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KLAUSSNER



Thomas Irmer

KLAUSSNER backstage

Mit einem Essay von Burghart KlauĂ&#x;ner



June Gloom von Burghart Klaußner

Eine Zeitreise beginnt. Sie führt uns an Bord der Queen Mary 2 einer Million amerikanischer Soldaten entgegen. So viele, das erfährt man auf dem noch ganz der Geschichte des Truppentransports ergebenen Schiff, waren es, die bis 1945 Europa erreichten, um es zu befreien. Im Bordkino läuft passenderweise Die dunkelste Stunde, der Churchill-Film, den man schwankend, wie Deckung nehmend, besucht. Eine Million. Es ist erstaunlich, wie wenig wir noch immer über all das wissen. Britannia rules the waves und Amerika den Weltraum. Tagsüber trägt ein Spezialist, der tatsächlich Kennedy heißt, im ­Nebensaal Unterhaltsames aus dem Space Center vor, und das im Wechsel mit wieder einem Briten, der uns erklärt, warum es die französischen Piloten waren, die die Concorde ruiniert haben. Wir haben uns für den Dampfer entschieden, nicht nur um derart kriechend der inneren Uhr den Übergang zu erleichtern, sondern natürlich auch, um den Gefühlen nachzureisen, die diejenigen beschlichen haben müssen, für die es vorläufig oder für immer, wer konnte das wissen, kein Zurück mehr gab. Und wie auf ein unsichtbares Kommando hin tut das Schiff kund, was es von uns Nachgeborenen erwartet. Die Zeugnisse der Historie sind schon vorbereitet. Als ein schwimmendes Dokumentationszentrum hält die Cunard Reederei überall auf der QM2 Zeugnisse einer glorreichen, immer glorreichen, wenn auch manchmal schmerzhaften Vergangenheit bereit. Hier sind es frühe Fotografien aus der Zeit des Baues all dieser neuen riesigen Schwimmpaläste, dort Tabellen und Fotos aus der dunk­ len Stunde des deutschen Angriffskriegs, als eine Überquerung des Nordatlantiks einem Himmelfahrtskommando gleichkam.

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Die Luft an Deck ist frisch und mild, die Nacht zeigt ihre Sterne, und als es auf Neufundland geht, zieht ganze Tage ­Nebel auf. In Los Angeles werden wir lernen, dass im Sonnenparadies schon leichte Nebelschwaden, die dort im Juni häufig sind, als Depression erfahren werden. June Gloom wird dieses Wetter genannt und dieser so getrübte Blick mag manchen Ausgewanderten zumindest hin und wieder an seine verlorene norddeutsche Tiefebene erinnert haben. Am Abend des 8. Juni erklärt der Kapitän bei seiner Gutenachtcour über Lautsprecher, man passiere in ein paar Stunden den Ort, an dem einst die Titanic sank. Eisberge sind freilich nicht zu sehen, aber das waren sie damals wohl auch nicht. Warum uns modernen Passagieren keine Gefahr droht, bleibt dunkel. So schlummern wir ein in der Hoffnung, die uns auch sonst begleitet, der Morgen möge uns wiederfinden. Der ist dann auch so kühl und grau wie in den Tagen zuvor und eine Ahnung von Langerweile zieht in uns hoch. Kein Sturm, kein Seegang, auch kein Leid, das einen hier berührte, so völlig aus der Welt gefallen erwartet uns Amerika. Das ist der Säuberungsprozess, der den Übergang auf ganz andere Weise ermöglicht als das Flugzeug. Freilich kostet die Passage recht viel Geld und wieder stellt sich hier die Frage, wie das damals wohl jeweils aufgebracht werden konnte. Spätestens seit ich im Literaturarchiv Marbach das Schreiben einer Berliner Filiale der Dresdner Bank an Herrn Dr. Lion Feuchtwanger, zur Zeit Burgdorf bei Bern, fand, in dem ihm am 17. Juni 1933 mitgeteilt wurde, eine Überweisung von 1260 Reichsmark an die Pfälzische Hypothekenbank sei nicht möglich, da der Herr Polizeipräsident von Berlin das Konto mit Verfügung vom 23. März des Jahres beschlagnahmt habe, bereiten mir die Möglichkeiten einer diktaturgeleiteten Polizei Alpträume. Von Joseph Schmidt, dem wunderbaren, jüdischen, nicht sehr groß geratenen Rundfunktenor, der auch einmal gern in der Oper leibhaftig auftreten wollte, weiß ich dreierlei: Ein ­Intendant, bei dem er vorstellig wurde, erklärte ihm auf sein

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Ersuchen: „Wir brauchen kleine Tenöre.“ „Ich bin doch klein“, rief Schmidt aus, und bekam zurück: „Sie sind nicht klein, Sie sind zu klein.“ Bald mündete dieses Demütigen in Vertreibung, und Schmidt musste feststellen, dass sein – immerhin – New Yorker Konto vom eigenen Anwalt geplündert worden war, sodass ihm in der Schweiz nur Internierung blieb und dort im Lager dann der schnelle Tod. Joseph Schmidt war 38 Jahre, als er 1942 in Girenbad starb. Am frühen Morgen des zehnten Tages seit der Abfahrt in Hamburg wird dann die amerikanische Gastlandflagge an Steuerbord gehisst und die noch nächtliche, bald aber vom Rot eines heraufziehenden Regentages erhellte Skyline Man­ hattans kommt in Sicht. Scherz, Satire, Ironie oder tiefere Bedeutung, die Freiheitsstatue ist wesentlich geschrumpft und erscheint vor dem Hintergrund all der Wirtschaftspaläste bis zur Bedeutungslosigkeit verkleinert. Wir lassen sie links liegen. Vor uns aber taucht aus dem nächtlichen Dunkel die Stadt der Städte auf, und mit ihr die Erinnerung an den Bremer U-Boot-Kapitän Reinhard Hardegen, der im Todesjahr von ­Joseph Schmidt mit seinem Boot hier an derselben Stelle auftauchte, die Glitzerstadt und Sorglosigkeit der Amerikaner ­bestaunte, um im weiteren Kriegsverlauf noch 220 feindliche Seeleute umzubringen. In einer Woche werden wir einen großen Bericht zu seinem Tod in der Los Angeles Times lesen, in dem erst sein Mut, dann seine Taten und schließlich seine Reue in ein Geschichtsbild einfließen, wie es wohl nur die Großzügigkeit der Amerikaner von uns zeichnen kann. Hinweg aber mit der Düsterkeit vergangener Tage – hin zur Düsterkeit heutiger Trump-Politik. Wie großzügig kann man denken von einem Mann, der an der Grenze den Müttern die kleinen Kinder entreißt? Die Empörung nicht nur unserer kalifornischen Gastgeber ließ ihn dann sehr bald zurückrudern. Geht’s noch? Im altehrwürdigen Algonquin Hotel, dem ältesten New Yorker Hotel, in dem wir auf unseren Weiterflug nach LA war-

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ten, werden Verabredungen getroffen. Hier, wo sich um 1920 herum Schriftsteller, Theaterleute und Kritiker von Dorothy Parker bis zu Harpo Marx einfanden und seither gelegentlich arbeitslose Schauspieler um die fünfzig als Kellner arbeiten und dem Gast die Aura des Ortes erhalten, hier treffen wir Sanda Weigl, die wunderbare Sängerin und Gefährtin erst von Thomas Brasch und nun seit langer Zeit schon von Klaus Pohl. Beide leben seit nunmehr 25 Jahren in New York und Sanda gar als doppelte Migrantin. Aus der DDR nach New York, das ist die wahre Karriere und erinnert uns schnell daran, dass deutsche Emigration durch das Nachbeben der Verwüstungen Hitlers bis ’89 andauern konnte. Auch Bernhard Schlink, den großen Schriftsteller, treffen wir, der uns auf seinem Rooftop überm Central Park mit Musikalität, Nachdenklichkeit und Einfühlsamkeit besticht. Er ist, fast hätten wir’s geahnt, Kind eines Pfarrhaushalts. Fünf Tage Aufenthalt haben wir uns in New York verordnet, zu Vieles ist verändert, zu viel noch nie gesehen. Sogar neue ­Türme stehen wieder, und du „kannst von ganz hoch oben weit bis nach Bagdad sehn“, wie Udo Lindenberg singt. Ein beein­ druckendes Memorial ist daneben mit zwei tiefen Becken auf die Grundflächen der eingestürzten Häuser gebaut worden, in deren Mitte Wasser ins, so scheint es, Unendliche stürzt und auf deren Rändern die Namen der Ermordeten eingraviert sind. Die eigentliche Sensation aber ist die Profanisierung, ja Kommerzialisierung des Ortes durch ein vom Architekten Santiago Calatrava entworfenes unterirdisches Einkaufszentrum, über das sich ein Dach wölbt, überwältigend schön, in der Form eines Wal-Skeletts. Man ist versucht zu sagen, dass unter der Fragilität dieser Knochen neues Leben hier aus schnödestem, alltäglichstem Konsumverhalten entsteht. Eine menschliche Dimension also, bei all dem, was hier ebenso monströs errichtet wie zerstört wurde. Am Times Square, mit seinen vor Leuchtwut überfluteten Fassaden, wohnt die menschliche Dimension auch gleich nebenan. Es gibt noch Theater! Und nicht zu knapp. Eines, das

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nach einer Fluglinie benannt ist – Sponsoring treibt wilde ­Blüten – spielt Travesties für uns. Es ist ein 1917 in Zürich spielendes Debattierstück von Tom Stoppard, in dem, höchst ­gelehrsam, Lenin, James Joyce und Tristan Tzara auf die Verknüpfungen von Surrealismus und Revolution, von Literatur und Gewalt, von Politik und Kunst abheben (im wahrsten ­Sinne des Wortes), Musik und Sex inbegriffen. Das ist schon in der deutschen Übersetzung ein Brocken, aber hier verstehen wir kein Wort. Macht nichts. Das Englische und das Unverständliche sind den Zuschauern ein Genuss! Es ist ausverkauft. Ein mittleres Ticket kostet 150 Dollar. Im Bryant Park trinken wir ein letztes Bier, bevor es rüber­ geht nach Newark, zum Weiterflug in das gelobte Land. „Entsetzliche Provinz“, schimpft der Taxifahrer über New Jersey, „aber immerhin, Meryl Streep wurde hier geboren!“ Mit dieser Botschaft im Gepäck landen wir sechs Stunden später in LA und werden aufs Freundlichste von unseren Quartiergebern begrüßt, in deren Obhut wir uns begeben. Sie ­stellen uns netterweise die sogenannte Ersatzwohnung. Das ThomasMann-Haus, nun Stipendiaten-Residenz, zu deren ersten glücklichen Fellows wir gehören, ist, wie wir erst kurz vor der Abreise erfahren hatten, leider nicht bezugsfertig. Überraschung! So werden die geplanten drei Monate auf zehn Tage schrumpfen und all die ausgetüftelten Programme auf ein Minimum. Erst aber einmal wird auf die Eröffnung dieser wunder­ baren Kulturbotschaft, denn eine solche solls ja werden, hingearbeitet. Der September Song von Weill wird einstudiert, als kleine Anspielung auf die lange Zeit, die alles dauern kann, und in der benachbarten Villa Aurora, einer anderen Kultur­ botschaft, die bereits lange und prächtig gedeiht, treffen wir auf Bekannte. Auf Maria Schrader, die mit Vor der Morgenröte einen bemerkenswerten Film über den Exilanten Stefan Zweig schuf, auf Onur Burcak Belli, die temperamentvolle türkisch-­ kurdisch-syrische Journalistin und, selbstverständlich, Oppositionelle, sowie auf Stefan Beyer, den jungen Komponisten aus Berlin, der es versteht, da, wo Schönberg, Eisler, Dessau, wo

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Zemlinski und Weill sich tummelten, ganz eigene Musik zu machen. Eine gar nicht kleine deutsche Gemeinde lebt in Los Angeles fort, immer wieder vom Zuzug neuer Leute belebt. Als Bundespräsident Steinmeier am Eröffnungstag in der Villa Aurora zu einem Round-table-Gespräch einlädt, haben sich die nun vollzählig versammelten Fellows je eine amerikanische Begleitung gewählt. Neben mir sitzt zu meinem großen Vergnügen der Autor und Produzent Pancho Kohner, dessen deutschstämmiger Vater Paul Agent vieler auch deutscher Stars war, die ab den zwanziger Jahren freiwillig, etwas später dann auch unfreiwillig nach Hollywood kamen. Ihm ist im Filmmuseum in Berlin eine ganze Abteilung gewidmet. Paul und Lupita, seine Frau, eine mexikanische Filmschönheit, hatten Berlin als amerikanische Staatsbürger erst 1935 verlassen und Sohn Pancho hat ein bemerkenswertes Buch darüber geschrieben. Aus der Sicht seiner erst 2016 verstorbenen Mutter. Sie ist heute „Hollywood Royalty“. Hier in Los Angeles ist die Erinnerung an das deutsche Erbe ausgeprägt. Es gibt Karten mit den Wohnorten deutscher ­Emigranten, und Carl Laemmle, der aus Baden stammende ­Urvater der Filmindustrie, ist allgegenwärtig. Einem seiner Nachfolger, nämlich Harvey Weinstein, hat David Mamet, der bekannte amerikanische Theaterautor, dessen Stück Das Kryptogramm wir in Zürich spielten, einen Text gewidmet. Als ich ihn in Santa Monica besuche, ist er gerade dabei, nach New York aufzubrechen, um sein Me-too-Stück dort mit John Malkovich zu inszenieren. Eine Story, so alt wohl wie Hollywood selbst. Im Filmarchiv von LA, von der Packard-Stiftung als griechischer Tempel errichtet und in strahlendem Weiß mitten in der Wüste als UFO gelandet, liegen tausende Filmkopien, deren leicht entzündliche Nitrorollen mit einer Feuerlöschanlage ­gesichert sind, die ebenfalls direkt aus der Raumfahrt zu kommen scheint. In dem weitläufigen Gebäude sind zahlreiche Restaurateure am Werk, die die alten Filme mit modernster Technik als Kulturerbe erhalten helfen. In Deutschland können

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wir von den finanziellen Mitteln, die dafür aufgewendet werden, nur träumen. Hierzulande sind es leider nur die aller­ bekanntesten Filmklassiker, deren Restaurierung oder gar Erhalt die Politik sich leistet. Der Eröffnungssonntag ist gekommen, erste Bücher sind aufgenommen in die alte Manns’sche Bibliothek, Möbel werden platziert, Teppiche und Rasen ausgerollt. Der Lieblings­ enkel Frido Mann mit seiner Gattin, einer Tochter Werner ­Heisenbergs, ist zusammen mit dem Präsidenten und einem Aufgebot an Journalisten und Politikern aus Deutschland eingeflogen. Er selbst hat diese Räume zuletzt als kleiner Junge noch gesehen. Nun berichtet er mit angemessenem Stolz von einer Vergangenheit, die wir Fellows hier in produktive Gegenwart verwandeln sollen. Dialog mit einem Gastland, dessen Rückzugstendenz wir seine traditionelle Weltoffenheit ent­ gegenhalten wollen. Denn das vor allem wars ja wohl, was ­zumindest Westdeutschland nach einem Zweiten Weltkrieg geschenkt bekam: Großzügigkeit als Neubeginn. Und so ist denn auch, vor allem für Neulinge, das Erstaunlichste an jedem Amerikabesuch die Freundlichkeit seiner Bewohner. Und mit Verblüffung registrieren wir, dass der Umgang miteinander auch ohne die gewohnte Ruppigkeit und Ungeduld erfolgen kann, und das, obwohl die gesellschaft­ lichen Probleme dieselben sind wie überall auf der Welt und obwohl die offizielle amerikanische Politik derzeit alles andere als freundlich ist. Der Bundespräsident eröffnet das Haus, dessen Erhalt maßgeblich auf sein Betreiben zurückgeht, der Klaußner singt sein Lied, und die Gäste feiern, nicht ganz ungetrübt, die Hoffnung auf eine transatlantische Zukunft. Am nächsten Morgen wird der Rasen eingerollt, die Teppiche dazu, die Möbel kommen in ein Lager und Bauarbeiter treten wieder an. Ein leichter Dunst zieht vom Pazifik hoch, ein gloomy sunday im Juno, und unverrichtet sind die Dinge, die unser Fellow hier gewollt. Er wird, so hofft er, wiederkommen.

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Das Datum Ihrer Geburt im September 1949 liegt zeitlich ganz nahe zur Gründung der Bundesrepublik. Bedeutet Ihnen das ­etwas, sozusagen ein „Windelkind“ der Bundesrepublik zu sein? Das bedeutet mir schon was. Ich denke immer wieder mal da­ rüber nach, dass ich ein „Windelkind“ zweier deutscher Staaten bin, einer Nachkriegsordnung. Inwiefern zweier deutscher Staaten? Die wurden ja relativ kurz nacheinander gegründet, und wenn man in Berlin geboren ist und lebt, dann ist die Nähe unweigerlich größer. In Berlin sagte man ja auch all die Jahre: Wir fahren jetzt mal nach Westdeutschland. Wo genau war das in Berlin? Ich bin in Friedenau geboren. Im elterlich-großelterlichen Haus in der Hähnelstraße 14. Das war mal eine Art Villenkolonie, wie im Südwesten Lichterfelde, die von dem Kaufmann und Stadtentwickler Carstenn gegründet wurde. Oder die Kolonie Alsen in Wannsee. Hier waren sogenannte Terraingesellschaften ­aktiv, die die Grundstücke parzellierten und verkauften, und so wurde wohl auch Friedenau gegründet. Also schon durchaus gehoben, was man – da Friedenau relativ unzerstört geblieben ist – auch heute noch gut sehen kann: sehr bürgerlich. … also in der Nähe der Niedstraße, der berühmten Literatur­ meile, wo Günter Grass und Uwe Johnson wohnten und quasi die halbe westdeutsche Literaturszene versammelt war? Die Friedenauer Presse, die Verlagsgründung aus der Gegend, ist ja auch nicht umsonst so genannt worden. Aber ich kannte diese Adressen damals nicht und wohnte auch schon nicht mehr in Berlin, oder noch nicht wieder. Ich bin zu jung! Ich bin bei allem mindestens fünf Jahre zu spät gekommen. Das können wir vielleicht als Leitmotiv behalten: das Zuspät­ kommen oder das spät Ankommen. Zu vermelden wären erst einmal die ganz normalen Eckdaten:

Geburt in BerlinFriede­nau

Foto linke Seite: Potsdamer Yachtclub am Wannsee

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Ich wurde in einen Kindergarten neben der St. Annen Kirche in Dahlem-Dorf geschickt. Die Kirche, auf deren Friedhof Rudi Dutschke beerdigt ist. Da gibt es einen evangelischen Kindergarten. Das war meine erste Station. Die zweite Station war die Grundschule der Königin-Luise-Stiftung in der Podbielski­ allee. Ansonsten haben wir in Friedenau ziemlich feudal gelebt: Wir wohnten in dem Mietshaus der Großeltern, die das Haus gebaut hatten und besaßen. Danach wurde eine Villa in Dahlem, in der Limonenstraße 20, bezogen. Ein schönes Haus. Mein Schulweg führte durch Felder und Wiesen. Zum Teil stehen heute Bauten der Freien Universität darauf. Die FU wurde, wenn man das so sagen kann, von meiner Mutter mitgegründet, die an der Humboldt-Universität Kunstgeschichte studierte und mit einem Stuhl, den man sich unter den Arm klemmte, so ging die Legende, nach Dahlem zog, um da eine freie Univer­ sität in unmittelbarer Nachbarschaft zu gründen. Meine Mutter hat das Studieren allerdings aufgegeben, als ich geboren wurde. Ich erinnere mich an ein sehr, sehr ländliches Dahlem und den Botanischen Garten. In Dahlem-Dorf gibt es heute noch einen Meierei-Betrieb. Kühe wurden in der Domäne Dahlem gehalten. Und die Amerikaner mit ihren Headquarters in der Clayallee waren auch nicht weit. Und da waren die Eltern mit ihrer berühmten Gastwirtschaft? Zu dieser Zeit nach dem Krieg war die Familie noch durchaus vermögend und, als Gastwirtsfamilie, von reger Feierfreudigkeit geprägt. Das Gästebuch unseres Lokals ‚Zum Klaußner‘ ist mit prominenten Namen gesegnet: Willy Brandt, Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann …

Prominente Gäste im ‚Klaußner‘

Das heißt, der ‚Klaußner‘ war ein gehobenes Lokal, keine Berliner Eckkneipe. Unter keinen Umständen. Vor dem Krieg war es sogar eher ein Treffpunkt für Kunst und Politik. Im Gegensatz zu irgend­ welchen Kneipen oder auch im Gegensatz zum Beispiel zur Wirtschaft des bayerischen Schauspielers Josef Bierbichler in

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Im Alter von zwei Jahren – die Eltern 1951

Ambach, in der gelebt und zum Teil auch gewohnt wurde, war das bei uns vollkommen anders: Das „Geschäft“ hatte mit dem Haushalt nichts zu tun, hatte sich nicht zu kreuzen. Wir Kinder hatten im Geschäft überhaupt nichts zu suchen, sondern da wurde höchstens mal auf dem Heimweg von der Schule hingegangen, wobei es noch die Dependance des ‚Zum Klaußner‘ im Albrechtshof – ein Ensemble von Häusern mit Hinterhof und Biergarten – gab. Da, wo heute in Steglitz der Kreisel steht. Da gab es dann ab und zu mal ein Eis nach der Schule oder, ­beliebt auch, Pariser Schnitzel, und das war es. Also, von dem ganzen Kneipen- wie Restaurantleben war nichts zu spüren. Mein Vater war nie zu Hause. Wenn er mal da war, wollte er „erziehen“, was sofort zu Riesenkrächen auf allen Seiten führte. Die Großmutter wohnte im Haus. Sie hat aus irgendwelchen Gründen immer bei uns gewohnt und wollte wohl auch ein Auge auf ihre Tochter behalten, denn mit der Heirat mit meinem Vater war sie nicht so recht einverstanden. Ich habe das in meinem Roman Vor dem Anfang einmal karikiert: „Was willst du bloß mit dem Budiker?“ Budiker ist in Berlin einer, der eine Budike hat, eine Boutique, also eine Kneipe. Aber es war insgesamt eine wohlbehütete Kindheit. Daran lässt sich über-

Erziehung und Situation im Elternhaus

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haupt nicht rütteln. Es war alles da, was man einem wirklich vermögenden Haushalt zuschreiben kann. Wir hatten zwei Hausmädchen und es gab – ich habe das neulich mit Staunen, aber auch mit gewisser Erleichterung festgestellt, nachdem ich über meine Eltern nochmal nachgedacht habe – nie auch nur den geringsten Anflug von Antisemitismus in unserem Haushalt, was ich ihnen hoch anrechnen muss. Das ist im Nachhinein betrachtet auffällig, weil zum Beispiel in Regina Schillings Dokumentarfilm Kulenkampffs Schuhe (2018) über eine ähnliche Kindheit das Gegenteil gesagt wird, nämlich dass auf der Straße wie im Haushalt Antisemitismus einfach ohne großes Bewusstsein gepflegt wurde.

Verhalten der Eltern im National­ sozialismus

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Wie sind die Eltern durch die Nazizeit gekommen? Meine Mutter ist Jahrgang 1923. Sie war 1933, mit zehn, glühende Verehrerin von Adolf Hitler und ging dann mit achtzehn, also ca. 1941, zum Volksbildungswerk bzw. zum Volkshochschul­ wesen und hat im von Deutschland besetzten Norwegen für Soldaten irgendwelche Bildungskurse mitorganisiert und -gestaltet. Genaueres weiß ich nicht. Hat sich immer wieder mal verliebt, wie es sich gehört. Sie hatte wohl auch ein kurzes ­Rendezvous mit dem Dramatiker Hans Rehberg, dem Vater des Schauspielers Hans-Michael Rehberg, seine Preußen-Dramen waren damals gerade sehr en vogue. Also meine Mutter tummelte sich, war aber nicht Parteimitglied, das wusste wiede­ rum ihre Mutter, meine Großmutter, zu verhindern, die die ­Nazis hasste. Mein Vater war nicht Nazi, zum Glück, muss man sagen, und er war auch in keiner Untergliederung der Partei. Er war jedoch eine Zeit lang im Aufnahmeverfahren für die Flieger-SA, das war für Sportflieger wohl die einzige Möglichkeit, dieses Hobby weiter zu pflegen. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich im Bundesarchiv darüber geforscht habe. Also, bei meinem Vater ging die Berührung mit der Nazibande praktisch nur bis zum üblichen Umgang im Alltag, den man auch nicht unterschätzen darf, das ist klar. Er hatte ja auch u. a. mit Offizieren als Gästen im Restaurant Umgang. Aber natürlich


waren beide Eltern von der Verrohung des Lebens in der Hitlerzeit nicht verschont geblieben. Ich frage deshalb, weil das natürlich das große Thema für Ihre Generation geworden ist – die Auseinandersetzung mit den ­Eltern. Mit dem, was sie in der Nazizeit gemacht haben. Sie ge­ hören rein jahrgangsmäßig zur 68er-Generation und sind später in dem Sinne politisch denkend geworden. Dabei interessiert mich diese behütete Kindheit. Heißt das, dass sie von der Nazi­ zeit unbelastet war? Von der Nazizeit war sie an der Oberfläche unbelastet und auch von Hunger und Durst. Es gab aber gelegentliche, dann immer heftiger werdende Streitereien zwischen den Eltern, die dann unangenehm laut werden konnten, was anfangs noch unter das Kapitel „Was sich neckt, das liebt sich“ fiel. Die Frage nach der 68er-Generation und der Bewältigung der Ver­ gangenheit hat sich vor allem über die Auschwitz-Prozesse ­gestellt. Das ist mir erst im Nachhinein vollkommen klar­ge­ worden. Da sind zum ersten Mal wirklich die Fakten der menschenverachtenden Quälereien dieser unglaublichen ­Sadis­­ten ins allgemeinere Bewusstsein gedrungen und das hat mich als sehr empfindsamen Jungen – ich war ein zartes Bürschlein, bin ich heute noch – ganz furchtbar mitgenommen.

AuschwitzProzesse machen erst­ mals auf Fritz Bauer aufmerksam

Sie waren 15, 16, als diese Prozesse in Frankfurt am Main liefen. Ja. Das hat mich in den Grundfesten erschüttert. Ich habe es nicht für möglich gehalten. Insofern war es eine späte Erfüllung, den Fritz Bauer spielen zu dürfen? Es war eine große Erfüllung auf diesem Gebiet der Schauspielerei. Auch als politischer Ausdruck war das die Erfüllung. Die Frage an die Eltern in diesem Zusammenhang, „Was habt ihr gemacht?“, habe ich nie gestellt, wie so viele andere aus ­meiner Generation diese Frage nicht gestellt haben. Vor allem aus Angst, dass da eh nichts kommt, dass man sowieso ange-

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Der Staat gegen Fritz Bauer, 2014

logen wird oder dass unter Umständen was kommt, was unerträglich ist, oder dass die Abwehr dieser Frage bereits einen solchen Konflikt hervorruft, dass der familiäre Frieden bis ins Jahr 2000 gestört sein würde. Es gab immer nur Versuche, sozu­sagen in Nebensätzen oder aus dem Alltagsverhalten herauszuhören, was hätte gewesen sein können oder was war. Meine Mutter z. B. war übergangslos von der Nazi-Sympathisantin zum Willy-Brandt-Fan geworden. Was in Westberlin sicherlich einfacher war als anderswo. Brandt war ein äußerst beliebter Bürgermeister. Er war der Westberliner oder deutsche Kennedy – hatte eine hochelegante norwegische Frau, mit der er sich oft auf Bällen zeigte. Meine Mutter war ja als junge Frau auch in Norwegen gewesen. Sie hatte ein großes Faible für Skandinavien, zumal sie auf dem Schiff meinen Vater kennengelernt hatte: Es w ­ urde in Skandinavien gesegelt. In Skandinavien schloss sich der Kreis zur Edda, der germanischen Heldensaga, das fiel alles gleichsam in einen Strahlkranz. Mein Vater hatte politisch,

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s­oweit ich das sehen kann, zwar eine konservative Grund­ haltung, die aber nur deshalb angenommen war, damit er überhaupt irgendetwas hatte. Der war nicht irgendwo angebunden, er transportierte noch die Haltlosigkeit des Bürgertums nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs. Ich würde ihn heute als bürgerlichen Anarchisten bezeichnen, und natürlich hatte er Züge des Pfarrers aus Hanekes Das weiße Band, vor allem dort, wo er glaubte, Liebe beweise sich durch Härte. Dabei war er selbst oft unbeherrscht. Das klingt, als wäre es trotzdem leicht gewesen, sich eine eigene Position zu erarbeiten und weder in eine bestimmte Richtung gedrängt zu werden noch eine Belastung verarbeiten zu müs­ sen. Es fiel mir im Gegenteil sehr schwer, eine eigene Position zu erobern, denn die Unveränderbarkeit der Lebensumstände schien gewaltig. Der Antikommunismus war die Haltung, auf die sich im westlichen Lager alle einigen konnten, natürlich auch die Sozialdemokraten. Deshalb war der Schwenk vom antikommunistisch erzogenen kleinen Jungen, der Berlin den Amerikanern verdankte, hin zu einem, der in der 68er-Bewegung plötzlich hinter einer roten Fahne herlaufen sollte, größer nicht vorstellbar. Dazu muss man sich die dritte Station meiner Kindheit in Berlin vor Augen halten. Ich war ein Jahr auf dem altsprach­ lichen Gymnasium in Steglitz, dem „Heese-Gymnasium“. Bis zum durch die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten bedingten Umzug 1962 nach Bayern. Das Altgriechische blieb mir so erspart. Der Direktor hatte auf der Inaugurationsveranstaltung der neuen Jahrgänge im Titania-Palast eine Rede gehalten, die Griechisch begann und mit einem griechischen Zitat endete. Da wurde einem Zehnjährigen natürlich schwarz vor Augen, weil man dachte: „Was kommt da auf mich zu?“ Heutzutage sage ich „schade“. Wie bei so vielen Dingen, die einem als Kind schrecklich erscheinen und später unter Umständen nützlich sind.

Ausgangslage der politischen Selbstfindung

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Da wir keine Verwandten im Osten hatten, bin ich als Kind nie dagewesen, habe ich damals nie Ostberlin oder die DDR betreten. Das war für mich Terra incognita. Existierte eigentlich nur durch die lustigen Sketche des Kabaretts der Insulaner, die sich meistens auf Walter Ulbricht und den Stadtteil Pankow bezogen und die anzuhören und auch auswendig zu lernen sozusagen die ersten Schritte des kleinen Künstlers waren, der sich dann später an den Stachelschweinen und überhaupt stark am Kabarett orientierte.

Kabarett als erste Theater­ erfahrung

Kabarett war überhaupt in Westberlin eine Spezialität, als aus dieser krisenhaften Frontstadtmentalität und dem berüchtigten Berliner Witz mit Schnauze so etwas Eigenes entstand, das in Wolfgang Neuss, dem Mann mit der Pauke, vielleicht seinen ­Höhepunkt erlebte. Neuss war natürlich wesentlich weiter links angesiedelt und deshalb in diesen bürgerlichen Kreisen erstmal nicht vorhanden. Als Kind hat man Neuss nicht verstanden. Als Kind liebte ich vor allem Imitationen von Politikern im Radio, die auf das Verschiedenartige der Stimmen setzten, sowie einzelne, zum Teil auch von Komikern der Vorkriegszeit entworfene Tableaus: kleine Hörstücke mit verstellten Stimmen. Dies alles übte eine große Faszination auf mich aus. Radio war und ist für mich bis heute das Topmedium. Wurzelte der robuste Antikommunismus darin, dass Ihr Vater aus einer vermögenden Schicht stammte, oder lag es eher an der Frontstadt Berlin, wo die erhitzte Sensibilität an dieser Welt­ grenze im Kalten Krieg besonders ausgeprägt war? Ich glaube, die Herkunft aus dem besitzenden Bürgertum spielte die geringste Rolle. Die Hauptrolle spielten in erster ­Linie die russischen Befreier – wie man ja heute sagen muss –, die aber im Zuge dieser Befreiung sich auch Verbrechen haben zuschulden kommen lassen. Dies war im Bewusstsein absolut gegenwärtig: die Vergewaltigungen, und vor allem dann in den fünfziger Jahren auch die Entführungen auf offener Stra-

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ße – Westberliner, die in den Osten entführt wurden und nicht mehr wiederkamen. Es gab auch Lager, Umerziehungslager, in denen Leute umgekommen sind: Heinrich George ist ein prominentes Beispiel. Wurde in der Familie über das Kriegsende gesprochen? Nein. Und zwar aus folgendem Grund: Die Russen waren so ­aktiv, dass die Gegenwart einen viel mehr beschäftigte als die Vergangenheit. Es gab ja eine Krise nach der anderen, das darf man nicht vergessen. Es wurden ständig Ultimaten ausgerufen, und immer hieß es im nächsten Schritt: Dritter Weltkrieg. Meine Mutter lag im Bett und weinte: „Jetzt gibt’s Krieg!“, und ich war drei, vier, fünf Jahre und werde nie vergessen, wie nachdrücklich diese Angst über mich kam. „Jetzt gibt’s Krieg“, das bezog sich auf den Ungarn-Aufstand 1956, auf das ­Chruschtschow-Ultimatum 1958, auf die Kuba-Krise 1962. Es gab auch noch weitere Zuspitzungen. Die Luftbrücke liegt vor meiner Geburt und war natürlich etwas Heroisches. Doch das war, wie gesagt, vergessen: Man hatte keine Zeit, sich daran zu erinnern. Das hatte geklappt und die Amerikaner waren natürlich in Westberlin absolute Helden.

Der Kalte Krieg als Kindheitserfahrung

Waren die Amerikaner im Alltag und auf der Straße präsent, zum Beispiel da in der Clayallee? Ununterbrochen, und zwar mit großer Bewunderung, weil es immer coole Jungs waren. Die hatten eine große Lässigkeit im Gepäck. Ich war zwar keins der Kinder, die angewiesen waren auf die Bonbons oder Kaugummis, die gerne da verteilt wurden, aber mich hat einfach die lässige Männlichkeit beeindruckt, mit der die rumgefahren und rumgelaufen sind. Und nicht zu vergessen den Soldatensender, AFN, mit der tollen Musik, den man als Heranwachsender hörte. Die waren also sehr präsent. Meine Mutter hat mir später erzählt, die unangenehmsten Besatzer unter den Alliierten seien die Franzosen gewesen. Besonders arrogant.

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Die waren in Reinickendorf-Tegel, eigentlich weit weg. Da wohnte unsere ganze Verwandtschaft. Nach den Franzosen kämen die Engländer, die wären auch nicht von Pappe, hieß es, aber bei den Amerikanern war immer sofort Entspannung. Das war eben das Besondere. Als es der Familie dann wirtschaftlich schlechter ging, zogen wir von Dahlem in ein Häuschen nach Lichterfelde, und wieder waren da die Amerikaner – und zwar noch viel präsenter, denn am 4. Ring waren große Kasernen mit Riesenparaden, die da stattfanden, bunt mit Riesenmusik und einem Geschütz, das zum Zapfenstreich um fünf Uhr einen gewaltigen Schuss abgab. Die Filzteller der Platzpatronen waren für Jungs die absolute Trophäe der Gegend.

