Theater der Zeit – 12/2018

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Münchner Festivalitis: Politik im Freien Theater, Rodeo, IETM-Meeting / Künstlerinsert Eduardo Arroyo / Das Mittelsächsische Theater in Freiberg-Döbeln und die AfD / Neustarts in Jena und Marburg

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Dezember 2018 • Heft Nr. 12

Feier des Absurden Nürnbergs neuer Schauspielchef Jan Philipp Gloger


Theater im Zirkuszelt Ab 15.06.2019

Foottit und Chocolat Zirkusspiel von Christoph Nix nach einer wahren Geschichte Regie Olli Hauenstein und Christoph Nix Urauff체hrung Ab 23.06.2019

Sagt der Walfisch zum Thunfisch JTK 6+ Kinderst체ck von Carsten Brandau Regie Nora Bussenius Ab 28.06.2019

Katharina Knie

Seilt채nzerst체ck von Carl Zuckmayer Regie Martina Eitner-Acheampong


editorial

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D

ie Waschmaschine exakt auf Kante unter dem Herd, gleich daneben Staubwedel und Spül­ schwämme in schönster Geometrie. Wäre die Welt derart geordnet wie in dem Bühnenbild von Marie Roth zu Jan Philipp Glogers Ionesco-Abend „Ein Stein fing Feuer“, wäre alles, so glauben es zumin­ dest die Bewohner dieses Interieurs, in bester Ordnung. Gloger hat, wie Christoph Leibold berichtet, zu seinem Einstand als neuer Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg eine Feier des Absurden zelebriert, die wirkte, als habe Ionesco den heutigen Irrsinn vorweggenommen. Zu erleben gewesen sei eine in sinnentleerten Sprach-­und Verhaltensroutinen gefangene Spießbürgerlichkeit, zu der sich absurde Aussagen von Zeitgenossen wie Donald Trump gesellten. Ein bemerkenswerter Neustart. „Wenn die Regierung versagt, dann müssen wir es selbst machen!“ Auch in Jena startete mit dem niederländisch-flämischen Kollektiv Wunderbaum ein neues Team am Theaterhaus. Mit den ­Eröffnungsabenden „Jena macht es selbst“ und „Hallo Jena“ plädierte es in Zeiten des Politik­ versagens für ein fröhlich-anarchisches Do-it-Yourself, während am Hessischen Landestheater ­Marburg die neuen Leiterinnen Eva Lange und Carola Unser ihr Haus mit einem Zitat von Erwin ­Piscator schmückten: „Es ist unmöglich, Staub aufzuwirbeln, ohne dass einige Leute husten.“ Paula Perschke und ­Joachim F. Tornau waren bei den ersten Premieren dabei. An Erwin Piscator erinnert auch Jakob Hayner in diesem Heft. Der „Kämpfer für die revolutio­ näre Bühnenkunst“ wäre am 17. Dezember 125 Jahre alt geworden. Mit seinem lebenslangen Einsatz für ein politisches Theater wäre er ein guter Schirmherr für das Festival Politik im Freien Theater (PiFT) in München gewesen, doch die Jury legte das Festivalmotto „reich“ eher großzügig aus, sodass nicht alle gezeigten Arbeiten überzeugten. Ja, München ist reich – aber eben auch reich an schnell­ lebigen Festivals. Parallel zum PiFT fand dort das IETM-Meeting statt, wenige Wochen zuvor versam­ melte sich Münchens freie Szene beim Festival Rodeo. Wie viel Festivalitis verträgt eine Stadt? Das fragten unsere München-Korrespondenten Sabine Leucht und Christoph Leibold. Das Mittelsächsische Theater Freiberg-Döbeln sieht sich derzeit mit sehr konkreten politischen Auseinandersetzungen konfrontiert. Mit Slogans wie „Migrationspakt stoppen“ bekam die AfD bei der Bundestagswahl 2017 im Wahlkreis Mittelsachsen so viele Stimmen, dass ihr Direktkandidat Heiko Hessenkemper nun im Bundestag sitzt. Er sei, wie Gunnar Decker schreibt, ein Mann für markige Sprüche, spreche offen von der „Umvolkung“, die die „politisch­mediale Klasse“ betreibe, mit dem Ziel, durch massenhafte Zuwanderung den linken Wählerkreis zu vergrößern. „Das klingt nach Ver­ schwörungsszenario, hat aber offenbar einen starken Resonanzboden, nicht nur in Sachsen.“ Ralf­ Peter Schulze, seit 2011 Intendant des Theaters in Freiberg-Döbeln, setzt sich gemeinsam mit seiner Schauspieldirektorin Annett Wöhlert dafür ein, mit anspruchsvollem Theater jenseits ideologischer Schlagworte Brücken zwischen verschiedenen Parteiungen in der Region zu bauen, ohne sich dabei künstlerisch zu verleugnen. Als Stückabdruck veröffentlichen wir in diesem Heft das Libretto von Durs Grünbein zu Johannes Maria Stauds Oper „Die Weiden“, die am 8. Dezember in der Regie von Andrea Moses an der Wiener Staatsoper uraufgeführt wird. Grünbein hatte vor ein paar Monaten auf einer Podiumsdiskussion mit dem Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp selbst Erfahrung damit gemacht, wie viele Brücken be­ reits eingestürzt sind. Er habe nicht damit gerechnet, dass solche starken und aggressiven Statements von einem Schriftsteller seiner Zeit kommen würden, sagt er im Gespräch mit Jakob Hayner. „Von Anfang an war jeder Dialog aufgekündigt.“ Diese Begegnung wie auch die Ereignisse in Freital, Clausnitz, Chemnitz, Kandel und Köthen sind in die Oper mit eingeflossen. Sie spielt an einem­ Fluss – „einem Strom, ,von Geschichte schwer‘“. Erinnern wollen wir in unserem Künstlerinsert an den Maler und Bühnenbildner Eduardo ­Arroyo, der am 14. Oktober im Alter von 81 Jahren verstarb. Ellen Hammer schreibt über diesen kämp­ fenden Ästheten, der legendäre Bühnen für die I­ nszenierungen von Klaus Michael Grüber geschaf­ fen hat. „Die Energie schöpfte er aus seinen ­Lebenserfahrungen, seinem Exildasein, das ihn aus der Entfernung schärfer sehen und beurteilen ließ, seiner Abscheu vor Diktatur und Unfreiheit, … seiner Offenheit anderen Kulturen gegenüber.“ Leitmotive, die wir in Gedenken an diesen einzigartigen Künstler gerne mit ins neue Jahr nehmen. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern geruhsame Feiertage und einen guten Start ins neue Jahr. // Die Redaktion

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Inhalt Dezember 2018 thema: neustarts

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Christoph Leibold Feuer und Flamme Jan Philipp Gloger entfacht bei seinem Start als Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg nicht nur Begeisterung für Ionesco, sondern auch für das neue Team

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Paula Perschke Haus der tausend Probebühnen Das niederländisch-flämische Theaterkollektiv Wunderbaum entert das Theaterhaus Jena – „Thüringen? Kein Problem!“ lautet ihr Motto 16 Joachim F. Tornau Die Experimentierer Eva Lange und Carola Unser leiten das Hessische Landestheater in Marburg seit dieser Spielzeit als Doppelspitze – und wirbeln sogleich viel Staub auf

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künstlerinsert

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Bühnen von Eduardo Arroyo (1937–2018)

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Ellen Hammer Der kämpfende Ästhet Zum Tod des Malers und Bühnenbildners Eduardo Arroyo

protagonisten

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Gunnar Decker Die rettende Insel? Das Mittelsächsische Theater Freiberg-Döbeln will sich in der politischen Auseinandersetzung mit der AfD künstlerisch nicht verleugnen

kolumne

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Ralph Hammerthaler Du, Sudabeh Schauspiel Dortmund: Wollen Sie für den Frieden nicht aufstehen?

protagonisten

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Christoph Leibold Vornehm geht die Welt zugrunde Unter dem Motto „reich“ zeigt das Festival Politik im Freien Theater in München engagiertes Theater, jedoch oftmals ohne überzeugende künstlerische Form

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Sabine Leucht Grab, wo du stehst! Beim Rodeo Festival und beim IETM-Meeting in München probte die freie Szene die Selbstverortung und den Brückenschlag

kommentar

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Dorte Lena Eilers Mütter! Courage! Über mangelnden Nichtverlängerungsschutz in der Elternzeit und unsoziales Personalmanagement an der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle

look out

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Theresa Schütz Kriegsschutt zu Kunst Die Installationen und Projekte von Julian Hetzel sind provozierend schamlos und stellen gesellschaftliche Normen auf den Prüfstand

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Jakob Hayner Musikalische Züge Die Inszenierungen des Regisseurs Marius Schötz beeindrucken nicht nur durch großen Einfallsreichtum, sondern auch durch die von ihm selbst komponierten Lieder


inhalt

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auftritt

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Baden-Baden „Herzsprünge“ (DSE) von Terence Rattigan in der Regie von Benjamin Hille (Elisabeth Maier) Chemnitz „Aufstand der Dinge“ in der Regie von Mirko Winkel (Gunnar Decker) Cottbus „Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten“ nach dem gleichnamigen Film von Mark Herman in der Regie von Jörg Steinberg (Thomas Irmer) Göttingen „Schwanen­ gesang“ nach Franz Schubert in der Regie von Christian Friedel (Joachim F. Tornau) Heidelberg „Im Schatten kalter Sterne“ (UA) von Christoph Nußbaumeder in der Regie von Bernhard Mikeska (Björn Hayer) Konstanz „Eine Art Liebeserklärung“ von Neil LaBute in der Regie von Oliver Vorwerk / „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett in der Regie von Christoph Nix (Bodo Blitz) München / Berlin „Dionysos Stadt“ (UA) unter Verwendung antiker Texte in der Regie von Christopher Rüping und „Eine griechische Trilogie“ (UA) von Simon Stone (Christoph Leibold) Tübingen „Die letzte Karawanserei“ von Ariane Mnouchkine in der Regie von Christoph Roos (Günther Heeg) Weimar „November 1918“ (UA) nach Alfred Döblin in der Regie von André Bücker (Jakob Hayner)

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Ein Gleichnis für trübe Zeiten Der Dichter Durs Grünbein über sein Libretto für Johannes Maria Stauds Oper „Die Weiden“ im Gespräch mit Jakob Hayner

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Durs Grünbein Die Weiden Oper in sechs Bildern (Musik von Johannes Maria Staud)

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Widerstand und Wiedergänger Unter dem Motto „Volksfronten“ positioniert sich der steirische herbst in Graz unter der neuen Leitung von Ekaterina Degot konsequent gegen rechts Der Ölwert der Demokratie Das internationale Theaterfestival Unidram lud zu seinem 25. Jubiläum in die Potsdamer Schiffbauergasse ein Obwohl der Tee längst getrunken ist Das TheaterFest des Agora Theaters im belgischen St. Vith Geschichtsschreibung in kleinen Buchstaben Einhundert Jahre vereintes Rumänien: Während der Staatsfeierlichkeiten erkundet die Internationale Theaterplattform in Bukarest die Lage des Privaten Ausweitung der Konfliktzone Das Festival Divadelná Nitra in der Slowakei Satiriker in der EU-Förder-Dystopie Die freie Theatergruppe Qendra Multimedia organisierte als Flaggschiff des kosovarischen Theaters ihr erstes Festival Geschichten vom Herrn H. Das Balkontrauerspiel Ein Kämpfer für die revolutionäre Bühnenkunst Über Erwin Piscator anlässlich seines 125. Geburtstages Zwischen Abschied und Erwartung Zum Tod des Schauspielers Horst Schulze Bücher Janina Audick und Chantal Mouffe

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Meldungen

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Premieren im Dezember 2018

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TdZ on tour in Berlin

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Antje Thoms im Gespräch mit Joachim F. Tornau

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stück

magazin 62

aktuell

was macht das theater?

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Titelfoto: Jan Philipp Gloger. Foto Konrad Fersterer

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Bühnen von Eduardo Arroyo (1937 – 2018): „Faust Salpêtrière“ (Seite 4 und 5 oben) nach Johann Wolfgang von Goethe in der Regie von Klaus Michael Grüber (Paris Chapelle Saint-Louis de la Salpêtrière, 1975). Seite 5 unten: „Zuckersüß & Leichenbitter“ von Albert Ostermaier in der Regie von Udo Samel (Residenztheater München, 1997). Fotos Ruth Walz



Bühnen von Eduardo Arroyo (1937 – 2018): „Off Limits“ (Seite 6 oben) von Arthur Adamov in der Regie von Klaus Michael Grüber (Piccolo Theatro Milano, 1968/69). Seite 6 unten: „Boris Godunov“ von Modest Mussorgski in der Regie von Klaus Michael Grüber (Opernhaus Brüssel, 2006). Seite 7: „Bleiche Mutter, zarte Schwester“, ein Projekt von Eduardo Arroyo und Klaus Michael Grüber (Kunstfest Weimar, 1995). Fotos Ciminaghi Luigi (Seite 6 oben) / Ruth Walz / De Munt La Monnaie (Seite 6 unten) / David Baltzer (Seite 7)


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Der kämpfende Ästhet Zum Tod des Malers und Bühnenbildners Eduardo Arroyo von Ellen Hammer

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eder Nachruf ist – wie die Trauer selbst – äußerst subjektiv und erfasst nur einen winzigen Teil der Persönlichkeit des zu Ge­ denkenden. Eduardo Arroyo habe ich erst 1973 kennengelernt, als er zusammen mit Gilles Aillaud nach Berlin kam, um für „Die Bakchen“ von Euripides in der Regie von Klaus Michael Grüber im Philips-Pavillon auf dem Messegelände den Bühnenraum zu erschaffen. Zu der Zeit war er schon ein anerkannter Künstler. Um dem drohenden Militärdienst unter Diktator General Franco zu entkommen, entschwand der 1937 in Madrid geborene Arroyo als 20-Jähriger nach Paris, wo er sehr schnell Anschluss an die Generation junger Maler fand und in ihren Salons ausstellte. In den ersten Jahren seines zunächst freiwilligen Exils pendelte er zwischen Frankreich und Italien, wo er jeweils etwa ein halbes Jahr verbrachte. Bei einer seiner Rückfahrten nach Spanien wurde er 1974 verhaftet und des Landes verwiesen, woraufhin Frankreich ihn als politischen Flüchtling anerkannte. Arroyo war nicht nur Maler, er war Grafiker, Skulpteur, Buchillustrator, Töpfer, Bühnenbildner und Schriftsteller. Ur­ ­ sprünglich wollte er Journalist werden, als Künstler war er Auto­ didakt. Er lernte schnell und erfand seine ihm eigenen Ausdrucks­ mittel. Die Energie schöpfte er aus seinen Lebenserfahrungen, seinem Exildasein, das ihn aus der Entfernung schärfer sehen und beurteilen ließ, seiner Abscheu vor Diktatur und Unfreiheit, sei­ ner Liebe zu und seinem Hass auf das damalige politische Spani­ en, seiner Offenheit anderen Kulturen gegenüber. Er war ein kämpfender, politisch engagierter Ästhet, dem L’art pour l’art zu­ wider war, der sich leidenschaftlich und unentwegt für neuere Formen seiner Kunst bemühte, thematisch wie materiell. Den­ noch blieb er sich in seinen Grundanschauungen immer treu. Er transformierte Altes in Neues, Ernstes in Lächerliches, hatte keine Angst vor der Groteske, vor Übertreibungen, vor Collagetechniken, um Disparates in einem Bild zusammenzufügen. Er entlarvte alte Mythen und nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfte Über­ lieferungen und schuf sich ein eigenes Bildvokabular, quasi Ikonen seines künstlerischen und personellen Lebens. Viele dieser Zei­ chen benutzte er in seinen Bühnenausstattungen. In Mailand lernten sich 1968 Arroyo und Klaus Michael ­Grüber kennen. Schon ein Jahr später begann ihre Zusammen­ arbeit für das Theater und die Oper. „Klaus Michael Grüber, mit dem ich fast alle theatralischen Interventionen gemacht habe, hatte

in Mailand eine Ausstellung von mir gesehen und hatte die Intui­ tion, mich um eine Bühnenausstattung zu fragen. Er war am Anfang seiner Karriere als Regisseur, und die Wahl eines Künstlers statt ­eines professionellen Bühnenbildners war eine Kühnheit. Ich hatte davor keine Annäherung an das Theater und fahre fort, es selten zu besuchen; ich bin ein sehr schlechter Zuschauer. Ich habe mich dafür begeistert, weil mich das aus dem Trott der großen Heraus­ forderungen der Malerei ausbrechen und vermeiden ließ, dass die Malerei für mich zur Routine wird“, erzählt Arroyo in einem Inter­ view 1982. Tatsächlich wurde er eher bei Boxveranstaltungen oder in Arenen bei Stierkämpfen gesichtet denn im Theater, außer er selbst oder einer seiner Freunde waren beteiligt. Seine Bereitschaft, der Bitte von Grüber nachzukommen, mündete in eine lebenslange Freundschaft und gemeinsame Arbeit, die erst mit dem Tod Grü­ bers vor zehn Jahren endete. Jetzt ist Eduardo ihm nachgefolgt. Ein Fragment des Vorsokratikers Heraklit: „Bei jeder Sache musst du sein mögliches Ende bedenken“ – der Eingangssatz von Arroyos Boxerstück „Bantam“, das 1986 im Münchner Residenz­ theater in Grübers Inszenierung uraufgeführt wurde – galt für Arroyo in besonderem Maße, hatte er doch schon einmal die Er­ fahrung der Todesnähe machen müssen, vor vielen Jahren, sein Lebenswille und die Kunst der Ärzte halfen ihm damals, den Tod vorläufig zu besiegen. Denn er wollte noch einige seiner Träume realisieren. Einer davon war die Umgestaltung des Familienland­ guts seiner Eltern in Robles de Laciana in der spanischen Provinz León, auf dem er als Junge viele Ferienmonate verbracht hatte. Dort wollte er ein Freilichttheater bauen, die Gutshäuser renovie­ ren und seine Künstlerfreunde einladen, sich, wenn nicht für im­ mer, so doch für einige Monate im Jahr, zu installieren. Eines der Häuser war für Klaus Michael Grüber geplant, mit einem aufzu­ bauenden Archiv zu dessen Leben und Werk. Das zu bewerkstelli­ gen, hatte Arroyo mich vorgesehen. Nach reiflicher Überlegung habe ich ihm abgesagt, hätte das doch bedeutet, mich von meinen damaligen Lebens- und Arbeitsbedingungen ab- und der Vergan­ genheit zuzuwenden. Grüber sollte jährlich eine kleine Inszenie­ rung seiner Wahl, Theater oder Oper, in dem zu bauenden Thea­ ter liefern. Das Dorf würde seine Freunde willkommen heißen und die Kultur als eine Bereicherung empfinden, als Tourismus­ magnet. Diesen großen Traum konnte Arroyo nicht realisieren. Dennoch hat er dort 17 Jahre lang ein Sommerfestival für zeitge­ nössische Kammermusik ausgerichtet, einen Tag in seinem Haus, den zweiten vor der Kirche. Nun zurück zu meiner ersten Begegnung mit Arroyo 1973. An die Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer, die „Die


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eduardo arroyo

­ akchen“ produzierte, brachten die beiden be­ B freundeten, wenn auch von ihrer Persönlich­ keit und ihrem Charakter her sehr unter­ schiedlichen Künstler Arroyo und Aillaud ein für mich neues, tiefgreifendes Erlebnis räum­ lich-ästhetischen und vor allem dramaturgi­ schen Begreifens des Bühnenraumes. Sie ent­ warfen keine Bühnendekoration, kein Abbild eines griechischen Theaters oder im Text vor­ gegebene Lokalitäten, sie hatten keine Scheu, moderne Technik in das antike Werk einzu­ fügen, beispielsweise gelbgekleidete Straßen­ kehrer auf motorisierten Straßenkehrmaschi­ nen, den Gott Dionysos auf einem modernen Krankenbett. Sie ließen eine Mauer durchbre­ chen, durch den der antike Chor der Bakchen von außen wie eine wildgewordene Horde in den Raum eindrang, um den Boden aufzurei­ ßen und zu zerstören. In einem vom Publi­ kum einsehbaren Nebenraum befanden sich zwei Pferde, auf einem ritt Bruno Ganz als Pentheus. Den Leichnam des Herrschers zu Aus der Entfernung schärfer sehen – Eduardo Arroyo mit Klaus Michael Grüber 1995 zeigen, verwendete Arroyo ein Tablett, auf auf dem Weimarer Soldatenfriedhof während der Proben zu „Bleiche Mutter, zarte dem er in Collagetechnik einige moderne Schwester“ von Jorge Semprún. Foto Ruth Walz ­Wäscheteile des Ermordeten anbrachte. Den aber hatten wir vorher nur – verfremdet – nackt gesehen, außer in einer Szene, in der er Eduardo Arroyo, geboren 1937 in Madrid, war Schriftsteller, Bildhauer und Bühnenbildner. als Frau verkleidet war. Er absolvierte eine Ausbildung zum Journalisten, bevor er, aufgrund seines Widerstands geIn dem Jahr der ersten Begegnung sah gen die Franco-Diktatur, 1958 nach Paris emigrierte. Dort begann seine Beschäftigung mit ich in Frankfurt am Main außerdem Arroyos der Malerei. Seit 1969 arbeitete Arroyo auch als Bühnenbildner, vor allem mit dem RegisBühnengestaltung zu Brechts „Im Dickicht seur Klaus Michael Grüber. Gemeinsam mit seinem Freund Gilles Aillaud stattete er 1974 der Städte“. Da lagen Hunderte alter, zum Teil Grübers legendäre „Bakchen“ an der Berliner Schaubühne aus und ein Jahr später „Faust durchlöcherter Schuhe auf dem Bühnen­ Salpêtrière“ in Paris. Weitere Bühnen entstanden unter anderem für das Piccolo Teatro in boden, für Eduardo Sinnbild des Flüchtlings, Mailand, die Salzburger Festspiele und die Pariser Oper. Arroyos eigenes Theaterstück, das des Ausgestoßenen, des in den Kämpfen im Boxerdrama „Bantam“, wurde 1986 von Grüber am Münchner Residenztheater uraufgeDickicht der Stadt Unterlegenen – ein starkes führt. Am 14. Oktober 2018 ist Eduardo Arroyo in Madrid im Alter von 81 Jahren verstorben. Symbol, das Arroyo in allen Ausdrucksformen Er gilt als einer der Hauptvertreter des kritischen Realismus des 20. Jahrhunderts. seiner Kunst, Malerei, Skulptur begleitete. Ein zweites Element waren Leitern, auf denen man gesellschaftlich emporklettern, aber eben auch herunter­ wollte ich mich nicht in den theatralischen Mechanismus be­ fallen konnte in den Müll der Schuhe. Schon diese Beispiele ver­ geben. Es gibt in dem, was man vorschlägt, keinen Schwindel. deutlichen eine eigenständige dramaturgische Lesart und Bild­ Unsere Bühnenbilder sind nicht mobil, sie lassen sich nur als fixe interpretation, die es vor ihm im deutschen Theater nicht gab Volumen benutzen in dem Innenraum, in dem die Handlung ab­ läuft. Grübers Diskurse waren dabei maßgebend, auch scheute er (wenn auch Wilfried Minks Pop-Art auf die Bühne brachte, an­ sich nicht davor, sich in seinen Inszenierungen gewisser Trümpfe fangs eher ein Zitat denn eine eigenständige Schöpfung). Arroyo liebte übergroße Dimensionen, grelle, ja plakative zu entledigen, um dem Bühnenbild Vorschub zu leisten … Ich bin ein Außenseiter, ein Gelegenheitsarbeiter, eine Zeitarbeitskraft … Farben – zum Beispiel ließ er in „La Cenerentola“ den Prinzen vor einer rot erleuchteten Wand auftreten, ein Zitat aus der Welt der Das Theater ist für mich ein Luxus“, so Arroyo. Diesen Luxus hät­ ten wir ihm gerne weiter vergönnt, um den Reichtum seiner Fan­ Reklame. Er erschuf Riesenbäume, riesige Lüster, Riesenschiffe, in „Tristan und Isolde“ als Schiffsskelett (das der Dirigent Claudio tasie und seines Könnens immer wieder bestaunen zu dürfen. Danke, Eduardo, für das, was du für das Theater geleistet hast. // Abbado verabscheute), gigantische Spielautomaten für „Aida“ (zum Leidwesen des Dirigenten Riccardo Chailly). In beiden Fällen verteidigte Grüber das Bühnenbild, und es wurde nicht geändert. TdZ ONLINE EXTRA Arroyo benutzte Sujets seiner Malerei, um sie dreidimensional Eine Langfassung dieses Textes finden Sie unter www auf die Bühne zu stellen: übergroße Fliegen, Totenköpfe, Spinnen, www.theaterderzeit.de /2018 /12 Flugobjekte, Hüte, Kerzen und so weiter. „Von meiner Natur aus

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„Es ist unmöglich, Staub aufzuwirbeln, ohne dass einige Leute husten.“ Der lange Herbst der Neustarts zieht sich in diesem Jahr bis in den Winter hinein. Im Staatstheater Nürnberg schaukelte zu Beginn der Spielzeit Ionescos „Kahle Sängerin“ unter der Decke. Der neue Schauspielchef Jan Philipp Gloger hat hier mit ­seinem Ionesco-Abend ein Feuer des Absurden entfacht. Wunderbaum, das frisch ­angetretene Leitungs­kollektiv am Theaterhaus Jena, plädiert in Zeiten des Politikversagens für ein fröhlich-anarchisches Do-it-Yourself, während am Hessischen Landestheater Marburg die neuen Leiterinnen Eva Lange und Carola Unser ihr Haus mit obigem Zitat von Erwin Piscator schmücken.


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Feuer und Flamme Jan Philipp Gloger entfacht bei seinem Start als Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg nicht nur Begeisterung für Ionesco, sondern auch für das neue Team von Christoph Leibold

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ässt sich mit Eugène Ionescos absurdem Theater heute noch Begeisterung entfachen? Vor dem Start von Jan Philipp Gloger als neuem Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg schien das in etwa so wahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass ein Stein Feuer fängt. Glogers Vorhaben, mit einem Ionesco-Abend loszulegen, wirkte geradezu aberwitzig wagemutig. Doch das Risiko wurde belohnt. Nach diesem Auftakt glimmt nicht nur das Interesse an Ionesco wieder auf. Vor allem ist man Feuer und Flamme für die neue Nürnberger Mannschaft, die sich unter der neuen General­ intendanz von Jens-Daniel Herzog zusammengefunden hat. Um zu untersuchen, wie sich das absurde Theater zu unserer immer absurder erscheinenden Welt verhält, hat Gloger zwei ­Ionesco-Stücke zu einem Abend kombiniert, der unter der Über­ schrift „Ein Stein fing Feuer“ Ende September Premiere feierte. Der Titel ist ein Zitat aus „Die kahle Sängerin“. Er steht dort in einer langen Reihe skurriler Sätze wie etwa der Frage nach der Titelheldin: „Was macht die kahle Sängerin?“ Antwort: „Sie trägt immer noch die gleiche Frisur!“ Doch statt der kahlen Sängerin, die nur einmal er­ wähnt wird, aber nie auftritt (erst am Ende des Abends schaukelt sie kurz an der Decke), begegnen wir dem Ehepaar Schmidt, das in Nürnberg in einem Schöner-Wohnen-­Zuhause im IKEA-Look lebt (Bühne Marie Roth) und Besuch von den Martins bekommt – aus heiterem Himmel, wie es scheint, denn anfangs zeigen sich die Gastgeber verblüfft. Aber schon wenige Sätze später erklären sie, dass es aber auch wirklich Zeit gewesen sei, man warte ja nun schon seit Stunden! I­ onescos Figuren reden viel derlei ungereimtes Zeugs, wenn sie nicht gerade Worthülsen wälzen. Das liest sich nur mäßig komisch. Aber im sich klammheimlich ins Überspannte steigernden Alltagston, den Gloger seinem Ensemble verordnet hat, und im neu­ bürgerlichen Interieur zwischen Couchgarnitur, Zimmerpflanzen und Kunstdrucken an den Wänden entfaltet der Text loriotartigen Witz. So weit, so vergnüglich. Doch dabei bleibt der Abend nicht stehen.

Ionescos Merkwürdigkeiten erscheinen heute keineswegs von der Realität überholt – „Ein Stein fing Feuer“ (hier mit Frank Damerius) in der Regie von Jan Philipp Gloger. Foto Konrad Fersterer

Neben Tagebuch- und Interviewaussagen Ionescos, in denen sich die Skepsis des Dramatikers gegenüber der Rationalität des Men­ schen ausdrückt, hat Gloger auch absurde Aussagen von Zeit­ genossen wie Donald Trump in seine Inszenierung montiert, etwa die Behauptung des US-Präsidenten, der Klimawandel sei nur eine Erfindung der C ­ hinesen, um die US-Wirtschaft zu torpedie­ ren. Erstaunlicherweise erscheinen Ionescos Merkwürdigkeiten im Gegenwartskontext keineswegs als von der Realität meilenweit überholt. Eher wirkt es so, als hätte der Autor den heutigen Irrsinn vorweggenommen. Zu erleben ist eine in sinnentleerten Sprachund Verhaltensroutinen gefangene Spießbürgerlichkeit, die umso hartnäckiger an der eigenen Lebensform festhält, desto hohler sie

Jan Philipp Gloger wurde 1981 in Hagen geboren und hat in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft und in Zürich Regie studiert. Seit 2007 arbeitet er als freier Regisseur unter anderem am Residenztheater in München, am Deutschen Theater Berlin, an der Schaubühne in Berlin sowie am Nationaltheater Mannheim. 2011 bis 2013 war er Leitender Schauspielregisseur am Staatstheater Mainz. Gloger inszeniert auch Opern, zum Beispiel bei den Bayreuther Festspielen und am Royal Opera House in London. Seit dieser Spielzeit ist er Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg. Foto Katrin Binner

wird, wie Gloger anhand von Ionescos „Die Unterrichtsstunde“ vorführt. Ein zunehmend übergriffiger Professor drangsaliert ­seine Schülerin. Gloger inszeniert das nicht als Beitrag zur MeTooDebatte, sondern als Aufeinandertreffen einer jungen Migrantin mit einem Oberlehrertypen, der sie mit Schulstoff traktiert, als gelte es, ihr deutsche Leitkultur einzutrichtern. Auch so ein absur­ des Ansinnen, mit dem Teile der bürgerlichen Mehrheitsgesell­ schaft hierzulande ihre Lebensform gegen Veränderung zu vertei­ digen ver­suchen – allen Auflösungserscheinungen zum Trotz, die Gloger sichtbar macht, indem er das wohnzimmerrealistische Spießeridyll des ersten Teils zerlegt. Möbel und Kulissenteile ­haben einer großen Wand Platz gemacht, an der der gesamte Hausrat haftet wie Klettersteine an einer Boulder-Wand, an der die

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thema

Gefangen in der Enge der Verhältnisse – „Die Möwe“ von Haus­ regisseurin Anne Lenk, unten: „Ein Stein fing Feuer“ (hier mit Annette Büschelberger (l.) und Süheyla Ünlü). Fotos Konrad Fersterer

Schauspielerinnen und Schauspieler akro­batisch herumturnen. Später verschwindet auch diese Wand, das ­Ensemble sitzt nun im leeren Raum zwischen zwei Zelten um ein ­Lagerfeuer, und man fragt sich: Ist das noch Campingurlaub oder schon der Rückfall in die Steinzeit nach der Apokalypse, weil die Welt am wachsenden Irrsinn zugrunde gegangen ist? Jan Philipp Gloger hat sich vorgenommen, an seiner neu­ en W ­ irkungsstätte eine Vielfalt an Theatersprachen zu etablie­ ren. Nach 18 Jahren unter seinem Vorgänger Klaus Kusenberg sieht er Nachholbedarf. Um dabei jedoch nicht zum profil­ schwachen Gemischtwarenladen zu verkommen, hat er intern die Losung ausgegeben, „in Extreme zu gehen. Das, was wir an unterschiedlichen Theaterformen anbieten, soll möglichst ausgeprägt sein.“ In seiner Antrittsinszenierung fä­ chert Gloger selbst gleich mal eine beacht­ liche Bandbreite an Spielarten auf – von der Well-made-Dramaturgie des Anfangs bis hin zu einem happeningartigen Finale, bei dem das Publikum zu einer partylauni­ gen Feier des Absurden auf die Bühne ­gebeten wird. Zwei Stunden haben bewährte Nürnberger Ensemble-­­zugpferde wie Julia Bartolome und Frank Damerius sowie Neu­ zugänge wie Lisa Mies und der fantastische Sascha Tuxhorn so perfekt harmoniert, als würden sie schon ewig zusammenspielen. Nun lädt diese neue Spielgemeinschaft in einer symbolischen Umarmungsgeste auch die Zuschauer ein, teilzuhaben und die

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Bühne als Ort gemeinsamer Sinnsuche in einer ­zunehmend sinn­ entleerten Welt zu begreifen. Anderntags macht Boris Nikitin das Theater gleich ganz zur ­Kirche. Die „Aufführung einer gefälschten Predigt über das Ster­ ben“, die der Schweizer für die Nebenspielstätte Kammerspiele ent­ wickelt hat, kommt tatsächlich als Frontalansprache ans Publikum daher. Flankiert von einem Gospelchor, räsoniert der Performer Malte Scholz über die Bedeutung des Todes für unser Leben. Dabei spricht er zwar nicht von der Kanzel, sondern tigert auf der Bühne auf und ab wie ein amerikanischer Baptistenprediger, wobei er lei­ der das entsprechende C ­ harisma vermissen lässt. Dass sich Scholz im Laufe des Abends auszieht, stößt die Zuschauer überdeutlich darauf, dass hier die nackte Existenz des Menschen verhandelt wird, und führt dazu, dass man sich – trotz des kirchenuntypischen Strips – bepredigt fühlt. Sei’s drum. Als Beitrag zum Formenspek­ trum geht die Aufführung ebenso in Ordnung wie das „Kabinett der vereinigten Vergangenheiten“, ein Partizipationsprojekt des Künst­ lerkollektivs Geheimagentur, das Lehren aus der Stadtgeschichte ziehen will, um anschließend mit dem Publikum politische Maß­ nahmen für eine bessere Zukunft zu verabschieden, die tatsächlich als Eingaben im Nürnberger Rathaus landen sollen. Der Bezug zur Stadt ist überhaupt etwas, das Jan Philipp Gloger dringend vertiefen will. In Nürnberg, wo fast die Hälfte aller Bürger Migrationserfahrung hat, muss sich Diversität auch im Ensemble widerspiegeln, so seine Überzeugung. Dementspre­ chend hat er seine Truppe zusammengestellt. Wobei es etwas be­ deuten kann, wenn ein Mensch mit Migrationshintergrund auf der Bühne steht (wie bei Süheyla Ünlü als Schülerin in Ionescos „Unterrichtsstunde“), aber nicht zwingend etwas aussagen muss. In Anne Lenks Inszenierung von Anton Tschechows „Die Möwe“ jedenfalls, der zweiten Produktion im Schauspielhaus am Eröff­ nungswochenende, ist die Besetzung kein Kommentar zum Stück. Lenk, als neue Hausregisseurin an Nürnberg gebunden, zeigt Tschechows Provinzpersonal als Panoptikum skurriler Charak­ tere, wobei gilt: je kleiner die Figur, desto kurioser. Tjark Bernaus Dorfschullehrer Medwedenko etwa ist die ebenso hirn- wie son­


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nenverbrannte Servilität in Person, der Landarzt Dorn von Raphael Rubino ein eitler Latin Lover, der das üppige Brusthaar ostentativ aus dem knappen Hemd quellen lässt. Anne Lenk hat diese so komischen wie traurigen Typen ausgesetzt oder, je nachdem, wie man’s nimmt, ein­gesperrt in den leeren, grauen und vor allem türenlosen Kasten von Bühnenbildnerin Judith Oswald. Wie auf verlorenem Posten stehen sie dort herum. Und zugleich gefangen in der Enge der Verhältnisse. ­Allein die Kunst scheint ihnen einen Ausweg zu versprechen, sei es, indem sie sich selbst als Künstler versuchen oder indem sie ihre Sehnsüchte auf diese Künstler pro­ jizieren. So wie die Gutsbesitzertochter Nina, die jeden, der nur den leisesten Anschein von Bohemienhaftigkeit erweckt, bedin­ gungslos anhimmelt und deren eigener hoch­fliegender Traum von der Schauspielerei in einem Absturz endet wie der Flug der Möwe, die der Möchtegerndramatiker Kostja vom Himmel schießt. Blauäugigkeit ist bei Pauline Kästners Nina nicht nur eine Eigenschaft der Iris. Lenks Inszenierung bietet klassisches Schauspielertheater, in dem das Ensemble einen erfreulich modernen Ton trifft und einige Glanzlichter setzt. Cem Lukas Yeginers Kostja, der ein neues Theater etablieren will, ist ein Trotzbrocken und Trauerkloß, jederzeit bereit, an die Decke zu gehen, wenn seine Mutter, die Starschauspielerin Arkadina, gegen ihn stichelt. Doch je größer Kostjas Verzweiflung wird, desto stiller wird Yeginer. Bis er am Schluss implodiert. Seine Mutter nimmt den umgekehrten Weg. Das Rückzugsgefecht der ­alternden Diva begleitet Ulrike Arnold mit zunehmend fahriger Ges­ tik, die sich allmählich zum wilden Armrudern einer Seiltanzartistin weitet, die um ­Balance ringt angesichts des Abgrunds namens Alter, der sich immer bedrohlicher unter ihr auftut. Während die hochtrabenden Ansprüche und die überzoge­ nen Erwartungen Tschechows Figuren in ihren Unzulänglich­ keiten nur umso kümmerlicher erscheinen lassen, könnten die künstlerischen Ambitionen der neuen Theaterleitung tatsächlich den Weg aus dem Aufmerksamkeitsloch weisen, in dem Nürnberg steckt. Gemessen an den Möglichkeiten des Hauses, das seit 2005 im Rang eines Staats­theaters steht, müsste dieses Theater doch eine bedeutendere Rolle in der überregionalen Wahrnehmung spielen, findet Gloger. Deshalb hat er prominente Namen für seine erste Saison verpflichtet. Armin Petras wird demnächst ­ ebenso bei ihm inszenieren wie Dieter Dorn, einst Glogers Men­ tor am Bayerischen Staatsschauspiel in München, wo der neue Nürnberger Schauspielchef sein erstes Stück von Philipp Löhle inszenierte. Eine Reihe weiterer sollte folgen. Nun ist Löhle Haus­ autor in Nürnberg und wird nicht nur ein neues Stück für diese Spielzeit schreiben, sondern zudem als Kurator der Reihe Import/ Export zur internatio­nalen Vernetzung beitragen. Solche großen Namen, ist sich Gloger s­ icher, „bringen immer auch Energie ins Haus“. Darüber hinaus wünscht er sich einen Ort, an dem er die eigene kreative Energie bündeln kann. Der Hauptgrund dafür, dass er sich auf die Leitungsaufgabe eingelassen hat, war „nicht das Leitenwollen, sondern das Bleibenwollen. Ich möchte daran glauben, dass Theater Spuren hinterlässt. Und ich möchte anfan­ gen, diese Spuren lesen zu können. Als herumreisender Regis­ seur bekommt man dazu nur selten die Gelegenheit.“ Mit seiner Nürnberger Eröffnung hat Jan Philipp Gloger erste Fährten gelegt, denen man mit frisch entfachter Begeisterung gern folgt. //

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Haus der tausend Probebühnen Das niederländisch-flämische Theaterkollektiv Wunderbaum entert das Theaterhaus Jena – „Thüringen? Kein Problem!“ lautet ihr Motto von Paula Perschke

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eit seiner Gründung 1991 ist das Theaterhaus Jena ein ein­ zigartiges Haus. Es zeichnet sich durch die Förderung unbere­ chenbarer und polarisierender Künste aus und das von Anfang an unter kollektiven Leitungsstrukturen. Man könnte das Theater auch poetisch als Haus der tausend Probebühnen bezeichnen. Als 2016 eine neue künstlerische Leitung ausgeschrieben wurde, war der Andrang groß. Die Gesellschafter entschieden sich 2017 für das niederländisch-flämische Theaterkollektiv Wunderbaum. Kollektive, wie sie sich üblicherweise in der freien Szene abseits eines Stadttheaters aufhalten, sind dafür bekannt, nicht nur kritische Fragen an einen Theatertext zu stellen, sondern auch, die Struktur der Theaterinstitutionen zu hinterfragen und an alten Traditionen zu rütteln. Das Theaterhaus Jena, welches das ständige Hinterfragen zur Methode gemacht hat, ist mögli­ cherweise der richtige Ort für Wunderbaum. Denn auch sie kom­ men aus einer Region mit einer besonderen Theatergeschichte. Durch Künstler wie Johan Simons und Luk Perceval hat sich das Theater in Flandern und den Niederlanden zu einer modernen und vor allem lebendigen Szene entwickelt. Eine neue Generation junger Theatermacher wie Ilay den Boer, Dries Verhoeven, Boukje Schweigman und die Gruppe Tristero erwuchs und behauptete sich in einer Zeit, in der besonders in den Niederlanden Künstler

unter radikalen Sparmaßnahmen zu leiden hatten. „Wenn die ­Regierung versagt, dann müssen wir es selbst machen!“, weiß Walter Bart, Schauspieler und neuer künstlerischer Leiter des Theaterhauses Jena. Und das ist auch die Grundidee der Inszenie­ rung „Jena macht es selbst“, einer von zwei E ­ röffnungspremieren der neuen Spielzeit. Doch wer ist „wir“? Und in welcher Form wol­ len wir miteinander umgehen? Um diesen Fragen nachzugehen, haben die Performer ­Walter Bart, Marleen Scholten, Matijs Jansen und der Musiker Jens Bouttery Bürger und Bürgerinnen aus Jena auf die Bühne geladen, damit sie davon berichten können, was sie alles selbst machen. Aber auch Anna, der heimliche Star des Abends, ist dabei. Anna ist körperlich beeinträchtigt, hat Konzentrationsschwierigkeiten und kann daher viele Dinge nicht allein. An diesem Abend gehört die Bühne ihr, in immer wiederkehrenden Solomomenten erzählt sie von sich selbst. Es ist berührend, ihr zuzuhören. Bart, Jansen, Scholten und der Musiker Bouttery performen im Gegensatz zu diesen Experten des Alltags als überdrehte Mode­ ratoren im Einheitslook: schwarze Fracks, weiße Hemden, ver­ zottelte Perücken und übergroße Fake-Zähne. Sie erinnern an die Vermenschlichung von Bugs Bunny und seinen Looney Tunes, die

Wie können wir gemeinsam erreichen, was uns wichtig ist? – Das fragt auch die zweite Eröffnungspremiere von Wunderbaum: „Hallo Jena“. Foto Joachim Dette


