Theater der Zeit 12/2021 - Kleiner Mann, was nun?

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Schwerpunkt Ausbildung / Das Münchner Volkstheater im neuen Quartier / Kunstinsert Nicole Tersigni Im goldenen Käfig: Die Methode Simon Stone / Intendanzstart Kassel / Kolumne Ralph Hammerthaler

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Dezember 2021 • Heft Nr.12

Kleiner Mann, was nun? Geschlechterbilder im Theater – Ein Jahresrückblick


GOOD 7.5. – 19.5.22

MÜNCH–N–R BI–NNAL– F–STIVAL FÜR N–U–S MUSIKTH–AT–R

FRIENDS

www.muenchener-biennale.de

Uraufführungen von Malin Bång, Ann Cleare, Bernhard Gander, Lucia Kilger & Nicolas Berge, Polina Korobkova, Yoav Pasovsky, Øyvind Torvund.


editorial

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W

Jahre

Theater der Zeit

In eigener Sache Aufgrund der Corona-Pandemie kann es bei der Auslieferung von Theater der Zeit zu Ver­­zöge­rungen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

e’ll meet again, don’t know where, don’t know when …“ Wäre dies der Abspann eines Films, könnte man sich einen der vielen symbolträchtigen Songs hinzu imaginieren, wie etwa jenen von Johnny Cash, der vor dem inneren Auge noch einmal Revue passieren lässt, was in den Episoden zuvor geschah. Ein schwieriges Jahr geht zu Ende, in dem nicht nur die Corona-Pandemie sich ein weiteres Mal aufzubäumen scheint, sondern auch die CDU nach 16 Jahren frauengeführter Regierung ein Kandidatenteam für den Parteivorsitz aufstellt, das eine Frauenquote von null Komma null Prozent aufweist. Der große Backlash? Wir haben den anstehenden Jahreswechsel zum Anlass genommen, auch redaktionell noch einmal zurückzuschauen. Im Januar 2021 blickten wir unter dem Motto „Feminismus, Theater, ­Performance“ auf Geschlechterbilder auf der Bühne. Wir, die wir im Kanon der Kunstzeitschriften (Theater heute, tanz, Opernwelt, Die Deutsche Bühne) die einzige rein weiblich besetzte Redaktion ­bildeten (inklusive Chefredaktion), fühlten uns dazu besonders berufen. Was wir entdeckten, war ein großer Wille, durch dramatisches Gretchen-, Ophelien- und Iphigenien-Empowerment die ­Geschlechterverhältnisse auf der Bühne in Bewegung zu bringen. Große Heldinnen, kleine Helden. Aber trägt dieses Konzept wirklich zu einem spannenderen, komplexeren Theater bei? Das haben wir uns in unserem Jahresrückblick 2021 gefragt, bei dem wir uns von der amerikanischen Comedy-Autorin Nicole Tersigni inspirieren ließen, die auf ihrem Twitter-Account ­etwas ganz Ähnliches macht wie Regisseurinnen und Regisseure auf der Bühne: Sie nimmt jahrhundertealte kanonische Werke – in diesem Fall aus der bildenden Kunst – und klopft sie luzide auf ihren Gegenwartsgehalt ab, in diesem Fall auf die Darstellung des sogenannten Mansplaining: Männer, die Frauen ständig die Welt erklären wollen. Angelehnt an den Titel ihres in diesem Jahr auch auf Deutsch erschienenen Buches „Men to Avoid in Art and Life“ („Männer, denen du besser aus dem Weg gehst“), aus dem wir Auszüge in unserem Kunstinsert präsentieren, küren wir in unserem Jahresrückblick nicht nur den Bühnenhelden und die Bühnenheldin to avoid, sondern auch unseren persön­lichen Mansplaining-Coverboy 2021, um, verweisend auf ein weiteres kanonisches Werk, perspek­tivisch für 2022 zu fragen: Kleiner Mann, was nun? 2021 aber war auch ein Jahr der erfreulichen Anfänge. Mit Anna Luise Kiss wird die altehrwürdige Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin seit Oktober erstmals von einer Frau geleitet. Wir nahmen den Neustart im Rektorat zum Anlass, um uns in einem großen Schwerpunkt zum Thema Ausbildung den Reformbedarfen in unseren Theaterhochschulen zu widmen. Mit dabei sind die Schauspielstudentin Nadège Kanku, die Leiterin des Studiengangs für Schauspiel und Regie am Mozarteum Salzburg Amélie Niermeyer sowie der Performer Manuel Gerst, die mit Patrick Wildermann über Diversität und Inklusion in der Ausbildung diskutieren. Elisabeth Maier blickt derweil am Beispiel der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Studium und Karriere. Ebenso gibt es neue, spektakuläre Theaterorte zu feiern sowie neue Intendanzen: In München präsentierte Christian Stückl den Neubau des Münchner Volkstheaters, Kathrin Tiedemann, Chefin des FFT Düsseldorf, bezog mit dem KAP1 den neuen Spielort ihres Produktionshauses, im Schweizer Kanton Aargau eröffneten in Aarau und Baden zwei grundsanierte Quartiere für die darstellenden Künste, und in Kassel beeindruckte der frisch angetretene Intendant Florian Lutz sein Publikum mit einer gigan­ tischen, „Pandaemonium“ genannten Stahlkonstruktion von Bühnenbildner Sebastian Hannak. Mit 2021 geht für uns indes nicht einfach nur ein Jahr zu Ende, sondern auch unsere Zeit bei Theater der Zeit. Wir, also Dorte Lena Eilers und Christine Wahl, werden den Verlag mit diesem Heft verlassen. Unser herzlichster und großer Dank gilt all jenen, die über all die Monate und Jahre hinweg ein Projekt wie Theater der Zeit möglich gemacht haben, all jenen also, die mit großem Engagement und Leidenschaft für das Heft tätig waren, die uns beraten, unterstützt und inspiriert haben. Ganz besonders wollen wir hiermit unseren Leserinnen und Lesern sagen: Vielen Dank für Ihr Interesse und Ihre Treue! Der Abschied fällt uns wahrlich nicht leicht. Die große Kunst des Loslassens ist nicht allen gegeben. Wir aber haben uns, gemeinsam mit Matthias Brenner, der seinen Posten als ­Intendant des Neuen Theaters Halle auf eigenen Wunsch vorfristig verlässt, in unserer Rubrik „Was macht das Theater?“ in dieser Kunst geschult. Der Raum einer Kolumne ist unendlich, schreibt unser Kolumnist Ralph Hammerthaler in seinem Rückblick auf 14 Jahre Kolumnistendasein bei Theater der Zeit. Der Raum eines Magazins ist es leider nicht. „Vorhang für immer“ heißt es in unserem Stückabdruck „Gymnasium“ von Bonn Park. Die Redaktion Doch wer weiß … Einblendung. Letzter Song (s. o.). Und black. //

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Inhalt Dezember 2021 thema ausbildung

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Lara Wenzel Heterogenitätsorientierte Hörsaalbesetzung Mit Anna Luise Kiss steht an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin endlich eine Frau an der Spitze der Institution – und auch sonst bewegt sich hier viel

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Elisabeth Maier Die verlorene Generation? Keinesfalls! Wie Absolventinnen und Absolventen an Theaterhochschulen der CoronaPandemie trotzen – Ein Blick an die Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg

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Patrick Wildermann Stürmt die Burg der Auserwählten! Die Schauspielstudentin Nadège Kanku, die Leiterin des Studiengangs für Schauspiel und Regie am Mozarteum Salzburg, Amélie Niermeyer, und der Performer Manuel Gerst über Diversität und Inklusion in der Ausbildung

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kunstinsert

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Nicole Tersigni „Männer, denen du besser aus dem Weg gehst“

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Dorte Lena Eilers und Christine Wahl Kleiner Mann, was nun? Ein Jahresrückblick der Redaktion auf Geschlechterbilder im Theater 2021

kolumne

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Ralph Hammerthaler Worüber ich nicht geschrieben habe Der Raum einer Kolumne ist unendlich

protagonisten

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Christoph Leibold Jetzt samma da! Nach zehn Jahren Planung und drei Jahren Bauzeit bezieht das Münchner Volkstheater unter großem Jubel sein neues Haus

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Joachim F. Tornau Sechzig Tonnen Stahl Das Kasseler Staatstheater ist vielversprechend in die erste Spielzeit unter seinem neuen Intendanten Florian Lutz gestartet – mit einer spektakulären Raumbühne und ambitionierten Uraufführungen

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Martin Krumbholz Wo’s brummt und brodelt Endlich! Das FFT Düsseldorf bezieht nach etlichen Bauverzögerungen mit dem KAP 1 ein neues Quartier für die freien performativen Künste

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Elisabeth Feller Baust du noch oder spielst du schon? Mit der Renovierung der Alten Reithalle in Aarau und dem Erweiterungsbau des Kurtheaters Baden erhält der Schweizer Kanton Aargau neue Räume für die Künste der Zukunft

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Christoph Leibold Im goldenen Käfig Die Methode Simon Stone: Warum die Real-Life-Ästhetik des australischen Regisseurs zunehmend zur Hochglanzmasche geriert

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Michael Simon Fertig gibt’s nicht Exklusiver Vorabdruck

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neuerscheinungen theater der zeit buchverlag


inhalt

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protagonisten

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Lara Wenzel Wir. Dienen. Deutschland „Hannibal“ von Dirk Laucke am Deutschen Nationaltheater Weimar

42 Sebastian Schulze Jolles Hinter dem Paravent des Ulks „Sladek“ nach „Sladek oder Die Schwarze Armee“ von Ödön von Horváth mit neuen Texten von Manja Präkels am Theaterhaus Jena Christoph Leibold Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen „Wolken. Heim. / Rechnitz (Der Würgeengel) / Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek am Staatstheater Nürnberg Martin Krumbholz Im Namen der Opfer „Die Lücke 2.0“ von Nuran David Calis am Schauspiel Köln

look out

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Lina Wölfel Radikale Freude Jchj V. Dussel entwirft ein Theater des Spaßes, in dem Lachen zum politischen Moment der Befreiung wird

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Theresa Schütz Die koloniale Matrix Joana Tischkau zählt mit ihren rassismuskritischen Arbeiten zu den spannendsten Performance-Macherinnen ihrer Generation

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Berlin „Slippery Slope“ (UA) von Yael Ronen, Shlomi Shaban, Riah May Knight und Itai Reicher in der Regie von Yael Ronen (Patrick Wildermann) Dessau „Die Räuber“ von Friedrich Schiller in der Regie von Milan Peschel (Erik Zielke) Düsseldorf „Kleiner Mann – was nun?“ von Hans Fallada in der Regie von Tilmann Köhler (Martin Krumbholz) Graz „Eleos. Eine Empörung in 36 Miniaturen“ (UA) von Caren Jeß in der Regie von Daniel Foerster und „Garland“ (UA) von Svenja Viola Bungarten in der Regie von Anita Vulesica (Hermann Götz) Hannover „Ein Mann seiner Klasse“ (UA) von Christian Baron in der Regie von Lukas Holzhausen (Lina Wölfel)

stück

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Bonn Park Gymnasium

magazin

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Der Humor des Tragischen Das internationale Festival Radar Ost im Deutschen Theater Berlin zeigt Produktionen aus Belarus, der Ukraine sowie Bosnien und Herzegowina Ein rares Wunder des Kalten Krieges Zum Tod des Kulturwissenschaftlers Jost Hermand Bücher Sasha Marianna Salzmann, Emine Sevgi Özdamar, Claudius Baisch / Henrike Schmidt / Dana Soubh

aktuell

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Meldungen

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Premieren

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TdZ on Tour in Berlin, Lübeck und Altenburg

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Autorinnen und Autoren, Impressum, Vorschau

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Matthias Brenner im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahl

auftritt 50

was macht das theater?

Titelfoto ArtFamily – stock.adobe.com

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© 2021 des Titels »Männer, denen du besser aus dem Weg gehst« von Nicole Tersigni (ISBN 978-3-7423-1782-7) by riva Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München. Nähere Informationen unter: www.m-vg.de





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kunstinsert

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Kleiner Mann, was nun? Ein Jahresrückblick der Redaktion auf Geschlechterbilder im Theater 2021

von Dorte Lena Eilers und Christine Wahl

B

egonnen hatten wir das Jahr 2021 mit dem „Lachen der ­ edusa“. Unter dem Motto „Feminismus, Theater, Performance“ M beleuchteten wir in unserer Januar-Ausgabe Geschlechterbilder auf der Bühne – und stellten fest: Der Wille zum drama­tischen Gretchen-, Ophelien- und Iphigenien-Empowerment ist groß. ­Allein: Der Weg gestaltet sich steinig. Tut man dem Feminismus, dem Theater und dem Synapsenbetrieb in den Publikumshirnen wirklich einen Gefallen, wenn man die kanonischen Könige Lear, Agamemnon und wie sie alle heißen kurzerhand zu debilen Würstchen verzwergt? Und was sagt das eigentlich, so rein inszenierungskonsistent gedacht, über die Zurechnungs­fähigkeit und den Empowermenterfolg der Klytämnestras aus, wenn sie sich derartige Witzfiguren zum Gatten wählen? Macht weibliches Leiden am Westentaschenwinzling, der – siehe unser Cover – das Ende der Sprossenleiter noch nicht einmal erahnen kann, die er erklettern müsste, um auf Augenhöhe mit seiner ­Ehefrau/Tochter/Geliebten/Gegenspielerin/Kollegin zu gelangen, das Theater wirklich attraktiver? Viele offene Fragen also – unstrittig war damals, im Januar, lediglich ein Punkt: Die Diagnosen können nur ein Aufschlag sein, das Sujet wird uns fürs kommende Jahr – und darüber ­hinaus – dramatisch auf Trab halten. Mit der letzten Ausgabe des Jahres 2021 wollen wir nun erneut Bilanz ziehen sowie – ebenfalls mit einem (literatur)kanonischen und gern für die Bühne adaptierten Werk – auch schon mal perspektivisch für 2022 ff. fragen: Kleiner Mann, was nun? Inspirieren ließen wir uns von der ­amerikanischen Comedy-Autorin Nicole Tersigni, die auf ihrem Twitter-Account etwas ganz Ähnliches macht wie Regisseurinnen und Regisseure auf der Bühne: Sie nimmt jahrhundertealte kanonische Werke – in diesem Fall aus der bildenden Kunst – und klopft sie luzide auf ihren Gegenwartsgehalt ab. Logisch, dass

­ersigni mit ihren ironischen Kommentierungen der alten T ­Schinken in derartiger Rasanz viral ging, dass es ihre Tweets inzwischen auch als Buch und als Kalender gibt. Gemäß der Autorin, die sich innerhalb der Geschlechter­debatte auf ein zentrales Subthema spezialisiert hat – nämlich auf „Men to Avoid in Art and Life“, also „Männer, denen du besser aus dem Weg gehst“ –, küren wir in unserem Jahresrückblick nicht nur den Bühnenhelden und die Bühnenheldin to avoid, sondern auch unseren persön­ lichen Mansplaining-­Coverboy 2021.

Man to Avoid 2021 Ein Mann inszeniert einen Mann, der den Monolog einer Frau spricht, in welchem sie dem Mann erklärt, warum sie als Frau an ihm leidet. Ist das noch Autosuggestion? Oder schon Selbst­ geißelung? Ich bin ein Schwein, ein Schwein, ein Schwein? Ja, den Männern, das muss man ganz klar sagen, drohte in dieser Castorf-Premiere am 12. Juni 2021 am Berliner Ensemble tatsächlich der Fleischwolf. Riesig groß ragte auf Aleksandar Denić’ Bühne ein barbusiges Revuegirl empor, deren weit aus­ gebreitete Klauen jederzeit nach den unter ihr entlanghastenden Männern zu greifen schienen. „Fabian“ von Erich Kästner, diese kurz nach Erscheinen wegen seiner frivolen Sexszenen der ­Zensur zum Opfer gefallene Geschichte um den arbeits- und mittellosen Germanisten Jakob Fabian, der am Vorabend der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten durch das Berliner Nachtleben taumelt, ist ein Roman der starken Frauen. Cornelia Battenberg, Frau Hetzer, Irene Moll – allesamt weibliche Charaktere, die sich auf ihre je eigene Art nehmen, was ihnen gefällt, dabei den männ­ lichen Part zum Trittbrett, Sidekick oder Toyboy formatierend, ­wogegen die Männer freilich rebellieren. Normalerweise machen solche Geschlechterkämpfe bei Frank Castorf einen Heidenspaß. Es geht drunter und drüber, durch Betten und Bars, Diskurse und Referenzen – nur larmoyant, das wird es nie. Erstaunlich war daher, was für ein neuer Ton


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sich ausgerechnet in die „Fabian“-Inszenierung eingeschlichen hatte, die nach etlichen pandemiebedingten Verschiebungen so sehnlichst erwartet worden war. In schier endlosen – und leider endlos peinlichen – Passagen musste sich Marc Hosemann als ­Fabian mit den Klimakterium-getränkten Gefühlsergüssen einer Frau herumschlagen, die sich, in Paris lebend, über die emotio­ nale Kälte ihres leider viel zu selten aus Berlin anreisenden Liebhabers echauffiert (Ähnlichkeiten mit lebenden Regisseuren oder Schauspielerinnen waren dabei natürlich absolut zufällig). Das ergab einen Sound, der verdächtig nach Brigitte-Prosa klang: „Als du am 23. Dezember zu mir kamst, warst du so grob zu mir.“ Oder: „Wann hast du mich das letzte Mal umarmt?“ Nein, boys and girls, mit dieser Frauenversteher-Attitüde kommen wir nicht weiter, sondern segeln vielmehr zurück in die achtziger Jahre, als Grünen-Politiker extra Stricken lernten, um im Bundestag ihren feministischen Anspruch zu demonstrieren. Wollen wir das? Nein! Denn sonst landen wir bei Nicole Tersignis Coverboy von Seite 62 ihres Buches, einem Mann, der sich jovial zu einer Frau am Tisch hinüberbeugt, um ihr mit Kennerblick zuzuraunen: „Lass mich dir etwas über den weiblichen Körper ­erklären …“ Da kann man nur sagen: Ab in den Fleischwolf mit dieser Regie-Idee! Zum Glück steht dieser bei Frank Castorf, dem großen Dialektiker sei Dank, im Hinterzimmer auch schon bereit.

Woman to Avoid 2021 Diese Kategorie muss ex positivo aufgezogen werden. Man erinnere sich an ein Gastspiel von Pina Bauschs Wuppertaler Tanz­ theater 2016 in Berlin. Sieben Jahre nach dem Tod der großen Choreografin zeigte das Ensemble noch einmal ihr legendäres Stück „Palermo Palermo“, das im Dezember 1989 in Wuppertal Premiere gefeiert hatte und mit einem symbolischen Knall begann: Unter lautem Krachen kippte gleich zu Beginn die von ­Bühnenbildner Peter Pabst errichtete bühnenportalhohe Steinmauer hintenüber. Krawumm! Da lag sie vor einem, die unwirtliche Trümmerlandschaft, auf der die Fortbewegung, insbesondere auf Stöckelschuhen (Frauen wie Männer), immerzu ein Wagnis war. Unvergessen in dieser unvergesslichen Choreografie war der Auftritt der Tänzerin Nazareth Panadero, die mit einem dicken Bündel Spaghetti in der Hand an der Bühnenrampe stand und die Pasta unmissverständlich für sich reklamierte. „Alles meine. Die gehören alle mir.“ Diese Nummer dauerte gefühlte zehn Minuten, in denen Panadero in allen Schattierungen der Freude, des Genießens und des Stolzes, der Habgier, des Besitzanspruchs und der Großfrausucht ihrer Macht über diesen Schatz – und ihrem ­Unwillen, ihn zu teilen – Ausdruck verlieh. Blickt man nun auf die Inszenierungen einschlägiger kanonisierter Werke in den vergangenen Monaten, fällt auf, wie selten es Regisseurinnen und Regisseure schafften, derart schillernde und ambivalente Frauenfiguren zu zeichnen. Insbesondere wenn es um Frauen in Machtpositionen ging, wurden die damit einhergehenden psychologischen Untiefen gerne umschifft. Anne Lenks „Maria Stuart“ – und hier muss ein wenig geschummelt werden, denn die Inszenierung hatte noch kurz vor dem Lockdown 2020 Premiere, war aber Teil des Theatertreffens 2021 – ist ein Beispiel dafür. Der Kampf der beiden Königinnen Maria Stuart und Elisa-

ein jahresrückblick mit nicole tersigni

beth um Macht, Männer und Einfluss wird im Spiel von Franziska Machens und Julia Windischbauer mit großen Gesten und rollenden Augen dem Ulk preisgegeben. Doch auch so kommen wir im Genderdiskurs nicht weiter, wenn charakterliche Verirrungen wie Habgier, Neid und Geltungs­ drang („Alles meins!“) – selbst wenn die aktuelle Beweislage damit ­prozentual einhergeht – auf der Bühne lediglich männlich konnotiert werden, während Frauen diesen Wahnsinn kichernd überspielen. Das emanzipatorische Projekt wird nicht durch einen ungeschönten Blick gefährdet, sondern durch Unehrlichkeit. Das machte die Szene bei Pina Bausch so stark: Hier wurde ein genderneutrales menschliches Phänomen auf die Bühne ge­ bracht, umhüllt von einer auf dem Pfennigabsatz balancierenden lebensklugen Ironie.

Mansplaining-Coverboy 2021 Diese Wahl fiel uns zugegebenermaßen besonders schwer; hier konnten wir wirklich aus einer dankbaren Überfülle schöpfen. Am überzeugendsten hat sich, übers Jahr betrachtet, aber letztlich der Typus des ungefragten Beraters den Spitzenplatz erarbeiten können – den augenscheinlich auch Tersigni sehr zu schätzen weiß: Es handelt sich um den selbstlos dilettierenden Zeitgenossen von Seite 5 dieses Heftes, der sich zu einer weiblichen Expertin ­hinunterbeugt, um sie in salbungsvoller Zugewandtheit über ­ihren Job – im speziellen Fall: das Mandolinenspiel – aufzuklären. Klar: In life, art und auch work läuft einem dieser Männer­ typus especially to avoid zuverlässig als Nachbar, Tresenbekanntschaft oder Vorgesetzter über den Weg. Im Theater allerdings ist er freilich weniger auf der Bühne zu finden – denn dort reüssiert ja eben das Lear- und Agamemnon-Würstchen – als vielmehr ­dahinter beziehungsweise davor. Tatsächlich verbirgt sich unser Mansplaining-Coverboy des Jahres 2021 genau hinter jenem ­Helden, dem wir die heroische Helden-Verzwergung auf den Brettern überhaupt verdanken, weil er – frauenbewegt und -solidarisch, wie er ist – wirklich keine Breitbeiner-Mühe scheut und den Regietheaterbizeps bis zur allerletzten Muskelfaser anzuspannen weiß, wenn es darum geht, die eigenen Geschlechtsgenossen zu Schlappschwänzen zu erklären. Zur ultimativen persönlichen Bestform läuft der ungefragte Berater im Regiefach aber erst auf, wenn er seine ­Hobby-Expertise vom eigenen Geschlecht weglenken und über die Frauen­apotheose ergießen, wenn er die gigantische Theatermaschinerie also edelmütig im Dienste des weiblichen Empowerments dirigieren kann. „Lulu“ feministisch, die Schiller‘sche Räuber­bande als Frauen­ brigade, abendfüllende virile Sauf- und Kampf­gelage, kritisch geframt von Schauspielerinnen, die buchstäblich am Rande stehend einwerfen, dass die ganze Chose unter weiblicher Handlungs­ regie anders gelaufen wäre: Die Liste ist so lang, dass wir mit ihr das ganze Heft füllen könnten. Daher also dem potenten Frauenerklärer, unserem Mansplaining-Coverboy anno 2021, an dieser Stelle unseren allerherzlichsten Dank für zwölf grenzenlos erkenntnisreiche Monate: Wirklich gar nicht auszudenken, was uns alles über unser Geschlecht, unser Leben und unsere Profession verborgen geblieben wäre, wenn wir diesen selbstlos dilettierenden Berater nicht hätten! //

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Daumen rauf, Daumen runter. Wer an einer Theaterhochschule aufgenommen werden will, muss in der Regel ein hartes Testverfahren durchlaufen. Ein Gremium entscheidet, wer bleibt oder geht. Ein Machtgefälle, das sich im Laufe des Studiums selten verflüchtigt. Seit einiger Zeit jedoch geraten parallel zu den Struktur­ debatten an den Stadttheatern auch unsere Ausbildungsinstitutionen in Bewegung. Wir sprechen mit Anna Luise Kiss, der neuen Rektorin der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, über ihre Reformideen, diskutieren mit dem ­Performer Manuel Gerst, der Schauspielstudentin Nadège Kanku sowie der Leiterin des ­ Studiengangs für Schauspiel und Regie am Mozarteum Salzburg, Amélie ­Niermeyer, über Diversität und Inklusion und berichten von den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Studium und Karriere.


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Heterogenitäts­ orientierte Hörsaalbesetzung Mit Anna Luise Kiss steht an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin endlich eine Frau an der Spitze der Institution – und auch sonst bewegt sich hier viel

von Lara Wenzel

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wischen Mythos und verknöcherter Institution: In den letzten siebzig Jahren hat sich die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ den Ruf aufgebaut, die Theater- und Filmgrößen von morgen auszubilden. 1905 gründete Max Reinhardt die Schauspielschule des Deutschen Theaters zu Berlin und legte damit den Grundstein für die spätere DDR-Institution. Nachdem der ästhetische Pionier 1933 aus Deutschland fliehen musste, übernahm erst Woldemar Runge, dann Heinz Dietrich Kenter die Leitung der Hochschule. Während der Zeit des Nationalsozialismus erhielt sie das zweifelhafte Prädikat, die „disziplinierteste, künstlerisch entwicklungsfähigste“ Ausbildungsstätte unter den deutschen Schauspielschulen zu sein, bis sie 1944 schließen musste. Im September 1951 erhielt sie im Zuge ihrer Verstaatlichung in der DDR die Unabhängigkeit vom Deutschen Theater. Von ­diesem Gründungsmoment an verband man die Hochschule mit einer bestimmten Schauspieltradition, beruhend auf Konstantin Stanislawski und Bertolt Brecht. Dieser Ruf hat sich bis heute gehalten, hinke dem, was an der Hochschule passiert, aber hinter-

her, meint die neue Rektorin Anna Luise Kiss. Mit Beginn des Wintersemesters löste die Medienwissenschaftlerin den bisherigen Rektor Holger Zebu Kluth ab, der nur vier Jahre diese Stelle bekleidete. Neben ihren Engagements als Film- und Fernsehschauspielerin verfolgte Kiss eine akademische Karriere, studierte Kultur- und Medienwissenschaften an der Filmhochschule „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg und promovierte zur „Konstruktion von Laiendarstellerinnen und Laiendarstellern“ im Kinospielfilm. Bereits an der Filmhochschule übernahm die gerade vierzig Gewordene leitende Positionen in der Hochschulverwaltung, war unter anderem Vizepräsidentin für Forschung und Transfer sowie Gastprofessorin in der Lehre. Ihre Ernennung soll Zeichen einer Neuausrichtung der „Ernst Busch“ sein, ein symbolischer Erfolg, denn mit ihr übernimmt zum ersten Mal eine Frau das Amt. Aber das stimme nur halb, meint Kiss und lässt durchblicken, dass sie mit der Historie der Schule sehr vertraut ist. Bereits im Mai 1953 bekleidete Sprecherzieherin Lore Espey die Rektorinnenstelle und verfolgte ein strenges Stanislawski-­ Eine Hochschule mit verknöchertem Stil? – Die vielfältigen Impulse von Lehrenden und Studierenden zeichnen ein anderes Bild, hier die Schauspielabsolventinnen und -absolventen 2022 der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Foto Pascal Bünning

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Ihre Ernennung soll Zeichen einer Neuausrichtung sein – Die neue Rektorin Anna Luise Kiss. Foto David Baltzer / bildbuehne.de

Programm. „Wir mussten monatelang Stecknadeln sortieren, Öfen heizen, Papier zerreißen, Hemden bügeln und anderes mehr. Alles mit vorgestelltem Gegenstand“, erinnert sich die Schauspielerin Christa Pasemann in dem von Klaus Völker zum 100. Geburtstag der „Ernst Busch“ herausgegebenen Buch. Kiss hingegen ist von ästhetischer Dogmatik weit entfernt. Sie sieht sich als Hochschulmanagerin, mit dem Auftrag, bestmögliche Rahmenbedingungen für die künstlerische Entfaltung zu schaffen. Der Ruf, dass die Hochschule verknöchert an einem Stil festhalte, werde den vielfältigen Impulsen von Lehrenden und Studierenden nicht gerecht. „Ich glaube, da ist eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Bild der ,Busch‘ und dem, was wirklich hier passiert“, konstatiert sie nach einer knappen Woche Amtszeit Anfang Oktober.

Auflösung von Wissenshegemonien Die Kunst selbst müsse also nicht entstaubt werden. Was bereits da sei – von mimetischem Spiel über performative Installationen bis zu digitalen Formaten – solle durch heterogenitätsorientierte Lehre gehegt und ermutigt werden. Dieser pädagogische Ansatz, für den Kiss 2015 mit dem Lehrpreis des Landes Brandenburg ausgezeichnet wurde, setzt auf flache Hierarchien, niedrigschwellige Kommunikation und die Auflösung von Wissenshegemonien zwischen Studierenden und Lehrenden. „Gerade an künstlerischen Hochschulen sind Teamkonstellationen denkbar, in denen man sich bestimmten Thematiken und Interessensfeldern gemeinsam annähert und Lehrende nicht als Ausgelernte gedacht werden. ­Heterogenitätsorientiert heißt, wirklich sehr genau auf die Einzelnen einzugehen, und das ist in Kunsthochschulen möglich, weil wir hier oft kleine Studiengänge haben. Was bringen die Studierenden mit? Wo holt man sie ab? Wie kann man unterschiedliche Tempi ermöglichen?“ Doch auch diese Form der emanzipierten Lehre, die Kiss während ihrer Amtszeit etablieren möchte, kann nicht gänzlich

verhindern, dass es zu gesellschaftlichen Exklusions­ mechanismen kommt. Eine plurale Studierendenschaft stellt sich nicht von allein her. Hier müsse die Zugänglichkeit erhöht werden, betont Kiss und ergänzt, dass es die passenden antirassistischen und inklusiven Strategien im Laufe der nächsten Monate zu finden gelte. Genauso wichtig ist die Frage der sozialen Herkunft und des kulturellen Kapitals, von dem die Studierenden mal mehr, mal weniger im Gepäck haben. Zwar kann an der Hochschule ohne Abitur studiert werden, die Möglichkeit nutzen jedoch ­wenige. Der Frachter „Ernst Busch“ aber sei auf einem ­guten Weg, beschließt Kiss das Gespräch. „Gerade in den Küns­ ten lieben wir komplizierte Geschichten, weil es ­keine einfachen Antworten gibt. Genauso wenig schwarzweiß ist die Frage, wie wir uns weiterentwickeln.“ Umstürzlerische Töne hört man von der neu ­eingesetzten Rektorin nicht. Sie tritt auf als Vermittlerin zwischen Bestehendem und neuen Impulsen. Dabei betont sie, dass auf Lebenszeit vergebene Professuren keinesfalls im Konflikt mit der Auflösung hierarchisch organisierter Wissensvermittlung stehen müssen. Statt offen Brüche auszurufen, sucht Kiss ­Anknüpfungspunkte und Kontinuitäten, die Herrschaftsdisposi­ tive an der Hochschule mit ihrer Offenheit für die Themen der Studierenden bereits infrage stellen. Trotz dieses eher vermittelnden Ansatzes sehen auch die hfs_ultras, das derzeit wohl berühmteste Frauenkollektiv der Hochschule, in Kiss’ Antritt ein Symbol der Veränderung. Die sechs Regisseurinnen entstammen dem 2017er Regiejahrgang, der historisch zu nennen ist, setzte er sich doch erstmals ausschließlich aus sechs Frauen zusammen, die sich alsbald den ­Namen hfs_ultras gaben. Seitdem umweht das Kollektiv ein regelrechter wind of change, den es gleichzeitig kritisch beäugt. Der Name der Gruppe spielt auf eine abschätzige Aussage Frank ­Castorfs an, der in einem Interview erklärte, dass sich die Qualität von Frauenfußball zu Männerfußball deutlich unterscheide – vergleichbar wie in der Regie. Das Vorgehen der hfs_ultras ist eine Kampfansage gegen solcherart „machistische Mackerregisseure“, die bislang auch von der Logik der Hochschule herangezüchtet wurden. „Die Schule versucht, nach der Taktik divide et impera die Klassen zu spalten, um ein Genie herauszusieben, das dann ge­ fördert wird. Darauf hatten wir keinen Bock“, erklären die hfs_ultras. Das zeitintensive Studium führe zu Konkurrenzkampf und Streit. Da der Hochschule Strategien fehlten, den Druck abzufangen, kris­tallisierten sich schnell Einzelkämpfer heraus, die auch unter großem Stress lieferten. Ihre Entscheidung zur gegenseitigen ­Hilfe bewahrte die hfs_ultras vor dieser Erfahrung. Offene und vertrauensvolle Kommunikation hält das Kollektiv zusammen. In einem andauernden Prozess verhandeln und befragen sie ihre Arbeitsstrukturen. Dazu gehöre auch eine Lust, sich über das Studium hinaus mit den Kommilitoninnen auseinanderzusetzen.


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ausbildung

„Auf die Taktik divide et impera hatten wir keinen Bock“ – die hfs_ultras (v.l.n.r.: Sarah Claire Wray, Eunsoon Jung, Carolina de Araujo Cesconetto, Theresa Thomasberger, Lena Katzer und Josephine Witt). Foto Doro Zinn

Ruinen der Herrschafts­verhältnisse Bei den 21. Internationalen Schillertagen am Natio­naltheater Mannheim gab das Kollektiv im Sommer 2021 Einblick in den Mythos hfs_ultras. Der gemeinsam entwickelte Kurzfilm „Jenseits von Eden“ lud zum Stammtisch in ihre Lieblingskneipe Broschek, wo zu Sekt und Toast Hawaii die ästhetischen Fragen unserer Zeit sowie halbgare Theaterideen diskutiert wurden. Neben diesem gemeinsamen Projekt entstanden für das Festival sechs weitere Filme, in denen sich jede der Ultras unter dem Titel „Geisterspiele“ einen Schillertext vorknöpfte. Ästhetisch divers, trafen sich die ­Produktionen in ihrem Interesse für starke, der Opferrolle enthobene Frauenfiguren. Sarah Claire Wray beispielsweise, die nach einem Architekturstudium und Erfahrungen als Regieassistentin an die „Ernst Busch“ kam, betrachtete „Kabale und Liebe“ aus queerer Perspektive. „Die Gefüge zerbrechen u ­ nter unseren Gesängen. Keine Zweifel, Luise“, spricht Friederike von Ostheim, die hier nicht als Heiratskandidatin Ferdinands auftritt, sondern als Geliebte Luises, welche in dieser Erzählung e­ ndlich einmal nicht sterben muss. In den Arbeiten reißen die Regisseurinnen die Schriftsteller- und Regiegenies mit ihren Gegenerzählungen vom Sockel. Alternative Narrative, die die 2017er Regieklasse, zu der ebenfalls Carolina de Araujo Cesconetto, Eunsoon Jung, Lena ­Katzer, Theresa Thomasberger und Josephine Witt gehören, an der Hochschule „Ernst Busch“ bisher vermisst. In den Szenenstudien, berichten sie polemisierend, spielen Frauen Prostituierte oder zarte Opfer, Männer Vergewaltiger und Nazis. Wenn das alles sei, was der Kanon hergebe, müsse er gesprengt werden – und die deutschen Kulturinstitutionen am besten gleich mit. Erst auf den Ruinen der ästhetischen und strukturellen Herrschaftsverhältnisse, so die hfs_ultras, hätte eine neue Form der künstlerischen Arbeit Platz. „Wir möchten neue Klischees in den Geschichten unserer Zeit finden.“ Diese sollen untersucht wer-

den, meinen die sechs und fordern, sich endlich von den bürgerlichen Erzählungen des 19. Jahrhunderts zu lösen. Emanzipative Geschichten können nicht bei einer davonlaufenden Nora oder der vertauschten Rollenbesetzung stehen bleiben. Braucht es überhaupt noch Menschen auf der Bühne, oder wird es Zeit für transhumane Wesen? Zum Beispiel Engel, die Lena Katzer in ihrer ­Abschlussarbeit inszenieren möchte? Das Kollektiv stellt sich die radikale Frage, wie das autonome Subjekt auf und hinter der ­Bühne entthront werden kann. „Da muss sich die Hochschule auf das Niveau ihrer Studierenden begeben.“ Ein Generationenwechsel, der sensibler auf diese Impulse reagiert, kündigt sich nicht erst seit der Benennung von Anna Luise Kiss an. Infolge der MeToo-Bewegung wurde erstmals die Position einer hauptamtlichen Frauenbeauftragten geschaffen. Damit folgte die Hochschule einer Forderung der Studierendenschaft. Seit 2018 bietet Vanessa Wozny eine Anlaufstelle für Betroffene und achtet in den Gremien auf die Einhaltung des Antidiskriminierungsgesetzes. Am liebsten organisiere sie Diskursveranstaltungen wie das gemeinsam mit der Dramaturgin Anna Volkland entwickelte Symposium „In the long run: Theatermacher*innen“, erzählt sie am Telefon. So lässt sich die Expertise der Studierenden auf ein Podium heben und in diesem Fall Platz für die in der Theatergeschichte oft vergessenen Theatermacherinnen schaffen. Gemessen an der Dringlichkeit, mit der die sechs Ultras ihre ­Visionen eines anderen Miteinanders in Hochschule, Theater und Leben formulieren, wirken diese Formate zunächst wie Pflaster über den krustigen Strukturen. Ob eine eher konfrontationsarme Aufweichung des Bestehenden die nach Auffassung der hfs_ultras nötigen Veränderungen anregen kann, vermögen sie nicht zu ­sagen. Als Regiekollektiv, das sich auf die Produktion provokanter Auftritte versteht, würde es eher auf eine Besetzung als erprobtes Mittel des (hochschul-)politischen Widerstands setzen – im Sinne einer Okkupation nicht nur von Häusern, sondern auch des­ Kanons und der Diskurse. Aber wer weiß: Nicht selten braucht ein derartiger Aufstand auch einen klugen, konzentrierten Kopf, der mit überlegter Politik das Spielfeld überhaupt erst einmal ebnet. //

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Die verlorene Generation? Keinesfalls! Wie Absolventinnen und Absolventen an Theaterhochschulen der Corona-Pandemie trotzen – Ein Blick an die Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg von Elisabeth Maier

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ngewissheit begleitete den jungen Schauspieler Joscha Eißen bei seinen Vorsprechen in Neuss, München und Berlin. Von der Corona-Lage lässt sich der Student der Akademie ­für Darstellende Kunst (ADK) in Ludwigsburg aber nicht ab­ schrecken. „Wir freuen uns, dass wir spielen und unsere Kunst zeigen dürfen.“ Da zählt für ihn einfach der Moment. Dass die Suche nach einem festen Engagement in Zeiten der Pandemie nicht leicht sein wird, das ist Eißen bewusst. „Ich habe einige Intendanten und Intendantinnen von Theatern angeschrieben, die ich spannend finde“, erzählt der junge Künstler. Einige ­hätten ihr Kommen dann auch gleich zugesagt. Kontakte aktiv zu ­suchen und Netzwerke zu knüpfen, das ist für ihn jetzt wich­tiger denn je. Diese Eigeninitiative freut Benedikt Haubrich, den Leiter des Studiengangs Schauspiel an der ADK in der schwäbischen Kleinstadt: „Genau das raten wir unseren Absolventinnen und Absolventen. Über persönliche Kontakte lässt sich gerade in diesen schwierigen Zeiten vieles erreichen.“ Ein Schauspielstudium mit einem digitalen Semester ohne Präsenzunterricht zu absolvieren, war für Schauspielpädagogen eine große Herausforderung. Auch jetzt sei die Verunsicherung nicht nur bei den Absolventinnen und ­Absolventen groß: „Wir reden viel über die Situation. Das ist wichtig. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre die Einstellung des Präsenzunterrichts.“ Aber auch damit müsse man um­ gehen lernen, be­reitet er seine Studierenden auf die Unwägbarkeiten in den ­kommenden Monaten vor. Doch sieht er in der Krise eine Chance: „Wir machen die Studierenden mit digitalen Formaten vertraut. Zudem entwickeln wir uns da selbst immer weiter.“ Da sich die ADK im Ludwigs­ burger Akademiehof einen Campus mit der Filmakademie teilt, sind viele Synergien entstanden. Die Studierenden haben vonein-

ander gelernt, neue Wege gesucht, ihre Kunst auch im Lockdown einem breiten Publikum zu zeigen. Obwohl Joscha Eißen sein Schauspielstudium noch nicht ganz ­abgeschlossen hat, war er in den vergangenen Monaten ­parallel zu ­Filmaufnahmen in Berlin. Das Spielen vor der Kamera reizt ihn ebenso wie die Bühne. „Mein Eindruck ist, dass sich gerade jetzt im Filmgeschäft viel bewegt“, findet der junge Schauspieler. ­Etliche Produktionen, die lange auf Eis lagen, würden jetzt nachgeholt. Das bietet ihm und seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen die Chance, sich zu bewerben und vor der Kamera zu arbeiten. Dass er schon in der Ausbildung viel Erfahrung mit digitalen Formaten gesammelt hat, sieht Eißen rückblickend als ein großes Plus. Resignation oder Stillstand hat Schauspielleiter Benedikt Haubrich bei seinen Studierenden selbst im Lockdown nicht ­erlebt. Auch den plakativen Begriff von einer „verlorenen Generation“ will er so nicht stehen lassen. Ihm haben die positive Energie und der Mut gefallen, mit dem die Studierenden die Krise gemeistert haben. Selbst in der Phase des digitalen Arbeitens waren da Kraft und Aufbruchsstimmung zu spüren. Dass Schauspielunterricht digital nicht optimal ist, war allen bewusst. Deshalb hat die Akademie den Studierenden angeboten, die Ausbildung zu ­verlängern, um in jenen Bereichen noch zu lernen, in denen sie Defizite sehen. Bislang hat dieses Angebot an der Akademie aber niemand genutzt. Die Generation, die jetzt ihre Ausbildung abschließt, hat durch die Pandemie sogar gewonnen. Auch die Studierenden der Regie haben sich früh mit digitalen Formaten vertraut gemacht. Maximilian Pellert, der 2020 seinen Bachelor in Regie an der ADK abgeschlossen hat, realisierte an der Neuen Bühne Senftenberg „Radio Einsamkeit“ als Theaterfilm in drei Teilen. Mit der digitalen Parabel von Nicola Bremer erreichte er im Mai 2020 kurz nach dem Lockdown ein Theaterpublikum in Brandenburg und weit darüber hinaus. Die Einsamkeit der Menschen in un­ sicherer Zeit kam in dem Projekt stark zum Tragen.


