini! O Pharao! O Pharao! Nein, ja, nein, ja! SNAKE Tausend Husaren, Dragoner und Jäger! Ihr Übrigen zerstreut euch im Wald.
TICKETS SOPHIENSAELE.COM FON 030 283 52 66 SOPHIENSTR.18 10178 BERLIN
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KARL Drei volle Monde schmacht‘ ich schon in diesem finstern unterirdischen Gewölbe FAUSTY Franz Doppelpunkt AMALIA ODER FRANZ Ich komme! FAUSTY Amalia Doppelpunkt FRANZ ODER AMALIA Wann gehst du wieder? FAUSTY/FISTO Amalia gibt ihm eine Maulschelle. CHOR Maulschelle, Maulschelle! Hauptmann! Sturm, Wetter und Hölle! Hauptmann! FAUSTY Zwei goldene Sackuhren hab ich weggebixt MAGIC GIRL Zwei Pistolen fehlen selten! SHORTY Und wenn die Hölle uns neunfach umzingelte! Amalia gibt ihm eine Maulschelle! MAGIC GIRL/FAUSTY der stolze Strudelkopf FISTO Der milzsüchtige podagrische Moralist. SHORTY Eh soll die Kugel in ihren Lauf zurückkehren und in dem Eingeweid ihres Schützen wüthen MAGIC GIRL da ich eben den Tag noch keine Patrone verschossen hatte du weißt ich hasse das diem perdidi auf den Tod, KARL Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, MAGIC GIRL Du hättest die Östreicher durch ein Knopfloch gejagt! CHOR Zwei Pistolen fehlten selten! Nein, bei allen Schätzen des Mammons! Ich will ihn am Crucifix erwürgen. Ich fühle eine Armee in meiner Faust. SHORTY Hotto! AMALIA ODER FRANZ Und ich lief fort, Euch den Hottogaul zu holen. AMALI ODER FRANZ Das Erbarmen ist zu den Bären geflohen – AMALIA ODER FRANZ die Ehrlichkeit wackelt wie ein hohler Zahn, du darfst nur den Pelikan ansetzen – AMALIA ODER FRANZ Aber der gnädige Herr braucht Hasen! AMALIA ODER FRANZ Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. AMALIA ODER FRANZ Geh in tausend Grüfte, du Eule! AMALIA ODER FRANZ Warum soll dem Menschen das gelingen, was er von der Ameise hat,
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AMALIA ODER FRANZ Wir müssen fechten wie angeschossene Eber. AMALIA ODER FRANZ ODER DER ALTE OZEAN Ich habe die Menschen gesehen, ihre Bienensorgen und ihre Riesenprojekte ihre Götterplane und ihre Mäusegeschäfte, das wundersame Wettrennen nach Glückseligkeit. MAGIC GIRL/SNAKE Stockfisch! FISTO/FAUSTY Eselskopf! SHORTY/KARL Bienensorgen! CHOR Rede Deutscher! Rede Deutscher! Rede Deutscher, Stolzer Strudelkopf! FISTO (Sprechgesang/Auf einem Ton zum Beispiel) Der Mensch entsteht aus Morast, und watet eine Weile im Morast, und macht Morast, und gährt wieder zusammen in Morast, bis er zuletzt an den Schuhsohlen seines Urenkels unfläthig anklebt. SHORTY (Sprechgesang/Auf einem Ton zum Bei spiel) Du sollst Wunder sehen, dein Gehirnchen soll sich im Schädel umdrehen, wenn mein kreißender Witz in die Wochen kommt. Wie es sich aufhellt in mir! Große Gedanken dämmern auf in meiner Seele. Riesenplane gähren in meinem schöpferischen Schädel. FAUSTY (Sprechgesang/Auf einem Ton zum Beispiel) der Traum der Freiheit fuhr über ihm wie ein Blitz in die Nacht, der sie finsterer zurückläßt KARL (Sprechgesang/Auf einem Ton zum Beispiel) Ist es nicht diese Liebe zu ihm, die Euch all den Gram macht? Ohne diese Liebe ist er für Euch nicht da. Ohne diese strafbare, diese verdammliche Liebe ist er Euch gestorben – ist er Euch nie geboren. Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen. Liebt Ihr ihn nicht mehr, so ist diese Abart auch Euer Sohn nicht mehr, und wär‘ er aus Eurem Fleische geschnitten. Er ist Euer Augapfel gewesen bisher; nun aber, ärgert dich dein Auge, sagt die Schrift, so reiß es aus. Es ist besser, einäugig gen Himmel, als mit zwei Augen in die Hölle. Es ist besser, kinderlos gen Himmel, als wenn Beide, Vater und (ab hier wieder schön und interessant und abwechslungs reich gesungen) Sohn, in die Hölle fahren. So spricht die Gottheit. CHOR Das ist das Ende vom Lied Nein. Ja. Nein! KARL c‘est l‘amour qui a fait ça!
MAGIC GIRL Da liegen die Trümmer deiner Entwürfe. AMALIA ODER FRANZ meine Aussichten! Meine goldenen Träume! SNAKE/SHORTY Fürchtet euch nicht vor Tod und Gefahr, denn über uns waltet ein unbeugsames Fatum! AMALIA ODER FRANZ Ja Freunde, diese Welt ist so schön. FRANZ ODER AMALIA Diese Erde so herrlich FAUSTY daß alles so glücklich ist, … alles so verschwistert! MAGIC GIRL Ich habe euch einen Engel geschlachtet diese Narben stehen dir schön. CHOR Weiter! Weiter! Weiter! Weiter! O Karl! O Karl! SNAKE wirft sich in seinem Sessel herum in schröcklichen Bewegungen, wider eine Eiche rennend Er durchschwärmte Deutschland in die Runde Tee, Bruder, Tee! FISTO Spitzbubenklima SHORTY schwarzes, rauchendes Blut! MAGIC GIRL Si omnes consentiunt ego non dissentio. Wohlgemerkt, ohne Komma! AMALIA ODER FRANZ Du bist ein Narr. Der Wein bramarbasiert aus deinem Gehirne. KARL mich däucht, es ist eine unglückliche Physiognomie. AMALIA ODER FRANZ Auch ist der Wein all in unsern Schläuchen. FAUSTY Meine Zunge trocken wie eine Scherbe. SHORTY Es war ein Bubengedanke! CHOR ein Holzapfel weißt du wohl, wird im Paradiesgärtlein selber ewig keine Ananas CHOR Ananas! Ananas! Ein Holzapfel keine Ananas! Hotto! Hotto! Ich begreife kein Wort von Allem, was du sagst. Doch warens nur die Thränen im Schauspielhaus Hotto, Hotto! lern‘ erst die Tiefe des Abgrunds kennen, eh du hineinspringst! Schön! Schön! Superschön! Und auch traurig. Und auch wütend. Ach ich armer Thor, bin so klug wie als zu vor, blablablabla, Ende!
AUSSTELLUNG: KEIN „EINZELFALL“. RECHTSRADIKALE REALITÄTEN IN DEUTSCHLAND mit Mogniss H. Abdallah und Ken Fero, Vivet Alevi und Ulrike Hemberger, Cana Bilir-Meier, Ole-Kristian Heyer, Patrick Lohse und Marian Mayland, Katharina Kohl, Suat Ögüt sowie Hito Steyerl
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NORA ELBERFELD, JONAS WOLTEMATE THE TRIUMPH OF THE GOLDEN GLORY Uraufführung SASHA WALTZ & GUESTS ALLEE DER KOSMONAUTEN BURG URSINA TOSSI REVENANTS Uraufführung M A H L E G K A MPN A PERFORMATIVER WEIHNACHTSMARKT
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DRITTER AKT Erste Scene Nachts Im Wald. Vor dem Grandhotel&Casino L‘Ozean. Die Räuber ohne Karl. Alle liegen schon auf der Lauer, bereit zum Coup. Aber Karl ist einfach nicht da. Lässige Einbruchsmusik. FAUSTY Wo FISTO ist FAUSTY Karl? SHORTY Hm. Oh. Karl hat mir vorhin geschrieben. Ich habe es nicht gesehen. Er schreibt, dass er noch ganz schön viel zu tun hat und es ihm nicht so geht heute und lieber zu Hause bleiben möchte, sich etwas zu essen bestellen und ein paar Folgen Buffy schauen will. FAUSTY Was? Oh FISTO Nein, das ist aber FAUSTY Gar nicht MAGIC GIRL Sehr gut. SHORTY Soll ich ihm antworten? FISTO Ja! FAUSTY A! SHORTY Ok. Nach einer Weile. FAUSTY Hast du FISTO Ihm geantwortet? SHORTY Ups, vergessen. Ich hab da was gesehen, auf meinem Bildschirm, es war lustig und erschütternd. Wartet. Gleich hab ichs. So. Nach einer Weile. FAUSTY Und? SHORTY Habe ihm geschrieben: „Schade, hatten uns schon sehr auf dich gefreut. Ist doch auch deine Idee gewesen und auch dein Vater, dem du was damit erzählen wolltest. Sicher, dass du nicht auf ein Getränk vorbeikommen willst? Würden uns sehr freuen. Sonst nächste Woche. Rakete, Fee, Schneekristall.“ Er ist jetzt online. Es hat jetzt zwei blaue Häkchen. Er ist jetzt zuletzt gesehen worden, gerade eben! Nach einer Weile. SHORTY Hm. Keine Antwort. FAUSTY Was FISTO Machen FAUSTY Nee, ich will jetzt mal einen ganzen Satz sprechen. FISTO Ok, sorry. FAUSTY Was machen wir denn jetzt? FISTO Ich weiß es nicht. FAUSTY Ich weiß es auch nicht. FISTO Ich weiß es nicht. FAUSTY Ich weiß es nicht.
Kaserne
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FISTO Ich weiß es nicht. FAUSTY Ich weiß es nicht. Einbruchsmusik Ende. Reprise: Alles wird gut Lied von Amalia/Franz. ||: SHORTY Alles wird gut. SNAKE Alles wird gut. :|| Allgemeine Hilflosigkeit und Unruhe. Vieles hat mit dem augenscheinlich scheiternden Plan des Einbruchs zu tun, vieles aber auch mit dem generellen Scheitern aller Pläne im Leben, und dann auch einfach ganz allgemeine Angst, die einfach nicht verschwinden will, vor allem nicht dieses Jahr. Auftritt Karl. KARL https://www.youtube.com/ watch?v=PCtyygSfw-M Falls Sie kein Internet haben oder kein VPN in China benutzen wollen: Dort sehen wir ein Mädchen und in seinem Blick sind mindestens einhundert Jahre Dürre und Ratlosigkeit. Es sieht unendlich trocken und trau rig aus, aber sprechen tut es darüber nicht, und lässt uns so mit derselben Ratlosigkeit zurück. Nur helfen möchte man ihr, sie umarmen, was man dieses Jahr aber leider nicht darf, und ihr sagen, dass alles gut wird. Fragen auch, was denn los sei, obwohl man die Antwort doch schon kennt: ein verstörtes Schulterzu cken, eine ehrliche Ahnungslosigkeit über den eigenen Zustand dieser obszönen und maßlosen Traurigkeit. Karl ist dieses Mädchen. FAUSTY Oh beim Jupiter, was ist denn los? Karl zuckt die Schultern wie das Mädchen. Macht so wieso alles wie das Mädchen, auch wenn es hier nicht mehr steht. SHORTY Was ist denn? FISTO Karloni? MAGIC GIRL Gar nicht gut. SHORTY Was, was, hat dich die Hölle neunmal umzingelt? FISTO Du bist traurig! FAUSTY Du bist traurig, traurig! SHORTY Groß traurig! FAUSTY Kannst du uns sagen, was los ist? Karl kann nicht. Karl weint. FISTO Oh, bitte sag uns, was los ist! SHORTY Flehentlich, so lasset uns doch wissen, Bruder Karl! FAUSTY Alles okay? Karl nickt aus Versehen oder vielleicht, damit wir uns keine Sorgen machen. Man sieht es sowieso kaum. SHORTY Brauchst du was? FAUSTY Ja, irgendwas, sag es nur. Karl überlegt ernsthaft und vergisst sogar kurz das Wei nen dabei.
Fr 4.12. & Sa 5.12. Baro d̛evel Là
Zirka Zirkus
Di 8.12. & Mi 9.12. Augustin Rebetez / Niklas Blomberg Voodoo Sandwich
Zirka Zirkus
KARL Ähm. Ein Bad vielleicht. FAUSTY Ein Bad? Okay. Ein Bad. FISTO Was für ein Bad? Mit Badesalz? Oder lieber eine Badebombe von Lush? KARL Ähm. Vielleicht ein Schaumbad? SHORTY Einfach ein Schaumbad? KARL Ja. Mit Kerzen oder mit Teelichtern, das geht auch. Ich mag das. Wenn ich nicht sicher bin, ob ich schon gestorben bin, dann schaue ich gern in Kerzen, und dann weiß ichs wieder. Auftritt Badewanne mit Schaum und Kerzen oder Tee lichtern. FAUSTY Was noch? Was brauchst du noch? FISTO Ein Häppchen? Etwas Leckeres? Möchtest du Wein in all deinen Schläuchen? KARL Hm. Vielleicht Hühnerfrikassee und ein Peanutbutterandjellysandwich. Aber wie du es schneidest, ob du den Rand dranlässt oder diagonal schneidest, da kannst du mich gern über raschen. Auftritt Hühnerfrikassee und ein Peanutbutterand jellysandwich. SHORTY Wie wär‘s mit ein bisschen TV? KARL Ja, TV. SHORTY Und was möchtest du schauen? KARL Eine Obama-Rede. Auftritt TV und Videorekorder und VHS-Kassette mit Obama-Rede. MAGIC GIRL Vielleicht ein Trick? KARL Jaaa! Kannst du vielleicht einen Strand zaubern? Ich wäre so gern am Strand. Macht einen Strand. SNAKE Und Musik auch? KARL Ja, ich würde so gern das 2012-Lied hören. Immer wenn ich einen schlechten Tag habe oder Selbstmordgedanken, dann höre ich einfach das 2012-Lied. SNAKE Okay. DAS WIEGENLIED 2012 Es ist 2012. Eine Pandemie ist ausgebrochen, und alle tragen Masken, und keiner findet‘s schlimm. Menschen aus anderen Ländern kommen hierher, und es ist irgendwie okay. Und keiner findet‘s schlimm. Ein deutscher RnB-Sänger macht deutschen RnB es ist sanft und okay.