Das Restaurant-Imperium im Berliner Leben

Es gab in der guten Zeit sogar weitere Ableger des Klaußner-­ Restaurants? Gastwirte, Gastronomen haben einen starken Expansionsdrang. Die wollen immer mehrere Dinge haben. Und mein ­Vater hatte als Pächter u. a. auch das Weinhaus Huth – übrigens das einzige Haus, das am Potsdamer Platz stehen geblieben war und heute ja noch steht. Und das Esplanade, sodass er auch die großen Filmbälle, die ersten, die in Westberlin stattfanden, dort ausgerichtet hat. Es war, alles in allem, immer ein gesellschaftliches Ereignis. Dazu gehörte natürlich auch der Yachtclub am Wannsee, der von meinem Vater nach dem Krieg wieder gegründet und aus den Händen der Amerikaner zurückgeholt wurde, die die Gebäude besetzt hatten, weil zu Kriegsende die SS sich darin eingenistet hatte. Wie kam es dann zu dieser Verarmung, die schließlich auch zum Aufgeben der Restaurants führte und eigentlich gegenläufig zum Wirtschaftswunder stand? Westberlin hat eine andere Entwicklung genommen als Westdeutschland. Westberlin war durch die Möglichkeit, dass die Russen jederzeit einmarschieren könnten, bedroht. Das war nicht völlig ausgeschlossen und die Stadt stand ständig unter Druck. In den fünfziger Jahren war die Lebendigkeit, als noch

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sehr viel möglich schien und die Leute das Leben in einer ganz anderen Weise zu genießen imstande waren – sie hatten überlebt –, noch groß: Man ging aus, das Restaurant war voll und es gab eine Art Renaissance der Zwanziger. Das ging deutlich ­zurück, man sah in Westberlin keine Zukunft mehr, es entstand zunehmend so eine Stimmung, dass Schluss mit lustig war. Also nicht nur der Osten war wirtschaftlich schwach, auch Westberlin befand sich im Niedergang. Bekannt ist, dass sich die Industrie aus Westberlin zurückge­ zogen hat, aber das wurde durch eine besondere Subventions­ politik ersetzt, eine „durchgefütterte Stadt“ im Prinzip. Ja, aber das änderte nichts an dem Lebensgefühl, das durch die ständige Bedrohung einfach nicht mehr zum Feiern aufrief. Was waren Ihre wichtigsten geografischen Koordinaten inner­ halb der Stadt? Als Kind kannte ich nur den Wannsee, Dahlem, Tegel, den Kurfürstendamm, in dessen Nähe sich die Grolmanstraße mit dem Restaurant befand. Das war die Dependance, nachdem 1943 das vom Urgroßvater gegründete Stammhaus in der Krausenstraße 64 in Mitte ausgebombt worden war. Ich kannte überhaupt nichts sonst. Ich war nie in Kreuzberg, nie in Neukölln. Ich kannte Britz, da wohnte eine Tante, das war ja schon fast ländlich. Ich kannte Ostberlin als Kind überhaupt nicht, nur die Bilder aus dem Fernsehen. Ich konnte auch nicht überblicken, selbst noch im Alter von zehn, elf, zwölf nicht, wie groß die Stadt überhaupt ist. Die Entfernung nach Tegel zu Tante und Onkel war immer weit, aber man sah ja auch nie die Grenze. Die war verborgen. Man konnte jedenfalls wunderbar in Westberlin leben, ohne jemals die Mauer oder die Grenze überhaupt nur zu sehen. Sie war weit weg. Ich pilgerte extra mal nach Kohlhasenbrück, der Ex­ klave, um dort die Grenze sehen. Eine absurde Situation. Die ­Einwohner wurden durch amerikanische Hubschrauber versorgt.

Wie groß war Berlin?

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Nun, ich war ein Kind. Ich wusste, es gibt Ost und West, natürlich. Aber ich hatte kein Bewusstsein von der Größe, die mir erst klar wurde, als ich als Student zurückkam, nachdem wir acht Jahre in Bayern gelebt hatten. Ich wollte ja auch explizit wieder zurück nach Berlin, aus Heimweh. Der Witz ist, dass ich nach Schlachtensee zurückkam. Das ist wahrlich nicht weit entfernt. In das damals neu errichtete Studentendorf. Da wohnte ich die ersten zwei Jahre, dann nahm ich mir irgendwann mal kurzzeitig auch ein Zimmer in Kreuzberg für vierzig Mark, das gab es damals. Wahrscheinlich hat meine Mutter, die das Wohnheim für mich ausgesucht hat, dafür wohlweislich wieder diese Gegend gewählt. Ich würde gern noch mehr über die „radio days“ als vielleicht erste Erfahrung des künstlerischen Worts erfahren … Ich habe noch in meiner Schulzeit ein Detektorradio in einer Zigarrenkiste mit Kopfhörern gebaut. Hat funktioniert! Ich sehe den Drehkondensator noch vor mir. Beim Programm gab es ganz klare Favoriten. Es war eine hochinteressante Lehrzeit. Wir hörten nur SFB oder RIAS. RIAS noch mehr, weil der irgendwie populärer aufgestellt war. Da gab es die legendäre Serie, Es geschah in Berlin, eine Sendung in Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei. Übrigens ein Vorläufer des Tatorts. Dann gab es das bereits erwähnte Rundfunkkabarett Die Insulaner. Es gab später auch die Übertragung vom Kabarett der Stachelschweine. Dann, nicht zu vergessen, gab es die Sendung Wer fragt, gewinnt mit Hans Rosenthal, ein großes Ereignis. Außerdem Hörspiele, zum Beispiel Die Reise zum Mond, was mich inspirierte, denn die Raumfahrt war damals der Weg zum Mond, voran Wernher von Braun und die V2 in Peenemünde. Alles ein Komplex, alles unentwirrbar in einem Kinderkopf aufgehoben. Oft habe ich die Hörspiele zusammen mit meiner Großmutter im Bett sitzend gehört. Denn meine Großmutter war zu großen Teilen Mutterersatz und eine ganz wunderbare Frau. Sie hat mich durch die Radiolandschaft geführt.

Radiokultur und erste Hörspiele

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Haben Sie Geschwister? Eine Schwester und einen Halbbruder aus erster Ehe. Er hatte es mit meinem Vater schwer und wurde von meiner Mutter in Schutz genommen, obwohl sie nicht seine leibliche Mutter war. Ein letztendlich unglücklicher Mensch, dessen Ende nicht mal bekannt ist. Auf einmal hieß es: „Jochen ist tot“. Warum, weshalb, das sind Kapitel für sich. Da ist viel vor, während und nach dem Krieg familienmäßig implodiert. Marion, meine Schwester, war immer gut drauf. Sie ist zwei Jahre jünger und sehr praktisch veranlagt, begeisterte sich ­immer mehr für Mathe als für Geistessachen und hatte später ein großes Faible für Hildegard Knef, Udo Jürgens und Peter Alexander, für mich alles absolut indiskutable Kitschgrößen. Später hat sie sich sehr verändert, wurde interessierter, belesener und begann die Eskapaden des größeren Bruders besser zu verstehen. Sie ist bis heute Apothekerin. Was haben Sie als Kind gelesen? Die frühesten Lektüren waren wahrscheinlich immer noch ­Reste des völkischen Lesekanons: Märchen, deutsche Ritterund Heldensagen, Dietrich von Bern, ein großartiger Mann. Siegfried ist mir gar nicht so in Erinnerung geblieben wie ­Dietrich von Bern. Dietrich von Bern war der große Strahlemann. Dann gab es Wälzer, die sogar noch von den Großeltern stammten, wie Das große Universum. Es waren Enzyklopädien für Kinder und Jugendliche, aber auf dem technischen Stand von 1920. Also etwas überholt, aber es gab tolle Bilder darin. Außerdem habe ich sehr viel Micky Maus gelesen. Ich bekam von meinen Eltern die Ausnahmegenehmigung für dieses ameri­ kanische Druckerzeugnis. Micky Maus durfte ich dann irgendwann sogar abonnieren.

Die Geschwister Jochen und Marion

Von den Nibelungen zu Micky Maus – frühe Lektüre

Das haben die Eltern nicht verachtet? Natürlich. Viel schlimmer waren aber der Comic Sigurd und ähnliche „Schundheftchen“ genannte Publikationen, bei denen erstens die Druckqualität ganz miserabel war, das sprachliche

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Erster Auftritt als Detektiv

Niveau niedrig und die Anbindung an – ja, man kann wirklich sagen – völkisches Gedankengut viel stärker als bei Micky Maus. Die in der Laubenkolonie gegenüber wohnenden bösen Jungs, die lasen alle Aki und Sigurd und Prinz Eisenherz. Im Grunde waren sie die Verlängerung der damals sehr verbreiteten Landser-Heftchen für Erwachsene. Der Zeitungskiosk bot eine große Publikationsfülle von Zweiter-Weltkriegs-Literatur. Ein Kind schnappt das natürlich irgendwo auf, möchte das dann auch haben. Enid Blyton spielte noch eine Riesenrolle, diese Kinderbuchliteratur aus England, die mich wirklich absolut fasziniert hat, Die fünf Freunde und noch andere Reihen. Eine, die mich besonders beeindruckt hat, hieß Geheimnis. Die Titel in der „Geheimnisreihe“ lauteten z. B. Geheimnis um einen nächtlichen Brand. Es ging um eine Kindergruppe, die merkwürdige Verbrechen aufklärte unter Führung von Dicki Kronsbein, ein relativ beleibter Junge, der die Fälle jeweils löste, indem er sich verkleidete und in Konkurrenz stand mit dem Dorfpolizisten „Wegda“, einem noch beleibteren englischen Bobby, der mit seinem „Weg da! Weg da!“ dazwischenfunkte. Dass die Kinder immer die Fälle aufklärten, machte ihn wahnsinnig. Deshalb habe auch ich Detektiv werden wollen und mich verkleidet. Weil ich klein war, dachte ich, als alte Frau komme ich am besten durch die Gegend. So ging ich in den Kleidern meiner Oma zu einem Tatort, an dem eingebrochen worden war, kam zurück und erklärte stolz: „Es ist aufgeklärt. Es war Versicherungsbetrug.“ Das hatte ich irgendwo aufgeschnappt. Dann sagten meine Eltern: „Um Gottes Willen. Bitte, bist du wahnsinnig? Wenn du das hier verbreitest, ist das ­Rufmord.“ Damit war meine Karriere als Detektiv beendet. Weiter ging es literarisch erstmal noch nicht, das war dann das ­nächste Kapitel in der Pubertät und auf dem Gymnasium. Welche Literatur war dort prägend? Das Schloss von Franz Kafka, Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse, Theaterstücke von Thornton Wilder und auch schon Max Frisch. Sehr hoch im Kurs stand bei mir Wolfgang Borcherts

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Draußen vor der Tür. Ich hatte dann irgendwann – das schon früh sogar! – ein Tonbandgerät geschenkt bekommen, mit dem machte ich endlose Experimente und eigene Hörspiele. So habe ich z. B. Rollen aus Stücken wie den Beckmann aus Draußen vor der Tür monologisiert.

Experimente mit Tonband als Vorgriff auf die Hörbücher

Sie haben sozusagen Hörbücher gemacht, bevor die überhaupt erfunden waren? Avant la lettre (lacht). Das ganze akustische Medium hat da wieder sein Faszinosum ausgespielt. Also vom Radio zum Selbstradio. Die Kameras, die kamen erst später. Ich habe schon sehr früh Super-8-Filme gemacht. Wann begann das Theater eine Rolle zu spielen? Das Interesse am Theater begann ungefähr ab dem 16. Lebensjahr. Ich bin ab und zu in die Münchner Kammerspiele gegangen, später auch ins Residenztheater. Sind die Eltern ins Theater gegangen? Die Eltern sind dauernd ins Theater gegangen. Und vor allen Dingen sind sie auch sehr viel in Konzerte gegangen. Deshalb ist es umso verwerflicher, dass meine Mutter mir das Klavierspielen lernen ausgeredet hat. Ich solle erst in der Schule ­besser werden. Das hätte sie nicht tun dürfen. Meine Mutter war eine hochgradig engagierte Gustaf-Gründgens-Verehrerin. Sie hatte ihn natürlich noch im Krieg erlebt, im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, sie muss überhaupt einiges in Berlin im Krieg gesehen haben. Weiterhin war sie eine große Verehrerin von Erich Schellow, der im Schillertheater die ­klassischen Helden spielte, und von Boleslaw Barlog, der es geschafft h ­atte, in Westberlin einen Gegenentwurf zum ­Ostberliner Theater zu machen bzw. überhaupt einen Wie­ deraufbau. Das Schiller­theater war ja zerstört. Das Hebbel-­ Theater existierte als einziges, wesentliches, wo Fritz Kortner seine ersten Aufführungen machte. Aber der Name Kortner ist nicht gefallen, nur der Name Jürgen Fehling, weil Fehling

Theater­ erfahrung der Eltern

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als Gast im ‚Klaußner‘ sich unmöglich gemacht hatte. Es ist ja bekannt, dass Fehling in späteren Jahren psychisch nicht mehr ganz gesund war und er wohl durch ungeheure Schwein­ igeleien aufgefallen war, wie man das nannte. Obszönes ­Auftreten, obszöne Reden. Ein Tourette-Syndrom? Wahrscheinlich. Er bekam dann Lokalverbot.

Friedrich Luft und das Interesse an Theaterkritik

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Wurde Friedrich Luft gehört? Ich erinnere mich sogar, dass ich Friedrich Luft gehört habe, ohne irgendetwas zu verstehen, aber vollkommen begeistert war von seiner Emphase, von seinem Stil und von seiner Stimme, von seinem mitreißenden Temperament. Da ist wahrscheinlich – darüber habe ich noch nie nachgedacht – etwas gepflanzt worden, was mir geblieben ist, nämlich eine Kritik interessiert zu lesen, selbst wenn ich den Gegenstand überhaupt nicht kenne. Heute geht es mir bei Opern und Ballett so. Wiebke Hüster und Eleonore Büning in der FAZ lese ich mit dem größten Vergnügen. Obwohl ich diese ganzen Ballette nicht gesehen habe, kann ich die Rezensionen trotzdem einfach genießen. Das ist jetzt kein Plädoyer für die Kritik, für die Zunft der Kritiker im Allgemeinen, schließlich gibt es auch da böse schwarze Scharfe, aber das hat mich wirklich fasziniert. Überhaupt bin ich ein idealischer Charakter, der immer wieder gegen Wände läuft, weil er Utopien und Hoffnungen pflegt, die längst obsolet geworden sind. Ich erinnere mich auch, dass ich zu einem sehr frühen Zeitpunkt Horst Caspar erlebte und Klaus Kammer, und man kann ja mit einer gewissen Berech­ tigung sagen, Caspar war der Vorgänger von Klaus Kammer. Kammer hat das realistisch grundieren gelernt, was Horst Caspar vollkommen fanatisiert, man könnte sagen, überhöht hat im Sprachvortrag. Caspar ist ja bekanntlich der preußische ­Militär Gneisenau im Durchhaltefilm Kolberg, der mit idealischer Strahlkraft dem Nettelbeck-Darsteller Heinrich George gegenüber den Durchhaltewillen predigt.


Eine Welt- und Kunstaneignung über die Stimme, mit eigenen Experimenten und auf dem Weg zur Literatur – das alles spielt bis heute eine Rolle. Hatten Sie damals den Gedanken, Sie müss­ ten mit der Stimme noch viel mehr arbeiten oder sie sich ausbil­ den lassen? Nein, das hielt ich nicht für nötig. Von meiner Stimme war ich vollkommen überzeugt. Auch das Singen hat natürlich schon eine gewisse Rolle gespielt. Die Stimme hat den Gesang gesucht, und meine Großmutter, die aus dem Rheinland Herbeigezogene, sang praktisch Tag und Nacht, auch Küchenlieder, ein heute vollkommen unbekanntes Liedgut. Stimmen, ja, die haben mich immer interessiert. Später, als ich Popmusikfan wurde, habe ich mich ganz dicht vor den Lautsprecher gelegt, um genau zu hören, wo z. B. Paul McCartney den Ansatz der Stimme herholt, wie dieser Ton produziert wird. Damit habe ich Stunden verbracht, weil man bekanntlich ja auch das Singen durchs Hören lernt. Die fünfziger Jahre waren im Radio, Kino, Theater, wo das über­ kommen Pathetische „Reichskanzleistil“ genannt wurde, und überhaupt im öffentlichen Reden noch ein Nebeneinander vom Sound der Nazizeit: Friedrich Luft, Gustaf Gründgens, Paul McCartney, im Kino der alte Wochenschau-Ton und aus dem ­Osten tönte es Sächsisch. Das große Manko der DDR war ja, dass sie als Staatsoberhaupt einen absoluten Clown hatten. Einen Clown, der nicht einmal Hochdeutsch beherrschte und in einer Stimmlage sprach, die man nur als grauenhaft bezeichnen kann. Eine Fistelstimme, ein Charakter, der sich durch sein Auftreten von der ersten ­Sekunde an vollkommen unglaubwürdig gemacht hatte. Es gab ja bekanntlich in der DDR ganz andere Figuren, deren Strahlkraft nie zur Wirkung gekommen ist, weil immer dieser Wahnsinnige dastand, den man auch natürlich gut karikieren und imitieren konnte und der für alles Negative stand, was nur irgendwie auf der Welt existierte. Die Russen waren lange nicht so dumm wie Walter Ulbricht. Das ist interessant inso-

Interesse für Gesang und wie man Singen durch Hören lernt

Ulbrichts Stimme

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fern, als für einen Schauspieler heute natürlich die Aufgabe, Walter Ulbricht zu spielen, sehr herausfordernd wäre. Nämlich diese Ulbricht’sche Welthaltung und auch sein Auftreten mal realistischer zu untersuchen als nur in der Karikatur, ähnlich wie bei Wilhelm dem II., Adolf Hitler natürlich nicht, das geht zu weit, er ist uninteressant in seiner verbrecherischen Grundhaltung. Es gibt in Leander Haußmanns Filmkomödie Hotel Lux eine schöne Ulbricht-Szene. Axel Wandtke spielt Ulbricht, und da baut er in seinem winzigen Zimmer in diesem Hotel, das für vie­ le die letzte Station vor dem Gulag war, eine Mauer aus Würfel­ zucker. Aus Langeweile natürlich. Da ist eine Abgründigkeit in dieser kleinen Szene. Seine Frau Lotte fragt ihn: „Was machst du denn da?“ – „Ach, nichts. Nur so.“ Das ist zwar immer noch die Karikatur, aber durch diese Rahmung durch das Hotel Lux hat das eine gewisse Ernsthaftigkeit, weil so etwas wie eine Vision, was aus dieser schrecklichen Geschichte einmal werden wird, ­gezeigt wird. Ich habe den Film gesehen. Vielleicht ist das auch deshalb ­gelungen, weil Ulbricht nicht viel sagt. In den fünfziger Jahren wurde mehrfach ein Theaterstück aufge­ führt, das die Stimme thematisiert: Jean Cocteaus bereits 1928 ent­ standenes Stück Die geliebte Stimme. Ein Monolog, den auch Klaus Kinski einmal gespielt hat. Haben Sie das wahrgenommen, solche Texte, die sich mit dem Phänomen der Stimme selbst künst­ lerisch auseinandersetzen? Im Theaterstück geht es darum, dass eine Frau verlassen wird. Doch das Ganze basiert darauf, dass man ihr beim Telefonieren zuguckt und die andere Seite nicht hört. Ja. Was mich daran sofort erreicht, ist das Wort Telefon, weil das Telefon für mich mythische Qualitäten hat.

Telefon als Medium

Inwiefern? Nun ja, das Telefon schlägt die großen Bögen, bis hinab ins ­Totenreich. Nach dem Tod meiner Mutter träumte ich wieder-

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holt, dass sie mich anruft. Allmählich entzaubern allerdings die Handys diese Qualität des Telefons, das ja abwesende Menschen materialisieren kann. Die Digitalisierung überhaupt ist ja erstmal eine große Profanisierung. Technischer Fortschritt galt ja auch früher oft erst als Kulturverlust. Wann haben Sie Bertolt Brecht das erste Mal zur Kenntnis ge­ nommen? Gute Frage … Auf einer Schellackplatte der Uraufführung von der Dreigroschenoper, die im Besitz meiner Eltern war. Eine Platte aus den dreißiger Jahren, sodass ich sagen kann, dass ich die Musik der Dreigroschenoper kenne, seit ich acht, neun, zehn Jahre alt bin. Die habe ich nie verloren, ebenso wenig wie auch erstaunlicherweise – woher kam das wohl – die Rhapsody in Blue von Gershwin, die auch als Schellackplatte vorhanden war und die ich auch aus dieser frühen Kindheit auswendig kannte. Es war natürlich in erster Linie die Musik, also Brecht als Dreigroschenoper-Musik. Brecht als Dramatiker oder ­Lyriker, das ist sicherlich erst in der Schulzeit passiert, in ­München im Gymnasium, wobei die Beschäftigung in Bayern mit Brecht sehr zurückhaltend war, um noch das Mindeste zu sagen.

Erste Begeg­ nung mit Brechts Drei­ groschenoper

Obwohl er ja Bayer war. Ja, eben. Und Hanns Eisler? Eisler erst 1970 mit der Aufführung Die Mutter von Peter Stein an der Schaubühne. Mit Therese Giehse. Mit der Giehse und dem mir später sehr befreundeten Peter Fischer, der die musikalische Einrichtung arrangierte. Da habe ich zum ersten Mal Eisler bewusst, oder überhaupt, gehört und bin dann – ich greife da jetzt vor – in Westberlin eines der Gründungsmitglieder des Hanns Eisler Chors geworden. Dar-

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unter waren auch Maren Kroymann und der spätere Eisler-­ Forscher und Schönberg-Spezialist Albrecht Dümling. Wir haben tatsächlich die großen Chorwerke wie Kurfürstendamm und Ähnliches einstudiert. Das bereitete große Mühe und ungeheure Freude! So habe ich Eisler über die Schaubühne kennengelernt. … und der Gegenpol, die damals aufblühende Popmusik? Die Lords und die Rattles waren die einzigen deutschen Beatgruppen, die man akzeptierte. Die Rattles aus Hamburg, die Lords aus Berlin. Es gab, was Pop- oder Schlagermusik an­ betrifft, eine Quelle, die vielleicht interessant zu nennen wäre: unser Hausmädchen Brunhilde, mit schönem Namen, das ­einen amerikanischen GI zum Freund hatte, der immer mal amerikanische Singles bei ihr hinterließ, die aus der Boogie-Woogie-Zeit waren oder aus dem frühen Rock’n’Roll. Also ganz interessante, schräge Sachen. Diese Brunhilde hat dann auch ihren Soldaten geheiratet und lebt bis heute in Amerika. Durch sie gab es also die ersten englischen Musiken bei mir, noch vor dem Radiosender.

Rock’n’Roll vom Hausmädchen

Elvis war doch eigentlich das Bindeglied zwischen dem, was die Amerikaner gebracht haben, und dem, was sich dann von Eng­ land aus entwickelte. Elvis war was für meine älteren Cousinen und Cousins – die standen schwer auf Elvis oder Bill Haley. Bekanntlich gab es dieses zerstörerische Bill-Haley-Konzert in der Westberliner Waldbühne. Das war absolute No-go-Area, dazu war ich zu wohlerzogen. Das konnte nicht sein. Die Auflehnung gegen diese Wohlerzogenheit kam erst später, mit der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Die Entwicklung der Popmusik und auch des Rock’n’Roll war natürlich vor allem proletarisch. Elvis war in bürgerlichen Kreisen also erstmal mit Vorsicht zu genießen. Das änderte sich natürlich dann später. Wie sahen Ihre Weihnachtsfeste aus?

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Strikt. Nach striktem Muster. Das war ein ganz großes Gebiet meiner Mutter, mein Vater interessierte sich nicht dafür. Meine Mutter hat das streng ritualisiert behandelt und wehe, wenn da irgendetwas dazwischenkam, da kriegte sie einen Tobsuchtsanfall. Sie kriegte wirklich Schreianfälle, wenn das Ritual nicht eingehalten war, wie „niemand betritt das ­Zimmer“ und „jedes Kind sagt ein Gedicht auf“ und möglichst auch noch irgendwas auf der Blockflöte, obwohl ich dazu gar nicht in der Lage war. Und es gab einen Weihnachtsmann, der von irgendwo herkam, oft waren die aus dem studentischen Hilfsdienst rekrutiert. Dann gab es im Segelklub eine Weihnachtsfeier, auf der alle Kinder irgendwie vortreten mussten, ein Gedicht aufsagen usw. Und Weihnachten war sogar kirchlich begleitet. Wir gingen z. B. in die St. Annen Kirche.

Weihnachten bei Festtagsprotestanten

Also typische Festtagsprotestanten. Später hat sich das gewandelt. Da war ich dann im Konfirmandenunterricht und auch überhaupt auf der Suche nach einem Glauben an einen Gott und in Bewunderung für einen Pfarrer, der den Unterricht machte. Ich war tatsächlich auch an dem Beruf interessiert und, ja, da führt eben ein Idealismus zum Nächsten. Ich habe auch immer Gottesbeweise gesucht. In den Himmel hochgeblickt und versucht, Gott herbeizukrampfen. Immer überlegt, wie das Leben sich wohl so unter einer höheren Macht abspielt. Die musste es geben, die war offensichtlich irgendwo versteckt. Der Segelklub am Wannsee spielt eine große Rolle, schon von der Kindheit an bis heute. Die Großeltern sind da 1910 Mitglied geworden. Es gab Dinge in der Kaiserzeit, die en vogue waren, darunter eben das ­Segeln, die Beschäftigung auf dem Wasser, und diese Mit­ gliedschaft blieb ununterbrochen bestehen, bis mein Vater irgendwann dann zum Vorsitzenden gewählt wurde und den Klub dann auch den Amis wieder aus den Händen nehmen konnte. Diesen Klub gründete er mit den versprengten Mitglie-

Segeln als Familien­ tradition

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dern wieder nach dem Krieg. Das Ganze hat eben auch durch die Figur meiner Großmutter väterlicherseits, die als erste Frau alleine ein Schiff auf See führte – oft in der Ostsee – und große Reisen gemacht hat, einen bestimmten Glanz erfahren. Sie war eine der ersten segelnden Frauen, passend zu Kaiser Wilhelms Ruf: Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser. Und wann sind Sie in diese Segelwelt eingetreten? Als Kind. Als Familienmitglied. Irgendwann bekam ich dann ein kleines Schiffchen geschenkt, auf diesem kleinen Boot haben wir dann Segeln auf dem Wannsee gelernt. Es war die Pflanzschule des Segelns.

1969 – Rückkehr nach Berlin zum Studium

Foto rechte Seite: ca. 1980

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Als Sie zum Studium nach Berlin zurückgingen, waren Sie ja nicht gleich auf der Max-Reinhardt-Schule. Warum? Meine Mutter wollte, dass ich Akademiker werde oder zumindest ein entsprechendes Fach anfange. Sie selber hatte ein Kunstgeschichtsstudium auf der Humboldt Universität begonnen und gehörte zu den Gründungskindern der Freien Universität. Das war ihr Mythos. Ich sollte es auch in dieser Richtung versuchen. Es war natürlich die Hochzeit der 68er-Bewegung, und die Uni war in heller Aufregung. Ich habe dann Germanistik nicht wirklich studiert und in Theaterwissenschaft ein bisschen rumdilettiert, ein paar Vorlesungen gehört, vor allem aber ein paar Seminare besucht u. a. bei meinem heute noch befreundeten akademischen Urvater Arno Paul. Arno hatte im selben Jahr seine Dozentur begonnen wie ich mein Studium. Wir waren genau zehn Jahre auseinander, beide Anfänger und hatten eine ähnliche Vergangenheit: Arno hatte in München studiert. Ich war in Bayern zur Schule gegangen. Wir kannten unseren Karl Valentin und Arno erschien in halblangen Lederhosen zu seinen Vorlesungen. Mit Manfred Wilke machten wir interessante Seminare über das Theater im Dritten Reich und besuchten als Zeitzeugen, so habe ich auch den noch kennengelernt, den berühmten Kritiker Herbert Jhering in seinem Dahlemer Haus. Das war


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natürlich wirklich sehr spannend, diese Sachen über Jessner und Fehling zu hören. Über Fehlings berühmten Richard III. am Gendarmenmarkt mit schwarzen Uniformen, die das Publikum an die SS erinnerten. Und dann die Frage, wie weit man im Dritten Reich widerständig sein konnte. Das war sehr schön für so einen Jungen wie mich, der immer schon an Tradition interessiert war, und hier wurde extra darauf hingewiesen, welche Rolle Tradition im Theater, eben selbst in einem so flüchtigen Gewerbe, spielt. Dann allerdings hatte ich vom ­Theoretisieren genug und machte die Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule. Es war eine lustige Situation: Ich musste einen Schiffbrüchigen improvisieren. Ich habe mir, als ein Dampfer mich hätte retten können, die Seele aus dem Leib ­geschrien – so was macht sich immer gut. Jedenfalls habe ich das bestanden. Ich habe mich aber auch da gleich hervorgetan, indem ich fragte, wieso die Entscheidung so lange dauert. Bei mir konnte es doch eigentlich gar keine Frage sein. (lacht) Wir wurden stundenlang auf die Folter gespannt bis zur Bekanntgabe, wer aufgenommen wird. Und dann ging dieses Schauspielstudium los. Gleichzeitig habe ich weiter parallel noch die Uni besucht. Wenn der Traditionsbegriff für Sie wichtig war, dann standen doch grade Leute wie Arno Paul dafür, dass man den Traditions­ bruch behandelt und markiert. Klar. Arno Paul war der Gegenpol. Arno Paul war am Living Theatre und am Bread and Puppet Theatre interessiert, an den neuen Formen, die aus Amerika kamen. Er kannte diese Leute persönlich und hatte ihre Aufführungen in Amerika besucht. Ich habe auch Jerzy Grotowski gesehen, der Standhafte Prinz, auf einem Gastspiel in Westberlin, was mich sehr beein­ druckte, wobei ich natürlich kein einziges Wort verstand. Es gab ein tolles Bühnenbild, in dem Richard Cieslak wie in einem Terrarium spielte. Die Zuschauer schauten von oben in ein Brettergeviert. Das hatte eine sehr starke Bildkraft. Dann ­Ariane Mnouchkine mit 1789 in der Deutschlandhalle, wo es

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den fabelhaften Effekt gab, dass die Verschwörer mitten im ­Publikum kurz vor der Revolution miteinander tuscheln, bis ein echter Ordner kam und sagte: „Hier wird nicht diskutiert!“, weil er dachte, die Studenten wollen schon wieder die Aufführung stören und diskutieren. Der Ordner war auf diese Weise bruchlos Teil des Geschehens. Dann habe ich ein paar von diesen amerikanischen Truppen gesehen, die sehr poetisches Theater machten, wo sich sehr viel über Imagination und über Assoziation abspielte, auch ganz ohne Requisiten. Anders als bei 1789, das war ja ein richtiger Kostümschinken.

Welttheater in Westberlin

Ließ sich das auf die eigenen Vorhaben beziehen, Schauspieler zu werden? Ich kann das damit beantworten, dass diese studentischen Theatererfahrungen mit den Gastspielen den Blick zum Körperlichen weiteten und damit über das hinausgingen, was ich als Schüler in München gesehen hatte. Die großen Inszenierungen von Hans Lietzau, darunter die Uraufführung von Heiner Müllers Philoktet, waren sehr auf Sprache ausgerichtet. Das war, ganz in der Linie von Fritz Kortner, der aus Amerika zu­ rückkam und über den dort herrschenden Wohnzimmerplauder­ ton klagte, ein Anknüpfen an die zwanziger Jahre, an diese nachexpressionistische Sprechkraft. Man kann sich die Aufnahmen, wie Kortner Monologe spricht, auf YouTube anhören. Den Shylock, oder wie er versucht, bei Kabale und Liebe so genau wie möglich das Exzessive in der Emotion herauszukitzeln. Von dieser Tradition herkommend, stelle ich fest, was ich von diesen Gastspielen wunderbar aufnehmen konnte, war, das Theater als magischen Raum zu begreifen. Als magischen Raum, in dem jede Aktion genau in Beziehung steht zu einem bestimmten Ort auf der Bühne. Das war der wesentliche Effekt dieser Gastspiele. Die haben da den Blick stark geweitet und ich erinnere mich, dass ich in einer dieser Vorstellungen neben Bruno Ganz saß – der war schon mein Held damals – und in seinen Augen sah ich das gleiche

Vorbild Fritz Kortner

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Starker Start mit George Tabori

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Leuchten über bestimmte Vorgänge auf der Bühne. Da habe ich gedacht, ah ja, das erreicht auch die vorherige Generation, denn für mich war er ja praktisch eine Generation vor mir. Und dazu kamen eben die Aufführungen in der von Peter Stein ab 1969 geleiteten Schaubühne, da ging nun wahrlich etwas Neues los. Stein hat mit seiner Qualität und Meisterschaft einen ganz großen Schub neu eingebracht. Und das alles geschah gleichzeitig: Ich kam aus München, Lietzau kam aus München ans Schillertheater. Stein kam über Bremen und Zürich nach Berlin. Eine glorreiche Zeit konnte beginnen. Ich weiß noch, dass ich mich darüber richtig gefreut habe. Ich bin zu beiden hingepilgert wie im Rausch. Noch während des Schauspielstudiums hatte ich mit Tabori Pinkville gemacht, ein Stück gegen den Vietnamkrieg. Meine allererste Theaterarbeit überhaupt. Zur Zeit der Schauspielschule, Max-Reinhardt-Schule genannt, heute UdK. Damals war der Name Max-Reinhardt-Schule noch präsent. George ­Tabori, der gerade mit seinem Stück Kannibalen am Schillertheater richtig berühmt geworden war, kam zu uns in den zweiten Jahrgang, und die Schulleitung sagte, er wolle mit uns ein Stück machen, wir sollten ihm ein bisschen vortanzen. Das war alles sehr angenehm, weil er von großer amerikanischer Freundlichkeit war. Er wirkte wie ein wirklich achtzigjähriger Greis, obwohl er gerade fünfzig geworden war, denn er sprach sehr langsam und sehr tief und man hatte das Gefühl, er kommt gar nicht mit. Das war natürlich weit gefehlt. Er hat dann unseren Jahrgang komplett engagiert und noch ein, zwei Leute aus dem Jahrgang drüber. Wir begannen ein Stück namens Pinkville zu proben, der originale Codename für das Dorf My Lai, das angelehnt war an die Geschichte von Jesus Christus. Leutnant Calley, der Hauptkriegsverbrecher, der befohlen hatte, die Zivilbevölkerung auszurotten, ist da gleichzeitig eine Christus-Figur. Ein ziemliches Durcheinander von Bildern. Vor allem aufgehängt an der Figur von Jesus Christus – die Hauptfigur ist also gleichzeitig Täter und Opfer –, was dann auch ­einer der Gründe war, weshalb dieses Stück, das an sich als


Mit George Tabori während der Proben zu Pinkville, 1971

Auftragswerk der Berliner Festwochen konzipiert war, nicht auf den Berliner Festwochen gezeigt werden konnte, weil es als antiamerikanisch galt und dafür kein Staatstheater zur ­Verfügung gestellt werden durfte. Es musste also eine Ersatzspielstätte gefunden und privat finanziert werden. Es traten zwei Produzenten, Ottokar Runze und Wilmar R. Guertler, als Geldgeber auf, die das Geld – ich weiß nicht, woher – auftrieben,

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Der VietnamKrieg auf der Bühne – Pinkville von George Tabori, 1971

Skandalinszenierung als Vorsprechen

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und es wurde ein Spielort in einer Kirche gefunden – was inhaltlich nicht so fern war, denn es ging ja um eine Christus-Analogie – und zwar in Berlin-Buckow, im Süden. Die gibt es heute noch, die Dreieinigkeitskirche, eine moderne Kirche. Da probten wir, und weil dieses Stück ein Verbot der Fest­ wochen nach sich gezogen hatte, war die Aufmerksamkeit riesig. Aus ganz Deutschland waren die Intendanten angereist. Das war natürlich für einen jungen Schauspieler ein Vorsprechen feinster Art. Und der Erfolg war groß. Es gab viel Musik, einen tollen jazzigen Sound von Taboris Musikmann Stanley Walden, und am Schluss waren wir alle nackt, das hatte also alle Ingredienzen modernen Theaters. Die Leute rannten da rein und die Intendanten suchten sich ihre Schauspieler aus: Ich hatte u. a. ein Angebot von Hagen Mueller-Stahl nach Mannheim, wohin er von der Schaubühne, die er anfangs geleitet hatte, gewechselt war. Das erschien mir völlig obskur. Ich sagte: „Wo ist Mannheim?“ Ich hatte als junger Mann von 21 keine Ahnung. Es klang mir nur nach tiefster Provinz. Ich war empört, dass man mir so etwas anbot. Dann gab es das Angebot von Hans Lietzau. Der bot mir an, zu ihm ans Schillerthea-


ter zu gehen. Er sagte: „Ich möchte sie fördern.“ Das waren große, wunderbare Worte, von ausgerechnet jenem Lietzau, den ich so bewundert hatte. Da habe ich gedacht, na klar, mache ich. „Gut“, habe ich gesagt, „jawohl“. Dann gab es noch zwei weitere Angebote, eines aus München. Ich konnte es mir also quasi aussuchen. Außerdem kam kurze Zeit darauf Michael ­König als Vertreter des so genannten Besetzungsausschusses, der ja damals bei der Schaubühne aus Schauspielern bestand. Das alles klingt, als wenn dieses „Alt und Jung“ für Sie über­ haupt kein Problem- oder Konfliktfeld gewesen ist. Hat denn die­ ses Thema der Opposition oder die Frage, gegen wen man sich richtet, keine Rolle gespielt? Wie viel hat der besagte magische Raum an gesellschaftlichem Kontext aufgerufen? Der magische Raum hatte einen gesellschaftlichen Kontext durch seine Poesie, also durch seine Entfernung von der Plattpolitik, durch seine Entfernung von der Tagespolitik, durch seine Entfernung von der deutschen bräsigen Militärpolitik, also von der militärpolitisch gefärbten Gesellschaft. Das Wort an sich war schon Gegenprogramm zu jedem deutschen Tun und Lassen. Also, alt versus jung, dieser Gegensatz – soweit ich mich erinnere – spielt zwar immer eine Rolle, weil das nun mal ein naturgesetzlicher Antagonismus ist, aber er war weniger krass, als man vermuten könnte, weil es genügend Vorbilder unter den Älteren gab, die beispielsweise durch Widerstand in der Nazizeit aufgefallen waren – das waren natürlich enorme Vorbilder. Gründgens indes war schon lange tot. Meine Mutter war glühende Gründgens-Verehrerin, also vor allem des Mephisto in seiner Faust-Aufführung, aber auch noch anderer Rollen aus der Zeit des Theaters am Gendarmenmarkt. Was sie an ihm fand, kann ich nur vermuten. Ich nehme an, es war das gewissermaßen Saubere im Luziden oder das Luzide im Sauberen, so müsste man genauer sagen. Das deckte sich wahrscheinlich mit ihrer Begeisterung für den Nationalsozialismus, auch wenn man Gründgens nicht als Nazi bezeichnen kann, aber er

Theater und politischer Kontext

Die Mutter als Gründgens-­ Verehrerin

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hatte, glaube ich, eine Fähigkeit, Glanz auf das Böse zu projizieren.