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Verzögert haben sich die Regieprojekte von Anaïs Durand-­ Mauptit, die nun am 4. Dezember am Badischen Staatstheater in Karlsruhe Ingeborg Bachmanns bekanntes Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ auf die Bühne bringt. Das ist zugleich ihre Abschlussarbeit für den Bachelor in Regie. Das Arbeiten mit den Schauspielerinnen und Schauspielern unter Corona-Bedingungen fordert die junge Regisseurin heraus. Die strengen Regeln für das Theater umzusetzen sei nicht einfach. Künstlerisch hat Anaïs Durand-Mauptit in der Corona-Zeit auf die Krise reagiert: „Da wir im Studium viel mit digitalen Medien experimentiert haben, hat sich auch meine Theatersprache erweitert.“ Von diesen Erfahrungen profitiert die Französin, die in Paris am Cours Florent Schauspiel studiert hat, nun in der Theaterpraxis. Schauspielund Videokunst zu verknüpfen reizt sie. Wie sieht die junge Regisseurin die Lage auf dem Markt? Mit vier Inszenierungen sei sie gut ausgelastet, sagt die ehemalige Regieassistentin des Theaters Bonn. Dort inszeniert sie das Stück mit dem Arbeitstitel „3 … still loading“ von Maria Milisavljevic – die Premiere ist im Mai 2022 geplant. Dass die Pandemie auch neue Möglichkeiten eröffnet, hat ­Jeffrey Döring erfahren (siehe auch TdZ 09/2020). Er hat 2015 seinen Abschluss im Master-Studiengang Dramaturgie an der ADK in Ludwigsburg gemacht. Danach entschied er sich, frei als Regisseur und als Dramaturg tätig zu sein, unter anderem mit seinem Kollektiv Goldstaub. Schon immer arbeitete er gern an der Schnittstelle

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Den Unwägbarkeiten der Pandemie zum Trotz auf die Bühne – Die Schauspielabsolventinnen und -absolventen 2022 der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg. Foto Niklas Vogt

von Film und Theater. Durch die Pandemie bekam er im Rahmen des Projekts „Corona Creative“ beim Mitteldeutschen Rundfunk die Möglichkeit, den Kurzfilm „Mein Freund, der Baum“ zu produzieren. Für die Staatsoper in Stuttgart realisierte er einen Kurzfilm mit Madrigalen. Beim Podium Festival für zeitgenössische Musik in Esslingen inszenierte er im Herbst 2020 das Projekt „Zauberburg“ mit Bürgerinnen und Bürgern. Die Nähe zum Publikum und die Arbeit mit Laien auf der Bühne waren angesichts der Corona-Lage da schon nicht mehr möglich. Als immersive Konzertinszenierung mit einem starken Videokonzept hat Döring das Projekt in schwieriger Zeit dennoch möglich gemacht. Neue Wege zu gehen, die vorher nur schwer denkbar waren, darin sehen die jungen Künstlerinnen und Künstler eine Chance in der Pandemie. Und auch für den Lehrer Benedikt Haubrich zeigen die Erfahrungen im Lockdown, wie wichtig es ist, das ­Theater immer wieder neu zu denken und flexibel zu bleiben. Sich auch als Schauspieler beherzt auf die Digitalität und auf neue Formate der Vermittlung einzulassen, das hat den Lehrer wie auch seine Studierenden ­weitergebracht. //

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Stürmt die Burg der Auserwählten! Die Schauspielstudentin Nadège Kanku, die Leiterin des Studiengangs für Schauspiel und Regie am Mozarteum Salzburg, Amélie Niermeyer, und der Performer Manuel Gerst über Diversität und Inklusion in der Ausbildung von Patrick Wildermann

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adège Kanku, Amélie Niermeyer und Manuel Gerst, die Künstlerin Pınar Karabulut hat auf einer Veranstaltung in der Berliner Volksbühne vor einiger Zeit gesagt: „Für mich bedeutet Diversität, dass ich ein queeres, feministisches Ensemble habe, mit gewissen sogenannten Migrationshintergründen. Aber zur Diversität gehören auch deutsche Schauspieler. Für mich kann das auch bedeuten, es sitzt jemand im Rollstuhl, oder es hat jemand eine Sprachschwierigkeit.“ Entspricht das Ihrem Bild von Diversität?

Amélie Niermeyer: Ja, aber es gehört noch mehr dazu. Die soziale Herkunft ist extrem wichtig, aus welchen Schichten stammen die Leute? Am Mozarteum schauen wir außerdem auf Altersdiversität, wir wollen nicht nur die 18-, 19-Jährigen ausbilden, sondern ebenso Ältere. Bei uns studieren derzeit transidente und non-­ binäre Menschen. Diversität ist ein weites Feld! Nadège Kanku: Mir ist es ebenfalls wichtig, dass Studierende nicht zwingend einen akademischen Hintergrund haben müssen, „Man merkt, dass gerade ein Umschwung stattfindet“, sagt Nadège Kanku – hier (links) in „Früchte des Zorns“ 2019 am Schauspielhaus Zürich in der Regie von Christopher Rüping. Foto Zoé Aubry


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sondern alle Bereiche der Gesellschaft vertreten sind – damit das Theater nicht so eine elitäre Bubble bleibt und sich auch diejenigen eingeladen fühlen zu kommen, denen man im Alltag auf der Straße begegnet. Manuel Gerst: Divers bedeutet ja erst mal verschieden. Den Begriff könnte man auch auf die unterschiedlichen künstlerischen Bereiche anwenden – dass zum Beispiel eine Videokünstlerin als Teil des Ensembles angesehen wird, wäre unterstützenswert. Wo stehen wir, was Diversität betrifft, mit Blick auf die Ensembles im deutschsprachigen Raum? Niermeyer: Wir hatten gerade unser Vorspiel der Absolventinnen und Absolventen. Der Jahrgang ist extrem divers, ihm gehören lediglich zwei Studierende mit deutschem Hintergrund an. Ich habe ihnen allen zugeschaut, mich gefreut, dass wir sie ausgebildet haben – aber ein englischer Kollege, der dabei war, sagte nur: Ist doch völlig normal. Klar, in den Londoner Unis sind ganz andere Themen dran, dort ist auch die Gesellschaft anders in den Theatern repräsentiert. Wir hinken in vielem wirklich hinterher. Wie ist das zu erklären? Niermeyer: Das liegt auch daran, dass bei uns vor allem eine ganz bestimmte Schicht ins Theater geht. Eine Zeit lang wurde nicht zuletzt von Intendantinnen und Intendanten behauptet, dass diese Zuschauerinnen und Zuschauer nur ihresgleichen auf der Bühne sehen wollen, dass sie es beispielsweise nicht verstehen, wenn ein Ferdinand schwarz ist. Als vor sieben Jahren in meiner Inszenierung am Residenztheater der Ferdinand ein schwarzer Schauspieler war, gab es keine Fragen bei den Zuschauenden. Kanku: Ja, man merkt, dass gerade ein Umschwung stattfindet, dass viele Theater im Moment sehr stark nach Veränderung suchen – das funktioniert nicht immer reibungslos, was aber völlig okay ist, weil zu so einem Prozess auch das Ausprobieren gehört. Niermeyer: Im Fernsehen hat sich schon früher etwas getan, mehr als in den Theatern. Das merkt man allein daran, wie heute ein „Tatort“ besetzt ist, dieses deutscheste aller Formate. Wenn ich mir dagegen die Ensembles angucke – und ich schaue ja viel, wo unsere Studierenden sich bewerben könnten –, sehe ich noch einige sehr vorgestrige. Generell bekomme ich aber mehr Anrufe von Kolleginnen und Kollegen, die wissen, dass wir sehr divers ausbilden, und die gezielt nach solchen Positionen suchen. Was im Einzelfall aber auch Tokenism sein kann – man engagiert etwa den einen schwarzen Menschen, um behaupten zu können, man sei divers aufgestellt. Niermeyer: Interessant ist natürlich die Frage, welche Rollen diese Schauspielerinnen und Schauspieler dann spielen. Bei uns studieren zum Beispiel auch syrische Geflüchtete, die noch nicht sehr gut Deutsch sprechen. Wenn man bereit ist, ein wirklich diverses Ensemble zu haben, müsste es auch zulässig sein, dass jemand die Sprache noch nicht perfekt beherrscht. Will man wirklich die Bereicherung durch Menschen, die etwas anderes mitbringen in ein Ensemble – oder sind sie nur das Aushängeschild? Kanku: Als ich an Schulen vorgesprochen habe – was noch nicht so lange her ist –, wurde mir in einem Fall gesagt, dass ich doch bessere Rollen für mich aussuchen sollte. Nach sehr langem Über-

legen kamen die Dozenten dann auf eine dunkelhäutige Frau, die als Rolle überhaupt nicht zu mir gepasst hat. Man spricht oft über die Situation an Theatern, aber vielleicht müsste man ein paar Schritte zurückgehen und auch Vorsprechsituationen genauer unter die Lupe nehmen. Gerst: Der Schritt, sich an Schauspielschulen überhaupt zu bewerben, bedeutet ja schon die erste Hürde. Man müsste auch ­diesen Prozess mal reflektieren: Wie kommen zum Beispiel Menschen, die nicht so gut lesen können oder kognitive Beeint­räch­ tigungen haben, an die Informationen über Ausbildungsmöglichkeiten? Man könnte die Schwellen senken über Workshops oder offene Veranstaltungen, um Menschen für den Beruf zu interessieren. Diese elitäre Institution Schauspielschule kann man per se hinterfragen. Niermeyer: Wir haben mittlerweile Sommercamps gestartet, mit denen wir andere Schichten erreichen wollen. Aber diesen Dünkel aufzubrechen, dass Schauspiel-Unis vor allem für die Gutbürgerlichen da sind, ist gar nicht so leicht. Gerst: Man denkt eben schnell: Ich kann das gar nicht. Nach dem Abitur habe ich mich auch an Schauspielschulen beworben. Meine Vorsprechen waren total schlecht, und ich habe auch ­ schnell wieder damit aufgehört, aber was mich damals sehr

Nadège Kanku, geboren 1998 in Zürich, studiert seit 2020 Schauspiel an der Otto-FalckenbergSchule in München. Ihre Schauspielkarriere begann sie bereits 2016 mit dem Film „Flitzer“ (Regie Peter Luisi). Seitdem wirkte Kanku in verschiedenen Film- und Fernsehproduktionen mit. Am Schauspielhaus Zürich war sie in „Apropos … ,überecho‘“ und „Früchte des Zorns“ zu sehen. Für ihre Leistung in „22:47 Linie 34“ (Regie Michael Karrer) wurde Kanku 2019 bei den internationalen Kurzfilmtagen in Winterthur und dem Palm Springs International Shortfest ausgezeichnet. Foto Eva Erny Amélie Niermeyer, geboren 1965 in Bonn, ist Theater- und Opernregisseurin sowie Regieprofessorin am Mozarteum in Salzburg. Dort leitet sie den Studiengang Schauspiel und Regie am Thomas Bernhard-Institut. Zuvor war sie als Oberspielleiterin und Regisseurin in Dortmund, Frankfurt a.  M., München, Weimar, Los Angeles, Hamburg und Berlin engagiert. Von 2001 bis 2005 leitete sie als Generalintendantin das Theater Freiburg im Breisgau. Foto Amélie Niermeyer Manuel Gerst, geboren 1979 in Edenkoben, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und Bühnen- und Kostümbild in München. Er ist Gründungsmitglied der Performancegruppe Monster Truck, die seit 2005 an der Schnittstelle zwischen Theater und bildender Kunst Projekte realisiert. Ihre Stücke touren international und wurden mehrfach ausgezeichnet (u. a. mit dem Tabori Preis 2019). Daneben ist Gerst als freier Bühnen- und Kostümbildner tätig. 2019 wurde ihm der Hein-Heckroth-Förderpreis für Bühnenbild verliehen. Foto Flavio Karrer

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The Class of 2021 – Das Mozarteum in Salzburg verfolgt schon seit längerem ein breites Diversitätskonzept, hier der Abschlussjahrgang Schauspiel 2021. Foto Christian Debus

Haus um? Der Wille ist da, aber an der Umsetzbarkeit scheitert es dann doch gerne mal. Niermeyer: Es gibt ja in den Ensembles landauf, landab im Moment die große Diskussion darüber, wer welche Rollen zu spielen bekommt, sicher auch angestoßen durch Amazon …

i­rritiert hat, war, dass mir oft gesagt wurde, dass ich bei vielen ­Sachen wie Fechten oder Akrobatik auch gar nicht hätte mit­ machen können. Diese Leistungsvoraussetzungen, um auf einer Bühne stehen zu dürfen, sind für viele abschreckend. Kanku: Für mich war Schauspielschule immer ein Riesengeheimnis. Das hat sich angefühlt wie eine kleine Burg, in der die Aus­ erwählten zusammenkommen und Hogwarts-mäßig zaubern. Es müsste viel transparenter kommuniziert werden, was während des Studiums passiert, nicht nur an dem einen Tag der offenen Tür. Und, apropos Vorsprechen: Es wäre auch vorstellbar und wünschenswert, dass bei diesen Situationen eine externe Person anwesend ist, die darauf schaut, dass keine Diskriminierung passiert – damit solche Traumata nicht mehr vorkommen. Ich kenne kaum Schauspielstudierende, die nicht eine haarsträubende ­Geschichte mit Vorsprechsituationen haben. Gibt es so eine Position in Salzburg? Niermeyer: In erster Linie achten wir gegenseitig aufeinander und unsere Sprache. Wie man gendert, wo man falsche Begriffe benutzt – das wird ja auch von den Studierenden sehr genau beobachtet. Jede und jeder verpflichtet sich bei uns in einer Guideline zu einem respektvollen Umgang. Zum Glück. Wir sind da permanent im Diskurs. Zum Beispiel auch, wenn es um Geschlechtsanpassung geht: Was bedeutet das für die Rollenwahl, auf welche Trigger gilt es zu achten? Kürzlich hat mir einer der syrischen Studierenden beschrieben, dass er sich im ersten Jahr doch diskriminiert gefühlt hat, weil wir oft extra langsam mit ihm gesprochen haben, eigentlich gut gemeint. Wir fordern dieses Feedback auch ein und begreifen uns als Lernende in diesem Prozess. Gerst: Ich finde, man darf dabei auch die Frage nach Ressourcen nicht ausblenden. Natürlich ist Diversity gerade State of the Art, aber sie kostet im Zweifelsfall eben auch Geld. Man muss vielleicht zusätzliches Personal für Sprachunterricht einstellen. Oder was ist, wenn eine Person im Rollstuhl engagiert werden soll, dann aber festgestellt wird: Unsere Probebühne hat ja gar keinen Aufzug. Baut man dann für diesen einen Menschen das ganze

Sie spielen auf die Richtlinie der Amazon-Studios für Diversity an, nach der künftig nur noch Schauspielerinnen und Schauspieler engagiert werden sollen, deren Identität in Bezug auf Gender, ­ ­sexuelle Orientierung, Nationalität und Ethnizität mit den Figuren übereinstimmt, die sie spielen … Niermeyer: Was die Frage aufwirft: Wer soll was spielen, wer darf was spielen? Diese Debatte wird an den Schauspiel-Hochschulen schon lange geführt und mittlerweile auch heftig an den Theatern. Das sind Themen, mit denen wir uns jetzt jeden Tag beschäftigen. Wie ist denn Ihre Haltung zu der Frage: Wer soll was spielen dürfen? Niermeyer: Wir haben zu lange daran festgehalten, dass gutbürgerliche Weiße immer alles spielen dürfen – und dabei negiert, dass es andere gibt, die mehr Expertise haben, die mehr Ahnung von den Rollen haben, die dargestellt werden sollen. Manche finden, wir hätten jetzt zu viele Scheren im Kopf, und sind genervt von dieser politischen Korrektheit. Aber ich finde das Nachdenken darüber extrem wichtig. Problematisch wird es meiner Ansicht nach nur, wenn zum Beispiel schwule Rollen ausschließlich von schwulen Schauspielern verkörpert werden sollen. Weil damit automatisch ein Outing verbunden wäre? Niermeyer: Genau. Und das Dogmatische, das durch die AmazonDiskussion aufgekommen ist und die Fronten verhärtet hat, finde ich schade. Eigentlich geht es doch um ein lustvolles Suchen miteinander: Wer kann welche Rollen besonders authentisch verkörpern, wo ist es im Gegenteil vielleicht spannend, dass jemand ohne Erfahrung einen Draufblick wagt? Gerst: Wenn Lars Eidinger mit einem künstlichen Buckel Richard III. spielt, ertrage ich das nicht. Mir wäre es in solchen ­Fällen immer wichtig, dass eine Metaebene erzählt wird, die den Vorgang reflektiert und kommentiert. Es heißt ja, dass Diskriminierung immer nur „nach unten“ stattfinden kann. Ein weißer Mann kann schwer diskriminiert werden, weil er in der gesellschaftlichen Hierarchie so weit oben steht. Daraus könnte man ableiten, dass ein Schwarzer eine weiße Figur spielen darf – aber nicht umgekehrt. Kanku: Ich sehe das eher als eine konzeptionelle Frage. Was sollen die Figuren dem Publikum erzählen? Sind Äußerlichkeiten notwendig in diesem Konzept – oder geht es eher um die Essenz?


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Wenn es sich zum Beispiel im Text um eine Figur handelt, die innerlich total zerrissen ist und schwere Konflikte austrägt, und sie wird beschrieben als dunkelhäutige Person oder weiße Person – ist es dann notwendig, dass sie auf der Bühne genau so auftritt, wie sie verbildlicht wird im Text? Oder steht ihr Konflikt im Zentrum? Niermeyer: Wenn wir darüber reden, Rollen so zu besetzen, wie sie von der Autorin oder dem Autor gemeint sind, muss man das sehr differenziert betrachten. Es bedeutet schon einen Unterschied, ob wir über People of Color reden oder über die sexuelle Orientierung. Ich finde zum Beispiel auch, dass es nicht geht, eine Figur, die im Rollstuhl sitzt, mit einem Menschen ohne ­Behinderung zu besetzen. Warum auch? Es gibt doch Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung. Gerst: Warum soll es nicht möglich sein, eine Figur mit Behinderung mit einem nichtbehinderten Menschen zu besetzen – aber eine schwarze Rolle mit einem Weißen? Wo siehst du den Unterschied? Niermeyer: Da haben wir uns missverstanden. Wenn eine Rolle für einen Schwarzen Menschen geschrieben ist, muss sie heute auch ein schwarzer Mensch spielen. Gerst: Was ist zum Beispiel mit Lukas Bärfuss’ Stück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“? Darin ist die Hauptfigur eine junge Frau mit kognitiver Beeinträchtigung. Vielleicht könnte eine Schauspielerin mit kognitiver Beeinträchtigung den Text gar nicht auswendig lernen. Klar, man kann mit Theaterstücken alles machen, auch den Text komplett weglassen. Die Frage ist doch, wie sehr differenziert man. Wenn im Stück steht, es ist ein Mensch aus Eritrea, muss es

dann auch eine Schauspielerin oder ein Schauspieler aus Eritrea sein – oder darf auch jemand aus Nigeria besetzt werden? Wie ­dunkel muss jemand sein, wie behindert? Darf jemand mit DownSyndrom einen anders behinderten Menschen spielen? Niermeyer: Das führt natürlich an den Punkt, wo sich die Frage stellt: Was darf man überhaupt noch spielen, wenn nicht genau das Profil der Rolle erfüllt ist? Deswegen fehlt mir die Offenheit für einen lustvollen Diskurs darüber. Hier im Salzburger Theater gab es kürzlich den Fall, dass ein Schauspieler nicht die Rolle eines Pakistaners übernehmen wollte, weil er sagte: Das hat nichts mit mir zu tun. Jetzt spielt sie einer unserer syrischen Studierenden – was ja auch nicht stimmt. Da geht es doch dann darum: Was soll eine Rolle erzählen, wofür steht sie? Wer bringt etwas mit, was der Rolle guttun würde? Kanku: Das meinte ich damit, dass es um die Konzeptfrage geht. Was will man wirklich erzählen? Da ist es dann umso schöner, wenn man sich als Schauspielerin oder Schauspieler auch selbst einbringen kann. All das führt natürlich auch zu der Frage: Wie lassen sich bessere Zugänge zu den Schauspielschulen für Menschen schaffen, die andere Erfahrungen als die der Mehrheitsgesellschaft einbringen können? Brauchen wir Quoten? Gerst: Ja. In England gibt es zum Beispiel die klare Vorgabe, dass man einen bestimmten Prozentsatz an Menschen mit Behinderung – der ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht – besetzen

Premieren Februar bis April 2021 Draußen vor der Tür

Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will | von Wolfgang Borchert Regie Mirjam Loibl 17. Februar 2022

Villa Abendsonne

Ein Theaterprojekt zum Thema Altenpflege | entwickelt von Luise Voigt und dem Ensemble mit Liedern von Björn SC Deigner | Uraufführung Regie Luise Voigt 18. Februar 2022

Tschechows Kitschgarten

nach Motiven von Anton Tschechow Regie Milan Peschel 25. Februar 2022

Endspiel

Stück in einem Akt von Samuel Beckett Regie Holger Schultze 18. März 2022

Der Sprecher und die Souffleuse

von Miroslava Svolikova | Deutsche Erstaufführung Regie Britta Ender 25. März 2022

How to Date a Feminist Komödie von Samantha Ellis Regie Georg Zahn 27. März 2022 (in Planung)

Michael Kohlhaas

nach Heinrich von Kleist Regie Markus Dietz 22. April 2022

Maria Magda

von Svenja Viola Bungarten | Autor*innenpreis des Heidelberger Stückemarkts 2021 Regie Brit Bartkowiak 29. April 2022

www.theaterheidelberg.de

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muss, andernfalls gibt es keine Fördergelder. Das finde ich super. Die Frage ist dann wieder, ob das auf alle gleichermaßen anwendbar ist. Kann man genau den Eins-zu-eins-Prozentsatz an türkischstämmigen Schauspielerinnen und Schauspielern besetzen? Es gibt ja immer den Wunsch – und das, was real möglich ist. Aber als Orientierung finde ich eine Quote richtig. Auch die Quote, die sich das Theatertreffen mit fünfzig Prozent Regisseurinnen ge­ geben hat. Niermeyer: Ich bin grundsätzlich sehr für die Quote, weil sich in vielen Bereichen nur dadurch etwas ändert. Früher, als ich am Theater angefangen habe, war ich dagegen. Jetzt, nach den Erfahrungsjahren und mit Blick darauf, wie wenig sich geändert hat, würde ich sie begrüßen. Das Problem an den Schauspielschulen: Wir vergeben ja keine Jobs, sondern Ausbildungsplätze. Da ist die Frage: Wer bewirbt sich? Im vergangenen Jahr hatten wir zum Beispiel nur einen einzigen Bewerber mit Behinderung. Aber grundsätzlich helfen Quoten unserer Gesellschaft, damit endlich umgedacht und auch gesucht wird. Gerst: Aber wenn ihr eure Gelder nur dann weiter bekommen würdet, wenn ihr einen bestimmten Prozentsatz von Menschen – um bei dem Beispiel zu bleiben – mit Behinderung ausbildet, dann müsstet ihr euch eben auf die Suche machen und Bewerberinnen und Bewerber organisieren. An Orte gehen, wo ihr in ­Kooperation mit der Lebenshilfe oder einer ähnlichen Institution Workshops abhaltet, um Leute zu finden, die euch künstlerisch überzeugen.

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Niermeyer: Ich kann dir da gar nicht widersprechen. Wenn es eine solche Quote gäbe, müssten wir einen noch größeren Einsatz bringen, um Menschen zu finden. Wir tun zwar schon viel dafür, aber dann wären wir noch einmal anders gezwungen. Kanku: Ich bin auch der Überzeugung, dass man erst mal feste Strukturen einziehen muss, die man dann immer mehr auf­ brechen kann. Das führt zurück zur Frage: Wer bewirbt sich überhaupt an Schauspielschulen? Momentan gibt es da eine sehr hohe Quote an Leuten, die zum Beispiel ein Abitur haben – obwohl Schauspielschulen auf ihren Webseiten darauf hinweisen, dass man keines braucht. Schlussendlich werden in einem Jahrgang immer die meisten ein Abitur haben. Wenn Sie an einer Schauspielschule mit Quote für Studierende of Colour wären – würde Sie das zweifeln lassen, ob Sie den Platz einzig wegen Ihrer Begabung bekommen haben? Kanku: Das ist doch jetzt schon so. Diese Zweifel schwingen überall mit. Ich habe kürzlich eine Inszenierung mit einer schwarzen Spielerin in einem Ensemble gesehen, in dem sich alle sichtlich nicht miteinander wohlgefühlt haben. Danach hieß es auch, dass einfach eine dunkelhäutige Frau gesucht wurde und man das ­Ensemble entsprechend zusammengemischt hat. Das ist natürlich schwierig. Ich selbst bin mit dem Schauspielhaus Zürich aufgewachsen, vor allem mit der Schule dort viel ins Theater gegangen – ich sah nie eine dunkelhäutige Person auf der Bühne. Vor der Schauspielschule hatte ich aber noch die Freude, dort mit einem Gastvertrag zu spielen. In der Probenzeit habe ich dann zum ersten Mal gemerkt: Okay, es kommt gerade nicht darauf an, wie ich aussehe. Ich muss mir gerade nicht die Frage stellen: Bin ich Quote, oder bin ich hier, weil ich etwas Interessantes mitbringen kann? Gerst: Eine unsichtbare Quote, wie ich es mal nennen möchte, haben wir ja auch in dieser Runde. Ihr habt euch bei Theater der Zeit ja vorher überlegt, wen ihr für dieses Gespräch anfragt: eine Person of Color, ich bin körperbehindert. Aber ich habe deswegen nicht das Gefühl, eine bestimmte Rolle erfüllen zu müssen. Niermeyer: Ich selbst war ja eine der ersten jungen Intendantinnen – und habe mich damals schon gefragt, weswegen darauf unentwegt herumgeritten wird. Ob es nur darum geht, eine junge Frau nach vorne schieben zu können? Mit einer Quote ist auf jeden Fall schneller Veränderung zu bewirken – die dringend nötig ist und immer noch zu lange braucht. Kanku: Der Wandel passiert ja auch von unten. Die meisten Positionen an Stadttheatern werden immer noch mit Absolventinnen und Absolventen von Schauspielschulen besetzt, und ich höre von Kolleginnen und Kollegen, überall verteilt, dass ihnen teilweise schon an den Schulen das Rückgrat gestärkt wird, auch als Anfängerin oder Anfänger zu sagen: Nein, diese Rolle will ich so nicht spielen. Weil sie entweder mich selbst diskriminiert oder eine ­bestimmte Gruppe. Niermeyer: Viele Kolleginnen und Kollegen an den Theatern ­beschweren sich mittlerweile, dass sie ja dieses oder jenes auf der Probe nicht mehr dürften, dass wir uns beschneiden würden. Das stimmt auch, es herrscht eine große Vorsicht, die nicht immer ­förderlich ist für den Probenprozess. Aber solche Anstrengungen nehme ich gern in Kauf, wir brauchen diese Phase, damit wir ein besseres Bewusstsein dafür entwickeln: Wo verletzen wir andere? //


kolumne

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Ralph Hammerthaler

Worüber ich nicht geschrieben habe Der Raum einer Kolumne ist unendlich

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ex Göttin Zensur“ hieß meine erste Kolumne in dieser Zeitschrift. Damals ging es um Alexeij und sein Projekt „Reine Pornografie“, noch dazu um einen verstimmten Oberbürgermeister in München, die aufgeschreckte Lokalpolitik und eine Drohung am Telefon durch eine CSU-Stadträtin: HörenS, wollenS nicht lieber verzichten auf Ihr Theater mit der Pornografie? Weil sonst schaut es nicht gut aus mit dem Geld von der Stadt, da wir mit Steuergeldern, verstehenS, keine Pornografie fördern können. Indem sie Alexeij das Geld wegnahmen, versuchten sie, ihn zu zensieren. Aber er spielte trotzdem sein Theater, angeblich mit einem Staatsanwalt auf der Premiere, im Anzug und mit Aktenkoffer, ganz so, wie er im Buche steht. Erschienen ist die Kolumne im September 2007. Für eine Kolumne bin ich überallhin. Oder umgekehrt, ich bin überallhin und sah nicht selten eine Kolumne heraufdämmern. Irgendwann rief P. bei mir an; in Berlin traf ich ihn wieder. Seine Mitbewohnerin erzählte, P. sei erst seit Kurzem aus dem Krankenhaus zurück, er habe einen Versuch gemacht, doch zum Glück mit den falschen Tabletten. Für die Süddeutsche hatte ich einst über sein Leben berichtet, Hunger und Elend in der Jugend, dann die Liebe zu einer reichen, älteren Frau, dann die millionenschwere Erbschaft. Das Geld investierte er in eine Diskothek in Dänemark, aber er fiel den Betrügereien des Geschäftsführers zum Opfer. „Pleite eines Millionärs“, titelte die Zeitung. Bei der Heilsarmee noch hing die Diskokugel, ein Relikt aus goldenen Zeiten, an der Decke seines Zimmers; in der jetzigen Wohnung steckte sie verpackt in einem Karton. Zum Abschied stellte ich ihm die Kinderfrage: Was würden Sie heute anfangen mit einer Million? P. sagte: Sparen. Ich habe über alles Mögliche geschrieben und über alles Mögliche auch nicht. Und ich habe, wenn ich mir das Mögliche vornahm, dieses Mögliche nie ausgeschöpft. Worüber ich nicht geschrieben habe, ist das Krankenhaus in Prishtina (obwohl es immer wieder um Kosovo ging). Wie ich mit Jeton, dem erfolgreichen albanischen Stückeschreiber, der dort auch mein Verleger ist, über den Korridor schlurfte, ihn stützend, weil er bei jedem Schritt vor Schmerz das Gesicht verzog. Gleichzeitig spürten wir die Kraft unserer Freundschaft. Und wie ich unten im Foyer Saša entdeckte, den serbischen Schriftsteller, der ebenfalls da war, um nach Jeton zu sehen. Damals musste das Festival ohne Jeton auskommen. Am letzten Abend tranken und

tanzten wir, um dann, ehe es hell wurde, eine offene Kneipe zu suchen. Wir, das waren die Übriggebliebenen, der Rest von dem Ganzen. Ich weiß nicht mehr, wem es zuerst auffiel, aber plötzlich redeten alle davon, auch wir Deutschen, Elke vom Spiegel und ich: An diesem Tisch versammelt saß das alte Jugoslawien. Es war, als hätte jede Teilrepublik, die beiden Provinzen eingeschlossen, jeweils eine Repräsentantin oder einen Repräsentanten geschickt. Hätten wir das Treffen bewusst herbeigeführt, wäre es nichts als Kitsch gewesen. So aber hatte es etwas Magisches. Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, trug Nikola ein Gedicht vor. Worüber ich nicht geschrieben habe, ist die Wiederbegegnung mit Olga in Shanghai (obwohl es eine Shanghai-Kolumne gab). Eigentlich lebt Olga in Moskau und ist Theaterjournalistin. Spätabends kamen wir, angereist aus aller Frauen und Herren Länder, im französischen Viertel zusammen, und da rief sie mir über den Tisch zu: Du hast dich verändert, du wirkst viel selbstbewusster als damals in Omsk, auch männlicher. Irgendwie siehst du jetzt aus wie Putin. Das gefällt mir. Worüber ich nicht geschrieben habe, ist, dass ich Sepp, lange Jahre mein Co-Kolumnist, auf dem Theatertreffen über den Weg lief und er auf den Verlagscontainer vorm Haus der Berliner Festspiele deutete. Hast gsehn? Da steht unser Arbeitgeber. Und wie er dann ­trocken lachte. Und wie ich mitlachte. Worüber ich nicht geschrieben habe, ist, dass der mexikanische Regisseur David einen Hund hatte, der sich Tag und Nacht aufführte wie im Theater (obwohl es eine Kolumne über Mexico City gab). Der Hund hieß Fleck, und David redete nur deutsch mit ihm. Rasse Beagle, ließ sich Fleck von keiner Ermahnung beeindrucken. Gegen sein aufgeregtes Hin und Her konnten wir nichts ausrichten. Aber ­Mozart. Erklang Mozart-Musik, legte er sich ins Körbchen. Worüber ich nicht geschrieben habe, so kommt es mir vor, ist zu vieles, als dass ich es je nachholen könnte. Der Raum einer Kolumne ist unendlich. Warum hat mich P., kurz nachdem sein Versuch, sich das Leben zu nehmen, gescheitert war, angerufen? Nach so vielen Jahren? Für ihn war ich nicht mehr als eine Sechzig-Minuten-Bekanntschaft. Hoffentlich hat er seine Diskokugel wieder aufgehängt. Das waren sie, gut vierzehn Jahre, siebenundfünfzig ­Kolumnen. Es ist vorbei. So wie die Dinge jetzt stehen, will ich nicht mehr dabei sein. Nicht einmal das schöne Lied „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ hilft weiter. Die Wurst ist gegessen. //

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Jetzt samma da! Nach zehn Jahren Planung und drei Jahren Bauzeit bezieht das Münchner Volkstheater unter großem Jubel sein neues Haus von Christoph Leibold


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woaß gar ned, wo i ofanga soi!“, erklärt Christian Stückl in gewohnt tiefem Bairisch („Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“), und für einen Moment scheint es so, als fehlten ihm – überwältigt von der Feierlichkeit des Augenblicks – tatsächlich die Worte. Rasch findet der Intendant des Münchner Volkstheaters dann aber doch zu alter Redseligkeit zurück, befeuert durch den Überschwang der Gefühle des Neubeginns. „Jetzt samma da!“, konstatiert er glücklich, also: „Jetzt sind wir da!“, angekommen nach rund zehnjähriger Reise. Es ist Mitte September, noch fünf Wochen bis zur Eröffnung des neuen Münchner Volkstheaters. Stückl stellt die Pläne für die erste Saison am künftigen Standort vor. Und er präsentiert natürlich vor allem den Neubau selbst, den es ohne ihn nie gegeben hätte, wie Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter bei der Spielplan-Pressekonferenz betont: „Er war der Motor, das muss man ganz klar sagen“, lobt der OB und wirkt dabei überaus dankbar für die Beharrlichkeit, mit der Stückl das Projekt vorangetrieben hat. Reiter strahlt vor Besitzerstolz angesichts des stattlichen Neubaus mit rund 10 000 Quadratmetern Grundfläche, in dem 3000 Tonnen Stahl verbaut und 5000 Meter Starkstromkabel verlegt wurden. Von außen mutet das von Architekt Arno Lederer konzipierte Gebäude mit seinem fast 30 Meter hohen weißen Bühnenturm und seinen klinkerverkleideten Grundmauern an wie ein Ozeandampfer, in dessen Bauch Probenräume, Werkstätten und Lager Platz finden, alles unter einem Dach; und natürlich die Bühnen des Volkstheaters, drei an der Zahl; sowie – ganz wichtig für den Oberammergauer Gastwirtssohn Christian Stückl – ein Restaurant samt Biergarten, auf den man geradewegs zuläuft, wenn man durch den weit gespannten Eingangsbogen den Theatervorplatz betritt, einen Innenhof, der links von einem sanierten Altbau begrenzt wird, in dem Dramaturgie und Verwaltung untergebracht sind. Rechter Hand führen Glastüren durch einen elegant geschwungenen Vorbau ins eigentliche Theater. Das lang gestreckte, in Blau-, Grün- und Gelbtönen gehal­ tene Foyer mit in die Decke eingelassenen, kreisrunden Lichtern beherbergt Garderobe, Getränketheke und Theaterkasse. Von dort geht es in den zentralen Theatersaal, der mit seinen stark ansteigenden Sitzreihen 600 Personen fasst. Optimale Sicht, auch aus den hinteren Reihen, zu denen der Zugang durchs obere Foyer erfolgt, in das sich eine geschwungene Treppe emporschraubt. Dazu gibt es noch die mittlere und die kleine Bühne mit 200 respektive 100 Plätzen. Zur Eröffnung Mitte Oktober bespielte Christian Stückl aber natürlich erst mal den großen Saal – mit „Edward II.“. Shakes­peare-Zeitgenosse Christopher Marlowe verhandelt darin den Fall eines schwulen Königs, der seinen Geliebten an den Hof holt und pampert, darüber die Regierungsgeschäfte vernach­lässigt

Wie ein Ozeandampfer, in dessen Bauch Probenräume, Werkstätten und drei Bühnen Platz finden – Das von Architekt Arno Lederer konzipierte neue Münchner Volkstheater. Fotos Florian Holzherr / Roland Halbe (Mitte) / Baureferat (unten)

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und so Klerus und Adel gegen sich aufbringt. Es gibt, grob gesagt, zwei Lesarten des Stücks: Da wäre einerseits die Tragödie eines Einzelnen, der sich selbst verwirklichen will, dabei aber an den Konventionen seiner Zeit zerbricht; andererseits aber auch die Warnung vor dem Untergang eines Gemeinwesens durch diesen Alleingang, der die Ordnung der gesamten Welt ins Wanken bringt. Im elisabethanischen Denken spiegelte die gesellschaft­ liche Hierarchie die Harmonie der Schöpfung wider. Nur wenn alle an ihren Plätzen bleiben, bleibt auch die Welt im Gleich­ gewicht. Edward als Monarch ist der zentrale Fixstern dieses Universums und kann folglich nicht einfach einen „Tiefgeborenen“ (wie der Hofstaat Edwards Günstling Gaveston nennt) mit Titeln überhäufen, ohne die Stabilität der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. Das Aufregende bei Marlowe ist seine offenkundige Zwie­ gespaltenheit. Nach allem, was man über diesen Autor weiß, war er selbst homosexuell. Sein Stück lässt denn auch große Sympathien für den Titelhelden erkennen. Zugleich aber war Marlowe ein Kind seiner Zeit. Das individuelle Glücksstreben auf Kosten des Gemeinwohls lässt er Edward bei allem Verständnis für dessen Neigung nicht durchgehen. Dieser König muss untergehen, um die aus den Fugen geratene Welt wieder einzurenken.

Ein bigottes Pack von Peers Bei Stückl ist das alles weniger schillernd, dafür durchaus schrill. Ein schwarzes Metallgerippe, das immer wieder neonpink aufleuchtet (Ausstattung Stefan Hageneier), beherrscht die Bühne und lässt an einen edlen Käfig denken, in dem Edward gefangen ist. Adel und Klerus um ihn herum tragen eine Kombi aus SlimfitMode und Halskrausen-Garderobe, ebenfalls in kräftigem Pink. So wirken sie trotz der schmallippigen Stocksteifheit, die sie in Körperhaltung und Mienenspiel ausstrahlen, selbst latent queer. Ein bigottes Pack von Peers, das Stückl anfangs um einen leeren Thron gruppiert. Dann lässt die Drehbühne den Herrschersitz im Halbdunkel verschwinden und rotiert eine von Schaum überquellende Badewanne in den Vordergrund, darin der König – Jan ­Meeno Jürgens in der Titelrolle als lockenköpfiger Lookalike des bayerischen Märchenmonarchen Ludwig II – platschend mit seinem Toyboy, Alexandros Koutsoulis’ Gaveston als optischer AndyWarhol-Wiedergänger mit entsprechend blonder Mähne. Jürgens ist ein melancholischer Herzkönig, Koutsoulis ein vibrierendes Energiebündel. Stückl schlägt sich eindeutig auf die Seite dieses Nonkonformisten-Duos. Von Marlowes Ambivalenz bleibt da nicht viel. Das ist ein bisschen schade, andererseits aber absolut logisch aus heutiger liberaler Sicht. Eine Gesellschaftsordnung, die auf starren Hierarchien und Diskriminierung Homosexueller gründet, stellt selbstredend kein zu verteidigendes Ideal mehr dar. Stückls Schaumpartyhengste erlebt man jedenfalls zu keinem Moment als dekadent. Wiewohl der Regisseur um die Assozia­ tionen weiß, die einem bei Badewannen in den Sinn kommen können. Bei einer Baustellenbegehung des Volkstheaterneubaus im Herbst 2020 witzelte Stückl, er fühle sich „ein bisschen wie Tebartzvan Elst“. Dessen Badewanne im Designer-Schick als Herzstück seiner sündhaft überteuerten Limburger Luxusresidenz hatte ihm den zweifelhaften Titel „Protzbischof“ eingebracht.

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Stückl kann sich den selbstironischen Vergleich leisten, weil er weiß, dass er mit seinem neuen Domizil in Wahrheit ganz anders dasteht. Gut 131 Millionen Euro hat es gekostet – keinen Deut mehr als ursprünglich veranschlagt. Auch die Bauzeit von drei Jahren wurde eingehalten. Trotz Lieferengpässen von Materialien in der Pandemie. Etwas Glück spielte dabei wohl auch eine Rolle. Der Neubau wurde begonnen, bevor die Corona-Krise zuschlug. Die Idee für einen Theaterneubau war bereits vor gut zehn Jahren aufgekommen. Seit seiner Gründung 1983 war das Volkstheater in einer umgebauten Turnhalle untergebracht, die die Stadt nur angemietet hatte. Eine Art Behelfstheater ohne Schnürboden, Unter- oder Drehbühne. Und vor allem: zunehmend marode. 2010 wurde ein Sanierungsbedarf von cirka 50 Millionen Euro ermittelt. Ob die Stadt wirklich so viel Geld in eine Fremdimmobilie stecken will, fragte sich Stückl und warb damit im Stadtrat für die Alternative Neubau. Mit Erfolg, wie man heute weiß. Um einschätzen zu können, wie ungeheuer dieser Erfolg ist, muss man wissen, dass das Münchner Volkstheater kurz vor der Schließung stand, als Stückl es 2002 übernahm. Seine Vorvorgängerin Ruth Drexel hatte das Haus solide geführt, aber ihr Nachfolger Hanns Christian Müller binnen kürzester Zeit künstlerisch gründlich heruntergewirtschaftet. Noch ein Intendanten-Flop hätte das Aus besiegelt. Doch Stückl schaffte mit jungem Ensemble und Nachwuchsregiekräften die Trendwende. Das Münchner Volkstheater ist längst nicht mehr wegzudenken aus der Stadt, ein ­adäquates Domizil statt des bisherigen Dauerprovisoriums nun die logische Konsequenz.

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Bonn Parks Singspiel „Gymnasium“ über eine Schule am Fuße eines Vulkans, dessen Aschewolke den Himmel vernebelt – und offenkundig auch die Hirne der Menschen. Foto Arno Declair

Architektonisch fügt sich der Theaterneubau ins Schlachthofviertel durch das Sichtziegelmauerwerk der Außenwände ein, das auch in der Umgebungsbebauung vorherrscht. Eine künstlerische Antwort auf die Nachbarschaft bot indes die zweite ­Premiere am Eröffnungswochenende: Jessica Glauses Stück­ entwicklung „Unser Fleisch, unser Blut“, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Fleischkonsum. Die Regisseurin und Autorin hat dafür mit Bäuerinnen, Metzgern, Köchen und Tierärztinnen gesprochen und deren Statements verdichtet und für ein fünfköpfiges Ensemble aufbereitet, das sich immer wieder Tiermasken überzieht, um mal als Kuh, Ziege oder ­ Hund über Tierhaltung, Schlachtung und Fleischpreise zu räsonieren, und natürlich auch aus multiplen menschlichen Per­ spektiven. Auf Basis sorgfältiger Recherche arbeitet sich Glause an den komplexen moralischen Fragen ab, die sich stellen, wenn Menschen Tiere zum Verzehr töten. Das Urteil überlässt sie jedoch dem Publikum. Leider findet sie keine zwingende künstlerische Form für das dokumentarische Material. Glause lässt ihre Darsteller mit überdimensionierten Weißwürsten ­wedeln und ein bisschen Kochstudio spielen. Über die brave ­Bebilderung geht das nicht hinaus. Ein redlicher, kein begeisternder Abend.