Sa 12.12. Fehler Kuti und die Polizei The History of the Federal Republic of Germany as Told by Fehler Kuti und die Polizei
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Und keiner findet‘s schlimm. Der vegane Koch kocht einfach vegan. Der Milliardär gibt Geld aus und macht Geschäfte. Leute unterhalten sich und manchmal, da sind sie sich nicht einig, und keiner findet‘s schlimm. Klimawandel ist schlimm, und bedroht die Erde. Aber irgendwie in den Griff kriegen wir es schon. Es ist 2012, und es ist alles nicht so schlimm. Es ist 2012, das beste Jahr der Menschheit. Es ist 2012, der letzte Weltkrieg liegt 70 Jahr zurück. Es ist 2012, den nächsten Weltkrieg gibt es nicht. Es wird alles nur noch besser, Krieg ist doch für immer vorbei. Nazis kann es nicht mehr geben, im Kino laufen viele Komödien. Es ist 2012, nichts kann uns geschehen. Egal, was auch passiert, es ist 2012, und wir kriegen‘s schon irgendwie ihn. Alles wird gut. Nichts ist schlimm. Was soll uns schon geschehen? Denn es ist Zwei Tausend Zwölf! FAUSTY Besser? KARL (sich den Schaum von der Kleidung wischend, wie Staub, nachdem man einen großen Stunt gemacht hat) (wie im Schillerlied im Anfangschor, gesungen) Nein, ja, nein, ja! Wir haben noch einen Coup zu erledigen! Ihr habt nie gefragt, warum wir das Casino meines Vaters ausräumen. SHORTY Ist doch egal, wir lieben einfach Pläne, die gelingen. KARL Ja! Das lieben wir sehr! Aber auch habe ich diesen Brief bekommen von Vater. Dort steht drin, dass er mich blöd findet und ich bleiben soll, wo der Pfeffer wächst, dass Franz ein besserer Küsser
ist und Amalia bald Vierlinge gebären wird und sie eine Firma gründet, die DER SCHÖNE FRANZ oder NIEMAND MAG KARL heißt. Es könnte auch Franz‘ Handschrift sein oder die von Amalia, aber letztendlich ist es mir gleich, es zerfrisst mich nicht, wer mich hintergehen will. Denn am Ende, da wollen mich Leute loswerden, die ich sehr lieb habe und verdammt doll hasse, es sind kurz gesagt einfach die top Menschen in meinem Leben und mindestens einer von ihnen will mich loswerden. Da haben es alle verdient, da haben wir es alle verdient, ausgeraubt zu werden, und das Grand hotel&Casino L‘Ozean, das sind wir alle. Doch vorfinden werden wir nur Bargeld und keine Zuneigung, die härteste aller Währungen. Außerdem, zu mindestens genauso großen Anteilen, sind es noch komplizierte Gefühle und all diese Unerklärlichkeiten. Und die Lust an Gelingen von Plänen. Dass Dinge einfach glattgehen, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt und diese bedingungslose Zuversicht, dass am Ende alles klappt. Familien, gelingende Pläne und komplizierte Gefühle, die kein Gott erläutern kann. Deswegen machen wir‘s. MAGIC GIRL (während er endlos zaubert) Karl! Bruder! Denkst du, wir waren ahnungslos? Natürlich hast du einen Brief von deinem Vater bekommen, der vielleicht von dem Bruder Franz oder deiner Freundin Amalia ist. Das wussten wir doch. KARL Habt ihr den Brief gesehen? Habt ihr in meinen Sachen gewühlt? FAUSTY/FISTO Nein. MAGIC GIRL (immer und immer am Zaubern) Wozu in deinen Sachen wühlen. Du hast einen Brief bekommen, so wie das ist, wenn man einen solchen Zorn verspürt wie du. Hättet ihr alle zusammen an einem Tisch gesessen und geredet, das wäre sicher anders gelaufen. Aber es sind die Briefe und die Nachrichten, immer die Briefe und die Nachrichten, nur jene können das scharfe Blitzen aus der Hölle in den Augen der Menschen entfachen. Und Karl, Bruder, es ist uns gleich. Shorty hat es doch schon gesagt, sie hat es doch hübsch gesagt, das hast du doch selbst gesagt, hübsch war es und eintausend richtig. Dem war nichts hinzuzufügen. Du hättest dir das alles sparen können. Wir hätten gefragt, wirklich, wir hätten gefragt, wenn es uns wichtig gewesen wäre, die Details zu kennen, aber weißt du, das alles, das sind am Ende keine Details, am Ende, wissen wir es einfach nicht ganz genau, wir lieben Pläne, und wir lieben Gelingen und Rache und all das, ja, aber am Ende, warum man ausgerechnet das eigene Casino ausrauben will? Ja, das wissen wir einfach nicht, und
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jeder Versuch, es zu ergründen, in sich oder in Büchern oder in der Medizin, da wird es einem immer nur noch unklarer, und die Erkenntnis wird kleiner, so wie diese Karten hier, kleiner und kleiner, bis es, puff, gänzlich verschwindet. Also, lieber Karl, lieber Bruder. Mach dir nichts draus, wir sind bei dir und wir möchten das einfach machen und aufgeben wollen wir, uns Erklärungen zu suchen für unsere Seelen und Ideen, es scheint einfach so zu sein wie es ist, und so soll es dann auch einfach sein. KARL Einverstanden. (für sich – bühnensich) Bald sehen wir uns wieder, Vater, Freundlichster aller Grausamen. Und du, mein Bruder Franz, ich hoffe, du hast nicht meine Panini-Sammlung durcheinandergebracht. Und du Amalia, ja, du, Amalia.
DRITTER AKT Zweite Scene Zur späten Stunde im Grandhotel&Casino L‘Ozean Franz, Amalia. AMALIA ODER FRANZ Sie sind da. AMALIA ODER FRANZ Sie denken, wir ahnen nichts. Aber wir ahnen alles. Auftritt der alte Ozean. DER ALTE OZEAN Wer denkt, dass ihr was nicht ahnt, obwohl ihr alles ahnt? AMALIA ODER FRANZ Jetzt reicht es mir mit dir, Vater! Du kommst jetzt ins Verlies! DER ALTE OZEAN Aber warum denn? AMALIA ODER FRANZ Weil du alt bist. Weil du ein gemeiner, alter Mann bist, und die Zeit der gemeinen alten Männer ist einfach vorbei. Niemand möchte mehr auf deinen Tod warten, geh ins Verlies jetzt! DER ALTE OZEAN Was hab ich denn falsch gemacht? AMALIA ODER FRANZ Was du falsch gemacht hast? Sieh in meine Augen. Sie ganz tief hinein. Die waren mal grüngrau und voller Neugier und Zuversicht, aber jetzt, da sind sie nur noch graugrau, und aus ihnen ist jede Hoffnung entschwunden. Kontaktlinsen der Zurückhaltung und Höflichkeit trug ich lange auf ihnen, ich dachte irgendwann, da zeigst du mir eine kleine Utopie in der Welt, dass am Ende alles gut wird, aber du, Vater, du bist wie dieses Kalenderjahr zu mir, so grausam, auf eine so objektive Art und Weise, so schlimm und hässlich bist du über mein Leben gefahren, aber wie ein SUV hast du nicht mal gemerkt, dass meine Eingeweide noch in deinem
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Allradantrieb hängen. Hallo, Vater! Ich bin Franz! Dein Sohn! Und ich bin hier! Auf der Welt! Am Leben! Hast du das jemals verstanden? Und du gehst jetzt ins Verlies! Dass du mal gebaut hast für unangenehme Menschen. Und vor mir, da steht doch einer! DER ALTE OZEAN (schwer bewegt) Ich verstehe. Dann geh ich mal ins Verlies. Der alte Ozean geht ins Verlies. AMALIA ODER FRANZ (weint schlimm) Warum nur bin ich so? Warum nur bin ich so grausam? Warum kann ich nicht nett sein? Warum kann ich nicht optimistisch sein und an eine gute Lösung glauben? Wo ist meine Geduld und Zuversicht? Wer redet so mit seinen eigenen Eltern? Wurde ich wirklich aus einem Anus geboren? AMALIA ODER FRANZ (gibt ihm eine Maulschelle und dann mehrere) Mein armer Franz! Mein armer armer Franz! Die Taschen voller Bargeld, die Seele gefühlsbankrott. Das Bett weich und warm, die Gedanken dunkel und hart. Die vier Wände und das Essen da, das Herz ist es nicht, die Haut weiß, das Darunter schwarz. Hörst du dich manchmal reden? Es ist wirklich Zeit, dass du dich zusammenreißt. Wir müssen uns doch unserem Karl stellen, erinnerst du dich? Er ist dein Bruder, dem es auch nie so gut geht. Jeden Moment wird er hier einbrechen, um sein eigenes Casino auszurauben. Es ist ein denkbar schwieriger Moment, um Zweifel an seiner eigenen Rücksichtslosigkeit zu bekommen. AMALIA ODER FRANZ Recht hast du. An diesem Punkt der Welt spricht nicht mehr viel dagegen, einfach von Grund auf böse zu sein. Die Erde brennt schon lichterloh, wieso also nicht auch ein bisschen kokeln? Wenn ich nicht weiß, ob ich schon gestorben bin, dann schaue ich gern in ein Feuer und dann weiß ichs wieder. Wenn einmal der Vater gestorben ist und uns das Casino gehört, wenn wir es uns selbst weggenommen haben, dann hoffe ich, dass alles gut wird und dass das, was immer wir darin finden, mich, dich, uns alle, die ganze Welt und die Zeit wieder in Ordnung bringt. FRANZ ODER AMALIA Ich finde, das ist eine berechtigte Hoffnung. Alle Finger meines Zwölffingerdarms drücken die Daumen. Auch weil es alternativlos ist. Es muss ja so sein. Ich weiß nicht wie und ich weiß nicht warum, aber es kann nicht anders kommen. AMALIA ODER FRANZ Wie laufen eigentlich die deutschen Meisterschaften? FRANZ ODER AMALIA Mittel!
DRITTER AKT Dritte Scene Finale im Grandhotel&Casino L‘Ozean. Shorty, Karl, Fisto, Fausty, Magic Girl und Snake. Es ist sehr dunkel. Bewegungslaser schneiden die ange spannte Atmosphäre. Eine Einbruchschoreografie, so schön, wie ein Engel, der vom Himmel gefallen ist. LIED: GWEN STEFANI – THE SWEET ESCAPE https://www.lyrics.com/lyric/13627153/ Gwen+Stefani/The+Sweet+Escape Lässige Suspensemusik. KARL Zu Hause! Und doch auch nicht. FISTO Alle auf ihre Positionen.