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ins Haus eingefallen sind und von nun an Blödsinn veranstalten. Auf der Bühne (Maarten van Otterdijk) stehen Instrumente und ein Glücksrad, ja, hier kann regelrecht am Rad gedreht werden. So ent­ scheidet sich, welche Szene gespielt wird. Die Spannung steigt! Gleich zu Beginn wird dem Publikum der „Tanz der Demo­ kratie“ präsentiert. „In einer Choreografie von Sahra Wagen­ knecht!“, ruft Walter Bart – Lacher sind garantiert. Die Bürgerin­ nen und Bürger formieren sich und arbeiten sich an simplen Bewegungen ab. Dazu Live-Musik. Bein nach links, Bein nach rechts, Arm nach oben, einmal um sich selbst drehen und so wei­ ter. Dann werden sie einzeln vorgestellt: Name und Beruf. Tosen­ der Applaus, man kennt sich in der Kleinstadt, möglichweise sitzt der ganze Fanclub der Darsteller im Publikum. Schließlich wer­ den zwei Personen scheinbar willkürlich aus den Zuschauerrei­ hen gewählt. Einzige Kriterien: Wer hat einen festen Job, wer meistert das Leben in der Ich-AG? Die Auserwählten (Spoiler: Nur eine Person, eine Beamtin, ist zufällig da, die andere Person, ein Homepagedesigner und Musiker, ist Teil der Crew) dürfen nun durch den Abend führen und das Glücksrad (oder Schicksalsrad?) in Schwung bringen. Klingt chaotisch, ist es auch. Gut, dass schon zu Beginn der Show rohe Eier an das Publikum ausgeteilt wurden. „Dann wissen wir gleich, woran wir sind!“, freut sich Marleen Scholten – eine Schauspielerin mit beeindruckender Bühnenprä­ senz. Es fällt schwer, den Blick von ihr abzuwenden, doch es pas­ siert zu vieles gleichzeitig an diesem Abend. Das Rad wird in Bewegung gesetzt, es folgen chaotische Szenen, punkige Songs werden gespielt, Eier geworfen, heikle Fragen direkt an das Publikum adressiert: „Wer von euch hat Ge­ flüchtete zu Hause aufgenommen?“ Doch es gibt auch ruhige Mo­ mente wie jener, in dem das Rad auf dem Feld „Liberal Love“ ste­ hen bleibt. Bart und Scholten halten inne, um einen Dialog (nach einem Text von Ayn Rand aus dem Roman „Atlas Shrugged“) über die Liebe zu führen, die niemals altruistisch sein kann. Spätestens jetzt ist klar, dass die beiden in ihrer übermotivierten Spielfreude schauspielerisch höchst wandelbar sind. Gleichzeitig lässt sich der Abgesang der romantischen Liebe auch als zeitgenössische Antwort auf den künstlerischen Umgang mit Gefühlen im Thea­ ter verstehen. Nach eineinhalb Stunden bunten Wirbelns auf der Bühne haben sich alle im Raum zumindest ein bisschen kennen­ gelernt. Ein gemeinsames Schlusslied wird gesungen, die Band verstummt, das Publikum singt weiter und behält damit das letzte Wort. Gänsehaut! Hier wurde die Idee einer regierungsunabhän­ gigen Gemeinschaft vorgestellt. Was können wir eigentlich selbst machen, und wie können wir gemeinsam erreichen, was uns wichtig ist? An diesem Abend geht es um das Kennenlernen und ums Zuhören. Sensibel sein füreinander. In seiner Knalligkeit schließlich ein zarter Abend. Wunderbaum zeigen sich als Theaterschaffende, die ihr Handwerk verstehen. Sie arbeiten mit klassischen theatralen Ef­ fekten wie Täuschung (das Publikum kann sich oft nicht sicher sein, was inszeniert ist und was zufällig passiert), Nähe (Berüh­ rungsängste mit dem Publikum sind schlichtweg nicht vorhan­ den) und Überforderung. Das ist schön postdramatisch – sagen­ haft, wie gut das in der Kleinstadt funktioniert. Man unterschätze nie das hochverehrte Publikum! Wunderbaum sind nicht nur vir­ tuose Performer, sondern auch vielseitige Musiker, dabei wirken

Das niederländisch-flämische Kollektiv Wunderbaum wurde 2001 an der Maastrichter Theaterakademie gegründet und besteht aus dem Bühnenbildner Maarten van Otterdijk sowie den Schauspielern Maartje Remmers, Matijs Jansen, Wine Dierickx, Walter Bart und Marleen Scholten (v.l.n.r.). Nach ersten Arbeiten mit Johan Simons’ Theater­ kompanie ZT Hollandia verlegte die Gruppe 2008 ihr Zentrum in die Rotter­damse Schouwburg. Sie koproduzieren regelmäßig mit Künstlern aus unterschiedlichen Disziplinen sowie überregionalen Festivals. Ihre ­Arbeitszentren haben sie in Rotterdam, in Mailand und ab dieser Spielzeit in Jena. Foto Ulrike Merkel

sie stets gut gelaunt. Ob sich diese Qualitäten auch in der Lei­ tungsarbeit widerspiegeln? Zwischen Jux und Gaudi muss schließlich auch ein Haus geführt werden. Was Wunderbaum auszeichnet, ist die Miteinbeziehung nicht nur des Abend­ publikums, sondern auch der Bewohner der Stadt und der Mit­ arbeiter im Haus. Hier sollen alle teilhaben können. Die Texte entstehen aus Recherchen und Improvisation, inszeniert wird ge­ meinsam. Aber auch ein neues Schauspielensemble ist dabei. Ein Megamix also zwischen partizipativem Theater und vom Kollektiv produzierten Stücken. „Thüringen? Kein Problem!“ lautet das provokante Motto der neuen Spielzeit. Thematisch wird es um das Ankommen in einer neuen Heimat gehen, um Sprache, wie in der Produktion „Deutschkurs“, um politische Fragen, wie das Bereuen einer Wahlentscheidung in „Ich bereue“ und auch um Europa natürlich („Biertourist“) – man darf gespannt sein. Die Theaterstrukturen sind dabei möglichst transparent, das zeigt sich etwa, indem die Regieassistentin Susanne Frieling während der zweiten Premiere der Spielzeit, „Hallo Jena“, auf die Bühne kommt und das Publi­ kum darauf hinweist, dass im Leitungsteam längst nicht alles Friede, Freude, Bratwurst ist. In Thüringen leben übrigens nur Walter Bart und Bühnenbildner Maarten Van Otterdijk. Das Theaterhaus versteht sich als eine von drei Zweigen des Wunderbaumes. Es wird zusätzlich Kooperationen mit dem Theater Rotterdam und dem mare culturale urbano in Mailand geben, Orte, an denen die übrigen Teammitglieder leben und arbeiten. Alles, was in Jena ge­ zeigt wird, wird auch dort gespielt. Die Produktionen bis März sind zum Großteil schon vorproduziert. Ein ewiges Gastspielrad? Für die Eröffnungsabende „Jena macht es selbst“ und „Hallo Jena“ gab es jedenfalls mehrfach Standing Ovations. Momentan steht das Rad also auf „Voller Erfolg“. //

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Die Experimentier­er Eva Lange und Carola Unser leiten das Hessische Landestheater in Marburg seit dieser Spielzeit als Doppelspitze – und wirbeln sogleich viel Staub auf von Joachim F. Tornau

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anchmal, sagt Eva Lange, lässt sie ihre Worte ein bisschen verspringen. „Ich sage dann: Ich bin ins Labor gegangen.“ Statt: ins Büro. Was ursprünglich nur ein kleiner Versprecher war, gefiel ihr beim Darübernachsinnen so gut, dass sie das Versehen mitt­ lerweile mit Absicht wiederholt: „Es erschien mir sehr stimmig und augenfällig für das, was wir hier gemeinsam versuchen.“ Gemeinsam versuchen: Müsste man sich für nur zwei Wör­ ter entscheiden, um zu erklären, welche Philosophie sich hinter der plakativ mit Ausrufezeichen versehenen Parole vom „Neu­ start!“ verbirgt, mit der das Hessische Landestheater in Marburg den Beginn dieser Spielzeit beworben hat, es könnten diese bei­ den sein. Äußerlich unscheinbar – wie das Haus in der mittel­ hessischen Universitätsstadt, dem als Spielstätten die Stadthalle und ein ehemaliges Offizierskasino der Bundeswehr dienen –, ste­ hen sie für einen ungleich beachtlicheren Anspruch: vieles ganz anders machen zu wollen, als es sonst in der Theaterwelt üblich ist. Gemeinsam. Das beginnt, natürlich, in jenem „Labor“, dem Büro, in dem seit dieser Saison ein Doppelschreibtisch steht.

Eva Lange und Carola Unser sitzen hier als gleichberechtigte Intendan­tin­nen, ein bundesweit beispielloses Modell. Die beiden Chefinnen, die in anderen Rollen bereits an der Landesbühne Niedersachsen Nord in Wilhelmshaven zusammengearbeitet ­ ­haben, wollen die traditionelle Alleinherrschaft meist männlicher Intendanten aber nicht einfach durch ein Duumvirat ersetzen. Sie wollen offen diskutieren und dabei das gesamte Ensemble ein­ binden, Technikerinnen, Requisiteure oder Beleuchterinnen aus­ drücklich eingeschlossen. Von einer „Experimentiergemeinschaft“ spricht Lange und verweist damit zugleich auf das zweite Element des neuen Marburger Markenkerns: den Versuch. Das Ausprobie­ ren. Das Experimentieren. Das soll sich auf die Strukturen ebenso beziehen wie aufs künstlerische Programm. „Ich finde“, sagt Carola Unser, „man kann den Leuten etwas zumuten.“ Die Unterscheidung zwischen Kinder- und Jugendtheater, das von den neuen Intendantinnen zur Chefinnensache erklärt wurde, und den Produktionen für

Eine poetische Erkundung von Einsamkeit, Verlassensein und projizierter Sehnsuch – „Radio Universe“ von Nino Haratischwili. Foto Katrin Schander


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­ rwachsene? Gestrichen. Altersempfehlungen gibt es noch, aber E ansonsten soll alles für alle interessant sein. Um die eigenen Rou­ tinen produktiv stören zu lassen, wird einmal pro Spielzeit eine freie Theatergruppe eingeladen, die als Artists in Residence eine Inszenierung ganz nach ihren Vorstellungen produzieren kann. Auch wenn sie lieber nachts als tagsüber proben will, soll sie dies tun können, versprechen die Intendantinnen. „Es ist doch eine schöne Sache, über Kanzlerkandidaten zu reden und dabei Blut­ wurst zu essen“ heißt die erste Arbeit in dieser Reihe, entwickelt vom Performancekollektiv Zaungäste aus Frankfurt, Gießen und Berlin. Mit Romy Lehmann als „Botschafter*in für Kollaboration und Unsinniges“ leistet sich das Theater dann auch noch so etwas wie einen hauptamtlichen Unruhepol im eigenen Haus. Die Per­ formerin, Mitgründerin des Theaterkollektivs Safe Safe Sexy und ehemalige Regieassistentin in Wilhelmshaven wird nicht nur ein erst so spät wie möglich benanntes „Stück zur Zeit“ inszenieren, sondern auch allmonatlich in einer skurrilen Late-Night-Show mit dem programmatischen Titel „Watch Me Fail“ auftreten. Sie mischt sich auch in Proben ein, rät zur Entschleunigung oder öff­ net spontan die Kantine. Erlaubt ist, was ihr gefällt. „Es ist unmöglich, Staub aufzuwirbeln, ohne dass einige Leute husten.“ Den Satz des in Marburg aufgewachsenen Theater­ machers Erwin Piscator (1893–1966) haben die Intendantinnen auf einem großen Transparent an ihr Theater gehängt. Eine ähn­ lich selbstbewusste Ansage war die Premiere zur Spielzeiteröff­ nung: Eva Lange inszenierte einen Doppelabend aus Schillers „Maria Stuart“ und Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“. Es war das erste Mal, dass Jelinek in Marburg überhaupt gespielt wurde, und ganz bewusst ein Experiment. Das klassische Königinnendrama zeigt Lange als Politkrimi voller Ränke und Intrigen, aber ohne Heldin. Im Ringen von ­Elisabeth, der Königin von England, mit der von ihr eingesperrten und schließlich zum Tode verurteilten Maria, Königin von Schott­ land, gibt es kein Gut und kein Böse, keine moralischen Über­ legenheiten. Elisabeth (Mechthild Grabner) ist eine ohnmächtige Machtpolitikerin, die ihre Getriebenheit hinter Eiseskühle ver­ birgt. Maria (Zenzi Huber) gefällt sich in der Pose der Märtyrerin, selbstverliebt und arrogant. Wie sie zu Beginn dasteht, den Rücken zum Publikum, die Hand mit einem Blatt Papier zum Himmel gereckt, erinnert sie an die Freiheitsstatue von New York. Darun­ ter macht es diese Maria nicht. Klar und reduziert ist Langes ­Inszenierung: Die klug konzipierte Bühne von Carolin Mittler zeigt einen gelblich gefliesten Raum, durch dessen schmale Spal­ ten sich die Akteure bei jedem Auf- und Abgang zwängen müs­ sen. In den Abgründen und Beobachtungsschlitzen manifestiert sich die Enge des Systems, in dem beide Frauen gleichermaßen gefangen sind. Dieses System wird dann in der letzten halben Stunde zer­ legt, als Schiller fast nahtlos in Jelinek übergeht und sich die In­ szenierung in ein grellbuntes Spektakel verwandelt. Buchstäblich: Akkuschrauber, präsentiert wie Schusswaffen, lassen die Wände fallen. „Ulrike Maria Stuart“, 2006 skandalträchtig am Hambur­ ger Thalia Theater uraufgeführt, ist die Abrechnung der großen österreichischen Grantlerin mit den 68ern und der RAF. Aus ­Elisabeth wird Gudrun Ensslin, aus Maria Ulrike Meinhof und aus dem Königinnendrama ein Zickenkrieg in Stammheim. Doch

den Text trägt vor allem Jelineks Enttäuschung über den zu ­Popkultur und Phrasen erstarrten Aufbruchsgeist der 68er. Mit „Maria Stuart“ hat das wenig zu tun. Die Idee, dem Schillerklassiker diese RAF-Revue als Coda anzuhängen, geht deshalb nicht recht auf. Doch sie unterstreicht die Ambition, mit der die beiden Intendantinnen angetreten sind. Provinz? I wo. „Großstadtniveau“ wollen sie bieten, sagen Lange und Unser. Schließlich würden sich in Marburg keine anderen Fragen an die Welt stellen als in irgendeiner Metropole: Wie kann das Theater in einer zerfallenden Gesellschaft die Menschen an ihr gemeinsames Menschsein erinnern? Wie kann es zum Ort der Demokratie werden, zum Lebens- und Begegnungsort für mög­ lichst viele verschiedene Gruppen der Stadtgesellschaft? Und, im Übrigen, auch der Landgesellschaft: Als Landestheater gastieren die Marburger regelmäßig in Ortschaften, die auf Namen wie Bie­ denkopf oder Niederwalgern hören. Trotz begrenzter finanzieller Mittel „maximal progressive Theaterversuche starten“: Das haben sich Lange und Unser vor­ genommen. Und schon das zweite große Projekt zum Spielzeit­ auftakt konnte nur dank zusätzlicher Fördermittel realisiert wer­ den: Die aus Georgien stammende Autorin und Regisseurin Nino Haratischwili, in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nomi­ niert, inszenierte ihr eigenes Stück „Radio Universe“ – eine sehr poetische Erkundung von Einsamkeit, Verlassensein und proji­ zierter Sehnsucht, entstanden vor dem Hintergrund des russischgeorgischen Kriegs vor zehn Jahren. Mit dabei waren Schauspieler aus Marburg und Tiflis. Auf schwankendem Boden stehen sie, auf Wippen, die sie selbst durch ihre Bewegungen kippen lassen (Bühne Julia Bührle-Nowikowa), und sprechen in größter Selbst­ verständlichkeit zum Teil deutsch, zum Teil georgisch (mit deut­ schen Übertiteln). Das alles hat gelegentlich die Ruppigkeit einer Off-Theater-Produktion, doch es funktioniert. Ein mutiges, ein gelungenes Experiment. Es wird sicher nicht das letzte gewesen sein. //

Eva Lange wurde in Delmenhorst geboren und hat Evangelische Theologie und Germanistik sowie Pädagogische Psychologie und Pädagogik in Göttingen studiert. Sie arbeitete als Regisseurin unter anderem in Oberhausen, Münster, Kassel und Leipzig. Von 2013 bis 2017 war sie Oberspielleiterin an der Landesbühne Niedersachsen Nord. Carola Unser, geboren in der Pfalz, studierte nach einer Ausbildung zur Landwirtin Pädagogik und Theologie und absolvierte eine Ausbildung zur Spiel- und Theaterpädagogin. Während ihres Regiestudiums an der Theaterakademie Hamburg inszenierte sie unter anderem am ­Thalia Theater Hamburg, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und auf Kampnagel. Von 2012 bis 2016 leitete sie die Junge Landesbühne Niedersachsen Nord. Eva Lange und Carola Unser sind seit der Spielzeit 2018/19 Intendantinnen des Hessischen Landestheaters Marburg. Fotos Neven Allgeier

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Die rettende Insel? Das Mittelsächsische Theater Freiberg-Döbeln will sich in der politischen Auseinandersetzung mit der AfD künstlerisch nicht verleugnen

von Gunnar Decker

V

om Bahnhof Döbeln eine halbe Stunde immer die Bahnhof­ straße entlang wandernd, stehe ich plötzlich vor einem klassizisti­ schen Theaterbau, dem sich ein avantgardistischer Anbau an­ schließt. Eine gelungene Symbiose von Alt und Neu, aus Stein und Glas. Das Gebäude wirkt wie eine Insel der Hochkultur in den Niederungen des Konsums. In Sichtweite ein Tattoo-Studio, ein Billard-Café, eine Tinten-Toner-Tankstation und ein Laden na­ mens Arizona Outlet. In dessen Schaufenster stehen auch Base­ ballschläger – darunter solche mit unmissverständlichen Auf­ schriften wie „Good night“. Auf dem Parkplatz auf der Rückseite des Theaters rund um den zugeparkten Schaukasten mit dem Monatsspielplan warten zwei Männer mit einem unangeleinten Kampfhund. Alle drei beobachten mich. All das passt in jedes Kli­ scheebild der ostdeutschen Provinz. Hier herumzulaufen und Notizen zu machen, kann leicht zu Ärger führen. Schließlich hat die AfD die Medien zu ihrem Hauptfeind erklärt. Sie ist in Sachsen in vielen Orten bereits die stärkste politische Kraft. Im mittelsächsischen Wahlkreis stehen sich CDU und AfD etwa gleichstark gegenüber – oder stehen sie mit Blick auf die Zeit nach der Sachsen-Wahl im kommenden Jahr bereits als eine rechte Allianz auf dem Sprung? Die CDU-Spitze dementiert zwar ein Zusammengehen mit der AfD, Sachsens ­Ministerpräsident Michael Kretschmer ebenso, andere in der Par­ tei sagen anderes: etwa dass, wenn die AfD sich von den Rechts­ radikalen in den eigenen Reihen distanzierte, die Sache schon anders aussähe. Direkt gegenüber dem Theatereingang liegt das Wahlkreis­ büro der Linken und daneben das der AfD. Die Linke plakatiert Aufrufe zur Gemeinschaftsschule, die Kinder sollen länger ge­ meinsam lernen. Die AfD macht mit anderen Aktionen in Sachen Bildung von sich reden. Sie hat eine Art Denunziationsforum ein­ gerichtet, wo sich Schüler und Eltern anonym über ihre Lehrer beschweren können, aber nicht, wenn diese schlecht unterrich­ ten, sondern wenn sie gegen das „Neutralitätsgebot“ verstoßen – also etwa im Unterricht vor Rechtsextremismus warnen. So etwas, meint die AfD, sei verboten. Auf diesen groben politischen

­ rabenkampf, wie ihn die AfD führt, ist die politische Landschaft G ­dieses Landes offenbar nicht vorbereitet. Denn natürlich ist es nicht verboten, es ist sogar in höchstem Maße geboten, sich rechtsextremen Entwicklungen in der Gesellschaft entgegenzu­ stellen – aber die AfD besetzt nun mal lautstark Themen, wie es ihr passt. Und versucht überall, Unsicherheit und Misstrauen zu schüren, Werte dieser Gesellschaft in ihrem Sinne umzuwerten. Mit dem „Neutralitätsgebot“ wird nun auch das Mittelsäch­ sische Theater attackiert, etwa wegen der szenischen Lesung von Falk Richters „Safe Places“ und „Fear“. Sogar im Landtag war das Thema. Das Ziel dieses Abends mit Publikumsdiskussion, so Schauspieldirektorin Annett Wöhlert, die den Abend konzipierte, sei die „Bühne als Gegenutopie zur radika­lisierten Gesellschaft“. Aber was heißt für die AfD denn überhaupt „Neutralität“ – und seit wann sollen Theater neutral sein? Neutral meint für die AfD, dass, wer nach rechts kritisiere, dies auch immer gleichzeitig nach links tun müsse. Diese Weltanschauungskunde der AfD bekommt man am Schaufenster des Bundestagsabgeordneten Heiko Hessenkemper vorgeführt. „Migrationspakt stoppen“ ist eine der Schlagzeilen hier. Der Sohn westfälischer Bergarbeiter wurde 1995 Professor für Emaillebeschichtung an der Bergakademie Freiberg. Er bekam bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr fast genau die glei­ che Anzahl Direktstimmen wie die CDU-Abgeordnete Veronika Bellmann. Dank Landesliste sitzen sie nun beide im Bundestag. Als politische Konkurrenten oder potenzielle Partner? Vieles in der politischen Landschaft Sachsens gleicht einer Grauzone. Man­ ches ist auch bewusste Nebelwerferei. Hessenkemper etwa ist der Mann für markige Sprüche. Er spricht offen von „Linksfaschismus“, der in diesem Land herr­ sche, von der „Umvolkung“, die die „politischmediale Klasse“ be­ treibe, mit dem Ziel, durch massenhafte Zuwanderung den linken Wählerkreis zu vergrößern. Das klingt nach Verschwörungsszenario, hat aber offenbar einen starken Resonanzboden, nicht nur in Sach­ sen. Derzeit ist das Büro verwaist, denn Hessenkemper ist nach ei­ nem Unfall, Schlaganfall und Herz-OP, eigentlich aus dem Politik­ zirkus ausgeschieden, aber zur Freude seiner Anhänger meldet er sich – mit brüchiger Stimme – schon wieder mit schlagkräftigen Pa­ rolen zu Wort. Solche Männer brauchen Freiberg und Döbeln? Oder doch eher solche wie Ralf-Peter Schulze, Intendant des Mittelsächsischen Theaters, der, aus Neubrandenburg-Neustrelitz


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kommend, 2011 das Theater Freiberg-Döbeln übernahm? Er kam zusammen mit seiner Schauspieldirektorin Annett Wöhlert, die mit hochambitionierten Inszenierungen, auch solch politischer Stücke wie Taboris „Mein Kampf“, bekannt wurde.

Die Mulde fließt von rechts und links Ralf-Peter Schulze ist jemand, der Brücken zwischen verschiede­ nen Parteiungen in der Region bauen will, ohne dabei sich selbst zu verleugnen. Sein Theater, sagt er, sei das Gewissen der Politik. Diese wisse das oft nicht, aber brauche es darum umso dringen­ der. Die Wahl der Stoffe für Theater und Oper soll nicht tagesaktu­ ell sein, sondern auf künstlerische Weise dringlich. So wie der kafkaeske „Konsul“ von Gian Carlo Menotti. Er selbst inszeniert diese selten gespielte Oper von 1950 über die Unerreichbarkeit eines Visums. Ob ich mir eigentlich vorstellen könne, wie sehr gerade die Döbelner ihr Theater lieben?! Der Intendant führt mich zu der Stelle neben dem Portal, an der die Hochwassermarke von 2002 zu sehen ist. Hoch über den Köpfen verläuft sie, bei 2,50 Meter! Die Mulde umfließt die Stadt von rechts und links, macht sie in ihrer Mitte gleichsam zur Insel. Eine hochgefährliche Lage. Da­ mals waren alle Erdgeschosse der Stadt geflutet – auch das des Theaters. Zwei Tage lang fuhren hier nur Boote, dann zog sich das Wasser zurück. Als es weg war, sah man das ganze Ausmaß der Zerstörung. Das Theatergebäude war völlig ruiniert, eigentlich bloß noch eine Ruine. Die Stadt mit ihren knapp 20 000 Einwoh­ nern beschloss dennoch, alles wieder aufzubauen – und es ge­ schah mit bewundernswerter Liebe zur historischen Bausub­

Ein Riss, der sich durch unsere Gegenwart zieht – Goethes Fabel „Reineke Fuchs” in der Regie von Annett Wöhlert taucht ab in die Welt der Täuschung. Foto Jörg Metzner

stanz und dem einzelnen architektonischen Detail. Kaum damit fertig, die Kredite waren noch nicht abgezahlt, kam 2012 schon das nächste Hochwasser. So etwas kann eine Stadt trau­ matisieren. Doch das Theater glänzt in ganzer Pracht – es wur­ de auch nach diesem neuerlichen Hochwasser umgehend wie­ der instand gesetzt. Die Döbelner also wissen sehr genau, was sie sich mit ih­ rem Theater leisten. Einen notwendigen Luxus für alle. Aber die Freude ist nicht ungetrübt, es passieren seltsame Dinge. Heute am Morgen etwa war in der Studiobühne die Döbelner Premiere von „Tanz und Rap“, einem Projekt von und mit Martina Morasso und Johann-Christof Laubisch, einer klassischen Tänzerin und ­einem Rapper. In Freiberg ist das Projekt bereits mit Erfolg ange­ laufen. Erzählt wird die Geschichte einer Begegnung, einer Kolli­ sion, bei der sich Körper und Laute zu unerwartetem Ausdruck verbinden. Ein Jugendstück voller Aggression und Zärtlichkeit. Wie ist es in Döbeln gelaufen? Zwei Lokaljournalisten waren da, aber die angemeldete Schulklasse kam nicht. Man habe den Ter­ min leider vergessen, hieß es. Die Premiere fiel aus. Ja, die Döbelner lieben ihr Theater, aber um diese Liebe muss man ständig kämpfen. Immerhin wird in dieser Spielzeit 25 Jahre Mittelsächsisches Theater gefeiert. 1991 war das Theater ­Döbeln geschlossen worden, die Fusion 1993 mit dem Theater Freiberg zum Mittelsächsischen Theater war die Auferstehung.


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Schulze hat mit den Jahren gelernt, dass Stadt nicht gleich Stadt ist. Freiberg tickt anders als Döbeln. Für beide Städte muss er ver­ schiedene Schwerpunkte setzen. Manche Inszenierungen würden für eine Kleinstadt wie Döbeln allein gar nicht gehen, wie Donizet­ tis Oper „Maria Stuart“ oder Annett Wöhlerts Inszenierung von Heiner Müllers „Philoktet“. Ein Inselstück mit am Ende folgerich­ tig totem Helden – flankiert mit Jelinek-Textpassagen von auf der Insel anlandenden Frauen. Ein Fluch- und Fluchtstück gleicher­ maßen, in eindrucksvolle Bilder übersetzt. So etwas läuft dann in Freiberg, der viel größeren Universi­ tätsstadt, sechs- bis achtmal und in Döbeln ein- bis zweimal. In der Gesamtrechnung funktioniert es – und so können auch in ­Döbeln anspruchsvolle Stoffe ihre Bühne finden. Dagegen sind Unterhaltungsstücke in Döbeln besonders gut besucht. Doch auch in Molières „Der Geizige“, Jordi Galcerans „Der Kredit“, Goethes „Reinecke Fuchs“ oder „Jekyll & Hyde“ (als Musical) spie­ gelt sich der Riss, der sich durch unsere Gegenwart zieht. In diesem Anspruch sind sich Ralf-Peter Schulze und Annett Wöhlert einig.

Nützliche Idtioten Gerade läuft die Probe von Annett Wöhlerts Liederabend „Die letz­ te erfolglose Band und die Braut“. Für diesen Abend hat sich die Regisseurin von Sebastião Salgados Bilderwelt in „Mensch, Salz der Erde“ inspirieren lassen. Texte von Brecht, Hans-Eckardt Wen­ zel, Edith Piaf, Konstantin Wecker, Rio Reiser und anderen krei­ sen um den Kosmos, den kleinen und den großen. Motto: Viel­ leicht, dass wir noch mal davonkommen? Unwahrscheinlich, jedenfalls wenn es nach Brechts „Viel­ leicht-Lied“ geht: „Vielleicht fällt Regen doch von unten nach oben? / Vielleicht gibt uns die Nacht sogar das Licht her, / Viel­ leicht bleibt dieser Mond einst voll und wechselt nicht mehr?“ Ret­ tung kommt nicht aus bloßer Passivität, weder im Großen noch im Kleinen, so die Botschaft. Die Lieder sind anfangs in eine ani­ mierende Cabaret-Szenerie gestellt, wo alles auf „Do you feel good“ gestimmt scheint. Traumszenerie ist angesagt, Annett W ­ öhlert steht ganz vorn am Bühnenrand, wirft eine handball­große durch­ sichtige Plastekugel zu Gaia hinauf (mit schöner stimmlicher ­Präsenz: Susanna Voß), die das „Welcome-Lied“ singt. Die Kugel aber kann sie nicht, wie vorgesehen, fangen. Sie fliegt über alle Köpfe hinweg wie ein Meteorit und kracht in die Kulissen. Kaputt. Da hatte die Regisseurin wohl zu viel Energie in

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den Wurf gelegt. „Haben wir noch eine von denen?“, fragt sie. Nein, im Moment nicht. Egal. Ob mit oder ohne Traumkugel, es wird zunehmend grotesker und schließlich auch ganz offensiv un­ schön, etwa mit Weckers „Waffenhändler-Tango“. „Erst baun wir Waffen, dann verkaufen wir sie weiter, dann wird ein Krieg ge­ führt, natürlich ein gescheiter, dann stelln wir uns auf irgendeine Seite, die andere geht dann selbstverständlich pleite. Dann finden wir das Ganze ganz gemein und sammeln unsere Waffen wieder ein.“ Keine Harmonie ohne Misston! So Annett Wöhlerts an Brecht, Heiner Müller und Elfriede Jelinek (auch an ihrem Mentor Christoph Schroth) geschulte Grundhaltung. Das ist nicht Agita­ tion, das ist Dialektik, und die kommt vom Denken! Diese Fähig­ keit zur Kritik gilt es gemeinsam mit dem Publikum zu kultivie­ ren: „Wir züchten weiter Patrioten und halten sie als nützliche Idioten.“ (Wecker) Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos, da sind sich Schulze und Wöhlert einig. Denn sie haben ein gutes Publikum, das das Angebot annimmt, über den Zustand unserer Welt nach­ zudenken – jenseits der ideologischen Schlagworte. Freiberg mit seiner Bergakademie hat eine jahrhundertealte Kultur im Um­ gang mit Fremden, die hierherkommen. An diese realen Erfah­ rungen, die Menschen im Umgang mit Fremden machen, ohne die Konflikte dabei schönzureden, lässt sich anknüpfen. Was wäre, fragt Schulze, das Musiktheater des Mittelsächsischen Theaters denn ohne dessen Mitarbeiter aus aller Welt? Man müsse den Blick immer wieder weiten, manche Frage dabei aber auch zuspit­ zen: Was etwa bliebe alles an Themen auf der Strecke, wenn die ganze Nation ausschließlich um das Thema Migration kreiste? Der eigentliche Kulturkampf aber, der jetzt hier am und um das Theater geführt wird, so Annett Wöhlert, sei der gegen die Geschichtsvergessenheit. Die AfD will, dass sie Stücke so spielen, dass es die „nationale Identität“ stärkt, aber natürlich ist diese Identität selbst voller Brüche. Das auf eine wirkungsvolle Weise auf der Bühne zu vermitteln, darin sieht die Schauspieldirektorin die Relevanz, die das Theater in der jetzigen gesellschaftlichen Si­ tuation neu gewinnen kann. Die Tragikomödie jeder Form von Gefolgschaft ist im „Follower“-Weltbild der Populisten, die bloß gleichgestimmte ­Anhänger um sich sammeln, gewiss nicht vorgesehen. Dagegen immer wieder das Bewusstsein für Widersprüche zu setzen, ist die Aufgabe des Theaters. //

Black. Space. Race. von Ntando Cele und Raphael Urweider Premiere Sa 22.12.2018


kolumne

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Ralph Hammerthaler

Du, Sudabeh Schauspiel Dortmund: Wollen Sie für den Frieden nicht aufstehen?

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äre sie nicht da gewesen, ganz zum Schluss, mit dem elf­ ten Monolog von elfen, dann hätte ich den schwer atmenden Ur­ aufführungsreigen „Ich, Europa“ im Schauspiel Dortmund schnell wieder vergessen. Das heißt, ganz vergessen nun auch wieder nicht, denn es gab ja noch diese komische Fi­ gur, die für sich genommen gar nicht ko­ misch war, komisch höchstens für all die anderen, denen sie nicht ins Konzept passte. Diese komische Figur spielte ich selbst. Dank Sudabeh aber verblasste sie genauso wie der alberne Konformismus im Theater, der sie erst hervorgerufen hat. In einem früheren Buch, genannt „das zehn-zeilen-buch“, hat Sudabeh un­ ter dem Titel „Glück“ zehn Zeilen über die Windtänzerin und die Literatur ge­ schrieben: „als der text im raum stand, wurde er endlich zum hindernis.“ So ist es auch in Dortmund geschehen. Am Anfang steht wie so oft eine Idee der Dramaturgie. Aus der Idee wird ein Aufruf, den Dramaturg Michael Eickhoff, damit jeder mitkommt, ver­ liest, als didaktischen Auftakt gewissermaßen. Dieser Aufruf ist offenbar erhört worden, wenigstens von „elf Autorinnen und Au­ toren aus der arabischsprachigen Welt, Nord-Afrika und dem (altosmanischen) Balkan“ – wer aufpasst, hört auch Stimmen aus der türkischen und persischen Welt. Laut DramaturgieSprech seien „Texte über einen sowohl fremden wie vertrauten Kontinent: Europa“ entstanden. Die Figur Europa erhebe selbst elfmal das Wort. Sudabeh Mohafez ist in Teheran geboren, aber sie gehört schon so lange hierher, dass sie der Dramaturgie ihren Namen Sudabeh als deutschen Namen vor den Latz knallt. Kennengelernt habe ich sie, als wir beide mit je einem Ro­ man bei DuMont waren; ihr Roman heißt „brennt“. Zusammen feierten wir Buchpremiere, nicht auf dem Messegelände, sondern in einer Bar in Leipzig. Nur einmal habe ich sie danach wieder­ gesehen, in Dresden, als ihr jetziger Verlag, die schöne kleine ­Edition Azur, trotzig sein siebenjähriges Jubiläum beging. Ihr „zehn-zeilen-buch“, das aus einem Blog hervorging und Kürzest­ geschichten versammelt, hat mich damals leicht beschämt. Weil ich mit zehn Zeilen nicht auskommen würde. Aber Sudabeh lach­ te nur.

In Dortmund, als ich die komische Figur spiele, lacht niemand. In Nullkommanix gelte ich als Aussätziger. Dabei fängt alles so schön an, als „Die Friedensbraut“ die Bühne entert, in einem Monolog von Muzaffer Öztürk, denn plötzlich verliert der Abend sein aufgesetztes Gewicht, er wird leicht und verspielt, mit einer Schauspie­ lerin, Bettina Lieder, die sich aufs Leichte und Verspielte versteht, in der Rolle der Aktionskünstlerin Pippa Bacca; noch dazu sieht sie fabelhaft gut aus. Es herr­ schen also denkbar schlechte Bedingun­ gen für meinen Auftritt. Aber warum muss im Saal das Licht angehen? Warum verlangt die Friedensbraut, dass alle für den Frieden aufstehen? Dass diese Auf­ forderung nicht im Text steht, lässt das Theater umso blamabler aussehen. Warum sind außer mir alle aufge­ standen, die unten im Parkett und die oben auf dem Rang? Retten wir dadurch den Frieden? Hey, Pippabraut, das bringt nichts. Für alle gut sichtbar sitze ich auf dem Rang in der ersten Reihe. Und die schöne Bettina ruft nach oben: Warum wollen Sie für den Frieden nicht auf­ stehen? Stumm schüttele ich den Kopf, obwohl ich eigentlich etwas sagen will, aber dann wäre ich bei der Friedensbraut völlig unten durch. Sie setzt ihren Monolog ein paar Atemzüge fort, und dann ruft sie wieder nach oben, jetzt angenehm schnippisch: Sie wollen also nicht für den Frieden aufstehen. Aha. Ich schüttele den Kopf, sie gibt mich verloren. Im elften Monolog fragt Sudabeh: „Ich, Europa? Kommst jetzt auch du damit?“ Und mit einem Mal nimmt der Abend eine überraschende Wendung. Weil sich Sudabeh nicht darauf einlässt. Weil sie genug hat vom Goodwill-Theater und seinem gönnerhaf­ ten Getue – „dass du mir zugestehst, was in deinen Augen ein Privileg für mich ist“. Sie droht, die ausgedruckte E-Mail abzu­ fackeln, wie all die anderen E-Mails von anderen Auftraggebern, in denen genau das Gleiche stehe in anderen Worten. Dass die Regie davor nicht einknickt, flößt mir allerdings Respekt ein. ­Marcus Lobbes lässt den ganzen Sudabeh-Text von einer Schau­ spielerin vorlesen und als Video auf den Vorhang projizieren. Am Ende zündet sie das Schreiben aus dem eigenen Haus tatsächlich an, den gut gemeinten Aufruf, und lässt ihn verbrennen. „Ich, Europa“, schreibt Sudabeh, und die Schauspielerin blickt einem kalt ins Gesicht. „So leid bin ich diesen Mist. Wenn du wüsstest, wie endlos, wie gefährlich müde ich bin.“ //

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München ist reich – und in zunehmendem Maße auch reich an Festivals. Doch wie bereichernd ist diese Politik der großen Ereignisse, wenn sie zu Lasten langfristiger Planungen geht? Unsere München-Korrespondenten Christoph Leibold und Sabine Leucht waren bei Politik im Freien Theater, Rodeo und dem IETM-Meeting unterwegs, um zu untersuchen, wie sich die Festivalitis auf eine Stadt und ihre Theaterszene auswirkt.


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politik im freien theater

Vornehm geht die Welt zugrunde Unter dem Motto „reich“ zeigt das Festival Politik im Freien Theater in München engagiertes Theater, jedoch oftmals ohne überzeugende künstlerische Form

von Christoph Leibold

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ünchen ist nicht nur eine an Festivals reiche Stadt. Mün­ chen ist überhaupt sehr wohlhabend. Nirgends wird das so deut­ lich wie an der Maximilianstraße, wo zwischen Nobelboutiquen, Luxushotels und gehobener Gastronomie auch die Kammerspiele residieren. Deren amtierender Intendant Matthias Lilienthal hat bekanntlich einen Shabby-Chick kultiviert, der ihn markant aus dem goldenen Rahmen fallen lässt. Zudem scheint die sich per­ formativen Formaten öffnende Theaterkunst, die mit ihm Einzug gehalten hat, Teilen des örtlichen Bildungsbürgertums nicht hochglänzend genug. Dass Lilienthal zu Beginn seiner vierten Spielzeit zusammen mit dem Verein Spielmotor das Festival ­Politik im Freien Theater (PiFT) der Bundeszentrale für politische Bildung nach München geholt hat, ließ die Herzen seiner Gegner wohl kaum höherschlagen. Der Vorverkauf lief denn auch schlep­ pend, was weniger an einer Festivalübersättigung der Stadt gele­ gen haben dürfte. Eher daran, dass ein Teil der klassischen Kam­ merspieleklientel den aktuellen Intendanten satt hat. Interessant dabei: Am Ende waren die allermeisten der von einer siebenköpfi­ gen Jury ausgewählten 14 Produktionen trotzdem ausverkauft. Der Run auf die Abendkasse spricht dafür, dass das Festivalprogramm ein anderes Publikum anlockte. Nicht nur ein anderes als sonst im Münchner Theater, sondern auch als bei Prestigeprojekten wie etwa dem Faust-Festival im Frühjahr, bei dem die Stadt ein biss­

Links: Zu Tisch bitte! – „£¥€$“ von Ontroerend Goed (hier mit Aurélie Lannoy) verleitet die Zuschauer zum Zocken, bis die Finanzblase platzt. Rechts: „Enjoy Racism“ von Thom Truong. Fotos Tom Verbruggen (links) / Linda Pollari (rechts)

chen angeberisch mit ihrem kulturellen Reichtum protzte und dafür einiges an programmatischer Beliebigkeit in Kauf nahm. Wer sich im PiFT-Publikum umschaute, für den war der unge­ wohnt niedrige Altersdurchschnitt augenfällig. Unübersehbar zog das Festival Zuschauer an, die ihren Theaterbesuch offenbar gern spontan planen. Begünstigt haben mag den jugendlichen Zulauf außerdem eine Festivalflat: Zehn Vorstellungen der Wahl für acht­ zig Euro (ermäßigt sogar nur vierzig Euro!) – ein echtes Schnäpp­ chen, das auch weniger betuchten Theaterinteressierten den ­Besuch bei einem Festival ermöglichte, das sich das austragungs­ ortsaffine Motto „reich“ gab und dabei nicht vergaß, das Gegenteil mitzudenken. Denn auch in München lebt, laut Armutsbericht,

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etwa jede(r) Sechste in „relativer Armut“. Die wachsende soziale Ungleichheit, lokal wie global, war also das Thema, das die Aus­ wahljury allerdings großzügig auslegte, indem sie auch Auffüh­ rungen einlud, die nur in loser Verbindung dazu standen. Bei „£¥€$“ (auch zu lesen als: „Lies“) freilich wurde der ­Bezug schon durch die Typografie des Titels deutlich. Das belgi­ schen Kollektiv Ontroerend Goed bittet das Publikum an Spiel­ tische. Nach den zweifelhaften Gesetzmäßigkeiten einer Gewinn­ maximierungsstrategie, die mit Werten operiert, die so fiktiv sind wie die Staaten, für die die einzelnen Tische stehen, darf es­ zocken – bis die Finanzblase platzt. Die Performance war eines von zahlreichen partizipativen Projekten im PiFT-Programm, die ja meist darauf abzielen, den Zuschauer Themen an Leib und ­Seele erfahrbar zu machen. So auch „Enjoy Racism“ von Thom Truong, das mit dem Preis des Festivals ausgezeichnet wurde. Das Schweizer Duo teilt das „aufgeklärt linksliberale Kulturpublikum“ in zwei Gruppen (Blauäugige und Braunäugige, alle anderen wur­ den darunter subsumiert), um dann die einen mit Sekt, Schnitt­ chen und Entertainment zu pampern, während die anderen per Videoübertragung aus einem Nebenraum zuschauen müssen. Die Beobachtung, die dem Abend zugrunde liegt, ist die, dass weiße Westeuropäer (die immer noch die Mehrheit des Theaterpubli­ kums stellen) zwar grundsätzlich um ihre Privilegien wissen, sich aber noch lange nicht der kompletten Tragweite bewusst sind. Die will ihnen dieses „performative Experiment“ vor Augen führen. Das Problem jedoch von „Enjoy Racism“ wie auch von „£¥€$“ ist,

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dass hier etwas als Experiment ausgegeben wird, dessen Ausgang alles andere als offen ist. Beide Abende dienen nur als Bestätigung ihrer Thesen und lassen gar keine andere Möglichkeit zu, als dass sich die Zuschauer dabei als das abzustempeln, was Theater­ macher in ihnen sehen wollen: hier die Zugehörigen einer Gesell­ schaftsschicht, die ihren Status als Normalzustand begreift; dort die Zocker, die die Regeln des Casinokapitalismus zutiefst ver­ innerlicht haben. So bedenkenswert die Gesellschaftsdiagnosen der Performer auch sein mögen: Das Publikum in eine Versuchs­ anordnung einzuspannen, deren Ergebnis schon im Vorhinein feststeht, ist unlauter. PiFT unterstellt ja schon im Festivalnamen, dass das freie Theater besonders politisch ist. Und in der Tat: Dringlichkeit mochte man kaum einer der eingeladenen Produktionen absprechen. Allerdings fehlte es allzu vielen Aufführungen an künstlerischen Mitteln, die politische Intention in eine sinnliche Theatererfah­ rung zu übersetzen. Oft überwog schlicht die Frontalansprache ans Publikum, etwa in „Mare Nostrum“ von Laura Uribe, die eine Linie von der Flüchtlingstragödie im Mittelmeer zur Not ­kolumbianischer Flüchtlinge zog, die über Mexiko in die Ver­ einigten Staaten zu gelangen versuchen. Oder in „Tender Provo­ cations of Hope and Fear“ vom schweizerisch-britischen Duo J & J, einem thematischen Sammelbecken für alles, von Krieg bis Klimawandel, aufbereitet als Lecture Performance der thea­ tralischen Trockenbrotsorte. Die Highlights kamen spät. Antje Schupps „PINK MON€Y“ befasst sich mit der „Währung“, mit der sich die LGBTIQ*-­ Community Sicherheit vor Gewalt und Diskriminierung erkauft. In Form von teuren Reisen an geschützte Orte etwa oder von Ein­ trittsgeldern in entsprechende Clubs. Ein offen queeres Leben kann sich nicht jede(r) leisten. Dieser Abend kam zwar ebenfalls nicht ohne Frontalvermittlung seiner Anliegen aus. Als räudiger Mischling aus Performance und Party war „PINK MON€Y“ im sonst so clean-schicken München gleichwohl eine echte Wohltat. Und schließlich zeigten She She Pop noch ihr „Oratorium“, eine ziemlich clevere „kollektive Andacht“, die am Beispiel des (Wohn) Eigentums die Teilung der Gesellschaft in Vermieter und Mieter respektive Besitzende und Besitzlose am Publikum exemplifizier­ te, das auch hier mitspielen durfte/musste und dabei Bekenner­ mut aufzubringen hatte. Insbesondere alle Erben waren aufgeru­ fen, sich zu outen. Bloßgestellt wurde dabei niemand, wohl aber die je eigene Verstrickung ins System offengelegt. In München, wo die Mieten so rasant ins Unermessliche wachsen wie sonst nir­ gends in der Republik, fand dieses „Oratorium“ einen besonders passenden Echoraum. Man hätte sich noch mehr solcher Vorstel­ lungen gewünscht, die man mit derart großem Gewinn besuchen konnte. So bleibt es bei der Feststellung, dass PiFT vor allem da­ durch eine Bereicherung für die Stadt darstellte, dass es über­ haupt (und zum ersten Mal!) in München stattfand und andere Zuschauer als die üblichen Verdächtigen ansprach. All jene dage­ gen, die sich vom Weggang Matthias Lilienthals 2020 eine Rück­ kehr zur Stadttheaterroutine erhoffen, seien daran erinnert, dass die letzte Ausgabe von Politik im Freien Theater 2014 in Freiburg stattfand, als dort noch Barbara Mundel Intendantin war. Lilien­ thals designierte Nachfolgerin wurde auch diesmal in einigen PiFT-Vorstellungen gesichtet. //


