Theaterstücke aus Brasilien

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Theaterstücke von Newton Moreno Grace PassÔ Silvia Gomez Pedro Brício Paulo Santoro Sérgio Roveri


Was passiert, wenn Dorfbewohner entdecken, dass eine Frau als Mann seine/ihre große Liebe gelebt hat, erzählt Wüstes Land, Agreste von Newton Moreno. Unbeherrschbare Ereignisse, Gefühle und Kontrollzwang bringen in Grace Passôs Für Elise vier Personen einander näher als erwünscht. „Alles unter Kontrolle“, erklärt die Krankenschwester in Silvia Gomez’ Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm über die Sehnsüchte und Ängste ihrer Patientin. In Pedro Brícios Fast verlorene Liebesmüh improvisieren und streiten vier Schauspieler auf einer Theaterprobe über die Mathematik der Liebe und des Theaters. In Paulo Santoros Das Ende aller Wunder philosophieren ein alter Professor und seine Frau im Rollstuhl über den Kosmos und bezahlten Sex im Alter. In Sergio Roveris Hängepartie (mit Innenansichten) lästern und lamentieren zwei Fensterputzer an einem Hochhausturm über die da drinnen und die da draußen über dem Abgrund.


TheaterstĂźcke aus Brasilien


Mit freundlicher Unterstützung der Botschaft von Brasilien in Berlin.

Theaterstücke aus Brasilien Herausgegeben von Henry Thorau in Zusammenarbeit mit dem Brasilianischen Außenministerium Itamaraty Reihe Dialog © Theater der Zeit, Berlin 2019 Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleitung Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Nicole Gronemeyer Gestaltung: Agnes Wartner, kepler Printed in Germany ISBN 978-3-95749-152-7 (Paperback) ISBN 978-3-95749-207-4 (ePDF)


DIALOG 28 –

THEATERSTÜCKE AUS BRASILIEN –

Herausgegeben von Henry Thorau



Inhalt

Henry Thorau Vorwort – Leben in Zeiten der Dystopie

S. 7

Newton Moreno Wüstes Land, Agreste (Malven-Rose)

S. 17

Grace PassÔ Für Elise

S. 33

Silvia Gomez Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm

S. 61

Pedro BrÍcio Fast verlorene Liebesmüh

S. 97

Paulo Santoro Das Ende aller Wunder

S. 153

Sérgio Roveri Hängepartie (mit Innenansichten)

S. 173

– Autorinnen und Autoren Rechtenachweis

S. 203 S. 2 1 1



Leben in Zeiten der Dystopie

„Pra frente, Brasil!“, so lautet die brasilianische Fußballhymne. „Vorwärts Brasilien!“, so könnte auch das Motto des brasilianischen Theaters der 1950er und -60er Jahre gelautet haben, denn den Weg in eine bessere Zukunft hatten sich auch die Theaterleute auf die Fahne geschrieben. Aufbruchsstimmung war allgemein angesagt in jenen relativ liberalen Zeiten, als Präsident Kubitschek fünfzig Jahre Fortschritt in fünf Jahren zum Ziel setzte, 1960 die von Oscar Niemeyer entworfene neue Hauptstadt Brasília eingeweiht wurde. In den frühen 1960er Jahren, als die Chancen auf eine sozialistisch ausgerichtete Regierung nicht schlecht standen, engagierten sich Theaterleute nach dem kubanischen Modell massiv für ein neues, ein linkes Brasilien. Prägend war hier das Teatro de Arena in São Paulo, das erste kollektiv geleitete Theater Brasiliens mit seinen Chefstrategen Augusto Boal, dem späteren Begründer des Theaters der Unterdrückten, und Gianfrancesco Guarnieri, mit ihren marxistisch auf den Klassenkampf ausgerichteten Produktionen über streikende Metallarbeiter und die Gewerkschaftsbewegung. Ähnliche Ziele verfolgten auch die Polit-Revuen des Teatro Opinião in Rio de Janeiro, die Agitpropstücke und Straßentheateraktionen der Volkskulturzentren CPC. Ein neues Brasilien wollte auch das dem Tropicalismo und Antropfagismo, dem Menschenfressertum, verpflichtete Teatro Oficina in São Paulo. Andere sozialkritische Gruppen wie das Teatro Experimental do Amazonas in Belém oder Hermilo Borba Filhos Teatro Popular do Nordeste in Recife entdeckten mit Folklore-Anklängen ihre regionalen Wurzeln. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, als die Militärs der linken Euphorie ein jähes Ende bereitet und ein autoritäres System installiert hatten, mit Ermächtigungsgesetzen, die demokratische Institutionen lahmlegten, und Schriftsteller und Theaterleute mit Auftritts- und Publikationsverboten verfolgt wurden, gingen die Kulturschaffenden und natürlich auch die Studierenden in den Widerstand. Viele endeten im inneren oder äußeren Exil, im schlimmsten Fall im Gefängnis. Westliche Länder schwiegen meist zu den Menschenrechtsverletzungen, weil sie vom brasilianischen Wirtschaftswunder profitierten, wie etwa die Bundesrepublik Deutschland mit dem Bau von Atomkraftwerken.

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Aufbruchsstimmung kam erst Ende der 1970er Jahre wieder auf, als mit der „Abertura“, der politischen Öffnung, die zögerliche Redemokratisierung Brasiliens einsetzte. Mit der Aufhebung der Zensur, der politischen Amnestie, als viele Künstlerinnen und Künstler aus dem Exil zurückkehrten, wurde Bilanz gezogen: Etwa 500 Theaterstücke und sogar auch Musikstücke (wie Songs der international berühmten Chico Buarque und Caetano Veloso) waren während der bleiernen Zeit, den „anos de chumbo“, verboten worden. Viele der im Lande gebliebenen Autorinnen und Autoren waren verstummt, einstmals politisch aktive Schauspielerinnen und Schauspieler wollten zwar nur beim Fernsehen überwintern, waren aber inzwischen zu Stars der Telenovelas aufgestiegen. Die Phase der Aufarbeitung im Theater, der sogenannten Bewältigungsliteratur, währte relativ kurz. Neben einigen reißerischen sogenannten „Folterstücken“, die in die Abgründe der staatlichen Repression blickten, waren es vor allem Dramen, die sich mit den psychischen, emotionalen Folgen, den Befindlichkeiten der Betroffenen beschäftigten. Die meisten dieser als „Nova dramaturgia“ bezeichneten Stücke stammten von Frauen: Consuelo de Castro, Maria Adelaide Amaral, Leilah Assunção … Hatte dieser Rückzug ins Private schon in den letzten Jahren der Diktatur stattgefunden, so zeichnete sich im brasilianischen Theater, in den Dramen wie in den Aufführungen, immer deutlicher eine Entwicklung ab, die im Privaten den Widerschein des Politischen suchte, in einer manchmal sogar zynischen, häufig aber auch resignativen, melancholischen Subjektivität. Diese Tendenz setzt sich bis heute fort, im Zentrum vieler Theaterstücke stehen oft scheinbar individuelle, oft auch autobiographisch getönte Probleme, die Bewältigung des eigenen Lebens und des Alltags in unterschiedlichen Konstellationen und Kontexten. Vielleicht ist dies nur in Zeiten einer relativen politischen Stabilität möglich, es ist aber auch Ausdruck der sich auf das Individuum auswirkenden gesellschaftlichen Stagnation und Politikverdrossenheit, die sich bis in die 1990er, ja bis in die 2000er Jahre fortsetzt. Das Private als unaufdringliche, aber unübersehbare Spiegelung von Politik und Zeitgeschichte repräsentieren auch die Stücke, die in dieser Anthologie vorgestellt werden. Es drängt sich angesichts dieser auf brasilianischen Bühnen erfolgreichen Stücke natürlich auch die Frage auf: Und wo bleiben die brennenden Themen, die die brasilianische Gesellschaft in jüngster Zeit umtreiben, die politische Dauerkrise, die Problematik der People of Color? Sie werden, mit vereinzelten Ausnahmen, auf der Bühne nicht verhandelt. Vielleicht ist auch dies ein Ausdruck von Ohnmacht, Ent8


täuschung, Resignation und Zynismus. „Ein Land am Abgrund“, so sah es schon der bedeutendste brasilianische Dramatiker Nelson Rodrigues (1912– 1980). Am Abgrund bewegen sich die meisten Protagonistinnen und Protagonisten dieser Stücke. Jenseits der Metropolen rücken immer mehr die Regionen in den Fokus. Einer der wichtigsten Repräsentanten dieser Entwicklung ist Newton Moreno aus Pernambuco, dem Nordosten Brasiliens. Sein Stück Wüstes Land, Agreste (2004) eröffnet die vorliegende Anthologie. Das Licht der Öffentlichkeit erblickte es bei einer szenischen Lesung beim Festival de Teatro in Curitiba, in einer zum ersten Mal veranstalteten und vielbeachteten Reihe „schwuler Dramatik“. Was verbirgt sich nicht alles in diesem wenige Seiten umfassenden Text, was lässt sich inhaltlich und formal nicht alles aus ihm herauslesen oder in ihn hineinlesen: böses Märchen, Schicksalstragödie, Ovids Metamorphosen, Gender- und Queer-Diskurse, C. G. Jungs Archetypen, etwa der ‚Großen Mutter‘, die in der brasilianischen Konnotation als Mutter des Wassers, mãe d’água, auftaucht, gleichgeschlechtliches weibliches Begehren und Bedrohung ankündigt. Und dann entzieht sich der Text auch noch konventionellen dramatischen Klassifizierungen. Wüstes Land wird als „material cênico aberto“, als offenes szenisches Material, als radikales Narrativ betrachtet. Mit dem von ihm eingeführten Begriff der „partitura física“ sieht der Autor selbst, Newton Moreno, Wüstes Land gar als ‚polyphones Körpertheater‘, in dem der Erzähler oder die Erzählerin alle anderen Rollen übernehmen könne. Die Stimmführung lehnt sich an die brasilianische literatura de cordel an, ist deutlich der oralen Populartradition des brasilianischen Nordostens verpflichtet, etwa João Cabral de Melo Netos „Auto de Natal Pernambucano“ Morte e vida Severina (1956, dt. Tod und Leben des Severino). Verstörend, vielleicht auch bewusst provokativ ist die Schreibweise: „contador(a)“, Erzähler(in), die Zuschauer*innen, Zuhörer*innen und Leser*innen durch den Text führt. Wünscht der Autor sich einen Mann oder eine Frau? Wahlweise? Oder simultan? Oder Darsteller, die sich z. B. als intersexuell oder Transgender definieren oder vieles mehr? Vermutlich soll hier von Anfang an die Aufmerksamkeit auf die Kategorien des ‚Anderen‘, der Alterität und Diversität gelenkt werden. In Newton Morenos Werk, nicht nur in Agreste, gehen Sexualität und cultura popular eine Beziehung ein, wie es sie im brasilianischen Drama und Theater so noch nicht gegeben hat. Dies macht sein Œuvre auch so einzigartig. 9


Dass Agreste im Sertão spielt, dokumentiert auch die Sprache des ländlichen Nordostens. Die Stimme des/der Contador(a), die Lexik, Syntax, das Monologische, Dialogische sind dem Volkston der literatura de cordel abgelauscht. Manche der einfachen Sätze wirken wie stilisierte Oralität, klingen wie mit (Binnen-)Anaphern durchsetzte rhythmische Prosa oder Verse. Was für eine Herausforderung für die Übersetzerin Katja Roloff, die sie bravourös gemeistert hat! Der Autor Newton Moreno erzählte mir, dass die Gender-Thematik im ländlichen Nordosten Brasiliens öfter auftaucht oder literarisch verarbeitet wird als gemeinhin bekannt. Er nannte als beispielhaft den Namen des Protagonisten/der Protagonistin eines der berühmtesten brasilianischen Romane des 20. Jahrhunderts, Grande Sertão: Veredas. Zweifellos steht Newton Morenos Agreste in einem intertextuellen Dialog mit João Guimarães Rosas Werk aus dem Jahr 1956. Newton Moreno erwähnte sogar den Namen des Protagonisten/der Protagonistin und setzte ihn in den Plural. Ja, man könnte Wüstes Land, Agreste als eine literarische Antwort auf João Guimarães Rosas Roman bezeichnen. Ein vertracktes Spiel: denn anders als Guimarães Rosa, der am Ende die heterosexuell genormte ‚Differenz‘ bestätigt, entkleidet sie Newton Moreno gewissermaßen wörtlich, entlarvt sie als Konstrukt, klagt die Verweigerung, Sanktionierung an. Am Ende bleibt die Frage des Erzählers/der Erzählerin: „Liebe? Was ist das wohl? Schmerz und seine Linderung?“ Um Liebe, Schmerz und wie man/frau überleben kann, geht es auch in Grace Passôs Für Elise (2005): „Der Gaslieferant. Was für eine schöne Musik, um weinend Gas zu kaufen, nicht wahr?“, schwärmt eine Hausfrau und meint damit die gleichnamige Melodie, die aus dem Lautsprecher des Gas-Lieferwagens dröhnt, der langsam durchs Vorstadtviertel fährt, Ludwig van Beethovens Klavierstück in A-Moll. Als Moll könnte man auch die Tonart bezeichnen, die über dem Stück Grace Passôs liegt. Beschreibt Für Elise die allgemeine Angst, Bedrohung und Paranoia, die hinter der harmonischen Fassaden-Musik herrscht, auch angesichts der Alltagskriminalität in Brasilien? Das ist die eine Seite des Dramas. Die andere ist, wie man/frau mit der Situation umgeht. Da sagt der Müllmann zur Frau: „Ich glaube, du musst dich der Situation ganz einfach stellen. So ist das Leben eben …“ Da entlädt sich das nicht gelebte Leben eines Nachbarn beim Herzinfarkt in einem „Lyrikanfall“, da bäumt sich das Herz der Hausfrau plötzlich surreal auf „wie ein junges Pferd, das mit feurigen Hufen zum Meer galoppiert“. 10


Und wenn dann aus dem Off auch noch ein Hund zu hören ist, der Wörter bellt, sind das nicht nur Anklänge an die konkrete Poesie, sondern es scheinen auch Reminiszenzen aus Cervantes’ Hund Berganza aus den Novelas ejemplares auf. Und plötzlich spricht nicht mehr die Hausfrau, sondern die Schauspielerin hinter der Rolle und ermahnt ihre Mitspielerinnen, „lasst euch emotional nicht zu sehr darauf ein, wenn ihr hier Geschichten erzählt. (…) Dafür gibt es doch Techniken.“ Und schon befindet man/frau sich mitten im Meta-Theater von Grace Passô und ihrem Theaterkollektiv espanca!, einer der, darüber ist sich die Theaterkritik einig, aufregendsten und spannendsten brasilianischen Theatergruppen der letzten Jahre. In den meisten ihrer oft in gemeinsamer Probenarbeit entstandenen Texte spielt sie nicht nur selbst mit, sondern „performt“ geradezu exzessiv, womit sie in Brasilien inzwischen nicht nur als Autorin, sondern eben auch als schwarze Performerin Kultstatus erlangt hat. Eine ältere, liebes- und lebenskranke Frau, Denise, liegt auf ihrem Bett, dämmert vor sich hin, unfähig aufzustehen. Eine zweite Frau, Isabel, sitzt am Esstisch und löst Kreuzworträtsel. Das ist die Eingangsszene von Silvia Gomez’ Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm (2006), und damit ist das Setting des ganzen Stücks umrissen. Als Denise nach der Schwester schreit, Isabel das Schreien zunächst ignoriert, dann aufsteht, eine Spritze aufzieht und Denise mit einer Injektion wieder ruhigstellt, wird klar, wir befinden uns offenbar in einer Szene betreuten Wohnens mit einer häuslichen Pflegekraft. „Verdammtes Miststück, tu nicht so! Ich weiß, dass du mich hören kannst, du Luder, ich weiß es ganz genau, also bitte! Ich hab mich vollgeschissen. Ich hab in die Hose gepinkelt. Schwester!“ Was wie der O-Ton aus einer undercover-Reportage klingt, in der mit versteckter Kamera die Missstände der Pflege aufgedeckt werden, was also auf den ersten Blick wie Reality wirkt, wie ein dokumentarisches Pflegedrama, das es auch ist, entpuppt sich immer mehr als Beziehungsdrama, mehr noch, als eine Liebes- und Hassbeziehung zweier Frauen. Als Isabel fragt, „wie fühlen wir uns denn?“, und Denise zischt, „am liebsten würde ich dich anspucken und vollkotzen“, und Isabel Denise am Arm packt und scharf fordert, „Liebes! Sieh mich an“, wirkt das so, so als sei da eine Petra von Kant inzwischen auf dem verzweifelten Abstieg in die Abhängigkeit, Hilflosigkeit und Demenz. Aber Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm ist auch eine folie à trois, denn da ist noch Arthur, der Dritte im Bunde, Arzt und Ehemann von De11


nise und früherer Liebhaber von Isabel, als diese noch bei ihm in der Klinik arbeitete. Denise, die Arthur nicht mehr erkennt, vermutet, dass Isabel sie vergiften will. „Ich glaube, du hast Halluzinationen“, beschwichtigt Arthur. Aber so abwegig ist das nicht, schließlich stimmt Isabel ein Geburtstagslied für Denise an, „Happy birthday to you …“ Und von Theresia Walsers Dramagroteske King Kongs Töchter (1998) wissen wir, dass Patientinnen und Patienten gerne an Jahrestagen von den Pflegekräften ins Jenseits befördert werden. Vielleicht schminkt sich Denise auch deshalb stark, um noch einmal hinauszugehen auf die Straße und ihre Sexphantasien auszuleben, wie Elfriede Jelineks Klavierspielerin einen Mann im öffentlichen Raum auf allen Vieren oral zu befriedigen … Wie soll man mit solchen Phantasien und Assoziationen umgehen? Vielleicht so wie Arthur, der ziemlich gegen Ende feststellt: „ab einem bestimmten Alter wird einem klar, dass es keinen Sinn hat, etwas zu erklären, am Ende spielt es keine Rolle. Also lässt man die anderen denken, was sie wollen, weil sich an ihrem Denken sowieso nichts ändern wird, man bleibt ganz ruhig, schaut zur Decke, während sie reden, schimpfen und schreien, dann steht man auf und geht.“ Verlorene Liebesmüh? „… in den letzten drei Jahren ging es mir richtig gut. Jeden Tag, richtig gut. Ich habe nicht meditiert, nicht gebetet, habe mich schlecht ernährt, habe zu viel getrunken, zu viel geraucht, hatte die Therapie geschmissen, hatte keine große Ambitionen im Leben“, resümiert Marcos in Pedro Brícios Fast verlorene Liebesmüh (2011), in dem vier Schauspielerinnen und Schauspieler auf einer Theaterprobe über ihre Rollen und ihre Rolle im Leben nachdenken und improvisierend räsonieren. Was zunächst wie ein zwangloses spielerisches Geplauder aussieht, wächst sich nach und nach zu einem Beziehungsclinch aus, in dem, wie sich herausstellt, irgendwie jede und jeder schon einmal mit jedem und jeder was hatte oder zumindest zu tun hatte, sich die Rollen vermischen, Rollengrenzen überschritten werden, die Mauern der eigenen Identität, auch die der sexuellen, ins Wanken geraten: „Ich dachte, ich würde mit jemandem schlafen … ich muss mit jemandem schlafen. Irgendwann werde ich wieder mit jemandem schlafen müssen.“ Marcos hatte anfangs in seiner Geometrie der Leidenschaft noch versucht, die Personen und ihre Darsteller auf den Punkt zu bringen: „Es könnte so sein: (deutet auf Mariana) X, (deutet auf sich selber) Y, (deutet auf João) Y2, (deutet auf Branca) Z. Wie eine mathematische Gleichung. Oder Sie, Er, Der, Die.“ Später muss er resignierend feststellen: „Ich kann nicht mehr. Ich 12