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FAUSTY Du bist dran, Shorty. Öffne den Safe! SHORTY Ich öffne den Safe. Ihr müsst euch bitte alle die Ohren zuhalten, denn es wird jetzt sehr laut und auch unangenehm und hässlich und vielleicht hier und da mal falsch und ungenau und vielleicht auch ein bisschen süß, ungefähr so wie ein Koala-Baby. Alle halten sich die Ohren fest zu. SHORTY (in höchster Gefühlswallung und schärfs tem und lautestem Ton) Hurensöhne! Fickt euch alle! Fickt euch alle, ihr Hurenkinder der Hölle! Wieso seid ihr so? Wieso seid ihr alle so? Was geht denn? Wer hat euch denn ins Hirn geschissen? Wie weit, wie weit kann man einen Arsch denn aufhaben? Ich kann hineinsehen, in dein Loch, hier, und auch in Kuala Lumpur! Was ist denn los mit euch? Was geht denn? Ich versteh gar nichts mehr! Wieso ist alles so, wie es ist? Wieso ist es so? Wieso seid ihr alle so? Und ihr Missgeburten im Internet, wieso seid ihr alle so? Was ist los mit euch? Was zur Hölle ist los mit euch? Kommt ihr klar? Kommt irgendjemand noch klar? Seid ihr eigentlich alle aus dem Anus geboren? Wo ist euer Rückgrat hin? Habt ihr alle kein Rückgrat? Habt ihr alle keine Haltung? Habt ihr alle keine Aufrichtigkeit? Seid ihr als Säuglinge in den Opportunismustopf gefallen? Kapiert noch jemand was? Hat jemand eine Überzeugung, die was mit Empathie und Freundlichkeit zu tun hat? Ist über Leichen spazieren euer liebstes Hobby? Seid ihr alle völlig gestört? Habt ihr eins oder mehrere oder richtig viele oder tausend an der Klatsche? Werdet ihr euch nie wieder zusammenreißen? Weil ich versteh nichts mehr! Gar nichts! Gar nichts verstehe ich! Es geht einfach nicht mehr! Versteht ihr das? Könnt ihr mal aufhören? Könnt ihr mal aufhören und mal klarkommen? Wieso! Seid! Ihr! Alle! So! Es reicht! Ich kann nicht mehr! Ich kann einfach nicht mehr! Hört auf! Lasst es sein! Seid endlich wieder normal! Kann denn nicht alles wieder normal werden? Wieso seid ihr so? Merkt ihr noch was? Ihr merkt doch nichts mehr! Bitte, los, merkt doch mal wieder was! Es muss aufhören! Jetzt! Aufhören! Eine Explosion. Der Safe ist auf. Qualm, Staub, Nebel der Erwartungshaltungen. Musik Ende. KARL Da ist es! Magic Girl holt die Beute vorsichtig aus dem kleinen Tresor. Entweder es leuchtet oder es ist eine dunkle, trop fende Masse. Oder alles, aber in jedem Fall erstaunlich klein. SHORTY Es ist wunderschön. FAUSTY Und auch sehr hässlich. FISTO Es könnte es wirklich sein. KARL Dampft es vor Kälte oder vor Hitze? Oder doch nur einfach so? FISTO Es sieht nicht so aus, als hätte es überhaupt einen Grund. FAUSTY Wow, ich dachte kurz, vielleicht ist doch nicht alles so schlimm. Ich hatte kurz einen Moment der Perspektive, in der ich etwas in Relation setzen konnte und es dann gar nicht mehr so schlimm aussah und ich überzeugt war, dass es gut wird am Ende. Auftritt Amalia und Franz. Beeindruckender Slow Clap. AMALIA ODER FRANZ Hahahahahaha! AMALIA ODER FRANZ So sehen wir uns wieder, Bruder Liebhaber. KARL Amalia! Franz! AMALIA ODER FRANZ Du siehst schön und rastlos aus. Es steht dir gut.
KARL Du auch. Schöner, als ich es mir gewünscht habe. Und du, du siehst auch bezaubernd und verwirrt aus. AMALIA ODER FRANZ Danke. AMALIA ODER FRANZ Trotzdem hast du uns wieder in all unsere Karten gespielt. AMALIA ODER FRANZ Hast du uns wirklich den Tresor geöffnet! AMALIA ODER FRANZ Dachtest, du bestiehlst dein eigenes Casino. AMALIA ODER FRANZ Doch hast du nur uns geholfen, unser eigenes Casino zu bestehlen. KARL Magic Girl, mach ‘n Trick! Magic Girl macht einen Trick, den wir alle vielleicht für immer bereuen werden. Die Beute hat sich, so sieht es aus, in Luft aufgelöst. MAGIC GIRL Puff! AMALIA ODER FRANZ Was hat er getan? Wo ist es hin? MAGIC GIRL Weg. AMALIA ODER FRANZ Aber wo ist es denn? Doch nicht in deinem Ärmel! Nein, das kann nicht sein. Sprich, wo ist es? MAGIC GIRL Weg. AMALIA ODER FRANZ Aber wo? Magic Girl zuckt mit den Schultern. AMALIA ODER FRANZ Du weißt es nicht? MAGIC GIRL Genau. AMALIA ODER FRANZ Aber! MAGIC GIRL Es ist weg. Und ich weiß nicht wo. Karl hat gesagt, mach einen Trick, den habe ich gemacht. Der Trick ist zu Ende. Die Beute auch. KARL Du weißt wirklich nicht, wo du es hingezaubert hast? MAGIC GIRL Ah, Moment, es war hier, hinter deinem Ohr! (Fasst hinter Karls Ohr, hat aber nichts in der Hand.) Ach nee, doch nicht, ich weiß wirklich nicht, wo es ist. SHORTY Nein! Nein! Das kann nicht sein! Wie sollen wir denn ohne? Was hast du getan? Was hast du getan! Auftritt der alte Ozean. DER ALTE OZEAN Doch, doch. Ihr könnt ohne! KARL Vater! AMALIA ODER FRANZ Vater! Aber! Wieso bist du nicht im Verlies? KARL Im Verlies? Was habt ihr getan? DER ALTE OZEAN Nun ja. AMALIA ODER FRANZ Ich habe ihn rausgelassen. Zuerst habe ich ihm jeden Tag Mahlzeiten und frische Kleider gebracht und mit ihm Fotos aus unserer Kindheit angesehen und irgendwann habe ich ihm den Schlüssel gegeben. AMALIA ODER FRANZ Du hast was? Aber warum? AMALIA ODER FRANZ Ich weiß nicht! Ich weiß auch nicht! Woher soll ich das wissen? Hier weiß doch niemand, warum er sie was tut. AMALIA ODER FRANZ Aha! Ich verstehe aufrichtig. Dann soll es so sein. KARL Leute, Familie, Bruder, Vater, Girlfriend, ich sehe euch wieder, das erste Mal seit langer Zeit, ich hab viel erlebt, viele Gesichter und Bilder gesehen und dachte, vielleicht habe ich eure dafür vergessen, aber nein, ich erinnere mich an euch, so wie ihr da steht und es ist so, dass ich euch hasse und richtig doll lieb hab. Ich wusste das natürlich alles, das war alles Teil des Plans. AMALIA ODER FRANZ Genauso geht es mir auch. Und weil ich wusste, dass du das vorhast, war es auch Teil meines Plans. Rache hat mich an-
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getrieben, ich wollte dich doch einfach nur tot sehen und alles bereuen oder lebendig und dich nicht ausstehen können. AMALIA ODER FRANZ Es sind unüberwindbare Schluchten zwischen uns, voller Hass und Zuneigung. Und darauf kann man keine Schluchten überqueren. Ich habe alles schon kommen sehen, deswegen habe ich meinen ganz eigenen Plan ausgeheckt. KARL Ich habe natürlich nachgedacht, über euch alle, und ich wusste natürlich, dass ihr wusstet, dass ich weiß und deswegen bin ich heute ohne Messer gekommen. Denn es ist so, Amalia, dass man in unseren Zeiten ja Schluss macht, in dem man die Partnerin oder den Partner absticht. Aber ich würde darauf verzichten. AMALIA ODER FRANZ Da erzählst du mir nichts Neues. Natürlich wusste ich, dass du wusstest, dass ich wusste, dass du weißt. Aber deswegen habe ich zwei Messer dabei, für dich und für mich, für einen Einzelkampf, jetzt und hier. Du und ich. Und der oder die Gewinnerin darf vom Himmel aus zusehen, wie die Überlebende mit Franz und Vater leben muss oder darf. DER ALTE OZEAN Schluss jetzt. Das war alles lustig. Aber es ist Zeit, euch den wahren Plan offenzulegen. Denn in Wirklichkeit, da wusste ich natürlich, was ihr alle vorhabt. Ich wusste, dass ihr alle euer eigenes Casino ausrauben wolltet, in der schönen und dummen Hoffnung, dass dann alles besser wird und es könnte ja auch wirklich so sein, wer weiß das schon. Aber während ihr euch die Gehirne veranstrengt habt, ob ihr euch gegenseitig abstechen sollt und wohin man Dinge zaubert oder nicht, da haben die Spiegelberge und ich einen ganz eigenen Plan entworfen. Und auch Fremdländisch verstehe ich. SNAKE Ihr habt was? FISTO Ja, das stimmt. FAUSTY Das ist richtig. Habt ihr euch denn gar nicht gefragt, was wir können? SHORTY Du kannst fliegen und er kann sich unsichtbar machen. FAUSTY Ja, das stimmt. Aber das reicht ja vorn und hinten nicht. Mein Bruder und ich besitzen die Kraft der Debatte. FISTO Wir sind seit der Geburt Brüder und jeden Tag zusammen. So wie du, Franz, und du, Karl. Aber ihr wart nicht jeden Tag zusammen, weil ihr euch gegenseitig den Tod wünscht und dann auch das Leben. FAUSTY Wir haben nie solche komplizierten Gefühle zueinander. Denn am Ende wissen wir immer, man kann einen Schwamm nehmen und ihn
bonn park_die räuber der herzen
drüberwischen und dann ist es auch okay. Wir werden uns immer bedingungslos lieben. Ganz gleich, wie schlimm alles ist. FISTO Wir können immer miteinander reden und auch mit Meinungsverschiedenheiten leben. Auch verzeihen wir uns oft Sachen gegenseitig. Das macht richtig Spaß. FAUSTY Und jetzt ihr. Ihr Ozeans. DER ALTE OZEAN Ja, jetzt wir. Nach einer Weile. KARL Gut. Okay. AMALIA ODER FRANZ Mhm. AMALIA ODER FRANZ Ja, okay. Viel Zeit vergeht. KARL Sorry. FRANZ ODER AMALIA Ok. KARL Wirklich wirklich sorry. FRANZ ODER AMALIA Ja. KARL Hab dich lieb. FRANZ ODER AMALIA Ja. KARL Und dich. AMALIA ODER FRANZ Ok. KARL Und dich. DER ALTE OZEAN Ich dich auch. FRANZ ODER AMALIA Hab dich auch lieb. AMALIA ODER FRANZ Verzeih. KARL Ok cool. Tut mir leid. AMALIA ODER FRANZ Alles gut. DER ALTE OZEAN Ja. Alles gut. Sorry. Nach einer Weile. KARL Ich küsse deine Augen. AMALIA ODER FRANZ Ich küsse deine Augen auch. DER ALTE OZEAN Legt den Kopf auf seine Brust und weint. SHORTY Schön. KARL Streichelt ihren Kopf. AMALIA ODER FRANZ Streichelt seinen Kopf zurück. KARL Reibt seinen Kopf an seiner Wange. FRANZ ODER AMALIA Reinigt ihm zärtlich die Ohren. AMALIA ODER FRANZ Weint vor Überwältigung. KARL Weint auch vor Überwältigung. DER ALTE OZEAN Bereut alles und nimmt ihn in den Arm. MAGIC GIRL Sieht sich um und fasst allen sicher und zuversichtlich an die Schultern. FISTO Küsst ihn auf den Mund. Fausty gibt Fisto Hundert. FAUSTY Singt ihm ein Lied. Fisto wird dann auch Fausty nachher das Doppelte ge ben.
LIED: GIGI D’AGOSTINO – L’AMOUR TOUJOURS https://www.songtexte.com/songtext/gigi-dagostino/ lamour-toujours-6bd6d27e.html Und es passieren ganz viele Dinge, die unangenehm schön sind. KARL Ich hatte vielleicht nie einen Plan, vielleicht habe ich einfach nie gewusst, was passiert und warum. Keinen Schritt habe ich vorhergesehen, alles hat mich überrascht und aus den Latschen gehauen und überfordert. Vielleicht war alles ganz zufällig, und wahrscheinlich weiß ich nicht, wie man gute Pläne macht. Vielleicht hatten wir alle keine Ahnung, aber wir haben immer gesagt, wir wissen alles, dabei wissen wir gar nichts und haben nur maßlose Angst vor der Zukunft. Nichts ist gut. Alles ist furchtbar. So ist es nun. Was soll man da machen. Und wir wissen einfach nicht, wie es anders werden soll. Wir haben einfach keine Pläne. SNAKE Doch. Ich habe einen Plan. Die ganze Zeit. Eure ganzen Leben lang. Denn während ihr euch alle ausrauben wolltet und euch über Dinge klar geworden seid, während ihr beschäftigt wart mit dem Schwierigkeitsgrad eurer Gefühle, da habt ihr nicht bemerkt, dass ich eure Mutter bin. Die Mutter der Ozeans. Die Mutter der Räuber. Hier bin ich. Und. TO BE CONTINUED …
© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2020.