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rodeo festival und ietm-meeting

Grab, wo du stehst! Beim Rodeo Festival und beim IETM-Meeting in München erprobte die freie Szene die Selbstverortung und den Brückenschlag

von Sabine Leucht

Kupferdrähten Teppiche mit Mustern von hellenischen Va­ sen webt. Rodeo 2018 hat ein Herz   as Gelände, auf dem für die, die etwas wagen wie der Münchner freien Szene David von Westphalen, der in irgendwann ein Produk­ „Fucking Disabled“ die Sexua­ tionshaus erwachsen soll, lität von Behinderten ins Bild setzt, was dank der wunderba­ spielt wieder mit beim Festi­ ren Lucy Wilke zugleich zart, val Rodeo. Wo bereits kräftig schön und schwer auszuhal­ die Abrissbirne wütete, wer­ ten ist. Es hat ein Herz für un­ den historische und frischge­ ter dem Radar des breiten backene Manifeste gejodelt – ­Publikums und vielfach auch und am Ende schunkeln der Förderpolitik fliegende sogar zwei riesige Baustel­ Tüftler wie Bülent Kullukcu, lenkräne mit: Ein Coup, der die beiden Jodlerinnen der mit „Mondo“, einer Bildund Toncollage zum Thema Christiane Huber und Simo­ ne Egger auf den Tennis­ Alltagsfaschismus, zu Gast bei Rodeo war und mit seinem schiedsrichterstühlen von „Play & Stay 1-5“ und auch Kompagnon Karnik Gregorian und den Jodlerinnen Christiane die Kunst klein erscheinen Huber und Simone Egger das lässt und dann doch wieder groß: Weil sie etwas bewegen künftige Rodeo-Leitungsteam bildet. Oder auch für Berkan kann. Und seien es auch nur zwei Kräne. Allen klein­ Karpat, der mit dem indischen Filmemacher und Performer lichen Sicherheitsvorschrif­ Raoul Amaar Abbas die mit­ ten zum Trotz. Das Münchner Tanztels eines Rilke-Gedichts akti­ Zart, schön und schwer auszuhalten – „Fucking Disabled“ in der Regie von David von Westphalen. Foto Lisa Miletic vierten Gehirnströme einer und Theaterfestival ist in sei­ Testperson in hinreißenden nem zweiten und letzten Jahr unter der Leitung von Mustern auf dem Boden der Muffathalle pulsieren lässt. Sarah Israel zu einer gewis­ sen Reife gelangt, weil es sich erlaubt, kein Best-of der Szene zu Rätselhaft und faszinierend! Und zwischen allen Stühlen und präsentieren, obwohl das Hauptprogramm durchaus erkennen Sparten situiert. lässt, mit wem vor allem im Tanz weiterhin zu rechnen ist. Dieser Dieser echte Karpat in kurz und bunt entstand im Rahmen hat im diesjährigen Rodeo-Programm aber auch quantitativ leicht des gemeinsam mit dem Goethe-Institut konzipierten Formats die Nase vorne, weil Israel als Kuratorin alle Ästhetiken ignoriert, Bloom-Up, das Münchner und internationale Künstler für knapp die mit einem Auge aufs Sprech- und Stadttheater schielen. Statt­ zwei Wochen zusammenbringt, die dann beim Festival Arbeits­ stände ihrer Begegnungen zeigen. Das passt zu der in den letzten dessen richtet Rodeo 2018 die Lupe auf die Ränder des Performa­ beiden Jahren noch gewachsenen Kleinteiligkeit des Rodeo-­ tiven wie etwa in „Carnation Dingthang“, bei dem der Münchner Noise-Artist Anton Kaun und der israelische Musiker David Op­ Programms, das nach wie vor weniger attraktiv fürs Publikum als für die Macher selbst ist und trotz eifrigen Bemühens von Seiten penheim umstandslos Layer aus Lärm übereinanderlegen. Oder in „Away-Takiy“, einer Ausstellung der bolivianischen Künstlerin der Stadt kaum überregionale Strahlkraft gewonnen hat. Standen die Zeichen bislang fast ausschließlich auf Öffnung und Ver­ Sandra de Berduccy, die aus handgefärbter Wolle und klingenden

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netzung, wurde diesmal jedoch auch nach einem Vortrag der Kul­ tur- und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein über die Bedeutung des Lokalen debattiert, die man in diesem heißen Herbst, in dem die Münchner Biennalen Rodeo und Internationales Figuren­ theaterfestival nur die Vorboten der vagabundierenden Festivals IETM-Meeting und Politik im Freien Theater sind, nicht aus den Augen verlieren sollte. So gerne man als Kulturinteressierter auch aus dem Vollen schöpft, hier stimmt die Balance nicht mehr. Und womöglich nicht nur für den Moment. Es ist eine These der Stadtsoziologie, dass die „Politik der großen Ereignisse“ meist zu Lasten langfristiger Planungen vor Ort geht. Siehe das lange versprochene Produktionshaus, mit des­ sen Plänen die Stadt der Szene seit Jahren vor der Nase herumwe­ delt wie dem Hund mit der Wurst. Soll davon abgelenkt werden? Die Wartezeit emotional ver­ kürzt? Beim IETM-Meeting jedenfalls war ein Teil der Münchner Szene gut beschäftigt, wenn auch überwiegend mit Zuschauen oder Mitdiskutieren, denn der einzige lokale Beitrag im Perfor­ mance-Programm war Ceren Orans „Rush Hour“, eine Choreo­ grafie auf drei Laufbändern zum Thema Beschleunigung und Perfektionierungswahn. Hinter dem Kürzel IETM versteckt sich das International Network for Contemporary Performing Arts. Rund sechshundert seiner Mitglieder von Australien bis Kanada machten sich in Mün­ chen vier volle Tage lang Gedanken darüber, was sie als Theater­ schaffende in Zeiten des Rechtsrucks zu einer besseren Zukunft beitragen können. Auffallend viele Brexit-Geschädigte aus Wales,

Zum 75. Geburtstag:

eine Wundertüte vermischter Nachrichten aus Werk und Leben Einar Schleefs Erzählungen Märchen Berichte Fremd- und Selbstbeobachtungen „Einar zu sein erforderte großen Mut.“ (Etel Adnan) Lesung: 22.01.19 · 20 Uhr Literaturforum im Brechthaus Chausseestr. 125 10115 Berlin

Zusammengestellt von Hans-Ulrich Müller-Schwefe Mit einem Nachwort von Etel Adnan Geb., farb. Vorsatz, Lesebändchen 180 Seiten, 22 Euro ISBN 978–3–96160–004–5

Schottland und dem Rest des Königreiches sind dabei, wenn es in einer working session unter dem schönen Titel „Dig where you stand“ um das künstlerische Arbeiten in ländlichen Gebieten geht oder – in einer anderen – um Kooperationen über Kontinente und Kultur­ grenzen hinweg. Da geben sich die beiden grundunterschiedlichen Festivals gewissermaßen doch noch die Hand, weil beide bei aller Notwendigkeit und Freude, sich mit anderen Kulturen und Mentali­ täten zu vernetzen, die Selbstverortung nicht vergessen: „graben, wo man steht“. Wobei man, wo auch immer es Gräben zu überbrücken gilt, immer wieder auf ähnliche Gedanken stößt: Die Faktoren Zeit und Nähe, heißt es etwa, seien entscheidend, wenn man als Künstler in einem Dorf nicht der schräge Vogel bleiben will oder der Groß­ kotz, der meint, er allein sei im Besitz des Schlüssels zur „richtigen“ Kultur. Ähnliches gilt auch für die interkulturelle Zusammenarbeit oder wenn die Kunst ihr Publikum mit ins Boot holen will. Zur Festivaleröffnung hat Meeting-Organisator Axel Tanger­ ding vom Münchner Meta-Theater den Schriftsteller Robert ­Menasse und die Soziologin Ulrike Guérot eingeladen, einen Dia­ log zum Festivalthema „Res Publica Europa“ zu führen sowie zu ihrem mit Milo Rau konzipierten „European Balcony Project“, das am 10. November in verschiedenen Städten des Kontinents sym­ bolisch die Europäische Republik ausrief. Es wurden zwei Mono­ loge, bei denen Guérot durch fröhliche Ahnungslosigkeit in Be­ zug auf das Theater glänzte und Menasse durch Unduldsamkeit mit seiner Übersetzerin. Das Performanceprogramm der ersten Tage dagegen konnte sich sehen lassen und sich auch gegen die Konkurrenz des unsinnigerweise zeitgleich eröffneten Festivals Politik im Freien Theater behaupten. Das große Thema auch hier: Brückenschlag und Partizipation! In Antonio Cerezos vor allem bildnerisch vielschichtigem Papiertheaterstück „There is no home like place“ gelingt dies erst gegen Ende, als Cerezos Pappprotagonist, aus der Wohnung, in der schon seine Eltern lebten, herausgeworfen, seine letzten ­Güter ans Publikum versteigert und Cerezo selbst dabei schaut, als gin­ ge es um seine Seele. „Wirklich sehen“ vom Kölner Frauenduo katze und krieg dagegen ist Partizipation pur: Zuschauer mit Augenbinden haben Blind Dates mit Zuschauern mit Augen­ ­ binde, was zu angeregten Gesprächen mit unsichtbaren Fremden führt – etwa auch darüber, ob eine Performance ohne Performer, Text und Bild noch Kunst sei. Diese Frage stellt sich beim Kollektiv Flinn Works nicht, das in „Global Belly“ in die unterschiedlichen Kulturen vermögender weißer Europäer mit Kinderwunsch und armer, aber gebährfähiger Inderinnen und Ukrainerinnen ein­ führt. Dafür lassen uns Cornelia Dörr, Matthias Renger, Lea Whit­ cher und die indischstämmige Politikwissenschaftlerin und Per­ formerin Sonata selbst die Perspektiven und Rollen von Freunden eines schwulen Paares einnehmen, als Leihmütter von der profes­ sionellen Wertschätzung einer Betreuerin überschüttet werden oder als Eltern in spe den seelischen Eruptionen einer Anwältin lauschen, die „Surrogate“-Babys durch rechtliche Schlupflöcher nach Deutschland schleust. „Global Belly“ erspart einem kein De­ tail dieser unguten Geschäftsbeziehungen und baut doch wohl­ feiler Empörung vor. Die junge Inderin, die darauf besteht, mit ihrem Bauch machen zu können, was sie will, hat hier nicht weni­ ger recht als die Feministin alter Schule. Der Zuschauer versteht sie beide. So lassen sich Brücken bauen! //


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kommentar

Mütter! Courage! Über mangelnden Nichtverlängerungsschutz in der Elternzeit und unsoziales Personalmanagement an der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle von Dorte Lena Eilers

Bereich“, erneuerte das Ensemble-Netzwerk anlässlich des Hallen­ ser Falls (der nur einer von vielen ist) eine alte Forderung. Was geht im Kopf eines Geschäftsführers vor, der einer jungen Mutter den Arbeitsplatz entzieht? Stefan Rosinski erklärte in einer Stellungnahme: Der Tarifvertrag Normalvertrag Bühne lasse für eine   nter dem Schlagwort „Abgestraft für Elternzeit“ postete die Musikpädagogin Barbara Frazier am 28. Oktober einen Aufruf auf ordentliche Nichtverlängerung allein künstlerische Gründe zu. Die Nichtverlängerung sei aus der Bewertung der Arbeitsleistung Facebook. Völlig unerwartet war ihr durch den Geschäftsführer der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle (TOOH) Stefan von Frau Frazier als Mitarbeiterin geschehen. Diese sei ihr aus­ führlich durch die Leiterin der Theaterpädagogik als ihrer Vorge­ ­Rosinski während der Elternzeit die Nichtverlängerung ihres Ver­ trages ausgesprochen worden. Uner­ setzten, Sylvia Werner, und den Geschäfts­ wartet deshalb, weil Frazier ein Jahr führer, Stefan Rosinski, dargelegt worden. Es obliegt einem aufgeklärten Künstlerische Aspekte sollten in zuvor, ebenfalls während der Eltern­ zeit, noch von eben jenem Geschäfts­ Kunst­institutionen natürlich immer im Vor­ Personal­management, führer verlängert worden war. dergrund stehen. Nur mischen sich hier bei Nun sind Nichtverlängerungen Personalentscheidungen die klaren Rege­ dem Hire-and-Fire-Prinzip lungen eines Vertragstextes mit ästhetischen im System des Normal­vertrags Bühne, US-amerikanischer Prägung Kriterien, was tatsächlich Raum für faktisch über den die meisten künstlerisch schwer überprüfbare Entscheidungen lässt. Beschäftigten angestellt sind, gängige ­ Werte wie soziale In Halle jedoch kommt eine Merkwürdig­ ­Praxis. Viele Verträge sind auf ein Jahr keit hinzu. Wie nämlich lässt es sich erklä­ befristet. Die Unsicherheit, die darin Verantwortung steckt, teilen Bühnenmitarbeiterinnen ren, dass die Beurteilung der Arbeitsleistung entgegenzusetzen. von Barbara Frazier 2017 noch zu einer Ver­ und -mitarbeiter mit befristet Beschäf­ tigten aller Branchen: Entscheidet ein längerung geführt hat, im Jahr darauf indes Chef, die Anstellung einer Mitarbei­ zu einer Nichtverlängerung, wenn sie in die­ ser Zeit, da in Elternzeit, gar nicht gearbeitet terin oder eines Mitarbeiters in Eltern­ hat? Einziger Grund kann hier nur sein, dass ihre Vertretung in den zeit nach dem regulären Auslaufen der Vertragszeit nicht zu ver­ längern, kann er dies tun. Durch die massive Zunahme von Augen der Geschäftsführung bessere Leistungen erbracht hat. Die­ ser Konkurrenzsituation sind alle befristet beschäftigten Mütter Zeitarbeitsverträgen im Zuge der Hyperflexibilisierung unterliegen und Väter in Elternzeit ausgesetzt. Schlimm genug, haben sie, da sie gerade Frauen, die eine ­Familie gründen wollen, dem Risiko, sich ja nicht vor Ort sind, keinen Einfluss auf die Situation. In Halle be­ durch eine Schwangerschaft in die Arbeitslosigkeit zu manövrieren. Solange dies gesetzlich nicht gelöst ist, obliegt es einem aufgeklär­ steht die Besonderheit, dass die Nichtverlängerung entgegen dem Willen der künstlerischen Leiter der Oper, Florian Lutz, Veit Güssow ten Personalmanagement, dem Hire-and-Fire-Prinzip US-amerika­ nischer Prägung Werte wie soziale Verantwortung, Beschäftigten­ und Michael von zur Mühlen, ausgesprochen wurde. Was einen wei­ schutz und Moral entgegenzusetzen. teren Konflikt an dem Haus berührt: den mal offen, mal intern aus­ 2017 konnten die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Ange­ gefochtenen Streit zwischen Geschäftsführung und Opernleitung. Zahlen und Gesetze sind das eine. Leitungskompetenz be­ höriger (GDBA) und die Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer e. V. immerhin den Nichtverlängerungsschutz für deutet aber auch, die personellen Prozesse im Haus verantwor­ tungsvoll zu moderieren. Eine Arbeitsleistung, die der Aufsichts­ Mütter bis zu vier Monate nach der Geburt durchsetzen. Ein befris­ teter Vertrag, der während dieser Zeit auslaufen würde, verlängert rat der TOOH schleunigst auf Qualität prüfen sollte. Das Handeln sich somit automatisch. Gegenüber anderen Branchen ein Plus der Geschäftsführung mag juristisch sauber sein, moralisch trag­ fähig ist es nicht. Rosinskis Hinweis, Barbara Frazier stünden alle für die Arbeitswelt Theater. Die GDBA-Forderungen nach einer juristischen Mittel offen, später flankiert von einem Brief, der sie Ausweitung dieses Schutzes auf die Elternzeit von Müttern und unter Androhung weiterer Schritte dazu auffordert, ihre Aussagen Vätern stünde laut Präsident Jörg Löwer indes ganz unten auf der zurückzuziehen, ist nicht nur zynisch. Er ist für eine Kulturinsti­ Liste der Arbeitgeber. Im Bereich der Bühnenkünste kommt hinzu, tution, deren Geschäftsleitung wissen sollte, dass es bei NV-Bühnedass die Flexibilität der Arbeitsverträge nicht unbedingt infrage Prozessen für Geringverdiener keine Prozesskostenhilfe gibt, gestellt wird. „Wir sind ausdrücklich für die Beibehaltung der Zeit­ verträge. Aber wir wollen eine Begrenzung der Willkür in diesem denkbar unwürdig. //

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Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Kriegsschutt zu Kunst Die Installationen und Projekte von Julian Hetzel sind provozierend schamlos und stellen gesellschaftliche Normen auf den Prüfstand

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erstörend genial! Schamlos provozierend! Entweder man hasst sie oder liebt sie. Nur wenige Arbeiten polarisieren so wie die von Performancemacher und Konzeptkünstler Julian Hetzel. Und das liegt daran, dass sie den Zuschauer direkt angehen, ihn in kompromittierende oder verstörende Situationen verwickeln, die dazu führen, das eigene normative Repertoire an Verhaltens-, Empfindungs- und Urteilsweisen zu reflektieren. In der Performanceinstallation „Still“ (2014) begegne ich nach fünf Stationen, die um die Ökonomie des Wartens kreisen, einer echten Obdachlosen, die wie ein menschliches Readymade in dem weißen Ausstellungs­ container sitzt und mich in ein Gespräch über ihr Leben verwickelt, das ich außerhalb des Kunstrahmens so vermutlich nicht geführt hätte. Die „Schuld­ fabrik“ (2016) lädt ihre Gäste zu einem Besichtigungsparcours durch die Produktions- und Vertriebsräume einer Firma für Seife mit dem sprechenden Namen SELF ein. SELF wurde aus dem realen Wohlstandsfett niederländischer Spender hergestellt, um aus dem Erlös wirklich ein Brunnenbau­ projekt in Malawi zu finanzieren. Der Begegnungsparcours produziert beim involvierten Besucher als Vertreter der westlichen Wohlstandsgesellschaft persönliche wie kollektive (Mit-)Schuld, die durch den Versuch, sich mittels Seifenkauf reinzuwaschen, perpetuiert wird. Eine ähnliche Aktion „künstlerischer Entwicklungshilfe“ mit neokolonialem Fokus praktizierte Hetzel selbstironisierend bereits als „The Benefactor“ (2011), bei einem Projekt, das darin bestand, die erhaltene Fördersumme von 2000 Euro an ein Waisenkind in der Demokratischen Republik Kongo zu spenden, und zwar wirklich. Hetzels aktuelle Arbeiten rücken den Fokus eher auf ­Themen wie die Ästhetisierung von Gewalt und Empathie-Ökonomien, bleiben aber Experimente mit dem Realen. So bin ich in der Installationsvariante von „The Automated Sniper“ (2017) zu einem „live simulierten Spiel“ eingeladen, bei dem ich vor einem kleinen Monitor sitze und von einer weiblichen Computer-

stimme animiert werde, auf zwei Menschen zu schießen. Erst im nächsten Raum der Installation realisiere ich, dass diese zwei Menschen den beiden Performern auf der Bühne entsprechen, die synchron zu den Spielschüssen ganz real mit Farb­ kugeln beschossen werden und blaue Flecke ernten. Julian Hetzel, Jahrgang 1981, hat Visuelle Kommunika­ tion an der Bauhaus-Universität in Weimar und Performing Arts bei DasArts in Amsterdam studiert. Inzwischen produziert er mit der von ihm selbst gegründeten Stiftung „Ism & Heit“ in Utrecht seine Instal­ lations- und Bühnenstücke weitestgehend selbst. Seit ein paar Jahren ist er Stammgast auf zahlreichen europäischen Festivals wie auch im Residenzprogramm des Schauspiels Leipzig; seit 2018 ist er zudem assoziierter Künstler am Kunstzentrum Campo in Gent. Seine Produktionen speisen sich aus Einflüssen der bildenden Kunst wie der visuellen Kultur, sind hoch konzeptionell und haben durchaus etwas „Artivistisches“. In der Tradition eines seiner zentralen Vorbilder, Joseph Beuys, geht es Hetzel um nichts weniger als um gesellschaftliche Transformation durch Kunst. Auch wenn er mit der Unsicherheit des Zuschauers hinsichtlich der Einordnung von Situationen spielt, so interessiert er sich produktionsästhetisch weder für ein illusionierendes Als-ob der Darstellung noch für ein Faken von Situation. Und genau das macht seine Arbeiten so provozierend für die Kritiker und so genial für die Liebhaber. Auch an der politischen Unkorrektheit seiner neuen Arbeit „All inclusive“, die reale materielle Überreste aus syrischen Kriegsgebieten zu Kunstobjekten eines Museums transformiert, werden sich die Kunstgeister wieder scheiden. // Julian Hetzel. Foto BAM Photographers

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Theresa Schütz „All inclusive“ von Julian Hetzel ist wieder am 1. Dezember am Kaaitheater in Brüssel sowie am 7. Dezember am Theater Rotterdam zu sehen; „The Automated Sniper“ läuft am 8./9. Dezember beim Festival Impatience in Paris sowie am 15. Dezember am Het Nationale Theater Den Haag.


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Look Out

Musikalische Züge Die Inszenierungen des Regisseurs Marius Schötz beeindrucken nicht nur durch großen Einfallsreichtum, sondern auch durch die von ihm selbst komponierten Lieder   ls Kind habe ihn das unheimlich beeindruckt, erzählt der Regisseur Marius Schötz. Die Bühne, die Effekte, die Geschichte. Die Rede ist von „Starlight Express“, dem Musical von ­Andrew Lloyd Webber, das in Bochum in einer eigens eingerichteten Halle gespielt wird. Es geht um eine Dampflok, eine Diesellok und eine E-Lok und ihr Werben um Pearl, den Erste-Klasse-Wagen. Dass in seinen eigenen Inszenierungen auch musikalische Elemente zum Einsatz kommen, mag vor diesem Hintergrund kaum erstaunen. Erstaunlich aber ist, dass Schötz die Lieder allesamt selbst komponiert. Bevor er an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin ein Regiestudium aufgenommen hat, studierte er in Frankfurt am Main Schulmusik und Komposition und machte im Anschluss in Stuttgart einen Bachelorabschluss in Komposition. Schubert, Brahms, Strauss sind ihm ebenso geläufig wie die klassische Moderne und die Neue Musik. Außerdem ist er selbst ein ausgebildeter Sänger. „Wenn man einmal weiß, wie ein Lied gebaut ist, wie es funktioniert, dann gehört nicht viel dazu“, erzählt Schötz. Aufgrund der Leichtigkeit, mit der seine Lieder daherkommen, glaubt man das gerne, selbst wenn diese durchaus recht anspruchsvoll sind. Während seines Kompositionsstudiums interessierte er sich vor allem für die Oper. Doch bald entfremdete er sich, die szenische Qualität reichte ihm nicht aus. Und so kam er zum Theater. Als er dann in Stuttgart „Der Besuch der alten Dame“ von dem damals neuen Schauspielintendanten Armin Petras sah, war Schötz begeistert. Das war ein Konflikt, der unmittelbar erfassbar war. Und der nicht derart voraussetzungsvoll war wie die exakt gesetzten Dissonanzen der Neuen Musik. Als Schötz in Berlin das Regiestudium aufnahm, wendete er sich der Popmusik zu. Für ihn sei diese neben einer guten Erzählung ein besonders geeignetes Mittel, Emotionen zu erzeugen. Kein Mittel, womit er wie im Musical überwältigen wolle – der „Starlight Express“ ist da auch eine Warnung –, sondern welches er

Marius Schötz. Foto Robin Metzer

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zugleich benutzen und zeigen kann. Musik sei auch zentral für seine Probenarbeit. Beim Singen verstehe man die Schauspieler am besten. Und das Chorische binde aneinander. Die Gruppe ist für ihn von großer Bedeutung. Seine Arbeiten dauern meist um die vier Stunden. „Jeder, der bei mir spielt, muss eine halbe Stunde auf der Bühne bekommen“, so Schötz. „Das ist das Minimum, um sich entfalten zu können.“ Bei meist ungefähr sieben Darstellern sind das schon dreieinhalb Stunden, dazu eine Pause, macht vier Stunden. Das war schon bei seiner ersten Arbeit im Studium so, „Poco & der letzte Deutsche“, der Suche nach der „real love“ in einer Welt von Orks, untermalt mit zahlreichen Popballaden. Oder bei „Messias aus Hessen“, der Verbindung einer Berg­ arbeitergeschichte mit dem Neuen Testa­ment – und zugleich die Erlösung des Theaters, eine ironische Erwiderung des 1989 in Hessen geborenen Schötz auf den innerbetrieblichen Erwartungsdruck. Die Inszenierung wurde beim diesjährigen Schauspielschultreffen in Graz ausgezeichnet. „Madame Poverty“, seine Bearbeitung von Flauberts „Madame Bovary“ und zugleich sein Diplomstück, lief im dritten Stock der Ber­ liner Volksbühne. Flauberts Ironie kam Schötz entgegen, auch die Kluft, die zwischen der realen und der imaginierten gesellschaftlichen Stellung von Emma liegt. Eine weitere Inszenierung an der Volksbühne ist geplant. Im Dezember wird er mit „Prometheus Unbound“ die obere Bühne des Neubaus der Ernst-Busch-Schule eröffnen. Dabei treffen Aliens, Ernst Busch und Prometheus aufeinander, das politische Theater gezeigt als Leiden für die Menschheit, gefesselt an die Bühne. Wie immer mit zahlreichen Verweisebenen, feiner Ironie und selbst geschriebenen Liedern. // Jakob Hayner

„Prometheus Unbound“ in der Regie von Marius Schötz ist am 18., 19. und 20. Dezember in dem Neubau der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin zu sehen.

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/ TdZ Dezember 2018  /

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/ TdZ  März    /  / Dezember   20182018

Buchverlag Neuerscheinungen

Die Künstler*innengruppe Club Real verwirklicht seit 2000 partizipative, ortsspezifische Projekte: szenische Installationen, Eins-zu-eins-Begegnungen, politische Rollenspiele und partizipative Stadtentwicklungs­ projekte. In Form eines Handbuchs stellt „Partizipation Stadt Theater“ die zentralen Werkzeuge und Methoden der partizipativen Arbeit in Fotoserien, Interviews und Infografiken am Beispiel des deutschpolnischen Projektes „Folkstheater/Teatr Ludowy" in Frankfurt Oder und Słubice vor.

Das Assessment Center ist in vielen Unternehmen gängiges Instrument zur Personalauswahl und -entwicklung, mit ihm wird darüber entschie­ den, wer einen Arbeitsplatz erhält – oder auch behält – und damit Zugang zur privilegierten Teilhabe an unserem gegenwärtigen neoliberalen Gesellschaftsmodell hat. Florian Evers legt in seiner Studie erstmals dar, inwieweit diese Prozesse aus dem Unternehmensalltag Spielformen des Applied Theatre darstellen.

Partizipation Stadt Theater Herausgegeben von Club Real

RECHERCHEN 139 Florian Evers Theater der Selektion Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel

Paperback mit 144 Seiten Zweisprachig Deutsch/Polnisch ISBN 978-3-95749-159-6 EUR 16,00 (print). EUR 13,50 (digital)

Paperback mit 358 Seiten ISBN 978-3-95749-156-5 EUR 22,00 (print). EUR 17,99 (digital)

Dieses Spezial widmet sich der Tschechischen Republik, die in diesem Jahr mehrere Jahrestage begeht: die Gründung der Tschechoslowakei 1918 und das Münchener Abkommen von 1938, mit dem sie für mehrere Jahre von der Landkarte verschwand, der kommunistische Putsch 1948, die sowjetische Besatzung 1968 und die Gründung der Tsche­ chi­schen Republik 1993. Obwohl dieses Spezial-Heft vor allem das tschechische Gegenwartstheater und seine wesentlichen Protagonisten vorstellt, enthält es auch historische Reflexionen, die die Entwicklungslinien der Theaterkultur skizzieren.

Dieser Band versammelt fünf Theaterstücke aus Tschechien, die erstmalig in deutscher Sprache vorliegen: Václav Havel: Das Schwein oder Václav Havel's Hunt for a Pig Anna Saavedra: Olga – Horror im Hause Havel Milan Uhde: Wunder im schwarzen Haus. Petr Kolečko: Pokerface Petr Zelenka: Vĕra Aufführungsrechte: vertrieb@theaterderzeit.de

Theater der Zeit Spezial Tschechien Herausgegeben von Kamila Černá und Ondřej Černý

DIALOG 29 Von Tieren und Menschen Neue Theaterstücke aus Tschechien Herausgegeben von Kamila Černá, Ondřej Černý und Ondřej Svoboda

Heft mit 60 Seiten Zahlreiche farbige Abbildungen EUR 8,00 (print). EUR 7,00 (digital)

Paperback mit 238 Seiten ISBN 978-3-95749-153-4 EUR 22,00 (print). EUR 17,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Auftritt Baden-Baden „Herzsprünge“ (DSE) von Terence Rattigan  Chemnitz „Aufstand der Dinge. Ein Generationenprojekt zur Nachwendezeit“ (UA)  Cottbus „Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten“ nach dem gleichnamigen Film von Mark Herman  Göttingen „Schwanengesang“ nach Franz Schubert  Heidelberg „Im Schatten kalter Sterne“ (UA) von Christoph Nußbaumeder  Konstanz „Eine Art Liebeserklärung“ von Neil LaBute / „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett  München / Berlin „Dionysos Stadt“ (UA) unter Verwendung antiker Texte und „Eine griechische Trilogie“ (UA) von Simon Stone  Tübingen „Die letzte Karawanserei“ von Ariane Mnouchkine  Weimar „November 1918“ (UA) nach Alfred Döblin

„Dionysos Stadt“ (hier mit v.l.n.r. Peter Brombacher, Wiebke Mollenhauer und Majd Feddah) in der Regie von Christopher Rüping. Foto Julian Baumann

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auftritt

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BADEN-BADEN Der Schwachsinn liegt im System THEATER BADEN-BADEN: Herzsprünge (DSE) von Terence Rattigan Regie Benjamin Hille Ausstattung Hannes Hartmann und Leonie Mohr

Wenig bleibt in Zeiten des Zweiten Weltkriegs

generation ist in dieser Londoner Fassung

Simon Mazouri spielt den 17-jährigen Sohn,

kombiniert mit der zweiten Version des Autors.

der seine ideologischen Maschinengewehr­

In dieser verschob Rattigan, als Zugeständnis

salven mit betörenden Momenten der Ver-

an den gängigen Publikumsgeschmack, den

zweiflung erdet. Im eleganten Wohnsalon von

Fokus vom Kampf des Sohnes auf die harm-

Hannes Hartmann und Leonie Mohr entfacht

los-romantische Liebesgeschichte zwischen

er so manche heftige Debatte. „Der Schwach-

John und Olivia. Wie sehr er sich dabei ver-

sinn liegt im System“, wirft er dem Liebhaber

biegen musste, spricht aus so manch seichter

seiner Mutter an den Kopf. „Denn was pas-

Zeile. Ursprünglich hatte der Dramatiker in

siert, wenn Staatsangelegenheiten von Wirt-

ersten Entwürfen seines Stücks sogar ver-

schaftsbossen entschieden werden? Erst

sucht, zwei Männer ins Zentrum der Liebes-

schneiden sie sich gegenseitig die Kehle

geschichte zu stellen. Das Publikum aber,

durch, dann füllen sie sich die eigene Tasche.

das auf Heteroschnulzen gepolt war, zwang

Und am Ende tun alle überrascht, weil nach

ihn dann, auf das klassische Mann-Frau-Mus-

drei Jahren ein Kampfpanzer dasteht, der

ter umzuschwenken.

noch nicht mal bergauf fährt.“ Ein goldener

übrig von der Liebe in einer besonderen

Die Tiefenschichten der Figuren de-

Vorhang verhüllt das Bühnengerüst, das die

Patchwork-Familie, die der englische Drama-

cken Regisseur Hille und Chefdramaturgin

Unterschiede zwischen den sozialen Schich-

tiker Terence Rattigan ersonnen hat. Die arme

Kekke Schmidt nun in der deutschsprachigen

ten offenlegt. In den oberen Etagen ist das

Zahnarztwitwe Olivia hat sich nach dem Tod

Fassung auf. In ihren bunten Blümchen­

ärmliche Zimmer zu sehen, in das Olivia auf

ihres Mannes in den Politiker und Industriel-

kleidern ist Nadine Kettler als Olivia eine zer-

Drängen ihres Sohnes zurückkehrt. Zugleich

len Sir John Fletcher verliebt. Er bietet ihr ein

rissene Frau, die für die Liebe zu ihrem Sohn

lässt Mazouri diesen Michael aber auch ein

Leben im Luxus. Als ihr Sohn Michael nach

alles opfern würde. Mit Sebastian Mirow als

Kind sein, das an der Oberflächlichkeit der

vier Jahren aus Kanada zurückkehrt, wohin

blasiertem Kriegsminister und Industrieller

Mutter zerbricht. Lilli Lorenz als Fletchers

ihn die Eltern wegen der Bombenangriffe ge-

Sir John liefert sie sich wunderbare Wort­

Noch-Ehefrau Diana gibt die Intrigantin mit

schickt hatten, platzt die Paarbeziehung, die

gefechte. Die kluge Spielerin macht aller-

viel Spiellust. Wie Patrick Wudtke als Butler

vom ökonomischen Impuls getrieben scheint.

dings keinen Hehl daraus, dass sie an dem

kostet sie die großartige Situationskomik lei-

Benjamin Hille hat das Stück, das bei der Ur-

Mann vor allem der Luxus interessiert. Wie

denschaftlich aus.

aufführung im Jahr 1944 „Less Than Kind“

weh das tut, zeigt Mirow in einem betörenden

Die nicht mehr ganz aktuellen politi-

hieß, im Theater Baden-Baden nun unter

Seiltanz zwischen entfesselter Komödien-

schen Diskurse über Englands Rolle im

dem Titel „Herzsprünge“ zur deutschsprachi-

kunst und sinnlicher Tiefe.

Zweiten Weltkrieg in Rattigans Stück kann

gen Erstaufführung gebracht. Mit virtuoser Komödienkunst gelingt es dem Ensemble, den zeitlosen Charme des Konversationsstücks herauszukitzeln. Ein Gefühl der Antiquiertheit des Stoffes bleibt dennoch. Der englische Dramatiker, der 1911 in London geboren wurde, betreibt in der Figur des sozialistisch geprägten Sohnes Michael zu deutlich biografische Nabelschau. Als junger Homosexueller, der seine wahren Gefühle nur verdeckt ausleben durfte, litt er unter der Oberflächlichkeit des Kunstbetriebs in den vierziger und fünfziger Jahren. 2017 entdeckte der britische Starregisseur Trevor Nunn Rattigans Stück in London für die Bühne dennoch wieder. An diese Fassung lehnt Bernd Schmidt seine deutsche Übersetzung an. Die Urfassung von Rattigans bitterer Abrechnung mit den vermeintlich falschen, auf Wohlstand gegründeten Werten der Eltern­

Mit Verfallsdatum – „Herzsprünge“ bleibt in seinem politischen Kontext im Nachkriegsengland verhaftet. Foto Jochen Klenk

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auftritt

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Hille zwar nicht neu denken. Aber der Regisseur, der an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg junge Schauspieler ausbildet, schafft mit den Spielern den Spagat zwischen praller Komödienkunst und klarer Reflexion der Zeitgeschichte. Die Zerrissenheit des Dramatikers Rattigan, der seine sexuelle Identität nicht ausleben durfte und schließlich am Alkohol zerbrach, wird in dieser Lesart deutlich. Zwar darf auch in Hilles Fassung ein Happy End nicht fehlen. Aber glücklich sind die komplexen Figuren damit noch lange nicht. // Elisabeth Maier

CHEMNITZ Der Blick zurück

im Osten den Boden planierte. Darauf sollten dann blühende Landschaften wachsen?

THEATER CHEMNITZ: „Aufstand der Dinge. Ein Generationenprojekt zur Nachwendezeit“ (UA) Regie und Ausstattung Mirko Winkel

Dies also ist Geschichtsunterricht mit

Verspätete Trauerarbeit angesichts der Furie des Verschwindens – „Aufstand der Dinge“ (hier mit Claudia Acker). Foto Nasser Hashemi

spielerischen Mitteln, genannt „Generationen­ projekt zur Nachwendezeit“, uraufgeführt im Rahmen des Festivals „Aufstand der Ge-

Claudia Acker und Mona Krueger, zwei

schichten“ am Theater Chemnitz. Ein groß

Schauspielerinnen vom Figurentheater Chem-

angelegter Versuch, den Umbruch von ges-

nitz, bringen die Gegenstände virtuos mode-

Erlebte Geschichte erzählt jeder anders. Und

tern neu zu verstehen. Denn auch unsere Ge-

rierend ins Spiel mit dem Publikum. Mal sind

was erzählen die Dinge selbst? Diese als Han-

genwart befindet sich in einem rasanten

sie diese selbst, mal wiederum spielen sie sie

delnde auf die Bühne zu bringen, war die

Wandlungsprozess. Ein Rückblick kann den

an. All das vor dem Hintergrund eines Mär-

Grundidee von Mirko Winkel, der den Abend

Voranstürzenden dabei nur guttun. Was lan-

chens, des „Es war einmal ein Land …“ Aber

„Aufstand der Dinge“ konzipierte und selbst

dete fälschlich auf der Müllhalde der Ge-

die Frage, die hier mitschwingt, ist eine ande-

inszenierte. Ob man deshalb gleich von einem

schichte? Sicher nicht nur der Hometrainer

re, die mit einer Liedzeile der Gruppe Karat

„Aufstand“ sprechen muss, ist die Frage, denn

Velomet aus dem VEB Sportgerätewerk mit

beschrieben wird: „Manchmal weiß ich nicht

es sind doch eher zivile Alltagsgegenstände,

2300 Beschäftigten (nach 1990 abgewickelt

mehr, was ich weiß.“ Erinnern braucht einen

anhand derer der einstige Industriestandort

und nicht mehr existent), der hier als eines

Anhalt, die Gegenstände, über die man sich

Karl-Marx-Stadt und sein Schicksal in der

unter zahlreichen wiederaufgefundenen Din-

gemeinsam austauscht. Wie den zur Leiter

Wendezeit beschrieben wird. Also eher eine

gen seine Geschichte erzählt. Treten auf der

ausklappbaren Hocker KH 72 oder den letz-

Art Wiedervorlage von allzu eilfertig Entsorg-

Stelle! Das führt unweigerlich zum Sinnbild

ten, jedoch nie ausgelieferten Computer der

tem, eine Art verspäteter Trauerarbeit ange-

des „Überholen ohne einzuholen“ – wer gab

DDR, den EC 18, von Robotron in Karl-Marx-

sichts der Furie des Verschwindens, die 1990

wann noch mal diese Losung heraus?

Stadt gebaut.

01./02.12. Der Prozess – nach Franz Kafka Krystian Lupa (PL) Deutschland-Premiere im Rahmen des Festivals „Polski Transfer“ Sa 08.12. Invisible Republic #stilllovingtherevolution andcompany&Co (DE) Moving-Audience: HELLERAU bewegt Publikum zwischen Prag und Dresden

Mi 19.12. Zukunftslabor Inklusion + Darstellende Künste in Sachsen Kooperation mit dem LDKS – Landesbüro für Darstellende Künste Sachsen e.V. Do/Fr 27./28.12. Floor on Fire

www.hellerau.org


auftritt

So ersteht das Bild einer von Industrie geprägten Stadt, die nach der Wende fast voll-

COTTBUS

Fokus, die Wege, mittels derer das Volks­

Die Würde der Kumpel

so, dass plötzlich dem Westen neunzig Prozent des Ostens gehörte. Dirk Laabs, Autor von „Der deutsche Goldrausch – Die wahre Geschichte der Treuhand“, spricht von einer gigantischen Eigentumsumverteilung zu Lasten des Ostens. So gingen von 1600 verkauf-

den Kumpels für den Erhalt ihres Braunkohle­ reviers und gegen die Ausstiegspläne der Bundespolitik.

eigentum der DDR (das fast nur in Form von Staatseigentum existierte) privatisiert wurde –

in England – die brandenburgische Landesregierung praktisch Schulter an Schulter mit

ständig deindustrialisiert wurde. Die Treuhand rückt im Expertennachgespräch in den

in der Lausitz kämpft – anders als seinerzeit

STAATSTHEATER COTTBUS: „Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten“ nach dem gleichnamigen Film von Mark Herman Regie Jörg Steinberg Bühne Fred Pommerehn Kostüme Stephanie Dorn

ten Betrieben 1500 an westdeutsche Investo-

Jörg Steinberg hat sich bei der Adap­ tion der Bühnenvorlage von Paul Allen für das Staatstheater Cottbus nicht zu reißerischer Aktualisierung und platter Ortsübersetzung verleiten lassen. Stattdessen wird auf die Stimmigkeit einer allgemeingültigen Geschichte geachtet, in der Menschen in Umbrüchen beinahe alles, auf jeden Fall aber ihren Halt verlieren können. Auch in der

ren, die dann vor allem „Marktbereinigung“ betrieben – mit unmittelbaren Folgewirkun-

Als der Film „Brassed Off – Mit Pauken und

­Optik hält man das Stück eher im England

gen wie Massenarbeitslosigkeit und Langzeit-

Trompeten“ über die Geschichte einer nord­

der 1980er als in der Lausitz der Jetztzeit.

wirkungen wie die anhaltende Strukturschwä-

englischen Bergmannskapelle 1996 auch in

Die Bühne von Fred Pommerehn zeigt düstere

che. Ebenso fehlte ein die radikalen Kräfte

die deutschen Kinos kam, fand er zwar für

Fördertürme, die Kostüme von Stephanie

der Gesellschaft wieder einbindendes einhei-

seine auf Margaret Thatcher gerichtete Sozial­

Dorn machen mit Lederjacke, Parka oder

misches Bürgertum. 245 Milliarden DM Ver-

kritik viel Anerkennung im Feuilleton, jedoch

­Anzug schnell klar, wer hier Bergmann ist und

lust machte die Treuhand bei diesem Ausver-

nur recht wenige Zuschauer. Hintergrund für

wer zur Direktion gehört. Am rechten Bühnen-

kauf – wie konnte es dazu kommen?

den von Mark Herman mit herzlicher Anteil-

rand gibt es ein kleines Protestcamp, wo sich

Klug kombiniert der Abend genau do-

nahme inszenierten Film sind die Vorgänge

die Bergmannsfrauen bei einer Mahnwache

kumentierende und frei fabulierende Elemen-

um die teilweise brutale Deindustrialisierung

abwechseln und durchweg englisch beschrif-

te zu einem Spiel, das über die Geschichte

und die damit zusammenhängenden Gruben­

tete Schilder hochhalten („Coal not dole!“).

aufklärt, zur Debatte über sie auffordert. Das

schließungen, die aus der englischen Arbei-

Prägend für die Inszenierung und

liegt auch in der Absicht des Festivals, das

terklasse eine Unterschicht machten. Dass man

entscheidend für ihr Gelingen ist die Ein­ ­

als Folgeprojekt des Theatertreffens „Unent-

den Film in verschiedenen Bergbauregionen

beziehung des Blasorchesters Cottbus e. V.

deckte Nachbarn“ zu den Taten des „NSU“

Deutschlands gelegentlich fürs Theater wie-

von einer Projektgruppe um Franz Knoppe

derentdeckt, kann nicht überraschen. Doch

(siehe TdZ 10/2018) initiiert wurde. „Auf-

sind die Vorzeichen hier aktuell ganz andere.

stand der Geschichten“ verbindet eine Erin-

Im Hambacher Forst in Nordrhein-Westfalen

nerungskultur Ost mit kritischen wie visionä-

geht es um eine ökologisch begründete Aus­

Land of Hope and Glory? – Von wegen: „Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten“ erzählt vom Ende einer Bergbauregion.

ren Facetten. So auch das Puppenspiel

einandersetzung mit der Energiepolitik, und

Foto Marlies Kross

„Wenn mich einer fragte“ in der Regie von Christoph Werner über den gebürtigen Chemnitzer Stefan Heym, der die offenkundige Leerstelle des kritischen Intellektuellen in der Stadt ausfüllt und vom Kommentator zum Gestalter seiner Heimatstadt avanciert. Abschließender Höhepunkt des Festivals war die „Ausrufung der Europäischen Republik“, eine europaweite Aktion der Politologin Ulrike Guérot, des Autors Robert ­Menasse und des Theatermachers Milo Rau, am Chemnitzer Marx-Kopf. Diesen von Rechten und Linken stark umkämpften Veranstaltungsort hat die Oberbürgermeisterin jedoch kürzlich gesperrt – mit einer für die medio­ kren politischen Verhältnisse der Kommunen typischen Begründung: Hier fänden derzeit dringende

Gehwegsausbesserungen

statt.

