Backstage PETRAS

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PETRAS


Das Theater von Armin Petras gleicht oft einer Kinderzeichnung – nur wenige Striche, und die Wahrheit leuchtet auf: Was man alles nicht braucht! Dieses Theater ist eine quirlige, überdrehte, wilde, impro­ visierende, rasende, herzwehe Spielbude. Der 1964 in Meschede Geborene leitete das Schauspiel in Nordhausen und Kassel, er war Intendant am Berliner Maxim ­Gorki Theater und am Schauspiel Stuttgart. Und Regie landauf, landab, ohn’ ­Unterlass. Er ist ein Perfektionist des Unfertigen, in dessen Inzenierungswerk die Traurigkeit kostbare Schattenflecke auf Lichtungen der Clownerie zaubert. In Gesprächen mit Hans-Dieter Schütt erzählt Petras von seinem Leben, erzählt von Fußball-Weltmeisterträumen, vom Boxen und von Nächten im eigenen Wald. Ein „Immerwerker“, der nur die Unablässigkeit leben kann, nicht die Lässigkeit. Seine Devise: Nutze den Tag, der in jeder Sekunde steckt. Stets ein Leben zwischen Ost und West – von Freiheit bleibt eines: die Suche danach. Es entfaltet sich die Biografie eines Denkens, das sich an ­Darwin entzündet und an Foucault. Ins Bild kommt auch das Alter Ego des Regisseurs, der erfolgreiche Stückeschreiber Fritz Kater. Unter diesem Pseudonym schreibt Petras eine Dramatik jener Verwundungen, die den Menschen treffen, wenn er zu schmächtig, zu fühlsam ist für die Kälte der Welt.


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PETRAS



Hans-Dieter Schütt

PETRAS backstage Mit Texten von Anja Schneider, Armin Petras, Fritz Kater, Bernd Isele


Erobert euer Grab! AISCHYLOS Don’t cry – work! RAINALD GOETZ


„Es gibt nicht sieben Sünden“ Von Anja Schneider

Er ist schnell. Er ist immer vor dir da. Von ihm geht ein Gebot aus: In eine Probe schlurft man nicht hinein, in eine Probe geht man konzentriert. In der Art der Bergwanderer: Spring ins ­Geröll oder meide es! Von Beginn unserer Bekanntschaft an hat mich Armins Disziplin angezogen. Sie ist Wertschätzung von Zeit und Arbeit. Sich erst mal absprechen, sich langsam ein­drehen in die Probe? Nein, es geht sofort los! Befindlichkeiten austauschen, das lähmt nur. Man kann sich rantasten, klar, aber der Tastsinn muss immer auf Inhalt zielen. Es kann laut zugehen oder ganz leise, Hauptsache, alles läuft darauf hinaus, dass ein Erlebnis stattfindet. Er pusht – aber es ist das Gegenteil von Zusam­ menstauchen. Da ist nichts zu verwechseln. Er kann einfach nicht ertragen, dass nichts stattfindet. Alles muss aufs E ­ rlebnis zulaufen, alle laufen aufs Erlebnis zu. Bewegung! ­Wenigstens einmal auf so einer Probe musst du ES kriegen, einmal heute musst du den Zipfel jener Decke packen, die wie ein Schutz überm Geheimnis der kommenden Aufführung liegt. Einmal einen Zipfel – mehr erwischen wir sowieso nicht. Nicht vom Le­ ben, nicht vom Stück. Aber wenigstens ein einziges Mal das Ge­ fühl: Wir packen’s, wir haben’s. Und dann ist ES da. Aber alles war nur Probe. Was wird morgen sein? Armin wird wieder vor dir da sein. Wenn Armin probt, müssen die Türen zu sein. Kein Rein oder Raus. Störung ist Zerstörung. Zeit ist bemessen, Kraft ist bemes­ sen, und wir Spieler sollten unsere Texte können. Nur so können wir schnell auf Situationen reagieren. Mir kommt das zugute. Gelernter Text macht mich frei, nicht fest. Mit gelerntem Text auf die Probe zu kommen, heißt: Ich bewege mich im Stoff und bin präpariert für Regie. Ich glaube, Armin mag Schauspieler nicht so sehr, die sich darbieten, als seien sie ein unbeschrie­

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benes Blatt. Ich mag das auch nicht sein. Mich soll niemand be­ kritzeln, niemand zerknüllen, und Radierungen – wo nötig – nehm’ ich selber vor. Er spielt als Regisseur nicht vor, er deutet nur an, Armin, ­verzeih: Das ist auch gut so. Probieren ist zwangsläufig auch: Wiederholung, er aber kann Wiederholung kaum aushalten; es fällt ihm schwer, Erarbeitetes mehrmals zu sehen. Er schmeißt ­Szenen raus, ja: Er killt, das kann man so hart sagen, er tut es sehr intuitiv – und scheinbar zufällig. Es ist aber überhaupt nichts zufällig. Er ist manisch misstrauisch gegen alles, was ihm zu lesbar anmutet, zu gefällig, zu gelungen – da wird von ihm das Schönste so zerkloppt, dass wir Schauspieler manchmal ­besänftigen und retten müssen. Er hat wohl Sehnsucht nach dem großen Gefühl; wer die hat, ist oft bockig gegen das große Gefühl. Zum Glück ist er anfällig für Vorschläge, die sich gegen ihn richten. Ich glaube, er ist hoch emotional und will sich dem nicht voll aussetzen. Das schafft eine Spannung, bei der er ­zulässt, sie nicht durchgehend zu beherrschen. Immer wieder staune ich, wie er gegen die Texte von Fritz Kater, also die eige­ nen Texte, vorgeht: radikal. Er inszeniert den Text, aber er insze­ niert ihn manchmal auch ungerührt weg. Wir Schauspieler müssen den Autor mitunter in Schutz nehmen, so heftig und ungerührt geht Armin mit dem um, was doch schließlich für uns geschrieben wurde. Wir lernten uns kennen, indem er mir in Leipzig Oscar Wildes Salome anbot. Es gab im Vorhinein kein gefürchtetes Vor­ sprechen. Wir unterhielten uns. Er stellte mir Fragen, die dritte Frage war die nach meinen Hobbys. Ich antwortete: „Ich fahre gern Fahrrad und stricke.“ Einfache Frage, einfache Antwort. Wir lachten, und damit war klar, wir würden einen gemein­ samen Ernst entwickeln können. Ich kam gerade vom Studium, Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, er sagte, ich sol­ le erst mal vergessen, was ich da gelernt habe. Ich sagte, gut, und du vergisst deine Vorurteile gegen Schule. Schon im ersten Berufsjahr so einen Regisseur zu haben! Ich hatte einen Bandscheibenschaden, der linke Fuß war vorerst

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­ elähmt, er gab mir trotzdem die Rolle in seiner Bearbeitung g „Alkestis mon amour“. Is’ mir egal, sagte er, und wenn sie im Rollstuhl sitzt! In diesem Stück fällt der Satz: „Es gibt nicht ­sieben Sünden, es gibt nur eine: den jetzt nicht zu begehren, den du begehrst!“ Das ist Armin Petras für mich: jetzt und noch­ mal jetzt! Und nur: jetzt! Die Verschwendung nicht aufsparen, Verschwendung ganz in dem, was du kannst. Zu seiner Auffassung von Schnelligkeit gehört, dass er den Weg durch die Rolle gern mit alpinem Hochleistungs-Slalom vergleicht: Du rast da runter, es gilt nur eines, du musst durch die Stangen kommen, wie ein Blitz, darfst keine auslassen – was dazwischen passiert, ist deine Sache! Mir ist aufgefallen, wie er Hospitanten behandelt: Spürt er ein Feuer, facht er es weiter an, er hat Freude an der Arbeitslust und Empfänglichkeit anderer Leute. Schöpfung geht bei ihm nicht ohne diese Konsequenz, die am Ende stehen muss: ­Erschöpfung. Als er ans Gorki Theater ging, sprach er nicht von Ära oder sowas, er sagte, so, wir haben jetzt für eine gewisse Zeit den Schlüssel. Du weißt bei ihm: Alles ist geliehen, jede Dauer, die du anstrebst, ist Frist, komm auf den Teppich, der kann, zeitweise, ein Zauberteppich sein. Wegen dieses Gefühls bin ich auch mit ihm nach Stuttgart gegangen, obwohl ich wusste, Familie, Kind – es würde mich zwischen Berlin und der Ferne aufreiben. Es ging auch nur eine Weile. Aber ich wurde froh in meinem Beruf, wesentlich durch Armin. Auf die Gefahr hin, dass es pathetisch klingt: Er ist ein ehr­ licher Arbeiter. So dahin tändeln und warten, bis uns die Muse küsst? Nein. Aber Fleißnoten werden bei ihm ebenso wenig ­vergeben. Meine Erfahrung und also Überzeugung als Schau­ spielerin: Den Unterschied beim Arbeiten machen die Energie­ ströme, die fließen. Bei Armin fließt keine Schwafel-Energie, und an Krösus-Energie hat sich sein Theater nie erwärmt. ­Momentan ist er kein Schauspieldirektor, kein Intendant. Er hat eine neue Ruhe. Auch sie ist ein weites Land, nicht etwa Enge. Ich glaube, er sieht das auch so. Bei mir zu Hause liegt die Fas­ sung einer neuen Roman-Bearbeitung von Armin. Ich freu mich

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auf die Arbeit, vielleicht ist sie ist greifbare Zukunft? Ein Werk von Tolstoi. Der Titel hat alles, was unser schönes Leben aus­ macht, nach all den Scheinwerfern, die verlöschen, nach all den Vorhängen, die fallen: „Auferstehung“.

Anja Schneider, geboren in Altenburg, spielte am Schauspiel Leipzig, am Maxim Gorki Theater, an den Münchner Kammerspielen und am Schauspiel Stuttgart in wesentlichen Inszenierungen von Armin Petras. Seit 2016 ist sie Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin. Der Text entstand nach einem Gespräch mit HansDieter Schütt im Juli 2020.

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Anja Schneider und Peter Kurth in Baumeister Solness, Regie: Armin Petras, Maxim Gorki Theater Berlin 2006

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Sich aus allem nichts machen? Aus nichts alles machen! Von Hans-Dieter Schütt TIM: ich dachte wir hätten das überwunden YVES: nichts hat man für immer überwunden Fritz Kater, „we are blood“

Wir sitzen an einem Frühabend in einer Berliner Kneipe, Nähe Tiergarten, gewissermaßen rauchiges Schultheiss-Niveau, auf den Tischen Aschenbecher, über einem der Tische hängt ein ­uralter klebriger Fliegenfänger mit vielen toten Geschichten. Die Gesichter hinter den Gläsern fassen die Lage zusammen: Schwer fiel es auch heute, zu den Regeln zu stehen, die tagsüber Gesetz sind; aber leicht war es, ihnen zu folgen. Im Radio schießt der 1. FC Union gerade ein Bundesliga-Tor, wer weiß, gegen wen, im Nebenraum spielen zwei Männer Schach, der eine sagt ­unvermittelt, aus welch unerfindlichem Grunde auch immer: „Barfuß oder Lackschuh.“ Pause. Der andere antwortet: „Ist doch scheißegal.“ Das Leben trägt Maske, aber noch keinen Mund-Nasen-Schutz. Es sollte für den Regisseur eine Spielzeit u. a. in den Städten Cluj, Bremen, Prag werden, dazu Augsburg, Cottbus, Bonn, ­Budapest. Petras kam nur bis Augsburg. Dann ging alles Leben auf Abstand. Über die unerwartete Gesprächszeit, die der stetig Reisende nun haben würde, freute ich mich. Zu früh gefreut. Denn dieser F­ ahrensmann des Theaters ist auch Schreibender: Ergibt sich für ihn freie Zeit, wird sie sofort anderweitig – besetzt. Ein Wort, mit gutem Grund zu rücken in die Nähe von: beses­ sen?

Szene Droge Faust, Regie: Armin Petras, Scala Leipzig 2011

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Der Mann mit der ewigen Mütze, 1964 geboren, ist einer der Triebigsten des deutschsprachigen Theaters. Der Regisseur ­Armin Petras ist der Dramatiker Fritz Kater ist der Regisseur ­Armin Petras, und keiner ist der andere. Eine seit Jahren prakti­ zierte, zelebrierte Performance der beharrlich gespielten Per­ sönlichkeitsspaltung. Ein Petras-Porträt in Frage und Antwort bedingt also, unbedingt auch Texten von Arminpetrasfritzkater, von Fritzkaterarminpetras Raum zu geben. 2001 hat er den Satz gesagt: „Wenn man öffentlich so sehr zerrissen wird wie ich, gehört für Theaterleiter und Spieler schon ein gewisser Mut dazu, mit mir zu arbeiten. Dafür bin ich jedes Mal dankbar.“ Dank ermüdet. Also wurde er selber Leiter – Oberspielleiter, dann Theaterleiter, am Maxim Gorki Theater Berlin, am Schauspiel Stuttgart. Die Mentalität des Petras-Theaters ist schwärmerischer Ein­ spruch. Gegen Ordnung, sie lügt. Gegen Übersicht, sie fälscht. Jeder Anfang ist Fortsetzung, jedes Ende kein Abschluss. Die Soap erbittet von der Tragödie ein paar schwere Tränen, das Drama erfährt vom Lustspiel, dass man Tränen auch lachen kann. Leben in diesem Theater: von einer Gefangenschaft in die nächste. Enge ist nicht Geographie, sondern ein Gen. Die Men­ schen zerschellen am eigenen Schädel, darin das Bewusstsein fiebert und friert. Theater eines kindlichen Gemüts. Petras (etwa in „3 von 3 Millionen“) legt rote Papierstreifen über eine Hand, und die Hand blutet. Man klebt sich ein paar Papp-Tropfen an ein Kleid, und es regnet also in Strömen. Man malt ein Gesicht grün, und ein Mensch hat sich vergiftet. Man malt mit blauer Farbe ein Boot an eine Bretterwand, an der Wand steht ein Mensch mit ausgebreiteten Armen, und der Farbstrich, der über seine Unter­ arme geht, macht ihn zum Gefesselten an einem Schiffsmast. Styroporplatten sind Eis und Plattenbaubeton, Feuerzeuge sind Silvesterraketen, Zeitungsschnipsel fachen einen Schneesturm an („we are camera“). Im Gedächtnis suche ich nach Inszenierungen von Petras, die ihn überzeugend erzählen. So viele. Wenigstens eine von den

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unzähligen: „Buch (5 Ingredientes de la vida)“ von Fritz Kater, in einer großen Halle, einer Nebenstelle der Münchner Kammer­ spiele, Bühne: Volker Hintermeier. 2015. Ingredientes de la vida. Ingredienzen des Lebens. Eine ewige Fortpflanzung des immer Gleichen: Liebe und Tod sowie In­ stinkt und Sorge – Themen, um die alles kreist. Lebenskreis, ­Teufelskreis. Der Stoff, aus dem das Verstehen und das Missver­ stehen erwachsen, das Schlichtende und das Schlachtende – im Umgang miteinander, auf der Weltbühne, in der Wohnung. Short Cuts zwischen 1966 und 2013. Dabei auch: Szenen aus dem Osten. Durch diese Szenen geistert ein alter Mann – Ernst, der ewige Genosse, einst Streiter für den „neuen Menschen“, nun zusammengesunken ins körperlich Erledigte. Einst ge­ schichtstrunken, jetzt nur noch besoffen. Erst revolutionär, jetzt stationär. Verwitterung im Plattenbau. Diesen Mann spielt – Ursula Werner. Im braunen Anzug eine bieder-traurige Abgeschabtheit. Das Frauenhaar straffgezogen; erst weit hinten, am Hals, darf es auslocken, sich lockern, sich ausloggen aus der Strenge – als sei es ein trotziges äußeres ­Zeichen jenes Ungestümen, das dieser Mensch aus den Kämp­ fen vielleicht noch, in Spuren, im Hinterkopf hat. Dieser gesotte­ ne Genosse, vom Jahrhundert verbraucht, von Arbeit gestaucht, von Erfahrung geschlaucht. Wie Becketts Krapp murmelt Ge­ nosse Ernst letzte Worte vor sich hin, die Luft eines Ventilators bewegt dazu herunterhängende Tonbänderfetzen, und die er­ geben einen Ton, als rausche Regen. Das Petras-Theater ganz bei sich: Minimalismus – höchste Wirkung. Wenn dieser Ernst Blut hustet, greift die Werner in die Jackentasche, hält sich dann die Hand vor den Mund, öffnet sie, und ein Schwall roten Konfettis flimmert zu Boden. So, wie ein Spieler eine Plastetüte mit ­Wasser auskippt, und fertig ist der Badesee. Für Petras ist die Bühne eine quirlige Spielbude. Er offenbart sich als ein Meister der Skizzenbilder, dem die Traurigkeit kost­ bare Schattenflecke auf Lichtungen der Clownerie zaubert. Wir Zuschauer stehen. Im weitem Rund der Halle. Wie Verlorene unter sternenlosem Himmel, im tiefdunklen Raum. Hören auf

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vier Leinwänden Wissenschaftler über eine Zukunft der plane­ taren Exile faseln, über den Menschen, dem in Zukunft mehr und mehr die Körperlichkeit entzogen werde. Fortschritt? Eine wahnwitzige Kalkulation aus gesteigerten Kältegraden, auf dass wir komfortabel erfrieren. An uns selber. Was alle Welt von morgen eiskühl zusammenhält, dem sind wir schneller auf der Spur als den Gründen, warum eine einzige Seele auseinander­ reißt. Und deshalb zerreißt es auch immer wieder die Welt. Wir Zuschauer sitzen, nach besagtem ersten Teil, nun auf Bänken. Eine der gewaltigsten, gewalttätigsten Episoden: Eine afrikanische Elefantenkuh (gespielt von Svenja Liesau) erzählt den Roman ihres Lebens, eine schwitzende, schwungwilde Hymne auf Ursprünge – Max Simonischek, Edmund Telgenkäm­ per und vor allem Svenja Liesau werfen sich in einen explosiven Körperkampf; Lederjacken klatschen auf den Boden, als würde Elefantenhaut gepeitscht; ein exakt zügelloses Drunter und Drüber, ein nahezu dampfendes Auf- und Übereinander aus Sex und Chaos, eine schreiende Klage gegen den massakrierenden Menschen, der Hubschrauber wie Panzer schickt, der in diesen „Schraubenfliegern aus Eisen“ Leben und Refugien zerstört. Den Schlusspunkt setzt die Episode „Sorge“. Ein Paar unter unerträglichem Druck: Der Säugling droht an einer Immun­ schwäche zu sterben. Der Vater weit weg, die Mutter am Kranken­ bett. Telefonate des Entsetzens. Tobende oder traurig sprach­lose Ungespräche. Thomas Schmauser ist der hysterisch flatternde, brüllend unglückliche, tapsig ungeschickte Ehemann, der in sei­ nen beruflichen Egoismen wie in einem Labyrinth umherirrt, und Anja Schneider, diese besondere Schauspielerin aus dem Grenzland von Schmiegsamkeit und Kühle, gibt eine einschnei­ dend leidende Ehefrau. Der durchdringende Blick einer zutiefst Zeropferten; das beinahe bewegungslose Vibrieren einer ge­ beugten Mutter, der die Krankheit des Kindes gleichsam in den eigenen Körper wächst. Ob Fritzi Haberlandt, ein Mädchenclown der Extraklasse, ob Peter Kurth, ein Zartkoloss erster Güte – nur zwei Weitere seien genannt für die Compagnien, die Petras landauf, landab, im

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„Nebendraußen“ (Peter Handke) des Mainstreams bildet, federnde Springinsfelde des tragikomischen, wunderlichen ­ Funkelns. Petras witzelt, klettert, stürzt, labert, schweigt, läs­ tert und würgt sich an Urtexten entlang. Hamlets Dänemark, in Kassel (Titelrolle Milan Peschel) war eine Hafenbar mit Würst­ chenstand. Pistolen ballern, keiner fällt um. Der Geist von Ham­ lets Vater klaut das Fahrrad von Laertes. Am Schlagzeug sitzt zum Schluss der skelettierte Tod. Des Prinzen Hauptsatz im tiefsten Theaterdunkel: Ich hab keine Idee. Der Satz ist Hamlets Gesicht und Schicksal. Der letzte Winkel, in die er sich ver­ kriecht: die eigenen Mundwinkel. Wo der Rest, der hier nur rast, wirklich Schweigen sein darf. Utopie? Finaler Rettungsstuss. Gern verbindet der Mensch das Datum seiner Geburt mit der leichtfertigen Behauptung, er sei zur Welt gekommen. Als dauere dies nicht lebenslang. Als stehe nicht fortwährend die Frage, wie man zur Welt und gleichzeitig zu sich selbst kommt. Durch die Welt hindurch? An ihr vorbei? Zur Welt zu kommen heißt, zur Vernunft kommen zu müssen – die dir irgendwann dein traurigstes Talent auf Erden klarmacht: zu kurz zu kom­ men. Die Wesen im Theater von Armin Petras stehen, wie ge­ wurzelt, ohne Chance, zu entrinnen, oder aber sie rennen und rennen, sie offenbaren so das große Werk der Zeit, das uns von den Köpfen in die Füße sinkt: Wahre Tragödien haben Boden­ haftung. Der Mensch: Er soll sich aus allem nichts machen? Der spielende Mensch: Aus nichts kann er alles machen.

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I. Kippenbergers Nudeln sind so gut wie Dalís tropfende Uhren BERND: ich war einmal der beste zitherspieler in meiner stadt MARTIN: was willst du damit sagen BERND: dass ich es jetzt nicht mehr bin Fritz Kater, „3 von 3 millionen“

HANS-DIETER SCHÜTT: Armin Petras, es gibt einen Satz von Wins­ton Churchill: „Verschwende keine Krise!“ Haben Sie die ­Corona-Krise bislang verschwendet? ARMIN PETRAS: Die Theater spielten plötzlich nicht mehr, also war es eine Zeit des Schreibens. Aha. Bei aller angeordneten Pflicht zum Abstand – die gilt also nicht gegenüber Fritz Kater: Sie sind nicht zu trennen von ihm. Es heißt: Er sei es, der schreibt. Ich auch, aber ... Aber? Wir schreiben unabhängig voneinander. Und Krise oder nicht Krise – ich halte es mit der russischen Grundhaltung zur Exis­ tenz: Man atmet. Is’ doch schon mal was. Mahnend gesagt? Nein. Mahnung ist das eine, und nicht meins, Erzählung was an­ deres.

Szene Buch, Regie: Armin Petras, Münchner Kammerspiele 2015

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Ist das ein Ausweichen? Nein. Die Sprachlosigkeiten nehmen zu, man merkt es am an­ steigenden Lärm. In den Unsicherheiten aber kann der Sinn für Geschichten erstarken. In einem neuen Stück von Fritz Kater heißt es: „Die decke aus vereinbarungen die unsere zivilisation trägt ist dünn/ ist schlimm/ dünn/ war es aber schon immer/ wie auch sonst/ zu dicke decken kann man ja nicht drüberziehen/ kann man sich nicht mehr bewegen/ Deswegen sage ich müssen wir immer etwas einschmuggeln/ eine feder einen flügel ein stück papier/ nicht gerade mehrwert aber wert an sich/ was was bleibt/ wenn alles vergessen ist/ vergessen und vergessen und vergessen/ manchmal denke ich wo sind denn all die freunde nur hin/ all die tollen sachen die wir erlebt haben/ shakespeares sonette: alles was bleibt nach 40 sind die kinder/ also/ Der einbruch in den alltag ist aber nicht nur katastrophe/ auch kraft/ wie jede katastrophe eben auch kraft ist irgendwie“. Ja. Der Philosoph Philipp Blom schreibt: „Bühnen sind Orte, an denen Transformation fühlbar gemacht werden kann. Ohne sie sind Gesellschaften verarmt, egal, wie viel Geld in ihnen herumschwappt. Sie verlieren die Fähigkeit, sich neu zu erfinden, sie verlieren die Sensibilität für die Frage, warum es sich zu leben lohnt. Neue Bilder zu finden für die Herausforderungen ist das Friedensprojekt der Gegenwart.“ Ja. Sierra, Schleef, Bausch und Schlingensief

Befragt nach Bruderschaften im Geist, nennen Sie stets auch den Spanier Santiago Sierra. Ja. Wie Christoph Schlingensief, wie Pina Bausch, wie Einar Schleef und Rainer Werner Fassbinder. Die Namen werden sich wohl durch unsere Gespräche ziehen. Ja.

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Das sind Menschen, getrieben von den Verwerfungen dieser Welt. Ja. Kunst als eine Welle des Widerstandes – des erhobenen Hauptes mit den gesenkten Blicken der Trauer. Sierra zum Bei­ spiel ist drastisch, radikal. Er spiegelt mit seinen Aktionen, sei­ ner Performance-Kunst nicht das Reale, er übersteigert es, um auf Mechanismen in der Realität aufmerksam zu machen. Er fährt nach Kuba und tätowiert fünfzehn Prostituierten einen Strich über den Körper. Zum Lohn von je einem Dollar. Flücht­ lingen färbt er die Haare blond, sie sollen so als Europäer gelten. Bei der Biennale in Venedig lässt er den spanischen Pavillon zu­ mauern – rein durfte nur, wer einen spanischen Pass hatte. Der Pavillon war übrigens leer. Eine Performance gegen die Festung Europa. Er lebt und arbeitet wie die anderen Genannten. So, dass Leben was kostet. Sie haben alle einen Preis bezahlt. Nicht zufällig lebt der Spanier Sierra nicht mehr in Spanien, sondern in Mexiko-City. Tief einatmen, was zum Ausdruck führt. Den ganzen Dreck. Werner Herzog, Einar Schleef, Jim Morrison, Thomas Brasch – so viele (und doch so wenige), die mit extremer Entschiedenheit jedes Gnadenangebot der Mäßigung ablehn(t)en. Ja! Eine Idee von sich haben, sie mit unverschämt aggressiver Pose präsentieren, immer weiter, immer wieder, immer autono­ mer. Ich kann Menschen nur gratulieren, die aus der Fülle schaf­ fen, aus dem Barock ihrer Existenz, nicht aus der Not. Sierra aber gehört zu denen, die aus der Not heraus schaffen. Der Not, in dieser Welt nicht wegschauen zu können. Das Werk als eine schwere Geburt, die auf die Welt kommt, aber nicht in ein täu­ schendes Licht des Glanzes. Sein Werk ist für mich der Inbegriff von sozialer Plastik. Wie ein Theaterabend ja auch. Auf der ­Bühne sind Körper, die atmen, die schwitzen, da gibt es einen Organismus, da strahlt oder stockt Energie, vielleicht gibt es ­sogar eine Seele, das wechselt und ändert sich von Vorstellung zu Vorstellung, da gibt es Tränen, Widerstand, Schmerzen, ­Lachen, Schwingungen zwischen Bühne und Publikum, Applaus. So ­leben soziale Plastiken.

Einatmen – den ganzen Dreck

Auf die Welt kommen, aber nicht ans Licht

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Heiner Müller hat die Erfindung der Theater in die Nähe jener Zeit gerückt, da die Irrenanstalten entstanden: Abgeschlossenheit. Ein Ort für Ver-Rückte. Wo sie genau die Energien ausleben kön­ nen, die draußen in aller Regel verpuffen. Für nichts weniger entsteht Poesie als für eine neue Weltverfassung. Sie verteidigt, was es nie gab. Kunst als ein Gang in die Niederungen, wo der Zorn trommelt, wo das Trotz-alledem! auf dem Loch pfeift – aber nicht auf dem letzten, sondern auf dem ersten. Und wo Kunst eine Harmonie aufruft gegen das Chaos, eine Harmonie, die davon träumt, dass sogar die härtesten Steine wieder eine Seele haben dürfen. Die Integrität von Sierra er­ wächst aus der Kompromisslosigkeit, mit der er sich treu bleibt. Erheben wir uns nun einen Moment über die Gesellschaft. Woher wollen Sie die Flügel nehmen? (Lacht). Der Traum, Mauersegler zu sein

In einem Interview mit Peter Laudenbach haben Sie gesagt, Sie wären gern wie ein Mauersegler. Ja, die können im Flug schlafen, ein Auge haben sie geschlossen und eine Hirnhälfte abgeschaltet. Ist doch genial, oder? Ruhe und Bewegung zugleich. Leiden Sie an zu wenig Schlaf? Nein. Heute nicht. Aber Sie verstehen, warum man gerade Ihnen so eine Frage stellt. Ja, mein Arbeitsrhythmus. Angeblich immer zu viel Quantität, zu wenig Qualität (lacht). Elefanten schlafen pro Tag zwei, drei Stunden. Manchmal nur alle drei Tage. Nein. Ehrlich? Is’ nich’ wahr.

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Doch. Und Giraffen schlafen – im Stehen – sogar nur sieben ­Minuten am Tag. Die schweren Haie wiederum müssen derart ausdauernd sein bei der Nahrungssuche, dass sie oftmals nur dämmern – man nennt ihren Schlaf: „Lethargie“. Is’ ja unglaublich. Wissen Sie, welches mein Lieblingsbuch ist? „Die Entstehung der Arten“ von Charles Darwin. Ich bin ein ­großer Freund der Zoologie. Doch wohl kaum wegen der Schlafphänomene. Nein. Mir beantwortet dieses Buch viele Fragen zu Sinn und ­Segen der Existenz. Du liest Darwin, und es geschieht dir, was so nötig ist: Einordnung, Relativierung. Diese Lektüre ist überall dort zu empfehlen, wo bei Menschen der Missionseifer allzu sehr fiebert. Darwin ist ein kühlender Eisbeutel gegen die Er­ hitzung durch evolutionäre Anmaßung. Mich interessiert, wie und wieso Arten überlebt haben. Darwin erzählt es, und er ­erzählt die Welt weit, weit weg von Ideologie. Das tut gut – und es erheitert auch. Zum Beispiel gibt es im Buch einen kopfschüt­ telnden Text über den Pfau. Darwin versteht nicht, warum diese Art existiert. In den Augen des Forschers ist das ein völlig un­ sinniges Tier, denn der Pfau kann nicht beißen und fliegen, er kann gar nichts. Vier Seiten umfasst das Unverständnis. Dar­ wins Fazit: Mit diesem Tier habe sich die Natur in ihrem sonst so großartigen Bauplan eindeutig vertan. Es gibt keinen einzigen Grund und keine Voraussetzungen, dass der Pfau überlebt, aber: Er überlebte, und er wird weiter leben. Im Grunde eine niederschmetternde Diagnose, was dieses arme Tier betrifft. Aber dann kommt der großartige Satz von Darwin: „Das muss es aber auch geben dürfen, dass sich die Natur einmal irrt.“ Toll! Naja, bei Irrtum denkt man heute wohl eher an den Menschen.

Evolution und Pfau-Effekt

Nietzsche nannte den Menschen das „unvollendete Tier“. Denn unser Bewusstsein, unser Denkraum hat gar zu viele freie Kapazitäten – und zwar für gefährliche Extras, sie verderben die Konzen­ tration auf das Wenige, das zum puren Überleben nötig wäre. Was man allein schon daran merkt, dass wir uns fortwährend Kriege

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und andere Katastrophen einfallen lassen. Allerdings hat der Ostberliner Schriftsteller und BE-Kleindarsteller Johannes Conrad vor vielen Jahren auch den herrlichen Satz geschrieben: „Der Mensch kann Städte vernichten, aber er kann auch die Tuba blasen.“ Schön, aber im Gegensatz zum Pfau werden wir als Gattung nicht überleben. Es wird nie wieder ein Zustand eintreten, in dem die Menschheit unfähig wäre, sich selber zu vernichten. Und meines Wissens sind die Rom-Völker die einzige Ethnie, die noch nie einen Krieg angefangen hat.

Einmal im Leben „gültig“ sein

In Christoph Ransmayrs Stück „Odysseus. Verbrecher“ bekommt der imperiale Kriegskerl aus Ithaka am Schluss Gewehre und Schwerter umgehängt, er ist total metallisch eingekleidet, also schwerstbelastet, und wird zur Strafe in die Welt geschickt – er muss, beladen mit diesem militärischen Verderbenszeug, so lange heimatlos in die Zukunft ziehen, bis kein einziger Mensch und auch er selber sich mehr daran erinnern kann, was das für Geräte sind, die er da mit sich schleppt, und wozu man sie einst benötigte. Odysseus wandert noch immer ruhlos umher. Da relativiert sich doch sofort die Behauptung, ausgerechnet der unschuldige Pfau sei sinnlos. Zu dem Stück „5 MORGEN“ von Fritz Kater haben Sie einen Text geschrieben. Er bekräftigt den Wunsch, „einmal im Leben ,gültig‘ zu sein, einmal etwas unbedingt richtig zu machen, ein ,Zeichen‘ zu empfangen, eines zurückschicken zu können, in Zeiten der ­Katastrophe etwas anderes zu sehen als nur den Untergang.“ Wie betrachten Sie diesen Wunsch, bezogen auf Ihr eigenes Leben? Noch immer mit hartnäckiger Hoffnung oder bereits mit einem Anhauch von Verzweiflung, es werde nicht gelingen? Das kann ich sehr einfach beantworten. Heiner Müller, dessen Dichtung ich gefolgt bin, sagte am Ende seines Lebens einen schönen Satz über seinen Gemütszustand: Er sei ohne Hoff­ nung und ohne Verzweiflung. In diesen Zustand will ich. Nie­ manden überzeugen. Auch nicht sich (lacht). Ohne Überzeu­ gung leben. Tastend, nicht sehend ...

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Kann man wirklich so leben? Generell und durchgehend? Durchgehend? So habe ich das nicht gesagt. Ich meine es einzig im Zusammenhang mit dem ultimativen Vorsatz, etwas „Gülti­ ges“ herzustellen. Dieser Vorsatz gibt Energie, aber er verdirbt auch. Was heißt schon: gültig? Als Zwölfjähriger war ich in einem Auswahlverfahren der Letzte, der zur Kinder- und Jugendsport­ schule aufgenommen wurde. Ich spielte Fußball, war dann bei Union. Es ging nicht fein zu. Nachdem ich heimlich eine Zigarette geraucht hatte, bekam ich ein heftiges Ding auf die Fresse. Das tat weh, aber seitdem rauche ich nicht. Hab’ Geld gespart.

Fußball bei­ Union Berlin

Auf der Sportschule waren Sie? Ja. Nach einer Rückenverletzung flog ich aber wieder raus. Es dauerte keine vierzehn Tage. Aber bis dahin war für mich das Ziel gesetzt: Ich werde Fußball-Weltmeister! So sah sie aus, ­meine Vorstellung, in meinem Leben etwas „Gültiges“ zu leisten. Um beim Fußball zu bleiben: Sie belegen auch in der Theatersparte einen vorderen Tabellenplatz. Ja, Zweite Liga. Zweite Liga? Das ist kokett. Nein. Ich bin kein Hochleistungskünstler. Bei mir ist alles ver­ gleichbar mit der Wahl von Fußballmannschaften in der Schule. Es wird gewählt, und sagen wir mal: Ich bin einer der zwei Mann­ schaftskapitäne, dann bin ich derjenige, der irgendwann, gegen Ende hin, sagt: Der Rest zu mir! Is’ nich’ meine Idee, hab’ ich von Beuys.

„Wie Beuys: Der Rest zu mir!“

Sie beleidigen Ihre Spielerschaft! Rest! Nein. Wieso denn? Der Rest – das ist doch das wahre Leben, das Ungefüge, das Sperrige, das farbige Graue, das Ungeputzte, das Willkürliche, das Unperfekte, das Ungelenke, das Naive, das Ein­ fältige, das Raue, das Rohe, das Schwache, das Verträumte, das Störrische. Wenn möglich, alles zusammen – das ist mein En­ semble-Traum. Das sind die wahren Lebenskönner. Und Künstler!

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Sie kokettieren schon wieder. Dass es zu einem Weltmeister nicht langte, auf welchem Gebiet auch immer, macht mir nichts mehr aus. Das erinnert mich an den wunderbaren Klaus Piontek, zu DDRZeiten einer der prägenden Schauspieler des Deutschen Theaters Berlin. Er nannte sich einen „Liebhaber des vierten Platzes“ – man jagt ein bisschen diejenigen, die unbedingt aufs Treppchen wollen, andererseits bleibt man weitgehend unbehelligt von Markt-­ Moden. Sein Lieblingssatz war: „Lieber Erster in Verona als Zweiter in Rom.“ Gefällt mir.

„Regisseur? Muss auf die UNO-Liste der zu schützenden Berufe!“

Armin Petras: Künstler oder Handwerker? Es gibt ehrenwerte Berufe, wie Stellmacher, Sattler, Korbflech­ ter, ich denke mir auch den Beruf des Regisseurs in diese Reihe hinein, einfach deshalb, weil wahrscheinlich auch er zu den aus­ sterbenden Berufen gehört. Alles Derzeitige, die Demokratisie­ rung der Verhältnisse, die Ausformungen und Ausbuchtungen des Individuellen, die Identitätskriege, die Sprengsätze, die mehr und mehr an alles Hierarchische gelegt werden, das wird Folgen haben für alle Bereiche. Auch der Regisseur steht mehr und mehr auf dünnem Boden. Ein Platz auf der UNO-Liste der zu schützenden Berufe wäre durchaus gerechtfertigt. Kurzum: Ich sehe mich nicht als ehrwürdigen, aber doch bastelnden Hand­ werker. Der bastelnde Mensch ist eine Idee von Claude LéviStrauss. Mag ich sehr, diese Idee. Hab’ ich auch studiert, so sechs Monate, bis ich das dann gelesen hatte, und da bin ich zurück zum Theater, weil ich dachte, genau das machen wir ja …, Leben nachbasteln. Man könnte verallgemeinernd sagen: Das Geschichtsbuch der Menschheit besteht aus einem schmalen Kapitel über das Gelingen und einem sehr umfangreichen – Rest. Dieses Verhältnis verbessern zu wollen, ist unbedingt erstre­ benswert – es umkehren zu wollen, bleibt unrealistisch.

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Das Nicht-Gelingen liebt niemand – Niederlagen sind dennoch unumgänglich. Wie könnte der Bergsteiger ans Ruhmesglück denken, wenn er gerade nachtlang und nahezu gefriertief im Eishang klemmt. Wie könnte der Schriftsteller das Glück seiner Gabe preisen, da er am fehlenden Wort so sehr verzweifelt wie am gefundenen, das stets ein schwächeres als das gewünschte ist? Glück ist ans Unglücklichsein gebunden? Wenn alle Instinkte wie Antennen ausgefahren sind, dann ist das Glück. Aber natürlich muss man daran auch ein bisschen verzweifeln. Glück ist nicht immer lustig. Überhaupt, was ist Glück ...

Glück und Frau Dr. Neunmalklug

Wenn Sie von Glück sprechen, habe ich das Gefühl: Das ist generell nicht Ihr Ding, denn das Wort ist zu nah an einer Festsetzung. Ich habe Kinder – eine Tochter, zwei Söhne. Einer der Jungs war, sehr jung, sehr lange im Krankenhaus. Auf der Kinderstation arbeitete eine Ärztin, über siebzig, schneeweißes Haar, sie wirk­ te wie aus einem russischen Märchen. Und sie hieß, unfassbar, Neunmalklug. Ja wirklich, Frau Doktor Neunmalklug! Vielleicht hatte ich deshalb die Eingebung, sie eines Nachts halb zwei un­ vermittelt zu fragen: Sind Sie glücklich? Sie sah mich an und antwortete: Wissen Sie, junger Mann, Glück ist etwas für Kin­ der. Ich habe also eben was über Glück gesagt und sage jetzt, ein paar Minuten später: Bei Darwin steht im Hinblick auf die Natur nirgends etwas von Glück. Glück herzustellen, ist nicht die Aufgabe der Natur. Es geht nicht um Glück, sondern um Fortpflanzung. Jene Hybris der Selbstüberforderung, die Welt ins Glückliche zu wenden – das ist einzig und allein Menschen­ werk, und diese Hybris konnte einen Hamlet nur in Wittenberg überkommen. Schon wenige Kilometer weiter im proletari­ schen Wittenberge hätte man diese Idee wohl nicht gehabt. Das Glück ist wahrscheinlich eine Art absolute Erfüllung – kaum zu unterscheiden von absoluter Leere. Das Glück ist jener Moment, da man vergisst, an welche Bedin­ gung es geknüpft sein könnte. So empfinden zu können, das

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genau ist das Privileg der Kinder. Es scheint mir, man muss sich hüten, Glück zu bemerken. Wir befinden uns in industrieller Überwucherung durch Produkte der Glückssuche. Glück ... Nee, happiness. ... ist zum Jagdobjekt geworden. Viele Menschen sind so verrückt danach, dass zu befürchten ist, sie könnten sich unglücklich ­machen, nur weil sie glauben, ohne Glück nicht mehr leben zu können. Es ist – wie in der Natur – auch nicht Aufgabe einer Gesellschaft, Glück zu produzieren. Dafür sind alle Glücks- und Sinnvorstel­ lungen zu ausgefächert. Ein System, das meint, ein Maß für Glück vorgeben zu können, sieht sich irgendwann genötigt, den undankbaren Bürger anzuklagen, der sich dem vermeintlichen Füllhorn verweigert.

Wie kann man Mensch sein – und zugleich funktionieren?

Aber wenn es nicht um Glück geht, worum dann? Es geht um den Versuch, herauszufinden, wie man einerseits ein Mensch sein kann, der gern lebt, und andererseits in der Gesell­ schaft funktioniert. Dieser Widerspruch ist ja auch der Antrieb der Kunst, es ist die Balance, die das Leben hält – und auffrisst. Weil sie nicht herzustellen ist? Klar sehen und doch hoffen – darum geht es. Unser Leben heute ist leicht, komfortabel, entlastet von jenen Entbehrungen, wie sie am Rande jeder Zivilisation noch immer eine tapfer ertra­ gene Realität ist – aber in unserem selbstverständlichen Genuss der zahllosen Annehmlichkeiten lauert der evolutionäre Aus­ verkauf: Denn wir verlieren womöglich ein existenzielles Betei­ ligungsgefühl. Eben sagten Sie: Wittenberge. Ein gutes Stichwort. Nordbrandenburg. „Über Leben im Umbruch“ hieß ein dort an­ gesiedeltes Projekt des Gorki Theaters über Menschen in der

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Nachwende. Autoren schrieben Texte, und hinzugezogen wur­ den Soziologen. Vier Stücke entstanden, zwei wurden auch in Wittenberge gespielt. Theater als Ort für Forschung und Ge­ spräch im Konkreten – über das Konkrete. Wahrhaft: Stadt- oder Landes-Theater.