12 / 2020
Hofmann / van BeBBer / rodrigo / HuBer vorscHlag:Hammer B'BüHne Aarau markus & markus Theaterkollektiv
theater–roxy.ch
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Magazin Die Kunst, keine Antworten zu geben Das Theater Oberhausen feiert mit einem Festival den großen Filme- und Theatermacher Christoph Schlingensief – gemäß der Methode, keiner Methode zu trauen Raus
weißen Frau
aus der Bubble der privilegierten
Die dritte Ausgabe der Tagungsreihe Burning Issues auf Kampnagel
in Hamburg stärkt die Sichtbarkeit marginalisierter Positionen und Perspektiven
Bücher
Georg Seidel, Christoph Schlingensief, Silvia Henke, Dieter Mersch, Nicolaj
van der Meulen, Thomas Strässle, Jörg Wiesel
magazin
/ TdZ Dezember 2020 /
Die Kunst, keine Antworten zu geben Das Theater Oberhausen feiert mit einem Festival den großen Filme- und Theatermacher Christoph Schlingensief – gemäß der Methode, keiner Methode zu trauen Alles ist eine Frage der Perspektive. Das ist
sichts eindeutiger Methoden ein zentraler As-
durchaus hoffnungsvolle Botschaft des Ober-
natürlich erst einmal ein Gemeinplatz, prak-
pekt von Schlingensiefs künstlerischen Stra-
hausener Spektakels. Allerdings reicht es da-
tisch eine Selbstverständlichkeit. Aber wie so
tegien war. Damit wäre sie zugleich selbst
für eben nicht, einfach nur medial wirksame
vieles, was wir für selbstverständlich neh-
wieder zu einer Art Methode geworden. Was
Aktionen zu veranstalten, wie es etwa eine
men, verlieren wir auch diese Erkenntnis
zunächst wie ein Widerspruch klingt, war auf
Spezialität des Zentrums für Politische
leicht aus den Augen. Gerade bei Film- und
jeden Fall der eigentliche Kern des dreitägi-
Schönheit ist. Dass deren von einem missio-
Fernsehbildern ist der Blickwinkel entschei-
gen Festivals, das das Theater Oberhausen
narischen Eifer getriebene Arbeiten am Ende
dend. Sie suggerieren Wirklichkeit und sind
Ende Oktober an verschiedenen Orten in der
sogar Schlingensiefs Ideen widersprechen,
doch nur ein meist mit Bedacht gewählter
Stadt veranstaltete. Für Elena Liebenstein
hat Julian Pörksen während der Podiumsdis-
Ausschnitt, der die Wahrnehmung des Be-
war „Schlingensief ein Künstler, der sich im-
kussion unmissverständlich klargestellt. Nur
trachters und damit auch seine Vorstellungen
mer angreifbar gemacht und sich selbst kon-
wer wie Schlingensief bereit ist, sich fortwäh-
von Wahrheit und Wirklichkeit lenkt. Wo die
sequent in seiner Kunst zur Verfügung ge-
rend selbst infrage zu stellen oder auch von
Kamera steht, wen sie wie lange betrachtet,
stellt hat“. In diesem Sinne flankierte das
anderen infrage stellen zu lassen, kann ihm
das sind nicht nur formale Fragen. Sie haben
Spektakel eine Vorführung von „Das Knistern
auf seinem Weg folgen. Insofern war es nur
eine ganz konkrete politische und gesell-
der Zeit“, Sibylle Dahrendorfs 2012 entstan-
konsequent, dass Stefanie Sargnagel mit ei-
schaftliche Relevanz.
denem Dokumentarfilm über Schlingensiefs
ner Lesung aus ihrem Roman „Dicht. Auf-
Wie sehr der Blick der Kamera das
Operndorf-Projekt in Burkina Faso, mit einer
zeichnungen einer Tagediebin“ den Schluss-
Denken und Fühlen des Zuschauers prägt,
Video-Lecture-Performance von Lionel Pou
punkt des Festivals markiert. Auf den ersten
konnte man auf höchst eindringliche Weise
tiaire Somé.
Blick verbindet die Wiener Autorin nur wenig
bei dem kleinen, von Elena Liebenstein und
Der aus Burkina Faso stammende Ka-
mit dem Oberhausener Filme- und Theater-
Raban Witt kuratierten Festival Schlingensief
meramann, Regisseur und Theatermacher
macher. Aber die Art, in der sie ihre Jugend-
2020 erleben. Als „Spektakel zum Erinnern,
war Schlingensief 2009 in Afrika begegnet.
erlebnisse in ihrem ersten Roman in Prosa
Feiern und Weitermachen“ sollte es nicht nur
Dort und später auch in Berlin hat er die Vor-
verwandelt, zeugt von einer ähnlich scho-
eine Gedenkveranstaltung für den am 24. Ok-
bereitungen und Proben zu dessen Inszenie-
nungslosen Bereitschaft, sich selbst zur Ver-
tober 1960 in Oberhausen geborenen und vor
rung „Via Intolleranza II“ mit seiner Kamera
fügung zu stellen. Ihre Aufzeichnungen, die
zehn Jahren verstorbenen Künstler sein. Es
begleitet. Anders als bei Dahrendorf, deren
sich zu einem Porträt der Vergessenen Wiens
sollte, wie Elena Liebenstein im Gespräch
Blick sich vor allem auf Schlingensief kon-
verdichten, geben keine Antworten. Sie wer-
sagte, „ein in der Stadt und im Theater sicht-
zentriert hat und deren Arbeit schon einem
fen in ihrer radikalen Offenheit aber Fragen
bares Spektakel sein, dass die Methodik von
filmischen Denkmal für ihn gleicht, galt So-
nach eben jener Grenze zwischen Kunst und
Christoph Schlingensief aufgreift“. Wobei die
més Augenmerk vor allem den afrikanischen
Leben auf, die Schlingensief in seinem Werk
Frage, ob es überhaupt so etwas wie eine
Künstlern in dessen Umfeld. So sind es seine
so beharrlich verwischt hat. //
„Methode Schlingensief“ gab, sich kaum
bei dem Vorsprechen in Burkina Faso ent-
eindeutig beantworten lässt. In einer gleich-
standenen Aufnahmen, die einen wirklich er-
namigen
drei
ahnen lassen, welch großen Anteil etwa Amado
ehemalige Mitstreiterinnen und Mitstreiter
Komi, Mamounata Guira und Isabelle Tassem-
Schlingensiefs, die Schauspielerin Susanne
bedo an Schlingensiefs letzter Theaterinsze-
Bredehöft, der Dramaturg Carl Hegemann und
nierung hatten. Gerade Komis Vorsprechen,
der Autor und Filmemacher Julian Pörksen,
bei dem er dem deutschen Künstler eine wah-
sie zumindest tendenziell eher verneint.
re Tirade an Schimpfwörtern entgegenschleu-
Podiumsdiskussion
haben
Allerdings ließe sich auch die These
dert, zeugt von der Offenheit, mit der Schlin-
aufstellen, dass gerade die Skepsis ange-
gensief sich auf afrikanische Ideen und
Sascha Westphal
Janosch KOMM, WIR FINDEN EINEN SCHATZ Regie: Felix Bachmann
Perspektiven eingelassen hat. Er hat sich Ziegen, Autos, Sensationen – Christoph Schlingensiefs „Wagner-Rallye“, ein Autorennen quer durchs Ruhrgebiet, mit Abstechern auch nach Oberhausen (Ruhrfestspiele Recklinghausen 2004). Foto dpa
auch in Afrika gezielt als weißer Europäer an-
St. Pauli Theater Hamburg
greifbar gemacht und durch diese Angriffe
NEU: Premiere am 1. Dezember 2020
eine Möglichkeit gefunden, tatsächlich in einen gleichberechtigten Dialog zu treten. Es ist möglich, aus dem Geiste Schlingensiefs heraus weiterzumachen, das war die
MERLIN VERLAG
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Raus aus der Bubble der privilegierten weißen Frau Die dritte Ausgabe der Tagungsreihe Burning Issues auf Kampnagel in Hamburg stärkt die Sichtbarkeit marginalisierter Positionen und Perspektiven Am letzten Oktoberwochenende, kurz vor dem
mit körperlichen Einschränkungen ausbildet.
zweiten pandemiebedingten Lockdown, konn-
Oder Salome Kießling, die sich nach der Zu-
te sie zum Glück noch stattfinden: die dritte
lassung am Mozarteum Salzburg zunächst
Ausgabe der von Schauspielerin Lisa Jopt
sorgte, nur die „Quoten-Transperson“ zu sein.
und Dramaturgin Nicola Bramkamp initiier-
Aber auch die Besetzung der Keynotes, die von
ten und organisierten Tagungsreihe Burning
dem Performer Tucké Royale, der Kommuni
Issues. Nach dem Auftakt am Theater Bonn
kationswissenschaftlerin Natasha A. Kelly,
2018 und der in das Programm des Berliner
der Schauspielerin Benita Bailey (die kurz
Theatertreffens eingebetteten zweiten Ausga-
fristig für die beruflich verhinderte Dortmun
be 2019 heißt es 2020: „Burning Issues
der Schauspielintendantin Julia Wissert ein
meets Kampnagel“. Das Hamburger Produk-
gesprungen war) und Sonya Lindfors gehalten
tionshaus ist nicht nur Veranstaltungsort,
werden, macht die Forderung nach mehr
sondern hat auch das Programm mitgestaltet,
Diversität in Theaterinstitutionen deutlich.
wodurch eine wichtige Öffnung zur freien
Es ist geradezu radikal, wie Natasha A.
Szene markiert ist. Während in den ersten
Kelly unverstellt klarmacht, dass sie müde
Jahrgängen vor allem Geschlechterungleich-
ist, immer wieder als Repräsentantin einer
heit in der Branche als zentrales „brennendes
schwarzen Perspektive in mehrheitlich weiße Institutionen eingeladen zu werden, um die-
Thema“ auf der Agenda stand, erweitert sich in diesem Jahr das Sichtfeld, um – durchaus selbstkritisch – nicht mehr nur die eigene privilegierte Bubble der Arbeitswelt weißer Frauen an Stadttheatern in den Blick zu bekommen, sondern auch andere Brandherde
Arbeit am Theater – Die Konferenz Burning Issues (hier mit Jessica Weisskirchen und Tristan Under) will Bedingungen und Struk turen des Theaterbetriebs reformieren. Foto Rebecca Rütten
innerhalb des komplexen institutionellen
ser ihre rassistischen Strukturen zu spiegeln. Sie brauche keine weißen Verbündeten, die sie in ihrer Programmplanung „mitdenken“, sondern solche, die auch handeln, die bereit sind, den Kampf gegen weiße Vorherrschaft zu ihrem eigenen Kampf zu machen. Auch kritisiert sie zu Recht aufs Schärfste, wie
Gefüges der deutschsprachigen Theater landschaft zu thematisieren. Es gilt, mit den
insgesamt 17 queerfeministische, inklusive
schwarze Bottom-up-Konzepte wie Intersek
Worten der Choreografin Sonya Lindfors, zu
oder antirassistische Netzwerke, die sich auf
tionalität und Diversität fortwährend von Wei-
begreifen, dass zahlreiche Orte innerhalb der
dem von Studierenden der Hochschule für
ßen angeeignet, ihrer historischen Kontexte
Theaterwelt für Menschen eingerichtet sind,
bildende Künste Hamburg gestalteten „Markt
beraubt und als marktförmige Top-down-Stra-
die der gesellschaftlichen Norm entsprechen
der Möglichkeiten“ präsentieren.
tegien instrumentalisiert werden, ohne dass
(weiß, cisgender, hetero, körperlich gesund
Dass die Veranstalterinnen aufrichtig
etc.), und dass diese, eben weil sie der Norm
bemüht waren, eine Vielfalt von (zumeist
Von Tucké Royales Eröffnungsutopie
entsprechen, häufig blind dafür sind, all die
marginalisierten) Positionen und Perspekti-
einer „neuen Selbstverständlichkeit“, in der er
sich an den Strukturen wirklich etwas ändert.
Ausschlüsse und Diskriminierungen, die die
ven bei der Programmplanung mitzudenken,
nicht mehr (nur) eingeladen wird, um (s)eine
Institution beständig (re)produziert, über-
zeigt etwa das Gesprächspanel zu Ein- und
Trans-Perspektive einzubringen, in der von
haupt wahrzunehmen.
Ausschlussmechanismen an Kunsthochschu-
queeren Künstlern nicht erwartet wird, queere
In diesem Sinne will die Tagung vierer-
len. Hier kommen unter anderen Schauspie-
Kunst abzuliefern und in der alle an den Res-
lei: (Selbst-)Aufklärungsarbeit leisten, Sicht-
lerin Jana Zöll zu Wort, die es als eine der
sourcen-Topf gelassen werden, ist der Theater-
barkeiten herstellen, Vernetzungen initiieren
wenigen geschafft hat, mit einer körperlichen
betrieb augenscheinlich noch meilenweit ent-
und damit „Prozessbeschleuniger“ für nach-
Beeinträchtigung an einer öffentlichen Kunst-
fernt. Aber zumindest machen sich immer
haltige Veränderungen sein. Hör- und sicht-
hochschule zu studieren, und zwar an der Aka-
mehr Menschen auf den Weg, die Brandherde
bar werden auf Kampnagel diesmal auch die
demie für Darstellende Kunst in Ulm, die als
gemeinsam zu identifizieren, um sie Stück für
Young Burning Issues, also Anliegen von Stu-
einzige Schauspielschule europaweit pro Jahr-
Stück zu bekämpfen. //
dierenden und Berufsanfängerinnen, sowie
gang ein bis zwei Schülerinnen und Schüler
Theresa Schütz
auftritt
/ TdZ März Januar 2018 2020 / /
Buchverlag Neuerscheinungen
Was können wir, was werden wir aus Corona gelernt haben, wenn die Pandemie eines Tages vorbeigegangen sein sollte? Liegt in dieser globalen Krise, in diesem erzwungenen Innehaltenmüssen auch eine Chance? Jonas Zipf, Theatermann und Werkleiter von JenaKultur, geht mit seinen hochkarätigen Gesprächspartner*innen diesen Fragen nach. Mit Beiträgen von u. a. Hartmut Rosa, Thomas Oberender, Bernhard Maaz, Aleida Assmann, Stephan Lessenich und Volkhard Knigge. RECHERCHEN 159 Inne halten: Chronik einer Krise Jenaer Corona-Gespräche Herausgegeben von Jonas Zipf und Birgit Liebold
Fast erscheint das Theaterland Schweiz als kleines Modell Europas. Was lange hemmend schien, die unterschiedlichen Sprachen und Landesteile, hat sich auf Dauer als fruchtbar erwiesen. Peter Michalzik zeichnet diese Entwicklung nach. Er beschäftigt sich dabei mit fast allen Landesteilen, den unterschiedlichen Sprachen und Kulturräumen, der Dramatik und dem Tanz, der Oper und der freien Szene. Die großen Theaterpersönlichkeiten der Schweiz kommen mit den großen Aufführ ungen der vergangenen hundert Jahre im reich bebilderten Buch vor. Peter Michalzik 100 Jahre Theater Wunder Schweiz Klappenbroschur mit 368 Seiten Deutsch/Französisch/Italienisch ISBN 978-3-95749-297-5 EUR 34,00
Paperback mit 158 Seiten ISBN 978-3-95749-317-0 EUR 18,00 (print). EUR 14,99 (digital)
Das Meta Theater – 1980 von dem Architekten und Städteplaner Axel Tangerding gegründet – erhielt wesentliche Impulse durch die Koope ration mit den großen Theateravantgardisten Ellen Stewart und Jerzy Grotowski. Weiteres Vorbild war das Bauhaus mit seiner spezifischen Form der Verschmelzung von Architektur und Handwerk. Namhafte Künstler, Freunde und Wegbegleiter aus aller Welt haben mit „Meta Theater – Retrospektive und Vision“ ein zugleich zeitgeschichtliches als auch ein weit über den Jubiläumsanlass hinausgehendes Dokument geschaffen. Es ist ein Rückblick auf eine bewegte Zeit und es zeigt, wie eine Vision Gestalt angenommen hat.