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Doch zum Glück folgte ja noch eine dritte Premiere zum Auftakt: „Gymnasium“, klassifiziert von Bonn Park (Text und Regie) und Ben Roessler (Musik) als Highschool-Oper. Ein Singspiel mit herrlich bizarrem Humor über eine Schule am Fuße eines Vulkans, dessen Aschewolke den Himmel vernebelt – und offenkundig auch die Hirne der Menschen (siehe auch Stückabdruck ab Seite 57). Zentraler Ort der Meinungsbildung ist die Schultoilette, deren Wände mit Parolen beschmiert sind, die die Wirkung von SocialMedia-Posts entfalten: Wenn die Mehrheit der Schulgemeinschaft „liked“, was da steht, werden entsprechende Tatsachen geschaffen. Das Klo als Epizentrum so manchen Shitstorms, der unweigerlich Opfer fordert, darunter eine Vulkanforscherin, deren wissenschaftliche Erkenntnisse im Klima gefühlter Wahrheit per se suspekt sind, weshalb sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Das Stück spielt sinnigerweise zugleich 1995 und im Spätmittelalter. Passend dazu hat Bonn Park den Schulkids, die er nach Stereotypen sortiert (die Nerds, die gemeinen Mädchen, die Athleten) abenteuerliche Namen wie Ashleygunde oder Josh­ philius gegeben, in denen beide Zeitebenen verschmelzen. Die quietschbunten Kostüme von Leonie Falke, ein Mix aus Schul­ uniformen und Teenie-Mode samt Mittelalteranleihen, und die schmissige Musik von Ben Roessler dürften diese so listige wie lustige Parabel auf unser postfaktisches Zeitalter im Stil einer Highschoolkomödien-Parodie zum ersten Volkstheater-Hit an neuer Stätte machen. Bei „Gymnasium“ fand auch gleich mal der Orchester­ graben Verwendung, der sich im Neubau öffnen lässt, und in ­„Edward II.“ kreiste unermüdlich die Drehbühne. So wurde das erste Wochenende zur Demonstration, was das neue Haus alles kann. Einziger Wermutstropfen: Die Akustik im großen Saal ist nicht optimal. Das Publikum der hinteren Reihen berichtete von Verständnisproblemen. Womöglich muss da noch nachgebessert werden, mit Akustiksegeln oder dergleichen. Das aber konnte die Stimmung vorerst so wenig trüben wie die ungewissen finanziellen Aussichten. Das Volkstheater ist gewachsen – räumlich und personell. Der Finanzbedarf ist daher fast doppelt so hoch wie bisher, wurde von der Stadt aber nur auf etwa das Anderthalbfache angehoben. In der ersten Spielzeit, versichert Intendant Stückl, käme man dennoch gut über die Runden. Denn im Lockdown, als der Betrieb brachlag, wurde Geld gespart, mit dem sich nun Löcher stopfen lassen. Wie es dagegen in der nächsten Spielzeit weitergeht, ist noch offen. Man mag hoffen, dass das neue Theater dann nicht zur teils leerstehenden schönen Hülle verkommt, weil die Mittel fehlen, es voll zu bespielen. Zur Eröffnung aber war erst mal „Full House“ und ausgelassene Freude angesagt. Alle Plätze voll besetzt, dank „3 G plus“Regelung sogar ohne Maskenpflicht, Premierenfeier mit DJ und Konzert – ganz so wie in präpandemischen Zeiten. Schier unglaublich. Zu später Stunde rückte dann noch die Polizei an, allerdings nicht, um Verstöße gegen Corona-Auflagen zu unterbinden, sondern wegen Beschwerden von Anwohnern über den Premierenpartylärm, der auch ihnen unüberhörbar deutlich machte, was Christian Stückl verkündet hatte: „Jetzt samma da!“ // „Gymnasium“ von Bonn Park finden Sie als Stückabdruck auf Seite 57 ff.

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Sechzig Tonnen Stahl Das Kasseler Staatstheater ist vielversprechend in die erste Spielzeit unter seinem neuen Intendanten Florian Lutz gestartet – mit einer spektakulären Raumbühne und ambitionierten Uraufführungen von Joachim F. Tornau


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Wow! – Das ist der erste Gedanke beim Erklimmen des „Pandae­ moniums“, in das Neu-Intendant Florian Lutz und Bühnenbildner Sebastian Hannak das Opernhaus zum Auftakt der ersten Spielzeit verwandelt haben. Foto Nils Klinger

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s ließe sich jetzt räsonieren über Reizüberflutungen, über Spektakel, über die Revolution des Theaterraums. Man kann aber auch erst einmal nur festhalten: Wow. Wow ist der erste Gedanke beim Erklimmen des „Pandaemoniums“, das Neu-Intendant Florian Lutz zum Auftakt seiner ersten Spielzeit am Kasseler Staatstheater ins Opernhaus hat bauen lassen. Ein Gerüst aus sechzig Tonnen Stahl, errichtet auf der Bühne und um die Bühne herum, das das Publikum drei Etagen hoch ganz nah ans Geschehen holt. Oder auch mitten hinein. Umrahmt von Bildschirmen und Leinwänden, auf denen live übertragen wird, was gerade in einem der vielen ­toten Winkel dieses, hui!, „Musiktheaterparlaments“ passiert. Das erinnert nicht ohne Grund an die viel beachtete Raumbühne, mit der Lutz vor fünf Jahren in seine kurze und konflikthaft beendete Intendanz an der Oper Halle startete. Das

­ asseler „Pandaemonium“ wurde wie die Hallenser „HeterotoK pia“ von dem preisgekrönten Bühnenbildner Sebastian Hannak geschaffen, den Lutz an neuer Wirkungsstätte nun sogar zum Hausszenografen ernannt hat. Was Hannak zu seinem Einstand am Staatstheater entworfen hat, fällt zwar etwas weniger radikal aus als in Halle, weil er auf ein Überbauen auch noch des Parketts diesmal verzichtet hat. Doch für den munteren Bruch mit Konventionen und Sehgewohnheiten reicht es allemal. Und zum Ansatz von Florian Lutz, das Publikum nicht einfach bloß zuschauen zu lassen, sondern es zum Teil der Inszenierung zu machen, steht eine solche Raumbühne in geradezu symbiotischem Verhältnis. Hostessen (m/w/d) in himmelblauen Uniformen empfangen die Zuschauerinnen und Zuschauer schon im Foyer, als die Spielzeit mit Alban Bergs atonaler Oper „Wozzeck“, vom Intendanten selbst inszeniert, eröffnet wird. „Herzlich willkommen in unserem Demokratie-Testzentrum“, säuseln sie und laden die Gäste zu einer Online-Abstimmung über die drängendsten politischen Themen ein. Und ob man eigentlich schon Biofuel kenne, „den revitalisierenden Powerdrink mit allen Nährstoffen des täglichen Bedarfs“? Lutz macht Wozzeck, den Getriebenen und Ausgebeuteten, den seine Dienstherren demütigen und den seine Frau betrügt, höchst gegenwärtig zum prekär beschäftigten Auslieferungs­ fahrer von Biofuel – einer dubiosen Getränkefirma, deren Chef als populistischer Politiker an einer dystopischen Zukunft der Totalüberwachung schraubt, unter dem Deckmantel von guter Gesundheit und Ernährung. Da werden die Akte der Oper zu „Real Life Challenges“, mit den Bühnenfiguren als Testpersonen des Unternehmens, und dazwischen stimmt das Publikum über ­Gesetzesvorhaben des Politikerunternehmers ab. Das mag nicht gerade übertrieben subtil sein. Aber so frech ist es, so gewitzt, so unterhaltsam auch, dass man irgendwo zwischen Faszination und ungläubigem Staunen stecken bleibt und nurmehr zu denken vermag: Wow.

Das Experiment kehrt zurück Nicht weniger als 17 Jahre lang wurde das Staatstheater in der ­Documenta-Stadt von Thomas Bockelmann geleitet. Er konsolidierte das Dreispartenhaus, gewann Publikum zurück, das unter seinem streitbaren Vorgänger Christoph Nix verloren gegangen war, und schaffte das Kunststück, sowohl die Stadtgesellschaft als auch die staatlichen und kommunalen Theaterträger dauerhaft für sich einzunehmen. Verlässlich lieferte er ab, zugleich solide und auf künstlerisch beachtlichem Niveau. Echte Überraschungen aber wurden irgendwann rar. Unter seinem Nachfolger Florian Lutz scheint jetzt der Mut zum Experiment nach Nordhessen zurückzukehren. Der 42-Jährige hat ein junges, ambitioniertes Leitungsteam um sich geschart, dem er, wie es heißt, weitgehend freie Hand lässt. Es wird, so viel darf man nach den ersten Wochen

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begründet annehmen, das Kasseler Publikum fordern, mit neuen Ideen, neuen Wegen, einer neuen Ästhetik. Für das Schauspiel verantwortlich ist Patricia Nickel-Dönicke, die, selber Jahrgang wie der Intendant, noch zu den Älteren im Team gehört. „Ich habe keine Angst vor alten weißen Männern“, sagt die Schauspieldirektorin und meint damit erst einmal: Autoren. Für die Saisoneröffnung im Schauspiel aber wählte sie bewusst das Werk einer Frau, inszeniert von einer Frau. Einer jungen Frau: Mina Salehpour, geboren 1985 in Teheran, zeigt eine auf gut anderthalb Stunden verdichtete Interpretation des neunzig Jahre alten Romans „Die gute Erde“ der amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Pearl S. Buck. Streng choreografiert, nur gelegentlich etwas überästhetisiert erzählt Salehpour die Geschichte des Reisbauern Wang Lung, der seinen Landbesitz über alles stellt, der ohne Rücksicht gegen sich und seine Familie zum Großgrundbesitzer aufsteigt und der doch nicht verhindern kann, dass sein Lebenswerk mit ihm verschwinden wird. Starke, poetische Bilder findet sie für dieses ganz um die eigene Scholle kreisende Leben und Denken, für ein Dasein, das sich ganz der Natur ausliefert, mit ihren Dürren und Überschwemmungen. Taue auf der leeren und dunklen Bühne werden aufgerollt zu Brunnen, ausgelegt zu den Furchen eines Ackers und wild ­wogend zu den Fluten des über die Ufer tretenden Flusses (Bühne Andrea Wagner). Die Schauspielerinnen und Schauspieler sind verbunden in einer Art Tanz mit den Elementen, uniform gekleidet, austauschbar. In dieser Welt zählt allein die Arbeit, nicht das Menschsein. Und Frauen wird nur dann ihr Recht zu leben gelassen, wenn sie als Arbeits- oder Sexsklavin taugen. Patricia Nickel-Dönicke ist vom Theater in Oberhausen nach Kassel gekommen, und sie hat von dort nicht nur einige ­Ensemblemitglieder mitgebracht, sondern auch eine Produktion,

Geschichte und Erinnerung sind nie in Stein gemeißelt. Sondern immer umkämpft – „Der Funke Leben“ von Erich Maria Remarque in der Regie von Lars-Ole Walburg. Foto Isabel Machado Rios

die wegen der Corona-Pandemie nicht mehr wie geplant zur ­Uraufführung kommen konnte. Auch sie ist düster, auch sie ist sperrig, auch sie ist kein Selbstläufer, mit dem man sich bei einem neuen Publikum leicht lieb Kind macht: Lars-Ole Walburg, der sich schon in seiner Zeit als Intendant am Schauspiel Hannover intensiv mit dem Werk von Erich Maria Remarque auseinander­ gesetzt hat, hat eine Bühnenfassung von Remarques KZ-Roman „Der Funke Leben“ entwickelt. Um ein fiktives nationalsozialistisches Konzentrationslager in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs geht es darin. Um Gefangene, die, weil nicht mehr arbeitsfähig, eigentlich dem Tod geweiht sind. Um sadistische SS-Leute. Und um das Herannahen der Alliierten, das die Verhältnisse umzukehren beginnt: Was beim Wachpersonal Unruhe auslöst, weckt bei den Lagerinsassen den Mut zum Widerstand und lässt sie an etwas denken, was ­jahrelang undenkbar war: an ein Leben nach dem KZ. Sie rennen, sie stürzen. Sie drängen sich zusammen, ängstlich und wachsam. Sie tänzeln, kraftlos und irre, tasten sich vorwärts, rutschen aus, endlos. Während der tiefe morastige Boden ihre Kleidung und ihre Gesichter immer schmutziger färbt, fast bis zur Ununterscheidbarkeit. Walburgs Inszenierung stellt die Gefangenen, ihren Todeskampf und wiedererwachenden Überlebens­ willen in den Vordergrund. Doch statt sich in einem vergeblichen Versuch des Nachspielens zu verrennen, bleibt er beim Originalton des Romans und lässt dazu eindringliche Bilder entstehen – für die Entmenschlichung und Entindividualisierung im Lager, aber auch für die Solidarität unter den Insassen. Darüber schwebt eine


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schwankende Spiegelfläche, die das Geschehen unsicher reflektiert (Bühne Andreas Strasser). Geschichte und Erinnerung, mahnt uns das, sind nie in Stein gemeißelt. Sondern immer umkämpft. Beide Romanbearbeitungen sind disziplinierte Ensembleleistungen, eher Lehrstück als individuelle Charakterzeichnung. Den beteiligten Schauspielerinnen und Schauspielern, fünf sind es jeweils, gibt das wenig Möglichkeit zu glänzen. Wie groß das schauspielerische Potenzial ist, das in dem teils übernommenen, überwiegend aber neu besetzten Ensemble steckt, deutet eine dritte Uraufführung an. Auf der kleinen Bühne im Fridericianum nimmt sich Bert Zander der beiden wohl größten alten weißen Männer des deutschen Theaters an: des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe und seines „Faust“. Den Titel strich der Regisseur dabei jedoch gleich wieder durch und ersetzte ihn durch „Gretchen“. „FAUST Gretchen“ also. Die „theatrale Videoinstallation“, wie Zander sein Projekt genannt hat, erzählt den klassischsten aller deutschen Klassiker neu, aus der Perspektive von Margarethe, dem minderjährigen Mädchen, das, von Faust bedrängt, verführt und geschwängert, zur Kindsmörderin wird. Die Verletzlichkeit und Stärke, die Power und Präsenz, mit der Emilia Reichenbach diese Margarethe spielt, sehr laut und sehr leise, zugleich Kind und selbstbewusste Frau, gerade noch singend mit zerbrechlicher Stimme, dann schon wieder tanzend mit erhobenem Haupt: Das ist schlicht bravourös. Ganz allein steht sie auf der Bühne, mitten im Publikum, und spielt an gegen erdrückend große Videoleinwände in allen

vier Himmelsrichtungen. Mehr als fünfzig Kasseler Bürgerinnen und Bürger haben – erster sichtbarer Ausdruck der vom neuen Leitungsteam proklamierten Öffnung des Theaters zur Stadtgesellschaft – vor der Kamera an der Produktion mitgewirkt, haben, als wäre man im Dokumentarfilm, die Geschichte von Faust und Gretchen in Bruchstücken zusammengetragen. Reichenbach sieht sich aber auch selbst, wie sie in gezeichneten Papierkostümen spöttisch die Lippen bewegt zum Ton der legendären „Faust“-Inszenierung mit Will Quadflieg und Gustaf Gründgens. Noch zwei so alte weiße Männer, denen ein wenig Ironisierung guttut. Goethes „Faust“ als Beitrag zur „MeToo“-Debatte, das muss man sich erst einmal trauen. Das neue Kasseler Staats­ theater aber kennt da keine Scheu. Haltungen sind dafür da, gezeigt zu werden. Und Botschaften dürfen gerne unmiss­ verständlich ausfallen. Das ist erfrischend, durchaus. Nur manchmal wird es allzu pädagogisch. Damit man versteht, was es anrichtet, wenn der Mensch die Natur ausbeutet, kommt in „Die gute Erde“ ziemlich unvermittelt der amerikanische Naturschutzpionier Aldo Leopold zu Wort. Und am Ende von „Der Funke Leben“ ist auf bühnenhoch projizierten Texttafeln vom rechten Kampfbegriff des „Schuldkults“ zu lesen, und es wird erklärt: „Mit der Verdrängung der NS-Zeit werden nationalis­ tische politische Ziele angestrebt.“ Das ist zwar unbestreitbar richtig. Aber, vorsichtig formuliert, auch ein wenig über­ deutlich. //

NATIONALES PERFORMANCE NETZ A N T R A G S F R I S T E N

GASTSPIELE THEATER

KOPRODUKTIONEN & GASTSPIELE TANZ N AT I O N A L & I N T E R N AT I O N A L

15/01/2022

31/01/2022

31/03/2022

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Informationen zur Antragstellung www.jointadventures.net Das NPN wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie den Kultur- und Kunstministerien folgender Bundesländer unterstützt: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

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Wo’s brummt und brodelt

Endlich! Das FFT Düsseldorf bezieht nach etlichen Bauverzögerungen mit dem KAP 1 ein neues Quartier für die freien performativen Künste von Martin Krumbholz

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eplant war alles ein wenig anders. Als vor geraumer Zeit feststand, dass die alten Spielstätten des Forums Freies Theater (FFT) wegen Immobilienverkaufs aufgegeben werden müssten, als dann die Stadt Düsseldorf die ehemalige Hauptpost in Bahnhofsnähe anmietete und nicht nur der Zentralbibliothek, sondern auch dem FFT zur Verfügung stellte, anvisierter Einzug zur Jahres­ wende 2020/21 – da traf es sich, dass just im Jahr 2021 sich die Pariser Commune zum 150. Mal jährte. War das nicht ein schöner Anlass, nach Gemeinsamkeiten zu suchen zwischen einem utopischen revolutionären Projekt und den ebenfalls auf die Zukunft gerichteten ideellen Anstrengungen einer freien Theaterbühne? „Place Internationale: Die 73 Tage der Commune oder Der lange

Wellenschlag der Revolution“ wurde also eine Themenreihe getauft, an der 73 Künstler und Künstlerinnen beteiligt sein sollten, entsprechend der Anzahl der Tage, die die Commune ihrerzeit zwischen März und Mai 1871 gedauert hatte. Dann jedoch ereignete sich etwas Vorhersehbares, aber doch Unerwartetes. Es nennt sich im Fachjargon „Bauverzögerung“; vermutlich hing sie ihrerseits auch mit Pandemie und Lockdown zusammen. Jedenfalls wurde die Eröffnung des neuen FFT mehrmals verschoben, wohingegen sich „Place Internatio­ nale“ nicht einfach umdisponieren ließ, somit in einem eher provisorischen Rahmen über die Bühne oder eher über keine Bühne

Die eigenen Routinen der Gastgeberschaft befragen – „Politics of Invitation“, eine Reihe von Monika Gintersdorfer, Annick Choco und Montserrat Gardó Castillo im neuen KAP 1. Foto Christian Herrmann


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ging – und das feierliche Opening im KAP 1 letztlich ohne eine eigentliche Auftaktpremiere stattfand. KAP 1 steht für Konrad-Adenauer-Platz 1, es ist die Adresse des neuen Domizils. In Bahnhofsnähe gegenüber dem Central gelegen, seinerseits eine frühere Paketpost, in der das Schauspielhaus jahrelang ein Übergangsquartier fand; zentral ist dieser Ort zweifellos, wenn auch die Umgebung nicht zu den unbedingt anheimelnden zählt. Die Hamburgerin Kathrin Tiedemann, die das FFT seit stolzen 17 Jahren leitet, hat im Lauf der Zeit die beiden alten Lokalitäten, die Kammerspiele und das Juta, so beengt und provisorisch sie waren, ins Herz geschlossen, etwa so, wie man schwierige Kinder gerade deswegen ins Herz schließt. Vielen Düsseldorfern jedoch, erzählt sie, war gar nicht recht klar, dass Kammerspiele und Juta zusammengehörten; beide boten nach außen hin keine wahrnehmbare Einheit. Jetzt bezieht das FFT eine ganze geräumige Etage im KAP 1, die erste, unterhalb der noch geräumigeren, noch repräsentableren Bibliothek. Es gibt endlich ein Foyer, das den Namen verdient, „mit Blick auf den Bahnhofsvorplatz“, eine große (Raum-)Bühne mit 230 großenteils variablen Plätzen, eine kleinere Studiobühne, Büros, Werkstätten. Alles vom Feinsten, kann man sagen. Steht man allerdings draußen auf dem Vorplatz, fällt neben dem funkelnagelneuen Glaskasten, der die mächtigen Aufzüge beherbergt, vor allem eine Lidl-Filiale ins Auge; da war früher das Postamt. Das Postgebäude stand großenteils jahrelang leer, erzählt Tiedemann, denn ungefähr zur gleichen Zeit, da es erbaut war, ereignete sich die Wiedervereinigung und damit die Zerschlagung der Post in ihrer alten Bandbreite. „Lidl lohnt sich.“ So ein auffälliges Werbeschild, einen Blickfang, sagt Kathrin Tiedemann, würde sie sich für ihr FFT auch wünschen. Da ist aber nichts dergleichen zu finden. Es müsste ja nicht „FFT lohnt sich“ heißen, vielleicht böte sich „FFT brummt“ an oder „FFT innovativ“. Das Gebäude gehört der Zahnärztekammer Nordrhein, die bevorzugt für die nächsten dreißig Jahre solvente Partner. Lidl gehört zweifellos dazu, die Stadt Düsseldorf als Mieterin hoffentlich auch. Das FFT ist wie Kampnagel in Hamburg oder das HAU in Berlin ein Produktionshaus für die freie Theaterszene. Die Institute dieser Art kooperieren oft miteinander, ihre Inszenierungen sind dann im Idealfall an allen Häusern zu sehen. Etwa die Hälfte der FFT-Produktionen sind lokal, die andere Hälfte Koproduktionen. Es gibt kein eigenes Ensemble, „aber wir haben dennoch Ensembles“, sagt Tiedemann. She She Pop etwa sind regelmäßig am FFT zu Gast, im Dezember wieder. Solche Gastspiele sind ausverkauft, aber in der Regel spielt das FFT seine Stücke drei- oder viermal, donnerstags bis sonntags, dann ist das Publikum sozusagen abgeschöpft. Wird sich mit dem Umzug auch konzeptionell etwas ändern? „Muss sich denn etwas ändern?“, fragt Kathrin Tiedemann zurück. Die Intendantin wirkt angesichts der brandneuen Möglichkeiten nicht eingeschüchtert, aber auch nicht ausdrücklich euphorisch; eher einigermaßen müde. Pandemie und Lockdown haben ihre Spuren hinterlassen. „Was es heißt, als Theater ohne Publikum zu existieren, kann sich mancher kaum vorstellen“, sagt sie. Es sei ihr schwergefallen, das Haus durch den Lockdown zu manövrieren. „Leben kommt doch erst in die Bude, wenn hier Leute sind. Theater vermittelt sich nicht in Zoom.“ Sie ist spürbar angefasst, als diese Sätze fallen. „Die Sorgen bleiben“, sagt sie. Es klingt, als würden die

fft düsseldorf

sich ständig verändernden Rahmenbedingungen fürs Theater­ spielen die Freude über den Neubeginn im KAP 1 noch ein wenig überlagern. Und die Pandemie ist nicht vorüber. Vielleicht ist aber auch die nüchterne Atmosphäre auf der gerade erst fertiggestellten, noch fast unbelebten Theateretage ein paar Tage vor der Eröffnung nicht dazu angetan, die Stimmung zu heben. November, es regnet natürlich, wird früh dunkel, die Kaffeekanne ist leer. All das wird sich ändern. Aber im Moment muten die Visionen von einem lebendigen Begegnungszentrum, wo beispielsweise auch wieder Partys stattfinden, eher vorsätzlich an, weit entfernt von dem revolutionären Taumel einer Pariser Commune vor 150 Jahren. Tiedemanns Verunsicherung ist durchaus sympathisch. „Wir sind offen dafür“, sagt sie, „herauszufinden, wie man mit diesem Theater umgehen kann, und vor allem: ­wo­rauf sich die Leute einlassen.“ Bis dahin werde es wohl noch ein bisschen „ruckeln“. Das befürchtet auch Nino Petrich, der frisch berufene Technische Leiter. Dergleichen gab es in der Geschichte des FFT bisher nicht. „Wir sind ja ein kleines Team“, betont Tiedemann gern. Petrich, ein großgewachsener Mann mit Pferdeschwänzchen, ­ macht auf Anhieb den Eindruck, als dürfe man es ihm ohne ­Weiteres zutrauen, den „Transformationsprozess“ zu managen, mag es auch am Anfang ein bisschen ruckeln. Keine Pannen gibt es jedenfalls bei der Eröffnungsfestivität, neudeutsch „House­ warming“ genannt. Viele sind gekommen, das FFT „brummt“. Noch vor den üblichen Ansprachen wird ein Eröffnungsritual ­geboten, drei Frauen, wie aus dem „Macbeth“ entsprungen, nur ­jünger und schöner, brauen gemeinsam in einem großen Kessel einen Hexentrank, alkoholisch, nach Rosmarin schmeckend und vermutlich Zauberkräfte freisetzend. Ist das hier also eine Party? Partys hatte Tiedemann doch visionär in eine pandemiefreie Zukunft projiziert. Eine der Magierin­nen am Kessel ist Mithu Sanyal, Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin, Feministin, Migrationsexpertin, in Düsseldorf ansässig und dem FFT herzlich verbunden. „Das ist das Spannendste seit Langem“, meint sie, „und es passiert ausgerechnet hier in Düsseldorf!“ Was zunächst hier und heute stattfindet, ist Volume 1 der „Politics of Invitation“, einer Reihe, die von der Regisseurin Monika Gintersdorfer, der Choreografin Annick ­ ­Choco und der in Düsseldorf lebenden Tänzerin und Performerin Montserrat Gardó Castillo erfunden wurde. Laut Ankündigung soll es darum gehen, „eigene Routinen der Gastgeberschaft und des Kuratierens“ zu befragen. Kuratorendeutsch ist ja ein eigenes, immer todschick klingendes Idiom, das zuverlässig hohe Erwartungen weckt. Hier und heute können gar keine Routinen der Gastgeberschaft hinterfragt werden, weil es die im KAP 1 noch gar nicht gibt. Hier und heute ist alles Anti-Routine, und das ist auch schön. „Politiken des Einladens“, so könnte übrigens ein Motto des FFT schlechthin lauten, denn in der Arbeit des FFT geht es häufig darum, einzuladen, wen und was auch immer Tiedemann & Co. spannend, kreativ, inspirierend finden. Die Eingeladenen laden wiederum andere ein, so entsteht der Kreislauf, der eine Institution wie diese am Leben erhält. Volume 1 der „Politics of Invitation“ also heißt: „La Fete“. Das Fest. Dazu gehören Gespräche, Musik, ein fliegendes Büffet, Tanz. Alles in allem fast so etwas wie eine „Commune“ – nur ohne Kanonen. //

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Baust du noch oder spielst du schon? Mit der Renovierung der Alten Reithalle in Aarau und dem Erweiterungsbau des Kurtheaters Baden erhält der Schweizer Kanton Aargau neue Räume für die Künste der Zukunft von Elisabeth Feller


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alte reithalle aarau/kurtheater baden

Eine Architekturikone der 1950er Jahre – Das Kurtheater Baden der Schweizer Architektin Lisbeth Sachs wurde durch das Büro Boesch Architekten saniert und erweitert. Foto T + T Fotografie / Toni Suter + Tanja Dorendorf

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ach dem Ende der Vorstellung stürmt das Publikum die ­ ühne, um mit den Mitwirkenden zu tanzen: An diesem Tag wird B in Aarau, Hauptstadt des Schweizer Kantons Aargau, die renovierte Alte Reithalle eröffnet. Der Weg dorthin war steinig. Von der Ausschreibung des Kantons für eine „Mittlere Bühne Aargau“ bis zur Einweihung des neuen – zwischen Bahnhof und Altstadt gelegenen – überregionalen Kulturhauses verging weit über ein Jahrzehnt. Die Alte Reithalle ist ein Raum von 2000 Quadratmetern, den das Atelier Barão-Hutter mutig umgestaltet hat. Für den Kulturbetrieb bieten sich in diesem unverstellten Raum mit Dach­ gebälk und ungeschönten Mauern fast grenzenlose Möglichkeiten. Nur wenige Vorhangbahnen unterteilen ihn: hier das bedeutendste Orchester des Kantons, das argovia philharmonic, das 58 Jahre nach seiner Gründung nun einen eigenen Konzertsaal in Besitz nehmen kann; dort das Theater, Spielwiese für die Bühne Aarau. Diese entstand 2020, als sich die bisherigen Theaterveranstalter Theater Tuchlaube Aarau, der Fabrikpalast, die Theatergemeinde sowie der Verein FARA – Freunde Alte Reithalle Aarau,mit dem

Verein ARTA – Alte Reithalle Aarau zusammenschlossen. Mit dem Umbau der Reithalle haben der Kanton Aargau und die Stadt Aarau nun ein schweizweit solitäres Mehrspartenhaus für darstellende Künste, Musik, Tanz und zeitgenössischen Zirkus erhalten mit Platz für 120 bis 500 Zuschauer. Peter Jakob-Kelting, Künstlerischer Direktor der Bühne Aarau, will bei der Eröffnung viel zeigen. „Tanzhalle Reitpalast. Ein Kaleidoskop“ ist eine groß angelegte Revue, die den Raum in die titelgebenden Unterhaltungsorte verwandelt – inklusive Tribüne und um die Spielfläche herum platzierten Tischchen. Vergangenheit und Zukunft begegnen sich an diesem Abend: Regisseur Tom Ryser und die Choreografin Lillian Stillwell beleuchten in ihren ironisch gewürzten und mit Livemusik unterstützten ­Szenen die Lebensgefühle verschiedener Epochen, die zwischen Bewahrung und Erneuerung pendeln. Ausgehend vom Jahr 1920 und der weltweit Opfer fordernden Spanischen Grippe (wer denkt da nicht an die derzeitige Pandemie?) spannt sich der Bogen über die Jahre des Zweiten Weltkriegs bis in das neue, von 1950 bis 1970 dauernde Zeitalter, in dem Elvis Presley eine Stilikone war. Der Figuren- und Schattenspieler Hansueli Trüb, Gründer des Aargauer Fabrikpalastes, eines Hauses für innovatives Figuren­ theater, darf dem King of Rock ‘n‘ Roll Leben einhauchen. Dass die Revue ein Schlaglicht auf die neunziger Jahre wirft, liegt auf der Hand, bietet sich doch so die Gelegenheit, auf Friedrich Dürrenmatts damalige Provokation zurückzugreifen, wonach die Schweiz ein Gefängnis ist, in dem die Wärter zugleich die Insassen sind. Jahrzehnte später befragen fünf junge Frauen Dürrenmatts düsteres Bild. Hat es heute noch Bestand? Nicht ganz. Das Ende des Abends gibt sich (relativ) optimistisch: Junge Menschen formulieren ihre Wünsche für eine künftige Schweiz. Bei allem Trubel rund um die Eröffnung der Alten Reithalle darf ein nur zwanzig Zugminuten von Aarau entferntes Haus in Baden nicht vergessen werden: Das Kurtheater der Schweizer ­Architektin Lisbeth Sachs ist mit seinem Glasfoyer eine Architekturikone der 1950er Jahre, die renommierten Bühnen aus dem Inund Ausland als Gastspielort dient. Auch in Baden musste man sich lange gedulden, bevor das Büro Boesch Architekten von 2018 bis 2020 einen beispielhaften Sanierungs- und Erweiterungsbau umsetzen konnte. Zum Sachs-Foyer gesellte sich ein Neues Foyer, in dem der Lichteinfall und der Ausblick in den Kurpark wunderbare Atmosphären kreieren. Hier werden kleinere Produktionen für maximal 120 Personen gezeigt, was ebenfalls für den neuen Proberaum gilt. Mit dem renovierten Freilichttheater unter den alten, mächtigen Bäumen des Kurparks lockt zudem ein weiterer, reizvoller Spielort. Das Kurtheater selbst weist mit seinen 560 Plätzen eine ideale Größe für die rund fünfzig kuratierten Vorstellungen der Sparten Schauspiel, Tanz, Musik- und Figurentheater sowie Kinder- und Jugendtheater auf, zu denen noch Gastspiele auf Vermietung hinzukommen.

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Für das kuratierte Programm ist seit 2019 Uwe Heinrichs als Künstlerischer Direktor verantwortlich. Wie sieht er die Rolle des Kurtheaters? „Nicht allein als Gastspielhaus, sondern als Theater, das vermehrt auf Eigenproduktionen wie ,Worst Songs‘ oder ,Kurgast – Aufzeichnungen einer Kur in Baden‘ von Hermann Hesse sowie Koproduktionen setzt.“ Mit der Bühne Aarau werde eine engere Kooperation angestrebt, betont Heinrichs und verweist auf Inszenierungen des Aargauer Theaters Marie und der Jungen ­Marie, die gemeinsam produziert werden. „Wir wollen mindestens eine Eigenproduktion und mehrere Koproduktionen pro Saison realisieren. Koproduktionen wie das Musiktheater ,Matter – Justizmord aus Notwehr?‘ oder ,Danse Macabre‘ von Martin Zimmermann, der mit dem Schweizer Grand Prix Darstellende Künste / Hans-Reinhart-Ring 2021 geehrt worden ist, sind größtenteils auf unserer Bühne geprobt worden“, so Heinrichs. „Dass es uns gelingt, vermehrt auch ein Produktionshaus zu sein, in dem Künstlerinnen und Künstler täglich ein- und ausgehen und arbeiten, macht uns stolz. Aber wir können nicht verhehlen, dass es auch Grenzen für dieses Engagement gibt an einem Theater, das nur über sieben festangestellte Mitarbeitende verfügt.“ Wer die Programme der beiden Häuser liest, entdeckt, dass etwa Produktionen der Familie Flöz oder der Württembergischen Landesbühne Esslingen sowohl in Aarau wie in Baden gezeigt werden. Absicht? „Ja“, sagt Heinrichs. „Als Beispiel für die noch engere Zusammenarbeit mit Aarau steht auch die gemeinsame Programmierung von Gastspielen aus dem Ausland. Damit werden Ressourcen gebündelt und Reisekosten gespart.“ Somit sehen sich das Kurtheater Baden und die Bühne Aarau nicht als Konkurrenten? Uwe Heinrichs glaubt nicht, dass sie sich „gegenseitig Zuschauerinnen und Zuschauer wegschnappen werden, dafür haben beide Bühnen ihr Publikum und ihr eigenes Einzugsgebiet. Das Kurtheater zeigt auch große internationale Produktionen aus den Bereichen Tanz und Schauspiel, während sich die Bühne Aarau schwerpunktmäßig um das lokale und regionale Theatergeschehen kümmert.“ Das bestätigt Peter-

Die neue Spielwiese der Bühne Aarau – Die vom Atelier Barão-Hutter mutig umgestaltete Alte Reithalle. Foto Chris Iseli Fotografie

Jakob Kelting. Trotzdem sei die neue Alte Reithalle geeignet, auch Menschen von außerhalb nach Aarau zu locken. „Dazu kommt, dass wir das einzige Theaterhaus sind, das zeitgenössischen Zirkus programmiert; eine in der Deutschschweiz vernachlässigte Sparte der darstellenden Künste, die ein überregionales Publikum anspricht.“ Für Uwe Heinrichs hat sich ein Herzenswunsch schon in der ersten Spielzeit erfüllt: Das Tanzprojekt „Kids in Dance“ bringt Jugendliche aus Baden und Umgebung einmal pro Woche im Proberaum zusammen, um unter professioneller Anleitung zu tanzen; das Arbeitsergebnis wird dann auf der großen Bühne zu sehen sein. Ein Beispiel für die Zusammenarbeit beider Häuser ist die jüngste Koproduktion: „Matter – Justizmord aus Notwehr?“ ist in Baden geprobt und uraufgeführt worden. Wochen später wird ­dieses vom Aargauer Musiker Christoph Baumann, dem Video­ designer Kevin Graber, dem Autor Markus Kirchhofer und dem Regisseur Nils Torpus entwickelte Musiktheater in der Alten Reithalle gespielt. Im Kurtheater ist die Inszenierung ganz nah am Publikum. Das Stück thematisiert das Leben von Bernhart Matter, dem Aargauer Robin Hood, der 1854 auf dem Schafott endete, obgleich er stets „nur“ gestohlen, aber nie gemordet hatte. Die nicht chronologisch aufgerollte Geschichte in Mundart wird von Isa Wiss (Gesang) und Herwig Ursin (Spiel und Musik) gleichsam spontan wie unter Freunden erzählt. Die Musik kontrastiert die eingängigen Songs mit jazzigen Klängen; die schwarz-weißen und farbigen Videos akzentuieren eine Geschichte, die ihren beklemmenden Höhepunkt in der stummen Schlussszene hat: Auf der Leinwand erscheinen die Namen jener 180 Frauen und Männer, die am selben Ort wie Matter gerädert, gehängt, geköpft oder verbrannt wurden. Von ihnen wurde kaum je gesprochen: „Matter – Justizmord aus Notwehr?“ tut es – eindrücklich. //


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Im goldenen Käfig Die Methode Simon Stone: Warum die Real-Life-Ästhetik des australischen Regisseurs zunehmend zur Hochglanzmasche geriert von Christoph Leibold

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m Anfang, als sich der eiserne Vorhang hebt, stellt sich zuverlässig der Wow-Effekt ein – thront doch auf der Bühne ein Tankstellenshop, detailversessen ausstaffiert mit Regalen voller Snacks, Kühlvitrinen mit Bier und Softdrinks, dazu ein Bistro­ bereich samt Kaffeeautomat. Es ist, als hätte Bühnenbildnerin Blanca Añon den Laden an irgendeiner Autobahnraststätte in sämtliche Einzelteile zerlegen und im Münchner Residenz­ theater eins zu eins wieder aufbauen lassen – als Spielort für ­Simon Stones Stück „Unsere Zeit“, zu dem sich der „writer-director“ (Stone über Stone) von Ödön von Horváth inspirieren hat lassen. Die Methode des Australiers kennt im Wesentlichen zwei Spielarten: Entweder er nimmt sich einzelne Stücke vor und übersetzt sie ins Hier und Heute. Aus Tschechows lethargischen Untergehern werden dann desillusionierte Großstadt-Hipster wie in seiner Basler „Drei Schwestern“-Bearbeitung von 2016 (bis heute eine seiner besten Arbeiten). Oder er bedient sich im Gesamtkosmos eines Autors und montiert seine Gegenwarts-Updates aus dessen Motiven und Figurenkonstellationen. So geschehen etwa bei „Ibsen House“ für die Toneelgroep Amsterdam (2017) oder „Hotel Strindberg“ am Wiener Burgtheater (2018). „Unsere Zeit“ funktioniert nach dem zweiten Muster, wobei die Bezüge zum Vorlagengeber diesmal allenfalls vage sind. So gibt es hier zwar einen DHL-Boten, der seinen Job verliert, in dem man den abgebauten Chauffeur Kasimir aus Horváths „Kasimir

und Karoline“ wiedererkennen kann. Meist sucht man nach ­solchen unmittelbaren Figurenentsprechungen aber vergeblich. Horváths Universum bevölkern kleine Angestellte, Arbeits­ lose und verkrachte Existenzen. Menschen mit lodernden Sehnsüchten und Hoffnung auf Sparflamme. Simon Stone hat sich gefragt: Wer sind diese Menschen heute? Seine Antwort: Ein Tankstellenmanager, der durch seinen jovialen Paternalismus ins MeToo-Visier gerät. Eine junge Friseurin, die vom eigenen Salon träumt. Ein koksender Fußballmanager. Eine Studentin, die auf den Strich geht. Ein schwuler Lasterfahrer. Ein Bauunternehmer am Rande der Pleite. Ein geflüchteter Juraprofessor aus dem Irak, der als Tankwart sein Auskommen findet. Und einige mehr. Sie alle gehen im Tankshop ein und aus, trinken Bier oder Kaffee, streiten, verlieben und reden sich die Köpfe heiß in flottem Alltagssprech, gern auch alle durcheinander. Am Ende des sechsstündigen Abends richtet der entlassene DHL-Bote in der Tankstelle ein Blutbad an, aus Frust über die Arbeitslosigkeit und aus Ausländerhass. Der Titel von Stones Stück lehnt sich an Ödön von Horváths Roman „Ein Kind unserer Zeit“ an. Das Buch handelt – wie so viele Werke des Autors – vom faschistischen Denken, das sich in den Köpfen der Menschen in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren breitmacht. Analog dazu beschreibt Stone den Rechtsruck unserer Zeit. Wie Horváth interessiert er sich für die Abgründe, die sich in Menschen auftun, wenn sie unter den Druck der Verhältnisse geraten. Doch während eine Horváth-­ Figur wie der entlassene Chauffeur Kasimir aus ohnmächtiger Verzweiflung „nur“ zum Autoknacker wird, muss es bei Stones gefeuertem DHL-Boten schon ein Amoklauf sein. Das wirkt eher


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nach Effekthascherei als nach Gegenwartsdiagnose, die den Teufel in grellen Farben an die Wand malt. Stones Faible für Action- und Splatter-Momente war schon öfter zu beobachten. In „Eine griechische Trilogie“ (2018) am ­Berliner Ensemble etwa richtete eine Gruppe von Frauen ein bühnenblutrotes Gemetzel unter ihren männlichen Peinigern an. ­Unweigerlich untermalt bedrohlicher Streichersound solche Szenen. Mit den oft filmsettauglichen Kulissen und dem Drehbuchrealismus der Dialoge addiert sich das zu einer Ästhetik, die sich unübersehbar an der zeitgenössischen Kino- und Serienproduk­ tion orientiert. Affinität zur Popkultur ist im deutschsprachigen Theater zwar keine Seltenheit. Die Konsequenz aber, mit der Stone zu Werke geht, ist gleichwohl einzigartig. Ob seine Inszenierungen dadurch auch originell geraten, ist eine andere Frage. Im Idealfall ebnet Stone seinem Publikum, indem er gängige Sehgewohnheiten bedient, den Weg zu einer tieferen Auseinandersetzung mit alten Stoffen. Zunehmend wirkt seine Methode aber schlicht wie eine (durchaus virtuos praktizierte) Masche, Theater leicht konsumierbar zu machen. Man kann so einen ­ sechsstündigen Stone-Abend locker „weggucken“. So wie man ­TV-Serien bingewatcht. „Unsere Zeit“ war übrigens so etwas wie die nachgereichte Eröffnungsproduktion zur Intendanz von Andreas Beck am Münchner Residenztheater, die 2019 mit einer Calderón-Bearbeitung von Stone hätte beginnen sollen. Doch dann lockte der Film. Für Netflix realisierte Stone das Drama „Die Ausgrabung“ (das, nebenbei bemerkt, weitaus weniger popcornkinotauglich wirkt als seine jüngsten Bühnenproduktionen) und sagte dafür seine

Derzeit scheint sich Simon Stone immer weiter in Richtung eines luxuriös ausgestatteten bildungsbürgerlichen Repräsentationstheaters zu bewegen – hier „Unsere Zeit“ am Münchner Residenztheater. Foto Birgit Hupfeld

­ heaterverpflichtungen kurzerhand ab. Auch die Oper hat den T ­Regiestar mittlerweile für sich entdeckt. Demnächst stehen Arbeiten an der Wiener Staatsoper und der Met in New York an. Wie schafft der 37-Jährige das alles?

Eine Arbeitsaufwand sparende Recyclingstrategie Manchmal hilft Pragmatismus, um die große Nachfrage zu bedienen: Stone adaptiert nicht nur Theaterklassiker, sondern auch ­eigene Inszenierungen. So erfuhr seine Amsterdamer „Medea“ vor drei Jahren ein Remake am Wiener Burgtheater, und eine ­Kopie seiner „Yerma“, ursprünglich entstanden in London, steht seit Kurzem auf dem Spielplan der Berliner Schaubühne. Doch selbst angesichts dieser Arbeitsaufwand sparenden Recycling­ strategie verblüfft die hohe Schlagzahl. Zwischen „Yerma“ und „Unsere Zeit“ lagen gerade mal anderthalb Monate, und exakt eine Woche nach der Münchner Premiere brachte Stone am Wiener Burgtheater gleich das nächste Stück heraus: „Komplizen“. Derlei kann nur funktionieren durch gut koordinierte Vorproben an den verschiedenen Häusern. Eine Woche für den Endspurt vor der „Komplizen“-Premiere scheint dennoch äußerst knapp bemessen, zumal Stone seine


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selbst. Pauls Frau Tanja, eine Schauspielerin, plagen Selbstzweifel, der Filmemacher Dietmar fühlt sich gerade deshalb zu ihr hinge­ zogen. Derweil macht Melanie, eine Freundin des Hauses, Paul Avancen. An einem weinseligen Abend beschließt man, den Beziehungsknoten durch einen flotten Vierer zu lösen. Doch just als die Hüllen fallen, dringt ein Trupp Arbeiter zum Haus vor und beschmiert die Glasscheiben mit zornigen Protestparolen. Der Aufmarsch eines Dutzends Komparsen in Blaumännern bleibt freilich der einzige Auftritt der Erniedrigten und Beleidigten. Das ist einerseits gut so, kann doch das Bebildern von ­Armut schnell in den Elendskitsch abrutschen. Andererseits rücken durch die weitgehende Anwesenheit der Ausgebeuteten doch vor allem die Seelennöte der Privilegierten in den Mittelpunkt.