Intendant am Gorki Theater

Als Sie 2006 das Maxim Gorki Theater übernahmen, haben Sie gesagt, es sei das „Stadttheater von Berlin“. Niedlichkeitsform? Randstolz – mitten in Berlin, gewissermaßen Unter den Linden? Unser Anspruch war maßlos (lacht). Denn: Jedes Theater dieser Stadt hat sowas wie ein Zielpublikum, mit ausfasernden Rän­ dern, natürlich – wir aber haben gesagt: Wir wollen kein beson­ deres soziales Klientel, wir wollen alle! Indem wir Spuren su­ chen, in deutscher Geschichte, im brandenburgischen Sand, in Weltliteratur, die sich auf eine Weise mit deutschen Themen befasst, dass es akute Stoffe für uns sind. Wir sind doch alle noch von gestern. Wäre es anders, wären Antike und Shake­ speare nur noch Bücher mit sieben Siegeln. Sind die aber nicht, sie erzählen uns, als lebten wir im Früher – das nie endet. Bei Feuchtwanger steht: Nicht Rom ist der Mittelpunkt der Welt, es gibt so viele Mittelpunkte, wie es Menschen gibt. Wenn man das erst mal ernstnimmt, gibt es keine Langeweile mehr, und das Interesse am Leben lässt nicht mehr nach. Sie hatten am Gorki den treibenden Willen, ein Ensembletheater der besonderen Art aufzubauen. Fritzi Haberlandt war dem Haus stets verbunden, Peter Kurth, Regine Zimmermann oder Anja Schneider oder Britta Hammel­ stein, Roland Kukulies, Hilke Altefrohne, Sabine Weibel, Anne Müller, Robert Kuchenbuch, Gunnar Teuber. Namen wie Welten! Sie haben das Gorki über all die Jahre absolut geprägt, um nur einige ganz wenige zu nennen und damit unerlaubt ungerecht zu werden. Und wir hatten mit Jan Bosse, Jorinde Dröse und Antú Romero Nunes drei starke Hausregisseure. Ich denke, das

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Publikum spürte ziemlich schnell, dass wir aus einem Haus – ein Haus steht naturgemäß fest auf seinem Boden! – eine be­ wegliche Werkstatt geformt haben. Zum Beispiel eben auch: rein in die Stadtbezirke, raus ins Umland. Umland! Wie Umwelt ein Begriff aus herrschaftlicher Mitte, also falsch. Sieben Jahre Intendanz – über 200 (!) Neuinszenierungen am ­Gorki Theater. Auch Ihr persönliches Arbeitsfeld als Regisseur und Autor blieb mit den Jahren äußerst umfangreich. Regisseur Werner Herzog sagt, er konzipiere einen Film, an einem zweiten schreibe er, einen dritten bereite er unmittelbar vor, einen drehe er, und bei einem weiteren laufe die Postproduktion. Bei mir sind die Vorgänge weniger geordnet. Bis da was reif ist, das kann Jahre dauern. Auf meinem Schreibtisch liegen kleine, große Stapel, manchmal nur ein paar Fotos oder auch ein Blatt Papier mit Begriffen oder Notizen.

„Ich bin Skizze“

„Eigentlich arbeite ich­ zu langsam“

Lauert da Oberflächlichkeit? Klar. Aber da sind wir wieder bei dem Anspruch, gültig zu sein. Mir gelingt es nicht, diesen Anspruch zu übertreiben. Oder: Mir ge­ lingt es, diesen Anspruch nicht zu übertreiben. Was ich mache, ist Fragment, Bruchstück, Baustein, ich bin gern Skizze. Ich brauche Geschwindigkeit. Und auch die Flucht. Ich langweile mich schnell. Sie jagten von Inszenierung zu Inszenierung. Landauf, landab, über viele Jahre. Arbeiten Sie zu rasant? Nein, eigentlich arbeite ich langsam. Mein Tag besteht durch­ schnittlich aus sieben Stunden Probe und drei Stunden irgend­ was. Ergibt zehn Stunden. Und die Dinge beleuchten sich ja auch manchmal gegenseitig. So wie in der Kirche die drei Seiten vom Triptychon, am Altar. Diese Mixtur oder Parallelität gibt es, weil ich alles, was ich sagen will, unbedingt sagen möchte, so­ lange ich noch Interesse daran habe. Rauschhaftes Inszenieren, motorfixes Adaptieren von literarischen Werken, Arbeit wahrlich als Leben.

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Es geht um das Problem, dass ich das, was mich heute bewegt, morgen möglicherweise gar nicht mehr sagen kann. Werden Sie sich fremd, wenn Sie nicht arbeiten? Freizeit ist für mich schwierig – ich habe es versucht mit Hobbys. Und? Ich kann Bäume absägen. Intendant waren Sie, sind Regisseur und Autor. Wie organisiert sich da ein Ausgleich? Da gab es keine wirkliche Balance, es war allzeit ein offener Kampf. Die unterschiedlichen Kräfte zerren. Wenn es eine Zeit des Schreibens gibt, muss anderes zurückgedrängt werden. Da gibt es keine feste Regeln, leider auch keine Regelmäßigkeit. Wie teilen Sie sich das alles ein? Ich bin trotz allem ganz gut strukturiert. Struktur heißt? Über mich hat man geschrieben, ich sei vielleicht nicht gut, aber fleißig. Fleiß ist ein wichtiger Stempel in deutschen Bewertungs­ büros. Anders als im Südländischen: Dort kann, wer regelmäßig und fleißig arbeitet, gar kein richtiger Künstler sein. Sie sprachen von einem „offenen Kampf“. Mit welchem Ziel? Möglichst sinnvoll zu verwittern (lacht).

Sinnvoll verwittern

Zur Natur zurückkehren, aber eigensinnig? Weil sich die Gesellschaft und der eigene Körper ständig ändern, muss man den Mut haben, etwas, das man bis gestern gut und erfolgreich und unangefochten tat, morgen über Bord zu werfen. Sie sprachen von Kampf ... John Swinton von der US-amerikanischen Tageszeitung „Sun“ hat sich beim alten Marx angemeldet, um mit ihm ein Interview zu führen. Seinen Lesern liefert der

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­ eporter, später Chefredakteur der „New York Times“, einen einR fühlsamen Bericht über den Besuch, Jürgen Neffe hat ihn in seinem Buch „Marx, der Unvollendete“ zitiert: „Das Gespräch drehte sich um die Welt und um den Menschen und um die Zeit und um Ideen. Als wir unsere Gläser über der See (in der Grafschaft Kent) klingen ließen ..., kam mir eine Frage in den Sinn, die das letzte Gesetz des Seins berührt, und auf die ich mir Antwort von diesem Weisen erhoffte. Indem ich die Stimme senkte und die Betonung erhöhte, in einem Moment der Stille, befragte ich den Philosophen mit diesen schicksalsschweren Worten: ,Was ist?‘ Und es schien, als hätte sich sein Geist für einen Augenblick nach innen gekehrt, während er auf die tosende See vor uns blickte und auf die rastlose Menschenmenge auf dem Strand. ,Was ist?‘ hatte ich mich erkundigt, worauf er mit tiefem und feierlichem Ton er­ widerte: ,Kampf!‘“ Toll! Nie ist eine Bedingung des Lebens so, dass sich Kampf er­ ledigt hätte. Das lehrt die Natur, auch die des Menschen. Allein Ihre Begeisterung über Darwin lässt ein sehr enges persönliches Verhältnis zur Natur ahnen. Oder? Sobald ich Zeit habe, bin ich draußen. Im Wald. Ich hab auch einen eigenen, na ja, ein Stückchen eher ... Is’ ein Besitz, der ja nicht wirklich mir gehört, sondern den Tieren und allem, was dort wächst. Du guckst hoch in den Himmel. Alles lebendig, auch das, was unsere Augen zu sehen verlernen. Da wird nix an­ gerührt. Kein Bruttosozialprodukt generiert. Soll alles wachsen, wie es will. Ab und zu kreuze ich da mit meinem dreißigjährigen Jeep auf. Unter dem schlafe ich dann.

Schlafen im Wald, unter dem Jeep

Armin Petras unterm Jeep: Nicht der Held macht prägende Erfahrungen, sondern die frierende Kreatur. Frieren ... naja, das ist jetzt sehr übertrieben. Gibt ja keinen ­Winter mehr. Aber warum macht man sowas, warum sucht man dieses Atemholen unter freiem Himmel?

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Armin Petras: „Mein Wald“

Das ist das schöne, gesunde Krankheitsbild des Romantikers. Was beim Draußen und beim Drinnen reizt, ist diese Doppelexistenz zwischen den Kulturräumen – zwischen Rückversicherung in der Ordnung und Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst. Märchen sind ohne Wälder nicht vorstellbar. Dort lauern finstere Mächte, Zauberer und Hexen. In den Wäldern müssen sich die

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Märchenhelden bewähren. Manchmal aber kommt aus dem Wald auch das Rettende: der Jäger, der Schneewittchen verschont, und die Zwerge, die es wieder zum Leben erwecken. Das typische Raumerlebnis in einem mitteleuropäischen Misch­ wald ähnelt dem in einer gotischen Kathedrale, deren Säulen­ wald nach oben zum Licht strebt. Der Wald ist für mich Wirklich­ keit und Metapher. Beim Wald spricht man von den grünen „Gs“: Göttliches, Gefahr und Grenze. Der Wald wird wahrgenommen als religiös aufge­ ladener Raum. Ihn ihm kann man sich verirren, wilde Tiere lauern, und: Wer den Waldsaum überschreitet, verlässt die menschliche Gesellschaft. Jetzt weiß ich, warum Sie Joseph von Eichendorff so sehr mögen: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben“. Ja, Eichendorff ist der populärste der deutschen Walddichter. Der Wald ist bei ihm ein Gedankenraum. Der hat spirituelle Kräfte. Nichts ist Eichendorff ferner als die forstwirtschaftlich genaue Beschreibung. Der Dichter trägt den Wald in den Gas­ sen des Realen immer mit sich, wie einen grünen Mantel um die Schultern geworfen.

Tägliche Lügen oder tägliches Verschweigen

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Was wächst in Ihrem Wald? Eiche, Laubmischwald, Kiefer. Zwei wirklich alte Freunde hab’ ich, einen Kinderpsychiater und einen Förster. Mit Letzterem bin ich kürzlich dagewesen, in meinen Wald. Der Mann hat mich genervt, da war nix mit: allein lassen. Denn: Die alten Kiefern haben braune Wipfel, sind kaputt. Scheiß Klimakata­ strophe. Jetzt muss ich dieses Problem lösen. Das ist das Meta­ phorische mitten in der Wirklichkeit: Ich habe sehr konkret Verantwortung für ein Stück Welt. Der Wald soll Urwald sein dürfen – also wieder werden. Ich weiß, das geht nicht mehr, aber so ähnlich. Die Bäume sind in etwa so alt wie ich, in hun­ dert Jahren sollen meine Kinder und Enkel möglichst viele Bäume noch umarmen können. Als wär’s ihr Großvater. Sozu­ sagen als Ersatz.


Schreiben Sie auch im Wald? Man neigt ja dazu, nicht zu arbeiten, man neigt dazu, müde zu sein. Was ich benötige, ist ein Laptop und Landschaft. Ich fahre gern weg. In den ukrainischen Zügen im Sommer ist es am bes­ ten. Die fahren nur so dreißig Sachen, und es gibt keine Klima­ anlage, jedenfalls keine, die funktioniert. Und draußen vorm Fenster Live-Kino. Besser geht’s nicht. Der Begriff fiel: Romantik. Also: Überfluss an schöner Weltfremdheit – gesetzt gegen deutschen Missmut und deutsche hegelianischen Vernunftpedanterie. Ja, das Ich als Ereignis, als Bewegung. Das romantische Weltempfinden begrüßt den Sonnenaufgang voraussetzungslos, ohne die abwinkende Vorausahnung all des erfahrungssicher Bösen und Schlechten, das die Sonne auch heute wieder an den Tag bringen wird. Der Romantiker ist jemand, der von einer Sache erst mal mehr hält, als hinterher dran gewesen sein wird. Der schwärmende Geist ist peinlich und hilfreich zugleich.

Was ist ein Romantiker?

Er ist das Pendant zum kalt-rationalen Menschen, der – so klagte schon Heine – den traurigen Ehrgeiz hat, die Nachtigallen arbeitslos zu machen. Das Romantische greift nach jedem Ausdrucksvermögen und verwandelt es in Sehnsucht. Und jede Sehnsucht macht die Welt unsicher, weil in ihr eine Idee vom anderen Leben lauert. Das Romantische ist also gefährlich. Auch wenn es durchaus lächerlich ist. Infantil. Ein Versteck und damit auch destruktiv. Es gelingt kaum, den Regisseur Petras auf eine künstlerische Handschrift „festzunageln“. Dass ich mich selber ästhetisch nicht gern festlege, hat natür­ lich zur Folge, dass bei meinen Inszenierungen immer irgend­ wer enttäuscht ist. Aufgrund von Erwartungen. Martin Kippen­

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berger sagt: Mein Stil besteht darin, keinen Stil zu haben. Ich: Die Bedingungen diktieren unsere Möglichkeiten. Es bestimmen nicht die Ideen, die wir haben? Ich glaub’ nicht, dass Ideen die Bedingungen diktieren, es ist umgekehrt. Und ich stelle mich den Bedingungen. Bedingungen, das heißt zumeist: den Widerspruch auszuhalten zwischen Er­ sehntem und Möglichem. Meist bleibt der Mensch ja in dem stecken, was ihm möglich ist, obwohl er sich ganz woanders­ hin sehnt, also: Er ist ein Wesen, das sich selber nicht wirklich gelingt. Auch, weil es immer irgendeine niedere Verlockung gibt, immer eine Tendenz zur Bequemlichkeit, immer einen Hang zum eigenen Vorteil, der nicht unbedingt das Beste ist. Der Mensch ist zumeist die verkörperte Unwahrscheinlichkeit, dass am Ende alles wirklich gut ausgeht. Aber bevor etwas ab­ gleitet ins Resignative oder Zynische, können doch nützliche Sicherungen eingebaut sein, und sie sind ein Ziel, mit dem zwar keine Ewigkeit zu bauen ist, aber doch jeder Tag, und die Sicherungen haben Namen: Gemeinsamkeit, Spiel, Aufrichtig­ keit. Ich habe Freude daran, dass alles so relativ ist: der Sinn und der Unsinn, die Stärke und die Schwäche, der Erfolg, der Misserfolg aber auch. Ist Ihnen egal, wo Ihr Theater stattfindet? Nein. Es gibt zum Beispiel zwei Sorten von Theaterleuten. Die einen machen ihr Theater, egal, wo sie sind. Eine Robert-WilsonInszenierung sieht in Tokio so aus wie in Berlin oder auf dem Mars. Es gibt also Menschen, die gehen unantastbar durch die Welt, sie spenden ihr Theater, sie verteilen ihre Gabe. Die anderen, und zu denen gehöre ich, die docken an, sie geraten aus den Alleen, in denen das Theater Schmuck entfaltet, immer wieder in Schmutzecken. Sie interessieren sich massiv für das, was links und rechts neben dem Theater passiert – in den ­Seitenstraßen. Und damit ändert sich ihr Theater, es versucht, Fühlung zur Gegend aufzunehmen. Wenn ich nach Brüssel oder Odessa fahre, sehe ich, dass Theater dort für die Region

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gemacht wird. Genau diese Verankerung, die Reflexion der wirklichen Probleme der Leute, die da leben, schafft ein ganz anderes Bewusstsein für das Theater dort. Ich habe in den letz­ ten Jahren Chöre eingeladen. Volkschöre, Kinderchöre. Oder Volkstanzgruppen. Auch das ist ein Handschlag mit der jeweili­ gen Region. Brecht hat gesagt, die Ästhetik unserer Kämpfe richte sich nach den Bedingungen dieses Kampfes. So würde ich das auch für mich beschreiben. Kräfteverhältnisse, Energiefel­ der sind kein Zustand, sie sind Bewegung. Das Unterschiedli­ che, die Praxis anderer bewerte ich nicht, ich erkläre nur, wie ich selber in ­diesen Alternativräumen ticke. Nicht: ablehnen!, son­ dern: an­nehmen – und das Manko arbeitend überwinden. Kip­ penberger sagt: Salvador Dalí hat tropfende Uhren gemalt, ich mach ­Nudeln. Sie beschwören als Regisseur die Gruppe – aber sind Sie auch ein Gruppenmensch? Ich brauche die Gruppe. Leider bin ich asozial, und das Gegenteil von einem Guru bin ich sowieso. Woran erkennt man Gurus? Schwer zu sagen. Vielleicht daran, dass sie keine Körperscham haben. Man sieht’s an den Bäuchen bestimmter Kollegen, die werden wie ein Zepter getragen. Talent und Egomanie in Ver­ bindung können sehr hässlich aussehen, jedenfalls für mich. Schauspieler brauchen das aber sehr oft. Also diesen Glau­ ben, dass der, dem sie ihre ganze Kraft und ihre ganze Liebe wid­ men, auch wirklich der Größte ist. Eine Schauspielerin erzählte mir von der Geburtstagsparty eines bedeutenden Regisseurs, der alle seine Spielerinnen und Spieler eingeladen hatte, in ­seine riesige Wohnung im Prenzlauer Berg in Berlin. Und sehr spät am Abend stand die Ehefrau einer der Darsteller vor dem riesigen Inszenierungsfoto an der Wand, auf dem ihr blut­ verschmierter Mann abgebildet war, und sie schrie: „Dein Blut ist es, von deinem Blut hat er sich die Wohnung gekauft.“ Groß­ artig.

Schmuck oder Schmutz?

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Die Probe ist Suche nach der richtigen Tür

Vielleicht Video, vielleicht Bier

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Sind Schauspieler mitunter auch Marionetten? Kleists Aufsatz über das Marionettentheater ist die intelligen­ teste Antwort darauf. Gehen Sie aus dem Theater hinaus ins so­ genannte Leben: Seltsamerweise trifft man die meisten Mario­ netten unter jenen Leuten, die danach gieren, Fäden zu ziehen. Was macht denn ein Regisseur anderes, als Fäden zu ziehen? Das wahre Abenteuer besteht im Verknäueln. Die Probe ist wie eine Suche nach der richtigen Tür. Vielleicht eine Tür, die im Grunde unsichtbar ist: Seit Jahren fahren wir mit den Händen die Wände ab, um sie endlich zu finden. Es ist schwer. Aber es gibt sie ... Ja, ein wichtiges Wort ist für mich ist, seit meiner Ju­ gend: Gruppe – und eine der Hauptaufgaben als Regisseur sehe ich darin, im Spiel eine Gruppe zusammenzuhalten. Das wäre nur eine Disziplin-Leistung. Nein, überhaupt nicht. Bei vier Stunden Probe kommt es darauf an, eine halbe oder dreiviertel Stunde gemeinsam auf ein beson­ deres, außergewöhnliches Energieniveau zu gelangen. Sozusa­ gen auf eine neue Umlaufbahn, in einen Empfindungs­bereich, als habe man eine Schallmauer durchstoßen. Dieses Level des Spiels kann auf unterschiedlichste Weise zustande kommen, es kommt über uns, und manchmal merken wir’s erst, wenn es vorbei ist. Wenn ich das Gefühl habe, es stellt sich nicht ein, also diese abenteuerliche halbe oder dreiviertel Stunde ist nicht in Sicht, dann widerfährt mir ein Adrenalin-Ausstoß, Angst, Un­ lust, Selbsthass. Ich versuche, diese Effizienz – die natürlich das Gegenteil von Effizienz ist – irgendwie herbeizurufen. Vielleicht zeige ich ein Video, vielleicht bestelle ich Bier, vielleicht werde ich laut, oder wir lesen was. Aber auf den Proben meldet sich jedes Mal ein Hunger, zu vergleichen mit dem Hunger eines Dachdeckers, der an die frische Luft und die Welt von oben se­ hen will. Es muss uns der Wunsch treiben, spielend woanders hinzukommen, einen Zustand zu fühlen, bei dem man seinem langweiligen Leben entronnen ist. Vielleicht kann man das mit der Leidenschaft, der Seelenkraft von Leistungsportlern verglei­


chen. Es gibt ja nur wenige, die mit ihrem Sport eine Menge Geld verdienen. Aber denken Sie an Sportschützen oder einen Großteil Wintersportler. Die werden einzig von Hunger und Lei­ denschaft getrieben, dafür sitzen die ihre ganze Jugend auf harten Rodelschlitten ab. Oder Tänzerinnen, die genau wissen, dass es mit dreißig, spätestens fünfunddreißig vorbei ist, aber ihr Sehnsuchts-, ja Suchtverhalten bleibt doch unbezwingbar. Die Gruppe als Schutzraum? Ich fühlte mich immer als Teil. Eigenständig, aber Teil. Was halten Sie von Konzeption? Einen Plan fürs Inszenieren gibt es nicht, aber eine Idee, klar. Deshalb komme ich mir im Verlauf einer Probenarbeit oft äu­ ßerst ungehörig vor, und dann entstehen Brüche. Es kann pas­ sieren, was mir zuletzt auch bei der Inszenierung „Schwejk“ in Prag passiert ist: Drei Tage vor der Premiere habe ich einen Teil dessen, was für ein Spiel mit sieben Personen vorgesehen und geprobt war, auf eine einzige Schauspielerin „rückgebaut“. Das schneidet tief ein. Das produziert Probleme. Es ist ein Risiko. Nicht legitim wäre, dem Ensemble fortwährend zu sagen: Macht mal! Aber es geht auch nicht, fortwährend zu sagen: Ich mache!, Ruhe! Wie sieht das Dazwischen aus? Also letztlich doch: Fäden ziehen. Wir bewegen uns bei den Proben gemeinsam. Ja. Rolle, Vor­ gang, Situation – alles sehr konservative Begriffe, aber es ist eine Tradition, die auch ihr Recht hat. Es gibt Schauspieler, die meinen: Es gibt mich und einen Text, und damit gehe ich jetzt an die Rampe. Was sollte ich als Regisseur denen noch sagen? O. k., wer so viel Mut hat ... , dann mache ich halt das Licht oder ’ne Musik dazu. Punkt. Ich bekenne mich, wie erwähnt, zur Gruppe, und das Erlebnis Probe, so hoffe ich, ist so atmosphäre­ stiftend, dass Einschnitte, wie ich sie im Falle „Schwejk“ andeu­ tete, von allen mitgetragen werden. Wir verständigen uns bei der Arbeit auf einen Kurs – aber welches Land unser Schiffchen

Bekenntnis zur Gruppe

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dabei entdeckt, bleibt die unbekannte Größe. Schlimm ist, wenn die ­Spielerinnen oder Spieler dir nicht folgen wollen oder können. Passiert nicht so oft, aber wenn, ist das schlimm, es ver­ letzt. Verlorene Lebenszeit. Und zwar auf beiden Seiten.

Anmut und Leichtigkeit sind sehr scheue Wesen

Peinigt Sie die Flüchtigkeit des Theaters? Es kann große Trauer entstehen, wenn eine Idee, wenn ein ­Moment der Probe nicht konserviert werden kann. Die Flüchtig­ keit des Theaters lässt keinen Bereich aus, Anmut und Leichtig­ keit sind derart scheu. Früher habe ich sehr darunter gelitten. Deswegen gehe ich auch in keine Premiere. Hab ja alles schon mal besser gesehen. Es heißt, Sie brüllen. Bei der Probe? Ein Inspizient in Düsseldorf sagte, der Einzige, der lauter als ich geschrien hätte, sei Schleef gewesen. Bestimmt erinnert er sich nicht an alle.

Schauspieler schwitzen? „Super Begründung!“

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Schreien? In der Hamburger „Zeit“ schrieb Evelyn Finger, Sie seien „vielleicht der leiseste unter den lauten Regisseuren, der Trüb­ sinnigste unter den Possenreißern, der Rebellischste unter den postrevolutionären Theatermachern und jedenfalls der Produktivste, ein Romantiker in Rock-’n’-Roll-Montur, ein Systemkritiker im Kostüm des Defätisten“. Wir reden über die Probe, nicht über die Aufführung, die die Kri­ tiker sehen. Ich kann leise sein, aber ich bin öfter laut. Nicht, um jemanden zu ärgern, eher, um zu sagen: Hallo, aufwachen, hier lang! Geht ja auch, wenn man ganz leise ist, wie ich über Grüber gelesen habe oder Gotscheff, der immer gesagt haben soll, „weiß nicht, keine Ahnung, macht ihr doch mal“. Alles super. Um Strategien zu stimulieren, muss jeder seine eigene Methode finden, denke ich. Eine Intendantin rief mich an und machte mir ein Angebot. Ich fragte, warum ich? Sie sagte, bei mir ­würden die Schauspieler noch schwitzen, und ich wäre doch auch irgendwie politisch. Da hab ich sofort ja gesagt, super ­Begründung.


Sie reisen gern ... Warum lachen Sie jetzt? Weil mir da sofort New York einfällt ... Es war in den frühen Neun­ zigern. Matthias Lilienthal, damals noch Chefdramaturg an Cas­ torfs Volksbühne, hatte einen Brief aus den USA erhalten: Welcher deutsche Regisseur könnte „Die Fledermaus“ in New York inszenie­ ren? Die wollten natürlich Castorf haben, der hatte aber keine Zeit. Lilienthal nannte meinen Namen, die riefen eines Tages wirklich an. Der Pförtner vom Kleist-Theater Frankfurt an der Oder konnte nicht wirklich englisch. Ich ging ran, ich dachte, das Telefon explo­ diert an meinem Ohr, und die Oder tritt gleich über die Ufer. Ich! Da hatte irgendjemand mich vorgeschlagen. Ich flog zu einem ­Casting. Kam an den vereinbarten Ort, da saßen sechzig New ­Yorker Tänzer und Tänzerinnen. Ich aus der ostdeutsch-polnischen Tiefebene, die Damen und Herren aus der unmittelbaren Nähe von Broadway und „Westside Story“. Wir sahen einander an wie Ab­ gesandte zweier sehr weit voneinander entfernter Planeten. Wir hatten sehr viel Zeit, einander anzusehen und zu wittern. Denn: Es vergingen die Stunden, und nichts passierte. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam der Manager. Das Unternehmen sei geplatzt! ­Warum? Keine Gründe, und auf jeden Fall: kein Geld. Zwei Tage irrte ich umher, um Geld für den Rückflug aufzutreiben, die deut­ sche ­Botschaft half. So viel zu meiner US-amerikanischen Karriere.

Armin allein in New York

Was heißt für Sie: unterwegs sein? Ich organisiere mir ein Entertainment, das aus möglichst nicht entfremdeter Arbeit besteht. Theaters Texte reisen durch die Jahrhunderte. Unterwegs zu sein, beschwört Geografie. Würde Raum zur Zeit: Hätten Sie gern zu einer anderen Zeit gelebt? Vielleicht in der Renaissance. Universalität fasziniert mich. Leonardo da Vinci! Unglaublich!

Leonardo da Vinci! Unglaublich

Ihr Fleiß hat sich längst auch der Oper zugewandt, zuletzt Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“, in Bremen. Einfach gefragt: Sind Sie musikalisch?

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Nadine Lehner und Karl Schineis in Die tote Stadt, Regie: Armin Petras, Theater Bremen 2019

Die Oper ist Museum

Über diese meine Fähigkeit gibt es gewiss unterschiedliche Ansichten, aber wäre ich absolut unmusikalisch, hätte es garantiert keinen Weg zur Oper gegeben. Übrigens wird die Oper als Kunstform wohl irgendwann Probleme bekommen. Es gibt große Häuser, München, Hamburg, Berlin, Frankfurt, Wien – die werden noch zweihundert Jahre durchhalten, aber die ande­ ren? Wer geht da hinein? Man ist über fünfzig, kennt das ­Repertoire oder man ist Teil einer gehobenen Gesellschafts­ schicht, und man meint, das mit einem Opernbesuch bekräf­ tigen zu können. Aber kein Zwanzigjähriger – als wirksame sta­ tistische Größe betrachtet – geht in die Oper. Die Oper ist also im Grunde ein Museum. Sie geht, in ihrer gegenwärtigen Struk­ tur, der eigenen Vergangenheit entgegen. Nicht morgen oder über­mor­gen, aber irgendwann. Sie inszenierten in Stuttgart Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“. Das ist das Einzige, was ich nie wieder machen werde: Operette.

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Warum? Operette ist Ironie. Oper ist Emotion, Liebe, Hass, Gewalt. Oper ist Kraft und Energie. Was gesungen wird, ist so gemeint, wie es gesungen wird. Aber Sie haben doch bei Offenbach versucht, Ironie zu unter­ laufen. Haben der Eurydike proletarische Anleihen gegeben, im Himmel spreizen sich die oberen Fünftausend, die Unterwelt ist ein bisschen Metropolis. Trotzdem: Operette möglichst nie wieder. Ansonsten: keine Scheu vor Musik (lacht). Sobald ich den Kern einer Sache nach­ vollziehbar finde, suche ich nach interpretatorischen Tools. Ich habe in Düsseldorf George Orwells „1984“ als Rockmusical ge­ macht und in Luxemburg einen einzigen Tänzer auf der Bühne mit einem gleichzeitig laufenden Langzeit-Film konfrontiert. „Es gibt nur die alten Fragen und die alten Antworten“, sagt Beckett, aber es gibt immer wieder neue Formen von Leben, und dafür brauchen wir auch neue Formen der Darstellung. Mir geht es darum, mich nicht zu wiederholen. Oder wie ­Fontane sagt: „Wir haben nichts als diese Stunde.“ Klar, auch jedes „Neue“ trägt naturgemäß Spuren des Alten, es geht um Sampling, um Kreuzung. Natürlich schwingt der Versuch mit, Grenzen zu überschreiten. Das Faszinierende an Oper ist zum Beispiel die A-priori-Verfremdung. Singen ist Verfremdung. Die Grundtendenz dieser Gattung ist eine epische und damit unbedingt eine moderne, weil Naturalismus quasi unmöglich wird. Die Synchronität verschiedener Ereignisse kann berau­ schend sein und bestimmten Alltagserfahrungen zumindest nahekommen. Gleichzeitig sind die meisten Opernstoffe Teile des historischen Kanons und sollen anscheinend auch nicht erneuert werden ...

Orwell als Rockmusical

Das ist der Wille des Publikums. So dass wir es auch mit einer musealen Kunst zu tun haben. Dies beides – die unglaublich avantgardistische epische Kraft der Oper und genau das Gegenteil, ihre heutige Unerlöstheit in

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musealen Inhalten, Klängen und Regeln – macht für mich den Reiz aus, mich damit zu beschäftigen. Ist Musik eine Setzung gegen die Vergiftung und Zerstörung des Sprachakts? Ja, man muss sich sehr darum sorgen, dass Sprache von irgend­ woher noch Kraft bekommt. Musik ist da für mich mit den ­Jahren immer wichtiger geworden. Die Musik und der Körper. Wenn Johnny Cash singt „Would you lay with me in a field of stone“ und das Ganze auf einer Abraumhalde spielt ...

Musik und Körper

Signal an die Intendanz

„Sterne über Mansfeld“, vor Jahren am Schauspiel Leipzig ... dann hat das für mich einen großen emotionalen Ansatz. ­Musik ist da stärker als jeder Text. Bei mir soll es nie eine Musik geben, die ein gewecktes Gefühl nur verstärkt, nein, das muss immer eine eigene Qualität haben. Wenn ich jünger wäre, wür­ de ich vielleicht versuchen, Tanz zu studieren. Körper lügen ­weniger als Worte. Ich versuche das mit dem Wenigen, was ich von Körpern verstehe, in meinen Inszenierungen zu erzählen. Bei der Probenarbeit werden die Spielenden gewissermaßen erst dann von mir „entlassen“, wenn ich ihren Körpern glaube. Vor allem wegen des Körpergefühls bin ich gern am Theater. Weil man sich da hinfallen lassen kann oder rumrennen oder rumschreien, das würde ich als Angestellter in einer Bank nie können. Dort hat man so viele Zwänge. Sicher, auch ich bin ­vielen Zwängen unterworfen, bin den Abonnenten ausgeliefert, die aus meinen Aufführungen rausgehen, das ist ja immer auch ein Signal an die Intendanz. Aber es ist doch besser als Bank. Sie sprechen vom Tanzen. Ist der Sportler Petras auch ein Tänzer? Oh Gott. Es war das Jahr eines runden Schleef-Geburtstages. Wir nahmen uns am Gorki Theater für ein „Schleef Spezial“ die Tagebücher vor, jeder aus dem Ensemble sollte sich Texte eines Jahres heraussuchen und sie nach eigener Idee präsentieren. Festgelegt wurde nur die Auftrittszeit. Es gab ein paar Bühnen­ proben, ansonsten werkelte jeder allein. Ich selbst inszenierte

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Armin Petras, Berit Jentzsch in Schleef Spezial, Regie: Armin Petras, Maxim Gorki Theater Berlin 2010

gerade an den Münchner Kammerspielen, einen Kleist, an den Abenden hatte ich Zeit für meinen eigenen Beitrag. Ich hatte als Regieanweisung nur noch die Bitte hinterlassen: Jeder möge auf der Bühne spielend das versuchen, was er nicht kann. Das betraf auch mich. Was ich überhaupt nicht kann: tanzen. Also trainierten die Tänzerin und Choreographin Berit Jentzsch und ich zwei Monate lang. Zur Aufführung dann las Julischka Eichel Texte von Schleef, und Berit und ich absolvierten ein fünfminü­ tiges Tanz-Duett oder -Duell, oder wie man das sonst nennen mochte. Die Show lief natürlich genau einmal. Nur einmal, zum Glück! Eine Kritik verkündete die „unglückliche Liebe des Armin Petras zum Tanz“. Showboxen, das wäre was anderes, das trau ich mir noch zu. Tut nicht so weh.

Boxen: vier Kämpfe gewonnen

Sie haben auch offiziell geboxt? Ja, fünf Kämpfe. Viermal verloren. Einmal unentschieden. Hab ja erst mit 31 angefangen. Ich sehe, Sie haben Boxhandschuhe im Rucksack. Mexikanische Trainingsboxhandschuhe. Auf Probebühnen, wo

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Stuttgart: die Tür des Intendanten­ zimmers

ich arbeite, gibt es fast immer einen Sandsack. Oder es findet sich ein Kollege. Sie fahren auch noch immer – wenn möglich – Fahrrad? Macht doch jeder heute.

Das Fahrrad kommt mit aufs Zimmer

Und immer stand das Rad im Intendantenzimmer. Ja, das An- und Aufschließen eines Schlosses nervt mich. Ich habe keine Lust, schon beim Radfahren ein Sicherheitskonzept aufzubieten. Im Gorki Theater war das überhaupt kein Thema, das Rad im Intendantenzimmer – aber in Stuttgart ... naja ... Schleppt der Intendant auch seine Probleme mit auf die Probe? Wieso denn? Meist ging ich zu Probebühnen zu Fuß: den Körper anders belasten! Nicht ans Handy gehen.

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Bei Peter Handke las ich das Wort „Handtelefon“. Klingt wunderbar ungelenk. Gerhard Preußer schrieb über Ihre Inszenierung „1984“, in Düsseldorf: „Das ärmliche Volk des Staates ,Ozeania‘ trippelt oder marschiert über die Drehbühne: Mit Krücken, Masken, Rollstuhl, Luftballons. Ein trostloses Gesellschaftsgewusel ...“, dazu Liebespaarung, „in einem sportlichen Pas de deux, näher an der Zirkusakrobatik als am Ballett.“ Ich mag die Autonomie der Künste. Der Mensch auf der Bühne, die Musik, das Licht – jedes Element kann im Spiel die Führung übernehmen. Der Körper kommt meist vor dem Text. Nach einer Inszenierung im ungarischen Nationaltheater Cluj schrieb mir eine junge Schauspielerin: Sie wisse jetzt, wie es geht, in ihrem Beruf. Am Anfang sei ihr auf den Proben alles unangenehm ­gewesen, fünfmal die gleiche Szene. Schrecklich. Nun aber sei sie froh über diese Erfahrung, sie habe ein Gefühl dafür bekom­ men, aus „wie viel Majestäten ihr Körper bestehe“. Schöner Satz oder? Und dann schrieb sie: „Alles, was ihr Sicherheit gebe, sei

Aus wie viel Majestäten besteht ein Körper? Szene 1984, Regie: Armin Petras, Düsseldorfer Schauspielhaus 2018

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zugleich eine Täuschung – sie wisse natürlich überhaupt nicht, wie es geht im Beruf.“ Toll! Neunzehn – und schon alles klar. Klar heißt: Nichts wird je klar sein. In einer Gesprächsrunde mit Regisseuren sagten Sie von sich, Sie seien „peitschend ungebildet“. Das war bestimmt eine etwas aggressive Form des Selbst­ schutzes – um gar nicht erst in Vergleich zu kommen. Aber im Ernst: Ich habe nie ein Studium ans Ende gebracht, ich besitze zwar das Abiturzeugnis, war allerdings ab der 9. Klasse nicht mehr wirklich vorhanden in der Schule.

Meschede? Das ist HSK!

Geboren wurden Sie 1964 in Meschede. Wie lässt sich diese Stadt erzählen? Ich kann es nur sehr indirekt. Denn lediglich einen einzigen Tag verbrachte ich dort, das war der Tag meiner Geburt. Dass in mei­ nem Ausweis „HSK“ stand, betrachtete ich jahrelang als einen mir unverständlichen Behördenvermerk. Bis ich – erst Mitte der Neunziger! – mitbekam, was das heißt: „Hochsauerlandkreis.“ Als ich um die Jahrtausendwende herum Schauspieldirektor in Kassel war, fuhr ich mit meiner Freundin hin. Aber zehn Kilome­ ter vor Meschede endete zu unserer Überraschung die Auto­ bahn. Die Stadt schien abgeschnitten von der Welt. Sie schnitt mir den Weg ab. Wollte sie meinen Besuch verhindern? (Lacht.) Ich reagierte beleidigt, wir drehten um. Wikipedia vermeldet unter den prominenten „Söhnen und Töchtern“ Meschedes den Maler August Macke – und Armin Petras! Sie meinen, ich solle nicht ungerecht sein und das mit der Auto­ bahn nicht so persönlich nehmen? Einverstanden. Welche Farben hatte Ihre Kindheit? Alle Farben. Wie es Brecht sagte: Ihm sei jede Farbe recht, Hauptsache – grau. Im Grau wird alles Schwarzweiß zur Farbe.

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Bei Goethe ist das Licht pur und unfassbar wie der absolute Geist. Um sichtbar zu werden, muss das Licht in die Materie ein­ dringen. So entstehen Farben und Formen. So entsteht eine ­Mischung aus Licht und Finsternis. Grau ist die Grundfarbe des Mischens, ein Sinnbild des Geschaffenen und damit die Farbe der Endlichkeit, denn alles, was geschaffen wird, ist begrenzt, ist zum Verwittern freigegeben. Petras’ Farbenlehre. Chapeau! Im Grau kommt alles hervor, im Grau verschwindet alles. Und kommt wieder hervor. Das Folgende kennen Sie bestimmt: Am 6. Dezember 1968, bei einer Pressekonferenz in Ost-Berlin mit 200 Journalisten, wird eine Erklärung von Dr. rer. nat. Ehrenfried Petras verlesen, ehemals Leiter des Labors für Mikrobiologie des westdeutschen Institutes für Aerobiologie in Grafschaft/Sauerland: „Meine Damen und Herren! Aus meinem Interview mit dem Deutschen Fernsehfunk ist Ihnen bekannt, dass ich durch meine neunjährige Tätigkeit im Institut umfangreiche Kenntnisse über die Vorbereitung der B- und C-Kriegführung in der westdeutschen Bundesrepublik erhalten habe. Das westdeutsche militärische Forschungspotential auf dem B- und C-Waffen-Sektor umfasst eine ganze Palette hochpathogener Mikroorganismen und Virusaerosole, der V-Stoffe, G-Gase, Toxine, psychoaktiven Kampfstoffe, Algogene und der phytotoxischen Kampfstoffe. Das gegenwärtige westdeutsche Rüstungsprogramm auf dem B- und C-Waffen-Sektor wird als ein straff organisiertes System der Forschung, Testung und Produktionsvorbereitung unter der Leitung des Bundesverteidigungsministeriums durchgesetzt.“ Der Westen reagierte aufgestört, Bonn geriet gegenüber den westlichen Alliierten in Erklärungsnot. Die Wahrheit blieb im Nebel. Sehr viel später, so „Der Spiegel“, enthüllte „ein in den Westen übergelaufener Offizier des Ministeri­ ums für Staatssicherheit, dass der Auftritt des Wissenschaftlers Teil einer von langer Hand geplanten Desinformationskampagne der Stasi war – in die Ehrenfried Petras vermutlich gar nicht ein-

DDR-Spion im Westen

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geweiht war.“ In Bonn mussten sich Minister den westlichen ­Alliierten erklären. Briten und UNO schickten Untersuchungskommissionen ins Sauerland. Doch Indizien für ein geheimes ­Rüstungsprogramm fanden sie nicht. Mein Vater hatte sich als Student in Jena anwerben lassen und war – mit Auftrag – in den Westen gegangen. Am Ende war er ein gebrochener Mensch, man hatte ihn fallenlassen, und er fiel. Ihr Vater war mit Familie, also auch mit Sohn Armin, kurz bevor er als Spion aufflog, in die DDR geflohen. Können Sie sich an diese Flucht erinnern? Konkret? Nein. Ich war zu jung. Es war im November 1969 und früher Morgen. Wir flogen nach Helsinki, dann nach Moskau und von dort nach Ost-Berlin. Sehr fraglich, dass mir das Wort Flucht damals schon so richtig bewusst war. Ich habe nur noch den Frankfurter Flughafen vor Augen.