bin der Erzähler, der mittendrin den Faden verliert. Ich bin die Figur, die mittendrin alles verliert und in eine Lebenskrise gerät. Ich bin derjenige, der nicht mehr weiß … wie es weitergehen soll …“ Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass immer wieder Spanisch gesprochen wird, ganz wie in Shakespeares Verlorener Liebesmüh, ohne dass jedoch das Idiom wie beim großen Vorbild parodiert würde. Eine Komödie der Irrungen, Irritationen und Verwirrungen ist dieses Stück von Pedro Brício, in die, ähnlich wie bei Shakespeare, ganz plötzlich die Wirklichkeit einbricht, aber nicht die tragische … Vielleicht lautet der Titel auch deshalb, wegen eines leisen hoffnungsfrohen Moments, Fast verlorene Liebsmüh … „Warum soll man hassen, was nicht zu ändern ist“, fragt ER SIE in Paulo Santoros Das Ende aller Wunder (2006). Beide sitzen im Rollstuhl allein auf der Bühne, wie am Ende aller Tage. Sie lassen ihr Leben Revue passieren. War ich wirklich Professor? ER ist sich nicht mehr sicher. Nur wenn du dich an Details deiner Doktorarbeit erinnern kannst. Was war das wichtigste Ereignis in deinem Leben? Dass du einen kleinen Hund gerettet hast? Was wie eine pessimistische Selbstbefragung beginnt, geht über in einen philosophischen Exkurs über den Kosmos, mit professoralem Objektivitätsanspruch. Es ist, als höre man Thomas Bernhards Weltverbesserer-Tirade, die ER an seine manchmal sprachlose Frau und die Welt da draußen richtet. Aber gleichzeitig blitzt immer wieder eine abgründige Selbstironie auf, etwa, wenn ER in den leeren Raum fragt, warum er sich als Professor an seine Doktorarbeit erinnern müsse, und sich lieber den Tod eines Dichters wünscht. Und wenn ER irgendwann am Fenster kommentiert, „schau, draußen zieht das Leben vorüber“, ist es, als blicke man mit Otto Sander und Edith Clever wie in Botho Strauß’ Kalldewey Farce aus dem All hinunter auf die Erdenmenschen. So manche Assoziationen weckt dieses kleine große Stück: an den trockenen Humor Samuel Becketts, die aberwitzigen Dialoge Eugène Ionescos und an andere trostlose Clownerien. „Ich bin sehr traurig“, wirft SIE plötzlich ein. Vielleicht kehrt in Zeiten der Krise das existenzialistische und absurde Theater auf Brasiliens Bühnen zurück, wobei es Paulo Santoro zudem gelingt, die Leerstelle Erotik und Sexualität auszufüllen: Ein Ehestreit über käuflichen Sex im Alter bildet den „Höhepunkt“ und das „Happyend“ dieses philosophischen Boulevarddramas vom Ende aller Wunder. Am Ende des 13


kleinen Dramas lässt sich knapp und vielsagend behaupten, dass der Autor Paulo Santoro mit den unterschiedlichen Bedeutungen und Symbolen des „Lebenssterns“ und der „Ars morriendi“ des Dichters des brasilianischen Modernismus Manuel Bandeira (1886–1968) spielt, dessen Gedicht „Preparação para a Morte“ (Vorbereitung auf den Tod) er seinem Stück als Motto voranstellt. ‚Vorbereitung auf den Tod‘ könnte auch das Motto von Sergio Roveris Hängepartie (mit Innenansichten)(2007) lauten. „Ich glaube, dass sie schon bald einen Roboter kaufen, der tun soll, was wir tun“, befürchtet Mário in einem Disput mit seinem Arbeitskollegen Claudionor. Sie sind Fensterputzer und hängen an einer Hochhauswand in einer brasilianischen Megastadt. Wenn sie nicht über ihre Arbeitsbedingungen klagen, die Angst, ihren Niedriglohnjob zu verlieren, sich ihre Wunschträume und Albträume erzählen, beobachten sie die da drinnen an ihren Schreibtischen, die im Trockenen sitzen, die einen Boden unter den Füßen haben. Sie kennen sie alle, vor allem auch die jungen Mitarbeiterinnen, die sie durch die blankgeputzten Panoramascheiben bei der Pausengymnastik mit den Augen verschlingen. Sie können sich noch so sehr verrenken auf ihrem Gerüst, sie sind nicht dabei, sie sind nicht drinnen. Das Gerüst schaukelt gefährlich, man denkt, gleich stürzen sie ab, aber es passiert nichts. Weder draußen noch drinnen. Dass sie längst abgestürzt sind, dass sie „Outcasts“ sind, spüren sie, wissen sie, aber es fehlen ihnen die Worte und Begriffe für „Inklusion“ und „Exklusion“, die Soziologen so gerne im Munde führen, und sie wissen auch nicht, sondern können nur ahnen, dass sie eine hochaktuelle Metapher sind über den politischen und wirtschaftlichen Niedergang, die soziale Kälte im heutigen Brasilien. „Arm ist immer arm, auf dem Boden oder in den Wolken“, so lautet Mários melancholisches tatenloses Fazit. Zwei Verlorene in einer schmutzigen Nacht (1967, Dois perdidos numa noite suja) hieß ein berühmtes Zweipersonenstück von PlÍnio Marcos (dt. 1985, Henschelverlag, Berlin), in dem zwei junge Männer ihr karges Leben mit Prostitution und Überfällen sicherten. Davon sind die beiden weit entfernt, diese Enkel des politischen Sozial- und Anklagedramas der 1960er Jahre. „Zwei Verlorene am helllichten Tag vor sauberen Fenstern“ könnte der Untertitel von Sérgio Roveris Drama lauten. Vielleicht sitzen die zwei eines Tages als alte Männer auf der Bank und erinnern sich voll Wehmut an die „stürmischen“ Zeiten ihrer Jugend über dem Abgrund, in denen auch nichts passierte. 14


„Zum Beispiel mag ich heutzutage nicht einmal mehr auf die Straße gehen, denn irgendwie sind alle Menschen krank“, gesteht die Krankenschwester Isabel in Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm. Es scheint so, als wolle sich das brasilianische Theater in diesen Zeiten auch nicht mehr auf die Straße wagen. Es scheint heute so, als habe man das Vertrauen verloren in die Politik, in die Aktion, in das explizit politische Theater, in das eingreifende Theater. An all die Hoffnung, die man an das Experiment Theater, an das Theater der 1960er Jahre geknüpft hatte und das ja – auch durch äußere Faktoren wie die Militärputsche, die Militärdiktatur – gründlich gescheitert ist. Brasilien, das ist in den letzten Jahren, man möchte fast sagen, Jahrzehnten, Leben in Zeiten der Dystopie, einer auch theatralischen Dystopie, wovon diese Stücke beredtes Zeugnis ablegen. Henry Thorau

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Newton Moreno

WÜSTES LAND, AGRESTE (MALVEN-ROSE)

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Katja Roloff in Zusammenarbeit mit Berthold Zilly und Senia Hasičević

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Dieser Text ist als Erzählübung für eine*n Schauspieler*in/Geschichtenerzähler*in konzipiert. Der*die Erzähler*in kann alle weiteren Figuren übernehmen, die Witwe, den Priester, den Polizeikommissar oder auch die Stimmen der Dorfbewohner*innen. Er*sie kann aber auch mit einer*einem bzw. mehreren Darsteller*innen arbeiten, die bestimmte Momente der Geschichte in eine Partitur der Körper umsetzen. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Sprachen – Mündlichkeit und Tanztheater, Wort und Bewegung – entsteht das Schauspiel. Ein*e Erzähler*in. Ein*e alte Geschichtenerzähler*in. Eine*r, der*die mit einer Gitarre oder einer Ziehharmonika in der Hand die Zuhörerschar um ein Feuer oder im Schutze eines Baumes versammelt und den Rhythmus der Geschichten mit den Melodien und Akkorden des Instrumentes bestimmt. Er*sie empfängt das Publikum, schafft jeder Textpassage eine eigene Atmosphäre, setzt Pausen, ist, alles in allem, erste*r Spielleiter*in.

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Erzähler*in  Er musste weit laufen, um bei ihr zu sein. Doch wenn sie sich sahen, hielten sie fünf Meter Abstand voneinander. Nicht einen Zentimeter mehr oder weniger. Genau fünf Meter. Ausnahmslos. Zwischen ihnen stand ein Zaun. Sie lächelte von einer Seite hinüber, er von der anderen. Er ließ eine Blume am Zaun, sie nahm sie an sich. Sie ließ ihren Duft am Zaun, er nahm ihn an sich. Sie waren scheu wie Einsiedlerkrebse. Waren auf der Hut. Wenn sie ganz nah zueinander kämen – weiß der Himmel, was dann passieren würde. Da war was in ihrer Liebe, das durfte nicht geschehen. Doch es geschah. Monate-, jahrelang. Sie beide und der Zaun. Er ließ einen Kuss am Holz des Zaunes, sie las ihn auf. Sie kamen sich immer näher. Hüteten ihre wachsende Nähe. Vertrauten einander wie die Erde dem Regen. Er ließ Blut am Draht des Zaunes, sie trocknete es. Es konnte einen Monat dauern, bis sie sich wiedersahen. Sie ließ ein Stück Kattun von ihrem Kleid zurück, er band es an seine Hacke. Er war Landarbeiter im Nordosten des Landes. Ein Reich von Sand und Durst. Er war rechtschaffen. Stark. Seine Haut gezeichnet. Unmöglich, sein Alter auszumachen. Sie waren wie altes Gestein, das austrocknet vor lauter Warten. Die Sonne war ihre Heimat. Die Sonne war ihr Elternhaus. Er ließ eine Kürbisschale zurück. Sie füllte sie mit Mais-Cuscuz 1. Er aß und lächelte. Er brachte die Schale wieder und sie nahm sie an sich und … dann entdeckten sie ein Loch im Zaun!!! Musik. Die Darsteller*innen des Paares untersuchen das Loch, jede*r auf seiner*ihrer Seite. Zeit vergeht. Erzähler*in  Sie waren unsicher. Taten so, als hätten sie nichts bemerkt. Ein Loch so gewaltig wie der Sertão. Eine Woche lang taten sie, als wäre nichts. Zwei. Einen Monat. Zweifel. Das Loch aber wuchs, ganz so, als wollte es unbedingt auffallen. Ein Blickfang geradezu. Jedes Mal, wenn sie kamen, war es wieder ein Stück größer geworden. Und sie stierten in das Loch hinein. Wie in einen Stausee, der sie ver1) Cuscuz ist, anders als das hier bekannte Couscous, eine Pastete, die aus Maisoder Tapiokamehl und mit wahlweise herzhaften oder süßen Beigaben (Gemüse, Kokosraspeln etc.) in einer Art Kuchenform zubereitet wird. Die Betonung liegt bei der Aussprache auf der zweiten Silbe: „Cuscúz“ (A.d.Ü.).

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suchte mit seinem Wasser, das dunkel, dunkel und rätselfarben war. Wenn er sie jetzt berührte? Und sie ihn gewähren ließe? Manchmal braucht ein Schritt schon großen Mut. Zeit vergeht. Die Darsteller*innen untersuchen das Loch. Erzähler*in  Eines Morgens kam sie allein. Stellte sich vor das Loch. Nahm all ihren Mut zusammen und schlüpfte hindurch. Beruhigte sich langsam. Schöpfte Atem, tat einen Schritt nach vorn, zwei. Wie ein Astronaut, der zum ersten Mal den Mond betritt. Dieselbe Luft. Dieselbe Sonne. Ein anderes Herz. Ein Kind, das da spielt, wo es nicht soll. Aufmüpfig. Eines nur ahnte sie nicht: dass auch er dort war. Hinter einem Strauch saß und ihr mit staunenden Augen zusah. Sie tanzte, quiekte, machte sich mit Erde schmutzig. Er lächelte. Sie bemerkten einander und erstarrten. Rührten sich lange, sehr lange nicht. Er überschritt die Fünf-Meter-Grenze, ganz behutsam. Stieß auf ihren unruhigen Atem. Vielleicht noch 45 Zentimeter. Über die Grenze! Musik. Staub steigt auf. Erzähler*in  Sie rannten los. Voll Jubel und Angst. Wirbelten auf der Länge ihres Weges eine Staubwolke hinter sich auf. Eine Wolke, wie der karge Nordosten sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Weit, weit weg rannten sie. Und dachten, sie kämen bestimmt bis ans Meer, wenn sie nur weit genug liefen. Das wären sie auch, wenn sie ebenso weit in die entgegengesetzte Richtung gelaufen wären. Sie trieben ihre Schritte voran, voll Angst, sie könnten ihre Meinung noch ändern. Die Angst machte ihnen Beine. Sie weinte Tränen, die den Rückweg in den Boden zeichnen sollten. Irgendwann gaben sie sich die Hände und fanden Ruhe. Sie drangen in Brasiliens Innerstes vor. Mitten im Ödland ließen sie ihre Füße rasten. Und dachten, dass es wohl kaum ein kargeres Land geben konnte als dieses hier. Doch der Nordosten ist immer für eine Überraschung gut. Irgendwo findet man immer ein Vieh, das noch ausgemergelter, einen Jungen, der noch mehr am Ende ist. Die Brust bebte vor Zufriedenheit und Angst. Als schaffte der Atem Freude in sie hinein und Furcht aus ihnen heraus. Bedrückendes Schweigen machte 20


sich breit. Sie mieden den Blick des anderen, senkten die Köpfe. Sie wollten den Zweifel, der aus ihren Augen sprach, nicht zeigen. Schlimmer noch: Sie wollten den Zweifel in den Augen des anderen nicht sehn. Umkehren? Selbst wenn sie gewollt hätten, sie wussten nicht, wie. Ihre feuchten Spuren waren verschwunden; unaufhaltsam hatte der nach Wasser sich verzehrende Boden sie geschluckt. Sie legten ihre Körper nieder, in den Schatten eines gewaltigen Kaktus. Am Ufer eines ausgetrockneten Baches. Die Sonne raubte ihnen die Sinne, machte sie dumpf. Ein laues Etwas kam in ihnen auf. Ein Dampf, der den Ofen füllt, die Wiege, die Gussform einer neuen Zuneigung. Sie waren einer Ohnmacht nahe. Der Verstand wollte schon ersticken unter der hochstehenden Sonne, als eine Frauengestalt in der Ferne erschien, wie eine Fata Morgana. Sie näherte sich langsam, wie die Gerechtigkeit. Kam auf sie zu. Sie redete mit ihnen, und doch drang kein Wort zu ihnen vor. Statt Worten klang Wasser in ihren Ohren. Aus dem Mund der Frau rannen Regentropfen, Lehmgruben voll Niederschlag, überlaufende Stauseen, Rinnwasser. Jeder Ton quoll nass aus ihr hervor. Sie sprach wie ein Fluss, wasserschwer. Diese Frau rettete ihnen das Leben. Sie führte sie ins Dorf und besorgte ihnen eine Unterkunft. Dort ruhten sie sich aus. Etwas Dörrfleisch, Schatten und lehmiges Wasser half ihnen wieder auf die Beine. Hier wollten sie leben. Die Musik setzt aus. Die Erzählung fährt fort. Die Luft ist immer noch voller Staub. Erzähler*in  Sie bauten sich eine Hütte. Umzäunten sie mit Draht, allerdings um sich selbst darin einzuschließen. Sie wollten den anderen nicht begegnen, bevor sie selbst sich noch nicht kannten. Bis dahin nichts von dem, was Mann und Frau sich gegenseitig erlauben. Denn das Fleisch ist ein endgültiger Bund. Hat es diesen Zaun einmal hinter sich gelassen, ist das Vieh gebrannt. Und die Nacht fiel heller als der Tag. Nie blieben ihre Blicke zu einer Liebkosung aneinander hängen, nie. Doch Schritt für Schritt machten sich die beiden einander vertraut. Sie begann mit seinem Gesicht. Sein Haar. Eine dunkle Caboclo-Mäh21


ne aus der Erbschaft wilder Indios. Dicht und üppig. Lag bestimmt schwer in der Hand. Riss bestimmt jedem feinen Kamm die Zinken aus. Er ging den Weg umgekehrt an. Blieb mit dem Blick an ihrem Unterbau hängen. Zarte Fesseln, aber braungebrannt, die waren was fürs Auge. Und sachte, ganz sachte stahl sich die Begutachtung voran. Sie ließ die Augen nach unten, er den Blick nach oben klettern. Was sie wirklich an ihm bewunderte, das war sein Gebiss. Makellos. Die Zähne, die oben fehlten, standen bei ihm unten und umgekehrt. Sodass, wenn er lächelte, die Zähne ineinander passten und sich zu einem Lächeln aufstellten, das zwar einreihig, aber dafür auch lückenlos war. Und wie schön er lächeln konnte! Eine Woche später berührten sie einander. Bis dahin waren es ja nur die Hände gewesen, als sie rannten. Es war zu hören, wie Haut an Haut aufbrach, sie gewöhnten sich aneinander, ließen Zeit verstreichen. Eines Tages versteckte sie sich unter dem Laken. Er löschte das Licht der Petroleumlampe. Jahrelang blieb das ihr Zeichen, ihr Code. Unter dem Laken abtauchen. Das Licht mit Dunkelheit bedecken. Und er löschte viele, viele Male diesen Docht. Sie waren Mann und Frau, und so lebten sie zweiundzwanzig Jahre lang. Bis heute. Die Musik setzt aus. Der Staub senkt sich. Der Mann liegt da, neben ihm die Frau. Alte Frauen stimmen Totenlieder an. Erzähler*in  Leblos, noch in Arbeitskleidung, ruhte er auf dem Tisch in der Stube. Ein paar Lampen leuchteten für den Leichnam und wachten über seinem Bild. Die Nachbarinnen traten ein. Kamen zur Totenwache. Sie sangen schon in ihren Häusern, ließen ihren Gesang in den Seufzer der Nacht aufsteigen. Jede bemühte sich um die besten Worte ihres spärlichen Vokabulars, um dem Toten eine Beschreibung zu geben. STIMMEN  „Von höchstem Ansehen“, „Engelsgleich“, „Anmutig wie Jesus“, „Wie ein Fels in der Brandung“. Erzähler*in  Es war das Kostbarste, das ihre Sprache zu bieten hatte. Alles Weitere war Gebet und Lobgesang. Eine Nachbarin verkündete kummervoll: Alte 1  Er hat sie verlassen. Erzähler*in  Sie waren ein gut angesehenes Ehepaar. Zurückhaltend. 22


Selten ausgelassen. Arbeitsam. Kinderlos. Selbst ihre Namen kannte man im Dorf nicht. Stattdessen rief man sie wie jedermann Seu Zé und Dona Maria. (Pause) Still. Die Nacht glich einer schwierigen Frage. Lauerte mit gespannter Falle/mit einer Schlinge.2 (Pause) Die Stube füllte sich mit Fliegen und Frauen. War noch nie so voll gewesen. Weder vom einen noch vom andren. Die Männer sprengten ihre Trauer mit Feuerwerkskörpern. Flüsterten den Sternen den Schmerz ihres Verlustes, ihre Anerkennung zu. Zeichneten lichte Tränen in den Himmel. Der Priester war unterwegs zur Letzten Ölung. Düster und hungrig flickte die Witwe den abgewetzten Anzug für das Begräbnis. Den, den er eigentlich zur Hochzeit tragen sollte. Jemand brachte ihr etwas Cuscuz mit Milch. Sie legte Nadel und Faden beiseite und aß. Ein Häuflein Elend. Jäh fiel sie in eine groteske Fratze und weinte. Wie traurig ist eine Frau, die isst und dabei weint. Erst recht eine Witwe. Sie aß bis zum letzten Bissen. Stand auf und ging zu ihrem Jesus. Küsste sein Bild dort, wo das Herz saß. Die Kerze erlosch und nur das Licht in Christi Herzen war noch zu sehen. Gott!! Erde würde sie auf den Toten werfen. Flüsternd bat sie dafür um Kraft. Ein Trauerzug umringte das Bett mit dem Leichnam darin. Mit gesenkten Häuptern gingen sie wieder. Die Stille. Eine Stille, die das Blut erstarren ließ und nie mehr zu weichen schien. Alte 1  Willst du ihn umziehn, Kindchen? Alte 2  Oder solln wir dir helfen? Witwe  Nee. Mach du das. Erzähler*in  Eine Minute darauf gestand sie … Witwe  Ich hab Etevaldo noch nie nackt gesehn. Erzähler*in  Sie offenbarte das, als wollte nicht einmal sie selbst dieses Geständnis hören. Witwe  Ich hatte immer die Augen zu, wenn er an mir rumgemacht hat. Erzähler*in  Nachts. Im Finstern. Durch das Laken. Ein Körper, den sie nicht kannte, aber liebte. Sie gestand das alles, schamrot. Und zum ersten Mal wechselte sie mit jemandem mehr als zwei Sätze. Witwe  Wenn ich ihn umzieh, muss ich die Lampe ausmachen. Da würd ich mich ganz schön abrackern. Erzähler*in  Sie bat sie zu bleiben. Drehte sich um und vertraute ihnen den Anzug an. Befangen. Als wäre etwas Anstößiges dabei, den eige2) Alternativangebot des Autors. Mehr hierzu in den Anmerkungen am Ende des Textes (A.d.Ü.).