Die Linie Fritz Kortner – Peter Stein

Es ist bis heute ambivalent und nicht so richtig zu ergründen, was er nun wirklich war. Während Bernhard Minetti immer das offensichtlich Abgründige, Dunkle, Böse auch in der NS-Zeit verkörperte, wusste Gründgens dem durch eine Hintertür der Eleganz zu entweichen. Er versuchte sich da drüberzustellen, und das hat meine Mutter, denke ich, fasziniert. Natürlich war das eine Art Ästhetisierung des Bösen. Mich hat das nicht mehr erreicht. Es war vor meiner Zeit, und auch Kortner hat mich eigentlich nur durch seine Legende und seine Ton- und Bilddokumente erreicht. Ich habe nie eine Aufführung von ihm gesehen, habe aber, nachdem ich gehört hatte, dass Stein Kortner-Schüler war und ihn vor allem als Vorbild für sich reklamierte, dieser Figur immer nachgespürt und dann spätestens durch seine Autobiografie Aller Tage Abend erfahren, was er alles hinter sich gebracht hatte in der Emigration. Und wenn ich Widerstand sage, dann zähle ich die Emigration bruchlos dazu, weil sie natürlich auch ein Akt des Widerstands ist – vermittelter. Andererseits gab es in der Figur von Boleslaw Barlog, dem Vorgänger von Hans Lietzau als Intendant am Schillertheater, auch das abgenutzte Bild eines Theaterpatriarchen unter völliger Verkennung der Verdienste dieses Mannes, der ein gewaltiger Beweger war und eine für Westberlin im Kalten Krieg einzigartige Figur. Der hat das Berliner Theater nach dem Krieg wieder mit in Gang gebracht. Das war wirklich besonders. Es haben tolle Leute da gearbeitet, aber seine Zeit war irgendwann abgelaufen. Dann kam Lietzau. Das war eigentlich ein Versprechen auf eine große Erneuerung. Warum das nicht ganz funktioniert hat, hatte mit der Konkurrenz der Schaubühne zu tun. Das Fatalste, was einem in dieser Situation passieren konnte, dasselbe Stück, der Prinz

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von Homburg, wurde zweimal gemacht, einmal von Lietzau, einmal von Stein. Über Lietzau wurde gar nicht mehr gesprochen, Stein wurde in den Himmel gehoben. Da war es aus. Mehr oder weniger haben die dem Hans Lietzau, der ein großer Regisseur war, den Schneid abgekauft. Peter Stein ist um zwölf Jahre älter als Sie. Was hatten Sie da­ mals von ihm gesehen, als alle in Berlin zusammenkamen? Und was war die Erwartung, wie es mit ihm weitergehen würde? Erstmal hatte ich nur von ihm gehört. Ich hatte Viet Nam Dis­ kurs oder Gerettet, seine zwei Inszenierungen in den Münchner Kammerspielen, nicht gesehen. Das rutschte irgendwie durch, oder ich war mir als Oberschüler der Bedeutung nicht bewusst, oder ich hatte keine Zeit. Da gibt es tausend Gründe, warum man was verpasst. Dann kam Bremen, davon hörte ich als Schüler in München nur ganz am Rande. Das war mir kein Begriff, auch Peter Zadek zu der Zeit noch nicht. Erst als Stein nach Berlin kam, erinnerte ich mich: „Aha, da gab es doch schon in den Kammerspielen eine Aufführung, von der alle ­geredet haben, Gerettet.“ Damals Aufführung des Jahres von Theater heute. Also bin ich in alles gepilgert, was nun von ihm zu kriegen war. Es fing mit der Mutter an. Therese Giehse war mir natürlich ein Begriff aus München, auch schon als Schüler. Und dann kam als Nächstes schon der Peer Gynt. Es kamen ­parallel immer auch sehr linke Projekte wie Das Verhör von ­Habana von Enzensberger. Das gerettete Venedig von Hofmannsthal hatte sich Frank-Patrick Steckel ausgesucht, eine ganz eigenartige Arabeske im Spielplan. Peer Gynt, das war die großartige, unfassbar bildmächtige, wirklich alle Erwartungen sprengende Aufführung, von der man das Gefühl hatte, zum allerersten Mal in seinem Leben überhaupt Theater zu sehen. Ein solches Erlebnis ist nicht mehr vorher oder nachher auf­ getaucht. Das geht allen so, die drin waren. Es hatte vor allem auch mit dem Bühnenbildner zu tun. Karl-Ernst Herrmann ­hatte hin und wieder Operette gemacht und war in Bremen manchmal sogar als der Firlefanz-Heini verschrien – ganz

Die Schau­bühne Peter Steins

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Peer Gynt als wichtiges Erlebnis

Botho Strauß

­ nders als der dort ebenfalls tätige Wilfried Minks. Minks war a ganz woanders gelandet, in der Avantgarde, wie man weiß. Herrmann hatte einen Spielertick: Er ließ auch mal eine elek­ trische Eisenbahn durch ein Bühnenbild fahren. Er hatte ein großartiges spielerisches Talent und baute dem Stein für den Peer Gynt eine Märchenlandschaft, eine Raumbühne, wie sie im deutschen Theater noch nicht gesehen wurde. Herrmann hatte überhaupt keine Abstraktionsabsicht, sondern nur bildnerische Absichten oder manchmal sogar bebildernde Absichten. Und baute für Peer Gynt eben eine Märchenlandschaft von großer Verwandlungsfähigkeit: Plötzlich kam die Sphinx, der Sphinx heißt es heute, aus dem Boden. Also, man staunte durch einen Abend von vier Stunden. Man saß wie ein Kind mit offenem Mund da und dachte, das kann nicht wahr sein. Es war großartig und dann kam eine Aufführung nach der anderen, immer wieder ein neuerfundener Raum, denn die alte Schaubühne, heute das HAU 2, war ja sehr klein. Die Möglichkeiten sind da im Grunde sehr beschränkt, es gab also einen hohen Grad an Selbstausbeutung mit endlosen Arbeitszeiten, Umbauzeiten usw. Die Optimistische Tragödie wurde ausgegraben, Lohn­ drücker von Heiner Müller wurde gespielt, das Sparschwein von Labiche wurde erkundet: „Was, wie, eine Farce in diesem linken Theater? Wieso ist das Theater überhaupt noch links? Was ist das? Was spielt sich denn da ab? Wieso ist Prinz von Homburg ein Träumer? Wieso ist das kein Anti-Preußen Stück?“ Über­ raschende Volten schlug die Dramaturgie in den Händen von Botho Strauß, ursprünglich Kritiker bei Theater heute, der nach Wolfgang Schwiedrzik geholt worden war, daneben blieb ­Dieter Sturm aus der frühen Zeit bestimmend. Haben Sie Strauß damals wahrgenommen? Nein. Ich war ein ganz kleiner Mann. Einundzwanzig Jahre alt. Vor ein paar Jahren haben Sie seine autobiografische Erzählung Herkunft als Hörbuch gelesen.

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Die Zeit und das Zimmer von Botho Strauß, mit Ernst Stötzner, Schauspielhaus Bochum 2005

Ja, inzwischen habe ich ihn kennengelernt und auch in seinem Haus in der Uckermark besucht. Wir haben uns beide irre gefreut, uns nach all der Zeit endlich mal persönlich zu sprechen. Ich habe ja vier Stücke von ihm gespielt, Kalldewey Farce, Die Zeit und das Zimmer, Groß und Klein, Der Kuss des Vergessens.

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Wir haben sechs Stunden lang ohne Unterlass miteinander gesprochen. Er hat mir nach einer halben Stunde das Du angeboten, was mich freute, weil ich natürlich von Botho Strauß ein ähnlich großes, eindrückliches Bild im Kopf hatte wie z. B. von Heiner Müller oder Thomas Bernhard. Von diesen drei Großen habe ich nur Bernhard nie kennengelernt. War diese Schaubühne als das wohl beeindruckendste Theater, das es zu dem Zeitpunkt gab, somit das Vorbild für den jungen Schauspieler? Ohne jeden Abstrich. Das schien beinahe unerreichbar in seiner Qualität, und die Schauspieler waren sehr, sehr gut. Man erkannte das als Anfänger oder als Laie nicht unbedingt sofort, weil das immer ein Gesamtkunstwerk war. Es war einem nicht wirklich klar, wenn man nicht direkt vom Fach war, dass das nur funktionieren konnte, weil es alles extrem gute Schauspieler waren. Bruno Ganz, Otto Sander, Jutta Lampe, Edith Clever, Dieter Laser. Ich könnte sie endlos aufzählen. Jeder für sich absolute Weltspitze. Es war eben die Zeit, als die Schaubühne das beste Theater der Welt war. Darf man mit Fug und Recht sagen. Und das wusste auch die Welt und sie kam auch, was sehr schwer war an der Kasse, weil man dann als kleiner Student eigentlich überhaupt keine Chance mehr hatte: Es kamen aus der ganzen Welt Leute, die da reinwollten in den kleinen Raum. Und es war peinlich und oft auch entwürdigend, wenn man um irgendeine Möglichkeit betteln musste, eine Karte zu bekommen.

Das beste Theater der Welt

Gab es dafür Tricks? Es gab eigentlich keine wirklichen Tricks. Es gab ab und zu den Versuch, mit der Kassendame zu flirten oder irgendjemanden, den man in dem weiteren Feld des Ensembles kannte, zu bestechen. Es war wirklich schwer.

... und wie man dafür Karten bekommt

Wie war die Ausbildung auf der Schule? Gab es da eine Art Me­ thodik? Gab es da Leute, die Sie beeindruckt, beeinflusst oder

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vielleicht provoziert haben? War das eine gute Ausbildung ins­ gesamt? Ich weiß nicht, wer als Student oder Schüler seine eigene Ausbildung richtig einschätzen kann und nach welchen Kriterien man das tut. Kann man nicht, aber jetzt machen wir das in der Rückschau. Auch in der Rückschau ist es nicht so einfach zu beantworten. Also, ich würde mal sagen, es war eine Ausbildung, die das Problem hatte, in einer absoluten Umbruchzeit stattzufinden. Die Lehrer, die Lehrenden, waren total über die Frage verunsichert, was die Lehrinhalte sind, was das moderne Theater ist, wofür sie uns ausbilden. War das eine Umbruchzeit des Theaters oder der Gesellschaft? Sowohl als auch. Von allem, von allem. Es war vollkommen klar, dass die Nachkriegszeit mit der Studentenbewegung nicht nur vorüber, sondern überwunden war. Es gab eine ganze Reihe von Dozenten, die vollkommen im Herkömmlichen verhaftet blieben. Die waren für uns obsolet, mit denen konnten wir nichts anfangen. Dann gab es auch unter den nicht mehr Jungen total interessante Leute um die vierzig, fünfzig, die mitunter ganz überraschende Methoden anwendeten. Es gab einen Professor Gutkelch, der Tonbandaufnahmen machte und uns bewies, wie unsere Stimme bestimmte Inhalte allein durch ihre Grundfärbung transportiert oder verbirgt. Das hatte eine ganz große Qualität. Auch menschlich. Dann gab es eine Atemtherapeutin, Ilse Middendorf, die heute noch weltweit als eine große Koryphäe gilt. Sie hat uns das richtige Atmen für die Bühne beibringen wollen. Das überstieg nun völlig mein Verständnis, wenn es hieß, jetzt fließt der Atem ins Knie, da war es bei mir aus, darüber konnte ich mich leider nur lustig machen, das habe ich damals nicht verstanden. Es gab so Spintisierereien, es gab überhaupt keine Art von Stringenz in der Ausbildung. Der eine machte mal das, der andere machte plötzlich Dialekte. Da kam einer vom Schillertheater und machte mit

Ausbildung zwischen Alt und Neu

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uns Schlesisch, und ich sagte: „Ja, jetzt wird es völlig wahn­ sinnig, ein ausgestorbener Dialekt.“ An Hauptmann dachte ich nicht. Und Rollenarbeit in dem heute noch gepflegten, notwendigen herkömmlichen Sinne gab es auch, aber viel zu wenig. Es wurde wahnsinnig viel rumexperimentiert, aber ­ nicht mit dem Wunsch, was Neues zu gebären, sondern eher, nichts falsch zu machen. Hatte sich diese Rollenarbeit schon auch auf die neuen Stücke gelegt, also etwa die Stücke von Bond oder Fassbinder? Waren diese Rollen schon als Figuren in den Schulen angekommen? Ja, absolut. Das war spannend. Wir haben z. B. in meinem Jahrgang Franz Xaver Kroetz gemacht und auch Wolfgang Deichsel. Das Vorherrschende dieser Literatur war ja das Anknüpfen an das sogenannte Volksstück unter Berufung auf Marieluise Fleißer, die daraufhin selber von ihren Enkeln sprach und damit also Fassbinder, Kroetz und andere meinte. Es gab ein ähnliches Einstehen für die Sache der „einfachen Leute“. Auf einmal traten Figuren auf, die die Welt nicht verstanden, aber sich damit nicht zufriedengaben, die das besser wissen und weiter gucken wollten, und vor allem bei Kroetz gab es natürlich Figuren, die allein schon durch ihre sprachliche und soziale Herkunft Widerstandspotenzial zum herrschenden Gestus bil­ deten. Ich hatte dann das Glück, zwei Jahre später in der allerersten Kroetz-Aufführung, die es überhaupt in Berlin gab, zu spielen, nämlich in Wildwechsel, und zwar auf bayerisch am Schillertheater in der Werkstatt, und ich erinnere mich noch, dass Kroetz der Bild-Zeitung ein Interview gab: „Wenn ich in Berlin leben müsste, würde ich mich aufhängen.“ Also, er hatte genügend Provokationen mitgebracht (lacht). Dann haben wir Gerettet gemacht, von Bond. Len und Fred hießen die beiden jungen Männer. Und was mich im Nachgang zu den Erfahrungen in München mit Lietzau am Residenztheater immer stark bewegt hat, war der Franz aus den Räubern, damals gespielt von Martin Benrath. Das war von den klassischen Rollen die einzige, die ich gearbeitet habe, denn nach zwei Jahren ging

Mit Kroetz in die neue Dramatik

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Wildwechsel von Franz Xaver Kroetz, Schillertheater Berlin 1972

ich von der Schauspielschule wieder ab. Ich hatte bereits mehrere Engagements – gleichzeitig, könnte man fast sagen – und die Schauspielschule war auch sehr froh, mich loszuwerden. Warum? Die Renitenz ist ja ein Grundgeschmack in meinem Leben, durch die Zeitumstände noch verstärkt. Wir haben den Älteren auch Vieles nachgemacht. Wir haben eine Art linkes Agita­ tionswesen da hineingetragen, indem wir eben, wenn auf der Universität gestreikt wurde, auch auf unserer Hochschule den Streik ausgerufen und einen aktiven Streik, wie man das damals so schön nannte, dadurch gestaltet haben, dass wir die Dozenten verpflichteten, unter unserer Aufsicht Arbeiten zu schreiben, so wie ich es an der Schaubühne gelernt hatte, über Lohnarbeit und Kapital, wo unter Anleitung der kommunistischen Zellenleiter von der KPD/AO Klassenarbeiten geschrieben wurden. Die Dozenten mussten sich hinsetzen, sie bekamen einen Fragebogen und mussten den ausfüllen. Es war vollkommen aberwitzig, eine Harlekinade des Stalinismus in pubertärer Form, aber alle hielten sich daran. Die Dozenten

Abschluss Schauspielschule schon nach zwei Jahren

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fanden das irgendwie eine neuartige Erfahrung. Das führte natürlich zu Auseinandersetzungen, nach denen man froh ­ war, dass ich das Institut verließ. Dennoch gab es eine Abschlussnote. Es waren zwei, drei, die mit mir abgingen, und es gab durchweg dann eine Zwei und wir bekamen richtige Hochschulabschlüsse. Also gab es die Bühnenreife, benotet und schon nach zwei ­Jahren? Ja. Klingt ungewöhnlich. Ja, so war die Zeit da.

Thema Stimme und Körper

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Ich wollte noch etwas zu Gutkelch fragen. Der hatte angespro­ chen, womit Sie sich vorher schon beschäftigt hatten und was bis heute eine Rolle spielt, nämlich diese Auseinandersetzung mit Stimme und was sie in der Konnotation bedeuten kann. Das erinnert mich an die frühen Tonbandexperimente. Schließlich sind Sie auch ein Interpret im Hörbuch geworden. Insofern war der Professor Gutkelch doch wichtiger als das, was Sie unter Spintisiererei verbuchen. Na, ja, ihn will ich gar nicht zu den Spintisierern zählen. Er ­hatte sich da was ausgedacht, was eine ganz interessante ­Methode war, um einem werdenden Schauspieler den Sitz und den Inhalt der eigenen Stimme zu vermitteln und wie man das variieren kann, um da voranzukommen. Nun, Hörbücher machen ja fast alle Schauspieler. Doch so sehr ich das liebe, für mich war die Sprache auf dem Theater wichtig vor allem in Kombination mit dem Körper und nicht nur in so einer Wesenlosigkeit wie vor dem Mikrofon. Ich suchte i­mmer auch die ­Exzessivität. Deshalb hatte ich an Kortner so einen Geschmack gefunden, aus seinem Rachegebrüll, aus seinem Shylock-­ Monolog bin ich nie entlassen worden, ein ganzes Leben lang und auch heute, wenn ich den Shylock selber ­spiele, gibt es ­einen Kortner-Moment, den ich nicht loslasse, an dem ich


­ änge, und die Exzessivität von Körper und ­Sprache, das hatte h für mich immer einen ganz hohen Stellenwert. Gleichzeitig war ich schon früh sehr empfindlich dafür, wenn man Schauspieler sprachlich nicht verstand, weil ich das nicht nur als ein intellektuelles Unvermögen empfinde, sondern auch als einen Unwillen, so eine Art Rückzugsdefizit. Das gibt es ja, denn die großen Exzentriker machen sich stimmlich durchaus sehr gut verständlich. Zusätzlich muss man zum Beispiel bei den vielen misslungenen Don Carlos-Aufführungen leider konstatieren, dass Schauspieler oft einfach nicht ver­stehen, was sie sagen. Was haben Sie vom politischen Westberlin wahrgenommen? 1969 war eigentlich die große Zeit der Politisierung schon vorbei. Die begann grob gesagt 1965 und mündete ab 1968 in die Zeit der Zersplitterung, der enormen Fraktionierung. Es gab aber natürlich, dessen ungeachtet, nach wie vor große Massendemonstrationen zur Feier des 1. Mai zum Beispiel, oder gegen den Vietnamkrieg. Der seinen Höhepunkt da erst erreichte. Der Krieg wurde einfach immer weiter ausgedehnt und neue Kriegstechniken wie Napalm eingesetzt. Was mich ja dann auch in die Arme von George Tabori brachte, der sein Vietnam-Stück Pinkville mit uns aufführte. Aber es gab Massen­ demonstrationen nicht nur gegen Vietnam, es gab Massen­ demonstrationen gegen die Notstandsgesetzgebung, gegen oder für universitäre Reformen und gegen, sagen wir, irgendwelche Willkürmaßnahmen des Berliner Senats. Also der Themen waren viele, die Polizei war hochgradig gereizt und man musste sich sehr davor hüten, nicht im Nullkommanichts zusammengeschlagen zu werden, wobei die Bevölkerung ­ komplett gegen uns war. Also, wenn ich uns sage, meine ich in erster Linie studentische Protestierer. Das Denunziantentum feierte fröhlichste Urstände. Aus dem ersten Stock riefen alte Rentnerinnen: „Da hockt noch einer!“ Und das war ich im Busch. Ich hatte mich vor den Polizisten versteckt, die da sofort

Demo-Erfahrung mit dem Gummi­ knüppel

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hinkamen und sich den Klaußner rausgezogen haben. Es war wirklich so eine Atmosphäre „ihr und wir“. Es war ganz klar. Die Gesellschaft war komplett zwiegespalten, was es viel leichter machte im Umgang: Man wusste sofort, das ist einer von uns und einer von denen, damit war die Welt sehr schnell überschaubar, und das machte auch einen ungeheuren Spaß, das darf man nicht vergessen, das war ein ungeheurer Spaß zu wissen, man steht auf der vermeintlich richtigen Seite. Hatten Sie Angst, dass es vielleicht auch nochmal so richtig kip­ pen könnte? Also in wirkliche, große Gewalt? Spielte das eine Rolle? Nein, überhaupt nicht. Keine Sekunde. Welche große Gewalt hätte das sein können? Es gab überhaupt keine Gefahr in Westberlin, außer der individuellen Gefährdung durch irgendwelche Knüppel, aber es gab nicht die Gefahr, dass entweder die DDR einmarschiert oder die Russen uns Westberliner bombardieren oder dass die Amerikaner sagen, jetzt reicht es uns, wir sind in Vietnam und ihr seid mal ganz still. Das gab es nicht. Es war eine Spielwiese, man konnte, wahrscheinlich im Gegenteil sogar zu Westdeutschland, das alles frei gestalten, ausprobieren, Häuser besetzen. Das war eine ganz große Experimentiergeschichte, auf dem Theater, wie gesagt, ja auch, und politisch war das sehr überschaubar. Erst später strahlten die Berliner Entwicklungen auch nach Westdeutschland aus. Das Alltagsbild war aber eher auch ein erotisches. Auch das muss man klar sagen, es ist ja ein ganz wichtiges Feld. Und der persönliche Aspekt der Rückkehr nach Berlin? Ich war nach Berlin zurückgekehrt, weil durch die Trennung der Eltern das Gefühl aufkam, in der Familie geht alles vor die ­Hunde, da hab ich überhaupt nichts mehr zu suchen. Berlin war für mich in Bayern als Identität immer ein Rückzugsort ­gewesen. Nun wohnte ich im Studentendorf Schlachtensee, das war ein „Dorf“ genanntes Studentenheim, weil es aus

Bayern und Berlin

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mehreren Häusern bestand und auch so organisiert war, mit einem studentischen Bürgermeister. Das Ganze stand unter der Verwaltung des Studentenwerks, welches heute noch existiert und die universitären Immobilien verwaltete. Es gab Versammlungen, es gab Sit-ins auf dem Gelände. Ein weitläufiges Gelände im Grünen. Es war sehr amerikanisch anmutend, wenn man das von heute aus betrachtet, total campusartig, der Schlachtensee war in der Nähe, keine zehn Minuten ­entfernt. Dort konnte man baden gehen im Sommer, nackt ­natürlich, und im Winter Schlittschuh laufen. Es gab ein sehr reges gesellschaftliches Leben in diesem Studentendorf und als ich einzog, 1969 im Herbst, im Oktober, waren eben ge­rade in der Nacht zuvor die Frauen- und Männerhäuser ­gemischt worden in einer revolutionären, selbstermächtigten Aktion – denn es war natürlich verboten. Alle hatten ihre Zimmer getauscht, sodass ab dem Tag, wo ich kam, Frauen und Männer gemischt wohnten, was vorher ausgeschlossen war.

Das Studentendorf Schlach­ tensee und die sexuelle Revolution

Innerhalb der Häuser oder sogar innerhalb der Zimmer? Innerhalb der Häuser. Sehr witzig. Nein, aber als ich ins Badezimmer kam, um dort mein kleines Waschbeutelchen abzu­ legen, in gewohnt konservativ bayerischer Manier, standen sechs nackte Frauen da. Sechs, ich werde es nie vergessen, splitternackte Frauen, vor denen ich sofort zurückschreckte und ausrief: „Oh, Entschuldigung!“ Ich wusste weder, dass die Häuser vorher getrennt waren, noch dass sie über Nacht gemischt worden waren. Dann aber kam zur Antwort: „Nee, komm rein.“ Damit begann eine Zeit der Überforderung. Ich war schockiert, ich dachte, das stehe ich nicht durch. Diesen Ansturm an Unkonventionalität empfand ich als Bedrohung, da habe ich gedacht, das geht zu weit. Man war überhaupt noch nicht dazu fähig. Das war eine Überforderung. Es war aber auch ein typisches Phänomen, dass die, die schon länger da waren, diese Schwelle schon überschritten hatten. Es ­kamen dann immer wieder Neue nach und die waren immer

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wieder aufs Neue konsterniert und entsetzt und herausgefordert. Dabei spielten zum Beispiel Drogen noch eine relativ ­untergeordnete Rolle. Es wurde natürlich schon gekifft, auch Trips, also LSD, wurden eingeschmissen, aber das war nicht Hauptthema. Hauptthemen waren Politik und Eros. Promis­ kuität war eine Selbstverständlichkeit, und einem Bedürfnis nachzugeben war eigentlich Pflicht.

Bereitschaft zur Libertinage

Also, wie der Spruch damals … Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Esta­ blishment. Das hat zwar niemand damals gesagt – es ist ­typisch, dass es solche Sprüche immer im Nachhinein gibt. Es herrschte eine allgemeine, große Bereitschaft zur Libertinage. Nicht das Schlechteste, muss man sagen, angesichts der Tatsache, dass das Gegenteil einfach furchtbar ist. Die Anti-Libertinage ist ja Repression pur. Aber natürlich hat diese Freizügigkeit auch genügend Wunden hinterlassen. Und nicht nur bei Frauen. Das muss man alles sehr fein abwägen, genau ins ­Verhältnis setzen, denn es näherte sich Verhältnissen an wie in Frankreich, wo es den Primat von Politik und Libertinage gibt, wofür zum Beispiel Michel Houellebecq und Didier Eribon stehen. Diese zwei Vertreter einer aktuellen französischen ­ ­Literatur sind g ­ enauer Ausdruck dessen, was in Frankreich ­unverzichtbare Topoi sind. Davon ist Deutschland inzwischen meilenweit entfernt, denke ich. War damals aber näher dran. Viel näher dran. Es ist natürlich interessant, im Nachhinein auch zu fragen, ob das jetzt eine Bewegung war, die männlich geprägt, auf die männliche Lustbefriedigung ausgerichtet war. Das kann man immer leicht sagen. Es gab aber sehr viele ­Frauen, von denen auch damals schon die Parole ausging, wir befreien uns durch Sex, wir wollen raus aus der provinziellen Enge, wir wollen raus aus der Enge der Gesellschaft, und Sex ist das Mittel, um frei zu sein.

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Gab es da zu der eigentlichen politischen Bewegung, für das, was in der Schauspielschule stattfand und was im privaten ­Bereich stattfand, einflussreiche Literatur, die man ganz beson­ ders geteilt hat? Ja, klar, unbedingt. Zum Beispiel die Ideen zur Sexualität von Wilhelm Reich oder auch Magnus Hirschfeld. Aber ich möchte noch einen Gedanken vorbringen, damit richtig zu verstehen ist, dass die Generation vor mir, also auch die Generation der politischen Anführer – wir waren ja Zöglinge und Nachkömmlinge –, was das Thema der Libertinage betrifft, andere An­ sichten hatte. Das Thema der erotischen Befreiung in Bezug auf Politik ist in jeder dieser Generationen, die damals auf den Plan traten, anders gesehen worden. Die Dogmatiker, die sich dem Maoismus oder dem Stalinismus verschrieben – für die war Erotik gar nicht existent, offiziell. Hintenrum wurde freilich dennoch ungeheuer gesündigt. Die verwirklichten sich nur in der Politik? Die bestanden nur aus Politik und dem Verächtlichmachen anderer Meinungen. Das war ein hohes Gut. Es wurden andere ja sofort und sehr schnell als Verbrecher bezeichnet, „das ist gefährlich, was der Genosse sagt“, da fehlte nicht viel zum Strick, zum Gulag. Das wurde auch genüsslich aus der Sowjetgeschichte zitiert, also die Sanktionen des Stalinismus, wie Lager und sogar Erschießen, hatten ihren Reiz. Auch Die Maßnahme von Brecht spielte da plötzlich rein. Auf einmal wurde das ein absolut diskutierbares Vorgehen. Nicht umsonst kommt dann sehr bald die RAF und der Satz von Ulrike Meinhof, „natürlich darf geschossen werden“. Das entwickelte sich sehr schnell in diese fatale Richtung, aber wir kleinen Leute da, in unserem Studentendorf Schlachtensee, die frisch dazukamen, anpolitisiert und erst recht anerotisiert, waren politisch eigentlich völlig inkorrekt. Man kann im Grunde sagen, dass wir als antiautoritäre Sponti-Fraktion so eine Art Vorläufer waren von dem, was – antibürgerlich und heute sehr bürgerlich – die Grünen irgendwann mal werden sollten.

Extreme der politischen Emanzipation

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Eine eigene Lebenswelt erschließen, aufbauen und verteidigen, aber nicht mehr die Welt revolutionieren. Genau. Die Grünen waren allerdings am Horizont noch lange nicht zu erkennen, davon war noch nicht ansatzweise die Rede. Umweltverschmutzung, Atomkraft waren keine Themen. Nur im ganz, ganz kleinen Zirkel. Das wurde im Gegenteil diffamiert als konservativ, rückwärtsgewandt, weil der technische Fortschritt selbstverständlich immer auf Seiten der politisch fortschrittlichsten Kräfte oder der Bewegung war. Aber es gab ja auch Querschläger, speziell in Westberlin mit zwei großen Persönlichkeiten, Fritz Teufel und Wolfgang Neuss, die als Performer Schlingensief vorweggenommen haben. Teufel und Neuss waren Leute, die diesen dogmatischen Einfluss der Theorie auf ihre Weise zersetzt haben. Ich bin da sehr zurückhaltend, weil ich weder Teufel noch Neuss persönlich je begegnet bin oder auch im Falle von Neuss nicht mal eine Aufführung gesehen habe. Ich bin gar nicht sicher, ob die große Zeit von Neuss sich da nicht schon ihrem Ende zuneigte. Aber nochmal zur Literatur in der Verbindung von Eros und Politik. Es gab zum Beispiel zwei sehr unterschiedliche Autoren gleichen Namens, Alice Miller und Henry Miller, und beide wurden unbedingt gelesen, auch Anaïs Nin spielte eine Rolle, aber natürlich auch Norbert Elias und der ganz frühe Sloterdijk kamen auf den Markt, Kritik der zynischen Vernunft. Es war der Zeit gemäß alles sehr links geprägt, auch in Anknüpfung an die Weimarer Republik. Man las Lunartscharski, Alfred Sohn-­ Rethel und Lukács.

Alice Miller und Henry Miller

Zum Teil finanziert aus der DDR. Im Nachhinein wurde das bekannt. Aber selbst, wenn wir das gewusst hätten, hätte uns das nicht gestört. Eigentlich war es ganz gut, dadurch gab es die Chance, an bestimmte Inhalte ­heranzukommen, die sonst nicht vermittelt worden wären. Und die DDR selbst hat das bestimmt nicht stabilisiert.

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Als anpolitisierter Student zurück nach Berlin – was bleibt für eine Wahrnehmung aus dieser Zeit für den anderen Teil der Stadt? Es gab die merkwürdige sentimentale Sehnsucht nach der intakten Ganzstadt, ich will gar nicht mal von Ganzdeutschland sprechen, aber vor allen Dingen Berlin war offensichtlich mehr als nur Westberlin. Für mich als Berliner war das Gefühl ­präsent, dass die Stadt sozusagen größer ist als mein kleiner Bezirk. Es gab natürlich auch hier wieder diese Traditionslinien zum Theater. Ich war sehr viel in Ostberlin im Theater, im Deutschen Theater, im Berliner Ensemble, im Gorki Theater.

Theaterbesuche in Ostberlin

Das ging problemlos schon zu der Zeit? 1971 gab es dieses Viermächteabkommen über Berlin. Ab da war es ganz einfach, vor allen Dingen mit einem westdeutschen Pass. Als Westberliner musstest du immer noch irgendwelche Eintritts-Präliminarien machen, Passierscheine aus­ füllen, aber mit dem westdeutschen Pass konntest du direkt zur Friedrichstraße und durch. Nicht in Sekundenschnelle, aber es war durchlässig. Der Pass ins Berliner Ensemble. Genau. Und deshalb haben sehr viele Westberliner diesen westdeutschen Pass gehabt, obwohl es überhaupt nicht legal war laut Viermächte-Status. Aber in Westdeutschland haben alle Bezirksämter den zweiten Wohnsitz vermittelt. Ich war z. B. in Saarbrücken, wo meine Mutter wohnte, gemeldet mit zweitem Wohnsitz – erster Wohnsitz Berlin – und deshalb kriegte ich den Pass und da stand ja nicht drin, dass ich auch in Berlin wohnte, da stand nur Saarbrücken drin. Also, man hatte so seine Tricks, damit kam man sehr schnell rüber. Was fanden Sie dort im Theater? Also, eins war klar: Besser als die Schaubühne konnte auch im Osten nichts sein. So viel war relativ schnell klar, aber darum ging es ja auch gar nicht. Die Kollegen hatten ja auch gar nicht

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den Vergleich. Es durften ja nur sehr wenige ausgewählte Schauspieler in den Westen und sich Aufführungen anschauen. Sie waren auf einem anderen Trip, und den rauszufinden war auch nicht leicht. Man wusste, das Theater in der DDR, in Ostberlin, arbeitet mit einem Auftrag. Den Auftrag fand man ja grundsätzlich nicht falsch. Auftrag sollte ja sein, den Kommunismus einzuführen, den Sozialismus voranzutreiben. Wenn du ins Deutsche Theater gingst, hattest du ganz klar den Eindruck, hier ist staatliches Wesen, welches unter der Prämisse der Fortschrittlichkeit die Stücke betrachtet. Fortschritt der Menschheit. Aha, und wie ist das zu interpretieren? Wo ist hier der Fortschritt? Da gucktest du hin, versuchtest zu verstehen, was daran so fortschrittlich ist. Als kleiner Piepel, wie der Ber­ liner sagt, habe ich überhaupt nicht unabhängig genug denken können, um hinter die Fassaden zu schauen. Also, ich habe erstmal die Marke für den Inhalt genommen. Und so beim Berliner Ensemble z. B. den Arturo Ui gesehen.