Ausgerufen wurde dennoch – außerhalb der Absperrung, jedoch in Sichtweite von Marx. // Gunnar Decker

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auftritt

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Die an sich simple Geschichte, dass man ausgerechnet im Moment der Zechenschließung

GÖTTINGEN

sogar in London gewinnt, erhält so eine ­äußerst bühnenwirksame Gestaltung. In der

Multimediale Materialschlacht

schen Gesamtleitung von Hans Petith findet der Abend unter den Fördertürmen zu einem ganz eigenen Ton. Was auch daran liegt, dass die Schauspieler als Bergleute, ebenfalls mit Instrumenten versehen, in das Orchester inte-

sein geschäftstüchtiger Verleger, nachdem der Künstler 1828 im Alter von nur 31 Jahren gestorben war. Schubert hatte die Lieder sämtlich in seinem Todesjahr geschrieben,

(zum Teil durch den Film vorgegebenen) Auswahl der Musikstücke unter der musikali-

und Johann Gabriel Seidls zu einem Zyklus zusammenzustellen. Auf die Idee kam erst

mit der dadurch ebenfalls bedrohten Kapelle an einem Wettbewerb teilnimmt und am Ende

dichten Heinrich Heines, Ludwig Rellstabs

DEUTSCHES THEATER GÖTTINGEN: „Schwanengesang“ nach Franz Schubert Regie Christian Friedel Bühne Alexander Wolf Kostüme Ellen Hofmann

das passte, das ließ sich verkaufen. Unsterblichkeit also. Am Deutschen Theater in Göttingen konfrontiert der Schauspieler, Musiker und Regisseur Christian Friedel die Melancholie des „Schwanengesangs“ mit, ja: Humangenetik. Das Licht im Saal ist noch eingeschaltet, da betritt ein Herr im ele-

griert werden. Wenn sie im Finale die ironisch-traurige englische Hymne vom „Land of

ganten braunen Dreiteiler die Bühne. Horn-

Hope and Glory“ spielen, sieht und hört man

Der Sinn des Lebens scheint Unsterblichkeit

brille, Bart, das graue Haar ein wenig zu lang:

eine Bergmannskapelle wie aus einem Guss.

zu sein. Wer religiös ist, strebt nach dem ewi-

der Wissenschaftler Prof. Dr. Franz-Dietmar

Das kann man von den flott durchge-

gen Leben im Jenseits oder, je nach Glau-

Bitthan (Florian Eppinger), der, wie eine Tafel

spielten, den Figurenhintergrund immer nur

bensgusto, nach der Wiedergeburt im Dies-

verrät, nun einen Vortrag über „Humangene-

anreißenden Szenen zwischen den Musik­

seits. Wer Kunst schafft, will in seinen Werken

tik und die Zukunft der Genforschung“ halten

stücken nicht immer sagen. Zumindest aber

weiterleben. Und wer den Tod lieber ganz real

möchte.

der todkranke Chef der Kapelle, der von Tho-

überwinden will, der kann heutzutage auf die

Jovial spricht er über die sagenhaften

mas Harms warmherzig gestaltete Danny, ver-

rasanten Fortschritte von Wissenschaft und

Erfolge seiner Disziplin und wirft nebenbei

mittelt überzeugend, dass hinter der Anklage

Medizin hoffen.

ganz nonchalant ein paar der ganz großen

der sozialen Verhältnisse immer auch ein

Manchmal aber ist Unsterblichkeit

Fragen auf: Sind auch Glück, Schicksal,

Kampf um Anerkennung und Würde steht,

auch nur eine Frage guten Marketings. Wie

­Talent in den Genen vorherbestimmt? Dürfen

nichts weniger. Genau das hat auch die zeit-

bei Franz Schuberts „Schwanengesang“ zum

wir das alles wissen? Wollen wir das alles wis-

weilig für die Bergwerksleitung arbeitende

Beispiel. Der Liederzyklus zählt heute zu den

sen? Und dann zerbröselt plötzlich seine Jovi-

Gloria (Lisa Schützenberger) begriffen, die

bekanntesten Werken des romantischen Kom-

alität, weil er zugeben muss, trotz fünftau-

als in ihre Heimat zurückgekehrte Hauptstäd-

ponisten. Doch Schubert selbst hatte wohl

send entschlüsselter Krankheitsgene immer

terin alle beflügelnd das Flügelhorn spielt.

gar nicht vor, seine Vertonungen von 14 um

noch nicht herausgefunden zu haben, warum

Tod und Trennungsschmerz kreisenden Ge-

so viele in seiner Familie am plötzlichen

Der andere große Trumpf der Regie ist der Einsatz der jungen Schauspielerin Lucie Thiede als Amy. Die Tochter des besonders gebeutelten Familienvaters Phil (David Kramer) ist eigentlich noch ein Kind, in der Inszenierung jedoch wird sie zu einem fast dauer­präsenten Frontmädchen, das mit kecker Haltung mal Erzählerin ist, mal die eigenen Nöte kundtut, in jedem Moment den Direktkontakt mit dem Parkett haltend. Zum Schluss darf sie, ganz altkluges Mädchen, sogar noch die Worte Goethes vom Tod als Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird, zitieren. Und dann hört man als Letztes, mit recht unvermittelten Assoziationen zu den ostdeutschen Landschaften, Hilde Domins Gedichtzeile „Es blüht hinter uns her“, bevor es ganz dunkel wird. // Thomas Irmer

Rausch und Requiem – Christian Friedels „Schwanengesang“ nach Franz Schubert (hier mit Johannes Rebers und Christina Jung). Foto Thomas Aurin


auftritt

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Herztod sterben. Auch seine Mutter, die so gerne Schubert-Lieder sang. Da erhebt sich ein junger Mann im Saal, der kurz zuvor noch eine Frage gestellt hatte, und beginnt zu singen, Schubert natürlich. Christian Friedel, einem breiteren Publikum als Schauspieler aus Filmen wie „Das weiße Band“ oder „Elser“ bekannt, hat in Göttingen in der vorvergangenen Spielzeit eine bemerkenswerte „Antigone“ gezeigt, frech, klug und bildgewaltig. Damals war es die Studiobühne, diesmal ist es das große Haus. Und Friedel beweist erneut, dass er Theater fürs Auge machen kann. „Rausch und Requiem“ hat er seine Schubert-Bearbeitung im Untertitel genannt, und was er präsentiert, ist in der Tat ein Bilderrausch. Sein wackeres Ensemble – elf Schauspielerinnen und Schauspieler, zwei Kinderstatisten und ein Streichquartett – treibt er durch sechs Szenenbilder, von denen keines auch nur entfernt dem an-

HEIDELBERG

deren gleicht. Und das jedes für sich eine Inszenierung hätte tragen können. Es gibt, ohne Anspruch auf Vollständig-

Unsichtbare Mörder

Zwischen Fortschritt und Moral – „Im Schatten kalter Sterne“ von Christoph Nußbaumeder (hier mit Sheila Eckhardt (l.) und Anne Welenc). Foto Sebastian Bühler

keit: Theater im Theater, Videoprojektionen, barockes

Puppentheater,

Science-Fiction,

Tanztheater vor grün-lila-bunt flimmernden DNA-Sequenzen auf Großbildleinwand und sogar so etwas wie den Blick in die menschliche Speiseröhre. Das Problem ist bloß: Hinter dieser Opulenz, dieser multimedialen Material­

THEATER HEIDELBERG: „Im Schatten kalter Sterne“ (UA) von Christoph Nußbaumeder Regie Bernhard Mikeska Bühne Steffi Wurster Kostüme Romy Springsguth

schaft einer gesunden Fortschrittsskepsis hofft, wird enttäuscht. Angesichts des mäßigen Textes, der nichts Neues erzählt und sich aus grobschlächtigen Figuren und Dialogen zusammensetzt, erweist es sich für die Regie als umso schwerer, eine erkenntnisreiche Realisierung vorzulegen. Bernhard Mikeska ­

schlacht verbirgt sich – nichts. Der Rückblick

ist trotzdem eine sehenswerte, wenn auch

auf das Leben des Wissenschaftlers Bitthan, gestützt unter anderem auf Texte des echten

Dass sich die Naturwissenschaften spätes-

nicht überragende Inszenierung gelungen.

Göttinger Humangenetikers Bernd Wollnik,

tens seit Beginn der Moderne nicht mehr auf

Besonders eine szenische Idee prägt sich

hält die Bilderfolge nicht einmal notdürftig

eine unpolitische Neutralität berufen können,

dem ­Zuschauer ein: Nach dem Suizid seines

zusammen. Und gerät zudem eher trivial

veranschaulicht die inzwischen zum Klassiker

besten Freundes Thomas begleitet Anders

denn erkenntnisbefördernd.

avancierte Groteske „Die Physiker“ (1961)

eine schwarzvermummte Schattenfigur. Sie

Geht es also eigentlich doch nur um

von Friedrich Dürrenmatt. Um eine zerstöreri-

heftet sich ihm ans Bein, umschlingt seinen

Schubert? Mal klassisch, mal verfremdet und

sche Weltformel vor der Öffentlichkeit geheim

Körper, wirkt als geradezu virale Allegorie des

elektronisch unterlegt von Friedels Band

zu halten, haben sich die titelgebenden For-

schlechten Gewissens. Der innere Kampf des

Woods of Birnam, werden alle Lieder des

scher in eine Irrenanstalt zurückgezogen. We-

Softwareentwicklers äußert sich als pantomi-

„Schwanengesangs“ (plus weitere Schubert-

niger Skrupel hegt – zumindest anfangs – der

misch-artistisches Spiel mit seinem Anhäng-

Lieder) nach und nach zu Gehör gebracht.

Protagonist in Christoph Nußbaumeders Dra-

sel. Gegenüber seinen skrupellosen Vorge-

Doch entweder will der Regisseur den Liedern

ma „Im Schatten kalter Sterne“. Nachdem das

setzten der Bimini Defence AG, gespielt von

ihre romantische Suggestionskraft mit aller

Start-up des Tüftlernerds Wolfgang Anders

Steffen Gangloff und Christina Rubruck, ver-

Gewalt rauben oder Schubert ist für die nicht

­(Jonathan Schimmer) von einem großen Kon-

sucht der Entwickler einen festen Stand ein-

ausgebildeten Gesangsstimmen von Schau-

zern aufgekauft wurde, begreift dieser nach

zunehmen, wird von seinem Alter Ego jedoch,

spielern dann doch eine zu große Herausfor-

und nach, dass seine zu zivilen Zwecken ent-

indem es ihm auf die Schultern steigt oder

derung: Dünn klingt es und etwas wacklig,

wickelten Mikrodrohnen nunmehr für militäri-

sich mit aller Kraft gegen ihn stemmt, immer

kieksend hier und schmerzend da. Was all

sche Operationen Einsatz finden sollen. Ob-

wieder aus dem Gleichgewicht gebracht. Was

das über Humangenetik verraten soll, will

gleich parallel dazu auch an der Entwicklung

im gegenwärtigen Diskurs zur automatisierten

sich nicht recht erschließen. //

eines „Ethik-Moduls“ gearbeitet wird, hat der

Kriegstechnik im Spannungsfeld zwischen

moralische Damm längst Risse bekommen.

individuell-menschlicher Verantwortung auf

Joachim F. Tornau

Wer bei der Uraufführung in Heidel-

der einen und technischer Präzision auf der

berg auf neue Einsichten jenseits der Bot-

anderen Seite gesellschaftlich verhandelt

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auftritt

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wird, führt der Regisseur in einer Figur eng.

mehr Herausforderung des Zuschauers wären

zählbar bleibt – sie sich aber dennoch ihre

Versucht Anders zu Beginn die Präsenz der

an diesem Abend erfreulich gewesen. „Im

Geschichte von der Seele redet. Simmering

dunklen Kraft zu verdrängen beziehungsweise

Schatten kalter Sterne“ ist kein Muss, aber

meistert diesen Balanceakt grandios.

abzuschütteln, wählt er am Ende des Stücks

ein anregendes Kann. //

Björn Hayer

Anfangs ist sie im Korsett eines

den Weg der aktiven Eliminierung seiner ver-

Schlangenkostüms gefangen und wirkt ver-

körperten Gewissensbisse. Unter der Verklei-

härmt. Sie verkörpert den Stolz der erfahre-

dung tritt als Gegenbild des klassisch heroi-

nen, gerade deshalb strapazierten Lehrerin.

schen Mannes eine weibliche Figur in

KONSTANZ

demselben Outfit wie der Protagonist hervor, die der mittlerweile abgebrühte und angepasste Wolfgang Anders eiskalt erwürgt. Einzig für seine Geliebte Milena, eine

rung an die Schülerfrage „Wie viel wiegt eine

Wie viel wiegt eine Lüge?

ehemalige Escort-Dame (Sheila Eckhardt), hatte der Softwareentwickler noch einen Rest Gefühl aufbringen können. Doch selbst im privaten Umfeld holt ihn der Geist, den er gerufen hat und nun nicht mehr kontrollieren kann, ein: Über der Bühne, eingebettet in

ter auch als Wohnraum des Programmierers dient: minimalistisch und gänzlich transparent. Eine stimmige Kulisse (Steffi Wurster), um die Allgegenwart von Überwachungsdroh-

Lüge?“ Fayes Entsetzen, darauf keine Antwort geben zu können, rahmt ihren Monolog ein. Da ist ihre Ehe mit Eric, ökonomisch abgesichert und nach außen hin glücklich.

THEATER KONSTANZ: „Eine Art Liebeserklärung“ von Neil LaBute Regie Oliver Vorwerk Ausstattung Christine Bertl

Wenn sich Faye an ihren Schüler Tommy erinnert, der in ihrem Büro Examenshilfe suchte, häutet sie sich im wortwörtlichen Sinne. Sie legt ihr Schlangenkostüm ab, verjüngt sich im roten Kleid, öffnet die Haare und darf Freiheit verkörpern. Der Seitensprung wird lesbar als

eine glatte, silbern schimmernde Wand, befindet sich eine Art Schaufenster, das mitun-

Auslöser ihrer Lebensbeichte ist die Erinne-

„Warten auf Godot“ von Samuel Beckett Regie Christoph Nix Bühne Christoph Nix und Marie Labsch Kostüme Ursula Oexl-Menzel

sexuelle Erfüllung, als Selbstfindung – als ein anarchisches Glück, das Faye in ihrer Ehe nicht zuteil war. Spätestens mit dieser Wandlung gelingt Anne Simmering das Kunststück, die Zuschauer auf ihre Seite zu ziehen. Vorwerk

nen zu verdeutlichen.

vertraut der Kraft des Schauspiels. Das kann

Bernhard Mikeskas Interpretation lässt sich als zeitgemäße Visualisierung populär-

„Vom Glück des Stolperns“ lautet das aktuel-

er auch: Simmering gibt Faye so überzeu-

philosophischer Überlegungen beschreiben.

le Spielzeitmotto in Konstanz. Intendant

gend, dass der erzählte Verrat am Ehemann

Man denkt etwa an Byung-Chul Han, welcher

Christoph Nix und sein Team lenken den

Eric wie ein Moment größter Authentizität er-

die Fläche ohne Tiefenschärfe und Reibungs-

Blick selbstbewusst auf das künstlerische Po-

scheint. Als Zuschauer vertraut man ihr ge-

potenzial als Signatur der Spätmoderne be-

tenzial jeglichen Scheiterns. Der gewählte

nau in dem Moment, in dem sie Vertrauen

zeichnet. Oder an den kürzlich verstorbenen

thematische Fokus ist klug gewählt: Nur die

bricht. Faye evoziert den Seitensprung ohne

Philosophen Paul Virilio, der als einer der Ers-

Kunst, vornehmlich das Theater, leuchtet

jede Reue, befreit sich aus der engen Kom-

ten seiner Disziplin herausgestellt hat, dass

Fallhöhe strahlend aus.

fortzone eines jägerumzäunten Stuhls auf der

zivile Technologien, beispielsweise die Kame-

Neil LaBute ist ein Meister, wenn es

Bühne. Sie gewinnt Raum, spricht rhyth-

ra, ursprünglich aus einer militärischen For-

um die dramatische Gestaltung abrupter

misch und musikalisch, liefert sich der Situa-

schung hervorgingen. Solcherlei Gedanken

Wendungen geht. Sein Monolog „Eine Art

tion hemmungslos aus und damit auch allen

auf der Bühne zu sehen, ist intellektuell sti-

Liebeserklärung“ verbindet zwei bei ihm häu-

Folgen. LaButes Monolog spielt mit Kli-

mulierend, lässt den Theaterästheten aber

fige Themen, die der Lüge und der Sexualität.

schees. Blieb Fayes Ehe mit Eric, einem

vielleicht etwas unbefriedigt. Kurzum: Mehr

Faye, verheiratete Lehrerin, hat ihren Mann

Schwarzen, kinderlos, so wird die Affäre die-

Metaphern, mehr Deutungsmöglichkeiten,

betrogen und einen ihrer Schüler verführt.

ses Defizit beheben.

Mainzer Str. 5 · 80804 München Tel. +49 (0)89 36101947 info@theaterstueckverlag.de www.theaterstueckverlag.de

Mirna Funk

AUF EINEM EINZIGEN BLATT PAPIER (2 D, 2 H)

„Yonathan ist ein Mann, der kein Gestern und kein Morgen hat. Dessen gesamtes Leben auf einem einzigen Blatt Papier stattfindet.“

br.de

Regisseur Oliver Vorwerk widersteht der Ver-

Im Spagat zwischen der Freiheit ihres

suchung, diesen Monolog auf voyeuristische

Seitensprungs und der Sicherheit ihrer Ehe

Weise zum Publikum hin zu öffnen. Anne

vermag Faye ihr Gewissen zu beruhigen. Sie

Simmering in der Rolle Fayes hat die an-

hilft Tommy über die Hürde des Examens und

spruchsvolle Aufgabe, den Text fast durch-

kauft sich frei, finanziert ihm ein Stipendium

gängig intim zu sprechen. Führt sie ein

und so den gesellschaftlichen Aufstieg. Das

Selbstgespräch? Spielt sich die Narration

ist besonders pikant, da Tommy schwarz ist

ausschließlich in ihrem Kopf ab? Die Insze-

und Faye weiß. Was Faye als gute Tat be-

nierung beginnt als Stillleben: Religiöse Sym-

schreibt, kaschiert die Fassade ihres egoisti-

bole, Kelch und Kreuz, sind, per Kamera ab-

schen Doppellebens. Fayes Unterstützung für

gefilmt, auf einer gerahmten Projektionsfläche

Tommy symbolisiert zudem das vorhandene

zu sehen. Fayes Bericht ihrer Lebenslüge ge-

Machtgefälle. Temporeich und nüchtern lässt

winnt so Züge einer Beichte. Die Konstanzer

Faye ihre berechnenden Handlungen wäh-

Inszenierung nimmt das Paradox ernst, dass

rend und nach der Affäre Revue passieren.

Fayes Lüge in ihrer Ungeheuerlichkeit uner-

Ja, das äußerliche Glück der Ehe, es wird


auftritt

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MÜNCHEN / BERLIN Zurück zur Übergröße MÜNCHNER KAMMERSPIELE: „Dionysos Stadt“ (UA) unter Verwendung diverser antiker Texte Regie Christopher Rüping Bühne Jonathan Mertz Kostüme Lene Schwind BERLINER ENSEMBLE: „Eine griechische Trilogie“ (UA) von Simon Stone Regie Simon Stone Bühne Bob Cousins Kostüme Natasha Jenkins

In den Dramen der Antike ist alles schon da, was uns heute noch bewegt. Heißt es zumindest immer. Christopher Rüpings Erfahrung als Zuschauer allerdings war bislang eine andere. Keine der Inszenierungen antiker Stoffe, die er gesehen hatte, erklärte der 33-jährige Regisseur in der Süddeutschen Zeitung, habe ihn wirklich erreicht. Das, mutmaßt Rüping weiter, habe womöglich nicht am Stoff ge­ legen, sondern am Format: „Ein Text, der für Vom Glück des Stolperns – Das Spielzeitmotto des Theaters Konstanz grundiert auch Neil LaButes „Eine Art Liebeserklärung“ (mit Anne Simmering). Foto Ilja Mess

sionaler Kreidestift, ein Mond wie aus dem

ein fünftägiges, rauschhaftes Fest geschrie-

Weihnachtsmärchen reichen aus, um die

ben wurde, lässt sich in einer auf Tatortlänge

Grundsituation Becketts auf poetische Weise

reduzierten Bühnenfassung nicht erleben.“

zu markieren. Später dürfen auch Souffleuse

Logische Konsequenz: die Rückkehr zur

und Inspizientin mit Textbuch auf die Bühne.

Übergröße.

Dieser spielerische Zugang funktioniert, weil

Zehn Stunden dauert Rüpings Antiken-

durch das Kind gestärkt. Und doch entgeht

Nix die Härten des Stücks nicht ausspart:

projekt „Dionysos Stadt“ an den Münchner

Faye dem Abgrund ihrer Lüge nicht. Wenn

Odo Jergitsch ist in der Rolle Pozzos der bru-

Kammerspielen. Auch das ist im Grunde ein

Tommy ihr noch einmal begegnet und ihr sei-

tale Herr, Peter Cieslinski als Lucky die ge-

Klacks im Vergleich zu den mehrtägigen Dio-

ne rückhaltlose Liebe gesteht, weiß Faye, was

knechtete Kreatur. Das Spielprinzip der Wie-

nysien im alten Griechenland. Aber klar, den

sie geopfert hat – Erfüllung. Die eben noch

derholung mag bei Wladimir und Estragon

Zeitrahmen heute handelsüblicher Produktio-

leidenschaftliche Frau muss sich eingeste-

Leichtigkeit bringen. Im Gegeneinander Poz-

nen sprengt Rüpings Inszenierung allemal.

hen, was sie unwiederbringlich verpasst hat.

zos und Luckys wird der Abgrund zwischen-

Der dreieinhalbstündige Antikenabend jeden-

Fayes Lüge hat ihren Preis. In der Nüchtern-

menschlicher Grausamkeit hell ausgeleuch-

falls, den der nur ein Jahr ältere Simon Stone

heit dieser Erkenntnis gewinnt Anne Simme-

tet. Nix’ Anleihen bei der Zirkusmanege

am Berliner Ensemble inszeniert hat, nimmt

ring tragische Größe.

betonen Momente der existenziellen Verlas-

sich gegen diesen Theatermarathon beinah

Weitaus spielerischer inszeniert Chris-

senheit, der Melancholie. Die Figuren sind

wie ein Sprint aus. Wobei sich „Eine griechi-

toph Nix „Warten auf Godot“: Er markiert in

aufeinander bezogen, ob sie es wollen oder

sche Trilogie“ als Mogelpackung erweist. Vom

Becketts existenzieller Parabel die Momente

nicht. Das Wiederholungsprinzip ist ihren

angekündigten Dreierpack aus Aristophanes’

des Theaters. Das tägliche Warten von Wladi-

Existenzen eingeschrieben. In dieser Er-

„Lysistrata“, Euripides’ „Die Troerinnen“ und

mir (Andreas Haase) und Estragon (Peter Pos-

kenntnis, die traurig macht und doch tröstet,

„Die Bakchen“ ist nicht viel zu erkennen.

niak) besitzt clowneske Züge. Die Konstanzer

berühren sich Becketts Drama und Nix’ In-

Rüping dagegen schöpft aus dem Vollen. Er

Bühne ist leer und schräg, offen für Imagina-

szenierung. Ein starker Beginn dieser Spiel-

spannt den Bogen vom Prometheus-Mythos

tion und den Zauber des Theaters. Zwei

zeit. //

über die Sage vom Trojanischen Krieg bis hin

Scheinwerferkegel, der Baum als überdimen-

Bodo Blitz

zu Aischylos’ „Orestie“. „Dionysos Stadt“ ist

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als kollektive Verausgabung von Ensemble

samt Spoken-Word-Performance zu erleben,

und Publikum angelegt, die beide Seiten an

eröffnet vom alten Bühnenhaudegen Peter

den Rand der Belastbarkeit bringen will, da-

Brombacher, der den Anfang von Homers

bei aber auch die Grenzen zwischen Bühne

­„Ilias“ rezitiert: eine schier endlose Galeeren-

und Parkett zu überbrücken versucht. Mit Er-

Zählerei samt Namenslitanei gefallener grie-

folg. Es beginnt mit einer Charme-Offensive.

chischer Helden, die Brombacher hinaus­

Nils Kahnwald schwört die Zuschauer ge-

blafft. Jedes Wort ein Schwerthieb.

Hier der Marathon, dort der Sprint – Gegenüber Christopher Rüpings zehnstündigem „Dionysos Stadt“ wirkt Simon Stones „Eine griechische Trilogie“ recht luftig. Fotos Julian Baumann (oben)  /   Thomas Aurin (unten)

nüsslich ironisch auf die bevorstehenden

Rüpings Inszenierung ist auch eine

kommt musikalisch arg aufgemotzt daher,

Strapazen ein und bereitet so den Boden für

formale Dehnübung, die die Grenzen des ­

lässt die Feinzeichnung der Figuren im An-

den Schulterschluss zwischen Ensemble und

Bühnenmöglichen zwischen Rollenspiel und

schluss dafür aber umso eindrucksvoller er-

Publikum. Am Schluss werden sich beide ge-

Textperformance in sämtliche Richtungen

scheinen. Die stolze Widerständigkeit, mit

genseitig beklatschen.

aus­lotet. Aber auch thematisch arbeitet sich

der beispielsweise (die auch als überspannte

Der erste von vier Teilen endet mit ei-

„Dionysos Stadt“ an Grenzen ab. Im Mittel-

Klytaimnestra großartige) Maja Beckmann als

ner Stagediving-Szene, in der sich Schau-

punkt steht der Mensch, der die Fesseln sei-

Andromache um das Leben ihres Sohnes

spielerinnen und Schauspieler ins Publikum

nes Schicksals abzustreifen versucht. Wobei

fallen und über die Sitzreihen hinweg durch

Heldenmut und Hybris nah beieinanderlie-

den Zuschauerraum tragen lassen. Später darf

gen. Zeus sieht das Unheil voraus, wenn er

ein Teil des Publikums als Hochzeitsgesell-

Prometheus erklärt: Wer den Menschen das

schaft auf der Bühne mitmischen. Elektra

Feuer gebe, werde Kriege auslösen. Freiheit

heiratet Pylades, den Gefährten ihres Bruders

bedeutet auch: Verantwortung. Und die kann

Orest, der seine Mutter Klytaimnestra und

missbraucht werden. Der Krieg um Troja und

deren Lover Aigisthos erschlagen hat. In der-

die Gewaltorgie der Atriden belegen es umge-

selben Badewanne, in der vorher Orests Vater

hend.

Agamemnon abgeschlachtet wurde. Nach der

Bei aller eklektischen Vielfalt der sze-

Bluttat trägt Orest bleibende seelische Schä-

nischen Ausformulierung: „Dionysos Stadt“

den davon. Bei Rüping verfolgen ihn zwar

besticht durch die Konsequenz, mit der Rü-

nicht die Erinnyen. Dass er schwer einen an

ping sein Thema vom Menschen, der über

der Klatsche hat, ist gleichwohl unüberseh-

sich selbst hinauswächst, sich dabei aber

bar: Splitternackt turnt Nils Kahnwald zwi-

auch in Schuld verstrickt, in wechselnden

schen den Hochzeitsgästen herum.

Spielarten durchdekliniert. Natürlich gibt es

Rüping inszeniert die „Orestie“ als

dabei stärkere und schwächere Momente.

grausig-groteske Family-Soap, in der sich die

Aber selbst zunächst weniger überzeugende

Schauspieler mit Verve in ihre Rollen werfen.

Szenen erweisen sich im Folgenden als

Der vorangehende Trojanische Krieg dagegen

schlüssige Teile im Masterplan. Die action-

ist als schlagzeuggetriebenes Soundgewitter

painting-artige Schlacht um Troja etwa


auftritt

/ TdZ  Dezember  2018  /

kämpft, oder die Eindringlichkeit, mit der Gro

lich mit Mikroports gespielt wird. Die Scheibe

Swantje Kohlhofs Kassandra ihre Vision eines

hat zudem den praktischen Sinn, den Nebel

Trojanischen Krieges im Rewind-Modus vor-

aus dem Zuschauerraum fernzuhalten, der

trägt (die gefallenen Krieger erheben sich

die ansonsten leere Bühne komplett ausfüllt.

vom Schlachtfeld, das Blut saugt sich aus

Was sich im Dunst abzeichnet, sind die

dem Sand zurück in die Körper, die Wunden

vagen Konturen von nur einem antiken Drama

schließen sich) – das sind nur zwei von etli-

statt der anvisierten drei: „Lysistrata“ von

chen darstellerischen Glanzmomenten dieses

Aristophanes. Anders als in der Vorlage treten

Theaterrausches. Glückliche Fügung, dass

die Frauen bei Stone aber nicht in den Sex-

hier fulminante Spielerinnen nicht minder

streik, um männlichen Kriegsgelüsten den

kraftvolle Frauenfiguren verkörpern, die sich

Kampf anzusagen, sondern retten sich in eine

weigern, die Opferrolle anzunehmen. Kassan-

Frauenkommune, um den (sexuellen) Über-

dras großartigen Monolog hat Rüping, wie viele

griffen ihrer Männer zu entrinnen. Die treten

Texte für das Projekt, selbst geschrieben. An-

als Vergewaltiger, prügelnde Proleten oder mi-

2003 haben Ariane Mnouchkine und das

sonsten bedient er sich bei Euripides, Goethe

sogyne

Schweine

Théâtre du Soleil die weltweite Odyssee von

und Heiner Müller.

allesamt, so rücksichtlos egomanisch wie ­

Menschen auf der Flucht in kurzen, prägnan-

Machtmenschen

auf,

TÜBINGEN Das Sommermärchen LANDESTHEATER TÜBINGEN: „Die letzte Karawanserei“ von Ariane Mnouchkine Regie Christoph Roos Ausstattung Katrin Busching

Auch Simon Stone arbeitet mit starken

erbärmlich in ihrem Selbstmitleid, allen ­

ten Szenen auf die Bühne gebracht. Das

Schauspielerinnen, darunter Caroline Peters,

­voran der Chef einer Kinderwunschklinik, der

Stück „Le Dernier Caravansérail“ zeugt vom

Constanze Becker und Stefanie Reinsperger,

bei der Erfüllung von Elternträumen auch

Kampf ums Überleben in der globalisierten

die man sich sehr gut als trotziges Troerin-

schon mal mit eigenem Sperma aushilft.

Welt(un)ordnung, in der Bürgerkriege, sozi-

nen-Trio hätte vorstellen können. Deren Tra-

­Martin Wuttke spielt diesen Arzt als Hysteri-

ale, religiöse und ethnische Ausgrenzung, po-

gödie scheint aber im Laufe des Proben- und

ker, der wie ein besoffener Pinguin übers

litische Verfolgung und ökonomische Aus-

Schreibprozesses (beides läuft bei Stone

Glatteis torkelt. Vielleicht zappelt er aber

sichtslosigkeit Männer, Frauen und Kinder

para­ llel) unter den Schneidetisch gefallen

auch einfach nur marionettengleich an den

entgegen ihrem Willen um den Globus trei-

zu sein, wie das der filmaffine australische

Fäden des Verhängnisses. Denn – so viel

ben. Die beispielhafte Theaterarbeit hat im

Theatermacher vielleicht formulieren würde.

­Antikenbezug muss sein – Stone hat die Bio-

deutschen Stadttheater unbegreiflicherweise

Stattdessen zeigt Stone Shortcuts aus dem

grafien aller Figuren des Stücks zu einem

keine angemessene Resonanz gefunden.

Geschlechtergrabenkampf, wobei seine Be-

­gordischen Knoten verknüpft. Die Frauen, die

Jetzt hat das Landestheater Tübingen alle

ziehungskriegerinnen und -krieger in einem

zunächst als willfährige Opfer männlicher

Kräfte mobilisiert, um eine zweite deutsch-

Konversationston plaudern, dessen Beiläufig-

Grausamkeit erscheinen, können die schick-

sprachige Aufführung des Stücks zu ermög­

keit im scharfen Kontrast zum brachialen

salhafte Verstrickung nur lösen, indem sie

lichen. Mit großem Erfolg: „Die letzte Kara-

Blutrauschfinale steht. Die fernsehrealisti-

sich am Ende ebenso brutal rächen. Determi-

wanserei“ ist das Stück der Stunde.

sche Anmutung der Alltagssprache von

nation scheint für Stone auch zu bedeuten,

In einer Zeit der allgemeinen Flücht-

Stones Figuren wird natürlich dadurch ver-

dass es gibt nur zwei Möglichkeiten gibt:

lingshetze auf der Straße, in den rechten Par-

stärkt, dass hinter einer Glaswand und folg-

­Opfer oder Täter. Dazwischen existiert nichts.

teien und in Teilen der Medien, einer Zeit, in

Ein Mann nach dem ande-

der der Hass auf die Aufnahme der Geflüchte-

ren wird hingeschlachtet,

ten aus Ungarn im September 2015 wahnhafte

wobei ihre blutigen Leiber

Züge annimmt, zeigt die Inszenierung von

gegen die Plexiglasscheibe

Christoph Roos die verdrängte Realität der ­

an der Bühnenrampe klat-

„Festung Europa“ und anderer Kontinente ­

schen.

(zum Beispiel Australien): Auf die globale Be-

In

München

bei

wegung von Geflüchteten, Vertriebenen und

„Dionysos Stadt“ verbinden

Ausweglosen wissen immer mehr Menschen

sich Ensemble und Publi-

keine andere Antwort als brutale Abschottung

kum

gemeinsamen

und vehementen Nationalismus. So sehen sich

rauschhaften Erleben über

die aufgrund von Krieg, Hunger und Angst aus

die Rampe hinweg. Am

ihren

Berliner Ensemble steht

­zweites Mal als Ausgelieferte: ausgeliefert der

nicht nur eine Glaswand

Gewalt von Schleppern an den Grenzzäunen

dazwischen. Die Fantasie

Europas, ausgeliefert der Gewalt des Zusam-

der Zuschauer prallt auch

mengepferchtseins in Lagern wie im franzö­

ab an der Explizitheit des

sischen Sangatte in der Nähe der Einfahrt zum

Gezeigten. //

Eurotunnel, ausgeliefert dem Zynismus von

im

Heimatländern

Aufgebrochenen

ein

australischen Richtern, denen es allein um ­Zurückweisung und Abschiebung geht, und so Christoph Leibold

fort.

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Eine Odyssee von Menschen auf der Flucht – „Die letzte Karawanserei“ von Ariane Mnouchkine (hier mit Jürgen Herold). Foto Martin Siegmund

zwischen der Russin und der Tschetschenin auf. „Wer über Märchen lacht, war nie in Not“, weiß Alexander Kluge. Märchen sind notwendig. Sie wenden die Not der Realität. In diesem Sinne können wir die offenen Grenzen im September 2015 mit dem Landestheater Tübingen als das eigentliche Sommermärchen verstehen. // Günther Heeg

WEIMAR Zeit der Monster DEUTSCHES NATIONALTHEATER WEIMAR: „November 1918“ (UA) nach Alfred Döblin Regie André Bücker Bühne Jan Steigert Kostüme Suse Tobisch Auf der schräg gestellten Weltenscheibe

Regie, Ensemble und Dramaturgie (Stefan ­

(Bühne Katrin Busching) müssen sich dieje-

Schnabel) gleichermaßen. Die Geflüchteten

Als sich Alfred Döblin 1937 auf der Flucht vor

nigen behaupten, die in der Fremde zwischen

nämlich, das macht die Inszenierung deut-

dem Nazifaschismus befand, die ihn über

Herkunft und Ankunft im Unterwegs sind. Da

lich, eignen sich nicht für die Stilisierung zu

Frankreich bis in die USA führen sollte, be-

ist zum Beispiel Parastou aus dem Iran, die,

Opfern, in die man sich einfühlen kann, um

gann er ein umfassendes Prosavorhaben:

nach einer Demonstration für Frauenrechte

sich ein gutes Gewissen zu machen. Sie ge-

„November 1918 – Eine deutsche Revolu­ ­

ausgepeitscht, mit ihrem Bruder geflüchtet

ben wie Claudia, die ihre Tochter Olja im

tion“. Sechs Jahre später abgeschlossen, um-

und in Sangatte gestrandet ist. Dem Bruder

­Lager verkauft, die Gewalt weiter, die ihnen

fasste es vier Bände und über 2400 Seiten.

gelingt der Sprung auf den Zug nach England,

widerfährt. Noch auf der Flucht lässt der alte

Historische Ereignisse, fiktionale wie surreal

Parastou gibt auf und kehrt zurück nach

Hass die Russin Babuschka die Tschetschenin

anmutende Elemente, literarisch Experimen-

Teheran. Oder Tamara aus Moskau, die in ­

Zina anspucken, die ihr gerade weitergehol-

telles und Autobiografisches, all das ist in dem

­Calais von dem Schlepper Yosco auf den Strich

fen hat. Selbst die Schlepper sind der Gewalt

Erzählwerk versammelt. Ein sperriges Epos,

geschickt wird. Oder Al Bassiri, dessen Fami-

ausgesetzt. Die Schauspielerinnen und Schau­

das auf der Suche nach den Ursachen des Ter-

lie aus dem Irak in den Iran geflüchtet war

spieler zeigen das Widersprüchliche, Unein-

rors der Nazis an die Anfänge der sogenannten

und der jetzt im Haftzentrum Port Hedland

deutige und die Grauzonen in einer präzise

Weimarer Republik geht. Dass „November

einem 4500 Kilometer entfernten Richter in

pointierten gestischen Spielweise jenseits

1918“ in der Regie von André Bücker nun als

Melbourne via Skype den Unterschied zwi-

­aller Schwarz-Weiß-Malerei – eine beeindruc-

Bühnenadaption in Weimar aufgeführt wurde,

schen Irak und Iran erklären muss. Nur

kende Ensembleleistung.

mag da naheliegend erscheinen, wenn auch

­Azadeh und Fawad, das Liebespaar aus Kabul,

Das Resultat dieser engagierten, inten-

das Geschehen zumeist in Berlin spielt – zwi-

schaffen es nicht, Afghanistan zu verlassen.

siven Nüchternheit der Darstellung ist die Er-

schen dem 10. November 1918, nach der

Azadeh wird von den Taliban ermordet, bevor

fahrung von Realität in ihrer ganzen Bewegt-

doppelten Ausrufung der Republik, und dem

sich die beiden auf den Weg machen können.

heit, die einen als Zuschauer in Bewegung

15. Januar 1919, der Ermordung Karl Lieb-

Die szenischen Momentaufnahmen aus

setzt. Zu dieser Bewegtheit der Realität zäh-

knechts und Rosa Luxemburgs nach der Nie-

den Brennpunkten der Welt sind schwer aus-

len auch ihre märchenhaften Augenblicke.

derschlagung des Spartakusaufstands.

zuhalten. Dass sie sich nicht im wohlfeilen

Ein solcher blitzt am Ende der Aufführung

„Die alte Welt liegt im Sterben, die

Mitleid erschöpfen, ist das Verdienst von

in der aus der Not geborenen Kooperation

neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit


auftritt

/ TdZ  Dezember  2018  /

der Monster“, diesen Ausspruch Antonio

kriegsflaggen, die Masse als Subjekt der

Düster ist es auch im Politischen. Der von

Gramscis halte man sich für die November-

Geschichte.

Sebastian Nakajew in seiner tumben Plump-

tage 1918 vor Augen. Und so beginnt der

In die Wirren der Zeit geworfen wer-

heit karikaturesk dargestellte Friedrich Ebert

Abend auch, als sich der Vorhang hebt: Die

den Becker (Max Landgrebe) und Maus

paktiert mit der Obersten Heeresleitung, um

Invaliden, Versehrten, Verwahrlosten und

(Thomas Kramer), die sich im Lazarett ken-

die „Radikalen“ niederzuhalten. Ordnung

Verrohten, sie schleppen sich aus dem

nenlernen. Der Krieg hat ihre Erfahrungs-

machen in Berlin, dieses Vorhaben verbin-

Krieg zunächst ins Lazarett und von dort

welt zerstört, eine Rückkehr ins Zivilleben

det Ebert mit den Militärs. Die sind sich im-

irgendwann nach Hause, denn der Krieg ist

ist für beide unmöglich. Becker, der Lehrer

merhin im Klaren, dass man Ebert und Nos-

aus, ob gewonnen oder verloren, kann nie-

und Philologe, begibt sich auf die Suche

ke nur für den Genossenmord braucht. So

mand sagen, das ist für einen industriell

nach dem Kern seines Ichs, versinkt dabei

bleiben die Verhältnisse erhalten, die den

geführten Abnutzungskrieg, der aufgrund

im Mystizismus, wird von den Gespenstern

Krieg möglich gemacht haben. Und der

ökonomischer Zwänge nur das überschüssi-

seiner Vergangenheit und Gegenwart heim-

­Moment, sie zu ändern, verstreicht. „Eine

ge Mehrprodukt vernichten muss, auch

gesucht und gibt sich letztlich der zynischen

revolutionäre Situation kann man nicht kon-

egal. Überflüssig sind die Millionen Men-

Selbstzerstörung hin. „Dass Krieg gewesen

servieren, nur die revolutionären Phrasen“,

schen, deren Tod oder Verkrüppelung ein-

ist, ist nicht vorbei“, sagt er in einem seiner

sagt der Leninist Karl Radek (Julius Kuhn).

kalkuliert ist. Sehen diese es einmal ein,

klareren Momente, doch will er nicht mehr

Das ist die Tragik von Karl Liebknecht (Mar-

beginnt sich das Blatt zu wenden. Die von

kämpfen. Maus hingegen ist ein Kämpfer.

kus Lerch) und der von dunklen Visionen

Jan Steigert wie eine stilisierte expressio-

Dem Krieg ein Ende zu bereiten sei nur

geplagten Rosa Luxemburg (Johanna Geiß-

nistische Kulisse gestaltete Drehbühne

durch die Entmachtung der Kriegstreiber

ler). Der Spartakusaufstand kommt zu spät,

führt vom Lazarett über die Fabrik zur Par-

und -profiteure möglich, hält er entgegen.

die von der SPD gestützten Reaktionäre

teizentrale, Originalaufnahmen werden ein-

So kämpft er – erst für die Roten, später für

schlagen ihn brutal nieder. Ganz am Ende

geblendet. Neben allerlei historischen Fi-

die „nationale Sache“. Solche Gegensätze

erscheint vor dunklem Grund der Kämpfer

guren sowie Gott, Teufel und Engel tritt des

werden auch musikalisch ausgetragen. Im

Maus im Braunhemd mit Hakenkreuzbinde.