Ostberlin: ein Kaufhaus für Kinder

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Eine Kindheit in der DDR. Woran denken Sie spontan? Unvergesslich ist mir das „Haus des Kindes“ in der Berliner KarlMarx-Allee. Ein riesiges Kaufhaus – gefüllt nur mit Dingen für Kinder allen Alters. Die Buntheit dort überstieg das, was ich aus dem Westen kannte. Begeisterung über andere Sachen in der DDR kam allerdings gar nicht erst auf, denn schon in der 3. Klasse wurde mir von Mitschülern bescheinigt, ich sei ein Idiot: Jeder hier wolle in den Westen, und ich sei den umgekehrten Weg ge­ gangen. Kopfschütteln, Auslachen. Schon komisch, derart früh so heftig abgekanzelt zu werden. Naturgemäß wusste ich das nicht einzuordnen, und erklärt hat es mir auch niemand. Meine Eltern schon gar nicht. Der Vater war verschwunden, als ich neun war: Krankenhäuser, Psychiatrien, schließlich der Tod. Er hatte im Neubaublock, in dem wir wohnten, an der äußersten Ecke von Friedrichshain, die Schach-AG geleitet. Die gehören überhaupt zu den stärksten Erinnerungen an meine Kindheit: diese zahlreichen Arbeitsgemeinschaften im Haus. Man sah den Leuten an: eine gern geleistete Arbeit, um Nähe, Bindung, Zusammenhalt herzustellen. Und es funktionierte. Heute un­


denkbar. Es war natürlich auch das Produkt einer rührenden Vorstellung von Kommunismus: sinnvoll zu sein und möglichst viele einzubeziehen. So etwas wie ein Gegenteil zur antiautoritären „Erziehung“ im Westen, bei der Kinder kaum gelenkt werden, bei der um Gottes willen nichts von „oben“ organisiert und strukturiert wird. Hans Jonas’ Buch „Das Prinzip Verantwortung“ zitiert eine Kinderfrage aus einem fortschrittlichen, freidenkerischen US-amerikanischen Kindergarten. Ein Kind fragt plötzlich: „Muss ich denn immer spielen, was ich möchte? Darf ich nicht auch mal spielen, was ich soll?“ Aber die vernünftig organisierte Freizeit in der DDR – sie war doch auch ein System, ein Instrument des Staates, um prin­ zipiell Disziplin und Ordnung unter die Leute zu bringen. Ja, mag sein, natürlich wollte man in allen Bereichen die ­Kontrolle über das haben, was die Leute tun. Aber wer das heute einzig nur verspottet, ist schlichtweg dumm. War doch toll, in einem Haus zu wohnen, wo man Schach und Fotografie lernen konnte. Klar, auf junge Leute wirkte es als Fortsetzung der ­Schule mit anderen Mitteln. Und natürlich bin ich mit siebzehn ausgezogen, auch ich fühlte mich zwangsbeglückt, aber andere fühlten sich bestätigt und aus der Langeweile gerissen. Ich eine Weile auch. Gingen Sie gern zur Schule? Unglaublich gern (lacht). Ich sah sie nicht als erzieherische Insti­ tution, sondern als einen angenehmen Ort, auch wenn ich immer weniger hinging. Bei uns daheim war ja niemand, meine Mutter kam erst abends gegen sechs nach Hause. Wahrscheinlich war ich der einzige Schüler, der in sämtlichen Arbeitsgemeinschaften aktiv mitarbeitete – vom Schulgarten bis zur Astronomie. Das Abitur legten Sie an der 2. Erweiterten Oberschule Berlin-­ Mitte ab, man nannte diese Schule das Rote Kloster. Mitschüler waren zum Beispiel die Tochter von Schalck-Golod­ kowski; auch Thomas, der Sohn des bekannten Dirigenten Günther

Abitur im „Roten Kloster“

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Herbig, ging in meine Klasse – heute ist er Chef der größten Sternwarte in den USA. Nur anderthalb Jahre studierte ich im Osten, Regieinstitut der Ernst-Busch-Schule, der Chef hieß Man­ fred Wekwerth, Intendant am Berliner Ensemble. Auch Wolf­ gang Engler lehrte dort, heute würde ich sagen, mein einziger wirklicher Lehrer. Aber: keine Abschlüsse, so, wie ich auch keine Berufsausbildung habe. Lediglich eine Trainerlizenz für Jugend­ fußball besitze ich, für Spieler bis vierzehn Jahre, die erwarb ich bei der Armee. Ich weiß gar nicht, ob die heute noch gültig ist. Na ja, und dann ging ich in den Westen. Waren Ihre Eltern eins mit sich? Nein. Wie blicken Sie auf deren Bild? Bei meinem Vater sehe ich das Bild eines Mannes, der tat, was er tun musste. Ich habe ihn nur als einen leidenden Menschen ­erlebt. Erlebt? Nein, nicht wirklich erlebt. Wie gesagt, er war im Grunde gar nicht vorhanden für mich. Gab es eine politische Familientradition? Der Vater meines Vaters wurde von den Faschisten zu Tode ge­ prügelt. Er war ein liberaler schlesischer Gymnasialdirektor, der jüdische Kinder nicht rauswarf aus seiner Schule. Das war der Ausgangspunkt dafür, dass mein Vater und sein älterer Bruder konsequente Antifaschisten wurden – und es blieben. Ein Leben lang. Dieser ältere Bruder meines Vaters war DKP-Mitglied, er lebte schon immer im Westen, er war ein sehr guter Lehrer, diese pädagogische Qualität rettete ihn in der BRD vor dem Berufs­ verbot. Er stand in Konfrontation zu meinem Vater, denn er hielt ihn für einen Kapitalistenknecht. Der in den Westen gekommen war, den er selber hasste. Er durfte ja nicht erfahren, dass sein Bruder auf der gleichen Seite der Front kämpfte wie er selbst, nur eben auf einem anderen Posten. Als es herauskam und wir in der DDR lebten, war er zutiefst gekränkt. Er hat meinem ­Vater, der ihn nicht einweihen durfte, erst verziehen, als der

Das Drama der Brüder

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­ estorben war. Die Beziehung dieser beiden Brüder hatte eine g tragische, dramatische Struktur. Meine Mutter glich einer un­ schuldig Verschleppten. Sie wusste und litt: Ihr Mann war mit seiner politischen Aufgabe absolut überfordert. Die unglück­ liche Lage meiner Eltern war vielleicht ein Grund, warum Lite­ ratur so wichtig für mich wurde. Plötzlich werden dir Bücher zu Erziehungsberechtigten, und du lässt dir das gern gefallen, denn Literatur hat nichts mit dieser peinigenden realen Erzie­ hung zu tun. Bezeichnen Sie Ihren Vater als Kundschafter oder als Spion? Ich verwende beide Begriffe, je nach Gesprächslage und Partner. Beide Bezeichnungen gehören zusammen, sie sind beide so richtig, wie sie beide falsch sind, sie sind kontaminiert. Haben Sie gegen Ihr politisches Elternhaus rebelliert? Das war oft mein Problem: gegen das zu sein, was ich schätze. Ich nehme an, Ihr Zuhause war geprägt von beträchtlicher politischer Strenge – und Sie haben darunter gelitten. Trotz Kinderkaufhaus und Arbeitsgemeinschaften. Ach ... Gelitten ... Was heißt das ... Meine Eltern haben doch unter dem, was sie auf sich nahmen und in Anbetracht dessen, was aus dieser Idee Sozialismus wurde, weit mehr gelitten. Hab mal ein Ideal! Viel Spaß!, kann man da nur wünschen. Ich kann mir nicht anmaßen, eine Vergleichbarkeit zu meinen eigenen Konflikten herzustellen.

„Hab’ mal ein Ideal! Viel Spaß!“

Sie haben den Eltern nie Vorwürfe gemacht? Etwa, was die besagte politische Idee betraf? Nein, erstens war es nicht meine Idee, ich hatte mit dieser Idee nicht wirklich zu tun, und zum anderen: Was sollte ich ihnen denn vorwerfen? Im Verhältnis zu dem, was der Mensch richtig macht, begeht er doch tausend Mal mehr Fehler. Immer. Und zwar jeder Mensch. Zu jeder Zeit. Diesem Missverhältnis sind wir alle ausgeliefert.

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„Ich war ein Punk fürs Wochenende“

Ihre Mutter hatte es bestimmt schwer mit Ihnen. Ja. Es bewegten sich zwei Katastrophen auf mich zu: die Krise des Elternhauses und die Krise des Landes. Die Lösung hieß: Punk. Ich hörte Clash und die Sex Pistols. Ich war ein Wochen­ end-Punk. Punk? Ich denke an den Dichter Wolfgang Hilbig und seinen Unterricht in Sachen politischer Psychologie: „ihr habt mir geld aufgespart / lieber stehle ich. // ihr habt mir einen weg gebahnt /  ich schlag mich durchs gestrüpp seitlich des wegs. // sagtet ihr man soll allein gehen / würd ich gehn / mit euch.“ Es gibt diese vertrackte jugendliche Logik: Du willst geborgen, aber nicht bevormundet sein. Punk war für mich einfach der ­Wille, und das greift schon nach meinem Antrieb als sehr junger Regisseur, nicht Produkt einer fremden Geschichte zu werden. Ich wollte nicht, dass sich diese Tragödie meiner Eltern, befeuert von Ideologie, wie eine erstickende Decke über meine Biografie wirft. Ich merkte, wie ich mehr und mehr aus Abwehr bestand. Viel­ leicht war das unsouverän, ich weiß es nicht, es ist mir auch egal.

In der S-Bahn ein GoschPlakat

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Stimmt es, dass ein Volksbühnen-Plakat einen Theater-Impuls auslöste, lange bevor Sie eine Aufführung sahen? Unsere Schul-Clique fuhr regelmäßig raus, etwa nach Erkner, ich war ja sozusagen Frühalkoholiker (lacht), mit fünfzehn, das wurde von Sportschule und Armee unterbrochen, jetzt bin ich nur noch Gewohnheitstrinker – also, wir machten ausgedehnte Reisen an den Rand von Berlin, fuhren bis zur S-Bahn-End­ station, und sozusagen erst bei Sendeschluss oder besser ge­ sagt: Ausschankschluss ging es zurück in die Stadt. Die S-Bah­ nen hatten damals Holzbänke, und an den Waggon-Wänden hing in Holzrahmen auch Theaterwerbung. Da sah ich dieses Volksbühnen-Plakat, es war die Ankündigung einer Gosch-­ Inszenierung, „Leonce und Lena“. Ich habe die Aufführung nie gesehen, aber das Bild ging mir nicht mehr aus dem Kopf, es wurde für mich zum Inbegriff einer fremden, lockenden Welt. Das Plakat zeigte die Sitzfläche eines Stuhls, darauf häufte sich


Sand zu einer Pyramide. Was war das denn? Sand, der uns den Platz wegnimmt? Heute ein Stuhl, morgen die Welt – alles wird verwehen? Sand auf dem Stuhl ist der Sand im Getriebe? Sand, bald würde er auch uns zwischen den Zähnen knirschen? Keine gute Aussicht ... Das sind meine jetzigen herbeigeholten Nach­ interpretationen, nicht die Gedanken von damals. Oder doch? Jedenfalls rumorte es in mir, etwas Unbegreifliches nahm Besitz von mir. Vielleicht sickerte der Sand aus dem Plakat in mein Unterbewusstsein, wie eine Wanderdüne, auf der es mich zum Theater treiben würde. (Lacht wieder.) Ein Plakat reicht doch aber nicht für den Wunsch, sein Leben im Lager der Lustigen Personen zu verbringen ... Siebzehn war ich. Im Urlaub trampte ich vom bulgarischen ­Sosopol bis nahe heran an die griechische Grenze. Weiter ent­ fernt von der DDR konnte man, auf erlaubtem Wege, nicht sein. Einmal stand ich sechs Stunden am Straßenrand, ohne dass mich jemand mitnahm. Ich las zu jenen Tagen die Biografie Fassbinders, und in dieser elenden Wartezeit wurde mir mit jeder Seite, die ich las, klarer: Ich werde Filmregisseur! Meinen ersten Assistenz-Job bekam ich dann beim Fernsehen der DDR, in der Abteilung Heitere Dramatik. Dort wurden die Schwänke insze­ niert, mit Herbert Köfer und Gerd E. Schäfer. Oft bin ich hinüber in den Ballettsaal gegangen und schaute den Tänzerinnen zu. War nicht so langweilig. Und sah auch besser aus. Immerhin: Das Fernsehen delegierte mich zum Studium nach Babelsberg, an die Filmhochschule. Ich bin dahin und habe gesagt, ich hätte vor Beginn all der Prüfungen und Prozeduren nur eine einzige Frage: wie viele Regisseure es bei der DEFA gebe und wie viele Filme pro Jahr gedreht würden. Man sah mich erstaunt an, zur Antwort erhielt ich: Knapp über hundert Regisseure und so sie­ ben bis neun Filme im Jahr. Diese Auskunft beendete meine Filmkarriere, noch ehe sie begonnen hatte. Ich ging.

Im Sog von Fassbinder

Fußball-Weltmeister wollten Sie werden – erfahrungsgemäß hat jede frühe Lebensphase ihren eigenen Zukunftstraum, der nie in

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Erfüllung geht und just deshalb so nachdrücklich im Gedächtnis bleibt. Was aber folgte den sportlichen Sehnsüchten? Mein nächster Wunsch war ein Landleben als Arzt – und Schrift­ steller. Diese zwei Dinge. Wie Tschechow. Ich hatte dann einen Studienplatz für Medizin – und einen für Germanistik. In dem einen Fach wurde alle zwei Jahre, im anderen alle drei Jahre im­ matrikuliert. Ewigkeiten. Dazwischen lag die Armeezeit. Mein Glück war: Ich arbeitete im Med-Punkt und dann in der Biblio­ thek, in Hagenow. Das war eine Fußball-Hochburg, „Vorwärts“ Hagenow spielte in der 2. Liga. Auch ich spielte Fußball und ver­ letzte mich wieder, schon beim ersten Training. Ich hab dann die Kinder der „Säcke“ trainiert, also die Söhne der Offiziere. Und bei der Armee fing im wahren Sinn des Wortes das Theater an. Zwei Soldaten, die schon für die Schauspielschule immatrikuliert ­waren, probten und baten mich, ich solle doch mal draufschauen, was sie so einstudierten. Nee, sagte ich – und hab dann doch draufgeschaut. Sie probten im Kulturhaus. Bei irgend einem Fest­ programm führten sie ihre Szenen vor, im Publikum saßen die „Säcke“ und viele Soldaten. Einer der Zuschauer schrie vor zur Bühne: „Mach schneller, du Hinterlader!“ Es war irgendwie sau­ komisch. Hinterher nicht mehr. Wir kamen nach Schwedt, ins Straflager. Denn gespielt hatten die beiden ein pazifistisches Stück von Fernando Arrabal, „Picknick im Felde“. Das lief voll gegen die herrschende Ideologie. Dass ich da mit reingerissen wurde, fand ich unverschämt – weder hatte ich das Stück aus­ gesucht, noch spielte ich mit. Wenigstens kam ich nicht ins Ge­ fängnis, sondern in eine Strafkompanie. Die war dem Petrol­ chemischen Kombinat Schwedt angegliedert, dort mussten wir ausrücken zur Arbeit. Als Neunzehnjähriger geriet ich in eine Bri­ gade von 32 Frauen – ich, der dünne blonde Fußballer. Um sechs begann die Schicht, bis zwölf machte ich die Arbeit mit, dann las ich drei Stunden in der Werksbibliothek, die Frauen erlaubten mir das. Proletarische Solidarität. In den Schränken standen Bücher, die noch nie jemand angefasst, g ­ eschweige denn gelesen hatte. Brecht, Barlach, Georg Kaiser, Stanislawski. Ein halbes Jahr hatte ich ausgiebig zu tun mit weiblicher Anatomie und Kunsttheorie.

Trainer für die Kinder der „Säcke“

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Die Armee wollte mir gewissermaßen das Theater austreiben, noch ehe ich es richtig kennengelernt hatte, und ich dachte: Jetzt erst recht! Wenn man so schnell Wirkung erzielt mit Theater, wenn man damit der Politik aufs Dach steigen kann, dann pro­ biere ich das mal. So landete ich im Regieinstitut. Dort waren wir sehr wenige Studenten, vielleicht sieben – für uns arbeiteten um die achtzehn Dozenten. Luxuriöse Bedingungen. Der Tschechow-Traum war ausgeträumt, das Interesse am Theater geweckt. Sie schauten sich bestimmt auch Aufführungen an, was blieb im Gedächtnis? Während der Armeezeit hatte ich das erste Theater-Erlebnis, meine Freundin holte mich ab, wir fuhren nach Schwerin. Dort lief das Antike-Projekt von Christoph Schroth, mit Horst Kotterba und Axel Werner. Später sah ich an der Volksbühne in Berlin „Die Bauern“ von Heiner Müller, wir sollten für die Hochschule ein Kunstwerk besprechen, die Zeit für einen Roman hatte ich nicht, also ging ich ins Theater. Regie führte Fritz Marquardt.

Schroth und Marquardt

Hatten Sie je eine Beziehung zu Fritz Marquardt? Persönlich? Nein, aber ich habe später in Kassel seinen Text „Widder im Dornbusch“ inszeniert, gekoppelt mit einem Stück von Martin Walser. Ein hochgradiger Misserfolg. „Widder im Dornbusch“ ist eine starke Dosis Literatur. Bei Wolfgang Heise hatte Marquardt Philosophie studiert, er empfand das Studium mit dieser ganzen marxistischen „Philosophie-Scheiße“ – wie vorher schon die Arbeiter- und Bauernfakultät – als eine „Art Funktionärsausbildung“. „Widder im Dornbusch“ widerspiegelt diese ABF-Erfahrung; nach Worten Heiner Müllers das „wahrhaftige, weil glaubens­ freie“ Gegenteil eines „Schelmenromans“ ... Wie ihn Hermann Kant – apologetisch! – mit der „Aula“ schrieb. Marquardts Text dokumentiert, so Müller, „den Sprung aus einer Diktatur, über den Abgrund Sibirien, in die nächste andere“.

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Lang, dann Winkelgrund, Hawemann

Nach der Wende wird Marquardt einer vom mehrköpfigen Direktorium am Berliner Ensemble, mit Müller, Palitzsch, Zadek. Es war die Zeit, da Sie am Berliner Ensemble Trolles „Baugrube“ inszenierten. Peter Palitzsch erzählte von der ersten Vorbereitungs­ sitzung bei Peter Zadek im italienischen Lucca: „Beim Eintreffen von Marquardt reagierte Zadek auf den fremden Ankömmling wie auf einen Ureinwohner Australiens.“ Da traf West auf Ost. Ost, das war Sibirien oder eben Australien. – Wer waren Ihre Vorbilder? Leute, die bei Ihnen Begeisterung auslösten? Ganz früh Alexander Lang. Auch Rolf Winkelgrund war mir sehr nah. Großartig diese sensiblen Sachen, die er inszenierte. Ein Meister der Zartheit und des Schmalen. Dass ich später Inten­ dant am gleichen Haus sein durfte, an dem er gearbeitet hatte, am Gorki, das machte was mit mir. Wie genial er alle diese ­Räume bespielt hatte. Und dann Horst Hawemann: Er war zu DDR-Zeiten so etwas wie ein Giorgio Strehler für Kinder: Thea­ ter als Spiel als Spiel als Spiel – mit Fantasie und Verfremdung. Nicht zufällig war er stets ein Regisseur der Jungen, der Studenten, der selber noch Suchenden. „Troilus und Cressida“ im 3. Stock der Volksbühne! Großartig. Fasziniert schauten Sie später auf Christoph Schlingensief und seine Arbeiten an der Volksbühne. Ich bewundere, wie er Gedanken in Bilder umsetzt, wie er sich selber als Material begreift, ohne sich abschließend in den Griff zu kriegen. Er war ein Seiteneinsteiger, wie Marthaler, der Musi­ ker, oder Castorf, der Dramaturg. Bei einem Theatertreffen in Berlin wurde ich gefragt, wen man noch hätte nominieren müs­ sen bei den alljährlich zehn Ausgewählten. Ich sagte: zehnmal Schlingensief! Da wurde pikiert geguckt, als hätte ich die ver­ sammelte Kollegenschaft beleidigt. Ist auch so eine verbreitete Eigenschaft, die ich nicht verstehe: dieses postwendende Ein­ geschnapptsein. Bei Schlingensief geht es mir wie bei Maria Callas oder Rio Reiser, Heiner Müller, Einar Schleef. Sie alle ­haben mir eine Tür geöffnet. Sie haben mit ihren Körpern, Kämpfen, Gedanken, Seelen eine andere Welt erobert, in die ich

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ab und an eintreten kann, um mich dort aufzuhalten. Sie haben mir etwas geschenkt, was ich zu verteidigen suche. Dieses Ge­ schenk ist das Wertvollste, was ich je erhalten habe: Blicke. Sie sprachen eben von Schlingensief – in Gegenwartsform. Er ist gestorben. Nein. Nicht gestorben und tot schon gar nicht. Sie haben auch Frank Castorf erwähnt. Wieder wegen der – Freiheit. Was sein Theater lange Zeit so un­ angestrengt und unverschämt ausstrahlte, war ein Gegensatz zu dieser öden Schein-Freiheit, die sich alle herausnehmen, ohne dass dabei Charakter entsteht oder sich offenbart. Das Wort „frei“ ohne jede Bewertung oder nähere Kennung aus­ gesprochen: Frank ist einfach nur – frei. Also frech.

Castorf: Freiheit, Frechheit

Es ist die Energie der nicht entfremdeten Arbeit. Genau. Leben heißt, verbraucht zu werden. Schön, wenn man nach seinen Fähigkeiten verbraucht wird. Das versuche ich mir täglich bewusst zu halten. Zu den Philosophen, die ich gern lese, gehört Michel Foucault. Er sagte, sinngemäß: Wenn ich mor­ gens aufwache, muss ich mir überlegen, auf welcher Seite des Krieges, auf welcher Seite der Front ich stehe. Denn Leben ist eine Reihung von Schlachten. Schlachten bestehen aus sich ver­ ändernden Frontverläufen. Wir bewegen uns in unserem Leben dauernd von einem Krieg zu einem anderen. Es fiel schon oft das Wort vom Kampf. Ja, woher kommen wir, wo kämpfen wir uns hin, durch was kämpfen wir uns hindurch? Kunst kann da als Kompass lebens­ rettend sein. Standpunkt ist daher kein Zustand, Standpunkt ist ein Tätigkeitswort – wohin werde ich heute gehen, wem bei­ pflichten, wem beistehen? Lasse ich mich begeistern, lasse ich mich hinunterziehen? Welche Aufbaukräfte, welche Abwehr­ kräfte rufe ich heute in mir auf, wie teile ich sie mir ein, diese Kräfte? Was ist mein Ort? Wer bin ich gerade? Alter weißer

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Mann? Ostler? Dramatiker? Vater? Liebender? Verlierer? Ver­ sager? Verletzter? Dinosaurier? Running Man? Bin ich an der Seite der Entrechteten oder bin ich Besserverdienender? Was drückt mir Stempel auf? Wem weiche ich aus, wem wende ich mich zu? Für mich ist die Probe die einzig helfende Existenzweise. Die Probe ... Sie sagen: Ihr Sehnsuchtsort. ´ Eher mein Diskursraum. Die Schauspielerin Cristin König nennt Sie „Splittermensch“ und beschreibt Arbeit mit Ihnen so: „was denn, kein partner da auf der probe. egal. es gibt doch hospitanten, wenn nicht, stell sie dir vor. die anderen. kein probenraum da. egal. wir probieren im gang, auf dem dach, im keller, im leeren zimmer, zwei mal zwei meter, ist doch ganz anders eigentlich, egal, stell es dir vor. hauptsache, man kann die türen schließen. und spielt. und los. los spiel. rein da. in die situation.“ Jede Probe ist eine Art Malerwerkstatt. Wobei Cristin eine tolle Form von Begrüßungsritual hatte ... Eigentlich jede zweite Probe schickte sie eine Hospitanten zu DM oder Rossmann, um eine neue Lesebrille für 2 Euro zu holen.

Den Malern gehört die Probe

Die Schauspieler sind blinde Maler, sie stehen nicht vor der Palette, sie sind selber Palette, Farbe, Werkzeug. Sie sind die guten Geister, die schöpfen, die mit malen am Bild, die es verändern, es überhaupt erst schaffen. Sie sind das Bild. Eine Probe leben, von ihr gelebt zu werden – was heißt das? Grob gesagt: Es muss was passieren. Sie lieben es noch immer, auch als Zuschauer ins Theater zu gehen. Nicht jedermanns Art, der als Regisseur arbeitet. Wie viel von dem, was man sah, bleibt? Nennen Sie, was Ihnen spontan einfällt. Spontan? Nein, da gibt es fest im Gedächtnis Eingeschreintes (lacht). Frank Castorfs „Räuber“, „Die Weber“, „Die Soldaten“ von Lenz. Nicolas Stemanns „Käthchen“, da hat die Hauptdar­

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stellerin einfach durchgeheult, zwei Stunden, kein einziger Hal­ tungswechsel. Borgmanns „Tod eines Handlungsreisenden“, Peter Kurth: genial. Luk Percevals „Turista“ an der Schaubühne, die Spieler rannten einfach nur ’ne Stunde motorisch um einen Bretter-Kegel. Frühe Sachen von Johan Simons, „Plattform“, „Fall der Götter“. Von Pina Bausch alles, dann die halbe Stunde von Schleef/Hochhuths „Wessis in Weimar“ am BE, wo Jungs Fußball gespielt haben, Andreas Kriegenburgs „I Hired A Contract Killer“ in Hannover, Alexander Langs „Rundköpfe und Spitzköpfe“ am DT, Peter Kastenmüllers „Die Gerechten“ in Nordhausen – Taran­ tino live, Sebastian Baumgartens „Requiem“ von Mozart in der Komischen Oper – die Toten auf dem Fließband. Wolfgang Engels „La Guerra“, die Schauspieler proben Krieg. Andrej Sholdaks „Ros­ mersholm“. Von Christoph Schlingensief eigentlich alles, beson­ ders „Obst & Gemüse, A. Hipler“ an der Volksbühne. Ich fühlte mich da nicht im Theater, sondern neunzig Minuten im flirren­ den, gemüsebunten Ausnahmezustand zwischen Voyeurismus und Tiefenforschung. Die an ALS erkrankte Dramaturgin Angela Jansen lag im Parkett in einem Pflegebett. Von dort aus schrieb sie mit einem Computersystem, das per Augenbewegung die Tastatur steuert, einen Wahnsinnssatz: „Es fehlt mir nichts. Nur kann ich mich nicht bewegen.“ In der Brüsseler Oper sah ich die „Kindertotenlieder“ von Mahler. Zweitausend Zuschauer applau­ dierten dem Orchester. Dann war Pause. Ich wunderte mich schon, dass Orchestermitglieder mit ihren Instrumentenkästen das Haus verließen. Aber im zweiten Teil dann traten keine ­Musiker mehr auf, nur die Choreographin Anne Teresa De Keers­ maeker und ein Tänzerkollege. Sie konnten nicht singen, aber sie sangen. Sie sangen nicht, sie trainierten das Singen. Es war Weltklasse, wie sich ein Opernhaus leerte. Ich hatte Tränen in den Augen, und zwar vor Weinen und vor Lachen ... Krankheit, Kinder, Kunst, der Wille und die Ohnmacht, etwas zu fassen, dem man nicht gewachsen ist. Ich bin gern im Theater, wenn mir jemand wirklich was sagen kann. Und zwar über mein eige­ nes Leben, dessen Ungereimtheiten. Allgemeine Urteile, gut oder schlecht, sind mir scheißegal.

„Meine Hitparade“

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Herr Petras, wie gehen Sie als Regisseur mit Fehlbesetzungen um? Ich versuche natürlich, sie zu vermeiden. Wer nicht. Auf jeden Fall habe bei einer Fehlbesetzung immer nur ich einen Fehler gemacht, nicht der betreffende Schauspieler oder die Schau­ spielerin. Wenn es für jemanden auf der Bühne zu schwer und für mich die Konstellation unmöglich würde – ich bemühte mich mit allen Kräften, nicht umzubesetzen. Ich würde meine Empfindung möglichst verschweigen. Es gibt Tricks, beim Text, beim Arrangement. Was ist das Wichtigste an der Arbeit an Schauspielern? Phantasie tauschen. Was bedeutet in diesem Zusammenhang schauspielerische Freiheit? Sich nicht nur fortwährend mit der Rekonstruktion von Hal­ tungen zu begnügen, die eh schon im Text enthalten sind, ­vorausgesetzt natürlich, dass man sie zur Kenntnis genom­ men hat.

Depression, Langeweile

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Weiterspielen, über den Text hinaus. Die Nähe zum Text ist der Ausgangs-, nicht der gleichsam zum Gesetz erhobene Endpunkt. Das Theater ist ein Laborato­ rium, in dem wir uns aber mit der Außenwelt beschäftigen müssen. Und von da kommen Einflüsse, denen ich mich nicht entziehe. Im übrigen hab’ ich immer auch das Bedürfnis nach einem Publikum, das üblicherweise nicht ins Theater geht. Immerhin ist von einer „Othello“-Besucherin in Kassel der Satz überliefert, sie hätte gar nicht gewusst, dass so viele Ju­ gendliche in der Stadt leben ... Ich kann nicht Theater denken, ohne ans Leben zu denken, an Depression, an Langeweile und an das Angeekeltsein – alles Dinge, die diese Welt leider sehr oft ausmachen. Mir flutscht und funktioniert Theater oft zu sehr. Viele Menschen wollen das Theater aber leider so. Mich verletzt das.


Sie verletzen mit Ihren Inszenierungen auch. Ja, und dann wird eben zurückverletzt. Hat wohl seine Richtig­ keit so. Ich arbeite oft aus der Verzweiflung heraus weiter, bei der jeweils letzten Inszenierung wieder versagt zu haben und wahrscheinlich zu Recht verrissen worden zu sein. Aber das ist keine andere Verzweiflung als die, aus der heraus ich generell lebe. Von Unfall zu Unfall. Mir fällt da immer gleich „Herzog Theodor von Gothland“ ein, in Kassel. Das wollte einfach nie­ mand sehen. Vielleicht waren wir fünfzehn Jahre zu früh, ob­ wohl es die Flüchtlingshölle Lampedusa damals schon gab. Schleef sagt : „Scheitern. Und dann? Weiter scheitern.“

Szene Die stillen Trabanten, Regie: Armin Petras, Deutsches Theater Berlin 2018 „Dann wird eben zurückverletzt“

Wie Sie das sagen: „... wird eben zurückverletzt.“ Es ist interessant, dass Sie zu Ihrer Inszenierung „Die stillen Trabanten“, nach Erzählungen von Clemens Meyer 2018 am Deutschen Theater, sagten: Die Sensation sei, dass Meyer seine Aufmerksamkeit derart unscheinbaren Figuren widmete. „Ich war selbst überrascht, wie sehr mich diese Erzählungen getroffen haben, weil sie so anders, so vorsichtig sind. Ich fühlte mich schuldig, selbst so lange zu aggressiv in die andere Richtung gegangen zu sein.“

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Dass ein Mensch unscheinbar ist, stimmt ja nie. Jeder Mensch hat einen Schein. Kein’ Heiligenschein, aber doch: Strahlung. Plötzlich kommst du in Situationen, in denen du keinen Kredit mehr bekommst. Du drohst zu verlöschen. Deine Unsicherheit, deine Stummheit werden nicht wahrgenommen. Das wurde mir in den Erzählungen Meyers erschütternd bewusst. Ich be­ kam ein ganz neues Empfinden für leise Töne.

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Zu 5 MORGEN Von Fritz Kater

1. „In der Nacht des 14. März 1939 träumte Jaromir Hladik, Autor der unvollendeten Tragödie ,Die Feinde‘, einer ,Rechtfertigung der Ewigkeit‘ und einer Untersuchung der indirekten jüdischen Quellen bei Jakob Böhme, in einer Wohnung in der Zeltnergasse in Prag von einer großen Schachpartie.“ So lautet der erste Satz von Jorge Luis Borges’ achtseitiger Erzählung „Das geheime Wunder“. Die Handlung ist schnell ­erzählt. Hladik wird vier Tage nach dem Einmarsch der Nazis ­denunziert. Er wird umgehend verhaftet, und es gelingt ihm nicht, auch nur eine der Anschuldigungen gegen ihn zu wider­ legen. Er ist Jude, und er hat einen Aufruf gegen die Besatzer unterschrieben. Kurz darauf wird er zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung wird auf den 29. März 9 Uhr morgens fest­ gesetzt. Borges beschreibt die innere Situation seines Protago­ nisten wie folgt: „In diesen Elendsnächten suchte er auf irgend­ eine Weise in der flüchtigen Substanz der Zeit Halt zu finden. Er wusste, dass diese auf die Morgendämmerung des 29. zustürz­ te; laut mit sich selbst sprechend überlegte er: ,Jetzt lebe ich in der Nacht des 22.; solange diese Nacht dauert (und noch wei­ tere sechs Nächte), bin ich unverwundbar, unsterblich.‘“ Jaromir Hladik, so vermerkt Borges, ist ein völlig unbekannter Autor, der die vierzig überschritten hat. Abgesehen von einigen wenigen und scheinbar verhaltenen Freundschaften „machte die problematische Ausübung der Literatur sein Leben aus“. Leider sah die Realität aber so aus, dass „alle Bücher, die er in Druck gegeben hatte, ihm ein komplexes Reuegefühl“ einflößten. Seine bisherigen Bücher zeichneten sich aus durch „Nachlässig­ keit, Müdigkeit und Mutmaßung“. Es war vorwiegend „bloßer Fleiß maßgebend gewesen“. Diese Erkenntnis erschreckte und

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schockierte Hladik anscheinend mindestens so wie seine Fest­ nahme und Verurteilung durch die fremde Armee, denn es war so, dass lediglich ein Werk seiner kompletten schriftstelleri­ schen Tätigkeit seines bisherigen Lebens, das Drama „Die Fein­ de“, ihm gelungen schien. Es war das Einzige, was unter Um­ ständen von ihm Bestand haben könnte, von ihm als Menschen, und dass hieß natürlich in seinem Falle von ihm als Autor, als Schriftsteller. Die Sache hatte nur einen Haken: Er dachte daran, dass noch zwei Akte fehlten, und dass er sehr bald sterben wür­ de. Im Dunkeln redete er mit Gott. „Wenn ich auf irgend eine Weise existiere ... so existiere ich als der Autor von ,Die Feinde‘. Um dieses Drama zu vollenden, brauche ich noch ein Jahr. ­Gewähre mir diese Tage, du, dessen die Jahrhunderte sind und die Zeit.“ Es war die letzte Nacht im Leben Josef Hladiks und die schrecklichste. In seinem Traum geriet er in eine riesige Biblio­ thek; auf die Frage, was er hier suche, antwortete er dem blin­ den Bibliothekar: Gott. Ein anderer Leser kam in den Saal und gab mit einer Beschwerde „Dieser Atlas taugt nichts“ ein großes Buch zurück. Hladik öffnete das Buch irgendwo bei Indien und blieb mit dem Finger auf einem Buchstaben hängen. Da sprach eine Stimme zu ihm: „Die Zeit für deine Arbeit sei dir gewährt.“ Es war ohne Zweifel Gottes Stimme. Hladik wachte auf und ging zu seiner Erschießung. Ein Feldwebel brüllte so etwas wie den letzten Befehl. Da blieb das Universum stehen. „Die Gewehre waren auf Hladik gerichtet, aber die Männer, die ihn töten­ sollten, waren unbeweglich.“ Ein Wunder war geschehen, zwei­ felsohne hatte es Gott vollbracht, die Zeit blieb nicht stehen, sie war nur für die anderen angehalten worden, nicht für Hladik. „Das Blei der Deutschen würde ihn zur bestimmten Stunde­ töten, aber in seinem Geist würde ein Jahr vergehen zwischen dem Befehl zum Feuern und der Ausführung des Befehls.“ Hladik überarbeitete in seinem Kopf zweimal den dritten Akt, tilgte allzu offensichtliche Symbole, ja „er gewann schließ­ lich den Hof, die Kaserne lieb“. Dann nach einem Jahr Arbeit war der Autor fertig mit seinem Werk, es schien ihm nicht gerade

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überwältigend gut, aber doch ganz einfach gelungen, in dem was er erzählen wollte, sogar das passende Beiwort war ihm als letztes geglückt. Der Kreis hatte sich geschlossen, wie man zu sagen pflegt. „Jaromir Hladik starb am Morgen des 29. März, zwei Minu­ ten nach 9 Uhr. Die vierfache Salve warf ihn nieder.“ Wenn das Stück 5 MORGEN etwas sein will, dann eine Para­ phrase auf diese Erzählung von Borges und natürlich eine Ver­ beugung vor ihr. Und vor dem in diesem Text eindringlich be­ schriebenen Versuch, einmal im Leben „gültig“ zu sein, einmal etwas richtig zu machen, ein „Zeichen“ zu empfangen, eines zurückschicken zu können, in Zeiten der Katastrophe etwas ­anderes zu sehen als den Untergang. 2. In Borges’ Erzählung erfahren wir, wie das anscheinend möglich ist, einmal im Leben „gültig“ zu sein. Hier etwa im Angesicht des nahenden Todes, in einer Situation, in der der Mensch auf sich, auf sein Wichtigstes zurückgeworfen wird. Die Verknap­ pung der Zeit ist in 5 MORGEN und in Borges’ Geschichte ein Moment der Bewusstwerdung. 3. Nach Michel Foucault befindet sich die Menschheit in einem permanenten Zustand des Krieges. Für ihn ist somit die Ge­ schichte der Menschheit die Geschichte ihrer Kriege. In beiden literarischen Texten wird die Situation des Krieges/ Terrors durch einen unmittelbaren Angriff deutlich gemacht, die die Protagonisten veranlasst, Stellung zu beziehen. Foucault sagt dazu: „Je mehr ich mich aus der Mitte entferne, umso mehr sehe ich die Wahrheit. Je mehr ich das Kräfteverhältnis akzen­ tuiere, je mehr ich mich schlage, umso wirksamer wird sich die Wahrheit vor mir entfalten.“ Im Moment der Katastrophe/des Krieges liegt natürlicherweise die Gefahr der Zerstörung und des Unterganges, aber eben auch ein etwaiger Moment der ­Bewusstwerdung des Ichs als Krieger in einem Kampf und die

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Ortung der eigenen Position in diesem. Ich bin völlig einverstan­ den mit Foucaults These vom permanenten Krieg, in dem wir uns befinden, vor allem irritierend und dramatisch brauchbar scheint mir aber die Unübersichtlichkeit der Frontverläufe zu sein, die mäandernd lebenslang zu wechseln scheinen oder ganz verschwinden. Man könnte etwas sarkastisch sagen, dass ein ordentlicher Angriff des Gegners beim Auffinden der eige­ nen Frontlinie hilfreich sein kann. Wenn die Geschichte der Menschheit die Geschichte der Kriege ist, dann könnte das ­Drama die Kartographie dieser Schlachten darstellen. Und der Moment, den Gott mir schenkt, ist nichts weiter als das Zeichen zum Angriff, das Zeichen loszuschlagen, mit meiner ganz per­ sönlichen Waffe, entsprechend meinem Talent, meiner Vorliebe, meiner Sehnsucht. Alle Niederlagen, alle Kränkungen meiner Selbst und meiner Armee werden so wieder gut gemacht, sym­ bolisch oder real für einen winzigen Moment oder für immer. Indem ich „spreche“ und so mit meiner „gültigen“ Handlung beginne. Insofern ist 5 MORGEN der Versuch, 5 individuelle Handlungen zu paragraphieren, 5 Tätigkeitsverläufe, die sich verändert haben, in der Sekunde des Bewusstwerdens des Krie­ ges, beim aktiven Eintreten in ihn, immer auf der Suche nach der Bestimmung jedes Einzelnen.

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II. ... bisschen wie ein Schlagersänger auf dem Kreuzfahrtschiff „Aida“ ich will wieder zurück/ zurück in unsere hütte mit den mücken und dem einen ofen Fritz Kater, „düsterer spatz am meer/ hybrid“

HANS-DIETER SCHÜTT: Haben Sie manchmal Angst, auf die Probe zu gehen? ARMIN PETRAS: Ein einziges Mal habe ich Jürgen Gosch getrof­ fen, ich glaube, es war aus Anlass einer Gesprächsrunde mit Re­ gisseuren, für ein Theater-Magazin. Ich fragte ihn, ob ihn auch manchmal vor den Endproben Angst überkomme. Er sah mich verwundert an. „Angst? Manchmal? Endproben? Junger Mann, ich habe vor jeder Probe Angst.“ Ich nicht. Respekt empfinde ich vor der Konzeptionsprobe, und Befürchtungen beschleichen mich vor der ersten Hauptprobe, also eher Schockzustände und die Angst, dass alles falsch war. Aber ansonsten – wie gesagt – ist die Probe der angstfreieste Raum in meinem Leben. Da habe ich eher Angst beim Gang über jede verkehrsbelebte Straße. Für einen Boxer ist zum Beispiel der Ring die angstfreieste Zone. Sind wir also wieder beim Boxen. Boxen tut weh! Ach, was! Es ist eine Art Gymnastik. Du musst nicht mal die Zäh­ ne zusammenbeißen. Geht gar nicht – der Mundschutz lässt das nicht zu (lacht). Du kriegst garantiert was auf die Fresse, ja,

„Kriegst was auf die Fresse, ja“

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Armin Petras: „Mein Lieblings­ boxklub in Moldawien“

aber es gibt Regeln, drei Runde, eine klar abgesteckte Gewichts­ klasse, den Schiedsrichter, den Arzt, in jeder Ecke einen Trainer, und der Gegner ist ein Sportfreund, der nur dort hinschlägt, wo es erlaubt ist. Nein, ich habe keine Angst. Ich versuche in meiner Arbeit zu organisieren, dass die Probe nie aufhört – deshalb und daraus entstehen meine Inszenierungen.

Der Satz von André Jung

Wer brennt, der überfordert andere. Dass andere nicht genügen, diese Furcht habe ich nicht. Nein, dieses Notstandsgefühl betrifft nur mich selbst. Genüge ich dem, was nötig ist? Ich befürchte mitunter, nicht Energien genug zu entwickeln. Der große Schauspieler André Jung hat mal zu mir gesagt: „Weißt du, ich mag dich, und ich glaube dir, dass du was vorhast, aber deine Lautstärke macht mich müde.“ Führte zum Umdenken, zeitweise. Stürmen Sie ins Stück hinein oder geht’s vorsichtig zu? Ab zweiter Probe gibt es Kostüm und Bühne. Es wird geredet – und dann sofort probiert. Natürlich in dauernder Veränderung. Nächstes Bühnenmodell, neue Kostümvarianten, ein fort­ währender Austausch. Arbeitspartnerschaft bedeutet freilich, unter­schiedliche Behauptungskräfte auszuhalten, anzunehmen.

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Olaf Altmann zum Beispiel ist jemand, der möglichst mit dem ersten Bühnenmodell, das er mir zeigt, ins Schwarze treffen will. Die Ehrgeize sind verschieden, deren Zusammenspiel, ihre Konfrontation, ihr Fluss, ihre Balance. Das Erlebnis Probe. Es gibt dazu einen schönen Text von Ihnen: „kaum etwas ist schöner, als an einem freitagabend, von irgendeiner probebühne am rande der stadt zurückzufahren, den mond zu sehen und sich zu sagen, vielleicht war das ja was, vielleicht war der weg heute auf der probe gar nicht so falsch, und dieser kollegin hätte man das gar nicht zugetraut, so genau, so berührend war sie heute auf der probe. und die angst begleitet einen auch, ob sie das jemals wieder hinkriegt, was sie da heute gemacht hat und was wohl die dramaturgin sagen wird am montag, ob das so geht und gegenüber an der bushaltestelle unterhalten sich zwei teenies über den romeo und sie gucken im programmheft nach, ob noch mehr bilder von ihm drin sind oder seine handynummer. und man überlegt sich dann, ob man jetzt nach hause geht oder doch noch mal ins theater, wo die kollegen den dreißigsten der darstellerin der julia feiern. und dann geht man eben doch ins casino, nur auf ein bier, bestimmt, und, und um zwölf fragt der mercutio, wie es denn nächstes jahr mit ihm weitergeht und dass er wüsste, dass der gastregisseur im nächsten jahr, dieser dino, dass der nur mit ihm erfolg haben würde. um viertel nach eins beschwert sich die darstellerin der mutter des romeo: ,dass immer von sparen gesprochen wird, dieses jahr, aber zwei damen als gäste in ihrem fach ­engagiert wurden‘, und wirft ihr rotweinglas demonstrativ an die wand, um halb drei flüstert einem das geburtstagskind, die darstellerin der julia, dann unter tränen ins ohr, ob sie nicht längst zu alt sei für die julia. und man sagt was und denkt sich, ich bin zu alt für diese party jedenfalls heute, und dann geht man wieder durch diese stadt, in die man niemals wollte und die einen längst geschluckt hat, vorbei an der spielhölle, dem waschcenter und dem mulitplexkino und freut sich auf die probe morgen, naja ­genauer gesagt heute.“ Letztlich gibt es kein Rezept.