Man staunt oft, stutzt nie

Theater, Oper, Netflix – Der 37-jährige Simon Stone kann sich vor Aufträgen kaum retten. Foto Sandra Then

­ tücke selbst in dieser Phase noch umschreibt. Dass unter dem S hausgemachten Termindruck nicht immer die tiefschürfendsten Texte entstehen, sondern die Routine des (zugegeben souveränen) Dialoghandwerkers obsiegt – wen wundert’s? Die Zeit, in ausführliches Nachdenken zu investieren, fehlt jedenfalls ganz offensichtlich. Umso mehr Energie scheinen Theater, die es sich leisten können, in die Ausstattung von Stone-Produktionen zu stecken. Das Bühnenbild, das Bob Cousins für „Komplizen“ ins Burgtheater gebaut hat, ist ein ähnlich spektakulärer Hingucker wie die Tanke im Münchner Resi: Rundumverglaste Räume – ­Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer, ein Labor – ringförmig angeordnet um einen pflanzenbewachsenen Innenhof, eingerichtet in modernem Schick. Eben alles sehr edel, sowohl was die Welt betrifft, die hier dargestellt wird, als auch der bühnenbildnerische Aufwand, mit dem sie dargestellt wird. Die Figuren, die Stone hier angesiedelt hat, gehören unübersehbar besseren Kreisen an, und das Burgtheater hat sich diese Produktion ebenfalls sichtlich einiges kosten lassen. Diesmal arbeitet sich Stone im Wesentlichen an Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ ab. Im Original spielt das Stück im Haus des Chemikers Protassow, das einem Elfenbeinturm gleicht. Während draußen Menschen an der Cholera krepieren, laborieren die Privilegierteren in ihrer Wohlstandsblase an Beziehungs­ problemen. Bei Stone heißt Protassow Paul und erforscht den Schimmelpilzbefall von Gemälden. Die Pandemie, die in diesem Gorki-Update wütet, ist natürlich Corona. Zusätzlich hat Stone die Geschichte eines gewaltsamen eskalierenden Arbeitskampfes aus Gorkis Drama „Feinde“ ins Stück integriert. Die Wut der Niedriglohn-Malocher angesichts ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse verbindet sich in „Komplizen“ mit der ohnmächtigen Ablehnung von Corona-Maßnahmen. Eine explosive Gemengelage, die sich in gewaltsamen Straßenprotesten entlädt. Paul und die Seinen bekommen das in ihrem gläsernen goldenen Käfig allerdings nur von Ferne mit, zu sehr kreisen sie um sich

Stone versorgt das Ensemble, das diese High Society verkörpert, mit vorzüglichem Rollenfutter, das Hochkaräter wie Michael ­Maertens als schwer neurotischer Paul dankbar aufgreifen. Neben ihm glänzen mit Birgit Minichmayr und Roland Koch Darsteller, mit denen Stone bereits in früheren Inszenierungen erfolgreich zusammengearbeitet hat. Ähnlich verhält es sich in München, wo in „Unsere Zeit“ mit Simon Zagermann, Franziska Hackl, Liliane Amuat, Michael Wächter und weiteren die halbe „Drei Schwes­ tern“-Truppe versammelt ist. Die Berliner „Yerma“ wiederum war Caroline Peters, auch sie zum wiederholten Mal Stones Protagonistin. Je besser Stone seine Spieler kennt, desto passgenauer schreibt er ihnen ihre Parts auf den Leib. Das ist eigentlich ein wünschenswerter Zustand, führt aber manchmal dazu, dass jede Figur fast zwanghaft ihren eigenen Moment bekommen muss. In „Unsere Zeit“ gipfelt das in einer Fülle von Lebensbeichten, in denen auch die allerletzten Seelengeheimnisse der Charaktere ­gelüftet werden. In „Komplizen“ wiederum bringt es der Hang zu Bekenntnismonologen mit sich, dass die Pauls dieser Welt eine Menge Raum bekommen, um sich Empathie für ihre Seelennöte zu erspielen. Die Armen dagegen bleiben stumm und unsichtbar, ihr Leid damit abstrakt. Das ist dann doch etwas eigenartig für einen Theaterabend, der die realitätsblinden Reichen in ihrer Selbst­ bezüglichkeit ja eigentlich als Komplizen der bestehenden, zunehmend untragbaren Gesellschaftsverhältnisse kritisieren will und deren Liebeskummer als Luxusproblem brandmarkt, den sich nur leisten kann, wer nicht im Überlebenskampf steckt. Eigentlich sieht sich Simon Stone als Diagnostiker unserer Zeit, der dem Publikum zu verstehen gibt: So wie es in der Welt derzeit läuft, kann es nicht weitergehen. Dass er diese Rolle ­beherrscht, hat er in früheren Arbeiten hinlänglich bewiesen. ­Derzeit allerdings scheint er sich immer weiter in Richtung eines luxuriös ausgestatteten bildungsbürgerlichen Repräsentations­ theaters zu bewegen, das selbst einer Form des Weitermachens wie gehabt gleicht. Trotz des hippen Looks bewegen sich Stones Arbeiten auf traditionellem Theaterterrain. Man bewundert die ent­fesselten Schauspieler, erfreut sich am Schauwert der Aus­ stattung, sagt „Wow!“, nur weh tut hier kaum etwas. Man staunt oft, stutzt nie. Weil Stones Theater zwar den Geschmack der Zeit trifft, aber immer seltener einen empfindlichen Nerv. //


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Foto Maurice Koerbel

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FERTIG gibt’s nicht Michael Simon Licht kann sich in Bewegung setzen. Das bewegte Licht ist ein eigener Akteur zusammen mit der Wand, auf die der Schatten eines Menschen fällt. Bühnenbilder haben sich in meiner Fantasie eigentlich immer bewegt. Was passiert, wenn ich auf einer Drehscheibe einen Körper von allen Seiten sehen kann? Das Bühnenbild wird zum aktiven Spielpartner, die Performenden müssen sich zu der Bewegung v­ erhalten. Alles ist eine Frage der Perspektive. Wie blicke ich auf etwas? Von der Seite? Von oben oder unten? Wie schaue ich auf die Handlung? Erzähle ich etwas von innen oder von außen? Ich nehme im übertragenen Sinn ein umgedrehtes Fernglas, und die Dinge und Themen rücken in die Ferne. Dabei wird das Umfeld, der Kontext plötzlich wichtiger. Die Fantasie bekommt mehr Raum außerhalb der konkreten Arbeit an der Vorlage.

Foto Lupi Spuma

Was ist ein Raum? Wer definiert den Raum? Wie definiert sich der Raum? Was verlangt der Raum von mir? Wie gehe ich mit dem leeren schwarzen Raum um? Wie ist das Verhältnis zwischen Zuschauerraum und Bühne? Was gibt mir der Bühnenraum an essenziellen Informationen? Was macht das Theater aus, außer die Summe seiner einzelnen Elemente? Wie erweitert sich der Bühnenraum mit Projektionen? Was macht eine Kamera auf der Bühne? Kann der Kamerablick mehr, als aus ungewohnten Perspektiven auf die Bühne zu schauen, mehr, als Live-Bilder aus

der Unterbühne zu liefern? Wie verbindet sich die Video­ projektion mit den realen Objekten und Menschen auf der Bühne? Ist der immaterielle Bildraum genauso Teil des Bühnenbilds wie die Lichträume? Worauf fällt das projizierte Bild? Was sind die Auswirkungen der digitalen Bildverarbeitung, von Slowmotion, des IneinanderMorphens von Bildern und des Videomappings auf den Probenprozess? Wie verändert das die Wahrnehmung der Zuschauenden? Ein echter Stein liegt da, ist kalt, wackelt nicht und lässt sich nicht wegtragen wie ein Styroporblock Die Holzwand ist eine Holzwand, nicht mehr. Die kann umfallen, sich bewegen usw., ein realer Vorgang und keine Illusion. Ich wollte dem Bühnenbild ein Eigenleben zugestehen. Daher entwickelte ich mich weg von der Auseinandersetzung mit Innen- und Außenräumen hin zu objekthaften Bühnenbildern. Später deckte sich diese Erkenntnis bei der Arbeit mit Elfriede Jelineks Texten. Dort ist es die reale und mentale Anstrengung der Sprechenden, die selbst zum Material ihrer Arbeit an Jelineks Sprache geworden sind. Da ist kein Platz für „so tun als ob“. Als Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion muss ich mich fragen: Was kann ich eigentlich alleine bewältigen? Wie viele Partner*innen brauche ich auf der konzeptuellen Ebene? Was habe ich aus den Augen verloren? Wenn du allein arbeitest und Erfolg hast, kommst du leicht in einen Zustand von Hybris, wo du denkst, du kannst die Welt beeinflussen. Ich habe mich durch meine Neugier, immer etwas anderes auszuprobieren, auch verzettelt, und bestimmte Ideen und Erfindungen nicht konsequent weiter entwickelt. Nachhaltigkeit kann auch den gesammelten Erfahrungsschatz im Umgang mit künstlerischen Mitteln meinen. Nachhaltigkeit als künstlerisches Denk- und Handlungsprinzip hat für mich mit einer prozessorientierten Ästhetik und Formensprache zu tun. Dinge auf die Bühne zu stellen, um sie abzuräumen, Dinge wieder zu verwenden, nicht nur aus Geldmangel, sondern auch aus Neugier. Das Besondere an der A ­ rbeit mit vorhandenem Material aus dem Fundus ist der Such- und Entscheidungsprozess auf den Proben. Passt


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g­ eworden, verweist aber über die Wort-Bilder hinaus auf grundlegende Fragen bei der Raumfindung: Auf welchen Gegenstand trifft das Licht, gegen welche Wand rennt ein Körper, welchem Körper begegnet ein Text, welcher Text wird zum Gegenstand? Der Zusammenstoß erst schafft die Sichtbarkeit der verschiedenen Elemente, macht sie physisch, unhintergehbar, erlebbar. Ob eine Form des Theaters, das im fortwährenden Prozess seine ästhetischen Mit­tel reflektiert, auch poli­ tisch sein kann, ist eine rhetorische Frage. Sie ist im idealen Fall soDieses Arbeitsbuch widergar auf eine Art politisch, spiegelt den Prozess des die nicht kalkuliert ist, die künstlerischen Arbeitens von unversehens den Assozia­ Michael – in dem es nicht tionsraum Bühne sprengt. Das nur Highlights, sondern Spiel mit den Wort-Tafeln, das Michael Simon – FERTIG gibt’s nicht auch Umwege und Irrtümer Jelineks Text­flä­chen begehBühnenbild. Prozesse dokumentiert. Prozesshafte bar macht oder aufrecht stellt Herausgegeben von Tilmann Neuffer Arbeiten nie endet: Fertig und zum Tanzen bringt, wird gibt’s nicht. Im Mittelpunkt zum Kommentar auf eine Meund Stephan Wetzel stehen Michaels zentradienmaschine, die uns schon Klappenbroschur mit 256 Seiten le Arbeitswerkzeuge, seine morgens auf dem Weg vorbei ISBN 978-3-95749-365-1 Gedanken-Räume werden zu am Zeitungs-Kiosk – klassiEUR 28,00 EUR (print) / 21,99 (digital) Kapiteln: Licht, Bewegung, scherweise mit Reizworten in Worte, Konstruktion/Dekons­großen schwarz-­ roten Übertruktion, Video und Mate­ ri­ schriften auf weißem Papier – al(ität). Diese Einteilung hebt Teilaspekte in den einzel- Angst einjagen will. Es geht um einen glücklichen Genen Produktionen heraus. Es gibt Überschneidungen, danken, den Gedanken, dass es möglich ist, ein InstruGedankensprünge und Parallelen, auf die verwiesen mentarium zu sammeln, das zugleich der analy­tischen wird. Neugier dient und dem Gelingen der Neufindung. Aber wie können die Abbildungen, die im Buch ja Das hört dann nicht auf. statisch sind und die Bewegung und den Wechsel der Szenarien nicht wiedergeben können, leben­dig werden? Leila Mekacher entwickelte eine App, die die Bühnenbildfotos im Buch mit Videoclips verlinkt. Das lässt die Bilder tanzen, das Buch lebt. Die ursprüngliche Gesprächssituation diente als Gerüst für Michaels eigenen Text und persönlichen Schwerpunkte. So entstand eine „Erzählung“, die die künstlerischen Prozesse transparent macht.

ein Objekt nicht in die Szene, fällt die Entscheidung leicht, es wieder in den Fundus zurückzuschicken. Diese Leichtigkeit ist faszinierend, das Gegenteil eines klassischen Bühnenbildentwurfs mit Bauprobe, Werkstatt­ abgabe und technischer Einrichtung. Dieser kreative Prozess, Entscheidungen offenzuhalten, ist eine Haltung. In diesem Prozess entstehen keine gebauten Innenräume, sondern Objektlandschaften.

Tilman Neuffer

Stephan Wetzel „Das ist ein langes Wort: Immer!“, sagt Leonce zu Rosetta in Büchners Lustspiel, als seine Liebe endet. Genau 14,65m lang ist es auf Michael Simons Bühne. Auf diese Weise den Text beim Wort zu nehmen, ist zu einem Markenzeichen in der Arbeit von Michael Simon Foto Michael Simon


Kein Schlussstrich! Rund zwanzig Jahre ist es her, dass in Zwickau eine Wohnung explodierte und zwei Männer tot in ihrem Wohnmobil lagen. Der sogenannte NSU brannte sich mit seiner Enttarnung am 4. November 2011 wie ein Albtraum in die Köpfe der Menschen ein. Ein Albtraum, der – siehe Hanau, Halle, Kassel, München – längst nicht zu Ende ist. „Kein Schlussstrich!“ nennt sich daher das dezentrale und interdisziplinäre Theaterprojekt, das an 18 Tagen im November in 15 Städten unter Mitwirkung von 18 Trägern künstlerisch die Taten, Netzwerke und Hintergründe des NSU thematisierte. Wir haben vier dieser Projekte in Weimar, Jena, Nürnberg und Köln besucht.

„Wolken. Heim. / Rechnitz (Der Würgeengel) / Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek in der Regie von Jan-Philipp Gloger am Staatstheater Nürnberg. Foto Konrad Fersterer

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Wir. Dienen. Deutschland „Hannibal“ von Dirk Laucke am Deutschen Nationaltheater Weimar von Lara Wenzel

Ödön von Horváths Roman „Ein Kind unserer Zeit“ nachvollzogen wird. Laucke strukturiert sein Theaterstück nach der 1938 erschienenen Kritik am Nationalsozialismus. Unter der Regie von Sebastian Martin folgt das Publikum der Entwicklung eines autoritätssuchen  in Offizier der Bundeswehr findet während einer Sauftour in den Jedermanns, eines „frei flottierenden SS-Manns“ (Klaus TheweWien eine geladene Pistole im Gebüsch und steckt sie ein. Am leit), dessen Männlichkeit immer noch gewaltsame Blüten treibt. Seilspringen, Schießübungen und am Abend Biertrinken mit Flughafen verbirgt er sie, ratlos, was damit zu tun sei, auf der ­Toilette. Später kehrt er zurück, um sie den Behörden zu übergeSchmitti, Mitch und Danny gliedern die Tage in der Kaserne der Eliteeinheit. Auf der kargen Bühne vervielfältigen die Projektionen ben. So weit die haarsträubende Geschichte, die Franco A. der ­Polizei, die ihn in Wien festnimmt, erzählt. Die Identitätsprüfung die posierenden Männer und ihre militärischen Gesten, ohne ein heroisches Bild entstehen zu lassen. Mit erprobten Handgriffen und ergibt, dass der Bundeswehroffizier ein Doppelleben als syrischer Flüchtling führte. Unter der Tarnidentität habe er Anschläge geplant, steigender Vorfreude legen die Kameraden auf dem Weg nach Afghanistan ihre Uniform an. um den Hass auf GeflüchSeiner Mutter, deren Rolle tete zu schüren, wirft ihm der Generalbundesanwalt Anna Windmüller übernimmt, verschweigt Rico im laufenden Gerichtsverdie Abreise. fahren vor. Franco A. steht in Verdacht, eine schwere Die Alleinerziehende wählt links und schaut mit staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet zu haben. Unverständnis auf die EntSchon als Jugendlischeidungen des Sohns. Ihr bleibt verborgen, dass er cher denkt der Angeklagte darüber nach, sich im Milisich mit dem soldatischen Weg von seinem Herkunftstär hochzudienen, um mit einem Putsch das deutsche milieu entfernen möchte. Seine Figur kontextualisiert Volk zu retten. In seiner Masterarbeit an der Militärzwischen den Gruppen­ szenen die Ereignisse und akademie Saint-Cyr buchSeilspringen, Schießübungen und Biertrinken am Abend – In „Hannibal“ erzählt Dirk Laucke die Geschichte eines autoritätssuchenden Jedermanns. stabiert er sein komplexes berichtet von den SelbstFoto Candy Welz antisemitisches Weltbild zweifeln und Feinden, die ihn von innen und außen aus. Er ist einer der vielen Einzelfälle, die auf der bedrohen. Diese Einblicke wirken eindrücklicher als Drill und Knalleffekte auf der Bühne, ­Suche nach völkischer Identität im Militär landen, sich dort weiter radikalisieren und vernetzen. Der rechtsextreme Elitesoldat könnte denn sie zeichnen einen Menschen mit Ängsten und Fehlern, die seine Motivation erklären, aber nicht rechtfertigen. ein Kamerad von Rico sein, dessen Geschichte Dirk Laucke in seinem neuen Theaterstück „Hannibal“ erzählt. Aus einem patriotiNachdem er den Dienst aufgrund einer Verletzung verlassen muss, wendet er sich an Uniter – einen rechtsextremen Verein, zu schen Impuls beginnt der junge Mann, gespielt von Marcus Horn, seine Laufbahn beim Bund, steigt zur Spezialeinheit KSK auf und dem auch Franco A. Verbindungen hatte sowie der aus Halle an der Saale stammende ehemalige KSK-Soldat André S., genannt „Hanwird zunehmend eins mit dem Männerverein. Die Inszenierung am Deutschen Nationaltheater in Weimar verhandelt den Rassisnibal“. Tummeln sich hier Prepper mit Endzeitfantasien, oder hanmus und Antisemitismus, der den Institutionenkörper festigt, nur delt es sich um eine Schattenarmee? Als Rico die Ausmaße der latent. Im Nebenher der rechten Gesinnung, die die Männer in rechtsextremen Verbindungen erkennt, fällt die antrainierte Gefasstheit von ihm ab. Seine Entscheidungen werden fahrig und hilf­laxer Sprache, versetzt mit AfD-Parolen, verbreiten, wird der Konsens betont, den diese Position in der Gruppe einnimmt. los, während die Inszenierung das Erzähltempo zu einem düsteren „Ich bin Soldat, und ich bin gerne Soldat. Morgens der Reif auf Taumel anhebt. Beklommen lässt der genau recherchierte Theaterabend das Publikum zurück. Die gestohlene Munition, die den den Wiesen oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen. ­Boden der Bühne bedeckt, befindet sich im Besitz der „DeutschIch diene, und zwar gerne.“ Diese Sätze teilt sich Rico mit dem anonymen Reichswehrsoldaten, dessen Radikalisierungsgeschichte in landretter“ – und ihr letzter Schuss ist noch nicht gefallen. //

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Hinter dem Paravent des Ulks „Sladek“ nach „Sladek oder Die Schwarze Armee“ von Ödön von Horváth mit neuen Texten von Manja Präkels am Theaterhaus Jena von Sebastian Schulze Jolles

Abends wird klar, dass er ein Verwandter von Büchners „Woyzeck“ oder Brechts Kragler aus „Trommeln in der Nacht“ sein könnte. Sladeks Naivität, die sich zeigt, als   ie Bühne ist leer. Nur rechts steht eine er der militanten Bewegung beitritt, ist übergroße Holzkiste, auf der in drei Spraein Kernmal der Gewissenlosigkeit des ewigen Mitläufers. Der Hauptmann als ­ chen das Wort „Hakenkreuz“ zu lesen ist; im Bühnenhintergrund türmen sich weiße Organisator der Schwarzen Armee will, ­Plastikgartenstühle auf. Die Spieler warten dass diese paramilitärische Einheit vor der schon während des Einlasses auf ihr PubliGesellschaft verleugnet wird. Jeder, der Auskunft über diese Gruppierung gibt, kum, sportlich-salopp gekleidet, mit schicken Turnschuhen an den Füßen. Eine Jugend­ wird rigoros liquidiert. Diese feige Vertuschung rückt Ödön von Horváth visionär clique oder Gang, aus der im Verlaufe des ins Bild, mit einem feinen Gespür für den Stücks die Figuren hervorploppen. beginnenden rechten Terror der Nazis. Eingebettet als Teil des dezentralen Um die Hauptfigur herum kreisen und interdisziplinären Theaterprojekts „Kein Schlussstrich!“, das zehn Jahre nach Bekanntder pazifistische Franz (burschikos: Pina Bergemann); die Wirtin und Geliebte werden des rechtsextremen Terrornetzwerks NSU dessen Taten und Hintergründe künstAnna (hingebungsvoll: Dorothea Arnold); der anstiftende Hauptmann (viril: Jonas lerisch thematisiert – beteiligt sind zahlreiche Partner in 15 Städten –, hatte am Theaterhaus Steglich) und die zwei Hakenkreuzler Henrike Commichau und Hanneke van „In der Natur wird gemordet, das ändert Jena „Sladek“ Premiere, ein Theaterabend sich nicht“ – „Sladek“ nach Ödön von der Paardt. nach Ödön von Horváths „Sladek oder die Horvárth und Manja Präkels (hier mit Pinar Schwarze Armee“, ergänzt mit Texten der Was aber bleibt hängen? Es gibt Bergemann). Foto Joachim Dette ­einen Satz im Stück, der das Phänomen ­Berliner Schriftstellerin Manja Präkels. Geschrieben 1929, bildet Horváths Sladek auf den Punkt bringt. Anna sagt zu ihm: „Du kannst nicht lieben, du kannst Stück eine kassandrahafte Vorwegnahme dessen, was im Nationalsozialismus Wirklichkeit werden wird. Was nur lieb sein.“ Treffender kann man die Verlorenheit und das Mitbei Horváth noch als die Weimarer Republik zerstörende paramilitelmaß dieser Figur nicht umschreiben. Leider kommt er an dietärische Organisation der Ultrarechten thematisiert wird (genannt: sem Abend nicht zur Sprache. Eingebunden jedoch ist ein Monolog Die Schwarze Armee), kann als Menetekel der unter Himmlers der Berliner Schriftstellerin Manja Präkels: Eine Figur namens Beate Führerschaft 1929 neugegründeten SS im „Dritten Reich“ gelesen räsoniert in einer poetischen Reflexion über die Verlorenheit in den werden. Sladek legitimiert sich, ganz biologistisch, als Prototyp des Neubaugebieten, die Selbstverortung als völkische Visionärin und Mitläufers, indem er als Selbstrechtfertigung mantrahaft den Satz die Bereitschaft, für ihre „Ideale“ zu sterben. Unverkennbar eine von sich gibt: „In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht.“ Reminiszenz an Beate Zschäpe, der Sladek, wie die Figur auf der In einem Interview reflektiert die Regisseurin Lizzy Bühne bekennt, durchaus gut gefallen hätte. „Ein Typ, der was will.“ ­Timmers: „Tatsächlich stellen wir mehr und mehr fest, dass die Trotz dieses Einschubs wird die Inszenierung den selbst gesteckten Ambitionen, den NSU-Komplex künstlerisch zu bearbeiInszenierung auch mit einer gewissen Leichtigkeit einhergeht. Denn bei aller Härte des Stoffes sind auch Mut machende Aspekte ten, nur teilweise gerecht. Lediglich die Holzkiste entpuppt sich wie Hoffnung und Menschlichkeit deutlich zu erkennen.“ Die als bestechende Metapher: als Büchse der Pandora, in der das dro­besungene Hoffnung liegt hier nicht im Inhaltlichen, sondern hende Unheil rumort beziehungsweise aus der die „braune Soße“ entweicht. Sie zeichnet ein eindrückliches Bild von der momentaeher in der gewählten Ästhetik. Sie vermischt bitterernste Tragik mit anarchischem Klamauk. Gesichter werden verdreht, Münder nen Bedrohung durch den Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft. Die ästhetische Umsetzung jedoch erzeugt gegenüber der prusten, Körper wälzen sich auf dem Boden. Aktualität des Stoffes eine Unwucht, weil sich das Monströse hinSladek, gespielt von Leon Pfannenmüller, sticht sofort ins Auge, weil er das figurale Zentrum einnimmt. Im Laufe des ter dem Paravent des Ulks schwelend versteckt. //

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Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen „Wolken. Heim. / Rechnitz (Der Würgeengel) / Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek am Staatstheater Nürnberg von Christoph Leibold

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as geht mich nichts an!“, erklärt einer der Boten in „Rechnitz“ und schlägt damit den Grundtenor dieses Abends an, der drei Texte von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek miteinander kombiniert zu einer schlüssigen Erzählung vom Verschweigen und Verdrängen rechter Gewalt. „Rechnitz (Der Würgeengel)“ packt das Thema historisch an. Das Stück behandelt den Massenmord an etwa 180 jüdischen Zwangsarbeitern durch Nazigrößen, die kurz vor Kriegsende noch ein Gefolgschaftsfest in einem burgenländischen Dorf feierten. Das Grab mit den Leichen wurde bis heute nicht gefunden, und nicht wenige Menschen in Rechnitz, dem Schauplatz dieser Barbarei, wollen auch gar nicht wissen, wo es sich befindet. „Das schweigende Mädchen“ schlägt den Bogen von der Geschichte in die jüngere Vergangenheit, die beinahe noch Gegenwart ist. ­Jelinek reflektiert darin den Prozess gegen Beate Zschäpe, der einzigen Überlebenden des NSU-Kerntrios, das aus Fremdenhass zehn Menschen hingerichtet hat, drei von ihnen allein in Nürnberg: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar. „Wolken. Heim.“ schließlich liefert den gedanklichen Überbau, das ideologische Dach, unter dem sich Gräueltaten wie das ­Massaker von Rechnitz oder die NSU-Mordserie abgespielt haben, gezimmert aus Zitaten deutscher Dichter und Denker, die von ­einem Wir raunen, das sich scharf gegen ein Ihr abgrenzt. Nürnbergs Schauspielchef Jan Philipp Gloger, der diese Jelinek-Trilogie als Beitrag zum bundesweiten Theaterprojekt „Kein Schlussstrich!“ inszeniert hat, stellt Extrakte aus „Wolken. Heim.“ als kurzen Prolog an den Anfang des Abends, performt von einem achtköpfigen Ensemble in Hochform, das er tatsächlich auf einem ziegelroten Dach postiert (Bühne Marie Roth) und von den Kostümbildnerinnen Franziska Bornkamm und Anna Lechner als prototeutonische Gestalten hat einkleiden lassen. Wotan ist dabei,

Mechanismen des Verschweigens – „Wolken. Heim. / Rechnitz (Der Würgeengel) / Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek in der Regie von Jan-Philipp Gloger (hier mit Julia Bartolome). Foto Konrad Fersterer

die Loreley, auch ein Hitler-Verschnitt in Trachtenloden sowie ein pechschwarzes Vogelwesen, das an einen Reichsadler denken lässt, beim Finale aber als düsterer Engel der Geschichte und ­Jelinek-Alter-Ego in den Schnürboden entschwebt, hoch über das Hausdach, unter dem zwei Etagen aus dem Bühnenboden in die Höhe wachsen: Schauplätze vorangegangener Szenen, die zwischenzeitlich in der Versenkung verschwunden waren. Einer davon ist eine Art Ruheraum, der buchstäblich vom Wort „Ruhe“ in riesigen Lettern ausgefüllt wird. Mit grimmigem Humor inszeniert Gloger hier ein Wohlfühlrefugium für routinierte Vergangenheitsbewältiger, die meinen, die Geschichte so gründlich aufgearbeitet zu haben, dass sie nicht mehr weiter der Rede wert ist. Jelinek setzt dem Schweigen ihre kalauernden Textschleifen entgegen, mit denen sie menschliche Abgründe so lange umkreist, bis sie in ihrem ganzen entsetzlichen Ausmaß klar umrissen sind. Gloger ist so klug zu wissen, dass er nicht zeigen muss, was die Autorin mit Sprache sichtbar macht. Nicht umsonst ist „Rechnitz“ als Botenbericht konzipiert, in dem all die Schrecknisse nur geschildert werden. In Nürnberg sind aus den Boten beschürzte Bedienstete geworden, die erst Geschirr und Gläser, dann Gewehre auf- und abtragen, während die Nazi-Festgesellschaft nur als Geräuschkulisse zu vernehmen ist, die dumpf durch den heruntergelassenen Theatervorhang dringt. Als das Gelage auf das ­Gemetzel zusteuert, schließt sich zusätzlich der eiserne Vorhang. Die Gewehrsalven ersetzt das Donnern unzähliger Hiebe mit

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e­inem Spaten, den ein Schauspieler auf den Bühnenboden drischt. Es ist einer der eindringlichsten Augenblicke in dieser an Verstörungsmomenten reichen Aufführung, wobei das Monströse der Handlung von „Rechnitz“ in „Das schweigende Mädchen“ zum Grotesken mutiert. Mindestens so sehr wie für die anfangs die Aussage verweigernde Hauptangeklagte des NSU-Prozesses Beate Zschäpe interessiert sich die Inszenierung für das an Ver­ tuschung grenzende Gebaren von Justiz und Polizei. Die Etage des Kulisse gewordenen Gedankengebäudes, in dem Gloger diesen Text ansiedelt, zeigt die Wohnung des NSUTrios, die Zschäpe in Brand gesteckt hat, nachdem die Rechts­ terroristen aufgeflogen waren. Die Schauspieler stecken nun in

Overalls eines Spurensicherungsteams und stochern unmotiviert in der verkohlten Einrichtung herum, so als wollten sie nicht wirklich etwas finden, das sie auf die Fährte von Komplizen des TerrorTrios bringen könnte. Den anschließenden Prozess zeigt Gloger denn auch als Farce mit dimpfeligem Richter. Auf eine Polizei, die die unsägliche Medien-Mär von den Döner-Morden befeuerte, weil sie auf dem rechten Auge blind war, folgt eine Justiz mit nicht minder eingeschränktem Sichtfeld, die vom weitgespannten ­Neonazi-Netzwerk nichts wissen will. Die Mechanismen des Verschweigens haben traurige Tradition in Deutschland. Das geht uns alle an, wie Jan Philipp Gloger mit drei Stücken von Elfriede Jelinek eindrucksvoll belegt. //

Im Namen der Opfer „Die Lücke 2.0“ von Nuran David Calis am Schauspiel Köln von Martin Krumbholz

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ur einmal um die Ecke braucht man zu gehen, um vom Depot, dem Ausweichquartier des Schauspiels Köln, in die Keupstraße zu gelangen, wo im Sommer 2004 in einem Friseurgeschäft der Nagelbombenanschlag stattfand, eines von vielen rechtsterroristischen Attentaten des sogenannten NSU, bei dem glücklicherweise niemand zu Tode kam, aber 18 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Es lag also nah, der Neuinszenierung des Stücks „Die Lücke“ von Nuran David Calis im Rahmen des bundesweiten Projekts „Kein Schlussstrich!“ eine Führung durch das Quartier vorauszuschicken, dessen Geschichte in den sechziger Jahren begann, als türkische Migranten, „Gastarbeiter“, sich

hier ansiedelten, weil die Wohnungen erschwinglich und Arbeitsplätze in der Nähe waren – unter anderem eben jenes Carlswerk, eine Kabelfabrik, in der heute das Theater residiert. 17 Jahre sind seit dem Anschlag vergangen, zehn seit der Enttarnung des NSU, sieben seit der Premiere der „Lücke“ und drei seit dem Ende des Münchner Prozesses, der für viele Opfer, Nebenkläger und Beobachter einen enttäuschenden Ausgang nahm, da die Urteile unterm Strich eher milde ausfielen. Heute wirkt die Keupstraße, jedenfalls auf den ersten Blick, mit ihren vielen Geschäften und Restaurants belebt wie eh und je.

17 Jahre sind seit dem Nagelbombenanschlag des NSU in der Kölner Keupstraße vergangen, doch der Schmerz ist nach wie vor präsent – „Die Lücke 2.0“ von Nuran David Calis. Foto Ana Lukenda


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Doch der Anschlag hat eine Zäsur bewirkt; keinen Stillstand, keineswegs, nur ist die einst greifbare Lebensfreude nicht mehr gänzlich ungetrübt. Das Friseurgeschäft ist verschwunden, an seiner Stelle befindet sich ein Juwelier, doch die Nägel in der Decke und den Wänden sind nie entfernt worden. Ein Mahnmal gibt es übrigens immer noch nicht, in der Aufführung wird darauf hingewiesen. Die Restaurants sind an diesem Freitagabend durchaus belebt, das (post-)migrantische Köln kommt hier zusammen, Familien, auch einzelne Männer. Damals, 2004, sahen Polizei, Staatsanwaltschaft und Presse hinter der „multikulturellen“ Kulisse der Keupstraße offenbar so etwas wie eine opake Parallelwelt, in der sich mysteriöse und obskure Dinge abspielten, Drogenhandel etc. Darin lag vermutlich der Grund dafür, dass die Ermittlungen von Anfang an so einseitig abliefen, immer mit dem Verdacht, bei dem Anschlag müsse es sich um eine innertürkische Angelegenheit handeln, in Form Organisierter Kriminalität. Organisierte Kriminalität stellte auch der NSU dar, im Kern nur drei Täter, aber aller Wahrscheinlichkeit nach unterstützt von einem Netzwerk Gleichgesinnter. Allenfalls die Länge des Münchner Prozesses wurde diesem Umstand gerecht. Der Zorn der Betroffenen ist also nicht wirklich befriedet, der Schmerz über das Geschehene lässt die Familien nicht los. Darin liegt ein wesentlicher Impuls für die Wiederaufnahme und Bearbeitung der Inszenierung von 2014. Calis ging und geht es darum, die Täter-OpferUmkehr zu thematisieren, die These von den fehlgeleiteten „Einzeltätern“ zurechtzurücken und vor allem die Opfer zu Wort kommen zu lassen, deren Bedürfnisse, wie er sagt, stets zu kurz

kämen. Inzwischen sind, wie in Hanau, weitere Anschläge geschehen, darüber hinaus wurden rechtsradikale Sympathien bei Polizei und Bundeswehr bekannt, mit der Folge, dass sich migrantische oder migrantisch aussehende Menschen auf deutschem Boden nach wie vor nicht uneingeschränkt sicher fühlen. Die Aufführung ist äußerlich schlicht, die Gespräche zwischen den Akteuren werden nur durch gelegentliche Videoeinspielungen gegliedert. Es fällt dabei auf, dass die zwei Gruppen auf der (ebenfalls schlichten) Bühne sich nie wirklich vermischen. Am Anfang sind sie sogar optisch deutlich voneinander getrennt: hier die beiden deutschen Profis (die Schauspieler Kristin Steffen und Stefko Hanushevsky), dort die drei (post-)migrantischen ­Laien (Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir, Kutlu Yurtseven). Die Profis gebärden sich als gutwillige Liberale, deren moderate Grundhaltung hin und wieder mit einem Schuss Naivität, manchmal auch Borniertheit gewürzt ist. Das ist wohl Absicht, ein Kunstgriff, der den durchaus didaktischen Ansatz der Aufführung befördert. Die Laien (zwei von ihnen sind in Köln geboren) geben sich auskunftsfreudig, gesprächig, engagiert, die gutartige Naivität ihrer Gesprächspartner kontern sie mit freundlichem Bescheidwissen, bisweilen auch mit lautstarker Empörung. Einen spürbaren Dissens zwischen diesen und jenen gibt es nicht, aber auch keine wirkliche Verschmelzung. Es bleibt: eine „Lücke“. Aus dem anfangs bekundeten Befremden entwickelt sich allenfalls eine behutsame Sympathie. // Theater der Zeit ist Medienpartner des Projekts „Kein Schlussstrich!“.

Extend

it!

Dezentrale Konferenz zum Jetzt und Morgen des Figurentheaters 03. bis 05. Dezember 2021 Fr 03.12. Writing Class onsrunde

Eröffnung

Leipzig | Berlin | Stuttgart | online

Zocken & Chatten Online-Gaming & Gespräche

StageTest Künstler*innen-Gespräch & Präsentation

Sa 04.12. Nächste Station: DOGMA Standortbestimmung: Figurentheater Diskussi-

So 05.12. Produktionshäuser der Zukunft Diskussionsrunde

runde zu Kulturjournalismus

Abschluss

Future? Unwritten Diskussions-

Aufführungen: Das Jahr des Hasen Kompanie mikro-kit & Ales-

sandro Maggioni Nachtgesänge Christoph Bochdansky & Die Strottern horror vacui Gerda Knoche, Helga Lázár (Tryout) Über die Felder und dann nach links [5+] Hör- und Schaubühne Die Blumengeschichte [5+] Christoph Bochdansky & Die Strottern

F I G U R E N T H E A T E R

WESTFLÜGEL LEIPZIG

www.allianz-figurentheater.de

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Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Radikale Freude Jchj V. Dussel entwirft ein Theater des Spaßes, in dem Lachen zum politischen Moment der Befreiung wird

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iederabend, Schlafworkshop oder Schauspielinszenierung? Ein Abend von oder mit Jchj V. Dussel ist wie eine Wundertüte. Sparten, so scheint es, sind für j1 lediglich Mittel, um durch variable Nutzung möglichst vielfältige Zugangswege zu einem Thema zu schaffen und damit so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Und die sollen vor allem eines erleben: den befreienden ­ Moment der Freude. Egal, wie dystopisch das Thema, wie komplex das Diskursfeld oder wie sperrig der Zugang zunächst sein mag. Jchj V. Dussel, geboren 1988, studierte in Braunschweig und Istanbul freie Kunst in den Bereichen Performance, Video, Malerei und freies Schreiben. Am Studio R des Maxim Gorki Theaters Berlin schrieb und inszenierte j 2016 den Text „Laufsteak_In*“ und wurde im selben Jahr mit dem Stipendium der Autor·innen­werk­statt Prosa des Literarischen Col­ loquiums Berlin ausgezeichnet. Gemeinsam mit Moritz Sauer gründete Dussel 2018 das Performance-Duo Br*other Issues, dessen Schlafworkshop „Day­ dreams & Nightscreams – 10 Steps to succeed in Sleep“ beim Festival Spieltriebe 8 am Theater Osnabrück zu den unterhaltsameren Aufführungen gehörte. Gemeinsam arbeiten sich die beiden darin als „selbsternannte Expert:innen für positive und nachhaltige Regeneration“ aneinander und an den Bedürfnissen des Publikums ab: Sie probieren Hypnosetechniken, witzeln über ASMR oder lassen die Zuschauerinnen und Zuschauer Schlafmantras rufen. Das Ganze macht Spaß, man lacht als Zuschauender mitunter herzlich, und dennoch läuft einem zwischendurch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn man sich fragt: Was, wenn die Verwertungslogiken unserer kapitalis­ tischen Leistungsgesellschaft bis in den privatesten Raum – unseren Schlaf – getrieben werden? Dussel und Sauer vermitteln 1    Statt der Pronomina er oder sie verwendet Jchj. V. Dussel j als Pronomen.

Kapitalismuskritik, und das ganz ohne einen 800-seitigen Philosophie-Schinken. Spaß und Freude, das heißt bei Dussel nicht, lachen bis der Bauch wehtut – das passiert zwar auch, aber nicht ausschließlich. Js Text „Dark Room“, der 2019 am Staatstheater Hannover uraufgeführt wurde, begibt sich in die dunklen Neben- und Hinterräume von Bars, Discos, Saunen und Klubs der queeren Szene. Dussel gewährt den Figuren etwas, das ihnen im Alltag sonst oft verwehrt wird: die Freiheit, Freude an und mit ihren Körpern zu empfinden. So heißt es im Stücktext: „Im Dark Room muss ich nicht gemocht werden oder dir optisch gefallen. Scheiß auf Make-upMasken, tickende Biologie … Alle hinderlichen, demographischen Kontexte sind hier zwischen uns aufgehoben.“ Dussel leistet mit „Dark Room“ wichtige aufklärerische Arbeit. J geht es um sexuelle Befreiung, darum, sich mit der eigenen Lust in allen Facetten zu beschäftigen und dadurch gängige, von einer heteronormativen Gesellschaft geprägte Klischees auf den Prüfstand zu stellen. Diese Arbeit will Dussel nun als Stipendiat des Instituts für Digital­ dramatik am Nationaltheater Mannheim fortführen. Gemeinsam mit acht weiteren Künstlerinnen und Künstlern wird j dort die Möglichkeiten digitaler Theaterarbeit erforschen. Einen besonderen Stellenwert nimmt für Dussel dabei die Frage nach der Autorinnen- beziehungsweise Autorschaft im und für den digitalen Raum ein. Dort sieht j die Chance, noch mehr Menschen mit js Themen zu erreichen. Menschen, die sich vielleicht weder in eine Performance noch in ein Stadttheater setzen können oder würden. Js aktuelle Anliegen: Klimakrise und Agrarpolitik. Dabei sind für Dussel vor allem kleine Formate interessant. GIFs etwa, die sich erst durch permanente Wiederholung in das kollektive Bewusstsein schreiben und dort meist eines stiften: Freude. Für Dussel ist Freude ein politisches Moment, das auch oder gerade im Theater ein wirkungsvolles Mittel sein kann, Macht- und Bedrängnisstrukturen zu reflektieren, um sich anschließend von ihnen lösen zu können. // Lina Wölfel Jchj V. Dussel. Foto Leonie Ott

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Look Out

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Die koloniale Matrix Joana Tischkau zählt mit ihren rassismuskritischen Arbeiten zu den spannendsten Performance-Macherinnen ihrer Generation

n der Performance „Being Pink Ain’t Easy“ thront der weiß gelesene Performer Rudi Äneas Natterer in einem rosafarbenen Fellmantel, darunter Sportoutfit, mehrere Halsketten und Tattoos, auf einem Schemel im leeren Bühnenraum und begibt sich fast statuarisch in verschiedene Posen. Mal meint man, in der Körperhaltung Zitate aus Gemälden der europäischen Kunstgeschichte wiederzukennen, mal ruft sie eher Assoziationen zu inszenierter schwarzer Männlichkeit aus Musikvideos amerikanischer Hip-Hop-Künstler hervor. Die Aufführung seziert dabei die Produktion einer übersteigerten, weißen Männlichkeit, die sich aus der Aneignung einer (stereotypisierten) schwarzen Popkultur speist. Mit welcher Selbstverständlichkeit die weiße Dominanzgesellschaft kulturelle Aneignungsprozesse vollzieht und inwieweit zuvorderst die Musikund Unterhaltungsbranche an der machtvollen Fortschreibung rassistischer Klischees (von Black­ ness) mitwirkt, sind die zentralen Sujets in den Arbeiten der Tänzerin, Performerin und Choreo­ grafin Joana Tischkau. Die 1983 in Göttingen geborene Künstlerin hat Tanz und Schauspiel in Großbritannien sowie Choreografie und Performance in Gießen studiert. Ihre Abschlussarbeit „Playblack“ wurde in diesem Jahr unter dem Titel „The Blackest Black Show“ in ergänzter Form wiederaufgenommen. Darin wird vorgeführt, wie weiße Sängerinnen wie Nina Hagen oder Lucy Electric sich bestimmte schwarze Codes und Styles angeeignet haben, ohne dies zu thematisieren, es wird an DJ Bobo erinnert, der seine Titelrefrains von einer schwarzen Sängerin einsingen ließ, aber stets nur seine weiße Partnerin, playback performend, mit auf Tour nahm, und es wird am Beispiel von Michael Jackson und seinem Song „Black or White“ heraus­ gestellt, in welchem Maße die Musikbranche von systemischer colorblindness geprägt ist, indem sie so tut, als würde Haut­

Joana Tischkau. Foto Dorothea Tuch

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farbe keine Rolle spielen, als agierte sie in einer fiktiven nichtrassistischen Parallelwelt. Dass es im Originalformat der „Mini Playback Show“ gerade Kinder sind, die in die kulturelle Strategie der Aneignung und äußerlichen Nachahmung eingeübt werden, bezeugt nicht zuletzt die epistemische Gewalt von Whiteness in der (post)kolonialen Matrix der Gegenwart. Das Thema setzt sich in der fiktiven Institution „Deutsches Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music“ fort, die Joana Tischkau unter anderem gemeinsam mit Anta Helena Recke entwickelt hat, mit der sie eine mehrjährige, enge Arbeitsbeziehung pflegt, insofern beide in den Produktionen der je anderen regelmäßig in mit­ wirkender oder beratender Funktion dabei sind. Das fiktive Museum stellt die Platten, CD-Cover, TV-Mitschnitte oder Poster von afrodeutschen Menschen wie Roberto Blanco, Mo Asumang, Arabella Kiesbauer oder Joy Denalane aus und zeigt entlang ausgewählter, medialer Repräsentationsgeschichten und der Produktionshintergründe, wie es häufig weiße Produzenten waren, die ihre „Stars“ in einem Spektrum von Exotisierung bis Em­ powerment zum Beispiel als ­postrassistische Fantasie (Les Humphries Singers) oder feministische Casting-Alternative zur weißen, männlichen DeutschHip-Hop-Domäne (Tic Tac Toe) (mit)fabrizierten. Wer diese Produktionen verpasst hat, kann sich aktuell noch die während der Pandemie entstandene, dreiteilige, inhaltlich anschließende und absolut geniale Videoarbeit „Colonastics“ online anschauen sowie sich auf „Karneval“ freuen, Joana Tischkaus erste Produktion am Theater Oberhausen, die am 14. Januar 2022 Premiere hat. Und dabei nicht nur aus einer feministischen PoC-Perspektive einiges über Critical Whiteness lernen, sondern auch eine der meines Erachtens spannendsten und wichtigsten Performance-Macherinnen ihrer Generation entdecken. Theresa Schütz

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Auftritt Berlin

Dessau „Die Räuber“ von Friedrich Schiller  Düsseldorf „Kleiner Mann – was nun?“ von Hans Fallada  Graz „Eleos. Eine Empörung in 36 Miniaturen“ (UA) von Caren Jeß und „Garland“ (UA) von Svenja Viola Bungarten  Hannover „Slippery Slope“ (UA) von Yael Ronen, Shlomi Shaban, Riah May Knight und Itai Reicher

„Ein Mann seiner Klasse“ (UA) von Christian Baron


auftritt

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BERLIN Stich in die Twitter-Blase

Auftritt wagt. Gustav – zuvor ein geübter

einlädt, um sie gleich darauf zu torpedieren,

Anwanzer an Klezmer wie an haitianischen ­

macht diesen Abend zum Highlight in einer

Voodoo – ist über die Affäre mit der jungen

Theaterlandschaft, die in puncto moralischen

Sängerin Sky gestolpert, die er für ein Roma-

Bescheidwissertums den Twitter-Blasen meist

Projekt „entdeckt“ hat (Ronens eigene Insze-

nicht viel nachsteht. // Patrick Wildermann

nierung „Roma Armee“ am Gorki lässt grü-

MAXIM GORKI THEATER: „Slippery Slope“ (UA) von Yael Ronen, Shlomi Shaban, Riah May Knight und Itai Reicher Regie Yael Ronen Bühne Alissa Kolbusch Kostüme Amit Epstein

ßen). Was ihm einen satten Strauß an Vorwürfen eintrug, gebündelt im „Accusation Song“, einem fulminanten Anklage-Lied: kulturelle Aneignung, rassistische Auslegung,

DESSAU

Machtmissbrauch und Degradierung, finan­ zielle Ausbeutung, bemäntelt als „Koopera­ tion“. Schon eine dieser Verfehlungen hätte

Pioniere, voran!

für den Karrieresturz genügt. Sky – von der lässig-präsenten Riah

ANHALTISCHES THEATER: „Die Räuber“ von Friedrich Schiller Regie Milan Peschel Ausstattung Nicole Timm

Das Beste an Twitter ist ja, dass man sich dort

May Knight im extrovertierten Gaga-Gewand

jederzeit gratis die Gewissheit abholen kann,

aus Kuscheltieren gespielt (Kostüme Amit

auf der richtigen Seite zu stehen. Ein woker

Epstein) – hat es derweil zur TikTok-Größe mit

Tweet, eine pointierte 280-Zeichen-Attacke

90 Millionen Followern gebracht, während

gegen irgendein zweifelsfreies Fehlverhalten –

Gustav mit 5000 Facebook-Getreuen zurück-

schon gibt es die Selbstbelohnung als Moral-

geblieben ist und die Mailbox der Verflosse-

Wie sich das wohl verträgt, das testosteron-

bonbon, während der geschmähten Person die

nen

Liebeskummerbe-

haltige Schiller’sche Frühwerk „Die Räuber“

Wucht des verdienten Shitstorms ins Gesicht

kenntnissen zumüllt. Aber auch Sky trifft der

und der kraftstrotzende Regisseur Milan

schlägt. Ein anschauliches und zu Prominenz

Sturm der gerechten Entrüstung im Netz: Hat

­Peschel? Bestens – insofern, als die Fallstricke

gelangtes Beispiel aus jüngerer Zeit: dieser

sie nicht Gustav benutzt, um sich hochzu-

des Stücks allesamt umschifft werden, weil

antisemitische Mitarbeiter eines Leipziger ­

schlafen? Hat sie nicht „ihre Leute“ verraten?