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nen Mann nackt zu sehen. Die alten Ankleidefrauen begannen, ihn mit Sachverstand und sichtlichem Vergnügen aus den Kleidern zu schälen. Alte 2  So voll Tugend, meine Liebe. Alte 1  So ist das, wer einen gesehn hat, hat alle gesehn … Alte 2  … und wer noch keinen gesehn hat, weiß nicht, was Sache ist. Alte 1 und 2  „Dieses Totenhemd zieh an Gerufen hat Gott, der Herr Geheißen es dann anzuziehn Hat unsre Mutter Maria. Diese Schnur bind nun zusamm’ Gerufen hat Gott, der Herr Geheißen sie zusammzuschnürn Hat unsre Mutter Maria. Diesen Strumpf tu an den Fuß Gerufen hat Gott, der Herr Geheißen ihn an den Fuß zu tun Hat unsre Mutter Maria. Diesen Schuh tu an den Fuß Gerufen hat Gott, der Herr Geheißen ihn an den Fuß zu tun Hat unsre Mutter Maria. In den Sarg 3 leg ihn hinein Gerufen hat Gott, der Herr Geheißen ihn dort … Alte 1  (bricht ihren Gesang ab) Ach, du meine Güte! Wo ist denn –? Erzähler*in  Die Jacke hatte die Witwe ihnen längst gegeben. Alte 1  Jesus, Maria und Josef, wo ist denn dem sein Ding? Erzähler*in  Die Alte erschrak. Alte 1  Ist ja nun schon eine Weile her, dass ich den letzten gesehn hab, aber das hier ist ganz sicher kein Schwanz. Alte 2  Reg dich nicht so auf. Sieh besser hin. Such mal richtig nach. Erzähler*in  Den Blick noch abgewandt fragte sich die Witwe … Witwe  Was für ein Ding? 24

3) Vom Autor vorgeschlagene Alternative:In das Tuch leg ihn hinein/ Gerufen hat Gott, der Herr/ Geheißen ihn dort …


Alte 2  Er muss sich doch irgendwo versteckt haben. Manchmal muss man ja ein bisschen nachhelfen, damit das Würmchen zu Kräften kommt. Alte 1  Mensch, entweder bin ich blind, oder dem sein Vögelchen ist so kurz wie ein Froschhaar. Alte 2  Warte, ich helf dir… Alte 1  Mein Kind, wo ist denn der Pipimann? Alte 2  … das Pimmelchen? Alte 1  … das Lümmelchen? Alte 2  … die Latte? Alte 1  … der Kamerad? Alte 2  … die Keule? Alte 1  … der Apparat? Alte 1  … der fette Aal? Alte 2  … der Prengel? Alte 1  … der Bengel? Alte 2  … der Schwengel? Alte 1  … der Stengel? Schau, da. Alte 2  Nix, da ist nix. Alte 1  Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen … Alte 2  Schau dir die Titte an. Alte 1  Mein Gott, das sieht ja ganz aus wie ne Möse. Alte 2  Ich glaube an Gott, den Vater, meine Güte. Eine Muschi. Alte 1  Eine Frau. Eine Frau. Erzähler*in  Sagten’s und rannten aus dem Haus. DIE ALTEN! DER IHR MANN IST EINE FRAU!!! Witwe  Kann ich mich wieder umdrehn? Erzähler*in  Plötzlich stand eine Menschenmenge vor der Tür des Trauerzimmers Schlange. Eine unbekleidete Frau auf dem Bett und eine andere, das Gesicht abgewandt, den Blick zum Jesusbild. Die Witwe begriff rein gar nichts. Weder Tod noch Mann. In diesem Moment begriff sie nur ihren Verlust. Ungläubig schlugen die einen das Kreuz, andere hingen am Fenster und suchten eifrig nach dem Ding. Einige unter ihnen nahmen die Witwe in Schutz. Stimme 1  „Das arme Mensch, an der Nase herumgeführt hat man sie. Dieses Luder hat der Ärmsten was vorgemacht.“ Erzähler*in  Andere warn da schon radikaler: Stimme 2  „Ausreißer sind das, sind hergekommen, um unser Dorf mit ihren Abartigkeiten in den Dreck zu ziehn.“ 25


Erzähler*in  Es bildeten sich verschiedene Lager, die Nachricht griff wie ein Lauffeuer um sich. Unterdessen kam der Priester und deckte sofort den Verstorbenen zu, oder besser: die Verstorbene. Dann warf er alle hinaus. Schloss sich mit ihr ins Haus ein. Zündete eine der erloschenen Lampen an. Nahm mehrmals seinen Mut zusammen, um etwas zu sagen. Mit wohl überlegten Worten setzte er an: Priester  Meine Tochter, du hast mit einer Frau geschlafen. Witwe  Nein, Herr Pfarrer, ich habe mit Etevaldo geschlafen. Aber eigentlich hab ich das gar nicht gemocht. Ich wusste ja, ich durfte das nicht … Priester  Ich glaube an Gott, den Vater. Witwe  Sind Sie deshalb so wütend? Priester  Nein. Witwe  Wir haben zusammen geschlafen, weil ihm das so gefiel. Aber er hat mir auch die Ehe versprochen. Wenn Sie wollen, heirate ich ihn tot, wie er ist. Das Kleid ist ja noch da. Priester  Nicht er, Kindchen, sie. Witwe  Das ist mein Etevaldo! Segnen Sie ihn, segnen Sie ihn. Priester  Nie und nimmer! Witwe  Segnen Sie ihn, Herr Pfarrer, er verehrt den Heiligen Antonius. Und gottesfürchtig ist er auch. Er wollte sogar vorm Altar heiraten. Priester  Ich werde für dich beten. Witwe  Nicht für mich, Herr Pfarrer. Beten Sie für ihn. Helfen Sie ihm zu sterben. Priester  Ich kann nicht. Sie ist in schwärzester Sünde gestorben. Witwe  Schenken Sie seiner Seele Frieden. Priester  Ich muss den Bischof in der Hauptstadt verständigen. Witwe  Segnen Sie seinen Schlaf. Priester  Ich kann nicht! Jeder weiß, dass ich sie ohne Kleider gesehn hab. Witwe  (weint, korrigiert ihn) Etevaldo … Priester  Etevaldo. Alle wissen, dass ich weiß: Er ist ein Weib. Hättest du mich eher geholt, dann könnten wir das jetzt anders regeln. Und keiner hätte was davon erfahren, mein Kind. Ich hab schon genau so welche unter die Erde gebracht wie dich und deine … Etevaldo. Die sind allerdings gestorben, ohne so viel Aufsehn zu erregen. (Pause) Liebst du ihn? Witwe  Das, nein, ich weiß nicht, was das heißt. Ich wollte gern bei ihm sein. Priester  Gott segne dich. (öffnet die Tür und schreit) Ketzer! Ketzer!! 26


Erzähler*in  Der Länge nach zu Boden gestürzt, sah sie den Priester das Haus verlassen. Mit Mühe stand sie auf. Das Haus war jetzt leer. Dunkel. Sie umklammerte die Lampe. Deckte ihren Mann zu. Ohne seine Blöße zu erkunden. Sie fühlte sich unwohl, so allein. Sie wollte singen, um eine Stimme zu hören. Sie wusste nicht, ob Jesus bei ihr war oder nicht. Sie hatte Gott zur Gewissheit, aber manchmal dachte sie, dass Gott auch vorbeikommen könnte, auf einen Kaffee, sich eine Kippe drehen könnte. Ihr näher sein. Schreie umringten das Haus. Stimmen  „Beelzebub!“ Erzähler*in  Der Polizeikommissar hielt vor ihrer Tür. Stimmen  „Höllentöchter!“ Erzähler*in  Er feuerte drei Schüsse ab, um die aufgebrachte Meute zu vertreiben. Stimmen  „Pestseuche!“ Erzähler*in  Mit störrischem Brüllen stoben sie schließlich ins Gestrüpp. Er trat die Tür auf und kam mit schweren Schritten herein. In seinem Dunstkreis brachte er einen Schwarm Stechmücken/Moskitos mit. Setzte sich vor die Witwe. Schenkte dem Verstorbenen nicht einen Blick. Polizeikommisar  Sie haben uns ein schönes Durcheinander hier in der Gegend beschert. Wissen Sie überhaupt, wer ich bin? Nein, das wissen Sie wohl nicht, was? Ich bin der Polizeikommissar. Der Herr Coronel Heráclito schickt mich, kennen wir den vielleicht? Ja, den kennen wir. Auf dem sei’m Gut haben Sie gearbeitet. Dem haben Sie Ihr Brot zu verdanken. Man sagt, Sie ham noch nie ein Kind im Bauch gehabt. Einige hat das auch misstrauisch gemacht, aber die haben sich gesagt, von der ihrm Kerl, der Wichs, der taugt wohl nix. Dem Coronel hat Ihre Geschichte gar nicht gefallen, ganz und gar nicht. Hat mich hergeschickt, damit ich mir diese Schamlosigkeit mal aus der Nähe anseh. Sie sollten wissen, dass Sie morgen, gleich nach dem Begräbnis, abgeführt werden. Das heißt, nachdem Sie was gefunden haben, wo Sie ihren Macker drin verscharren können. (lacht) Er hat befohlen, Ihnen zu sagen, dass auf ihm sei’m Grund und Boden nix von Ihnen begraben wird. Ihr seid ganz genau wie die Schlampen, die Flittchen, die Nutten, die Huren, die schön weit weg unter der Erde liegen, auf den verwahrlosten Feldern, irgendwo in der Wildnis. In ihm sein Grund und Boden kommt nur guter Dung. Und ihr stinkt 27


nach verdorbenem Mist. Sie müssen sich nach nem andren Boden umschaun, um die Leiche unter die Erde zu bringen. Wenn man das hier macht, wächst nur Unkraut drüber. (betrachtet den Sarg) Mein Gott, ist der wirklich ne Frau? Der ist doch hässlich wie ein Mann. Und du hast auch noch gut gesorgt für dieses Mistweib. Fett ist sie, fetter als ein Diebesbalg, wenn der Vater auf freiem Fuß ist. Und dir war nicht klar, dass es deinem Gutsherrn nicht gefällt, wenn zwei Weiber sich so aneinander scheuern. Du versaute Mösenputze. Morgen, im Knast, werden wir der Dame schon beibringen, was ein Mann ist, damit sie da auch nie wieder was verwechselt. Und damit wir dich mit keiner mehr verwechseln, damit alle sehn können, von welchem Schlag du bist, will der Coronel dir ein Zeichen in die Fresse brennen, so wie sich das mit allen Kühen im Stall gehört. Der Polizeikommissar geht ab. Erzähler*in  Sie fühlte sich wie ein Teller voll verdorbenem Essen. Ein Stück Aas. Ein Pisspott. Ein schleimiger Rotz. Eine Krankheit. Eine Eiterbeule. Ein Krebsgeschwür. Ein Gichtknoten. Schmutzig, schmutzig, abscheulich. Und sie verstand nicht, warum. In ihren Kopf passte nichts zum Verstehn hinein. Wenn sie gekonnt hätte, sie hätte in Gottes Ohr gesprochen. Sie sang von ihrem Glauben mit aufrichtiger Hingabe, das kommt aufs Gleiche raus. Denn, ja, Musik und Gott sind für kein Auge sichtbar. Den Glauben langt keiner an, und er ist an nichts messbar. Aber ich schwöre: Ihre Stimme brachte Jesus in jeder seiner Fasern frei hervor. Während sie singt, Stillstand auf der Bühne. Erzähler*in begleitet sie mit Instrument. Erzähler*in  Sie erinnerte sich an Schmerz und seine Linderung. Das einzige Bild dazu war das ihrer Mutter. Die mit ihrem Atem und mit Kräutern Wunden schloss. Sie erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal blutete, wegen der Tage. Sie schrie: „Mama, ich blute.“ Und die Mutter sagte: „So ist das, mein Kind, groß werden tut weh, hin und wieder jedenfalls.“ Sie brauchte die Nestwärme ebendieses Bildes, es gab ihr Kraft. Und es schien so, als wäre das Gesicht der Mutter eingraviert in die Innenwand ihrer Augenlider. Die Mutter, die für den Nachwuchs sorgt. Umkommt vor Hunger, aber ihre Kleinen füttert. Sie wusste, sie hätte sich die Hand abgehackt, hätte ihnen Fleisch zum Essen gefehlt. Liebe? Was ist das wohl? Schmerz und seine Linderung? Wenn es mal 28


regnete, stellte ihre Mutter die Kinder allesamt raus in den Regen, zum Wässern. Damit sie schneller wachsen. Und nahm sie von dort erst weg, wenn der Regen nachließ. Sie wollte bei der Mutter sein, wollte an ihrer Stelle gestorben sein. So wie sie jetzt mit Etevaldo tauschen wollte. (Pause) Kaum war der Kommissar kläffend in der Caatinga, der Dornbuschwüste verschwunden, kehrte das Geschrei zurück. Eine Menschentraube wachte die ganze Nacht mit Schimpf- und Schmährufen, Spott und Hohn, Verwünschungen und Flüchen. Sie schufen Hass. Sie gruben das Übelste in sich aus. Sie gruben die übelsten Worte ihrer Sprache aus. Noch vor dem ersten Morgenlicht machten sie sich an das Haus der beiden, verrammelten Türen und Fenster. Sie schämten sich für diese Frauen. Wollten sie aus ihrem Gedächtnis löschen. Umstellten das Haus. Begruben sie bei lebendigem Leibe. Man weiß nicht, wer dabei war, wie viele sie waren. Auch nicht, wer das erste Streichholz zündete. Sie steckten die Hütte in Brand. Sie ahnten nicht, dass die Witwe dort im Innern Dank sagte für den Segen, bei Etevaldo den Tod zu finden. Das Leben ohne ihn fürchtete sie so viel mehr, das war sicher. Sie hatte schön gesungen, Gott hatte sie endlich erhört. Die Wände bogen sich schon in den Flammen. Trotzdem zündete die Witwe ihre Lampe an. Sah sich zum ersten Mal ganz, von Kopf bis Fuß. Entdeckte so, was eine Frau war. Legte sich zu Etevaldo. Küsste ihn. Auf den Mund. Das hatte sie noch nie getan. Öffnete ihm die Augen in ihrem Kuss, während das Feuer auf das ganze Haus übergriff. (Pause) Der Tag brach an und die Funken glühten weiter, tagelang. Asche. Stille. Die Funken hingen noch in der Luft, wie ein Echo, schwebten über Äckern, Wäscheleinen und Generationen. Ende

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Anhang

Erzähler*in Grausam ist die Natur Gibt Sonne ohne Maß Gibt Körper ohne Maß Gibt Liebe ohne Maß.

Anmerkungen der Übersetzerin Grundlegendes Sprachmaterial dieses Stücks ist die mündliche, dialektgeprägte Sprache der armen, ländlichen Gegenden mit hoher Analphabet*innenrate im Nordosten Brasiliens. Gezielt nutzt Moreno dieses Sprachmaterial für die Figuren und stellenweise auch für den*die Erzähler*in, gibt ihm Form, indem er in Schreibung, Wortwahl und Grammatik von der akademischen Norm abweicht. Dieses Merkmal schafft, gemeinsam mit der geographischen Situierung im Text („Er war Landarbeiter im Nordosten des Landes“, „Eine Wolke, wie der karge Nordosten sie schon lange nicht mehr gesehen hatte“), einen konkreten geographischen, kulturellen und sozialen Kontext der Handlung. Daher wurde bei der Übersetzung auf jegliche regionale Färbung aus dem deutschen Sprachraum verzichtet: Sie würde die so wesentliche Kontextualisierung relativieren. Die Übertragung fand somit vor allem auf den Ebenen des Sprachregisters, der Grammatik und der Schreibung statt. In den vom Autor an drei Stellen im Text angebotenen Alternativen findet sich über die genannten Textmerkmale hinaus jeweils eine Variante, die den spezifischen kulturellen und sozialen Kontext noch stärker betont: So kann gewählt werden zwischen einem Sarg und einem Leichentuch, also der Alternativbestattung für die Ärmsten. In zwei Fällen bietet das brasilianische Original neben einer Standardbezeichnung eine Bezeichnung an, die aus dem Tupi, einer indigenen Sprache also, stammt („Armava um bote/ arataca“ – „mit gespannter Falle/mit einer Schlinge“; „uma nuvem de muriçoca/mosquito“ – „Stechmücken/Moskitos“). Der etymologische Hintergrund kann in der Übersetzung nicht wiedergegeben werden, jedoch verweist zumindest im zweiten Fall die Bezeichnung „Moskito“ auf den außereuropäischen Kontext.

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Grace Passô

FÜR ELISE

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Katja Roloff

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Dieser Text entstand im Probenprozess der Produktion Por Elise der Gruppe espanca! in Belo Horizonte, 2005. Die Uraufführung fand am 22. März 2005 im Teatro José Maria Santos in Curitiba statt.

Personen Hausfrau (Elise) Frau Mann Beamter Müllmann Kollegen des Müllmanns (Stimmen aus dem Off)

Nachricht von Senhora Elise an die Schauspieler: Der Glaube rennt, die Vernunft spricht, die Emotion fällt, die Angst schützt sich, die Wahrheit bellt. Renn! Renn! Renn!

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Der Anfang. Der Neubeginn.

Das Stück hat noch nicht angefangen. Still führt der Beamte Tai-ChiChuan-Bewegungen aus. Ja: Tai-Chi-Chuan, dieses so chinesische Wort. Ist Ihnen schon aufgefallen, wie fließend, leicht und harmonisch diese Bewegungen sind? Und die konzentrierte Ruhe? Haben Sie schon bemerkt, dass diejenigen, die sie ausführen, tief in jene besondere Luft eintauchen? Diese ganz besondere Luft? Schauen Sie hin. Sehen Sie die Ähnlichkeit zu Lagunengesten? Solchen Bewegungen wohnt die Weisheit der Ruhe und des Gleichgewichts inne, nach der die Menschen im Tod, im Leben, im Angesicht eines Kindes, eines Herzinfarkts suchen. Mögen alle ruhelosen Wasserfälle in einen Ruhevollen See münden und dort bleiben. Möge dieser See aufrichtiger Ausdruck sein. Einer versunkenen, intensiven, mysteriösen Welt. Eine Projektion mit dem Vorspann. So etwas wie: „UND WENN DU DEIN HEIM MITBRINGST, KÜMMERE ICH MICH UM DEINEN GARTEN.“

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Ein Mann und eine Frau

Frau und Mann necken sich. Sie haben Spaß und lachen.

Tiefe Wurzeln

Hausfrau hat Angst und spricht zum Publikum.

Hausfrau  Kleine Geschichten kenne ich zuhauf. Ich könnte Ihnen hier eine nach der anderen erzählen. Da wäre die mit der alten Dame, bei der mitten im Körper ein Salat wuchs. Und sie öffnete sich dem Leben. Die ist schon toll. Eine der besten, die ich jemals hier gehört habe. Da wäre noch die mit der Frau, die traurig die Straße entlangging und in einen Gully fiel – nur dass sie da unten dann auf einen Mann traf, dem es genauso ergangen war. Und so wurden die beiden zu fröhlichen Menschen. Schon verrückt. Da wäre die mit der japanischen Familie, deren Mutter sich Botox in die Augen spritzen ließ. Und dann blind wurde. Ja, natürlich! Aber, wissen Sie, die Asiaten sind ja auch immer für Überraschungen gut! Die sollen jetzt blauen Farn erfunden haben! Den schließt man an die Steckdose an und dann wird er grün. Und dann gibt es noch Geschichten über die Leute aus der Nachbarschaft … Wie Valico immer gesagt hat: „vitale Geschichten!“ Ach! Valico. Sie erinnert sich an Valico. Hausfrau  Er hatte einen Herzinfarkt, und während des Infarkts kam, völlig spontan und an mich gerichtet, ein ganzer Schwall wunderschöner Worte aus ihm heraus. Sein Leben hatte sich bis zum Infarkt angestaut und entlud sich in einem Lyrikanfall. So wahr ich hier stehe. Vieles von dem, was ich hier sage, stammt von ihm, von seinem Anfall, und ich habe es mir eingeprägt. Sie versucht, ihre Erinnerung auszublenden. Hausfrau  … Da wären noch mehr Geschichten über die hiesigen Anwohner. Und drum herum gibt es natürlich noch viele andere Menschen: Anwohner, Passanten … Aber das Leben hier ist kurz, und von 36


den Menschen und Begegnungen, die ich miterlebt habe, können wir nur ein paar zeigen: vorsichtig-zarte Begegnungen. Also, was mich betrifft, sehr erfreut … Von hoch oben fällt eine Avocado herab, knapp neben die Hausfrau. Sie bekommt Angst. Hausfrau  Ich bin die Frau, die vor ein paar Jahren einen einfachen Avocadobaum im Hof gepflanzt hat. Und er ist gewachsen. Und seitdem lebe ich so. So! (Sie hat Angst.) Vorsicht mit dem, was Sie in die Welt pflanzen! Aber es leben hier, wie ich, noch andere ungeschützte Bewohner. Obwohl sie ja Hunde im Haus haben. Mauergefährten: Mauern aus Backstein, Mauern aus Haut. Wissen Sie, „Schutz“ ist wirklich sehr wichtig. Ich zum Beispiel wollte große Matten unter den Avocadobaum im Hof legen. Ja, Matten. Ich habe mir diese Szene schon ausgiebig ausgemalt: Avocados fallen angstfrei hoch oben von den Zweigen herab. Angstfrei. Auf Matten. Dort oben würden sie vielleicht darüber nachdenken, wie hart das Ende des Falls sein würde, aber das wäre es ja nicht. Ich wünsche mir die Natur sanfter. Zum Thema „Schutz“ wollte ich noch sagen, dass die Hunde bellen, was sie in den Häusern ihrer Besitzer und Nachbarn hören. Sagt man. Ich höre sie hier immer. Ich höre den Hund. Bei den Nachbarn? Auf der Straße? Bei mir im Haus? Ich habe bisher noch niemanden kennengelernt, der in seiner ganz eigenen Stille keinen Hund hören würde. Ein Hund ist das, was nicht hohl ist. Was in dem Moment nicht hohl ist. Heißt es. Es heißt, Hunde haben ein viel besseres Gehör als wir. Den Herzschlag zum Beispiel hören sie nicht als „tam tam tam!“, so wie wir, sondern als „wer wer wer“. Es heißt, das läge daran, dass das Herz etwas ist, das gaaaaanz weit in der Ferne eine Stimme verzweifelt schreien hört: „ICH LIEBE DICH! ICH LIEBE DICH! ICH LIEBE DICH!“, und so schlägt es verzweifelt „Wer! Wer! Wer, Wer, Wer, Wer, Wer, Wer?“ Und „Menschen“ sind diejenigen, die, ebenso verzweifelt, dieser Stimme befehlen zu schweigen. Heißt es. Die Leute hier sagen aber auch, dass sogar ich viel weiß. Unsinn! Natürlich weiß ich das eine oder andere. So unvorhersehbar ist das Leben ja auch wieder nicht. Die Müllabfuhr zum Beispiel kommt jeden Dienstagmorgen. Eine weitere Avocado fällt auf den Boden. Hausfrau hat Angst. Hausfrau  Sehen Sie? Es gibt eben Dinge, die teilen Schläge aus, aber süße Schläge. Darum bitte ich Sie: Vorsicht mit dem, was Sie in 37


die Welt pflanzen. Vorsicht mit dem, was Sie berühren; mit der Fähigkeit der Menschen, sich auf die Dinge einzulassen. Es bringt nichts, so zu tun, als würden Sie nichts fühlen. Menschen fühlen alles, sie lassen sich auf alles ein! Ich bitte Sie darum. Tun Sie es für mich. Für mich! Für mich! Für mich! (jetzt zu den Schauspielern) Für mich! Das gilt auch für euch. Lasst euch nicht zu sehr ein! Hört mal, ihr denkt vielleicht, das, was ich jetzt, jetzt gerade sage, hätte ich auch vorher auswendig gelernt, jetzt aber nicht … jetzt, jetzt gerade ganz bestimmt nicht, jetzt rede ich: Ich! Ich! Ich! Bitte lasst euch emotional nicht zu sehr darauf ein, wenn ihr hier Geschichten erzählt. Das ist es nicht wert. Dafür gibt es doch Techniken. Ja, Techniken dafür, dass ihr die Dinge, die wir gleich erzählen, nicht fühlen müsst. Das ist Technik. Ihr müsst das so machen. Sie flüstert den Schauspielern des Stücks zu, was sie tun sollen. Sie reagieren positiv und aufmerksam. Sie unterrichtet sie weiter in Nichtfühltechniken, bis noch eine Avocado herunterfällt. Sie bekommt Angst und verliert die Konzentration. Hausfrau  Oh, mein Gott! Schon gut … Ich rede so zwanghaft daher, weil ich weiß, was hier, an dieser Stelle, passieren wird. So unvorhersehbar ist das Leben ja auch nicht. Sie führt verschiedene, heftige Karateschläge aus. Hausfrau  Sie verstehen jetzt nicht, warum ich das hier mache, aber Sie werden es noch verstehen. Ganz bestimmt. Sie verstehen das noch.