Rotwein an der Wand

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Obwohl Sie gern ins Theater gehen – Premieren eigener Inszenierungen schauen Sie sich also nicht an. Wer sich als Regisseur in die Premiere seiner eigenen Inszenie­ rung setzt, ist ein mutiger Mensch. Mir fehlt dieser Mut. Vor­ hang hoch? Nur raus aus dem Theater! Ich bin schon froh, wenn ich pünktlich zum Schlussapplaus komme. Meistens werde ich per SMS benachrichtigt. Einmal, bei Camus’ „Die Gerechten“ am Deutschen Theater, kam ich zu spät. Die Kritik bemerkte, ich hätte mich wohl – zu Recht! – von meiner eigenen Arbeit dis­ tanziert. Auch wenn die Aufführung dann im Repertoire läuft, sitze ich ungern in Vorstellungen. Die gehören dem spielenden ­Ensemble. Ich möchte nicht in die Gefahr geraten, da hinein­ zureden.

Einar Schleef

Es fiel schon der Name Einar Schleef. Sie haben fast alle seine Erzählungen für die Bühne aufbereitet. Wo liegt die Faszination? In den späten Achtzigern hörte ich den Namen Schleef zum ­ersten Mal. Seine Werke kannte ich nicht. Ich hab später mal einen Text darüber geschrieben, dass ich ihn nicht leiden kann. Nicht als Kollegen. Nicht als Dramatiker, denn er war er mir zu tendenziös. Auch seine Rücksichtslosigkeit gegenüber allen, auch gegenüber den allernächsten Menschen, mochte ich nicht. Nicht seine verstiegenen Theorien, nicht sein Verhältnis zu San­ gerhausen, wie konnte man nur derart abhängig und hass­ erfüllt auf so eine dreckige Stadt blicken. Sein Verhältnis zu ­seiner Mutter mochte ich auch nicht, so übertrieben wie das Chor-Geschrei auf der Bühne. Schon gar nicht mochte ich die Schleef-Epigonen, die noch hündischer sein wollten als die ­Müller-Epigonen. So eine Suada habe ich in dem Text losgelas­ sen, die wollte gar kein Ende finden – alles aufgehäuft und los­ gelassen für das einzig denkbar Fazit: „ich danke einar schleef er von allen zeitgenössischen hat mein theaterleben am stärks­ ten verändert“. Wobei? Auf der Suche nach dem, was an Allgemeinem noch in der scheinbar kleinsten, banalsten, gleichförmigsten Biografie steckt?

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Es gibt keine kleinen, banalen, gleichförmigen Biografien! Auch „Gertrud“, sein Mutter-Roman, war für mich eine zentrale ­Erfahrung: wie dieser Schleef in sich geht, wie er sich in alles verbeißt, was sein Leben ausmacht. Das Mansfelder Land, ­Sangerhausen, Nordhausen, das kenne ich ja alles, dieses Ge­ fühl von Fremdsein, dieses Leben mit ständigen Fluchtgedan­ ken, dieses Weggehen und Wiederkommen und doch niemals ­Ankommen. Das Harzer Vorland, aus dem Schleef kommt, der Südharzer Mutterboden, das ist Nässe, feuchte Erde, klamme Luft, die Kleingärten hucken frierend aneinander.

Sangerhausen: Feuchte Erde, klamme Luft. Kleingärten

Der Deutsche aus Sangerhausen, ein Wundgelebter durch und durch. Schon der Name: Einar. Wer 1944 seinen Sohn so germanisch nennt, verrät ihn, und sei es unbewusst, an den totalen Krieg. An den Kampf mit Gespenstern. Der Kyffhäuser liefert dazu die dunkle Kulisse. Früh ist Schleef darauf vorbereitet, dass ihm alle Welt ein Sangerhausen bliebe. Dieses trübe Germania. Vor 1961 fährt sein Vater mit dem Jungen (der trägt Pionierabzeichen) nach Westberlin, man will Einar drüben „in gute Hände“ geben, ein Abschiebeversuch wie im Märchen von Hänsel und Gretel, Westberlin ist der dunkle Wald. Der drüben ausgesuchten Familie schien dies doch ein zu großes Risiko zu sein – aber der Trauma-Stempel drückt lebenslang. Er schreit nach Sinn und Kunst, als könne er damit den Schrei nach Halt überdröhnen. Die Kunsthochschule Berlin-Weißensee, der Rauswurf, die Schülerschaft bei den Bühnenbildnern Heinrich Kilger und Karl von ­Appen, die Jahre am Berliner Ensemble, 1976 dann Dienst-Reisen ans Burgtheater, keine Rückkehr in den Osten („mit Gepäck für vier Tage“). In Wien schläft er hinter Bahnhöfen, „ich konnte das Problem nicht wegfressen, dass ich hier nichts zu suchen hatte“. Es gibt Abarten der Freiheit, die ins Gegenteil eines freien Lebens ­führen. Etwa die Keimfreiheit. Schleef kämpfte gegen die Keim­ freiheit. Das Gemüt dieses Regisseurs, Bühnenbildners, Malers,

„Konnte das Problem nicht wegfressen“

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Schriftstellers und Fotografen war ein schmutziges Gemüt; Schmutz verstanden als philosophische Kategorie. So einer singt die Liebe anders als andere. Er fand das befremdlich, dass man sich im Westen nicht schlug, nicht biss, wenn man Liebe machte, nicht mit Männern, nicht mit Frauen. Kann man nach­ lesen, in den Tagebüchern, zweitausend Seiten. Solchen Leuten geht man gern aus dem Weg. Auf Wegen trifft man sie ja gar nicht, nur auf Geröllpfaden, im Unwegsamen, an Steilhängen, in Straßenschluchten, „ich gehe gern, bis ich keuche, ich muss die Welt zurücklassen, das ist der schöne Lohn für blutende Füße“. Ich hab ihn mal mit dem Taxi, von der Probebühne in Berlin-Rummelsburg, ins Stadtzentrum mitgenommen, da ist er kurz vorm Ziel, dem BE, bei geringer Geschwindigkeit des fahrenden Autos, hinausgesprungen. Ich dachte, der bricht sich alle Knochen. Am nächsten Tage sagten die Kollegen, das kennen wir, das war sein hoch entwickelter Geiz, er wollte nicht in die Gefahr kommen, bezahlen zu müssen.

Der Geiz des Genius

Jutta Hoffmann hat das bestätigt, eine „seiner“ grandiosen Schau­ spielerinnen: Dies sei der Geiz all jener, die von ganz, ganz unten kommen. Ein Mann, oft in Sandalen und einschnürend umgehäng­ ter Reisetasche. Der Motor, der ihn von der Welt abstieß, war genau so stark wie jener andere Motor, der ihn auf eine Sache zurasen ließ. Kunst nicht als Produkt, sondern als Golgathaweg. Schleefs Chöre waren seine Musen. Wenn die sangen, durfte man schon mal daran denken, dass die Musen einst in Griechenland wilde, kräftige Wesen waren, die als Haarschmuck die Schwungfedern der Sirenen trugen. Wenn diese Musen sangen, standen die Sterne still, und die Berge begannen zu wachsen und reckten sich höher, so dass die obersten Götter Angst bekamen um ihren Himmel. In der stillen Mitternacht konnte man in ganz Griechenland das ferne Stampfen ihrer tanzenden Füße vernehmen. So wogten, peitschten Schleefs Chöre. Oder waren auf geradezu bohrende Weise zärtlich.

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Wobei mich dieser Drill auch abstieß, oder sagen wir’s milder: Ich konnte nicht viel damit anfangen. Ich war lang genug bei der Armee. Aber er hatte schon was Magisches und Magnetisches. Für Schleef war die Existenz als Künstler sehr hart. Immer wieder die Aggressivität aufzubringen, um die herr­ schenden Zustände zu attackieren, das geht nur, wenn man gleichzeitig daraus Energie für das eigene Leben gewinnt. Ener­ gien für das Feuer – das dich am Ende verbrennt.

Szene die baugrube, Regie: Armin Petras, Berliner Ensemble 1995

Die Taxifahrt, die Sie eben erwähnten, das war die Zeit, da Sie am Berliner Ensemble „die baugrube“ inszenierten, von Lothar Trolle, nach Platonow, 1995. Schleef inszenierte zeitgleich am Haus, und er sog sämtliche Kräfte des Theaters auf, geradezu gewalttätig. Ich war 31 und zum ersten Mal in meiner Stadt an einem richtigen Theater. Ein Staunender. Es war atemberaubend. Als gäbe es nur ihn – die klassisch richtige, also rücksichtslose Haltung eines Künstlers: Her mit allem und allen zu mir! Sonst schmeiße ich alles hin!

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Natürlich sah ich das damals überhaupt nicht so verständnis­ voll, ich war entsetzt und hilflos. Er okkupierte das BE, und wie gesagt, ich verstand nichts von diesen militärischen Obsessio­ nen. Deshalb hat mich sein Theater nie wirklich interessiert, aber mich überwältigten die Texte, diese Knappheit, dieses ­total Minimale, das sich eigentlich gegen alles wehrt, ja, jedes Wort schien sich dagegen zu sperren, ausgesprochen zu wer­ den. Platonow übrigens, den ich da inszenierte, den fand und finde ich auch großartig. Mit ihm erlebte ich als Regisseur am BE ein Fiasko – und später nochmal als Intendant: Frank Castorf inszenierte in Stuttgart „Tschewengur“. Er hatte eine sehr auf­ geräumte Phase (lacht), alle arbeiteten mit großer Lust an die­ ser Aufführung – aber die Zuschauer blieben aus, ganze fünf oder sechs Vorstellungen fanden statt.

Gescheitert? Was soll das heißen?

Gescheitert? Damit kann ich nichts anfangen, was soll das heißen? Dass man das Werk auf den Scheiterhaufen werfen soll oder den, der es fabriziert hat, oder eher gleich alle? Es ist das Vokabular Außenstehender. Heiner Müller hat gesagt, es gebe nur zwei Arten von Inszenierungen: die großartigen und die erfolg­ reichen. Manchmal liegt die Latte Zentimeter unterm Fußbo­ den, und trotzdem wird es ein Erfolg. Ich sag mal, Yasmina Reza zu inszenieren, hat noch jeder inszenierende Dramatur­ gen-Intendant geschafft. Erfolg und Misserfolg sind Ihnen aber doch nicht egal. Kann mir ja nicht egal sein, weil das für alle Anderen der Schlüssel ist. Aber „die baugrube“ am BE – das war ’ne wirklich seltsame Veranstaltung (lacht). Die Inszenierung wurde vieroder fünfmal gespielt – und dann abgesetzt. Fast- oder BaldIntendant Martin Wuttke blickte, als habe er sich in einen Kin­ dergarten verirrt. Das offizielle und Presse-Urteil über diese Arbeit war eher schroff. Müller hatte auch mich als Regisseur an das Haus geholt. Nachdem er Ende 1995 gestorben war, löste Geschäftsführer Sauerbaum sofort meinen Vertrag.

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Kann man sagen: Immer flogen Sie irgendwo raus? Ich formuliere es mal anders: Immer fing mich jemand auf. In Frankfurt an der Oder war meine Arbeit beendet, als ich ein ­Musical über den dortigen Box-Helden Henry Maske heraus­ bringen wollte, aber Trainer Manfred Wolke kam im Stück als Alkoholiker vor, was er wahrscheinlich auch war ... Aus! Dann ging ich nach Chemnitz, dort war auch bald Schluss, aber ­Wolfgang Engel hatte meine „Hermannsschlacht“ nach Kleist/ Grabbe gesehen und holte mich nach Leipzig – während mich Intendant Stiska genau wegen dieser Inszenierung aus Chem­ nitz rausschmiss. Engel und Ulrich Khuon verdanke ich, dass ich Regisseur geblieben bin. Parallel dazu bot mir Christoph Nix Nordhausen an, dort hatte ich meine erste Krise als Oberspiel­ leiter, ich war dreiunddreißig und fühlte mich am Fuße des ­Harzes plötzlich wie auf der Müllhalde. Vielleicht sollte ich doch besser als Boxtrainer arbeiten? Nix ging nach Kassel, ich folgte ihm, ich ging also nicht nach Hannover, denn von dort hatte Ulrich Khuon angefragt, nachdem er meine Inszenierung ­ „Angst Traum Schrei“ gesehen hatte, eine Collage aus Heiner Müller und Sarah Kanes „Zerbombt“.

Stiska, Engel, Khuon

Sie sagen es heiter. Keine Trauer. Ich habe noch nie einer Konstellation oder einem möglichen ­Versäumnis wirklich nachgetrauert. Melancholie ist Sehnsucht nach einem verloren gegangenen Zustand des Glücks – den es so nie gab. Kein Bedauern derzeit über eine fehlende Leitungsfunktion? Funktion, wie das klingt ... Die Jahre mit 14 Stunden Arbeit am Tag, also plus 4 Stunden Intendanz, das hinterließ Spuren. Aber ehrlich gesagt, da haben Sie recht, irgendwie zerrt es auch an mir. Wo ist die nächste Arbeitsgemeinschaft? Das ist wahr­ scheinlich das Erbe der DDR-Sozialisation. Im Moment fühle ich mich ähnlich einem Schlagersänger auf dem Kreuzfahrtschiff „Aida“, der ein bisschen singt, aber die meiste Zeit relaxt. Zum Glück ist jetzt Corona.

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Na ja, wie ich weiß, arbeiten Sie an einer Bühnenbearbeitung von Eugen Ruges „Metropol“ und von Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“. Viele hundert Seiten hat der Roman! Bin jetzt im siebenten Jahr mit dem Grossman, saß mal mit ­Johan Simons in der Kneipe in München, er holte die hollän­ dische Ausgabe des Romans raus – ich die deutsche, keiner wusste vom anderen, dass er das gleiche Buch mit sich rum­ trägt. War lustig. Hoffentlich wird’s noch was mit der Bühnen­ fassung. Ich glaub, er hat’s noch nicht gemacht, oder?

Kurzer Weg zum ewigen Wegbleiben

Nein. Nochmal zu Schleef. Im Studio Werkhaus des Nationaltheaters Mannheim haben Sie seine Erzählung „Zigaretten“ fürs Theater bearbeitet, sie nannten es ein „Projekt“. Ein Mann wurde von Frau und Tochter verlassen. Sein Herz, so könnte man sagen, schlägt nicht mehr, es hoppelt nur noch. Wie das Kaninchen, das mit ihm zurückblieb im leeren Haus. Eine unaufhaltsame Selbstauflösung. Nichts mehr an diesem Menschen wird Tat. Selbst das Zigaretten­ holen – gleichsam die moderne Urmetapher für den kurzen Weg zum ewigen Wegbleiben – ist dem Mann unmöglich geworden. Chronik einer Ver-Endung, die es nicht mal richtig in den Tod schafft. Sätze wurden von Ihnen herausgebrochen und zum Anlass eines ­zirzenisch-assoziativen Körpertheaters genommen. Zwischen Styro­­ por-Platten spielten drei Darsteller – Barbara Bauer, Heiner Stadelmann und Andreas Leupold – dies eine Schicksal. Fehlende Liebe, Mutter-Komplex, die faden Anstrengungen der Männlichkeit. Das wirkte tragisch und im nächsten Moment absurd. Was eigentlich Leben sei? Schwer liegt hinter den Augen dieser Clowns die Erinnerung, und es zischt höchstens wie ein heruntergebranntes Feuer, wenn mal Tränen hineinfallen – die hier mit Wasserpistolen in die Gesichter gepustet werden. – Hatte Schleef was Masochistisches? Auch so ein Wort, das ich nicht verstehe. Es suggeriert Krank­ heit. Es geht aber doch um ganz anderes: um Selbststeigerung. Es geht darum, in einer nicht wirklich einsehbaren, planbaren Lebenszeit Dinge zu tun, die einem gemäß scheinen, und zwar

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möglichst ohne Rücksicht. Schleef ist mit siebenundfünfzig Jah­ ren gestorben. Er hat seine Zeit nach seinen eigenen Maßgaben ausgenutzt. Elfriede Jelinek sprach von zwei Genies nach dem Krieg: im Westen Fassbinder, im Osten Schleef. Sein „Droge Faust Parsifal“ ist mir wie eine Bibel. Fassbinder ist noch ein ­Begriff, Schleef ein nahezu Vergessener. Das ist brutal. Fassbinder ... Schleef ... Vielleicht liegt die Tatsache, dass der eine noch so öffentlich ist, der andere nur noch verschwommen erscheint, an den Wirkungsdifferenzen von Film und Theater. Mag zum Teil sein, aber Peter Stein wird man auch in Zukunft nennen, selbst wenn der anscheinend grad Berufsverbot hat in Germany, keine Ahnung, warum. Schleef nennt niemand. An meiner Wand hängt die Reproduktion eines Bildes von Schleef. Ein Aquarell, das einen Hahn zeigt. Der sieht durchaus glücklich aus – ich glaube, Schleef war zu Hause in vielen Gemütsregun­ gen, hellen wie dunklen. Er war ein Getriebener. Er stand auf Männer, er stand auf Frauen, am Schluss auf die Natur. Er war ein brodelnder Körper. Wie gesagt: getrieben, von Gedanken und Hormonen, beides miteinander im Tanz und im Kampf. Es ist eben immer zu einfach, einen Menschen vom Sozialen her zu definie­ ren, das geht am Leben vorbei, ich denke wieder an Darwin.

Jelinek, Peter Stein

So einer wie Schleef stirbt schülerlos. Schleef liebte Kasperpuppen aus Holz, Marionetten nicht. Nur bei ersteren knallen die Köpfe schön gegeneinander. Das Wort vom Genie fiel. Was ist das, ein Genie? Nietzsche sagt, das Genie sei wie „ein blinder Seekrebs, der fort­ während nach allen Seiten tastet und gelegentlich etwas fängt; er tastet aber nicht, um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen“.

Nietzsches „blinder Seekrebs“

Sich tummeln müssen, das könnte man auch zum Theater sagen. Im Theater tauschen wir Bild gegen Bild. Ja, wir auf der Bühne schaffen ein Bild, der Zuschauer schafft auch sein Bild, das ist,

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wie Herder sagt, eine Arbeit, in der wir gemeinsam, jeder an­ ders und sehr eigen, „empfangen, verarbeiten“. Das Bild des Be­ trachters tritt an die Stelle des Bildes, das wir auf der Bühne malen. Erst dadurch entsteht Kunst: Die Aufführung verschwin­ det in dem, was der Zuschauer draus macht. Hölderlin spricht vom „Werden im Vergehen“. Die Obsessiven sind Ihnen nah. Wünschen Sie sich mitunter, radikaler zu sein? In den neunziger Jahren bin ich in Berlin oft ins Hebbel Theater gegangen, ich liebte die Aufführungen von Jan Lauwers und Jan Fabre. Sehr oft sah ich mir das an, ich saß da, oft nur mit gefühl­ ten sechzig Leuten im Zuschauerraum – na und? Meiner Hin­ gabe tat das keinen Abbruch. Jan Lauwers ließ neun Clowns auf die Bühne gehen, die nur rauchten und Bier tranken. Das sollte wohl so ’ne Metapher sein für den Zusammenbruch des Ostens. Arrogant fand ich das. Ich ging bald raus, aber am nächsten Tag wieder hin. Und wieder und wieder. In Stuttgart sind Sie zweimal mit rausgegangen zum Premierenapplaus – bei Inszenierungen anderer Regisseure. Weil es Buhs gab. In beiden Fällen wurden diese jüngeren Regisseure mit ihren Arbeiten zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen. Der Geschmack des großbürgerlichen GroßprovinzAbos und der großstädtischen Großkritik können sich diametral unterscheiden. Oder auch nicht.

Buhs und Solidarität

Filmregisseur Federico Fellini sagte, er erzähle immer nur den einen gleichen Film. Abgesehen davon, dass es ohnehin nur einige wenige Grundgeschichten gibt – kann man auf den Nenner ­bringen, wovon Sie (andauernd) erzählen? Vom Schuldigwerdenmüssen, vom Vergänglichen, von Gott, von Mann und Frau, von unserer Unfähigkeit, die Welt zu be­ greifen, aber sie doch erzählen zu wollen. Ich zeige Menschen in Bewegung – die in Not und, manchmal auf hoffentlich ­komische Weise, sehr traurig sind. Diese Bewegung, immer ein

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k­ örperlicher Akt, kommt aus der Unentschiedenheit: Gehöre ich dazu oder nicht, gehöre ich nach Draußen oder nach Drin­ nen, will oder muss ich unbehaust sein oder behaust. Hin und her – nichts ist entschieden. Die Menschen in meinen Insze­ nierungen ... ... also auch in Stücken Fritz Katers. Ja. Diese Figuren bewegen sich unsicher in der eigenen Biografie. Jeder Mensch hat seine eigene Bewegung, wie eine Schnecke ihre eigene Schleimspur hinterlässt. Die will ich nachmalen, ­illuminieren. „Sterne über Mansfeld“ – ich zitiere nochmal Evelyn Finger aus der „Zeit“, sie schreibt über Sie: „Manchmal erzählt er die Träume seiner Figuren ohne Worte, lässt Pastor und Parteisekretär in ­simulierter Höllenfahrt eine Abraumhalde hinunterrasen. Manchmal schleppt er eine überdimensionale Stalin-Ikone auf die ­Bühne, um Gott als Vater aller Albträume zu entlarven. Und dann dirigiert er einen Sprechchor alter Bergarbeiterfrauen auf so ­einzigartige Weise, dass man fast dankbar ist für die tragischen Umstände, angesichts deren dieser Moment entstehen konnte.“ Alles zerrt an einem. Es gibt einen Satz aus einem frühen KaterStück, der klebte jahrelang an der Tür von meinem Freund und Co-Intendanten Klaus Dörr: „alles ist gut für eine weile, dann nicht mehr“.

Klaus Dörr und ein Wandspruch

Und woraus resultieren die Tragödien? Aus der Tatsache, dass man sich aller wirklichen Gesetze immer zu spät bewusst wird. Aber letztlich rettet da nichts, keine Reli­ gion, keine Zwangslage, kein Befehlsnotstand, kein geleisteter Eid. Worauf wir uns auch berufen, der Gerichtshof ist in uns ­selber aufgestellt. Kant. Wie viele eingebildete Berge besteigen wir im Wunschtraum – und wachen erst auf, wenn wir von einem Absturz wirklich bluten.

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Leben heißt: versuchen, vorzukommen. Eine meiner liebsten Schauspielerinnen kam nach einem schönen Erfolg für sie in die Intendanz, wir hatten Spaß, und dann sagte sie: „Weißt du, ich glaube, ich kann ab jetzt nur noch Hauptrollen spielen.“ Eigentlich glaubt das jeder, weil, ich guck ja nur aus mir raus, es gibt für nie­ manden nie eine andere Perspektive, niemals. Eben nur: ich, die Hauptrolle. Ich meine, das ist nicht böse oder so. Nein, so ist es organisiert. Punkt. Darwin. Ich kenne nur eine einzige Gruppe von Menschen, bei der das anders ist, jedenfalls ab und zu: Mütter.

Buster Keaton

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Mütter! Sie stehen wie der Fels in der Brandung. Die Kinder: stolpern. Dominante Kraft des ­Lebens: diese Stolperkraft. Sie setzt meist den erhobenen Kopf ­voraus. Die Würde also. „keaton steht auf einem zug dessen bremsen gebrochen sind und er fährt ­immer weiter in den abgrund den ganzen film lang immer die katastrophe vor augen und er zuckt nicht einmal mit den wimpern … immer nur bergab das ganze leben.“ So steht es in Fritz Katers „Tanzen! Eine Industrial soap opera“. Buster Keaton im Stummfilm „Der General“: Musterbeispiel einer sinnlosen, aber schweigsam und duldend ­ertragenen Durchhaltekraft. Das Einverständnis mit dem Scheitern als letzte Charakterstärke. Hauptgestalt in „Tanzen!“ ist B ­ ernie: „21 Knochenbrüche bei Stunts ohne Double“. Zuerst ist ja immer, wenn man über den Stummfilm spricht, die Rede von Chaplin. Der King. Er ist total unterschätzt als Drama­ tiker seiner eigenen Filme. „Der große Diktator“, „Modern Times“, das sind grandiose Szenerien und Dramaturgien. Aber dieser Charlie als Kunstfigur ist mir zu ... schmierantig, wenn ich jetzt mal ganz ungerecht werden darf. Der Kleine mit den zu großen Schuhen: Kunstkunst. Ganz anders – für mich – Buster Keaton. Keaton, das ist ein Vorwärtsstolpern von einer unhalt­ baren Position zur nächsten. Tödlicher Ernst, verbunden mit dem Wissen um die grandiose Zufälligkeit der Existenz. Diese Tragik als Urgrund der Komik. Die entsteht, wenn ein Mensch – Sie haben es gesagt – so stolpert und so stürzt, als gelänge ihm gerade der schönste schwebende Augenblick. Die Eltern Keatons


sind Varietékünstler gewesen – der Vater Messerwerfer, die Mutter auf dem Hochseil. Ein Artistenschicksal, würde Thomas Bernhard sagen. Harte Jobs. Mein großer Sohn heißt mit seinem zweiten Vor­ namen auch Buster. Mit zehn Jahren Verspätung erfuhr ich, dass Buster „Sturz“ heißt. Der kleine Keaton fiel, bei so viel­ beschäftigten Eltern, immer wieder mal vom Wickeltisch. An Buster Keaton fasziniert mich diese völlige Teilnahmslosigkeit. Bei vielen Stürzen – nicht mehr nur vom Wickeltisch – offen­ barte er sein Talent, sie unbeschadet zu überstehen. Er sah jedenfalls so aus, er fror seine Miene ein, obwohl er sich immer wieder Knochenbrüche zugezogen hatte.

Buster – der zweite Vorname

Seine Eltern sollen ihn sogar als Attraktion vor Publikum in die Kulissen geschleudert haben, als sei er ein Gummiball. Wusste ich nicht. Is’ ja brutal. Er wurde Alkoholiker, um die Schmerzen zu betäuben, und der Preis einer unbedingten Kon­ zentration war dieses unbewegte Gesicht; vor jeder Zuckung hatte er Angst: Sie könnte weh tun. Er war sein eigener Produ­ zent, also Ökonom im wahrsten Sinn des Wortes bis auf die ­kaputten Knochen – nie drehte er eine Szene zweimal. Wenn er vor einer Hauskulisse stand, und sie fiel auf ihn herab, mit einem genau kalkulierten Ausschnitt der leeren Fenster oder ­Türen, so war das bis auf den Millimeter getimt, ein Probedreh hätte unnötiges Geld gekostet. Alles live und immer Leistungs­ druck. Als der Tonfilm kam, ging dieser schweigende Schmer­ zenskomiker am Lauf der Zeiten zugrunde. Wenn die Natur, wie der französische Philosoph Pierre Bayle sagte, eine Art Krankheitszustand ist und der Mensch unvergleichlich mehr zum Bösen als zum Guten neigt; wenn es, wie der Misan­ throp Molière meinte, eine Narrheit ohnegleichen wäre, so dass man sich nicht in die Verbesserung der Welt mischen sollte; wenn wir täglich an uns und anderen beobachten, dass wir nicht reden, wie wir denken, und nicht handeln, wie wir reden; wenn das alles

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stimmt – soll man sich dann ungerührt die Hände waschen, sich vergnügt an den Essenstisch setzen, sich in Gelassenheit über die nicht änderbaren Zustände üben? Und was ist mit den Träumen? Lessing träumte von der Erziehung, Goethe von der Bildung, Schiller von der Würde, Heine von der Freiheit, Brecht von sozialer Gerechtigkeit, Diderot von der Revolution. Wie soll man leben – wenn man denn überhaupt (Krieg, Katastrophen, Krebs) am Leben sein darf? Ach, alles schwierig. Keine Ahnung. Aus Idealen wurden immer wieder Regimes des Terrors gezimmert. Jetzt frisst Geld Welt.

„Jetzt frisst Geld Welt“

Sie sind jemand, der lange Zeit auf Durchreise, Weiterreise eingestellt war und immer ziemlich gut mit Bedingungen auskam, denen alles Watteweiche fehlte. Nordhausen zum Beispiel. Nordhausen? Ich habe, als ich das erste Mal dort arbeitete, ziemlich gelitten. Als 22-Jährigen hielt mich das Leben an: Last exit Nordhausen. Meine einzige Inszenierung in der DDR an einer staatlichen Bühne und die letzte. Dann, zehn Jahre später, war ich Oberspielleiter dort. Ein paar Jahre Theater lagen schon hinter mir, mehrere davon in der freien Szene. In Nordhausen stapfte ich Mitte der Neunziger durch den Schnee zu Proben in einer großen Halle, dort war auch die ehemalige LPG-Kantine, da stand wahrhaftig noch, im Nachbarraum, das Essen von vor vier Jahren, danach war dort alles dicht gemacht worden. Ich erinnere mich an den unglaublichen Geruch von jahrealtem DDR-Kantinenessen, dazu das riesige Gebläse der Heizung, wie eine Windmaschine, total trockne Luft, von sieben Spielerinnen wurden drei sofort krank. Ich dachte nur noch: Mein Leben ist eine elende Arbeitsbeschaffungsmaßnahme – wie lange halte ich das durch? Als Sie vorhin von Ihren Nächten in Ihrem eigenen Wald erzählten, musste ich an Andrzej Stasiuk denken, den polnischen Schriftsteller aus den Beskiden, ich habe, über Ihr romantisches Empfinden nachdenkend, viele Stellen in seinem Buch „Der Osten“ gefunden, die wunderbar zu Ihnen passen. Hier zum Beispiel, er wohnt in

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einem Holzhaus in der Einöde der Beskiden, nichts schien diesem Ort ferner zu liegen als irgendeine Zukunft: „Mäuse und Siebenschläfer auf dem Speicher, Insekten im Holz, das Knirschen des Gebälks unter dem Druck des Windes oder der Wärme. Nachtvögel, Tiere im Wald, das Wasser im Fluss und schließlich die eigene Phantasie. Ringsum gab es niemanden. Dafür hatte ich Friedhöfe, mehr als genug.“ Wild, rau, geheimnisvoll, furchteinflößend – und zugleich beruhigend. Dieses Radikale, Tiefe, Schmutzige, das die Autoren des Ostens ausstrahlen, hat mit mir mehr zu tun als die Sauberkeitsmythen des Demokratiebürgertums. Jerofejews „Reise nach Petuschki“ zum Beispiel ist mir wichtiger als der ganze „Zauberberg“.

„Reise nach Petuschki“

Thema Osten. Sie haben sich mit Erinnerungen der Schriftstellerin Ines Geipel auseinandergesetzt. Es entstand für das Staatstheater Cottbus eine Fassung ihres jüngsten Buches „Umkämpfte Zone“. Eine biografische Erzählung der Unerbittlichkeit – gegen den Staatssozialismus. Auch Sie wollten weg aus diesem Land, aber Hass ist Ihnen, wie Sie sagten, grundsätzlich fremd. Ein Ankläger sind Sie auch in diesem Fall nicht. Wen anklagen? Es gibt dreieinhalb Theaterleute, die ich nicht leiden kann, aber das ist sehr privat, das geht keinen was an, und so etwas hatte nie einen Einfluss auf meine Weltsicht. Schon gar nicht auf meine Arbeit. Ich beschäftige mich nicht all­ zu viel mit mir selbst, aber doch sehr wohl mit dem Weg, auf dem ich geh’. Wo ist mein eigener Platz auf diesem Kampfplatz der Lebensentwürfe? Das ist wieder die Foucault-Frage. Sie gehen den Zuschauer nicht frontal an und fragen also nicht, bist du dafür oder dagegen? Das Frontale ist eine mögliche Form der Auseinandersetzung und Konfrontation. Meine ist es nicht. Ines Geipel gehört zu den DDR-kritischen Autorinnen. Vielleicht wie Monika Maron, sie schrieb über das System: „Es bleibt die Frage, warum Menschen, die in ihrer Jugend gegen Ungerechtigkeit

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Ines Geipel, Christa Wolf

und Unterdrückung gekämpft und ihr Leben dafür eingesetzt ­haben, in Jahrzehnten unangefochtener Macht ihr eigenes Volk betrogen und beherrschten. Und andere es duldeten.“ Für die Schriftstellerin eine Frage nach der menschlichen Natur schlechthin und „somit unbeantwortbar“. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich kann diese Härte ­nachvollziehen, wie sie vielleicht von Ines Geipel ausgeht, von Monika Maron ... ... von Herta Müller, von Reiner Kunze und anderen. Als „neues Elend der Intellektuellen“ bezeichnet Maron jenes Pathos von Dichtern und Denkern, das die Ostdeutschen 1990 vor dem Ausverkauf an den Kapitalismus warnte. Wo eine einst „solidarische Gemeinschaft“ beschworen wird, entgegnet sie: „Wer hat die Bewohner von Espenhain verteidigt, damit sie unter ihrer giftigen Dunst­ glocke nicht zehn Jahre früher als andere sterben müssen? Welche Künstler haben öffentlich protestiert, als Bärbel Bohley, Freya Klier, Stephan Krawczyk und siebzig andere abgeschoben wurden?“ Aufrichtigkeit verdient nur dort diesen Namen, wo Erkenntnis, wie es Imre Kertész einmal ausdrückte, „restlos gegen mich selbst verwendbar ist“. Du bist immer allein mit deinem Gewissen, auch dort, wo du es unterdrückst. Wer die Welt verbessern will, deformiert sie immer auch, und die Welt schlägt zurück. Das ist der Widerspruch, der auch die eigentliche Tragödie sozialistischen Denkens ausmachte. An der Berliner Schaubühne haben Sie eine Bühnenversion von Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ inszeniert. Was interessierte Sie denn an der alten DDR? Ich bin trotz allem davon überzeugt, dass es eine Aufbruchs­ stimmung gab. Das findet man auch in den Büchern von Franz Fühmann oder Werner Bräunig, in den Filmen von Jürgen Bött­ cher oder Frank Beyer. Es gab trotz des 17. Juni 1953 viele Men­ schen, die noch in den Sechzigern an dieses Land geglaubt

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­ aben, unabhängig der Zweifel, von denen man in den Tage­ h büchern von Christa Wolf ja auch lesen kann. Man erfährt ge­ rade bei dieser Autorin, was es mit Menschen macht, wenn es so etwas wie eine gesellschaftliche Idee gibt. Die DDR war nicht von Anfang an ein schlechter Witz. Auch wenn alles von Stalin geplant war. Man liest Christa Wolf und denkt die schöne Illu­ sion, dass es auch hätte anders kommen können.

Jule Böwe in Der geteilte Himmel, Rege: Armin Petras, Schaubühne Berlin 2015

Die Inszenierung offenbart, wie das aufrechte Pathos irgendwann erkaltet und zwangsläufig in die Geschichte absackt. Das DDR-Arbeitsethos im Waggonwerk, das ist in Ihrer Inszenierung eine minutenlange, vom Grinsen der Akteure begleitete sinnlose Presslufthämmerei auf dem Bühnenboden. Sie geben Einblick in das Empfinden einer Nachfolge-Generation, die keinen wirk­ lichen Sinn mehr haben kann für den beharrlichen, aufrichtig tapferen Utopietrotz einer Christa Wolf. Gerhard Wolf hat mir gesagt, er und seine Frau hätten den Glau­ ben an dieses Land 1968 verloren, mit der Niederschlagung des Prager Frühlings. Diese Antwort war ein Hammer für mich. Ich

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kam ja erst 1969 als Fünfjähriger hier an. Interessant ist, dass die Wolfs und viele Kommunisten 1961 im Mauerbau tatsächlich eine Chance auf eine freiere Entwicklung in der DDR gesehen haben. Sie haben jetzt ein Libretto geschrieben, nach Franz Fühmanns „Im Berg“. Sebastian Vogel und Thomas Kürstner, mit denen Sie schon mehrfach arbeiteten, werden komponieren. Ein ungewöhnliches Opern-Projekt. Eine Versenkung ins Mythische, wörtlich genommen: Auch im Sozialismus gab es eine erzählenswerte Unterwelt. Wa­ rum Fühmann? Ein Schacht ist nicht gerade ein Ort für eine Oper. Was? Schon das ist pure Exotik! Musikalische Töne für eine Welt unter der Erde. Und ein Autor, der den Bitterfelder Weg für sich ernst nahm, zehn Jahre nachdem das niemanden mehr interes­ sierte. Der zu „seiner“ Brigade in den Schacht fuhr, der dort unten mitarbeitete, um den Weg zu sich selbst zu finden, zu sei­ ner Kunst! Zehn Jahre hat er an dem Buch geschrieben. Ein Mensch, erhitzt vom geradezu eisigen Feuer der Selbstanklage, weil nämlich geschlagen mit dem apokalyptischen Temperament zur Klarsicht auf die eigene Unvollkommenheit. Er wollte die Religion, den Überschuss, die Teilhabe. Er wollte sich umgestalten. Er war unbegabt in der Technik, sich untreu zu werden. Für mich ist es Konfrontation: Die siebziger Jahre – Fühmann ein schon älterer Mann, ich noch ein Kind. Aber die jeweiligen Menschenalter spielen kaum eine Rolle, wenn es um Grund­ sätzliches geht: Was geschieht mit dir, wenn du Dinge ernst nimmst, die deine Umgebung überhaupt nicht ernst nimmt? Es ist berührend und aufkratzend, wie Fühmann sich quält. Er war ein Extremist der Sehnsucht, dazuzugehören: bei den Nazis, dann bei den Kommunisten. Er ist irgendwann zutiefst gebro­ chen von Erfahrung und Erkenntnis, aber trotzdem fragt er die DDR-Realität, auch noch im verzweifelten Zustand, nach Mög­ lichkeiten ab, um in Sachen Arbeiterklasse wieder an den be­ schädigten Glauben heranzukommen. Das ist durchaus in der Nähe von Christa Wolf und Volker Braun, aber weit weg von Thomas Brasch oder Stefan Schütz oder Lothar Trolle, die längst

Faszination Fühmann

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ausgestiegen waren. Am tollsten finde ich an Fühmanns „Berg“Fragment den großangelegten Plan. Es sollte ein dreizehn-teili­ ges Werk werden, tausend Seiten waren geplant, 140 Seiten hat er geschafft. Im Lauf von zehn Jahren. Das ist das Allergrößte! Ein luxuriöses Leben im Arbeiter- und Bauernstaat. Es soll nicht die schweren Konflikte kleinreden, die Fühmann mit dem System hatte, er war schon sehr krank, als er die Arbeit am „Berg“ endgültig abbrach, er konnte das Material wohl nicht bändigen, die Kollision mit den Gegebenheiten war zu stark gewesen – aber zur Wahrheit gehört auch das Paradox: nämlich die Zuwendung, mit der dieser Staat bestimmte Künst­ ler ins Leere laufen ließ. Soll sich mal ein Staat oder ein Irgend­ wer melden, heute, der mir zehn Jahre mein Leben bezahlt, und ich sag’, okay, dann gibt’s dafür 1000 Seiten, vielleicht. Es war so tragisch wie groß: Kunst ernst zu nehmen. Ins Fühmann-Libretto fließt übrigens Schleefs Erzählung „Die Bande“ ein ...

„Im Berg“ als Oper

Eines eint Sie auf jeden Fall mit Fritz Kater: Das sind die literarischen Verweise, die Querverbindungen zu Gelesenem. Auch Johann Peter Hebels Geschichte vom Bergmann in Falun wird in der Oper vorkommen. Eine junge Frau verliert ihren Bräutigam kurz vor der Hochzeit bei einem Bergwerksunglück. Sie bleibt ihm treu – während sie verblüht. „Zugelötet ein Leben lang“, wie es bei Werner Buhss in der Übersetzung des „Sommernachtstraums“ heißt. Bei der Öffnung des Schachts, Jahrzehnte später, findet man den Toten, unverwest. Als wenn er, wie es bei Hebel heißt, nur ein wenig eingeschlafen wäre bei der Arbeit. Ein jung Gebliebener, wenn auch als Toter, den niemand mehr kannte – außer der Braut. Erschütternd ihr Wiedersehensblick. Die alte Frau in Falun findet ihren Frieden. Der Zukünftige war plötzlich wieder da. Plötzlich? Lange erwar­ tet. Das Leben – irgendwann ist es wie ein exhumierter Traum von der erfüllten Liebe.

Die Alte von Falun

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Noch einmal Geipel: das Doping

In Arbeit befindet sich ein weiteres Projekt, das mit Ines Geipel zu tun hat, es war zunächst fürs Volkstheater Wien geplant, Corona hieb dazwischen ... Das Spezialgebiet der Autorin ist das Doping, sie war selbst Leistungssportlerin in der DDR. Historisches Interesse ist es nicht, das mich treibt. Ist es nie. Ein Stoff muss etwas mit mir selbst zu tun haben. Sport hat sehr viel mit mir zu tun. Wie viel Droge braucht der Mensch? Und wie viel verträgt er? Verlieren wir uns im Rausch? Oder finden wir zu uns selber? Shakespeare stellt diese Frage im „Sommernachtstraum“, Schleef in seinem Buch „Droge Faust Parsifal“. Doping hat naturgemäß viel mit den Lockungen und Fallen der Leistungsgesellschaft zu tun: Beute, trickse deinen Körper aus! Sie sagten vorhin, Sie beschäftigen sich selten mit sich selber. Stimmt das denn wirklich? Ein Antrieb für Kunst ist doch zumeist ein individuelles Defizit. Sie sind doch schließlich kein Journalist. Was hat das damit zu tun? In der Literatur existiert der Schreiber als Mensch, aber in Leitartikeln – zum Beispiel – nur als Meinung. Weil der Künstler in seinem Werk als Mensch auftritt, kommt er eher unscheinbar daher; als Meinung in einem Leitartikel dagegen ist er verpflichtet, wichtig zu erscheinen. Wer Literatur schreibt, erfährt sich erst während des Schreibens; wer Leitartikel schreibt, weiß bereits vorher. Vielleicht schreibt man Leitartikel gar nicht, man verfasst sie, so heißt es ja auch in der journalistischen Sprache, denn man ist in einer Fassung, ist gefasst gegenüber der ganzen Welt, gar vorgefasst – während den Künstler irgendetwas fassungslos hält, er ist der Mensch, den Leben aus der Fassung bringt, es genügt da ein ­Detail. Die Gesellschaft, das Leben sind dem Kommentator eine Erkenntnisbeute: Für jede Wahrheit gibt es Tasten, die man nur zu drücken braucht. Der Leitartikler ist somit ein Gerechtfertigter, er weiß und richtet, er muss ausdauernd recht haben – dem Künstler dagegen ist das Leben einfach nur Leben, in das er sich hinein­tastet. Frage um Frage.

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Vielleicht ist das, was man schreibt und inszeniert, eine Buße, vielleicht ein Gericht, vielleicht eine vorbeugende Maßnahme, wer weiß, für mich ist es jedenfalls nie ein Urteilen aus der Dis­ tanz eines isolierten Schreibtisches oder Regiepultes heraus. Im Münchener Residenztheater rief mal eine Zuschauerin in eine meiner Inszenierungen hinein: „Da ist ja nichts mehr von Shake­ speare außer dem Text!“ Sie wollte ihr Entsetzen ausdrücken und sagte die Wahrheit.