Die ungewöhnlichen Arbeiten des deutschen Künstlerpaars prägen seit nunmehr zwanzig Jahren Entwicklungen in Theater, Performance, Raum- und Radiokunst. Dabei suchen Hofmann&Lindholm auf abseitigen Wegen nach anderen Erzählweisen, Bildsprachen und künstle rischen Zugriffen – konzeptuell, subversiv, diskret. Das Materialbuch „Nachgestellte Szene“ geht dieser Suche nach. Mit Beiträgen von Philipp Blömeke, Martine Dennewald, Marcus Droß, Jörn Etzold, Ulrike Haß, Guido Hiß, Hofmann&Lindholm, Nikolaus Müller-Schöll, Jens Roselt, Marita Tatari und Kathrin Tiedemann.
Meta Theater – Retrospektive und Vision
Hofmann&Lindholm Nachgestellte Szene Herausgegeben von der Kunststiftung NRW
Paperback mit 88 Seiten Deutsch/Englisch Mit zahlreichen farbigen Abbildungen ISBN 978-3-95749-331-6 EUR 10,00 (print) / EUR 8,99 (digital)
Klappenbroschur mit 200 Seiten Mit zahlreichen farbigen Abbildungen ISBN 978-3-95749-296-8 EUR 28,00
Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de
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Georg Seidel hat sich vom Bühnenarbeiter hochgearbeitet – und als Dramatiker eine knorrige Poesie entwickelt. Foto Vera Tenschert
landserpentine erfunden. Darauf galoppiert sein vielmotoriger Pegasus mit luftbereiftem Thespiskarren. Alle Welt findet das schön und wundert sich (fast zu Tode), dass Heiner Müller auf geradem Weg auch vorwärts kommt.“
mierten Dramatikerpreis ausgezeichnet, aber in
Als 1985 „Jochen Schanotta“ am Ber-
den Kanon der mehr als eine Saison überste-
liner Ensemble uraufgeführt wurde, über-
henden Gegenwartsstücke wurde es dennoch
schrieb eine DDR-Tageszeitung ihre Kritik mit
nicht aufgenommen. Heute darf bezweifelt
dem schönen Titel „Auf Gammeltour durch
werden, dass eine jüngere Generation von
unsere sozialistische Gegenwart“. Das war die
Dramaturginnen und Dramaturgen Georg Sei-
nachdrücklichste Empfehlung, sich sofort mit
del überhaupt noch kennt.
Seidels Stück und dieser Inszenierung zu be-
So ist es äußerst verdienstvoll, dass
fassen. 2011 gab es am Berliner Deutschen
Kristin Schulz in Zusammenarbeit mit der
Theater noch einmal einen „Jochen Scha
Akademie der Künste anlässlich des 75. Ge-
notta“ mit Andreas Döhler in der Titelrolle.
burtstags von Seidel im Quintus Verlag eine
Und es stellte sich heraus: Das war nicht nur
Sammlung aus dem Nachlass herausge
eine Erinnerung an einen Widerspenstigen in
geben hat. Ein achtzigseitiges Lesestück
der Stagnations-DDR, sondern Seidels Stück
zum 750-Jahre-Berlin-Jubiläum anno 1987
taugt auch für eine andere Gegenwart und
ist darin der umfangreichste Text. Dieser
ihren Umgang mit Unangepassten.
Szenenreigen mit Friedrich und Napoleon bis
Der Nachlassband ergänzt die Ausgabe
zu den Bombennächten in Berlin wirkt wie
der gesammelten Stücke in „Villa Jugend“
eine Parodie auf die Geschichtsdramen Hei-
(im Verlag der Autoren) und die 1992 eben-
ner Müllers. Erstmals werden Gedichte des
falls postum erschienene Prosazusammen-
Dramatikers veröffentlicht, lakonische Be
stellung „In der Freizeit las der Angeklagte
funde zur eigenen Position: „die Versetzungs
Märchen“ (bei Kiepenheuer & Witsch). Nun
gefährdeten / sollten sich / bessere Lehrer
könnte man sich wieder ans Werk machen. // Thomas Irmer
suchen / als mich“. Tatsächlich hatte sich der aus Dessau stammende Seidel vom Bühnenarbeiter am dortigen Theater bis zum dramaturgischen Mitarbeiter am Deutschen Theater
„Die Rechnungen bleiben offen“
hochgearbeitet und eine ganz eigene, knor
Oberhalb der Flachlandserpentinen
rige Poesie für seine Stücke entwickelt, von
„Theaterbedeutung ist mir nicht ganz klar. Es
denen die Außenseiterballaden „Carmen
gibt ja Theater für die Hummerfresserfrak
Kittel“ und „Jochen Schanotta“ tatsächlich
tion, fürs Feuilleton und für die Diskussions-
Ein neues Stück gehöre entweder auf die
auch auf die Bühnen und in die Diskussionen
freudigen“, wusste Christoph Schlingensief
Bühne oder ins Feuer. Darüber entscheide
der damaligen Zeit gelangten.
1994 im Interview auf die Frage zu antwor-
einzig dessen Qualität, und falls der schwer-
Seidel reflektierte seine Position hoch-
fällige Theaterapparat die Ablehnung verfügt,
genau und sensibel, wie man jetzt in dem
Schlingensief, zeitlebens als Provokateur ge-
dann bitte schriftlich, „damit die Nachwelt
Band immer wieder feststellen kann. 1976
brandmarkt (oder geadelt), wusste auch beim
was zu lachen hat“. Der bittere Humor, den
notierte er gleichsam die moderne Dramenge-
gesprochenen Wort zuzuspitzen und mög
Georg Seidel hier an den Tag legt, war typisch
schichte und insbesondere die Probleme des
licherweise auf einfallslose Fragen überra-
für einen DDR-Dramatiker dieser Generation:
Theaters in der DDR zusammenfassend: „Zwi-
schende Antworten zu geben.
Man hatte sich auf jahrelange Genehmi-
schen Ibsen und Beckett liegt ein sehr gerader
Gut dreißig Interviews, entstanden zwi-
gungsverfahren einzulassen. Ein nicht unko-
Weg. Aber der ist nur steinig. Wem nützt das,
schen 1984 und 2010, sind nun, zehn Jahre
misches Ergebnis dieses Prozederes bestand
wo doch kurvenreiche Wege nicht so ermü-
nach dem frühen Krebstod des Universalkünst-
darin, dass Autoren jenseits der vierzig offizi-
dend sind wie die geraden und auch gefährli-
lers, im Verlag Kiepenheuer & Witsch als Buch
ell als Nachwuchstalente galten. „Wer nicht
cher. Darum hat Hacks die asphaltierte Flach-
unter dem Titel „Kein falsches Wort jetzt“ er-
gespielt wird, bleibt ewig jung“, schlussfolgerte der wie Seidel am Kriegsende geborene Lothar Trolle, dem auch nach dem Verschwinden des DDR-Theaterbetriebs eine große Beharrlichkeit abverlangt wurde. Das war Georg Seidel, der im Juni 1990 starb, nicht vergönnt. Zwar wurde sein Stück „Villa Jugend“ ein Jahr später in Mülheim mit dem renom-
ten, warum er nun am Theater arbeite.
schienen – wenngleich die Auswahl nicht erGeorg Seidel: Klartext: Bühne oder Feuer. Szenen, Gedichte, Prosa, Skizzen aus dem Nachlass. Hg. von Kristin Schulz, Quintus Verlag, Berlin, 176 S., 20 EUR.
klärt wird. Schlingensiefs Witwe, die Bühnenbildnerin Aino Laberenz, findet einleitende Worte für den Band; Diedrich Diederichsen, der das Nachwort beigesteuert hat, legt die eine oder andere Fährte, welche roten Linien sich im Interviewdschungel
erkennen
lassen,
und
macht etwa auf die – vielleicht unterschätzte –
magazin
/ TdZ Dezember 2020 /
Christoph Schlingensief: Kein falsches Wort jetzt. Gespräche. Hg. von Aino Laberenz, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 336 S., 23 EUR.
Ein Musiktheater von gamut inc über die Vergänglichkeit künstlicher Intelligenzen 3.– 5. Dez Berlin Theater im Delphi 9. & 10. Dez Köln Artheater
Diskurses, sondern zugleich auch als programmatisch und politisch gelesen werden: Es wird kein weiterer Band für die Ewigkeit vorgelegt, sondern in kurzer Form deutlich gemacht, dass man auch gehört werden will. Die zentrale Forderung lautet, künstlerische Forschung nicht aus der Systematik der Künste und ihrer Institutionen heraus, sondern
Bedeutung der (Opern-)Musik bereits im
aus einer „Intellektualität des Ästhetischen“
Schlingensief’schen Frühwerk aufmerksam.
zu denken. „Man muss also die Formen ihrer
Nicht weniger interessant sind aber die
Selbstmystifizierung durchbrechen, um das
Brüche und Widersprüche. Nicht nur die be-
freizulegen, was ästhetische Forschung im
reits oft attestierte Milde, die mit der Diag
Sinne ästhetischen Denkens sein kann: eine
nose Krebs einhergeht, fällt ins Auge. Schlingensief konnte über einige zeitliche Distanz ein und dieselbe Arbeit als besonders ironisch oder ironiefrei deklarieren. Auch das hat durchaus Unterhaltungswert bei der Lektüre. Während er in den achtziger Jahren noch die Ausstellung eigener Leiden im Autorenfilm
over
theedge club
w w w.g a m u t i n c .o r g
als unerträglich beschreibt, bekennt er sich Jahre später dazu, selbst schon immer zen trales Thema seiner Arbeiten gewesen zu sein, was er in den letzten Lebensjahren auf
ununterbrochene Kette der Selbstkritik.“ Diese zeige sich eben nicht in Form prozessierbarer und generalistischer Kalküle zur Erkenntnisproduktion, sondern in der Freiheit zur Erkenntnis im fragilen Einzelfall. Das Potenzial ästhetischer Forschung, so schließen die Autoren ihr Manifest, sei folglich ihr permanent und unbestimmbar Prekäres: „Es bleibt
Was schreit die Kunst nach Wissenschaft
die Spitze getrieben hat.
der Zweifel. Er bildet ein Produktionsprinzip. Es produziert: ästhetische Reflexivität.“ Im Gleichschritt zur zeitlichen Abfolge der Lektüre des geschriebenen Wortes entfal-
Nachdenklich stimmt die letztlich le-
„Die Lage ist verwirrend“, schreiben die Auto-
ten sich über die 63 Seiten des Manifests die
benslange Beschäftigung mit Krankheit und
ren vorneweg, sodass gleich klar wird, was
schwarz-weißen Abbildungen von Sabine Her-
Tod. Nicht erst die eigene Erkrankung, sondern
dieses „Manifest der künstlerischen For-
tigs „Bildstücke – Deklination einer Collage“
etwa auch das Schicksal der Eltern haben ihn
schung“ leisten möchte: In 15 Sätzen halten
aus dem Jahr 2019. Sie regen eine ästhetische
eine düstere, letzten Endes christlich-maso-
die Schweizer Wissenschaftler fest, wie es um
Reflexion an und können als proof-of-concept
chistische und selbstzerstörerische Weltsicht
die titelgebende Disziplin bestellt ist – und
der geforderten Wendung verstanden werden.
entwickeln lassen: „Ja, da bin ich ja irgendwie
wie es bestellt wäre, wenn die im Untertitel
Ob diese Impulse zur Neupositionie-
esoterisch – die Rechnungen bleiben offen,
angekündigte „Verteidigung gegen ihre Ver-
rung ausreichen, hängt auch davon ab, ob die
sind nicht zu begleichen, das ist meine Er-
fechter” gelänge.