Peschel sich in seiner ironiegeladenen Insze-

­Hotels (Ostdeutsche, wen wundert’s!), der den

Die pfiffige feministische Journalistin Stanka

nierung für die Handlung des Dramas genau-

Musiker Gil Ofarim aufgefordert hat, seine

(Vidina Popov) sieht das anders – und über-

so wenig interessiert wie für den Marbacher

Hals­kette mit Davidstern abzulegen, wenn er

zeugt Sky (die Gustav eigentlich für manches

Nationaldichter selbst, wenngleich er ihm

denn einchecken wolle. Klare Fronten im

dankbar ist) von ihrer Vorzeigerolle als Ernied-

eine Rolle in das Stück schreibt. Peschel,

Skandal. Kleiner Wermutstropfen: dass bis

rigter und Beleidigter. Was die Sache einmal

ganz und gar Veteran der Berliner Volksbüh-

heute fraglich ist, wer wirklich was gesagt hat,

mehr kompliziert macht: Stanka arbeitet

ne, hat als Schauspieler von Frank Castorf

ob Ofarim die Kette überhaupt trug, für wen

für Chefredakteurin Klara (furios abgefeimt:

gelernt. Und nun trägt er etwas rebellischen

die Unschuldsvermutung gilt. Nichts stört das

Anastasia Gubareva), die erstens mit Gustav

Geist aus den neunziger und nuller Jahren,

schöne Schwarz-Weiß mehr als nervtötende

verheiratet ist. Und zweitens an ihren Posten

Dramendekonstruktion und Würstchenwürfe

Uneindeutigkeit.

durch einen auch nicht ganz astreinen Karriere-

(ohne Kartoffelsalat) inklusive, in die Welt.

Move gelangt ist.

Zum Beispiel ans Anhaltische Theater Dessau.

Am Berliner Maxim Gorki Theater hat

mit

erbärmlichen

die Regisseurin Yael Ronen jetzt ein Quasi-

„Slippery Slope“ – von Yael Ronen und

Hier lässt er Räuber Roller, gespielt von

Musical zur Premiere gebracht, das die Ofarim-

Songwriter Shlomi Shaban zusammen mit

Sebastian Graf, den Anfang machen. Die Büh-

Debatte an Komplexität mehrfach locker

Riah May Knight und Itai Reicher entworfen –

ne ist mit einem schwarz-weiß-roten (Piraten-)

überbietet und mit herrlich mitreißender Er-

brennt auf dem rutschigen Grund der vor

Segel verhangen, eine halbhohe Wand davor in

schütterungslust am Gut-gegen-Böse-Gefüge

Fettnäpfchen wimmelnden Debatten um

Schwarz. Da kommt Roller, nur mit einer Gitarre

der Twitter-Gemeinde und ihrer Geistesver-

Cancel Culture, #MeToo, Identitätspolitik, ­

bewaffnet, und singt so schön und gefühlvoll

wandten rüttelt. „Slippery Slope“ erzählt von

victim blaming & Co. ein Feuerwerk an Witz,

Wolf Biermanns „Ermutigung“, dass es fast

dem Ethno-Schnulzen-Musiker Gustav (eine

Intelligenz und Verwirrungsreichtum ab. Auf

schmerzt. „Die allzu spitz sind, stechen / Und

Wucht unter der blonden Langhaarperücke:

der von schrägen Laufstegen durchzogenen

brechen ab sogleich“. Da ist man nicht un-

Lindy Larsson), der nach vier Jahren in der

Showbühne von Alissa Kolbusch entwickelt

glücklich, als ihn Karl Moor, den Niklas Herz-

Cancel-Culture-Verbannung seinen Comeback-

sich eine rasante, auch musikalisch sprühen-

berg gibt, gewaltsam zum Aufhören zwingt.

Comeback nach mehrjähriger Cancel-CultureVerbannung – Lindy Larsson rockt als Ethno-Schnulzen-Musiker Gustav mit seinen Kolleginnen das Berliner Gorki Theater in Yael Ronens Inszenierung „Slippery Slope“. Foto Ute Langkafel/Maifoto

de Selbstdarsteller-Revue voller Anspielun-

Überhaupt geht es musikalisch-asso­

gen, die bei aller Vergnüglichkeit und aller

ziativ zu bei dieser Inszenierung. Das elf­

Freude an der Überzeichnung durchaus an

köpfige Ensemble hat sichtlich Freude beim

Schmerzpunkte rührt (zuletzt ist ja auch die

Parcours durch Sturm und Drang. Nicole

Gorki-Intendantin Shermin Langhoff selbst

Widera spielt durchaus eindrucksvoll die ­

mit einigen Stück-verwandten Vorwürfen kon-

Amalia. Und weil’s die Klangverwandtschaft

frontiert worden). Allein die Hochtourigkeit,

zulässt und auch bei Schiller ein bisschen

mit der Regisseurin Ronen zu Parteinahmen

Patriarchat wütet, kommt sie mit Heiner Müllers

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auftritt

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Das Trauerspiel als Farce – Milan Peschel interessiert sich als Regisseur am Anhaltischen Theater Dessau vor allem für die pubertäre Präpotenz in Schillers Frühwerk „Die Räuber“, hier mit Henning Hartmann und Roman Weltzien (v. l.). Foto Claudia Heysel

sammenhängen muss. Aber wie genau, das wüsste man dann doch gerne. Die anarchische Aneignung von Schillers Text mag auf den ersten Blick sympathisch daherkommen. Aber wenn die Freiheit, die man sich hier nimmt, nicht genutzt wird, um etwas zu erzählen, verlässt man unbefriedigt das Theater. Der Vorhang fällt dann auch vor dem letzten Akt, niemand muss sterben in dieser „Räuber“-Inszenierung. Stattdessen zum Abschluss noch mal Biermann: „Dass wir die Waffen strecken / Schon vor dem gro„Hamletmaschine“ um die Ecke: „Ich bin

Maximilian (Roman Weltzien), sind allesamt

ßen Streit“. Großer Streit? Nicht an diesem

Amalia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die

nur Witzfiguren. Die Auseinandersetzung zwi-

Abend. //

Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnitte-

schen aufgeklärter Vernunft und emotionalem

nen Pulsadern“. Apropos Heiner Müller: Der

Eifer passt nicht schlecht in die aufgeriebene

hatte seine Gründe, an die Möglichkeit, im 20.

Jetztzeit. Aber die Chance, dieser Fährte

Jahrhundert noch eine Tragödie schreiben zu

nachzugehen, wird vertan.

können, nicht mehr zu glauben. Nun führt

Peschel interessiert sich mehr für die

­Peschel uns vor, dass ihm auch ein Trauerspiel

pubertäre Präpotenz, die dem Räuberauf-

aus dem 18. Jahrhundert nur noch zur Farce

stand innewohnt. Die Rebellen um Karl Moor

gereicht. Und so ist auch diese Amalia mit ih-

sind wirre Träumer, Alkoholiker, Pfandsamm-

ren durchaus ernst zu nehmenden Problemen

ler. So eindrücklich dieses Bild auch ist, sind

nur eine Vorlage für eine ironisierte Metaebene.

Zweifel angebracht, ob hier der Witz auf Kos-

Erik Zielke

DÜSSELDORF Am großen Laufrad drehen SCHAUSPIELHAUS: „Kleiner Mann – was nun?“ von Hans Fallada Regie Tilmann Köhler Bühne Karoly Risz Kostüme Susanne Uhl

An Einfällen mangelt es dem Regisseur

ten der Richtigen geht. Wenn sich der Vor-

wirklich nicht. Und zu keiner Zeit fühlt man

hang hebt und die schwarze Wand in der Ver-

sich in dieser neunzigminütigen Inszenierung

senkung verschwindet, zeigt sich dann auch

gelangweilt. Aber die angeworfene Unterhal-

ein verfremdeter Sowjetstern. Nun geht es

tungsmaschinerie führt letztlich zu nichts,

pseudosoziologisch ans Eingemachte. Pio-

jedenfalls nicht zu Erkenntnissen. Der Kla-

nierlied für Pionierlied und Kampflied für

mauk regiert an diesem Theaterabend. Die

Kampflied – das Publikum schunkelt bereit-

Das Gelingen einer Aufführung lässt sich

drei Moors, der orientierungslose Rebell Karl,

willig mit – wird gewissenhaft vorgeführt, dass

nicht programmieren, doch manchmal ist es

der neoliberale Pappkamerad Franz (Henning

ziemlich viel Idiotie auf der Welt Platz hat und

(scheinbar) einfach eine Frage richtiger Ent-

Hartmann) und der egozentrische Potentat dass das doch irgendwie mit dieser DDR zuanzeige 178x50 2021 01_ktl 09.11.21 14:30 Seite 1

scheidungen. Text, Regie, Bühne  /Kostüm,

12 2021

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DIE WAND VON MARLEN HAUSHOFER ALLES WAS SIE WOLLEN VON MATTHIEU DELAPORTE/ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE MEDEA NACH EURIPIDES GEIERWALLY VON DIANA ANDERS

kleines theater KAMMERSPIELE Landshut


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Besetzung. In diesem Fall war es wieder ein-

ein eher plattes Symbol für die soziale

mal so weit. „Kleiner Mann – was nun?“ nach

­Maschinerie sein, in die Pinneberg gerät, in

dem berühmten Roman von Hans Fallada war

der er sich „abstrampelt“: Seine Frau Emma

schon längst geprobt, während des ersten

(„Lämmchen“) erwartet ein Kind, den Mur-

Lockdowns im letzten Winter, musste einge-

kel, und die ökonomische Situation ist mies.

mottet werden und hatte jetzt endlich Premi-

Dafür wird das Rad von den beiden Haupt­

ere. Die Geschichte des Buchhalters und Ver-

akteuren, André Kaczmarczyk und Lea Ruck-

käufers Hannes Pinneberg, der während der

paul, grandios bespielt.

Schwindelerregende Turnübungen in den Mühlen der Sozialmaschinerie – André Kaczmarczyk als Pinneberg und Lea Ruckpaul als Lämmchen in Tilmann Köhlers Düsseldorfer Fallada-Inszenierung „Kleiner Mann – was nun?“. Foto Thomas Rabsch

proletarische Angewohnheit sei. Schwerer

Rezession um 1930 einen Job nach dem an-

Dass die beiden sich kein einziges Mal

fällt da schon ins Gewicht, dass Pinneberg

deren verliert und der doch seine kleine Fami-

in den Arm nehmen, hat vermutlich mit der

keiner ordentlichen Arbeitergewerkschaft an-

lie schützt und erhält, ist erstmals vor fast

Probensituation im Lockdown zu tun. Doch es

gehört. Kaczmarczyk wiederum persifliert

fünfzig Jahren in einer legendären Inszenie-

fällt zunächst kaum auf, da das szenische

brillant Pinnebergs Mama, die ihrerseits die

rung von Peter Zadek auf die Bühne des

Spiel trotzdem alles andere als körperlos ist.

mondäne Dame gibt, geübt darin, Zigaretten

Bochumer Schauspielhauses gebracht wor­

Es macht den Zuschauer fast schwindelig,

und vermögende Männer zu verbrauchen.

den; seinerzeit waren Romanadaptionen noch

wie hier geturnt wird, ohne dass die Artistik

An dieser Stelle kommt nach einer hal-

gar nicht üblich.

sich je effekthascherisch verselbständigte.

ben Stunde der Dritte im Bund ins Spiel:

Tilmann Köhler macht es in Düsseldorf

Das Beste daran aber ist, wie die beiden im-

­Sebastian Tessenow in der Rolle des Jach-

ganz anders, und er macht es wunderbar. Hier

mer wieder in die „restlichen“ Rollen schlüp-

mann, des derzeitigen Lovers der Pinneberg-

stehen keine Heerscharen von Komparsen

fen (und gerade das hätte der aus dem Vollen

Mama. Auch diese Entscheidung leuchtet

und Revuetänzern auf der Bühne; man

schöpfende Zadek sich keinesfalls träumen

ein, denn das pure Doppel könnte bei aller

kommt fast provozierend genügsam mit gan-

lassen). Ruckpaul etwa, die schon als Lämm-

Souveränität der Spieler nach einer Weile

zen drei Akteuren aus. Ein vierter wesent­

chen eine Wucht ist, mimt gleich hintereinan-

­ermüden. Überdies bringt Tessenow, in im-

licher Akteur ist allerdings das riesige Lauf-

der Emmas Eltern, echte Berliner Schnauzen,

mer anderen, immer groteskeren Kostümen

rad, das Karoly Risz unter das Portal gerückt

die den Umstand, dass ihr Schwiegersohn in

­(Susanne Uhl), eine weitere Facette auf die

hat und das am Schluss, sich drehend, in den

spe sich bei Lämmchen einen sogenannten

Bühne: die des oberflächlichen, etwas zwie-

Hintergrund der dann leeren Bühne gefahren

„Vorschuss“ genommen hat, augenzwinkernd

lichtigen Gönners, eine Art Kontrastmittel zur

wird. Ein Laufrad, ein Hamsterrad, das könnte

billigen, weil so etwas angeblich eine typisch

so liebenswerten, geradezu anrührenden


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auftritt

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­Humanität des Paars im Mittelpunkt. Als Trio sind sie unschlagbar, und Tessenow muss nicht einmal turnen, nur seine langen Beine, abwechselnd von rechts und von links auftretend, gleichsam von außen um das Laufrad schlingen, in dem Pinneberg und Lämmchen sich so bewundernswert verausgaben. Tilmann Köhler ist es nicht darum zu tun (wie dem zweifellos großartigen Zadek), dem Stoff irgendwelche Showeffekte abzutrotzen, und dennoch ist seine Inszenierung alles andere als spröde. Sie nimmt den Roman und dessen Zuneigung zu den Figuren ernst, stört sich nicht an seinem eher alt­ modischen Erzählgestus, ergänzt ihn aber um lustvoll-spielerische Zutaten. Was hier in gut zwei Stunden abgeht, kann kein Kino. // Martin Krumbholz

GRAZ Stichwort Klimawandel. Exemplarisch dafür

In der Referenzhölle

präsentierte sich die erste Novemberwoche, wo binnen weniger Tage gleich zwei Urauf­ führungen vielversprechender Autorinnen in

SCHAUSPIELHAUS: „Eleos. Eine Empörung in 36 Miniaturen“ (UA) von Caren Jeß Regie Daniel Foerster Ausstattung Mariam Haas, Lydia Huller und Robert Sievert „Garland“ (UA) von Svenja Viola Bungarten Regie Anita Vulesica Bühne Frank Holldack Kostüme Geraldine Arnold

Haus Eins und Haus Zwei aufeinanderfolgten. Dass der Klimawandel, der sich längst als dominierendes Thema im Diskursgesche-

Einmal im Leben ein Projekt nicht gegen den Baum fahren – davon träumt Film­ regisseur Salvatore Brandt in Svenja Viola Bungartens neuem Stück „Garland“ in Graz, hier mit Lukas Walcher, Katrija Lehmann und Frieder Langenberger (v. l.). Foto Lex Karelly

hen etabliert hat, in den Theaterspielplänen unterrepräsentiert ist, dürfte eine wenig ori­

pop- und subkulturellen Referenzen, die sei-

ginelle Diagnose sein. Warum schweigt das

ne Autorin auch als Verwandte jener Freaks

Theater hier zumeist, warum sind CO2-Grenz-

vorstellt, von denen sie da erzählt.

werte und die Erderwärmung, schmelzende

Aber der Reihe nach. Bungarten be-

Gletscher und brennende Wälder auf der

schreibt den verzweifelten Versuch des Film-

­Bühne so schwer zu verhandeln? Svenja Viola

regisseurs Salvatore Brandt (leidenschaftlich

Bungarten hat mit „Garland“ versucht, sich

interpretiert von Frieder Langenberger), ein-

diese Frage ernsthaft zu stellen und mögliche

mal im Leben ein Projekt umzusetzen, das

künstlerische Perspektiven aufzuzeigen. In

nicht floppt: einen Katastrophenfilm, an des-

Am 8. November 2021 wurde eine neue

der Regie von Anita Vulesica wurde der Erst-

sen Ende alle tot zu sein haben. Zeitgleich

Intendantin für das Schauspielhaus Graz ­

ling der 1992 in Koblenz geborenen Autorin

geistert eine todkranke Judy Garland (eben-

präsentiert. Andrea Vilter wird ab 2023/24 ­

nun in Haus Eins, der großen Bühne des

falls stark: Evamaria Salcher) durchs Land

Iris Laufenberg ablösen. Dass Laufenberg

­Grazer Schauspielhauses, uraufgeführt.

und sucht singend nach ihrer Tochter. Dazu

Graz für das Deutsche Theater Berlin verlässt,

Es ist mehr als mutig, das Stück einer

verschränken sich Handlungselemente des

ist bereits seit mehr als einem Jahr bekannt.

hierzulande Unbekannten – noch dazu zu ei-

„Zauberers von Oz“, dem US-Filmmusical, des­

So ergibt sich für die Theaterleitung in der

nem Missions- oder mindestens Agitprop-

sen Star Garland war, mit Brandts Filmdreh-

Murstadt ein atmosphärisches Delta, das (von

verdächtigen Thema – auf die große Bühne zu

szenen: Dorothee Sturm (Katrija Lehmann),

den Unwegsamkeiten der Corona-Situation

holen. Aber die oben angesprochene Risiko-

ein Waisenmädchen mit Greta-Thunberg-­

einmal abgesehen) mit maximaler Freiheit

bereitschaft relativiert sich bereits mit den

Zöpfen, ist als vermeintliche Brandstifterin

gestaltet werden darf. Und tatsächlich: Lau-

ersten Szenen. Bungartens Text stellt sich

auf der Flucht, wobei sie gerne und nur ganz

fenberg nutzt diese Freiheit. Für mehr Risiko.

nicht als Risikofaktor dar. Er ist mit seiner

schnell mal die Welt retten würde. Sie kommt

Neue Texte dominieren das Programm, dazu

Film-im-Stück-Verschachtelung klug gebaut

bei Tante Em und Onkel Henri (wundervoll

explizites gesellschaftspolitisches Engage-

und dabei geradezu klassisch in seiner dra-

komisch: Beatrice Frey und Rudi Widerhofer)

ment und über allem die Überlegung, wie

matischen Struktur, er hat Handlung, Humor,

unter, die mit ihrer Farm, pardon: ihrer Land-

sich das Theater zu drängenden Fragen der

ironisiert sein schwieriges Thema an allen

wirtschaft, gerade wegen anhaltender Dürre

Zeit verhalten kann. Stichwort Migration,

Ecken und Enden. Und er ist gespickt mit

Pleite gingen. Und dann sind da noch die


auftritt

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Radiomoderatorin Lorna Luft (Lisa Birke ­

Mutter gezeigt, ein treffend jämmerliches Bild

­Balzer), in deren unerträglich heißem Studio-

zum Zustand von Mutter Erde abgibt.

Zusammenarbeit: Mit der Grazer Uraufführung ihres Stückes „Bookpink“ wurde sie

Container sich die Figuren dieses Stücks die

Anita Vulesicas Regie dürfte vor der

2020 für den Mülheimer Dramatikerpreis

Klinke in die Hand geben, sowie Brandts

Referenzhölle, die der Text birgt, kapituliert

nominiert und in der Folge zur Nachwuchs-

Bruder (Lukas Walcher), ein unglücklicher ­

haben, sie lenkt die Aufmerksamkeit lieber

dramatikerin des Jahres gekürt. Nun legt sie

Polizist. Und, nicht zu vergessen: Inspizient

auf seine komischen Seiten. Dramatische

hier mit „Eleos. Eine Empörung in 36 Mini-

Otto Kolleritsch wurde (äußerst glaubwürdig)

Loops, die sich ergeben, wenn Brandt hek-

aturen“ auf der Nebenbühne eine weitere

als Set-Manager besetzt.

tisch, aber unzufrieden Filmszenen wiederho-

Weltpremiere vor.

All das siedelt Bungarten in Amerika an,

len lässt, bieten gelungene Slapstick-Momen-

Der klangmalerisch und virtuos kompo-

einem real existierenden Örtchen bei Penig in

te, erinnern aber zugleich daran, dass im

nierte Text verleitete, so ließe sich vermuten,

Mittelsachsen. Dieses Mittelsachsen erinnert

echten Leben (Stichwort Klimawandel, erra-

zu puristischer Interpretation, jedoch: Regis-

jedoch nicht nur in der von Frank Holldack

ten!) nicht zurück­gespult werden kann. Ver-

seur Daniel Foerster interessiert genau das gar

­gestalteten Bühne stark an einen nostalgisch

knüpft mit der Schwere, die die Titelfigur

nicht. Und das ist gut so. Wo Jeß gewitzte

in der Hitze flirrenden Südwesten der USA –

durch den Abend schleppt, ergibt sich so ein

Sprachmusik gezaubert hat, die immer wieder

ein dystopisches Szenario und zugleich ein

atmosphärisches Spannungsfeld, das starke

auch Fragmente von Geschichten über Eleos

Verwirrspiel mit Zeitperspektiven und popkul-

Momente zeitigt (etwa wenn Evamaria Sal-

(hier frei nach Aristoteles das große Jammern)

turellen Klischees. Der Titel Garland kann

cher vorführt, wie genau ein Lachen im Hals

erzählt, spinnt Foerster diese weiter und legt

dann mit etwas Fantasie auch kulinarisch ge-

stecken bleiben kann), zugleich aber der Ko-

– mitunter mehr mitteilsam als poetisch – in

lesen werden: als ein von der Hitze irgendwann

mik das Tempo raubt. Eine Produktion, die

jeder dieser Miniaturen einen pointierten Mi-

zu Tode gegarter Fleck Erde. Noch deutlicher

sehr viel will – und so einiges davon einlöst.

ni-Plot frei. Dazu wird die T ­ heatermaschine

aber drängt sich eine metaphorische Lesart

Für die zweite Uraufführung hat die

angeworfen, als gelte es, das Haupthaus zu

auf, nach der die titelgebende Heldin des Re-

Dramatikerin Caren Jeß den Text geliefert.

rocken. Drei Ausstattungskünstler (Mariam

genbogens (siehe ihr Hit „Somewhere over the

Jeß (Jahrgang 1985) und das Schauspiel-

Haas, Lydia Huller und ­Robert Sievert) haben

Rainbow“), hier als ausgemergelte kaputte

haus Graz verbindet bereits eine erfolgreiche

die Bühne bis zum Rand mit einem WellnessResort vollgeräumt. Drinnen geht – teils unsichtbar – die Post ab, draußen werden Ausschnitte als Livestream an die Wand geworfen (Video ­ Simon Baucks, Livekamera Timo Neubauer). In Social-Media-Manier wird da ­ dem Publikum von hinter der Fassade erzählt. Metaphorisch betrachtet, stülpt sich in Augen­ blicken der Empörung die innere Wut nach außen. So legen Jeß und Foerster den Finger nicht zuletzt auf schmerzhafte Widersprüche zwischen der Insta-Inszenierung ­einer schönen Scheinwelt, in der alles Häss­liche ausgeblendet oder wegretuschiert ist, und dem unschönen Hass, der die zuweilen so unsozialen Netzwerke geradezu pandemisch zu durchdringen vermag. Dabei setzt sich das große, großartige und vor allem grandios spielwütige Ensemble (Henriette Blumenau, Daria von Loewenich, Sarah Sophia Meyer, Oliver Chomik, Nico Link, Alexej Lochmann, Raphael Muff, Susanne Konstanze Weber) in jeder Szene in Szene, als wär’s seine letzte. Auf dem wut-roten F ­ aden werden so theatrale Miniaturen aufgefädelt, die in Summe selbst funktionieren wie TiktokKunst: Sie machen süchtig. // Hermann Götz

Innere Wut, die sich nach außen stülpt – In Caren Jeß’ virtuos komponiertem Theaterstück „Eleos“ geht gehörig die Empörungspost ab. Foto Lex Karelly

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auftritt

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HANNOVER Fast schon gesellschaftsfähig SCHAUSPIEL: „Ein Mann seiner Klasse“ (UA) von Christian Baron Regie Lukas Holzhausen Ausstattung Katja Haß

Es dauert nicht lange, bis einem das Kern­ thema der Hannover’schen Uraufführung von Christian Barons Erfolgsautobiografie „Ein Mann seiner Klasse“ geradezu schreiend vor Augen geführt wird. Noch bevor das Saallicht ausgeht, sehen wir, wie der Arbeiterkörper im Kontrast zu jenem des Bildungsbürgertums

Es ist eine beispielhafte Erzählung aus der

steht; zu denen, die mal eben 22 Euro für

unermüdlichen

eine Theaterkarte ausgeben können. Michael

­Kapitalismus. Baron schildert, wie es sich an-

„Minna“ Sebastian wird im Verlauf des Abends

fühlt, im reichen Deutschland an der Armuts-

nicht sprechen. Er wird auch kaum mit den

grenze zu leben, zeigt auf, dass Armut auch

anderen Darstellenden agieren, sie lediglich

Hunger, Gewalt und einen verbauten Bil-

mal von der Seite begutachten oder wie zufäl-

dungsweg bedeutet.

Verwertungsmaschine

des

Arbeiter- versus Bildungsbürgerkörper – Mit der Adaption von Christian Barons Auto­biografie „Ein Mann seiner Klasse“, hier mit Nikolai Gemel und Michael „Minna“ Sebastian (v. l.), kommt in Hannover die soziale Frage auf die Bühne. Foto Katrin Ribbe

lig hinter ihnen stehen. Trotzdem ist sein Kör-

Zu sehen sind die Gewaltszenen in der

per ständig präsent. Präsent, aber nicht auf­

Inszenierung von Lukas Holzhausen nicht,

sie die ganze Nacht gemeinsam „Super Mario“

fällig. Er tritt hinter die Arbeit zurück, die er

aber zu hören. Generell wird in „Ein Mann sei-

zockten. Stella Hilb in der Doppelrolle als

verrichtet. Stöhnend montiert Sebastian Holz-

ner Klasse“ nur wenig gespielt. Vielmehr er-

Mutter und Tante gelingt es, emotionale Mo-

balken aufeinander, sie sind schwer, aber sei-

zählt Nikolai Gemel als Christian den Roman

mente zu schaffen, ohne dabei in Klischees

ne Bewegungen sind nicht ausgestellt, eher

nach. Christian ist „einer, der dort herkommt“,

auszuweichen. Sie spielt die Rollen differen-

beiläufig. Dabei zittern seine Muskeln, nach

und „einer, der davonkam“. Er schafft den

ziert und mit großer Lust an Feinheiten.

und nach bilden sich Schweißperlen auf seiner

Klassenaufstieg. Allen Widerständen und ab-

Besonders beeindruckend greift aber

Stirn. Beharrlich baut er das Bühnenbild –

schätzigen Kommentaren der missgünstigen

Nikolai Gemel dieses ambivalente Verhältnis

eine rosa-beige tapezierte Einzimmerwoh-

Nachbarinnen und Nachbarn zum Trotz – „der

auf und hält über den gesamten Abend eine

nung – auf oder sitzt zwischendurch Zigaretten

hält sich wohl für was Besseres“ – macht er

fast kühl anmutende Distanz zum Gesche-

drehend an einem Bartisch. An kaum einer

Abitur, kämpft sich „nach oben“.

hen. Es mag einen als Zuschauerin irritieren,

Figur wird klarer deutlich, was Lukas Holzhausen

Nicht immer hat Holzhausen ein glück-

wenn Gemel als Christian, in gebügelter An-

mit seiner Inszenierung will: einen Blick in den

liches Händchen für darstellerische Mittel.

zughose und Jackett, auf der Bühne steht und

Motorraum unserer Gesellschaft werfen, dessen

Die Entscheidung, mit dialektalem Sprechen

von den Schreckensszenarien seiner Kindheit

Personal bestenfalls noch übersehen wird.

etwa die soziale Herkunft der Figuren zu ver-

erzählt; wie er und sein Bruder sich die Bett-

deutlichen, bedient nicht nur Klischees, son-

decken über die Köpfe zogen, als im Neben-

dern ist auch noch schlecht umgesetzt.

raum Schreie und Schläge zu hören waren:

In seinem Debütroman „Ein Mann seiner Klasse“, einer Autobiografie, erzählt Christian Baron die Geschichte seiner Kindheit.

Dennoch bringt der Regisseur das von

„An Gott habe ich nie geglaubt, aber wen

Baron wird 1985 in Kaiserslautern als Sohn

Baron thematisierte Problem zwischen aufklä-

­hätte das schon vom Beten abgehalten.“ Und

einer Arbeiterfamilie geboren. Er und seine

rerischem Anspruch und bloßer Ausstellung

doch braucht es diese Haltung, weil sie ein

drei Geschwister wohnen gemeinsam mit den

der Armutsverhältnisse vor einem mehrheit-

Spannungsfeld zwischen Publikum und Büh-

Eltern in einer kleinen Wohnung. Sein Vater ist

lich peinlich betroffenen Publikum bilderreich

nengeschehen aufbaut. Als Zuschauerin – zu-

Möbelpacker, arbeitet viel und verdient wenig.

auf die Bühne. Immer wieder werden Video-

mindest als eine aus dem Bildungsbürgertum –

Als Ausweg bleiben ihm der Alkohol und die

einspieler von Film- und Fernsehklassikern an

wird man auf sich selbst zurückgeworfen,

rohe Gewalt – zunächst gegen seine Frau und

eine Wand der Wohnung projiziert. Davor

wenn man weder mitfühlen noch Distanz wah-

schließlich auch gegen die Kinder. Die Mutter

­erinnern sich die Darstellenden an glückliche

ren kann. Und dieser Reflexionsmoment ist in

kann sich von ihrem gewalttätigen Mann nicht

Momente, an Fernsehabende oder daran, wie

„Ein Mann seiner Klasse“ mehr als beschä-

lossagen, wird depressiv.

der Vater eine Spielkonsole mitbrachte und

mend. //

Lina Wölfel


Szene aus Bonn Parks „Gymnasium“ in der Uraufführungsregie des Autors am Münchner Volkstheater, hier mit Michael Buba, Stefan Buchka und Max Poerting. Foto Arno Declair

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Stückabdruck

Gymnasium

von Bonn Park


stück

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Bonn Park

Gymnasium Premierenfassung PERSONEN Cherhilde Richmond DAS GEMEINE MÄDCHEN Ashleygunde Newhouse DAS NEUE MÄDCHEN CJbert Wooderson DER ATHLET Kylefried O’Donnell DER NERD Sallygard Simmons DIE GOTH Joshphilius Papadopoulos DER GOTH DER DIREKTOR & DIE AMBITIONIERTE LEHRERIN & DER COACH DIE WISSENSCHAFTLERIN CHOR DER VERFEINDETEN GRUPPEN UND CHEERLEADER

ERSTER AKT Erste Szene Die Zeit besteht aus den Jahren 1583 und 1995 und dem Monat August. Die Sommerferien sind zu Ende, das Spätmittelalter hoffentlich auch. Wir sehen eine Highschool, die in einen Vulkan gebaut ist. Der Vulkan ist oft ausgebrochen oder bricht die ganze Zeit aus. Eine große Aschewolke liegt über der Welt. Einige der jüngeren Jahrgänge wissen nicht, wie sich Sonnenlicht auf der Haut oder im Auge anfühlt, so lange ist es schon so. Heiterkeit gibt es, aber die Älteren unter uns würden das bestreiten und sagen, Heiterkeit, nein, die gibt es nicht mehr. CHOR DER VERFEINDETEN GRUPPEN UND CHEERLEADER (von weit weg, näherkommend, wie eine Schulglocke, aber auch wie eine marschierende Armee) Klingel! Klingel! Klingelingeling! Klingel! Klingel! Klingelingeling! Klingel! Klingel! Klingelingeling! Klingel! Klingel! Klingelingeling! Gymnasium hat wieder auf. Der Sommer ist vorbei. Gymnasium hat wieder auf. Der Sommer ist vorbei. Endlich wieder Schule!

www.hellerau.org

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Spinds und Vorurteile, Gerüchte an den Toilettenwänden, verfasst in Tamponblut. Rauchende Chemieversuche, sezierte Frösche und Gefühle, Angsteinflößende Tests und Meinungen, hoffentlich haut mich der Bully nicht. Ich hass euch all, ich hass euch all! Hackfressen, sie sind überall! Sag mal Tomate! NERD Äh, Tomate? CHOR DER VERFEINDETEN GRUPPEN UND CHEERLEADER Haha, dein Pimmel, er kann Karate! NERD (sich zwischen Nase und Augenlider fassend und mit der anderen Hand weit ausgestreckt) Beim Zeus, was für Arschlöcher! CHOR DER VERFEINDETEN GRUPPEN UND CHEERLEADER Erzählen wir uns vom Sommer! Erzählen wir uns vom Sommer! DAS GEMEINE MÄDCHEN An der Costa Brava hab ich geknutscht mit Zunge! CHOR DER GEMEINEN MÄDCHEN Oha! Jetzt bist du wohl keine Jungfrau mehr! DAS GEMEINE MÄDCHEN Er war Spanier und gut aussehend! CHOR DER GEMEINEN MÄDCHEN Oha! Spanier und gut aussehend! DIE GOTH Meine Eltern sind arm, wir waren nur im Schrebergarten! DAS GEMEINE MÄDCHEN Wer hat denn dich gefragt, du wandelndes Bestattungsinstitut! Ih! Als ob! CHOR DER GEMEINEN MÄDCHEN Ih! Als ob! DER GOTH Hey da, lass sie in Frieden, du goldenes Ungeziefer! DER ATHLET Und ich habe einen mit dem Morgenstern erschlagen! DAS GEMEINE MÄDCHEN Am Morgen? DER ATHLET Am Abend! Am Abend! CHOR DER ATHLETEN Oh! Am Abend! Am Abend! Darauf einen Handschlag! DAS GEMEINE MÄDCHEN UND IHR CHOR Hey, CJbert! DER ATHLET UND SEIN CHOR Hey, Cherhilde! DER NERD Magic, the Gathering! Ich habe viele gute Decks! DER ATHLET UND SEIN CHOR (holen aus zum Schlag auf ihn) Ha! DER NERD UND SEIN CHOR (sich duckend) Ah! DER ATHLET UND SEIN CHOR Haha! DER NERD UND SEIN CHOR (sich abermals zwischen Nase und Auge fassend) Gott! Ich hasse dieses Arschloch! Auftritt der Direktor.

03./04.12.2021

Folk Fiction

Sebastian Weber Dance Company 09.–19.12.2021

Zeitgeist Tanz

Dresden Frankfurt Dance Company

DER DIREKTOR Ruhe! Ruhe! DER GOTH O Schreck! Der Direx! CHOR DER VERFEINDETEN GRUPPEN UND CHEERLEADER Der Direx! Der Direx! DER DIREKTOR In die Klassen, ihr Rabauken! Der Sommer ist vorbei! CHOR DER VERFEINDETEN GRUPPEN UND CHEERLEADER Wir gehen in die Klassen! Der Sommer ist vorbei! Dieses Jahr ist das letzte! Wir sind gespannt auf den Abschlussball! DAS GEMEINE MÄDCHEN Herr Direktor! Ich habe eine Frage! DER DIREKTOR Ja, bitte? DAS GEMEINE MÄDCHEN Wer ist das da oben? DER DIREKTOR Ach das! Das ist. DIE WISSENSCHAFTLERIN Ich bin nur die Vulkanforscherin. Ich forsche am Vulkan. DAS GEMEINE MÄDCHEN Darf die das? Forschen? DIE WISSENSCHAFTLERIN Ja, hier ist meine Erlaubnis! Ich mache nur harmlose Wissenschaft! DER ATHLET Aber warum? DIE WISSENSCHAFTLERIN Weil ich keine Ahnung habe! Und ich hätte gerne Ahnung! Deswegen forsche ich, um Ahnung zu bekommen. DAS GEMEINE MÄDCHEN Das ist doch Hexenwerk, Herr Direktor! DER DIREKTOR Nein, das ist nur Forschung. Und nun marsch in die Klassen! DIE WISSENSCHAFTLERIN Hexenwerk? Ich will doch nur forschen, Ahnung statt Meinung! Das ist alles, was ich will. Der Chor verschwindet. Der Direktor wird zur ambitionierten Lehrerin. Im Klassenzimmer. DIE AMBITIONIERTE LEHRERIN Guten Morgen! DIE KLASSE (gesungen) Gu-Ten-Mor-Gen, Frau Ö-Ö! DIE AMBITIONIERTE LEHRERIN Wir haben eine neue Mitschülerin. Bitte begrüßt die neue Mitschülerin Ashleygunde. Das neue Mädchen steht dort und sie trägt Bücher vor ihrer Brust wie einen Panzer vor vernichtenden Beurteilungen. DER NERD (gesungen) Hi. DAS NEUE MÄDCHEN (gesungen) Hi. DIE AMBITIONIERTE LEHRERIN Such dir einen Platz aus. DAS NEUE MÄDCHEN (gesungen) Ok. DIE GOTH (gesungen) Nicht hier. DER ATHLET (gesungen) Hier ist belegt! DAS GEMEINE MÄDCHEN (gesungen) Ih! Als ob! Das neue Mädchen meldet sich. DIE AMBITIONIERTE LEHRERIN Ja, bitte? DAS NEUE MÄDCHEN (gesungen) Ich darf nirgendwo sitzen.

17. – 19.12.2021

Post Ironic Moustache

Premiere

Charles Washington/ Pinkmetalpetal Productions


bonn park_gymnasium

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DIE AMBITIONIERTE LEHRERIN Kommt schon, Leute! Gebt ihr einen Platz. (für sich, gesungen) Wie erreiche ich nur diese Kinder? DAS NEUE MÄDCHEN (gesungen) Ok, danke, ok. Der Chor lugt von den Seiten heimlich rein und dann plötzlich DER CHOR UND DIE SCHÜLERINNEN (geflüstert gesungen) Wie sieht die denn aus? (laut) Hahaha! Mit der haben wir sicher nichts gemeinsam! Chor ab. DIE AMBITIONIERTE LEHRERIN Nun ist aber genug. Setz dich. DAS NEUE MÄDCHEN (innerer Monolog für alle) Heute ist mein erster Schultag. Meine Eltern und ich sind erst vor Kurzem in die Stadt gezogen. Wir kommen von ganz woanders und alles ist neu für mich. Sie sagen, ich soll einfach neue Freunde finden. Aber ich hatte schon damals, dort, wo wir vorher lebten, ganz woanders, schon gar nicht viele Freunde. Wir wollten eigentlich noch viel weiter, doch die Vulkanaschewolke über dem Kontinent hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir wollten nämlich ganz weg von hier, ganz weg von dieser Kontinentalplatte. Das geht hier alles vor die Hunde, sagt Mama immer, nach Osten müssen wir. Tja, dieser dumme Vulkan! Naja, ich find‘s nicht so übel hier. Ich glaube nicht, dass alles vor die Hunde hier geht. Die Leute drehen halt nur ein bisschen durch und wissen nicht mehr, wie man gegenseitig füreinander da ist. Aber das kommt schon wieder, sie brauchen nur ein bisschen Zeit. Sobald diese Aschewolke weg ist. Hoffentlich ist die bald weg. Das kann doch nicht für immer so gehen. Oder? DIE AMBITIONIERTE LEHRERIN Ashleygunde! Ashleygunde! DAS NEUE MÄDCHEN Oh. Ja? DIE AMBITIONIERTE LEHRERIN Kannst du dieses Problem hier lösen? DAS NEUE MÄDCHEN Oh. Nun ja. Es – DER CHOR singt die Schulglocke. Alle packen zusammen und wollen raus. DIE AMBITIONIERTE LEHRERIN Vergesst nicht eure Vorträge! DAS GEMEINE MÄDCHEN (rempelt das neue Mädchen an und ihre Bücher fallen zu Boden) Ups! Komm nachher in der Cafeteria zu uns und iss an unserem Tisch, wenn du beliebt sein willst. DAS NEUE MÄDCHEN Äh. Okay. Die Goth und der Goth helfen ihr, ihre Bücher aufzuheben. DIE GOTH Hi. Sallygard Simmons. DAS NEUE MÄDCHEN Danke. Ashleygunde ­Newhouse. DIE GOTH Und das ist Joshphilius Papadopoulos. Er redet nie, außer um jemanden zu beschützen. Er sagt: Worte zerstören unsere Welt.