Armin Petras, Probenpause „Medea Ost“ 1988

Die Wahrheit über ein Theater, das seine Wurzeln in jener Gruppe „Medea Ost“ in der DDR hat. Wo spielten Sie denn damals überhaupt? Geprobt haben wir zum Teil in Kirchenräumen, dort haben wir auch ab und zu gespielt. Fühlten Sie sich als oppositionelle Gruppe? Mit den großen Begriffen bin ich vorsichtig. Unbestreitbar war die Lust an der Provokation. Wir suchten uns dafür Bühnen. Und manches war auch komisch. So planten einige „Medea“Mitglieder eine Art politische Performance. An einem Tag zum

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Beispiel, da in der DDR gewohnheitsmäßig überall Luftalarm­ sirenen im Probebetrieb heulen würden, sollten sich an ver­­ schie­denen Stellen der Stadt kleine Gruppen auf Berlins Straßen legen – als vermeintliche Opfer eines Atomkriegs. Alles war konspirativ vorbereitet. Nur heulte an jenem Tag keine einzige Sirene. Die Performance fiel aus. Es gab einen IM in unseren ­Reihen, absurderweise der Chef einer befreundeten Punk-Band, die hieß auch noch witzigerweise „Firma“.

Ausreise in den Westen

Georg Heym in der Plastik­ tüte

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Im April 1988 sind Sie in den Westen. Wann hatten Sie den ­Ausreiseantrag gestellt? Auf den Tag genau weiß ich das nicht mehr. Mit 22 habe ich ­ge­heiratet – eine der „Medea-Ost“-Frauen, die im Westen lebte. Ich stellte einen Antrag auf Familienzusammenführung. Jedenfalls wurden Sie plötzlich aufgefordert, die DDR innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Mittags um zwölf bekam ich den Bescheid, ein amtlicher Zettel im Briefkasten: Ich hätte bis Mitternacht auszureisen. Wir hat­ ten aber am nächsten Tag Premiere, in Friedrichshain, auf einem Dachboden. Oder in der Zionskirche? Weiß ich nicht mehr. Übri­ gens war das meine einzige Premiere, bei der ich nicht selbst dabei sein konnte: ein Stück, das auf einem Essay von Franz Jung basierte, „Die Technik des Glücks“. Ich war nicht nur Regis­ seur, ich gehörte auch zu den Darstellern, also musste die Zeit, die mir blieb, für die Umbesetzung genutzt werden. Zwölf Stun­ den hatte ich noch Frist. Davon verwendete ich acht Stunden auf die Probe. Meine letzten Regieanweisungen bekamen den unfreiwillig komischen Anschein eines Vermächtnisses. Alles ging wirklich sehr schnell. Wahrscheinlich dachte die Stasi, wenn man mich überraschend abzieht, kann die Premiere nicht stattfinden. Sie fand aber statt, einen Tag nach meiner Ausreise! Das einzige Gepäck, das ich mitnahm, war eine eilig vollgestopfte Plastiktüte, ich hatte das Außen nach innen gekehrt, so machte man das in der DDR mit Westtüten, um den Reklame-Aufdruck zu verbergen. Was ich von daheim mitnahm, war das Gesamt­


werk von Wolfgang Borchert, Gedichte von Georg Heym, ein biss­ chen Unterwäsche, meinen Pass. Mein kleines Sparkonto hatte ich einem Freund geschenkt – der später in der Schweiz in die Fänge einer Sekte geriet und sich das Leben nahm. Mitglieder von „Medea Ost“ begleiteten mich zum Tränenpalast in der Friedrich­ straße, drüben, auf der Westseite holte mich eine Freundin ab, die dann später bei „Medea West“ mitspielte. Wie hatten Sie Nachricht nach Westberlin gegeben? Per Telefon? In der Samariterstraße stand ein grauer Telefonkasten, dort konnte man in den Westen anrufen, ohne bezahlen zu müssen. Ein technischer Defekt machte das möglich.

Das Telefon war ein Trick

Ein Glücksumstand. Das dachten nur die sehr Naiven. Alle anderen wussten, dass das eine offiziell eingerichtete Falle war. Man wurde auf diese Weise gelockt und verführt – denn wenn jemand von diesem Apparat aus telefonierte, lief garantiert irgendwo ein Band mit. Haben Sie eigentlich Einsicht in Ihre Stasi-Akten beantragt? Kein Interesse. Wie nahm Ihre Mutter diesen Schlag der Ausreise auf? Sie war verzweifelt, dass ich sie alleinließ. Sie selber: himmelhochjauchzend! Das alles ist so ganz säuberlich nicht zu trennen. Wenn ich an die unmittelbare Zeit des Ausreiseantrags denke: Tieftraurig war ich – trotz der Freiheiten, die ich mir in meiner Situation genommen hatte. Es waren ja auch Freiheiten, die mich erst ­hineingebracht hatten in die ungewisse Lage, es war beileibe nicht nur ein Leben im Höhenflug. Wir von „Medea Ost“ klauten nebenan auf der Probebühne von Hans-Eckardt Wenzel und Steffen Mensching Kohlen, um es für unsere eigenen Proben auch ein bisschen warm zu haben. Schön war das nicht. Ich nahm mir Freiheiten, aber das Empfinden von Unfreiheit blieb

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doch. Ob DDR oder Westen: Du bist immer inmitten von Bedin­ gungen, die sich gegen dich stellen. Aber in jeder Bedrängung gibt es, wie Alexander Kluge eines seiner Bücher titelte, „Die Lücke, die der Teufel lässt“. Der Staatenwechsel erfolgte in einem Tempo, das Ihnen gemäß ist: Ein Jahr vor der Wendezeit waren Sie noch Assistent am Deutschen Theater Berlin. Die Situation war schizophren: Meine Freunde waren alle im Knast gelandet, und ich selber musste mit meiner DT-Anstel­ lung automatisch den Eindruck erwecken, die Welt sei in Ord­ nung. Andererseits war das Deutsche Theater der Ort, an dem man unbedingt sein musste, wenn man von diesem Metier was wollte. Bei Friedo Solter – er inszenierte „Die Fliegen“ – machte ich meine erste Regiehospitanz. Ich verhielt mich sehr ruhig, ich war auch da kein Opponent, ich hatte ja meine private andere Welt, meine Theatergruppe, in der ich meine Konflikte auslebte. Also: Auf der einen Seite arbeitete ich bei der Crème de la Crème der Etablierten, bei Thomas Langhoff und Katja Paryla, ich war die rechte Hand von Solter, na ja, eher der Kaffeejunge, anderer­ seits trieb ich mein bisschen Unwesen in einer radikalisierten Zelle dieses Gefängnisses DDR. Damals habe ich in Not an Chris­ toph Hein geschrieben, denn ein Freund von mir saß im Gefängnis.

Hospitanz bei Solter

Der Hilferuf war eine Illusion? Ich empfand Scham, so einen Brief zu schreiben, aber ich schrieb ihn. Hab ihn allerdings nie abgeschickt. Schriftsteller waren eine moralische Instanz. Heute unvorstellbar – wer käme auf die Idee, sich wegen praktischer Hilfe an einen Künstler zu wen­ den. Vielleicht war Grass noch so eine letzte Institution, wie Böll mal eine war. Im Osten Christa Wolf. Vor Jahren wollte eine Zeitschrift von Ihnen wissen: Wenn Sie nur noch eine einzige Zigarette hätten – wem würden Sie die geben? Wissen Sie noch, wen Sie nannten? Georg Heym.

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Dessen Gedichte Sie auch im Ausreisegepäck hatten, als Sie die DDR verließen. Über Franz Fühmanns großen Trakl-Essay war ich auf ihn ge­kom­ men. Wir waren damals begeistert vom Expressionismus – von diesem „O Mensch!“ jenseits aller Ideologien. Diese Wahrheit: Wenn es auch nur dem Letzten schlecht geht, dann is’ die ganze Gesellschaft schlecht. Sie mögen Lyrik. Ich bin ein leidenschaftlicher Leser von Gedichten. Die Romanti­ ker, dann Thomas Brasch, Hölderlin, Inger Christensen, Marina Zwetajewa. Und Wolfgang Hilbig, dessen Band „Stimme Stim­ me“ ich für einen der besten deutschen Gedichtbände halte. Fühmann nannte Hilbig einen genialen Trunkenen, „der Arm in Arm mit Rimbaud und Novalis aus dem Kesselhaus durch die ­Tagebauwüsten in ein Auenholz zieht“. Er hat Fäden des Alltäglichen zum Spinnennetz ganz aus Un­ heimlichkeit verwoben. Der verrußte Keller, in dem der Heizer Hilbig nachts las und schrieb: ein Arbeiter-Dichter im Vorhöllen­ dienst. Ich hab ihn ein einziges Mal getroffen. Zur Premiere von einem Stück in einem Kulturzentrum in Hohenschönhausen – Joseph Conrad und eine Tänzerin in einem riesigen Aquarium, ich glaube, nach Roland Barthes’ „Mythen des Alltags“. Ich saß mit einer Flasche Wodka an einer Bushaltestelle, ein Bus hielt, ein schwer betrunkener Mann stieg aus, sah mich, kam auf mich zu, ich erkannte ihn, gab ihm meine Flasche, er ging mit der Flasche, trank aus ihr und stellte sie kurz vor dem Theater­ raum wieder ab, drehte sich aber nicht um. Ich frage mich: Hätte ich auch jemand anderem meine Flasche angeboten?

Ein Leben mit Lyrik

Weststart in einer veganen Bäckerei

1988, Ihre Ankunft im Alltag des Westens, in Westberlin – was hieß das konkret? Früh um sechs drehte ich Frühlingsrollen, in der ersten grünen, also veganen Bäckerei am Innsbrucker Platz, um neun ging’s zur Probebühne in Schöneberg, das war ein Kneipenhinterraum. Ich

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musste jeden Morgen erst mal die Kotze vom Vorabend weg­ wischen. Ab 14 Uhr dann Technische Universität, also Studium – vergleichende Literaturwissenschaft, Geschichte des Mittel­ alters. Und eben auch Ethnologie an der FU. Ich glaube, nur vier Mal besuchte ich eine Vorlesung, das war mir zu voll. Ich bekam aber BaföG, machte auf diese Art eine Menge Schulden und musste, um Geld zu verdienen, die Stelle einer Assistenz anneh­ men. So verschlug es mich an die Münchner Kammerspiele. Von Berlin nach München? Unmittelbar bietet sich das nicht an. Es war eine dunkle Zeit, dieser Weltenwechsel von Ost nach West. Ich musste von ganz vorn anfangen, wir hatten ein Kind und sowas von kein Geld! Im Osten hatte man kein oder kaum Geld gebraucht, plötzlich aber war das anders. Ich schrieb mich als Student ein, meine junge Familie und „Medea West“ lebten eine Weile lediglich von meinem BAföG. Für einen 24-, 25-Jähri­ gen aus der DDR eine beklemmende Situation. Meine Lebens­ gefährtin sagte den schlichten Satz: Wir müssen was tun! Ich schrieb Bewerbungen, lediglich die Folkwang-Schule Essen ant­ wortete, ich setzte mich in den Nachtzug und fuhr zum Vorspre­ chen. Unglaublich war, dass ich im Abteil mit einer jungen Tän­ zerin aus den USA ins Gespräch kam, sie fuhr ebenfalls zu einem Bewerbungstermin, woandershin allerdings, und in dieser Zug­ nacht erarbeiteten wir gemeinsam ein Solo für meinen Auftritt an der Schauspielschule und eine Rolle für sie, der Zug fuhr ­damals zehn Stunden. In Essen stieg ich aus, fühlte mich gut, atmete tief und hoffnungsvoll. Nun trat ich vor die Damen und Herren der Schule, gab meine Proben, also das Nachtstück aus dem Zug und Ausschnitte aus Ionescos „Der König stirbt“. ­Damals dauerte das Vorsprechen eine ganze Dreiviertelstunde, man wurde als Bewerber nicht einfach nur eilig durchgewinkt, wie das heute häufig der Fall ist. Das Urteil der Prüfungs­ kommission: Ich wurde genommen – und zwar gleich ins 4. ­Studienjahr! Natürlich flippte ich aus, Essen war für mich plötz­ lich zur Weltmetropole des Gelingens geworden, schon wollte ich in Berlin bei meiner Lebensgefährtin anrufen: Wir ziehen um!

Von Berlin nach München?

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4. Studienjahr? Das hieß: baldiger Abschluss. Also ein Berufs­ ausweis. Da öffnete sich allerdings die Tür, und in meine Eupho­ rie trat Hansgünther Heyme, eine streng und asketisch wirkende Regiegröße jener Zeit. Er leitete das Theater in Essen und arbei­ tete auch an der Folkwangschule – er entschied: Alles auf An­ fang! Noch mal Vorsprechen, noch mal eine Dreiviertelstunde, dann noch mal Warten, und am Schluss noch mal das Prüfungs­ urteil. Das lautete bei Heyme allerdings anders: keine Aufnahme ins Studium! Er sagte: „Sie sprengen meine Schule.“ Aber er unterbreitete mir ein Angebot: Er würde mich sofort in seinem Ensemble aufnehmen. Nun wollte ich ja Regisseur werden, nicht Schauspieler, also ging ich. Heyme war mal Intendant in Stuttgart und Bremen – an zwei Theatern, die sehr wesentlich mit ihrem Lebensweg zu tun haben. Enttäuscht fuhr ich zurück nach Berlin und habe an die siebzig Bewerbungen für Regieassistenz verschickt. Es war übrigens das einzige Mal in meinem Berufsleben, dass ich mich irgendwo bewarb. Einzig vom Theater am Turm Frankfurt am Main, vom TAT, bekam ich eine Antwort, Elke Lang und Chefdramaturg Tom Stromberg luden mich ein – allerdings auf Grund einer Ver­ wechslung, sie dachten nämlich, ich sei am Deutschen Theater Assistent von Alexander Lang gewesen, der damals stark ange­ sagt war. Sie wussten nicht, dass ich bei Friedo Solter gearbeitet hatte. Sie nahmen mich trotzdem, die Theaterwohnung teilte ich mit Martina Gedeck, wir führten wunderbare Gespräche über Gott und die Welt und das Theater. Nicht mal vierzehn Tage blieb ich am TAT. Elke Lang inszenierte, ich assistierte, und jeden Abend schrieb ich auf eine DINA-4-Seite ganz präzise Probennotizen. Ein weiteres Blatt füllte ich regelmäßig mit ­ ­Vorschlägen, wie ich selber die jeweilige Szene formen würde. Aber: Was ich vorbildlich fand, als bestmögliche Arbeitshaltung, das wurde von Elke Lang offenbar als penetrant empfunden, und so wurde ich ins Büro gebeten: Ich bekam das Angebot, noch zwei Monate Gage zu erhalten, aber bitte schon morgen abzureisen! Das Elend begann von vorn: Heimfahrt ins Unge­

Heyme: „Sie sprengen die Schule!“

Elke Lang schickte mich weg

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wisse. In Göttingen bin ich einfach ausgestiegen, als schämte ich mich, mit einer erneuten Niederlage nach Berlin zu kom­ men. Ich blieb unterwegs, um den blamablen Einzug daheim noch ein wenig hinauszuzögern.

Schöner Schock in Göttingen

Dieter Dorn

Wer steigt freiwillig in Göttingen aus? In Göttingen hatte mein Vater studiert, das war meine Bezie­ hung zu dieser Stadt. Ratlos lief ich durch die Straßen. Schluss mit dem Theater!, dachte ich und meinte es im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. So vieles steht gegen dich, sagte ich mir, geh zurück in dein Studium, gewöhn dich an andere Dinge, die dich auch noch interessieren. Ziellos trottete ich umher, bis der nächste Zug mich unerbittlich nach Berlin bringen würde. Es war die Zeit des Walkmans, Kassette plus Radio, ich hörte plötz­ lich eine Besprechung im SFB, Peter Hans Göpfert hieß der Re­ zensent, das weiß ich noch ganz genau, er sprach begeistert über eine Aufführung der freien Szene, auch das gibt es heute kaum mehr unter Theaterkritikern, und worüber sprach Göp­ fert? Über „Mercedes“ von Thomas Brasch im Böcklerpark in Berlin – eine Arbeit von „Medea West“, inszeniert von einem jungen Regisseur, Armin Petras. Wie bitte? Hatte ich richtig ge­ hört? Was hieß hier SFB? Ich in den Weltnachrichten! Jetzt kannte also jeder meinen Namen! Ich stieg in den Zug nach ­Berlin, und was soll ich sagen? Zuhause im Briefkasten fand ich einen Brief meines Schauspieler-Freundes Horst Kotterba, er fragte, ob ich nicht nach München kommen wolle. Er habe ­Dieter Dorn von mir erzählt, der Intendant der Kammerspiele suche einen Regieassistenten, und er sei an mir interessiert. Ihre biografischen Daten ermutigen zu der Annahme, Sie seien in München der Regieassistent gewesen, der es am schnellsten zu einer eigenen Inszenierung schaffte. Das ist wahrscheinlich richtig. Aber das war kein Zeichen der Anerkennung, sondern: Dorn wollte mich loswerden. Ich passte nicht in sein Theatersystem, er „verheizte“ mich, indem er mir eine Inszenierung anvertraute, ich spürte das schnell, ich war

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unglücklich, ich betäubte mich quasi jede Nacht, sechshundert Kilometer von zu Hause weg, losgelöst, konfrontiert mit einer Art Schauspiel, zu der ich keinen Zugang fand. Ich nervte Dorn wahr­ scheinlich schon mit meiner Dauerbemerkung, er möge sich doch mal Aufführungen von Castorf ansehen. Das war ja nun gar nichts für seine gemäßigte, umgängliche SPD-Art. ­Wobei ich wie­ der hinzufügen muss: Ich sage das jetzt in Abgrenzung zu ihm, aber ich polemisiere nicht. Ich benenne nur den Unterschied. Es war alles total verquer: Denn Dorn war mir sehr sympathisch, und ich glaube sogar, das beruhte auf Gegenseitigkeit. Er war ein Kümmerer und einer der letzten Patriarchen, dem es gelang, ein großes, kräftiges Ensemble über viele Jahre ans Haus zu bin­ den. Das bleibt eine Leistung, die historisch geworden ist. Ich schätzte ihn und seinen Chefdramaturgen Hans-Joachim Ruck­ häberle sehr, es gab viel von ihnen zu lernen. Letztlich jedoch waren die Atmosphäre, der Kunstsinn und der gesamte Betrieb so bürgerlich und in qualitätsvoller Weise so konservativ, dass ich zwar staunend fremd davorstehen konnte, aber keinen Schritt hinein bekam. Ästhetisch ging nichts zwischen uns. Es war ein Kulturclash, furchtbar. Bis Ende 1992 arbeitete ich in München. Sepp Bierbichler hat mir gewisser­maßen das Leben gerettet, als alle mich boykottierten – während der Arbeit an einem Koltès-Stück. In der letzten Vorstellung saß Rudolf Koloc aus Frankfurt (Oder) im Saal, er suchte nach jugendlicher Ver­ stärkung, ich ging mit. Diese Anfrage zur rechten Zeit, in letzter Sekunde sozusagen, war der Zufall, der mich am Theater hielt.

Bierbichler rettete mich

Sie sind 1992 nach Frankfurt (Oder) gegangen. Vorher also der Weg vom DDR-Osten in den Westen, nun die Rückkehr in den Osten? So war ich irgendwie wieder zu Hause, zugleich aber gab es die­ sen Mauer-Osten nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, in einem an­ genehmen Niemandsland zu sein. Dieses Wohlgefühl verflüch­ tigte sich allerdings. Weil schnell klar wurde: Eine Art, anders zu leben, würde es in dieser neuen, alten Bundesrepublik nicht wirklich geben. Es fand keine Vereinigung zu neuer Qualität statt, sondern nur die Nordirlandisierung Deutschlands.

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Sie sind ungerecht. Bin ich, unbedingt. Der Ostler, was war das damals? Der Ostler ... ist kratzbürstig und immer beleidigt. Fehlende Coolness. Er fühlte sich entweder privilegiert, das machte ihn verschämt, oder er fühlte sich hinten an gesetzt, das macht ihn verstockt. Kein Talent für Maß und innere Balance. Wieder ungerecht. Wäre ich Osteuropäer gewesen und nach der Wende in den Westen gereist – ich wäre dort in meiner Nationalität trotzdem unangetastet, also zu Teilen fremd geblieben. Der Ostdeutsche aber wechselte nur in einen anderen deutschen Staat; trotz ganz anderer Sozialisation in der DDR war da offenbar immer ein Keim Nähe, tief drinnen. Bei mir nicht. Ja, ich ging trotz ­Westen wieder in den Osten, und ich muss sagen, dass ich noch heute viel lieber in Belgrad oder Budapest bin als in Paris oder London. Das hat insofern etwas Absurdes, als ich mich doch zu DDR-Zeiten genau nach der Aura dieser westlichen Städte sehnte.

Trotz Westen wieder in den Osten

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Volker Braun fand dafür ein schönes Wortspiel: Es gab in der DDR die Sehnsucht, aus dem „Eng-Land“ wirklich mal nach England zu gelangen. – Als Sie in den Westen kamen, mussten Sie es doch seltsam finden, dass Leute wie Thomas Langhoff und Alexander Lang in der Bundesrepublik noch immer – in Melancholie – so eine Art sozialistischen Idealismus ausstrahlten – es war das, wofür diese Künstler ja immer eingekauft wurden von Hamburg oder München oder Salzburg. Idealisten also, die aber selber längst umgesattelt hatten auf die andere Welt. Ich sah diese Kollegen als sehr junger Typ natürlich kritisch – kri­ tischer als jetzt. Ich attackierte aber auch das nicht, ich hab’s nur selber immer anders gemacht. Ich bin keine Volkshochschule, ich bin keine politische Partei, ich gebe keine Antworten und mache keine Propaganda. Ich bin dem Sinne asozial, als mich


nie der Ehrgeiz trieb, einzig nur an größeren Häusern zu sein und darauf hinzuarbeiten. Das ist mir fremd gewesen, ich dach­ te mir zum Beispiel niemals Berlin als Basis und Bastion für ­Erfolg und Erfüllung. Ich sehe Arbeit an sich, nicht die äußere Gegebenheit für Arbeit. Die kann sein, wie sie will. Natürlich habe ich mich gefreut, wenn Castorf mal nach Westberlin kam und sich was ansah von „Medea West“. Im Osten hatten wir Heiner Müllers „Medeamaterial“ und „Hamletmaschine“ ge­ spielt, in einer Kirche in Prenzlauer Berg, Müller kam zur Premie­ renfeier, ich hab ihn auch mal in seiner Neubauwohnung in Friedrichsfelde, am Tierpark, besucht. Mir unvergesslich: ein Spalt in der Betonplatte der Zimmerdecke, ganz oben im obers­ ten Stockwerk, es war spätabends, man konnte die Sternen­ pracht sehen oder das Schwarz des Himmels, praktisch den ­Geburtsort des berühmten Satzes „Dunkel Genossen ist der Weltraum sehr dunkel“. Sie erwähnten Osteuropa ... Wir haben über Stasiuk gesprochen. Ich las Romane, Repor­ tagen von ihm, und mich überkam so ein gutes Gefühl – für Heimat, die man noch nicht kannte. Da war der unermessliche Raum dieses Ostens, dieser alles mit sich reißende „Wind aus der Tiefe der Dunkelheit“.

Andrzej Stasiuk

Stasiuk schreibt über Napoleon, Hitler: „Dass es etwas so Großes wie diesen flachen Osten geben könnte, das konnten sie sich nicht vorstellen. Welche Strecke du auch zurücklegst, du kommst nicht an. Wie viele du auch losschickst, sie gehen unter.“ Es sei nicht ausgeschlossen, schreibt Stasiuk von seinen Wanderungen, dass es „die Angst vor allem Menschlichen“ gewesen sei, die ihn an den östlichen Rand der Welt geführt habe. Angst habe ihn immer wieder geheißen, „dorthin zu reisen, wo der Menscheneinfluss schwindet und also nichts von Grauen unterwandert ist. Mongolei und noch weiter, wo man unter der Erde, zwischen den jahrhundertealten Schichten des Sandes, nur Tierknochen finden

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„Medea West“

„Die Technik des Glücks“ von Jung

kann.“ Keine Asche, keine Fuhren von Leichen, die aus den Z ­ entren, aus Kriegen um die Macht stammen. Stasiuk bezeichnete den Kommunismus als ein System, dem es darum ging, „den Kosmos für ungültig zu erklären“ – das habe er von Andrej Platonow gelernt ... In meinem Auto, weni­ ge Meter von unserem Gesprächsort entfernt, liegt seit eini­ gen Tagen ein Plakat. Ich hatte dieses Plakat seit 1988 nicht mehr gesehen. Es hat exakt mit jener „Medea“-Zeit zu tun, über die wir uns gerade unterhalten. Damals war eine junge Frau bei uns Kostümbildnerin und Malerin – Ramona. Sie hat eine unheilbare Krankheit, an der schon ihr Vater litt, er hat sich umgebracht. Und nun bekam ich, kürzlich, einen sehr überraschenden Anruf, von Markus aus Bremen. Er hatte da­ mals linksradikale Texte von drüben zu uns in den Osten ge­ schmuggelt, auch Drogen, er war mit Ramona zusammen, er heiratete sie raus aus der DDR, wir trafen uns dann wieder bei „Medea West“. Mitte der Neunziger verloren sich die Spuren. Markus war Krankenpfleger, inzwischen ist er ein hochdotier­ ter Anwalt, er sagt, er verdiene das Dreifache von Angela ­Merkel – ja ja, „Medea Ost“ und „Medea West“ und die Karrie­ ren jenseits der Kunst (lacht). Markus traf sich also vor ein paar Tagen mit mir und gab mir das Plakat – von unserem letzten Stück, „Die Technik des Glücks“. Ausgerechnet darüber reden wir in diesem Moment! Das ist die Regie des Zufalls, die einem aber immer wieder – oft über­ raschend – Dinge zuleitet, die etwas mit dem Wesentlichen des Daseins zu tun haben. In „Die Technik des Glücks“ heißt es: „es gibt auch kaum noch einzelwesen, die in der lage wären, diesen existenzschrei, der sich als schweigen manifestiert, in das sinnlich wahrnehmbare zu transplantieren; auch von mir ist dies nicht zu erwarten. der mensch aber spricht nicht, der mensch schreit.“ Wie Sie von jener Zeit erzählen, bekommt man etwas mit von der Art, mit der man in bestimmte Situationen gerät. Als würden sich

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Armin Petras (rechts) als Polonius in Hamlet, Medea Ost 1987

Bewusstsein und das Vegetative die Bälle in uns zuwerfen, und wir selber wissen gar nicht, wie uns geschieht. Einerseits war damals alles leicht im Osten. Man darf nicht ver­ gessen: Wir waren im Schnitt etwa zwanzig Jahre alt. Mitte der Achtziger kam ich von der Armee zurück, dort hatte ich dem Traum vom Landarzt abgeschworen und mich stattdessen am Regieinstitut in Berlin beworben – und die Prüfung bestanden. Da nur alle zwei Jahre immatrikuliert wurde, blieb Zeit. Was tun? Wie gesagt: Das Theater, das ich machte, war zunächst ­keine Aktion gegen den Staat, es war purer Beschäftigungs­ wille. Mehr oder weniger zufällig bekam die Gruppe den Namen „Medea Ost“, weil wir Müllers „Medeamaterial“ inszenierten. Carsten und Sebastian und Michaela studierten in Leipzig, ich würde in Berlin studieren, da war Anett, die Freundin von Dirk, die schon Schauspielerin war, dazu kamen besagte Ramona als Bühnenbildnerin und die Tochter des Schauspielers Horst Wein­ heimer, sie arbeitete als Ankleiderin am Deutschen Theater, wo auch ihr Vater engagiert war. Mein bester Freund Dirk war unser

Institut für Regie

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Die Zeitung namens Sergei Bubka

dramaturgischer Kopf und der radikalste Mensch, den ich bis dahin kennengelernt habe. Auch er studierte am Regieinstitut – am Tag, da ich mit dem Studium begann, pinnte er an die Insti­ tutswand für die Bekanntmachungen und Termine ein Gedicht: seine Selbst-Exmatrikulation. Eine Aktion sozusagen mit ganz dicker Hose: Was die mir hier beibringen wollen, weiß ich schon, und nichts kotzt mich mehr an als sinnlose Belehrungen und Rotlichtbestrahlung! Für uns schrieb Dirk dann ein Stück, das hieß „Mittwoch“. Wir gaben eine Untergrund-Zeitung heraus, ich fertigte den Titel, als Sohn einer Fotografin kannte ich mich aus mit Abzügen per Hand. Die Zeitung hieß „Bubka – Theorie und Praxis der falschen Bewegung“, das ging auf Alexander ­Kluge zurück. Natürlich wusste jeder, der sich ein wenig im Sport auskannte: Sergei Bubka war ein weltbekannter sowjeti­ scher Stabhochspringer, es ging in unserem Zeitungstitel um die Überwindung der Mauer. Wir spielten auch im Berliner Dom, ganz oben in der Kuppel, in einem Raum genau gegen­ über dem Palast der Republik. Horst Kotterba, mit 34 der Älteste von uns, hatte aus dem Schweriner Theater, wo er arbeitete, Scheinwerfer geklaut und sie mit seinem „Trabant“ nach Berlin gefahren. Horst war der Aufgeräumteste von uns; wenn er auf­ tauchte, wurde es hell und heiter. Wir spielten „Wolokolamsker Chaussee 1 bis 3“, das war unser einziger notierenswerter kom­ merzieller Erfolg. Auch Harald Müllers „Totenfloß“ spielten wir – Leben und vor allem Sterben in einer verstrahlten und vergifte­ ten Natur. Eine böse Vision, wir hatten das umgedichtet und umgemünzt auf Wolfen und Bitterfeld.

„Ich flog aus der Schule“

Was hießt kommerzieller Erfolg? Nichts weiter als eine etwas größere Spendensumme. Wir ver­ langten keinen Eintritt, wir baten zum Schluss jeder Aufführung am Ausgang um die berühmte kleine Spende. Das Prinzip der Kollekte – es war unsere einzige Einnahmequelle, und unter den gegebenen Umständen ging uns tatsächlich langsam die Luft aus. Keiner hatte eine richtige Arbeit, mehr und mehr kam es zu Verhaftungen, ich flog aus der Busch-Schule, die Ausreise­

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anträge nahmen zu, die Stimmung wurde zunehmend depres­ siv. 1988 führten wir noch Hölderlins „Empedokles“ auf, ein ­halbes Jahr bastelten wir am Bühnenbild, dessen wesentlicher Teil bestand aus acht Metern aneinandergeklebter Streich­ hölzer, die standen auf dem Fußboden und symbolisierten die Mauer. Die Schauspieler saßen links und rechts davon. Mein Freund Dirk lud mich eines Tages zu einer Tasse Kaffee ein und sagte einfach nur: „Ich kann nicht mehr, mach’s gut.“ Normaler­ weise erzählten wir uns solche Dinge nicht, um einander nicht in eine gefährliche und belastende Mitwisserschaft zu bringen. Dirk hat seinen DDR-Pass eingesteckt, ist geraden Wegs zum Brandenburger Tor gegangen, holte den Pass raus und sagte zu den Grenzern: „Ich will jetzt da rüber.“ Das brachte ihm zwei Jahre Knast. Wir haben danach nie wieder zueinander gefunden. Es stieg nicht doch der Hass auf das System? Wie gesagt, das völlig falsche Wort. Dazu fand ich, trotz Schmerz, alles viel zu spannend. Man war jung und irre neugie­ rig, auf alles, auch auf den Schmerz. Da genau sind wir bei die­ sem Zugleich der Empfindungen: dem Expressiven und dem Depressiven. Mir war diese enge DDR zuwider, ja, aber ich sah das Ganze dennoch nur als einen Sekundärkampfplatz, ich konnte diese Funktionäre nicht wirklich ernstnehmen, sie ­kamen mir vor wie Marionetten an Fäden, die ganz woanders gezogen wurden. Von diesen Typen ging nichts aus, nicht mal Gefahr. Geistige Gefährlichkeit schon gar nicht. Die wahren, schweren Kämpfe dieser Welt wurden doch ganz woanders ­ausgefochten. Also: Es gab schöne Momente des Draußen­ seins und bittere Momente der Einsamkeit. Dass ich wegwollte, hatte wirklich nichts mit meiner Kindheit und den familiär be­ dingten Neurosen zu tun. Genau genommen war ja Vieles in Ordnung, ich hatte einen verlässlichen Freundeskreis mit ähn­ lichen E ­ mpfindungen, wie ich sie hatte.

„Man war jung und neugierig“

Was peinigte, war diese Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Verkündigung.

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Ich fühlte mich verarscht. Aber nicht mal das war das Aller­ schlimmste, es ist schließlich das Grundprinzip von Herrschaft, die Verarschung gilt überall, nur empfand ich das Beherrscht­ werden derart blöd, stupide und plump, dass ich nicht den Ver­ dacht aufkommen lassen wollte, es nicht zu durchschauen. Mich machte wütend, dass der Staat denken könnte, ich merke seine Blödheit, Stupidität und Plumpheit nicht. Ich sah, dass der Satz, die Welt sei veränderbar, zur Religion wurde. Aber ich wusste doch: Die Welt ist veränderbar. Und das Weggehen ist auch Veränderung. Also: weg!

Schwedt – aber nicht im Knast

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Vorher war es so, dass Sie gewissermaßen zu den privilegierten Randständigen zählten? Klar. Da war die Rolle meines Vaters, da war die Herkunft aus dem Westen, ich spürte immer so eine Art unausgesproche­ nes Behütetsein – noch in jenen Situationen, da ich mit Poli­ zei Bekanntschaft machte, mit Exmatrikulation, mit Haft. Ich war im Gefängnis, ja, mehr als einmal, aber doch niemals ­lange, höchstens mal ’ne Woche, ich geriet nie unter irgend­ eine psychische Folter. Und im berüchtigten Schwedt, bei der ­Armee, war ich nicht im Knast, sondern nur in einer Strafkom­ panie. Natürlich verstehe ich Menschen, die ungebrochen hassen, die unter Erinnerungen leiden, die ein Trauma mit sich schleppen. Ich selber aber hatte Möglichkeiten, mich auf eine Spielwiese zu retten, ich empfand meinen Vater und seine Genossen als Gescheiterte und betrieb meinen Rock ’n’ Roll. Punkt. Ich zog meine eigene Mauer hoch. Ich befand mich in einer tollen Gruppe und ging eine lange Zeit jeden Abend, ja, jeden Abend!, in Berlin ins Theater. Deutsches Theater, ­Ber­liner Ensemble, Volksbühne. Ich sah mir Ruth Berghaus, Herbert König und später dann die einzige andere freie Grup­ pe „zinnober“ gleichermaßen interessiert an. Das jeweils so ­Verschiedene steigerte meine Lust, es wahrzunehmen. Ich war getrieben von einer großen Ernsthaftigkeit, mich offen zu halten. Und irgendwann, so um die dreißig herum, fing ich zu schreiben an.


Fazit? Nichts ist existenziell vernichtend, solang du noch einen Aus­ druck dafür suchst. Oder sogar findest. Anders gefragt: Waren Sie unglücklich in der DDR? Natürlich. Aber es war meine glücklichste Zeit. Klingt paradox. Zeitweilig habe ich die DDR verflucht, als einen Ort, aus dem es kein Entfliehen gab. Aber es war meine Heimat. Wie bitte? Heimat, ja. Heiner Müller schrieb, Heimat sei dort, wo die Rech­ nungen ankommen. Der Ort, wo du für alles bezahlen musst. Heimat kann man sich nicht aussuchen. Genau so wenig wie Fußballmannschaften, denen man nachhängt. Es kommt über dich. Die Wiederholungsschleife: Bei Rotation Berlin habe ich Fußball gespielt, bei der Armee auch. Ich war Mittelläufer und Kapitän und wollte – auch ein Heimat-Reflex – unbedingt in die Nationalmannschaft.

„Glücklichste Zeit“

Natürlich als Mittelfeld-Regisseur ... Weltmeister! Mit einer DDR-Elf?! Ich finde, mit etwa siebzehn Jahren versteht der Mensch am besten, was Leben und Welt bedeuten. Die Glücksgefühle sind am intensivsten und zugleich am unerklärlichsten, und das ­Unglück kommt ganz selbstverständlich, und die Hilflosigkeit gegenüber Glück und Unglück ist auch ganz selbstverständlich. Später dann allerdings wird jeder Instinkt mit Wissen zerstört, das ist das eigentliche Trauma der abendländischen Zivilisation. Theater bei „Medea Ost“ war für Sie damals ein Fluchtort ... Eine Überlebensmöglichkeit. War doch besser, als sich an der Mauer abknallen zu lassen. So stand die Frage für mich.

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... Theater heute – immer noch ein Fluchtort? Es ist ganz einfach: Ich hatte stets Probleme, und das Theater hielt mich davon ab, Fensterscheiben einzuschlagen. Heute würde ich es etwas milder formulieren: Mit Theater kann ich meine Miete bezahlen, noch. Wie denn? Theater ist kein Hammer mehr? Jetzt ist das erst mal ein Ort, um den Kapitalismus auszuhalten. Für die, die’s machen, und für die, die’s sehen. Eine konterrevo­ lutionäre Ansicht, oder? Andererseits werde ich wohl nichts an­ deres mehr erleben. „Ich werde nichts anderes mehr erleben“

„Realismus ist Scheiße“ sagt Nobelpreisträger Peter Handke. Er meint damit auch sein Schreiben fürs Theater. Was reizt Sie unter diesem Aspekt, wenn Sie über Wirklichkeit nachdenken: Widerspiegelung oder Widerpart? Die Wirklichkeit ist sehr, sehr komplex, man kann sie nur halb­ wegs sehen. Ein bisschen kann man was erkennen, wenn man sie in Teile zerlegt. Aber sie bleibt ein Vexierbild, kaum lesbar. Wie soll ich das dann für den Zuschauer in einen geordneten Zusammenhang bringen? Wo ist mein Standpunkt? Wenn ich das nicht weiß – wie krieg ich ihn dann raus? Ich hab darauf keine Antwort. Ich suche. Wirklichkeit soll lesbar werden, gera­ de auch die Unergründlichkeiten dieser Wirklichkeit. Was schön zwangsläufig Ausdrucksformen einschließt, die neu sind, unbe­ rechenbar, ungewollt, irritierend. Ich tue, was ich suche. Sagt der französische Maler Pierre Soulages. Für mich ist es wichtig, Realitätspartikel in eine andere Sprache zu übertragen, also Zeichen für Realität zu finden und mich mit solchen Zeichen und Zeichensystemen auseinanderzusetzen. Als ich in München „Buch“ von Fritz Kater inszenierte, stießen wir auf einen Satz von Blaise Pascal: „Es ist nicht auszudenken, was Gott aus den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm ganz überlassen.“ Ich bin freudig erregt, was

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mir weltweit alles an Text, an Bild, an Musik zur Verfügung steht, um auf Erkundung gehen zu können, um mit all diesen Bruchstücken zu spielen. Der Zuschauer soll Interesse an der Art haben, wie man Zeichen neu zusammensetzt, zu einer eigenen Realität. Bei Roland Barthes kann man den Sinn von Zeichen­ setzungen beim Spiel studieren: Bedeutungen stehen nicht fest, sind nicht normiert, sondern durch eine Veränderung der Kontexte und der Zeichen selbst verändern sich immer auch Be­ deutungen. Im Kunstunterricht der siebenten Klasse malte ich einen Fuchs, möglichst naturgetreu sollte er sein. Die Lehrerin sah sich das fertige Bild lange an und sagte, das sei aber ein sehr schönes Schwein. So kam es, dass ich ab siebenter Klasse nie wieder eine Stunde Kunstunterricht besuchte. Bis zum Abitur. Auf der Bühne finde ich wichtig, dass man ein Bild malt, und in diesem Bild gibt es Zeichensysteme, die ein Zuschauer sehen und deuten kann. Aber ich selber bin nicht die alleinige Hoheit, die Deutungen vorschreibt. In jeder Körperform, in jedem Ding

Ursula Werner und Thomas Schmauser in Buch, Regie: Armin Petras, Münchner Kammerspiele 2015 Der Fuchs sah aus wie ein Schwein

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steckt ein ganzes Reich an Zeichen. Entdeck es, fabulier damit – das ist Spiel. Ideologie aber ist das Gegenteil von Spiel, denn Ideologie setzt für alles nur ein einziges Zeichen und schreibt Bedeutung vor. Die Idee des Spiels ist bei solcher Zeichenreduk­ tion und einer einzigen Bedeutungsnorm für Zeichen total außer Kraft gesetzt. Mag es für die Eindeutigkeit und die Abso­ lutheit von Zeichen also politische Gründe geben, fürs Spiel ist das grundfalsch und tödlich. Im Reich der Zeichen darf es keine politische Korrektheit nach Wirklichkeitsregeln geben. Ich ver­ stehe mich als Zeichensammler und Zeichenverteiler, in immer neuen Konstellationen und Situationen.

Kamel, Löwe und Kind

Das Spiel zu beschwören – ist das eine Absage ans Kämpfen, ans Widerstehen? Vorhin sprachen Sie von einer Spielwiese? Sie meinen, sich aufs Spiel zu berufen, sei mutlos und wirke wo­ möglich schwächlich eingeschnappt? Nein. Bei Nietzsche kann man lesen: „Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.“ Das Kamel steht für das De­ mütige, der Löwe für räuberische Macht, das Kind aber steht für den „Weltverlorenen“, der mit dem Neubeginn des Spiels die Wirklichkeit blamiert. Das Spiel erhebt sich über den ganzen „Erfahrungsdreck“, von dem Rainald Goetz spricht. Das spielen­ de Kind ist reicher, stärker, unabhängiger als der starke Löwe. Der ist ein Kämpfender, der sich dann doch dem großen Dra­ chen beugen muss. Spiel bedeutet für mich kein Ausweichen, es bedeutet, die Paradigmen für das Kämpfen nach eigenen Maß­ gaben zu setzen. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie diesen Text hören: „Seien wir stolz darauf, dass es uns noch gibt, ich meine in dem und mit dem, was wir machen. Die Zeit ist sowieso die einzige Kraft, die ich so richtig anerkenne. Krankheiten sind Stolperfallen und der Tod eine Grube zum Ausruhen, für den Neueinstieg, so eine Art Auszeit im Zylinder des Zauberers; darin wir verwandelt werden: in einen weißen Kranich, eine Gummibutterblume oder eben

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Staub. Also, Zeit ist Zeit, da kann man halt nichts machen oder eben auch: toll, dass es die überhaupt gab. Dankeschön Zeit, du kommst nie wieder, so. Aber nur wir haben dich erlebt, so erlebt. Hier an diesem Ort, an dem Ort, an dem wir waren, hier in unserem Theater, wo wir eben hingehörten, weil es der einzige richtige Ort ist, eben der, wo wir hingehören, auch wenn niemand von uns das hören möchte und schon gar nicht eingestehen und schon gar nicht von anderen hören möchte, und am wenigsten von denen, die da sind, wo wir selber hingehören wollen, aber nicht sind, zum Beispiel in die Nicht-Provinz.“ Armin Petras. Nicht-Provinz gibt es ja im Grunde gar nicht! Provinz auch nicht. Provence kenn ich, ja. Wenn schon Provinz, dann ist sie die inne­ re Provinz, also das, was in uns knirscht und leidet. Nichts ist Provinz – alles ist Provinz. Das fehlende Selbstbewusstsein in den kleinen Städten ist schlimm. Das ist schade, denn das wäre ein Pfund, mit dem man doch ganz anders umgehen könnte. Denn wo Reichtum und Größe sich breitmachen, ist man auch nichts anderes als Provinz, nur eben verblendet. In Berlin haben wir das Problem, dass alle die Größe der Stadt mit ihrer eigenen verwechseln, besonders die Zugezogenen. Nehmen Sie Pina Bausch. Wuppertal! Die Stadt scheint doch total gegen ein Er­ folgsrezept zu sprechen. I love Wuppertal!