Disziplinen und ihre Vertreter, nicht zuletzt
Die diagnostizierte Orientierungslosig-
aber die Kunstschaffenden selbst, bereit
Genialische Interviewpartner unter den
keit um die Deutung und Bedeutung des
sind, der Programmatik des Manifests zu fol-
Theatermachern sind in den vergangenen
besagten Feldes führen die Autoren auf
gen, seine Ansätze aufzunehmen und die
Jahren hervorgetreten. Heiner Müller hat das
falsch verstandene Vorbilder und Maßstäbe
Potenziale einer solchen künstlerischen For-
perfektioniert und sein Spätwerk vor allem
zurück. Diesen setzen sie in vier aufeinander
schung sichtbar zu machen. Dieses Manifest
sprechend geschaffen – mit großem Wert für
auf bauenden Schwerpunkten programmati-
weist der Idee einer souveränen, originären
den heutigen Leser. Und auch Frank Castorf
sche Aussagen entgegen: „Theorie und Pra-
künstlerischen Forschung – gerade in Nach-
hat eine gewisse Meisterschaft in dieser Form
xis“, „Ästhetisches Wissen“, „Ästhetisches
barschaft zu den arrivierten, aber im Übrigen
entwickelt, innerhalb derer er, seinem Ur
Tun“ sowie „Für eine Intellektualität des
methodologisch keineswegs friedvolleren Wis-
interesse folgend, auch schelmisch Abgründe
Ästhetischen“.
senschaften – eine deutliche Richtung der
kenntnis.“ Die Krankheit als irdische Geißel.
ausloten kann. Christoph Schlingensief hat
Thematisch berührt der Band dabei so
eine eigene, ganz andere Form des Interviews
einiges, was der philosophische Diskurs um
etabliert: seinen Selbstansprüchen entspre-
Ästhetik und Theorie seit Hegel und Baumgar-
chend mit der Bereitschaft zum Fehler,
ten zu bieten hat – von Kant bis Turing, von
schwankend zwischen Hochkultur und Trash,
der Antike bis zur Digitalisierung. Verstanden
mal offen spielend und mal schonungslos
vor dem institutionellen Hintergrund der Auto-
ehrlich. Man hat keine Mühe, ihm zu glau-
ren, die allesamt selbst als Geisteswissen-
ben, wenn man in einem der Interviews die
schaftler im abgesteckten Feld tätig sind, wird
Entgegnung liest auf die Frage, ob er denn
dieser theoretische Eklektizismus zur befrei-
nicht auch verlogen sei: „Nein, ich habe viel-
enden und inspirierenden Lektüre. Wie jedes
leicht tausend andere Schwächen, aber die,
Manifest muss auch das vorliegende eben
Erik Zielke
nicht nur als Argument eines theoretischen
glaube ich, nicht.“ //
Weiterentwicklung. Der Weg dorthin könnte sich lohnen. //
Lukas Kretschmer
Silvia Henke, Dieter Mersch, Nicolaj van der Meulen, Thomas Strässle, Jörg Wiesel: Manifest der künstlerischen Forschung. Eine Verteidigung gegen ihre Verfechter. Diaphanes Verlag, Zürich 2020, 128 S., 15 EUR.
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Iris Laufenberg. Foto Lupi Spuma
Meldungen
Dramaturg und Hausregisseur am Gerhart-
turg zahlreiche Stücke für internationale
Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau. Seit der
Bühnen geschrieben und inszeniert. Seit
Spielzeit 2017/18 ist er Operndirektor und
Ende der neunziger Jahre entwickelt er zu-
Leiter der Sparte Musiktheater an den Lan-
dem Videoarbeiten, installative Werke und
desbühnen Sachsen. Mit Beginn seiner Amts-
Zeichnungen, die international ausgestellt
zeit löst er den bisherigen Intendanten Jens
werden. Mroué ist Herausgeber der Zeitschrift
Neundorff von Enzberg ab, der an das Mei-
The Drama Review / TDR (New York) sowie
ninger Staatstheater wechselt.
Mitbegründer des Beirut Art Center (BAC). Die Jury begründet ihre Wahl aus insgesamt
■ Ulrich Khuon wird nicht mehr für das Amt
elf nominierten Künstler*innen wie folgt:
des Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins
„Seine Werke stellen mit ihrer faktisch-fikti-
kandidieren. Das gab der Intendant des
ven, interdisziplinären Methodik tradierte
Deutschen Theaters Ende Oktober bekannt.
Vorstellungen von Wahrheit, Forschung und
Khuon hatte das Ehrenamt 2017 übernom-
Fakten auf den Prüfstand. (…) Sein Werk
men. Die Neuwahl der/des Präsident*in soll
kann als Versuch verstanden werden, die um-
am 20./21. November, also nach Redaktions-
kämpften politisch-historischen Ereignisse
schluss, auf der Jahreshauptversammlung
der Bürgerkriege im Libanon ,wiederzubeset-
des Bühnenvereins erfolgen. Die Versamm-
zen‘“. Der Preis für künstlerische Forschung
lung findet digital statt, die Wahl erfolgt per
ist aus dem Kunstpreis der Schering Stiftung
Brief.
hervorgegangen, der von 2005 bis 2018 alle zwei Jahre an internationale Künstler*innen,
■ Sergio Raonic Lukovic wird ab der Spielzeit
die mit ästhetischen Mitteln eigenständige
■ Die derzeitige Intendantin des Schauspiel-
2022/23 Intendant des Mittelsächsischen
Formen der Wissensbildung entwickeln, ver-
hauses Graz, Iris Laufenberg, wird ab der
Theaters in Freiberg-Döbeln. Der 1978 in Split
geben wurde. Die Auszeichnung ist mit einem Preisgeld von 15 000 Euro dotiert.
Spielzeit 2023/24 die Leitung des Deutschen
geborene Bassbariton und Regisseur tritt da-
Theaters Berlin übernehmen. Sie tritt damit
mit die Nachfolge von Ralf-Peter Schulze an.
die Nachfolge von Ulrich Kuhon an, der sei-
Er konnte sich unter 32 Bewerbern für den
■ Chemnitz wird Europäische Kulturhauptstadt
nen auslaufenden Vertrag bis 2023 verlängert
Posten durchsetzen. Lukovic studierte in Wien
2025. Das gab Ende Oktober die europäische
hat, um einen reibungslosen Übergang zu er-
und Dresden, gehörte zwei Jahre lang zum
Auswahljury bekannt. „Mit dem Motto ,C the
möglichen. Laufenberg war zuvor bereits
Jungen Ensemble der Deutschen Oper am
unseen‘“, heißt es auf der Internetseite der
Künstlerische Leiterin des Berliner Theater-
Rhein in Düsseldorf/Duisburg und gastierte
Kulturhauptstadtbüros, „richtet Chemnitz
treffens sowie Schauspieldirektorin am Kon-
an deutschen und europäischen Opernhäusern
2025 den Blick auf Ungesehenes: Auf die
zert Theater Bern. Sie wird das Deutsche
sowie in Japan und Taiwan. Seit 2007 ist
Ungesehenen der ,stillen Mitte‘. Auf die un-
Theater für zunächst fünf Spielzeiten leiten.
Lukovic am Mittelsächsischen Theater enga-
gesehene Stadt, die ungesehenen europäi-
giert, wo er seit 2018 auch Regie führt.
schen Nachbarn, die ungesehenen Orte und
des Berliner Ensembles, Oliver Reese, wurde um fünf weitere Jahre verlängert. Reese, der das Theater nach der Intendanz von Claus Peymann seit 2017 leitet, zeigt sich zuversichtlich und bedankt sich für das in ihn gesetzte Vertrauen: „Gemeinsam mit all den engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hier im Haus und mit unserem hoch karätigen Ensemble wollen wir den Weg der Erneuerung des Berliner Ensembles ent-
Biografien, die ungesehenen Talente in jedem
Sergio Raonic Lukovic. Foto Stefan Leitner
■ Der Vertrag des derzeitigen Intendanten
Einzelnen.“ Das Programm beziehe darüber hinaus viele andere ungesehene Städte oder Regionen in Europa ein, die ein starkes Statement für ein demokratisches Miteinander beisteuern. „Besonders sollen die Menschen gesehen werden, die mithelfen, eine welt offene Gemeinschaft über Ländergrenzen hinweg zu leben.“
■ Das Team des „Theaterpodcast“, beste-
schlossen weitergehen, und ich möchte die
hend aus Susanne Burkhardt vom Deutsch-
Gelegenheit nutzen, hier weitere neue Im-
landfunk Kultur und Elena Philipp vom Thea-
pulse zu setzen.“
terportal nachtkritik.de, hat in diesem Jahr die Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur für Litera-
■ Das Theater Regensburg bekommt mit der
turkritik an der Universität Göttingen an
Spielzeit 2022/23 eine neue Doppelspitze.
■ Den Preis für künstlerische Forschung der
genommen. Aufgrund der Corona-Pandemie
Der Verwaltungsrat des Theaters hat Sebastian
Schering Stiftung 2020, gefördert durch das
werden die beiden Theaterredakteurinnen
Ritschel als neuen Intendanten und M atthias
Land Berlin, erhält in diesem Jahr Rabih
ihren Antrittsvortrag als Podcast halten. Die
Schloderer zum neuen Kaufmännischen Vor-
Mroué. Der 1967 in Beirut geborene Künstler
damit 30. Ausgabe des Theaterpodcasts mit
stand bestellt. Ritschel war bis 2016 Leitender
hat als Schauspieler, Regisseur und Drama-
dem Titel „Geschmacksurteil oder Kunst
aktuell
Elena Philipp (links) und Susanne Burkhardt. Foto Anja Schäfer
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für politische Bildung (bpb) bekannt. Frankfurt setzte sich im Auswahlverfahren des alle
!
en
r pa
on v bo it A n- Ze e u t sz n der e bi t d tz tu ter Je S s hea a D T
% 0 4
drei Jahre in einer anderen deutschen Stadt gastierenden Festivals gegen sechs weitere Bewerber durch. Ursprünglich war die 11. Ausgabe für Herbst 2021 geplant, musste aber aufgrund der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben werden. Die bpb kooperiert im Rahmen des Festivals mit dem Künstlerhaus Mousonturm, dem Schauspiel Frankfurt und der Festival-AG, einem Netzwerk der lokalen Freien Szene in Frankfurt, in dem unter
s
anderem ID_Frankfurt e. V., der Landesverband Professionelle Freie Darstellende Künsverstand? Theaterkritik in Zeiten von Social
te Hessen e. V. (laPROF) sowie das Theater
1977 arbeitete Gudrun Orsky unter der Inten-
Media“ ist auf der Seite des Deutschland-
Naxos vertreten sind. Das 11. Festival „Poli-
danz von Harry Buckwitz am Schauspielhaus
funks Kultur abrufbar. Der Podcast berichtet
tik im Freien Theater“ wird unterstützt und
Zürich. Von 1982 bis 1984 leitete sie den
seit Anfang 2018 monatlich über Debatten,
begleitet vom Kulturdezernat der Stadt Frank-
Keller des Schauspielhauses. Nach den nicht
Wandlungen und Akteure des Theaters. Die
furt am Main.
unkomplizierten Jahren am Theater Neumarkt zog sie sich aus der Zürcher Öffentlich-
Dozentur für Literaturkritik wurde von der Universität Göttingen gemeinsam mit dem
■ Das Impulse Theater Festival vergibt ge-
keit zurück. Erst Mitte Oktober wurde be-
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht ins Leben
meinsam mit dem NRW KULTURsekretariat
kannt, dass sie bereits im August verstorben
gerufen und ist als Weiterführung der von
unter dem Titel „Geschichte wird gemacht“
war.
Heinz Ludwig Arnold etablierten Gastprofes-
fünf Projektentwicklungen. Im Fokus der
sur für Literaturkritik gedacht. Ziel ist, „eine
Ausschreibung stand die Auseinandersetzung
■ Die Schauspielerin Tanja von Oertzen ist am
Brücke zwischen Universität und literari-
mit Fragen nach analoger und digitaler Archi-
16. Oktober 2020 im Alter von siebzig Jahren
schem Leben zu schlagen“, heißt es in einer
vierung künstlerischer Praxis. Die Förderun-
in Heidelberg gestorben. In Bonn war sie un-
Pressemitteilung.
gen gehen an Anna Kpok („Anna Kpok spielt
ter der Intendanz von Klaus Weise von 2003
sich selbst“), Ben J. Riepe („History in the
bis 2013 am Theater engagiert. Am 27. Janu-
■ Die bayerische Stadt Bamberg will die Mit-
making – Vom Archivieren kollaborativer
ar 1950 in Moskau geboren, absolvierte Tanja
tel für die Kulturförderung im nächsten Jahr
(Arbeits-)Prozesse“), Çakey Blond (Bartling/
von Oertzen ihr Abitur an einem süddeutschen
um 25 Prozent kürzen, wie der Bayerische
Kilinc) („Männer, Kuchen, Diven – Drei per-
Internat. Mit der Ambition, Tänzerin zu wer-
Rundfunk meldete. Hintergrund seien die
formative Lesungen“), Futur3 („Portable Ar-
den, ging sie zunächst nach Stuttgart, um bei
Mindereinnahmen
der
chive – Futur3 in der Re-Lektüre“) und PIMA
dem Choreografen John Franko zu lernen. Sie
Stadt aufgrund der Corona-Krise. Kulturrefe-
(Pia Janssen und Malin Harff) („PIMA – Pen-
brach die Ausbildung jedoch ab und wech
rentin Ulrike Siebenhaar prognostiziert „mas-
tagonism Intraspace Movement Archive“).