Der Glaube rennt und die Emotion fällt

Der Müllmann rennt, rennt … er tritt auf und verschwindet, wieder und wieder, geht seiner eiligen Aufgabe nach, wie es Müllmänner tun, die einem Wagen hinterherrennen und sich bei der Arbeit etwas zurufen. Er muss immer intensiv bei der Sache sein! Er bewegt sich geschickt, redet laut. Seine kraftvollen Schritte sind klare Ansagen und täuschen nichts vor. An einem einzigen Tag nimmt er viele Räume ein, denn die Städte quellen von Straßen über. Frau tritt auf. Sie ist das Gegenteil von ihm, denn sie wird sehr bald etwas

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verlieren, was sie schätzt. Wenn er Glaube ist, ist sie Emotion. Wenn er auf Beinen rennt, geht sie auf dem Herzen.

Müllmann  (beobachtet die Frau) Hey, Prinzessin! Frau  Was für eine raubeinige Freundlichkeit. Aus dem Off drängen Rufe der Arbeitskollegen den Müllmann zur Eile. Frau  Wie intensiv die bei der Sache sind. Rufe der Kollegen des Müllmanns. Frau  Was haben Sie gesagt? Müllmann  Was? Frau  Hm? Ach, nichts. Müllmann  Hast du dich verlaufen? Frau  Ja. Müllmann  Wohnst du hier? Frau  Hier in der Nähe. Müllmann  Ist was passiert? Du siehst so verloren aus. Frau  Nein. Müllmann  Ein verlorenes Paradies. Frau  Haben Sie eine Zigarette? Müllmann  Ich rauche nicht im Dienst. Aber was ist denn passiert? Kann ich dir irgendwie helfen? Frau  Nein … Die Frau fällt hin. Rufe der Kollegen des Müllmanns. Müllmann  Ich muss weiter … Frau  (lässt ihn nicht gehen) Bitte rede mit mir. Müllmann   (versteht nicht. Normalerweise kommt so etwas nicht vor.) Ja? Frau  … Müllmann  … Schweigen. Für sie ist es schwierig zu erklären, was da alles mit ihr geschieht. Und er wartet darauf, dass sie etwas sagt. Müllmann  (der, einem Impuls folgend, auf sie zugeht, um sie zu berühren) Was kann ich für dich tun? Die Frau weicht reflexhaft zurück. Müllmann  Entschuldigung. Frau  Nein, ich muss mich entschuldigen … Müllmann  (bescheiden) Nein, wirklich nicht … Rufe der Kollegen drängen den Müllmann noch ungeduldiger zur Eile. 39


Müllmann  Das braucht dir wirklich nicht peinlich zu sein. Wenn ich etwas für dich tun kann … Frau  Nein … Das ist sehr nett von dir, danke. Geh ruhig, ich will dich nicht bei der Arbeit stören. Geh ruhig. Er geht ab. Sie hält es nicht aus und geht ihm hinterher. Die Bühne bleibt ein paar Sekunden leer. Die beiden kommen rennend zurück. Frau  Rede mit mir. Es ist nur – du sahst eben so entschlossen aus. So sicher auf deinem Weg. Störe ich dich bei der Arbeit? Sie gehen ab. Frau und Müllmann beginnen, nebeneinander herzurennen. Sie unterhalten sich allem Anschein nach weiter, auch wenn sie hinter der Bühne verschwinden, aber sie sind nur zu hören, wenn sie auftreten und über die Bühne laufen. Müllmann  So lange du magst, du störst mich überhaupt nicht. Sie rennen hinter die Bühne, kommen wieder zurück. Frau  Wir haben gar nichts zu reden, oder? Ich bin manchmal so langweilig. Müllmann  Kein Problem. Frau  Du hilfst mir sehr. Müllmann  Ach was. Was hab ich denn schon gemacht? Frau  Wie heißt du? Rufe der Kollegen. Frau und Müllmann rennen hinter die Bühne, kommen wieder zurück. Frau  Schöner Name. Schreibt man das mit „y“? Müllmann  Nein, mit „w“. Frau und Müllmann rennen hinter die Bühne, kommen wieder zurück. Müllmann  Und … Läufst du vor irgendwas weg? Frau  Kann ich dich etwas fragen? Ist es für dich so einfach? Hast du dir in den Kopf gesetzt, dass du rennen musst, und jetzt rennst du einfach? Müllmann  Keine Ahnung … Manchmal gefällt mir der Gedanke, dass das da hinten das Meer ist. Nur, um Sehnsucht zu wecken … Er rennt ab. Sie bleibt. Frau  Mein Hund wird heute eingeschläfert. Er kommt zurück. Müllmann  Was? Frau  Mein Hund ist krank und wird heute eingeschläfert. Müllmann  Davor läufst du also weg? Frau  Keine Ahnung, davor wahrscheinlich auch … Rufe der Kollegen. Jetzt antwortet sie darauf, schreiend, und rennt von der 40


Bühne. Mit dem Schrei macht sie sich Luft.

Müllmann   (zu ihr) Ganz ruhig … Du leidest richtig, nicht wahr? So was kommt vor. Ich selber zum Beispiel muss jemanden finden, eine Person, die ich ewig nicht mehr gesehen habe, die Zigaretten kaufen ging und nicht wiederkam. (Er ist ein Mann mit einer einfachen Philosophie.) Ich glaube, du musst dich der Situation ganz einfach stellen. So ist das Leben eben … Sie rennen ab. Die Bühne bleibt eine Zeit lang leer. Dann kommen sie wieder zurück. Müllmann  Zum Beispiel: Alice folgte dem Kaninchen und rief … Frau und der Müllmann rennen hinter die Bühne, kommen wieder zurück. Frau  Den Film finde ich auch toll … Müllmann  … mit Sharon Stone … die ist auch so ’ne Prinzessin … Frau und Müllmann rennen hinter die Bühne, kommen wieder zurück. Müllmann und Frau  (zusammen) Bruce Willis! Frau und Müllmann rennen hinter die Bühne, kommen wieder zurück. Frau  Du bist ein guter Mann. Müllmann  Du bist eine gute Frau. Frau  Und – was machst du, wenn du hier fertig bist? Müllmann  Ich? Ich spring ins Meer. Und du? Frau  Ich? Ich reite auf der Welle mit … Müllmann und Frau schauen sich tief in die Augen. Sie geht auf ihn zu, um ihn zu berühren. Ein besonderer Mensch. Müllmann  (weicht ungeschickt zurück) Nein … ich bin dreckig. (Die beiden beginnen, in verschiedene Richtungen abzugehen.) Komm doch noch ein Stück mit. Lauf nicht immer weg! Die beiden rennen.

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Entzündete Brust mit erstickten Worten

Hausfrau spielt Mann vor, wie sich der Infarkt ihres Nachbarn Valico zugetragen hat. Infarkt wird in Großbuchstaben geschrieben.

Hausfrau  „MEIN HERZ FÜHLT SICH AN WIE EIN JUNGES PFERD, DAS MIT FEURIGEN HUFEN ZUM MEER GALOPPIERT! ACH, LEBEN, DU HEFTIG BOHRENDER HOLZSPLITTER! DIE NATUR IST NICHT SÜSS, NUR DIE FRÜCHTE SIND’S!“ Und sie fährt fort. Hausfrau  „PASS AUF. MEIN SOHN KOMMT MICH BESUCHEN. ER WIRD SCHON EIN ERWACHSENER MANN SEIN. BITTE IHN UM ENTSCHULDIGUNG. FRAG IHN, OB ER DAS GELD BEKOMMT, DAS ICH IHM IMMER FÜRS FUSSBALLTRAINING SCHICKE.“ Sie holt Luft. Sich daran zu erinnern, ist nicht einfach. Sie setzt ihre Unterhaltung mit Mann fort, der ihr zuhört. Hausfrau  Er sagte das alles während des Infarkts. Da habe ich zu ihm gesagt: „Valico, atmen! Atmen!“ Mann rennt erschrocken weg. Hausfrau  Warte! Ich erzähle dir doch nur, wie es war …

Japanische Herzen

Beamter tritt auf. Seine Kleidung ist vollständig mit Schaumstoff gepolstert. Mann geht ab.

Beamter  Guten Tag. Hausfrau  Ja? Beamter  Wohnen Sie hier? Hausfrau  Ja. Was haben Sie denn da an den Armen? Beamter  Einen Schutz. Hausfrau  Ah ja … Beamter  Den brauche ich für meine Arbeit.

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Hausfrau  Eine Uniform? Beamter  Ja. Hausfrau  Wie interessant … Beamter  Ja, also, ich soll das kranke Tier abholen. Hausfrau  (erschrickt!) Ach, dann sind Sie das? Aber es geht nicht um meins. Sie suchen die Frau, die da drüben wohnt. Allerdings ist im … Dem Beamten fällt eine Avocado auf den Kopf. Er spürt sie nicht. Hausfrau  Achtung!!! Beamter  Was denn? Hausfrau  (erschrickt! Ist besorgt!) Alles in Ordnung? Beamter  Ja. Dem Beamten fällt noch eine Avocado auf den Kopf. Hausfrau  Mein Gott. Beamter  Gibt es ein Problem? Hausfrau  Aber es sieht ja so aus, als ginge es Ihnen gut!? Beamter  Mir? Hausfrau  Mein Gott! Hausfrau versteckt sich. Geht ab. Müllmann tritt auf. Er scheint etwas zu suchen, so wie wenn jemand zum ersten Mal zu einer Adresse geht. Beamter  (immer noch zu Hausfrau) Sie … Hausfrau  (von der Seitenbühne, versteckt) Ich bleibe hier. Dort ist es zu schwierig. Beamter  Und das kranke Tier? Hausfrau  (von der Seitenbühne, versteckt) Das ist nicht meins. Sie suchen wahrscheinlich die Dame, die gleich da hinten wohnt. Aber die ist gerade nicht da. Warten Sie noch ein bisschen. Müllmann  Hallo. Wohnen Sie hier? Beamter  Nein. Müllmann  … Beamter  … Müllmann  Was sind Sie? Beamter  Wie meinen Sie das? Müllmann  Diese Kleidung … Beamter  Das ist meine Uniform. Müllmann  Ah ja. (interessiert) Kennen Sie hier in der Gegend jemanden? Beamter  Nein. Ich bin rein dienstlich hier. Was suchen Sie denn? Müllmann  Einen Menschen. 43


Beamter  Einen Menschen? Aus dem Off ist ein Hund zu hören, der Wörter bellt. Hunde bellen, was sie in den Häusern ihrer Besitzer, ihrer Nachbarn hören.

Hund  RAUS AUS DIESEM HAUS! RAUS AUS DIESEM HAUS! WEG MIT DER ZIGARETTE! MACH DEN TON LEISER! MACH DEN TON LEISER! Müllmann  (kommentiert) Mensch, sind die aggressiv! (kehrt zum Thema zurück) Aber was genau machen Sie? Beamter  Ich hole kranke Tiere ab. Müllmann  Kranke Tiere? Tiere sind so … Tut Ihnen das nicht im Herzen weh? Beamter  Tut es Ihnen im Herzen weh zu wissen, dass Hühner geschlachtet werden? Hinter der Bühne ist wieder Gebell zu hören. Hund  VERGISS NICHT, DIE TÜR ZUZUMACHEN! DAS TELEFON KLINGELT! ICH LIEBE DICH! ICH LIEBE DICH! ICH LIEBE DICH! ICH LIEBE DICH! Beamter und Müllmann befehlen dem Hund zu schweigen. Müllmann  Holen Sie viele am Tag ab? Beamter  In letzter Zeit schon. Ich arbeite doppelt so viel wie sonst. Müllmann  Um mehr zu verdienen? Beamter  Genau. Müllmann  Wollen Sie ein Haus kaufen? Beamter  Nein, ich will eine Reise machen. Müllmann  Recife? Beamter  Nein, Japan. Müllmann  Japan? Beamter  Japan. Hund  JAPAN! JAPAN! JAPAN! Müllmann  Und deshalb töten Sie in letzter Zeit mehr Tierchen, um dahin zu fliegen? Beamter  … Müllmann  Sprechen Sie Japanisch? Beamter  Ich lerne es gerade. Müllmann  Wie sagt man „guten Tag“? Beamter  „Ohaiogosaimás.“ Müllmann  Und „Besen“? 44


Beamter  „Rouki“. Müllmann  „Vorsicht“, wie sagt man das? Beamter  Keine Ahnung. Müllmann  Es heißt ja, dass man da seine Sandalen auf der Straße stehen lassen kann, und keiner nimmt sie mit! Beamter  Wussten Sie, dass die Straßen dort keine Namen haben? Müllmann  Wirklich? Beamter  Und dass Sie das Wechselgeld nicht nachzählen dürfen? Müllmann  … Beamter  Und dass sie dort jeden Tag beten. Deshalb leben sie länger als wir. Da gibt es Religionen, da denken Sie nicht mal im Traum dran. Müllmann  Mensch, verrückt. Beamter  … Müllmann  Aber … erzählen Sie doch mehr … Beamter  Von Japan? Müllmann  Nein … Wie holen Sie die Tiere ab? Beamter erzählt. Doch Gebell übertönt das Gespräch der beiden. Müllmann  Japan! Aber warum so weit weg? Haben Sie dort Verwandte? Beamter  Nein. Müllmann  Aber was wollen Sie dann da? Das hat bestimmt mit irgendeiner Religion zu tun, oder? Beamter  Ja … Müllmann  Wie heißt denn Ihre Religion? Beamter  (gerät ins Stocken. Wie soll er erklären, woran er glaubt?) Nein, also eine „Religion“ ist es eigentlich nicht. Müllmann  Eine Sekte? Hund  SEKTE! SEKTE! Beamter  (stockt) Ja. Nein … Es ist ein … eine … es ist … es ist … Sie ist nicht so bekannt, weil es eher um Selbsterkenntnis geht, wissen Sie … Müllmann  Ah ja. Beamter  Haben Sie eine Religion? Müllmann  (gerät ins Stocken) Ja … Also, na ja, eine Religion ist es eigentlich nicht, es ist … es ist … es ist so … ein Treffen, wo wir hingehen. Aber nicht so was Fanatisches oder so, nichts aus der Richtung. Das ist wirklich seriös. Beamter  Na, das klingt doch gut, mein Freund. Kennen Sie die „Applauszeremonie“? 45


Müllmann  Nein … Beamter  Das ist eine Zeremonie aus dem Süden, ich weiß gerade nicht mehr genau, woher, aber es macht mich immer sehr neugierig, wenn ich davon höre. Da versammeln sich die Menschen und machen eine Zeit lang so. Er schlägt mehrmals die Handflächen gegeneinander, wie beim Klatschen. Das macht er eine ganze Weile lang. Müllmann  So? Beamter  Genau. Es heißt dort, dass man beim Klatschen nicht den anderen betrachten soll, wie sonst, sondern dass man über sich selbst nachdenken soll, über den eigenen Weg. Und beim Klatschen sagen sie immer wieder: „Wo ist mein Garten, wo ist mein Garten, wo ist mein Garten, wo ist mein Garten, wo ist mein Garten, wo ist mein Garten.“ Müllmann  Wie seltsam. Beamter  Es heißt, das wecke die ganz eigene Kraft, die jedem von uns innewohnt. Das wird seit vielen Jahren so gemacht … Müllmann  Diese Zeremonie? Beamter  Ja, seit Jahrhunderten. Müllmann  Sie verstehen wohl alles von diesen Dingen, oder? Beamter  Ein wenig. Müllmann  Und – wer soll am Samstag das Spiel gewinnen? Hausfrau und Mann treten auf. Sie hält nach etwas auf der Seitenbühne Ausschau. Beamter  (zum Müllmann) Sie wohnt hier. Müllmann  Ah, ja … (zur Hausfrau) Hallo. Hausfrau erschrickt vor Müllmann. Sie denkt, sie habe vergessen, den Müll vor die Tür zu stellen. Hausfrau  Ist heute Dienstag? Oh je! Warten Sie kurz! Hausfrau rennt von der Bühne.

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Die Natur ist nicht süß

Hausfrau tritt wieder rennend auf, wird aber müde und bleibt stehen. Müllmann tritt hinter ihr her rennend auf.

Müllmann  Warten Sie! Hausfrau  (schwer atmend) Ich kann nicht mehr. Müllmann  Alles in Ordnung? Hausfrau  Ja, und bei Ihnen? Müllmann  (mit Mühe) Ich bin schon mal hier gewesen … Hausfrau  Ich weiß. Müllmann  (schaut zur Seitenbühne, erschrickt vor den vielen Dingen, die er dort sieht) Was ist das? Hausfrau  Hühner. Müllmann  Ganz schön viele, oder? Sie verkaufen bestimmt eine Menge! Hausfrau  Ach was. In all den Jahren habe ich nur zwei verkauft. Weil die Zeiten eben schlecht sind. Weil kein Geld da ist … Sie wissen schon. Müllmann  Schlachten Sie die Tiere selbst? Hausfrau  Deswegen sind Sie aber nicht hergekommen, oder? Müllmann  Nein … Rufe der Arbeitskollegen des Müllmanns. Müllmann  Ich suche einen Menschen … Hausfrau  Das sagten Sie schon, junger Mann. Müllmann  Sie wohnen hier schon lange, nicht wahr? Hausfrau  Oh ja. Müllmann  Ich suche jemanden, der hier wohnt. Er ist Ihr Nachbar. Hausfrau  Von welchem Nachbarn reden Sie? Müllmann  Ich suche einen älteren Herrn … Rufe der Kollegen. Müllmann  Nein, schon gut. Ich komme später wieder … Hausfrau  Warten Sie … Müllmann  Nein, ich komme später wieder. Hausfrau  Nein. Wer sind Sie denn? Ich meine, was haben Sie mit meinem Nachbarn zu tun? Mann tritt auf und küsst Hausfrau auf den Mund.