Provinz? Provence!

Trotz Kapitalismus. Mit ihm – gegen ihn. Das Theater ist eine Ware, also wird es auch so behandelt. Wir leben in hierarchischen Strukturen, wir leben im Kapitalismus, das macht auch vorm Theater keinen Halt, aber es stärkt auch Eigenkraft. Eigenkraft ist Gegenkraft. Ihre Auffassung von Reichtum? Ich finde, Pollesch macht das ganz gut, wenn er außerhalb ­inszeniert: immer nur im Hotel wohnen. Das ist für die Theater nicht leicht, nicht wegen des Geldes, sondern weil kaum ein Hotel noch Raucherzimmer hat. Aber: Will man Pollesch haben, muss man sich anstrengen. Is’ korrekt so.

Pollesch will rauchen

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Passt Ihr Naturell zum Theatertrubel? Mein Naturell passt überhaupt nicht zum Theaterbetrieb. Im Grun­ de bin ich da am denkbar falschesten Ort. Denn ich bin u ­ ngesellig und asozial. Ich bin völlig ungeeignet für alle Arten von großen oder gernegroßen Bahnhöfen. Ich nehme nicht an Geburtstagsfei­ ern teil, ich lade niemanden zu mir ein, ich hasse Sitzungen, mich langweilt jede Form von Small Talk, jedenfalls, wenn keine Flasche Wodka mitmacht. Gibt’s aber selten bei Stadtratssitzungen.

Wodka im Stadtrat?

Wir kommen immer wieder auf Grundbegriffe. Freiheit etwa, immer wieder. Jeder Definitionsversuch führt auf die Gegenseite. In Freiheitsbekundungen sind Sie kein Euphoriker. Aber Fakt ist: Sie verließen die DDR, um in die Freiheit zu gelangen. Freiheit – was ist das? Ich kann es nicht sagen, ich bin ständig nur mit Zellen-Wechsel beschäftigt. Ich fühle mich nicht besser als zur Zeit des Eingeschlossenseins. Jetzt sind die Mauern halt andere. Leben bedeutet, mit Zwängen klarzukommen. Theater ist für mich Arbeit an diesem Einverständnis. Jetzt könnte der Verweis darauf kommen, Sie lebten in Freiheit, also nicht mehr in einer Parteidiktatur – und müssten also dankbar sein. Da kann ich nur sagen: Die Summe dessen, was ich positiv unter Freiheit empfinde, hat sich mit dem Wechsel der Systeme nicht geändert. Aber es stimmt: Ich merke in manchen Gesprächen, dass diese Feststellung als ungehörig gilt. Als sei ich undankbar, als bagatellisierte ich damit eine Errungenschaft. Aber ich kann nur frei sein, indem ich kämpfe. Theater steht für Freiheit, aber darin liegt ein Paradox. Denn Theater ist ein geschlossener Raum, fensterlos. Die Freiheit ist also nur eingebildet. Freiheit ist immer nur eingebildet. So spricht der Intellektuelle. Der gewöhnliche Mensch möchte nach Mallorca.

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Falsch. Ist jetzt lange geschlossen gewesen. Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass es gewöhnliche Menschen gar nicht gibt. Damit meint man meist Menschen, die aus den kompliziertes­ ten Verhältnissen kommen. Jetzt fehlt bloß noch, dass Sie sagen: Am besten, Sie lesen zu ­diesem Thema Stücke von Fritz Kater! Lesen bildet. Worum es Ihnen geht, ist das Problem einer Freiheit, die sich in Kopf und Herz vollzieht, nicht in Freizügigkeiten per Reisepass? Mich hat an der DDR genervt, dass Entwürfe von Leben unter Kon­ trolle standen. Man sollte tun, was vorgegeben war. Das w ­ aren schmale Wege, und das hat mich in den Theaterraum hinein­ getrieben. Bedingungen, Kampf ... Brecht – wir haben es schon zitiert – sprach nicht schlechthin von den Bedingungen des Kampfes, er sprach vom „Klassenkampf“. Ein verschwommener Begriff, der nur zu verschwommenen Antworten verführt. Die Weisheit des Volkes – diese Weisheit des Volkes besteht wesentlich auch aus dessen Schlawinertum, und das hat Namen: Simplicissimus, Eulenspiegel, Schwejk. Als Brecht – den ich immer dann langweilig finde, wenn er typisiert – seinen „Schwejk im zweiten Weltkrieg“ schrieb, fiel ihm nichts Positives ein zum tschechischen Volk, außer „das blinde Weiter­ machen. Das ist oft die Lösung: bei sich bleiben.“

Weisheit des Volkes

„Es kann ein Segen sein, die Dinge, die man nicht versteht, einfach zu ignorieren und die Mächtigen mit paradoxer Volksweisheit ­herauszufordern: indem man stur und einfältig so weitermacht, wie man es gewohnt ist.“ Las ich in einem Essay des Regisseurs Peter Atanassow vom Berliner Gefängnistheater „aufBruch“. Ein neues Stück von Fritz Kater heißt: „Come as you are (jokaste­material oder der kapitalismus wird nicht siegen)“. Immerhin.

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In dem Stück steht: „Die vernunft wird von jedem von uns geteilt so wird zumindest behauptet/ das trifft jedoch nicht auf den körper zu und vor allem nicht für den unbewussten körper/ dieser schließt uns alle in eine art nebliges geheimnis ein in dem wir bestenfalls uns treiben lassen können wie eine fähre in einem fluss voller eisbrecher wo ständig metall an metall knallt wie in den glocken der kirche die mahnen wie viel zeit wir sünder schon wieder verschenkt haben oder wie in einem entgleisten waggon einer geisterbahn in der die menschheit sitzt. die zeichen des ideals sind verwischt.“ Und eine Figur im Stück sagt: „In meinem leben ist niemals ein problem gelöst worden/ Es ist nur abgelöst worden/ Durch ein anderes problem/ Ein neues problem/ Jede krankheit hat eine andere auf den rücken genommen/ Und ist durch diese neue erdrückt zerstört worden / Wenn ich nur aufarbeitung höre könnt ich kotzen / aufarbeitung hat es nie gegeben schon gar nicht verarbeitung / Es gibt nur ausplünderung vergewaltigung übernahme der alten katastrophen durch neue größere“.

Da steht nichts von Sozialismus

So viel zum Klassenkampf? Immerhin, ich wiederhole mich, lautet der Untertitel: „der kapi­ talismus wird nicht siegen“. Ist das ironisch? Prophetisch? Wer weiß. Es steht da nicht: „Der Sozialismus siegt.“ Aber fest steht: Bevor etwas kommt, muss etwas gehen. Dann, wenn ­etwas so nicht mehr so weitergeht. So etwas wie Klassenstandpunkt ist also perdu. Ein verloren umherirrendes Wort. Es hätte eine Heimat, wenn man vom Standpunkt des Proletariats erzählte und den Kom­ munismus im Blick hätte. Hab ich nicht. Für wen erzählen wir überhaupt? Tolle Frage! Wieso? Ich finde alles toll, worauf es keine schnelle Antwort gibt.

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Szene Die Weber, Regie: Armin Petras, Schauspiel Köln 2018

Kann der Wille alle Ketten sprengen? Ja. Da sind wir wieder bei der Freiheit. Jedes Hochhaus ist auch eine Einladung zum Sprung, den dir keiner verwehren kann. Zynisch. Ich weiß. Also: nichts für mich. An diesem Punkt, nach dem Sie fragen, fängt nämlich sehr schnell ein intellektuelles Gequat­ sche an, für das ich nicht sehr empfänglich sein möchte. Ein ­großer Dienst am Menschen besteht darin, ihn nicht zu über­ fordern. Jeder handelt gemäß der Strukturen, in die er hinein­ geboren wurde. Innerhalb dieser Strukturen, die sehr verschie­ den sein können, gibt es Chancen, zu kämpfen, auszuweichen, anzugreifen. Mehr nicht. Sie haben 2018 am Schauspiel Köln Hauptmanns „Die Weber“ inszeniert – mit dem Verweis darauf, vor fünfzehn Jahren hätten Sie das Stück nicht auf die Bühne bringen können oder wollen. Weil ein halbwegs gut verdienender Schauspieler eine Lüge ist, wenn er Armut auf die Bühne bringt? Theater funktioniert für mich grundsätzlich über die Einheit von Distanzierung und Engagement. Ich schaffe ein Bild, das die

„Die Weber“ in Köln

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Distanz zu diesem fremden Text, zu einem Geschehen vor 170 Jahren formuliert. Darüber entsteht dann aber auch eine Nähe zur Gegenwart – wie bei der Figur des Fabrikanten Dreißiger, dessen Sätze zu ausländischen Märkten wie aus der „Wirt­ schaftswoche“ klingen. Ich bin kein Freund von Superlativen. Aber wie Hauptmann aus individuellen Nöten und Sehnsüch­ ten eine Bewegung entstehen lässt, die an einem bestimmten Punkt in einen Aufstand mündet, der schnell niedergeschlagen wird – das ist großartig. Man versteht sehr viel über heute. Wir haben mit dem Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge gesprochen, der uns Formen relativer und absoluter Armut er­ läutert hat. Er glaubt nicht an einen Aufstand von unten, weil es an Solidarisierung mangelt. Er glaubt auch nicht an einen ­Aufstand von oben. Einen Anschub erhofft er sich ähnlich wie ’68 durch eine außerparlamentarische Opposition, die sich aus der Schüler- und Studentenbewegung formiert. Bei den „We­ bern“ von Hauptmann ist das in der Tat so: Es sind die jungen Weber, die den Aufstand vorantreiben. Noch nie inszenierten Sie bis dahin ein Stück mit so vielen Darstellern – ein achtzehnköpfiges Ensemble. Das funktioniert nur, wenn man diese Gruppe als Chor im Sinne von Schleef denkt. Also nicht als antiken Chor, der gemeinsam spricht, sondern als Chor, der als Gruppe kenntlich ist. Also: symbolisierte und strukturalisierte Handlungen, die nicht mehr naturalistisch sind, sondern die eine Mischung aus Realismus, Expressionismus und Choreografie darstellen. Koonie, der Cho­ reograf unserer Inszenierung, war toll.

„Hamlet“ in Kassel

Fünf Jahre, von 2013 bis 2018, waren Sie Intendant in Stuttgart. Über Ihren „Hamlet“ 2000 in Kassel ... Erstens: lange, lange her. Zweitens: Was machen Sie denn jetzt für einen Umweg? Nach Stuttgart über Kassel? Sie haben geschrieben: „Hamlet kommt nur heraus aus dieser ­Gesellschaft, indem er sich einordnet, schließlich selbst Vater

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wird, ein Kind hat. Die andere Variante wäre sein eigener Tod, der Übergang zum Terrorismus oder – wie sein Vater, seine Väter – zum Staatsterrorismus.“ Es gibt, das war der Gedanke unserer Inszenierung, nur zwei ­Varianten. Die eine Variante – das sind die Menschen, die in der Heimat sind, aber ohne Arbeit, die nicht in der Bewegung der Gesellschaft sind. Und die anderen sind die auf Trab in der ­Gesellschaft, die im ICE sitzen und herumfahren, sich aber im weitesten Sinne selber aufgeben oder verlieren. Zu denen gehört Hamlet und auch – und immer mehr – wir alle: Horatio. Alle betonen bei Hamlet das Zögerliche, das Sensible, die daraus resultierende Verzweiflung. Sie verwiesen auf seinen Ehrgeiz. Ehrgeiz ist Angst, die nach vorn flieht. Mit diesem Versagen wird nicht jeder zum Mörder, aber jeder tötet – eigene Sehnsüchte und Rebellionskräfte.

Ehrgeiz ist Angst

Was tun? Unzufriedenheit allein genügt nicht. Die Geschichte eines Un­ zufriedenen ist entweder die Geschichte der Anpassung oder die Geschichte des Untergangs. Die Geschichte einer Weiterent­ wicklung, so paradox es klingen mag, wird nur die Geschichte desjenigen sein, der sich anpasst, der sich einrichtet in einer Gruppe und seine Unzufriedenheit auf neue Ziele richtet. Untergang ist kein guter Auftakt für Taten. Sich einpassen ... Letzteres klingt nach Zurücknahme, um neu und anders Anlauf zu nehmen. Es klingt nach Subversivität, nach List, nach jener uralten Weisheit, die in der Antwort auf die Frage liegt, wo man am besten ein Laubblatt versteckt. N ­ atürlich im Wald! Ausgerechnet der Randzonen-Romantiker Petras geht in ein Zentrum der Wohlhabenheit. Nach Stuttgart. Ans größte Drei-Sparten-Theater Europas mit Oper, Ballett und Schauspiel. Aha, sind wir am Ziel des Umwegs.

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Das Urteil, Stuttgart sei saturiert ... ... ist in großem Maße ein Vorurteil. Fahren Sie in Richtung Cannstatt oder Pforzheim, da wird es hart und schmutzig. Die Geschichte Baden-Württembergs erzählt auch von Wider­ spenstigkeit. Schiller, Schubarth. Und im Übrigen begriff ich als Intendant durchaus jene Strahlung, die von der Wirt­ schaftskraft Bayerns und Baden-Württembergs ausgeht. Ohne den Länderfinanzausgleich zum Beispiel, den diese Bundes­ länder wesentlich mittragen, könnte sich Berlin kaum so viele große Theater leisten. Die schon so oft gestellte Standardfrage: Warum Stuttgart? Ich habe nie verstanden, dass man in Stuttgart den Kopf schüt­ telte, als ich vor Beginn meiner Arbeit dort sagte, die Stadt sei der fremdeste Ort, den ich kenne. Das war eine Liebeserklärung! Ich wollte auf die andere Seite des Mondes.

Warum Stuttgart?

Erinnert mich an Fritz Katers „zeit zu lieben zeit zu sterben“, an die Definition von Westen: „er war diese 600 kilometer von zu hause weggefahren um in dieser fremden stadt zu arbeiten nichts hatte sich verändert nichts außer dass gebügelte hemden nicht mehr peinlich waren sondern ungebügelte.“ Ist Ihnen Stuttgart nähergekommen? Entgegengekommen – nicht nähergekommen. Der fremdeste Ort ist mir fremd geblieben. Eine resignative Bilanz? Nein, es gibt Versuche und Ergebnisse. Ich habe diese Stadt erst langsam verstanden, vielleicht zu langsam. Aber das ist doch der interessante Widerspruch: etwas verstehen wollen, aber gleichzeitig genießen, dass man nicht unbedingt immer gleich alles verstehen kann und muss. Und trotzdem sind Sie 2018 gegangen? In den ersten anderthalb Jahren hat es sehr gut funktioniert. Dann weniger. Dann am Schluss sehr toll, sehr emotional. An

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Abschied von Stuttgart 2018

anderen Orten hieß es oft: dieser Petras mit seiner Ost-Scheiße, in Stuttgart: dieser Petras mit seiner Berlin-Scheiße. Die Presse schrieb, Sie hätten fünf Jahre lang an Deutschlands schmutzigster Kreuzung gewohnt, am Stuttgarter Neckartor. Man hat Sie auf Politikseite als „künstlerischen Unruheherd“ bezeichnet und 2015 Ihren Vertrag vorzeitig bis 2021 verlängert. Sie haben ihn vorzeitig beendet, „aus persönlichen und familiären Gründen“. Über bestimmte große Entfernungen kann man private Proble­ me nicht lösen. Man kann sie möglicherweise auch dann nicht lösen, wenn man einander gegenübersitzt, aber zumindest ist das Reduzieren von Entfernung einen Versuch wert. Ich habe es versucht.

Warum weg von Stuttgart?

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Sicher war es ein Problem, dass Sie in Stuttgart zu oft auswärts inszenierten. Während meiner Intendanz am Gorki Theater habe ich auch woanders inszeniert, aber die Erwartungshaltung in Stuttgart war eine andere, das habe ich unterschätzt.

Bochums Furcht vor Schlingensief

Die Personalunion von Intendant und Regisseur hielten Sie lange für naturgewachsen und gut. Aber die Realität hat sich geändert. Managerdramaturgen ­haben übernommen. Die kaufmännischen, verkaufstechnischen und vernetzungsbedingten Zwänge schlagen auch um aufs Per­ sonal, ich denke, eine starke Gruppe ist heute der richtige Weg. Einmal zielte ich auf ein Duo. Ich bekam ein Intendanz-Angebot fürs Schauspiel Bochum und fragte Christoph Schlingensief, ob er mitkäme. Ich würde Intendant, er Präsident (lacht). Er zeigte sich einverstanden, ich schlug dem Kulturdezernenten vor, erst solle Christoph allein übernehmen, ein Jahr später – ich war noch am Gorki Theater – würde ich nachkommen. Die Stadt lehnte das ab, die hatten Furcht vor Schlingensief. Sie mühten sich in Stuttgart um regionale Bezüge, etwa „Das kalte Herz“. Fehlte der politische Biss? Nein. Als ich nach Stuttgart kam, war zum Beispiel bei Stutt­ gart 21 schon alles entschieden. Ich habe diese Kämpfe nur me­ dial verarbeitet mitbekommen. Mein Vorgänger, der hochge­ schätzte Hasko Weber und seine Kollegen, besonders Volker Lösch, die hatten sich damit stark auseinandergesetzt, hatten sich eingemischt. Für mich war das Thema so etwas wie ein ab­ geernteter Baum. Wir diskutierten in der Dramaturgie natürlich trotzdem darüber, durchaus kontrovers. Da Sie das Fremde, die Fremde nach wie vor reizt – wohin denn jetzt? Als ich in einem Zeitungsinterview sagte, ich hätte kein Problem damit, eines Tages vielleicht in Ulan Bator zu landen, an der dor­ tigen National-Oper, da nannten die einen mich arrogant, die

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Szene Ödipus auf Kuba, Regie: Armin Petras, Maxim Gorki Theater Berlin 2008

anderen zynisch. Ein tolles Gespräch hatte ich mit der Intendan­ tin in Belgrad. Wir machen hoffentlich zusammen mit Bremen endlich „Leben und Schicksal“ von Grossman. Michael ­Börgerding in Bremen ist ein Intendant, der ziemlich abenteuer­ lustig ist. Mal sehen, wie lange noch (lacht).

Tolles Gespräch in Belgrad

Nach dieser Entscheidung, Stuttgart zu verlassen – mit welchem Gemüt absolvierten Sie den Rest der Zeit dort? Die bleibende Zeit bedeutete für mich kein Rest, ich habe sie also nicht absolviert, sondern wirklich und gern gelebt. Schwie­ rig waren die Monate vor dem Entschluss, nicht die danach. 2016 war mein Krisenjahr. Dann, nach der Entscheidung gegen Stuttgart, ging es mir besser. Darf ein Intendant konfliktscheu sein? Ich kann nur von mir reden. Ich bin konfliktscheu – aber nicht entscheidungsscheu. Klare, zügige Entscheidungen helfen, einen Konflikt möglichst schnell aus der Welt zu schaffen. Was man nicht so ohne Weiteres aus der Welt schafft, sind die Bindungen. Ja, ich habe in Stuttgart, wie schon vorher und andernorts, mit

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wunderbaren Spielerinnen und Spielern arbeiten dürfen: ­Julischka Eichel, Sandra Gerling, Anja Schneider, Peter Kurth, Manolo Bertling, Robert Kuchenbuch, Thomas Schmauser, ­ Andreas Leupold, Wolfgang Michalek, Lea Ruckpaul, Hanna ­ Plaß, Tommy Lawinky, Manuel Harder, Max Simonischek, Svenja Liesau, Manja Kuhl, Maja Beckmann, Paul Grill, Susanne Böwe, Katharina Knapp, Peter René Lüdicke, Berit Jentzsch, Astrid ­Meyerfeldt, Fritzi Haberlandt und viele andere … Jeder Name wie ein Kontinent ... es ist so: Ich habe niemals ein besseres ­Ensemble gesehen als in Stuttgart, in unseren ersten Jahren. Bessere I­ nszenierungen ja. Zu „Ihren“ Schauspielerinnen – ob Sie nun in München, Dessau, Dresden oder am Gorki Theater inszenierten – gehört auch ­Ursula Werner! Großartig. Uschi Werner – und übrigens auch Margit Bendokat – werde ich immer nennen, wenn ich DDR-Theater erklären soll, also die Spurenelemente, die weiter wirken. Die Bestand haben.

Ursula Werner

Was ist daran DDR-Theater? Also Ursula Werner. Was ist daran Osten? Der sogenannte ­einfache Lebensentwurf als große Kunst, sich durch komplizier­ teste Verhältnisse zu beißen. Im goldenen Käfig bleibt sie Aschenputtel. Sie ist das Wesen, das von Sterntalern träumt, aber dann, wenn die vom Himmel fallen, vor Staunen vergisst, die Schürze zu heben. Derb kann sie werden und drollig bleiben. Grinsend frech, ohne weniger ohnmächtig zu sein. Die Werner spielt ergreifend – mit traurigster Komik; der Witz wehrt die Verzweiflung nicht ab, sondern macht sie vollkommen. Sie kennt sich aus in Ach-Gott-ach-Gott-Gestalten. Und Margit Bendokat? Ich weiß gar nicht, ob ich das richtig beschreiben kann. Da ist Aufsässigkeit, da ist Überspanntheit – und zugleich eine in­ stinktive Bodenständigkeit. Was sie spielt, wie sie spricht – man kann sich gut vorstellen, griechische Chöre hätten diesen Ton

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gehabt. Wo die Bendokat auftritt, ist irgendein Entsetzen nicht weit, ein gewisser Horror ist anwesend, von dem man nicht weiß, woher er kommt, wohin er ausschlägt, in welche Stille er sich rammt. Sie kennen als Regisseur das Verdammtwerden und die Lobpreisung. Die Verletzungen als Künstler waren früher stärker, als sie heute sind? He, früher, da bin ich mit dem Zug von Nordhausen gekommen, über Halle, und dachte, Mann!, Halle, das wär toll – oder Mag­ deburg ... wenn da mal jemand gucken kommen würde, was ich mache. Und dann kam die Süddeutsche, und die haben zwar über mein Theater geschrieben, aber die halbe Kritik ging über die Reise von München nach Nordhausen. Na ja, sag ich, schon verständlich: Wer bin ich denn?! Schon wieder kokettieren Sie. Wieso, jetzt bin ich zum Beispiel in Cottbus, zurück in der Zone. Und ich bin gern hier! Cottbus will eben erstklassig werden. Wenn’s schon im Fußball misslang. Scherz beiseite: Verletzungen bleiben immer gleich. Die Kunst besteht darin, bestimmte Dinge durch dich hindurchgehen zu lassen. Diese Dinge genau zu registrieren, aber nicht panisch zu werden. Deinen Weg weiterzugehen, ohne selber zu er­ kalten. Ist schon krass, wenn ein etwa gleichaltriger Intendant ungefragt zu dir sagt, hmm, sorry, die letzte Arbeit war ja gut, interessant, und die Spieler mögen dich, aber leider können wir uns nicht noch so’n alten weißen Mann leisten, du ver­ stehst, ja … wohlgemerkt, ohne dass man überhaupt nachge­ fragt hat bei ihm. Oder es findet eine Premiere statt, und kei­ ner von der Leitung redet hinterher mit dir, kein Wort. Und irgendwann sagt dir die Assistentin, die man so zufällig trifft, naja, du warst da n’ bisschen zu frech, da in der Intendanz, und du hast auch geschrien, öffentlich, weil nichts da war, keine

Cottbus: zurück in der Zone? Aber gern!

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Requisiten und nichts, weißt du doch noch. Oder n’ Intendant setzt eine immer ausverkaufte Aufführung von dir ab mit der Begründung: kein Stauraum, und die Schauspieler grinsen plötzlich so seltsam und heimlich und zucken die Achseln und sagen dir, na, der wird für Berlin gehandelt, und ich will da mit, das musst du verstehen, ich hab nur diese Chance, aber hof­ fentlich besetzt der mich nicht in seiner nächsten Inszenie­ rung, is’ alles so langweilig, ich weiß, jeder meckert irgendwie über das, was ihm nicht passt, ist mir jetzt eigentlich peinlich, dass ich’s auch mache ... Aber was Intendanten betrifft: Gibt ja auch die Tollen, die Kümmerer, die Arbeiter – Ulrich Khuon hab ich schon genannt, aber auch Wilfried Schulz. Unglaublich hartnäckige, zielstrebige und verlässliche Arbeiter. Auch an kleineren Häusern: Leute, die ein gutes Klima schaffen – André Bücker in Augsburg, Jens Groß in Bonn, die Nürnberger um Jan Philipp Gloger und natürlich Michael Börgerding in Bremen. Auch Elisabeth Schweeger, damals in Frankfurt, hat Sachen er­ möglicht, die sehr, sehr unbequem waren.

Controller oder Mensch?

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Sie wissen, wovon Sie reden? Weil ich selber Intendant war? Klar. Aber ich denke, dass wir im­ mer noch total beschützt sind im Theater. Und wenn mich Leute einer Leitung rundmachen, dann eben, weil ich nicht mehr oder noch nicht oder noch nie so toll war. Und das ist ja ihr Job im Endeffekt, sonst fliegen die wieder raus oder kommen eben nicht nach Berlin. Ich hab’ einen Freund von früher, der hat mal Kunst studiert, er arbeitet jetzt bei einer riesigen Logistik-Firma in Hamburg. Jeden Tag hat der fünf Stand-up-Meetings, fünf­ mal am Tag wird der kontrolliert, ob’s noch läuft, die Controller wechseln, sind nicht älter als 24 und aus den Staaten oder aus Dänemark, die lächeln immer, sagen nie was, machen nur Noti­ zen in den Screen. Der Freund war jetzt das zweite Mal weg zur Psychotherapie, und er sagt: „Es geht so, es geht so, ich komme klar.“ Verdient 12 000 Euro im Monat, hat zu tun mit den Raten fürs Haus und den Wagen und den ganzen Scheiß. Er hat nur vor einem Angst: seinem 40. Geburtstag.


Von geborgten Ideen wirst du über jede Gegenwart hinweggetragen, und immer weiter in die Verengung hinein. Die neue Ideologie: neue Strohhalme für das alte Nest. Aber es fehlen die Freude und das Glück. Fehlen, fehlen, fehlen. Das Glück war eine Hoffnung, vielleicht von vorgestern, und ist eine Ungewissheit, vielleicht für später, dazwischen nichts wirklich Freudvolles. Es fehlt sozusagen das schmat­ zende schöne Fressen einer saftigen Birne. Wann wird mal aus Vertraulichkeit gekichert? Wo und wann wird gespielt, gesungen, mal was getan ohne Nebenabsicht, ohne Erlaub­ nis, ohne Uhrzeit? Wo ist das Lachen, das angestrengte Gesichter schön macht? Es fehlt der kleine lebenswerte ­ Schlenker von Zweckfreiheit. Das Leben predigt Werte und ist doch ein Entwerter. Früher pfiff man im Wald, heute ruft man laut Freiheit!, am besten bei Windstärke zwölf! Man fügt sich in die Tatsache, dass man verstärkt eines lernen muss: mehr auszuhalten, als im Sinne eines wirklich freien Lebens hinzunehmen wäre. Darf man also sagen, dies sei Ihr kategorischer Imperativ: Begnüge dich nicht fortwährend damit, nur der Welt zu entsprechen – genüg vor allem dir! Jeder Mensch, egal, woher er kommt, hat eine Biografie, die das Attribut eines Abenteuers verdient, also: Respekt. Alles Unglück beginnt damit, dass man gegenüber anderen den Kopf senkt, aus welchen Gründen auch immer. Es ist so schwer – zu leben, zu überleben und Sinn zu finden, ohne die Sinngebung zu über­ treiben. Und so schwer ist die Kunst, sich selber zu begreifen. Man kann es eh nicht. Wie sich Lebenserfahrungen in uns ablagern, was sie für Schichten bilden, und wie diese Schichten erkalten oder plötzlich vulkanische Energie entwickeln. Sehr gern schaute ich mir zum Beispiel im Fernsehen die Sendungen von Alexander Kluge an. Das Werden und Vergehen von Weltreichen, die Sowjet­ union, die Oper, Brecht, Schleef – das sind Themen, die er nicht bearbeitet, weil sie aktuell, sondern weil sie für ihn und vielleicht nur für ihn akut sind. Der Mann bietet die zum Teil längst veralte­ ten Dinge an, weil der Mann der Mann ist, und weil er Steinkohle

Lob der saftigen Birne

Alexander Kluges Fernsehen

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Robert Bresson

ist. Na und?: Hier stehe ich und will nicht anders. Bei seinen TVSchrifttafeln dieses hochgradig Altmodische, Vorgestrige der ­Kalligraphie! Her mit den Dingen, die angeblich längst durch sind! Franz Jung, zwanziger Jahre – wen hat das am Ende der DDR interessiert? Uns von „Medea Ost“! Also haben wir ihn aufge­ führt. Horst Sagert hat jahrelang an seinem „Urfaust“ gearbeitet, oder nehmen Sie Franz Fühmanns Ringen um den Bergwerk-Stoff oder Andrei Tarkowski, der in seinem Leben ganze sechs oder ­sieben Filme gedreht hat, oder mein Lieblingsregisseur Robert Bresson, alle zehn Jahre ein Film und wie geil, wie kalt, wie hart ist dieses Kino! Das sind Selbstbehauptungen, die mich faszinieren. Sie erwähnten das Übertreiben bei der Sinngebung. Progressive Deutungskorrekturen – etwa das Aufarbeiten kolonialer Kulturrelikte – haben auch theaterästhetische Folgen. Natürlich. Sichtweisen ändern sich. Und alles ist wert, dass es be­ fragt wird. Aber es gibt auch Probleme dabei. Wenn nur irgendein neues Verbot nachgequatscht wird. Mal durfte es keine nackten Menschen auf der Bühne geben, mal ging es gegen Videos, dann wurden die Roman-Adaptionen angeprangert. Ich weiß noch, in der FAZ gab es ein Ranking, an welchen Theatern die meisten ­R­oman-Adaptionen rauskommen vor der Saison, und das Maxim Gorki war auf dem schlimmen ersten Platz. Klar leben wir in neu­ en Kämpfen, die auch Verteilungs- und Benennungskämpfe sind. Das Problem ist nur: Wenn Theater nicht mehr freies Spiel sein kann, weil vorgeschrieben wird, welche neue Konnotierung ver­ boten, nicht gesagt, nicht gezeigt, nicht diskutiert werden darf, dann ist Spiel und damit Theater quasi erledigt. Dann ist, was auf die Bühne kommt, nur eine neue Ideologie, nichts weiter. Sich da­ gegen zu sperren, heißt nicht, dass man das, was man macht, nicht genau anschauen und diskutieren sollte – wenn’s fertig ist. So ’ne Art freiwillige Selbstkontrolle, ob sich da was ganz anderes abbildet, als man selber denkt, etwas, das vielleicht wirklich blöd ist. Da braucht man Freunde, Dramaturgen, die gucken können und beschreiben, und dann muss man’s eben noch mal neu ­machen, wenn es falsch ist.

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Unsere Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht gespalten. Es gibt das große Ganze nicht mehr. Patchwork dominiert, Arbeitsteilung produziert Hermetik, die Denkungsfreiheit schafft Parzellen. Aber: Alle Bewegungen am Theater haben ein Recht. Ja, weil es sie gibt. Und mehr und mehr interessiert mich, was man alles weglassen kann, um was Sichtbares herzustellen. In Rezensionen war und ist immer mal wieder zu lesen, Ihre ­Inszenierungen seien „unfertig“. Was ist fertig? Audi – das ist fertig, Spaltmasse 0,8 mm. Mir hat mal ’n Amerikaner gesagt, Audi sei scheiße, der geht nie kaputt, nicht mal auf dem Mars. Na ja, ob das stimmt ... meine Karre ist immer kaputt, und ich war noch nie auf dem Mars damit. Fertig, fertig ... Ist einer mit seinem Leben fertig, dann hat er das Un­ fertige nicht ausgehalten. Das Unfertige ist das Lebendige – was aber, etwa in der Kunst, überhaupt nicht bedeutet, dass man zufrieden oder einverstanden ist. Das Fragment ist die ­natürliche Endform jedes Schöpfertums. Unser Tod besiegelt, dass auch jedes Leben unfertig ist.

„Ich war noch nie auf dem Mars“

Volker Braun: „Unsere Kunst stellt ihren Gegenstand immerfort in Frage, sie kämpft mit ihm: und wird nicht fertig. Sie ist danach. Abgearbeitet, fehlerhaft, experimentell.“ Na ja, was meint der Herr Braun mit „unserer“ Kunst? Hört sich an wie ein Gegenentwurf zum sozialistischen Realismus. Für „Dantons Tod“ in Düsseldorf hat Olaf Altmann eine Bühne gebaut, die einer Guillotine ähnelt – und die auch eine Rampe und Rutschbahn ist. Grausamkeit und Grand Guignol. Rutschbahn heißt, als Prinzip: Bewegung, Hyperaktivität. Aufstieg, um hinabzurauschen – Dynamik der Geschichte. Schrei und Streit, Chaos und Leichenfraß, ein dreckiges Gewimmel. Der Ekel feiert Volksfest. Eine Gala des Unfertigen. Hmm ... die Bühnen von Olaf sind ja eher perfekt, die sind schon, wenn sie nur Modelle sind, der Hammer, und jeder, wirklich je­ der findet die toll ... Eher Tesla als Audi. Also, das ist gar nichts

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Halbfertiges, deswegen können ja auch so verschiedene Regis­ seure damit gut arbeiten. Solche, die nur an der Rampe stehen und schreien lassen, mit Blut, und solche wie ich, bei denen alle rennen müssen. Es gibt Dichter, vor denen haben Regisseure lebenslang Furcht, meiden sie gar. Fürchteten Sie je Heinrich von Kleist? Mit keinem Dichter beschäftigte ich mich länger. Kleist-Kenner Petras? Dass ich mich mit Kleist beschäftigte und beschäftige, das heißt nicht, ich hätte irgendeine Ahnung von ihm. Aber Ahnungen habe ich. Ich bin Mitglied im Beratungsgremium des Kleist-­ Museums in Frankfurt (Oder). Meine einzige ehrenamtliche ­Tätigkeit (lacht).

Kleist und kein Ende

Dieser schwierige, fordernde Dichter: Man meint doch, sich in ihn lange, lange vergraben zu müssen, um ihn zu entdecken. War die Beschäftigung mit diesem Dichter nicht ein Widerspruch zu Ihrem hohen Produktionstempo? Na ja, zwanzig Jahre ist doch nicht so schlecht für gefühlte 150 Seiten, die er schrieb, oder? An den Kammerspielen in München inszenierten Sie „Robert ­Guiskard“. Für mich der schwerste Text von Kleist, schwerer noch als „Penthesilea“. Nach drei Wochen Arbeit habe ich überhaupt erst ansatzweise verstanden, worin der innere Vorgang dieses Stücks besteht. Das ist erschreckend für einen Regisseur, zu­ mal an einem Haus mit so tollen Schauspielern. Ich nahm als Vorspiel Goldoni, damit das Publikum wenigstens eine Weile bleibt. Apropos Schwierigkeitsgrad. Er gilt ja auch für die Zuschauer. Sind Schauspieler Vermittler? Besonders schwierige oder neue Formen der Darstellung wer­

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den viel schneller angenommen, wenn sie von Schauspielern dargestellt werden, zu denen die Zuschauer Vertrauen, vor denen sie Achtung haben. Schauspieler sind Botschafter des Vertrauens. Das ist ein ganz interessanter Aspekt. Noch besser ist, wenn sie im Hauptberuf Kommissar im Fernsehen sind. Die Schaubühne in Berlin macht drei Abende Monologe mit ihren drei Fernsehkommissaren. Perfektes Marketing. 100 Prozent Auslastung, drei beschäftigte Schauspieler – der Rest kann in Kurzarbeit bleiben, clever. Ist zwar nicht ganz: den Kapitalismus bekämpfen, aber immerhin: ihn überlisten. „Penthesilea“ fehlt in ihrem Inszenierungsverzeichnis, „Michael Kohlhaas“. Auch „Amphitryon“. „Amphitryon“ empfinde ich als fieses Stück. So fies und gemein, dass ich es gar nicht inszenieren möchte. Was ist daran fies? Ich glaube an die Liebe als letzte Kraft, klar, oft zerstörend, aber auch manchmal alles reparierend. Hab ich erlebt! Und Kleist sagt nun in diesem Stück: Stimmt nicht, kann man jederzeit faken, Liebe ist ein Simulacrum, welches man herstellen kann, wenn man nur die richtigen Tools dazu hat – und die Macht. Ja, Liebe kann man herstellen wie eine Ware. Mag ich nicht, will ich nicht glauben.

Liebe ist die letzte Kraft

Die Kleist-Quintessenz: Er sagt, es sei ihm auf Erden nicht zu ­helfen gewesen. Klingt sehr besonders und wird immer sehr besonders hingeraunt. Aber ist denn überhaupt irgendeinem ­ Menschen auf Erden zu helfen? Ich lasse mich ungern hinreißen, über andere Menschen zu sprechen oder im Namen anderer Menschen. Ich kann die Frage also nur für mich beantworten: Mir hat gerade Kleist sehr ­geholfen. Ja, er besonders hilft mir, Leben zu verstehen und zu lernen, Widersprüche auszuhalten. Leben auszuhalten. Wie?

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Ich entdeckte bei Kleist etwas sehr Deutsches, etwas sehr Preu­ ßisches. Unser Tornister. Ein Gepäckstück, das unbeschadet durch viele Zeiten getragen wird. Die Rücken, die das Ding schleppen, wechseln – der Tornister bleibt. Leben ist ein fortge­ setzter Tauschprozess. Und Kleist lebt, indem er noch immer mit uns tauscht – Texte gegen Interpretationen. Wir reden ­immer so reflexhaft vom unglücklichen Kleist, aber – jetzt sehr, sehr grob gesagt – keiner von uns ist dabei gewesen.

Der Tod? Keiner war am Wannsee dabei

Er hat sich erschossen. Na und, besser ’ne Pistole haben als keine. Selbst wenn er ­unglücklich war, hat er doch auch unglaublich sinnerfüllt und intensiv gelebt. Dass diese Intensität eher im grau-schwarzen Bereich angesiedelt war, weniger im rosa-hellblauen, das ist eine andere Geschichte. Dieser Mensch tut mir nicht leid. Keiner von uns ist dabei gewesen … Damit berühren Sie die ewige Frage: Wie hat der Dichter einst gemeint, was wir heute interpretieren? Ein Text ist nur ein semiotisches Gebilde. Spätestens seit dem Strukturalismus wissen wir, dass dieses Gebilde im Grunde nicht wirklich zu verstehen ist ohne die konkrete Welt, gleich­ sam nicht ohne jenen Tag oder jene Stunde, in der ein Text ge­ schrieben wurde. Daher ist es Nachfolgenden fast unmöglich, mit Gewissheit den Satz auszusprechen: Wir wissen, was ge­ meint ist. Wir folgen uns, nicht dem Dichter. Wir erhöhen uns, indem wir einen fremden Sinn als den eigenen und wahren be­ haupten. Sie haben mal gesagt, bei Kleist sei jeder Satz auch ein Schrei. Tinte wie Blut – das Schreiben wie auslaufendes Leben. Kleists Werk schreit nach einem helfenden Gott. Schreie wecken auf. Aufwachen ist noch keine Tat. Aber eine Voraussetzung dafür.

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Kleist ist gewissermaßen der erste Mensch, der sein ganzes Leben lang Projekte gemacht hat. Sie haben alle nicht funktioniert – bis auf das allerallerletzte, den Freitod. Diese Art der zerstückelten Biografie, immer wieder was Neues anzufangen, daran ein Stück zu zerbrechen und das nächste zu probieren, das ist ein Zeichen auch unserer Zeit. Man hat keinen Plan, aber Projekte. Warum wurde dieser Dichter zu Lebzeiten nicht geschätzt? Viele seiner Texte galten als anstößig. Ein preußischer Offizier, der weint? Ein preußischer Offizier, der träumt? Das gehörte sich alles nicht. Goethe hat das offen kritisiert. Ihm war Kleist un­ heimlich und unangenehm. Die Nazis haben ihn missbraucht. Sie haben die Meinung seiner Figuren – etwa zum Nationalismus – mit Kleist gleichgesetzt. In der „Hermannsschlacht“ zum Beispiel. Ein klassisches Missverständnis, das dem Autor Unrecht tut.

Was denn, ein Offizier, der träumt?

Wer weiß, ob er nicht doch ein beglückter Mensch geworden wäre, wenn sich seine „Berliner Abendblätter“ als eine erfolg­ reiche Zeitungsgründung erwiesen hätten. Ja, er war ein waghalsiger Redakteur. Er macht mir Mut für ­meine Roman-Übermalungen (lacht). Er überschrieb die Texte der berühmten Romantiker ohne jede Scheu. Er war großartig als Mann des Boulevards. Brillant und auch geradezu perfide im Umschreiben der Texte. Deshalb wird eine Zeitung erst wirklich gut, wenn sie nicht mehr nur wichtig sein muss, sondern von gestern sein darf. Goethe empfand das tägliche Zeitungsstudium als störend. Er ließ sein Hausblatt, die „Allgemeine Zeitung“ aus dem Cotta-Verlag in Augsburg, binden und las dann den Jahres- oder Halbjahresband. Abstand als Kultur. Distanz als Praxis, alles Bedrängende ins Fremde zu rücken. Die Erde betrachten, als sei sie der Mond. Kann man Kleist mit Goethe vergleichen? Für mich ist Goethe der schlechtere Dramatiker. Also das Wort ist Quatsch: schlecht. „Urfaust“ ist schon toll. Aber er war eben

Goethe? Realist.

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Szene Prinz Friedrich von Homburg, Regie: Armin Petras, Maxim Gorki Theater Berlin 2006

Realist, wie die Kollegen von der Schaubühne. „Die Weberinnen von Apolda hungern und ich muss meine Iphigenie in Jamben schreiben.“ Großartiger Satz von Goethe. Das „ich muss“ hab ich immer als bedauernd gelesen,aber das ist natürlich völliger Unsinn. Es ist einfach ’ne Feststellung, gehört sich so, sonst funktioniert’s nicht im Hoftheater. Bei Kleist dagegen sind die Figuren komplett zerrissen, sie bieten keine Möglichkeit zur Rundum-Identifikation. Nicht Käthchen, nicht der Prinz von Homburg. Bei meinem „Homburg“ hat es zwei Stunden durch­ geregnet. Bühne: Katrin Brack. Alles leer, nur Regen. Rainald ­Goetz hat in einem Blog über den Besuch dieser Inszenierung geschrieben, dass er lange nicht so schlechte Laune im Theater gehabt hätte und dass er jetzt wisse, dass er auf Goethes Seite ist. Haben wir sechs oder sieben Jahre gespielt. Mir unvergess­ lich: der Geruch der Neopren-Anzüge über den Heizungen. In Frankfurt an der Oder haben Sie – vor Urzeiten sozusagen – „Das Käthchen von Heilbronn“ inszeniert. Das war er, der Beginn einer langen Beziehung. Kleist, das ist die leise und schreiende, die schreckende wie ­spielerische Begegnung mit dem Schmerz. Es ist Bestätigung: Das Zusammenfassbare der eigenen Existenz ist eine Illusion.