DAS NEUE MÄDCHEN Verstehe. DIE GOTH Sitz bloß nicht mit Cherhilde Richmond. Was auch immer geschehen mag. DAS NEUE MÄDCHEN Wieso? DIE GOTH Dann wirst du wie sie. DAS NEUE MÄDCHEN Ist das schlimm? DIE GOTH Sie ist das Ende aller Welten. DAS NEUE MÄDCHEN Das stimmt mich nachdenklich. DIE GOTH Halt dich von ihr fern. Ich habe gehört, sie kann unser aller Leben grausam beenden. DAS NEUE MÄDCHEN Aber wie denn nur? Sie ist doch nur eine Zwölftklässlerin. DIE GOTH Glaub es einfach lieber! Komm, ich zeig dir die Schule. DAS NEUE MÄDCHEN Okay. DIE GOTH (gesprochen) Das da, das sind die Athleten. Sie sind sehr gut in Sport und sehr schlecht in Fächern. Außer Sport. Und das ist CJbert, der Spielmacher der Schulmannschaft. Er ist unheimlich beliebt und angsteinflößend. Seinem Vater gehören Firmen. Das sind die Nerds. Sie sind ganz schön clever, aber bekommen oft Schläge. Kylefried zum Beispiel hat viele Medaillen mit Zahlen und Hiebe in den Unterleib gewonnen. Und das sind die gemeinen Mädchen. Sie sind gemein und zerstören das Universum, einfach weil es ihnen Spaß macht. All meine Narben und all mein Misstrauen habe ich von ihr, Cherhilde Richmond. Sie sagen oft, sie seien keine Jungfrauen mehr. Vielleicht stimmt es. Vielleicht stimmt es nicht. Außerdem heißt es, sie trägt einen Designermorgenstern in ihrer Tasche. Und das ist der Direx. Er ist schon der Vierte in den vergangenen acht Monaten. DAS NEUE MÄDCHEN So viele? Aber warum? DIE GOTH (gesprochen) Gerüchte, Lügen, Wahrheiten, sie haben halt alle Zeit auf der Erde verbracht. Und je mehr Zeit du auf der Erde verbringst, desto mehr Geschichten gibt es zu dir. Und der ein oder andere war sicher auch eine Hexe. DAS NEUE MÄDCHEN Hexe? Ihr glaubt an Hexen? DIE GOTH Du etwa nicht? DAS NEUE MÄDCHEN Wäre das schlecht? DIE GOTH Schlecht genug, um zu sterben. DAS NEUE MÄDCHEN Okay. Ich schiebe. DIE GOTH Ja. Überleg es dir gut. Siehst du die Frau dort oben? DAS NEUE MÄDCHEN Ja. DIE GOTH (gesprochen) Ja, sie ist die Vulkanwissenschaftlerin. Sie macht Wissenschaft am Vulkan. Ich hab gehört, sie sagt Hexen, das ist nur Hokuspokus. Hokuspokus! Ich verstehe nicht, wieso sie noch in ihrem Beruf arbeiten darf. Oder überhaupt noch am Leben ist. Wenn es nach mir ginge, dann –

COOPERATIVA MAURA MORALES

PRÄLUDIUM DER KÄLTE

Der Goth schaut sie an und drückt ihre Hand mahnend. DIE GOTH (gesprochen) Hmpf! Hokuspokus ist schön. Zauber ist schön. Was fällt ihr ein. Was will sie da forschen? Sie ist doch Wissenschaftlerin, warum hat sie denn keine Ahnung? Jeder weiß, der Vulkan bricht ständig aus, weil wir es nicht anders verdient haben. Ich denke, sie ist selbst eine Hexe und will nur vertuschen. DAS NEUE MÄDCHEN Bist du sicher? DIE GOTH Das weiß jeder. DAS NEUE MÄDCHEN Und ihr seid ein Paar? DIE GOTH Nein, ih. DAS NEUE MÄDCHEN Aber warum haltet ihr die ganze Zeit Händchen? DIE GOTH Das ist ein aufmunterndes Händchenhalten. Ich gebe all meine Zuversicht in meine Hand, damit Joshphilius nicht vor Enttäuschung über alles stirbt. Der Goth nickt. ERSTER AKT Zweite Szene In der Cafeteria. Alle mit Tablets und Nervosität. Cafeteriaszenen spielen sich ab. DER ATHLET Cherhilde! DAS GEMEINE MÄDCHEN CJbert! Sie knutschen innig immer fortwährend … DAS GEMEINE MÄDCHEN (innerer Monolog für alle) Mein Name ist Cherhilde Richmond. Ich bin die Schönste und die Reichste und die Beliebteste. Doch nichts davon hängt am Aussehen oder an Geld oder Popularität. Egal, wie ich aussehe, es ist immer das Schönste. Habe ich keinen Taler in der Tasche, sind jene arm, die viele Dukaten auf dem Konto haben. Und wenn ich mich für immer zurückziehen will und jede Verabredung kurzfristig absage, um mit dem Internet zu kuscheln, dann machen das alle, die etwas auf sich halten. Denn ich mache die Gesetze, für Mensch und Natur. (gesungen) Ich bin das Gesetz, ich bin die Natur. (nicht mehr gesungen) Doch das Gesetz zu sein, die Natur an sich, ist eine große Verantwortung. (ruftsingt und zeigt auf jemanden) Hexe! Alle stehen still, sehen ihrem Finger nach und die Person wird aus der Cafeteria entfernt. DAS GEMEINE MÄDCHEN (weiter innerer Monolog für alle) Nein. Nicht Verantwortung. Eine große Herausforderung. Die Natur übernimmt keine Verantwortung, sie lässt sie andere spüren. Deshalb muss ich immer da sein, so wie die Natur. Und dieses Mal ist die Herausforderung Ashleygunde Newhouse. Seht sie euch an. Mit ihrer Brille und ihren Büchern und ihrem Gang und ihrem Blick. Wie einen Seelenpanzer hält sie den Weltat-

Prem

iere

TANZ

3. – 5.12.

fft-duesseldorf.de

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stück

las und das Découvertes Deux vor ihrer Brust, sich aussichtslos schützend vor den Meinungsbolzen. Doch ab heute beginnt ein neues Leben für sie. (gesungen) Ich werde sie zu einer Königin machen! DER ATHLET Wen? DAS GEMEINE MÄDCHEN Ashleygunde Richmond! DER ATHLET & DAS NEUE MÄDCHEN Was? / Ja? DAS GEMEINE MÄDCHEN Setz dich hier hin! DIE GOTH O Schreck! DER NERD O Schreck! ALLE ZUSAMMEN O Schreck! DAS NEUE MÄDCHEN (für sich) Soll ich wirklich? DAS GEMEINE MÄDCHEN Wiederholen tu ich mich nie! DER ATHLET Setz dich, sonst gibt’s ein Unglück! DIE GOTH Tu’s nicht! DER NERD Beim schwarzen Lotus! DAS NEUE MÄDCHEN Ich … DAS GEMEINE MÄDCHEN Grrrrr … DIE WISSENSCHAFTLERIN Nanu? DAS NEUE MÄDCHEN Ahh … ALLE ANDEREN Ahh … DER GOTH Ahh … DAS NEUE MÄDCHEN Okay! Setzt sich hin. ALLE ANDEREN Oh! Oh! Das wird schwierig! DER DIREKTOR Was soll der Aufruhr?! Alle gehen auf ihre Cafeteriaplätze. DAS GEMEINE MÄDCHEN Ashleygunde Newhouse! DAS NEUE MÄDCHEN Äh, ja? DAS GEMEINE MÄDCHEN Das ist unser Spielmacher CJbert, er hat schon mal hundert Punkte gemacht in einem Spiel! DER ATHLET Hallo! DAS NEUE MÄDCHEN Hundert Punkte? (pfeift beeindruckt) DAS GEMEINE MÄDCHEN Ich bin Cherhilde und man liebt mich sehr. DAS NEUE MÄDCHEN Freut mich, Cherhilde. DAS GEMEINE MÄDCHEN Möchtest du meine Milch? DAS NEUE MÄDCHEN O ja, sehr gerne! (trinkt die Milch mit beiden Händen) DAS GEMEINE MÄDCHEN Ich hab gesehen, du liebst Milch. DER ATHLET Cherhilde ist aufmerksam und teilt gern. DAS GEMEINE MÄDCHEN Sicher hast du schon viel gehört. Von denen da. Oder von denen dort. DAS NEUE MÄDCHEN Vielleicht schon. DAS GEMEINE MÄDCHEN Du musst wissen, hier gibt es nur Lügen und Wahrheiten. Nichts stimmt. Alles stimmt. DAS NEUE MÄDCHEN Das verstehe ich nicht!

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DAS GEMEINE MÄDCHEN (gesprochen) Es gibt Leute, die dort zum Beispiel, sie erzählen allen, ich wäre schuld an den Vulkanausbrüchen. Ich hätte die Welt verdunkelt und für Aschewetter gesorgt. Aber als der Vulkan das erste Mal ausbrach, da war ich doch erst eine Fünftklässlerin. Wie soll denn eine Fünftklässlerin einen Vulkan ausbrechen lassen? Ist das nicht völlig absurd? DAS NEUE MÄDCHEN Einverstanden. DAS GEMEINE MÄDCHEN (gesprochen) Selbst wenn es eine Fünftklässlerhexe gewesen wäre, selbst wenn ich eine Hexe wäre, was ich nicht bin, selbst dann wäre es einfach nicht vorstellbar. DAS NEUE MÄDCHEN Ok. DAS GEMEINE MÄDCHEN Lügen und Wahrheiten. Alles stimmt. Nichts stimmt. DAS NEUE MÄDCHEN (existenziell und verängstigt) Hä? DER ATHLET (gesprochen) Das ist doch ganz einfach. Es gibt einen großen Irrglauben in der Menschheit, dass eine Wahrheit auf Nüchternheit beruht. Dass es Fakten und Tatsachen und Befunde gebe. Dass es überhaupt Wahrheit und Dichtung gebe. Dass sie unterschiedlich seien! Wahrheit und Dichtung! Unterschiedlich! Hahahaha! DAS NEUE MÄDCHEN Ja, genau. DAS GEMEINE MÄDCHEN Hahahaha! DER ATHLET (gesprochen) Nein! Siehst du, es ist nicht relevant, was belegbar ist und was nicht. Denn am Ende, da ist alles belegbar. Du hast es sicher gelesen. Neulich, da stand in der Zeitung, ein italienischer Forscher hätte herausgefunden, die Erde, sie wäre eine Kugel! Und! Sie würde sich um die Sonne drehen! Und um sich selbst! Mir wurde schwindelig. Bei diesem Gedanken wurde mir schwindelig. Ich musste mich festhalten und bin trotzdem hingefallen, ich habe erbrochen, es war schlimmer als eine Achterbahnfahrt. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Ich wusste nicht mehr, wirklich wirklich nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich habe alle Richtungen verwechselt, ich habe panisch alle Gegenstände versucht festzuhalten, im Irrglauben, sie würden gleich nach oben oder zur Seite oder nach unten fliegen oder fallen oder ich weiß nicht. Es war der schlimmste Moment meines Lebens. Ich hatte noch nie so eine Angst. Alle anderen halten sich irgendwo fest in der Erwartung, dass sich gleich alles in alle Richtungen dreht und fliegt. Und sie haben leise Todesangst, aber weil sie cool sein wollen, versuchen sie es nicht zu zeigen, aber vielleicht machen sie sich in die Hose. Außer der Nerd und die Wissenschaftlerin. DER ATHLET (gesprochen) Dieser italienische Wissenschaftler schaut in sein Fernrohr und schreibt

Mathe auf und belegt, die Erde, sie dreht sich um sich selbst und um die Sonne. DER NERD (gesprochen) Keine Einwände gegen Mathe! Mathe ist gut. Und die Erde, sie dreht sich um die Sonne, wenn es Mathe sagt. DER ATHLET (gesprochen) Ja, mag sein. Aber andere Wissenschaftler haben gesagt, das stimme nicht und dann hat der italienische Forscher seinen Kopf verloren. Und weißt du, wie sie es bewiesen haben? DER NERD Mit Mathe? DER ATHLET Mit Mathe. DER NERD (sich mit den Fingern zwischen Auge und Nase fassend) Gott, ich hasse dieses Arschloch. DER ATHLET Ja, genau! Und deswegen gibt es keine Wahrheiten. Es gibt nur Wahrheit und Lüge. Alles stimmt. Nichts stimmt. Wie kann man Wahrheit messen? Nur so, dass alle daran glauben müssen. In dem Moment, in dem mehr als die Hälfte das eine glaubt, als das andere, dann ist es Wahrheit. Aber für die anderen bleibt es Lüge. Doch sie sind dann in der Unterzahl. Und deswegen ist ihre Wahrheit Lüge. So ist das Gesetz. Und wer daran zweifelt, ist meistens eine Hexe und die müssen sterben. DAS NEUE MÄDCHEN Ist das Gesetz? Ich habe schon gemerkt, dass es so sein könnte für die eine oder andere, aber ich dachte, Gesetz wäre noch etwas, was mal aufgeschrieben und DAS GEMEINE MÄDCHEN Paperlapapp! Das Gesetz, das bin ich. DAS NEUE MÄDCHEN Nein, das Gesetz ist das Gesetz. DAS GEMEINE MÄDCHEN Das Gesetz, das bin ich. Und die Natur, das bin ich auch. DAS NEUE MÄDCHEN Das stimmt doch so einfach nicht. DAS GEMEINE MÄDCHEN Doch. DAS NEUE MÄDCHEN Wie denn das? DAS GEMEINE MÄDCHEN Hier. Das gemeine Mädchen zeigt ihr die Schultoilette. DAS GEMEINE MÄDCHEN In dieser Toilettenkabine habe ich über jede Schülerin, über jeden Schüler, über jede Lehrerin und jeden Direktor, über jedes Säugetier, dass diese Highschool jemals betreten hat, eine Wahrheit oder eine Lüge aufgeschrieben. Und manchmal, da verbreite ich sie. Und weil ich sie verbreite, ist alles wahr. Alles, was ich sage, glauben die Leute. Und du weißt es ja jetzt, wenn die Mehrheit es glaubt, dann ist es Wahrheit, dann ist es Fakt, dann ist es Gesetz. Ich bin die neue Wissenschaft. Ich erzähle etwas, und dann ist es im Universum für immer. (gesungen) So wie Plumbum! DAS NEUE MÄDCHEN Warum die Toilette?


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DAS GEMEINE MÄDCHEN Weil alle irgendwann aufs Klo müssen. Weil alle irgendwann alleine aufs Klo müssen. Und allein auf Klo, da ist man verwundbar. Da nimmt man sich Dinge zu Herzen. DAS NEUE MÄDCHEN (liest) Sallygard Simmons ist schlimm? Aber sie ist doch gar nicht schlimm. DAS GEMEINE MÄDCHEN Doch, ist sie. DAS NEUE MÄDCHEN Aber nein, schau doch, sie ist doch – DAS GEMEINE MÄDCHEN Du hast es immer noch nicht verstanden. Wenn es alle glauben, dann ist es Wahrheit, dann ist es für immer im Universum. Hey! Ist Sallygard Simmons schlimm? DIE MEISTEN Ja. DAS GEMEINE MÄDCHEN Sie ist also schlimm. DAS NEUE MÄDCHEN (liest) Die Welt wird untergehen, weil alles beschissen ist und niemand etwas dagegen unternimmt. Die Asche macht Lungenkrebs und außerdem, dass man keine Liebe mehr empfinden kann und nur noch Misstrauen allen Wesen gegenüber hat, die Stimmbänder besitzen. (fertig mit Lesen) Das stimmt wohl. DAS GEMEINE MÄDCHEN Siehst du, jetzt machst du es auch. DAS NEUE MÄDCHEN Was mache ich? DAS GEMEINE MÄDCHEN Du bestimmst, was wahr ist und Lüge. Haha! Ich glaube, wir werden uns sehr gut verstehen. DAS NEUE MÄDCHEN Aber! DAS GEMEINE MÄDCHEN (schreibt an die Toilettenwand mit einer schönen Feder) Ashley. Gunde. New. House. Wird. Die. Neue. Königin. Von. Gymnasium. High. DAS NEUE MÄDCHEN Was? Aber, wieso. Nein. DAS GEMEINE MÄDCHEN Es ist schon im Universum. Ach so. Und kein Wort zu niemandem über dieses Buch. Sonst. Das Orchester spielt das Sonst. Eine große musikalische bedrohliche Konsequenz. UND DER CHOR SINGT AUCH (mit langem O) Sonst! ZWEITER AKT Erste Szene AUF DEM VULKAN Auf dem Vulkan. Wissenschaftlerin und Vulkan. Am Fuße des Vulkans, in der Schule, sind die Schülerinnen und sie murmeln zurückhaltend, wie eine Großstadt von einem Hochhausfenster aus und man weiß, sie sind am Leben. DIE WISSENSCHAFTLERIN Na du. DER VULKAN Hey. DIE WISSENSCHAFTLERIN Gut geschlafen? DER VULKAN Ja, ja. Sehr gut. Du?

DIE WISSENSCHAFTLERIN Geht so. DER VULKAN Hm. War Vollmond oder so? DIE WISSENSCHAFTLERIN Ach, der Vollmond. Den hab ich schon lang nicht mehr gesehen. DER VULKAN Ach ja, die Asche. Und was ist es sonst? DIE WISSENSCHAFTLERIN Ach, ich weiß nicht. Ist alles etwas schwierig im Moment. Ich habe einfach einen großen Stress. DER VULKAN Das tut mir sehr leid mit der Asche, wirklich. DIE WISSENSCHAFTLERIN Da kannst du ja auch nichts für. DER VULKAN Nein? DIE WISSENSCHAFTLERIN Nein. Da gibt es große Zusammenhänge, tief in der Erde. Ich finde das schon noch raus. DER VULKAN Das beruhigt mich sehr. DIE WISSENSCHAFTLERIN Ja, die Asche, die nervt schon. Die nervt Todes. Ich bin wirklich überfragt. Irgendwas stimmt einfach nicht mehr. DER VULKAN Was stimmt nicht mehr? DIE WISSENSCHAFTLERIN Alles stimmt nicht mehr. DER VULKAN Alles alles? DIE WISSENSCHAFTLERIN Ja, schon. Alles alles. Alles, was ich dachte, was ich gelernt habe, über die Dinge und die Natur und die Menschen, sie scheinen nicht mehr zu stimmen. DER VULKAN Zum Beispiel? DIE WISSENSCHAFTLERIN Zum Beispiel, wenn ich hinfalle, das habe ich als Kind gelernt, dann tun die Knie weh. Aber jetzt, wenn ich hinfalle, weiß ich nicht, ob meine Knie wehtun. Ob sie schon die ganze Zeit wehgetan haben. Ob mir jemand aufhilft und sie verbindet, wenn sie bluten. Früher hat das meine Mutter gemacht. Jetzt reden wir nicht mehr, weil sie glaubt, ich würde hier ein Hexenwerk veranstalten. DER VULKAN Deine eigene Mutter? DIE WISSENSCHAFTLERIN Ja, genau. Das mein ich ja. Das versteh ich nicht. Alles, was ich gelernt habe, stimmt nicht mehr. Früher, da war Liebe und Zuneigung immer alles, egal, was kam, und jetzt, da ist Meinung alles. Ich glaube, Meinung hat die Liebe zu einem Duell herausgefordert, und die Meinung hat gewonnen. DER VULKAN Jetzt redest du ja schon wie sie. DIE WISSENSCHAFTLERIN Ja, vielleicht hast du recht. Aber wieso reden alle immer von Hexen? Ich habe noch nie eine gesehen oder einen Beweis, dass es sie geben könnte. Und über dich sagen sie auch so viele Dinge. Alle wissen, warum du ausbrichst, aber niemand hat nur auch eine Ahnung. Und alles ist wahr, nur weil es in der Welt ist oder

Bewerben und Studieren Schauspiel Theater | Film Abschluss Bachelor of Arts Bewerbungsfrist 31.01.2022

Regie Abschluss Bachelor of Arts Bewerbungsfrist 28.02.2022

wenn man es will und umgekehrt. Wann ist eine Spekulation eine Wahrheit geworden? Das ist doch einfach nicht erlaubt. War das nicht immer so? Ein Beweis wenigstens, nur einen. So wie in der Wissenschaft oder in einer Zivilisation. Ich vermisse Wissenschaft und Zivilisation und Zuneigung. Aber diese Meinung hat wohl beim Duellieren allen ein Loch in das Herz geschossen. Wenn ich es doch nur beweisen könnte. Wenn ich es doch nur erforschen könnte. Aber ich weiß ja nicht wie. DER VULKAN Vielleicht bist du ja schon ganz nah dran. DIE WISSENSCHAFTLERIN Wie meinst du das? DER VULKAN Naja, du hast doch selbst gesagt. Die Asche, die kommt zwar aus mir, aber schuld daran bin ich nicht. Sowieso, schuld daran ist niemand. Du sagtest, da gibt es wohl ganz tief in der Erde schwere und komplizierte Zusammenhänge. Es ist schwer und kompliziert. Aber du bist doch schlau. Du schaffst das. DIE WISSENSCHAFTLERIN Danke. :) DER VULKAN Na klar. DIE WISSENSCHAFTLERIN Du bist mein bester Freund. DER VULKAN Hihi. DIE WISSENSCHAFTLERIN Du hast ja recht. Ich werde einfach weitermachen. Und forschen und niemals spekulieren und es dann Wahrheit nennen. Ich will für immer präzise und genau und zurückhaltend bleiben, bis ich präzise und genau sein kann. Denn das ist die Naturwissenschaft. Und die Naturwissenschaft ist cool und fair. ZWEITER AKT Zweite Szene SPORTUNTERRICHT Die Schülerinnen sind inzwischen umgezogen (oder noch dabei) für den Sportunterricht und haben große Lanzen in der Hand. Der Direktor ist auch schon der Coach. Sie wählen Teams mit der Tip Top Technik und es ist unangenehm. Währenddessen. DER ATHLET (innerer Monolog) Ich bin der Stärkste von allen. Manchmal führen Attraktivität und Wendigkeit und ausgezeichnete Hand-AugenKoordination dazu, dass man als ein schlechter Mensch gilt. So ist es bei mir. Ja, beliebt bin ich schon, aber bei den Richtigen, die, die ihr alle richtig findet, bei denen, bei euch, bin ich es nicht. Ich würde immer sagen, dass das auch okay ist, aber weh tun, das tut es schon. Das ist keine Beschwerde. Jede soll denken, was sie will. Und irgendwann dann gab es eben diese Toilette da. Erst war sie eine herkömmliche Toilette, ihr wisst schon, man geht rein, schließt die Tür und macht Pipi oder

Demnächst Dramaturgie Abschluss Master of Arts Bewerbungsfrist 28.02.2022

04. Dezember 2021 (Premiere) | Badisches Staatstheater Karlsruhe »Der gute Gott von Manhattan« von Ingeborg Bachmann Regie: Anaïs Durand-Mauptit. Bachelorarbeit 08.– 11. Dezember 2021 | ADK »antigone. ein requiem« von Thomas Köck nach Sophokles Leitung: Damiàn Dlaboha 3. Studienjahr Schauspiel, Werkstattinszenierung

Weitere Informationen unter www.adk-bw.de

Änderungen vorbehalten

13. Dezember 2021 »Montags an der ADK« Aussichten. Einsichten. Gespräche. »Wie erzählt sich Gegenwart?« Sivan Ben Yishai (Autorin und Theaterregisseurin)

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Kacka. Doch irgendwann hat man Dinge an die Wände verfasst, über die hat man sich gewundert und amüsiert, es war alles nur ein Spaß, eine ausgezeichnete Unterhaltung. Aber irgendwann, ich weiß nicht mehr wie, ist es so gekommen, dass alles, was dort stand, Wahrheit wurde. Und jede darf dort schreiben und das ohne einen Namen oder einen Beweis anzuhängen. Und dann, wie gesagt, ich weiß nicht wie oder warum, ist das dann alles Wahrheit geworden. Dann hauen sich alle mit den Lanzen um, der Athlet bleibt stehen und macht einen Punkt. DER ATHLET Oh ja! DER CHOR Go Sportsteam! DER ATHLET (weiter innerer Monolog) Ob das richtig ist, hm, das weiß ich nicht hundertprozentig. Aber ich finde, wenn die Schwächeren zu Wort kommen, und das müssen sie, dann haben sie immer recht. Das ist meine Annahme. Und alle sind schwächer als ich. Denn ich bin der Stärkste. Und deswegen haben alle immer vor mir recht. Zum Beispiel stand irgendwann dort in der Toilette, Kylefried und ich seien Geschwister und würden eine Liebesbeziehung führen. Die Worte waren sicher gemeiner als die jetzt, und sicher ging es da erst mal um Humor und Ablehnung gegen mich oder Kylefried, aber gut, es stand eben dort und so ist es dann gekommen. Ob ich das gut fand oder nicht, das hat keinen Platz. Wichtig ist nur, dass es dann wahr war und wir sind seit jeher Geschwister und haben auch eine Liebesbeziehung geführt. Die ging wie viele andere Liebesbeziehungen auch irgendwann zu Ende, aber Geschwister, ja, Blut ist dicker als. Als was noch mal? Wie ging das noch mal. DER NERD Hey, Bruderherz. Hilf mir auf. DER ATHLET Ich helf dir auf! Bruderherz. DER NERD Das mit dem Küssen machen wir nicht mehr, oder? DER ATHLET Ja, ich würde darauf verzichten. Ich könnte dir eine verpassen! DER NERD Nein. DER ATHLET Gut. DER COACH (benutzt seine Trillerpfeife) Das war scheiße! Los, Sport jetzt! Alle machen widerwillig fiesen Sport. DER NERD Ist das nicht komisch, du willst mich immer schlagen und ich hasse dich dafür. Dann sind wir plötzlich verwandt und du willst mich immer noch schlagen und es ergibt immer noch Sinn. Dabei heißt es doch, Blut ist dicker als, als was noch mal? DER ATHLET Ja, das weiß ich auch nicht. DER NERD Bruderherz, ich brauche deinen Rat. DER ATHLET Was ist es?

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DER NERD Du bist doch ein Womanizer. Sag mir doch, wie beeindrucke ich eine Woman? DER ATHLET Ich habe keine Ahnung von Woman. Ich bin keine Woman, ich weiß nichts über Woman, zudem sind alle Woman unterschiedlich, vielleicht könnte ich dir was über meine Mutter erzählen, die ist eine Woman, aber selbst das, ich hab mich nicht auf die Welt gebracht, davon kann ich dir auch kein Lied singen. Ich habe leider keinen Rat. DER NERD Aber dann vielleicht was zur Liebe? DER ATHLET Von der Liebe habe ich überhaupt keine Ahnung. Hör auf, mir diese bohrenden Fragen zu stellen, ich weiß nichts, wirklich. Außerdem bist du der ältere Bruder und du solltest mir Ratschläge geben. DER NERD Was willst du denn wissen? DER ATHLET Ist die Erde wirklich eine Kugel und dreht sich die Erde um die Sonne? DER NERD Hm. Ja, das könnte wirklich so sein. DER ATHLET Vielleicht ist es auch gut so. Dass Dinge rund sind und sich drehen, aber nicht um mich. Es fühlt sich leichter an. DER NERD Darauf einen Handschlag. DER ATHLET Handschlag. Und wie ging dieses Sprichwort denn noch mal. Blut ist dicker als – DER COACH Blut ist dicker als Wasser, aber nicht so dick wie die öffentliche Meinung. DER ATHLET Ach ja. DER COACH Ruhe! Hundert Liegestütze! Alle runter! Nur Mädchen und Philosophie habt ihr im Kopf. Und du Joshphilius, dein Vortrag. Jetzt! DER GOTH Ist gerade nicht Sport? DER COACH Ruhe! Hundert Liegestütze! Und dein Vortrag, jetzt! DER GOTH (ganz leise und schüchtern) Meinen Vortrag hat mein Hund gefressen. Ich hatte einen ganz anderen Vortrag, aber den hat mein Hund gefressen. Ich habe aber gar keinen Hund. Das ist nur eine Ausrede. Nicht, weil ich nicht einen schönen und mitreißenden Vortrag geschrieben hätte, sondern weil ich mich fürchte, ihn mit euch zu teilen. Weil ihr seid alle durchgeknallt. Mein Vortrag, den mein Hund gefressen hat, handelt von euch und wie durchgeknallt ihr seid. Und dass es schön wäre, wenn alle mal das Maul halten würden und endlich wieder mit mir kuscheln. Ich möchte hier nicht sein, aber es gibt keinen Platz mehr, an dem man sein kann, außer dem Tod. Nur da kann ich noch hin. Aber nichts davon möchte ich teilen, weil ich Angst um mein Leben habe. Deswegen heißt dieser Vortrag, zum Glück hat meinen Vortrag mein Hund gefressen, denn sonst müsste ich mich fürchten. DIE GOTH (greift fest seine Hand) Joshphilius? Hör auf! Nicht schon wieder! Was ist denn mit dir?

DER GOTH Ich weiß es doch auch nicht. DIE GOTH Willst du damit sagen, dass man hier nicht? DER COACH Danke, Joshphilius. Bitte geh ins Büro des Direktors. DAS GEMEINE MÄDCHEN Dieser Junge hat das Geradeausdenken wohl in den Brunnen geworfen und sich etwas gewünscht. Und das ist dann nicht in Erfüllung gegangen. DAS NEUE MÄDCHEN Was ist denn mit ihm? Er wirkte immer so nett. DAS GEMEINE MÄDCHEN So ist es hier. Oft sind es die Netten. Oft sind es einfach die Netten. DIE GOTH Er meint doch nicht etwa. DAS GEMEINE MÄDCHEN Genau das meint er. Zügele ihn, deinen Freund, sonst fließen Blut und Asche. Du kennst das Gesetz. DIE GOTH Sei leise, Junge. DAS GEMEINE MÄDCHEN Leise ist für Mutlose. Leise ist für Missgünstige. Behalte dein Leise. Ich will, dass alles besser wird. Nimm dein Leise und geh damit zurück in den Stillstand, heirate ihn, gebäre ihm Kinder der Rückständigkeit und lebt ein vergangenes Leben an einem Ort ganz weit weg. DIE GOTH Sheessh. DAS GEMEINE MÄDCHEN Und distanziere dich. DIE GOTH Wie bitte? DAS GEMEINE MÄDCHEN Distanziere dich von ihm! DIE GOTH Er ist mein Freund. Mein allerbester Freund. DAS GEMEINE MÄDCHEN Es ist deine Wahl. Deine Entscheidung über eine Welt, in der wir leben wollen. In welcher möchtest du leben oder sterben? DIE GOTH In meiner Welt ist es fair. Und auch ihren Tod bestimmt niemand anders. DAS GEMEINE MÄDCHEN Fair! Du weißt doch nichts über fair. Fair für jene, aber nicht für uns. Geh! Nimm dein Leise und geh! DAS NEUE MÄDCHEN Aber ich bin auch nicht besonders laut. DAS GEMEINE MÄDCHEN Ashleygunde! Komm mit mir. DIE GOTH Nimm dich in Acht, Ashleygunde. Sie wird vom Chor der gemeinen Mädchen angezogen und sie gehen zur Toilette. DER DIREKTOR Tritt ein! Alle treten aus, nur der Direktor und der Goth bleiben übrig. Es wird wie immer geschmult. DER DIREKTOR Durchgeknallt, das Maul halten, Tod, Angst um dein Leben. Ich habe hier schon wieder so eine Liste, Joshphilius Papadopoulos. DER GOTH Was auch immer. DER DIREKTOR Ich hab dich richtig gern. Du bist ein sehr guter Typ. Viele Einsen hast du auch,

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Oliver rOth lindh / Weingartner henrike iglesias JOhanna heusser X PersPektiven t he at e r- r ox y. ch


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auf dem Zeugnis und in deinem Herzen. Aber ich kann dich nicht länger beschützen. Bitte, Joshphilius. DER GOTH Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, was los ist. DER DIREKTOR Ist es etwas in deinem Hause? Ein Problem mit dem Herrn Papa? DER GOTH Nein. DER DIREKTOR Gibt es Sorgen um das Geld? DER GOTH Nee. DER DIREKTOR Ist dort etwas auf den Wänden über dich? DER GOTH Es juckt mich nicht. DER DIREKTOR Und über mich? In der Toilette? DER GOTH So sehen Sie doch selbst nach. DER DIREKTOR Ich kann ja nicht. DER GOTH Ich glaube, ich habe etwas gesehen. DER DIREKTOR Über mich? DER GOTH Es könnte sein. DER DIREKTOR Was ist es? DER GOTH Es ist unaussprechlich. Und wenn es stimmen sollte, dann. DER DIREKTOR Aber was ist es denn? DER GOTH Dann sind Sie verloren. Dann sind wir vielleicht alle verloren. Aber sorgen Sie sich nicht. Dort stehen noch viel grässlichere Dinge, über jede von uns. Sie müssen sich einfach daran gewöhnen. DER DIREKTOR Damals in meiner Zeit – DER GOTH Ja, damals in Ihrer Zeit. Damals in allen Zeiten. Aber der Mond ist seither oft angeschwollen und wieder verschwunden und nun ist alles anders. Was früher galt, gilt nicht mehr. Keine Klinge kann die Meinung herausfordern, auch nicht die der Freundschaft. Ich frage mich, ob es den Mond noch gibt. DER DIREKTOR Joshphilius – DER GOTH Machen Sie sich keine Gedanken. Ich habe keinen Plan und dann wird alles gut. DER DIREKTOR Weißt du, ich würde gern diesen Arm hier auf deine Schulter legen oder dich sogar an meine Brust drücken, fest und mit Zuversicht, dass sicher alles gut werden wird. Aber ich weiß nicht, ob das in Ordnung ist. DER GOTH Warum denn nicht? DER DIREKTOR Weil ich es nicht mehr weiß! Und ich würde dir dann, ganz sanft, einen väterlichen Rat geben. Aber ich weiß nicht, auch dieser Gedanke fühlt sich schwer an, als würde ein Sturm aufziehen an meinem Fenster, sobald ich auch nur den ersten Rat aussprechen würde. Und auch weiß ich gar nichts mehr, ich habe ja leider keinen Rat mehr für dich. DER GOTH Sorgen Sie sich nicht, Herr Direktor. Ich komme zurecht. DER DIREKTOR Josh, du musst.

DER GOTH Ja, ich werde mich entschuldigen. Er tritt an das Schulmikrofon. Alle sind da, aber sicher ist man sich nicht. MUSIK: Ein großer dramatischer Akkord aus dem Orchestergraben. DER GOTH (über die Lautsprecher, eintönig gesungen?) Hallo. Es gab ja in den letzten Tagen einigen Aufruhr über mich. Ich wollte niemanden erzürnen. Die Art und Weise, wie ich aufgetreten bin, war falsch und ich habe das verstanden. Es tut mir sehr leid, wenn ich irgendwen in irgendeiner Form beleidigt habe. Das war nie meine Absicht. Auch möchte ich klarstellen, dass ich natürlich keine Hexe bin und ich nichts mit ihnen zu tun habe. Ich stehe für alle Werte, für die ihr auch steht. Ich distanziere mich klar von allem und finde alles gut, was ihr gut findet. Ich akzeptiere jede Form der Strafe von jeder Einzelnen von euch. Ein zweiter großer dramatischer Akkord aus dem Orchestergraben. Leises verängstigtes und bedrohliches, aber auch musikalisches Murmeln in den Schulgängen. Der dritte finale, wie ein Urteil fallende Akkord. DER DIREKTOR Vielleicht wird es diesmal nicht reichen. DER GOTH Bis dann, Herr Direktor. Der Goth verlässt das Direktorzimmer. Dort wartet schon … DIE GOTH Hallo. Im Hintergrund, kaum hörbar, wird weiter gemurmelt (Hexe mit Fragezeichen und ohne). DER GOTH Hallo. DIE GOTH Ich muss dir was zeigen. DER GOTH Okay. Sie gehen zur Toilette. Die Tür schließt sich. Musik: Dramatische Akkorde. Dann nach einer kurzen Weile kommen sie wieder heraus mit einer Enttäuschung und leiser Todesangst. ZWEITER AKT Dritte Szene EINE KLEINE AHNUNG Auf dem Vulkan. Und an seinem Fuße vor der Toilette. Dort ist eine lange Schlange und es wird fleißig nacheinander auf die Wände geschrieben. Dann. DIE WISSENSCHAFTLERIN (Arie) Liebe Menschen, liebe Tiere! Ich habe eine Ahnung. Ich habe etwas gefunden, und es wird euch entzücken. In meiner Hand ist eine Entdeckung, eine kleine Sensation, es ist nur eine Ahnung, doch sie ist aus reiner Zuversicht und Zauber.

Denn wenn meine Theorie stimmt, dann wird alles gut. Dann wird uns nichts geschehen. Und wir werden für immer verschwistert sein, für immer glücklich und verschwistert. Dann gibt es nur noch Küsse und Frieden. Und am End, mein Freund, da ist alles wieder gut. ZWEITER AKT Vierte Szene MAKEOVER I Auf der Toilette. Das neue Mädchen bekommt ein Makeover vom gemeinen Mädchen. DAS NEUE MÄDCHEN (innerer Monolog) So langsam bekomme ich eine Ahnung, wovon meine Mutter immer redet. Irgendwas ist hier gewaltig merkwürdig, aber ich kann es noch nicht in meine Finger kriegen. Cherhilde ist immer in einem Kampf, mit allen kämpft sie immerzu, aber ich glaube, sie meint es nicht bös. Ich glaube, sie hat ein großes Anliegen. Ich weiß nur noch nicht, was es ist. Aber ich fühle, dass sie Schönheit sucht. Ich hoffe es zumindest. Und Sallygard, ja ich weiß auch nicht. Sie scheint auch ein schwarzes Loch mit sich zu tragen. Mir ahnts, als könnte ich nicht mit beiden, als dürfte ich nicht mit beiden, ihnen beiden Zuneigung geben, als gebe es Gut und Böse, als gebe es einfach Gut und einfach Böse und dazwischen ist nichts oder alles und ich muss mich entscheiden. Aber ich weiß ja nicht wie, ich weiß ja nicht mal, was was ist. Beim Jupiter, ich hoffe, diese Asche verschwindet bald, vielleicht ein bisschen Sonnenlicht und alles ist schon wieder in Ordnung. DAS GEMEINE MÄDCHEN Wundervoll. DAS NEUE MÄDCHEN Das ist es? DAS GEMEINE MÄDCHEN Ja. Wie fühlt es sich an? DAS NEUE MÄDCHEN Gut. DAS GEMEINE MÄDCHEN Schön. Aber wir warten noch damit bis zum Abschlussball, in Ordnung? DAS NEUE MÄDCHEN Ja, okay. DAS GEMEINE MÄDCHEN Doch das war nur das Außen. Das Innen, das ist noch eine kleine Reise. DAS NEUE MÄDCHEN Du meinst? DAS GEMEINE MÄDCHEN Ich meine, dass du nicht du selbst bleiben darfst. Du musst etwas in dir verändern. DAS NEUE MÄDCHEN Aber was? DAS GEMEINE MÄDCHEN Das wirst du selbst merken, irgendwie wirst du es selbst merken. Es geschehen ständig Dinge, mit dir und den anderen und irgendwann, da wirst du es merken.

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DAS NEUE MÄDCHEN Das verstehe ich nicht. DAS GEMEINE MÄDCHEN Irgendwann, da wirst du einen Gedanken in dir hören, er beginnt vielleicht mit „O, mein Gott!“. Und endet damit, dass dir etwas klar geworden ist. Dir muss noch etwas klar werden und dann musst du dich ändern, ganz fest ändern. DAS NEUE MÄDCHEN Aber wenn ich gerne ich bin? DAS GEMEINE MÄDCHEN Das güldet nicht. Das güldet einfach ganz und gar nicht. Du veränderst dich nicht für dich, sondern für uns alle. Es gibt Dinge, die sind sehr wichtig. Wir wollen dich verwandeln, ich will dich verwandeln, dich schön machen für die Gegenwart, für die Zukunft, für alle Zeiten. Du sollst der Mensch werden, der wir alle sein sollen. Und ich weiß, wie es geht. Ich habe diesen Plan, dass wir nur jemanden brauchen, der vollkommen ist, vollkommen so, dass alles gut wird, dass alle so sein wollen, ob jung oder alt, ob so oder so, alle, einfach alle wirst du mit Licht in ihren Herzen erfüllen und alles wird gut sein. DAS NEUE MÄDCHEN Wenn das so ist, dann stehe ich dem nicht im Weg. Dann ist es nicht so wichtig, was ich will. Und wundervoll sein, das ist doch was Schönes. Mama, Papa, ich werde vollkommen! Und dann wollt ihr so sein wie ich, ist das nicht merkwürdig und wunderschön? ZWEITER AKT Fünfte Szene RITUALE (UNANGENEHME FRAGEN ZU ABSCHLUSSBÄLLEN ETC.) DER NERD (innerer Monolog) Ich habe Gefühle. Sie sind groß und schön. Sie sind auch tollpatschig und ich krieg sie selten so in die Stimmbänder, dass sie jemand versteht. Außerdem habe ich diese Schultern und diese Brille. Schaut doch nur. Ernstgenommen zu werden ist sehr schwierig. Aber ich weiß, dass meine Gefühle groß sind und schön. Ich interessiere mich auch dafür, dass alles gut wird. Ich liebe seltene Karten, Rollenspiele mit Drachen und Schwertern, und Dinge, die originalverpackt sind, das sind alles schöne Hobbys und oft würde ich sie gerne eintauschen gegen die Dinge, die keine Hobbys sind, so wie Probleme zum Beispiel, richtig schwierige und unlösbare und seelenerschütternde Probleme. Und natürlich liebe ich Zahlen und Elemente. Alle denken, sie, die Zahlen, sie seien neutral und objektiv. Aber das sind sie nicht. Zahlen machen uns viele Gefühle, mehr, als dass sie uns Wissen bringen. Wir hören

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eine lange Zahl, fünf Milliarden, niemand kann es sich vorstellen, nein, die meisten kennen den Unterschied nicht mal zwischen fünf Milliarden und fünf Millionen, man sagt, alles, was mehr als sieben ist, das kann man sich schon nicht mehr vorstellen, aber je nachdem, was für fünf Milliarden es sind, sind wir entsetzt, schockiert oder es versetzt die Menschen so sehr in Wallung, dass der ganze Planet vibriert oder in einen Krieg verfällt, und Krieg, das sind immer Gefühle, nur die mächtigsten Gefühle. Aber auch 1 kann schon sehr entzückend sein. 1 große Liebe. Die erste große Liebe. Oder fünf Milliarden große Lieben. Aber mein allerliebstes Hobby ist, dass alles gut wird. Hoffentlich wird mal alles gut. Es nervt, wenn alles schlimm ist. Apropos Liebe, ich bin in Ashleygunde Newhouse verliebt und jetzt werde ich sie fragen, ob sie mit mir zum Abschlussball gehen will. Musik wie ein Ritual. Gesungen. DER NERD Hallo! DAS NEUE MÄDCHEN Hallo. DER NERD Äh! DAS NEUE MÄDCHEN Ja? DER NERD Also! DAS NEUE MÄDCHEN Ja? DER NERD Äh! DAS NEUE MÄDCHEN Mhm? DER NERD Würdest du. DAS NEUE MÄDCHEN Ja? DER NERD Würdest du, also würdest du. DAS NEUE MÄDCHEN Würde ich was? DER CHOR DER NERDS Hilfe! DER CHOR DER NEUEN MÄDCHEN Hihihi! DER NERD Ich. Du! Äh! DAS NEUE MÄDCHEN Ja? DER NERD Gehst du mit mir zum. DAS NEUE MÄDCHEN Wohin? DER NERD In das Gebäude! DAS NEUE MÄDCHEN Welches Gebäude? DER NERD In dieses Gebäude! Wo der Ball sein wird! DAS NEUE MÄDCHEN Jetzt gleich? DER NERD Nein! DAS NEUE MÄDCHEN Sondern? DER NERD Dann. DAS NEUE MÄDCHEN Wann? DER CHOR DER NERDS Bumm, bumm, bumm, mein armes Herz! DER CHOR DER NEUEN MÄDCHEN Süüüüüüüüüüüüüüüüüüüß! DER NERD Ich meine, ich habe Konzertkarten, für Aerosmith! Zwei Stück! DAS NEUE MÄDCHEN Hä? DER NERD Ich meine, wenn der Ball stattfindet. In das Gebäude, wo der Ball stattfindet!