Öfteren der Chor des Nationaltheaters auf,

Chor gesungen, trifft die „Internationale“

Und man begreift, dass für Döblin am Be-

mal mit roten Fahnen, mal mit Reichs-

auf „Oh Deutschland hoch in Ehren“, zwi-

ginn des ­Nazifaschismus eine verratene Re-

schendrin gibt es Wagners „Liebestod“ und

volution stand. „November 1918“ richtet

eine Bach-Kantate. Weitere Musik hat der

den Blick auf die sozialen Bedingungen der

Ein sperriges Epos auf der Suche nach den Ursachen des Nazi-Terrors – „November 1918“ nach Alfred Döblin.

Weimarer Kapellmeister Stefan Lano eigens

ersten deutschen Demokratie – und sieht

komponiert, zusammen mit der stimmungs-

diese in Blut gebadet. Eine Situation, die

vollen farbigen Beleuchtung gibt sie dem

Monster gebiert. //

Foto Candy Welz

Abend eine düstere Atmosphäre.

Jakob Hayner

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Ein Gleichnis für trübe Zeiten Der Dichter Durs Grünbein über sein Libretto für Johannes Maria Stauds Oper „Die Weiden“ im Gespräch mit Jakob Hayner Durs Grünbein, in „Die Weiden“ geht es um eine

einen Strich durch die Landschaft. „Herz der

Wie kamen Sie auf das Motiv? Und wie hat sich

Reise auf einem großen Fluss, die Ufer bevölkert

Finsternis“ von Joseph Conrad ist sozusagen

die Handlung entwickelt, was war Ihnen daran

von bösen und verstockten Karpfenmenschen,

die Urerzählung, eine Reise stromauf an die

wichtig?

es drohen einige Gefahren. An einer Stelle heißt

Quellen, hinein in den dunklen Busch, ins

Als der Komponist Johannes Maria Staud und

es, dies sei ein Gleichnis für trübe Zeiten.

Zentrum einer Regression. Die Handlung in

ich anfingen, am Libretto für „Die Weiden“ zu

Der Ausspruch mit dem Gleichnis stammt von

„Die Weiden“ geht in die andere Richtung,

arbeiten, stand uns als Erstes der Handlungs-

der Protagonistin Lea und fällt im Vorspiel.

den Fluss hinab ins Offene, Richtung Meer.

ort vor Augen. Die Oper sollte an einem gro-

Sie ist eine junge Philosophin, eine Akademi-

Das ist auch die Frage: Was ist das Offene der

ßen Fluss spielen – einem Strom, „von Ge-

kerin, aus einer amerikanischen Großstadt,

Welt? Welthandel, Globalisierung? Die Golf-

schichte schwer“. Es war mittlerweile unsere

die eine Flussreise unternehmen möchte. Der

ströme des Kapitals, die an den Küsten und

dritte gemeinsame Oper. Bei „Die Weiden“

Fluss befindet sich in Europa und verbindet

gibt es zum Beispiel das Motiv der Verwand-

mehrere Länder, er fließt von West nach Ost –

lung – oder eher schon Mutation – eines Teils

man wird also keine Probleme haben, das Vorbild dieses Flusses zu erkennen. Ihre Eltern aber haben Sorgen aufgrund dieser Reise, und der Vater erzählt die Legende von den Karpfenmenschen. Lea begreift dies als ein Gleichnis trüber Zeiten, unvorstellbar für die Gegenwart. Sie ist furchtlos. Sie glaubt nicht, dass die Vergangenheit sie einholen wird. Sie weiß die Verhältnisse zu analysieren. Sie glaubt, archaische Affekte rational bewältigen zu können. Sie beginnt die Reise, aber während dieser kommt es zu einem Zerfallsprozess. Eine Flussreise ist ja eine starke literarische

Was ist das Offene der Welt? Die Golfströme des Kapitals, die an den Küsten und tief im Landesinnern der kleinen und großen Nationalstaaten zu maximalen Verwirbelungen führen?

der Bevölkerung. Das sind die Karpfenmenschen. Eine gewagte Metapher, mag sein, aber sie kommt aus der Beobachtung. Tatsächlich geschieht da gerade etwas mit der öffentlichen Sprache, die Politik wird immer mehr affektgesteuert, sie lässt sich von diffusen Ängsten treiben. Stellt man den Ton ab, sieht man plötzlich überall weit aufgerissene Mäuler (pardon: Münder), stellt man ihn wieder an, hört man dumpfe Sprechchöre, Grunz- und Schmatzlaute, ein hasserfülltes Röcheln. Ich will den Karpfen nicht unrecht tun, aber es gibt da physiognomische Ähnlichkeiten. Als wären die friedlichen Karpfen aus ihren Gewässern gesprungen und mach-

Metapher. Man kennt die Reisen flussaufwärts,

ten sich nun auf den Marktplätzen breit. Das

eine Erkundung der Quellen, der Ursprünge.

waren so Assoziationen, die man beim Be-

Flussabwärts ist man selbst im Strom, in dem

trachten von Pressefotografien hat. Das waren

der Geschichte oder der Verhältnisse, im Flow,

tief im Landesinnern der kleinen und großen

die Vorgänge von Freital, Clausnitz, Chem-

wie es in der neoliberalen Managementsprache

Nationalstaaten zu maximalen Verwirbelun-

nitz, Kandel und Köthen.

heute heißt.

gen führen, so wie wir es heute erleben? Es

In dieser Oper treten einige Menschen auf,

treten in „Die Weiden“ auch die Populisten

Es finden sich im Text Verweise auf die deutsche

die einen scharf umrissenen Heimatbegriff

und Demagogen auf, die es darauf anlegen,

Geschichte, Richard Wagners „Ritt der Walkü-

haben. Sie stehen sozusagen an der Heimat-

die Völker zu spalten. Populistendämmerung:

ren“ und Martin Heideggers „Schöpferische

front. Aber keiner dieser neuen Patrioten legt

Das ist die soziale Seite der Katastrophe.

Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz?“,

Rechenschaft ab über die Menschen, die frü-

Dazu kommt aber auch eine Naturkatastro-

ein Text, der kurz nach seinem Eintritt in die

her dort lebten und die vertrieben wurden.

phe – die große Flut, die unsere Flussreisen-

NSDAP entstand.

Und nun kommen neue Menschen hinzu, die

den ereilt. Man könnte sie als ein Zeichen des

Das sind Hinweise auf aktuelle Debatten.

aber abgewehrt werden. Wer gehört wohin?

Klimawandels deuten. Alles geschieht zu-

Wenn ein Parteivorsitzender den Populismus

Wer hat ein Anrecht auf das Leben in einem

gleich, die Prozesse, auch die Fehlentwick-

damit rechtfertigt, dass es einen Konflikt

bestimmten Territorium? Das Bild des Flusses

lungen lassen sich nicht mehr voneinander

gebe zwischen den sogenannten Eliten einer-

ist eine glückliche Fügung. Zum einen verbin-

trennen. Der Fluss ist dabei der eigentliche

seits, den „Globalisten“, und andererseits

det ein Fluss mehrere Länder oder Städte, vor

Protagonist, er verbindet alle Elemente und

den Menschen, die durch Beruf und Arbeit

allem durch die Handelswege. Zum anderen

bleibt als Grundrauschen immer im Hinter-

gezwungen sind, an einem bestimmten Ort

zieht ein Fluss, als eine Art natürliche Grenze,

grund.

oder in der Provinz zu leben, ist das ein


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Ablenkungsmanöver. Erstens gehören alle ­ Parteivorstände selbst zu den Eliten, zweitens lenkt die Unterscheidung von Standorttreue und Flexibilität nur vom Sachverhalt ab, vom Nomadentum des Kapitals, das zum Wesen dieser Wirtschaftsordnung gehört. Es sei denn, man finge wieder beim Korporatismus der Faschisten an, beim Konzern-Bolschewismus und bei den Nazi-Trusts. Diese Unterscheidung aber ist ein klassischer Topos, den auch Hitler verwendete, als er den deutschen Arbeitern nahelegte, es gebe ein lokales und ein globales Kapital, schaffendes und raffendes Kapital. Dann sind wir sofort auch wieder beim Antisemitismus. Beim Lesen erinnerte ich mich an die nun einige Monate zurückliegende Diskussion zwischen Uwe Tellkamp und Ihnen in Dresden. Ist das eine Erfahrung, die in die Arbeit an „Die Weiden“ eingegangen ist? Ich habe mich damals kalt überfallen gefühlt. Damit hatte ich nicht gerechnet, dass solche starken und aggressiven Statements von einem Schriftsteller meiner Zeit kommen würden. Von Anfang an war jeder Dialog aufgekündigt. Es ging darum, ein paar Thesen loszuwerden und diese beharrlich zu wiederholen. Erstens: Es gibt keine Meinungsfreiheit, die Medien steuern die Öffentlichkeit,

Durs Grünbein wurde 1962 in Dresden geboren. Er lebt und arbeitet als Dichter, Essayist, Über-

indem sie ein ausschließlich herrschafts­

setzer und Librettist in Berlin und Rom. An der Kunstakademie Düsseldorf hat er eine Professur

genehmes Weltbild transportieren. Zweitens:

für Poetik inne. Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und

Überfremdung und Islamisierung der Gesell-

den Peter-Huchel-Preis. Die Oper „Die Weiden“ von Johannes Maria Staud wird am 8. Dezember

schaft sind ein Faktum, aber wer darüber re-

in der Regie von Andrea Moses an der Wiener Staatsoper uraufgeführt. Das Libretto dieser Oper

det, wird stigmatisiert. Der Schlüsselsatz war,

findet sich neben den beiden Libretti „Berenice“ und „Die Antilope“ in dem bei suhrkamp

dass 95 Prozent der Flüchtlinge nur gekom-

spectaculum erschienenen Buch „Durs Grünbein: Oper“. Foto Tineke de Lange

men seien, um in „unsere“ Sozialsysteme einzuwandern. Es war völlig absurd. Und das Beste war: In den Tagen darauf wurde nur mehr über diese Aussagen geredet. Der Autor

wollten, haben uns überholt. In Österreich

besten Fall zum Schweben bringt. Sobald ein

hatte bekommen, was er infrage stellte – die

gibt es nun eine rechtskonservative Regie-

Text vertont wird, gelten für ihn andere Geset-

maximale Aufmerksamkeit und das Recht auf

rung, in Italien ist ein Menschenverächter

ze. Es gibt eine neue Ausdrucksökonomie:

Meinungsfreiheit sowieso.

und Anti-Europäer Innenminister geworden

Weniger ist oft mehr, Vieldeutigkeit ein be-

und schwimmt auf der Welle des Populismus.

wusster Effekt, der das Ganze spannungs-

Es ist zumindest interessant zu sehen, dass sich

Eine Zeit lang sah Deutschland noch wie ein

reich macht. Im ersten Entwurf eines Libret-

plötzlich Menschen um die Sozialsysteme be-

Bollwerk des Humanismus in Europa aus,

tos gibt es meistens viel zu viel Text, die

sorgt zeigen, die das in den letzten Jahren, bei-

eine Demokratie, die aber mehr selbstgerecht

Musik zwingt aber zur Reduktion. Am Ende

spielsweise anlässlich der Hartz-Gesetze, nie

als gerecht war, wie sich nun zeigt.

ist das Wort in der Partitur fixiert, wie einge-

getan haben.

schlossen im Bernstein. Und man kann noch

Das ist wie bei den Pegida-Demonstrationen,

Ihre Sprache ist reduziert, teilweise auch nur

so sehr auf die Gegenwart zuhalten – wie wir

wo „unsere armen Obdachlosen“ benutzt

andeutungshaft. Warum?

es getan haben –, schließlich wirken die mu-

werden, um gegen Flüchtlinge Stimmung zu

Der Lyriker mag mit der Sprache selber be-

sikalischen Fliehkräfte und treiben das Ganze

machen. Mit der Arbeit an „Die Weiden“ ha-

schäftigt sein – ein Libretto wird immer auch

in eine Zwischenzone. Eine Oper kann ruhig

ben wir 2014 begonnen. In der Zwischenzeit

die Aufführung mitbedenken, den riesigen

zeithistorisch sein, aber sie sollte das Ge-

hat sich Europa verändert. Die Ereignisse, die

Apparat der Oper. Es ist eine Eigenart der

schehen auch aufheben, damit sie auch spä-

wir mit einem gewissen Abstand beschreiben

Oper, dass die Musik den Text verfremdet, im

ter noch aufführbar ist. //

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Die Weiden

Lea Was ist schon eine Reise? Das geht schneller vorbei als man denkt.

Oper in sechs Bildern von Durs Grünbein

Arioso

Musik von Johannes Maria Staud

Und dann die Natur! Die Natur! Im Rausch durch die herrliche Landschaft. Stromab – da geht alles leicht. So leicht.

»The canoe is a hyphen between centuries, between generations, between trees.« Derek Walcott

Leas Vater Großes kleines Mädchen. Leas Mutter Zu klein für ihr Alter –

Personen Lea, eine junge Philosophin – Mezzosopran Peter, ein junger Künstler – Bariton Edgar, Peters alter Schulfreund – Tenor Kitty, Edgars Geliebte – Sopran Die Fernsehreporterin – Schauspielerin Krachmeyer, Komponist, Freund von Peters Fami­ lie – Schauspieler Leas Mutter – Mezzosopran Leas Vater – Tenor Peters Mutter – Alt Peters Vater – Baßbariton Der Demagoge – Baß Fritzi, Peters Zwillingsschwester 1 – Hoher Sopran Franzi, Peters Zwillingsschwester 2 – Hoher Sop­ ran Der Warner am Ufer – Tenor Eine Wasserleiche – Sopran Der Oberförster – Baß Der Flüchtling Großer gemischter Chor (mindestens 48stimmig)

PROLOG IM ELTERNHAUS Wohnzimmer in einem Hochhaus. In den Fenstern die Skyline einer amerikanischen Großstadt am Abend. An einem langen Tisch sitzen Leas Mutter und Leas Vater an den Stirnseiten sich gegenüber. Sie warten. Ein großer Reiserucksack steht neben der Tür. Duett Leas Mutter Wo sie nur bleibt? Leas Vater Wo bleibt sie nur, Unser großes Mädchen? Leas Mutter Das hört sie nicht gern.

Leas Vater Zu klein für ihr Alter, Leas Mutter Meinten die einen. Zu groß ihr Eigensinn – Leas Vater Zu groß ihr Eigensinn, Sagten die andern. Leas Mutter Die Kleine: ganz groß! Leas Vater Die Große: so klein! Leas Mutter So ging es immer. Leas Vater So ging es immer. Leas Mutter Es war zum Weinen. Leas Vater Es war zum Weinen. Die beiden brechen in ein herzliches Gelächter aus. Da tritt Lea ein. Lea Lustige Leute zum Abschied, das hab ich gern. Hallo, liebe Eltern. (Lea beschäftigt sich mit dem großen Reiserucksack.) Und auf Wiedersehen. Leas Vater Kaum angekommen, schon willst du gehen. Leas Vater Nur, wohin du gehst, gefällt uns nicht. Leas Vater Das gefällt uns nicht.

Leas Vater Nein, das hört sie nicht gern. Sie war unser großes Mädchen, Schon als sie noch klein war.

Lea Eine Reise, was ist schon eine Reise?

Leas Mutter Unser kleines großes Mädchen.

Leas Mutter und Leas Vater In das Land deiner Vorfahren, Das Land am Strom. In das Land, wo uns keiner mehr kennt.

Leas Mutter Das gefällt mir nicht. Du weißt, warum. Lea Stromab – da geht alles leicht. So leicht, alles leicht. Leas Vater Setz dich. Willst du dich nicht setzen? Lea Alles so leicht. So leicht. Leas Mutter Du bist unser einziges Kind. Paß auf, paß auf dich auf! Leas Vater Die Welt von heute ist nicht besser, Nicht sicherer als die von gestern. Nicht für Leute wie uns. Lea Darf ich trotzdem lachen? Seid mir nicht böse: Ich bin verliebt. Leas Mutter Und darf man fragen, wer es ist? Lea Es ist der Mann, den ich in London traf. Ich hab euch von ihm erzählt. Leas Mutter Der Athlet, dessen Augen so strahlen? Leas Vater Oder der Philosoph mit den goldenen Händen? Lea Nein, er ist Künstler. Doch was er macht, Würde euch sowieso nicht gefallen. Er kommt von drüben … er kommt von dort. Leas Vater Darauf müssen wir trinken. Leas Mutter Trinkt ihr allein. Ich bin zu müde dafür. Leas Vater Wo wir so weit sind: Es gibt da etwas, Das uns beunruhigt. Etwas geht vor dort drüben. Leas Mutter Es tut sich was in der alten Heimat.


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Leas Vater Da fällt mir ein altes Gleichnis ein.

VORSPIEL EIN FLUSS, VON GESCHICHTE SCHWER

Lea Kenne ich es? Sing es mir vor.

Orchestermusik.

Leas Vater Es handelt von Karpfen und Menschen. Es ist DIE LEGENDE VON DEN KARPFENMENSCHEN Terzett: Die Legende von den Karpfenmenschen Leas Vater, Leas Mutter, Lea Da war ein Strom … An seinen Ufern wohnten Gemischt die Völker beieinander, frei verstreut. In vielen Sprachen lebten dort die Leute Und hielten Frieden. Manche sah man kaum. Hoch über ihnen standen weite Himmel, Und unten schwammen Karpfen tief am Grund. Ruhig flossen die Wasser. Es wälzte stumm Zum Meer hin der Strom seine Kiesel um. Aber der Strom, er blieb nicht mehr derselbe. Die Wasser wurden braun, die Fische starben hin. Aus guten Nachbarn wurden nun – die Andern. Man kam, in Schwärmen, sich bedrohlich nah. Die Himmel trübten sich. Unheimlich war, Was dann landauf landab am Strom geschah. Unruhig schäumten die Wasser. Es warf sich schwer Der Strom wie in bösen Träumen umher. Wie über Nacht bekam, unmerklich, mancher So einen harten Zug um Mund und Kinn. Die Blicke wurden starr. Aus fetten Schultern Wuchsen Karpfenköpfe. Leas Mutter geht langsam ab. Bald rissen sie die Mäuler auf und schnappten Nach Luft wie Fische, glotzten böse, klatschten Mit ihren braunen Buckeln an die Mauern. Und waren kalt als wie Karpfen, unansprechbar. Im Dunkel klappten Kiemen. Aus den Straßen Stieg ein Geruch von toten Ufern, Schlamm. Stumm blieben die Wasser. Es wälzte breit Der Strom sich, zu jeder Schandtat bereit. Dann sprangen die Karpfen, es brach der Damm.

Projektion: Wechselnde Flußpanoramen. Zu sehen ist ein majestätischer Strom. Blühende Landschaften, hohe Burgen, malerische Ufer. Eine atemberaubende Postkarten-Ästhetik, die jedoch von Bildsequenzen historischen Filmmaterials gebrochen wird. Während des Folgenden schillert der Strom in allen erdenklichen Farben, von denen zuletzt ein bedrohliches Dunkelbraun übrigbleibt. Chor (Setzt leise, beinah unhörbar, ein. Im Hintergrund begleitet er stimmlos und geheimnisvoll flüsternd die Fernsehreporterin bis zum Ende des Vorspiels. Die Fernsehreporterin betritt zögerlich die Bühne, in der Hand ein riesiges Mikrophon, einen »Pudel«, mit Windschutz.) Die Fernsehreporterin (Spricht ins Mikrophon. Ist »auf Sendung«:) Vermißt! Seit etlichen Stunden werden Am mittleren Lauf der Dorma Vier Personen gesucht! Zwei junge Paare sind Im Land der Kormorane Verschwunden, Verschwunden. Es handelt sich um Bootswanderer, vermutlich Touristen. Infolge starker Regenfälle kam es in vie­ len Abschnitten der Dorma zu schweren Über­ schwemmungen. Betroffen ist vor allem ein Gebiet, das im Volks­ mund das »Land der Verlassenheit« heißt. Dort, in einer Landschaft aus Auenwäldern und Weidenin­ seln, Wind und Wasser, herrschen seit dem Wo­ chenende katastrophenartige Zustände. Es ist zu einem ungeklärten Unfall gekommen. Gefunden wurde das Wrack einer weißen Yacht. Von den In­ sassen fehlt bislang jede Spur. Die Fernsehreporterin bleibt wie angewurzelt stehen, als wäre sie weiterhin auf Sendung. Sie nestelt nervös an Headset und Mikrophon, geht dann abrupt ab.

Lea geht langsam ans Fenster, betrachtet die Skyline. City bei Nacht.

ERSTES BILD DER RASTPLATZ

Lea Ein Gleichnis für trübe Zeiten, Würde ich sagen.

Hochsommer. Biwak am Flußufer, ein Zelt, eine Kochstelle, Wäsche auf der Leine. Lea und Peter. Lea kriecht auf allen Vieren aus dem Zelt ans frische Licht eines neuen Tages. Sie geht am Ufer auf und ab.

Leas Vater Du meinst: Unvorstellbar – In unseren Tagen. Aber was War nicht alles schon unvorstellbar? Lea Was ist mit Mutter? Leas Vater Sie hat sich schlafen gelegt. Die Skyline im Fenster erlischt.

Lea Zieh dir bloß was an! Da draußen Stehen die Spanner an der Reling. Lauter Typen mit Fernglas, Die frech herüberwinken. Autsch! Mich hat was gestochen. Mücken? Peter (Im Inneren des Zeltes:) Verdammt. Gibt es hier Mücken?

(Peter kriecht halbnackt aus dem Zelt. Er nähert sich ihr auf allen Vieren und untersucht ihren Körper.) Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun … Lea Hilfe! Ich bin total zerstochen. Peter Achtundzwanzig! Lea Für jedes Lebensjahr einen Stich. Peter Herzlichen Glückwunsch, Lea. Mich haben die Biester verschont. Dabei schlafe ich nackt, du nicht. (Peter stellt sich breitbeinig am Ufer auf.) Wow! Wie riesig breit der Fluß hier ist. Aus dem Rinnsal Ist ein mächtiger Strom geworden. Hier treibst du ab wie ein Kürbis. Lea Wie friedlich die Wasser waren Flußaufwärts im Schwarzen Wald. Da konnte man baden. Duett Lea und Peter. Liebesakt Lea Faul in den Blauauen lagen wir – Peter Und waren mit uns im Reinen. Lea Waren ein Leib nur, ein fester Knoten – Peter Aus deinen Beinen und meinen. Lea Ein Gefühl so groß und verboten. Ich weiß nicht, was ist nur los – Peter Mit dir, schöne Frau, in der Fremde. Lea Mit dir, schöner Mann, hier zuhaus. Peter Wir wollten nur immer das Eine. Lea Wie die Weiden am Ufer umschlungen – Peter Wie das Schilf, das sich biegt im Wind – Lea und Peter Wie die Wellen im Strom geschmeidig – Lea Waren deine Beine und meine. Peter löst sich aus der Umarmung. Er steht auf, stemmt einen großen Stein und wirft ihn in den Fluß.

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Peter Der Kannibale hat Hunger. Zum Frühstück frißt er sein Kind Und hinterher seine Frau. Lea Bist du hungrig? Wir haben Toast, es gibt Speck. Ich brat dir ein Spiegelei. Peter Ich will Toast, ich will Speck. Ich will dein Spiegelei. Lea Ich bin völlig k. o. von der Liebe. Überall blaue Flecken, du Scheusal. Peter stürzt sich auf das Frühstück. Lea betrachtet den großen Strom. Peter Ein neuer Tag. Ich liebe die neuen Tage. Schön ist die Welt. Ach, dieses Europa … (Peter kaut und schweigt.) Lea Stop, stop, stop. Was heißt das bei euch: Heimat? Peter Ein Ort, man erkennt ihn im Schlaf – Wo alle satt und zufrieden leben. Lea Solange sie nicht gestorben sind Eines unnatürlichen Todes. (Gemeinsames Schweigen. Beiseite:) O Gott, ich kenne dich kaum. Sie umkreisen einander, mißtrauisch. Zum ersten Mal holt die Fremdheit sie ein. Dann fallen sie wieder übereinander her. Sie beißen sich, küssen sich, lieben sich … Liebesakt in der freien Natur: Instrumental Lea und Peter verschwinden, noch immer eng umschlungen, von der Bühne. PASSAGE 1 AUF DEM STROM Das Kanadische Kanu gleitet langsam dahin. Später Nachmittag, die Schatten werden länger. Es gibt nur

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Lea und Peter. Sie hat sich am Bug flach ausgestreckt, als würde sie fliegen. Peter sitzt hinten, paddelt leise. Er behält die Lage im Blick. Peter Hörst du das? Hörst du das Rauschen?

Peter Was sagt der Wetterbericht? Lea (Kramt ihr Handy hervor.) Regen – die nächsten drei Tage.

Lea antwortet lange nicht.

Peter Das ist der Moment. Darf ich dich etwas fragen?

Lea Wo Wasser ist, rauscht es. Oder ist es das Blut, Das in den Ohren rauscht?

Lea Du machst mir Angst.

Peter Ich dachte, du schläfst. Ich höre das Rauschen, Das Rauschen der Bäume. Lea Die Ufer tönen bis weit ins Land. Peter Die Welt ist voller Geräusche. Lea Es gibt nur uns zwei hier … Lea und Peter Uns zwei weit und breit. Plötzlich ein Schrei. Sie hat etwas gesehen. Halt an: eine Leiche. Da! Da treibt eine Leiche. Ein Mensch Oder ein riesiges Tier. Eine tote Kuh? Peter Huhuhu. Eine tote Kuh. (Peter bremst das Kanu mit dem Paddel.) Du siehst nur Symbole. Siehst im Rauch Gesichter, Hörst im Wasser den Schrei. Lea Mir ist kalt. Und du bist nicht nett. Ein starkes Rauschen setzt ein. Die Bäume am Ufer schwanken. Es wird plötzlich dunkler.

Peter Bist du bereit? Lea Mir wird ganz bange. Peter Hast du es dir so vorgestellt, Mein Heimatland? Lea Soll das ein Antrag sein? Wie charmant. Peter Mach dich gefaßt Auf Überraschungen. Was jetzt kommt, Hast du noch nicht gekannt. Pause. Stille. Peter zieht das Paddel ein und lehnt sich zurück. Über dem Strom wird es langsam und unaufhaltsam dunkel.

ZWEITES BILD DIE HOCHZEIT IM STROMBAD Ein Strombad, viele Kilometer flußabwärts gelegen. Tanzfläche, Bühne und Bar. Eine buntgemischte Hochzeitsgesellschaft. Edgar und Kitty sind das frischverheiratete Paar, Großstadtfiguren auf Besuch in der Provinz, Edgars Heimat. Sie haben sich gefunden, weil Edgar erfolgreich Geschäfte macht und Kitty, die aus dem Osten stammt, weiß, was sie im Westen will. Es ist keine Heirat in Weiß. Gäste der Party sind Edgars Geschäftsfreunde, alte Bekannte aus der Region, Klassenkameraden, allerlei junges Volk. Später tauchen noch Fritzi und Frantzi auf, Peters Zwillingsschwestern im Teenager-Alter. An


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einem der Tische sitzt Krachmeyer, der Komponist, ­ dgars Patenonkel und Hausfreund von Peters Eltern, E ein imposanter Herr mit weißer Löwenmähne.

Chor (Begleitet im Hintergrund, stimmlos phonetisch flüsternd, Kitty und Edgar.)

Duett mit Chor: »Wir brennen!«

Edgar Droh ich dir? Drohst du mir?

Krachmeyer Ein Jammer, daß keiner mehr zuhört. Das Ohr geht baden, es ist überfüllt. Armes Abendland. Prosit.

Kitty Man hat mir gedroht Im Ausländeramt. Hinterm Schreibtisch der Drachen.

Chor Hey! Hey! Hey! Hey!

Der Chor Wir brennen, wir brennen. Hey, wir brennen darauf, Dein Leben zu sprengen, Dich aufzumischen. Und du? Was willst du? Brennst du nicht auch? So ein großes Mädchen, Und so ein kleines Leben. Träumst du nicht auch, Alles aufzugeben? Kitty und Edgar springen auf die Bühne, tanzen und singen mit. Der Chor, Kitty und Edgar So ein heißes Mädchen, Und so ein kleines Leben. Wir brennen, wir brennen. Hey, brennst du nicht auch? Renn um dein Leben, Hol dir den Rausch. Nimm ihn im Tausch Gegen dein kleines Leben. Hol ihn dir, nimm ihn mit, Denn gleich ist alles vorbei. Duett Edgar und Kitty So ein großes Mädchen, Und so ein kleines Leben. Träumst du nicht auch, Alles aufzugeben? Kitty »Ja, ich will. Ja, ich will.« Edgar Die Wette gilt, und es gilt Der Vertrag. »Bis daß der Tod euch scheide.« Kitty Immer die Drohung: Der Tod, der Tod.

Edgar Baby, jetzt bist du bei mir. Und keiner droht dir. Alles legal jetzt! Kitty Alles egal. Reich mir mal das Messer.

Chor Ah! Ah! Ah!

In diesem Augenblick treten Lea und Peter auf. Sie haben ihre Wandersachen gegen Anzug und Cocktailkleid getauscht. Peter geht direkt zu Edgar und Kitty, während sich Lea der Gruppe um Krachmeyer nähert und aufmerksam zuhört.

Edgar übergibt ihr das große Kuchenmesser. Die Hochzeitstorte wird angeschnitten.

Krachmeyer Armes Abendland. Es versinkt Vor unseren Augen In einer Flut, einem Überfluß Fremder Stimmen und Rhythmen. Armes Abendland!

Edgar Mit so einem Messer Kann man Kinder zerteilen.

Chor U! U! U! U! U! Ah!

Kitty Wer spricht von Kindern? Kinder kann jeder haben.

Krachmeyer (Nähert sich Lea.) Verzeihung, schöne Frau. Sie sehen aus wie eine, die denkt. Kommen Sie näher. Keine Angst, Wir beißen nicht.

Edgar Wir wollen das Glück. Goldene Eier zum Frühstück, Und ein Maximum Tag. Kitty Goldene Eier zum Frühstück. Den Sonne den ganzen Tag – O das wünsch ich mir. Nachts drei bis vier Mal Liebe. Ja, das wünsch ich mir. Das wünsch ich mir. Krachmeyers großer Auftritt: Kurzes orchestrales Zwischenspiel Krachmeyer, der Komponist, bringt sich unter allgemeinem Gejohle und Beifall in Positur. Um ihn schart sich eine Gruppe streng gescheitelter, geschniegelter junger Männer, Typ Burschenschafter und adrett herausgeputzter junger Frauen. Kitty und Edgar ziehen sich in den Hintergrund der Bühne zurück.

Lea weicht zurück. Es ist gespenstisch still geworden um Krachmeyer. Die Party geht choreographisch stumm weiter. Lustige Leute sind wir hier, Nicht wahr? Lustige Leute, Tief im Herzen des Landes – Uraltes Bauernland Rings um den Strom. Geduldiger Boden, mit Blut getränkt. Warum bleiben wir in der Provinz? – Fragt sich der Gast. Hab ich recht? Da staunt der Städter nicht schlecht. Das hat er zuletzt in Hochglanz In der Werbebroschüre gesehen.

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Lea (Sieht sich nach Peter um. Der flirtet mit Kitty.) Ich höre, Sie sind Komponist? Ich hab mich immer gefürchtet Vor sowas.

Krachmeyer (Kehrt zur Gruppe der jungen Männer zurück. Lautes Gelächter.) Das ist Peters neueste Flamme. Geschmack hat er, das steht mal fest.

Kitty Ich bin überall fremd.

Krachmeyer Ich weiß nicht, wovon Sie reden.

Edgar Die einzig unbekannte Frau Auf unserem Fest. (An Lea gewandt:). Wer bist denn du?

Kitty Allein unter Männern?

Kitty tritt hinzu.

Kitty Wo immer du willst.

Lea Musik, die Walküren reitet, Die mit Panzern nach Polen rollt, Wie Motoren dröhnend, Musik, Die über Leichen geht. Krachmeyer (Gemessen, von Pausen durchsetzt:) Junge Frau, es gibt das Erhabene: Musik, die mit ihren feinen Säften Unter die Haut dringt zum Herzen Und alles hinwegschwemmt, Was der Verstand uns diktiert. (Beinah zärtlich, verführerisch:) Es gibt auch das Schlichte, Klänge der Heimat, Was der Fluß uns flüstert, Was uns der Waldsaum raunt. So viel wurzelhafter und inniger Als der städtische Lärm. Lea (Die weit weg ist mit ihren Augen, hinter dem Horizont:) Ich liebe die Stadt und den Lärm.

Kitty Hey, schöne Frau! Was für ein Fest. Lea Du mußt Kitty sein! Die Frau, Von der alle schwärmen. Kitty Mein Kopf – ein Bienenstock. Vom Tanzen, vom Wein So schwindlig. Edgar Ich höre, ihr seid Mit dem Kanu hergekommen? Kitty Nur für den Brautstrauß Seid ihr leider zu spät! Krachmeyer wandelt grüßend vorüber.

Krachmeyer Das Metropolengelärme, Was ist das schon gegen Den großen Terror der Kunst? Die Erlösung am Ende, die Lösung, Die Auflösung in der Musik? Lea (Plötzlich wieder ganz da:) Lösung ist so ein häßliches Wort. So würden Karpfen sprechen, Wenn Karpfen sprechen könnten. Man würde immer nur Lösung hören, Lösung, Lösung. Ö, ö, ö. Damit dreht sie sich um, läßt Krachmeyer stehen und steuert auf Peter, Kitty und Edgar zu, die sich prächtig amüsieren.

Peter Der große Krachmeyer, voilà. Meine Eltern halten ihn Für das letzte Genie. Edgar Der Maestro zumindest Ist als einziger nüchtern.

Lea Da sind wir schon zwei.

Lea In Gedanken woanders.

Lea Bist du dabei? Kitty zieht Lea zu sich heran und küßt sie. Kitty Das bleibt unser Geheimnis. Lea (Wirkt etwas benommen.) Hallo Kitty. Das bleibt ... Kitty … unser Geheimnis! Edgar und Peter erschrecken die beiden. Edgar Wir dachten – Ihr kommt mit uns mit. Wir haben eine Yacht, Groß genug Für zwei Paare. Peter Unser Kanu im Schlepptau. Kitty und Lea sehen sich lange an.

Lea, Kitty und der Flüsterchor

Lea Das kommt aber plötzlich.

Chor (Phonetisch-rhythmische Flüsterkomposition im Hintergrund.)

Kitty Was meinst du, Lea? Bist du dabei?

Lea (Zu Kitty:) Du bist nicht von hier.

In diesem Moment kommen Fritzi und Frantzi herüber, laut kichernd – Peters diabolische Zwillingsschwestern, zwei sehr erwachsene Teenager.

LUKAS UND 6.12. (Premiere) - 8.12.

Das Universum II – Preparing for Defense

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Duett der Zwillingsschwestern Fritzi Da-i. Frantzi Di-a-da.

Kitty und Edgar Hey, träumst du nicht auch, Dein Leben zurückzudrehen Bis zum Tag deiner Geburt? Kitty, Lea, Edgar und Peter Dreh dein Leben zurück. Geh zurück bis zum Anfang. Als die Liebe noch neu war. Neu für dich und für mich. Das weiße Kaninchen – Es zeigt euch den Weg. Fragt Alice, die weiß: Wie man ihm folgt.

Peter Darf ich vorstellen: Meine Schwestern: Die Fritzi, die Frantzi Oder umgekehrt. Fritzi und Frantzi Di-a-da. Di-a-di, di-a, da-i da. Di-a, da-i da.

Kitty, Lea, Edgar, Peter und Chor Hey, träumst du nicht auch, Alles aufzugeben? Dein Leben zurückzudrehen. Bis zum Tag deiner Geburt?

Edgar Lange nicht gesehen: Ihr seht aus wie zwei Feen.

Dreh dein Leben zurück. Geh zurück bis zum Anfang. Als die Liebe noch neu war. Neu für dich und für mich.

Fritzi und Frantzi Ihr braucht etwas Glück. Frantzi und Fritzi Denn dafür sind wir da.

Kitty, Lea, Edgar, Peter Und der Siebenschläfer, Erinnerst du dich – Wie er sagte: Geh. Wirf ein paar Pillen ein. Renn um dein Leben, Gleich ist es vorbei.

Fritzi und Frantzi Wir sind da bei Gefahr. Fritzi und Frantzi Und ihr wollt doch so viel. Ihr braucht etwas Glück.

Chor Da da da Dada da da ...

Frantzi und Fritzi Denn dafür sind wir da. Wir sind da bei Gefahr.

Edgar Aufbruch, Leute.

Fritzi und Frantzi Und der Weg ist das Ziel. Und der Weg heißt Gefahr.

Krachmeyer Was denn, was denn, Das nennt ihr Ausdauer?

Fritzi und Frantzi verschwinden wieder im Gewühl. Quartett mit Chor: Dreh dein Leben zurück! Lea und Peter Hey, träumst du nicht auch – Alles aufzugeben? Dein Leben zurückzudrehen. Bis zum Tag …

Z

hdk

Zürcher Hochschule der Künste

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Krachmeyer versucht, wie ein Karpfen zu sprechen. Er schnappt nach Luft. Der Mund geht auf und zu und verwandelt sich in ein Fischmaul. Die Vokale werden trüber, die Umlaute verschmelzen. Unterwasserakustik. Es fällt euch schwer Auszuharren. Der Strom ruht.

Und ihr laßt euch treiben, Ihr Wurzellosen, Ihr Heimatvergessenen. Chor Dreh dein Leben zurück. Geh zurück bis zum Anfang. Als die Liebe noch neu war Neu für dich und für mich. Krachmeyer Wie haltlos ihr seid. Hört ihr denn nicht, Das globale Tosen? Hört ihr das nicht? Lea Danke, mir reicht es. Edgar Kitty? Kitty Edgar? Lea Peter? Sie schaut ihn erwartungsvoll an. Peter Und wohin geht die Reise? Edgar Stromabwärts, ins Offene. Kitty Stromab ans Graue Meer. Die vier verlassen das Hochzeitsfest. Krachmeyer (Brabbelt leise beiseite:) Niø veræ serviny òarvus-e-la! (Stimmlos geflüstert:). c__ ò_ f____ r__ s_ Er bleibt bis zum Szenenende reglos, starrt vor sich hin. Chor (Stimmlos geflüstert. Übergang in Knarrstimme:) Ah!

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PASSAGE 2 AUF DEM STROM Unterwegs auf der weißen Yacht. Edgar und Kitty, Lea und Peter. Peter liegt am Heck, über die Reling gebeugt. Er prüft das Seil, an dem das Kanu im Schlepptau befestigt ist. Ein Schild taucht auf: »Vorsicht, Karpfen!« Am Ufer steht der Angler. Er macht warnende Zeichen und singt skandierend aus der Ferne. Der Angler am Ufer (Kauderwelsch in einer unverständlichen Sprache:) Tuwa, tuwa! Tuwa uwa tei! Tuwa tei! Tuwa! Feloren ist unfeloren. Tuwa! Unfeloren ist feloren. Peter Da ruft einer.

Tei a dai! ja i ja i dei! Da vorn: Komorn! Tuwa dei, ta dua, wadu tei! Komorn, da vorn! Komorn!

DRITTES BILD DIE VERLASSENE SCHÄNKE IM WALD Es ist Abend geworden, Dämmerung über dem Strom. An einer verschwiegenen Stelle sind die vier an Land gegangen. Im Hintergrund liegt die weiße Yacht vertäut. Zwischen Felsen, im Schatten der Tannen, ein brüchiger Steg. Die verlassene Waldschänke an den Ufern des Mordgrundwaldes. Davor sitzen die vier, in bester Alkohollaune. Vermutlich waren auch andere Substanzen im Spiel. Stunde der Halluzinationen.

Edgar Ich verstehe nur Horror: Da vorn, da vorn. Lea Kormorn, Kormorn. Kitty Oder Hormon? Hormon?

Peter Das ist der Ort, den ich meine. Hier sind wir alleine. Zu viert. Zu zweit.

Peter Wie die Landkarte sagt: Da vorn kommt Kormorn.

Kitty Allein ist man hier lieber nicht.

Man hört etwas wie einen Schuß. Die Paare fahren erschrocken zusammen und fallen sich in die Arme. Dann ist es vorbei.

Lea »Verloren Ist unverloren.«

Lea Was war das denn?

Edgar Klingt wie ein Echo. Unheimlich.

Peter Braune Aue, schwarzer Wald.

Edgar Hinterwäldler, ich sags euch. Sprachlose, grimmige Ureinwohner.

Der Angler am Ufer Tuwa! Tuwa ia dei! Tuwa di ta! Tuwei! Tuwa dua dei! Feloren ist, ta duwa dei! Tai da! Unfeloren.

Kitty Kann sein, wir stören ihn. Edgar Seine blöden Fische.

Kitty Die Hormone spielen verrückt.

Edgar Das fängt ja gut an. Schon betrunken?

Edgar Festhalten, Leute! Volle Fahrt voraus!

Kitty Nicht schießen. Ich bin kein Tier.

Edgar dreht plötzlich voll auf. Peter und Kitty johlen begeistert und lassen sich, eng umschlungen, hinter die Reling fallen. Die Landschaft wird zunehmend unwirtlich.

Peter Die Schönen, die Blonden Begnadigen wir – Die Töchter des Waldes.

Der Angler scheint auf die Yacht-Gesellschaft zu zielen. Lea Der zielt auf uns. In Deckung, Leute! Der Angler am Ufer Komorn, tuwa dei!

Lea Die Wasser sind voller Bilder Aus härteren Zeiten. Ein Film ist das, dünner Film, Der uns von damals trennt. Der immer wieder zerreißt. Langsam wird es dunkel.

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Lea Knochengrube, Todesmarsch. Kitty legt sich auf den Boden, hält die Arme erhoben, wie ein Model beim Photoshooting. Peter baut sich breitbeinig über ihr auf.

Peter Unbefriedigte Leute. Das sind die Hormone.

Peter Versteht ihr, was der sagt?

Edgar Hier ist schon vieles passiert, Und nun passiert es mit uns.

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Kitty Läßt du mich laufen? Peter Steh auf, du kannst gehn.

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Da hört man ein fernes Klopfen: es hallt durch den Wald. Getrappel, brechende Äste. Lea ist aufmerksam geworden. Sie folgt den eigenartigen Geräuschen hinein in den Wald. Lea Arioso Das kommt nicht von draußen. Das ist der Wald im Innern. Und der Wald war die Welt, war die Fal­ le. Da sind sie gefallen, in die Grube gesunken, vergessen von allen. Erde hat sie verschluckt, der Waldboden, der doppelte Boden der Welt. Jetzt lau­ fen sie wieder, sind auferstanden. Kitty Wo ist sie denn, deine Lea?

Peter Bist du die Braut? Kitty Heiß, heiß. Komm schon, Die Braut ist heiß, Und der Bräutigam sturzbetrunken. Nun geschieht etwas, das alle bereuen werden. Kitty und Peter werden intim. Edgar Ich kann euch hören. Vorsicht! Es liegt, Etwas liegt in der Luft. (Edgar fällt hin und bleibt liegen.)

Peter Laß sie wandern. Sie geht durch die grüne Tür.

Peter Du willst es wissen?

Kitty Was macht mein Reh, was macht mein Kind?

Kitty Du etwa nicht?

Kitty und Peter Ich sehe was, was du nicht siehst.

Peter Du bist die Braut.

Edgar Was soll das Gerede? Deine Frau ist verschwunden. Such sie doch, geh ihr nach.

Kitty Wofür steht die Nacht?

Der will was erleben. Es ist so selten, Daß der Mensch was erlebt. Peter greift nach Kittys Fuß und zieht sie zu sich heran. Peter Nichts leichter als das. Kitty Du hast es, Hast es erfaßt. Edgar Greif nur zu. Kitty Kein Blut ist im Schuh. Edgar Ruckedigu. (Er sinkt den beiden zu Füßen, während Kitty und ­Peter handgreiflich werden.) Lea ist unterdessen einer weiteren Spur gefolgt. Aus dem Unterholz tritt der Oberförster, das Gewehr im Anschlag. Ein Flüchtling kreuzt ihren Weg.

Monolog der Wasserleiche Ich bin die Frau aus dem Fluß. Ich war schwanger, Schwanger vom falschen Mann. Und das mitten im Krieg. Im Dorf kannten mich alle. Die Hure, Blutschande. Da ging ich ins Wasser. Schöne Augen hast du, Hat er gesagt. Du hast auch schöne Augen, Die kommen von weither. Mit deinen schönen Augen Schau einfach durch mich durch.