Arturo Ui mit Politbüro

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Die berühmte Inszenierung mit Ekkehard Schall. Das war ein wirklich unfassbares Erlebnis. Es war die 500. Aufführung, ich bekam durch einen glücklichen Umstand in letzter Sekunde eine Studentenkarte, saß in der Proszeniumsloge links, und in der ersten Reihe saßen Honecker, Mittag, Stoph – das gesamte Politbüro und die Staatsführung –, und ich habe gedacht, das kann nicht wahr sein, alles in meiner Reichweite. Das hat mich aber natürlich lange nicht so fasziniert wie das, was Ekkehard Schall auf der Bühne gemacht hat, denn so etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich habe das auch nicht für Theater gehalten. Das war der reinste Manierismus, aber durch seine Artistik eben so abgehoben von allen Standards, über ­allen Standards. Das war wirklich ein Erlebnis und dazu die ganze Riege da unten in der ersten Reihe … Später sah ich, ­übrigens zusammen mit Uwe Bohm, im Gorki Theater Plato­ nov, inszeniert von Thomas Langhoff. In den frühen Siebzigern sah ich noch Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W. mit ­Dieter Mann am Deutschen Theater. Und sicher noch einiges


mehr. Vieles davon habe ich vergessen und das Meiste, man muss es so sagen, war schauspielerisch unheimlich gut, aber auch sehr hermetisch. Die jungen Schauspieler gucken ja meistens gar nicht die Stücke, sondern nur, was die großen Schauspieler machen. Da scheint die Beurteilung manieristisch bei Schall doch merkwürdig. Schall ist ein Sonderfall. Wobei seine Gestaltung von Arturo Ui natürlich auch aus einer nachexpressionistischen Auffassung von Schauspielerei kam. Absolut. Total interessant, eine Tragödie, wenn ich das nicht gesehen hätte. Es war ein Gewinn fürs Leben, weil es eben so exzeptionell war, aber ein Einzelfall, so etwas habe ich, auch wegen der rein artistischen Komponente, nie wieder vorher und nachher gesehen. Und hermetisch soll heißen, es war sehr gut gemacht, aber es war eigentlich unklar, worum es ging.

Die Lesbarkeit des ostdeutschen Theaters

Das klingt so, als wenn es sich Ihnen entzogen hätte. Ja, das war in vielen Fällen auch so. Später wurde versucht, mir zu erklären, das sei diese Verabredung zwischen Publikum und Bühne gewesen, diese berühmten Zwischentöne oder versteckten Botschaften. Vielleicht gab es die. Die konnte ich nicht lesen. Also, da war etwas auf der Bühne repräsentiert, was man dann später auch in der Übergangszeit, während der „Wende“, auch in der Kantine wahrnehmen konnte, Arroganz. Vielleicht nicht Arroganz auf der Bühne, aber das Entsprechende, nämlich das Hermetische. Ganz komisch, dass ich das deutlich empfand. Ulrich Mühe fasste das Problem, das vor allem ein Wahrneh­ mungsproblem war, unter dem er litt, so zusammen: Der Ost­ schauspieler macht angeblich alles mit dem Kopf, der West­ schauspieler alles aus dem Bauch und aus der eigenen Biografie heraus.

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Konstruktionen von Theaterarbeit in Ost und West

Das waren die Vorurteile. Ich hatte, als das so paraphrasiert das erste Mal so geäußert wurde, sehr stark das Gefühl, jetzt wird nach Konstruktionen gesucht, um sich abzugrenzen. Was sich natürlich dahinter verbirgt, ist die Vermutung, dass im Westen die Theaterfiguren auf ihre psychologische Genauigkeit abgeklopft wurden, die man naturgemäß durch die Anbindung an die eigene biografische Erfahrung besser untermauern und erfahren kann, und dass im Osten eben tendenziell die Botschaft, die an eine Figur angehängt werden kann, deut­ licher aufgesucht wird als ihre psychologische Genauigkeit. Ich glaube, das spielte schon eine Rolle, dieser politische und ­ästhetische Gegensatz, der dann jedoch in diese Richtung vergröbert wurde: Die spielen nur aus dem Bauch und die spielen nur aus dem Kopf. Das ist natürlich plumper Unsinn. Es gab sowohl als auch. Auf beiden Seiten, ganz klar. Es gab im Westen keinen Auftrag. Es gab ihn natürlich unausgesprochen, das heißt, der Zeitgeist war der Auftrag. Und das ist schon ein Unterschied, Zeitgeist und Auftrag. Es ist nicht dasselbe, aber kann zur Konformität auf beiden Seiten führen. Welche Musik hat für Sie in jenen wilden Jahren eine Rolle ge­ spielt? Die Musik war für mich das verbindende Glied zwischen der Kindheit, der Jugend und dem Erwachsenwerden in Berlin, welches ja in total getrennten Welten stattgefunden hatte: Das Kind im behüteten Elternhaus, dann im konservativen Bayern kurze, eruptive, pubertäre Versuche, erwachsen zu werden, und dann die Politisierung in Berlin. Was immer gleich blieb und sich als Linie durchzog, war die Liebe zur Musik, vor allen Dingen zur Popmusik, von der Klassik hatte ich weniger Kenntnis. Dafür ist das andere so stark in mir, dass es mich bis heute in den siebten Himmel befördern kann, und das fing 1963 mit den Beatles an, I want to hold your hand, und hörte nicht auf und hörte auch in Berlin nicht auf. Das war dasjenige, was im krassen Gegensatz stand zur Politisierung. Scheinbar. In Wahrheit aber nicht, denn es ging allen so, allen, und ich

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1975

würde nicht anstehen, selbst Rudi Dutschke und natürlich Peter Schneider und ähnliche Leute da einzubeziehen. So ­ ­können eben historisch sich scheinbar völlig ausschließende Phänomene nebeneinander existieren. Dieser Aufbruch der Popmusik war eine unglaubliche Energiequelle. Hanns Eisler war parallel dazu die Anknüpfung an die klassische Moderne, auch an Schönberg und an manches, was mir dann später ­näherkam, wie z. B. Luigi Nono oder Paul Kornfeld oder Alexander Zemlinsky, das war dann die Entwicklung eines erwach­ senen Geschmacks, doch der eigentliche Urgrund, die Ursuppe, blieb und brodelte in der Popmusik weiter. Die ich dann auch alle live gesehen habe, sämtliche Bands inklusive der Beatles.

Ursuppe Popmusik

Obwohl die schon 1966 mit Konzertauftritten aufgehört hat­ ten? Da habe ich sie gesehen. In der berühmten Bravo-Beatles-Blitztournee im Circus-Krone-Bau in München, in einer legendären Veranstaltung. Die haben eine halbe Stunde gespielt und ­davon gibt es auch verschiedene Aufzeichnungen, unter anderem eine, auf der man mich sieht, als sechzehnjährigen voll-

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kommen wild gewordenen Fan, der sich ganz nach vorne an die Bühne vorgekämpft hatte und sich mit John Lennon über Brüllen zu verständigen suchte, da ich bestimmte Titel­ wünsche hatte.

Kurze Begegnung mit John Lennon

Hat er was gehört? Ja, er hat sich zu mir umgedreht, die Schultern gezuckt und ­zurückgebrüllt, dass er mich nicht verstehen würde. Das war meine legendäre Begegnung mit John Lennon. Wen gab es noch? Ich habe Mick Jagger und die Stones gesehen, ich habe die Kinks gesehen, ich habe die Spencer Davis Group gesehen, ­Herman’s Hermits, die Beach Boys. Ich habe sämtliche dieser Popgruppen live auf der Bühne gesehen, entweder in München damals oder später dann auch in Berlin in der Deutschlandhalle, z. B. die Beach Boys, die unglaublich präzise wie auf der Platte gesungen haben, weil das mit den mehrstimmigen Gesängen gar nicht anders ging.

Beach Boys für das eigene Gesangs­ programm

Sie konnten das nur so reproduzieren. Die konnten nicht einfach losbrüllen. Und deshalb sind sie auch bis heute irgendwie sehr präsent in meinem Kosmos, sodass ich sie jetzt auch in das Programm mit meiner Band integriert habe. Wir singen jetzt auch endlich einen Song von den Beach Boys. Welchen Beach-Boys-Song? Surfin’ USA (lacht). Komponiert übrigens von Chuck Berry. Da ist die Traditionslinie zu Blues und Rock. Haben Sie damals oder vielleicht ein paar Jahre später einen ­Zusammenhang herstellen können zwischen dem Performen solcher Bands und dem Auftreten im Theater? War da schon ein Zusammenhang ahnbar, dass das vielleicht in eine Richtung geht, wo das alles bei Ihnen zusammenkommen könnte?

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2010

Ja, das war schon erahnbar, weil die Energie dieser Musik nicht nur ein Input war, sondern sofort auch einen Output nötig machte. Das musste genauso raus wie es reinging. Das war ganz klar. Das war auf jeden Fall ein Wechselstrom und sofort wurde Gitarre gelernt, wurden eigene Bands gegründet, sofort wurde überlegt, wie singt er das, und wurde das Ohr nächtelang an den Lautsprecher gelegt, um genau zu hören, aus welcher Ecke des Körpers die Stimme kommt. Warum holt er Luft? Wie ist das? Da lernt man alles, beim Singen kann man durch Hören alles lernen, und das war ein Input-Output von Anfang an. Und natürlich hätte ich bei der Musik bleiben können, aber dafür waren die anderen Einflüsse zu stark. Also diese sprachlichen Einflüsse, die durchs Radio kamen, die ersten Theaterbesuche in München mit der Schule, Selberspielen im Schultheater. Das, was Sie Performen nennen oder Entertainment oder was auch immer, spielte auf jeden Fall sehr früh eine große Rolle in meinem Leben.

Noch einmal Stimme Sprechen Singen

Haben Sie in diesem Zusammenhang Handkes Publikums­ beschimpfung gesehen?

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Handkes Publikums­ beschimpfung

Flugblätter gegen Lietzau – Rauswurf

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Ja, im Forum-Theater, wo die Uraufführungsinszenierung von Claus Peymann gezeigt wurde. Ich habe diesen Text seit damals nicht nochmal in der Hand gehabt und dieses Stück nie mehr auf der Bühne gesehen. Ich weiß nur noch, dass die Anbindung an popmusikalische Effekte deutlich und unübersehbar war und dadurch sowieso meine Sympathie hatte. Auch das nächste Stück, das folgte, hat mir sehr gefallen, Das Mün­ del will Vormund sein. Das war eine Pantomime. Es ist mir schon allein deshalb so deutlich in Erinnerung, weil Handke ja eine ungeheure Begabung für Titel hat, schon allein die Titel machen die Sachen ja unsterblich. Das Mündel will Vormund sein, besser geht es ja gar nicht. Das ist ja wirklich fantastisch. Wunschloses Unglück, eine tolle Erzählung, oder Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Deshalb sind für mich bestimmte Sachen aus der Zeit, die ich damals als Junge, als ganz junger Mann durchdenken konnte und doch nicht ganz erfasst habe, absolut hängen geblieben durch ihre Erneuerungsenergie. Der Ort, in dem das stattfand, war das Forum-Theater am Kurfürstendamm, im ersten Stock, von Klaus Hoser als Privattheater geführt, bei dessen Besuch man schon ahnte, hier geht die Post ab. Da wurde auch Fernando Arrabal gespielt und man wusste, da erwartet einen etwas Überraschendes, während man bei der Vaganten Bühne der Familie Behrendt eher damit rechnen konnte, dass das nicht so unerwartet sein würde. Den Sohn, der die Vaganten zu meiner Zeit leitete, Rainer Behrendt, habe ich kennengelernt. Ich habe mit ihm und dem Vater zusammengesessen und überlegt, ob wir irgendwas machen. Ich tummelte mich irrsinnig in der Szene und war dadurch auch irgendwie bekannt. Auch dass ich später aus der Schaubühne durch die „falsche Politik“, die mir vom Maoisten Michael König angekreidet wurde, rausgeflogen bin, sprach sich rum in der Szene. Es gab auch noch eine Aktion am Schillertheater, das Verteilen von Flugblättern ausgerechnet gegen mein Idol ­Lietzau, die dazu führte, dass Lietzau mir während der Proben zu Heiner Müllers „Der Horatier“ kündigte. Es waren ungeheure Dummheiten dabei, aus Überschuss an Aufbruchsenergie.


Etwas anderes noch aus diesem Erinnerungsraum um 1970: in­ ternationaler Film. Für junge Schauspieler spielt das ja immer eine Rolle, diese Leinwandidole. Gab es da einen Einfluss, einen Zusammenhang? Schließlich war die Zeit um 1970 in Frankreich und Amerika der Aufbruch in eine neue Filmsprache, und künst­ lerische Filme aus Osteuropa waren nun auch verstärkt zu sehen. Es gab natürlich ein paar sehr bewunderte Filme, wobei ich meine Zukunft nie beim Film sah. Es schien mir nahezu unerreichbar, das war eine Welt für sich, an die ich überhaupt keine Anbindung erwartete, aber natürlich hat man das wahrgenommen. Das war eben wie eine gute Ausstellung, wo man auch nicht sagt, man wird Maler, aber man nimmt das trotzdem wahr. Also, fangen wir hinten an, beim osteuropäischen Kino. Eines der ganz großen Ereignisse war der Film von Alexander Mitta, Leuchte mein Stern, leuchte. Das war eine Sensation in Westberlin, weil es auf sehr bildkräftige Weise die Entwicklung der frühen Sowjetunion sehr dramatisch, sehr bildgewaltig und filmisch sehr interessant zu bündeln wusste. Wenn man sich diesen Film jetzt 40, 50 Jahre später nochmal anschaut, schüttelt man mit dem Kopf bei so viel Holzschnittgetue, aber es war damals ein sehr starker Eindruck. Das DDR-Kino habe ich überhaupt nicht wahrgenommen, das war kaum zu sehen bei uns. Von den Amerikanern gibt es viel, was ich gesehen habe, angefangen bei Der längste Tag von Cornelius Ryan. Das ist ein Film über die Invasion vom 6. Juni 1944 in der Normandie. Später natürlich Fellinis Filme, Bergman, Kubricks Clockwork Orange und, nicht zu vergessen, Tarkowski. Kinofilme stellten sich mir damals wirklich eine Weile mehr als Sensations- denn als ein Gebrauchsgenre dar. Das Theater hatte einen viel zu hohen Stellenwert in meinem Leben.

Film – bewundert, aber noch keine Option

Nach der Zeit im Schillertheater kommt eigentlich eine typische Wanderzeit: Berlin, Köln, Stuttgart. Es waren sehr viele kleine Rollen, die Sie spielten. Also aus dramaturgischer Sicht sieht es interessant aus, weil Sie bei dieser ganzen Entwicklung neuer Dramatik und neuer Dramaturgie dabei waren, um das neue

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Beginn der Wanderjahre als Zeit der Ausreifung

Theater in die Köpfe zu bringen. Die wichtigste Frage dahinter ist natürlich: War das eine Art Ausreifungsphase? Das war es auf jeden Fall. Es gab nach den anfänglichen Höhenflügen erstmal Bruchlandungen und dann gab es aus verschiedenen Gründen, wie beim Tennisball, bei der Landung ein paar Hüpfer, immer mal rauf und wieder runter. Ich hatte Interesse daran, mich den Zirkeln, die in die moderne Theatermacherei drängten, anzuschließen. Dazu gehörte die Gruppe um Christof Nel, mit dem Dramaturgen Urs Troller, ein gewaltiger Guru. Es wurde natürlich auch irrsinnig viel heiße Luft produziert, aber es war lustvolles Streiten und es ist viel passiert. Es wurde gesucht und dadurch auch viel Ortswechsel produziert. Sich an ein bestimmtes Haus fest zu binden, war durch die Anbindung an den Regisseur Nel nicht möglich. Das war wie Familie. Oder wie bei Zadek, der hatte seine ganze Schauspieler-Familie immer um sich herum. Genau. Aber es hat schließlich bis 1988 gedauert, bis ausschließlich zentrale Rollen im Mittelpunkt standen. 1988 meldete sich Köln, in diesem Falle der Intendant Klaus Pierwoß,

Die Einge­ schlossenen von Altona von Jean-Paul Sartre, Schauspiel Köln 1988

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und sagte, du musst hier spielen, Sartre, Die Eingeschlossenen von Altona. Das war meine erste Bekanntschaft mit Frank Hoffmann. Ein Riesenerfolg und eine tolle Aufgabe. Vorher waren es oft politische Überlegungen, auch theaterpolitische, die mich so wie eine Billardkugel durchs ganze Land hin und her schießen ließen. Erst wurde immer nach der Mitbestimmung gesucht; dadurch ging es zu Peter Palitzsch nach Frankfurt am Main, dann ging es nach Köln zu Jürgen Flimm und dann ging es schon wieder weiter zu Niels-Peter Rudolph nach Hamburg. Ich habe meine Arbeit damals sehr stark über diese politischen Fragen definiert, die natürlich am Ende für die persönliche künstlerische Seite nicht immer gleich viel abgeworfen haben. Nicht unbedingt. Das war in erster Linie eine theaterpolitische, theaterorganisa­ torische Frage. Es ging gar nicht mehr um die Gesellschaft als Ganzes? Doch, doch. Das würde ich so nicht sagen. Natürlich war es die Frage, wie organisieren wir in allen Lebensbereichen Demokratie? Das war schon eine gesellschaftspolitische Frage, jeder an seinem Platz sozusagen. Aber in der Tat, da haben Sie recht, es war so eine Art Ausreifungsphase. Eine Art Therapie auch. Welche Regisseure, welche Produktionen, welche Rollen waren da besonders wichtig? Ernst Wendt. Bei ihm spielte ich Ruprecht im Zerbrochnen Krug. Er war ja ursprünglich Theaterkritiker bei Theater heute, wurde dann zum Dramaturgen, erst am Schillertheater bei Lietzau, später dann auch Regisseur an den Münchner Kammerspielen, danach als Gast am Hamburger Schauspielhaus, da habe ich dann mit ihm als Regisseur zusammengearbeitet. Ich hatte ihn während der Lietzau-Affäre als Freund und Unterstützer kennengelernt. Wendt hatte einen ganz wunderbar unideologischen und unkonventionellen Angang an die Stücke. Ihn interessierten keine Thesen, die man drüberlegen sollte, sondern ihn interessierte herauszufinden, was ein Stück für ihn bereit-

Ernst Wendt

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Christof Nel

Dieter Giesing

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hält, was es zu entdecken gibt. So wurde er gefragt: „Herr Wendt, Sie machen jetzt die Räuber, sind Sie jetzt bei R angekommen? Warum machen Sie die Räuber?“ Dann sagte er, wenn ich das wüsste, bräuchte ich es nicht zu machen. Eine sehr kluge Antwort. Also, er hat sich in die Stücke tief hineinbegeben, es hat mir einen großen Spaß gemacht und wir ­haben uns gegenseitig erfreut. Dann gab es immer wieder die Arbeit mit Christof Nel. Vor allen Dingen in Frankfurt am Main, vom Chor in der Skandalinszenierung der Antigone 1978 bis hin zur Kleinbürgerhochzeit, die höchst vergnüglich war. Peter ­Palitzsch machte ein Stück von Horst Laube, Der erste Tag des Friedens, eine prima Erfahrung mit dem Brechtschüler Palitzsch und seiner menschenfreundlichen Genauigkeit. Dann Im wei­ ßen Rößl, als Dr. Siedler. Das war ein großer, bunter, das ganze Frankfurter Schauspielhaus beschäftigender Abend, vom Garderobenpersonal bis zur Chefsekretärin, alles spielte mit, ­inszeniert von einem Schauspielerregisseur, der zu meinem größten Lehrer wurde, Alexander Wagner. Eine legendäre ­Figur, die ein ganzes Buch füllen würde. Bei Dieter Giesing dann Kalldewey Farce und Die Zeit und das Zimmer, beides von Botho Strauß, in Zürich und Bochum. Später noch wieder in Zürich den Rittmeister Wysskowski in Marija von Isaak Babel, eine tollkühne Figur, und Kulygin in Drei Schwestern, ein hoffnungslos Verliebter. Giesing wurde zu dem Regisseur, mit dem ich die meisten Arbeiten machte. In München war Peter Stein sein Assistent gewesen. Er war noch ein Schüler von Piscator und außerdem ein enger Freund von Gerhard Richter. Sein Verständnis von zeitgenössischer Kunst ließ ihn im besten Fall hinter glatten, scheinbar harmlosen Oberflächen Katastrophen andeuten. Er war geschult an den Realisten aus England und Amerika. Wir machten Stücke von Martin Crimp und David Mamet, den ich dann 2018 beim Versuch, im Thomas-Mann-Haus in Pacific Palisades zu arbeiten, noch besucht habe. Beim großen Schweizer Regisseur Werner Düggelin spielte ich in Zürich eine meiner liebsten Rollen, den Menschenfeind von Molière in einer hocheleganten Überset-


Kalldewey, Farce von Botho Strauß, mit Ossi Fuchs, Schauspielhaus Zürich 1992

zung von Arthur Luther, ein ungeheurer Erfolg. Und mit Wilfried Minks, der neben seiner epochemachenden Erneuerung des Bühnenbildes auch ein exzellenter Regisseur war, machte ich Willy Loman, den Handlungsreisenden. In letzter Zeit sehr wichtig wurden mir Philipp II. in Don Carlos, der Dorfrichter Adam im Zerbrochnen Krug und Shylock im Kaufmann von

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Der Menschen­ feind von Molière, Schauspielhaus Zürich 1997

­Venedig. Alles drei Arbeiten mit einem Vertreter der Jüngeren, Roger Vontobel. Bei der neuen Dramatik war Kroetz natürlich ganz weit vorne. Botho Strauß sowieso. Das Interessante ist übrigens, dass Botho Strauß Kroetz in unserem Gespräch beinahe als einzigem Dramatiker Anerkennung zu zollen bereit war. Wobei die Fehde zwischen Heiner Müller und Botho Strauß ja uralt ist. Keine persönliche Fehde, aber in der Öffentlichkeit der Literatur. Kroetz ist unstrittig ein großer Dramatiker, der in den siebziger Jahren auch sehr viel gespielt wurde. Irgendwann kam dann noch Thomas Brasch dazu. In zwei Stücken von Brasch habe ich gespielt. Einmal Rotter, 1977, die Uraufführung von Nel in Stuttgart, und später nochmal ein Stück mit dem Titel Frauen. Krieg. Lustspiel, bei dem Brasch immer sagte, der Klaußner ist der Einzige, der meinen Text spielt, was natürlich völliger Blödsinn war. Das war am Hamburger Schauspielhaus. Rotter war eine bedeutende Sache für die deutsche Theater­ geschichte. Ich glaube, es war die größte Uraufführung von Brasch im Westen, in einer ganz bestimmten Tradition der Dar­ stellung von deutscher Geschichte.

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Absolut. Das war ja ein historisches Ereignis, muss man wirklich sagen. Es kamen mehrere Faktoren zusammen. Thomas Brasch und seine Frau Katharina Thalbach waren gerade frisch ausgebürgert worden, wegen Biermann. Die RAF war auf dem Höhepunkt und deutsche Geschichte spielte mal wieder ihre terroristische Variante aus. Ich gab einen der Soldaten, es war das Jahr 1977, das Stammheim-Jahr. Peymann hatte für den Zahnersatz von Gudrun Ensslin gesammelt. Das war ein irrsinnig aufgeladenes Klima, hasserfüllte Briefe, die auch zum Teil ans schwarze Brett gehängt wurden, dagegen stand ein rie­ siger Erfolg des Theaters. Peymann hatte da einen bunten Zauber entfacht, den das Stuttgarter Publikum mit Begeisterung entgegennahm. Er hatte Faust als großen Karnevalsumzug ­gebaut. Dann das Käthchen von Heilbronn. Und Rotter von Christof Nel als Gast, der da in Stuttgart bei Peymann höchstens einmal vorher gearbeitet hatte. Ausstattung Karl-Ernst Herrmann, mit einem fabelhaften Peter Sattmann, der damals noch ein Rock’n’Roll-Theaterspieler war, Alexander Scheer vergleichbar. Dazu Peter Brombacher, der schwere Held, damals der schwerste Held Westdeutschlands. Und eben ein Stück aus deutscher Kälte, also auch aus der Familiengeschichte der Braschs – die jetzt in dem Dokumentarfilm von Annekatrin Hendel sehr schön nochmal aufgeblättert wurde – die Emigration von Vater Horst, die Geburt von Thomas in England, dann diese Kadettenanstalt, durch die er gejagt wurde: ein Ver­ brechen des Vaters unfassbarer Art. Dann diese ganze Zugehörigkeit zur Nomenklatura der DDR, mit dem Vater als Stellvertretenden Kulturminister usw. Was aber heißt das? Ich glaube, es heißt, dass Thomas Brasch die Möglichkeit hatte, eine Art Vogelperspektive einzunehmen und so von auswärts gucken zu können. Die DDR aus der Vogelperspektive oder die Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung oder der Arbeiterbewegung oder der Emanzipationsbewegung des 20. Jahrhunderts; das hat Thomas Brasch mit seinem großen Talent umgesetzt. So entstand dieses Stück Rotter über Deutschland und seine Entwicklung, ein unglaublicher Erfolg

Die Urauf­ führung von Thomas Braschs Rotter

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beim Publikum. Ein Riesenerfolg. Dieses Stück war im Nu ausverkauft. Es war ja eine Art Faust durch drei deutsche Staaten. Es hatte diese schweren Lasten. Es trug noch die schwere Last der deutschen Katastrophe und viele fühlten sich an ihren ­Erinnerungen gepackt. Man könnte über Lohndrücker von Heiner Müller ähnlich sprechen, aber da geht es eindeutig schon um ein neues Thema. Bei Thomas ging es um ein altes Thema. Einen großen Anteil am Erfolg hatte auch der Chor der sogenannten „alten Kinder“, die dann vor der Vorstellung schon im Foyer flanierten, d. h. Acht- oder Zehnjährige in Smoking und Abendkleid. Das war irritierend und sehr bildhaft. Also es kam einiges zusammen. Wir waren damit auch zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen.

Theatertreffen

Was hat das Theatertreffen damals bedeutet? Auch für einen jungen Schauspieler? Das Theatertreffen ist, solange ich denken kann, ein Highlight gewesen. Ganz eindeutig. Und es war für uns natürlich immer – gerade für mich, der ich aus Berlin kam – eine Riesenfete, da hinzufahren, wenn man eingeladen wurde. Drei Jahre hintereinander! Rotter ’78, Antigone ’79 und 1980 Käthchen von ­Heilbronn. Aber das Theatertreffen hat mich schon auf der Schauspiel­ schule begleitet, weil wir im Joachimsthalschen Gymnasium – was neben der Freien Volksbühne, dem heutigen Haus der Ber­ liner Festspiele lag, wo heute ein Musik­instrumentenmuseum ist – unsere Schauspielschule hatten. Während des Theater­ treffens krabbelten wir immer rüber und hatten so unsere Schleichwege, weil Karten für Schauspielschüler nicht zu kriegen waren, um uns dann trotzdem in die Aufführungen reinzuschleichen. So habe ich also schon früh Noelte gesehen und ­Sachen, die man sonst gar nicht zu sehen gekriegt hätte. Wie hat man sich denn informiert, was die Kollegen machen oder was woanders gespielt wird? Ist man so viel rumgefahren? Nein, überhaupt nicht. Dazu war ja kein Geld da. Das war doch viel zu teuer, für junge Leute überhaupt nicht machbar. Wir

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­ aben uns natürlich informiert über Theater heute und haben h dann oft genug gerätselt, was denn da nun eigentlich drinstand … Und was die Zeitungen betrifft, in denen sehr viel über Theater geschrieben wurde, allen voran natürlich von Benjamin Henrichs in der Zeit, von Georg Hensel und Günther Rühle in der FAZ, von Peter von Becker in der SZ, um nur einige zu nennen, oder von Peter Iden, Frankfurter Rundschau, die linksliberale westdeutsche Tageszeitung, die wir am meisten lasen, wie auch schon Fritz Bauer, der sie immer in seiner Jacke trug. Es war ein schmerzlicher Abschied von der Frankfurter Rund­ schau, als sie beinahe einging, muss man sagen. Das interessiert mich, weil das auch für die Selbstbildung natür­ lich eine Rolle spielte, das Wissen, was machen die anderen. Aber es gab natürlich auch damals schon ältere reisende Schauspieler, die dann von anderen Städten erzählten, in ­denen sie gastierten. Das war natürlich ein Nimbus, wenn man am nächsten Tag aus dem Flugzeug etwas später auf die Probe kam. Das hatte also bereits gewaltigen Glanz. Und dann wurde berichtet, wie es woanders zuging. Auch das war eine Quelle natürlich.

Was Kritiker berichten und Schauspieler erzählen

Auch das mündliche Berichten spielte eine große Rolle. Ja, unbedingt. Was auch wirklich bemerkenswert und wichtig ist, es gab Schauspieler – ich nenne nochmal den Namen Alexander Wagner –, die sehr weit zurückblickten, nicht nur in ihren Erlebnissen, sondern auch Erinnerungen, die also bis in die dreißiger Jahre Kenntnis und Verbindungen hatten. Nicht, weil sie so alt waren, sondern weil stark tradiert wurde. Das ist ja auch ein österreichischer Zug. Wagner war ein Halbroma, ein Jenischer, ein Halbzigeuner sagte man damals, aus Salzburg. Jugendfreund von Thomas Bernhard. Zu meiner Bildung als Traditionalist trug das viel bei. Arbeit mit historischem Gedächtnis. Mir scheint das in den sieb­ ziger Jahren, auch mit solchen Inszenierungen von Nel, mit

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s­ olchen Stücken wie Rotter, auch gar nicht anders zu gehen, als mit Gedächtnis zu arbeiten. Das drückte sich in Nels Arbeit unbedingt aus. Auch bei Mauser später in Köln, diesem sehr avancierten Versuch, mit dem Text von Müller umzugehen. Nel war immer sehr geschichtsbewusst, was das betrifft.

Heiner Müllers Mauser

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Was war Mauser für eine Veranstaltung? Es ist ein Text, der im­ mer noch die Revolution als Grausamkeit preist. Jetzt wissen wir natürlich, dass diese Art von Revolution, auf die sich der Text be­ zieht, so nicht mehr stattfinden wird. Im Umfeld nach dem deut­ schen Herbst und zehn Jahre nach 1968 lagen die Fragen aber anders. Zu diesem Zeitpunkt, 1979, glaube ich sagen zu können, war ja bereits der Umschlag erfolgt, die Pervertierung einer linken Bewegung in die selbsternannte Rote Armee Fraktion, jedenfalls was Westdeutschland betrifft natürlich. Und Mauser, ein Stück über die Revolution und über die Grausamkeit der Revolution, war 1979 eigentlich auf den Spielplan gesetzt worden, nicht so sehr, um die Revolution selbst zu propagieren, sondern eher, um die Anlässe zu untersuchen, wegen derer eine Revolution nötig war oder sein könnte. Das heißt, es wurde vor allen Dingen untersucht: Was ist zu revolutionieren? Warum ist ­Revolution heute nötig? Warum ist sie möglicherweise sogar so nötig, wie Heiner Müller sie beschreibt, oder warum ist überhaupt das Revolutionäre gefordert, im Angesicht einer in Erstarrung begriffenen Gesellschaft? Daher traten Gesellschaftsfiguren auf, die in einem zweiten Teil als stummes Spiel wie ein Panoptikum in sekundenschnellen Umzügen abgestürzte Figuren der Gesellschaft darstellten: den Pornoproduzenten, die Trinkerin usw. Im ersten Teil, der den Text behandelte, machten Peter Franke und Hildegard Schmahl aus Mauser eine Art Eheauseinandersetzung. Also, es wurde von der hohen Warte der Geschichtsbetrachtung runtergebrochen auf, sagen wir, etwas Alltäglicheres als Versuch, um dann zu sagen: Hier ist Revolution immer noch nötig.


Oder auch überhaupt im Bekannten verständlich zu machen, vermute ich. Natürlich. Es gab eine sehr, sehr interessante Phase von vielleicht sogar drei Wochen, in der wir nur diskutiert haben über diesen Text. Darüber wurden Protokolle verfasst. Diese Protokolle sind in einem Begleitbuch zur Aufführung veröffentlicht und man kann darin ungeheuer gut nachverfolgen, wer wie wo seine Schwerpunkte glaubte setzen zu müssen. Also, das Ensemble, der Dramaturg, der Regisseur und auch der Bühnenbildner, der in diesem Falle Erich Wonder war. Wie groß war denn die Beteiligung von Schauspielern in der da­ maligen Regiekultur? Die ja auf Demokratisierung der Verhält­ nisse in allen Bereichen setzten – das war das gesamtgesell­ schaftliche Interesse zumindest dieser linksorientierten Künstler. Das ist sehr schwer zu verallgemeinern. Ohne Schauspieler geht nun mal das Theater nicht, also das war selbst damals klar. Und es gab auch durchaus Arbeiten, in denen schauspielerische Freiheit möglich war, aber man muss doch sagen, Schau-

Der Schatten eines Rebellen, Deutsches Schauspielhaus Hamburg 1981

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spieler wurden auch stark in dramaturgische Konzepte gesperrt – sehr stark sogar. So stark zum Teil, dass da keine Luft mehr blieb zum Atmen. Also, es war ein stark konzeptuelles Theater.