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Hausfrau  (zu Mann) Geh, ab, ich will jetzt nicht spielen, okay? Wir reden später. Geh nach Hause! Müllmann  Ich störe Sie, nicht wahr? Hausfrau  Ich habe Sie gefragt, was Sie mit meinem Nachbarn zu tun haben. Müllmann  Sohn. Hausfrau  … Müllmann  „Valico“ heißt er. (Als er klein war, hat Müllmann immer seinen Vater gezeichnet.) Er ist so groß, stark, hat fast keine Haare, redet wie ein Wasserfall, kommt mit jedem ins Gespräch … (Er gibt auf!) Aber lassen Sie nur, ich sollte nicht einmal hier sein. Hausfrau  Warum? Müllmann  Weil Ihr Nachbar sich vor Jahren von uns verabschiedet hat, um mal kurz Zigaretten zu holen – und danach hat er sich nie wieder blicken lassen. Hausfrau  Zigaretten sind wirklich schlecht für die Gesundheit. Müllmann  Wissen Sie, warum er nicht da ist? Hausfrau  Ach, du meine Güte! Müllmann  Was denn? Hausfrau  Ich kenne Ihren Fall … Müllmann  Sie kennen mich? Hausfrau  Nein, Sie kenne ich nicht, aber Ihren Vater habe ich gekannt. Müllmann  Wohnt er nicht mehr hier? Hausfrau  Nein. Das heißt … Ich habe eine Nachricht für Sie, die wird nicht einfach sein … Ich kannte Ihren Vater gut, bevor er … Eine Avocado fällt herunter. Sie erschrickt. Müllmann  Bevor er … Hausfrau  … Müllmann  … Hausfrau  … Müllmann  … Hausfrau  Leider. Er versteht. Er hebt Avocados vom Boden auf und schleudert sie weg, dabei spricht er mit seinem Vater. Müllmann  Nein, Vater! Ich habe dir Briefe geschrieben. Ich habe von dir geträumt. Ich habe dich über-überall gesehen. Ich habe dich gezeichnet. Ich habe dich gezeichnet. Ich habe für dich gebetet. Du falscher 48


Hund! Straße ohne Boden! Verlorene Allee! Leere Chaussee! Mein Schrei! Du gibst mir süße Schläge. Hausfrau  Hören Sie, wollen Sie einen Tee, einen Kaffee … Müllmann  Lassen Sie das! (reißt sich zusammen) Entschuldigung. Rufe der Kollegen des Müllmanns. Hausfrau  (antwortet aus Mutterinstinkt auf die Rufe) Warten Sie! Er kann jetzt nicht weg. So geht das ja nicht. Man hat auch nicht immer Beine für alles! (zu Müllmann) Hören Sie, er hat mich gebeten, Ihnen etwas auszurichten. Müllmann  Was? Hausfrau  (sagt, was sie seit Jahren versucht, sich zu merken) Er hat gesagt: „PASS AUF. MEIN SOHN KOMMT MICH BESUCHEN. ER WIRD SCHON EIN ERWACHSENER MANN SEIN. BITTE IHN UM ENTSCHULDIGUNG.“ Müllmann  Mehr nicht? Hausfrau  Ja … (erinnert sich!) Nein! Er sagte noch zuletzt: „FRAG IHN, OB ER DAS GELD BEKOMMT, DAS ICH IHM IMMER FÜRS FUSSBALLTRAINING SCHICKE.“ Müllmann  … Hausfrau  Bekommen Sie es? Müllmann  Nein. Ich mache Karate. Hausfrau  Karate? Müllmann  Ja. Karate. War das alles? Hausfrau  (lügt!) Nein. Er hat gesagt: „SAG IHM, DASS ICH IHN LIEB HABE.“ Müllmann  Hat er das wirklich gesagt? Hausfrau  Ja. Müllmann beginnt, Karatebewegungen auszuführen, wie eine sehr spezielle Form der Reinigung. Hausfrau erschrickt und geht ab. Die Rufe schallen jetzt vielfach durcheinander.

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Menschlich

Beamter wendet seine Arbeitstechniken an, schützt sich hartherzig vor jedwedem Anfall, jedweder Leidenschaft. Frau und Mann treten auf.

Beamter  Guten Tag. Frau  Guten Tag. Beamter  Ich bin der Beauftragte für … Frau  Ich weiß. Beamter  … Frau  … Beamter  … Frau  Ihre Uniform … ist das Schutzkleidung? Beamter  Ja. Frau  Sie haben bei Ihrer Arbeit mit ziemlich aggressiven Tieren zu tun, oder? Beamter  Ja. Frau  (über die Kleidung) Ist das Schaumstoff? Beamter  Ja. Frau  Wie interessant. Beamter  Wollen Sie mal anfassen? Nur zu. Frau  Was? Beamter  Wollen Sie mal anfassen, nur zu. Sie fasst die Schaumstoffuniform an, befühlt sie. Frau  Aber ist diese Schutzkleidung nicht übertrieben? Wozu das alles? Beamter  Sie werden das gleich verstehen. Frau  Ich? Beamter  Ja, gleich werden Sie das verstehen. (bemerkt den Mann) Ist er das? Frau  Ja. (Sie pfeift wie nach einem Hund.) Komm her, na komm … Was gerade noch ein Mann war, ist jetzt als Hund erkennbar. Beamter  (zum Hund) Gehen wir? Frau  (ihr wird klar, dass die Zeit gekommen ist; sie versucht, den Beamten aufzuhalten) Möchten Sie einen Kaffee? Beamter  Nein, ich trinke keinen Kaffee. Frau  Möchten Sie einen Tee? 50


Beamter  Tee? Nein, danke. Frau  Möchten Sie was mit Alkohol? Beamter  Nein, danke. Blanke Not. Es lässt sich nicht mehr verbergen, dass sie Zeit gewinnen will. Frau  Möchten Sie ein Glas Milch? Beamter  Nein, danke. Frau  Aber warum möchten Sie denn keinen Kaffee? Beamter  Nein, danke. Frau  Wie heißen Sie? Beamter  Nein, danke. Frau  (testet) Ich liebe dich. Beamter  Nein, danke. Sie schlägt ihm gegen die Brust. Er spürt nichts. Er trägt eine Schutzuniform. Frau  Entschuldigung. Beamter  Daran bin ich gewöhnt. Ich bitte um Verzeihung, aber ich habe nicht viel Zeit. Frau  Machen Sie diese Arbeit schon lange? Beamter  Etwa vier Jahre. Frau  Aber kommen Ihnen in solchen Momenten nicht die Tränen? Beamter  Ich lasse mich emotional nicht darauf ein, ganz einfach. Der Hund springt ihn fröhlich an. Hunde sind sich der Dinge nicht bewusst. Frau  Ich geh sein Halsband holen. Frau geht ab. Hund beginnt zu bellen. Hund  DARUM BITTE ICH SIE: VORSICHT MIT DEM, WAS SIE IN DIE WELT PFLANZEN. VORSICHT MIT DEM, WAS SIE BERÜHREN; MIT DER FÄHIGKEIT DER MENSCHEN, SICH AUF DIE DINGE EINZULASSEN. ES BRINGT NICHTS, SO ZU TUN, ALS WÜRDEN SIE NICHTS FÜHLEN. MENSCHEN FÜHLEN ALLES. SIE LASSEN SICH AUF ALLES EIN! ALLES. Sie kommt wieder. Frau  (zu Hund) Ganz ruhig. Sie streichelt ihr Tier, spielt mit ihm. Sie ist sich der Dinge bewusst. Frau  (zum Beamten) Kann ich mich von ihm verabschieden? Beamter  Natürlich. Frau geht auf alle Viere, um mit ihrem Hund zu sprechen. Frau  Danke, es wird alles gut. 51


Frau weint auf allen Vieren. Hund beobachtet sie. Frau steht auf.

Frau  Auf, und hopp. Komm …

Hund springt. Stellt sich auf die Hinterpfoten! Wie ein Mensch. Er leckt seiner Besitzerin das Gesicht ab. Umarmt sie. Von einem Moment auf den anderen ist er ein lieber Hund geworden. Hund und Frau sehen sich tief in die Augen, zum ersten Mal. Frau geht ab. Beamter versucht, das Tier zu packen. Es gelingt ihm. Aber seine Technik versagt und er lässt sich tief auf Hund ein: Er berührt das Tier und spielt mit ihm, als wären sie alte Freunde. Danach nimmt er den Hund mit, um ihn zu töten.

Der beschwerliche Weg in den Garten

Beamter kommt allein zurück und ruft nach Hausfrau.

Beamter  Hätten Sie bitte ein Glas Wasser für mich? Hausfrau  Natürlich. Sie geht ab. Beamter wartet. Eine Avocado fällt auf den Boden. Aus heiterem Himmel fällt Beamter um und hat einen Herzanfall. Beamter spürt sein Herz wie ein Pferd! (Eigentlich leidet er an seiner Arbeit.) Sein Leben hatte sich bis zum Infarkt angestaut und entlud sich in einem Lyrikanfall. So vorhersehbar ist das Leben dann doch nicht. Beamter  OH! JAPANISCHES HERZ! OH! GEBELL, DAS MICH NICHT SCHLAFEN LÄSST! ICH WILL KEINE TIERE JAGEN! DAS BELLEN IN MEINEM HERZEN IST LAUTER! KAMÍ SÃMS UÁ DOKONÍ ÍRU. DESHIOO KA. WER HILFT MIR? Müllmann kommt vorbei, sieht Beamten. Er geht zu ihm. Beamter  WER HILFT MIR? WO IST GOTT? WO IST GOTT? UND WENN ICH NACH JAPAN KOMME UND GOTT IST GAR NICHT DA? UND WENN ICH NACH JAPAN KOMME UND ER IST GAR NICHT DA? OH, MEIN GOTT, ICH ATME NICHT! UND GOTT, ATMET DER? ABER WER ATMET FÜR GOTT? WER? WER? UND WER IST GOTT? WER IST GOTT? WER? WER? WER? Müllmann  Ich weiß es nicht. 52


Beamter  Wer ist Gott? Müllmann  Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Müllmann massiert die Brust des Beamten. Herz-Rhythmus-Massage. Aber die Frage des Beamten provoziert ihn. Was bis jetzt eine Massage war, wird nun zu Schlägen gegen die Brust. Müllmann schlägt, aus bloßem Zweifel, auf die Brust des Beamten ein. Oh!

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Die Lagunengesten

Die Inszenierung muss jetzt mal durchatmen. Alle sind außer sich und perplex angesichts der göttlichen Gewalt der Menschen. Wer atmet für sie? Alle beginnen Tai-Chi-Chuan zu üben. Atmen wir mal ein wenig durch.

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Zum Meer galoppieren

Müllmann und Beamter gehen ab. Frau und Hausfrau bleiben auf der Bühne.

Hausfrau Schön, diese bunten Elektrozäune, die jetzt erfunden wurden, oder! Und die neuen Alarmanlagen, mit Grillenzirpen oder Vogelgezwitscher … (bemerkt die Frau) Was ist denn mit Ihnen? Frau Ich bin müde. Hausfrau Sie schützen sich wenig, nicht wahr? Der kleinste Lufthauch nimmt Sie mit. Und hören Sie, ich weiß, wovon ich rede, ich sage das nicht nur, weil da Leute sind, die uns zuschauen. Nein, nein. Sie müssen auf sich aufpassen. Frau Ich weiß nicht! Hausfrau Was sagen Sie da? Frau Ich will damit sagen, dass zu viel Vorsicht auch erdrückend sein kann. Hausfrau Aber schauen Sie sich doch mal an! Frau Schauen Sie sich doch mal an! Hausfrau Was wollen Sie damit sagen? Frau (als Hund!) ICH WILL DAMIT SAGEN, DASS SIE REDEN, REDEN, REDEN, REDEN UND TROTZDEM EMOTIONAL BETEILIGT SIND. ICH REDE VON MENSCHEN. VON MIR, VON IHNEN. SIE HABEN DOCH IHRE HÜHNER, ODER? Hausfrau Was haben meine Hühner damit zu tun? Frau Sie leben davon, geschlachtete Hühner zu verkaufen. Sie kaufen Ihre Hühner und – was machen Sie als Erstes? Hausfrau Lassen Sie das. Frau Sie geben ihnen Namen, und dann Spitznamen. Und wenn Sie sie dann ansehen, bringen Sie es nicht mehr übers Herz, sie zu schlachten. Sie können nicht anders, Sie lassen sich emotional auf sie ein. Sie lassen sich auf alles emotional ein, Sie können gar nicht anders! Selbst bei Ihren Hühnern nicht! Schweigen. Hausfrau (verliert den Verstand, wird wieder zum Hund!) Lassen Sie das, tun Sie mir das nicht an. Sie kennen mich überhaupt nicht. Für wen halten Sie sich eigentlich? Fassen Sie mich nicht an. Kommen Sie 56


nicht näher. Sie lösen die Alarmanlage aus. Lassen Sie mich hier, in meiner Ecke. Wenn das Telefon klingelt – ich bin nicht da. Vorsicht mit meiner Mauer, die ist mit Scherben gespickt. Mit vielen Scherben. Für mich ist das auch kein Zuckerschlecken. Seien Sie vorsichtig mit mir! Vorsichtig mit mir! Vorsichtig mit mir! Frau Sie sind müde. Möchten Sie einen Tee? Einen Kaffee? Hausfrau … Müllmann rennt vorbei. Hausfrau (kommentiert den Müllmann) Er wirkt wie ein junges Pferd, das mit feurigen Hufen zum Meer galoppiert. Oder? Frau Hören Sie das? Hausfrau Was? Frau Der Gaslieferant. Was für eine schöne Musik, um weinend Gas zu kaufen, nicht wahr? Beamter tritt auf. Er sucht den Müllmann, der kurz nach ihm auftritt. Sie treffen aufeinander. Beamter Warten Sie. Ich habe Sie gesucht. Müllmann Warum denn? Geht es Ihnen gut? Beamter Ja, mir geht’s gut, ich arbeite sogar wieder. Ich wollte mich bei Ihnen für Ihre Hilfe bedanken. Aber … Ich wollte Ihnen etwas sagen. Müllmann Was denn? Beamter Wegen der Applaus-Zeremonie, die ich Ihnen beigebracht habe. Die gibt es nicht. Ich habe sie erfunden. Sie ist erstunken und erlogen, es drückt mir aufs Gewissen, dabei zuzusehen, wie Sie das machen und denken, das wäre etwas Bedeutendes … Müllmann Wie seltsam. Beamter Warum? Sie gehen ab. Die Frau dagegen probiert die Applaus-Zeremonie für sich aus. Dabei ist die Melodie von „Für Elise“ zu hören; sie kommt aus einem Gas-Lieferwagen, der durch das Viertel fährt.

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Der Glaube

Frau sucht ihre Kraft. Sie macht die Applaus-Zeremonie.

Frau  Ich bin stark wie ein junges Pferd, das mit feurigen Hufen zum Meer galoppiert. Ich bin stark wie ein junges Pferd, das mit feurigen Hufen zum Meer galoppiert! Gott, ich werde dich nicht stören! Versprochen. Du kannst ruhig da bleiben. Einfach nur zuschauen. Ich werde allein auf die Beine kommen und wieder rennen, weil es die Ordnung gebietet. Und wenn es sein muss, fange ich mit allem wieder von vorn an. Ich werde morgens aufstehen und Kaffee machen und den Anrufbeantworter einschalten und die Alarmanlage und werde die Mauer mit Scherben spicken und meinen Garten anschauen. Weil ich stark bin, weil ich stark bin. Sie weint. Sie weint. Frau  Und ich werde weitere Augenblicke erschaffen, und niemand wird merken, dass ich sie erschaffe, weil sie sich alle emotional darauf einlassen! ALLE! Wer atmet für mich? Wer atmet für mich? Weil ich stark bin wie ein junges Pferd, das mit feurigen Hufen zum Meer galoppiert. ZUM MEER GALOPPIERT! ZUM MEER GALOPPIERT! ZUM MEER GALOPPIERT! ZUM MEER GALOPPIERT! ZUM MEER GALOPPIERT! ZUM MEER GALOPPIERT! Und Frau steht auf, wenn sie gestürzt ist; rennt los, wenn sie steht; sie atmet, wenn ihr die Luft ausgeht. Selbst wenn sie dafür mehr Kraft braucht als sonst.

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Der Neubeginn. Die Fortsetzung.

Müllmann und Frau rennen wieder, so, wie sie rannten, als sie sich kennenlernten. Hund taucht auf und bellt das Publikum an.

Hund  VORSICHT. VORSICHT MIT DEM, WAS SIE BERÜHREN. MIT DER FÄHIGKEIT DER MENSCHEN, SICH AUF DIE DINGE EINZULASSEN. MIT DER LIEBE, DIE SÜSSE SCHLÄGE AUSTEILT. TUN SIE’S FÜR MICH. FÜR MICH! FÜR MICH! FÜR MICH! FÜR MICH! Dunkel. Ende des Stücks.

Wo hört das Meer auf?

Das Stück ist zu Ende. Das Licht geht an. Die Schauspieler stehen da, wie immer, zum Applaus. Das Publikum applaudiert. Die Schauspieler applaudieren. Aber nach und nach beginnen die Schauspieler mit der Applaus-Zeremonie. Und als das Publikum das bemerkt, macht es mit. Unsinn. Das war gar nicht das Ende. Gott ist Neubeginn.

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Silvia Gomez

DER HIMMEL FÜNF MINUTEN VOR DEM STURM

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michaela Ulich

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Personen Denise Alter unbestimmt Isabel Krankenschwester, 50 Jahre alt Arthur Arzt zwischen 50 und 60 Jahre alt

Eine stilisierte Wohnung – mit Bad, Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer. Im Wohnzimmer befinden sich ein großer Briefkasten, ein Esstisch mit Stühlen, ein Sofa, ein großes Fenster mit der Vorderansicht zum Publikum, eine Eingangstür, ein Medikamentenschrank wie in einem Krankenhaus. Das Zimmer mit Seitenfenster gehört Denise. Auf dem Nachttisch neben ihrem Bett steht ein digitaler Radiowecker, der immer die gleiche Uhrzeit anzeigt – neun Uhr. Er klingelt regelmäßig.

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Akt I 1. Szene Stille im Haus. Arthur steht zum Fenster gewandt. Elegant gekleidet mit Anzug und Spazierstock macht er einen respektablen Eindruck. Denise liegt in ihrem Bett. Der Radiowecker schrillt mit dem typischen Klingelton. Denise, sie wirkt erschöpft, steht auf – wie jemand, der gerade aufgewacht ist und sich nicht gleich orientieren kann –, geht in Richtung Bad und fällt zu Boden, nachdem sie versucht hat, auf den WC-Sitz zu steigen oder vielleicht etwas von weiter oben herunterzuholen. Sie wird zum Kind, das um Hilfe ruft – als würde sie gerade ein Flashback erleben.

Denise  Sie! Arthur dreht sich um, antwortet nicht.

Denise  Sie, mein Herr, können Sie mal herkommen?

Arthur antwortet nicht.

Denise  Hey!

Arthur antwortet nicht.

Denise  Hey! Können Sie mir bitte mal helfen? (Pause) Hören Sie mich?

Pause. Denise starrt einige Sekunden auf die Hängelampe im Bad. Schaut sich dann um, erkennt, wo sie sich gerade befindet, steht langsam auf, verliert das kindliche Gehabe – als würde sie aus einer Erinnerung aufwachen – und geht in ihr Zimmer. Legt sich wieder ins Bett und stellt den Wecker ab, der die ganze Zeit über geläutet hat.

2. Szene Isabel sitzt am Esstisch. Arthur steht neben dem Briefkasten. Der Wecker klingelt erneut, er steht wie immer auf neun Uhr. Während wir ihn klingeln hören, erhebt sich Denise, zieht unterm Bett eine kleine Tasche hervor, geht – wie immer langsam – ins Bad und beginnt, sich vor dem Spiegel stark zu schminken. Die Art und Weise, wie sie dabei spricht, erweckt den Eindruck, als würde sie versuchen, sich an einen auswendig gelernten Text zu erinnern, Wort für Wort.

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Denise  Du verlierst diese Angst, wie sie Tiere haben, wenn sie sich unterm Sofa oder Treppenhaus verkriechen. Du fühlst dich mutig und kletterst über Mauern, sagst Adieu, schlägst die Tür zu, der dumpfe Knall macht dir nichts aus. Du überquerst die Straßen, schaust nicht links und rechts, gehst auf der Bordsteinkante, schaust nicht auf den Boden. Du gehst bis ans Ende, biegst immer nach links ab, zahlst, was sie verlangen. (Pause) So wird das ab jetzt immer sein. Der Radiowecker klingelt weiter. Denise und Arthur setzen sich aufs Sofa und tun, als säßen sie nebeneinander auf einem Metrositz. Wie zwei Fremde blickt jeder zu einer Seite. Denise beginnt, in ihrer Tasche zu wühlen, sucht anscheinend nach etwas. Dabei lässt sie ein Knäuel abgetragener Strümpfe fallen. Arthur bückt sich automatisch nach den Strümpfen und hebt sie auf. Denise  Wär nicht nötig gewesen. Arthur  Ich bitte Sie. Denise  Ist ja nur ein Paar lumpiger Strümpfe. Arthur  Ich weiß. Dürfte ich sie mir näher ansehen? Denise antwortet nicht. Arthur  Sie antworten mir nicht? Denise antwortet nicht. Arthur  Warum antworten Sie nicht? Denise  Hören Sie, nur weil ich zufällig neben Ihnen in der Metro sitze, muss ich Ihnen noch lange nicht antworten. Ich kenn Sie doch gar nicht. Arthur  Aber wir könnten uns kennenlernen, oder? Denise  Warum wollen Sie mich kennenlernen? Ich weiß nicht mal Ihren Namen und, tut mir leid, Sie sehen seriös aus, aber ich will ganz offen sein, für mich sind Sie jemand, der mich anmachen will, Sie sind einer dieser Grapscher in der Metro. Pause. Arthur  Dürfte ich mal näher sehen? Denise  Wie diese Typen, die hier herumhängen, Grapscher jeder Sorte. Arthur  Das Paar Strümpfe. Denise antwortet nicht. Arthur  Verzeihung. Es ist nur, dass Sie mich … Sie erinnern mich an jemanden, den ich nicht kenne. (Pause) Nein, nicht was Sie denken.