Mi 1.12. Konzert: TRI=O / Ambarchi, Sprenger & Sollmann Do 2.12. bis Sa 4.12. Martin Zimmermann Danse Macabre

Zirka Zirkus

Di 7.12. & Mi 8.12. Zirka Zirkus Marc Oosterhoff & Owen Winship Lab Rats

DAS NEUE MÄDCHEN Du meinst? DER NERD Ich glaube schon! DAS NEUE MÄDCHEN Ja? DER NERD Gehst du mit mir auf den Abschlussball? DAS NEUE MÄDCHEN Okay! DER CHOR DER NERDS Sie hat okay gesagt! Sie hat okay gesagt! DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN FRAGENDEN Würdest du? DER CHOR DER AHNUNGSLOSEN AHNENDEN Würde ich was? DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN FRAGENDEN Äh! DER CHOR DER AHNUNGSLOSEN AHNENDEN Ja? DER CHOR DER AHNUNGSLOSEN FRAGENDEN Würdest du mit mir. DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN AHNENDEN Würde ich was mit dir? DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN FRAGENDEN Würdest du mit mir zum. DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN AHNENDEN Würde ich mit dir zum was wann wie? DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN FRAGENDEN Wie soll ich das nur sagen? DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN AHNENDEN Was denn sagen? DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN FRAGENDEN Äh! DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN AHNENDEN Äh? DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN FRAGENDEN Hilfe! DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN AHNENDEN Hihihi. DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN FRAGENDEN Ich meine, ich habe Konzertkarten, für Iron Maiden, zwei Stück! DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN AHNENDEN Hä? DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN FRAGENDEN Würdest du mit mir zum Abschlussball? DER CHOR DER SCHÜCHTERNEN AHNENDEN Na klar! Supergerne! Superdupergerne! DIE GOTH Hallo! DER GOTH Ja? DIE GOTH Wie soll ich das nur fragen? DER GOTH Was denn? DIE GOTH Äh. DER GOTH Ja? DIE GOTH Ich weiß, du findest das blöd. DER GOTH Was finde ich blöd? DER CHOR DER GOTHS Äh. Wie soll ich nur. Mein Herz.

Do 9.12. Konzert: Sophia Kennedy Support: Juki P2

Sa 11.12. & So 12.12. Soraya Lutangu Bonaventure Taking Care of God

Fr 10.12. Kaserne Basel & Swisspeace Sampling Kabul

Di 28.12. Konzert: Erobique


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DIE GOTH Ich will dich was fragen. DER CHOR GOTHS Es ist zerbrochen. DER GOTH Ich habe eine Ahnung. DIE GOTH Ja? DER GOTH Ja! DIE GOTH Dann kann ich ja fragen. DER GOTH Und meine Antwort ist natürlich. DIE GOTH Bist du wirklich eine Hexe? DER GOTH Natürlich gehe ich mit dir zum. Was? Nein! DIE GOTH Denn falls ja. DER GOTH Was ist hier los? DIE GOTH Dann musst du sterben. Und ich kann dir nicht helfen. DER GOTH Sallygard! Mein liebstes Wesen Sallygard! DIE GOTH Und falls nein. DER GOTH Was ist nur mit dir? DIE GOTH Dann musst du sterben. Und ich kann dir nicht helfen. DER GOTH Sallygard! DIE GOTH Es ist das Gesetz. Man fühlt diesem herzaustrocknenden Konflikt noch nach, da bemerkt man die Vulkanforscherin, wie sie auch in der Cafeteria steht und nur einen Kaffee will. DAS GEMEINE MÄDCHEN (kreischt sehr lang, so lang wie noch nie, es könnte gar ein Lied sein) Ah! Während des Kreischens verstummt dann auch die Musik. DER NERD Meine Ohren! DER ATHLET Was ist denn? DAS GEMEINE MÄDCHEN Die Vulkanhexe! Leiser Aufruhr. DIE WISSENSCHAFTLERIN Ich will doch nur Kaffee. Darf ich einen Kaffee? Die Kantinenfrau (manchmal auch der Direx oder die ambitionierte Lehrerin) zuckt mit den Schultern. DAS GEMEINE MÄDCHEN Als ob! DIE WISSENSCHAFTLERIN Bitte bitte nur ein Kaffee. Ich bin so durstig und müde. DAS GEMEINE MÄDCHEN Du bist das Böse! Du hast unsere Welt in Asche gehüllt. Du bist eine Hexe! DIE WISSENSCHAFTLERIN Hä, nein, ich bin doch nur eine Forscherin. Ich war doch gar nicht hier als – DAS GEMEINE MÄDCHEN Papperlapapp! Hier steht es doch auf den Wänden in der Toilette. DIE WISSENSCHAFTLERIN Das ist doch deine Handschrift. DAS GEMEINE MÄDCHEN Ja, genau! DIE WISSENSCHAFTLERIN Das ist doch ganz schön dünn jetzt. DAS GEMEINE MÄDCHEN Du bist ganz schön dünn.

DIE WISSENSCHAFTLERIN Hä? DAS GEMEINE MÄDCHEN Wie alt bist du überhaupt? Bist du nicht viel zu jung, um eine Forscherin zu sein? DIE WISSENSCHAFTLERIN Ich bin sehr schlau. DAS GEMEINE MÄDCHEN Du meinst wohl, du bist sehr Hexe! DIE WISSENSCHAFTLERIN Hä, nein, ich meine, ich bin sehr schlau. Und ich habe etwas herausgefunden über den Vulkan und wieso er ständig ausbricht. DAS GEMEINE MÄDCHEN Kein Wort mehr! DIE WISSENSCHAFTLERIN Aber doch, natürlich, Worte, bitte. Ich weiß ein bisschen was, ich habe geforscht und – DER ATHLET Du machst es nur schlimmer. DIE WISSENSCHAFTLERIN Wollt ihr denn gar nicht wissen, was ich herausgefunden habe? DAS GEMEINE MÄDCHEN Alles Lüge! Du hast schon genug Unheil über uns gebracht. DIE WISSENSCHAFTLERIN Aber ich weiß was über die Vulkanausbrüche. Hier in meinen Notizen steht es! Wieso will denn niemand – DIE KANTINENFRAU Ist viel zu laut hier! Dann eben alles leiser, aber dafür wichtiger und mit mehr Angst im Raum. Musik wie ein Ritual. DAS GEMEINE MÄDCHEN Warum tust du diese Dinge? Warum kannst du uns nicht in Frieden lassen? Wieso willst du, dass alles grau und furchtbar ist und überall der Lungenkrebs und die haltlose Laune waltet? DIE WISSENSCHAFTLERIN Also – DER ATHLET Also, was Cherhilde sagen will, vielleicht ist sie gerade etwas aufgebracht, aber was sie sagen will, ist, dass wir alle Angst haben und du wahrscheinlich schuld daran bist. Verstehst du? Wir haben doch nur Angst. Vor dir! Das musst du doch verstehen. Drum herum steht die schweigende Mehrheit, vor sich auf den Boden schauend, und weiß nicht so recht, was hier los ist, so richtig nicht weiß, was hier eigentlich los ist. Weder so noch so. DAS NEUE MÄDCHEN Was passiert hier? DER NERD (mit Hilfsbereitschaft) Psst. DIE WISSENSCHAFTLERIN Nein. Versteh ich nicht. DAS NEUE MÄDCHEN Entschuldigen Sie, Herr Direktor, aber was ist denn hier los? DER DIREKTOR (wahrhaftig gut gemeint) Shh. DER ATHLET Wir leben nicht mehr im Mittelalter und es gibt Dinge, die gehen einfach nicht mehr. Das musst du doch verstehen. Was damals war, gilt heute nicht mehr. DAS NEUE MÄDCHEN Aber was ist denn? Der Goth gibt ihr ein Zeichen nicht zu sprechen oder sich zu ducken und wenn sie Lust hat, ein ruhiges

Leben zu führen, einfach stillzustehen und Augenkontakt und Wörter zu vermeiden DAS NEUE MÄDCHEN Ok. DIE WISSENSCHAFTLERIN Du meinst Besonnenheit und einen Kaffee trinken? DIE GOTH Jetzt reicht es aber! Du bist hier nicht erwünscht. Wenn dir dein Leben lieb ist, verzieh dich schnell. DER GOTH Sallygard! Nicht. DIE GOTH O Schreck, was ist nur? DAS GEMEINE MÄDCHEN Misch dich nicht ein! DIE GOTH Aber. DAS GEMEINE MÄDCHEN Nicht du! Er! Die Hexe! DER GOTH Aber warum denn? DAS GEMEINE MÄDCHEN Ihr könnt nicht einfach die Welt aus ihren Angeln heben. Mit euren Zaubern und eurem Unmut. Lasst uns in Frieden. Wir werden das nicht mehr mit uns machen lassen. DER GOTH Aber was nicht mit euch machen lassen? Ich bin doch auch euch. DER ATHLET Versteht ihr denn nicht? Ihr ruiniert alles. Warum könnt ihr nicht damit aufhören? Ich versuche es doch ganz einfach und besonnen zu erklären, aber mit euch ist einfach nicht zu reden. Es ist jetzt eine andere Welt. Hier herrscht der Fortschritt. Es ist eine andere Zeit, das müsst ihr doch kapieren. Was früher ging, das geht jetzt nicht mehr. Es ist jetzt einfach an der Zeit, dass bestimmte Dinge aufhören, die nicht gut waren. Und da ist uns allen der Geduldsfaden gerissen. Ihr seid einfach nicht mehr erwünscht. Bitte, bitte, hört einfach auf zu existieren. DER GOTH Hä? Sallygard! DIE GOTH Ich weiß nichts mehr! DER GOTH Sallygard! DIE GOTH Ich liebe Zauber, ich liebe dich, ich liebe es, wenn alles fair ist. Ich will doch nur das Richtige tun. DER GOTH O Sally. DIE GOTH Er ist eine Hexe! Ich habe es selbst gesehen. Neulich, da waren wir auf der Toilette zusammen und da hab ich es gesehen. Er hat es mir gezeigt. Musik. Ab hier gesungen alles. DIE GOTH (mit der endlosen Traurigkeit und Ratlosigkeit von allen Dingen im Universum) Er ist eine Hexe! DER GOTH Sallygard? DIE WISSENSCHAFTLERIN Was geschieht hier nur? DER CHOR (mit leiser lebensbedrohlicher Verunsicherung, parallel und zart im Hintergrund bis zum Schluss der Szene) Hä?

HIBERNATION PERFORMANCE VON O-TEAM FEAT. ANTJE TÖPFER STUTTGARTPREMIERE: 9.12.2021

WEITERE TERMINE: 10.+11. 12. 15 – 17.12.

Koproduktion mit HochX München und dem Theater der Stadt Aalen

THEATERRAMPE.DE

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Hä? Hä? Hä? DIE GOTH Keine Ahnung! Keine Ahnung! Verzeihung! Unendlich Verzeihung! DER GOTH Aber Sallygard. DAS GEMEINE MÄDCHEN Sie haben es gehört, Herr Direktor. So unternehmen Sie doch etwas. DER DIREKTOR (versteht nicht, aber dafür mit Angst) Ich verstehe. DAS GEMEINE MÄDCHEN (die Wissenschaftlerin meinend) Und sie auch! DIE WISSENSCHAFTLERIN Ich will doch nur einen Kaffee! DAS GEMEINE MÄDCHEN Es steht auf den Toilettenwänden! DIE WISSENSCHAFTLERIN Hä? DER ATHLET Es steht dort. Und dann ist es so. Herr Direktor. DER DIREKTOR (versteht nichts, aber hat viel Angst dafür) Ja, ich verstehe. Ich verstehe. Ich verstehe alles. DAS NEUE MÄDCHEN (mit lauter lebensbedrohlicher Verunsicherung) Hä? DER NERD (den Tränen nah, für sich, für alle) Gott im Himmel! Gott im Himmel! Wahrhaftig, ich hasse diese Arschlöcher! Die Wissenschaftlerin ist so enttäuscht, dass sie außer sich ist, so außer sich wie noch nie jemand zuvor. Sie hüpft und kreischt und schlägt in die Luft, als wäre das Unverständnis an sich in sie gefahren und es gibt keinen Exorzismus, bis ihr schließlich ein Kokon wächst und sie nun einkokoniert in der Schulcafeteria steht. Und er ist so schwer, dass ihn niemand bewegen kann. Dann kehrt friedliche Stille ein.

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Vorhang öffnet sich vollständig. Ein Chor steht in der Ecke und beobachtet ihn selbstverständlich. Vielleicht bewegt er lautlos den Mund, als würde er singen, aber es kommen keine Töne. Dann verschwindet der Chor. Und hinter ihm erkennen wir nun den Kokon, der inzwischen prächtig ist. Dann taucht das gemeine Mädchen auf, steigt von einem Besen und fegt gekonnt den Flur. Musik. Gesungen. DAS GEMEINE MÄDCHEN Hi. DER GOTH Hi. DAS GEMEINE MÄDCHEN Verzeihung. Verzeihung. Es tut mir leid. Verzeih, verzeih mir. Bitte, bitte, verzeih mir. Es tut mir leid. Das wollt ich nicht. Das wollt niemand so. Die Goth tritt auf. DIE GOTH Verzeihung, liebster Joshphilius. Verzeihung! Es tut mir leid. Verzeih, verzeih mir. Es musste nicht so kommen. Doch musste es so kommen. Es ist, wie es ist. DAS GEMEINE MÄDCHEN & DIE GOTH Es tut mir leid. Es tut mir leid! Ich weiß doch auch nicht. Ich weiß doch auch nicht! DAS GEMEINE MÄDCHEN Hoffentlich wird alles besser. DIE GOTH Eines Tages. DAS GEMEINE MÄDCHEN Alles besser für immer. Der Himmel hat sich währenddessen zum ersten Mal in den Lebenszeiten dieser jungen Menschen aufgeklart, als wäre es ein Geschenk für ihren Abschlussball. Dort erscheint ein Mond und eine Sternschnuppe. DER GOTH Der Mond! Eine Sternschnuppe! DAS GEMEINE MÄDCHEN O, wünsch dir was! Wünsch dir was! DER GOTH Ich wünsch mir, dass ihr verschwindet. Alle verschwindet. Lasst mich in Ruh. Alle verschwinden, obwohl er es laut ausgesprochen hat. Dann geschieht etwas …

DER VULKAN And in my mind, in my head This is where we all came from The dreams we have, the love we share This is what we’re waiting for And in my mind, in my head This is where we all came from The dreams we have, the love we share This is what we’re waiting for In my mind, in my head This is where we all came from In my mind, in my head This is where we all came from In meinem Kopf, da ist es so dass dort all die Vokabeln vorkommen, die schön sind. Es ist der schönste Vokabeltest der Welt. Macht euch keine Sorgen, es wird wieder alles. Heute schenke ich euch eine Sternennacht. Zu eurem Abschlussball soll alles gut sein. Ihr müsst euch nur alles gönnen, ihr müsst euch nur alles gönnen! Das Leben aber auch den Tod. Dann kann euch nichts geschehen. Ich bin immer für euch da. Euer Vulkan. In my mind, in my head This is where we all came from The dreams we have, the love we share This is what we’re waiting for In my mind, in my head This is where we all came from In my mind, in my head This is where we all came from

DRITTER AKT Zweite Szene

DRITTER AKT Dritte Szene

DER WISSENSCHAFTSENGEL … mit dem Kokon und der Musik. Der Kokon bricht auf, die Wissenschaftlerin ist ein Wissenschaftsengel geworden, mit einem Schutzanzug, Reagenzgläsern und Flügeln und sie besteigt den Vulkan, betreibt Wissenschaft dort oben, nimmt eine Probe und winkt dem Goth. Singen. DER WISSENSCHAFTSENGEL Ciao. Bis später! DER GOTH Ok. Ciao! Dann fliegt sie empor mit ihren Proben. Es folgt ein Bühnenballett. Sie macht sich hübsch für den Abschlussball (VIEL UND HEFTIG UND SCHÖN).

DER ABSCHLUSSBALL Alle in Ballgarderobe im Gebäude des Abschlussballs. Das neue Mädchen schwebt auf ein paar Treppenstufen auf die Bühne herunter und ist jetzt so, wie man sein soll heute (auch die Haare hat sie auf und die Brille abgelegt). Alle sind das, was man ist, wenn man nicht mehr neidisch ist, sondern es einfach nur noch schön findet und gönnt, so wundervoll ist alles. Und sogar der Wissenschaftsengel hat es sich nicht nehmen lassen, auf dem Ball zu erscheinen. UNIRONISCH PERFEKT UND ERSTREBENSWERT bittersüß weil heute ist bittersüß.

VORHANG. MAKEOVER II Das neue Mädchen schaut durch den Vorhang mit ihrem Kopf und ihr kommt, ganz langsam, wie ein Sonnenaufgang oder ein Frühling, eine Erkenntnis, die alle mit Licht in ihren Herzen erfüllen wird. DAS NEUE MÄDCHEN O mein Gott. DRITTER AKT Erste Szene VERZEIHUNG Später, kurz vor dem Abschlussball. In der Schule. Der Vorhang öffnet sich ein bisschen. Alles wie immer, außer die Zeit, die vergangen ist und der Kokon, der nun prächtig in der Schule haust. Durch den Vorhangspalt sieht man den Goth in feiner Abendgarderobe, wie er nun dort steht und in eine Richtung schaut. Der

GIGI D’AGOSTINO & DER VULKAN IN MY MIND (Übertitel)


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DER NERD Hi. DAS NEUE NEUE MÄDCHEN (dieselbe aber auch nicht) Hi. DER NERD Du bist umwerfend. DAS NEUE NEUE MÄDCHEN Danke. DER NERD Ich meine, also, klar, deine Brille ist weg und deine Haare sind auf, aber irgendetwas an dir ist umwerfend. DAS NEUE NEUE MÄDCHEN Ich hatte ein Make­ over von innen. Ich bin neu und habe was verstanden. DER NERD Ja, das ist es. Das ist es! Du bist neu. Du hast was verstanden. Du bist die Einzige hier im Raum, die etwas verstanden hat. Alle haben keine Ahnung, aber in deinen Mundwinkeln sehe ich eine Ahnung. Und es ist umwerfend. DAS NEUE NEUE MÄDCHEN Ja, ich fühle mich gut. Ich weiß noch nicht, wie ich es euch erklären kann. Aber sorgt euch nicht. Es wird alles gut werden. Glaub mir. DER NERD Ich glaube dir. DER DIREKTOR Hallo. Herzlich willkommen auf dem Abschlussball. Ich finde, man kann sagen, es ist euch sehr gut gelungen. Alles ist sehr hübsch. Ich schaue mich hier um, und es ist einfach so, dass wenn Schönheit und feine Details in mein Auge fallen, dass mich das einfach glücklich macht. Das ist hier alles sehr schön geworden. Danke! Erst einmal möchte ich euch allen zu euren Abschlüssen gratulieren. Ihr könnt stolz auf euch sein. Mit dem Abschluss in der Tasche geht ihr jetzt in die Welt hinaus und ich hoffe, dass jede Einzelne von euch überleben wird. Die Welt ist ein gefährlicher Ort und ein schöner. Ihr werdet sie nun kennenlernen. Es gibt viele Erwartungen und ich hoffe, ihr werdet sie füllen mit Tränen und Gedanken. Doch vorher begehen wir unsere Tradition, die noch gar nicht so alt ist oder schon ganz schön alt. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr. Ehrlich gesagt, weiß ich ja auch überhaupt nichts mehr. Dieses Jahr, es ist ja das Jahr, ja, welches Jahr ist eigentlich? Ich kann mich ja kaum an das Jahrhundert erinnern. Aber dieses Jahr beenden wir also wie immer oder zum ersten Mal, oder wie gesagt, ich weiß es auch nicht mehr, mit dieser Tradition. Hier in diesen Umschlägen habe ich die Siegerinnen der Wahl für diesen Abschlussball. Es sind eure Siegerinnen. Ich werde sie nun verkünden. Doch vorher möchte ich noch mal ausdrücklich sagen: Ich habe keine Ahnung. Und die Siegerinnen der diesjährigen Abschlussballwahl sind. Joshphilius Papadopoulos und die Wissenschaftlerin. Abermals Applaus. Ein tosender, ein freudiger, ein zugewandter Applaus voller Gönnung. Sie werden auf die Bühne gewunken und bekommen Kronen und Schärpen. Dann werden sie auf den schönen Scheiterhaufen gebeten. Alle haben plötzlich eine Fackel.

Und mit Angst, Zuversicht, Hoffnung und einem sehr schamhaften und vernichtendem Gewissen zünden sie den Scheiterhaufen an. In diesem Moment beginnt die Musik: OPM – „Heaven is a Halfpipe“. If I die before I wake At least in heaven I can skate ‘Cause right now on earth I can’t do jack Without the man up on my back Now heaven would be a DJ Spinning dub all night long And Heaven would be just kickin’ back With Jesus packing my bong And if you don’t believe in Jesus and Mohammed or Buddha too And while the world is warring We’ll just sit back and laugh at you Singing If I die before I wake At least in heaven I can skate ‘Cause right now on earth I can’t do jack Without the man up on my back Now when most people think of heaven They see those pearly gates But I looked a little closer And there’s a sign that says “Do Not Skate” So if you wanna come to my heaven Well we’re all gonna have a ball And everyone you know is welcome ‘Cause we got no gates or walls Singing If I die before I can wake At least in heaven I can skate ‘Cause right now on earth I can’t do shit Without the man fucking with it And then I got to the gate Pulled out a list that I’d been calling fate I’m sorry friend you can’t come in You gotta a list here that doesn’t end You’re mad ‘cause I smoke dope You teaching any classes in how to cope I’ll find a place to rest my head I’d rather be alone now that I’m dead Like Christian Hossoi way back in 87’ We’ll be busting Christ air’s until we get to Heaven You think I really care that I miss my Biology Got my education in stale fishology With all your rules you gots to chill I’m gonna twist out like Mike McGill I’m gonna twist out cause I got the skillz I’m gonna twist out cause I got the skillz, got the skillz, got the skillz Heaven is a halfpipe If I die before I wake At least in heaven I can skate ‘Cause right now on earth I can’t do jack

Without the man up on my back If I die before I wake At least in heaven I can skate ‘Cause right now on earth I can’t do shit Without the man fucking with it If I die before I wake At least in heaven I can skate ‘Cause right now on earth I can’t do jack Without the man up on my back If I die before I wake At least in heaven I can skate ‘Cause right now on earth I can’t do shit Without the man fucking with it If I die before I wake At least in heaven I can skate ‘Cause right now on earth I can’t do shit Alle gehen zum Paartanz aufeinander zu. Eng umschlungen tanzen sie mit gemischten Gefühlen und Fackeln. Die Bühne dreht sich wieder vor und der Vulkan bricht aus wie ein festliches Feuerwerk. Das neue neue Mädchen und der Nerd erklimmen ihn zum Teil und geben sich einen Kuss und genießen die Lava. Dann kommt auch der Direktor ums Eck und hat zwei Urnen in der Hand und er sagt SCHLUSS DER DIREKTOR (mit zwei Urnen in den Händen) Ich glaube, ich glaube ganz fest, dass, wenn wir nur so weitermachen, wenn wir da dranbleiben, dann wird ganz bestimmt, ganz sicher, wirklich alles alles gut. Dann wird alles schlimm. Ja dann glaube ich, dass alles gut werden wird. VORHANG FÜR IMMER. © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2021

Bonn Park, geboren 1987 in Berlin, studierte zunächst Slawische Sprachen und Literatur an der Humboldt-Universität und anschließend Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin sowie Regie an der Zürcher Hochschule der Künste. Parallel entwickelte er erste Arbeiten als Regisseur und Autor an der Berliner Volksbühne während der Intendanz von Frank Castorf. Seine Stücke, die er häufig selbst inszeniert, wurden zu Festivals wie den Mülheimer Theatertagen oder Radikal jung eingeladen und vielfach ausgezeichnet. Sein Stück „Gymnasium“ wurde im Oktober 2021 am Münchner Volkstheater uraufgeführt.

M   BENE MWAMBENE & IVANA DI SALVO

MAWAZO   D   as Stück wirft einen Blick auf menschliche Träume und Hoffnungen i  n einer globalisierten Welt. 3  .12. Premiere  |  4.12.  |  9.–11.12.2021 w   ww.schlachthaus.ch  |  Rathausgasse 20/22  |  3011 Bern E  nglisch, Kiswahili, Italienisch, Ichibemba|

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Magazin Der Humor des Tragischen

Das internationale Festival Radar Ost im Deutschen

Theater Berlin zeigt Produktionen aus Belarus, der Ukraine sowie Bosnien und Herzegowina

Ein rares Wunder des Kalten Krieges Zum Tod des Kulturwissenschaftlers Jost Hermand  Bücher Sasha Marianna Salzmann, Emine Sevgi Özdamar, Claudius Baisch / Henrike Schmidt / Dana Soubh


magazin

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Der Humor des Tragischen Das internationale Festival Radar Ost im Deutschen Theater Berlin zeigt Produktionen aus Belarus, der Ukraine sowie Bosnien und Herzegowina Unheimliches hört dieser Woyzeck aus dem

Gehilfen, der ihn blutig verstümmelt – wäh-

Beispiel vor zwei Jahren Georgien; diesmal

Untergrund. Die Freimaurer? Vielleicht eine

rend Marie gleich von vier Frauen in verschie-

wurde neben Belarus auch Bosnien und

andere Untergrundbewegung? Es ist ein be-

denen sozialen Rollen dargestellt wird. Alles

­Herzegowina thematisiert mit dem Nachbau

sonderer Moment für die Inszenierung aus

ist zeichenhaft, aber nicht plakativ – ein gro-

eines ganzen Wohnhauses aus der Zeit der

Minsk, denn sie wird in den Kammerspielen

ßer, eindringlicher Theatermoment.

Jugoslawien-Kriege durch die Künstlerinnen

des Deutschen Theaters Berlin erstmals live

Diese gewiss nicht einfach zu realisie-

Maja Zeco und Ina Arnautalic. Es ist die letzte

vor Publikum aufgeführt, nachdem sie sich

rende Einladung durch das von Birgit Lengers

von Lengers ­kuratierte Ausgabe des DT-Festi-

bislang nur über YouTube verbreiten konnte.

geleitete Osteuropa-Festival am Deutschen

vals; ab der kommenden Spielzeit wird die

Auch die Umstände ihrer Entstehung sind be-

Theater setzte den Grundton der diesjährigen

Kuratorin und Dramaturgin zusammen mit

sondere. Denn das freie Theater Kupalaŭcy,

Ausgabe unter dem Titel „Art(ists) at Risk“. Davon

dem Regisseur Bassam Ghazi die Bürger­

von dem diese Inszenierung stammt, ist aus

gibt es inzwischen leider viel zu viele in immer

bühne am Düsseldorfer Schauspielhaus leiten.

den Protesten gegen die Fälschung der Wahl-

mehr Ländern. In das Programm eingerückt war

Oft hat Radar Ost Ungewöhnliches ge-

ergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen im

auch Kirill Serebrennikows DT-Gastinszenie-

zeigt oder auch koproduziert und damit den

August letzten Jahres hervorgegangen, als eine

rung „Decamerone“ aus dem vergangenen Jahr,

hiesigen Blick auf die Theaterlandkarte Euro-

Gruppe von Schauspielern und Theaterkünst-

dazu noch eine Koproduktion des Berliner Hau-

pas geschärft. Das trifft im besten Sinn auch

lern das Nationaltheater Janka Kupala in den

ses selbst mit der Regisseurin Ksenia Ravvina

auf das Gastspiel „Bad Roads“ vom Kiewer

Auseinandersetzungen mit der Macht verließ.

und der Schauspielerin Yang Ge, die in mehre-

Theater vom Linken Ufer (des Dnipro) zu, für

Nun sind sie Geächtete des Regimes Luka-

ren Inszenierungen von Serebrennikow auftrat.

das

schenko, der im Februar bei einem grotesken

Auch in jenem „Sommernachtstraum“, der

Expertin und Autorin des Abends Natalia

Auftritt in diesem Nationaltheater noch selbst

­angeblich nie stattfand und aus dem dann in

­Vorozhbit eine junge Frau in die Kriegsgebiete

vorgegeben hatte, was und vor allem auch wie

Moskau der Gerichtsprozess wegen angeblicher

der Ost-Ukraine schickt. Dort verliebt sie sich

die Schauspieler zu spielen hätten.

Unterschlagung öffentlicher Gelder gegen den

in einen gegnerischen Soldaten; und alte

Regisseur und Theaterleiter konstruiert wurde.

Leute wollen nicht mehr vom Fleck, weil ih-

Insofern ist dieser „Woyzeck“ in der

die

ukrainische

Dokumentartheater-­

­Regie von Raman Padaliaka eine mehrschich-

Ksenia Ravvinas Abend „In a Real Trage-

nen das Schicksal ihres Huhns bedeutender

tige, selbstbewusste Gegenreaktion und damit

dy, It Is Not the Heroine Who Dies; It Is the

erscheint als die Politik der Weltmächte. Der

hier auch eine erhellende Erzählung über die

Chorus“ (nach einem leicht abgewandelten

grausame Stillstand dieses „eingefrorenen“

Vorgänge in Belarus. Denn der Soldat Woyzeck

Zitat Joseph Brodskys) meint nun, dass es

Konflikts wird in dem schon 2017 entstande-

ist im Grunde ein Mensch, dem das Gute mit

nicht nur die großen Heldinnen des Kunst­

nen Stück sehr deutlich. „Bad Roads“ zeigt

aller Gewalt ausgetrieben wird. Die schnelle

machens sind, die zum Schweigen gebracht

im Video über der Bühne eine endlose Auto-

Szenenfolge zum Elektro-Beat von Eryk Arłoŭ-

werden, sondern auch ihr Chor, mithin das

fahrt über nächtliche Straßen, während die

Šymkus spielt in greller Schwarz-Weiß-Rot-

Publikum. Dazu wurden Teile der Inszenie-

von der Regisseurin Tamara Trunova insze-

Optik auf einer Bank vor der Projektion eines

rung per QR-Code übers Handy eingespielt,

nierte Live-Szenenfolge sich zwischen Gittern

tristen Neubaublocks – und man braucht nicht

so wie in den sozialen Netzwerken heute üb-

und Mülllandschaften abspielt, wo sie selt­

viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass diese

lich. Völlig überraschend sprang die Inszenie-

samerweise von einem Humor des Tragischen

Ausstattung von Kaciaryna Šymanovič auch

rung vom Fall Serebrennikow dann mit der

gewärmt wird. Das ist eine hier unbekannte

eine Konsequenz des illegalen Hinterhofgara-

real auftretenden Performerin Leicy Valenzuela

Temperatur. //

gen-Theaters der Kupalaŭcys ist. Bezeichnend

nach Chile, wo es nicht nur eine harte Dikta-

auch, wie die Zurichtung Woyzecks gezeigt

turgeschichte, sondern aktuell auch soziale

wird: Es ist vor allem der Arzt mit zwei brutalen

Proteste gibt. Valenzuela führte ihre Geschichte über das Motiv der Solidarisierung

Eine erhellende Erzählung über die Vorgänge in Belarus – Raman Padaliakas BüchnerInszenierung „Woyzeck“ vom freien Minsker Theater Kupalaŭcy beim Festival Radar Ost im Deutschen Theater Berlin. Foto Screenshot aus der Onlinepremiere/ Theatergruppe Kupalaŭcy

mit den Frauen schließlich nach Belarus. Radar Ost wurde 2018 gegründet und zunächst im Umfeld der Autorentheatertage des Deutschen Theaters veranstaltet. Der Name bezeichnete mehr eine Himmelsrichtung als eine geografische oder gar politische Definition. Einen Schwerpunkt bildete zum

Thomas Irmer

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Ein rares Wunder des Kalten Krieges Zum Tod des Kulturwissenschaftlers Jost Hermand Jost Hermand (1930 – 2021). Foto privat

Mit dem am 11. April 1930 in Kassel gebore-

Naturalismus,

Stilkunst

wurde, konnte Hermand 1959 mit Studenten

nen Jost Hermand ist nun wohl der letzte Ger-

um 1900“ und „Expressionismus“. Da das

seiner Universität in Madison  /  Wisconsin

manist von uns gegangen, der im tiefsten

alle Kunstsparten in Beziehung setzende

„Mutter Courage“ inszenieren – „mit Halbvor-

Sinne Kulturwissenschaftler war, denn er

Werk im Akademie Verlag der DDR erschei-

hang, mit verstimmtem Klavier“. Von seinen

überschritt die Grenzen des Fachs und stellte –

nen sollte, wechselte der junge promovierte

vielen Forschungsschwerpunkten sei neben

als wäre es das Selbstverständlichste der Welt –

Hermand 1955 von Marburg nach Ost-Berlin.

Brecht auch Heinrich Heine erwähnt.

auch ständig Verbindungen zwischen den

Die ersten beiden, vom intellektuellen Publi-

Mit seiner Lehre, die die deutsche

verschiedenen Künsten her. Das flexible Ta-

kum der DDR begierig aufgenommenen Bän-

Kulturgeschichte auch während und nach

lent war Hermand eingeboren. Eigentlich

de entsprachen nicht den Vorstellungen der

der Teilung in ihrem dialektischen Span-

wollte er Romanschriftsteller werden, nahm

Kulturbürokratie, weshalb Hermand 1958

nungsverhältnis zusammendachte, eröffnete

aber das Angebot des zwischen Ost- und

barsch aus dem Arbeiter- und Bauernstaat

Hermand ein neues, bis heute lebendiges

Westdeutschland pendelnden renommierten

ausgewiesen wurde. Doch die Tatsache, eini-

Kapitel der amerikanischen Germanistik. In

Kunsthistorikers Richard Hamann an, dessen

ge Jahre in der DDR gearbeitet zu haben,

allen seinen Arbeiten verband er kulturhisto-

aus Altersgründen nicht mehr durchführbares

reichte, um Hermand die universitäre Karrie-

rische, soziale, politische und selbstver-

Mammutprojekt einer fünfbändigen Kultur­

re in der Bundesrepublik zu verwehren. Er

ständlich ökolo­ gische Gesichtspunkte und

geschichte zu verschriftlichen: „Gründerzeit,

fand den Ausweg in die USA. Dass der Aka­

wirkte so der postmodernen Verengung

demie Verlag es ihm ermöglichte, dort die

auf unhistorische Ästhetisierung entgegen.

weiteren Bände fertigzustellen, und dass er

­Obwohl er damit nicht dem germanistischen

sie zwischen 1959 und 1975 auch heraus-

Mainstream folgte, konnte der äußerst

brachte, gehört zu den wenigen bemerkens-

lebendig vortragende Hermand zahlreiche ­

werten Wundern der Kulturgeschichte des

Gastprofessuren an deutschen Universitäten

Kalten Krieges.

wahrnehmen. Seit 2006 hielt er fesselnde

Janosch

KOMM, WIR FINDEN EINEN SCHATZ St.-Pauli-Theater Hamburg

Impressionismus,

Ost-Berlin war für Hermand auch in

Vorträge bei den a­ lljährlichen Veranstaltun-

anderer Beziehung prägend: Hier war er Fan

gen des deutschen Schriftstellerverbandes

des Berliner Ensembles geworden. „Da gab es

in der Ver.di-­Bildungsstätte am Wannsee.

das Politische, aber auch etwas von so hoher

Jost Hermands Schaffenskraft blieb

ästhetischer Qualität in dem Brecht-Theater,

unerschöpflich. Er starb am 9. Oktober 2021

das hatte mich frappiert“, erzählte er einmal

91-jährig in Madison/Wisconsin. //

in einem Gespräch. „Das hat mich total

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38

­umgekrempelt nach dieser Adenauer’schen,

Tel. 04137 - 810529

total reaktionären Zeit.“ Während Brecht in

info@merlin-verlag.de

der Bundesrepublik weitgehend boykottiert

Sabine Kebir


CHANGES

Berliner Festspiele 2012–2021

Herausgegeben von Thomas Oberender

Formate Digitalkultur Identitätspolitik Immersion Nachhaltigkeit

Buchverlag Neuerscheinungen

Dieser Reader ist die Selbstanalyse einer Institution und ihres Programms, und er ist gleichzeitig der Versuch, ästhetische und politische Ereignisse, wie Botho Strauß es nannte, zusammenzudenken. Im Brennglas eines Jahrzehnts werden wesentliche Wandlungen in der Organisation von Festivals, Ausstellungen, Aufführungen und Diskursveranstaltungen entlang von fünf Leitbegriffen reflektiert: Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion und Nachhaltigkeit.

Terzopoulos’ Inszenierungen wurden weltweit gezeigt und wirken langfristig tief auf Theorie und Praxis des Theaters wie auch auf die Erforschung seiner Grundlagen in unterschiedlichen Kulturen. Dieser englischsprachige Band dokumentiert Beiträge und Vorträge u. a. von Anatoly Vasiliev, Eugenio Barba, Vasilis Papavasileiou, Blanka Zizka, Daniel Wetzel, Jaroslaw Fret, Johanna Weber, Savvas Stroumpos, Kerem Karaboga, Li Yadi, Juan Esteban Echeverri Arango, Savas Patsalidis, Freddy Decreus, Frank Raddatz, Eleni Varopoulou, Penelope Chatzi­dimitriou, Dikmen Gürün, Kim Jae Kyoung.

CHANGES Berliner Festspiele 2012 – 2021 Herausgegeben von Thomas Oberender

Terzopoulos Tribute Delphi Herausgegeben vom Attis Theatre

Paperback mit 520 Seiten Zahlreiche farbige Abbildungen ISBN 978-3-95749-398-9 EUR 24,00 (print) / EUR 19,99 (digital)

Paperback mit 248 Seiten, in englischer Sprache Mit zahlreichen Abbildungen ISBN 978­-3-­95749-­400-­9 EUR 25,00 (print) / 22,99 (digital)

Wut ist eine allen Menschen vertraute Emotion und ihre individuelle und gesellschaftliche Einhegung ein mühsamer Lernprozess. Ist die Wut grenzenlos, droht der gesellschaftliche Kollaps. Erlahmt sie, droht Stillstand. Bernd Stegemann zeigt in seinem brillanten Essay, wie eine Wutkultur die Balance zwischen Produktivität und Negativität finden muss, damit wir in den Stürmen des 21. Jahrhunderts nicht untergehen.

Dieser eindrucksvolle Bildband dokumentiert unterschiedliche Hera­n­ gehensweisen des Bühnenbildners und Regisseurs Michael Simon bei der Konzeption seiner Bühnenräume. In seinen Arbeiten für Schauspiel, Tanz- und Musiktheater, in Projekten und Installationen seit den 1980er Jahren haben sich zentrale Themen herausgebildet, die dem Buch seine Struktur geben: Geometrie, Bewegung, Materialität und Worte.

Bernd Stegemann Wutkultur Leinengebundenes Hardcover mit 100 Seiten ISBN 978-3-95749-341-5 EUR 12,00 (print) / EUR 9,99 (digital)

Inklusive Augmented-Reality-App, die mehr als 35 Bilder dieses Buches lebendig werden lässt.

Michael Simon – FERTIG gibt’s nicht Bühnenbild. Prozesse Herausgegeben von Tilmann Neuffer und Stephan Wetzel Klappenbroschur mit 264 Seiten ISBN 978-3-95749-365-1 EUR 28,00 (print) / EUR 21,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de


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Postsowjetische Lebenswege – Sebastian Nüblings Inszenierung von Sasha Marianna Salzmanns Romandebüt „Außer sich“ am Maxim Gorki Theater Berlin 2018, hier mit Polina Lapkowskaja, Sesede Terziyan und Kenda Hmeidan (v. l.). Foto Ute Langkafel/Maifoto

Ciguapa, eine mythische Figur aus einem der Computerspiele, in die sich Nina versenkt. Ciguapa ist eine Metamorphose des Fauns, der Lena in Form einer kleinen Figur aus der mütterlichen Vitrine als Schutzpatron der Vergessenen erst begleitet und dann heimsucht. Er erscheint, wenn Menschen in ihrem Leben in die Ritzen des Fortschritts geraten. Der „Fleischwolf“, der die neunziger Jahre bestimmte, zerreibt so auch ihren Vater und die anderen Überflüssigen. In dieser Zeit behandelt Lena Privatpatienten im ukrainischen Dnipropetrowsk, die ihr bei jedem Klinik­ besuch Geschenke und Geld mitbringen. In ihrem Behandlungszimmer landen die Reichen in Pelzmänteln, aber „die anderen, die Alten, die Vergessenen, die bekomme ich nicht zu Gesicht. Die verrotten irgendwo“.

In den Ritzen des Fortschritts

1970er Jahren in der Ukraine geboren wur-

Dann wandert sie mit Tochter und jüdischem

den, und deren in Deutschland aufgewachse-

Ehemann als Kontingentflüchtling aus, auf

Das fünfzigste Geburtstagsfest von Lena ist

nen Töchtern Lina und Edi gezeichnet wer-

der vergeblichen Suche nach einem Leben

nahe daran, Frohsinn und Grausamkeit auf

den. Die vier Frauen, aus deren Perspektive

jenseits von Gewalt und Einsamkeit.

eine Weise zu verbinden, wie es nur Familien-

der Roman erzählt wird, verbindet und trennt

zusammenkünften möglich ist. Am Buffet

das Gefühl der Fremdheit.

In dichten Bildern führt Salzmanns ­Roman durch Stagnation und Zerfall der Sow-

diskutieren die Verwandten über die richtige

„Mit weichgeklopftem Rücken und

jetunion. Entlang der Beziehungsnetze, die

Zubereitung von Forshmak. Ein Mann – denn

wundgekratzter Haut stehen die Mütter vor

sich besonders zwischen den stark gezeich-

solche Aufgaben überlasse man lieber den

ihren Töchtern und diese Töchter vor ihren

neten Frauenfiguren spannen, entsteht ein

Herren – entkorkt eine weitere Flasche Krim-

Töchtern und können sich nicht rühren, dre-

geschichtsreiches Panorama der Zeit, das

wein. Und den Jüngeren werden die Lebens-

hen ab und zu ihren Oberkörper wie auf

treffend und brutal gegen die verhandelte

entwürfe der Älteren aufgedrängt. Im jüdi-

Scharnieren hin und her“, träumt Nina. Sie

Sprachlosigkeit anschreibt. //

schen Gemeindezentrum Jenas verständigen

versucht, sich den fernen Menschen aus dem

sich die Gäste tanzend und trinkend über ihre

zerbröckelten Koloss, die mit „Sowjetaugen“

Vergangenheit.

auf Deutschland blicken, anzunähern. „Das

Lara Wenzel­

Adresse: Fassbinder

Alle scheinen sich auf ein Bild der Sow-

Land, in das sie hineingeboren wurden, ist

Wo wohnen Sie, Madame? Die aus dem Fran-

jetunion geeinigt zu haben, aber niemand re-

schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem

zösischen übersetzte Frage wird zu einem der

det über die wirklichen Geschehnisse, findet

noch.“ Sie stecken fest in einer Zwischen-

Leitmotive dieses wundervollen Romans. Die

Lenas Tochter Edi. Für sie ist das Schweigen,

welt, in einer Zeit außerhalb der Zeit – wie

Antwort lautet etwa: „In Rainer Werner Fass-

das besonders tief zwischen den Müttern und

binder. In Heinrich Böll.“ Emine Sevgi Özdamar,

Töchtern klafft, nicht mehr auszuhalten, und

in der Türkei ausgebildete Schauspielerin, hat

sie verlässt die Party. Dann wird sie zwischen

ihr Land nach dem zweiten Militärputsch

den Jenaer Blocks zusammengeschlagen.