Grundlagenarbeit der Dramaturgie

Und in welcher Form wurde das vermittelt? Einmal, indem lange Vorbereitungsphasen stattfanden, also Diskussionen, Paper, Sekundärliteratur, Vorträge der Dramaturgen. Die Regieideen waren sozusagen abrufbar, konntest du quasi anklicken – es gab ja keine Computer, aber du konntest sagen: Was bedeutet diese Szene? Gibt es eine These? Und dann wurde die bebildert irgendwie. Und im besten Fall hatte das natürlich eine gewaltige Strahlkraft und war ein Nach­ glühen dieses Denkens, das glaubt, mit Hilfe des Materialismus alles erklären zu können, alles. Das war immer noch in den Hinterköpfen, also wurde immer noch Theorie produziert, zu der das Theater dann die Bebilderung lieferte. Hat Sie das als Schauspieler interessiert? Ja, mich hat das fasziniert. Ich fand das so funkelnd, wie man es in einem späteren Nachhall, in einem Film wie Matrix zum Beispiel, sehen kann. Wenn eine Welt, in diesem Fall ist das eine Science-Fiction-Welt, theoretisch durchdacht formuliert ist, sodass sie irgendwie in einem wasserdichten Konstrukt stattfindet, hat das eine große Faszination. Das ist ein Edelstein. Eine Art Glasperlenspiel, wie bei meiner frühen Hesse-­ Lektüre. Das ist etwas, was für sich stehen kann, auf Grund der Strahlkraft des Intellektualismus. Und so war es manchmal, wenn eine Aufführung eine bestimmte Höhe erreichte, war sie so durchsichtig, wie du nur willst: Es gab eine Abwesenheit von Willkür. Du konntest alles gewissermaßen zusammen­ bauen. Alles fügte sich unter eine These. Würden Sie sich als mitdenkenden Schauspieler sehen? Es gibt ja Leute, die nur spielen und ihre Emotionen als eigenen Beitrag auf der Bühne zeigen. Sie sind grundsätzlich ein anderer Typ:

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studiert, mit philologischem Rüstzeug. War das dadurch leichter als Schauspieler, der mitdenkt? Ja, natürlich. Wobei ich ehrlich sagen muss, dieses Studium spielte eine nicht sehr große Rolle. Mein Interesse an Intellektualität hat das Studium ein bisschen befördert, aber es hat nicht unmittelbar damit zu tun. Schauspieler, die nicht mitdachten, waren im Übrigen überhaupt nicht gefragt, die konnten gleich nach Hause gehen. Und die, die nur auf Emotionen bauten, galten sowieso als obskur, denn eine pure Emotion, was sollte das sein? So wurde dann gefragt. Es gab dabei nicht unbedingt den Versuch, auf einer Bühne etwas zu entdecken, etwas nicht Bekanntes zu entdecken. Eine Ausnahme war ein Regisseur wie Klaus Michael Grüber. Meistens war es so – und da ist Peter Stein nun wieder die paradigmatische Figur –, ­etwas ist scharf gedacht und wird bunt bebildert. Aber dass etwas unscharf gedacht oder gar nicht gedacht wird und zur Entdeckung freigegeben wird durch die Probe und das anschließende Darstellen, dass da eine Entdeckungsreise stattfindet und nicht nur eine Art von Konstruktion hergestellt wird, ist eben wahrscheinlich das, was später prompt zur Dekonstruktion führte. Dazwischen gab es aber die Phase – und da war wiederum auch Zadek ein großer Meister –, auf der ­Probe Dinge durch Zufälle zu finden, oft durch die pure Begegnungsenergie der Schauspieler. Der Zufall wurde erst Ende der ­achtziger Jahre entdeckt. Auf einmal spielten der Zufall, die ­Ent­deckung und das Unscharfe eine große Rolle. Weil das Unscharfe vorher einfach als Ungenaues diffamiert war. Das war von heute aus gesehen ein hochinteressanter Prozess, der politisch oder gesellschaftlich oder historisch da einzuordnen ist, wo die Utopien wegbrachen. Es gab keine Utopie-Möglichkeit mehr, die gesicherten Zukunftsentwürfe waren eindeutig gescheitert. Es gab diesen Zustand, den Christa Wolf beschrieben hat: Der neue Sinn liegt uns schon auf der Zunge, er will nur noch nicht heraus. Selbst das muss man allerdings relativieren. Er liegt eben doch noch nicht mal auf der Zunge, er liegt irgendwie sozusagen hinter dem Sinn: Also der Sinn liegt hinter

Die Ent­deckung des Zufalls

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dem Sinn. Und das hat dann mitgeholfen, eine bestimmte Art des unscharfen Theatermachens zu gebären – da spielte Zadek eine ganz, ganz wichtige Rolle. Obwohl man das auch sagen muss, die Schmerzen einer Geburt solchen Theatermachens, wie dann später auch bei den Dekonstruktivisten, sind ja ungeheuer groß. Es sind die Geburtsschmerzen, die den Zuschauer fast den Verstand kosten, weil er verzweifelt an der Frage, was das sein soll. Aber dass die Suche wichtig ist, wie heute bei der Überschreibung vielleicht – ich habe mich darüber mit Roland Koch in der Burgtheaterkantine unterhalten, dass mit der Überschreibung jetzt wieder so eine Art Suche beginnt, die auch notwendig Unkosten produziert. Der Realismus der Orientierungslosigkeit. Wenn man nicht ge­ nau weiß, was in der Gesellschaft los ist, dann kann das auf dem Theater auch keiner sagen. Dann kannst du eben behaupten, du würdest es trotzdem verstehen oder du kannst eben auch diese Verunsicherung oder Orientierungslosigkeit künstlerisch repro­ duzieren. Aber das hat es 1980 noch nicht gegeben, weil die ­Dramaturgen immer noch mit ihrer historisch-materialistischen Methode wussten, wie man einem Autor gerecht wird. Ich glaub, das war ja gerade bei den Klassikern die Zeit der Neuinter­­ pretation, der Entstaubung, des Missbrauch-der-Nazizeit-Über­ windens. Dazu gehörte auch das Loswerden des sogenannten hohen Tons. Der war natürlich spätestens Anfang der Sechziger obsolet geworden, ganz und gar. Der war in den Fünfzigern noch durchaus sehr beliebt und gepflegt.

Theater­ wanderschaft

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Wodurch waren Ihre vielen Wechsel der Theater bedingt oder motiviert? Für diese Theaterwechsel gab es zwei Gründe. In Köln hatte ich mich der Gruppe um Christof Nel angeschlossen und diese Gruppe wanderte von Köln über Stuttgart nach Frankfurt, wieder nach Köln und dann nach Hamburg. Und da wurde sie ­zerschlagen, weil da die Luft raus war. Da war tatsächlich auf


einmal richtiggehend eine katastrophische Situation eingetreten. Alles flog auseinander. Also diese Truppe wanderte, das war das eine. Das andere war natürlich dieses Hamburger Schauspielhaus, eine willkommene Station, einfach ein strahlendes Theater, das größte Sprechtheater Deutschlands. Wer war Intendant zu der Zeit? Niels-Peter Rudolph, 1980. Ein großes, tolles Ensemble mit ­vielen fantastischen Schauspielerinnen: Barbara Nüsse, Hildegard Schmahl und viele, die jetzt nicht mehr so bekannt sind. Sich dieser Gruppe Nel anzuschließen, war das wie eine nächste Stufe? Nach diesen frühen Erfolgen und diesem Hin-und-her und vielen kleinen Rollen, war das dann auf einer höheren Ebene eine gute Aufgabe, innerhalb einer Gruppe zu agieren? Ja, weil die Gruppe einen künstlerisch sehr hochstehenden Anspruch hatte: Es war eine Zeit lang die Avantgarde-Truppe schlechthin. Muss man wirklich sagen, so zwei, drei, vier Jahre lang. Höhepunkt dieser Arbeit waren Rotter in Stuttgart und Antigone dann am Schauspiel Frankfurt.

Mit der Gruppe um Christof Nel

Und gab es über diese Gruppe, über die gemeinsame Arbeit auf der Bühne hinaus auch noch anderes, was sie verbunden hat? Nein, das kann ich nicht erkennen. Also, wir sind jetzt nicht ins Ferienlager gefahren oder sonst irgendwas. Es war keine Kommune? In keinster Weise. Es gab auch eine ganz klare hierarchische Struktur. Allen voran Regisseur und Chefideologe, mit den beschriebenen, zum Teil auch fatalen Wirkungen. Das war, wie es ja immer noch existiert, bestimmte Leute arbeiten mit bestimmten Leuten. Der Erste, der dann etwas antiideologischer auf den Plan trat in dieser Konstruktkultur, wenn man Zadek ausnimmt, war Jürgen Flimm. Und wen man auch ausnehmen muss, ist Dieter Dorn, Münchner Kammerspiele, der explizit – was ver-

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ächtlich Boutiquentheater genannt wurde, eine unglaubliche Ungerechtigkeit –, der aber explizit hermeneutischer arbei­ tete. Der hatte weder den ideologischen noch den Zufalls­ anspruch. Aber wer mit seiner Herkunft aus der Linken-Bewegung, aus einer provozierenden Jugendlichkeit heraus neu schöpferisch tätig war, war dann Jürgen Flimm. Der übernahm das Kölner Schauspielhaus, das Theater seiner Heimatstadt, was ihm sentimental und politisch unheimlich zugutekam. Seine Eröffnung, Käthchen von Heilbronn mit Kathi Thalbach, habe ich als Gottschalk mitgemacht. Das war eine sehr schöne Aufführung, die das Publikum im Handstreich eroberte, mit großen bildnerischen Effekten, Rolf Glittenberg war der Bühnenbildner, mit Feuer auf der Bühne und allem drum und dran. Die erste Premiere des neuen Intendanten bescherte ihm praktisch gleich für zehn Jahre Vertrag. Letztendlich musste ich aber dann doch bis 1988 ausreifen, um mich mal so richtig mit den Ellbogen auf einer Bühne breitzumachen und nicht nur immer unter dem Mantel eines Auftrags zu spielen. Aber vielleicht hatte die lange Ausreifungsphase auch Vorteile. Natürlich hatte die enorme Vorteile: Früh das Scheitern lernen … Oder wie Heiner Müller jüngere ungespielte Kollegen tröstete: „Nichts ist gefährlicher als der frühe Erfolg.“ Das ist ja auch richtig. Ich habe viele Freunde und Kollegen erlebt, von denen kein Mensch mehr weiß und die nicht dageblieben sind, die Erfolg hatten und dann verschwunden sind. Ich will nicht sagen, dass das grundsätzlich so sein muss. Aber was auf jeden Fall ausgebildet wurde, war ein langer Atem, war eine Art der Fähigkeit des Durchhaltens, eine Art der ­Fähigkeit des Ertragens von Katastrophen. Das hat natürlich auch mit Familie und Frau zu tun. Meine Frau Jenny hat mich über so manche Durststrecke des Lebens getragen. Wir sind sehr früh zusammengekommen. 1976.

Bilanz der Ausreifung

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Wie haben Sie sich getroffen? Wir haben uns im Urlaub kennengelernt auf der griechischen Insel Ios. Wir sind dann, nachdem wir uns getrennt hatten, denn auf Dauer ging das nicht, sie wohnte in ­Amsterdam, ich in Köln, das ist zwar relativ dicht beiein­ ander, aber dieses ständige Trennen, morgens um sieben aus dem Bett steigen, weil um zehn Probe ist, und sich dann heulend und zähneklappernd zu trennen, da haben wir ­gesagt Schluss. Wir hielten es aber nicht ohne einander aus und sind dann eben wieder zusammengekommen. Das war Lebensglück.

Frau Jenny – Gattin und Gefährtin

Was macht sie beruflich? Ursprünglich in einer Künstleragentur tätig, hat sie in allen möglichen Heil-, Hilfs- und Agentenberufen geschnuppert. Sie ist ein typisches Kind der Flowerpower-Bewegung. Kam vom Land, eine holländische Bauerstochter, bis sie unsere Söhne Leonhard und Johannes bekam, und dann zur Leserin und Hausdramaturgin schlechthin avancierte. Intelligent und geschmackssicher! Also wirklich eine fürsorgliche, sogar beruflich fürsorgliche ­Gefährtin. Absolut. Das ist ja die Ausnahme, das gibt es ja eigentlich nicht mehr; so langjährige Beziehungen sind ja sehr, sehr selten geworden. Für die Kinder sehr angenehm, sehr stabilisierend. Aber es bedeutet natürlich – das braucht man nicht groß auszuführen, aber nur um es einmal gesagt zu haben – beinahe tägliche Arbeit. Ist ja klar, man arbeitet sich an einer solchen Beziehung hoch. Da muss man streiten können, reden können und da muss eine Liebe sein, die grundsätzlich ist, sonst ist es unmöglich. Sprechen Sie Deutsch miteinander? Ja. Sie konnte gut Deutsch, sehr gut sogar, und ich habe das Holländische zwar gelernt, ich kann einigermaßen vernünftig

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Niederländisch sprechen, auch wegen der Schwiegereltern, aber sie spricht viel besser Deutsch als ich Holländisch. Auch hatte ich meinerseits darüber nachgedacht, überzusiedeln und in Holland Theater zu spielen. Das schien uns dann aber doch zu kompliziert. Immerhin habe ich einen Film auf Holländisch gedreht, Nono, das Zickzack-Kind nach David Grossmanns Buch. Sind Sie denn viel gereist in dieser Ausreifungszeit? Jein. Also keine großen Reisen. Ich bin nicht nach Indien ge­ fahren wie einige, ich bin nicht nach Amerika gefahren – das dauerte lange, bis ich das erste Mal in Amerika war –, Afrika habe ich bis heute nicht besucht. Ich war allerdings schon 1987 drei Monate in China zum Drehen. Damals noch Rotchina. In Shanghai. Städtereisen machten wir immer mal wieder, aber ich hatte immer auch sehr viel zu tun. Da war nicht so wahnsinnig viel Zeit. Anfangs in den sechs Wochen Theaterferien wurde natürlich viel gesegelt.

Segeln auf der Ostsee

Wo stand das Boot damals? Ich hatte nicht immer ein eigenes Boot, aber meistens bin ich irgendwie auf der Ostsee rumgefahren. Von Travemünde aus. Ich hatte nicht diese Art Traumland, in das man als scheinbar unerreichbar doch noch gelangt. Mir schwebt zwar immer ein Südseestrand vor, das fand ich immer toll, denn ich bin unglaublich sonnenbegeistert. Aber mein Traumland – das muss man vielleicht etwas hochgestochen so formulieren – mein Traumland war immer Deutschland und damit auch das östliche Deutschland. Ich hatte immer ein großes Interesse an dieser Terra incognita. Auch wollte ich unbedingt mit dem Boot nach St. Petersburg, damals noch Leningrad. Das natürliche Traumziel in der Ostsee. Das war anfangs unmöglich. 2013 ­haben wir es dann geschafft. Waren Sie denn abseits der Ostberliner Theater in der DDR ­unterwegs?

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Also in die DDR als Land und als Provinz bin ich nie gereist. Dazu gab es überhaupt keinen Anlass, das hat sich nicht ergeben, aber ich war tatsächlich sehr häufig in Ostberlin. Auch meine Versuche, immer mal wieder Leute aus dem Osten ­kennenzulernen, brachen ab, weil es so schwierig war. Mit ­Jerzy Jarocki und Stanisław Radwan aus Krakau habe ich in Köln an Die Schuster von Witkiewicz gearbeitet. Leider brach Jarocki aus Verärgerung über den Intendanten die Arbeit ab. Wir mochten uns sehr. Dann hatte ich eine ganz besondere ­Erfahrung mit Horst Sagert. Horst Sagert hatte das Bühnenbild für Sommernachtstraum 1975 in Köln gemacht und hatte ­Heyme zugesagt, auch weil er, wie er später gestand, am Telefon dachte, das wäre Zadek und er wollte unbedingt mal mit Zadek arbeiten. Er kam zu Heyme und die haben sich prompt nicht ver­ standen. Das war schon tragisch. Ich vermute mal, dass Sagert Heyme auch ein bisschen geärgert hat. Sagert war auf den Proben immer betrunken, muss man sagen, das war also noch die Generation der schweren Theatertrinker. Heyme gar nicht, der trank nicht. Er war ein Asket, ein totaler Asket, mit einer Ausnahme, habe ich mir sagen lassen: abends zu Hause ankommen und dann so ein Riesensteak essen. Sagert war ein versponnener Künstler, ein großartiger – ich weiß gar nicht, wie man das bezeichnen soll – Poet? Er hatte mit Besson Der ­Drache gemacht.

Bekanntschaft mit dem Bühnenbildner Horst Sagert

Dadurch ist er weltberühmt geworden. Ja, Sagert hatte an mir und ich an ihm einen Narren gefressen und wir haben ihn besucht. Ich war am Kollwitzplatz in seinem Atelier. Das waren Reisen, von denen ich nur träumen konnte, weil das in eine für uns vollkommen unbeschriebene Gegend führte. Eine Expeditionsreise mindestens so aufregend wie die von James Cook. Diese Reisen ins östliche Deutschland waren vergleichbar mit Entdeckungsreisen von Magellan. Ganz eindeutig und wirklich nicht als Witz gemeint. Das waren wirk­ liche Grunderlebnisse.

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Was war es denn, was da zu entdecken war? Na ja, es waren Reisen in die Vergangenheit. Das war das Besondere: Es war eine Zeitreise. Eine Reise in die DDR war immer eine Reise in die dreißiger Jahre. Mit der Wirklichkeit passt das erstmal nicht so zusammen. Oh doch. Die DDR hat ja nicht so schnell neu gebaut wie ­Westdeutschland, das schnell versuchte, die Vorzeit zu besei­ tigen. Die Trümmer standen und die Trümmer erinnerten ­natürlich eher an die Vortrümmerzeit als an die Trümmerzeit. Die Moderne war in der DDR nicht so eingezogen wie im Westen, auch im Design. Ich habe mich mit allen darüber unterhalten. Alle, die ich sprach, haben ähnlich empfunden: Die ­Reise in die DDR ist eine Reise in die dreißiger Jahre. Da ist noch das Deutschland von vor dem Krieg sichtbar.

Die DDR als Reise in die Vergangenheit

Am Kollwitzplatz natürlich besonders durch die Einschusslöcher in den Häuserwänden … Das sowieso. Einschusslöcher gab es zwar auch im Westen, aber durch den Unterschied in der technologischen Entwicklung hatte man wirklich das Gefühl einer Zeitreise in die Vergangenheit und gar nicht so sehr in eine sozialistische Gegenwart. Wie ließ sich das bei Sagert künstlerisch erkennen? Der war von der Formsprache her nicht unbedingt der Moderne zuzurechnen. Nein, er teilte das ja mit vielen DDR-Künstlern. Da müsste man sich mal genauer drüber hermachen, welche Art von Moderne denn in der DDR-Bildwelt und -Bühnenbildwelt vertreten ist oder welche Art von Tradition fortgetragen und umgewandelt wird. Also da entstanden wirklich die Risse, die heute zum Teil politisch und gesellschaftlich da sind und die sich ästhetisch stark manifestierten aufgrund unterschiedlicher Möglichkeiten. Auch die ganze Übernahme einer sowjetisch-russischen Bildsprache, die in Westdeutschland vollkommen undenkbar, gar nicht vorhanden war, war in der DDR zu Teilen sehr präsent.

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Die offizielle Repräsentationswelt bezog sich darauf. Ja, und Sagert hatte sich eine eigene Welt gebaut. Er wohnte in seiner eigenen Welt, war ein Poet von höchstem Grad. Dabei gelernter Bäcker. Ich habe nie wieder – was heißt nie wieder, das ist ein großes Wort – jedenfalls in der damaligen Zeit nie solche Dinge gesehen, dass wenn vom Mond im Sommer­ nachtstraum die Rede ist, dass dann in dem Moment ein Ofen so ein weißes Wölkchen, „puff“, ausstößt, das aufsteigt und alle schauen dem Wölkchen nach. Der Mond aus der Geburt eines Ofens. Das waren so Sachen, die waren einfach köstlich. Von großer poetischer Kraft. Kollegen, die noch weiter zurückblicken können als ich, haben oft von Hans Bauer erzählt. Hans Bauer war in den fünfziger Jahren ursprünglich mal in Basel, aber auch in Westdeutschland ein hoch, hoch angesehener ­Regisseur des Poetischen. Wenn ein General zum Beispiel vor seinen Kriegern eine martialische Ansprache hielt, erwuchsen aus dem Bühnenboden auf einmal fünfzig Butterblumen. So merkwürdige assoziative Räume. Und von den Erzählungen her habe ich manchmal gedacht, vielleicht ist das, was die ­Leute an Hans Bauer so interessant fanden, das, was der Sagert zu seiner großen Zeit produziert. Also mit Sagert ging es sogar bis zum Atelierbesuch. Wie lange hielt diese Freundschaft? Das schlief ein über die Schwierigkeiten der kommunikativen Wege, der Telekommunikation. Sagert schickte mir ein Telegramm: „Erwarten Sie am soundsovielten zum Fischessen in Havelberg.“ Bis wir das Telegramm bekamen, war aber der Tag dieses Essens schon vergangen, sodass das wirklich nicht so einfach war. Und auch Telefonieren war unmöglich. Wie ging die Arbeit beim Film los? Mich hat ja anfangs eine Filmkarriere gar nicht interessiert. Das war eine Welt, die oft genug geradezu von Antiintellektualität geprägt war. Mit Modepüppchen und selbsternannten Glamourfiguren. Ich hatte jedoch ganz früh über einen UFA-

Die Anfänge beim Film

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Das Rätsel der Sandbank – eine Abenteuergeschichte im Watten­meer

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Mann, den mein Vater kannte, einen ehemaligen Babelsberger Herstellungsleiter, Aufträge für kleine Fernsehsachen bekommen und auf diese Weise sogar schon 1971 mit Georg Tressler gearbeitet, der den sehr bekannten Film Die Halbstarken gemacht hatte, mit Horst Buchholz. Also ein, heute würde man sagen, Arthouse-Regisseur der fünfziger Jahre. Und Georg Tressler hat mich in kleinen Filmen eingesetzt, in Lehrfilmen zum Beispiel, die er machte, um Geld zu verdienen. Es war ein großes Vergnügen, ich mochte das irrsinnig gerne, aber es entstand daraus erstmal nichts weiter. Es gab dann 1980 in Köln in der Zeit bei Flimm den ersten großen Spielfilm, die erste Hauptrolle in einem Spielfilm. Ziemlich weit weg hieß der. Es ging um eine Landkommune, die sagt, was ist eigentlich aus unserer Stadtrevolte geworden? Jetzt sind wir alle auf dem Land und jetzt ist alles vorbei, oder was? Kommt da noch was? Also, aus dieser Ecke kam dieser Film von Katharina und ­Dietrich Schubert. Dann dauerte es nicht mehr so lange, bis die ­große Fernsehserie Das Rätsel der Sandbank kam, ein Knaller, der bis heute unter den Fans unvergessen ist. Eine große Abenteuergeschichte im Wattenmeer, auf dem Segelboot. Das war natürlich mein Ding. Ich dachte, hier wird mein Leben verfilmt. Das war 1984. Trotzdem war es schwer, Fuß zu fassen. Es gab ja nur drei Fernsehsender und eine am Boden liegende Film­ produktion. Und solange man fest in einem Ensemble ist, ist man nicht Herr seiner Termine, also bin ich ab 1987 aus dem Theaterbetrieb quasi ausgestiegen, um meine eigenen Ter­ mine machen zu können. Das war ziemlich mutig von mir, aber auch wieder nicht so mutig, weil ich einen Auftrag hatte und mit dem im Rücken konnte ich mich erstmal frei bewegen. Ich sollte nach China und da einen großen Film und eine große Fernsehserie drehen. Dadurch war ich finanziell für eine Weile abgesichert. Da ging ich nach China, machte meinen Film, kam zurück und plötzlich sollte ich unbedingt zu Zadek ans Hamburger Schauspielhaus zurück, aber zum Glück habe ich mich nicht mehr dem festen Ensemble verschrieben. Das war gut so, ich habe dann ausschließlich als freier Schauspieler gearbeitet,


in Hamburg vor allem mit Wilfried Minks, einem meiner wichtigsten Regisseure neben Dieter Giesing und Werner Düggelin. Das klingt ja sehr nach einem wohldurchdachten Entschluss: Ich steige aus diesem Repertoire-Betrieb aus. War das schwer? Es ist eine feste Einnahmequelle, das ist ganz klar. Es hat auch den Vorteil, dass die Wärmequelle der Zugehörigkeit zu einer Theaterfamilie ungebrochen ist. Beim Film triffst du dich, dann gehen alle wieder ihrer Wege. Aber es gab zumindest Fassbinder und Werner Herzog, die auch mit großen Bühnenschauspielern ihre Filme gemacht haben. Ja, aber an die musste man rankommen. Auch dafür war ich wieder zu jung. Eva Mattes, als Frau, hat ja sehr früh mit Fassbinder vor allen Dingen in Wildwechsel und auch mit Herzog dann eine ganz wunderbare frühe Filmkarriere gemacht. Einfach sensationell. Und Eva hatte eben durch ihre Erscheinung, ihr Talent und natürlich Glück frühzeitig den Anschluss an diese Regisseure. Zu Fassbinder gab es für mich keinen Weg, weil ich den Mann nicht ertragen konnte in seiner Selbstherrlichkeit. Sein Verhalten hatte mit dem, wie ich auf die Welt schaue, überhaupt nichts zu tun. Es gibt Filme von ihm, die ich sehr schätze, aber es gibt auch Sachen, mit denen ich nichts zu tun habe. Herzog hingegen habe ich tief verehrt. Heute noch. Herzog war für mich in einer anderen Galaxie. Ich wusste nicht, wie ich an den Mann rankomme. Das musste sich alles bauen. Das war diese Brutphase. In der waren Sehnsüchte groß, Niederlagen auch, aber das Durchhaltevermögen hat gesiegt und mir geholfen dranzubleiben.

Kein Weg zu Fassbinder

Hat das Segeln dabei geholfen? Das ist ja auch eine Sache, bei der man alles braucht: einen gewissen Weitblick, man muss technisches Geschick aufweisen und man braucht auch Kraft und Ausdauer. Die Frage habe ich erwartet. Dieses Segeln hat ja etwas Antizivilisatorisches. Das ist ein Teil des Entspannungspotenzials.

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Die Philosophie des Segelns

Kunst kommt dabei nicht vor. Eher Meditation. Ich könnte eine Analogie zwischen dem Segeln und dem Theater nicht so ohne Weiteres ziehen. Ich habe erst ziemlich spät verstanden, dass ich Romantiker bin. Dass ich den Dingen viel zu oft etwas zuschrieb, was ihnen gar nicht unbedingt gebührte. Unter Umständen ein größeres Gewicht, als ich es selbst ertragen konnte. Gleichzeitig ist Romantik natürlich auch ein Genussfaktor, den man braucht. Will sagen, mich hat beim Segeln immer das Meditative begeistert. Die Art von Einklang, auch ästhetischem Einklang, von Wind, Boot, Wasser. Das hat eine ungeheure Schönheit und große meditative Qualität für mich. Ich habe da in einem Punkt mit Luk Perceval, der ja auch Boot­ fahrer ist, eine Entsprechung. Wir haben festgestellt, der erste Schritt auf einen Steg oder auf ein Boot ist wie das Auslöschen aller Probleme, ein Neustart. Du bist sofort raus, komplett, aus der Zivilisation gefallen. Es ist ein nahezu antizivilisatorischer Akt, was es auch so anrüchig macht, weil man seine Zeit damit auch verschwenden kann. Ähnlich wie bei der Sexualität. Die Sexualität hat selbstverständlich ihre große Kraft und Berechtigung, aber sie kann natürlich die Gefahr haben, einen zu sehr zu beschäftigen. Man muss sich das schon einteilen lernen. Hatten Sie exzessive Phasen? In den jungen Jahren. Klar. Dabei war das, wie vorhin gesagt, natürlich auch ein gesellschaftliches Programm, Libertinage. Segeln steht im Gegensatz zum Wandern, denn da geht man Wege, die schon andere vor dir gegangen sind, die sind einge­ zeichnet oder markiert. Das gibt es auf See nicht. Darüber ließe sich unendlich viel sagen und wir müssen auch mal wieder bei Joseph Conrad nachlesen. Sie erwähnten eine besondere Beziehung zur Ostsee? Ich will es so sagen, ich gehe einen Schritt zurück: Die Besuche in der DDR und ihre Bezeichnung als Expeditionen in ein ­unbekanntes Land haben natürlich ihre Verlängerung in den

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Osten gefunden. Je weiter nach Osten, desto arktischer die Verhältnisse. Wenn du ins Baltikum kamst, warst du in der zehnfachen DDR und auch im zehnfachen Zeitquantum zurück. Du bist also in der Zeitmaschine. Die Ostsee ist die Zeitmaschine per se, weil die Reisen an den südlichen Rand der Ostsee Reisen in die Vergangenheit sind, denn dort herrscht Sand, das ist die Endmoräne, der Sand der Besiedlungen des Deutschen Ritterordens bis zur Marienburg und bis nach Tallin, Reval, zu Werner Bergengruen und bis nach Petersburg. Einer alten Dame in einem Hafen sagte ich mal, Sie kommen aber wohl doch sehr weit aus dem östlichen Deutschland. Die Antwort (mit starkem Akzent): „Ich komme aus Petersburg.“ Dabei hieß es da noch Leningrad. Das hat mich sehr beeindruckt, es gab ja viele Deutsche in Petersburg. Dann aber die andere ­Seite der Ostsee, die felsige Küste des skandinavischen Festlands. Die Insel Bornholm ist die Grenze: Im Norden ist Bornholm ganz felsig, im Süden ganz Sand. Das heißt, bis zur Hälfte der Ostsee ist Sand und dann kommt der Felsen. So weit ist das Eis gewandert. Und da, wo der Felsen kommt, ist auf einmal Gegenwart. Da ist komplette Gegenwart. Da ist gar keine ­ Meditation, Vergangenheit, kein verhangener Blick. Da ist nur Obacht, Vorsicht, Felsen, Schroffheit, vielleicht sogar Bedrohung.

Ostsee als Raum verschiedener Zeiten

Die gezackte Küste der Gefahren. Daher kommt der lateinische Name „Scandinavia“. Ja, das ist interessant. Und ich meine, man könnte schon ­wieder gewaltige Theorien oder Theoreme darüber errichten. Heiner Müller hat ja gesagt, die Zeit beschleunigt sich von Ost nach West, womit er ohne Zweifel, jedenfalls geschichtlich ­gesehen, recht hat. Im Fall der Ostsee gibt es einen Nord-Süd-­ Gegensatz. Diese felsige Küste ist irgendwie die Gegenwart, die Herausforderung, und hat nicht den Assoziationsraum, den die südliche, sandige Seite hat, das ist auch der Grund für die dünne Besiedlung. So etwas wird einem plötzlich klar. Da ­kommen so einige Sachen zusammen. Und natürlich ist es ja

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Das Rätsel der Sandbank, 1985

auch so – das ist dann das letzte Wort dazu, von mir aus: Diese südliche Seite, diese Sand- und Kiefernseite ist reines Berlin. Das ist als wenn du in Berlin wärst: die Landschaft der Kindheit. Und dann die schönen Wellen dazu. Dieses Kräuseln und Bre­ chen der Wellen erzeugt eine bestimmte Atmosphäre. Man könnte – und wahrscheinlich nicht ganz ohne Berech­ tigung – die Überlegung anstellen, dass die deutsche Besiedlung so weit in diesen Raum hinein genau mit diesem Faktor zu tun hat: dass es heimatliche Gefilde waren, auf eine Weise. Der Fernsehfilm Das Rätsel der Sandbank war der Durchbruch im Film. Es folgte bald darauf die erste Arbeit mit Heinrich Breloer, dem Sie bis heute verbunden sind, zuletzt in seiner großen Film­ biografie Brecht. Die Sandbank war Fernsehen. Ich glaube, Fernsehen erscheint immer eine Spur dokumentarischer als Kino. Im Kino war der Film Kinderspiele von Wolfgang Becker einfach entscheidend, das war der erste wirklich große Step.

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Kinderspiele in der Regie von Wolfgang Becker, 1992

Sie haben gerade den Gedanken entwickelt, dass das Fernsehen per se dokumentarischer ist in seiner Ausdrucksweise. Weil es eben eingebettet ist in den Alltags-Flow des Zuschauers, der dem Fernsehen auch Nachrichten entnimmt, Dokumentationen entnimmt, überhaupt eine ständige Präsenz. Bei bestimmten Schichten läuft der Fernseher Tag und Nacht und gehört praktisch zur Realität. Kino ist dagegen ein ganz anderer Angang. Und was war das Besondere bei den Filmen mit Breloer? Es waren fünf Filme insgesamt! Der allererste Film war Das Beil von Wandsbek, das war Breloer zusammen mit Horst Königstein, seinem Kompagnon, der vor drei Jahren gestorben ist. Königstein war NDR-Redakteur und hat ihm wohl die Türen ­geöffnet zu Das Beil von Wandsbek von Arnold Zweig. Das war auch schon so eine Art Doku-Fiction. Dann kam die große ­Barschel-Affäre, die Geschichte, die ja wirklich in Westdeutschland einer der größten Skandale der Nachkriegsgeschichte war. Unglaublich. Da spielte ich den Gegenspieler Engholm. Ohne dass man ahnte, dass der Engholm genauso – auf andere

Arbeit mit Heinrich Breloer

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Als Björn Engholm in Einmal Macht und zurück, 1994

Weise – tief verstrickt war. Ich erinnere mich an den Tag, als Breloer anrief und sagte: Wir machen einen zweiten Teil, du weißt schon, wen du spielst. Und dann war in Einmal Macht und zurück 1994 Engholm die Hauptfigur, der ja bestimmte Dinge manipuliert hatte, um sich im schönsten Licht zu zeigen. Das waren die ersten Arbeiten mit Breloer. Und ich muss ­sagen,

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ich hab das natürlich immer gerne gemacht, denn mein Interesse an Zeitgeschichte ist ungebrochen. Das wurde dann gleichsam ein Rollenfach für Sie, Figuren der Zeitgeschichte zu spielen? Das setzt sich ja ganz groß mit Fritz Bauer und Brecht fort. Wie spielt man eine Figur, von der jeder glaubt, sie zu kennen und zu wissen, wie sie sich anhört und wie sie sich bewegt? Bei Brecht gibt’s gar nicht so viele Bewegtbilder und auch relativ wenige Tonaufnahmen, da ist man immer überrascht, wie er da mit seinem Augsburger Dialekt gespro­ chen hat. Figuren der Zeitgeschichte zu spielen, die man sich „anzieht“ und gleichzeitig verfremden muss, oder wie wäre das Verfahren zu nennen? Wieso es bei der Häufung der Rollen manchmal dahin tendiert, lässt sich für mich nicht ganz auflösen. Außer in einem Punkt, dass ich ja schon früh ein großer Kabarett-Fan war. Und für ein

Mit der Engholm-Maskenbildnerin Sonja Rödel

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Kind oder einen Heranwachsenden war politisches Kabarett vor allem da interessant, wo Politiker nachgemacht wurden. Da waren die Stachelschweine zum Beispiel genial im Nachmachen von Willy Brandt, von Strauß usw. Achim Strietzel ist da zu nennen, ein Weltmeister der Politiker-Imitation. Das hat mich immer total begeistert. Ein späterer Reflex davon ist dieses Vergnügen am Nachstellen der Realität, genauer kann ich es gar nicht ergründen. Fiktive Figuren spiele ich natürlich auch gerne, und wenn möglich, wenn irgend möglich, mit größtmöglicher Anbindung an real denkbare Vorbilder.