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Entschuldigen Sie, ich möchte nicht sonderbar klingen. Sie können das nicht verstehen. Denise  Versteh ich wirklich nicht. Würden Sie bitte aufstehen? Arthur steht mühsam mit Hilfe seines Spazierstocks auf, bleibt neben Denise stehen, hebt einen Arm, als würde er sich an einer Schlaufe in der Metro festhalten. Arthur  Oh je, ich habe schon ein gewisses Alter … wie Sie sehen. Denise  Warum stellen Sie sich nicht weiter weg? Es ist Platz genug da. Arthur  Ich bleibe hier. Denise  Ich weiß. Arthur  Merkwürdig … Irgendwie rührt es mich, Sie so zu sehen, wie Sie in Ihrem Alter allein von Haltestelle zu Haltestelle fahren, ohne auf den Fahrplan schauen zu müssen. Denise  So ein Unsinn. Gehören Sie zu diesen Typen, was weiß ich, zu diesen gefühlsduseligen Heinis? Abgesehen davon, ich … Ich bin nicht mehr jung. Arthur  Natürlich sind Sie das. Sind Sie immer allein unterwegs? Denise  Wenn Sie mich dauernd so fragen … dabei kenn ich Sie gar nicht … kommt mir das wie eine Ewigkeit vor. Arthur  Weil Sie mich an jemanden erinnern, den … oh je, ich wiederhole mich. Verzeihen Sie. Denise  Schon okay. Wenigstens scheinen Sie sich Gedanken zu machen, ich weiß zwar nicht warum, aber Sie scheinen sich Gedanken zu machen. Arthur  Wirklich merkwürdig. Tragen Sie immer so viel Make-up? Denise  (gerät aus der Fassung) Ich könnte jetzt aufstehen und weggehen. Ich könnte weglaufen, so schnell ich kann. Arthur  Müssen Sie nicht. Denise  Ich weiß. (Pause) Sind Sie immer so? Arthur  Was machen Sie eigentlich? Denise  Nichts zur Zeit. (Pause) Finden Sie nicht – jetzt stell ich Ihnen mal eine persönliche Frage – finden Sie nicht, dass die Metro an eine Geisterbahn auf dem Jahrmarkt erinnert? Wenn Sie Ihren Kopf an die Scheibe drücken und hinausschauen, dann wissen Sie, was ich meine. Arthur  Was studieren Sie? Denise  Ich bin zu Zeit etwas im Rückstand. Arthur  Ach so. Und was würden Sie gerne machen? Denise  Weiß nicht. 65


Arthur  Schon klar. Und Ihre Familie? Denise  Meine Mutter ist Krankenschwester. Arthur  Ein ehrenwerter Beruf. Denise  Ja. Arthur  Und Ihr Vater? Denise  Sie setzt dir eine Spritze und du spürst es nicht einmal, verstehen Sie? Als ich klein war, nahm sie mich mit ins Krankenhaus. Ich wurde in der Krankenhausküche untergebracht, die Köchinnen dort passten auf mich auf. Sie gaben mir immer Butterkekse. Die gibt es in jedem Krankenhaus. Dann bat ich sie, ob ich aufs Klo gehen dürfe, na klar, geh nur, Schätzchen, sagten sie, und dann wanderte ich durch die Gänge. Besonders spannend fand ich es, heimlich durch die halb offenen Türen zu spähen: die Mehrbettzimmer, die Privatzimmer, Kranke, die alleine waren, Kranke, die ihn Begleitung waren, die Familien der Kranken, die frisch Entbundenen, die ihr Baby zum ersten Mal sahen. Hatten Sie schon mal die Gelegenheit, das zu erleben? Arthur  Ja. Denise  Ist wirklich rührend. Meistens bringen sie kein Wort heraus, streicheln ihr Baby, drücken seine Füßchen, seine Händchen, die Nase, versuchen, sich das Gesicht ganz fest einzuprägen, falls es auf der Säuglingsstation vertauscht wird. Arthur  Hören Sie, ich muss an der nächsten Haltestelle aussteigen. Denise  Schon gut. Arthur  Tja … ich … Pause. Arthur holt aus seiner Tasche einen Zettel und überreicht ihn Denise. Arthur  Für Sie. Denise nimmt den Zettel, liest mit leiser Stimme – wir können sie nicht hören – und steht auf, als wäre sie aus einer Erinnerung erwacht. Sie wirft den Zettel in den Briefkasten, geht in ihr Zimmer, legt sich hin, macht den Wecker aus, der die ganze Zeit geläutet hat. Arthur steht wieder neben dem Briefkasten, teilnahmslos. Pause. Denise liegt auf ihrem Bett, unfähig aufzustehen. Isabel sitzt am Esstisch und löst Kreuzworträtsel. Sie ist eine elegante Erscheinung mit Haardutt und hochhackigen Schuhen, mit denen sie allerdings andauernd stolpert. Arthur steht weiterhin neben dem Briefkasten. Denise  (schreit) Schwester! Isabel antwortet nicht. 66


Denise  Schwester. (Schweigen) Schwester! (Pause) Verdammtes Miststück, tu nicht so! Ich weiß, dass du mich hören kannst, du Luder, ich weiß es ganz genau, also bitte! Ich hab mich vollgeschissen. Ich hab in die Hose gepinkelt. Schwester! (Pause) Findest du das komisch? (Die Krankenschwester macht unbeirrt weiter mit ihrem Kreuzworträtsel.) Schwester! Warum tust du so, als würdest du mich nicht hören? Ich will nicht diese hässlichen Worte sagen müssen, die ich sage, weißt du doch. (Pause) Schwester! Isabel steht auf, geht in Richtung Zimmer. Nimmt eine Spritze aus ihrer Tasche und bereitet sie vor. Denise  Ich halt den Gestank nicht aus. Macht dir wohl Spaß, wenn ich in der Scheiße versinke. Isabel  (ohne Denise anzusehen, beschäftigt sich mit der Spritze, zieht sie auf) Wie alt wirst du heute, Denise? Denise  Weißt du das nicht? Isabel  Wie fühlen wir uns denn? Denise  Am liebsten würde ich dich anspucken und vollkotzen. Isabel  „Happy birthday to you, happy birthday to you, zum Geburtstag viel Glück …“ Denise  (während Isabel singt) Machst du mich nicht sauber? Isabel  (spritzt sie, singt) Zum Geburtstag viel Glück … sch sch … schön ruhig … zum Geburtstag viel Glück … Denise  (dämmert langsam weg) Kannst du mir sagen, wann das aufhört? Es ist neun Uhr und der Tag … Ich weiß nicht, was für ein Tag es heute ist. Wenn ich Geburtstag habe, zeig mir den Kalender, ich könnte ich mich an alles erinnern, wenn du mir … Isabel  Sch … Denise schläft. Isabel hebt sie ungeschickt hoch, lässt sie zu Boden fallen, um das Bett sauber zu machen. Zieht die Laken ab und geht hinaus. Sie lässt Denise auf dem Boden liegen.

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3. Szene

Kurze Zeit ist vergangen. Arthur steht auf demselben Platz. In Denises Zimmer liegt der Knäuel alter Strümpfe auf dem Radiowecker. Isabel sitzt am Esstisch, löst Kreuzworträtsel. Denise ist im Bad, steht auf der Kloschüssel, hat ein Werkzeug in der Hand, mit dem sie versucht, das Ventil der Spülung zu reparieren.

Denise  (betritt das Wohnzimmer mit dem Werkzeug in der Hand) Isabel? Isabel antwortet nicht.

Denise  Die Klospülung ist wieder kaputt, hörst du? Isabel  (ohne die Augen vom Kreuzworträtsel zu heben) Ach ja? Denise  Ich kann das nicht alleine abstellen. Isabel  (weiter mit ihrem Kreuzworträtsel beschäftigt) Was kannst du eigentlich? Denise  Machst du das? (legt das Werkzeug auf den Tisch) Isabel  (ungeduldig) Dauernd willst du was von mir. Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin? Denise  Bist du immer. Isabel geht ins Bad und Denise setzt sich an den Esstisch. Isabel repariert das Ventil, stolpert auf ihren hohen Hacken. Isabel  (zurück) Fertig. Denise  Nein, ist es nicht. Isabel  Das Wasser läuft nicht mehr durch, das war‘s doch, oder? Denise  Können wir jetzt nicht mehr spülen? Isabel  Hauptsache, es läuft kein Wasser mehr. Willst du nicht ein bisschen schlafen? Morgen bring ich das in Ordnung. Denise  Wirst du nie. Könnten wir nicht einen Mann kommen lassen? Isabel  Einen Mann? Denise  Einen Klempner oder so. Pause. Die beiden schauen sich an. Isabel kehrt zum Tisch zurück, setzt sich. Isabel  (ohne sie anzuschauen) Morgen. (widmet sich wieder dem Kreuzworträtsel) „Gehen“? Wie schreibt man das auf Englisch? Denise  (ist im Begriff zu gehen, ohne sie anzuschauen) Keine Ahnung. Denise geht zum Briefkasten, holt einen Brief heraus. Geht in ihr Zimmer, setzt sich aufs Bett, liest den Brief. 68


Denise  „Wenn du dein Leben leben willst, dann nimm es in die Hand.“ Arthur spricht zusammen mit Denise den Satz aus dem Brief, wie beim Simultandolmetschen.

Isabel  (schreit vom Wohnzimmer, damit Denise sie hört) Kannst du dich an deinen zehnten Geburtstag erinnern? Denise antwortet nicht. Isabel  (schreit) Wenn du diesen Briefen Glauben schenkst, dann solltest du dich auch an deinen zehnten Geburtstag erinnern. Denise  (schreit zurück von ihrem Bett aus) Bist du bei mir, seitdem ich zehn bin? Isabel  Seit immer. Vergisst wohl langsam alles, Liebes. Denise  (schreit) Es kommt mir auf einmal so lang vor. Isabel  Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich habe gesagt: Wenn du diesen Briefen glaubst, dann müsstest du dich auch an deinen zehnten Geburtstag erinnern. Das habe ich gesagt. Denise  Warum tust du das immer? Isabel  (schreit vom Wohnzimmer aus) Kannst du dich an das Geschenk erinnern? Ein kleines aufblasbares Planschbecken aus Plastik? Ein zehnjähriges Mädchen passt nicht mehr in ein Plastik-Planschbecken. Ein Geschenk, das man so lange aufblasen muss, bis einem die Luft wegbleibt. Wer weiß, war es das, Denise? Damit du aufbläst und aufbläst, bist du stirbst … Denise  (kehrt ins Wohnzimmer zurück, steht neben Isabel und hält ihr den Mund zu) Halt den Mund. Flashback. Denise sitzt auf dem Boden, wieder mit dem Ausdruck eines Kindes, tut so, als würde sie das Planschbecken festhalten. Denise  Ist das zum Aufblasen? Isabel  Ja. Denise  Ah. Darf ich das auch später machen? Isabel verliert die Beherrschung, zwingt Denise brutal, das Planschbecken aufzublasen. Denise folgt brav und unterwürfig. Isabel  (während Denise pustet) Er hat dir auch eine Karte geschickt. (Sie liest vor, Arthur spricht mit ihr simultan.) „Lass dich nicht täuschen: Das Leben wird dich schlecht behandeln …“ Ende des Flashbacks. Isabel  Eines Tages werde ich diesen Briefkasten anzünden.

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Denise gibt Isabel eine Ohrfeige. Isabel geht zum Medikamentenschrank und nimmt eine Tablette heraus.

Isabel  (steckt Denise mit Gewalt die Tablette in den Mund) Hast du die Kontrolle verloren? Denise verschluckt sich, übergibt sich, schließlich schafft sie es, die Tablette herunterzuwürgen. Setzt sich an den Esstisch. Isabel wiederholt nach einer Weile dieselbe Prozedur. Die beiden sitzen sich stumm gegenüber. Isabel  (ohne Denise anzuschauen) Na? (Pause) Wie geht‘s uns denn so? Denise antwortet nicht. Isabel  Wie läuft‘s so? Fühlst du dich in letzter Zeit gut, irgendwie besser … möchte ich gerne wissen. Denise  Ob er eines Tages einen vollständigen Satz schreiben wird? Isabel  Die Medizin, hast du dich daran gewöhnt, ich meine … Denise  (Arthur gleichzeitig) Man gewöhnt sich nie daran. Isabel  Versteh ich nicht. Denise  Eines Tages schrieb er mir: „Gewöhne dich nie daran.“ Gewöhn dich nie an was? An die Welt, an gekochte Kartoffeln, an Wanduhren … an psychotrope Substanzen? Isabel  Wie geht es dir, Liebes? Denise  Mir ist gestern wieder ein Zahn abgebrochen. Isabel  Noch einer? Denise  Du willst doch nur, dass er wiederkommt. Du sagst es nicht, aber ich weiß es. Isabel  Noch ein Zahn? Denise  Ja. Isabel  Wie schaffst du es nur, einen Zahn nach dem anderen abzubrechen? Denise  Ist keine Absicht. Isabel  Wie ist das möglich? Denise  Es ist ein hinterer Zahn, man kann ihn nicht richtig sehen. Isabel  (steht auf, öffnet mit Gewalt Denises Mund) Zeig her. Denise  Die Zahnärzte haben einen Ausdruck dafür. Isabel  (setzt sich wieder) Weißt du was? … Ich mag dich nicht besonders. Denise  Ich mache es, ohne es zu merken. (schreit) Nachts, wenn es ganz still ist. Isabel  Wenn du schläfst, knirschst du mit den Zähnen … dann wachst du auf und sagst, sie sind abgebrochen, schaust mich dabei auf eine Art und Weise an, die mir nicht gefällt … die mir ganz und gar nicht gefällt. 70


Denise  Ich weiß. (Pause) Warum gehst du eigentlich nie aus dem Haus? Isabel  Ich betreue dich. Ich bin hier, um dich zu pflegen und zu betreuen. Denise  Ich bin schon fünfunddreißig Jahre alt. Isabel  Warum lügst du? Denise steht auf, geht ins Bad, fängt an, sich übertrieben zu schminken. Isabel  Weißt du, welchen Tag im Monat wir heute haben? Telefon klingelt, Isabel tut so, als würde sie es nicht hören. Denise  (schreit vom Bad aus) Gehst du dran? Isabel tut weiter so, als würde sie es nicht hören, bis das Telefon aufhört zu klingeln. Denise  Warum gehst du nie ans Telefon? Isabel antwortet nicht. Denise geht in ihr Zimmer, setzt sich mit dem Rücken zum Publikum auf den Boden. Tut so, als würde sie mit jemandem an ihrer Seite reden, stellt Fragen und wartet ab, bis sie eine Antwort bekommt. Isabel lauscht aufmerksam. Denise  Was ist schwieriger? (Pause) Genau. (lacht) Auf jemanden zählen, oder zu wissen, dass man auf dich zählt? (Pause) Aha … (Pause) Alles klar. Kein Problem … Niemand muss auf alles eine Antwort haben … Ich? Na ja. Ich finde es schwieriger, jemandem zu vertrauen. (Pause) Ja, vertrauen … so wie jemandem die Hand reichen und sich auf ihn verlassen können, mit ihm weitergehen … Aber was verstehst du schon davon? Immer, wenn ich an dich denke, stelle ich mir vor, wie toll es wäre, als Japanerin auf die Welt zu kommen, es wäre großartig, wenn wir alle Japaner wären. (Pause) Ja, ich wäre gern Japanerin, weil Japaner sich aus Ehrgefühl umbringen. Du musst wissen, Japaner gehen niemals fort, das heißt, sie können durchaus fortgehen, aber sie hinterlassen immer eine Adresse. (Pause) Ach, tut mir leid. Ich quatsche einfach zu viel, weil du auch nie was sagst und … Isabel betritt Denises Zimmer. Isabel  Führst du jetzt Selbstgespräche? Denise antwortet nicht. Rennt ins Wohnzimmer, stellt sich vor Arthur, der teilnahmslos neben dem Briefkasten steht. Sie wiederholt ihm einige der obigen Sätze, während Isabel gleichzeitig mit ihr spricht. Denise  (zu Arthur) Ja, vertrauen … so wie jemandem die Hand reichen und sich auf ihn verlassen können, mit ihm weitergehen … Aber was weißt du schon davon? Wenn ich an dich denke, stelle ich mir vor, wie toll es gewesen wäre, als Japanerin auf die Welt zu kommen, es wäre 71


großartig, wenn wir alle Japaner wären. Isabel  (spricht gleichzeitig mit Denise) Hör zu, du bist kein Kind mehr, diese Fantasiespielchen mit erfundenen Spielkameraden … Liebes, bitte. (Denise reagiert nicht, Isabel packt sie am Arm.) Liebes! (scharf) Liebes! Sieh mich an. Pause. Sie stehen sich gegenüber. Denise  Ich wollte mich nur unterhalten. Isabel  Warum brauchst du immer so viel von allem, du brauchst Gesellschaft, du brauchst Hilfe, du brauchst Gespräche … Kannst du nicht mal mit dir alleine zurechtkommen? (Pause) Es wird dir sowieso niemand antworten. Denise  Siehst du? Isabel  (zupft an ihren Haaren) Was? Stimmt was nicht? Denise  Nicht deine Haare. Die sind in Ordnung, bestens, ich habe noch nie erlebt, dass dein Haardutt sich aufgelöst hätte, deine Frisur sitzt immer perfekt. Isabel  Du hast gesagt: „Siehst du?“ Was hast du damit gemeint? Denise  Was du gesagt hast: Niemand gibt jemals eine Antwort. Es ist, wie wenn man mit sich selbst redet. Isabel  (geht ins Bad, schaut in den Spiegel, richtet ihre Frisur) Meine Haare sind unmöglich, du sagst es nicht, aber ich sehe es an deinem Blick, was du sagen willst, die Art, wie du mein Gesicht taxierst, noch bist du jung, aber eines Tages wirst du wissen, wie sich das anfühlt. Du solltest aufhören, einen so anzusehen. Denise  Ich bin nicht mehr jung. Isabel  Ich mag es nicht, wie du mich ansiehst. Isabel kehrt ins Wohnzimmer zurück und setzt sich an den Esstisch. Denise begleitet sie, setzt sich ihr gegenüber. Denise  Isabel? Isabel antwortet nicht. Denise  Warum machen wir heute nicht einen kleinen Spaziergang? Isabel  Du bist einfach zu sentimental, Liebes. (Scheint vergessen zu haben, was sie gerade gesagt hat.) Was für einen Tag im Monat haben wir heute? Denise  (geht Richtung Schlafzimmer, zupft vergnügt an ihrer Kleidung, in Hochstimmung) Komm, lass uns gehen, es gibt so viele Dinge, die wir unternehmen können, wir haben sowieso schon so viel Zeit vergeudet. 72


Denise kehrt zurück aus ihrem Zimmer, nimmt Isabels Hand, lebhaft und zugleich ungeschickt.