Peter Was hättest du gern?

Der Oberförster Halt, stehenbleiben! Das hier ist mein Revier. Fremdes Wild macht Den schönen Wald krank. Fremdes Wild wird Zur Strecke gebracht. Das nenn ich Hygiene. Ich schütze den Wald Vor fremden Kreaturen.

Kitty Was du dir wünschst.

Der Flüchtling Grenze, ist das hier Grenze?

Peter Teufelsfrau du.

Der Oberförster Ich zeig dir die Grenze.

Edgar (Erhebt sich.) Also dann, also ran … (Sinkt in sich zusammen, rafft sich wieder auf und kriecht auf die beiden zu.)

Die Tote verschwindet in Richtung Fluß. Lea bleibt zurück.

Kitty Nun sind wir schon drei.

Lea muß alles mit ansehen, ohne eingreifen zu können. Währenddessen nimmt der Liebesakt vor der Waldschänke seinen Lauf. Orchestrales Zwischenspiel. Peter, Kitty und Edgar steuern auf den Höhepunkt zu. Da kehrt Lea zurück. Sie ist sich nicht sicher, was hier geschieht.

Kitty (Hat Peter von hinten umschlungen. Sie hält ihm die Augen zu.) Wer bin ich?

Peter Das macht dir nichts aus?

Lea geht unterdessen wie schlafwandlerisch durch den Wald. Eine junge, bleiche Frau, etwa in ihrem Alter, kreuzt ihren Weg.

Peter Du bist nicht Lea? Kitty Kalt, ganz kalt. Peter Bist du es, Edgar? Kitty Wärmer, Schon ziemlich warm.

Peter Und was ist der Brauch? Kitty Kenn ich mich hier aus?

Kitty Das macht ihm nichts aus. Er weiß, ich mag starke Männer, Und ich weiß, er mag sie auch. Edgar Du siehst, es ist nichts, Nichts ist verboten bei uns. Peter Ihr seid mir welche. Kitty Du bist mir einer,

Lea Mir schwimmt, Schwimmt alles davon. (Sie geht umher, betäubt, wie nach einem schweren Unfall.) Habt ihr die bleiche Frau Gesehen, den Flüchtling? Habt ihr den Jäger gesehen? Edgar erhebt sich lemurenhaft langsam. Er umarmt Lea und zieht sie zu den anderen hinab. Edgar Hier ist dein Jäger. Hier ist dein Flüchtling. (Zu Peter gewandt:) Und hier ist deine Frau.

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Peter (Baut sich vor Lea auf.) Das war deine Vision.

Sehr lange geschieht nichts. Spürbar wachsende Ungeduld aller Anwesenden. Keiner ergreift das Wort. Dann endlich …

Lea Das ist keine Vision. Ihr verdammten Karpfen. Wie Karpfen schwimmt ihr Umeinander, ihr drei.

Peters Vater Wir warten.

Im Innern der Waldschänke flackern die Kerzen. In den Fensterhöhlen erscheinen Karpfenköpfe. Sie äugen heraus, langsam öffnen und schließen sich ihre großen Mäuler. Lea, plötzlich nüchtern, zerrt Peter aus der Gruppe fort.

Er gibt der Haushälterin ein Zeichen.

Peter Ein böser Ort ist das. Lea Es ist geschehen. Da war ein Messer – Hast du gesehen: Es ging durch uns durch. Fluchtartig verläßt Lea den Schauplatz. Peter folgt ihr. Kitty Wo wollt ihr hin? Es ist tiefe Nacht.

Peters Mutter Wir warten.

Peters Vater Wir warten auf den Herrn Sohn. (Pause.) Er bringt die Frau mit, Das Mädchen aus Übersee. Peters Mutter Heimwärts über den Strom. Peters Vater An den heimischen Tisch. Frantzi Wir leiden, wir beiden.

Peter Der Fluß hat die Farbe gewechselt, schau an. Das ist nicht mehr die friedliche Dorma. Das ist ein sumpfbrauner Strom, eine satte Schlange, die ihre Beute verdaut. Lea Jetzt werden die Schatten länger. Spürst du, wie alles zur Neige geht? Der Sommer, die Reise, wer weiß – auch die Liebe? Laß uns umkehren – zum Anfang zurück. Peter Das geht nicht. Wir werden erwartet. Lea Was erwartet mich dort? Peter Meine Leute. Ein großer Familientisch. Echte Gastfreundschaft. Lea Echte Wälder, echte Berge – Bei euch ist wohl alles echt. Sogar die Menschen.

Fritzi Du sagst, was ich denke.

Lea und Peter rudern langsam aus dem Bild.

Edgar Laß sie ziehen, Baby. Wir holen sie morgen ein. Edgar und Kitty bleiben in trunkener Umarmung zurück.

Frantzi Sie denkt, was wir sagen. Krachmeyer Also bitte: Keine Albernheiten. Peters Mutter Wir sind gespannt. Ob Peter die Uhr dabei hat.

GROSSE PAUSE

VIERTES BILD DIE VERSCHLOSSENE STADT AM STROM TEIL 1 DIE VILLA AUF DEM HÜGEL Ein Abend in Peters komfortablem Elternhaus. Das große Speisezimmer erstrahlt im Lüsterglanz. An einer langen Tafel sitzen Peters Eltern, die Zwillinge Fritzi und Frantzi und Krachmeyer, der Hausfreund. Eine Haushälterin steht bereit zum Servieren der Speisen.

Kaserne

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Peters Vater Die goldene Armbanduhr. Peters Mutter Geschenk zum Namenstag. EINSCHUB – PASSAGE 3 AUF DEM STROM Während die Tischgesellschaft weiter wartet, sieht man Lea und Peter im Kanu noch unterwegs auf dem Strom.

29.11.–9.12. Zirka Zirkus mit Martin Zimmermann, Compagnie Ici’Bas, Klub Girko, Nina Wey, Cirque Inextremiste, Julien Auger & Mikkel Hobitz u.a.

Krachmeyer (Ist an das Panoramafenster herangetreten und schaut gedankenvoll hinaus in die Nacht.) Pünktlichkeit, das war gestern. Auf nichts ist Verlaß. Sie kommen und gehen, Nichts bindet sie. Heute Dorma, morgen Dubai, Das weiß nicht, wohin es gehört. Ich, heißt es, immer nur ich, Aber wer ist dieses Ich In Großbuchstaben? Ich, ich, ich. Ortlos treibt das dahin, treibt Seine schlauen Geschäfte. Und kümmert sich nicht Um die Lage daheim. Heimat, was ist das Für diese Überflieger? Plötzlich stehen Peter und Lea in der Tür. Sie beobachten die Gesellschaft. Zwei Wanderer nach langer Reise, Hand in Hand. Alles erstarrt für einen Moment. Peters Vater gewinnt als erster die Fassung.

12.12. Propagandagespräche von Boris Nikitin Macht und Verwundbarkeit III mit Christian Weissgerber und Vera Lengsfeld 13.12. Sophie Hunger

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Peters Vater (Er nähert sich Lea und Peter mit großer Geste.) Willkommen im Abendland. Willkommen bei uns daheim. Peters Mutter Ganz abgemagert Schaut ihr aus. Ihr müßt doch hungrig sein. Peters Vater und die Zwillinge Jetzt wird gegessen, Anständig und viel gegessen. Krachmeyer Gut essen, Was will man mehr? Peters Mutter Anständig essen. Krachmeyer Der Mensch ist, was er ißt. Unsere Kultur kommt Aus den Eingeweiden. Guten deutschen Eingeweiden. Die Haushälterin springt hin und her. Alle (ausser Peter und Lea) Essen, essen. Und kräftig Trinken. Kauen und schlucken. Nichts übriglassen – Ein Opferfest.

Fritzi und Frantzi Die Buchteln, die Nockerln –

Fritzi Auf die ist Verlaß.

Frantzi und Fritzi Die Strudel, der Topfen.

Peters Vater Auch in der Politik! Jeder Schuß ein Genuß.

Peter Schmeckt es dir nicht? Lea Ich kann nicht mehr. Peters Vater und Peters Mutter Wer nicht mehr kann, fängt gerade erst an. Krachmeyer Wie ich immer sage: Ein schwacher Magen – ein krummer Geist. Den Kostverächter mag keiner bei Tisch. Peters Vater erhebt sich, geht beschwingt um den Tisch. Er holt aus dem Waffenschrank die schönsten Stücke hervor, zeigt sie herum: Jagdgewehre, Pistolen, ein altes Maschinengewehr. Die Haushälterin übernimmt und serviert wie selbstverständlich die Waffen. Peter Willst du uns alle erschießen? Peters Mutters Wünschen die Herren Dessert?

Allgemeine fröhliche Karpfenhaftigkeit.

Fritzi Einen Vorderlader mit Creme.

Peters Mutter Mehlspeisen gibt es, So viel ihr wollt.

Frantzi Einen Damenrevolver, bitte, Mit Mohnflammerie.

Lea Mir ist alles recht. Darf ich mich setzen?

Fritzi Eine Kalaschnikow mit Zimt Und Kirschen serviert.

Frantzi Setzt euch, setzt euch.

Peter Vater Wir Sportschützen sind Rechtschaffene Leute.

Fritzi Der Tisch ist gedeckt. Lea macht nach wenigen Bissen schon schlapp.

Frantzi Die ruhige Hand –

Frantzi Und jeder Schuß sitzt. Fritzi Bis das Kalbsbries spritzt. Lea Ich hätte gern Wasser. Man versinkt allgemein in ein karpfiges Schmatzen. Draußen erhebt sich während dessen ein Tumult. Volksansammlung. Aus der Ferne hört man die Stimme des Redners. Eine große Menschenmenge johlt. Peters Vater (Schwankender Singsang:) Herrje, diese Ungeduld. Kann das nicht warten Bis nach dem Dessert? Fritzi (Mit karpfiger Stimme:) Das ist der Schleim. Frantzi (Mit karpfiger Stimme:) Der Schleim in den Kehlen. Krachmeyer Mit Verlaub, Hier irren die Fräulein. Gesang und Geschrei, Davon versteht etwas, Wer komponiert. (Allgemeiner Beifall in der Runde.) Das ist das Volk, wie es lebt. Das Volk ist nicht bequem. Das wahre Volk schreit Seine Meinung heraus. In Sprechchören röhrt es: hört! Das paßt sich nicht an, Das kennt auch den Haß, Wie es die Angst kennt, Die berechtigte Sorge Um den eigenen Stamm.

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Allbewandert, unbewandert, Hochstädtisch kommt, Unstädtisch zu nichts er, Wo das Schöne mit ihm ist Und mit Frechheit. So ungefähr …

Peters Vater und Peters Mutter Schade nur, schade, Daß es Leute gibt, Die nachtragend sind.

Peters Vater Und da heißt es: Unfaßbar! Da jammert die Presse – Peters Mutter Und lügt wie gedruckt.

Lea »Zeit ist vergangen, Aber nicht viel.«

Peters Vater faßt sie beim Arm.

Krachmeyer steht auf, erhebt das Glas zum Toast. Peters Vater geht auf ihn zu, überreicht ihm feierlich eines seiner Jagdgewehre. Allgemeine Ergriffenheit. Peter dirigiert die Tischgesellschaft und schießt ein Familienfoto.

Peters Vater Einmal muß Schluß sein.

Krachmeyer Dem Volk juckt das Fell – Der gebildete Bürger Wendet sich indigniert ab.

Peters Mutter Jetzt ist es genug

TEIL 2 AM HISTORISCHEN MARKTPLATZ

Peters Vater Laßt die Vergangenheit –

Eine große Volksmenge hat sich auf dem Marktplatz versammelt. Ans Podium tritt der Demagoge. Die Stimmung ist volkstümlich aufgeheizt, unzufrieden bis aggressiv. Man ist sich einig gegen einen abwesenden Feind: die Anderen, die Antifanten, das ungreifbare System, das alle entfremdet. Eine namenlose Angst stachelt die Gemüter auf. Lea hat sich unter die Leute gemischt und lauscht.

Die junge Leute wollen aufstehen. Peters Mutter So bleibt doch bei Tisch. Sie gibt der Haushälterin ein Zeichen. Entsetzt bemerkt Lea die auf- und zuschnappenden Münder der Familie. Peter versucht die Tischgemeinschaft zusammenzuhalten.

Peters Mutter Laßt sie in Ruh. Peters Vater Manchen quält sie noch.

Lea Mir ist kalt.

Peters Mutter Manchen beißt sie, aber –

Peters Mutters Die Mehlspeisen wärmen. Die Nockerln, die Nudeln, Die Brandteigkrapfen.

Peters Vater Wir beißen doch nicht.

Peters Vater Das Beste kommt doch erst. Jetzt kommt das Dessert. Fritzi Die Krapfen, die Krrpfn... Frantzi Die K…K…K…Krrpfn. Peter Sie stopfen das Maul. Sie machen dich träge, Sie setzen dich matt. Peters Vater und Peters Mutter Unsere heimische Küche: Wer sie verschmäht, was Verschmäht der noch alles? Lea Ich vertrage viel, Aber alles vertrage ich nicht.

Chor (Phonetisch-rhythmische Schreikomposition verschmilzt mit dem Großen Solo des Demagogen. Die Chormitglieder, Wesen mit Karpfenmäulern, recken ihre Fischköpfe in die Luft.) Der Demagoge (Trägt einen Karpfenkopf. Mit Stentorstimme:). Guten Abend, Patrioooten! Landsleute! Demokraaten! Anwohner des großen Stroms.

Krachmeyer Wir sind keine Krokodile. Lea Peter, du tust mir leid. (Sie steht auf, geht entschieden ab.)

Die vielen O’s hallen bedrohlich über den Marktplatz. Frantzi und Fritzi schwimmen um den Tisch herum, sie singen im Karpfenton, während Peters Eltern tafeln, als wäre nichts vorgefallen. Peter beginnt demonstrativ zu schmatzen. Krachmeyer (Der kräftig gebechert hat, in karpfenmäßiger Laune:) Welche Leidenschaft! Die Frau hat ein Feuer. Wie sagt der Chor Der schweinischen Alten? Unke, unke, ungeheuer Ist vieles, doch nichts Feuriger als der Mensch. Und Pontos salzverklebte Natur, Der kundige Mann Fängt mit Künsten das Wild,

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Alles fließt, wir aber stehen hier Fest an der Heimatfront. Heimatliebe ist, was uns eint. Wir sagen Nein, sagen Nun, sagen Na. Nahe ist, nahe die Nacht, Da die Dämme brechen. Die Mehrheit hat lange geschwiegen, Aber die Bedrohung ist da, Liebe Feunde, sie ist da. Struppiges Fremdvolk Hat die Heimat, die Hai-maat, Die heinzligen Ufer überfluutet.

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Aber das hier, Das ist stärker. Ihr seid die wahre – Die wahre Gemeinschaft. Die gemeinste Gemeinschaft, Die Wach- und Schließgemeinschaft.

Die alten Stämme, Unsere heiligen Dämme Werden geflutet. Massen kommen: Terroristen, Schmarotzer, Als Asylanten, Migranten getarnt, Dringen in unsere Gärten ein, Verwüsten die schönen Fluren.

Leas Mutter Ich bin so müde, Will zurück ins Hotel. Lea Eure Müdigkeit Macht mich verrückt.

Lea streift aufmerksam zwischen den Menschen umher. Krachmeyer Seht den erhabenen Strom: Wir wollen ein Land, Wir wollen ein Heim, Und das soll rein sein, Nicht wie Wüstensand. Das sind wir uns schuldig, Uns und den Kindern, Unseren Kindern, Kindern und Kindeskindern. Daß ich das noch erleben darf. Der Strom erwacht. Die Fluten sagen: Wir sind wieder wer.

Unser Land löst sich auf Wie ein Stück Seife Unterm Wasserstrahl. Großes Solo des Demagogen Aber nun ist es soweit: Wir sagen, was jeder denkt. Wir tun, was jeder will, denn wir sind die Mitte. Wir klären den Sud. Flutrinne sind wir Gegen die Schwemme. Nicht nur von außen kommt, Auch von innen Gefahr! Die alten Eliten, Termiten, Sie unterwandern den Staat.

Ein wilder Applaus brandet auf. Der Chor (Phonetisch-rhythmische Schreikomposition, kurz und knapp.)

Der Chor Fauler Zauber, wir sind sauber. Wir sind weiß, strahlend weiß.

Die Fernsehreporterin Große, allgemeine Erregung. Der man sich kaum entziehen kann. Ein historischer Moment. Ich schalte zurück ins Studio. Hallo? (Sie nestelt an ihrem Headset.) Hallo, hallo? Sendehaus? Hallo? Hört ihr mich? Sendehaus? Hallo? Alles so hohl.

Der Demagoge Als dunkel gilt, was wir denken. Der Chor Wir sind weiß, wir sind rein – Der Demagoge Und gelten als Dunkelland Dunkelland, Dunkelland. Auftritt der Fernsehreporterin. Sie kommentiert das Geschehen.

Lea Die Kälte der Mäuler Bringt mich um. Kein Trost mehr, nur Haß. Keiner, der trauert. Kein Gedenken. Alles zerreißt.

Leas Vater Nun bist du da, Lea, Da, wo alles geschah. Lea Nun bin ich hier. Das ist mein Land. Leas Mutter Zurück ins Hotel. Please! Kingsize-Betten, Komfort und Kissen. Leas Vater Mutter, ich bitte dich: Laß unsere Tochter jetzt nicht im Stich. Leas Eltern verschwinden, wie sie gekommen sind. Auftritt Peter. Er ist aufgebracht. Peter So geht das nicht: So einfach aufzustehen, Wortlos fortzugehen. Meine Eltern sitzen da Und sind außer sich. Lea Ich hab mich getäuscht. Peter Wie denn? In mir? In dir? Lea Was willst du von mir? Sag schon! Das hier ist schlimm. Und du weißt es.

Die Fernsehreporterin Historische Stunde. Die Populisten machen mobil. Und die Prominenz ist dabei. Soeben tritt der Komponist Krachmeyer auf, Staatspreisträger und Vorbild für viele. Er ergreift das Wort, es wird still unter den zornigen Volksgenossen.

Halluzination Lea: Plötzlich sind da die Eltern. Fliegendes Paar: Sie schweben durch die Menge auf ihre Tochter zu.

Peter So sind sie nun, meine Leute.

Krachmeyer Ich spreche zu euch als Freund: Man will euch mundtot machen.

Leas Vater So geht das, Lea. Was hab ich gesagt?

Lea Dreitausend Jahre Denken – Und dann das? Dann das?

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Lea macht sich aus Peters Umarmung los. Er hält sie fest. Es kommt zum Handgemenge – bis Peter Lea mit einem Flossenschlag niederstreckt. Sie bleibt am Boden liegen.

FÜNFTES BILD DER LETZTE RUDERCLUB Ein warmer Nachmittag. Sonnenplattform. Edgar und Kitty sitzen lässig in Lehnstühlen, Ausspannen am Landesteg. Kitty genießt die Sonne. Man sieht ein Schild mit der Aufschrift »Ruderclub Dorma«. Kitty Schrecklich, Wie verspannt ich bin. Eine Massage, bitte. Du weißt, wie das geht. Edgar (Folgt ihrer Bitte und macht sich geistesabwesend an ihr zu schaffen.) Alles schläft. Sogar die Zeit Hat sich schlafen gelegt. Kitty Etwas härter bitte, tiefer. Ja, so, ja. Genau da. Edgar Seit Tagen tut sich nichts. Der Strom ist wie aus Blei. Kitty Mhmm. Ja. Ah. Du machst das gut. Edgar Wir treten auf der Stelle. Kitty (Gedankenverloren:) … auf der Stelle. Edgar bricht plötzlich ab, greift zum Handy. Keine Verbindung. Edgar Hallo, hallo? Unfaßbar. Das ist das letzte Loch hier Vor der Grenze.

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Kitty Braucht ihr Hilfe? Anhalten, sofort anhalten!

Kitty Es gibt keine Grenzen mehr. Edgar Nur Grenzen zur Zukunft … Kitty rekelt sich demonstrativ in der Sonne. Aus der Ferne weht ein Gesang herüber, der langsam näher kommt. Die beiden lauschen, zunehmend gebannt.

Peter Verflucht sei dieses Land! Verflucht diese Leute! Das Kanadische Kanu verschwindet. Man hört noch Peters Gesang, immer leiser werdend.

Arioso Verflucht sind wir, Verflucht sind wir alle. Wir alle!

Peter Verflucht ist das Land, verflucht sind die Leute. Ich fluche, verfluche euch! Selber verflucht schon im Uterus.

Kitty rennt am Ufer entlang, dem Kanu nach. Edgar holt sie ein, hält sie fest.

Das Kanadische Kanu treibt vorüber. Lea sitzt hinten und paddelt, vor ihr Peter in steifer Haltung, kerzengerade. Er ist nackt und gefesselt. Etwas Furchtbares muß geschehen sein.

Kitty Die treiben da hinter Glas, Sind schon woanders.

Verflucht Mutters Kuchen, verflucht sei der Vater, der die Mutter besamt hat. Verflucht, verflucht.

Edgar Laß sie ziehen. Die kommen nicht weit In ihrer Nußschale.

Kitty Hörst du, was ich höre? Edgar Da ist ja das wilde Paar.

Kitty Ein Scheusal bist du.

Hat wieder zum Handy gegriffen. Endlich Verbindung. Ein Anruf, sehr wichtig. Peter Verflucht sei die Küche, Der Kuhstall Familie. Und die Heimat, die gute. Edgar Sorry, ich geh da mal ran. Die Geschäfte rufen. Peter Auch der Fluß ist verflucht. Verflucht unserer Reise. Das Boot unserer Liebe Ist an der Heimat zerschellt.

Challenge my fantasy – more Labor-Festival zur Erkundung virtueller Theaterformen

Edgar Lea, hey! Peter, hey hey! Wo wollt ihr denn hin? Zum Eisernen Tor? Bis ans Graue Meer?

Edgar Und wo wärst denn du Ohne mich? Sicher – Längst auf dem Strich. In den Fluten bewegt sich etwas. Eine Leiche hat sich im Schwemmholz verfangen. Kitty Da treibt was. Mensch oder Tier? Sie bricht einen Weidenzweig ab, nähert sich dem Körper und berührt ihn. In diesem Moment geht von der Kreatur ein lautes Summen von vielen Stimmen, das sich mit dem Flügelschlag unzähliger Wesen in die Luft erhebt und in der Ferne verklingt.

16.– 20. Januar 2019 Abschlusspräsentation: 20. Januar 2018 | 16.00 Uhr


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Edgar Gräßlich. Diese Wasser … Wie ich sie hasse, Ich hasse Natur. Kitty Eine Welt ist das Aus Sumpf und Morast. Eine Welt, in die niemand Uns eingeladen hat. Edgar (Wütend wie ein Kind:) Verdammt, bin ich hier Auf der falschen Party? Ein Donnergrollen – nun erhebt sich der lange angekündigte Sturm. Der Himmel verfinstert sich. Die Landschaft wird schlagartig dunkel. Nun beginnen die Wasser zu steigen. Kitty (Starrt auf die steigenden Wasser:) Als Kinder zog uns Der Fluß ins Vertrauen. Krebse fingen wir, Krebse, Mit bloßen Händen, feuerrote, Frische Flußkrebse – und ich Hatte einen Eimer dabei, Einen kleinen Eimer aus Blech. Edgar Ende der Kindheit, Süße. Eine Flutwelle kommt. Die vertäute Yacht wird fortgerissen. Edgar Die Grenze ist überschritten. Kitty Spürst du das auch? Wir sind – sind wir Als Opfer bestimmt? Edgar Zerstörung pur ist sie, Deine grandiose Natur. Kitty und Edgar Wir haben es weit getrieben. Wir haben Verbotenes Land betreten.

Dunkle Materie Notizen zur Blindheit

Der Landesteg wird von den Wassern fortgerissen. Das Rauschen wird stärker. Ein bedrohliches, von Stimmen durchzogenes Rauschen. Edgar Du ödest mich an. Alles wolltest du, Hast alles bekommen. (Höhnisch:) Tu Buße, tu Buße du. Kitty Du bist verrückt. Ein Arschloch bist du. Wieder setzt heftiger Sturm ein. Die nächste Flutwelle kommt. Kitty Wir sind am Ende. Wir können nur warten. Edgar Ich will nicht warten. Nur Schwächlinge warten. Kitty Langsam untergehen. Edgar Ich gehe nicht unter.

Kitty Was bleibt von uns? Edgar Ich wills nicht wissen. (Schaut auf sein Handy.) Keine Nachricht. Die machen mich schwach. Das Wasser tritt über die Ufer. Bis ihnen Hören und Sehen vergeht. PASSAGE 4 AUF DEM BREITEN STROM Die Nacht ist hereingebrochen. Lea und Peter treiben im Kanu stromabwärts, immer weiter nach Osten. Peter ist noch immer gefesselt. Lea Dich hab ich geliebt. – Den furchtlosen Mann, Den coolen Typen, Der zupacken kann. Peter Ich fühle mich elend. Etwas stimmt nicht mit mir. Binde mich los. Ich werd dir nichts tun. Lea bindet den steifen Gefährten los.

Kitty Man läßt uns hier sterben. Edgar Jeder hat seine Angst. Die behält er für sich. Sie stehen starr vor Schreck, schauen hinaus in die Nacht. Teile des Festlandes bröckeln ab, verschwinden in den Fluten. Entsetzt weichen sie zurück. Edgar (Er legt die Hände um den Mund, ruft laut etwas Unverständliches, wie der Angler am Ufer. Er wartet.) Kein Echo. Nur tote Natur. Kitty So willst du sterben? Edgar Du meinst: krepieren.

von und mit O-Team

23. — 24.11.2018 12. — 15.12.2018 Theater Rampe

Lea Stark war mein Großer, Jetzt fehlt ihm der Mut. Sie haben dich kleingekriegt. Peter (Kratzt sich am ganzen Körper.) Etwas stimmt nicht, Etwas stimmt mit mir nicht. Lea Du bist frei. Niemand hält dich. Peter (Reibt sich die Arme, die Handgelenke.) Laß uns schwimmen. Ich fühle mich schlecht. Laß uns schwimmen. Die Welt verschwimmt Vor meinen Augen.

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stück

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Joël Pommerat DIE WIEDERVEREINIGUNG DER BEIDEN KOREAS Hörspielproduktion SR 2016 25./26.12..2018, SWR2

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.de

Lea Freiheit: Wer wird sie Ertragen, wenn sie erscheint? Peter Die Sterne über uns Und die Sterne im Strom – Alles kehrt sich zuunterst. Ich kann nicht mehr weiter. Kräfte sind da, stärker als wir. (Peter richtet sich auf. Er erschrickt vor der eigenen Verwandlung. Das Kanu schaukelt und dreht sich im Kreis.) Peter Fisch muß schwimmen. Kommst du nicht mit? Lea Nun ist es vorbei. Es ist aus. Peter hat jetzt mit seinem Körper zu kämpfen. Peter (Er sieht sich nach ihr um.) Magst du nicht schwimmen? Lea (Schweigt.) Die Schmerzen sind unerträglich. Peter stürzt sich kopfüber ins Wasser. Lea schaut ihm lange noch nach. Ruhe, endlich Ruhe.

SECHSTES BILD DIE WEIDENINSEL Nacht mit Vollmond. Sphärische Musik schwebt über allem. Das Wasser steigt unaufhaltsam, aber in größter Ruhe. Leas Kanu treibt auf die Weideninsel zu. Langsam zieht sie das Boot ans Ufer. Lea Arie Es rauscht in den Bäumen – Und sieh an: Ich bin Dieses Rauschen der Bäume. Ich sage mir: Regen, Und sieh an: Ich bin Dieser herrliche Regen.

Die Wasser schäumen, Weil ich es so will. Ich bin dieses Schäumen. Hey! Ruf ich In die Wälder hinein, Und aus den Wäldern Ruft es zurück. Der Sinn von Politik Ist Freiheit. Ihr werdet sie hören, Wenn die Wasser sich lösen. Die Ufer im Strom verschwinden Der Tag wird kommen. Jetzt, Herrlich, jetzt geht es los.

Aber und aber und wenn, Und wenn schon und aber Und wenn schon und doch. Wenn dann …

Rückblende: Durch das Weidengestrüpp sieht man den Zug der Deportierten, Zwangsarbeiter, Lagerhäftlinge auf dem Fußmarsch, von bewaffneten Gestalten in schwarzen Uniformen eskortiert.

Und aber und aber Und wenn schon und aber Und wenn schon und doch.

ALLES WAHR

Hört die Gemeinheit nie auf? Die Hetze, das Hassen? Das ewige Grauen. Erloschene Asche, ach, In den Flüssen entsorgt Von den Regen gelöscht, Menschenasche, die nichts Und niemand bewahrt. Verscharrt unter Birken, In Gruben und Gräben, Unter Buchen verscharrt. Hier war es, hier und hier: Das Gefühl, wir durchstreifen Ein altes Mörderrevier. Vergeßliche Wasser, aber Warum die Menschen Schneller als alle Wasser Vergessen und Hassen, Weiß keiner Zu sagen, keiner.

Komm, sag ich: Komm! Und alles regt sich, bewegt sich. Komm! Und der Strom Schwillt ungeheuer an. Hey! Ich sag: Komm! Und schau an: Er tritt über die Ufer.

Chor Das ist er nun also, Der entfesselte Strom: Das große Vergessen.

Wenn schon die Wasser nie Halten, die Wassermassen Nichts im Gedächtnis behalten – Warum nicht zumindest Die Menschen an ihren Ufern?

Lea Ins Freie treten, Unter die tiefschwarzen, Planetarischen Himmel. Furchterregend, Das ist er: Der Strom Zeigt sein wahres Gesicht. Der Chor verstummt. Übrig bleibt Leas Stimme. Die große Orgel setzt ein – unendlich leise, aber mächtig wie ein riesiger summender Bienenschwarm. Lea Sie nennen es Mythos: Ihre schwarze Geschichte. Sie raunen von Schande, Und verlieren die Scham, Weil Schuld sie erschlägt. Komm, großer Strom, Komm, Wald aus Weiden, Macht reinen Tisch hier.

Uraufführung von Daniel Di Falco / Theater Marie ab 11.1.2019 Theater Tuchlaube Aarau

THEATER MARIE

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durs grünbein_die weiden

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Den Weg des Wassers gehen, Den Weg der Winde … Ich kam wie der Wind, Ich kam wie das Wasser, Und so werde ich gehen. Lea verschwindet. In der Ferne Hubschrauber. Richtscheinwerfer beleuchten Ausschnitte der überschwemmten Flußlandschaft.

EPILOG AM SCHAUPLATZ Die Fernsehreporterin (Ist sich nicht sicher, ob sie auf Sendung ist. Hektisch spricht sie ins Mikrophon, dramatische Moderation:) Starke, anhaltende Regenfälle … Was? Hallo Studio … Wo? Am Ober- , nein Unterlauf, ja! Der Dorma, der Dorma! Massive Überschwemmungen. Land unter, Land unter. (Sie krümmt sich, räuspert sich heftig.) Was? Ja, Wasser. Die schlimmsten Hochwasser Seit Jahrzehnten in der Region! Bei einer der Weideninseln, Ja, Weiden – wurde soeben Ein Paar gefunden, beide leblos! Die Behörden sprechen Auch von zwei Vermißten, Bootswanderern. Bei den Weideninseln. Ja, Weiden! Nicht Viehweiden, Bäume. Im »Land der Verlassenheit«. Eingeschlossen von Wasser. Was? Wasser! Nicht ausgeschlossen, daß … Hallo, hallo? Hallo, Studio? Der Komponist Krachmeyer wird groß auf dem Bildschirm eingeblendet. Krachmeyer Ein alter Fluch liegt Auf diesem Land. Man mache sich klar: Da ist ein Strom, Den schon die Römer Kaum halten konnten. Die Fernsehreporterin Verzeihung, Herr Professor, Daß ich Sie unterbreche.

Es geht hier um Menschen – Ja, Menschenleben. Sie kannten, so heißt es, Die jungen Leute persönlich.

Geschah, geschah. (Er beginnt, sich am ganzen Körper zu kratzen. Der Rest geht unter in karpfenhaftem Schmatzen.) Was geschieht da mit uns?

Krachmeyer (Verliert die Beherrschung:) Man stelle sich vor: Tag für Tag das Gebarme Um diese Flüchtlingsströme! Aber nichts, absolut nichts Hat die alte Regierung getan Für den Hochwasserschutz! Ein Verbrechen ist das Gegen das eigene Volk.

Fernsehreporterin Eben kommt die Meldung: Eine Frau wurde geborgen. Eine Ausländerin, heißt es. Für die Angehörigen: Eine Person Ende zwanzig, Schlank, braunes Haar. Sie sang, als man sie fand.

Die Fernsehreporterin Und den Angehörigen, was Haben Sie denen zu sagen? Krachmeyer Laßt alle Hoffnung fahren. Man hat die eigenen Bürger Einfach aufgegeben. Junge Landsleute in Not, Nicht irgendwelche Migranten, Die Blüte Europas. Es ist eine Schande.

Man sieht Lea im Hintergrund am Ufer kauern, erschöpft. Lea Sie sang, die junge Frau. Sang. (Sehr ruhig:) Man hat sie gefunden, Während sie sang.

ENDE

Jetzt erscheinen auch Peters Eltern auf dem Bildschirm, flankiert von den Zwillingen Fritzi und Frantzi – in Tränen aufgelöst. Peters Eltern Kannst du uns hören Da draußen, Sohn? Fritzi und Frantzi Bruderherz, Herzensbruder. Die Fernsehreporterin »Zwei Menschen noch immer Vermißt«, sagt die Polizei. Helfer und Suchmannschaften Tun hier ihr Bestes, Aber keiner der Politiker, Keiner der Neugewählten Will sich der Kamera stellen. Das Traurige ist: Wir wissen Zur Stunde noch nicht, Was genau da geschah. Krachmeyer (Äfft sie nach:)

© Suhrkamp Verlag Berlin 2018

Künstlerhaus Mousonturm Dezember 2018 #STILLLOVINGTHEREVOLUTION Frederic Rzewski The People United Will Never Be Defeated! 1.12. / Nature Theater of Oklahoma & EnKnapGroup Pursuit of Happiness 6.–8.12. / andcompany&Co. Invisible Republic: #stilllovingtherevolution 13.–15.12. Carolina Mendonça Pulp – History as a warm wet place 8. & 9.12. / ScriptedReality & Pirat*innen der Schwarzen Null Fluch der Akribik 14.–16.12. / Fabrice Mazliah Manufactured Series: Duett #1 17. & 18.12. Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main GmbH, Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt/Main

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Magazin Widerstand und Wiedergänger Unter dem Motto „Volksfronten“ positioniert sich der steirische herbst in Graz unter der neuen Leitung von Ekaterina Degot konsequent gegen rechts  Der Ölwert der Demokratie Das internationale Theaterfestival Unidram lud zu seinem 25. Jubiläum in die Potsdamer Schiffbauergasse ein

Obwohl der Tee längst getrunken ist Das TheaterFest des Agora Theaters im belgischen St. Vith  Geschichtsschreibung in kleinen Buchstaben Die Internationale Theaterplattform in Bukarest  Ausweitung der Konfliktzone Das Festival Divadelná Nitra in der Slowakei  Satiriker in der EU-Förder-Dystopie Die freie Theatergruppe Qendra Multimedia organisierte als Flaggschiff des kosovarischen Theaters ihr erstes Festival  Geschichten vom Herrn H. Das Balkontrauerspiel  Ein Kämpfer für die revolutionäre Bühnenkunst Über Erwin Piscator anlässlich seines 125. Geburtstages  Zwischen Abschied und Erwartung Zum Tod des Schauspielers Horst Schulze  Bücher Janina Audick und Chantal Mouffe


magazin

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Widerstand und Wiedergänger Unter dem Motto „Volksfronten“ positioniert sich der steirische herbst in Graz unter der neuen Leitung von Ekaterina Degot konsequent gegen rechts „Der Nationalsozialismus war in Österreich

nur stellenweise schlüssig ins Programm.

1960er Jahre aufzulehnen. Das ist mit Blick

1945 nicht zu Ende. Im Gegenteil. Er lebte

Allein die Essayperformance „Situation mit ­

auf die aktuelle Tendenz zur politischen

weiter.“ Im esc medien kunst labor steht der

ausgestrecktem Arm“, eine kluge, wenn auch

­Reaktion in Österreich ein nachvollziehbarer

Umfragen zufolge wichtigste Komponist der

nicht mehr ganz neue Auseinandersetzung

Ansatz. Doch es konfrontiert die einschlägig

Gegenwart und trägt seinen „Monolog für

mit der Geschichte des Hitlergrußes von Oliver

Interessierten mit Langeweile und Déjà-vus.

Graz“ vor – einen sehr persönlichen, politi-

Zahn / Hauptaktion (entstanden 2015, drei

Das interdisziplinäre Kunstkollektiv NSK

schen Text, den das New Yorker Ensemble

Jahre vor Chemnitz), schließt direkt an die

(Neue Slowenische Kunst), bestehend aus

Talea in sprechende Klänge übersetzt. Mikro-

Leit­motive des Festivals an. In der Musikper-

Laibach und den Konzeptkünstlern IRWIN,

tonalität ist die wesentlichste Charakteristik

formance „Land der Musik“ verfremdet Chris-

etwa hat in der Murstadt schon ein paar weit-

der Musik von Georg Friedrich Haas – doch in

tian von Borries historisch belastete Klassiker

aus subtilere Arbeiten produziert, der Kon-

seiner Rede regieren keine Zwischentöne.

der österreichischen Musiktradition (von Wie-

zeptkünstler Hans Haacke provozierte 1988

Haas ist ein Nachkomme von Angehörigen

ner Klassik bis Wiener Walzer) per Computer­

mit seiner Innenstadtinstallation „Und ihr

der Nazi-Elite, seine Abrechnung ist radikal

programm und konfrontiert sie mit unver-

habt doch gesiegt“ die real existierenden

und radikal subjektiv. Dennoch trifft er mit

fälschten Kompositionen von Opfern des

Geister der Vergangenheit bis zur Brandstif-

dieser Fortsetzung seiner letztjährigen Fest­

NS-Regimes (Erich Wolfgang Korngold, Erwin

tung, später hat sich (neben anderen) ein

rede zum 50. Jubiläum des Festivals den

Schulhoff): eine ebenso plumpe wie künstle-

Jochen Gerz intensiv im öffentlichen Grazer

Kern der diesjährigen Dramaturgie des stei­

risch unbefriedigende Versuchsanordnung.

Raum an der NS-Vergangenheit abgearbeitet.

rischen herbstes: Unter dem Titel „Volks­

Den unbestrittenen Publikumsrenner

Degots partielle Ignoranz der jüngeren

fronten“ stellt sich die neue Intendantin

des Festivals bot ein Heimspiel des Grazer

Grazer Geistesgeschichte spielt unfreiwillig

­Ekaterina ­Degot konsequent gegen rechts,

Theaters im Bahnhof: „Hier War Ich Noch Nie

denjenigen in die Hände, die sie gerne revi-

insbesondere gegen das Erbe des National­

– eine Taxichoreografie“ versammelte große

dieren wollen: Seit die FPÖ in Graz mitregiert,

sozialismus. Am Grazer Hauptplatz ist ein

Erzählungen über die Stadt, indem es die Zu-

versucht sie, die 1960 von Künstlern, Wis-

Container zur Entsorgung von NS-Relikten

schauer in Dreiergruppen auf Taxisonderfahr-

senschaftlern und Kulturschaffenden gegrün-

aufgestellt: ­Yoshinori Niwa garantiert mit sei-

ten schickte. Das schlichte, aber bestechen-

dete Aktionsgemeinschaft Forum Stadtpark,

ner Installation „Withdrawing Adolf Hitler

de Konzept: Der Fahrer bestimmt die Route

in deren Umfeld 1968 der steirische herbst

from a Private Space“, dass alles, was die

und entführt seine Gäste auf eine nächtliche

entstand, zu marginalisieren. Dabei geht es

Grazer dort de­ponieren, vernichtet wird. Am

Reise durch sein Leben, seine Stadt.

nicht um das konkrete Programm, sondern

Dach der ­Ar­beiterkammer verkündet die ZIP

Der Erfolg gerade dieser Arbeit ist be-

vielmehr um den Veranstaltungsort im Herzen

group mit e­inem monumentalen Schriftzug

zeichnend. Mit der in Russland geborenen

der Stadt, der ein Symbol ist für das Graz-

„Smrt fašizmu, sloboda narodu“ (Tod dem

Bildende-Kunst-Kuratorin Degot und ihrem

Narrativ einer lebendigen Kulturstadt, die aus

Faschismus, Freiheit für das Volk) – eine

Team verantworten Menschen das Festival,

dem Widerstand gegen die Ewiggestrigen

jugosla­ wische

die Abstand haben zu Graz, zumeist auch zu

gewachsen ist. Dass sich die FPÖ dieser ­

Österreich. Ihre Beschäftigung mit der Stadt

­para­doxen Komplizenschaft bewusst ist, darf

macht Hoffnung auf neue Perspektiven, den-

bezweifelt werden. Sie fordert bereits, die ­

noch wirkt in diesem herbst vieles „retro“.

­öffentlich fi ­ nanzierte Budgetierung des Festi-

Partisanenparole

aus

den

1930er ­Jahren. Der öffentliche Raum wird intensiv bespielt, auch als Versuch, Unbeteiligte zu ­ adressieren. Niederschwelligkeit ist das zen­

Eröffnet wird mit einer Stadtwande-

vals zu hinterfragen. Es gehe nicht um die

trale Motiv: Es gibt keine Einzeltickets, nur

rung des „legendären“ Bread and Puppet

ideologische Ausrichtung, sondern um einen

einen Festivalpass, den aber für wohlfeile 29

Theater sowie der „Sound of Music“-Inter-

sparsamen Umgang mit Steuergeldern. Es ist

(reduziert 23) Euro, was sogleich andere

pretation der einstmals retroavantgardisti-

zwar kaum damit zu rechnen, dass dem stei-

Zugangsschwellen schafft. Das szenische ­

schen Band Laibach. Irritierend daran ist

rischen herbst und seiner Finanzierung da-

Programm tritt in den Hintergrund, fügt sich

weniger der vermeintlich waghalsige Sprung

durch unmittelbar Gefahr droht, aber wenn

in die künstlerische Zukunft der Vergangen-

der Boulevard – wie im Falle des Forums –

heit als der Umstand, dass sich das Pro-

mitspielt, kann daraus ein ernsthafter Ver-

gramm auch in der Folge an vielen Stellen

such werden, Stimmung gegen das Festival

geriert, als knüpften die Kuratoren direkt an

zu machen. Dann könnte der herbst eine Szene,

die ersten Versuche an, sich in Graz gegen

die hinter ihm steht, gut brauchen. //

Der öffentliche Raum wird intensiv bespielt, auch als Versuch, Unbeteiligte zu adressieren – Hier Roman Osminkins „Putsch (After D. A. Prigov)“. Foto Mathias Völzke

den subkutanen Nazismus der 1950er und

Hermann Götz

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Der Ölwert der Demokratie Das internationale Theaterfestival Unidram lud zu seinem 25. Jubiläum in die Potsdamer Schiffbauergasse ein

Neun Tage lang brillierte die 25. Ausgabe des

Edward Hopper auf, um intime Momente

internationalen Theaterfestivals Unidram als

ohne Worte darzustellen. Die einzelnen Sze-

Kunst als Kartoffeldruck – „Demokratie“ des russischen Kollektivs Akhe.

grenzenüberschreitende

Zukunftswerkstatt

nen ergeben kurze Geschichten, die wie ge-

Foto Alexander Kazanskiy

für freie Theatermacher. Und schuf damit

malt wirken und zugleich vor Lebendigkeit

eine Plattform für zeitgenössisch-visuelles

trotzen. Ebenso bemerkenswert war das Expe-

Theater, die sich über zehn Spielstätten in

riment „Deep“ von Daan Mathot. Gefangen in

der Deutschlandpremiere von „Game Chan-

der Potsdamer Schiffbauergasse erstreckte.

einer tief im Boden verankerten Box, verwirrt

ger“ vom Aura Dance Theatre. Die Gruppe um

Unidram, das 1994 als studentische Initiati-

der Künstler seine Zuschauer mit optischen

Choreografin Birutė Letukaitė fragt darin

ve begann und in den ersten Jahren eine Mi-

Effekten, Gegenstände fliegen von unten

nach dem Geist der Freiheit und verbindet

schung aus studentischem und freiem Thea-

nach oben, die Schwerkraft und damit die

schwarz-weiße geometrische Figurinen (Kos-

ter war, konzentrierte sich laut Festivalleiter

Realität ist mittels eines Spiegels buchstäb-

tüme Guda Koster), die an Oskar Schlemmers

Jens-Uwe Sprengel ab seiner fünften Aus­

lich auf den Kopf gestellt.