Gestaltung von Figuren der Zeit­ geschichte

Ein anderes Beispiel: beim Schweigenden Klassenzimmer spie­ len Sie einen Minister, den es auch als echte Figur gegeben hat, aber den man so überhaupt nicht kennt; also eine fiktive Figur auf realer Grundlage. Was passiert dabei? Naja, da fließen dann einfach allgemeinere Gesichtspunkte in eine Figur ein. Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, die Geschichte der Weimarer Republik mit den Folter­ szenen der SA und der Gestapo an den Kommunisten … dieser Mann hat ja eine Narbe, weil ihm eine Scheinhinrichtung beschert wurde vermittels einer Drahtschlinge, und das hat er nicht vergessen. Das lässt sich ja in vielen Biografien wiederfinden – nie wieder Opfer, nie wieder Faschismus, das ist ja ­geradezu eine Gründungslegende der DDR, nicht die schlechteste. Und so speist sich diese Figur weniger aus persönlichen Biografien als vielmehr aus der Zeitgeschichte. Dieser Minister zieht seinen Rollkragenpullover runter, zeigt seine Narbe und sagt: „Hier, da wollten die mich mal, und du glaubst doch nicht, dass ich diesen Anti-Kommunisten noch einen Fußbreit Boden gewähre?“ Da kommt das alles zur Sprache. Aber es erzählt sich natürlich auch in der Verstiegenheit und in der Verbohrtheit der Figur, nicht beweglich zu sein und nichts Anderes zuzulassen. Bei Heinrich Breloer gab es diese dokumentarische Erzählform und eine entsprechende Darstellungsweise, die auch fürs Fern­

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sehen entwickelt war. Was war bei Wolfgang Beckers Kinderspiele anders? Becker hatte vorher erst einen Film gemacht, Schmetterlinge. Das war sein Abschlussfilm auf der Filmhochschule, der sehr gut war, mit dem er den Studenten-Oscar gewonnen hat. Aber Kinderspiele, ja das war eine wichtige Arbeit, und wie ich schon an anderer Stelle erwähnte, für eine ganze Generation von ­Filmemachern. So ein Film, an dem sich neue filmsprachliche Möglichkeiten entzündet haben. Sie waren an der jüngsten Erneuerung des deutschen Kinos be­ teiligt, die da Anfang der nuller Jahre mit Good Bye, Lenin! von Wolfgang Becker, Die fetten Jahre sind vorbei von Hans Wein­ gartner und Yella von Christian Petzold eben sehr markante ­Filme hervorbrachte, und diese Richtung wurde bereits 1992 mit Wolfgang Beckers Kinderspiele eingeschlagen? Ich bin wahrscheinlich nicht wirklich dazu berufen, das so genau zu analysieren, aber ich glaube, dass mit diesem Film auf jeden Fall die Möglichkeit Einzug hielt, sich als Filmemacher auch an extremeren Positionen abzuarbeiten. Auf keinen Fall die Sache nur auf Komödien beruhen zu lassen, oder feuille­ tonistischen oder filmessayistischen Erzählweisen, sondern tatsächlich auch einen gewissen harten Realismus auszuprobieren. Diese Filme, da weiß ich gar nicht, ob die sich überhaupt vergleichen lassen. Ein Film wie Yella hat mit einem Film wie Kinderspiele eigentlich gar nichts zu tun. Richtig allerdings ist, dass es die künstlerische Spitze einer Generation oder des Filmemachens einer bestimmten Zeit abbildete. Dadurch ­hatte ich einen Zugang zum Film, der sehr erfüllend war.

Arbeit mit den Regisseuren der neuen Welle des deutschen Kinos

Ab Good Bye, Lenin! gab es eine kontinuierliche Arbeit im Film. Was ist da passiert? Vorher hab ich hauptsächlich Theater gespielt. Dann ging es weiter mit dem wunderbaren Hans-Christian Schmid, mit dem ich später auch Requiem gedreht hab, mit Crazy, das war ein früher Film, wo er auch relativ frisch war im Filmemachen. Und

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schon bei Nach fünf im Urwald, seinem allerersten Film – hat er mir später mal erzählt –, war ich in seinem Kopf, da hat es sich aber nicht realisieren lassen. Also mit Hans-Christian hab ich sehr früh Kontakt gehabt, ich halte den auch für einen der absoluten Top-Leute in Deutschland, sein Film Sturm ist ein Meisterwerk. Die Filmjahre fingen so 1992 an, wobei sich das noch mit den Jahren am Theater in Zürich überschnitt. Das war ein außerordentlich glückliches Dezennium, in das sich dann die Filmarbeit einblendete.

Typologie der Filmfiguren

Bestimmte Figuren kann man durchaus vergleichen, es gibt zwei Linien: diese autoritären Figuren, diese Väter, Weißes Band, zu denen auch die gehören, die nicht aus ihrer Haut können, die in sich eingezwängt sind, wie dieser Minister. Und es gibt eben auch autoritätsstarke Figuren, dieser Richter in der Verfilmung von Ferdinand von Schirach, oder dieser Ermittler in Elser, der dann eine ganz eigene Meinung behauptet innerhalb dieses vollkommen gleichgeschalteten Nazi-Justizsystems, der ist mir dadurch sehr in Erinnerung. Oder natürlich Fritz Bauer, der als Einzelkämpfer den Kopf oben behalten muss. Sind das zwei T­ypen, die Ihnen „zugeschoben“ wurden von den Regisseuren? Nein, die haben sich auch aus meiner Interessenslage, aus meiner charakterlichen Disposition möglicherweise ergeben, auch aus meiner inneren Kenntnis von Machtfiguren. Ein anderes schönes Beispiel ist Invasion von Dito Tsindzadze, aber auch ­komische Rollen gab es, wie in Nono das Zickzackkind, meiner Zusammenarbeit mit Isabella Rosselini, der in Deutschland nur auf der Berlinale lief, oder natürlich bei Die fetten Jahre sind vorbei, wenn der entführte Manager immer lockerer wird, ­immer lustiger angesichts einer eigentlich lebensbedrohlichen Situation. Oder ein durchgeknallter DDR-Minister in Bridge of Spies, da haben wir schon sehr gelacht am Set. Ja, da wird der Machtmensch außer Kraft gesetzt. Und bei Good Bye Lenin!, ich glaube, das geht ganz vielen so, dass die erstmal gar nicht wissen, dass Sie da dabei waren, weil es ja um den

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Der Mann von der Botschaft, 2005

­ ater im Hintergrund geht, der in den Westen gegangen ist. V Er kommt zum Schluss ins Krankenhaus, und da gibt es so eine Art „Versöhnung“ zwischen Vater und Mutter, angestiftet von dem Sohn, den Daniel Brühl spielt. Vorher aber gibt es eben die wichtigen Szenen, wo der Vater den Sohn nicht mehr wiedererkennt, weil sie so lange getrennt waren. Ich möchte diese Vaterfigur-Nuancen noch weiter vertiefen, weil sich das ja als roter Faden durch die Filmrollen zieht. Anders als bei Weingartner in Die fetten Jahre sind vorbei und anders als in Good Bye, Lenin! wird dann in Michael Hanekes Das weiße Band dieser strenge Pastor-Vater zum Zentrum des Films, an dem sich die Interpretation, die ja weder durch den Film noch durch den Regisseur jemals klargelegt wurde, festmachen lässt: Dass das ein autoritäres Erziehungssystem ist, das Gewalt in ­diese Kinder einpflanzt, was in Ihrer Rolle wirklich verkörpert

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Das weiße Band, 2008 – vielfach prämiert und für den Oscar nominiert

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wird. Man könnte eine Interpretation vom Weißen Band von dieser Figur her anfangen. Mit großer Berechtigung. Dazu könnte ich das erzählen, was Haneke immer dazu sagt. Für ihn ist ein Film damit gesichert, wenn die Besetzung steht. Und wenn die Besetzung steht, dann ist die Arbeit eigentlich getan – so hat er sich mal sinngemäß geäußert. Das Gleiche kann ich zurückgeben: Wenn man erstmal das Vertrauen des Regisseurs hat, dann ist das Arbeiten relativ einfach und mit ihm sogar sehr vergnüglich. Ich hab das unheimlich genossen. Wir haben allerdings in einem Punkt einen Dissens gehabt, an einem einzigen Tag, in einer einzigen Szene, wo er mir unmissverständlich klargemacht hat, dass dieser Pfarrer, um den es geht, keinen Humor hat. Das war freilich eine sehr, sehr kluge und sehr richtige Bemerkung. Humor ist etwas, das ich in meinem Leben sehr schätze und was ich unbedingt von den Angelsachsen gelernt habe, was ich als comic relief auch in anderen Filmen, zum Beispiel als Fritz Bauer, durchaus einfließen lassen konnte. Davon


wollte er nicht eine Spur im Weißen Band sehen, es war eigentlich nur ein Satz, in einem bestimmten Moment. Das war ihm nicht recht und das war vielleicht der wichtigste Moment der Arbeit zwischen ihm und mir im Weißen Band. Der Film erzählt ja eine äußerst freudlose Welt, sieht man von der Liebesgeschichte des Lehrers ab. Würden Sie denn sagen, Sie können sich in solchen negativen Figuren wohlfühlen als Schau­ spieler? Unbedingt. Immer dann, wenn man das Gefühl hat, man erfindet etwas, das sofort wiedererkennbar ist, weil man es aus der Realität bereits kennt. Das ist das größte Vergnügen. Zu sagen, „Ja, das kenne ich! Solche Leute kenne ich! Ja, so sind die!“ – das ist unheimlich vergnüglich. Wahrscheinlich ist das mein Faible für Interpretation, ich bin wirklich mit großem Vergnügen Interpret, auch als Autor gewissermaßen. Das hab ich versucht, in meinem Buch, in meinem Roman zu sein. Aber vor allem in der Schauspielerei bin ich wahnsinnig gerne Interpret. Und versuche sozusagen die zweite Haut zu einer ersten zu machen.

Interpretation als Kernauffassung

Aber bei Haneke sind das ja alles fiktive Figuren. Ja, aber es gibt ja diese Figuren in der Realität. Die gibt es ja. Was für eine fiktive Figur will man denn überhaupt erspielen, an welche fiktive Figur will man denken, die es nicht auch – mindestens zu größeren Teilen – in der Realität gibt? Das wäre dann ein Science-Fiction-Charakter! Sie machten mal die Bemerkung, das Weiße Band sieht aus wie eine Literaturverfilmung, aber es gibt gar keine Vorlage dazu. Ja, so war das Drehbuch. Das Drehbuch las sich wie die Adaption eines Romans, zum Beispiel von Joseph Roth, eines norddeutschen Joseph Roth. Ich war überzeugt davon, dass es da irgendeine Vorlage geben musste. Nicht umsonst hat Haneke jetzt seine Drehbücher herausgegeben in einem besonderen Band. Haneke ist auch ein Literat, der wunderbar schreiben kann.

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Bildstrecke: Vor der UdK in Berlin-Wilmersdorf, Geburtshaus in Berlin-Friedenau Eingang zum Studentendorf Schlachtensee, Auf dem Weg zum Wannsee





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Die Zusammenarbeit hat sich aber nicht fortgesetzt? Das lag einfach an den Filmen, die danach kamen, die auf andere Gewichtungen aus waren. Liebe gab es, den Sterbefilm, den Tötungsfilm mit Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva, und zuletzt Happy End, auch nicht mit irgendeiner denkbaren Figur für mich, zumal in erster Linie ja mit Franzosen ­besetzt.

Dito Tsindatzes Der Mann von der Botschaft

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Ein anderer Regisseur ist Volker Schlöndorff, mit dem Sie Diplomatie gemacht haben. Das war auch wieder eine autoritäre ­Militärperson, die quasi nur im ersten Akt dieses Kammerspiels auftritt, die aber ganz wichtig ist, weil es um die Frage geht: Wird Paris untergehen oder wird es friedlich übergeben? Diese Figur, die da auftritt, steht für die militärische Vorbereitung der Zerstörung. Das war folgendem Umstand geschuldet: Volker Schlöndorff hatte mir einen Film angeboten mit einem Thema, das ich eins zu eins, wie ich fand, bereits gedreht hatte. Nämlich ein Film mit Dito Tsintsadze, Der Mann von der Botschaft; wir dürfen diese Filme von Tsintsadze nicht unter den Tisch fallen lassen. Er ist ein Regisseur, der hier in Berlin seit vielen Jahren lebt und mit dem ich vier Filme gemacht habe, wovon zwei wesentlich sind: Der Mann von der Botschaft und eben Invasion. Ich hatte dieses Thema, von dem Der Mann von der Botschaft handelt – also ein Mann, der sich um ein Kind kümmert und dabei unter Verdacht gerät –, bereits mehr oder weniger genau so gemacht. Deshalb habe ich gesagt, lieber Volker Schlöndorff, das kann ich nicht machen, das hab ich schon einmal gemacht. Das hat ihn irritiert, dass man ihm eine Absage gibt, aber als er dann Diplomatie drehen wollte, hab ich sofort Ja gesagt. Ich wollte unbedingt einmal mit ihm drehen und hatte auch Lust, auf Französisch zu drehen. Und ich hatte Lust, noch einmal eine Wehrmachtsuniform zu tragen, wie in Charles Mattons Film von 1994, Das Licht der erloschenen Sterne, ein Film, der in Deutschland gar nicht im Kino gelaufen ist, bei dem es um die friedliche Koexistenz von Franzosen und deutschen Besatzern geht. Ein großes Thema in Frankreich.


Zwei gegensätzliche Sachen – die französische Sprache und die Naziuniform. Ja, aber wenn du die Franzosen fragst, passt das wunderbar für sie zusammen.

Diplomatie von Volker Schlöndorff, 2013

Die Uraufführung war bei der Berlinale, aber die französische Premiere war ein richtiger Staatsakt. Was war da los? Das Kino war gar nicht groß, aber es war der amtierende Ministerpräsident da, viel Polit-Prominenz, Riesenpremierenfeier in der deutschen Botschaft. Der Film ist insgesamt in Frankreich mehr beachtet worden. Ja, natürlich! Das war ein sehr erfolgreiches Theaterstück, das Schlöndorff da adaptiert hatte. Ein großer Publikumserfolg! Man darf ja nicht vergessen, Schlöndorff hat in Frankreich gelernt, bei Louis Malle; er spricht Französisch und hat dort seine zweite Heimat, ähnlich wie Haneke.

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Der Vorleser von Stephen Daldry, 2008

Und wo haben Sie das erworben, praktisch filmreif Französisch zu sprechen? Es ist keineswegs filmreif, aber zum einen hatte ich meine ­Liederabende über Charles Trenet gemacht und die Sprache immer geliebt und in der Schule aufgeschnappt, soweit das möglich war. Ich bin ein großer Sprachenfan, ich liebe das, Sprache ist Musik und ich hänge an Musik. Der Vorleser wurde auf Englisch gedreht. Der Vorleser wurde auf Englisch gedreht, wie auch The Crown, diese Netflix-Serie. Ich mag das Englische natürlich am allerliebsten, als Besatzungskind hab ich das aufgesogen. Das Kino ist als Medium viel internationaler als Fernsehen oder Theater. So ist es. Und ich muss auch sagen, ich hatte das Glück, mit vielen dieser Filme in viele Länder gereist zu sein, auf Festivals, auch auf kleinere Festivals, und als Mitglied von Jurys war ich in Sao Paulo, in Chicago … also, da kommt man schon rum.

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Aber kommen wir nochmal auf zwei Rollen zurück, Fritz Bauer und Brecht, das waren die beiden großen Rollen der letzten ­Jahre. Bei Fritz Bauer gab es die merkwürdige Situation, dass ­parallel dazu noch ein anderer Fritz-Bauer-Film entstanden ist … … sogar zwei, ein Fernsehfilm und einer mit dem Titel Das ­Labyrinth des Schweigens. Die anderen beiden Filme haben den Bauer nicht so ins Zentrum gestellt, wie Lars Kraume das getan hat. Der Fernsehfilm hat ihn schon ins Zentrum gestellt, der hieß Der General und die Figur wurde von Ulrich Noethen verkörpert, es war ungefähr dieselbe Gewichtung der Figur. Im Laby­ rinth des Schweigens spielte Gert Voss den Bauer als eine absolute Nebenfigur. Eine wichtige, aber eine Nebenfigur. Bei Lars Kraume geht es aber vor allem darum, dass Bauer als Einzelkämpfer ein Widerpart der frühen Bundesrepublik ist, da­ her auch der Titel Der Staat gegen Fritz Bauer. Im Grunde geht es um den Konflikt zwischen einer moralischen Autorität und einer unmoralischen Gesellschaft. Wo haben Sie das hergenom­ men? Aus der Kirche wahrscheinlich, aus dem Konfirmandenunterricht. Wenn man es genau betrachtet, von meiner Großmutter vielleicht, die sehr genau zu unterscheiden wusste zwischen Gut und Böse. Für mich war der Kampf für das Gute, für die Gerechtigkeit unter den Menschen immer ein großes ­Thema. Weingartner wollte mich immer mal als Serienkiller besetzen, das hat mich überhaupt nicht interessiert. Will ­sagen, da existiert eine moralische Ordnung, von der ich ganz unfähig bin abzusehen – jedenfalls in meinem persönlichen Leben.

Fritz Bauer als moralische Aufgabe

Der Fritz Bauer hat viele Facetten, er ist nicht nur dieser souve­ rän handelnde Einzelkämpfer, er ist auch depressiv … Er ist depressiv, er ist auch homosexuell, gegen den herrschenden Zeitgeist …

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Damit geht der Film wieder relativ locker und geradezu humor­ voll um, wenn man die Socken-Szene nimmt, in der er sich ­seinem Mitarbeiter zu erkennen gibt. Im Grunde wird ja damit diese Heroisierung gebrochen. Zum Glück. Das ist ein sehr amerikanisches Prinzip, dass man den Hero, den Cowboy rauchend zeigt und damit Entspannung in die Erzählung reinbringt. Es war ein Held, den ich da gespielt hab, ein gebrochener, aber ein Held.

Spezifik der Gestaltung von Fritz Bauer

Und mit viel äußerlicher Verwandlung verbunden. Wenn man an diese Raketen-Frisur denkt … und im Grunde ja auch jemand, der zu dem Zeitpunkt der Handlung um einiges älter war. Laura de Weck, die Theaterautorin, die gerade in München ­Stipendiatin der Münchner Drehbuchwerkstatt ist, berichtet, dass der Bauer-Film in ihrem Jahr dort mindestens drei Mal analysiert wurde, weil alle vom Drehbuch so begeistert sind und sie immer wieder geguckt haben, welche Tricks hier und da angewendet werden. Auch die Verwandlung war eine echte Entscheidung! Das hatte ich so noch nie gemacht, das sieht man auch im deutschen Film relativ selten. In den USA ist auch das wieder anders; für Vice hat sich Christian Bale erstmal zwanzig Kilo angefuttert. Oder Hitchcock zum Beispiel wurde gespielt von Anthony Hopkins, und auch der hatte sich seinen Hitchcock angefuttert. Eigentlich macht man das nicht im deutschen Film. Sich eine Perücke aufsetzen und dann noch die Stimme verstellen ist gegen das Reinheitsgebot. Die Stimme verstellt für diesen eigentümlichen Dialekt. Das ist Schwäbisch! Das sind die Schwaben, die glauben, sie sprechen Hochdeutsch. Das hab ich gemacht und auch versucht, dem Körperapparat irgendwie nachzuspüren. Ich wollte rausfinden, warum Bauer so war. Das kann man ja nur rausfinden, wenn man es sich mimetisch aneignet. Wie trainieren Sie so etwas? Vorm Spiegel, zu Hause? Nein.

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Gehen Sie auf die Straße, probieren da aus, ob Sie sich so bewe­ gen können? Ich persönlich kann das nur auf mich wirken lassen, durch ­immer wieder neues Betrachten, und es dann aus dem Stand reproduzieren. Das lässt sich nicht sozusagen „aufbauen“ und Stück für Stück immer mehr dem Ergebnis annähern; ent­ weder es geht oder es geht nicht. Aber der Fritz Bauer der Dokumentaraufnahmen, die man im Film sieht, fordert den direkten Vergleich. Es gibt noch andere Aufnahmen, die nicht im Film zu sehen sind. Aus all dem lässt sich natürlich schon auf den ganzen Menschen schließen. Er ist so eigen, er ist so besonders, dass man sich natürlich fragt, was steckt dahinter, woher kommt das, warum benimmt sich jemand so? Fahren ihm seine see­ lischen Nöte dermaßen in den Körper? Nichts anderes ist das ja, die plötzlichen Wendungen und Zuckungen, dahinter ist ja auch viel Abwehrhaltung, Schutzhaltung und Angriffshaltung zugleich. Schutz und Angriff sind bei ihm eine ganz ununterscheidbare Körpersprache widersprüchlicher Art eingegangen. Das ist bei Bauer der inhaltliche Punkt, und es kann immer nur um inhaltliche Punkte gehen. Und sicher nicht um eine reine Imitation – Kabarett war mal. Das war mal ein ganz guter ­Einstieg, aber dann muss man inhaltlich werden.

Die inhaltliche Vorbereitung und die körperliche Gestaltung

Anverwandlung, aber keine Imitation. Bei Fritz Bauer ist es ­natürlich so, dass es eine große Person der Zeitgeschichte ist, die zu würdigen ist, und man insofern auch eine Reflexion dafür braucht beim Spielen. Das finde ich auch. Ohne Kenntnis der Epoche muss so etwas verflachen. Wie war es bei Brecht? Jedes Jahrzehnt bringt ja ein neues Brecht-Bild hervor, von dem listigen Kommunisten für die Stu­ dentenbewegung der sechziger Jahre bis zum Mitarbeiterin­ nen-Ausbeuter, wie John Fuegi ihn Anfang der neunziger Jahre

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Brecht im zweiten Teil von Heinrich Breloers Filmbiografie, 2017

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beschrieben und angeklagt hat. Ich denke, Sie zeigen ihn als ei­ nen Gebrochenen, der aus der Emigration wiederkommt, der versucht, ein Lehrer für junge Menschen zu sein, in die er noch ein bisschen Hoffnung setzt, aber im Grunde ist es doch ein von der Geschichte gebrochener Mensch. Nicht nur! Er versucht da anzuknüpfen, wo er aufhören musste, als er vertrieben wurde. Er hat diese ganzen Stücke in der Emigration geschrieben, die er nie aufführen konnte. Er hat in Amerika nichts verkauft. Er kommt zurück, macht die Schub­ lade auf und sagt: „Wir müssen das so schnell wie möglich ­machen.“ Und er ahnt, er hat nicht lang zu leben, er ist krank; das wissen wir aus dieser neuen Biografie von Stephen Parker, wie krank er war. Gebrochen – nein. Es ist ganz klar, wir alle haben Brecht früher sehr stark instrumentalisiert, ungeheuer instrumentalisiert. Er war einerseits wichtig als Feindbild für bestimmte antikommunistische Tendenzen des Westens, andererseits sehr wichtig als Schutzschild für den sogenannten


Fortschritt der Menschheit. Wenn irgendwas Wichtiges passiert, haben wir ein passendes Gedicht von Brecht zur Hand. Darüber ist natürlich der Mensch unbekannt geblieben. Bis hin zu Regine Lutz, die in unserem Film sagt: „… er kannte mich sehr gut. Aber ihn kennen konnte man nicht.“ Es war ja auch sein Bestreben, das war immer das Programm, zu verschwinden. Zu verschwinden, sich unsichtbar zu machen und möglichst immer eine Fluchttür zu haben. Das kenne ich, das ist etwas, was mich mit ihm verbindet. Und so haben wir ein Bild immer nur in Aspekten. Es war natürlich Aufgabe für einen Schauspieler, in dieser Figur irgendeine Tiefe zu gründen, ein Epitaph gewissermaßen zu bauen für seinen vergehenden Körper. Die Methode Breloer ist ja dafür da, zu beweisen, dass die Toten nicht tot sind und dass sie mit großem Hunger nach Leben gearbeitet und gelebt haben und dass es nicht umsonst war, dass sie gelebt haben. Das ist das Katholische an Breloer.

Brecht und die Methode Breloer

Der zweite Teil ist noch viel stärker in die Konflikte der Zeit­ geschichte eingebunden als der erste Teil. Der zweite Teil mit den Problemen der DDR wird stärker beleuchtet in unserem Film. Die Emigration ist ja leider aus­ gespart, weil kein Geld zur Verfügung stand. Es soll ja auch an höherer Stelle der Satz gefallen sein: „Wer ist Brecht?“ Wohl kein Fußballer. Daraufhin hat sich Petra Müller, die Leiterin der Filmstiftung NRW, die auch hin und wieder Fernsehen mit­ finanziert, dafür eingesetzt. Und Petra Müller hat gesagt, das ist eine nationale Aufgabe, ansonsten wäre der Film nicht ­finanzierbar gewesen. Für eine dänische Ostseeinsel hat es dann trotzdem nicht ge­ reicht. Die Zeiten in der Emigration wären ein eigenes großes, interessantes Thema gewesen. Nicht nur über Brecht allein, sondern über die gesamte Szene, die sich da wiederfand. Wie man versucht hat, zu überleben. Aber gut, so ist es halt, der Fußballauftrag verschlingt alles.

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Wie stellt man Brecht dar?

Sie sagen, Stephen Parker war die wichtigste Quelle, um ein an­ deres Brechtbild zu erarbeiten? Ganz und gar nicht, der Witz ist, dass diese Biografie auf Deutsch erst erschienen ist, als der Film schon abgedreht war, aber es waren natürlich Informationen über den Inhalt dieses Buches durchgedrungen. Wie stellt man Brecht dar? Wir haben uns viel mit dem Werk beschäftigt, zu Recht natürlich, denn das Werk ist unvergänglich, der Körper ist vergänglich. Der Körper schafft aber das Werk, diese Dialektik muss eine Rolle spielen, sonst ist das blutleer und uninteressant und auch unwahr. Für seine Darstellung muss man Anhaltspunkte haben und dafür gab es nur wenig Material im Brechtarchiv, wie man weiß, eher Tonmaterial. Wie diese Tonmitschnitte von Proben, zum Beispiel Brecht probt das Leben des Galilei und wird mit Ernst Busch nicht fertig. Und es gibt natürlich die Syberberg-­ Filme, die sind stumm. Da siehst du einiges, aber nicht genug. Jedenfalls sind diese Tondokumente aufschlussreich, weil man da Einiges erfährt über seinen psychischen Haushalt und den, wie er sich selbst nennt, „Melancholeriker“. Die ­Verbindung von Melancholie und Cholerik, das hört man aus dieser merkwürdigen Stimme, die überhaupt keine Anbindung an die h ­ iesige Landschaft hat. Wie muss der den Berlinern hier vorgekommen sein? Ein Fremdkörper, gleichzeitig auch noch aus dem Mund riechend wie ein Teufel, wie die Frauen berichten. Regine Lutz sagt, „Ich konnte das nicht … dafür roch er mir zu stark“, was wiederum damit zu tun hatte, dass Leute, die Pro­bleme mit den inneren Organen haben, starken Mundgeruch haben. Kurz und gut, es waren vor allem aus dem Brechtarchiv die Tondokumente, die mich wesentlich inspirieren konnten. Ich finde dieses Verhör legendär, vor dem Komitee für unameri­ kanische Umtriebe, weil da Brecht als Schauspieler zu verneh­ men ist. Er spricht mit Absicht schlechtes Englisch und gibt in diesem schlechten Englisch – das durch seinen Dialekt hörbar geprägt ist – listige Antworten. Er führt sie an der Nase rum.

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Er hatte sich vorbereitet mit einem Anwalt. Es ist allerdings ein Teil der Brecht-Legende, dass er sich in diesem Verhör besonders listig verhalten habe. Er hat ein paar Antworten gegeben, die er gar nicht anders geben konnte. „Are you now or have you ever been a member of the Communist party of any country?“ – „I was not a member, or am not a member, of any Communist party.“ Was so stimmte, er war es nicht. Wenn sogar Regine Lutz sagt, man weiß alles über Brecht, nur nicht, wer er ist, er sich also in letzter Instanz entzieht, was war das für eine schauspielerische Aufgabe? Den Einstieg in die Figur ermöglichte mir besonders die Arbeit an den im Film gezeigten Proben. Zu zeigen, wie probt ein ­Regisseur. Denn diese Art von Leidenschaftlichkeit ist unver­ ändert, die gibt es bei Brecht wie bei allen Theaterleuten. Da­ rüber kann man gut erzählen, warum es überhaupt Theater gibt, warum das so wichtig ist, warum das in Deutschland noch so hoch subventioniert wird. Haben wir nicht diese ­Lebensfreude, haben wir nicht diese Streitkultur – haben wir das alles nicht, und brauchen wir deshalb das Theater mehr als andere Länder? Das ist eine interessante Fragestellung, die sich da anknüpft. Man sieht es nicht unbedingt im Film, aber man weiß von den entsetzlichen Verhältnissen ab 1949. In der DDR herrscht Mangelwirtschaft, herrscht Ruinenwirtschaft, Wohnungsnot, politische Unterdrückung, aber im Theater blüht alles auf. ­Regine Lutz kommt nach Berlin, fährt vom Bahnhof Zoo zur Friedrichstraße, sieht nur Trümmer und sagt: „Das konnte mir vollkommen egal sein, wenn ich nur zu dem Theater kommen konnte.“ Das ist eine unglaublich schöne, wunderbare Beob­ achtung, die ja bis heute gilt, dass das Theater eine Zuflucht ist …

Die Proben Brechts als Schlüssel zur Figur

Das Theater hatte auch die Funktion einer Ersatzöffentlichkeit, wenn Konflikte nicht in der Öffentlichkeit ausgetragen wurden. Auch deshalb konnte es so aufblühen. Hat Brecht das alles vor­ ausgesehen?

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Ich glaube nicht, dass das für ihn im Zusammenhang mit einer entstehenden DDR zu sehen ist. Warum macht man Theater? Weil man Konflikte im überschaubaren Rahmen halten kann, weil alles im buchstäblichen Sinne „eingerahmt“ werden kann. Für die DDR und wie sie sich dann später entwickelte war es bestimmt auch interessant, Konflikte austragen zu können, doch die wahren politischen Konflikte konnte man natürlich nicht verhandeln auf der Bühne, siehe Heiner Müllers Umsied­ lerin, aber man konnte auf diese Weise überhaupt Konflikte verhandeln. Das war ja auch ne tolle Möglichkeit zu sagen: „Hier gibt es nen Konflikt, der hat mit unserer politischen Wirklichkeit zu tun, und das können wir behandeln, wir können unsere Leidenschaften ausleben und Assoziationen erzeugen.“ Ich glaube, das spielt auch in der späteren DDR eine große ­Rolle und für Brecht war natürlich zum Schluss der Galilei ganz entscheidend; Ernst Busch hatte da eine andere Auffassung. Man sagt ja, Brecht sei über diesen Konflikt mit Busch krank geworden. Es gab wohl ein ziemliches Zerwürfnis mit Busch, die Proben wurden abgebrochen. Ja, die Proben wurden irgendwann abgebrochen und es gibt diese Tondokumente … unvergesslich, Brecht aus dem Zuschauerraum: „Busch Busch Busch“, weil er einfach nicht zuhört. Und was für mich eine sensationelle Entdeckung ist – Wolf Biermann war unmittelbar nach dem Tod von Brecht von der Weigel als Assistent engagiert worden und hat die Abendregie vom Galilei gemacht. Er hat jeden Abend, nach jeder Vorstellung seitenlange Berichte geschrieben, weil er beweisen wollte, wie toll er selbst mit diesen Aufzeichnungen dasteht. Und da ich demnächst selbst den Galilei spielen werde, hoffe ich, von Biermanns Beobachtungen profitieren zu können.

Von Brecht zu Galilei

Könnte man sagen, dass das für Sie die schönste Zusammenfüh­ rung von Film und Theater war, diesen Brecht zu spielen? Durchaus. Theaterfilme sind rar. Einen anderen Theaterfilm

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Mit Anne Tismer in Issak Babels Marija, Schauspielhaus Zürich 1999

dieser Art habe ich nicht gemacht, insofern war das eine herrliche Erfahrung. Ich glaube, das sieht ein Blinder mit dem Krückstock, mit welcher Lust wir das da machen und mit welcher Lust überhaupt das damals stattgefunden haben muss. Ist Film mehr Erfüllung als Bühne? Nein. Im Film lässt es sich vielleicht präziser arbeiten. Auf der Bühne müssen sehr viele Dinge zum richtigen Zeitpunkt ­zusammenkommen, die man nicht immer steuern kann. Mit welcher Grundhaltung gehe ich abends in die Vorstellung, wie

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bereitet man sich auf den Abend vor, was ist wichtig, um vollkommen entspannt zu sein auf einer Bühne. Wir erinnern uns, dass in früherer Zeit Schauspieler fast immer betrunken waren, auch beim Spielen. Weil sie glaubten, Angst und Spannung damit abbauen zu können. Das ging bis zu einem gewissen Grad, aber es führte auch zu Verwahrlosung, das muss man klar benennen. Denn eines ist richtig – Method Acting hin oder her – nur die vollkommene Entspannung, soweit sie überhaupt möglich ist, gebiert die Kreativität. Das ist ja klar. Haben Sie auch Sachen abgelehnt, die Ihnen angeboten wurden? Unendlich viele, unendlich viele. Wahrscheinlich sogar zu viele, aber ich habe immer dann abgelehnt, wenn ich das Gefühl hatte, das reicht mir nicht. Da habe ich mir über die lange Zeit meine eigenen Maßstäbe gebildet und mir damit weiß Gott nicht nur Freunde gemacht.

Als Autor in Thomas Manns Haus in Kalifornien

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Sie sind 2018 als erster Stipendiat im Thomas-Mann-Haus in ­Kalifornien gewesen. Was war das für eine Erfahrung? Das Vorwort für dieses Buch ist mein Essay über die Reise, über die kalifornische Erfahrung. Es war eine angenehme Zeit, wenn auch sehr kurz. Es war anders geplant, aber kurz vorher habe ich erfahren, dass das Haus nicht bezugsfertig sein würde. Ich kann sagen, dass ich überrascht war, wie stark dort das Bewusstsein ist, welchen Einfluss die deutschen Emigranten hatten. Carl Laemmle hat die Studios gegründet, Billy Wilder ist eine Legende, aber das gilt eben nicht nur für das Film-Business, sondern auch für Literatur und Philosophie, etwa mit Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno. Das ist vielen dort sehr bewusst, das hat mich überrascht und gefreut. Man unterschätzt ja die Amerikaner, auch darüber hab ich in diesem kleinen Aufsatz geschrieben. Zugleich habe ich erfahren, wie viel Obdachlosigkeit es dort gibt, wie unfassbar hart die soziale Wirklichkeit dort sein kann. Die Leute schlafen in Autos, was eigentlich verboten ist, oder liegen auf der Straße, weil es warm genug ist.