1971 verlassen, ist nach Berlin, Paris, Bo-

Das brutale Bild legt sich als Klammer um die 50 erzählten Jahre des neuen Romans „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von Sasha Marianna Salzmann. Wie im Debüt „Außer sich“ interessieren Salzmann postsowjetische Lebenswege, die hier entlang der Biografien von Tatjana und Lena, die in den

chum ­gegangen, aber als Wanderin zwischen Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein. Suhrkamp, Berlin 2021, 367 S., 22 EUR.

den (Theater-)Welten findet sie Heimaten in Menschen, in Künstlern, in Gefühlen, nicht in Ländern oder Städten. Sprache, Rhythmus, ­ Humor machen ihren neuen Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ zu einem Wunderwerk; der Stoff ist nichts anderes als das


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Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Suhrkamp, Berlin 2021, 765 S., 28 EUR.

schlüpft, nennen die Bochumer „Villa Wahn-

nen, Festschriften und programmatische Bei-

sinn“, weil die Schauspieler, die dort wohnen,

träge – kurz: der im Feld selbst produzierte

„erst nach Mitternacht nach Hause kommen“.

ideologische Überbau. Berichte über Arbeits-

Redundanzen, Litaneien geben dem

weisen oder Analysen ästhetischer Prozesse

­Roman seinen Rhythmus, Metaphern und Tro-

und Produkte fehlen fast völlig. Das mag ein

pen seine einzigartige Sinnlichkeit. Deutsch ist

Quellenproblem sein; erläutert wird die Quel-

nicht Özdamars Muttersprache, doch was die

lenlage aber nicht.

Sprachintelligenz betrifft, kann man den Text

Der rote Faden des Bandes ist daher

ohne Weiteres Alfred Döblin, Günter Grass oder

eine Diskussion der Desiderate, der Schrift

Wolfgang Koeppen an die Seite stellen. Was für

gewordenen Vorstellungen von einflussrei-

Leben der Icherzählerin (das ist Özdamar). ­

ein Leben, darf man am Ende resümieren. Und

chen Protagonisten, wie Amateurtheater eben

Sie hat Glück, trifft interessante Leute, Benno

was für eine Literatur. //

Martin Krumbholz

vermeintlich zu sein habe. Da werden beängs-

Besson holt sie nach Frankreich, Matthias Langhoff als Assistentin nach Bochum – die

tigende Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und

Diskursive Unschärfen

früher Bundesrepublik deutlich. In zwei

Häuser in der Ruhrpottstadt haben schwarze

program­ matischen Texten des langjährigen

Gesichter, sie würde sie am liebsten waschen.

Das Leipziger Centre of Competence for Theatre

Amateurtheaterfunktionärs Willy Kuhnt – den

Selten, nein, vermutlich nie ist übers

erforscht mit dem Sammelband „Fremde

einen verfasste er als „Bundesführer“ des

Theater so lustig geschrieben worden wie in

spielen“ die Geschichte des Amateurtheaters

Reichsbundes für Volksbühnenspiele 1941,

diesem 750-Seiten-Roman, dessen Titel ja

in Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Zeit

den anderen 1952 als Vorsitzender des Bun-

eher etwas Düsteres erwarten lässt. Der politi-

und Gegenwart. Interessante Fundstücke

des deutscher Volksbühnenschauspieler –

sche Kontext sorgt durchaus für eine düstere

werden präsentiert, epochenübergreifende

wird es als Ziel des Amateurtheaterschaffens

Grundierung, am Telefon, wenn Özdamar mit

Zusammenhänge wie Partizipation, Gemein-

deklariert, „Wort und Bewegung aus der kultu-

den Eltern telefoniert, hört man die Militärhub-

schaft und Geselligkeit hergestellt sowie das

rellen Gemeinschaft des Volkes, aus den Tiefen

schrauber. Das gespaltene Berlin der Siebziger

Verhältnis zu Berufstheater, Politik und

deutschen Lebens entstehen zu lassen und zu

nennt sie „Draculas Grab“, während sie zwi-

­Bildung diskutiert. Mitunter finden sich Be-

beseelter Geschlossenheit eines Ganzen“ zu-

schen West und Ost pendelt, überall Freunde

rührungen

Die

sammenzufügen. In einigen im Sammelband

hat, nirgends ein eigenes Zuhause. Und doch

Ausgangsthese, dass Amateurtheater ein ­

zitierten programmatischen Schriften aus der

gibt es die Hoffnung (oder die Illusion), dass in

„hervorragendes Medium für den spieleri-

Zeit vor 1933 fällt ebenfalls die Betonung des

Europa „die Hölle Pause macht“. Das Paris der

schen Umgang mit (dem) Fremden und den

Völkischen auf. Nicht geklärt wird allerdings, ob

Siebziger ist zweifellos so ein Ort der Höllen-

Erwerb transkultureller Kompetenzen“ sei,

diese Affinitäten zwischen Volkstheater und

pause, es ist aber letztlich der herzliche, huma-

wird allerdings nicht überzeugend belegt.

„völkischem Denken“ vor allem für einzelne Vor-

mit

Theateravantgarden.

ne Blick der Erzählerin, der es dazu macht,

Das Problem beginnt schon bei der be-

denker typisch waren – Frauen tauchen an die-

wenn sie etwa auf dem Friedhof Père Lachaise

grifflichen Unschärfe von „fremd“. Es bezeich-

ser Stelle nicht auf – oder ob sich dies auch in

intime Zwiesprache mit Edith Piaf hält. Oder

net mal das „prinzipiell Unvertraute, Opake und

den Praktiken des Spielens selbst niederschlug.

wenn sie einfach durch die Straßen zieht, denn

Uneinholbare“, dann wieder „ein notwendiges

Mehr Platz hätte der Abschnitt Partizi-

„in Paris darf man nicht zu Hause bleiben“.

Element des ‚Eigenen‘“ oder auch einen „Sta-

pation verdient, gerade wegen der wachsen-

Scheinbar Privates verdichtet sich zu

chel“, der Gesellschaften und Individuen in Be-

den Aufmerksamkeit in den freien darstellen-

kleinen Mythen. 1979, zum Beginn der In-

wegung halte. Als Instanz, die über „Fremdsein“

den Künsten für neuere Teilhabepraktiken.

tendanz Claus Peymanns, trifft Özdamar in

entscheidet, lässt sich aus den Texten eine her-

Eine Entdeckung ist der Hinweis auf den

Bochum ein. In Thomas Braschs „Lieber

auskristallisieren, die nicht-migrantisch und

Reformpädagogen und Amateurtheaterpionier

­Georg“, dem Stück über den Dichter Georg

nicht wirtschaftlich prekär ist. Das ist diskursiv

Martin Luserke, der sich zumindest in seinen

Heym, spielt sie, abenteuerlich verkleidet,

leider dürftig. Der Nachweis des „Erwerbs trans-

Ambitionen an den Aktivisten im Umkreis des

eine türkische Putzfrau, und in den Zeitun-

kultureller Kompetenzen“ fehlt völlig.

Festspielhauses Hellerau, vor allem dem Büh-

gen steht: „Auf der Bühne putzt sogar eine

Schmerzlich vermisst wird auch ein

nenbildner und Theoretiker Adolphe Appia und

echte türkische Putzfrau.“ Dahinter steckt

Überblick über die quantitative Dimension.

dem Musikpädagogen und Komponisten Émile

eine ironische Volte, denn einst war ihr, die

Wie viele Amateurtheater waren seit 1892,

Jaques-Dalcroze, orientierte. // Tom Mustroph

sie in Istanbul die Ophelia gespielt hat, pro-

dem Gründungsjahr des organisierten Ama-

phezeit worden, in Europa werde sie als Tür-

teurtheaters in Deutschland, aktiv? Wie groß

kin immer nur Putzfrauen spielen dürfen.

mag der Kreis der Teilnehmenden gewesen

Wenn Özdamar das Wort „Gastarbeiter“ hört,

sein? Welche Hoch- und Tiefphasen der Be-

sieht sie zwei Personen: „Eine ist Gast und

teiligung lassen sich für die verschiedenen

trinkt Kaffee, die andere arbeitet.“ Sie

Gesellschaftssysteme ablesen?

zeichnet einen Woyzeck-Comic und schreibt

Geht es um tiefere Einblicke in das

ihr erstes Stück, das sie in Frankfurt inszenie-

­Amateurtheater selbst, fällt auf, dass sich der

ren wird. Eine eigene Wohnung hat sie auch in

Diskurs vor allem aus einer Art von Quellen

Bochum nicht. Das Haus, in dem sie unter-

speist: Materialien von Verbänden und Verei-

Fremde spielen. Materialien zur Geschichte von Amateurtheater. Hg. von Claudius Baisch, Henrike Schmidt, Dana Soubh, Schibri Verlag, Uckerland 2020, 24,80 EUR.

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aktuell

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Meldungen

/ TdZ Dezember 2021  /

tender Leiter des Studiengangs Dramaturgie

­Hamburgische Kulturstiftung herausragende

an der Theaterakademie August Everding.

Produktionen der freien Hamburger Kinder­

Außerdem arbeitete er als freier Dramaturg.

theaterszene aus. Die Neue Kompanie erhält

Andrea Vilter. Foto Marija Kanizaj

den mit 7500 Euro dotierten Preis für

■ Der Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares ist

die ­Videoperformance „Grusel Grusel“. Aus

verliehen worden. In vier Kategorien wurden

Alltagsgegenständen hat das zehnköpfige

insgesamt acht Preisträger:innen ausgezeich-

Künst­ ler:innen-Team 26 Monster für ein

net. Um den besonderen Umständen der Pan-

Grusel-Alphabet erstellt. Mittels Stop-Motion-

demie Rechnung zu tragen, wurden in diesem

Animation erzählt es Gruselgeschichten aus

Jahr auch herausragende digitale Inszenie-

aller Welt. Den zweiten Platz (2000 Euro)

rungen berücksichtigt. Helge Schmidt erhielt

erhalten Barbara Schmidt-Rohr und Helen

den Preis für seine Inszenierung „Tax for

Schröder für die Multimedia-Performance

Free“ am Lichthof Theater, die den Aktien-

„Steinstaub“ für Kinder ab zehn Jahren. Mit

handel Cum-Ex mit Heinrich von Kleists No-

dem dritten Platz (1000 Euro) wird das

velle „Michael Kohlhaas“ verknüpft. David

­Theater am Strom für die Produktion „Neu-

Bösch, Patrick Bannwart und Falko Herold be-

land“ für Kinder ab zehn Jahren gewürdigt.

kamen die Auszeichnung für ihr filmisches

Die Preisverleihung findet am 27. Februar

■ Andrea Vilter, derzeit Dramaturgie-Profes­

Werk „Weiße Rose“ an der Staatsoper Ham-

2022 im St. Pauli Theater statt.

sorin an der Kunsthochschule Berlin-Weißen-

burg. In der Kategorie „Herausragender Dar-

see, wird ab 2023 die Leitung des Grazer

steller“ wurde Thomas Niehaus vom Ensemble

■ Die Autorin Martina Clavadetscher hat den

Schauspielhauses übernehmen. Vilter folgt auf

des Thalia Theaters Hamburg für seine Rolle

diesjährigen Schweizer Buchpreis erhalten. Die

Iris Laufenberg, die als Intendantin an das

des Ingwer Feddersen im Stück „Mittagsstun-

mit 30 000 Franken dotierte Auszeichnung er-

Deutsche Theater Berlin wechselt. Von den

de“ geehrt. Die Auszeichnung in der Katego-

hielt die Autorin für ihren Roman „Die Erfin-

fünf Kandidatinnen und Kandidaten, die es

rie „Herausragende Darstellerin“ ging an Ines

dung des Ungehorsams“. Clavadetscher, gebo-

auf die Shortlist geschafft haben, sei Vilter

Nieri für ihre Verkörperung von gleich vier

ren 1979, ist Autorin und Dramatikerin. Nach

diejenige gewesen, die von der Jury am wärms-

Rollen in Erik Schäfflers Inszenierung „Tyll“

ihrem Studium der Deutschen Literatur, Lin-

ten für den Job empfohlen wurde, heißt es in

am Ernst Deutsch Theater. Darüber hinaus

guistik und Philosophie war sie Hausautorin

der österreichischen Kleinen Zeitung. Die ge-

erhielt Eva Mattes eine Auszeichnung für ihre

am Luzerner Theater, gewann den Essener

bürtige Kölnerin war ab 1994 als freie Lektorin

Darstellung der Kirke in der Uraufführung von

Autorenpreis und war für den Heidelberger

im Rowohlt Theater Verlag tätig, bevor sie als

Elfriede Jelineks „Lärm. Blindes Sehen. Blin-

Stückemarkt nominiert. Der Preis wird jähr-

Dramaturgin unter anderem am Bayerischen

de sehen!“ am Deutschen Schauspielhaus

lich vom Schweizer Buchhändler- und Verle-

Staatsschauspiel in München, am Wiener

Hamburg. Die Hauptpreise sind mit jeweils

ger-Verband sowie dem Verein LiteraturBasel

Burgtheater und bei den Salzburger Festspie-

1000 Euro pro Preisträger:in dotiert.

vergeben. Ziel sei es, die öffentliche Diskussion über Bücher von deutschsprachigen Schwei-

len arbeitete. 2003 erfolgte der Wechsel in die Lehre, zunächst an die Otto-Falckenberg-

■ Regina Fritsch, Schauspielerin am Burg-

zer Autorinnen und Autoren anzuregen. Zu

Schule München. Von 2008 bis 2012 war

theater Wien, wird neue und gleichzeitig ers-

den Preisträger:innen in den letzten Jahren

Vilter Dozentin am Mozarteum Salzburg.

te weibliche Preisträgerin des Albin-Skoda-

zählten unter anderem Sibylle Berg (2019,

Rings. Der Ring wird gemäß den Statuten

„GRM. Brainfuck“), Peter Stamm (2018,

■ Das Landestheater Tübingen (LTT) hat sein

alle zehn Jahre „einem besonders hervorra-

„Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“) und

Leitungsteam neu aufgestellt. Als Oberspiellei-

genden Sprecher unter den lebenden Schau-

Lukas Bärfuss (2014, „Koala“).

ter wurde seit dieser Spielzeit Dominik Günther

spielern des deutschen Sprachgebietes ver-

engagiert, Adrian Herrmann übernimmt die

liehen“. Man habe sich dieses Jahr erstmalig

■ Der Ton- und Videotechniker Ron Petraß

Chefdramaturgie. Günther, 48, studierte

für eine geschlechterneutrale Auslegung der

vom Staatstheater Cottbus erhält den Karl-­

Sozialwissenschaften und Germanistik mit ­

Statuten entschieden. Regina Fritsch, gebo-

Newman-Förderpreis 2021. Der Preis wird

dem Schwerpunkt Theaterwissenschaft an

ren 1964, studierte an der Schauspielschule

jedes Jahr von der Max Grünebaum-Stiftung

der Universität Bielefeld. In Hamburg grün-

Krauss in Wien. Seit 1985 ist sie als festes

vergeben und ermöglicht den Preisträger:innen

dete er das Neandertal Theater. Seit 2005

Ensemblemitglied am Burgtheater enga-

eine Studienreise nach London. „Mit seiner

arbeitet er als freier Regisseur. 2009 gewann

giert. Für ihre Leistungen wurde sie bereits

fachlichen Kompetenz, Fantasie, seinem kon-

er den Österreichischen Theaterpreis „Stella“.

zweimal mit dem Nestroy-Preis ausgezeich-

tinuierlichen Ringen um die besten Ergebnis-

Adrian Herrmann, 36, hat Dramaturgie,

net. Darüber hinaus trägt sie seit 2015 den

se und seiner dabei ruhigen, freundlichen

Neuere deutsche Literaturwissenschaft und ­

Titel Kammerschauspielerin sowie den Alma-­

Art hat sich Ron Petraß inzwischen einen

Philosophie an der LMU München und der

Seidler-Ring.

Status der Unverzichtbarkeit erarbeitet“, ­

Theaterakademie August Everding studiert.

heißt es in der Begründung der Jury. Petraß

Von 2014 bis 2016 war er Dramaturg am

■ Der 8. Hamburger Kindertheaterpreis geht

wirkte unter anderem an „Mamma Medea“

Theater Konstanz, zuletzt als Co-Abteilungs-

an das Performance-Kollektiv Die Neue Kompa­

(Videoeinrichtung

leiter. Von 2016 bis 2020 war er stellvertre-

nie. Mit dem Kindertheaterpreis zeichnet die

„Nirvana“ (Konzept­ entwicklung, Umsetzung

und

Programmierung),


aktuell

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und Live Video­design), „Hamlet“ (Erstellung

■ Am 20. Oktober ist der Regisseur Michael

stücke, in denen er sich mit dem Themen-

der Video­inhalte und Showprogrammierung),

Gruner im Alter von 76 Jahren verstorben.

komplex Gewalt beschäftigte und gegen das

„Shakespeares Sonette“ (Einrichtung mit

Gruner studierte in Frankfurt am Main Schau-

Vergessen sowie für die Unteilbarkeit der

individuellem Mapping und vier Beamern) ­

spiel. Als Schauspieler war er am Staats­

Menschenrechte einsetzte. Für sein Werk er-

oder der technisch anspruchsvollen Inszenie-

theater Darmstadt, dem Theater am Turm in

hielt er 2019 die Goethe-Medaille.

rung „Antifaust“ (Live-Video-Regie auf der

Frankfurt und am Düsseldorfer Schauspiel-

Bühne) mit.

haus beschäftigt. Seine Laufbahn als Regis-

■ Die libanesische Malerin und Schriftstelle-

seur begann 1972 am Theater am Turm.

rin Etel Adnan ist am 14. November im Alter

■ Der Deutsche Bühnenverein hat auf seiner

1989 wurde er Oberspielleiter am Staats­

von 97 Jahren in Paris verstorben. Geboren

Jahreshauptversammlung in Hamburg einen er-

theater Stuttgart, von 1999 bis 2010 war er

1925 im Libanon, studierte sie zunächst

weiterten wertebasierten Verhaltenskodex be-

Schauspieldirektor am Theater Dortmund. Als

Literatur in Beirut, ging dann 1949 nach ­

schlossen. Ergänzend zu sexuellen Übergriffen

Gastregisseur arbeitete er unter anderem am

Paris an die Sorbonne, wo sie einen Ab­

und Fällen von Machtmissbrauch, die in der

Wiener Burgtheater, am Wiener Volkstheater

schluss in Philosophie machte. 1955 setzte

ersten Fassung aus dem Jahr 2018 im Fokus

und am Deutschen Theater Berlin.

sie ihr Studium an der University of Califor-

stehen, führt der neue Kodex nun „­ weitere

nia, Berkeley, und an der Harvard University

Dimensionen von Diskriminierung“ auf. Hier­

■ Der Wiener Theatermacher Herbert Lederer

fort und lehrte anschließend Geisteswissen-

durch sollen Theaterleitungen und Rechtsträger

ist am 22. Oktober im Alter von 95 Jahren

schaften und Philosophie an der Dominican

stärker in die Pflicht genommen werden. Es

­gestorben. In Wien führte Lederer 36 Jahre

University of California in San Rafael. 1972

gehe nun auch um „Auswahlprozesse, um

lang die Ein-Mann-Bühne Theater am Schwe­­­

kehrte sie in den Libanon zurück, den sie

Schlüsselkompetenzen, um Zielvereinbarun-

den­ platz.

begann

1976 aufgrund des Bürgerkrieges aber wie-

gen, um innerbetriebliche Vereinbarungen, um

Lederer 1948 am Stadttheater St. Pölten.

der verließ. Es folgten Stationen in Paris und

die konkrete Vertragsgestaltung und um Schu-

Nach mehreren weiteren Anstellungen als

Sausalito in Kalifornien. Mit ihrem 1978 er-

lungsangebote“. Der Kodex solle ein freiheit­

Schauspieler, Dramaturg und Regisseur in

schienenen Roman „Sitt Marie-Rose“ wurde

liches und respektvolles Miteinander in den

Deutschland und Österreich eröffnete er

Adnan literarisch bekannt. Darin berichtet sie

Betrieben fördern. Zum neuen Vizepräsidenten

1970 das Theater am Schwedenplatz, an

über den libanesischen Bürgerkrieg aus Sicht

des Bühnenvereins wurde Hasko Weber ge-

dem er als Direktor, Schauspieler, Regisseur

der Zivilist:innen. Anfang der 1980er-Jahre

wählt, Intendant des Deutschen National­

und Autor zugleich tätig war. Bis zur Schlie-

war sie am Libretto von Robert Wilsons Oper

theaters Weimar und Vorsitzender der Inten­

ßung im Jahr 2006 stand Lederer in 69

„The CIVIL warS“ beteiligt. Danach verfasste

dant:innengruppe im Deutschen Bühnenverein.

Eigenproduktionen über 6000 Mal auf der ­

sie eine Reihe von Theaterstücken. Mit 87

Bühne seines Theaters. Für seine Verdienste

Jahren wurde sie zudem – quasi über Nacht –

■ Der Schauspieler Sadegh Shabaviz ist am

um Wien wurde er 2008 mit dem Großen

auch als bildende Künstlerin international

18. Oktober im Alter von 95 Jahren gestor-

­Ehrenzeichen ausgezeichnet.

bekannt. 2012 widmete ihr die Documenta

Seine

Theaterkarriere

13 eine Retrospek­tive mit 87 Werken. Etel

ben. Shabaviz, am 2. Dezember 1925 in ­Teheran geboren, kam Ende der 1950er Jahre

■ Nach kurzer schwerer Krankheit ist der

Adnan war auch als Autorin für Theater der

aus Iran in die DDR. Ab Mitte der 1960er bis

Schriftsteller Doğan Akhanlı am 31. Oktober

Zeit tätig. Ein ausführlicher Nachruf folgt in

in die 1990er-Jahre hinein gehörte er dem

nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von

unserer Januar-Ausgabe.

Ensemble des Deutschen Theaters Berlin an.

64 Jahren verstorben. Akhanlı wurde 1957 in

Hier spielte Shabaviz in Inszenierungen wie

der Türkei geboren und lebte ab 1992 als

„Nathan der Weise“, „König Lear“, „Der Dra-

freier Autor in Köln und zuletzt in Berlin. Vor

che“, „Zufälliger Tod eines Anarchisten“ und

seiner Emigration nach Deutschland wurde er

„Der Kirschgarten“ mit. Er war darüber hin-

in der Türkei mehrfach aus politischen Grün-

aus ein gefragter Zeitzeuge zur jüngeren irani-

den verhaftet. In Deutschland verfasste

schen Theatergeschichte.

Akhanlı zahlreiche Romane und Theater­

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

SCHULE DES WET TERS: SCHNEE Ein Tanzstück unter stürmischen Voraussetzungen von Lisa Freudenthal | Basierend auf der Bühneninstallation von Guy Gutman, Gabi Kricheli & Tami Lebovits | UA [6 plus] Ab 9. Dezember 2021 Infos & Karten 0341. 486 60 16 | www.tdjw.de

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aktuell

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Premieren Altenburg Theater Altenburg-Gera GmbH Gebrüder Grimm: Das tapfere Schneiderlein (M. Kressin, 12.12.) Ansbach Theater R. Willemsen: Habe Häuschen. Da würden wir leben (R. Arnold, 04.12.) Baden-Baden Theater G. Tabori: Mutters Courage (F. Stuhr, 04.12.) Basel Theater H. d. Balzac: Verlore­ ne Illusion (M. Laberenz, 04.12.); J. Joyce: Ulysses (J. Collins, 09.12.) Berlin Berliner Ensemble F. M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (D. Lindemann, 03.12.); C. Goldoni: Der Diener zweier Herren (A. Romero Nunes, 09.12.) Deutsches Theater T. Perle: karpatenflecken (A. Dömötör, 10.12., UA); B. Brecht: Der Hofmeister (T. Kühnel/J. Kuttner, 11.12.); H. v. Kleist: Der zerbrochne Krug (A. Lenk, 18.12.) Heimathafen Neukölln c. & w.: Besides, it’s always been the others who died (c. & w., 20.12., UA) Maxim Gorki Thea­ ter H. S. Mican: Berlin Kleistpark (H. S. Mican, 11.12.) Theater an der Park­ aue G. Caers: Pythonparfum und Pralinen aus Pirgendwo (G. Caers, 05.12.) Bochum Schauspielhaus W. Lotz/T. Köck: Antigone. ein requiem  /  Die Politiker (F. Mayr, 04.12., UA) Bonn Theater L. Carroll: Alice im Wunderland (S. Solberg, 05.12.) Bremen Theater F. Wedekind: Fran­ ziska. Ein modernes Mysterium (P. Karabulut, 03.12.) Bremerhaven Stadttheater A. Alta­ ras: Doitscha (A. Rehschuh, 18.12., UA) Chemnitz Theater K. Brune / P. Irm­ schler: Superbusen (K. Brune, 03.12.); I. Iredynski: Leb wohl, Ju­ das... (C. Schmidt, 22.12.) Cottbus Staatstheater L. Werner: Feinstoff (R. O. Saidy, 03.12., UA) Dortmund Theater Sophokles: Ödi­

Dezember 2021

Aufgrund des Eintritts in den Ruhestand des langjährigen Verwaltungsleiters suchen wir ab spätestens Juni 2022 eine

Verwaltungsleitung (m/w/d) Stellenziffer 2021-0076

Die Badische Landesbühne Bruchsal ist seit dem Jahr 1951 ein Schauspieltheater als Einspartenhaus mit einem eigenständigen Kinder- und Jugendtheater und insgesamt 72 festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Satzungsgemäß obliegt die Gesamtleitung des Theaters der Intendanz, die ab der Spielzeit 2023/2024 neu besetzt ist. Es handelt sich um eine Vollzeitstelle. Die Eingruppierung ist bis zur Entgeltgruppe 13 des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD-K) mit Zulagen möglich. Bei Fragen zum Aufgabengebiet und Ausschreibungsverfahren wenden Sie sich bitte an den Verwaltungsleiter der BLB e. V., Herrn Norbert Kritzer (Tel. 07251/72727). Haben Sie Interesse? Dann würden wir Sie gerne kennenlernen und freuen uns über Ihre Online-Bewerbung bis zum 15. Februar 2022 unter www.bruchsal.de/stellenangebote.

pus auf dem Mars (F. Hein, 16.12., UA) Dresden Staatsschauspiel Liebe ohne Leiden (N. Sykosch, 30.12., UA) Essen Schauspiel V. Lösch / U. Schmidt/C. Lang: AufRuhr (V. Lösch/ C. Lang, 17.12., UA); G. E. Lessing: Nathan der Weise (K. Dahlem, 18.12.) Esslingen Württembergische Landesbühne E. Gedeon: Ewig Jung (K. Köhler, 09.12.); E. Erba: New York

Marathon (L. Tetzlaff, 23.12., DEA) Frankfurt am Main Schauspiel N. Stockmann: Das Gesicht des Bösen (L. Gockel, 03.12.); Am Leben ­bleiben (M. Droste, 10.12.) Göttingen Deutsches Theater G. Brant: Am Boden (17.12.) Graz Schauspielhaus P. Hochgat­ terer: Mopedmonolog (Y. Miche­ litsch, 17.12., UA) Halle Neues Theater F. Kater: Münch­ hausen (R. Jakubaschk, 08.12.)

YUI KAWAGUCHI MUGEN MIT JOY ALPUERTO RITTER + MOHAMMAD REZA MORTAZAVI TANZ + MUSIK DEZEMER 17 18 19

Hamburg Deutsches Schauspielhaus Studio Braun: Coolhaze (Stu­ dio Braun, 04.12.); K. Beier/B. Venator: Aus dem Leben (15.12.); B. Koltès: Quai West (M. Thalheimer, 22.12.) Hannover Schauspiel O. Wenzel: 1000 Serpentinen Angst (M. Ibrahim, 10.12.) Freies Theater Y. Jangsell: Wo der Schnee wächst (Y. Jangsell, 04.12., UA); S. Herrick: Wir beide wussten, es war was ­passiert (R. Rutkowski / C. Hentrich, 10.12., UA); W. A. Piontek: Comme­ dia Futura & Ferenc Fehér (W. A. Piontek, 18.12., UA) Ingolstadt Stadttheater F. Kafka: Die Verwandlung (M. Naujoks, 03.12.); P. Märthesheimer/P. Fröhlich: Lola (M. Mikat, 04.12.); S. Berg: In den Gärten oder Lysistrata Teil 2 (M. ­Sabaschus, 10.12.) Jena Theaterhaus A. Schmidt, L. D. Schmidt, S. Frieling: Baby don‘t hurt me (S. Frieling, 01.12.) Köln Schauspiel O. Frlijć: Das ­Himmelreich wollen wir schon selbst finden (O. Frlijć, 17.12., UA) Konstanz Theater S. M. Salzmann: Muttersprache Mameloschn (A. Kenan Karaca, 11.12.) Krefeld Theater Krefeld und Mönchengladbach A. Dorfman: Der Tod und das Mädchen (R. Alzakout, 29.12.); F. u. P. v. Schönthan: Der Raub der Sabinerinnen (T. Doritzki, 30.12.) Leipzig Theater der Jungen Welt L. Freudenthal: Schule des Wetters: Schnee (L. Freudenthal, 09.12.) Linz Landestheater T. Walser: Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm (N. Metzger, 04.12.) Lübeck Theater S. Beckett: Glück­ liche Tage (C. Mosler, 02.12.); B. Luise: I‘m fine (K. Ötting, 10.12.) Memmingen Landestheater Schwaben n. M. Shelley/N. Dear: Franken­ stein (M. Claessen, 10.12.)

TICKETS SOPHIENSAELE.COM FON 030 283 52 66 SOPHIENSTR. 18 10178 BERLIN


Juni Tdz Do:November 20.05.2011 / TdZ  Dezember 2021  /

14:03 Uhr

Mönchengladbach Theater M. Delinić / P. Sommer: Der Fall D‘ARC (M. Delinić, 03.12., UA) München Kammerspiele F. Richter/ T. Bernhard: Heldenplatz (F. Rich­ ter, 04.12.); L. Kittstein/Raum+Zeit: Gespenster – Erika, Klaus und der Zauberer (B. Mikeska, 21.12., UA) Residenztheater H. Kipphardt: Resi sendet: Bruder Eichmann (S. Baum­ garten, 14.12.) Münster Theater T. Dorn: Marleni (J. Holtappels, 15.12.) Nürnberg Staatstheater C. Spelleken: Möwe.Live (C. Spelleken, 11.12., UA); C. Ercan: Wer allein bleibt, den frisst der Wolf (B. Janack, 18.12., UA) Parchim Mecklenburgisches Staatstheater G. Hauptmann: Die We­ber:in­ nen (H. Schmidt, 03.12.) Potsdam Hans Otto Theater F. Wolf: Die Weihnachtsgans Auguste (E. Cordes, 03.12.); S. Berg: In den Gärten oder Lysistrata Teil 2 (M. Saba­ schus, 10.12.) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Landestheater und Sinfonieorchester H. Lewis/J. Sayer/H. Shields: Hans-Ulrich Müller-Schwefe Susan Todd (Hg.) Mord auf und Schloss Haversham (A. ISBN 978-3-942449-02-1 Thiesen, 04.12.) 346 Seiten 25,00 € / 41,90 CHF Rudolstadt Theater Rudolstadt Die Nacht der Nächte (K. Stoppa, 05.12.)

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aktuell

DRAMA  1

St. Gallen Theater L. Hübner / S. ­Nemitz: Frau Müller muss weg (A. Horst, 09.12.) Stuttgart Schauspielbühnen S. Nord­ qvist: Pettersson und Findus (M. Steeger, 04.12.) Tübingen Zimmertheater OMG Schu­ bert: BTW Wagner – Siegfried, bist Du’s? (OMG Schubert / T. v. Halle, 11.12., UA) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle F. Kafka: Die Ver­ wandlung (J. Kann, 01.12.) Wien brut W. Dorner: come from somewhere go anywhere (W. Dor­ UR T RA ner, 02.12., ÖEA) E IT tty Wilhelmshaven Landesbühne NiePa sidis, EL , r H e tn saou erg, ISC dersachsen Nord A. Lindgren: Pippi n N e T b E SZ plündert den Weihnachtsbaum (A. chw lpida t Fass hilipp s R 1 g Ü eu rse, E , Lia aş, P Li, Kloos, 05.12.); B. Oldenhof: Watt MAZIN F N e A r B n DR GA ete ter*Ve botag et Ali ngyu schön! (F. Fuhrmann, 29.12., UA) P , A i i t a J M arz , Ma ive S amm Kim, Zwickau Theater Plauen-Zwickau d u n t h ir G milto ffirma r, Mu oung DIE 30 3 0 WICHTIGSTEN WICHTIG STEN ARBEITEN E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Ein berührendes m a e Y A A u So H Woolf? (J. Jochymski, 10.12.) , im t für gba Dokument deutsch-

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TdZ · Juni 2011

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tdz on tour

Co-Herausgeberin Anja Quickert. Foto Theater der Zeit

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Anfang November haben wir „Andere ­Räume – die freien Spielstätten in Berlin“ im ://about blank in Berlin vorgestellt. Unsere Neuerscheinung war ein guter ­ Anlass, brennende Fragen zur Stadtent­ wicklung und -gestaltung zu diskutieren. Denn ­ Theater braucht Räume. Konkrete Räume, in denen sich Menschen begegnen können und vorübergehend eine Gemeinschaft b ­ ­ilden. Räume, um neue, experimentelle Ästhetiken zu entwickeln und für soziale Experimente.

Im Theater Lübeck haben wir die jüngste Veröffentlichung unseres hauseigenen Labels für Theatermusik (Hook Music) präsentiert. In einem Hybrid aus Musik­ album und Hörspiel zeigten baldr & die ­natur ihre Auseinandersetzung mit „Die Leiden des jungen Werther“. Würde Goethes tragischer Held Werther im 21. Jahrhundert leben, würde er wohl keine Briefe schreiben. Vielleicht – so die Idee des kreativen Theaterduos aus Thomas Leboeg und Johann David Talinski – würde er seine Gefühlsausbrüche­ zwischen Liebe und Wut in Konzerten zum Ausdruck bringen.  Harald Müller (links, Verlagsleiter) und Felix Eckerle (Chefdramaturg). Foto Ronny Ristok

Im Frühjahr 2021 verhinderte die Corona-Pandemie nicht nur die große Gala zum 150. Geburtstag des Theaters Alten­ burg im Festzelt, nein, auch die Buch­ premiere der Festschrift, die bei Theater der Zeit erschien, konnte nur im kleinsten Rahmen mit wenigen Journalistinnen und Journalisten stattfinden. Deshalb war es Theater und Verlag ein Bedürfnis, das Buch nochmals einem größeren Publikumskreis vorzustellen. Am 10. Oktober nun fand die Präsen­ tation im Theaterzelt in Altenburg statt. Chefdramaturg Felix Eckerle und Ver­lags­ ­leiter Harald Müller offerierten einem interessierten Publikum Ausschnitte aus einer bewegten Geschichte des Theaters, welches als erste Bühne nach ­Gründung des Deutschen Reiches 1871 eröffnet wurde.

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Thomas Leboeg und Johann David Talinski von baldr & die natur. Foto Finn Heine

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impressum/vorschau

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Elisabeth Feller, Kulturredakteurin, Wettingen Hermann Götz, Theaterkritiker, Graz Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Sabine Kebir, Literaturwissenschaftlerin, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Elisabeth Maier, Theaterkritikerin, Tübingen Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Sebastian Schulze Jolles, freier Autor, Dresden Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Joachim F. Tornau, freier Journalist, Kassel Lara Wenzel, freie Autorin, Leipzig Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin Erik Zielke, Theaterredakteur, Berlin

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de

Stückabdruck Warten auf Godot? Nein, „Warten auf’n Bus“ heißt das neue Stück von Oliver Bukowski, in dem freilich, ähnlich wie bei Beckett, zwei Figuren, die Zeit totschlagend, über das Leben philosophieren. Das Licht der Welt – oder besser: der Bus-End­ haltestelle, an der sie sich treffen – haben Hannes und Ralle ­ursprünglich anno 2020 im RBB erblickt. Oliver Bukowskis TVComedy-Serie über die beiden langzeitarbeitslosen Endvierziger, gespielt von Ronald Zehrfeld und Felix Kramer, wurde von den Kritiker-Kolleginnen und -Kollegen überschwänglich gefeiert. Nicht nur die Süddeutsche Zeitung erfreute sich an einem „Komödien-Kleinod“ über „Ostdeutsche, wie man sie in den Medien selten sieht“. Sondern Die Welt erspähte in „Warten auf’n Bus“ sogar „die großartigste deutsche Serie“ überhaupt. Am Theater Bielefeld kommt nun das Theaterstück zum TV-Highlight heraus – das Theater der Zeit anlässlich der Uraufführung druckt.

„Warten auf`n Bus“ in der Regie von Michael Heicks am Theater Bielefeld. Foto Joseph Ruben

Vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN Dezember 2021

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2021/12

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Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Elena Corsi +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 76. Jahrgang. Heft Nr. 12, Dezember 2021. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 05.11.2021 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

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Festival Ein Programm, das sich „vertraut und neu zugleich“ darstellt – das hatte die Künstlerische Leiterin Sophie Becker für die diesjährige Ausgabe des Münchner Spielart-Festivals versprochen. In Aussicht stand nicht nur die gründliche Durchleuchtung des Phänomens der „Global Angst“ in verschiedenen künstlerischen Formaten, sondern auch die Rehabilitation eines bis dato in der Bühnenkunst dramatisch vernachlässigten Sinns: des Geruchs. Theater der Zeit berichtet, welche Duftmarken Spielart tatsächlich gesetzt hat. Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Januar 2022.

„CRIA“ von Alice Ripoll beim Spielart-Festival. Foto Renato Mangolin

Mitarbeit Annette Dörner, Claudia Jürgens (Korrektur), Lina Wölfel (Assistenz)


Was macht das Theater, Matthias Brenner? Herr Brenner, Sie beenden zur Spielzeit

dann auch zu allem eine und weiß alles

2022/23 vorfristig Ihre Intendanz am Neuen

ganz genau! Ich glaube tatsächlich, dass

Theater Halle – mit einer bemerkenswerten Be-

viele Angst haben, danach aus diesem Sys-

gründung: „Ich bin 64“, erklärten Sie in einem

tem – aus ihrem Leben – herauszufallen.

Interview mit dem MDR, „und auch ich habe damals die 64-Jährigen angebrüllt: ,Wann sind

Wer seinen Posten verlässt, muss auch ak-

wir denn mal dran?‘“ Woran genau haben Sie

zeptieren, dass das, was er selbst – sei es an

gemerkt, dass es Zeit ist beiseitezutreten?

einem Theater oder in einer anderen Institu-

Als ich jung war, habe ich immer gesagt:

tion – geschaffen hat und was ihm vielleicht

Falls ich jemals in eine entsprechende

sogar als Lebenswerk gilt, nach dem Genera-

Position an einem Theater käme, würde

tionswechsel möglicherweise völlig anders

ich auf der Seite derer stehen, die verän-

fortgeführt wird. Wir alle kennen prominente

dern wollen. In letzter Zeit gab es nun so

Branchen-Beispiele, in denen die alte Lei-

viele

tung das nicht ertragen und der neuen das

Umstände,

die

Veränderungen

nahelegen – die Flüchtlingswelle, die ­

Leben schwer gemacht hat.

#MeToo-Debatte und, und, und –, dass

Ich habe einen Intendanten erlebt – ich

ich immer deutlicher herausgerochen

nenne den Namen jetzt nicht, weil ich ihn

habe: Hier gehören Diversität und Auf-

gleichzeitig auch sehr verehrt habe –, der

bruch hinein! Es ging eine spürbare

dem Publikum für die Phase nach seinem

atmosphärische Verunsicherung durchs ­ Haus, auch durch mich selbst. Da wurde mir klar, dass ich nicht die ganze Zeit die große Klappe haben kann, wie toll mein Theater und wie toll das Ensemble ist. Können Sie das konkretisieren? Die Unzufriedenheiten in mir und sicherlich auch im Ensemble nahmen zu – in aller Zugewandtheit: Es gab niemanden, der mich herausdrängen wollte. Gleichzeitig merkte ich, wie ich gegenüber unwirtlichen Situationen duldsamer wurde, und dachte: Ich möchte nicht mit dem Job alt werden, sondern ihn jung genug verlassen, um ein anderes Kapitel aufzuschlagen. Das ist ein hehres Selbstbild, das sicher an die hundert Prozent aller Führungsfiguren Ihrer Alterskohorte begeistert unterschreiben

Matthias Brenner, seit 2010 Intendant des Neuen Theaters Halle, will schon drei Jahre vor Ablauf seines Vertrags seinen Posten räumen. Die in den letzten Jahren viel diskutierten Macht- und Personalkämpfe an den Bühnen Halle, zu denen das Neue Theater gehört, seien nicht der Grund, betont Brenner. Vielmehr möchte er seinen Thea­ terchefsessel für die nächste Generation freigeben – und sich selbst wieder auf seine erste Profession ­konzentrieren: Der 1957 in Meiningen geborene Brenner studierte von 1979 bis 1982 an der Ostberliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ und arbeitete zunächst als Schauspieler, bevor er zu inszenieren begann. Wir sprachen mit ihm über den richtigen Zeitpunkt des Abgangs, über die Ängste vieler Senior-Führungskräfte vor Machtverlust und Bedeutungslosigkeit und über die Notwendigkeit von Veränderungen. Foto Kathrin Denkewitz

Abgang düsterste Unzeiten prophezeite. Der rief am Ende der letzten Vorstellungen, die unter seiner Leitung am Haus liefen, laut die Namen der beteiligten Schauspieler aus. Die mussten dann einzeln auf die Bühne kommen, sich verbeugen, und er rief immer: Die oder den werdet ihr nie wieder sehen! Das war wirklich ein großes Unglück, was den Kolleginnen und Kollegen dort widerfuhr! Ihnen werden solche apokalyptischen Aufoder besser: Fehltritte nicht unterlaufen? Es gibt ja den Spruch: Die beiden Hauptfeinde des Intendanten sind der Vorgänger und der Nachfolger. Aber ich würde garantiert nicht durchs Haus rennen und sagen: Das ist doch alles scheiße, was meine Nachfolger machen. Wer bin ich denn, das zu beurteilen? Professor Rudolf Penka, mein alter Lehrer an der Schauspielschule

würden – in der Theorie. Kommt es zur Praxis,

in Ostberlin, sagte uns am Beginn unseres

sieht die Sache meist anders aus. Warum

Studiums: „Das Blöde am Theater ist: Es

ist Ihnen dieser Schritt tatsächlich gelun-

ist vergänglich. Und das Schöne am Thea-

gen, und warum gelingt er vielen anderen nicht?

Das klingt, als wäre das für Sie wirklich alles

ter ist: Es ist vergänglich.“ Wir können es

Für mich war das Intendantendasein nie das

ganz einfach!

nicht festhalten. Auch von Wladimir Maja-

Ende, ich habe mir immer ein Leben danach

Nein, auch mir fällt dieser Schritt schwer.

kowski gibt es einen klugen Spruch: „Beamte

gegeben. Das ist bei manchen Berufskollegin-

Zum einen bin ich – genau wie alle anderen

und Ämter kommen und gehen, die Kunst

nen und -kollegen womöglich nicht der Fall.

Menschen auch – in der Veränderung dann

aber bleibt bestehen.“

Natürlich weiß auch ich nicht genau, wie es

doch träge, weil ich mich selbst zu richtig

danach weitergeht. Ich habe weder eine

­finde. Und zum anderen verliert man natür-

Haben Sie für Kollegen wie den Apokalypse-

­Riesen-Netflix-Serie am Start, noch hat mir

lich ein paar schöne Gewohnheiten (lacht):

Verkünder, den Sie gerade beschrieben haben,

jemand ein Festival angeboten, das ich am

Als Chef eines Hauses wird man so herrlich

einen Rat?

Lebensabend leiten könnte. Aber ich bin Re-

nach seiner Meinung gefragt und überhaupt

Loslassen! Loslassen ist Liebe – und die ha-

gisseur, Künstler, Spieler – und auch dafür

so wunderbar gebauchpinselt! Bei Konflikten

ben die Leute verdient!

offen, meine unterbrochene Bühnenkarriere

werde ich angerufen, soll hierzu meine Mei-

Die Fragen stellten

wiederaufzunehmen.

nung sagen und dazu – und natürlich habe ich

Dorte Lena Eilers und Christine Wahl


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