selte an die Stuttgarter Schauspielschule. Von
sive Auswirkungen“ auf Veranstaltungen. Das
Einblicke in die Projektentwicklungen werden
Oertzen war auf etlichen deutschsprachigen
von der Stadt subventionierte ETA Hoffmann
bei der Impulse-Akademie „Geschichte wird
Bühnen, zuletzt in Düsseldorf und Heidelberg,
Theater soll im nächsten Jahr 2,5 Prozent we-
gemacht“ im Juni 2021 präsentiert.
zu sehen. „Tanja von Oertzen war als Lehrerin
und
Zusatzkosten
für junge Schauspieler*innen eine Instanz,
niger Geld erhalten. Laut Intendantin Sibylle Broll-Pape seien Stellenstreichungen des
■ Die Regisseurin Gudrun Orsky ist tot. Das
eine künstlerisch anspruchsvolle und immer
wegen nicht mehr ausgeschlossen. Sie rech-
vermeldete das Theater Neumarkt in Zürich,
emphatische Persönlichkeit“, heißt es in dem
net mit 80 000 Euro weniger Geld im nächs-
deren Direktion sie von 1989 bis 1993 inne-
Nachruf im Bonner Generalanzeiger. „Ohne
ten Jahr. Hinzu kämen Tarifsteigerungen bei
hatte. Orsky war damals die erste Frau, die
Jargon und das in Theaterkreisen sporadisch
den Personalkosten. Der Finanzreferent der
das Haus in dieser Position leitete. Die 1941
ausbrechende Selbstbeweihräucherungspathos
Stadt Bamberg, Bertram Felix, spricht von
in Posen geborene und in Wiesbaden ausge-
sprach sie – unterbrochen von Zigaretten
einer „außerordentlichen Notsituation“. Auf-
bildete Schauspielerin und Regisseurin sei
pausen – über ihren Beruf, der eine Berufung
grund von Zusatzkosten und Mindereinnahmen
eine unbequeme Persönlichkeit gewesen,
war.“
durch die Corona-Krise würden insgesamt 45
schreibt Daniele Muscionico in ihrem Nach-
Millionen Euro im Verwaltungshaushalt der
ruf auf der Internetseite des Theaters Neu-
Stadt Bamberg fehlen.
markt. „Und unbequem war sie, weil sie mit einem radikalen Anspruch das Bild der Frau –
■ Die 11. Ausgabe des Festivals Politik im
und von Theater – brechen wollte. Sie war ein
Freien Theater wird im Herbst 2022 in Frank-
Vorbild, eine Pionierin, ein role model heute,
furt am Main stattfinden. Das gaben das
richtungsweisend als Identifikationsfigur so-
Schauspiel Frankfurt und die Bundeszentrale
wie als Theaterschaffende.“ Von 1970 bis
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Premieren Aachen Theater M. Pyschny: Das Ende von Eddy / Cyborg 2020 – Where is my mind (T. Wiesner, 12.12., UA) Annaberg-Buchholz Eduard-von-Winterstein-Theater n. Gebrüder Grimm/ M. Linke: König Drosselbart (A. Ingenhaag, 01.12.); C. Higgins: Harold und Maude (K. G. Kayser, 05.12.) Ansbach Theater O. Reutter: In 50 Jahren ist alles vorbei (A. Krauße, 03.12.) Baden-Baden Theater G. Tabori: Mutters Courage (F. Stuhr, 13.12.) Bamberg E. T. A.-Hoffmann-Theater M. Ravenhill: Der Stock (M. Köhler, 04.12., DSE); P. Maar/ U. Limmer: Herr Bello und das blaue Wunder (J. Vetten, 06.12.) Basel Theater n. R. Östland: The Square (T. Kühnel, 18.12., DSE) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater n. O. Preußler/M. L. Wolfgang Adenberg: Räuber Hotzenplotz und die Mondrakete (F. Ritter, 01.12.) Berlin Deutsches Theater A. Strindberg: Fräulein Julie (T. Kuljabin, 06.12.); T. Mann: Der Zauberberg (S. Hartmann, 13.12.); n. G. Büchner: Woyzeck Interrupted (A. R. Koohestani, 18.12.); T. Brasch: Mercedes (C. Sprenger, 20.12.) Maxim Gorki Theater O. Frljić und Ensemble: Alles unter Kontrolle (O. Frljić, 05.12., UA); E. Mondtag und Ensemble: It´s going to get worse (E. Mondtag, 17.12., UA) Sophiensaele Nothing will be archived (J. Müller/ P. Rinnert/ P. Frick, 03.12.); Familiodrom (Interrobang, 08.12.); Question of Belief (K. Schaffer, 10.12.); Reste (C. Layes, 17.12.) Volksbühne F. Kater: come as you are (jokastematerial oder der kapitalismus wird nicht siegen) (A. Petras, 04.12., UA) Biel / Solothurn TOBS n. W. Shakespeare: Romeo und Julia (V. Schubert, 16.12.) Bochum Schauspielhaus T. Kinder mann/S. Kara: Mit anderen Augen (S. Kara, 11.12.) Bonn Theater L. Carroll: Alice im Wunderland (S. Solberg, 04.12.) W. Holzwarth: Mein Jimmy (N. Schwitter, 06.12.); I. Lausund: Bin nebenan (B. Banca, 06.12.); H. v. Kleist: Der zerbrochne Krug (J. Groß, 31.12.) Bregenz Vorarlberger Landestheater E. Kästner: Pünktchen und Anton (C. May, 02.12.) Bremerhaven Stadttheater M. Lopez: The Legend of Georgia McBride (A. Rehschuh, 20.12.)
Celle Schlosstheater A. Gavalda: Zusammen ist man weniger allein (R. Guderian, 01.12.); L. Hübner/S. Nemitz: Furor (M. Kindervater, 02.12.); M. Frayn: Der nackte Wahnsinn (T. Materna, 02.12.); M. Ende: Momo (05.12.); S. E. Schroeder: Konferenz der Tiere 4 (S. E. Schroeder, 13.12.) Cottbus Staatstheater A. Lindgren: Mio, mein Mio (U. Müller, 11.12.) Dinslaken Burghofbühne M. Spaan: Sommer (M. Schombert, 05.12., UA); K. Aissen/A. Pegler: Farm der Tiere (D. Schnaegelberger, 13.12.) Dortmund Theater K. Mitchell/L. Kirkwood: Die Schöne und das Biest (A. Gruhn, 01.12.); A. Lepper: La Chemise Lacoste (D. Duszczak, 04.12.); S. Kane/n. V. Woolf: Das Mrs. Dalloway Prinzip / 4.48 Psychose (S. Kara, 05.12.); F. Damian/K. Möller/A. Naumann d./J. Saks: Neue Arbeit (F. Damian, 17.12.)
Dezember 2020
Dresden Staatsschauspiel A. Ayckbourn: Ab jetzt (N. Sykosch, 03.12.); H. Fallada: Ein Mann will nach oben (S. Klink, 12.12.) Eggenfelden Theater an der Rott E. M. Schwab: Historische Weihnacht (S. Kamm, 04.12., UA) Essen Schauspiel S. Beckett: Endspiel (G. Rueb, 04.12.) Esslingen Württembergische Landesbühne G. E. Lessing: Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (M. Keller, 04.12.); A. Steinhöfel: Rico, Oskar und der Dienstahlstein (L. Tetzlaff, 19.12.) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm A Room of One’s Own (Swoosh Lieu, 06.12., UA) Schauspiel J. W. v. Goethe: Die Wahlverwandtschaften (L. Nielebock, 03.12.); M. Decar: Die Reise nach Kallisto (R. Gerloff, 04.12., UA); B. Brecht: Rund oder spitz. Weltordnungen (M. Droste,
14.12.); Eternal Peace (A. Eisenach, 16.12., UA) Freiburg Theater n. R. Schimmelpfennig: Der Riss durch die Welt (I. Kerkhof, 12.12.) Graz Schauspielhaus n. F. S. Fitzgerald: Making a Great Gatsby (C. Bossard, 11.12.) Halle Thalia Theater E. Jurkiewicz: Lass es raus! (E. Jurkiewicz, 06.12., UA); R. Reiniger: Name: Sophie Scholl (K. Brankatschk, 13.12.) Hamburg Schauspielhaus n. J.S. Bach/ F. Hölderlin: Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten (C. Marthaler, 04.12., UA); C. Collodi: Pinocchio (B. Bürk, 05.12.); B. Koltès: Quai West (M. Thalheimer, 17.12.) Thalia Theater H. Ibsen: Ibsen-Komplex oder Der Kampf um die Wahrheit (T. Örn Arnarsson, 03.12.); S. Stanišić: Herkunft (S. Nübling, 18.12.); Tiger Lillies, Julian Crouch & Phelim McDermott: Shockheaded Peter (P. Jordan/ L. Koppelmann, 30.12.) Hannover Schauspiel F. Landerer/Ensemble o. Curious Nature: The Return (F. Landerer, 01.12., UA); T. Henning: Der Beginn einer neuen Welt (T. Henning, 04.12., UA); n. C. Baron: Ein Mann seiner Klasse (L. Holzhausen, 13.12., UA); n. Gebrüder Grimm: Aschenputtel (S. L. Kleff, 13.12., UA) Ingolstadt Stadttheater n. S. Crossan: Die Sprache des Wassers (M. Constantine, 12.12.) Jena Theaterhaus S. Lacher/ M. Vojacek Koper: All By MySelfie (S. Lacher, 17.12.) Kiel Theater S. Stephens: Country Music (L. Gappel, 01.12.); K. Wunderlich: Winterbacken (N. Tippelmann, 01.12.); R. Schimmelpfennig/n. H. C. Andersen: Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin (N. Tippelmann, 06.12.); I. Lausund: Bin Nebenan. Monologe für zuhause (A. Pullen, 13.12.) Köln Schauspiel J. Steinbeck: Früchte des Zorns (R. Sanchez, 18.12.) Konstanz Theater D. Zipfel/ M. Dineen: Monsta (02.12.); H. Böll: Katharina Blum oder. Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (F. Autzen, 03.12.); M. Ende: Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch (T. Fransz, 06.12.); F. Schmalz: dosenfleisch (M. Kaschig, 12.12.) Krefeld Theater N. Hornby: Nipple Jesus (M. Delinić, 30.12.)
Juni Tdz Do:November
20.05.2011
14:03 Uhr
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aktuell
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Landshut kleines theater – Kammerspiele M. Haushofer: Die Wand (S. Grunert, 04.12.); Janosch: Oh, wie schön ist Panama (C. Silberhumer, 05.12.); D. Seidler: The King’s Speech (S. Kohrs, 11.12.); S. Schmidt-Bundschuh: Dick Whittington (S. SchmidtBundschuh, 26.12., UA) Leipzig Schauspiel Mount Average (J. Hetzel, 04.12., DSE) Linz Landestheater C. J. Setz: Vereinte Nationen (A. J. Meile, 12.12.) Mainz Staatstheater n. A. Seghers: Transit (B. Bartkowiak, 06.12.) Mannheim Nationaltheater D. Cremer: Sex – Die halbe Wahrheit (D. Cremer, 04.12., UA); D. Loher: Land ohne Worte (D. Friedel, 05.12.); n. E. Ferrante: Meine geniale Freundin – Teil 2 (F. Brucker, 12.12., DEA) Memmingen Landestheater Schwaben A. Gundar-Goshen: Lügnerin (N. Eleftheriadis, 04.12., UA); I. Bergmann: Szenen einer Ehe (M. Claessen, 11.12.); Die Füße im Feuer (K. Mädler, 16.12., UA) Mönchengladbach Theater S. Beckett: Das letzte Band (M. Gehrt, 18.12.) Münster Wolfgang Borchert Theater E. Hans-Ulrich Müller-Schwefe Schmitt: Monsieur und die und SusanIbrahim Todd (Hg.) 978-3-942449-02-1 Blumen desISBN Koran (T. Weidner, 10.12.) 346 Seiten 25,00 € / 41,90 CHF Neustrelitz Theater M. Ende: Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch (M. Fanke, 03.12.)
Oldenburg Staatstheater J. Pommerat: Die Wiedervereinigung der beiden Koreas (P. Hailer, 11.12.) Potsdam Hans Otto Theater B. Wegenast: Wolf sein (M. Böhnisch, 04.12.); U. Hub: Nathans Kinder (J. Bitterich, 09.12.); P. Löhle: Die Mitwisser (M. Becker, 19.12.) Regensburg Theater R. Telfer/n. Gebrüder Grimm: Die Bremer Stadtmusikanten (R. Telfer, 06.12.) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Landestheater und Sinfonieorchester L. Hübner/ S. Nemitz: Frau Müller muss weg (R. Ortmann, 03.12.); H. Ibsen: Nora (A. Marusch, 05.12.) Reutlingen Theater Die Tonne D. Wasserman/n. K. Kesey: Einer flog über das Kuckucksnest (E. Urbanek, 03.12.); D. Tille: Walking around (Lustwandeln) mit Neruda (D. Tille, 11.12., UA) Rostock Volkstheater P. Dehler/n. Gebrüder Grimm: Rapunzel (P. Dehler, Ein berührendes 01.12.); A. d. Saint-Exupéry: Der kleine Dokument deutschPrinz (L. S. Langhoff, 20.12.) deutscher Trennung Rudolstadt Theater L. Hübner/ S. Nemitz:Buchpremiere Furor (K. Brune, 03.12.); M. Chase: Freund Harvey mitMein Lea Draeger und (H. Olschok, 05.12.) Thieme Thomas Saarbrücken Überzwerg N. SchlossTheater Neuhardenberg Ebel: Ox & Esel 2011, (B. Ziegenbalg, 11.12.) 26. Juni 17 Uhr Schaan TAK - Theater Liechtenstein A. Camus: Der Fremde (O. Vorwerk, 05.12.)