Als Shylock in Der Kaufmann von Venedig, Düsseldorfer Schauspielhaus 2017

Der Kaufmann von Venedig war 2017 die dritte Arbeit mit Roger Vontobel, mit ihm gab es einen Don Carlos und einen Zerbrochnen Krug in Dresden. Das sind immer Arbeiten gewesen, die in der Besetzung speziell zusammengeführt wurden. Warum ist der Shylock eine so besondere Rolle und wie ist die Inszenierung in Düsseldorf zustande gekommen? Kortner ist da als Allererstes zu nennen, wie er mich zutiefst beeindruckt hat mit seiner Art, nur am Tisch zu sitzen und den Monolog in ein Tonband auf der Bühne der Münchner

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Vorläufer der Shylock-Interpretationen

Kammerspiele zu sprechen. Mich hat dieses unglaublich alt­ modisch-expressionistisch-atavistische Theatertum fasziniert. Zum andern ist der Shylock angesichts eines heute wieder erstarkenden Antisemitismus eine Herausforderung. Kortner spielte ja den alttestamentarischen Juden par excellence, der natürlich – rückkehrend aus dem Exil – diesen Rachegedanken nicht loswird. Ganz klar und völlig zu Recht – ein gerechtfertigter Rachejude. Zadek wiederum führte mit Hans Mahnke ein bereits tabuisiertes, aber umso stärker als antisemitisch zu erkennendes Klischeebild vor. Schließlich kam Zadek nochmal mit Gert Voss als Shylock in einer völlig anderen Fassung der Wallstreet-Welt. Und diese Traditionen sind natürlich lebendig, wenn man sich einigermaßen für die Theatergeschichte interessiert und vielleicht sogar dabeigewesen ist, wie ich. Und dann wächst der Wunsch nach so einer Rolle. Und da die Zusammenarbeit mit Vontobel bisher sehr fruchtbar war, hat das auch geklappt. Ich finde in seiner Arbeit die Durchsichtigkeit bei schwierigen ­Stücken, und für mich ist es spannend, weil zwei Generationen aufeinandertreffen. Vontobel hat da auch zum Teil mit Mitteln, die vor dreißig, vierzig Jahren nicht so gewählt worden wären, eine sehr gute Erzählweise und eine Möglichkeit, Theater­ literatur zu erzählen, gefunden. Und das macht Spaß. Am Kaufmann von Venedig ist mir besonders aufgefallen, dass dieser Todernst und dieses große bittere Thema Antisemitismus mit einer Leichtigkeit und mit einer Musikalität balanciert und jongliert wird, dass es fast schon in Richtung Musical geht. Bei Don Carlos ist ja das Problem ein anderes, das Stück ist sehr schwer zu erzählen. Ich glaube, damals haben Sie auch noch an die Konstellation vom Weißen Band anknüpfen können? Nein, das war ein reiner Zufall, dass Christian Friedel und ich wieder als Gegner, als Antagonisten aufeinandertrafen. Aber gerade weil Don Carlos so schwer zu erzählen ist, braucht man ja die Fähigkeit, einen Stoff zu gliedern und durchsichtig zu machen. Bei Don Carlos hat die Vorarbeit eine große Rolle ge-

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spielt, weil wir wirklich jeden Satz auf seine Erzählbarkeit, auf seine Verständlichkeit hin gedreht und gewendet haben. Da­ ran haben wir hart gearbeitet, das muss man sagen. Innerhalb von weniger als einer Viertelstunde wird dieser auf­ trumpfende Shylock in der Gerichtsszene total demontiert, be­ straft, gedemütigt, entwürdigt und entrechtet. Wie spielt man das? Das Tolle an diesen klassischen Rollen und diesen mit viel Erfahrung angeheizten Stücken ist, dass sie einem ständig was Neues erzählen, auch beim Arbeiten, auch beim Spielen. Zum Beispiel ist mir dieser Triumphalismus des Shylock nochmal klargeworden. Er glaubt, weil er im Recht ist – und das ist er –, sei er zu allem befähigt und alles sei ihm erlaubt, er könne schalten und walten, wie ihm beliebt. Das ist natürlich völlig unabhängig von jeder Herkunftsfrage, ob jüdisch oder afrikanisch. Das ist einfach dieses berühmte „übers Ziel hinausschießen“, dieses „sich selbst überheben“ oder auch „Hochmut kommt vor dem Fall“ und was da alles für Sprichwörter eine Rolle spielen. Auf einmal überschätzt jemand seine Möglichkeiten total und schießt übers Ziel hinaus. Wie er dann nicht nur eingehegt, eingefangen, sondern auch noch bis zum tiefsten Grund gedemütigt wird, das ist einfach ergiebig zu spielen und wahrscheinlich auch zu gucken. Es ist eine gewaltige Fallhöhe. Das Thema Antisemitismus ist natürlich ein weiteres Feld, auf dem sich die ganze Figur beweist. Wie weit muss man da ins Dämonisieren und in die völlige Karikatur gehen, wie Werner Krauß das wohl gemacht hat, wenn man den Zeitzeugen glauben kann, oder gibt es einen Weg zu zeigen, dass einer ein betrogener Betrüger oder ein Täteropfer ist.

Aus dem Inneren der ShylockGestaltung

Ein geprügelter Hund. Eine Möglichkeit, diese Shylock-Figur zu fassen mit ihrer Racheenergie, ist, dass er vorher viele Alltags­ demütigungen erlitten hat, das Anspucken wird ja sogar wieder­ holt im Stück. Nach der Standardtheorie der Einteilung der Shakespeare-Stücke gilt der Kaufmann als Komödie. Vontobel

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hat es sehr gut verstanden, diese ganze Beziehungsgeschichte tatsächlich wie eine Beziehungskomödie von heute zu erzählen. Mit dem Hintergründigen der etwas bedepperten Männer da drin und der überlegenen Frau – das sind ja die typischen Zuta­ ten in Film und Fernsehen heute. Gleichzeitig steht der Shylock aber immer dabei, es geht ja keiner ab, als ob der Regisseur sagt, „ich stelle jetzt mal die Shylock-Tragödie direkt neben die Bezie­ hungskomödie“. Die Verbindung ist erstens Shakespeare, auch Shakespeare ­erzählt das nebeneinander. Zweitens bedeutet natürlich die Tatsache, dass Shylock auf der Bühne immer anwesend ist, ja nichts anderes, als dass es Parallelgesellschaften gibt, dass es beides gleichzeitig gibt. Es gibt den jüdischen Haushalt, es gibt das Strenggläubige, und es gibt das Überbordende und Grenzen Sprengende im Antisemitismus, aber auch in der Liebessehnsucht. Beides ist gleichzeitig anwesend, deshalb hab ich mich auch nicht gesträubt, obwohl es ganz schön Energie kostet, minutenlang stumm im Hintergrund zu sitzen. Aber ich denke, es hat auf jeden Fall die richtige Wirkung.

Shylock mit Bezug aufs Warschauer Ghetto

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Die Inszenierung ist ja auch sehr körpersprachlich gearbeitet. Am Anfang sitzen Sie wie ein Unbeteiligter daneben, dann zu­ guckend, allmählich mehr teilnehmend, bis zu diesem Auf­ trumpfen, und am Schluss stehen Sie an der Wand, wie schon halb tot oder kurz vor der Hinrichtung. Quasi kurz vor der Hinrichtung, ja. Eine Anlehnung an das ­bekannte Bild mit dem Jungen aus dem Warschauer Ghetto. Das ist klar, für Shylock ist das ein enormes Stationendrama, einmal wird er sogar eingeladen in die christliche Gesellschaft, obwohl er gesagt hat, mit denen wolle er nicht essen und trinken, aber natürlich wird er in eine Falle gelockt. In der Zeit, in der er dort zu Gast ist, wird seine Tochter entführt. Dieses Bild ist zwar nicht groß ausgearbeitet, aber das möchten wir ­eigentlich noch öfter sehen. Wie geht es eigentlich einem – ­sagen wir ruhig „Juden“ – in einer Gesellschaft von SS-Leuten, als Gast? Das ist ein hochprovokantes Bild. So weit gehen wir


nicht, aber die Richtung ist da angedeutet und der Shylock geht einige dieser Stationen ab. Wenn es eine große und gesuchte Herausforderung war, den Shylock zu spielen – auch mit den genannten Traditionsbezü­ gen –, welches Fazit können Sie nach der Reihe von Aufführun­ gen ziehen? War das jetzt zutiefst befriedigend, geht der Ausein­ andersetzungsprozess weiter, haben Sie sich vielleicht auch geirrt in einigen Dingen? Keine leichte Frage. Zunächst mal „irrt“ man sich immer vor einer Arbeit, weil die Erfahrungsreise noch bevorsteht. Zweitens würde es an Selbstüberschätzung grenzen, wenn ich sage, ja, das ist vollständig gelungen, das wäre ja lächerlich. Schon allein deshalb, weil jede Aufführung als abendliche Vorstellung neue Erkenntnisse bringt, ganz klar. Was aber für mich im Vorfeld interessant war anzugucken, war die Darstellung von Lawrence Olivier, der die Fassung des gedemütigten Täters – des Verbrechers aus verlorener Ehre, wenn man so will – als Erster, wenn man der Literatur glauben kann, so gespielt hat. Das gibt’s auch noch zu besichtigen in einer Filmfassung und das ist die Figurenauffassung, der auch ich mich angenähert habe. Ansonsten ist da noch viel zu entdecken, jedes Mal. Sie haben bei Luk Perceval in Front und Die Brüder Karamasow gespielt, beides Produktionen am Thalia Theater Hamburg. Front könnte man als eine Art musikalisch-textliche Installation beschreiben. Zudem war die Inszenierung, als Koproduktion mit dem NTGent, mehrsprachig. Alle Auftritte, die nicht Teil der ­musikalischen Textpräsentation waren, boten eigentlich nur so etwas wie Miniaturrollen, die man in zwei Sekunden auf die Bühne zu stellen hatte. Man war mit einer Mini-Erzählung kurz Teil des Ganzen, dann aber schon wieder weg und kam in dieser Rolle auch nie wieder. Ich erinnere mich besonders an den zyni­ schen Lehrer, den seine ehemaligen Schüler während ihres Front­ urlaubs besuchen und der, anstatt diese armen Kerle zu be­ mitleiden, anzügliche Bemerkungen über den „Stellungskrieg“

Spielen als Erfahrungs­ reise

Front von Luk Perceval

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Die Kunst der Miniatur

macht. Die ganze Situation bestand nur aus wenigen Worten und ein, zwei Gesten. Richtig, das waren Miniaturen, das ist aber auch etwas sehr Spannendes und macht großen Spaß, aus dem Ärmel heraus so Figuren zu zeichnen, hinzuschmeißen und wieder rauszugehen. Ich spielte hauptsächlich Katczinsky, den Elder Statesman unter den Frontsoldaten, den mit der größten Erfahrung. Das Kennzeichen dieser Aufführung aber war die Mehrsprachigkeit, um genau zu sein: Viersprachigkeit. Also einmal das Flämische und das Deutsche, dann gab es Passagen auf Französisch und auf Englisch. Das war natürlich der Versuch, die Internationalität des Konflikts abzubilden. Ich fand das gelungen, ich mochte das sehr. Ich bin sowieso ein Sprachen-Fex, und je mehr Sprachen gesprochen werden, desto stärker lebe ich auf. Dieses Orchester, als das wir da quasi figurierten, denn jeder hatte einen Notenständer vor sich, war wie ein Orchester des Todes, ein Orchester des Wartens, denn auch das war Teil der Übung, diesen jahrelangen Stellungskrieg irgendwie ab­ bilden zu wollen, in dem nichts geschieht als warten – und dann plötzlich ein furchtbares Granatengewitter. Das alles in einem relativ dunklen Ambiente, denn sehr hell beleuchtet war die Bühne nicht. Begleitet – ein ganz wesentlicher Punkt – von einem großen Künstler des modernen Musikmachens, Ferdinand Försch, der hauptsächlich mit Blechen, außerdem mit Glocken und Schlagwerken arbeitete und das Ganze mit diesem Stahlgewitter unterfütterte. Das machte einen tiefen Eindruck auf die Leute. Es gab eine sehr betroffene Gemeinde, die da nach der Vorstellung rausging. Wie haben sich die Reaktionen des Publikums in den Ländern, in denen die Inszenierung gezeigt wurde, unterschieden? Wir haben es nach der Premiere erstmal lange im Thalia Theater gespielt. Sind dann auf Gastspielreise gegangen, und zwar durch ganz Europa, von Edinburgh bis nach Sarajevo und ­Belgrad. Auch in Sankt Petersburg haben wir gespielt und natürlich in Gent, in dem Theater, in dem Luk Perceval jetzt Haus-

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regisseur ist. Die Reaktion war eigentlich in all diesen Ländern dieselbe. Vielleicht mit der einen Einschränkung, dass mir das deutsche Publikum am betroffensten erschien. Das muss ich wirklich sagen. Ich hatte den Eindruck, ganz so mitgenommen wie bei uns in Hamburg waren die Leute in anderen Ländern nicht unbedingt. Wenn ein Regisseur ein so offenes System schafft, in dem der darstellerische Ausdruck zurückgenommen wird und doch in­ nerhalb dieser musikalischen Anordnung abrufbar bleibt, könn­ te man das als „gebremste“ Schauspielerei bezeichnen? Das würde ich so nicht sagen. Und ich glaube auch nicht, dass das so war. Wenn ich an meinen flämischen Kollegen denke, Steven van Watermeulen, der sich mit einer ungeheuren Energie in seine Figur des Lieutnant de Wit hineinwarf, da konnte von einer epischen Spielweise à la Brecht nicht im Entferntesten die Rede sein, ganz im Gegenteil. Da ging es wirklich ans Eingemachte des psychologischen Theaters. Die offene Form oder das offene System war am ehesten dadurch gegeben, dass die Figuren nicht linear durcherzählt wurden und in der Gestaltung Luks Wunsch nach Reduktion folgten. Es scheint ja unmöglich, solche Themen wie den Ersten Weltkrieg oder auch den Kolonialismus an einem Abend zu ­erzählen. Das ist schier ausgeschlossen. Also kann man nur in Fragmenten, in einem „offenen System“ arbeiten. Ich habe mich damals sehr intensiv mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt, mit dem wir uns ja alle zu wenig beschäftigt hatten bis dato. Hatte natürlich Christopher Clarks Die Schlafwandler gelesen, auch Herfried Münklers Buch über den Ersten Weltkrieg und noch zwei Werke. Percevals Vorlagen bestanden bekanntlich aus Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque, woraus auch meine Figur entwickelt war, und Le Feu von Henri ­Barbusse, gewissermaßen das Pendant auf Französisch. Da sieht man eben auch, wie er arbeitet. Er geht von Klassikern aus und macht was völlig anderes draus. Er nutzt sie – wie ­Heiner ­Müller mal gesagt hat – wie einen Steinbruch, aber er

In Percevals ‚offenem System‘

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birgt ­darin auch interessante Fundstücke, die er dann zusammenfügt. Deswegen war Front eine so besondere Arbeit.

Selbstüberprüfung und Forschungsarbeit

Welche Form von Selbstüberprüfung, von Selbstreflexion gibt es für Sie? Meistens finden sich in Kritiken mal mehr, mal weniger nützliche, fast nur atmosphärisch zu nennende Beschreibungen. Aber die tiefe Weiter- und Fortbildung, die man als Schauspieler sucht und an der man ein Leben lang arbeitet – es gibt keine Gewissheiten, es gibt keine hundertprozentigen Ergebnisse, es gibt immer nur den Prozess –, das ist das Einzige, was zählt und dafür ist das Theater unabdingbar. Man kann nirgendwo sonst diese Forschungsarbeit betreiben als auf dem Theater. Nur in dem Moment des linearen Spiels vor einem Publikum lässt sich lernen und beurteilen, in welchem Verhältnis Spontanität, Genauigkeit, Lebendigkeit und Reduktion zueinander zu stehen haben. Partnerspiel gegen Pointierung der eigenen Figur – was für Momente gehören nur mir, wo ist es unerhört wichtig zuzuhören –, ein Grundgesetz des Theaters. Diese Dinge kann man nur mit Publikum und Kollegen auf einer Bühne in Erfahrung bringen. Natürlich, manchmal guckt man in die Aufzeichnung einer früheren Arbeit rein, doch ist das oft genug eher ein schaler Abglanz, wenn die auch noch so gut sein kann. Ich hab in meinem Leben nur eine Aufzeichnung erlebt, von der ich sage, die scheint genau den Punkt der Aufführung zu treffen, das ist Der Menschenfeind inszeniert von Werner Düggelin in Zürich und auch fürs Fernsehen, für 3sat, im Studio nochmal nachgebaut und nachgestellt. Das scheint eine sehr genaue Abbildung zu sein, das leuchtet mir ein, aber sich jetzt etwa jeden Abend die Aufzeichnung der Vorstellung anzuschauen, halte ich für vollkommen sinnlos. Außerdem ist gar nicht die Zeit dafür da. In die andere Richtung gedacht, also die Vorbereitung einer ­Rolle: Benutzen Sie da viel, was Sie vorher schon mal gemacht haben?

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Nein, so arbeite ich überhaupt nicht. Ich arbeite nicht retro­ spektiv, das ist mir völlig fremd. Ich guck mir auch meine Arbeiten im Film und Fernsehen nicht nochmal an, vielleicht nach zwanzig Jahren mal einen Ausschnitt und denke dann, aha, gar nicht sooo schlecht! Aber meistens erträgt man das schwer, weil man natürlich altert und das Jugendliche als das Erledigte betrachtet – also umgekehrt, als man denken könnte. Dass man der Jugend nachtrauert, ist überhaupt nicht der Fall, es dreht sich eher um und man denkt, mein Gott, war ich unerfahren. Deshalb lohnt sich das schon mal nicht. Und die Arbeit an einer Figur fürs Theater oder an einem Theaterstück geht für mich auf jeden Fall immer erst über die Figur, die ich zu spielen habe … in welchem Kosmos steht die und in welchem Zusammenhang ist sie entstanden, was will das Stück erzählen, wie muss die Figur aussehen, damit sie nicht nur selber eine Entität darstellt, sondern auch im Zusammenhang mit

Die Heldin von Potsdam von Theresia Walser, Maxim Gorki Theater Berlin 2001

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Jede Arbeit beginnt bei null

dem Stück befördernd wirkt. Dann kommt der Schritt, wo man sagt, die und die Erfahrungen müssen in die Figur einfließen, aber das sind eher Lebenserfahrungen als Rollenerfahrungen. Ich wüsste ad hoc keinen Fall zu nennen, wo ich sagen konnte, das hab ich doch schon mal so ähnlich gespielt, da brauch ich ja bloß … – also vollkommen ausgeschlossen. Vollkommen unmöglich, ganz undenkbar. Ganz undenkbar schon allein, weil das fast ein Postulat ist, zu sagen, jede Arbeit beginnt bei null. Jedenfalls ist das insofern ein positives Postulat, weil es bedeutet, dass ich die Welt neu erfinde, jedes Mal. Ich will eine neue Welt schaffen und keine wiederholen. Vorbereitung ist ein enorm spannendes Feld, Vorbereitung heißt ganz viel, Vorbereitung heißt auch, eine richtige Lebensweise zu wählen. Nicht dauernd betrunken zu sein, nicht dauernd bekifft zu sein, nicht dauernd mit dem Handy zu spielen, wenn eine konzentrative Übung ansteht oder eine Leseprobe oder auch nur eine Wiederaufnahmeprobe. Was ist Konzentration? Wie muss ein Schauspieler leben? Bei Sängern halten wir es für selbstverständlich, dass sie eine bestimmte Disziplin an den Tag legen, besonders auch vor Vorstellungen. Bei Schauspielern wird so getan, als sei es vor allem die Nonchalance, die gefordert ist. Das ist leider vollkommen falsch. Damit ist unser Bild vom Schauspieler immer verbunden, das ist aus der Romantik: der liederliche Bohemien, der dann aber auf seinem besonderen Gebiet eine besondere Leistung vollbringt. Es ist falsch, es ist ne Eintagsfliege. Ich glaube, diese Art von Vorbereitung ist wichtig, damit meine ich, auf Konzentration hinzuarbeiten, Geduld zu haben und vor allem – das ist etwas vom Schwierigsten, glaube ich – Gnade mit sich selbst zu ­haben. Dass man sich selbst nicht permanent kritisiert, zensiert und unter Druck setzt. Es sind sehr viele Punkte, die in der Vorbereitung eines Abends und dann auch in der Exekution einer Rolle auf der Bühne wichtig sind, denn es ist ja nichts ­anderes als das Leben selbst. Und das will ja auch von vielen, vielen verschiedenen Aspekten her genau gelebt sein.

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Was bedeutet Partnerschaft mit dem Regisseur in dem Zusam­ menhang? Was passiert dabei? Sie haben mit dem 25 Jahre jün­ geren Roger Vontobel gearbeitet, mit Haneke, mit Breloer … also mit Leuten, die schon für etwas ganz Bestimmtes stehen, was sie mit ihrem Gesamtwerk erreichen wollen, und Sie kommen mit der eigenen Vorbereitung da rein. Ist die Arbeit dann eher part­ nerschaftlich, führt das auch zu Konflikten oder entsteht etwas noch Besseres aus der Reibung? Im besten Fall entsteht unbedingt was noch Besseres. Ich ­würde mir ein bisschen blöd vorkommen, wenn ich einem Regisseur unvorbereitet entgegenträte, denn ich muss die Sache auch ohne ihn vertreten können. Es gibt keine richtige Arbeit, wenn ich sie nicht auch alleine zustande brächte. Sie kann nur angereichert werden, in ganz wenigen schlimmen Fällen – das kann passieren – wird sie vernichtet durch den Regisseur. Es kommt ja vor. Es gibt Menschen am Theater, die sind in ihrer negativen Energie unüberbietbar, oder unüberbrückbar auch,

Yasmina Rezas Drei Mal Leben mit Leslie Malton und Rudolf Kowalski, Hamburger Kammerspiele 2001

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dann wird’s schwierig. In den meisten Fällen aber geht es natür­ lich darum, Ansichten des Regisseurs, die überraschend sind – sie müssen gar nicht konträr sein, es reicht schon, wenn sie überraschend sind –, zu integrieren in das bereits bestehende Bild. Und sie eben als Bereicherung, als Zusatz, als Ansporn oder als Perspektiverweiterung sehen. Dass man sich nicht eingeengt fühlt von Vorschlägen eines Regisseurs, sondern sich selbst in die Lage versetzt, das als Genuss zu betrachten, so viel wie möglich zu erfahren.

Ensemble oder allein?

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Sie sind ein Schauspieler, der heute in den großen Häusern in Düsseldorf, Hamburg, Wien als besonderer Gast auftritt und der die erste Hälfte seines Berufslebens in Ensembles verbracht und da auch eine andere Art von Kollegialität erlebt hat. Was hat der Wechsel bedeutet? Löst man sich da aus sozialen Beziehungen und Freundschaften, oder wird man auch zu sehr beneidet als Jet-Set-Schauspieler außerhalb der in Deutschland für typisch gehaltenen Ensemble-Kultur? Vor allem, wenn man jung ist, fühlt man sich in einem Ensemble unglaublich geborgen. Man sucht Allianzen und man findet sie auch, man findet auch Liebschaften, das Theater ist ja eine Brutstätte der Beziehungskultur und ist auch gegenüber allen anderen Genres oder Bereichen dieses Berufs heimat­ bildend, weil es ein Haus hat, weil es unter einem Dach eine Gemeinschaft bildet, das kann man beim Film so nicht finden. Da gibt es auch keine Ensembles dieser Art. Wenn du jetzt als Gast ausschwärmst, ist der erste Gedanke, warum man das tut, natürlich Überregionalität. Also rauszukommen aus dem kleineren Kreis des Ortes, in dem man im Ensemble ist. Dann klar, auch ganz wichtig, die Vermischung mit Film- und Fernseharbeit, denn nur außerhalb des festen Engagements wird man Herr seiner eigenen Termine. Man muss sich seine Termine nicht vorschreiben lassen, sondern kann mitbestimmen; anders ist eine unabhängige Arbeit ja gar nicht denkbar. Aber der eigentliche Punkt ist, wie arbeitet es sich konstruktiver. Ist es überhaupt möglich, mit ständig wech-


Mit Joachim Meyerhoff in Moritz Rinkes Republik Vineta, Maxim Gorki Theater Berlin 2002

selnden Mannschaften die gleiche Intensität in der Arbeit, gerade auch in Zweierrollen, herzustellen – ich glaube ja! Ich bin da inzwischen weit weg von jeder Romantik. Ich war früher sehr stark der Meinung, es wäre gut, wenn Schauspieler unkündbar sind, weil sie dann die Sicherheit hätten, sich alles zu

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trauen. Sie hätten einen festen Rahmen, sie bräuchten keine Angst zu haben rauszufliegen, sie könnten alles ausprobieren, sie wären wirklich frei. Der Gedanke klingt logisch und attraktiv, hat aber den Pferdefuß, dass dann der Ansporn fehlt. Der Ansporn nämlich, immer besser zu sein, um sich den Vertrag zu erhalten und auch die Zusammenarbeit mit den anderen zu festigen. Nun ist natürlich mein Charakter ohnehin einzelgängerisch und kommt dieser Partikulierer-Idee eher entgegen. Ich muss nicht immer jeden Abend mit allen zusammenhocken und permanent alles ausdiskutieren. Das war aber mal so und das war auch ne gute Erfahrung und war auch eine gute Zeit, hat aber in vielem auch vollkommen in die Irre geführt. Denn der Glaube an die Fähigkeit zur gemeinsamen Sache war einfach übergroß, diese Möglichkeit einer Gemeinschaft hab ich grundsätzlich überschätzt. Eine Zeit lang kann man am selben Strang ziehen, dann gewinnen aber wieder Einzelinteressen die Oberhand. Aber man muss es beides mal gemacht haben. Wie viele Vorstellungen spielen Sie heute etwa im Monat? Das schwankt natürlich, aber sagen wir mal im Durchschnitt sind es jetzt drei Vorstellungen, vier höchstens. Sagen wir vier

David Mamet Das Krypto­ gramm, mit Annemarie Kuster, Schauspielhaus Zürich 1995

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im Monat, also einmal die Woche, weil es aktuell nur noch zwei Stücke sind. Aber es hat Zeiten gegeben, wo ich an vier Theatern gleichzeitig beschäftigt war und vielleicht 6 bis 7 ­Stücke hatte und immer im Kreis gefahren bin zwischen Bremen, Zürich, Hamburg und Berlin. Das war nun wirklich der wahre Zirkus und ganz schwer zu disponieren und zu handeln, wie man sich denken kann. Aber jetzt ist es begrenzt, dafür gibt es eben andere Arbeit dazu. Natürlich die schriftstelle­ rische Arbeit, dann die Arbeit an Hörbüchern, an anderen ­Lesungen … da kommt eben viel zusammen. Dazu Dreharbeiten, die wiederum jenseits vom Theater stattfinden. Es kommt einiges zusammen an Arbeitstagen. Sehr viel einiges sogar. In Düsseldorf sind Sie regelmäßiger Gast am Schauspielhaus. Durch die Besetzung dort kommen besondere Sachen zum Tra­ gen. Jetzt im Fall von Shylock der Außenseiter. So ist das ja teil­ weise auch choreografiert auf der Bühne, der Einzelne, gegen­ über diesem Gesamt-Ensemble, das ja sonst fast jeden Tag zusammen spielt. Kann man das als Energie oder als Konstella­ tion nutzen? Das kann man auch mit nutzen, aber das hat auch negative Konnotationen. Es erfordert schon einen etwas erhöhten Energiepegel, fremd zu sein. Ich erinnere mich an die Dreigroschen­ oper in Bremen, da war die Atmosphäre geradezu abenteuerlich feindselig, weil alle den Mackie Messer spielen wollten und der Intendant mich holte. Die waren alle frisch von der Ernst-Busch-Schule gekommen und waren empört – und das in Bremen –, dass das einer aus dem Westen spielt. Dabei ­waren sie selber im Westen, also es war eine abenteuerliche Situation.

Prominenter Gast und Ensemble

Wann ist die Erkenntnis gekommen, dass Sie diese Ensemble­ kultur überschätzen, diese romantisierte Gemeinschaft, in der man aufgehoben und geborgen ist, in der zusammen gewartet wird, dass ein Regisseur von außen kommt und sie beglückt und dabei noch alle gerecht behandelt?

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Es ging sehr schleichend, es war ein Erosionsprozess. Ich muss sagen, ich hab es deshalb auch erst spät erkannt, weil ich es auf keinen Fall wollte. Ich wollte, dass die Welt anders ist, als sie ist – auch die Theaterwelt. Und natürlich gibt es so viele leuchtende Beispiele, an denen ich zum Teil auch beteiligt war: ob es das Mitbestimmungsjahr in Frankfurt am Main unter ­Palitzsch war, ob das die Schaubühne am Halleschen Ufer war, mit ihrer großen Aufbruchsstimmung und künstlerischen Energie, ob das Ensembles waren, die sich über andere Punkte definiert haben … ich hab da in der Hinsicht einiges erlebt, aber am Ende bleibst du gerade in diesem Beruf ein Einzelgänger. Man speist sich als Schauspieler nicht nur – das sag ich einschränkend – nicht nur aus der Energie des Ensembles. Auch. Das soll und muss auch so sein. Aber dafür ist am Ende doch auch jeder dem anderen ein Konkurrent, das darf man nicht übersehen. Jede Besetzung ist ein Wettlauf um die Macht. Wenn der Shylock eine besonders gesuchte Herausforderung war: Gibt’s denn noch ähnliche Rollen, die Sie gerne gespielt ­hätten oder noch spielen wollen? Ja, es gibt natürlich gerade die Rollen, die ich versäumt hab, weil ich eine Zeit lang zu sehr nur dem Ensemblegedanken anhing. Das sind Rollen, die würde ich heute gerne nachholen, der Prinz von Homburg oder Romeo zum Beispiel.

Versäumte Rollen

Das wird aber wahrscheinlich kaum passieren, oder? Bei Romeo wohl nicht (lacht). Ich würde allerdings sagen, es gibt eigentlich keine Grenzen, keine Altersgrenzen für Figuren. Man kann unter Umständen ganz überraschende Volten dramaturgischer Art schlagen, wenn man sich von diesen Altersund Generationsgedanken mal befreit. Ich verrate mal ein Beispiel, das ist der Wetter vom Strahl im Käthchen von Heilbronn. Wetter vom Strahl, besetzt mit einem Mann meines Alter, ­würde bedeuten, dass die Obszönität, dass dieses Käthchen unter allen Umständen diesem Mann gehören will, diesem Wetter vom Strahl, der darüber völlig konsterniert und auch

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Marigold – Klaußners BeatlesMusical, Schauspielhaus Bochum 2009

etwas erschreckt ist, nochmal eine ganz andere Dimension ­bekäme. Bei einem gleichaltrigen Ritter Wetter vom Strahl ist es einfach eine gut nachvollziehbare Liebesgeschichte. Die Sprengkraft des kleistschen Stückes würde sich unter Umständen in einer Konstellation älterer Wetter vom Strahl – ganz junges Käthchen erst wirklich erfüllen.

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Dieses System der Rollenfächer hat sich ja weitgehend aufgelöst. Vor zwanzig Jahren gab es schon noch Intendanten und Chef­ dramaturgen, die so gedacht haben, die komische Alte und der romantische Jüngling, aber das ist weg. Ja, das waren ja vor allem auch berufssichernde Maßnahmen. Du hattest in einem Ensemble Anspruch und durch diese Fachbezeichnung auch das Anrecht, diese Rollen zu spielen. Da konnte nicht jemand anderes sagen, das möchte ich aber spielen – nein, für dieses Fach warst nur du engagiert. Das gehört zu diesen ganzen Veränderungen, die das Regiethea­ ter einleitete. Das fing an in den Siebzigern, da sagte man, das ist gegenbesetzt. Das war der typische Ausdruck dafür. Das musste in der Zeit oft auch deshalb so sein, um überhaupt was an diesem System zu verändern und freilich auch, um neue Sichtweisen zu bekommen.

Schauspielkunst bleibt das Wesen des Theaters

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Gegenbesetzt war die erste Stufe, jetzt sind wir am Ende der Gegenbesetzung und mittendrin in den offenen Systemen. Wür­ den Sie eine Aussage wagen, wie die Bühnenschauspielerei sich entwickelt hat? Wenn das so einfach zu beschreiben wäre. Eines ist klar, eine faszinierende Bühnenpersönlichkeit ist damals wie heute das Zentrum einer Aufführung und verdrängt so viel Raum um sich, dass der Fokus immer auf ihr oder ihm ruhen wird. Das ist und bleibt das Zentrum einer Aufführung, der Schauspieler oder die Schauspielerin. Daran gibt es nicht das Geringste zu rütteln, es sei denn, man transportiert das ganze Bühnengeschehen hin zu einer Art Mechanik, die durch besondere technische Attraktionen glänzt und auch ohne Schauspieler auskommen könnte. Ich muss sagen, dass mich Schauspieler und Schauspielerinnen durch die Bank weg und durch die Jahrzehnte begeistern konnten. Besonders hat mich auch immer erreicht, wenn zu einer Aufführung ein dramaturgisches Konzept gefunden wurde, das in allen Punkten ein System von


Klarheit und Intelligenz geschaffen hat, in dem die Schauspieler aufgehoben waren wie die Fliege im Bernstein, um mich mal auszudrücken wie Hanns Eisler. Das ist das höchste der Gefühle. Wenn Aufführungen aus einem Guss sind, würde man etwas salopp sagen. Ich erinnere mich, dass Peter Stein die Inszenierung „Fegefeuer in Ingolstadt“ von Peter Löscher übernommen hatte, die dann zu seinen allerbesten gehörte. Eine Aufführung von ungeheurer Intensität und Beklemmung. Das passiert ja großen Regisseuren manchmal, wenn sie so eine Nebenarbeit abliefern, dass sie plötzlich im Zentrum ihrer Kraft sind. Und da spielte alles in eins. Das sind die seltenen Glücksmomente des Theaters, für die man den Rest der Zeit nahezu unerträglich leidet, damit man vielleicht doch nochmal einen Fisch an der Angel hat. Aber der große Umbruch kam natürlich mit dem Wegbrechen der Gewissheiten und in Konsequenz daraus mit einem dekonstruierenden Theater. Da muss man dann in ein paar Jahren noch mal genauer herangehen, das würde jetzt den Rahmen sprengen. Ich hatte bei dem Shylock den Eindruck, Sie sind der Einzige, der das Mikrofon nicht braucht und keine so heruntergedimmte Sprechweise hat. Kortner war bekanntlich entsetzt über den Wohnzimmer-Plauderton in der amerikanischen Erfahrung. Diese Entwicklung ist meiner Meinung nach weitergegangen. Ich habe die Theorie von der Ent-Pathetisierung als Grundbewe­ gung des deutschen Theaters nach 1960, die ganz klar auch mit der Sprechweise zu tun hat. Da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Bei Shylock hängt es einerseits mit der Figur zusammen, die sich ihre Öffentlichkeit immer erkämpfen muss, als Außenseiter. Die Mikroporti­ sierung ist andererseits dem unmöglichen Raum in dieser Ersatzspielstätte, dieser Fabrikatmosphäre und ihrer Akustik ­geschuldet. Ich freu mich wie ein Schneekönig, wenn ich mal endlich wieder – entweder wie jetzt im Burgtheater, oder in Zukunft auch in Düsseldorf wieder – auf der Bühne stehen kann ohne Mikroport, es ist wirklich schlimm. Man kann nicht

Sprechkunst und Theaterentwicklung

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Kritik der Mikro­foni­ sierung

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differenzieren, nichts, gar nichts. Es ist wirklich unerträglich. Aber die Ent-Pathetisierung ist vollkommen richtig beschrieben, das ist ja der Grund, weshalb die Mikroports Einzug fanden. Weil erstens konnten die Schauspieler nicht natürlich und gleichzeitig verständlich sprechen, ist ja auch ein Riesenmangel in der Ausbildung, ganz klar, das ist völlig unterbewertet, und zweitens kannst du natürlich unter ein gewisses Level ­ohnehin nicht gehen. Also hat man das mit den Mikroports gemacht, aber es ist eine sehr zweischneidige Sache. Mikroportisierung, Mikrofonisierung enthebt dich der Möglichkeit, die Figur zu orten; der Ton kommt von überall, aber nicht von da, wo er herkommt. Das ist der Unterschied zur normalen Stimme und deshalb ist es sofort künstlich, artifiziell, verloren. Die menschliche Dimension geht sofort verloren. Man kann die menschliche Dimension zwar imaginieren, weil man den Menschen zwar nicht hört, aber sieht und sich das Stück, was da fehlt, dazu imaginiert. Das kann man machen, dann kann man ganz leise sprechen, aber auf Dauer finde ich es nicht wirklich befriedigend. Die grundsätzliche Sprechhaltung hat sich gewaltig ver­ ändert, das sieht man schon, wenn man sich zum Beispiel Horst Caspar heute anhört – den großen Heldendarsteller der Nazis, der im Film Kolberg den Gneisenau spielt und mit einem erstaunlichen Tonfall, man nannte das „mit Metall in der Stimme“, eine Sprechhöhe anstrebt und ausübt, die heutzutage richtig unangenehm zu hören ist. Es gibt Schallplatten von Caspar, da kann man das alles nachhören. Auch die Nachrichtensprecher haben in der Nazizeit und im Zweiten Weltkrieg auf ganz eigene Weise pathetisiert, in der Wochenschau zum Beispiel, so sprach man zum Teil auch auf dem Theater. Das ist natürlich vorbei. Aber vielleicht waren das auch damals nur bestimmte Spitzen. Ich erinnere mich, dass ich von Schauspielern wie Benrath nie in dieser Weise ins Pathos weggelockt wurde, aber gleichzeitig in eine Präsenz, in eine Gegenwart im doppelten Sinne des Wortes. Das schon! Der Benrath auf der Bühne hat mich nie entlassen in irgendeine Ach-kommste-heut-


nicht-kommste-morgen-Haltung, sondern er hat sprachlich immer darauf bestanden, dass ich seinem Argument folge. Dann kam ein anderer und hat diese Forderung auch gestellt, und dann musste man sich entscheiden, wem man zuhört. Es könnte sein, wenn man sich ganz theoretisch aufschwingt, dass das korreliert, in gewisser Beziehung steht zu dem, wie der Zufall Einzug hielt in das deutsche Theater, in die Darstellung, in die Probe. Der Zufall als Generator überraschender Ergebnisse, die man nicht planen kann. Das ist eine ganz wich­ tige Neuerung, die das Theater gefunden hat. Aber das war auch ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der sich langsam ausbreitete. Das hat vielleicht den einzelnen Sprecherinnen und Sprechern ihre Selbstgewissheit genommen.