Isabel  (wird von Denise in Richtung Tür gezerrt, plötzlich wie gelähmt) Warten wir. Denise  Warten? Isabel  (steht vor der Tür wie erstarrt) Du weißt doch … Denise  Wir haben lang genug gewartet, findest du nicht? Isabel  (löst sich von Denise, setzt sich wieder) Lass uns warten. Denise  Es wird nie eintreten. Isabel  Hilfst du mir? Denise  Warum? Warum sollte ich dir helfen? Isabel  Weil du ihn auch sehen willst. Denise  Das ist alles, was du willst, nicht wahr? Ich gehe. Isabel  Du willst es auch. Denise  Ich verschwinde. Hier wird nie was passieren … zum Beispiel die Klospülung, die wird für immer kaputt bleiben. Ich verschwinde und du wirst allein bleiben und niemals rausgehen können, und ich werde dich nie anrufen, weil du sowieso nie ans Telefon gehst, und du wirst alt werden, von der Leiter stürzen, wenn du gerade eine Glühbirne wechselst, und du wirst an dem austretenden Blut irgendeiner geplatzten Ader ersticken und niemand wird davon erfahren, bis der Gestank deiner Leiche zum Nachbarn dringt und er den Notdienst benachrichtigt. Isabel  So kannst du nicht mit mir reden. Ich habe dich beschützt, als niemand da war. Ich habe dich immer beschützt, wir befinden uns im Krieg, aber das hast du nie bemerkt, weil ich dich vor allem beschützt habe. Denise  Mir hat er auch Vieles erzählt. Isabel  Diese Scheißbriefe? Grad mal eben einen ganzen Satz. Pause. Denise  (boshaft) Heute geh ich raus. Ich werde durch die Gegend spazieren und werde Leute kennenlernen, ich werde Dinge tun, die du niemals tun würdest, und nachdem ich tausend Dinge getan habe, die du dich nie trauen würdest, weil sich dein Dutt auflösen könnte, komme ich wieder. (traurig) Du hast es nicht verdient, aber ich komme zurück. Isabel  (ohne sie anzuschauen) Und was würde ich denn nie tun, Liebes? Denise  Ich geh raus, und die Typen auf der Straße schauen mir nach, alles Grapscher und Aufreißer, aber mir ist das egal, sie bieten sich an und 73


ich lutsche ihren Schwanz, ich kriech auf allen Vieren, wenn sie es verlangen, ich laufe durch die Straßen, geh in die Metro, wo sich viele dieser Sorte tummeln, ich lächle sie an und lasse meine Spucke auf ihren Schwanz tropfen. (Pause. Denise versucht, die Wirkung ihrer Worte auf Isabel festzustellen. Isabel bleibt ungerührt.) Und dann … (Pause) Du verdienst es nicht, aber dann komme ich zurück. Denise schaut Isabel eine Weile an, diese rührt sich nicht. Sie geht zum Briefkasten, nimmt einen Zettel heraus, reicht ihn Isabel. Denise öffnet die Tür und geht hinaus. Isabel bleibt wie erstarrt, sitzt am Esstisch mit dem Rücken zur Tür. Sie liest den Zettel. Währenddessen signalisieren Lichteffekte, dass Zeit vergeht. Isabel  (liest) Du verlierst diese Angst, wie sie Tiere haben, wenn sie sich unterm Sofa oder Treppenhaus verkriechen. Du fühlst dich mutig und kletterst über Mauern, sagst Adieu, schlägst die Tür zu, der dumpfe Knall macht dir nichts aus. Du überquerst die Straßen, schaust nicht nach links und rechts, gehst auf der Bordsteinkante, schaust nicht auf den Boden. Du gehst bis ans Ende, biegst immer nach links ab, zahlst, was sie verlangen. (Pause) So wird das ab jetzt immer sein. Denise öffnet die Tür. Isabel nimmt wieder ihre statuarische Haltung an. Isabel  (ohne sie anzuschauen) Du bist wieder da? Denise  Ich hab doch gesagt, dass ich wiederkomme. Du musst in Behandlung. Isabel  Du hast dich nicht im Griff, Liebes. Die Tabletten sind im Augenblick nicht stark genug … Die Neurotransmitter in deinem Gehirn sind durcheinandergeraten. Ich versteh gar nicht, warum ich dich hab rausgehen lassen … was ist heute für ein Tag? … wo war ich bloß mit meinen Gedanken? Wie spät ist es? … Du wirst sehen, gleich wirst du dich besser fühlen. Denise  Neun Uhr. Den Tag weiß ich nicht, ich kann im Kalender nachschauen, wir haben einen Kalender, weil die Kalender, sie … Isabel  (unterbricht sie) Sch … sch … ganz ruhig. Isabel gibt Denise eine Spritze. Die beiden schauen sich etwa sechzig Sekunden lang schweigend an, bis Denise vom Stuhl fällt, bewusstlos von der Spritze. Isabel schleift sie wie eine Puppe in ihr Zimmer, legt Denise aufs Bett, glättet sanft die Laken.

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Akt II 1. Szene

Es klingelt an der Tür. Isabel öffnet sie. Es ist Arthur. Er trägt denselben eleganten Anzug und den Spazierstock wie vorhin.

Arthur  Hallo. Isabel  Hallo. Arthur  Du hast es geschafft. Isabel  Was geschafft? Arthur  Meine Adresse und meine Telefonnummer rauszukriegen. Isabel  Komm rein. Arthur tritt ein. Isabel  Setz dich. Arthur  Nicht nötig. Isabel  Aber bitte, nimm Platz. Trink etwas, unterhalten wir uns ein bisschen. Arthur  Ich würde gerne bleiben, aber ich bin auf dem Sprung, ich habe die Zeit nicht. Isabel  Was magst du trinken? Arthur  Wo ist sie? Isabel  Im Zimmer, sie schläft. Arthur  Mitten am Tag? Isabel  Du weißt, die Tabletten … Arthur  Tabletten? Isabel  Psychotrope Substanzen. Arthur  Du verabreichst sie ihr? Isabel  Verabreichen? Arthur  Die Medikamente. Isabel  Ja, das ist mein Beruf. Krankenpflege. Arthur  Und du bist eine gute Krankenschwester? Isabel  Ich bin als Oberschwester in Ruhestand gegangen. Arthur  Du bist schon im Ruhestand? Isabel  Ich bin über fünfzig. Arthur  Stimmt. Isabel  Die Zeit … alles geht so schnell. 75


Arthur  Was nimmt sie ? Isabel  Interessierst du dich dafür? Arthur  Deswegen bin ich hier. Uns verbindet nichts, außer … Isabel  (unterbricht ihn) Ich versteh schon. Arthur  Was weiß ich, warum ich … die Zeit vergeht und man fängt an … Letztens bin ich zum ersten Mal Metro gefahren, stell dir vor, jetzt sieht alles anders aus. Ich bin durch alle Stationen gefahren und weißt du … ich glaube sie war‘s. Da kam mir alles so albern vor und ich bin früher ausgestiegen, ich hielt es nicht mehr aus. (Pause) Dann hast du mich angerufen, der sechzehnte hast du gesagt, der sechzehnte ist wieder ein Geburtstag. Isabel  Und du bist gekommen. Arthur  Wie ich schon sagte, die Zeit vergeht. Isabel  Sie wiegt 55 Kilo, ich gebe ihr 15 mg Midazolam, oral, damit sie schläft. An schlimmeren Tagen intravenös, eine 3-ml-Ampulle reicht, du kennst dich ja aus. Du zum Beispiel, wie viel wiegst du? Arthur  Du scheinst eine tüchtige Krankenschwester zu sein. Isabel  Ja, bin ich. Arthur  74. Isabel  74? Arthur  Mein Gewicht. Du hast mich gefragt … Isabel  Ach ja … Wenn du 74 Kilo wiegst und soundso groß bist … wie groß bist du eigentlich? Arthur  Diese Rechnerei … Du musst nur mein Gewicht kennen. Isabel  Ja, stimmt, Größe spielt keine Rolle, also, wenn du gesund bist und 74 Kilo wiegst … Bist du gesund? Arthur  Ich habe so ein Zittern im Bein, aber im Prinzip bin ich gesund. Was das Zittern betrifft, habe ich noch nichts rausgefunden, die anderen Ärzte auch nicht, aber sonst alles gut … Isabel  Schön. Arthur  Ja … Isabel  Du nimmst dein Gewicht mal der maximalen Dosis von 0,2 mg, da genügt eine Spritze mit einer Ampulle von 3 ml, das löscht dein Bewusstsein augenblicklich aus. Verstehst du? Innerhalb von 30 Sekunden würdest du zu Boden sinken, auf diesen staubigen Teppich, und falls du eine Stauballergie hättest, würde dich nicht einmal der Staub auf diesem Teppich wiederbeleben, selbst wenn du zum Beispiel an einer 76


akuten Nasenschleimhautentzündung leiden würdest, auch dann würdest du nichts spüren. Arthur  (lächelt ironisch) Du bist ja eine richtige Spezialistin. Isabel  Leidest du an einer akuten Nasenschleimhautentzündung? Arthur  Nein. Isabel  Hast du noch nie Lust verspürt, einfach wegzudämmern? Arthur  Wenn ich dich so reden höre … dann scheint das etwas Angenehmes, etwas Außergewöhnliches zu sein. Darf ich mich setzen? Isabel  (deutet aufs Sofa) Bitte. Magst du was trinken? Arthur  (setzt sich) Was hast du? Isabel  Orangensaft, Wasser? Arthur  Whiskey? Isabel  Und dein Bein? Bist du in Behandlung? Arthur  Mach dir keine Gedanken. Isabel öffnet den Schrank und serviert ihm den Drink. Arthur  Hast du einen Staubsauger? Isabel  Staubsauger? Arthur  Für den Staub auf dem Teppich, du hast selber gesagt, der Teppich sei staubig. Hast du keinen Staubsauger im Haus? Putzt du nie das Haus? Isabel  Wir haben keinen Staubsauger. Arthur  Ich will nicht unhöflich sein, aber das Haus … es ist alles sehr schmutzig hier. Sie schweigen. Arthur  Entschuldige bitte. Ich nehme Clonazepam, um nachts zu schlafen. Ein Psychopharmakon, kennst du ja … Isabel  Wir alle nehmen was in der Art. Arthur  Tja … wenn ich es nicht nehme, kann ich nicht schlafen wegen meinem Bein. Willst du mal fühlen? … Es hüpft richtig und nachts wird es schlimmer, es ist wie eine Strafe. Willst du sehen? Isabel  Nein. Arthur  Tut mir leid, ich wollte keine Anspielungen machen oder … das weißt du. (Pause. Sucht krampfhaft nach einem Gesprächsstoff, etwas verlegen) Im Alter schläft man weniger. Der Tag vergeht schnell, es wird dunkel, wenn wir es noch gar nicht erwarten. Isabel  Wenn jemand wenig schläft, vergisst er vieles. Arthur  (nimmt einen großen Schluck Whiskey) Stimmt. 77


Isabel  Ängstigst du dich? Er antwortet nicht.

Isabel  Entschuldige, dauernd will ich was aus deinem Leben wissen. Arthur  Es ist so wie … ich weiß nicht … wie wenn der Mund austrocknet. Isabel  Was nimmst du? Arthur  Habe ich schon gesagt. Isabel  Psychotrope Substanzen. Arthur  Benzodiazepam, das ist es. (erregt, aber nie laut) Das ist alles, was ich will, ein gutes Narkotikum, das auf mein zentrales Nervensystem wirkt, abends, wenn alles ruhig ist. Ich will, dass der Schlaf mich überfällt. Ist es das, was du wissen wolltest? Zufrieden? Isabel  Hast du keine Angst? Arthur  Angst? Isabel  Die Kontrolle zu verlieren? Arthur  Daran denke ich nicht. Beide schweigen. Arthur  (verlegen, sucht nach einem Thema) Aber du … eine Krankenschwester, das hätte ich nicht gedacht. Isabel  Mir wäre lieber, du würdest keine solchen Bemerkungen machen. Tun wir doch so, als würden wir jetzt anfangen. Immerhin bist du gekommen, nach all den Jahren. Arthur  Ist gut. Isabel  Ich kann keine Art von Krankheit mehr ertragen. Du weißt, wie es ist, wenn man jahrelang damit zu tun hatte. Zum Beispiel mag ich heutzutage nicht einmal mehr auf die Straße gehen, denn irgendwie sind alle Menschen krank. Mit der Zeit und mit der Erfahrung weiß man, was für Krankheiten sie haben, und dann wird es unerträglich. (Pause) Ich hätte mir gewünscht – entschuldige bitte –, dass du gesund bist. Arthur  Es ist doch nur ein Zittern, das nachts schlimmer wird, aber … Isabel  Du siehst nicht gesund aus. Du siehst überhaupt nicht gesund aus. Arthur  Um wie viel Uhr wacht sie auf? Isabel  Bald. Die Wirkung hält fünf Stunden an. Arthur  Dann komme ich ein anderes Mal wieder … Isabel  Ich fände es besser, wenn du wartest. Wenn du jetzt gehst, kommst du nicht mehr, da bin ich mir sicher. Arthur  Du hast recht. Du wirkst auf mich so …

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Isabel  Tut mir leid, diese ganze Geschichte mit deiner Gesundheit … Ich wollte dich nicht beleidigen, aber ich hatte einfach etwas anderes erwartet. Arthur  Schon gut. Isabel  Ich muss dir was sagen. Arthur  Bitte, sag was immer du willst. Isabel  Sie ist in letzter Zeit nicht mehr rausgegangen. Arthur  Kann sie es nicht mehr? … (Pause) Ein Unfall? Isabel  Nein. Die Arzneimittel sind sehr stark und schlauchen sie, du kennst ja die Wirkung dieser Cocktails; abgesehen von den Antidepressiva bekommt sie 3 ml zum Schlafen, in schwierigen Stunden mehr – und davon gibt es viele. Aber ich versichere dir, das soll kein Dauerzustand werden. Arthur  Ich versteh nicht … Isabel  Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist … solche Menschen sind schrecklich anspruchsvoll, sie wollen ständig Aufmerksamkeit, sie wollen über alles reden, sie sagen … Hörst du mir überhaupt zu? … Es ist sehr anstrengend. Arthur  (ironisch) Und mit den Medikamenten hört sie damit auf. Isabel  (verlegen, will das Thema wechseln) Willst du sie sehen, für eine Sekunde? Sie gehen in Richtung Denises Zimmer, betrachten sie eine Weile, sie schläft. Die beiden setzen sich wieder ins Wohnzimmer. Arthur  Das war sie. Isabel  Sie? Arthur  In der Metro. Das war sie. Isabel  Du bist ihr begegnet? Arthur  Vorhin, als ich gekommen bin, hab ich doch schon erzählt. Ich bin nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder Metro gefahren und habe mich neben diese junge Frau gesetzt und wir haben uns unterhalten, ich kann mich gut daran erinnern, als wäre es heute passiert. Gibt es im Leben tatsächlich solche Dinge? Isabel  Wer sagt denn, dass es wirklich sie war? Arthur  Sie ist nicht mehr ganz jung. Wie du schon sagtest, die Zeit vergeht und alles geschieht sehr schnell. Aber du, zum Beispiel, du bist immer noch hübsch. Denise wacht auf, kommt nicht aus dem Bett hoch. Denise  (schreit vom Zimmer aus) Schwester! 79


Isabel antwortet nicht. Arthur  Antwortest du ihr nicht? Isabel  Warum gehst du nicht nach ihr sehen? Denise  Schwester, ist jemand bei dir? Isabel  Warum gehst du nicht hin zu ihr? Arthur  Ob sie sich an jenen Tag erinnern kann? Isabel  Wer sagt denn, dass sie es wirklich war? Denise ist eine ganz gewöhnliche junge Frau, so wie viele andere auch. Sie wird sich ohnehin an nichts erinnern, nicht an den Tag, nicht an früher, nicht an jetzt, nicht an gestern. Die Medikamente, weißt du, die Wahrnehmung und das Gedächtnis sind … es ist wie eine temporäre Amnesie … Hast du gehört, wie sie schreit? Es gibt Tage, da nennt sie mich nur „Schwester“. Langsam finde ich es ganz komisch. Isabel setzt sich an den Esstisch, blickt ins Leere. Arthur geht langsam in Richtung Denises Zimmer. Denise  Schwester? Wo ist sie? Könnten Sie die Schwester für mich rufen? Arthur  Sie kann jetzt nicht kommen. Denise  Sie kann nie kommen. Arthur  Du kannst mit mir sprechen. Denise  Könnten wir eine andere einstellen? Vielleicht hat sie Schwierigkeiten mit dem Hören. Arthur  Behandelt sie dich nicht gut? Denise  Nein. Arthur  Erinnerst du dich nicht an mich? Denise  Tatsächlich werde ich jetzt ganz leise reden, sie könnte uns sonst hören, und ich will nicht, dass sie mithört, verstehen Sie? Sie ist richtig fies zu mir. Arthur  Willst du nicht was fragen? Denise  Ich werde ganz leise reden, ich glaube nämlich, sie will nicht, dass ich gesund werde … nicht, dass sie mir den Tod wünscht, sie wird mich nicht umbringen, da bin ich mir sicher, aber ich glaube zum Beispiel, dass sie mir Klowasser ins Getränk schüttet, solche Dinge, damit es mir immer schlecht geht und ich so langsam bleibe. Arthur  Wenn du willst, kann ich sie rufen. Denise  Nein, bitte nicht. Warten Sie, früher zum Beispiel, ich werde jetzt ganz leise reden, früher konnte ich gehen, heute kann ich nicht einmal

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aus dem Bett steigen. Immer wenn ich was brauche, versuche ich, sie zu rufen, aber sie tut so, als würde sie mich nicht hören. Arthur  Ich glaube, du hast Halluzinationen. Denise  Sobald es mir etwas besser geht, steh ich auf und lauf weg, so schnell ich kann, dass sie keine Chance hat, verstehen Sie? (Pause) Aber nicht verraten, ja? Arthur  Nein, ich … Denise  Moment mal, seid ihr befreundet? Arthur  Nein, wir … Denise  Was rede ich denn, ihr seid wahrscheinlich ein Liebespaar oder so was Ähnliches. Ihr habt was miteinander … Sie beißt Ihnen ins Ohr, sagt, sie will Sex, lutscht Ihren Schwanz, ich wette, so was läuft zwischen euch … Arthur  Ich bitte dich, was redest du da? Ich weiß, du erinnerst dich nicht an mich, aber … Denise  Ich liege dauernd hier, wenn Sie mich in eine bestimmte Stellung bringen, dann bleibe ich so und kann nicht aufstehen, bis Sie beschließen, mich woandershin zu hieven. Arthur  Macht sie das? Denise  Ja, so war es bis jetzt. Ich schaue zur Decke und zähle die Stunden. Ich kann zum Beispiel genau sagen, wie lang diese Birne da noch brennt. Arthur  Und du gehst nie weg? Denise  Hab ich doch gesagt, das geht vorläufig nicht. Aber wenn ich es schaffe, werde ich hier rauslaufen, vielleicht sogar im Pyjama. Ich werde auf die Straße laufen und beim Überqueren der Straße weder nach links noch rechts schauen, ich werde gegen die Fahrtrichtung laufen. Arthur  Was nimmst du alles? Denise  Das müssen Sie sie fragen, sie sagt es mir nicht. Heutzutage ist es so: Du brauchst nur einmal einen kleinen Seufzer ausstoßen und schon sagen die Leute, du musst in Behandlung, und stopfen dich voll mit Medikamenten, damit du lernst, nie, aber auch nie wieder auf diese Art und Weise zu seufzen. (Pause) Kennen Sie sich mit Medikamenten aus? Arthur  Ja, etwas. Denise  Sind Sie Arzt? Arthur  Wie fühlst du dich jetzt? Denise  Wie? 81


Arthur  Kannst du Schecks unterzeichnen? Kannst du mir sagen, ob sich das Bad auf der rechten oder auf der linken Seite befindet? Denise  Ich habe kein Konto auf der Bank. Aber Sie haben sicher eins, Sie sehen sehr honorig aus mit diesem Spazierstock. Wenn Sie wissen möchten, wie es um meinen Orientierungssinn steht, dazu Folgendes: Ich weiß natürlich, worauf Sie hinauswollen, ja, ich kann mich orientieren, ich kann zwar im Augenblick nicht aufstehen, aber wenn ich eines Tages aufstehe, dann gehe ich über die Straße, vielleicht werde ich überfahren in meinem Nachthemd, ist mir egal, keine Ahnung, was die Leute später denken werden, ich scheiß drauf. Arthur antwortet eine Weile nicht. Denise  Ich kann nicht aufhören zu reden. Ich glaube, ich habe sehr lange nichts mehr gesagt. Arthur antwortet nicht. Denise  Sie wollen gehen? Warum sind Sie plötzlich verstummt? (Pause) Ist Putzmittel schlimmer als Klowasser? (Pause) Dann glaube ich, dass sie Putzmittel nimmt. In mein Getränk, Sie wissen schon … (Pause) Damit man langsam daran stirbt, ohne dass es jemand spitzkriegt. Wenn sie es herausfinden, ist es bereits zu spät. (Pause) Ich will raus hier und so schnell ich kann loslaufen, wie diese Typen, die beim Marathon mitmachen. (Pause) Dieses Schweigen zwischen uns. (Pause) Antworten Sie mir nicht mehr? Arthur  Was ist mit dem Schweigen zwischen uns? Denise  Es stört mich nicht. Normalerweise ist das Schweigen zwischen zwei Menschen erdrückend, aber mit Ihnen ist es anders. Arthur  Findest du? Denise  Sagen Sie mir, was Sie hier wollen? Arthur  Ich habe einen Anruf erhalten. Denise  Ist das alles? Arthur  Es ist dein Geburtstag, in diesem Anruf hieß es, du hättest Geburtstag, am 16., wieder ein Geburtstag. Denise  Und wieso dachten Sie, Sie müssten kommen? Arthur  Das sagte ich bereits. Denise  Schon gut, wenn Sie mir keine richtigen Antworten geben wollen, dann stelle ich auch keine Fragen mehr … Ich lass es einfach, wie‘s ist. Arthur  Glaubst du, es ginge dir besser, wenn du diese Tabletten nicht mehr nehmen würdest? 82