„Triadisches Ballett“ erinnern, mit klassi-

gabe ganz auf freies Theater. Ursprünglich

Die revoltierenden Bilderwelten der

schem und zeitgenössischem Tanz. Dabei ver-

geht das Potsdamer Festival auf eine Idee der

Künstler bewegten sich zwischen Illusion und

knüpft Letukaitė streng-kontrollierte Bewe-

Theatergruppe DeGater’87 zurück, die die

Wirklichkeit und verschmolzen genreübergrei-

gungen mit der einengenden Struktur der

allererste Ausgabe mit ihrer Inszenierung ­

fend Ästhetiken zu einer Einheit, oftmals mit

Kostüme, bis die Bewegungen der Tänzerin-

„Jelisaweta Bam“ von Daniil Charms eröf­ ­ f­

politischem Inhalt wie beispielsweise die Per-

nen und Tänzer immer dynamischer werden,

nete, erzählt Sprengel, der neben Franka

formance „Demokratie“ von Akhe. Das russi-

sie also förmlich revoltieren und sich schließ-

Schwuchow und Thomas Pösl zu den Initiato-

sche Künstlerkollektiv (Maxim Isaev, Pavel

lich aus der farblosen Kleidung befreien.

ren von Unidram gehört.

Semchenko, Nick Khamov), hier als Bäcker

Insgesamt erzielte das neuntägige Fes-

Dieses Jahr feierte das Theaterfestival

kostümiert, schnitzt auf drei geschlossenen

tival in seiner 25. Ausgabe eine erfolgreiche

nun sein 25. Jubiläum. Die Kuratoren Schwu-

Ölfässern sitzend die Buchstaben des Wortes

Bilanz. Die Zuschauerzahlen, sagt Organisa-

chow, Pösl und Sprengel haben aus knapp

„демокра’тия“ (Demokratie) in Brotlaibe. An-

tor Sprengel, seien mit insgesamt etwa 4000

fünfhundert Bewerbungen und mit einer

schließend öffnen die drei Performer die Fäs-

Besuchern sehr viel höher gewesen als in den

Förderung von 190 000 Euro ein Festival­ ­

ser und tauchen ab in 159 Liter Öl. Mit Öl als

Jahren zuvor. Die 26. Ausgabe wird vom

programm mit 16 Experimenten aus elf euro-

Farbersatz und den Brotlaiben als Stempel

29. Oktober bis zum 2. November 2019

päischen Ländern zusammengestellt. Zu sehen

kreieren sie später zehn Bilder mit je einem

stattfinden. Sprengel hofft für die Unidram-

waren Arbeiten, die besonders visuell beein-

Buchstaben des Wortes Demokratie, die unter

Zukunft auf „neue kreative Räume“. So kön-

druckten, unter anderem von den Künstler-

Beachtung des aktuellen Ölpreises als Unika-

ne er sich beispielsweise Kunsträume vorstel-

gruppen Akhe (Russland), Aura Dance Thea-

te (Öl auf Leinwand!) an sieben Zuschauer

len, die Ausstellung und Performance unter

ter (Litauen) und Teatro Koreja (Italien).

verkauft werden.

Einbeziehung von Freiflächen mit multimedi-

Teatro Koreja greift in seiner Inszenie-

Weniger politisch, aber zutiefst philo-

rung „Frame“ die magischen Bildwelten von

sophisch wurde das Festivalprogramm mit

alen Installationen verbinden. // Sabine Schmidt


magazin

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Obwohl der Tee längst getrunken ist Das TheaterFest des Agora Theaters im belgischen St. Vith ruft dazu auf, sich in schwierigen Zeiten wieder der eigenen Handlungsspielräume zu vergewissern Die Welt ist in einem schlechten Zustand. Darüber bedarf es im Theater keiner Aufklärung mehr. Beim 29. TheaterFest des Agora Theaters im belgischen St. Vith werde ich als Zuschauerin daher vielmehr dazu angeregt, endlich selbst aktiv zu werden, für die Welt, für das Theater und für mich nach einem Ausweg zu suchen. Programmatisch in diesem Sinne war bereits die Eröffnungsvorstellung: „Axe“ von und mit Agnès Limbos (Cie Gare Centrale) und Thierry Hellin (Une Compagnie). Ein älteres Ehepaar, zwei Plutokraten, sitzt im Ambiente aus besseren Tagen am Tisch und versucht Haltung zu bewahren, obwohl der Tee längst getrunken ist und sie sich nichts mehr zu sagen haben. Draußen tobt Krieg. Sie igno-

Annika Serong), der sich kein Zuschauer ­

rieren, was außerhalb ihrer bröckelnden Wän-

entziehen konnte.

Und draußen tobt der Krieg – „Axe“ von und mit Agnès Limbos (Cie Gare Centrale) und Thierry Hellin (Une Compagnie).

de passiert. Schreie einer Vergewaltigung

Eine etwas andere Form der ästheti-

sind zu hören, doch werden sie von den bei-

schen Machtkritik zeigte das Collectif Mensu-

den durch Erinnerungen an bessere Zeiten

el und Cie Pi 3, 1415 mit „Blockbuster“: „ein

überspielt. Dennoch: Irgendwann erfasst der

parodistisches Theater-Film-Stück über die

Krieg auch die beiden Alten, und sie „wer-

Gewalt der herrschenden Klasse, zusammen-

ler über seinen persönlichen Werdegang als

fen“ Bomben in Richtung Publikum. Von ei-

gestellt aus 1400 Sequenzaufnahmen aus

Maler erzählt, sich Gedanken über die Höh-

nem internationalen Gericht wegen Kriegsver-

160 Hollywoodfilmen“, über die per Live-Syn-

lenmalerei macht und darüber räsoniert, was

brechen und Menschenrechtsverletzungen

chronisation ein neues „Drehbuch“ gelegt

aus unserer heutigen Zeit überdauern wird.

angeklagt, bekennen sie sich nicht schuldig.

wird. Es geht um Korruption, Steueroasen, die

Nach ihrer Deutschlandpremiere am

Dieses absurde Spiel am Rande des Abgrunds

Verfolgung einer Enthüllungsjournalistin und

FFT Düsseldorf im Januar 2018 erlebte auf

meistern die beiden Darsteller mit der Genau-

die brutale Niederschlagung eines Volksauf-

dem Theaterfest die Inszenierung „Animal

igkeit, mit der sie ihr sinnentleertes Tun auf

stands – eine Räuberpistole à la Hollywood

Farm“ des Agora Theaters (nach George Or-

der Bühne behaupten, auf dem Seil der Erin-

mit tieferer Bedeutung, die von den „Syn-

well in der Regie von Felix Ensslin; siehe TdZ

nerungen buchstäblich tanzend.

Foto Alice Piemme

chronsprechern“ selbst auf der Bühne mit Ge-

05/2018) nun auch ihre französischsprachi-

Zwei Inszenierungen nutzten Filme als

räuschen und Musik unterlegt wird. Neben

ge Premiere. In dieser Collage, die die Ge-

Vorlage für eine harsche Kapitalismuskritik.

dieser artistischen Glanzleistung bereitet vor

schichte der Revolutionen in Wort und Bild

„Allegorien der Macht“ bildet mit Original­

allem die Tatsache den Zuschauern Vergnü-

neben- und übereinander-„klebt“, wird auch

fotos vom Set eine „szenische Reflexion“ zu

gen, dass berühmte Hollywoodstars plötzlich

die Arbeitspraxis des Agora Theaters selbst

Pier Paolo Pasolinis Film „Die 120 Tage von

in ganz neuen Kontexten zu agieren scheinen.

kritisch überprüft. Für das freie Ensemble ist

Sodom“. Die Autoren Gabriella Angheleddu,

Ein anderes Beispiel für das Zusam-

diese Inszenierung von großer Bedeutung.

Karl-Heinz Dellwo und Fabien Vitali teilen

menspiel der Künste im Theater bot das

1980 in St. Vith im Kontext der 68er Bewe-

Pasolinis Position, dass der personifizierte ­

­Foule Théâtre. In der Inszenierung „Comme

gung als deutschsprachiges Theater gegrün-

Faschismus in der Villa von Salò in unseren

la pluie“ empfängt der Maler Philippe Léonard

det, wollte und will es auch heute den Finger

Tagen als Konsumterror auftritt, alle Le-

die Zuschauer in seinem Atelier. Er malt ein

in die Wunden der Gesellschaft legen. Mit

bensbereiche und somit auch uns be-

Bild, das er fortwährend verändert, ergänzt,

dieser intensiven, prägnanten Adaption der

herrscht. Sie verfassten zu den Fotos einen

übermalt. Stets scheint es fertig zu sein, aber

„Animal Farm“, die an die Stelle der Befrei-

aktuellen Kommentar, eine eindringliche

mit wenigen Strichen erschafft er ein neues.

ung des Menschen seine Überwindung in der

Montage aus Bild, Text und Pasolini-Zitaten

Gespannt verfolgen die Zuschauer die Entste-

Selbstoptimierung setzt, ist dies der Gruppe

(vorgetragen von Matthias Weiland und

hung eines Kunstwerkes, während der Künst-

gelungen. //

Christel Hoffmann

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magazin

Vor

einhundert

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Jahren

wurde die Republik Rumänien gegründet, ein Staat aus vielen Ethnien, Sprachen und Religionen, dessen und

Zusammenhalt

Geschichtsschreibung in kleinen Buchstaben

Beteiligten liefert eine andere Wahrheit der Geschichte – bestraft die Aufrechten und belohnt die Lügner. Die anrührendste Erzählung aber

Identitätsfindung

ist die eines sehr jungen

nicht ganz einfach war.

Paares, das von einem

Zum runden Jubiläum

Polizisten gegeneinander

gab es die üblichen Fest-

ausgespielt wird, um ei-

lichkeiten und Selbst­

nem Drogenhändler auf

versicherungen, was die

die Spur zu kommen. Trotz

Leiterin der Internationa-

Freiheit und EU, so wird da

len Theaterplattform in

suggeriert, sind die alten

Bukarest, Cristina Mo­

Securitate-Methoden im-

dreanu, veranlasste, dem

mer noch nützlich.

offiziellen

eine

Die sonstigen Ar-

„Geschichtsschreibung

Pomp

beiten zur Lage der Nati-

in kleinen Buchstaben“

on reichten bei weitem

entgegenzusetzen.

Sie

nicht an die Trilogie her-

wollte kleine Geschichten

an. Da gab es die „Bucha-

erzählen, in denen sich

rest. Human Installation“

die große Geschichte wi-

von Radu-Alexandru Nica

derspiegelt. „Auch wenn

nach einem Konzept von

ein Diktator seine verdiente Strafe findet, geht das normale Leben erst einmal weiter“, sagt sie. „Die Menschen mögen triumphieren oder ängst-

Einhundert Jahre vereintes Rumänien: Während der Staatsfeierlichkeiten erkundet die Internationale Theaterplattform in Bukarest die Lage des Privaten

Florin Fieroiu, die sicher politisch brisant, aber formal arg dilettantisch war. Oder „Rumänisches Journal“ von Carmen Lidia Vidu, das benachteiligten

lich sein – sie ziehen

Frauen das Wort gab und

trotzdem ihre Kinder groß,

die jeweiligen Aussagen

verlieben sich oder werden krank. Das wollen

Zuschauer sind sofort auf seiner Seite. Ande-

mit passenden Videoschnipseln unterlegte. Das

wir zeigen.“

re Geschichten sind existenzieller, so die des

erinnerte doch sehr ans politische Dokumentar-

17-jährigen Mädchens, das schwanger ist und

theater der siebziger Jahre, das nicht umsonst

Das Kernstück ist die „Trilogie der ver-

schwundenen Jahre“, eine melancholisch-­ von der Familie gequält wird. „Mein Freund

ausgestorben ist.

lakonische Spiegelung des Privaten im Politi-

steht vor der Tür“, sagt sie, „lasst ihn doch

Aber dann war da noch „Oh Europa“ der

schen der Jahre 1989, 1996 und 2007. Die

herein!“ „Nein, da ist niemand“, sagt die

Gruppe Action Hero. Das Duo aus Bristol fuhr

Aufführung von Peca Ştefan (Autor) und Ana

­Familie und übergießt sie mit Schnaps. Zwi-

mit seinem Wohnwagen sechs Monate lang kreuz

Mărgineanu (Regisseurin) vermittelt durch das

schendurch werden Nummern aufgerufen,

und quer durch die EU. Die Menschen, die sie

Innere des privaten Narrativs sehr gut auch die

Zuschauer verlassen den Saal und kommen

dabei kennenlernten, forderten sie auf, ein Lie-

Dringlichkeit des äußeren Historischen im Le-

nach einiger Zeit zurück – sie haben etwas

beslied zu singen. 750 Aufnahmen haben sie

ben der Nation. Alle Mitarbeiter des Theaters

erlebt, das wir nicht wissen dürfen, vielleicht

gesammelt, so auch in Bukarest, und die wollen

wurden nach ihren Erinnerungen an das jewei-

waren sie bei der Securitate oder sie haben

sie an ausgewählten Orten, ihren „Bacons“, ab-

lige Jahr befragt. Aus diesen Geschichten setzt

das Theater besichtigt. Es ist ein Prinzip der

spielen, ob jemand zuhört oder nicht.

sich das Stück zusammen, nur sind sie auf

Regisseurin, dass nicht jeder alles sieht, erlebt,

Ein erster Versuch mit der Hälfte des

unterschiedliche Personen verteilt.

erzählt bekommt. Die Inszenierungen sind sehr

Repertoires soll in einer Galerie in Madrid

Es beginnt jedes Mal mit einer Szene,

sorgfältig gearbeitet, die Schauspielerinnen

stattfinden. Und das am 29. März 2019, dem

die im Theater spielt. Bei „1989“ geht es um

und Schauspieler hervorragend, sie locken das

Tag, an dem das Vereinigte Königreich die

einen Kleindarsteller, der nicht bis zum

Publikum auf geradezu magische Weise emotio­

Europäische Union verlässt. //

­Applaus geblieben ist und sich nun den Vor-

nal und mental in das Geschehen hinein.

würfen des Intendanten ausgesetzt sieht. Er

Auch der dritte Teil, das „Verlorene

verteidigt sich damit, dass niemand ihn ver-

Jahr 2007“, vermischt private Geschichten

misst, weil seine Rolle so klein ist, und er

und historische Fakten zu der Erkenntnis, dass

Freitagabend immer um 22 Uhr in die Phil-

beide ihre Abgründe haben. Eine Dreiecks­

harmonie geht, um das Konzert zu hören. Alle

geschichte mit „Rashomon“-Effekt – jeder der

Renate Klett

Wo die Aufrechten bestraft und die Lügner belohnt werden – „Verlorene Jahr 2007“ von Peca Ștefan (hier mit Silvana Mihai und Ștefan Lupu). Foto Bogdan Catargiu


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/ TdZ  Dezember  2018  /

Im Herbst 1992 wurde in der Slowakei, noch vor der Eigenständigkeit der Slowakischen Republik, das erste internationale Theaterfestival in priva­

Ausweitung der Konfliktzone

losophischen

Sog

ent­

wickelnden Plot kann man sich indes nicht entzie­ hen, selbst wenn die Thea­ termittel einfach wirken. „Stalker“

knüpft

ter Initiative gegründet.

lose an das bislang ambi­

Dass für den Ort des Fes­

tionierteste Projekt von

tivals nicht die Haupt­

Divadelná Nitra an, als

stadt, sondern das eine

2013 Theater aus sechs

Autostunde von Bratis­

Ländern zusammenkamen,

lava entfernte Nitra ge­

um unter dem Titel „Paral­

wählt wurde, lag unter

lel Lives“ die jeweiligen

anderem im dort gerade

Geheimdienstgeschich­

eröffneten Theaterneubau

ten ihrer Länder und de­

begründet, der neueste

ren oftmals mangelnde

Technik auch für große,

Aufarbeitung zu verhan­

anspruchsvolle Inszenie­

deln. Nitra wurde zum

rungen bot. Außerdem

Schauplatz eines thea­

war man noch ein Stück­

tralen Befunds der jün­ge­

chen weiter weg von den

ren Vergangenheit Ost­

Wiener Festwochen, die

mit­teleuropas, mit enormer

den „Osten“ damals al­

Beachtung des interna­

lerdings noch gar nicht

tionalen Feuilletons (sie­

entdeckt

hatten

und

auch erst nach und nach ihr heutiges Format ent­ wickelten. Diese geogra­ fisch-kulturelle Lage war

Das Festival Divadelná Nitra in der Slowakei erweitert seine Ost-West-Austauschplattform für Rabih Mroués Entgrenzungen

auf jeden Fall ein Vorteil

he

auch

„Recherchen

112: Parallele Leben / Parallel Lives“, erschie­ nen bei Theater der Zeit). In

diesem

Jahr­

gang stand der libanesi­

für den Start in einem Feld neuer Festivals im

auf die Schippe nehmende Theater-Mocku­

sche Theatermacher und Aktivist Rabi Mroué

gesamten ostmitteleuropäischen Raum, zu

mentary von Kristóf Kelemen und Bence

im Fokus. Für Nitra eine neue Perspektive, für

dem man im Vergleich die Leipziger euro-

­György Pálinkás. Aus dem eigenen Land findet

Kárová geradezu notwendig, einen Künstler

scene mit ähnlicher Ausgangslage und Aus­

man dazu Produktionen jenseits der Staats­

wie Mroué in die theatrale Auseinandersetzung

richtung heranziehen kann.

theater wie „Stalker“ vom Teatro Tatro, eine

mit einer insgesamt eher europäischen Kon­

Die bis heute in die weite Theaterwelt

Site-specific-Arbeit in einer stillgelegten Kaser­

fliktzone aufzunehmen. In der Lecture-Perfor­

schauende Gründungsdirektorin Darina Kárová

ne am Rand von Nitra nach dem Roman von

mance „Sand in the Eyes“ hinterfragt Mroué

verteidigt aus diesem Grund den Standort ge­

Arkadi und Boris Strugazki beziehungsweise

seine Funktion als Künstler im Westen. Mit

gen alle Hauptstadtbegehren in der insge­

dem Film von Andrei Tarkowski. Für dieses

seiner mittlerweile sieben Jahre alten Perfor­

samt nicht ganz so zentralistischen slowaki­

Science-Fiction-Szenario, das von einer Welt

mance ohne Schauspieler „33 rpm“ stellt er

schen Theaterlandschaft. Was das internatio­

erzählt, in der Schatzsucher wie der Protago­

die Frage der Dissidenz im arabischen Raum

nale Theater betrifft, bleibt Divadelná Nitra

nist Roderic Schuchart in sogenannten Zonen

aus verschiedensten Perspektiven, unter ande­

der Hauptakt. Gewiss auch, weil sich das

nach den Überbleibseln außerirdischer Tech­

rem an die Hoffnungen erinnernd, die den Ara­

Festival nicht allein nach Hits der internatio­

nologie fahnden, hat Ondrej Spišák in einem

bischen Frühling ursprünglich kennzeichne­

nalen Szene strecken will, sondern nun schon

Armeezelt mit Platz für nur sechzig Zuschau­

ten. Man würde meinen, dieses Thema ist in

mit der 27. Ausgabe unter Károvás Leitung

er eine geradezu physische „Stalker“-Zone

Nitra peripher, jedoch nur auf den ersten

weiterhin seine eigene Programmatik aus

mit Nebelgranaten und Lichteffekten gestal­

Blick. Divadelná Nitra holt die Thematik in die

Entdecken, Austausch und Weitergeben ver­

tet. Er geht der Frage nach, inwieweit der

eigenen Kontexte des ostmitteleuropäischen

folgt. Ein Großfestival wird es nie sein, umso

Mensch dazu bereit ist, alles für die Erbeutung

Theaters hinein, und das ist anschlussfähig. //

genauer können die Antennen auf der mittle­

einer besonderen Ressource, hier die rätsel­

Thomas Irmer

ren Ebene ausgerichtet sein, von der dann

hafte Beute der Schatzsucher, zu opfern –

später die Großen ernten – und ja auch die

persönlich, für Geld oder für andere, den wis­

dort gezeigten Künstler durchaus profitieren.

senschaftlichen Fortschritt etwa oder eine

Ein Beispiel dafür ist die „Ungarische

dunkle Macht. Spišáks Schauspieler, denen

Akazie“, eine den benachbarten Orbánismus

man zentimeternah ­zuschaut, spielen das fast

und seine nationalen Symbole frisch und frech

wie Bauerntheater – dem allmählich sogar phi­

Eine den Orbánismus frech auf die Schippe nehmende Theater­Mockumentary – „Die ungarische Akazie“ von Kristóf Kelemen und Bence György Pálinkás. Foto Ctibor Bachrat

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Satiriker in der EU-Förder-Dystopie

Die freie Theatergruppe Qendra Multimedia organisierte als Flaggschiff des kosovarischen Theaters ihr erstes Festival Mann heiratet Mann? – In der homophoben Gesellschaft in „55 Shades of Gay“ von Jeton Neziraj sorgt diese Nachricht für fröhlichen Zündstoff. Foto Jetmir Idrizi

Prishtina. Ein Neubaublock am Rand der Alt-

und wieder bleibt unklar, zu welchem Anteil

stadt. Die grüne Farbe an dieser dreißig Jahre

darin Freude, Sarkasmus und tiefste Bitter-

alten Wohnmaschine ist verwittert, an einigen

keit steckt. „Zwei Schauspieler stiegen wäh-

Stellen abgeplatzt, als wollte die Natur ein

rend der Proben aus. Einer von ihnen hatte

Camouflage-Muster auf die Fassade malen. In

sich anfangs durchaus wohlgefühlt, weil er

den 1990er Jahren waren die Einkaufspassa-

annahm, der Hauptprotagonist Agamemnon

gen auf der Rückseite des Wohnblocks der

sei ein serbischer Kommandeur, der Kriegs-

Multimedia im Oktober erstmals ein kleines

Hotspot der Jugend Prishtinas. „Punks und

verbrechen begeht. Als er jedoch mitbekam,

Festival. Vier eigene Produktionen sowie ein

Heavy-Metal-Fans hielten sich hier den gan-

dass Agamemnon eher Albaner ist, ging er.

Gastspiel albanischstämmiger Schauspielstars

zen Tag auf. Wir tauschten CDs, hatten unse-

Und so begannen die Gerüchte, dass im

aus Frankreich waren zu sehen.

re Bars. Manchmal schloss die Polizei die

Natio­naltheater ein antinationales Stück auf-

Aus Nezirajs Feder stammten „55

Tore und zog prügelnd durch die Räume“,

geführt werde“, berichtet Neziraj. Die Organi-

Shades of Gay“, „Peer Gynt aus Kosovo“, ­

erzählt Arif Muharremi und lacht. Es ist

sation der Kriegsveteranen rief zum Boykott

„Die Heuchler oder Der englische Patient“

schwer zu deuten, ob ihn die fröhliche Erin-

der Premiere auf. Es gab sogar Morddrohungen.

sowie „Ein Theaterstück mit 4 Schauspielern

nerung an die eigene Jugend überwältigt, das

Neziraj, einige Jahre selbst Leiter des Natio-

ein paar Schweinen ein paar Kühen ein paar

Lachen einen bitteren Ton hat wegen der ein-

naltheaters, knickte jedoch nicht ein. Und am

Pferden einem Ministerpräsidenten einer

gesteckten Prügel durch die (serbische) Poli-

Ende löste das Stück eine Debatte über die

­Milka-Kuh und ein paar einheimischen und

zei oder er zugleich die alten und neuen

Bewertung des Krieges aus. Sogar die Kriegs-

internationalen Inspektoren“. „55 Shades of

Schwierigkeiten von Europas jüngstem Staat

veteranen wurden zu einer anderen Art der

Gay“ und das „Theaterstück mit 4 Schauspie-

verlachen möchte. Muharremi gehört zu Qen-

Auseinandersetzung verleitet. „Sie verfassten

lern …“ wurden von Blerta Neziraj als wilde

dra Multimedia, einer Theatergruppe, die seit

eine Theaterkritik und setzten ihre Namen

Komödien mit zahlreichen musikalischen Ein-

Jahren ihr Domizil in den Kellergelassen des

darunter“, sagt Neziraj, und dieses Mal ist

lagen insze­niert. „55 Shades of Gay“ spiegelt

grüngefleckten Neubaublocks hat.

sein Lachen vor allem heiter.

die Reaktionen einer homophob eingestellten

Hier produziert die Crew um den Dra-

In diesem Kontext aus Tabubrüchen,

Kleinstadtgesellschaft auf das Ersinnen eines

matiker Jeton Neziraj beachtliche und auch

Anfeindungen und gesellschaftlichen Lernpro-

italienischen Investors, seinen Geliebten hei-

beachtete Arbeiten. „Bordel Balkan“ etwa,

zessen operiert Qendra Multimedia. Für enga-

raten zu wollen. Eine poetische Ebene wird

eine im letzten Jahr im Nationaltheater in

gierte Theatermacher ist dies eine traumhafte

durch den Baum vor dem Rathaus eingeführt,

Prishtina herausgekommene Adaption von

Position. Und deshalb pilgern auch immer

der das ganze Treiben beobachtet.

Aischylos’ „Orestie“ auf kosovarische Verhält-

wieder Journalisten, Kuratoren und Dramatur-

Nichtmenschliche Figuren, dieses Mal

nisse. „Wir hatten einige Probleme bei dieser

gen nach Prishtina. Um diesen Kennenlern-

Tiere, eröffnen auch im „Theaterstück mit 4

Produktion“, erzählt Jeton Neziraj lachend –

prozess zu vereinfachen, organisierte Qendra

Schauspielern …“ einen surrealen Raum.


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/ TdZ  Dezember  2018  /

Hier wird im Schlachthof namens Tony Blair darum gerungen, Kosovo anstelle der BrexitBriten in die EU zu bringen.

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Das Balkontrauerspiel

Das komplexe Verhältnis Kosovos zur EU ist ein Hauptthema Nezirajs. Es ist gekennzeichnet von hohen Fördersummen aus Brüssel, der Korruption der eigenen Elite so-

„Es lebe das Neue, es lebe die deutsche

brüchen nicht viel mitbekommen haben.

wie der EU-Administratoren. Der eklatanteste

Republik!“ Mit diesen Worten wandte sich

Aber so ist es gedacht.

Fall betraf den Deutschen Jo Hanns Trutsch-

der SPD-Politiker Philipp Scheidemann am

„An die Stelle der Souveränität der

ler. Von etwa vierhundert Millionen Euro Hilfs-

9. November 1918 vom Balkon des Lese-

Staaten tritt hiermit die Souveränität der

geldern, die in den Aufbau eines maroden –

zimmers des Reichstags an die zu seinen

Bürgerinnen und Bürger. Die konstitutionel-

und auch nach der Geldspritze nur schlecht

Füßen versammelten Massen. Nur kurz dar-

len Träger der Europäischen Republik sind

funktionierenden – Kraftwerks gehen sollten,

auf trat Karl Liebknecht vom Spartakus-

die Städte und Regionen.“ Souveränität der

zweigte er 4,5 Millionen auf ein Konto in

bund auf den Balkon des Berliner Schlos-

Bürger selbst? Sicher kann man sich politi-

­Gibraltar ab. Er wurde 2005 in Bochum zu

ses: „In dieser Stunde proklamieren wir die

scher Freiheitsrechte selbst vergewissern,

dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

freie sozialistische Republik

so rein gedanklich, aber ga-

Deutschland.“

Neziraj malt aber auch gern die Aus­

Bekanntlich

rantieren kann man sie eben

einandersetzungen der Normalbevölkerung mit

wurde die Äußerung Scheide-

nicht – und enden würde

der EU-Bürokratie als Kafka-Parcours aus.

manns Realität. Und Lieb-

­solche Selbstvergewisserung,

Dieser Blick von der Peripherie aus ist gerade

knecht wenige Monate später

wo sie willkürlich eingeschränkt

für Kerneuropa spannend, wenngleich Regis-

ermordet in den Landwehrka-

wird. Jeder kämpft für sich

seurin Blerta Neziraj gelegentlich zu häufig die

nal geworfen, zusammen mit

allein, das ist die Folge sol-

Klischees der vitalen, regellosen und hoch mu-

Rosa Luxemburg. Was also ist

cher nur behaupteten Souve-

sikalischen Balkanbevölkerung bedient.

die Bedingung, dass aus der

ränität der Einzelnen. Und

Ihr Einfluss war auch bei der gemeinsa-

einen Balkonrede eine Staats-

was Städte und Regionen

men Regie mit Agon Myftari in der neuesten

wirklichkeit wurde – und aus

jetzt so viel besser als Staa-

Produktion „Die Heuchler oder Der englische

der anderen nicht? Damals

ten machen sollte, wäre auch

Patient“ deutlich zu spüren. Hier geht es um

war es eine Frage der materi-

illegalen Organhandel. Opfer ist ein syrisches

ellen Gewalt: Die Niederschlagung von

Was also mag eine Proklamation be-

Flüchtlingsmädchen, Profiteur – neben einhei-

­Novemberrevolution, Dezemberkämpfen und

zwecken, deren Programm zwar reißerisch

mischen Privatkliniken – eine EU-Beamtin.

Spartakusaufstand waren die blutigen Weg-

ist, sich aber gedanklich eher auf dem Ni-

Myftaris eher konventionelle, dabei

steine zur Weimarer Republik. Die Worte

veau einer Sandkastenhochzeit bewegt?

aber zu großer poetischer Kraft findende Re-

von den Balkonen waren Teil eines großen

Eine reale Änderung der Verhältnisse offen-

giehandschrift machte „Peer Gynt aus Koso-

gesellschaftlichen Konflikts – und wurden

bar nicht. Das legt auch der geplante Kata-

vo“ zum besonderen Erlebnis. Peer ist ein

auch als solche verstanden.

log nahe, der die Aktion dokumentieren und

interessant zu wissen.

abgelehnter Asylbewerber in Schweden, der

Denn sagen kann man bekanntlich

der auf der nächsten Buchmesse präsen-

erst eine kriminelle und dann eine islamisti-

viel, nur wird nicht alles als allgemeingültig

tiert (also verkauft) werden soll. Und auch

sche Terrorkarriere einschlägt. Die Inszenie-

anerkannt werden – das unterscheidet eine

die eifrigen Verkünder der Europäischen

rungen sind für vier bis sechs Schauspieler –

standesamtliche Trauung von einer Sand-

Republik wurden auf Honorarbasis ent-

und damit tourfähig. „Bordel Balkan“, die

kastenhochzeit. Das sollte man auch in Be-

lohnt, als freie Kulturdienstleister. Das sich

Kosovo-„Orestie“, ist es mit ihrem 13-köpfi-

zug auf die Ausrufung einer Republik im

so ergebende Gesamtbild ist symbolhaft:

gen Cast eher nicht. Sie gehörte daher auch

Blick behalten. Auf die Ereignisse von vor

Von den Balkonen der Theater lassen die

nicht zum Festivalprogramm. Im nächsten

hundert Jahren bezieht sich das von der Po-

engagierten Linksintellektuellen mit Phra-

Jahr möchte Neziraj auch andere Theater-

litikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und

sen über Europa ausgeschmückte Luft-

kompagnien des Kosovos auf der Festival-

dem Schriftsteller Robert Menasse zusam-

schlösser verkünden, von denen man sich

plattform präsentieren.

men mit dem Theatermacher Milo Rau initi-

am Ende nur eine Wirklichkeit erhofft: eine

Qendra Multimedia selbst ist im Aus-

ierte European Balcony Project. Am 10.

symbolische, vielleicht auch noch monetä-

land bereits gut vernetzt. Stark sind die Ver-

November wurde von den Balkonen zahlrei-

re, aber keine gesellschaftliche. Dieses Ge-

bindungen im ehemaligen Jugoslawien, auch

cher europäischer Theater die Europäische

schäft mit der Moral fügt sich aber nur um-

dank des Literaturfestivals Polip. Es holte erst-

Republik ausgerufen. Der Europäische Rat

standsloser in eine Welt, die schon längst

mals nach dem Krieg serbische Autoren in Ko-

wurde für abgesetzt erklärt. Dem Europäi-

jedes Maß der Moral gesprengt hat, wenn es

sovo – und brach damit ein weiteres Tabu.

schen Parlament wurde die alleinige gesetz-

nur dem Profit dient. Ein Trauerspiel auf

Vertiefte Zusammenarbeit wird es in einem

geberische Gewalt zugesprochen. Sie mö-

den Balkonen der Theater. //

Dreijahresprojekt mit der Schweiz, genauer:

gen sich jetzt vielleicht wundern, dass Sie

den Theatern Winkelwiese in Zürich und dem

von diesen geradezu weltbewegenden Um-

Schlachthaus Bern geben. //

Tom Mustroph

Jakob Hayner

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/ TdZ Dezember 2018  /

Als im Jahre 1929 – nur wenige Tage vor dem Sturz der Aktienkurse an den Börsen – Erwin Piscators Buch „Das politische Theater“ erschien, waren dort die eigenen Erfahrungen bei der Schaffung einer revolutionären

Bühnenkunst

zur

Theorie gebündelt. Programmatisch war die von dem Bauhaus-Lehrer

Ein Kämpfer für die revolutionäre Bühnenkunst

­eigene Geschichte, fünf Jahre war er für seine Beteiligung an der Münchner Räterepublik inhaftiert gewesen. Piscator setzte in seinen Inszenierungen auf technische Neue­ rungen, den Einsatz von Video und motorisierter Drehbühne zum Beispiel. Rasante Montagen unter Verwendung von Text, Musik, Film,

László Moholy-Nagy gestaltete Um-

Fotografie, Sport finden sich auch

schlagcollage: Einerseits eine Mas-

in seinen KPD-Revuen „Revue Roter

se von Menschen mit Fahnen, Teil

Rummel“ und „Trotz alledem!“.

der

Weltbewe-

Schnell sein, wendig sein, alle Mit-

gung. Andererseits eine Konstruk­

tel nutzen – diese Tugenden des

tion aus Elementen wie Treppen

Revolutionärs übertrug Piscator auf

und Streben, an eine Weltkugel er-

das Theater. Erst die brutale Rea­

innernd. Alle Momente von Pisca-

lität der Ökonomie beendete die

tors Arbeit sind darin enthalten: die

wohl produktivste Phase in Pisca-

Mobilisierung der Massen und die

tors Leben.

kommunistischen

künstlerische Konstruktion, die po-

Mit der Verfilmung von Anna

litische Agitation und die neuesten

Seghers „Der Aufstand der Fischer

zur Verfügung stehenden techni-

von St. Barbara“ in der Sowjetunion

schen Mittel. „Das politische Thea-

unternahm Piscator einen Versuch

ter“ war auch ein Abschluss. Denn

im Bereich des Films – es sollte

infolge

Weltwirtschaftskrise

sein einziger bleiben. Er bemühte

konnte Piscator seine Experimental-

sich, als Theatermacher in der

bühne nicht weiterführen.

UdSSR zu wirken, es gelang ihm

der

Zum Theater war der am 17.

aber kaum. Die Emigration führte

Dezember 1893 geborene Piscator

ihn nach New York. Den dort von

im Krieg gekommen, zur Politik

ihm gegründeten und geleiteten

durch die Abscheu vor demselben.

Dramatic

1914 eingezogen, kam er zu Eduard

Prominente wie Marlon Brando, ­

Büsings Fronttheater. Als es an der

Tennes­see Williams und Arthur Mil-

Zeit war, unterstützte er die Arbei-

ler. Vor McCarthys Kommunisten-

ter- und Soldatenräte und trat der

verfolgung floh Piscator ins heimat-

neugegründeten KPD bei. Die Welt

liche Marburg. In der konservativen

sollte nicht bleiben, wie sie gewe-

Adenauer-BRD war er zunächst an

sen war, und wie sie zu sein habe,

kleine Provinztheater verbannt. Erst

sollten künftig die Produzenten die-

mit der Inszenierung von Millers

ser Welt selbst entscheiden. Piscator gründete das Proletarische Theater und begann zu inszenieren.

Über Erwin Piscator anlässlich seines 125. Geburtstages

Workshop

besuchten

„Hexenjagd“ 1954 in Mannheim trat er wieder ins Rampenlicht. 1962 wurde er dann Intendant der

Zunächst Frank Wedekind. Dann

Freien Volksbühne in West-Berlin.

Franz Jung. Der war schon damals

Als Piscator 1965 Peter Weiss’

nahezu eine Legende, ein umtriebi-

„Die Ermittlung“ zur Uraufführung brachte, war er einer Kampagne

ger Revolutionär, der kurzerhand ein Schiff entführte, um Lenin in Moskau zu tref-

1927 das Neue Schauspielhaus, und so ent-

­reaktionärer Kreise ausgesetzt. Ein Jahr spä-

fen. Ab 1924 arbeitete Piscator dann an

stand die erste Piscator-Bühne, weitere soll-

ter starb er. Unermüdlich hatte er für das po-

der Berliner Volksbühne. Als er 1927 einen

ten folgen. Eröffnet wurde mit der Urauffüh-

litische Theater gekämpft. //

Schauspieler mit Lenin-Maske auftreten ließ,

rung von Ernst Tollers „Hoppla, wir leben!“.

kam es zum Eklat, und Piscator musste die

Es ist die Geschichte eines Revolutionärs, der

Volksbühne verlassen.

nach seiner Entlassung aus der Haft infolge

Eine eigene Bühne musste her. Der

eines gescheiterten Volksaufstandes durch

Bauhaus-Direktor Walter Gropius entwarf ein

eine zynische und korrumpierte Welt geht, die

„Totaltheater“, das aber nie realisiert wurde.

dem Untergang geweiht ist und trotzdem

Am Berliner Nollendorfplatz übernahm Piscator

nicht geändert wird. Das war auch Tollers

Jakob Hayner

Schnell sein, wendig sein, alle Mittel nutzen – Diese Tugenden des Revolutionärs übertrug Erwin Piscator (1893–1966) auf das Theater. Foto dpa


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/ TdZ  Dezember  2018  /

Zwischen Abschied und Erwartung Zum Tod des Schauspielers Horst Schulze Große Schauspieler schaffen um sich ein

für die DEFA spielte, unvergesslich und un-

­Fluidum. Man erwartet von ihnen eine Ver-

vergleichlich dieses Bild eines innerlich unter

vielfältigung von Ausdrucksvermögen, die

der Last der Konventionen bereits abgestor-

Kraft zur Überwältigung noch in der kleinsten

benen Menschen.

Ein Freigeist, der den vorschnellen Effekt mied – Horst Schulze, hier als Karl Liebknecht in „Trotz alledem“ (1966 von Günter Reisch). Foto DEFA-Stiftung/Klaus Mühlstein

Geste ihres Spiels. Horst Schulze war vor

In seinem Spiel war immer ein Klassi-

­allem in den sechziger und siebziger Jahren

kergestus (den die Funktionäre missverständ-

solch ein prägender Schauspieler, sowohl auf

licherweise mochten, weil er bedeutend wirk-

Eroberers auf die Spitze trieb. Hier war der aus-

der Bühne als auch im Film.

te), gemischt mit Nietzsches Pathos der

gleichende Part bloß eine Maske des Bösen.

Die Bühnenauftritte sind Legende, die

Distanz, das ihnen fremd und mysteriös vor-

Oder in Hans-Joachim Kasprziks DEFA-

Filme aber kann man immer wieder anschau-

kam. Schulze hielt Abstand, brachte alles in

Dreiteiler fürs DDR-Fernsehen „Abschied

en. Gefährliche Erfolge waren darunter, wie

einen wohltemperierten Rhythmus, der nicht

vom Frieden“ über die K.-u.-k.-Monarchie an

die großen Rollen, die man ihm bei der DEFA

überwältigte, aber langsam und unaufhalt-

der Schwelle zum ersten Weltkrieg. Eine Pro-

gab: Karl Liebknecht in „Solange Leben in

sam in Bann zog. Er besaß die Fähigkeit,

duktion von 1976/77 mit Manfred Krug und

mir ist“ und „Trotz alledem!“ (1966) von

ständig eine leise ironische Überlegenheit in

Angelica Domröse, die nach der Biermann-

Günter Reisch vor allem. Dann folgten die

seinem Ton präsent zu halten; er war ernst,

Ausbürgerung die DDR verließen. Der Film

kommunistischen Großepen „Hans Beimler,

aber nicht bitterernst – ein Freigeist, der den

lag dann zwei Jahre auf Eis und wurde eher

Kamerad“ und „Ernst Schneller“. Andere

vorschnellen Effekt mied. Darum verbrauchte

still und heimlich nur einmal gesendet. Horst

Schauspieler wären unter der ideologischen

er sich nicht in seinem Spiel, blieb unaus­

Schulze steht dabei im Mittelpunkt der all­

Last dieser Rollen zusammengebrochen (und

rechenbar – und dem Zuschauer war so stän­

gegenwärtigen Auflösung um sich herum –

sind es auch, wie der fabelhafte Günter

dige Aufmerksamkeit angeraten. Schulze for-

er ist der liberale Prager Zeitungsverleger

Simon in Kurt Maetzigs Thälmann-Filmen). ­

cierte nicht, polterte schon gar nicht, er lud

­Alexander Reither. Hier zeigt er sich auch auf

Nicht so Horst Schulze. Er spielte die Heroen

auf seine kultivierte Art ein, ihm zu folgen –

eine neue Art, als von allen Seiten Bedräng-

der kommunistischen Bewegung mit einer

bis dorthin, wo die menschliche Komödie auch

ter. Er durchleidet den vom Autor F. C. Weis-

Noblesse, die verblüffte.

in der großen historischen Persönlichkeit auf-

kopf gewollten „Schwebezustand zwischen

scheint. „Er bewies die Anziehungskraft des

Abschied und Erwartung“. Ein Melancholiker,

Bedachtsamen.“ (Hans-Dieter Schütt)

der in sich – vergeblich – alle Kräfte zum

Horst Schulze, 1921 als Sohn eines Dresdner Arbeiters geboren, mit sechzehn Jahren Autoschlosserlehrling, wechselte dann

Das Unergründliche so klar und einfach

­Widerstand gegen den drohenden Untergang

als Autodidakt zum Theater, zu Oper und Mu-

wie möglich zu zeigen, das hatte er von Goe-

mobilisiert. Kaum je sah man Schulze so zer-

sical. Im Theater (unter anderem in Weimar)

the, den er auf der Bühne immer am liebsten

rissen, so mit sich ringend. Er selbst sagte

waren es vor allem klassische Rollen, die er

spielte. Schulze gehörte zu den wenigen

über diese Rolle, die er als Mittfünfziger

spielte, von Franz Moor, Hamlet, Posa bis

Schauspielern, die Mephisto und Faust auf der

spielte: „Die Zeit ist gewissermaßen überreif,

Wallenstein – an der Berliner Staatsoper sang

Bühne verkörpert hatten und trat noch als

und – wenn der Vergleich erlaubt ist – der

er den Papageno, am Metropoltheater den

Neunzigjähriger mit seinen Goethe-Solos auf.

Mann Alexander Reither ist es auch. Eine

Henry Higgins in „My Fair Lady“. Seine

eher

Man sollte das Spiel dieses großen

bürgerlich-konservative

Schauspielers einmal anhand von Rollen stu-

Ausstrahlung vermochte er bis an den Rand

dieren, die scheinbar eher am Rande liegen, so

dramatischer Endzeitszenarien zu treiben, so

im DEFA-Indianerfilm „Weiße Wölfe“, wo er

als Innstetten in „Effi Briest“, den er 1970

zusammen mit Rolf Hoppe die Diabolik des

Feststellung, keine Verurteilung.“ Am 24. Oktober starb Horst Schulze im Alter von 97 Jahren in Berlin. // Gunnar Decker

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/ TdZ Dezember 2018  /

Postrepräsentative Bühnen

Audick: Talent“ erschienen, Werkschau der bisherigen Arbeit der stilbildenden Bühnen-

Einen spezifischen Raum für Auftrittsmöglichkeiten erschaffen – Janina Audicks Bühne für Christoph Schlingensiefs „Mea Culpa“ (Burgtheater Wien, 2009).