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Dead on arrival Mauerfall von Armin Petras Der Strom der Erinnerung wird von Tag zu Tag dünner und nicht nur das – er blüht. Blüht wie der Reisewetterbericht von Bitter­ feld, als es hier noch rostrote Schwäne gab und Wäsche, die ­niemals draußen hing, so viel Dreck war in der Luft. Was auffällt, ist, dass die Zeit einen anderen Betrag hatte, sie war – eher so wie bei Dalí die Uhren – gequetscht, tropfend. Ich mochte schon damals lieber Taucheruhren. Dafür das Sehnen: Das war größer, viel größer. Sehnsucht für alle war nie knapp. Es gab noch die Ferne, den Urwald, Godard – jetzt gibt es TUI, die Angst, dass es überall kaputter ist als zu Hause und man sich nicht mal mehr nach Ägypten traut, und die Berlinale. Die Dispositive der Macht haben sich verwandelt – aus einem ängstlichen, dümmlichen, manchmal gefährlichen Provinzregime, dessen Utopie eines Arbeiterstaates zu einer klebrigen Kleinbürgertapete mit echtem Stacheldraht mutierte, ist eine totale Diktatur des Konsums geworden, die alle Res­ sourcen, alle, alle Welten und Kulturen aussaugt, zerstört, ver­ schluckt. Was bleibt, sind Produkte/Müll und Wüste (DIE SPREN­ GUNG DES HIMMELS DURCH GESTEIGERTE MENSCHHAFTIGKEIT). Der Kapitalismus als erste Religion ohne Heil. Der Himmel ist nicht eingeplant, genauso wenig wie die Buße. Nur die Apoka­ lypse ist vorgesehen. Sonst nichts. Zerstört werden erst die ­großen Tiere, dann die kleinen, die Flüsse, dann die Menschen. Das Internet wird bleiben, die leeren Bankentürme und ein paar Frösche. Für die werden schon Brücken gebaut über die Auto­ bahnen. Deutschland: ein Hakenkreuz aus Autobahnen, das ist nicht von mir, das malt ein Maler aus Montenegro, die Frösche wird er noch hinterherpinseln, später.

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* Die andere Seite der Zerstörung ist die Musealisierung der Welt der Herrscher zum Zwecke der Konservierung bis zur endgül­ tigen Zerstörung. Unter Museum verstehe ich alle Orte, Dinge, Begriffe, Tätigkeiten und Verfahren, die geeignet sind, ein nicht­ entfremdetes Leben (etwa im Sinne von Marx und Lévi-Strauss) beispielhaft und jenseits der existierenden Wirklichkeit zu simu­ lieren. Zu Museen gehören also: Museen, Kinos, Landschafts­ schutzgebiete, Hochzeitsnächte, Junggesellinnenabschiede, Clubs mit lauter Musik, gutem Alkohol und guten Strobosko­ pen, einige Theater, grüne Forschung, Kindergarten „Spatzen­ nest“, der neue Tarantino etc. Aber auch Orte, die entfremdetes Leben so erscheinen lassen, als wäre es nicht entfremdet, weil die Spirale der Zerstörung verdeckt ist und mehrheitlich Glücks­ gefühle produziert werden, wie: Deutschland sucht den Super­ star, Rallye Paris-Dakar (in Argentinien), Brustvergrößerungen, Urlaub auf Mauritius, Urlaub im Club Robinson, Urlaub in Second Life, die Cargolifter-Halle (Tropical Islands), jegliche ­ Form von Pornografie, die Autostadt Wolfsburg, Froschbrücken an, auf oder unter deutschen Autobahnen. Das Problem heuti­ ger kreativer Menschen, sagen wir mal Bewohner des Prenz­ lauer Berges, ist, dass sie 90 Prozent ihres Lebens im Museum verbringen, bevor dann eine Krankheit vorliegt oder die Wind­ schutzscheibe des Saabs mit einem polnischen Laster gekreuzt, und man dann selber wie ein Autobahnfrosch auf einem Kip­ penberger-Bild gekreuzigt wird. Deswegen schlage ich anstelle des Wortes Mensch für sie den Begriff Besucher (im Sinne von Botho Strauß) vor. Was ich sagen will, ist, dass die Gesamtheit der OIKONOMIA unseres Lebens, das heißt, alle Praxen, Kennt­ nisse, Maßnahmen, Institutionen, die unser Verhalten, unsere Gesten, unsere Gedanken verwalten, regieren, kontrollieren und in eine angeblich nützliche Richtung lenken, (zurzeit) dazu da sind, entweder 1. das Leben als ein nichtentfremdetes Leben zu zerstören (z. B. Kapital, Wirtschaft, Militär) oder aber 2. die Kopie einer Kopie eines nichtentfremdeten Lebens zu simulieren (z. B. Sport, Medien, Kultur/ Wissenschaft). Da wir wissen, dass

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die Animalität Humanität, die Natur Kultur, die Materie Form ist, heißt das: Es gibt keine Unterscheidung zwischen ökonomi­ schem Unterbau und kulturellem Überbau. Das heißt, auch ich tue nichts weiter, als mich an der Zerstörung zu beteiligen. Das stört mich, und ich habe keine Lösung, nicht wirklich. * Was den real hier verstorbenen, zum Beispiel in Kuba noch da­ hinsiechenden, realen Sozialismus angeht, erlitt ich eine Vergif­ tung in der Art von D.O.A. Das ist ein mieser amerikanischer Film, ich nehme an, aus den frühen Neunzigern, keine Ahnung. Ein mittelalter, ehemaliger Bestsellerautor lehrt Literatur in einer mittelmäßigen amerikanischen Uni. Er leidet darunter, dass er nicht mehr schreiben kann. Seine Frau auch. Deswegen schenkt sie ihm zum Weihnachtsabend die Scheidungspapiere. Er schenkt ihr ein ziemlich großes Riesenradmodell, Riesenrad aus buntem Blech, wahrscheinlich von Kinderhänden in Liberia gefertigt. Beide schauen auf das Riesenrad und heulen, etwa eine Minute. Diese Minute ist großartig. Niemand begreift, ­warum ein Riesenrad aus Blech und warum die heulen, und doch ist da alles da, alles klar. Dann geht sie. Er betrinkt sich in einer Bar. Er wacht bei einer seiner Studentinnen auf. Er fühlt sich schlecht. Eine schwarze Ärztin sagt ihm: „Sie sind vergiftet worden, heute Nacht, es gibt keine Hilfe, Sie haben noch 24 Stunden. Dann ist Feierabend.“ Walter Benjamin schreibt wahr­ scheinlich auch für diesen Fall vom „Durchgang des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten ­Einsamkeit seiner Bahn“. Kurz nachdem er das Krankenhaus ­verließ, ist mein DVD-Betrachter explodiert, leider (Saturn, HHAltona, 69,99 Euro). * D.O.A. erzählt die Geschichte eines Mannes, der müde gewor­ den ist, und von einer Welt, die ihn müde gemacht hat. Eine ­Geschichte von Dispositiven der Macht, die seine Ökonomie des Lebens (OIKONOMIA bedeutet im Griechischen Verwaltung

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des OIKOS, des Hauses, und im weiteren Sinne seine Führung, heute Management) so verändert haben, dass sein Genius unwei­gerlich verschwinden musste. Ein tragisches Ereignis (un­ verschuldet) führt dazu, dass seinem Leben eine Drehung / Wendung verliehen wird, die ihn vergiftet, aber auch seine Läh­ mung zerstört (Katharsis). Interessant ist, dass jetzt ein drittes Leben beginnen kann, allerdings um den Preis der existenziellen Verunsicherung des nahenden Todes. In dem Moment, wo unser Held ahnt, wie er leben könnte, ist es zu spät, es zu leben. Das nenne ich Widerspruch, das nenne ich Drama. Ich bin auch vergiftet worden in dieser Nacht, als ich in den Westen ging. Ich bin weggegangen von da, wo ich nie wieder zurückdurfte, jetzt nie wieder zurück kann. Dieser Schock hält bis heute an. Ich weiß nicht, wer mich vergiftet hat, wahrscheinlich Gott, aber als ich mit ihm kämpfen wollte, war er weg, aber ich tue so, als wäre mir das egal, und es gelingt mir, mich selbst zu betrügen, jedenfalls manchmal, und ich bin ja wirklich noch voll von dem Zeug, und jeden Tag, wenn ich über die einreihigepflastersteinnichtdenverkehrbehinderndepflastersteinimbodenberlinermauer­erinnerungsnachbildung gehe, spüre ich etwas (?). Und ich lebe schon weit über zwanzig Jahre länger als die 24 Stunden mit dem Gift, genau deswegen mache ich mir Sorgen. Deswegen werde ich mir D.O.A. auch nicht noch mal besorgen, vielleicht hat der Film ja ein Scheißende und ich auch. * Der Autor ist nur ein Prinzip der Komposition, die den Zeichen der Welt Dämme baut, das Wasser dämmt für eine paar Sekun­ den, und dann kommt sie wieder, die Flut. Die Worte zerbrechen lassen, bis er wieder durchscheint, der Himmel. Der Autor ist in diesem Spiel der Konstruktion und Zerstörung abwesend. Nicht im Sinne eines Toten, aber vielleicht als Vertreter der Toten. Wenn Praxis das Kriterium der Wahrheit ist, und die Erfahrung der Praxis unsere einzige Chance ist, neue Kriterien, neue Ideen zu bilden, um dann, irgendwann, wenn es auch zu spät sein mag, Entscheidungen zu fällen, im Sinne einer neuen OIKONO­ MIA des Lebens, dann ist es wichtig, mit den Toten zu sprechen

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und deren Erfahrung lebendig zu machen (weil es die gewal­ tigsten Erfahrungen sind, die es gibt). Auch mit den Toten in uns, mit denen, die wir waren, bevor wir vergiftet und in ein neues Leben geworfen wurden; auch wenn dieses Land, in dem wir Tote waren, so grau war, und die Schwäne rostrot, alles ist wichtig, um dem Leben zu widerstehen. Der Tod nicht als ­Begegnung mit dem Unbekannten, sondern als Abschied vom Bekannten. Nicht Exotismus, sondern Spurensuche. Denn der Mensch kann nur in der Vorstellung etwas erkennen. Wir wer­ den nichts im Spiel vortäuschen, wir werden leben. (2009, Auszug)

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Die Schreibhütte

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III. Gespräch im Hause Petras über den (natürlich!) abwesenden Herrn Kater HANS-DIETER SCHÜTT: Armin Petras, Sie schreiben fürs Theater, auch Fritz Kater schreibt. Worin liegt der Unterschied? ARMIN PETRAS: Die Bearbeitungen macht Petras, für die Origi­ nale ist Kater zuständig. Ich formatiere um, er schafft neu. Umformatieren heißt? Einen Stoff aus einer Kunstform in eine andere übertragen. Etwa von einer epischen in eine dramatische. Was ich finde, überschreibe ich mehrfach. Überschreiben, nachschreiben, fort­ schreiben. Mancher sagt sich – und sagt es laut: Na ja, ist doch einfach, nur die Dialoge rauszuschreiben ... Das funktioniert nicht. Die Frage ist: Was ist in einem Roman so zentral, dass es die Handlung trägt? Manchmal gelingt es nicht. Bei der „Blechtrommel“ ist es mir nicht gelungen, also im Sinne einer wirklichen Dramatisierung. Ich hab dann versucht, sowas wie ein Opernlibretto draus zu machen, eher für einen Chor. Hat den Regisseur aber nicht sehr interessiert. Sie haben Storm und Tolstoi für die Bühne bearbeitet, um nur zwei von vielen Autoren zu nennen. In Arbeit ist ein nächster dicker Tolstoi: „Auferstehung“. Ich sehe diese Adaptionen und denke:

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Eine formale Geschlossenheit nach dem Vorbild der Romane des 19. Jahrhunderts, also Stendhal, Balzac oder Flaubert, wird es wohl absehbar nicht mehr geben. Noch einmal zur bewussten, zur Schau getragenen Trennung von Petras und Kater ... Der Autor sucht absolute Radikalität, was heißt: Ich will an die Wurzel gehen, ich habe meinen Sprengstoff bei mir, und ich bin mit diesem Sprengstoff allein. Aber als Regisseur bin ich in einer Gemeinschaft, die zu Vereinbarungen führen muss. Alle Betei­ ligten müssen in so einer Beziehung eine Chance haben. Ich habe kein Problem, mit anderen Leuten zu teilen. Das ist das Wesen von Theater. Schreiben dagegen ist eine andere Existenz­ form. Ich denke, Menschen, die einzig und allein schreiben, müssen starke Wesen sein. Ich hatte mal die Chance, Christoph Hein zu besuchen, also richtig, da, wo er schreibt ... Mein Gott: jedes Jahr 500 Seiten. Immer allein. Nur diese ganzen Biester im Kopf. Steinbruch. Fritz Kater ist eine „Quatschtante“

Katers Stücke sind provokant und rücksichtslos lang. Ich streiche. Radikal. Auch, weil er so ’ne Quatschtante ist. Pardon: Sie doch auch ... Wir haben über Romantik gesprochen, über die Natur, den Osten, über Stasiuk. Na gut. Aber während ich im Theater immer an die Schauspieler denke, denkt Kater einzig und allein an die Zeile, die er gerade schreibt. Kater interessiert diese Vermittlung nicht. Katers Biografie: 1966 in Bad Kleinen geboren, wo das RAF-Mitglied Wolfgang Grams erschossen wurde, Wehrdienst in der NVA, Fernsehmechaniker, Ausreise in die BRD, Regieassistent, Taxifahrer in Bayern, ständiger Mitarbeiter einer Firma für Design-Con­ trolling in Berlin, verheiratet, drei Kinder. Klingt gut ausgedacht. Max Frisch: Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er für sein Leben hält. Woher kommt der Name Fritz Kater? Fragen Sie ihn.

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Kann man mit ihm reden? Standardantwort: Man kann ihm Mails über den Verlag schicken, dann reagiert er auch. Es gab einen Gewerkschafter, der so hieß. Dieser Fritz Kater gilt als einer der Hauptagitatoren der Freie Arbeiter Union Deutschlands. Zwischen 1909 und 1912 betrieb er eine Buchhandlung in der ­Alten Schönhauser, hier in Berlin. Kurz nach Kriegsende im Mai 1945 kam er durch einen Blindgänger ums Leben. In einer Biografie heißt es, er repräsentiere „ein gutes Stück Geschichte der Arbeiterbewegung“, seine Schriften seien „von bestechender Klarheit“. Vielleicht stand auch Fritz the Cat Pate, die Comicfigur. Ich weiß es nicht.

Wer ist Fritz Kater?

Fritz Kater ist eine Geschäftsidee von Ihnen. Nein, er ist ein Dramatiker, den ich sehr oft inszeniere und den selten ein Theater nachspielt. Wie sind Sie überhaupt zum Schreiben gekommen? Ich? Nicht er. Gähn, gähn, Armin Petras. In Frankfurt an der Oder, am Kleist-Theater, hörte ich von Zu­ schauern, teilweise mit Empörung in der Stimme, aber manch­ mal auch wirklich so, als wolle man mich auf den richtigen Weg führen: „Bevor Sie diese Stücke zertrümmern, schreiben Sie doch Ihre eigenen.“ Das hat mich getroffen, und ich habe es ver­ sucht. Anfangs war das gut getarnt – eine gewisse kleine Zeit wusste man wirklich nicht, wer Fritz Kater ist. Tja, wer ist es denn? Er schreibt nicht für bestimme Schauspieler? Ein einziges Mal kam er ins Gespräch, im Zusammenhang mit einer berühmten Schauspielerin. In einem Sommer saß ich mit

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Susanne Lothar zusammen, ich wollte sie gewinnen für Stutt­ gart, sie reagierte etwas verhalten auf den benannten bekann­ ten Regisseur, lieber wolle sie mit mir arbeiten, nee, ich beharrte auf den Kollegen, der weitaus eleganter, besser und erfolgrei­ cher mit Stars umgehen kann, wie ich finde. Aber, so versprach ich ihr, ich hätte einen guten Freund, der würde ein Stück schrei­ ben und damit eine Rolle, die auf sie zugeschnitten sei. Zwei Monate später starb sie.

Susanne Lothar

Wenn ich lese, wie Kater-Stücke beginnen, fühle ich mich manchmal wie in einem Science-fiction-Film: „Im jahr 2015 ereignet sich die endgültige vertrocknung des landes. / Ein dichter versucht sein ­bröckelndes leben neu zu lesen. / Und schamane seines stammes zu werden, wirklich stirbt seine mutter. / Ihre knochen streut sie aus, damit sie ausschlagen können. / Sie hat die schnauze voll. ein gott opfert sich schließlich und brennt, regnen tut es nicht ... Das stück spielt in einem sogenannten punkthochhaus in berlin-friedrichs­ hain, in der strasse der pariser commune, nahe dem ostbahnhof. manchmal springen die zeiten ein paar jahre vor oder zurück, wie in einem kaputten fernseher einer defekten fernbedienung oder wie bei jemandem, der seinen computer nicht wirklich versteht.“ Was soll ich dazu sagen. Augenblickserlebnisse, Innenbilder, Traumschrecken, Liebes­ erklärungen und Zeitkritik. Was soll ich dazu sagen. Aufgeblättert der ganze komödische Wahnsinn von Erlebniswut und fataler Oberflächenverstrickung. Kater kennt sich aus in ­Literatur und Kunst. Er ist ein Motiv-Sammler. Zum Beispiel Bräunig, Eichendorff, McCarthy, Powers, Reimann, Singer, Schleef. Sie nennen jetzt nur die Anleihen, die Sie für ein einziges Stück genommen haben, „we are blood“. Katers Anleihen.

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Ja ja ... Es ist ganz einfach: Kunst antwortet immer auf Kunst. Muss ja, auf was sonst, die Tagesschau etwa? Sie lesen überhaupt viel. Das ist mitunter mein Problem mit Dramaturgen und -innen (lacht). Im Übrigen arbeite ich gern mit denen zusammen. Es geht gar nicht so sehr im Detail, um das jeweilige Stück, es geht um die generelle Reflexionsebene, um den Austausch, um ge­ meinsame Bewegung in einem Problemraum, wie kann Text noch funktionieren oder Theater, welche Strömungen, ähnlich wie mit den Spielenden auf der Bühne. Dagmar Borrmann, Ralf Fiedler, Carmen Wolfram, Claus Caesar, Juliane Koepp, Jens Groß, Maja Zade, Sibylle Dudek, Nina Rühmeier, Ludwig Haugk, Katrin Spira, Heike Müller-Merten, Simone Sterr, Malte Ubenauf, Ruth Heynen, Felicitas Zürcher oder Bernd Isele – das waren und/ oder sind mir wichtige Partner. Mit Felicitas und Bernd geht das sogar noch ’n Stück weiter: dass man also wirklich Projekte vorher gemeinsam ausdenkt und lange Zeit zusammen daran bastelt. Wie gesagt: Kater hat auch Partner – Schriftsteller, tot oder lebendig … Ja, er ist ein Autoren-Autor. Er grast ab, er folgt bereits gelegten Spuren, er nimmt Fährten auf, findet im bereits bestellten Ge­ lände eigene Pfade. Sie haben mal zur Erklärung des eigenen Arbeitsprozesses Martin Heidegger herangezogen. Das betrifft Fritz Katers Methodik. Der Philosoph saß in seiner Schwarzwaldhütte vor einem leeren Regal. Er schöpfte aus sich heraus. Das kann Kater nicht.

Kater ist nicht Heidegger

Stimmt es, dass die Schauspieler am Hamburger Thalia Theater die ersten K ­ ater-Stücke hinter Ihrem Rücken an den Intendanten Ulrich ­Khuon weitergeleitet haben?

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Vielleicht stimmt es, ich weiß es nicht. Es würde aber passen: Wer wollte sowas sehen in Hamburg. Es gibt Weniges, was man ohne Vorbedingung tun kann. Schreiben gehört dazu. Vielleicht sollte Fritz Kater mal einen Roman schreiben. Er ist als Dramatiker vorrangig ein Erzähler. Er ist episch. Ja, so ein Dramatiker, dass es knallt, ist er nicht. Seine Stücke sind eher Eisschollen oder Fetzen von Eisschollen, die durch einen schmutzigen, kalten Fluss treiben und – meist zufällig – miteinander kollidieren. Sie machen eigenwillige Bewegungen; vieles nur halb, aber die Einsamkeit ganz. Als Regisseur muss ich das dramatischer machen, weg vom Gespräch, hin zur Ausein­ andersetzung. Ich hoffe allerdings, dass er nicht so schnell dazu kommt, einen Roman zu schreiben.

Dramatiker geben nichts ab von ihrem Preisgeld

Warum? Ich brauche ihn für mein Theater. Und er braucht mich. In den frühen Neunzigern hat er sein erstes Stück geschrieben, aber erst um die Jahrtausendwende herum wurde er aufgeführt. Hat Kater Ihnen was vom jüngst erhaltenen Mülheims-Preis abgegeben? Ist doch wohl kaum die Regel, dass preisgekrönte Dramatiker ihre Regisseure finanziell beteiligen.

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Den Ludwig-Mülheims-Theaterpreis erhielt Fritz Kater im Oktober 2019 in Köln. Das Preisgeld speist sich aus der Erbschaft des katholischen Schauspielers Ludwig Mülheims, das vom Erzbistum Köln verwaltet wird. Die Laudatio hielt Bernd Isele.

Schallwellenauffangsegel Von Bernd Isele

(...) Fritz Kater schreibt seit 1992. Weil er sich seine Zeit mit Ar­ min Petras teilt, schreibt er meist im Sommer, wenn die Theater zu und alle Theatermacher weit weg sind. Kater schreibt allein, in der Natur, oft in einer Hütte unweit der Elbe, so erzählt man sich. Ich war nie dort, aber ich stelle mir vor, dass der Wind durch die offenen Fenster streicht, dass die Tage dort lang und dass die Sommernächte warm sind, dass nachts ein weiter Himmel über den Bäumen und den Elbauen steht. Viele Kater-Figuren sind solche Zu-den-Sternen-Gucker, fast alle Kater-Stücke spielen draußen. Es sind Theatertexte, durch die der Wind geht, die Hitze und der Regen. Sie spielen auf ­Straßen und Plätzen, an der Autobahn, im Wald, am Fluss, in der Savanne, an den Beton-Tischtennisplatten zwischen den Neu­ bauten, am Rand der Städte, dort „wo die straßen noch keine namen haben“. Dort sind die Theaterfiguren von Fritz Kater, ja was eigentlich, nicht daheim, nicht umfangen, nicht aufge­ hoben. Es sind Unbehauste, Abgebrochene. Sie stehen im Wind,

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im Regen, in der Sommerhitze, in der Nacht, unterm Himmel. Sie schauen rauf. Und dort steht nichts geschrieben. In einem der frühsten Theatertexte von Fritz Kater, „Krieg, böse III (Sarajevo)“, taucht so ein Himmelsträumer auf: Ein ­junger, kriegsverletzter Musiker macht dort den Vorschlag, auf dem Planeten Venus einen Schalltrichter zu errichten, ein Schallwellenauffangsegel, versehen mit entsprechender Tech­ nik, gespeist von drei gewöhnlichen Atomkraftwerken, so stellt er sich das vor. Das wäre nützlich, denkt er, denn jede einmal angeregte Schallwelle, als Musiker weiß er das, wird zwar schwächer mit der Zeit, aber sie verschwindet nie ganz. Jedes Hornkonzert, so schreibt Kater, fliege deshalb bis in alle Ewig­ keit irgendwo durchs All. Auch jeder Atemzug einer Blume. Auch jeder Seufzer eines Leidenden, jeder Schrei, der ruhelos durchs Universum zieht, könne eingefangen und auf der Venus aufgezeichnet werden – auf dass alle Gemarterten dieser Welt, alle verdorrten Seelen wüssten, das ihr Leid nicht ungehört ­bleibe, nicht ohne eine Spur vergeht. Dieses frühe Stück wird 1994 am Kleist-Theater in Frankfurt an der Oder uraufgeführt. Ganz am Rand, auf der fernstmög­ lichen Umlaufbahn des noch jungen gesamtdeutschen Staats baut Fritz Kater seinen Trichter auf. Und hört vom Osten her ­hinein ins Land, zeichnet die Schallwellen auf: die Schallwellen der wiedervereinigten Deutschen, vor allem die Geschichten derer, über die niemand schreibt, die niemand für literaturfähig hält, denen niemand so zuhört wie Fritz Kater es tut. Ebenfalls im Jahr 1994 wird „Ejakulat aus Stacheldraht II“ uraufgeführt, in den Folgejahren ziehen die Kater-Texte von Frankfurt nach Nordhausen. Als Kater im Jahr 2000 dann ein Stück über Frank­ furt an der Oder schreibt, ist das Kleist-Theater schon abge­ wickelt. Vineta heißt diese Stadt – ganz selbsterklärend – in Fritz Katers Theatertext. Wichtige Theaterstücke entstehen nun in schneller Folge, am Thalia-Theater werden daraus wichtige Inszenierungen: „zeit zu lieben zeit zu sterben“ und „WE ARE CAMERA / jason­ material“ erzählen von einem versunkenen Land: Erinnerungs­

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fetzen an eine Jugend in der DDR … ein Vater flieht ohne seine Familie in den Westen … ein anderer Vater flieht mit seiner ­Familie in den Osten … Stücke wie „Sterne über Mansfeld“ oder später „HEAVEN (zu tristan)“ und „we are blood“ schreiben die­ se Geschichten fort: in die Prignitz der Nachwendejahre, nach Wolfen nahe Bitterfeld, ins Mansfelder Land. Kater macht die Restbewohner dieser Landschaften zu seinem Thema; er macht sie groß, erklärt die Verlierer der Nachwendezeit zu seinen Dra­ menhelden, zu Tristan und Isolde, zu Jason und Medea, ohne zu romantisieren, ohne sie in Schutz zu nehmen, ohne ihnen Diag­ nosen zu stellen, ohne ihnen helfen zu können. Vineta ist unter­ gegangen, alle 100 Jahre taucht sie auf. Darauf warten die Über­ lebenden wie Vergessene zwischen den Zeiten. Kater hört ihnen zu, dem Tiefsinn und dem Unsinn, den sie von sich geben. Und macht daraus Theatertexte voll Witz und voller Trauer. Es sind Mikrokosmen, die ihren Ort und ihr Milieu haben – und die gleichzeitig darüber hinausweisen. Ich komme ganz woanders her, trotzdem kann ich mit diesen Figuren immer schon lachen und weinen. Fritz Kater kennt diese Penner, diese kaputten Krüppel, diese Nazis, Vogelkundler, Autoschieber, Boxer, Säufer, Hobbygangster, Ex-Schönheitsköniginnen von Luckenwalde. Und Kater glaubt entgegen aller Wahrscheinlichkeit daran, dass die Schallwellen der Unterlegenen eine Rolle spielen im großen Menschheitskonzert. Das, glaube ich, eine Art Liebe zu dem, was einfach da ist, macht diese Texte sehr besonders. (...) Seit Mitte der neunziger Jahre hat Fritz Kater etwa zwanzig Stücke geschrieben. In Wahrheit sind es wohl einige mehr, offi­ zielle Zahlen gibt es nicht. Von Beginn an schreibt Kater seine Geschichten in Begleitung verwandter Geister. Seine Theater­ texte sind voller Referenzen an andere Autorinnen und Autoren, auf die er zu Beginn oder am Ende seiner Stücke detailliert ver­ weist. DDR-Autoren und Autorinnen wie Brigitte Reimann, Franz Fühmann, Werner Bräunig haben in den Texten Spuren hinterlassen, der Exilpole Marek Hłasko, der ungarische Revolu­ tionär Sándor Petöfi, alle Russen, auch Amerikaner und Briten, die alten Griechen, Thomas Brasch, Texte von Eichendorff und

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Hans Christian Andersen, Rolf Dieter Brinkmann und Georges Bernanos. Mal überschreibt Kater ganze Romane wie Leonhard Franks „Von drei Millionen drei“, mal übernimmt er ein Motiv, dreht es um und formt es neu, setzt ein zweites daneben, ein drittes. Wie ein Gastgeber bevölkert Kater seine literarische Landschaft: Led Zeppelin, Novalis, der Minotaurus und Johan­ nes Kepler stehen dort als Grüppchen beisammen. Jonathan Littell neben Anna Seghers. Bildende Künstler wie Martin Kip­ penberger oder Francis Bacon, Filmemacher, Hirnforscher schauen zur Tür herein. Es gibt Dauergäste wie Heinrich von Kleist, Heiner Müller, Einar Schleef, Charles Darwin. Das sind Freunde. Mit denen kann man richtig reden. Und ganz unbe­ kannte Gesichter. Oder wer kennt den sowjetischen Theater­ macher Alexei Arbusow und seinen dramatischen Erstling „Tan­ ja“? Kater kennt ihn, kennt sie alle, lässt sie miteinander tanzen oder stellt sie schroff gegenüber wie einander fremde, schwarze Monolithe. (...) Kater-Stücke sind nie klein, sie fließen nie gleichmäßig und ruhig. Wenn man sie gelesen hat, hat man oft das Gefühl, man habe viele Räume durchschritten, manche in rasendem Tempo – dann ergeben zwei Zeilen eine Figur, drei Dialoge eine Szene, ein Absatz ein Jahrhundert. Dieses atemlose Stakkato ist ein ty­ pischer Kater-Sound. Dann Vollbremsung, mitten hinein in die gleißende Stille eines Augenblicks. Ein Panzer, festgefroren im Eis. Um ihn das Licht des Friedens und die unlesbaren Fresken des frisch gefallenen Schnees. Manchmal tun sich mitten in den Texten Abzweigungen auf, wie Wurmlöcher in andere Erzähl­ galaxien. Zum Beispiel im 2015 entstandenen Stück „I’m sear­ ching for I:N:R.I“? – dort blitzen in die Dialoge der beiden Haupt­ figuren Maibom und Rieke Diskurse zur Bachschen Kunst der Fuge. Kurz darauf öffnen sich mythologische Regionen: Orpheus, Tantalos, Prometheus … Hades, Höhle, Hölle tun sich auf und schließen sich wieder. Fritz Katers Texte sind keine Straßen, son­ dern Häuser. Oder Wälder. Manchmal passiert es, dass man aus dem Sommer kommt und einen Kater-Text im Postfach findet, der noch nicht im Lektorat war. 120 Seiten, kein Punkt, kein

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Komma. Dschungel, Gestrüpp, der Hunsrück, die Mondlandung, West-Tansania, unberührtes Land. Das sind dann aufregende Reisen, wilde Landschaften aus Kleinbuchstaben, durch die man staunend geht. (...) Als ich erfahren habe, dass Fritz Kater einen Theaterpreis für religiöse Dramatik bekommt, habe ich kurz gestutzt. Und dann hab ich mich gefreut. So wie man sich freut, wenn man etwas Kluges hört, auf das man selbst nicht gekommen wäre (...) Der Preis passt deshalb zu Fritz Kater, weil der Autor die Räume, in denen wir leben, als leer erlebt, und weil er diese Leere als Schmerz beschreibt. Er schreibt über Menschen, die einen stum­ men Himmel über sich haben, und einen leeren Boden unter sich. Er schreibt über den Schmerz, den es bedeutet, nirgendwo hinzugehören, nackt auf einer Kugel im All zu stehen. Zu ster­ ben. Nichts zu hinterlassen. Es gibt keinerlei Grund zu der An­ nahme, dass Fritz Kater die Existenz Gottes für eine plausible Hypothese hält. Wenige Kater-Figuren tun das, aber viele schrei­ en ihren Schmerz darüber heraus: „es gibt kein warum / es gibt 3 kelvin im all und / gott ist eine alte keksbüchse, die man nicht wegschmeißen kann“, sagt John in „WE ARE CAMERA“. „ich wache auf und bete zu einem gott, an den ich nicht glaube“, sagt der Vater im Stück. (...) Ich hätte gerne noch über Armin Petras gesprochen. Denn Fritz Kater ist auch deshalb ein guter Autor, weil er sich nicht um Fragen der Umsetzbarkeit kümmert, je länger, je weniger, so scheint es. Armin Petras wiederum verteidigt als Regisseur das Bühnenereignis gegen die Ansprüche des Autors. Die beiden schenken sich nichts. Selbst in Uraufführungen fehlen ganze Textblöcke. Wo Kater Schwermut zulässt, verordnet Armin Spielastik, und so weiter. Die beiden sind ein gutes Team. (...) Zuletzt: eine Widmung. Viele Kater-Stücke tragen solche Widmungen: „Für jimmi dean und die anderen ohne väter“ heißt eine. Oder eine andere, schlicht: „für freunde“. Auch „love you, dragonfly“ hat eine solche Zueignung. Dort steht: „für alle, die zu schwach sind, das leben einfach so auszuhalten“. Das ist eine besonders schöne Widmung. Denn ebenso gut könnte dort

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stehen: Für alle Kater-Figuren. Vielleicht auch: für mich. Das ­Leben einfach so aushalten. Fritz Kater kann es nicht. Deshalb – glaube ich – schreibt er. (Auszug)

Bernd Isele studierte Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Medienwissenschaften. Promotion im Jahr 2006. Dramaturg in Zürich, Luzern, von 2013 bis 2018 am Schauspiel Stuttgart. Seit 2018 am Deutschen Theater Berlin, u. a. verantwortlich für die Autorentheatertage.

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IV. Ein großer Sieg! Muhammad Alis Kampf mit der Kaffeetasse ANDERS: Ich möchte dass du das tust was du niemals tun würdest SARAH: Das möchtest du du bist hässlich und böse und gefährlich Fritz Kater, „HEAVEN (zu tristan)“

HANS-DIETER SCHÜTT: Armin Petras, zwei Stichworte, zum Schluss hin. Das erste: Trost. ARMIN PETRAS: Es gibt einen schwedischen Autor, der sagt, Trost sei das Einzige, was wir Menschen wirklich brauchen. Trost hilft uns, mit dem Elend unserer Halbfertigkeit umzugehen. Wir schauen auf die Bühne und sehen im Drama den Menschen, der seinem Schicksal gegenübertritt. Wir bejubeln den tragischen Helden (wenn er gut spielt), weil er stellvertretend für uns den Kampf aufnimmt. Um einen Traum zu verwirklichen, um die Welt zu sprengen. Welchen Trost gibt es außerhalb des Theaters? Ich habe drei Kinder. Also trifft mich, zum Beispiel, die Aussicht auf eine Klimakatastrophe sehr persönlich, und schon erhält je­ der behauptete Trost Risse.

Der Trost außerhalb des Theaters

Das zweite Stichwort: Trotz. Wir sind am Ende des „Teilhabekapitalismus“ – das heißt: Die

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„Ich bin im Widerstand.“ Toller Satz

Reichen teilen nicht mehr mit den Armen, Solidarität nach unten wird aufgekündigt, und diese neue sehr alte Gesell­ schaftsstruktur verfestigt sich täglich. Nach einer Aufführung von „Früchte des Zorns“, vor Jahren am Gorki Theater, hat ein Soziologe zum Thema gesprochen. Es gab damals auch ein Podiumsgespräch, und eine junge Frau sagte, sie sei im Wider­ stand – mit Gleichgesinnten kämpfe sie gegen schädliche ­Gentechnologien und lege sich zum Beispiel protestierend in Maisfelder. Das habe ich nicht vergessen, den Satz fand ich wunderbar: „Ich bin im Widerstand.“ So was hatte ich zwanzig Jahre nicht mehr gehört. Der Satz ist doch erhebend. Ich bin be­ geistert, dass es solche Menschen gibt und ich sie über Theater kennenlerne. Klar: Auf der anderen Seite glaube ich, dass Leben ein Strom ist, gegen den man sich zwar wirft, aber mit dem man immer auch weitergeschleudert wird. Man schwimmt dagegen und sucht doch auch nach festem Grund, auf dem man mit­ strömen kann, um nicht unterzugehen. Zitat Armin Petras: „Besonders perfide finde ich, dass du heute nicht nur funktionieren, erfolgreich und der Erste sein musst. Du musst dabei auch noch relaxed lächeln und darfst dir keine Anstrengung anmerken lassen. Das finde ich schon frech.“ Man kann auch den Schweizer Schriftsteller Urs Widmer heranziehen, er spricht vom „grobschlächtigen Darwinismus“ als Grundgesetz der Moderne. Was herrscht, ist die kalte Souveränität der Ökonomie. Darwinismus – das Gegenteil von Darwin! Ja. Wie soll ich leben? Güter und Informationen, das soll offen­ kundig reichen, es reicht natürlich nicht. Und: zur Welt zu kom­ men, muss heute zuallererst verstanden werden als Aussicht, zu kurz zu kommen. Was heißt das? Designer-Individuen bevölkern Einkaufspassagen und bunte ­Titelseiten, Lounge Bars, Fernsehsoaps und Telefondienste. Was kann ich für Sie tun – ist der Standardsatz der modernen Dienst­ leistung. Aber was überall strahlt und die Gesichter und Stim­

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men „belebt“, ist nicht Neugier und Zugeneigtheit, sondern die blanke Angst der Menschen davor, nicht rechtzeitig etwas aus dem zu machen, was man aus ihnen längst gemacht hat. Vorhin haben wir über den Freund von mir gesprochen, der Angst vor seinem 40. Geburtstag hat. In Stuttgart gibt es ein gigantisches Einkaufszentrum. Die Werbung dafür zeigte einen jungen Mann, der eine junge Frau auf den Schultern trägt, mit vier ­goldenen Paketen. Darüber steht der Satz: „Ich kann endlich so lange shoppen, wie ich will.“ Das sind heutige Vorstellungen von Utopie. Der Philosoph Günther Anders schrieb, unser Innen werde mit ­Lieferwaren vollgestopft. Fatal ist doch schon der Gedanke, jeder Mensch sei ein Konkur­ rent. So, wie ja inzwischen jeder denken soll, er sei Kunde. Regisseur Luc Bondy hat einmal beschrieben, was er unter Individualität versteht. „Ich mag Leute, denen man ansieht, dass sie immer ein wenig zurückbleiben; ich fühle mich unter Menschen wohl, die wie Ansichtskarten sind, die einer geschrieben hat, der beim Diktat regelmäßig falsch schreibt – da ein Komma zu viel, da ein Tintenklecks, da ein Buchstabe ungelenk übermalt, da eine falsche Silbentrennung, die Schrift immer ein wenig schleppend, hinkend; solche Post lebt, hat Atem und wirkt auf mich ganz ­anders als die glatte, unbefleckte, lupenreine, aber eben völlig unpersönliche Schrift eines Computers.“ Die Pflege und der Schutz des individuellen Fehlers, das ist der Schlüssel zum Selbstwert in modernen Gesellschaften. Ich kann nur wieder von mir reden: Es geht darum, alles zur Macht ­Gekommene (und Markenware ist Macht!) mit dem eigenen Gefühl zu prüfen: sich nur gefallen lassen, was einem bekommt.

„Sich nur das gefallen lassen, was einem bekommt“

In jeder Zeit gibt es Deutungshoheiten. Aber genau die haben nichts mit Wahrheit zu tun, sondern mit Macht. Macht ist Struktur. Eine Deutungshoheit etabliert scheinbare Wichtigkeiten und behauptet, das genau sei die

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Wahrheit. Ich bin mir nur in sehr in wenigen Dingen wirklich ­sicher, aber in einer Sache doch: Mich interessiert nicht, ob es ­angesagt ist, was ich tue. Natürlich macht man auch dumme Fehler. Als junger Intendant bekam ich eine Einladung an die ­Comédie-Française in Paris. In der Nacht habe ich ordentlich ­getrunken, wälzte die Entscheidung hin und her, am nächsten Morgen sagte ich ab. Völliger Blödsinn. Es war eine vegetative Entscheidung, es kam über mich. Ja: ES. Ein Reflex, der bei der ­Betrachtung alles Widerständischen, alles Außenseitertums zu beachten ist. Es gibt Menschen, die wollen sehr gern Ja rufen, und dann hören sie mit Überraschung ihre Stimme, wie die leise, aber entschieden Nein sagt. Ich lese von einem Roman zwei Sätze und weiß: Das kann ich nicht für die Bühne machen. Es hat Angebote gegeben, preisgekrönte Bücher zu bearbeiten, an großen Thea­ tern, zu attraktiven Konditionen – und ich sagte ab. Ich muss an etwas glauben können. Ohne Hingabe geht es nicht. Also: geht schon ohne, aber das wird Schrott und fällt auf dich zurück.

Einladung nach Paris

Armin Petras, lesen Sie Kritiken? Ich kriege ja dauernd welche von irgendwem auf den Tisch ge­ schoben. Bei der Littell-Inszenierung, am Gorki Theater, „Die Wohlgesinnten“, waren die meisten Kritiken negativ, das war einer der wenigen Fälle, da mich Kritik getroffen hat. Bei Littell spürte ich eine große Verletzung. Vielleicht, weil wir so intensiv im Stoff waren, weil er uns so angegriffen hatte, bei den ersten Proben haben Kolleginnen nur geweint, die Arbeit ging uns an Herz, und wir haben, was wir da unter vielen Problemen versuch­ ten, sehr geliebt. Peter Kurth, Anja Schneider, Max Simonischek, Cristin König, Tommy – Probenzeit war wirklich in einem extre­ men Sinne Lebenszeit. Er hat auf mein Leben abgefärbt.