Vol. 3 (M. A. Schäfer, 04.12.); S. PomSchwedt/Oder Uckermärkische Bühpe: Doktors Dilemma (T. Kramer, nen A. Long/ D. Singer/ J. Winfield: 05.12.) Shakespeares sämtliche Werke … Wilhelmshaven Landesbühne Niederleicht gekürzt (F. Ranglack, 05.12.) sachsen Nord A. Lindgren: Pippi plünSt. Gallen Theater n. W. Lotz: Die lädert den Weihnachtsbaum (A. Kloos, cherliche Finsternis (J. Knecht, 05.12.) 06.12.) Stendal Theater der Altmark J. M. R. Zwickau Theater n. F. Akin: Aus dem Lenz: Das Schicksal stellt mich auf eine Nichts (S. Sommer, 12.12.) Nadelspitze (J. Gehle, 01.12.); P. Maar: Eine Woche voller Samstage (U. Cyran, 01.12.); A. Petras/J. Koepp/n. P. Høeg: Fräulein Smillas Gespür für FESTIVAL Schnee (L. Villinger, 04.12.); Es geschah am festlichen Tag … (T. BenzLudwigshafen Theater im Pfalzbau müller, 09.12.) Festspiele Ludwigshafen (03.10.– Stuttgart Schauspiel n. H. C. Andersen: 12.12.) Mermaid Cut (J. M. Carly, 11.12.); Robin Hood (C. v. Rad, 19.12.) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Weimar n. F. Kafka: Die Verwandlung (J. Kann, 04.12.); G. Brant: Am Boden (S. Kowski, 08.12.); Black Bird (A. Windmüller, 09.12.) TdZ ONLINE EXTRA Wien brut Ewige 80er (J. Machacek/ D. Aufgrund der noch ungewissen Hazler/ F. Polestra, 01.12., UA); BeauSituation angesichts der Maß ty Of Mess, Trash and Unknown Desinahmen zur Eindämmung der res (O. Soulimenko/ J. Hoffer, 10.12., Corona-Pandemie sind die UA); C. Lefèvre: peachfuzz (C. Lefèvre, AM AM 1 19.6.2011, 9Premierentermine .6.2011, 11 11 UHR unter Vor 12.12., BUCHPREMIERE UA) Burgtheater M. Maeterlinck:PR Pelléas und Mélisande (D. KrabehaltTHE-INSTITUT zu betrachten. Täglich AG QU ADRIENNALLE, GOE PRAG QUADRIENNALE, GOETHE-INSTITUT mer, 12.12.); T. Perle: karpatenflecken aktuelle Premierendaten (K. Lindner, 13.12., UA) ISBN 9 unter 48 4 8 EURO 8 82 2 CHF 978-3-942449-03-8 78-3-94244finden 9-03-8Sie THEA THEATER AT TER DER ZEIT www Wiesbaden Hessisches Staatstheater THEATERDERZEIT.DE IM BUCHHANDEL / / PORTOFREI PORTOFRE EI UNTER THEA AT TERDERZEIT.DE www.theaterderzeit.de n. G. Büchner: Woyzeck White Boxx
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TdZ · Juni 2011
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/ TdZ Dezember 2020 /
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Dezember 2020 • Heft Nr. 12
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Theater der Zeit Dezember 2020
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/ TdZ Dezember 2020 /
Therese Bjørneboe, Theaterkritikerin und Herausgeberin, Oslo Friedrich Dieckmann, Schriftsteller, Essayist und Kritiker, Berlin Jens Fischer, Journalist, Bremen Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Lukas Kretschmer, Bühnenbildner, Potsdam Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Paula Perschke, freie Autorin, Berlin Theresa Schütz, freie Autorin und Theaterwissenschaftlerin, Berlin Shirin Sojitrawalla, Theaterkritikerin, Wiesbaden Dominique Spirgi, Kulturjournalist, Basel Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin Erik Zielke, Lektor, Berlin
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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller
Thema Medea? Buh! Iphigenie? Ein Opfer. Elektra? Eine Hysterikerin? Lange wurden, gemäß der patriarchalen Praxis an Stadt theatern, antike Frauenfiguren vorrangig von Männern gelesen und inszeniert. Nun aber – endlich! – greifen immer mehr Frauen zu diesen Stoffen. Dekonstruktion ist dabei nicht alles, ist den meisten die Eindimensionalität vieler Frauenrollen im Theater doch längst bewusst. Was aber dann? Christine Wahl hat eine Reihe aktueller Antiken-Inszenierungen junger Regisseurinnen gesichtet und analysiert. Als Stückabdruck veröffentlichen wir Rebekka Kricheldorfs Aschenputtel-Aneignung „Der goldene Schwanz“.
Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Paula Perschke (Assistenz), Hannah Krug (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Elena Corsi +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 75. Jahrgang. Heft Nr. 12, Dezember 2020. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 04.11.2020 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44
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Protagonisten Sie sind die mobilsten Theater unter den Theatern: die Landesbühnen. Immer auf Achse in die kleinsten Abstecherorte der Republik, treffen sie die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie besonders hart. Wie reist es sich unter Einhaltung der Abstandsregeln? Wie viel Programm fällt auch in Nicht-Lockdown-Zeiten weg? Und vor allem: Was bedeutet die Krise für die Bühnen finanziell? Elisabeth Maier hat sich für Theater der Zeit auf Recherche begeben.
Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Januar 2021.
„Iphigenie auf Tauris“ an der Landesbühne Niedersachsen Nord. Foto Volker Beinhorn
Bodo Blitz, Kritiker, Freiburg
„Mourning becomes Electra“ in der Regie von Pınar Karabulut an der Volksbühne Berlin. Foto David Baltzer
Vorschau
AUTORINNEN UND AUTOREN Dezember 2020
TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/12
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Was macht das Theater, Shenja Lacher? Shenja Lacher, als Sie vor vier Jahren Ihren Ver-
Sie reden sich in Rage, als wären seit Ihrem
trag am Münchner Residenztheater gekündigt
Abschied vom Münchner Residenztheater keine
haben, erklärten Sie in einem Interview mit der
vier Jahre vergangen. Das Thema erregt Sie
FAZ: Nur „Material“ eines Regisseurs zu sein,
offenbar noch genauso wie damals?
sei Ihnen zu wenig. Dann lieber selbst als Regis-
Ja! Wenn mir jemand vor fünf Jahren gesagt
seur Material formen?
hätte, ich würde mit vierzig nicht mehr auf
Das wird im Fall von „All By MySelfie“ in Jena
der Bühne stehen, dem hätte ich den Vogel
sicher nicht so sein. Es ist ein Geben und
gezeigt. Wenn mir jemand gesagt hätte, mein
Nehmen. Die Schauspielerin Mona Vojacek
Hauptarbeitgeber wird das deutsche Fernse-
Koper bringt ja ein Grundkonzept und ihre
hen sein, hätte ich gesagt: Quatsch, ich gehö-
Texte selbst mit, und dieses Material formen
re ins Theater! Ich habe für das Theater ge-
wir dann gemeinsam. Aber auch, als ich vor
blutet, gehungert, alles. Und deswegen ist es
ein paar Jahren an der Bayerischen Theater-
mir natürlich überhaupt nicht egal. Es ist mir
akademie das erste Mal mit Schauspielstudie-
nicht egal, was mit den Theatern gerade
renden eine Inszenierung gemacht habe, habe
durch Corona passiert. Aber ich bin immer
ich versucht, die Leute nicht in irgendetwas
noch in engem Kontakt mit vielen Menschen
hineinzupressen. Mir geht es eher darum,
am Theater, die mir Dinge erzählen, bei de-
Feuer zu entfachen, Spiellaune und Fantasie
nen ich mir denke: Das kann doch nicht wahr
zu fördern. Aber natürlich freu ich mich, wenn
sein, dass das immer noch möglich ist! Und
gutes „Material“ vorhanden ist. Wo nichts da
dann gucke ich mir teilweise die Inszenierun-
ist, kann man auch nichts entfachen.
gen an und denke: Wieso hast du so dicke Eier und deine Inszenierung ist so scheiße?
Versuchen Sie der Typ von Regisseur zu sein, den Sie sich als Schauspieler immer gewünscht haben? Na ja, ich habe ja gar nicht vor, dauerhaft ins Regiefach zu wechseln. Das hat sich so ergeben. Ich sehe mich tatsächlich als Spieler. Das ist aber auch ein bisschen mein Problem. Ich muss lernen, mich zurückzunehmen. Ich arbeite auch als Rollenlehrer. Das macht mir viel Freude, aber ich glaube, dass ich den Studierenden oft auf den Sack gehe, weil ich viel vorspiele. Es ist vermutlich ziemlich anstrengend mit mir, und deswegen verkörpere ich eher nicht das Ideal, das ich mir vorstelle. Ich wünsche mir Regisseurinnen oder Regisseure, die beschreiben, was sie toll fanden und was eher nicht, um mich dann zu bestärken, in welche Richtung ich weitergehen könnte. Aber können Sie jetzt, da Sie selbst gelegentlich am Regiepult sitzen, zumindest verstehen, dass einen diese Machtposition verführen kann,
„Ich liebe Theater über alles, aber die Strukturen innerhalb des Theaters sind mir zu autokratisch.“ Mit diesem Satz, geäußert gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, verabschiedete sich Shenja Lacher 2016 mit großem Furor aus seinem Festengagement am Münchner Residenztheater. Der Schauspieler war damit einer der Ersten, der die Machtstrukturen im Betrieb öffentlich kritisierte. Seitdem wartet die Theaterwelt ungeduldig auf ein Comeback. Kurzzeitig stand Lacher 2019 wieder auf der Bühne – am Schauspiel Frankfurt in „The Nation“ von Eric de Vroedt in der Regie von David Bösch. Nun wird er am Theaterhaus Jena sogar selbst Regie führen: „All By MySelfie“ heißt die Produktion, die er gemeinsam mit der Schauspielerin Mona Vojacek Koper entwickelt. Premiere ist – so Corona will – am 17. Dezember. Foto Dirk Ossig
Dabei hatte man doch die Hoffnung, dass sich durch das Engagement, zum Beispiel des ensemble-netzwerks, einiges gebessert hat. Und wie! Es hat sich massiv etwas verändert, und dazu hat das ensemble-netzwerk erheblich beigetragen. Auch auf den Leitungsebenen ist die Sensibilität gewachsen. Es gibt aber immer noch einige sture Dinosaurier, die man nicht wird ändern können. Aber man weiß ja, was mit Dinosauriern passiert ist. Bei Ihrem Abschied vom Residenztheater haben Sie angekündigt, Sie würden so lange pausieren, bis Ihnen das Theater – als Schauspieler – fehlt. Ist es denn bald so weit? Ich habe letztes Jahr am Schauspiel Frankfurt gastiert. Als ich da das erste Mal wieder auf der Bühne stand, hätte ich heulen können, weil ich dachte: Hier komme ich her! Aber ehrlich gesagt: Ich genieße gerade die Freiheit, selber auszusuchen, was ich mache,
sie zu missbrauchen?
und herauszufinden, was ich machen will. Ich
Niemand ist gefeit davor, auch mal ungerecht
stehe nicht, wie als Schauspieler im Festengagement, auf einer Besetzungsliste, auf der
zu sein, aber Ungerechtigkeit als Druckmittel oder aus persönlichen Gründen ist unnötig.
gekehrt, da wären Bescheidenheit und Re-
ich vielleicht gar nicht stehen möchte. Inso-
Jemanden vor versammelter Mannschaft zur
spekt angebracht. Ich verstehe natürlich die
fern ist eine Rückkehr derzeit kein Thema.
Sau zu machen …? Wie soll denn diese Per-
Verführbarkeit und habe eher eine choleri-
Aber vielleicht ergibt es sich irgendwann. Das
son nachher spielen? Zu glauben, dass Leute
sche Ader, die ich unter Kontrolle halten
wäre schön. //
mit Angst besser spielen und arbeiten, ist
muss. Aber das muss ich eben! Ich kann
Bullshit. In der Regieposition bist du doch
mich doch nicht aufführen wie der Allein-
genauso abhängig von den anderen wie um-
schaffende!
Die Fragen stellte Christoph Leibold.
SCHAUSPIEL NACH DEM GLEICHNAMIGEN FILM VON FATIH AKIN
REGIE: SEBASTIAN SOMMER ¬ AUSSTATTUNG: ANNE MANSS ¬ PREMIERE: 12. DEZEMBER ¬ VOGTLANDTHEATER PLAUEN ¬ WWW.THEATER-PLAUEN-ZWICKAU.DE
fre frei reii na nach ch M oliè oli ère Molière a b 114. 4. J anuar 2 021 ab Januar 2021 R egie: J acob Regie: Jacob H öhn öh ne KKulturu l t u rHöhne brauerei, Schönhauser b ra u e rei, Sc S c hö hön n h auser 36-39 Allee 36 3 6-3 39 www.rambazambaw w w.rambaz w.ramba za m batheater.de t h eat eater.d er.d e
Die D ie Insz Insze Inszenierung e n ierung ist Tei Te il Teil des St Stu udio 2 Studio 211
Design: Stahl R, www.stahl-r.de
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