Eine Vermutung über das Ver­ blassen der Sprechkunst

Hannelore Schlaffer, eine Germanistin, wetterte mit einem ­großen Rundumschlag gegen die Sprechkultur an den deutschen Theatern heute: „Alles nur noch Genuschel, man versteht nichts mehr.“ Sie spricht von einer Nuschelkultur, während parallel dazu im amerikanischen Film die neue Richtung namens „Mum­ blecore“ entstanden ist. Es wird so vor sich hingemurmelt, „Mumblecore“. Das heißt, im Film wird besonders viel Wert auf die alltagssprachliche Führung der Schauspieler gelegt, dass das eben alles gar nicht mehr so skriptmäßig ist und häufig auch improvisiert wird und wirkt. Ich halte das mit der Nuschelkultur für übertrieben, andererseits ist natürlich dieses große patheti­ sche Bühnensprechen mit dem entsprechenden Selbstbewusst­ seinsanspruch, der sich damit verbindet – „ich kann so sprechen wie kein anderer, deswegen bin ich auf der Bühne“ – im Abstieg begriffen. Wo sehen Sie sich in dieser Entwicklung? Eines steht vollkommen fest: Alltagssprache heißt nicht Unverständlichkeit, das ist das große Missverständnis. Wie kämen die Menschen sonst miteinander aus? Das machen nur Amateure, die es nicht anders können. Natürlich gibt es auch Situationen, wo Sprache nur noch Geräusch ist. Aber viele sind einfach nicht zu verstehen, weil sie glauben, das sei die Alltagssprache. Das ist unproduktiv, uninteressant, langweilig,

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denn das Ziel ist nicht Unverständlichkeit, sondern Natürlichkeit. Natürlichkeit – das Schwerste im Beruf, das muss man lernen und das muss man beweisen und nicht durch Untertemperatur zu kompensieren versuchen. Oder Unterspannung. Da gibt’s ja viele Gründe, warum das nicht funktioniert. Größtes Manko ist immer mangelnde Wachheit.

Hörbücher als Kopftheater

Sie haben Hörbücher von ganz verschiedenen Autoren gespro­ chen oder eingelesen, wie das ja nicht ganz zutreffend über eine solche Sprechgestaltung heißt. Paul Auster, Wolf Biermann, ­Botho Strauß, Daniel Kehlmann und James Joyce zum Beispiel. Warum ist das Hörbuch für Sie interessant? Das ist Kopftheater. Von Buchstabe zu Buchstabe entwickelt sich eine ganze Welt. Deshalb kommt es da ja auch auf die Buchstabentreue an. Wenn etwas im Manuskript verdruckt ist, stimmt das Ganze schon nicht mehr. Es ist wichtig, dass es ­Kohärenz hat. Andererseits ist es wie ein Generationensprung zurück, als das Kind etwas von den Eltern oder Großeltern vorgelesen bekam. Das Geschichtenerzählen ist sehr intim, ist ein Vorgang zwischen nur zwei Personen. Wahrscheinlich hören die meisten Leute deshalb Hörbücher für sich allein. Sie sind für einen Zuhörer gemacht. Das Kopftheater findet zuerst im Sprecher statt. Wie bereiten Sie das vor? Eigentlich nur durch das intensive Lesen des Texts. Man muss den direkten Eindruck vermitteln, aber vorher einmal den Blick aufs Ganze gehabt haben. Ich nehme mir nicht vor, dass ich das an dieser Stelle so und so charakterisiere, als Teil eines großen Plans, das finde ich nicht interessant. Denn den Weg, den der Hörer nimmt, sollte man auch als Vorleser abschreiten, es ist ein gemeinsamer Weg. Man nimmt den Hörer an die Hand und läuft zusammen dem Erzähler hinterher. Wie finden Sie die Stimme mit ihrem Rhythmus und der Haltung des mündlichen Erzählers? Kommt das mehr von der Persön­

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lichkeit des Autors oder eher aus der Welt der Erzählung oder dem Geschmack und Ausdruck des Textes? Es ist sicher nur der Text, den ich bei der Vorbereitung in mir aufnehme. Was da genau passiert, ist schwer zu sagen. Das ­Lesevergnügen ist die beste Vorbereitung, und nicht das Vorbereiten des Vorlesens. Wirklich das Lesevergnügen! Nehmen wir mal ein Beispiel. Es gibt diesen wunderbaren Roman Stoner von John Williams, ein amerikanisches Buch von 1965, das in völlige Vergessenheit geriet, bis es 2006 wiederentdeckt und dann auch in Deutschland zu einem Publikumserfolg wurde. Es ist die Geschichte eines Manns, der als Bauernsohn geboren wird und der als Universitätsprofessor stirbt, nach mehreren missglückten Liebesgeschichten in einer tragischen Biografie. Wenn man weiß, wie das endet, ist es gut, auch den Anfang so zu gestalten, dass man das auf eine bestimmte Weise schon in sich trägt. Ähnlich wie der Autor ist auch der Vorleser eine Art allwissender Erzähler. Dieser Alleswisser kann also seinen ­Helden, auch wenn der nur aus Buchstaben besteht, ansehen und sagen: Ich weiß, wie es mit dir endet. Aber ich lass dir noch ein bisschen Zeit für deine Geschichte. So konnte ich dieses Buch angehen beim Sprechen, das Wissen vom Ende her mittransportieren.

Sprechen als Erzählen im Hörbuch

Suchen Sie sich auch Stimmlagen und Sprechweisen für ver­ schiedene Personen? Nein, das ergibt sich auch wieder nur aus dem Text. Natürlich bereitet man beim ersten Lesen in einem wiederzugebenden Dialog vor, wer da spricht, ob die Person männlich oder weiblich, alt oder jung, dick oder dünn, heiter oder traurig ist. Aber das muss sich unmittelbar mitteilen und wird bei mir nicht wie eine Rolle vorab deponiert. Sie haben Ihr eigenes Buch Vor dem Anfang selbst fürs Hörbuch gelesen. Hat Sie dabei etwas überrascht? Wenn der allwissende Autor mit dem vorwissenden Sprecher in eins fällt, dann könnte ja doch etwas anders sein in dem Verfahren?

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Ich glaube nicht. Das macht keinen Unterschied. Ich glaube wirklich daran, dass ein Text eine Einheit ist. Der Text ist ein Monolith und spricht in Teilen und als Ganzes zu einem. Da­ rum ist auch der eigene Text irgendwann ein fremder. Eine selbständige Einheit. Nein, ganz klar, der Text emanzipiert sich vom Autor.

Vor dem Anfang als Debüt

Wie kam es eigentlich zu diesem späten Debüt als literarischer Erzähler? Das hatte wie vieles andere in meinem Leben einen langen Vorlauf. Ich habe immer viel geschrieben. Sehr viel Reflexives, Notizen, auch in Tagebuchform. In späteren Jahren kamen dann auch Betrachtungen dazu, die ich zum Beispiel als Jury-­ Vorsitzender des Boy-Gobert-Preises vorgetragen habe. Das sind Vorstufen des Erzählens, das ich dann unbedingt einmal als solches in Reinform probieren wollte. Ein Erzählen, bei dem dann die Reflexionen völlig zurücktreten sollten. Vor dem ­Anfang hatte lange in mir geschlummert. Und jetzt beginnt eigentlich erst, deswegen auch der Titel, der Anfang. Das erste Buch ist rausgeschossen. Jetzt wird’s komplizierter. Sie sprechen von einem zweiten Buch? Das ist die Herausforderung. Dazu gehört, zu entscheiden, was noch zu erzählen wäre. Ich sehe mit Schaudern das Aufkommen des Antisemitismus. Und wenn ich an die Aufklärung und die politischen Auseinandersetzungen in der Jugend denke, dann frage ich mich, was aus der Sache geworden ist. Mich treibt um, was gerade mit unserer Gesellschaft geschieht. Wo treiben wir hin mit diesem Tanker Deutschland, mit Europa, in der Welt? Man kann das ja gar nicht weit genug fassen. Am Ende muss es dann wieder eine kleine Einheit sein, denn in den kleinen Geschichten erzählt sich ja doch oft das Ganze. Das war das Besondere an Ihrem Buch, dass die Erzählung an einen ganz bestimmten Punkt der Weltkriegskatastrophe in ­Mitteleuropa gesetzt war: die letzten Kriegstage in Berlin, der

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Krieg ist noch nicht vorbei, der Frieden noch nicht da. Er ist greif­ bar, und trotzdem kann man noch an jeder Straßenecke erschos­ sen oder aufgeknüpft werden und muss bei Angriffen in die Bombenschutzkeller fliehen. In dieser Situation lassen Sie Ihre beiden Helden, Fritz und Schultz, mit einem in dieser Situation lächerlich geringfügigen militärischen Auftrag quer durch die Stadt ziehen, denn sie sollen eine Geldkassette zum absurder­ weise noch in seinen Tagesbefehlen funktionierenden Reichs­ luftfahrtministerium bringen. Fritz scheint mit seinem Interesse an der Segelei auch mit autobiografischen Zügen ausgestattet. Der finale Untergang ist schon oft erzählt worden, in Romanen und Memoiren und natürlich in Filmen, immer wieder bis heute, aber eben so noch nicht. Die Erzählung des Kriegsendes hat mich eigentlich gar nicht so sehr interessiert, sie findet wie nebenbei statt in der Geschichte dieser beiden gewitzten Burschen, von denen der Fritz noch ein bisschen gewitzter ist, wie es im Namen mit diesem ‚itz‘ ja deutlich vorkommt. Den Kern der Geschichte hatte mir mein Vater erzählt, deshalb ist das tatsächlich ein bisschen biografisch geprägt, und hat, das stimmt, mit den Charakteristika des Fritz auch autobiografische Züge. Ich musste feststellen, als ich die Geschichte meines Vaters zum Anlass nahm, dass ich ihm immer ähnlicher geworden war und er mir. Ich fand erstaunlich, dass wir, die Söhne mit den Vätern und sicher auch die Töchter mit ihren Müttern, viel mehr eine Einheit bilden, auch über den Tod hinweg. Also zu einer Person werden auf gewisse Weise. Das fand ich sehr interessant zu beobachten. Was war denn der Kern der Geschichte, wie sie der Vater über­ liefert hat? Er wollte zu seinem Boot am Wannsee und versteckte sich auf dem Weg dahin im Strandbad in einer Toilette, als er sah, dass da irgendwelche Soldaten kamen. Die nahmen ihn fest und wollten ihn erschießen. Was da vorher war und wie er davonkam, das hat er mir gar nicht erzählt. Er hat wenig, wie alle Väter dieser Generation, mit mir geredet. Das ist die Anekdote,

Der Vater als Quelle

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die mich fasziniert hat und die mich zu dem Entschluss brachte, das ganze Drumherum zu erfinden, zugleich aber mit Blick auf die militärhistorischen Fakten jener Tage. Die Erzählung ist auch topografisch sehr genau. Man könnte mit dem Buch in der Hand die Route von Fritz und Schultz vom Flug­ platz Johannisthal zum Ministerium in der Wilhelmstraße er­ wandern. Trotzdem ist vor allem die Dichte der Eindrücke in der Erzählung das Spannende. Wo haben Sie das alles hergeholt? Zunächst hatte ich natürlich alles eingesogen, was die Erwachsenen damals doch ab und zu erzählt haben. Aber ich habe mich auch mit historischer Fachliteratur und Zeitzeugen­ berichten beschäftigt. Von der Anonyma in Eine Frau in Berlin über Ursula von Kardorff bis hin zu Joachim C. Fests Beschreibung der letzten Tage der Reichskanzlei in Der Untergang und vieles andere. Man könnte lange darüber reden, warum einen das nicht loslässt, diese Weltkatastrophe mit den ungeheuren Verbrechen.

Das Berlinische in der Katastrophe

Zu der atmosphärischen Dichte trägt natürlich auch das Berlini­ sche bei, das Sie hören lassen als Überlebenswitz in der Katastro­ phe, wenn zum Beispiel eine Frau zu einer Geburtstagstorte im Bombenkeller mit den Worten einlädt: „Ran an’ Sarg und mit­ jeweent.“ So was findet man ja nicht in der Fachliteratur. Ist aber nicht erfunden. So was kann man nicht erfinden. Gerhart Hauptmann hat seine Berlin-Stücke mit solch Aufgesammeltem gespickt, wie ‚schöner Abend heute Morgen‘ oder ‚die Nacht möcht’ ich mal bei Tage sehn‘. Das Berlinische ist auch bei mir gehört und nicht erfunden. Sie selbst pflegen den Berliner Dialekt nicht. Nur wenn es gebraucht wird. Dieser echte Droschkenkutscherdialekt, den bis vor ein paar Jahren noch die Taxifahrer gesprochen haben, stirbt aus. Jeder Dialekt ist eine Tiefenbohrung in die kollektive Seele. Und für mich, der als jugendlicher Berliner in Bayern überleben musste, war er auch ein Fangnetz, wie für

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den Trapezkünstler im Zirkus. Heute wird ja wenig mit dem Dialekt im Hintergrund geschrieben. Das wird vermieden, aber eine Formulierung, wie ich sie von Tante Edith gehört habe, die da lautet: ‚Besser wär’ nicht auszuhalten‘, so etwas muss festgehalten werden. War das Buch auch ein Ausbruch aus der Situation nach vierzig Jahren als Schauspieler mit ausschließlich fremden Texten? Das Schreiben ist auf seine Weise auch ein Interpretieren. Das Reale ist der Gegenstand, um immer tiefere Schichten aufzugraben, auch sprachlich. Deshalb habe ich für mich diesen Stil gefunden. Es ist also alles verbunden, die Schauspielerei, das Singen, die ­Filme, die Hörbücher und das Schreiben? Ich bin ein Romantiker, die Dinge wirken sehr stark auf mich, und ich bin empfänglich. Ich stehe unter starkem Einfluss von allem, was zum Teil auch abgewehrt werden muss, damit es mich nicht überwältigt. Aber es hat natürlich auch ein großes Reservoir an Erfahrungen und Empfindungen gefüllt. Aber zu diesem Verständnis des Romantischen gehört, daraus etwas Neues zu machen. Da sind Maler ganz anders, wenn ich an Adolph Menzel oder Gerhard Richter denke. Und doch, sehe ich, auch sie sind Interpreten. Das Interpretieren äußert sich in Konzentration, Verdichtung. Man denkt ja, Interpretation ist Erweiterung bis hin zur Ausschmückung. Aber nein, es geht um Verdichtung auf höherer Stufe. Eine noch höhere Konzen­ tration. Verdichtung zu einer Öffnung von Wirklichkeit. Das Verständnis wächst durch Verdichtung.

Ein Credo

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Rollenverzeichnis THEATER Produktion Guertler / Runze (privat) in der Kirche Berlin-Buckow PINKVILLE Text und Regie: George Tabori Sergeant 1971 Schaubühne am Halleschen Ufer MÄRZSTÜRME 23 (UA) Schwiedrzik/Steckel/Nel nach Otto Gotsche auch Regie E. Schäfer 1971 Schillertheater Berlin KASPERL AM ELEKTRISCHEN STUHL Konrad Bayer Regie: Hans Peter Fitzi Reporter 1972 OPERETTE Witold Gombrowicz Regie: Ernst Schröder Lakai 1972 (Übernahme)

WILDWECHSEL Franz Xaver Kroetz Regie: Horst Siede Franz 1972 DER HORATIER (UA) Heiner Müller Regie: Hans Lietzau 1972 (abgebrochen) Theater am Turm Frankfurt am Main DER BÄR GEHT AUF DEN FÖRSTERBALL Peter Hacks Regie: Frieder Anders Hans 1973 WOYZECK Georg Büchner Regie: Michael Gruner Andres 1973 LICHTENBERG Gerhard Roth Regie: Wolfgang Wiens Der Arzt 1973 Schauspiel Köln EGMONT Johann Wolfgang Goethe Regie: Hansgünther Heyme Brackenburg 1974

DER BRAND VON USTER (UA) Hansjörg Schneider Regie: Valentin Jeker Köbi 1975 BRAVO, GIRL! Werner Geifrig Regie: Roland Schäfer Freund 1975 KASIMIR UND KAROLINE Ödön von Horváth Regie: Christof Nel Abnormität 1975 EIN SOMMER­NACHTS­ TRAUM William Shakespeare Regie: Hansgünther Heyme Bühne: Horst Sagert Thisbe 1975 BUSCHMANN UND LENA Athol Fugard Regie: Nicolas Brieger Der alte Schwarze 1975 ZAR WASSERWIRBEL Jewgeni Schwarz Regie: Volker Geissler Wanja 1975

Foto linke Seite: In der UdK, früher die Max-Reinhardt-Schule

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NACHTASYL Maxim Gorki Regie: Roberto Ciulli Aljoscha 1976 SCHAUSPIELER SINGEN Regie und Programm: Peter Fischer 1976 DIE HOSE Carl Sternheim Regie: Roberto Ciulli Mandelstam 1978 FAUST II Johann Wolfgang Goethe Regie: Hansgünther Heyme Pater Ecstaticus 1977 DIE SCHUSTER Stanislaw Witkiewicz Regie: Jerzy Jarocki Schuster 1977 (abgebrochen) OSTERN August Strindberg Regie: Peter Eschberg Benjamin 1977 1913 Carl Sternheim Regie: Roberto Ciulli Stadler 1978

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DAS KÄTHCHEN VON HEILBRONN Heinrich von Kleist Regie: Jürgen Flimm Gottschalk 1979 MAUSER (DSE) Heiner Müller Regie: Christof Nel Mann 1979 GROSS UND KLEIN Botho Strauß Regie: Valentin Jeker Mann an der Bushaltestelle 1980 DIE EINGESCHLOSSENEN VON ALTONA Jean-Paul Sartre Regie: Frank Hoffmann Franz 1988 Staatsoper Hamburg BRUCH (UA) Jens-Peter Ostendorf Regie: Fred Berndt WG-Genosse 1976

Schauspiel Frankfurt am Main SPÄTE LIEBE Alexander Ostrowski Regie: Reinhard Hinzpeter Dormedont 1978 KLEINBÜRGERHOCHZEIT Bertolt Brecht Regie: Christof Nel Der Freund 1978 ANTIGONE Sophokles / Hölderlin Regie: Christof Nel Chor 1978 IM WEISSEN RÖSSL Ralph Benatzky Regie: Alexander Wagner Dr. Siedler 1978 DER ERSTE TAG DES FRIEDENS (UA) Horst Laube Regie: Peter Palitzsch Sohn 1979

Staatstheater Stuttgart

Deutsches Schauspielhaus Hamburg

ROTTER (UA) Thomas Brasch Regie: Christof Nel Grabow 1977

DER HOFMEISTER J.M.R. Lenz Regie: Christof Nel Pätus 1980


DER PLÖTZLICHE TOD DES CHRISTIAN K. Regie und Fassung: Ulrich Waller Minister 1980 KLAVIERSPIELE Friederike Roth Regie: Christof Nel Mann 1981 DER SCHATTEN EINES REBELLEN Sean O’Casey Regie: Ulrich Waller Donal Davoren 1981 MEDEA Euripides Regie: Barbara Bilabel Bote 1982 FIESCO Friedrich Schiller Regie: Niels-Peter Rudolph Lomellino 1982 TITUS ANDRONICUS William Shakespeare Regie: Christof Nel Demetrius 1982 NUR JETZT NICHT WEICH WERDEN Brechtabend Regie: J. Kuntzsch 1983

DIE RÄUBER Friedrich Schiller Regie: Ernst Wendt Ratzmann 1983

HEIRATSANTRAG, JUBILÄUM, HOCHZEIT Anton Tschechow Regie: Augusto Fernandes 1985

DER STARKE HANS Rainer Mennicken Regie: Christof Nel Kurt 1983

PLATTLING Herbert Achternbusch Regie: Wilfried Minks Vater des radlosen Kindes 1986

DER ZERBROCHNE KRUG Heinrich von Kleist Regie: Ernst Wendt Ruprecht 1983

WERFT EURE HERZEN ÜBER ALLE GRENZEN Exilabend Brigitte Landes/ Michael Haase 1987

DIE GROSSHERZOGIN VON GEROLSTEIN Jacques Offenbach Regie: Franz Marijnen Baron Puck 1983 DER MENSCHENFEIND Molière Regie: Nils-Peter Rudolph Dubois 1985

MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER Bertolt Brecht Regie: Wilfried Minks Werber 1987 BAUERNSTERBEN Franz Xaver Kroetz Regie: Wilfried Minks 1988 (Übernahme)

PÜNKTCHEN UND ANTON Erich Kästner Regie: Götz Loepelmann Robert der Teufel 1985

TOD UND TEUFEL Peter Turrini Regie: Wilfried Minks Priester 1988

DIE MÖWE Anton Tschechow Regie: Augusto Fernandes Medvedenko 1985

KORBES Tankred Dorst Regie: Wilfried Minks Bleicher 1988

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Théâtre des Capucins Luxemburg

DER IDIOT Fjodor M. Dostojewski Regie: Wilfried Minks Ganja 1989

ROMEO UND JULIA William Shakespeare Regie: Michael Bogdanov Pater Lorenzo 1990

HAMLET William Shakespeare Regie: Michael Bogdanov Rosencrantz 1989

GINGER MAN J. P. Donleavy Regie: Michael Bogdanov Kenneth O’Keefe 1991

UNTER DEM MILCHWALD Dylan Thomas Regie: Michael Bogdanov Captain Cat 1989

DER KIRSCHGARTEN Anton Tschechow Regie: Wilfried Minks Jepichodov 1991

KALLDEWEY, FARCE Botho Strauß Regie: Dieter Giesing Der Mann 1992

GUYS AND DOLLS Damon Runyon Regie: Michael Bogdanov Benny Broadway 1990

DER FLOH IM OHR Georges Feydeau Regie: Peter Löscher Dr. Finache 1993

ARKADIEN Tom Stoppard Regie: Peter Wood Bernhard Nightingale 1993

HÖHENSCHWINDEL Peter Probst Regie: Ulrike Maak Heinse 1990

HERR PAUL Tankred Dorst Regie: Jossi Wieler Schwarzenbeck 1994

DREI SCHWESTERN Anton Tschechow Regie: Dieter Giesing Kulygin 1994

FRAUEN. KRIEG. LUSTSPIEL (DE) Thomas Brasch Regie: Ulrich Heising Souffleur 1990

FESTUNG Rainald Goetz Regie: Wilfried Minks W. Pohrt/Penrose 1994

DAS KRYPTOGRAMM (DSE) David Mamet Regie: Dieter Giesing Freund 1995

KASPAR Peter Handke Regie: Jossi Wieler Kaspar 1996

DER MENSCHENFEIND Molière Regie: Werner Düggelin Alceste 1997

CLOCKWORK ORANGE Anthony Burgess Regie: Karin Beier Mr. Alexander 1997

DAS LIED DER HEIMAT (UA) Thomas Hürlimann Regie: Werner Düggelin Indergand 1998

DAS LEBEN EIN TRAUM Pedro Calderón de la Barca Regie: David Mouchtar Samorai Clarin 1990

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BLUMFELDS HUND Kafkaabend Regie: Frank Hoffmann Blumfeld 1992 Schauspielhaus Zürich


DER KUSS DES VERGESSENS (UA) Botho Strauß Regie: Matthias Hartmann Lukas 1998 GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT Jean-Paul Sartre Regie: Werner Düggelin Mann 1999 MARIJA Isaak Babel Regie: Dieter Giesing Wysskowski 1999 DER REIGEN Arthur Schnitzler Regie: Barbara Frey Dichter 2007 Theater Bremen LULU Frank Wedekind Regie: Christina Friedrich Dr. Schöning 1995 DIE DREIGROSCHENOPER Bertolt Brecht Regie: Andrzej Woron Macheath 1995 DIE ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT (UA) Oper nach Sten Nadolny Regie: Frank Hoffmann Erzähler 1997

Hamburger Kammerspiele DREI MAL LEBEN Yasmina Reza Regie: Ulrich Waller Henri 2001 LES ADIEUX Liederabend von Franz Wittenbrink 2002 Schauspielhaus Bochum AUF DEM LAND (DE) Martin Crimp Regie: Dieter Giesing Mann 2000 SCHÖNES (DE) Jon Fosse Regie: Dieter Giesing Der Mann 2003 DIE ZEIT UND DAS ZIMMER Botho Strauß Regie: Dieter Giesing Mann 2005 FLOH IM OHR Georges Feydeau Regie: Dieter Giesing Chandebise /Poche 2007 GESCHICHTEN AUS DEM WIENERWALD Ödön von Horváth Regie: Elmar Goerden Zauberkönig 2008

DAS WEITE LAND Arthur Schnitzler Regie: Dieter Giesing Hofreiter 2009 Maxim Gorki Theater Berlin DIE MÖWE Anton Tschechow Regie: Katharina Thalbach Trigorin 2000 DIE HELDIN VON POTSDAM (UA) Theresia Walser Regie: Volker Hesse Richard 2001 DER IMPRESARIO VON SMYRNA Carlo Goldoni Regie: Ensemble Graf Lasca 2001 REPUBLIK VINETA Moritz Rinke Regie: Stefan Otteni Behrens 2002 DAS GASTMAHL Platon Regie: Stephan Müller Akteur 2 2002 GESPENSTER Henrik Ibsen Regie: Kazuko Watanabe Pastor Manders 2002

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Thalia Theater Hamburg

Berliner Ensemble

CHANGELING Thomas Middleton, William Rowley Regie: Wilfried Minks Piracquo/Lollio 1998

DIE FARBE ROT LIEDERABEND Franz Wittenbrink 2004

DAS FEST Thomas Vinterberg Regie: Stefan Kimmig Vater 2004 (Übernahme)

DER ZERBROCHNE KRUG Heinrich von Kleist Regie: Peter Stein Gerichtsrat Walter 2013 (Übernahme) Schauspiel Hannover

Düsseldorfer Schauspielhaus HEISENBERG Simon Stephens Regie: Lore Stefanek Alex 2016 DER KAUFMANN VON VENEDIG William Shakespeare Regie: Roger Vontobel Shylock 2017

DIE BRÜDER KARAMASOW nach Fjodor M. Dostojewski Regie: Luk Perceval Vater 2013

DER BIBERPELZ Gerhart Hauptmann Regie: Thomas Bischoff Julius Wolff 2003

FRONT nach Erich Maria Remarque u. a. Regie: Luk Perceval Katczinsky 2013

BRÜDER, ZUR SONNE, ZUR FREIHEIT Franz Wittenbrink 2005

DER BESUCH DER ALTEN DAME Friedrich Dürrenmatt Regie: Frank Hoffmann Ill 2018

Staatsschauspiel Dresden

REGIE THEATER

St. Pauli Theater Hamburg

DON CARLOS Friedrich Schiller Regie: Roger Vontobel König Philipp II. 2010

DIE ZIEGE ODER WER IST SYLVIA? Edward Albee Bochum / Hamburg 2005

TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN Arthur Miller Regie: Wilfried Minks Willy Loman 2012 Schaubühne am Lehniner Platz IPHIGENIE AUF TAURIS Johann Wolfgang Goethe Regie: Jossi Wieler Thoas 2009

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DER ZERBROCHNE KRUG Heinrich von Kleist Regie: Roger Vontobel Dorfrichter Adam 2012 TERROR Ferdinand von Schirach Regie: Burghart Klaußner Richter 2016

Burgtheater Wien

DER GOTT DES GEMETZELS (DE) Yasmina Reza Bochum 2007 DER IGNORANT UND DER WAHNSINNIGE Thomas Bernhard Bochum 2008


MADAME SINGT UND MONSIEUR SPIELT Liederabend Bochum 2008

1995 UND KEINER WEINT MIR NACH Regie: Joseph Vilsmaier

MARIGOLD. BEATLESMUSICAL Bochum 2009

1996 DAS SUPERWEIB Regie: Sönke Wortmann

BAUMEISTER SOLNESS Henrik Ibsen Dresden 2012

ROSSINI ODER DIE MÖRDERISCHE FRAGE, WER MIT WEM SCHLIEF Regie: Helmut Dietl

TERROR Ferdinand von Schirach Dresden 2016 FILM (Auswahl)

1997 23 – NICHTS IST SO WIE ES SCHEINT Regie: Hans-Christian Schmid

1980 ZIEMLICH WEIT WEG Regie: Katharina und Dietrich Schubert

1999 CRAZY Regie: Hans-Christian Schmid

1983 DER BEGINN ALLER SCHRECKEN IST LIEBE Regie: Helke Sander

2002 GOODBYE LENIN! Regie: Wolfgang Becker

1990 IM KREISE DER LIEBEN Regie: Hermine Huntgeburth 1991 DIE DENUNZIANTIN Regie: Thomas Mitscherlich 1992 KINDERSPIELE Regie: Wolfgang Becker 1993 LA LUMIÈRE DES ÉTOILES MORTES Regie: Charles Matton

2003 DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI Regie: Hans Weingartner 2004 REQUIEM Regie: Hans-Christian Schmid 2005 DER MANN VON DER BOTSCHAFT Regie: Dito Tsintsadze 2006 YELLA Regie: Christian Petzold

DIE AUFSCHNEIDER Regie: Carsten Strauch 2007 ALTER UND SCHÖNHEIT Regie: Michael Klier 2008 MURDER IN THE THEATRE Regie: Dito Tsintsadze DER VORLESER Regie: Steven Daldry DAS WEISSE BAND – EINE DEUTSCHE KINDER­ GESCHICHTE Regie: Michael Haneke 2009 DAS LETZTE SCHWEIGEN Regie: Baran Bo Odar GOETHE! Regie: Philipp Stölzl 2010 DAS LEBEN IST ZU LANG Regie: Dani Levy DER GANZ GROSSE TRAUM Regie: Sebastian Grobler 2011 NONO, HET ZIG ZAG KID Regie: Vincent Bal INVASION Regie: Dito Tsintsadze 2012 NACHTZUG NACH LISSABON Regie: Bille August

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2013 ZWISCHEN WELTEN Regie: Feo Aladag

EIN FALSCHER SCHRITT Regie: Hermine Huntgeburth

DIPLOMATIE Regie: Volker Schlöndorff

KOLLEGE OTTO – DIE COOP AFFÄRE Regie: Heinrich Breloer

2014 FRITZ BAUER Regie: Lars Kraume ELSER – ER HÄTTE DIE WELT VERÄNDERT Regie: Oliver Hirschbiegel 2016 LÖWENMÄDCHEN Regie: Vibeke Idsoe 2017 DAS SCHWEIGENDE KLASSENZIMMER Regie: Lars Kraume FERNSEHEN 1985 DAS RÄTSEL DER SANDBANK Regie: Rainer Boldt 1987 PETER STROHM – TOD EINES FEINDES Regie: Ilse Hofmann 1989 DIE STAATSKANZLEI Regie: Heinrich Breloer 1994 EINMAL MACHT UND ZURÜCK – ENGHOLMS FALL Regie: Heinrich Breloer

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1995 ADELHEID UND IHRE MÖRDER Regie: Uli Stark, Claus Michael Rohne u. a. 1996 TATORT – DAS ANDERE LEBEN Regie: Jürgen Roland 1997 DAS BÖSE Regie: Christian Görlitz 1998 DER BLONDE AFFE Regie: Thomas Jauch 1999 GANZ UNTEN, GANZ OBEN Regie: Matti Geschonneck 2000 TATORT – SCHATTEN Regie: Thorsten Näter TATORT – KLEINE DIEBE Regie: Vivian Naefe 2001 MIT DEM RÜCKEN ZUR WAND Regie: Thorsten Näter

2003 K3 – KRIPO HAMBURG – AUF DÜNNEM EIS Regie: Friedemann Fromm DOPPELLEBEN Regie: Thomas Schadt DAS CHAMÄLEON Regie: Marc-Andreas Bochert 2004 DOPPELTER EINSATZ – GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFT Regie: Thorsten Näter 2005 SOLO FÜR SCHWARZ – TOD IM SEE Regie: Martin Eigler WILSBERG – FALSCHES SPIEL Regie: Peter F. Bringmann 2006 DER NOVEMBERMANN Regie: Jobst Oetzmann POLZEIRUF 110 – TAUBERS ANGST Regie: Klaus Krämer AN DIE GRENZE Regie: Urs Egger TATORT – AUS DER TRAUM Regie: Rolf Schübel 2010 POLIZEIRUF 110 – VERLORENE TOCHTER Regie: Bernd Böhlich


2011 IN DEN BESTEN JAHREN Regie: Hartmut Schoen 2012 ADLON – EINE FAMILIENSAGA 2-Teiler Regie: Uli Edel GEORGE Regie: Dr. Joachim Lang 2015 DIE STADT UND DIE MACHT Regie: Friedemann Fromm 2016 THE CROWN Regie: Stephen Daldry TERROR Regie: Lars Kraume 2017 BRECHT – eine Vorstellung Regie: Heinrich Breloer

PREISE GOLDENE MASKE Schauspielhaus Zürich Der Menschenfeind, 1999 SILBERNER LEOPARD, Locarno für besten Hauptdarsteller Der Mann von der Botschaft, 2006 Zweimal DEUTSCHER FILMPREIS Das weiße Band 2010 und Die fetten Jahre sind vorbei, 2005. Fünfmal nominiert DER FAUST-Theaterpreis Tod eines Handlungs­ reisenden, 2012

FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN FILMS Die Brücke, 2016 BAYERISCHER FILMPREIS Der Staat gegen Fritz Bauer, 2015 GÜNTER ROHRBACH FILMPREIS Der Staat gegen Fritz Bauer, 2015 Zweimal DEUTSCHER HÖRBUCHPREIS 2011 und 2016 Plakette 2017 der Freien Akademie Hamburg

Zweimal PREIS DER DEUTSCHEN FILMKRITIK Das weiße Band, 2010, und Der Staat gegen Fritz Bauer, 2015

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Bildnachweis S. 90 © ARD; S. 98 © Christian Berger/X-Filme; S. 133 © Wilfried Böing; S. 93 © Ralf Brinkhoff; S. 45 © Arno Declair; S. 69 © Lucia Degonda; S. 49 © Horst Güldemeister; S. 75 © Helga Kneidl; S. 92 © Harald Kratzer/WDR; S. 66 © Paul Leclaire; S. 134 © Dominique Meienberg; S. 18 © Martin Valentin Menke/zero one film; S. 15, 35, 61 63, 97, 109, 110, 114, 137 privat; S. 121 © Thomas Rabsch; S. 119 © Jim Rakete; S. 131 © Katrin Ribbe; S. 91 © Senator Film; S. 39, 40 © Wolf Siegert; S. 129 © Sabine Wenzel; S. 70 © Dorothea Wimmer; S. 12, 100–107, 148, 159 © Ben Wolf



Großen Dank an Conny Klauß Burghart Klaußner und Thomas Irmer führten ihre Gespräche von Dezember 2018 bis April 2019 in Berlin und Düsseldorf.

Impressum Thomas Irmer KLAUSSNER backstage © 2019 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im UrheberrechtsGesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleitung Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Nicole Gronemeyer Gestaltung: Gudrun Hommers Umschlagfoto: Thomas Rabsch Umschlaggestaltung: Sibyll Wahrig Printed in Germany ISBN 978-3-95749-232-6 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-262-3 (ePDF) ISBN 978-3-95749-263-0 (EPUB)



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