Jonathan Littell

Werner Bräunigs „Rummelplatz“, dieser fast vergessene, ver­ botene Roman aus der DDR, dann Jonathan Littells „Die Wohl­ gesinnten“ und etwa ein „Hofmeister“-Projekt mit Schülern der Neuköllner Rütli-Schule – das war am Gorki Theater Ihre sehr bewusste Arbeit jenseits der neuen Hippness auf der eine Seite und

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Szene Die Wohlgesinnten, Regie: Armin Petras, Maxim Gorki Theater Berlin 2011

der bürgerlichen Repräsentation auf der anderen. Die Bühne bei Ihrer Littell-Inszenierung war ein großer Spiegel. Sie haben mich als Zuschauer gewissermaßen zum Täter gestempelt. Gestempelt nicht. Es war ein Angebot zur Selbsterkennung. ­Natürlich haben wir nichts mit einem hohen SS-Offizier zu tun. Aber sind wir keine Täter? Sterben auf dem Weg nach Deutsch­ land nicht Tausende? Tötet unsere gierige Wirtschaft nicht welt­ weit? Da zu sagen, diese Spiegel-Bühne sei eine Zumutung, ist blanke Heuchelei. Wir lassen uns in der Realität doch nicht wirk­ lich aus der Balance bringen. Wir schauen schlimmste Film­ berichte und gehen danach gemütlich ein Bier trinken. 1999 hatten wir in Kassel die Spielzeit mit der Überschrift „Festung Europa“ eröffnet. Bei der zweiten Vorstellung saßen nur noch vierzig Leute im Zuschauerraum. Das Publikum wollte unterhalten sein. Und es hatte recht. Sie aber wollten verstören. Und wir hatten auch recht. Die Frage ist, wie man beides zu­ sammenbekommt. Ein Zerrfeld – unser ewiges unwirtliches

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„Werden im Vergehen“

­ uhause. Die Welt hat tausend Farben, und jede gilt. Libyens Z Staatschef Gaddafi wurde gefragt, warum es in seinem Land keine Theater gebe. Er antwortete, jeder könne sich ein Pferd kaufen oder sich eins leihen und dann an Reiterfestspielen teil­ nehmen – keiner müsse also Zuschauer bleiben. Das ist die ­Praxis gewordene Brechtsche Lehrstück-Theorie. Ich will damit nur sagen: Auf den Wiesen Gottes – wer immer das ist – blühen wahrlich viele Blumen, alles soll sich nach Lust und Lüsten sonst wohin bewegen, keiner hat ein Beschränkungsrecht auf Spiel­ ideen. Was gilt, ist das besagte „Werden im Vergehen“, Hölder­ lin, und diese schöne Arbeit der Selbststeigerung gilt für alle, und es gilt für jeden anders. Es heißt allenthalben, für Theaterleute gebe es heute leider nur noch das – für die Allgemeinheit uninteressante – eigene Lebensgefühl. Die Selbstbezüglichkeit wirke erstickend. Die Gegenwart ergreife fortwährend die Macht über die Vergangenheit: kein Kunstgefühl mehr, die Klassiker übergrünt von Patina. Zum Gähnen. Man erinnert sich wehmütig an die Ära Stein und Co.: Die genaue, radikale Erkundung der Texte der alten Stücke sei damals die revolutionäre Basis des damals jungen Theaters gewesen – das mit dem Bürgertum dadurch in Verbindung blieb, dass es dieses Bürgertum auf höchstem Bildungsniveau kritisierte. Was ist denn bitte Bildung? Und wo ist denn bitte das Bürger­ tum, mit dem man heute in Kontakt bleiben könnte? Das Ein­ zige, was Kontakt mit dem Bürgertum herstellt, ist der DAX. Ich ziehe meine Impulse nicht aus einem Kunstgedächtnis, das mich an bessere Zeiten erinnert. Der zentrale Beglaubigungs­ punkt jedes Textes ist für mich das, was er mit meinem Lebens­ gefühl zu tun hat. Lebensgefühl, nicht Kunstgefühl! Ein Kritiker über „Moloch / Hermannsschlachten“ 1995 in Chemnitz: „Zum Schluss haben die Deutschen gesiegt. Sie bestehen nur noch aus Prothesen. Hermann werden zudem die Eier abgeschossen, er blutet furchtbar. Thusnelda haut ihm die Krücken weg. Der Spuk ist vorüber. Hermann telefoniert noch schnell mit Mami, die

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sich wohl nach den verbliebenen Zuschauern erkundigte, denn er sagt, indem er ins Parkett blickt: Nicht mal die Hälfte! – Steckt hinter all dem eine Sehnsucht nach Tabubruch?“ Ich gebe die 25 Jahre alte Frage weiter. Tabubruch. Auch so ein Wort, das ich nicht mag. Wie: Provoka­ tion. Oder: Team, oder: kreativ. Oder noch toller: Bei deutschen Premiummarken heißt es nicht mehr Autowerkstatt, sondern „Dialogannahmestelle“. Wahnsinn! Man weiß doch genau, was eben nicht passiert: Dialog ... Theater ist zuerst mal – ein Hilfe­ ruf: Houston, wir haben ein Problem! Die Menschen in einem Stück erfahren, dass es einen Unfall gibt, eine Verstrickung, die sie nicht händeln können, in der sie nicht handeln können. Sie wehren sich trotzdem, irgendwie. Das ist Kultur, das ist Schönheit. Und im Endeffekt ermöglicht das die wirkliche Teil­ habe: wenn man in der Lage ist, das an sich ranzulassen. Und das geschieht, wenn es gut genug, traurig genug, lustig genug etc. ist.

Houston, wir haben ein Problem!

Stückzertrümmerungen à la Petras: Sie suchen geradezu den ­Konflikt. Auch da gilt, ich wiederhole mich: Ich bin konfliktscheu. Ich ­lasse das Produkt für mich den Konflikt suchen. Ich lasse das ­Inszenierte für mich den Konflikt austragen. Wenn ich im Thea­ ter sitze und mir drei melancholische Damen in Weiß – sich auf einer Schaukel zwischen Pappmascheebirken räkelnd – Tsche­ chow erzählen, kriege ich Rückenschmerzen und Schweißaus­ brüche. Mir wäre so was peinlich. Womit ich nicht sage, dass andere es nicht machen oder es sich nicht ansehen sollten. Aber meine Empfindung ist eben eine andere. Theater ist eine „Gesellschaft eigenen Rechts“, sagt der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann. Für mich bedeutet Theater eine Chance, Haltungen permanent zu wechseln, so, dass immer wieder Brechungen entstehen. Wir haben uns darüber unterhalten: Text ist ein Teil des Materials, aber nicht das Ein und Alles.

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In Nordhausen, vor Urzeiten, inszenierten Sie den „Galilei“, mir hat sich das eingeprägt, weil Galilei bei Ihnen nicht die Haupt­ gestalt war. Originalitätssucht? Den kleinen Mönch fand ich wichtiger – so wie ich auch das pur Wissenschaftliche in Brechts Stück nie für wirklich interessant hielt. Entscheidend für mich war damals in Nordhausen die Lust, die sich aus der Findung einer Wahrheit entwickelt, also: Wie sich so etwas versinnlicht, wahrlich in Volks-Kultur. Volk, das e ­ twas zu verstehen beginnt, hat was Sinnliches. Das andere aber: Wie endet ein hoffnungsvoller Aufbruch? Zumeist in der sogenannten Normalität von Leben: Jeder ist letztlich auf sich selbst zurückgeworfen. Der Rest ist meistens Heuchelei und Rollenspiel. Aber: Dem Volk brachte diese Wissenschaft wirklich was, sie konnte verbunden werden mit Alltagserfahrung, so et­ was wie Fortschritt bildete sich ab. Heute ist das ja regressiv – wir müssen erklären, dass man nichts mehr verbrauchen darf, also gefühlt: nichts. Die Bürger der USA verbrauchen fünfmal so viel Ressourcen gegenüber dem, was in Sachen Naturschutz ­geboten wäre. Die Deutschen etwa zweieinhalbmal so viel. Das mit dem Pursuit of happiness ist endgültig vorbei. Konsequenz: nicht so viel Öl, Fleisch, Bananen, wie du grade Lust hast – sonst sind wir bald alle tot. Das ist aber Scheiße, wenn man das ­zweihundert Jahre nicht mehr gehört hat: dass es weniger wer­ den soll.

Brechts kleiner Mönch

Und erklär das mal den Menschen in Afrika oder sonst wo jenseits des Westens ... Aber noch mal gefragt: Originalitätssucht? Die Perspektive habe ich damals nicht deshalb auf den Kleinen Mönch verlegt, weil ich an Originalitätssucht leide. Eher leidet bei mir eine Arbeit darunter, dass ich eine Inszenierungsidee habe, ihr aber im Laufe der Proben untreu werde. Das Interesse an einem Stoff kann sich verschieben. Nur das, was mich wirk­ lich bewegt, hält mich über mehrere Monate hinweg an einer Sache. Bewegt mich plötzlich etwas anderes, wird es für die Arbeit schwierig. Man braucht ja immer Kraft, um an etwas dranzubleiben. Als wir in Stuttgart mit Shakespeares „Sturm“

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begannen, hatte ich am Tag vorher die Nichtverlängerung ­meines Vertrages bekanntgegeben. Da steht mit einem Male einiges neu zur Diskussion: Prospero und der Abschied von sei­ ner Insel – was ist gelingendes und misslingendes Leben, was ist Spiel, was bitterer Ernst, wie gehen wir mit Wunschvorstel­ lungen um? Wer hat wen verraten ... Wenn es nicht weitergeht, kann man neu träumen, anders träumen ... und fragen: Gibt es ein falsches Leben im richtigen? Ab und zu ist im „Galilei“ die Rede von Gott. Beschwörung der letzten Instanz – um wesentliche Fragen ab­ zuwürgen. Autoritätsanrufung, als sei sie ein Argument. Das Stück erzählt, dass man vielleicht lieber mit Gott reden sollte, weniger mit Menschen. Gott rächt sich nicht.

Galilei und Gott

Galileo Galilei ist am Ende einer, an dem sich gerächt wurde. Das herrschende System rächt sich an ihm, und sein fehlen­ der Charakter rächt sich auch an ihm. Er widerruft, was er als wahr erkannt hatte. Zum Leben gehört Feigheit. Brecht schrieb über sich selbst. Sein gutes Recht. Die Frage ist: Be­ ginnt Charakter erst dann, wenn man ihn in Lebensgefahr bringen muss? Armin Petras: „sich losmachen, sätze, bilder, zeichen sammeln, mitten im bekannten , im alten kramen und mit dem neuen blick was heraussuchen, es kreuzen und kommentieren, schönheit und fremdheit stehen lassen wie eine unbegehbare zone, weiterlaufen, verschiedene formen annehmen, sachen hinstellen, gas geben und dann abtauchen, sich verstecken, rennen was das zeug hält mit allem, was man kriegen kann.“ Nur das, was einem ans Leben geht, hat man begriffen. Mu­ hammad Ali kämpfte in seiner letzten Zeit nur noch mit der Kaffee­tasse. Seine großen Hände zitterten gigantisch, und er braucht sehr lange, länger als mehrere Runden im Ring, um die Tasse auszutrinken. Aber er hat keinen Tropfen verschüttet. Ein großer Sieg.

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Theater, so sagte Jürgen Gosch, sei eine dauernde KindheitsNachgeburt, es sei der ungelenke Rück-Blick in jene Zeit, da man sich hemmungslos nassen Sand ins Gesicht schmierte und meinte, man sei nun unsichtbar oder ein Indianer. Darf ich wieder was vorlesen? „Die Schauspieler sind immer un­ glücklich, weil die Rollen zu klein sind oder man zu viele Rollen spielen muss, und man ist schon zu lange in der Provinz, und von Castorf wurde man noch nicht geholt, und ein Autogramm will immer nur die ältere gehbehinderte Dame aus Reihe eins, die immer da ist, wenn man spielt. Ja, der Kollege hat es ge­ schafft, nach Berlin, an eines der größeren Häuser, hat jetzt sogar in einem Comedyformat mitgemacht, im ersten Pro­ gramm, mit sehr guten Kritiken im Feuilleton, wird wahr­ scheinlich richtig abgehen mit dem im Fernsehen, hier kommt ja keiner her, schon gar kein Caster. Der Kollege hatte nicht sehr viel mehr Talent als man selber, aber das ist ja eh egal heute. Klar nimmt der Drogen, wegen der Depression und weil ihn seine Frau verlassen hat, und erste Rollen spielt er auch nur auf der kleinen Bühne, aber er hat es geschafft.“ Traurig, oder? (Lacht.)

Gosch, Castorf, Comedy

Schreibt Armin Petras ... Schauspieler sind die verletzlichsten Kinder der Kunst. Und die lebensgierigsten. Da gibt es diesen herrlichen Witz: Eine gute Fee fragt einen Schauspieler nach drei Wünschen. Der überlegt kurz und antwortet: „Erstens wünsche ich mir einen Kasten Bier, der mein Leben lang nicht leer wird.“ Und schon steht der Kasten vor ihm. „Zweitens eine Schachtel Zigaretten, die ebenfalls nie leer wird.“ Und schon liegt die Schachtel auf dem Tisch. Jetzt der dritte Wunsch. Der Schauspieler muss nicht eine Sekunde überlegen: „Drittens wünsche ich mir noch so einen Kasten Bier!“ Empfinden Sie, ein Teil Geschichte mitzutragen? Etwas, das ­Größe hat? Ich trag schon ein Teil Geschichte mit mir herum, wie jeder, aber

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dass ich an etwas Größerem beteiligt bin? Kann ich nun wahr­ lich nicht sagen. Bleiben wir rückblickend. Über Ihre Inszenierung „Legoland“ von Dirk Dobbrow vor Jahren in Hannover urteilte ein Kritiker, Ihre „theatralischen Phantasiewelten“ vermittelten „unvergleichlich viel vom Existenzgefühl einer kritischen und so oft enttäuschten Jugend“ in den Sozialbauten aus Beton und Einsamkeit. Was hatte so ein Stück wie „Legoland“ mit Ihrem Leben zu tun? Auch ich bin im Neubau groß geworden, in gewisser Weise va­ terlos, ich kenne das Gefühl eines unüberbrückbaren Abstands zu anderen Generationen, ich kenne Gegenwart als Niemands­ land. Diese Menschen in dem Stück sind jung und wissen nicht, was sie tun. Ein Schritt nur bis zum Abgrund ...

Gegenwart als ein Niemandsland

Sie gehören einer Generation an, die kein großes geschichtliches Ziel mehr hat. Könnte das nicht das größte geschichtliche Projekt sein? Eine Ziellosigkeit, gesetzt gegen das, was das 20. Jahrhundert aus­ machte? Ja, das Ende des 20. Jahrhunderts sorgte für einen totalen Bruch mit Heilserwartungen, deren praktisches Produkt aus diktatorischen Systemen, verfehltem Sozialismus bestand. Volker Braun über dieses 20. Jahrhundert: „Kamen seine Verwirklichungen nicht Verwüstungen gleich, hat es nicht die Ideen verbraucht wie die Leiber oder, schlimmer gesagt, die Ideen realisiert, indem es die Leiber verbrauchte? (...) Wo es, in diesem Jahrhundert, um den Menschen ging, war an die Gesellschaft kaum gerührt, und wo man die Gesellschaft verändern wollte, wurde nach dem Menschen nicht lange gefragt.“ Dahinter steckt die Frage, ob es noch Sinn hat, sich für Ideale einzusetzen. Ob das, was man tut, noch spürbare Konsequen­ zen hat. Alles, was wir tun, hat Konsequenzen. Aber klar, wir ­leben abgefedert – vielleicht ist dieses Eingebettete, dieses Um­ wattete sogar noch schlimmer. Es macht so schnell müde, bevor

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man sich überhaupt verausgabt. Aber wie überhaupt erfährt man noch Welt? Überall nur Monitore, auf die wir starren. Die Erde ist wieder zur Scheibe geworden. Weil Sie davon sprachen: Die Figuren in Dirk Dobbrows „Legoland“ zum Beispiel – die kennen nicht mal mehr diesen Neid; überschießende Hoffnun­ gen werden von denen nicht mal mehr geträumt oder gedacht ... Ich hatte wenigstens noch die Mauer, die hat irgendetwas markiert, irgendetwas zwischen Heimat und Gefängnis; diese Markierung hat mein Körper empfangen, und die trägt er noch immer ein bisschen mit sich herum – aber die Dobbrow-Kids, die springen ja nicht deshalb vom Dach, weil sie gegen was sind, sondern einfach, weil sie so leer sind. Ist Heimat auf dem Theater darstellbar? In „Vineta“ bedecken Äpfel den ganzen Bühnenboden.

Meistens siegt Blindheit

Auflösungsglück unter Naturrequisiten ... Sind Sie vom Menschen als geschichtlicher Kraft enttäuscht? Der Mensch ist eine geschichtliche Kraft, aber er sieht nur im­ mer partiell, was wirklich los ist. Meistens siegt Blindheit. Schon die alten Griechen wussten es, und Hegel spricht von einem Teil Glück bei zwei Teilen Unglück. Was bedeutete Ihnen in dem Zusammenhang der bereits erwähnte Heiner Müller? Ich hatte im Grunde keinen Vater, aber mit dem Müller ging das auch nicht. Sie haben ihn kennengelernt. Ja, aber der hatte immer eine ganze Horde von hörigen Idioten und Taschenträgern um sich. Wer sich zu Heiner Müller bekennt, gesteht Illusionslosigkeit, was den Gang der Zeiten betrifft. Ich habe keine Illusionen über unsere Zeit, aber ich bekenne mich doch rückhaltlos dazu, jetzt und in dieser Zeit zu existieren.

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Mir bliebe ja auch nichts anderes übrig (lacht). Einfacher gesagt: Manche Probleme sind nicht lösbar – und man kann dennoch damit leben. Noch einfacher: 1989 saß ich mit der Regisseurin Elke Lang vom Frankfurter TAT in einem Café, es kam jemand dazu, und die beiden redeten zwei Stunden lang über Wein­ sorten. Mit Abstand ist mir klar: Natürlich kann man zwei Stun­ den über Wein reden, und es kann ein wunderbares Gespräch sein. Das ist einfach eine andere Form der Wahrnehmung. Könnten denn Sie so reden? Über Weinsorten? Nein, aber über Wodkasorten. Inzwischen ja, aber ich tu es wirklich selten. Ich trinke lieber. Und ich empfinde diejenigen, die es können, nicht mehr als verlogen.

Wein oder Wodka?

Müller ist inzwischen ein Klassiker. Nein. Klassiker ist der Begriff für einen Gebrauchs- oder Markt­ kwert: Man spielt einen Dichter – und adelt sich selber: Seht nur, wir bewegen uns auf höchstem Niveau, und dabei bedient man doch nur das Abo. Aber damit ist bald Schluss. Weil 80 Prozent der Texte rassistisch und frauenfeindlich sind. Und wenn das erst mal im Spiegel und in der FAZ steht, wollen’s auch die Abonnen­ ten nicht mehr sehn, selbst die nicht, die’s schon 21 mal gesehn haben. Ich freu mich wirklich auf die neuen Theatertexte, beson­ ders auf die 200 Jahre alten. Müller allerdings wird das nicht ret­ ten. Ich hab „Medeamaterial“ und „Hamletmaschine“ inszeniert, ich hab Müller an verschiedenen Theatern angeboten – Absagen. Sie haben resigniert? Ich protestiere. Natürlich wird es immer wieder gute, wider­ ständige Müller-Inszenierungen geben. Grad die Jungen interes­ siert das. Sie haben mal gesagt, sehr gern würden Sie Müllers „Bau“ inszenieren. Weil ich in der DDR den zweiten Teil von Castorfs Aufführung in Karl-Marx-Stadt nicht sehen konnte. Ich musste zum Bahnhof,

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es fuhr so spät kein Zug mehr zurück nach Berlin. Die schönsten Träume erwachsen aus den unvollkommenen, gnadenlosen Fahr­plänen, die dein Leben bestimmen.

Heiner Müller

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Ihr Alter Ego Fritz Kater hat ein Stück über Heiner Müller geschrieben, es wurde am Berliner Ensemble uraufgeführt. Beschwörung eines Toten. Müller sagte: „Die Toten warten auf der Gegenschräge.“ Er sagte, er mache Theater für die Toten und weil Theater dafür da ist, die Toten zurückzuholen, sonst könnten wir gar nicht überleben. Die Toten werfen uns andauernd Strickleitern über die Friedhofsmauer zu. Was war vor zwanzig oder dreißig oder hundert Jahren? Wo ist der mythische Kern der Texte? Wenn ein Text keinen mythischen Kern hat, dann finde ich ihn ganz unsinnlich. Der einzige Ort, an dem wir wirklich frei sind, das ist die Vergangenheit. Müller ist für mich – neben Schleef – der wichtigste deutsche Schriftsteller nach 1945. Und als er sechzig wird, kommt er in eine unfassbare dramatische Phase. Der Theaterstoff zerrinnt ihm zwischen den Fingern, dieses vulkanische 1989 bringt ihm aber auch eine neue junge Liebe, er wird Vater und Akademiepräsident und Intendant des Ber­ liner Ensembles, und dieser Ruhm wird doch auch sofort von der Denunziation aufgefressen: der große unantastbare Dich­ ter zwischen den politischen Reichen – plötzlich ein IM und Mitläufer? Dass er sieben Jahre kein Stück mehr schreiben konnte, empfand er als einen Zeitsprung, der ihn als Autor zu vernichten drohte. Mich interessierte, wie dieser Dichter, der sich nie für sein reales, alltägliches, praktisches Leben interes­ siert hatte, unerwartet darauf stieß, welch dramatische Kraft doch in den banalen Dingen der eigenen Biografie steckte. Mir wurde beim Schreiben bewusst: Viel von dem, was er gelebt hat, kann man koppeln mit dem, was er geschrieben oder ­gesagt hat. Müllers Texte selbst sind ja weit mehr, als er das selber vielleicht zugab, aus persönlichen Erfahrungen und ­Krisen entstanden. Die Hauptfrage war für mich: Wie zeige ich eine berühmte Person – und zugleich etwas anderes; wie


­ leibe ich dem Ehrgeiz dieser Person gerecht, sich selber total b zu neutralisieren und nur immer Beobachtung von ganz fern zu betreiben. Es gibt es in Ihrer Hommage auch einen Komödienteil. Er erzählt vom Versuch, Müllers letztes Stück „Germania 3“ im Berliner Ensemble aufzuführen. In „heiner 1–4“ gelingt diese Aufführung nicht, weil der Meister Müller nicht mehr mit­ macht, er irgendwie abgehauen oder einfach krank ist. Das bleibt im Dunkel. Aber dafür gibt es einen improvisierten Tryout, mit vielen heute noch bekannten Menschen, die den gan­ zen Scheißapparat Theater einfach weiterlaufen lassen müs­ sen, egal wie – weil alle dranhängen wie am Tropf: Spieler, Techniker, Offizielle, Presse. Alle eben. Wobei die Hauptfigur, der Verwaltungsdirektor, ganz klar meinem Freund und der­ zeitigem Volksbühnen-Chef Klaus Dörr nachempfunden ist. Und der vierte Teil, für mich der wichtigste, ist einfach ein Monolog oder ein Fließtext, der den letzten Tag von Heiner Müller fiktiv beschreibt. Ein Gang durch die Stadt Berlin, ein Gang in die Freiheit des Todes, wie Müller sagen würde, die Augenlider abgerissen, ganz der Sonne der rasenden Wirklich­ keit zugetan und ihr zugleich ausgesetzt. Mir gefällt bei Müller diese Struktur eines Denkens, das absolut auf Phänomene und Spannungen gerichtet ist und sie aufspürt wie kostbare, ver­ borgene Trüffel. Als er den Büchner-Preis bekam, sagte er, er könne eigentlich nicht nach Darmstadt kommen, da ihn das ganze Prozedere und die Verfassung einer Rede zwei Arbeits­ tage koste. Und dann schreibt er aber eine Dankesrede, die dich umhaut. Er konnte ja auch ganz dezent kokett sein. Aber er sah Arbeitszeit als Lebenszeit, Lebenszeit als Arbeitszeit. Ich finde, das ist eine so entscheidende Frage: Was kann man in welcher Zeit an Material bearbeiten?

Gang durch Berlin

Zitat Armin Petras, aus einem Gespräch mit Nicole Gronemeyer: „Dass es zwischen Individuum und Gruppe einen Widerspruch gibt? Ich glaube das nicht. In dem Augenblick, in dem ich wirklich

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Teil einer Gruppe bin, bin ich auch befähigt, Individualität aus­ zubilden. Eine sich spiegelnde Individualität, die innerhalb einer gesellschaftlichen Formation in der Lage ist, Pflichten und Rechte, Chancen und Risiken einzuschätzen und das auszuagieren, auch mal Grenzen zu übertreten, aber auch wieder zurückgeholt zu werden und dabei zu wachsen.“ Dass das Ich souverän existent sei ohne das Wir – das ist eine Fiktion dieser Gesellschaft, die dich abrichten will: me, myself. Optimiere dich selbst! Am Ende dieses eingebildeten Selbst steht Selbstbetrug.

Me, myself!

Die Trendforschung spricht von den Lockungen und Notwendigkeiten eines völlig neuen „Bindungsmarktes“. Bindung erscheint hier als Gebot von Zweckmäßigkeit und Nutzungsvorteil. Den Gesundheitstrend wird künftig die „Selbstmedizin“ bestimmen – so wie auch „Selbstvermittlung“ und „Selbstorganisation“ begriffliche Festschreibungen eines unausweichlichen Rückwurfs sind: des Rückwurfs auf die Hochkultur der durchtrainierten Egoisten. Nietzsche sprach vom Privileg, „auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen“. Der freie Geist unterwegs; das Ungewisse einplanend, es nicht von vornherein ab­ blockend und nur danach fragend, welche Absicherungen das Leben unbedingt begleiten sollten. Die Widersprüche der Existenz an sich herankommen lassen. Dies ist freilich die schwierigste, ­risikovollste Form von Leben, für die es keinen Laborraum gibt, der vor bitteren Erfahrungen schützt. Für Aristoteles, der die Ethik als eigenständige philosophische Disziplin neben Logik und Physik etablierte, war die Frage nach Mitte und Maß das Kriterium für vernünftiges Handeln, das den Einzelnen und die Gemeinschaft verband. Er erfand die „goldene Mitte“. Vielleicht die früheste, haltbarste Utopie, vor der noch jede Gesellschaftsordnung versagte. US-amerikanische Manager verteilen Visitenkarten, ­darauf steht ethics department. Ethik wird in großen Unter­ nehmen von einer Abteilung wahrgenommen, so wie Einkauf, Verkauf und Rechnungswesen. Wahrscheinlich arbeiten diese ­Abteilungen sehr gut.

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Beim Stück „we are blood“ wurde mir vorgeworfen, ich hinge einem geschichtlich erledigten Wir, einem patinierten, geschei­ terten Kollektivgeist nach. Das war über 15 Jahre nach dem Ende der DDR. Auch bei „Tristan“ kamen Anfeindungen von Kritikern, das Stück und die Aufführung würden einem überholten Kollek­ tivismus zuarbeiten. Das war 2006. Diese Behauptung stand in einem seltsamen Widerspruch zu der Tatsache, dass ich einst einem vereinfachenden Weltbild von Kollektivismus glücklich entflohen war. Ich verstand überhaupt nicht, woher dieser ostal­gische Anwurf seine Berechtigung erlangen könnte. Es ging doch um Gegenwart. Uns ist der Wertestrom versiegt, der den Einzelnen und die Gemeinschaft in Austausch setzt. Er ist nicht einfach versiegt, er ist abgewürgt worden. Nur Geld fließt noch, es brüllt uns an, wie Heiner Müller schrieb, und es wird beim Brüllen leider nicht müde und heiser. Man hat über Jahrzehnte oder vielleicht sogar Jahrhunderte dem Individuum aufgrund der Einpassung in gesellschaftliche Systeme – in die­ sem Fall in den Kapitalismus – Instinkte geraubt. Diese Instinkte sind zu retten, zu reanimieren, und das ist einer der Gründe für mich, Theater zu machen – weil ich denke, dass wir da zu­ mindest einen winzigen Teil wieder zurückgeben können. Ich glaube daran, dass Menschen Werte benötigen. Werte funktio­ nieren aber nur, wenn ich in einer Kultur eingebunden bin, wenn ich einen Platz, eine Rolle habe. Wenn Menschen nur im­ mer die Rolle zufallen darf, verwirrt zu sein, dann werden sie über kurz oder lang gewalttätig.

Geld brüllt uns an!

Taugen westliche Wert für einen Ideenexport? Um Himmels willen! Wenn man mal in Brasilien oder in Rumä­ nien oder in Kuba ist, dann sieht man andere Lebensformen, das heißt auch andere Formen der Moral, andere Formen, um ein Miteinander auszubilden. Giorgio Agamben beschreibt eine ­Alternative aus dem Mittelalter, nach der man sich in die Klös­ ter zurück- und damit aus diesem Prozess herauszog.

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Wir haben es schon gestreift: Ist diesem Problem – auf dem Theater – noch mit dem guten alten sogenannten Realismus beizukommen? Ich habe den Eindruck, dass Realismus zwei Seiten hat. Die eine bedeutet, Zusammenhänge zu durchleuchten und sie dann wiedererkennbar zu beschreiben. Da geht es um die Welt. Die zweite Seite dieser Idee ist, Unzumutbarkeiten, unüberwind­ bare Widersprüche, Katastrophen im Ich so zu beschreiben, dass es für den Betrachter, für den Leser oder für den Zuschauer, klar wird, dass die Welt, wie sie ist, eigentlich nicht aushaltbar ist und man deswegen selbst aktiv werden muss. Da geht es um einen selber. Das ist für mich das andere Modell von Realismus und kann genauso ein Impuls sein, etwas zu tun. „Wie stellt man es an, vorhanden zu sein?“ Volker Braun über ­Lessing. Ich liebe übrigens – wenn ich das endlich mal anbringen darf in unserem Gespräch – dessen „Minna von Barnhelm“. Eine nicht mehr ganz junge Frau aus Sachsen mit ihrer besten Freundin in der Hauptstadt – sie triff auf einen Mann, der im Krieg war, ihren Ex-Lover, der zum Krüppel gemacht wurde und an einem postkriegerischen Trauma leidet. Der anerkannt werden will, als Krieger, als Mann, als Tötungsmaschine in sei­ nem Männerklub. Er will Ehre, Geld, er will was zurück, für sei­ nen kaputten Körper. Kriegt aber nix, die ganze Zeit, kein Geld, keinen Orden und nicht mal ’ne anständige Reha. Nur Lärm und Gebrüll und verkackte Wirte, die ihn fertigmachen wollen in so ’nem Scheißhostel in Berlin-Mitte. Und sie!? Sagt ein­ fach: Komm mit, mein Lieber, das kriegen wir wieder hin, ich hab da so ’n Minischloss mit’m Gemüsegarten in Sachsen, ge­ nauer Thüringen. Und er heult und gibt klein bei. Eigentlich das Gegenteil vom Amphitryon. Das perfekte Antikriegsstück und eine tolle Liebesgeschichte.

Minna von Barnhelm

Dies festgestellt in Zeiten, da man den Glauben an die Menschheit wahrlich oft genug verlieren kann.

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In der Hinwendung zum einzelnen Menschen kehrt dieser Glau­ be immer wieder zurück. Noch so ein Interviewsatz von Ihnen: „Ich zweifle daran, dass es notwendig ist, eine bestimmte Moral auszubilden, nur weil die Menschheit sich entwickeln muss.“ Stimmt. Für diese Erkenntnis hilft Reisen. Dahin fahren, wo man nicht hingehört. Reisen – nicht, um sich zu zerstreuen, sondern um sich zu verlieren. In anderen Existenzen, anderen Fragen, an­ deren Anschauungen. Wenn Sie jetzt schon Bilanz ziehen müssten, glauben Sie, dass Sie ein extremes Leben geführt haben? Nein, ein absolutes kleinbürgerliches Leben. Ich mache schon sehr viele Jahre dasselbe. Gehe rechtzeitig schlafen. Nehme nicht zu viele Drogen. Gelingt einem, der Fußball-Weltmeister sein wollte, das Altern? Komische Frage. Das Altern schreibt Sätze um – aus dem Wunsch, da wolle man wieder hin, wird der Wille, da wolle man noch einmal hin … Leben ist eine Reise, jedes Alter hat andere Wohnungen. Mein Körpergefühl macht mich jünger. Ich habe da offenbar ein Pro­ blem.

Jedes Alter hat andere Wohnungen

Dass darin besteht, dass Sie mit dem Altern keins haben. Vor etwas über zehn Jahren hatte ich einen ziemlichen Fahrrad­ unfall. Seitdem fällt mir das Boxen schwerer, die Klimmzüge machen auch Mühe. Nie hätte ich gedacht, dass alles so schnell kommt. Zustände der Verzweiflung sind Ihnen bekannt und geläufig. Zustände? Können wir uns einigen auf: Momente? Danke (lacht.) Dass man mit falschen Leute falsche Dinge macht, wo­ möglich noch am falschen Ort und zur falschen Zeit, das ist

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doch nicht zu vermeiden. Ich freue mich auf das, was kommt, was mir bevorsteht. Ich hätte keine Probleme mit anderen ­Lebens- und Arbeitsformen an anderen Orten. Darf nicht zu heiß sein und nicht ohne Wasser ... schon ’ne Menge an An­ spruch heutzutage, ich weiß. Man hat Zeit, aber sie wird mehr und mehr Frist. Das meint Orte, Menschen, Gedanken. Man kann auch sagen: Mit jedem Tag, den man älter wird, ver­ liert man den Kontakt zu bestimmten Dingen. Die Frage treibt mich: An welche Tauschbörse wende ich mich? Wenn das, was ich kann, keiner mehr will. Es ist das Schreckerlebnis älterer Leute: wenn ihnen in Bus oder Straßenbahn zum ersten Mal ein Platz angeboten wird ... He! Lassen Sie mich bitte ausreden. Davon sind Sie noch weit entfernt. Aber in der Kunst geht es beizeiten rücksichtslos zu: Alt ist als ­Regisseur schon der, der nicht mehr ganz jung ist. Aber das dachte ich doch auch: Zadek, Peymann, Dorn, Lang­ hoff – wieso verschwinden die alten Säcke nicht auf ihren wohl­ verdienten Alterssitzen?

Zadek, Peymann und Co.

Furcht vor Wiederholungen? Treue ist gut, Wiederholung ist toll. Je älter man wird, desto ­klarer weiß man doch: So viel Neues wird’s nicht mehr geben. Jedes Jahr bin ich ein anderer, jedes Jahr ist das Theater ein an­ deres. Lass alles weg, was du nicht kannst – dann bist du gut. Angesichts Ihrer wechselnden, mitunter auch derben ästhetischen Mittel gefragt: Schaute sich Ihre Mutter Petras-Inszenierungen an? So alle fünf Jahre, ja. In der Pause ging sie dann oft, resigniert: Ach, Junge, das wird ja wieder ein Flop. Da kann man nichts ­machen – und dabei lud ich sie ohnehin nur zu den hoffnungs­

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volleren Abenden ein. Aber ich hatte einen Job, sie nicht. Meine Mutter sah Vorstellungen in Frankfurt an der Oder, einmal stürmte sie auf die Bühne, nahm Requisiten weg, denn sie be­ hauptete, ich hätte die daheim geklaut. Warum tragen Sie unterm Basecap Glatze? Kurt Cobain und Meningitis, den Rest kann man sich dazu­ denken.

Über fünf Mützen

Wie viele Mützen besitzen Sie? Über fünf bestimmt. Ganz am Anfang unserer Gespräche nannten Sie den Tod „eine Grube zum Ausruhen, für den Neueinstieg“. Das klingt nach ­Kafka, der das Leben als „Zögern vor der Geburt“ bezeichnete. ­Haben Sie Angst vorm Sterben? Trotz Hypochondrie: null Gedanken daran. Ich tu eine Menge, um den Tod zu überlisten, aber ich denke nicht über ihn nach. Das ist ja purer Darwin: „Ich habe nicht die geringste Angst vorm Sterben.“ Na ja, letzten Endes schaffen wir es alle (lacht). Nicolas Stemann sagte mir, er inszeniere nur zwei Stücke im Jahr, weil er Angst davor habe, eines späteren, sterbensnahen Tages bilanzieren zu müssen: Ich habe nicht genug gelebt. Aus dem gleichen Grund mach ich’s umgedreht. Ich seh schon: Darwin verdirbt. Er verwandelt noch jeden Künstler in einen Rationalisten. Ich weiß, Sie meinen das ironisch. Aber den finalen Bescheid empfinde ich als äußerst normal und logisch. Sie sind Hypochonder? Ja. Sport treibe ich auch, weil ich eine manische Angst vor Kran­ kenhäusern habe. Die Luft, die Sterilität in Verbindung mit der Ahnung von Millionen Keimen, dann diese Unfarben dort.

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Schon uralte, abgegriffene Zeitschriften in Wartezimmern flößen mir Furcht ein.

„Tot sein, das ist wie vor der Geburt“

Elias Canetti nannte den Tod eine Unverschämtheit, „der kommt als Feind zu uns“. Wenn wir schon drüber reden: Nicht den Tod empfinde ich als Unverschämtheit, sondern die Krankheit. Die erniedrigt, die versucht eine Herrschaft über mich. Die spüre ich – den Tod ­werde ich nicht spüren. Mit Krankheiten aber werde ich Erfah­ rungen machen müssen, bin also schon dabei gewesen, mit dem Tod nicht. Er ist etwas außerhalb meines Bewusstseins. Tot sein, das ist wie vor der Geburt. Tot zu sein, haben wir doch schon eine Ewigkeit hinter uns. War das schlimm? Ehrlich gesagt, nein – soweit ich mich erinnere. Und so wird es wieder sein. Vorher Ulan Bator. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich habe nicht mal die Telefon­ nummer. Da kann ich aushelfen: 00976-7011-0395. Muss doch herrlich sein. Dieses Land! Die nackten Hügel rings­ um, das rote Feuer des Lichts. Und zwischen dem eigenen ­Körper und dem Rest der Welt möglichst nichts. Andrzej Stasiuk schreibt über die Mongolei: „Es gab hier nichts, worüber ich hätte nachdenken können.“ Glaub ich nicht.

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Armin Petras 1964 geboren in Meschede 1969 Übersiedlung mit den Eltern in die DDR 1985 bis 1987 Regie-Studium an der Hochschule für Schauspiel­ kunst „Ernst Busch“ Berlin 1988 Ausreise in die BRD. Arbeit als freier Regisseur 1996 bis 1999 Oberspielleiter in Nordhausen sowie Hausregis­ seur am Schauspiel Leipzig 1999 bis 2001 Schauspieldirektor am Staatstheater Kassel 2002 bis 2006 Hausregisseur am schauspielfrankfurt 2006 bis 2013 Intendant am Maxim Gorki Theater Berlin 2014 Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellen­ den Künste 2013 bis 2018 Intendant am Schauspiel Stuttgart Seit 2018 Hausregisseur am Theater Bremen

Inszenierungen (Auswahl): Theater Magdeburg, Freie Kammerspiele Magdeburg, Resi­ denztheater München, Münchner Kammerspiele, Thalia Thea­ ter Hamburg, Deutsches Theater Berlin, Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz Berlin, Schaubühne Berlin, Theater Chemnitz, Schauspiel Hannover, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Deutsches Nationaltheater Mannheim, Schauspiel Köln, Anhal­ tisches Theater Dessau, Schauspielhaus Wien, Theater Basel, Ruhrtriennale, Schauspielhaus Bochum, Staatsschauspiel Dres­ den, Theater Nürnberg, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Staats­ oper Stuttgart, Düsseldorfer Schauspielhaus, Theater Bonn, Staatstheater Cottbus.

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Das ganze Drama Von Armin Petras

A: ich habe mich oft gefragt, wer du wirklich bist. B: das ist eine lustige frage. ich weiß nicht wirklich, wer ich bin, ich bin ein fehler mit etwas drumherum. A: du bist ein schauspieler, stimmt das? B: ja, warum? A: was ist der unterschied zwischen leben und spielen? B: im leben muss man nicht spielen und beim spielen muss man nicht leben. A: und was ist mit dem theater – glaubst du, dass du existierst, oder bist du nur ein körper, der fremde worte ausstößt? B: nein, ich spiele nie, aber ich mache die erste hälfte vom spie­ len, ich träume. ich stelle mir vor, der mond ist ein silberner pool, in den ich eintauchen kann. und dann lege ich mich auf den rücken und höre die kleine grüne pflanze in mir wachsen. A: welche pflanze? B: die liebe, was sonst. A: ich möchte ein kind. ja. ich glaube schon. B: ich habe eine sehr schöne stimme, ich weiß. A: wenn ich eine geburtsurkunde hätte, könnten wir heiraten. B: du hast noch den abdruck der tischkante auf deinen schen­ keln. A: dann wird noch etwas bleiben von uns. B: im all ist es nicht so kalt wie man denkt. es sind genau ge­ nommen 3 grad, allerdings kelvin, auch nicht gerade warm. A: nachdem ich dich getötet haben werde, schneide ich deine brust auf, ich werde es herausreißen und es bluten lassen und dann werde ich deinen namen auf die tapete schreiben, mit deinem blut, und du wirst sein. B: ich lege dir mein herz auch so zu füßen.

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A: ich verlasse dich, weil du so langweilig bist wie alle. B: ich habe es gleich gesagt. A: du wirst nicht darüber hinwegkommen, nie. B: du bist wie eine lichterkette über der stadt, zeigst auf den himmel, wo der anfängt.

ich hoffe ich habe jetzt alle fragen zur genüge beantwortet nehmt bitte eure hefte heraus wir schreiben als erstes einen aufsatz: wie lebe ich und warum. FRITZ KATER („Fight City. Vineta“)

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Unterwegs

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Die Theaterstücke von Fritz Kater sind ein signifikanter Spiegel der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. An seinen Figuren lassen sich die Brüche in der Geschichte und den Lebenswegen ablesen, zugleich tragen sie ein außerordentliches Sehnsuchtspotenzial in sich.

DIALOG 4

DIALOG 16

Ejakulat aus Stacheldraht Theaterstücke

5 morgen 5 stücke

von Fritz Kater

von Fritz Kater

Paperback mit 312 Seiten, Format: 140 x 240 mm ISBN 978-3-94388196-7 € 18,00

Paperback mit 300 Seiten, Format: 140 x 190 mm ISBN 978-3-943881-64-6 € 18,00


Bildnachweis S. 113 Krafft Angerer; S. 10 Rolf Arnold; S. 45 Thomas Aurin; S. 61 Arno Declair; S. 40 Jörg Landsberg; S. 16 Constantin Mirbach; S. 31, 44, 68, 89, 101, 136, 175 privat; S. 9, 43, 119, 130, 153 Bettina Stöß; S. 85 Dorothea Tuch; S. 73 ullstein bild – Marianne Thiele Umschlagfoto: Fabian Schellhorn Impressum Hans-Dieter Schütt Petras backstage © 2021 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im UrheberrechtsGesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleitung Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Redaktion: Harald Müller Lektorat: Nicole Gronemeyer Umschlag und Gestaltung: Gudrun Hommers Druckerei: winterwork Printed in Germany ISBN 978-3-95749-295-1 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-328-6 (E-PDF) ISBN 978-3-95749-329-3 (EPUB) Dieses Buch ist umweltfreundlich produziert, indem auf umwelt-, wasser- und gesundheitsgefährdende Chemikalien und auf Einschweißfolien verzichtet sowie ausschliesslich FSC-zertifizierte Papiere verwendet wurden.


Foto Ellen Scherzer

Hans-Dieter Schütt, Jahrgang 1948, Journalist und Publizist, ist Autor von Interview­ büchern u. a. mit Dieter Mann, Frank Castorf, Ekkehard Schall, Gert Voss, Ursula Karusseit, Andreas Dresen, Robert Menasse, Claus Peymann. Er schrieb Biographien über Kurt Böwe und Günter Gaus. Gemeinsam mit Ullrich H. Kasten drehte er die Dokumentarfilme „Die Langhoffs“ und „Der eiserne ­Vorhang – Theater in Berlin“. Er ist Autor und Dramaturg beim Gefängnistheater „aufBruch“. Im Verlag Theater der Zeit ­erschienen „Michael Thalheimer – Porträt eines Regisseurs“ (2017) und „Kam, sah und stolperte – Gespräche mit Christian Grashof“ (2018).


Dass er das Aristotelische und das Brechtsche zu versöhnen vermag, dass er sich fürs Schicksalhafte und Soziale gleichermaßen interessiert, dass er einen empfindsamen Sarkasmus anstrebt, darin liegt das Geniale an Armin Petras. Evelyn Finger DIE ZEIT

ISBN 978-3-95749-295-1

www.theaterderzeit.de


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