„Hase wäre falsch. Bleib bei der Taube, kann

bildnerin, die neben zahlreichen Bühnen-

es nicht erklären, aber Hase ist falsch“,

und Kostümbildern für Christoph Schlingen-

schreibt Christoph Schlingensief 2003 per

sief, René Pollesch, Herbert Fritsch und

SMS an Janina Audick. Sie ist gerade dabei,

andere auch die Innen- und Außengestaltung

das Produktionsdesign für seine Wagner-­

des HAU – Hebbel am Ufer Berlin unter

Rallye im Jahr 2004 zu entwickeln. Wenn die

­Annemie Vanackere und des Jungen Schau-

Janina Audick schreibt im ICE einen Kitsch­

Taube richtig ist und Schlingensief nicht er-

spielhauses Düsseldorf unter Stefan Fischer-

roman. Dazwischen unzählige Fotos, die den

klären kann, warum, gibt das Auskunft darü-

Fels verantwortete. Ihre Arbeit im Filmbe-

Vergleich von Entwürfen und fertigen Bühnen-

ber, dass das Verhältnis von Bildwelt und In-

reich reicht von Konzepten für „Petra“ und

bildern zulassen: tortenartige Bühnenbauten,

szenierung flirrt. Auch wenn sie gerade keine

„Korleput“ des inzwischen historischen Kol-

Treppen, und immer wieder Teppiche, weil es

illustrative Funktion haben, sind die Elemen-

lektivs Hangover ltd.* bis zum Kostümbild für

um den Auftritt geht.

te keineswegs beliebig.

„3 Tage in Quiberon“ von Emily Atef.

Foto David Baltzer

„Janina Audick: Talent“ – der Titel geht

Mit einer üppig bebilderten Publika­

Die Werkschau, liebevoll gestaltet von

auf das Pollesch-Bühnenbild für „Revolver der

tion ist in der Edition Patrick Frey jetzt „Janina

Janina Audick und Michi Schnaus, mixt

Überschüsse“ zurück, wo das Wort „Talent“

handschriftlich kommentierte Archivfotos,

­einen Bühnenteil zierte – erzählt auch davon,

Schnipsel, Skizzen und Textbeiträge diverser

wie sich die Avantgarde der jüngeren Theater-

Wegbegleiter und Wegbegleiterinnen zu ei-

geschichte Ende der neunziger Jahre in Berlin

nem Bilderbuch, das sich wie ein Stück jün-

zusammenfand. Wie Janina Audick für „Heidi

gerer Theatergeschichte liest. Großzügig ge-

Hoh“, die erste Theaterserie des damaligen

währt Janina Audick einen intimen Einblick

­No-Names René Pollesch, mit dem sie bis heu-

in zwanzig Jahre praller Werkstattgeschichte.

te zusammenarbeitet, die Raumbühne erfand.

Gameplay@stage Qualifizierungsreihe in 5 Teilen Neustart im Februar 2019

www.bundesakademie.de

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Die Anordnung des Materials folgt un-

Die Trennung zwischen Bühne und Zuschauer-

gefähr dem Prinzip der Chronologie. Sibylle

raum war praktisch aufgehoben, das Publikum

Berg interviewt Janina Audick zu ihrem

saß auf lustigen Sitzkissen mittendrin.

künstlerischen Werdegang, Janina Audick in-

Audick enterte die Berliner Theater-

terviewt Andreas Beck über seine Erinnerungen

landschaft in dem Moment, in dem bereits

an die Pollesch-Serie „www-slums“, Helene

Kritik am Repräsentationstheater rumorte.

Hegemann schickt eine SMS aus Venedig mit

Die Wende war schuld oder Frank Castorf,

Anekdoten und Würdigung des Audick-Kosmos,

Heiner Müller, das Internet, oder alles zusam-


bücher

/ TdZ  Dezember  2018  /

Janina Audick: Talent. Edition Patrick Frey, Zürich 2018, 220 Seiten, 58 EUR.

nommen haben. So kann weder eine treffen-

fester an der Macht zu halten, plädiert Mouffe

de Kritik der Verhältnisse formuliert noch

für einen linken Populismus. Auch der müsse

eine Alternative propagiert werden. Die offi­

mit Entgegensetzungen arbeiten, denn eine

zielle Linke hat sich der Ideologie der Alter­

linke Politik müsse dem agonistischen Wesen

nativlosigkeit verschrieben und sich den Ver­

der Gesellschaft Rechnung tragen. Ein sol-

wertungsimperativen des kreditgetriebenen

cher linker Populismus habe Freiheit und

Finanzkapitalismus angepasst. Aus dieser

­soziale Gerechtigkeit zum Ziel.

misslichen Lage sollte sie sich schleunigst

Um eine antagonistische und negative

befreien, schlägt Chantal Mouffe in ihrer

Politik zu machen, so Mouffe, müsse man ein

Schrift „Für einen linken Populismus“ vor.

politisch Imaginäres konstruieren, das „Volk“.

men, jedenfalls wuchs das Bewusstsein dafür,

Den Text möchte die Politikwissenschaftlerin

Gemeint ist damit keineswegs eine durch Ab-

dass Illusion, Figur und stringente Narration

Mouffe nicht als Beitrag zur Erforschung des

stammung oder Territorium bestimmte Ein-

als künstlerische Praxis die immer dynami-

Populismus verstanden wissen, sondern als

heit, überhaupt kein Realobjekt, sondern eine

scher strudelnde Gegenwart verfehlten.

politische Intervention – und als Reaktion auf

bewusste Konstruktion, die verschiedene In-

die brüchige neoliberale Hegemonie. Tatsäch-

teressen bündelt – also ein „buntscheckiger

Janina Audick war zur Stelle, als sich die Bühnenkunst für Elemente der Perfor-

Haufen“, wie Marx einmal die Arbeiterklasse

mance öffnete. Als das Narrativ abgelöst

nannte. Mouffe sieht Politik allerdings nicht

­wurde von einem Overload an Text, Bild und

nur auf die Interessen beschränkt. Affekte

Ästhetik. Im Zuge dieser produktiven Rebel­

seien ebenso politisch, wie die psychoanalyti-

lion schälte sich ein neues Konzept dessen

sche Theorie Sigmund Freuds lehrt. Man solle

heraus, was Bühnenbild ist. Eine selbst­ bewusste, eigenständige Kunst, die den ­spezifischen Raum für Auftrittsmöglichkeiten erschafft. //

Anna Opel­

Auf den Trümmern des Neoliberalismus

Gefühl und Verstand nicht trennen, forderte Chantal Mouffe: Für einen linken Populismus. edition suhrkamp, Berlin 2018, 109 Seiten, 14 EUR.

Brecht für das Theater, und das gilt wohl auch für das Politische. Unklar bleibt bei Mouffe allerdings, inwieweit eine linke Politik mehr ist als nur ein strategischer Gebrauch schon existierender machtpolitischer Begriffe, quasi Machiavelli und Schmitt auf links gewendet.

lich lässt die seit zehn Jahren andauernde

Wie sehr sich die Herausforde­ run­ gen

Auf die Frage, was ihr größter Erfolg gewesen

Wirtschaftskrise wenig Zweifel, dass der

für linke Politik in den letzten Jahrzehnten

sei, soll Margaret Thatcher einmal geantwor-

Markt zwar seinen Gesetzen folgen mag, die-

gewandelt haben, zeigt Mouffe im Rückgriff

tet haben: „Tony Blair und New Labour. Wir

se aber soziale und ökologische Verwüstun-

auf ihr berühmtes, mit Ernesto Laclau ge-

haben unsere Gegner zum Umdenken ge-

gen größten Ausmaßes mit sich bringen. Das

meinsam verfasstes Buch „Hegemonie und

zwungen.“ Erfolg in der Politik ist, wenn man

hindert die Apologeten des Neoliberalismus

radikale Demokratie“ von 1985. Damals sei

selbst noch den äußersten Gegensatz auf das

nicht, gegen diese Folgen wiederum „den

es darum gegangen, die Forderungen der

eigene Feld der Begriffe geführt hat. Und Be-

Markt“ zu empfehlen. Bis der neue brasiliani-

neuen sozialen Bewegung anzuerkennen, ­

griffe sind nie nur theoretische Abstraktionen

sche Präsident Jair Bolsonaro dann als

heute seien diese zwar an­erkannt, aber auch

von der Welt, sie implizieren auch einen be-

„Wunschkandidat der Märkte“ (so die Deut-

neo­liberal vereinnahmt und entpolitisiert. Ein

stimmten Umgang mit ihr. Fatal ist, dass

sche Bank auf Twitter) bezeichnet wird. Ge-

linker Populismus wäre somit ein Aufbruch

­Teile der Linken das gesamte Vokabular der

gen die Pseudoermächtigung des rechten

aus den schon allzu vertraut erscheinenden

neoliberalen Revolution vom „Sozialschma-

Populismus, der sich als Aufstand gegen das

Trümmern des Neoliberalismus hin zu einer

rotzer“ bis zur „Eigenverantwortung“ über-

Establishment geriert, um dieses nur noch

radikalen Demokratie. //

Jakob Hayner

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aktuell

/ 74 /

Meldungen

/ TdZ Dezember 2018  /

und Bülent Kullukcu, ist eine interdiszipli­

■ Der Preis der Deutschen Theaterverlage

näre Gruppe, die fest in der Münchner freien

2018 geht an die Theater&Philharmonie

Szene verankert ist.

­Thüringen. „Seit der Spielzeit 2011/12 leitet

Stefanie Carp. Foto Daniel Sadrowski

Kay Kuntze mit seinem Team Theater&Phil­

■ Die Hamburger Kampnagel-Intendan-

har­monie Thüringen mit Spielstätten in Gera

tin Amelie Deuflhard wurde als Europäische

und Altenburg. Eine über Jahre hinweg kon-

Kulturmanagerin 2018 geehrt. Die Auszeich-

sequent umgesetzte Spielplanpolitik, die der

nung wurde ihr im Rahmen des Europäischen

zunehmenden Verengung des Repertoires auf

Kulturmarken-Awards am 12. November im

vermeintlich publikumswirksame Titel syste-

Berliner Radialsystem verliehen. Die Ent-

matisch entgegenarbeitet, hat dem Theater

scheidung begründete die 39-köpfige Jury

große Anerkennung gebracht“, so die Begrün-

damit, dass sie während ihrer Zeit in Berlin

dung. Zur Jury gehörten die Autoren Rebekka

und Hamburg ein weitumspannendes Netz-

Kricheldorf und Lutz Hübner, der Komponist

werk aus Künstlern, Kuratoren, Festivals, den

Manfred Trojahn sowie die Bühnenverleger

Medien, Theatern, Förderern und Wissen-

Thomas Maagh (Verlag der Autoren) und

schaftlern aufgebaut habe, von dem der Sek-

Frank Harders-Wuthenow (Boosey & Hawkes).

tor noch nachhaltig profitiere.

■ Das selbstverwaltete Veranstaltungszentrum Migrantpolitan von Kampnagel wurde mit dem Preis The Power of the Arts ausge-

■ Wie die Ruhrtriennale bekanntgab, bleibt

TdZ on Tour

Stefanie Carp auch weiterhin Intendantin des Festivals. Als stellvertretender Intendant wird ihr nun jedoch der neue Künstlerische Betriebsdirektor Jürgen Reitzler zur Seite gestellt. Nach den Kontroversen um die Einladung der der BDS-Bewegung nahestehenden Band Young Fathers würde diese Neustrukturierung, die Geschäftsabläufe im künstlerischen Betrieb verbessern und die internen Verantwortlichkeiten präzise festlegen. Die Entscheidung sei in Absprache mit Stefanie Carp erfolgt, so die Vorsitzende des Aufsichtsrats der Kultur Ruhr GmbH, NRW-Kultur­

die sich mittels der Kultur für eine offene Gesellschaft engagieren. Insgesamt wurden vier Initiativen ausgewählt, die jeweils mit 50 000

n 08.12. Partizipation Stadt Theater. Buchvorstellung im Rahmen des Symposiums „Ich.Stadt.Wir“, Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen, Thespis Zentrum

Euro bedacht wurden. The Power of the Arts

n 09.12. Buchvorstellung Christian Grashof. Kam, sah und stolperte – Gespräche mit Hans-Dieter Schütt, Neue Bühne Senftenberg

nationalen Theaterinstituts (ITI) verliehen.

n 18.01.2019 Buchpremiere 300 Jahre Theater Erlangen, Theater Erlangen

ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen.

■ Ralf Waldschmidt wird nach Auslaufen sei-

zeichnet. Damit werden Projekte gefördert,

ist eine Initiative der Philip Morris GmbH.

■ Dem Regisseur Viktor Bodó wurde am 28. November in Heidelberg der Preis des Inter„Seit über zehn Jahren im deutschsprachigen Raum mit zumeist deutsch-ungarischen Ensembles arbeitend, erhält Viktor Bodó mit seiner internationalen Arbeit Brücken aufrecht, die auf dem aktuellen politischen Parkett zunehmend zu erodieren drohen“, so das ITI.

Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de

■ Unter dem Titel „Solidarität statt Privile­

nes Vertrags 2021 die künstlerische Leitung

gien! Es geht um Alle! Die Kunst bleibt frei!“

des Theaters Osnabrück nach zehn Jahren be-

fanden am 9. November 2018 zeitgleiche Pressekonferenzen des Bündnisses der „Vie-

enden. Das teilte das Theater Osnabrück in einer Pressemeldung mit. Waldschmidt kün-

■ In Frankfurt am Main wurde Fabrice

len“ statt. Die Erklärung der Vielen ist eine

dete für den Rest seiner Amtszeit an: „Ich

Melquiot (Frankreich) der Deutsche Kinder­

bundesweite Kampagne und soll den Zu­

werde alles dafür tun, diese Qualität zu be-

theaterpreis 2018 für sein Stück „Die Zer-

sammenhalt in Kunst und Kultur als Teil

wahren und bis zum letzten Tag meiner Arbeit

trennlichen“ in der Übersetzung von Leyla-

des zivilgesellschaftlichen Engagements ge-

an diesem Haus spannendes und vielfältiges

Claire Rabih und Frank Weigand überreicht.

gen rechts­populistische sowie völkisch-natio-

Theater für die Stadt und die Region zu

Der Deutsche Jugendtheaterpreis 2018 ging an

nale Strömungen betonen. Zu den beteiligten

­machen.“

Dino Pešut (Kroatien) für „Der (vorletzte)

Theatern gehören unter anderen das HAU –

Panda oder Die Statik“ in der Übersetzung

Hebbel am Ufer Berlin, das Maxim Gorki

■ Die Gruppe Kollektiv wird künftig das Tanz-

von Alida Bremer unter Mitarbeit von Sonja

Theater Berlin, die Schaubühne Berlin so-

und Theaterfestival Rodeo in München leiten,

Anders und Friederike Heller. Erstmals wur-

wie Kampnagel Hamburg und das Düssel­

dass teilte das Münchner Kulturreferat mit.

den ausdrücklich auch die Leistungen der

dorfer Schauspielhaus. Durch die Erklärung

Das Festival wird somit erstmals von einem

Übersetzerinnen und Übersetzer bei fremd-

soll auch der Austausch von Kulturinstitutio-

Team geleitet. Kollektiv, bestehend aus Simo-

sprachigen Stücken gewürdigt. Die Preise

nen und Aktiven in der Kulturlandschaft in-

ne Egger, Christiane Huber, Karnik Gregorian

sind mit jeweils 10 000 Euro dotiert.

tensiviert werden.


aktuell

■ Die Intendantinnen und Intendanten der

tionsförderung aus. Je drei Projekte werden

Theater der Bundesländer in Österreich ha-

2019 mit maximal 5000 Euro gefördert. Be-

ben die Österreichische Intendant*innengruppe

werberinnen und Bewerber, die neue Praxis

gegründet. Dadurch soll der Gedankenaus-

und Aktionsformen im Amateurtheater er­

tausch und die Vernetzung der künstlerischen

proben möchten, können bis spätestens

Leiterinnen und Leiter sowie ihrer Häuser

11. Januar 2019 Theater-, Tanz- und Perfor-

ausgebaut und verstärkt werden. „Uns liegt

manceprojekte einreichen. Das Motto der

es am Herzen, die Gemeinsamkeiten der In-

För­derung 2019 heißt „Diversität und Viel-

stitutionen stärker zu betonen und vernetzt zu

falt im ­Amateurtheater“.

/ 75 /

Dirk Pilz. Foto Thomas Aurin

/ TdZ  Dezember  2018  /

agieren“, heißt es in der Pressemeldung.

■ Der Kulturjournalist Dirk Pilz ist am 2. No■ Das Bündnis internationaler Produktions­häuser

vember im Alter von 46 Jahren infolge einer

für zeitgenössische darstellende Künste in

Krebserkrankung verstorben. Pilz studierte

Deutschland bekommt in den Jahren 2019

Literaturwissenschaft, Philosophie und Psy-

bis 2021 Fördergelder in Höhe von insgesamt

chologie in Berlin, Kopenhagen und Pots-

12 Millionen Euro. Dies beschloss der Haus-

dam, wo er schließlich promovierte. In den

haltsausschuss des Deutschen Bundestages

Jahren 2003 bis 2006 war er Redakteur, ge-

in seiner letzten Sitzung und dehnte damit

schätzter Mitarbeiter und Kollege bei Theater

die von 2016 bis 2018 bewilligte Förderung

der Zeit. 2007 gründete er gemeinsam mit

mus. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Marie-­

auf drei weitere Jahre aus. Dank der finanziel-

Nikolaus Merck, Petra Kohse, Esther Slevogt

Zimmermann-Preis für Theaterkritik ausge-

len Förderung konnte das 2015 gegründete

und dem Künstler Konrad von Homeyer das

zeichnet.

Bündnis einen erheblichen Beitrag zur Quali-

Onlineportal für Theaterkritik und Theater­

tätssteigerung im Sektor der darstellenden

berichterstattung nachtkritik.de. Neben Lehr-

Künste in Deutschland leisten.

tätigkeiten an diversen Hochschulen war er seit 2015 Gastprofessor am Berlin Career

■ Der Bund Deutscher Amateurtheater

College der Universität der Künste und leitete

schreibt zum fünften Mal die amarena-Innova-

dort den Masterstudiengang Kulturjournalis-

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

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ANTRAGSfRISTEN 2019 — 1.vERGABE 15.JANUAR 31.JANUAR G A S T S P I E L E T h E AT E R

G A S T S P I E L E TA N Z N AT I o N A L & I N T E R N AT I o N A L * K o P R o d U K T I o N E N TA N Z *

I N f o R m AT I o N E N Z U R A N T R A G S T E L L U N G w w w. J o I N TA d v E N T U R E S . N E T * d I E A N T R A G S T E L L U N G E R f o L G T v o R B E h A LT L I c h d E R B E w I L L I G U N G v o N f ö R d E R m I T T E L N d U R c h d I E B E A U f T R A G T E d E R B U N d E S R E G I E R U N G f ü R K U LT U R U N d m E d I E N ( B K m ) . v E R B I N d L I c h E f ö R d E R Z U S A G E N K ö N N E N N U R B E I B E R E I T S T E L L U N G d E R G E S A m T f ö R d E R m I T T E L f ü R d I E N P N - I N T E R N AT I o N A L I S I E R U N G S I N I T I AT I v E TA N Z 2 0 1 9 G E G E B E N w E R d E N .

Foto: the agency „medusa bionic rise“ (c) nico schmied g e s ta lt u n g : s o s e i e s . c o m

GASTSPIELföRdERUNG & KoPRodUKTIoNEN

GEföRdERT voN

S o w I E d E N K U LT U R - U N d K U N S T m I N I S T E R I E N d E R f o L G E N d E N B U N d E S L ä N d E R : B A d E N - w ü R T T E m B E R G , B Ay E R N , B E R L I N , B R A N d E N B U R G , B R E m E N , h A m B U R G , h E S S E N , m E c K L E N B U R G - v o R P o m m E R N , N I E d E R S A c h S E N , N o R d R h E I N - w E S T fA L E N , R h E I N L A N d - P fA L Z , S A c h S E N - A N h A LT, S A c h S E N U N d T h ü R I N G E N .


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aktuell

/ TdZ Dezember 2018  /

Premieren Aalen Theater S. Stephens: Heisenberg (T. Kleinknecht, 15.12.) Altenburg Bühnen der Stadt Gera / Landestheater S. Haugwitz: Der glattrasierte Weihnachtsmann (R. Arnold, 02.12.); n. Brüder Grimm/C. Bossert: Der gestiefelte Kater – Vertrauen will gelernt sein (C. Bossert, 06.12.) Baden-Baden Theater N. Wood: Malala – Mädchen mit Buch (M. Kankelfitz, 06.12.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater L. Hübner: Das Herz eines Boxers (C. Tröger, 14.12.) Berlin Ballhaus Ost Sympatheia (C. Wirth, 15.12.) Berliner Ensemble T. Letts: Wheeler (O. Reese, 02.12., DEA) Deutsches Theater P. Winkler: Hool (A. Figueroa, 01.12.); M. Rinke: Westend (S. Kimmig, 21.12., UA) Maxim Gorki Theater n. O. Wilde: Salome (E. Mondtag, 02.12.) Renaissance Theater A. Uitdehaag/G. Warns: Tanke Sehnsucht Eine musikalische Suche nach der großen Liebe (A. Uitdehaag, 09.12., UA) Schaubühne am Lehniner Platz P. Wengenroth: „HE? SHE? ME! FREE.“ (P. Wengenroth, 14.12., UA); C. Emcke: „Ja

heißt ja und…“ (C. Emcke, 16.12., UA) Sophiensaele Speak Boldly – The Julius Eastman Dance Project (C. Winkler, 06.12., UA) theaterdiscounter M. Schlösser: Dein Gesicht ist eine wunderbare Bühne für mein Drama (M. Schlösser, 02.12.); Frauen u. Fiktion: Your are a Weapon (Frauen u. Fiktion, 14.12.) Volksbühne L. Haußmann: Haußmanns Staatssicherheitstheater (L. Haußmann, 14.12., UA) Bern Schlachthaus Theater Black Space Race (R. Urweider/N. Cele, 22.12.) Biel / Solothurn TOBS Le Bal (D. Epstein, 15.12.) Bonn Kleines Theater Bad Godesberg K. Glavinic: Der Froschkönig (S. Jänsch, 09.12.); W. Menge: Neues von Ekel Alfred (P. Nüesch, 26.12.) Theater Molière: Der Menschenfeind (J. Neumann, 01.12.) Brand-Erbisdorf Mittelsächsisches Theater P. Härtling: Djadi, Flüchtlingsjunge (A. Buchwald/R. Kapelle/S. Thomas/ A. Reupke, 10.12. 2018) Bregenz Vorarlberger Landestheater N. Stemann/n. J. W. v. Goethe: WERTHER! (M. Fischer, 06.12.)

Dezember 2018

Bremerhaven Stadttheater E. Bogosian: Talk Radio (N. Ritter, 14.12.) Celle Schlosstheater Soul Almanya (A. Döring, 07.12., UA); Matthieu Delaporte, Alexandre d. l. Patellière: Alles was sie wollen (U. Dreysel, 08.12.) Dortmund Theater Molière: Tartuffe (G. Kämmerer, 01.12.); A. Kpok: realReality (A. Kpok, 06.12., UA) Dresden Staatsschauspiel n. F. Kafka: Die Verwandlung (P. Lux, 08.12.) Theater Junge Generation K. Streun/n. V. Docampo/n. A. d. Lestrade: Die große Wörterfabrik (K. Streun, 01.12.); n. A. Lindgren/B. Hass: Ronja Räubertochter (B. Rehm, 01.12.) Düsseldorf Schauspielhaus F. Schiller: Don Karlos (A. Eisenach, 14.12.); H. Ibsen: Peer Gynt (F. Krakau, 16.12.) Essen Schauspiel M. Vattrodt: Ein großer Aufbruch (G. Rueb, 01.12.) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm Pulp – History as a warm wet place (C. Mendonça, 08.12., UA); Manufactured Series: Duett #1 (F. Mazliah, 17.12., UA) Schauspiel K. Wilber: Mut und Gnade (L. Perceval, 01.12., UA); M.

Droste/A. M. Ścibor: Jetzt aber anders (M. Droste/A. M. Ścibor, 08.12.) Freiburg Theater The Velvet Underground: Factory (S. Lernous, 01.12., UA) Göttingen Deutsches Theater R. Westhoff: Wir sind die Neuen (E. Sidler, 01.12.); S. Kane: 4.48 Psychose ­( Valentí Rocamora i. Torà, 07.12.); H. Ibsen: Ein Volksfeind (G. Willert, 22.12.) Graz Schauspielhaus J. Nestroy/S. Sargnagel: Einen Jux will er sich machen (D. Schnizer, 14.12.) Greifswald Theater Vorpommern U. Jäckle: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (A. Beutel, 05.12.); Y. Reza: Kunst (R. Göber, 20.12.) Hamburg Schauspielhaus M. Bothe/N. Khuon: Robin Hood (M. Bothe, 06.12.); J. Rachut: Rainer Gratzke oder Das rote Auto (J. Rachut, 15.12.) Hannover Schauspiel S. Hawemann/J. Kirsten: Iggy – Lust für Life (S. Hawemann, 06.12.) Hildesheim TfN • Theater für Niedersachsen Fang den Tod (Ensemble, 06.12.)


aktuell

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Jena Theaterhaus Wunderbaum: Thüringen Megamix (Wunderbaum, 13.12.) Kiel Theater R. Habeck/A. Paluch: Neunzehnachtzehn (M. Uhl, 01.12.); Winterbacken (K. Wunderlich, 06.12.) Konstanz Theater D. Lorenz: Wer hat Angst vorm weißen Mann (D. Grünauer, 08.12.) Krefeld Theater L. Kittstein: Himmel über Paris (M. Gehrt, 01.12., UA); H. Müller: Die Hamletmaschine (N. Zukerman, 07.12.); U. Cyran/n. O. H. Frank: Das Tagebuch der Anne Frank (U. Cyran, 19.12.) Landshut kleines theater Heute Abend: Lola blau (A. Krauße, 07.12.) Leipzig Schauspiel W. Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung (M. Sostmann, 31. 12.) Linz Landestheater L. v. Trier: Dogville (S. Suschke, 01.12.); D. Kehlmann: Heilig Abend (F. Busch, 08.12.) Magdeburg Theater R. Opferkuch: Erste Liebe (R. Opferkuch, 01.12.); S. Beckett: Warten auf Godot (S. Zhyrkov, 07.12.); D. Fo: Bezahlt wird nicht! (P. Kleinert, 08.12.) Marburg Hessisches Landestheater H. Kerkeling: Ich bin dann mal weg (M. Huber, 08.12., UA) Meiningen Staatstheater L. Jessel: Das Schwarzwaldmädel (T. Rott, 09.12.); P. Löhle: Wir sind keine Barbaren! (A. Kruschke, 13.12.) München Metropol Theater A. Hacke: Die Tage, die ich mit Gott verbrachte (T.

Flach, 18.12.) Kammerspiele n. W. Shakespeare/A. R. Koohestani: Macbeth (A. R. Koohestani, 07.12.); R. Mroué: Kill the Audience (R. Mroué, 12.12.) ­Residenztheater F. M. Dostojewski: Der Spieler (A. Kriegenburg, 14.12.); F. M. Dostojewski: Der Spieler (A. Kriegenburg, 14.12.) Neuwied Landesbühne Rheinland-Pfalz J. Kesselring: Arsen und Spitzenhäubchen (A. Lachnit, 29.12.) Nürnberg Staatstheater W. Shakespeare: Macbeth (P. Preuss, 08.12.) Osnabrück Theater A. Möckel: Sumpfland (A. Möckel, 01.12.) Paderborn Theater J. Cartwright: Little Voice (D. Strahm, 01.12.) Parchim Mecklenburgisches Staatstheater B. S. Henne: Weihnachten kommt immer so plötzlich – Adventsgeschichten 2018 (B. S. Henne/A. Wittmiß, 01.12.) Pforzheim Theater W. Karnofka/B. v. d. Speul­ hof: Ginpuin (M. S. Bednarsky, 22.12.) Potsdam Hans Otto Theater S. Berg: Viel gut essen (M. Becker, 08.12.) Reutlingen Theater Die Tonne H. Kondschak: Klangwelten (H. Kondschak, 15.12., UA) Rostock Volkstheater F. Buchwald: Merci, Chérie (F. Buchwald, 15.12.) Saarbrücken Saarländisches Staatstheater n. N. Hornby: NippleJesus (M. Mühlschlegel, 09.12.)

Schaan TAK - Theater Liechtenstein Gebrüder Grimm: Grimm&Co: Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen (J. Beck, 02.12.) Schleswig Schleswig-Holsteinisches Landestheater und Sinfonieorchester G. Hauptmann: Der Biberpelz (A. Rößler, 08.12.) St. Gallen Theater J. Hillje/N. Erpulat: Verrücktes Blut (A. Horst, 06.12.) Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt G. Ragni/J. Rado/G. MacDermot: Hair (K. Seiffert, 07.12.) Schauspiel n. T. Freyer/S. Lietzow: Der gestiefelte Kater (S. Lietzow, 02.12.); F. Grillparzer: Medea (M. Koležnik, 14.12.) Theater tri-bühne e. V. D. Fo: Bezahlt wird nicht (A. Quintana, 05.12.) Tübingen Landestheater n. T. Uhlmann/ H. Schernthaner: Sophia, der Tod und ich (D. Günther, 01.12.); M. Rau: Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs (T. Weckherlin, 02.12.); M. Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (O. Zuschneid/A. Müller, 07.12.) Wasserburg a. Inn Belacqua Theater O. Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray (F. Piotraschke, 07.12.) Wien Burgtheater A. Ayckbourn: Schöne Bescherungen (B. Frey, 01.12.); n. Euripides/S. Stone: Medea (S. Stone, 20.12., ÖEA) Kosmos Theater G. Schmidt: Begehren (S. Ostertag, 04.12., ÖEA) Wiesbaden Hessisches Staatstheater

Molière: Der eingebildete Kranke (E. Titov, 08.12.) Zürich Schauspielhaus Casa 18 (E. Beeler, 01.12.); C. Marthaler: 44 Harmonies from Apartment House 1776 (C. Marthaler, 05.12.); R. Pollesch: Ich weiss nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien) (R. Pollesch, 14.12., UA) Zwickau Theater Plauen-Zwickau n. M. Shelley: Frankenstein – Das Monster in uns (T. Esser, 20.12.)

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Fotos Holger Herschel

Einar & Bert

Verlängerte Dez.-Öffnungszeiten

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Mo – Fr 10.00 – 19.30 Uhr

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Thalia Theater Hamburg

Büchertische

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Aus der Peripherie ins Zentrum. Die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ hat ihren Hauptcampus aus dem maroden Gebäude in Niederschöneweide in den hart erkämpften und lang erwarteten neuen Hightech-Bau in die Zinnowitzer Straße 11 in Berlin-Mitte verlegt und damit ihren ohnehin guten Ruf nun auch mit einem qualitativ hochwertigen Gebäude im Herzen der Hauptstadt untermauert. Theater der Zeit war am 26. Oktober zur offiziellen Eröffnungsfeier mit einem Stand vertreten und konnte sich dabei selbst ein Bild der neuen Ausbildungsstätte für angehende Theaterschaffende machen. Der gewaltige Besucheransturm stellte sogleich die Aufnahmekapazitäten des neuen Gebäudes auf die Probe, aber zu wenig Plätze für zu viele Menschen kennt man ja von den Bewerbungsverfahren. Hatte man es ins Gebäude geschafft, wurde man von den Studierenden der vier bis dato über den Berliner Stadtraum verteilten und nun endlich an einem Ort konzentrierten Abteilungen für Schauspiel, Regie, Choreografie und Puppenspielkunst mit kurzen Performances in den neuen Räumlichkeiten empfangen. Fotos des Gebäudes sowie einen Bericht über die „neue“ Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ finden Sie auch in unserer Novemberausgabe 2018.

/ TdZ Dezember 2018  /

Yann Bachmann (Vertrieb Theater der Zeit). Foto Theater der Zeit

Ich.Stadt.Wir

SYMPOSIUM

Perspektiven auf Deine Stadt / Partizipation mit Theater 7.–9. Dezember 2018 im Thespis-Zentrum Bautzen Das Thespis-Zentrum Bautzen erforscht die Möglichkeiten des Theaters, einen Ort für Begegnungen und Diskussion zwischen verschiedenen Menschen in Bautzen zu schaffen. Theatermacher*innen und Kulturschaffende werden zum Symposium eingeladen, um sich zu vernetzen und sich über partizipative künstlerische Arbeiten in unseren Städten auszutauschen. Die Ergebnisse und Impulse des Symposiums werden im Theaterfestival Willkommen Anderswo IV im Mai 2019 umgesetzt. Euch erwarten Beiträge und Workshops zu Praxen und Theorien partizipativer Kulturarbeit mit einem interaktiven Rahmenprogramm.

Ein Projekt des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Bautzen Gefördert durch den Freistaat Sachsen im Rahmen des Landesprogramms Integrative Maßnahmen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes.

Anmeldung und weitere Infos: kontakt@thespis-zentrum.de

www.thespis-zentrum.de


impressum/vorschau

/ TdZ  Dezember  2018  /

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Vorschau

AUTOREN Dezember 2018 Bodo Blitz, Kritiker, Freiburg

„König Lear“ mit Edgar Selge (vorn) am Schauspielhaus Hamburg. Foto Matthias Horn

Hermann Götz, Theaterkritiker, Graz Ellen Hammer, Regisseurin und Dramaturgin, Paris Björn Hayer, Kritiker, Lemberg (Pfalz) Günther Heeg, Theaterwissenschaftler, Leipzig Christel Hoffmann, Theaterwissenschaflterin, Berlin Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Renate Klett, freie Autorin, Berlin Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Anna Opel, Theaterkritikerin und Übersetzerin, Berlin Sabine Schmidt, Theaterkritikerin, Berlin Joachim F. Tornau, freier Journalist, Kassel TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2018/12

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik

Protagonisten „Wer von euch liebt uns am meisten?“, fragt Edgar Selge als König Lear im gleichnamigen Stück, das gerade in der Regie von Karin Beier die Spielzeit am Deutschen Schauspielhaus Hamburg mit eröffnet hat. Es ist Selges zweite große Bühnenrolle in Hamburg seit seinem Houellebecq-Monolog „Unterwerfung“ 2016, die ihm zuletzt nicht nur viel Bewunderung, sondern auch den Faust-Theaterpreis 2016 einbrachte. Gunnar Decker hat Edgar Selge in Hamburg getroffen. „Furor“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz. Foto Thomas Aurin

1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Harald Müller Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Redaktion Dorte Lena Eilers +49 (0) 30.44 35 28 5-17, Harald Müller (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-20, Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-18 redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner Mitarbeit Claudia Jürgens, Eva Merkel (Korrektur), Daniel Schütz (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Prof. Heiner Goebbels, Dr. Johannes Odenthal, Kathrin Tiedemann Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Yann Bachmann +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: Kollin Medien GmbH, Neudrossenfeld 73. Jahrgang. Heft Nr. 12, Dezember 2018. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 06.11.2018

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Stück Treffen sich ein Politiker, eine Altenpflegerin und ein Paket­ bote im Wohnzimmer. Was wie die Exposition eines Witzes klingt, ist die explosive Zusammensetzung von „Furor“, dem gerade am Schauspiel Frankfurt uraufgeführten Stück aus der Feder des ­Autorenduos Lutz Hübner und Sarah Nemitz. Ausgangspunkt ist ein vermeintlich schuldlos verursachter Unfall, der den Bürger­ meisterkandidaten Braubach zu einem Besuch in das Wohn­ zimmer von Nele Siebold führt. Dort muss er sich nicht nur der­ Trauer und Verunsicherung der Mutter des schwer verletzten ­Unfallopfers stellen, sondern unerwartet auch der geballten Wut auf das politische Establishment ihres Neffen Jerome. Den ­Abdruck des dicht gebauten Kammerspiels finden Sie im nächs­ ten Heft.

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Januar 2019.


Was macht das Theater, Antje Thoms? Frau Thoms, Sie haben die Kampagne

ständigen Fachausschuss zu bekom-

„#rettedeintheater – keine Kulturwüste in

men. Ich hoffe aber, dass das Bündnis

Niedersachsen“ ins Leben gerufen. Wie

auch darüber hinaus bestehen bleibt.

kam es dazu?

Geld ist ja nicht das einzige Thema,

Das war sehr spontan. Bei der Mit­

das man kulturpolitisch artikulieren

arbeiterbegrüßung zu Beginn der neu-

sollte. A ­ ußerdem wirkt es sich positiv

en Spielzeit redeten unser Intendant

auf die Häuser aus, wenn sie einmal

und die Verwaltungsdirektorin ausführ-

anders funktionieren. Wenn die Mit­

lich darüber, dass den kommunalen

arbeiterinnen und Mitarbeiter merken,

Theatern in Niedersachsen vom Kultur-

was sie zusammen auf die Beine stel-

minister des Landes eigentlich zusätz-

len können, und es plötzlich auch mal

liche sechs Millionen Euro zugesagt

egal ist, ob ein Intendant das jetzt toll

worden seien, dass der Finanzminister

findet oder nicht.

diese Zahl im Haushaltsentwurf aber wieder auf null gesetzt habe. Erst ein-

Dass Kulturschaffende sich in die Niede-

mal hat niemand von meinen Kollegin-

rungen von Politik und Haushaltszahlen

nen und Kollegen etwas dazu gesagt.

begeben, ist ja nicht unbedingt die Re-

Da habe ich mich gemeldet und ge-

gel. Erst in jüngster Zeit organisieren

fragt, ob es nicht an der Zeit sei, als

sich Künstler, wie etwa im Ensemble-

Mitarbeiter aktiv zu werden und die

Netzwerk oder bei art but fair, um für

Leitung im Kampf um die Gelder zu

ihre Belange zu kämpfen. Wie war diese

unterstützen. Damit ging es dann los. Welche Folgen hätte es denn, wenn es die sechs Millionen Euro nicht gäbe? In Niedersachsen sind die Zuschüsse des Landes für die kommunalen Theater schon seit sehr vielen Jahren nicht mehr erhöht worden. Weil gleichzeitig aber die laufenden Kosten kontinuierlich steigen, bedeutet das unterm Strich eine schleichende Kürzung der Mittel. Das führt dazu, dass die künst-

Innerhalb von nur sechs Wochen sammelten sie fast 20  000 Unterschriften für eine Onlinepetition, mit mehreren hundert Theater- und Orchesterleuten ­ demons­trierten sie vor dem Landtag in Hannover: Das Aktionsbündnis „#rettedeintheater – keine Kultur­wüste in Niedersachsen“ fordert von der Landesregierung, ihr Versprechen einzuhalten und die kommunalen Theater stärker zu unterstützen. Gegründet wurde das Bündnis am Deutschen Theater in Göttingen von Hausregis­ seurin Antje Thoms zusammen mit mehreren Schauspielerinnen. Foto Frank Stefan Kimmel

lerischen Etats der Häuser immer wei-

Erfahrung für Sie? Ich habe das zum ersten Mal gemacht – und sehr viel gelernt dabei. Mein Respekt für Menschen, die sich ehrenamtlich oder politisch für eine ­Sache engagieren, ist um tausend Prozent gestiegen, weil ich jetzt ungefähr erahnen kann, was das für eine Arbeit ist. Andererseits bekam ich erschreckend oft das Gefühl, dass es in der Politik weniger um die Sache als um strategische Spiele geht. Oder in unserem Fall: mehr darum, sich partei-

ter schrumpfen. Stellen in den Berei-

politisch die Schuld zuzuschieben, als

chen Digitalisierung und Integration können

machen. Man muss aber auch sehen: Es

darum, dass Theatermitarbeiter besser be-

nicht besetzt werden, theaterpädagogische

­waren zuerst die Mitarbeiterinnen und Mit­

zahlt werden. Das war die unangenehme

Angebote müssen zurückgefahren werden.

arbeiter, die Schauspieler und Musiker, die

­Erfahrung daran.

Von fairer Bezahlung der Mitarbeiterinnen

sich solidarisiert haben. Ich fürchte, wenn

und Mitarbeiter gar nicht erst zu reden. Dem

es über die Leitungen gelaufen wäre, hätte

In Göttingen inszenieren Sie als Nächstes aus-

Theater in Lüneburg droht ohne zusätzliche

es sehr viel länger gedauert und wäre sehr

gerechnet „Außer Kontrolle“ von Ray Cooney,

Mittel perspektivisch sogar die Insolvenz.

viel weniger solidarisch gewesen. Manche

eine Komödie, die in der Politik spielt …

Intendanten haben uns zunächst sogar abge-

Das ist Zufall, das stand natürlich lange vor-

Ihrem Aktionsbündnis haben sich nicht nur die

raten. Irgendwann aber sind auch sie alle

her fest. Aber jetzt habe ich dafür ein paar

sechs kommunalen Theater in Niedersachsen

eingestiegen.

gute Vorbilder kennengelernt. Und die Hand-

angeschlossen, die direkt betroffen sind, son-

lung in den niedersächsischen Landtag zu

dern auch Staatstheater, Vertreter der freien

Wie optimistisch sind Sie, dass Sie etwas er­

verlegen, hatte ich mir ohnehin schon vorge-

Szene und Orchester. Hat Sie diese breite Soli-

reichen können?

nommen. //

darisierung überrascht?

Der Haushalt wird erst im Dezember verab-

Ich finde es großartig, dass so viele gesagt

schiedet. Bis dahin machen wir auf jeden Fall

haben: Wir wollen keine Neiddebatte zwi-

weiter Druck, sprechen mit Politikern und

schen freien Theatern, Stadttheatern und

starten wohl auch noch eine offizielle Petition

Staatstheatern, wir wollen das zusammen

an den Landtag, um eine Anhörung im zu-

Die Fragen stellte Joachim F. Tornau.


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SPIELZEIT 2018.2019 DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN ROBERT MUSIL

DONKEY DER SCHOTTE UND DAS PFERD,

TITUS ANDRONICUS WILLIAM SHAKESPEARE

Regie: Sebastian Klink

DAS SICH ROSI NANNTE MARTIN BIERI &

Regie: Mizgin Bilmen

Seit 15. November 2018 | Vidmar 1

ARIANE VON GRAFFENRIED | (UA)

Premiere: 22. Februar 2019 | Vidmar 1

Regie: Sophia Bodamer BERESINA ODER DIE LETZTEN TAGE DER SCHWEIZ Premiere: 07. Dezember 2018 | Stadttheater MARTIN SUTER & DANIEL SCHMID | (UA) Regie: Cihan Inan

DAS MISSVERSTÄNDNIS ALBERT CAMUS

Seit 19. Oktober 2018 | Stadttheater

Regie: Claudia Meyer Premiere: 20. Dezember 2018 | Vidmar 1

Regie: Noam Brusilovsky

COCO ALEXANDER SEIBT &

Seit 31. Oktober 2018 | Vidmar 2

MARKUS SCHÖNHOLZER | (UA)

DER GOALIE BIN IG PEDRO LENZ | (UA)

DER ELEFANT VON MURTEN UWE LÜTZEN | (UA) Premiere: 13. April 2019 | Stadttheater JEMANDLAND IVONA BRDJANOVIC | (UA)

Wiederaufnahme: 30. Dezember 2018 | Vidmar 1

Regie: Sophia Aurich Premiere: 15. Mai 2019 | Vidmar 2

FREIGÄNGER ANNA PAPST | (UA) Regie: Anna Papst

KRAFT JONAS LÜSCHER | (UA)

Premiere: 24. Januar 2019 | Vidmar 2

Regie: Zino Wey

Regie: Till Wyler von Ballmoos Wiederaufnahme: 13. November 2018 | Vidmar 1

Premiere: 04. April 2019 | Vidmar 1

Regie: Stefan Huber Regie: Johannes Lepper Seit 09. November 2018 | Vidmar 1

Regie: Antje Schupp

Regie: Jonathan Loosli & Mathis Künzler

DER TOD DES IWAN ILJITSCH LEO TOLSTOI

MONDLICHT HAROLD PINTER (SEA)

DAS RESORT JÜRG HALTER & ELIA REDIGER | (UA)

Premiere: 23. Mai 2019 | Vidmar 1 AUS DEM BLEISTIFTGEBIET: FELIX-SZENEN ROBERT WALSER Regie: Henri Hüster Premiere: 15. Februar 2019 | Stadttheater, Mansarde

Karten und weitere Informationen unter 031 329 52 52 www.konzerttheaterbern.ch

Foto: Annette Boutellier

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