Denise  Meinen Sie, ich könnte damit aufhören? Diese Krankenschwester … die ist in letzter Zeit richtig biestig zu mir, wissen Sie? Ich erzähle es Ihnen jetzt ganz leise … ich werde fast flüstern … können Sie mich verstehen? Wie heißen Sie? Arthur  Meinen Namen? Denise  Na klar … Wenn Sie keinen haben, erfinden wir einen, hätten Sie Lust? Einen wohlklingenden, ansprechenden Namen. (Pause) Wollen Sie? Arthur  Nicht nötig. Denise  Nicht nötig? Sie brauchen keinen Namen? Arthur  Ich heiße … Denise  (unterbricht ihn) Wissen Sie, es ist ganz leicht, einen Namen zu finden für jemanden wie Sie. Man schaut Sie an und weiß Bescheid … dieser Spazierstock, die schlanke Figur … Wetten, dass Sie rauchen? Arthur  Stimmt. Denise  Sie rauchen, jawohl. Sie rauchen edle Zigarren, Sie haben das nötige Geld dafür. Sie haben immer welche vorrätig, weil Sie in Panik geraten beim Gedanken, sie könnten Ihnen ausgegangen sein, wenn Sie mitten in der Nacht aufwachen und nicht mehr schlafen können. (Pause) Das kommt häufig vor, wetten? Arthur  Wetten wegen so einer Belanglosigkeit? Denise  Die Zigarren sind teuer und Sie wählen sie persönlich aus, obwohl Sie immer die gleiche Marke kaufen. Ich weiß solche Dinge. (Pause) Noch was: Sie bereuen nie. Trotzdem nehmen Sie Tranquilizer, um schlafen zu können, und es beruhigt Sie, wenn Sie sich vorstellen, dass alle Leute das tun. Schweigen. Arthur erhebt sich von seinem Stuhl, geht zum Fenster, schaut hinaus. Lange Pause. Denise  Sie bereuen nichts. Die Leute haben Vertrauen zu Ihnen, sie rufen Sie mitten in der Nacht an und bitten um Hilfe. Manchmal kommen Sie persönlich bei ihnen vorbei, die Leute wissen das. Arthur  (immer noch mit dem Rücken zu ihr, am Fenster) Was du erzählst, ist recht witzig und kurios. Du kannst nicht mit dem Reden aufhören, stimmt‘s? Denise  Hab ich viel geredet? Das liegt an der Krankenschwester. Ich rede nämlich nur dann so viel, wenn ich Pipi machen muss. Die Blase stimuliert dann irgendeinen Muskel, was weiß ich … 83


Arthur  Musst du Pipi machen? Denise  Die Krankenschwester lässt mich hier einfach liegen, wenn ich dringend muss, das macht sie die ganze Zeit. Arthur  Ich kann dir helfen. Denise  Du meine Güte, da mach ich mir lieber in die Hose, ehe Sie mit diesem Anzug und Ihren Zigarren mir mit einer Urinflasche in der Hand helfen, nicht auszudenken … Schade, dass ich von einem so blöden Weib wie dieser Krankenschwester abhängig bin. Pause. Beide schweigen. Arthur  (hat eigentlich kein Thema, zeigt auf den Radiowecker, der immer auf neun Uhr steht) Soll ich deine Uhr reparieren? Denise  (hört ihn wohl nicht) Bringen Sie mir eine Cola? Geht das? Aber eine ganz normale Cola, nicht eine mit Zitrone, Orange oder Trauben, ja? Arthur  Natürlich. Ein Moment. Er geht zurück ins Wohnzimmer, setzt sich an den Esstisch, wo sich immer noch Isabel befindet. Beide schweigen eine Weile. Arthur  Sie möchte eine Cola. Isabel  Wir haben nur Fanta. Arthur  Was hast du ihr für Medikamente gegeben? Isabel  Habe ich schon gesagt, abgesehen von den Selektiven SerotoninWiederaufnahmehemmern verabreiche ich ihr Midazolam, wobei die Dosierung variiert zwischen 0,1 und 0,2 mg pro Kilo, es gibt Tabletten mit 15 ml, 3-ml-Ampullen mit 15 mg; 5-ml-Ampullen mit 5 mg und 10-ml-Ampullen mit 50 mg. Hast du alles vergessen? Du hast sogar gesagt, du wärst zufrieden mit einer Dosierung von 3 ml, du hast gesagt: scheint gut zu sein, hervorragend sogar. Arthur  Das hast du mir alles gesagt? Isabel  Ja, habe ich. Arthur  Bist du verrückt geworden? Wir setzen Midazolam für Patienten auf der Intensivstation ein, damit sie sich an nichts mehr erinnern, damit sie sich nicht an das Trauma der Operation erinnern können. Bist du übergeschnappt? Isabel  Ich war Oberschwester, als ich in Rente gegangen bin. Glaubst du, ich weiß nicht, was ich tue? Du warst nicht hier, um Bescheid zu wissen. Arthur  Und … wie schaffst du es … ich meine, du kannst keine Rezepte ausstellen, du bist nur Oberschwester einer Abteilung … 84


Isabel  Ich bin in Rente. Arthur  Lässt du die Medikamente mitgehen? Isabel  Komm schon, du bist nicht der einzige Arzt auf der Welt. Arthur  Ich weiß, du nimmst sie dir einfach, eine Krankenschwester hat keinen Zugang zu derlei Medikation. Isabel  Würdest du nicht auch alles tun, wenn es nötig wäre? Sie knirscht nachts mit den Zähnen, wacht auf und sagt, dass sie abgebrochen sind, oder sie sagt, heute geh ich raus, sie sagt furchtbare Dinge, so wie den Männern den Schwanz lutschen, ich glaube, sie denkt sich das alles aus, sie führt Selbstgespräche, schreit mich an, schlägt die Tür zu und verschwindet, du kannst dir das alles gar nicht vorstellen. Arthur schweigt. Arthur  Hör zu … ich muss dir nicht erklären, was ich gemacht hätte, was alles nicht gemacht und was gemacht wurde. Isabel steht auf, geht ans Fenster, steht davor mit dem Rücken zum Publikum. Isabel  Warum hast du keine Adresse hinterlassen? Arthur  Wenn man älter wird … ich sagte es dir bereits, die Zeit vergeht, und ab einem bestimmten Alter wird einem klar, dass es keinen Sinn hat, etwas zu erklären, am Ende spielt es keine Rolle. Also lässt man die anderen denken, was sie wollen, weil sich an ihrem Denken sowieso nichts ändern wird, man bleibt ganz ruhig, schaut zur Decke, während sie reden, schimpfen und schreien, dann steht man auf und geht. Isabel  Ist es das, was du jetzt machen wirst? Arthur  Man steht auf, ohne was zu sagen, auch wenn man genau weiß, was sie gerade denken, sie schauen dich an, als wärst du ein Monster, und sie glauben das auch, aber im Grunde weißt du, dass es nicht zutrifft, und kommst zu dem Schluss, dass sie ja irgendwas denken müssen, und das hat alles nichts mit dir zu tun, und so gehst du ohne irgendeine Erklärung. Isabel  Eine Adresse, den Namen eines Viertels, eines belebten Boulevards, einer schmalen Gasse …was weiß ich … eines Briefkastens. Arthur  Ich kann sie verstehen, wenn sie sagt, dass sie fortlaufen will, sobald sie es kann, dass sie der gelben Markierung auf dem Asphalt folgen wird, dass sie sich auf jeden Fall aufmachen wird und sei es gegen die Fahrtrichtung; Autos können ihr entgegenkommen, die Leute können hinschauen und denken, was sie wollen. Es spielt keine Rolle. 85


Isabel  Ihr seid euch ähnlich. Arthur  Du musst die Medikamente absetzen. Isabel  Ist es das, was du willst? Arthur  Ich habe Angst, dass sie sich umbringt. Isabel  Ach was, du bist Arzt und weißt genau … Die Selektiven SerotoninWiederaufnahmehemmer halten die Serotonintransporter unter Kontrolle. Arthur  Du musst in Behandlung. Isabel  Es ist alles unter Kontrolle: Serotonin und Noradrenalin. Motivation, Energie, Aufmerksamkeit, Impulse, Appetit, Libido, Stimmung, kognitive Funktionen. Du kennst die Wirkung. Arthur  Junge Menschen könnten sich umbringen, wenn sich die Chemie in ihrem Gehirn verändert. Isabel  Ihre Chemie hat sich nicht verändert, es ist alles unter Kontrolle. Ich schütze sie vor allem. Wer wünscht sich nicht ein Gehirn, das wie ein Planet im Umlauf funktioniert? Schau dich doch an mit deinen Beruhigungspillen, schau doch dein Bein an. Denkst du nie daran, wenn du dich ins Bett legst? Arthur  Seit wann nimmt sie diese Medikamente? Isabel  Du kannst nicht einfach so daherkommen und uns vorschreiben, was wir zu tun haben. Arthur  Isabel, du magst dich viel damit beschäftigt haben, aber ich weiß … diese Arzneimittel … wir alle wissen das, sind hoch differenziert und haben eine starke Wirksamkeit, aber du weißt nicht, wie man sie anwendet … Es gibt Fälle von Jugendlichen mit einer Depression, die sich nach Beginn der Behandlung umbringen, fast so, als würden die Medikamente ihnen die Kraft geben, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Isabel  Sie gehört nicht zu den Ausnahmefällen in deiner Statistik. Sie wird sich nicht umbringen. Arthur  Was willst du von mir? Sag mir, was willst du, das ich tun soll? Isabel  Ich möchte, dass du bleibst.

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2. Szene

Einige Tage sind vergangen. Denise sitzt auf dem Boden in einer Ecke des Esszimmers. Isabel und Arthur sitzen am Tisch.

Denise  Du hast also nach diesem einen Anruf beschlossen, einfach vorbeizukommen? Hört sich ganz leicht an. Arthur  Ja, die Zeit vergeht und … (Pause) Kannst du dich erinnern? Denise  Ja, ich erinnere mich. Arthur  Neulich konntest du dich an gar nichts erinnern. Denise  Du kannst sie behalten. Arthur  Sie behalten? Denise  Na die dreckigen Strümpfe, den Knäuel. Arthur  Nicht nötig. Denise  Könntest du mir jetzt eine Coca-Cola besorgen? Arthur  Warum benutzt du so viel Make-up? Denise  Findest du, dass du mich das fragen kannst? Arthur  Ja, finde ich schon. Deine Augen zum Beispiel … Denise  Was ist mit meinen Augen? Arthur  Ich war mir sicher, dass sie blau sind, und ich habe mir gedacht, so blaue Augen habe ich noch nie gesehen. Denise  Du sagst dauernd solche Sachen, weil wir uns über nichts unterhalten können. Arthur  Heute sind sie grün, neulich waren sie schwarz. Wenn ich eine Wette eingehen müsste, würde ich sagen, sie sind schwarz, richtig schwarz. Denise  Du weißt gar nichts über mich. Arthur  Weißt du, dass es viel seltener vorkommt, richtig schwarze Augen zu haben als blaue oder grüne? Denise  Genstatistik? Arthur  Nein. Denise  Habe ich vergessen, du bist ja Arzt. Dürfte ich um einen Gefallen bitten? Isabel erhebt sich. Denise  Du nicht, er. Arthur  Was denn? 87


Denise  Legst du mir ein Musikstück auf, das ich besonders gern mag? Arthur  Ich kenne deine Musik nicht, ich meine, welche Stücke du magst. Denise  Ja, weiß ich. Deshalb habe ich dich darum gebeten. Arthur  Versteh ich nicht. Denise  Das wollte ich von dir hören. Dass du nichts über mich weißt. Isabel  Ich kann es ihm sagen. Denise  Na klar. Jetzt, wo du beschlossen hast, nicht mehr fies zu sein, erzähl ihm nur von mir. (Pause, zu Arthur) Was gibt‘s noch über mich, das du nicht weiß? Arthur  Hast du meine Briefe gelesen? Isabel  Ich erzähle ihm alles. Ich mache eine Liste und fertig. Würde dir das gefallen? Denise  Was meinst du, könntest du über mich erzählen? Was für eine hervorragende Krankenschwester du bist? (zu Arthur) Weißt du, ich habe sie immer verachtet, diese Schwestern in ihren hellen Uniformen. (zu Isabel) Du machst dir schon in die Hose allein bei dem Gedanken, dass ich es eines Tages schaffen könnte, von hier wegzulaufen, stimmt‘s? Gestern war ich nicht mal in der Lage aufzustehen, da konntest du so Dinge tun wie mir ins Gesicht spucken oder flüssiges Möbelwachs in mein Getränk schütten. Arthur  Putzmittel. Hast du schon mal erwähnt. Denise  Sind Putzmittel schlimmer als flüssiges Wachs? Arthur  Weiß ich nicht. Denise  Dinge wie anspucken oder Klowasser ins Getränk tun (zu Arthur) Wusstest du eigentlich? Arthur  Was denn? Denise  (herausfordernd) Klowasser riecht nach Wichse. Arthur  Sag nicht solche Sachen. Denise  (provozierend) Wenn dir ein Typ ins Gesicht spritzt und dich zwingt, das Zeug zu schlucken, weil die Typen das einfach großartig finden, egal, wie alt sie sind, Greise, Junge, Mittelalte, einige Grapscher. Isabel  (zu Arthur) Manchmal redet sie so daher. Arthur  (zu Denise) Du weißt nicht, was du da sagst. Denise  (testet ihre Grenzen) Und glaubst du etwa, dass sich diese Typen irgendwelche Gedanken darüber machen, dass du den Geruch nicht erträgst? Sie lassen das Scheißzeug raus, sie wollen dich beherrschen, du kniest vor ihnen, während sie dich mit Gewalt an den Haaren zer88


ren. (Pause) Daher bevorzugen sie Mädchen mit langen Haaren, sie lieben es, wenn Mädchen mit langen Haaren ihre Wichse mit dem Geruch von Klowasser herunterschlucken. Arthur  Es reicht. Isabel  (zu Arthur) Manchmal sagt sie solche Sachen, aber ich glaube, sie erfindet das alles. (will das Thema wechseln) Lasst uns ein Geburtstagslied für Denise singen, ja? (fängt an, alleine zu singen, verlegen) „Happy birthday to you …“ Denise  (schreit über Isabels Stimme hinweg, die weitersingt) Das sind Dinge, über die Biologielehrer nicht sprechen: die chemische Zusammensetzung von Wichse im Vergleich zur chemischen Zusammensetzung von Klowasser. Ich kann mich noch erinnern, in der Schule, als unsere Biologielehrerin, sie war immer heiser, hatte keine Augenbrauen mehr und zeichnete sie mit einem Kajalstift nach, künstliche Augenbrauen, verstehst du? Sie hatte also diese Augenbrauen und eines Tages sprach sie über die Fortpflanzung der Insekten und sagte: „Man soll die Bananenenden nicht essen, weil die Fliegen ihre Eier dort ablegen und deshalb sind die Enden schwarz.“ Biologielehrer sind verkommene, nichtsnutzige Terroristen. Arthur  Jetzt weiß ich etwas über dich. Denise  Du kommst hier einfach reingeschneit, setzt dich auf diesen unbequemen Stuhl, schaust dich mit bedeutungsvollen Blicken um, stellst Fragen … Schämst du dich nicht? Isabel kommt zurück mit einem Glas Cola, bückt sich, hebt den Kopf der auf dem Boden sitzenden Denise hoch und flößt ihr das Getränk ein, wobei sie es teils auf Denises Kleid verschüttet. Denise  Coca-Cola? Isabel  Es ist dein Geburtstag. Arthur  (versucht, das Thema zu wechseln) Was ist heute für ein Tag? Als ich hierherkam, war es kurz vor deinem Geburtstag, seitdem sind mehrere Tage vergangen. Habt ihr keinen Kalender? Wir könnten feiern, in die Hände klatschen und so. Denise  Schämst du dich nicht? Arthur  (zum ersten Mal aggressiv) Wo liegt das Problem, Mädchen? Die Menschen mögen für gewöhnlich ihren Geburtstag, normalerweise vergessen sie alles an diesem Tag. (Pause) Ich dachte, du gehörst auch zu denen. 89


Denise  Ich gehöre nicht zu der Sorte, wie du es gerne hättest. Ehrlich gesagt, feiere ich nie meinen Geburtstag, folglich vergeudest du deine Zeit mit mir. Arthur erhebt sich und legt Musik auf. Geht auf Denise zu. Arthur  Warum gibst du mir nicht die Hand und versuchst aufzustehen? Denise  (willigt plötzlich ein) Soll ich? Arthur  (hilft ihr hoch) Los geht‘s. Sie steht mühsam auf, er hält sie, bis sie es geschafft hat, sich auf einen Stuhl zu setzen. Die drei bleiben eine Weile schweigend zusammen sitzen, die Musik spielt. Die Musik hört auf. Denise  Das war nicht meine Lieblingsmusik. (Pause) Was für ein Augenblick, spürt ihr das? (Niemand antwortet ihr. Sanft.) Man könnte meinen, wir wären immer glücklich gewesen. (Schweigen) Eine einzige Minute genügt und … versteht ihr, was ich meine? Wir scheinen glücklich zu sein, verdammt glücklich. (Schweigen) Warum tun wir nicht so, als wären wir eine Familie? Ist nicht so wichtig, ob das, war wir sagen, wahr ist. (Schweigen) Wir könnten ein Foto machen und in einen Holzrahmen stellen. Die drei schweigen wieder. Denise  (zu Arthur) Kannst du dich erinnern, als ich einmal ganz früher im Bad hingefallen bin? Ich kann mich gut daran erinnern. Ich möchte gerne nur eins wissen: (Pause) Hast du Schwierigkeiten mit dem Hören? Arthur antwortet nicht. Denise  Wenn du dich entschließt zu sprechen, wenn du den Mund weit aufmachst, um was zu sagen, klingt es da vielleicht kraftlos? Du wirkst geschwächt und legst die Arme auf meine Schultern. Isabel  Musst du Pipi machen? Denise  Ja. Arthur  Warum versuchst du es nicht alleine? Du kannst schon sitzen, du kannst dich schon auf den Beinen halten und gehen. Isabel geht ins Bad, holt eine Urinflasche und eine Schüssel mit einen Waschlappen, kommt zurück ins Wohnzimmer. Denise, auf dem Stuhl sitzend, macht in die Urinflasche, dann wird sie von Isabel entkleidet und mit dem Waschlappen abgerieben, wie man es mit Schwerkranken im Krankenhaus zu tun pflegt. Während dieser Aktion unterhalten sie sich. Isabel  (zu Arthur) Was möchtest du noch wissen? Ich habe dir viel zu erzählen. Denise, zum Beispiel, Denise war immer besessen von älteren 90


Herren, von Packungsbeilagen und der chemischen Zusammensetzung von Produkten. Und sie erfindet gerne Geschichten. Alle drei schweigen eine Weile. Arthur  (zu Denise) Du bist für mich der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm. Pause. Denise  (zu Arthur) Du auch. Arthur  (zu Isabel) Du auch. Langes Schweigen. Denise  Sieht so aus, als wären wir jetzt eine Familie. Arthur  Ja. Sieht so aus. Pause. Denise  Begleitest du mich ins Bad? Arthur hilft Denise aus dem Stuhl, sie gehen gemeinsam ins Bad. Denise schminkt sich übertrieben und setzt blaue Kontaktlinsen ein. Arthur  (schaut zu, wie sich Denise schminkt) Weißt du, das alles hier, all diese Zeit … ich hatte nichts, ich meine … das war alles, was ich hatte. Denise antwortet nicht. Pause. Denise  (trocken) Ich glaube, ich kann mich schon an der Wand entlanghangeln. Lass nur. Sie geht in Richtung Zimmer. Arthur folgt ihr mit Blicken, geht dann ins Wohnzimmer zurück. Arthur  (zu Isabel) Es ist dir doch klar, oder? Isabel  Ja. Arthur  Sie geht. Isabel  Sie wird die Straße entlanglaufen. Wer weiß, wozu es gut ist. Arthur  Ich geh dann. Denise  (schreit vom Zimmer aus) Wisst Ihr was? Am liebsten beobachte ich Leute durch den Fensterspalt. Pause. Arthur  Unmöglich ist das. All das hier … unmöglich. Denise  (vom Zimmer aus) Mehr brauchst du nicht über mich wissen. Denise holt einen Koffer unterm Bett hervor und legt mit großer Mühe den Radiowecker hinein. Arthur und Isabel sind noch im Wohnzimmer und sitzen sich gegenüber. Arthur  (hält das Whiskeyglas hoch, zu Isabel) Bekomme ich noch was? Isabel  Natürlich. Entschuldige. 91


Sie steht auf, nimmt das Glas, um nachzuschenken. Arthur  Du musst dich nicht dauernd entschuldigen. Isabel  Nein … nein, das wollte ich gar nicht sagen. Arthur  Du entschuldigst dich schon wieder. Sie lässt das Glas fallen, es zerschlägt am Boden. Sie scheint es kaum zu bemerken, hebt die Scherben nicht auf, holt ein neues Glas und reicht es Arthur, als sei nichts gewesen. Isabel  Da, bitte. Arthur  Hast du einen Putzlappen? Isabel  Dein Drink. Er schaut sie fragend an. Isabel  Was willst du? Arthur  Einen Lappen. Für den Boden. Isabel  Was ist los mit dir? Du bist nie zufrieden, schaust mich dauernd an, stellst immerfort Fragen. Arthur  Tut mir leid. Isabel  Es ist unangenehm, weißt du. Er antwortet nicht. Isabel  Wenn ihr beide mich so anschaut. Isabel gießt sich selbst ein und trinkt das ganze Glas in einem Zug aus. Dann setzt sie sich an den Esstisch. Beide schweigen. Pause. Denise kommt aus dem Zimmer, sehr geschminkt, zieht mühsam den Koffer hinter sich her. Sie stützt sich an den Wänden ab, schafft es stehenzubleiben, immer stützt sie sich irgendwo ab, z. B. am Stuhl. Denise  (zu Arthur) Gehst du schon? Arthur  Ja. Denise  Kannst du nicht noch etwas bleiben? Arthur  Nein. Denise  Ich würde mich freuen, wenn du noch etwas bleiben würdest. Arthur  Ich … (wird von Denise unterbrochen) Denise  Gleichzeitig möchte ich es nicht. Komisch, was? Arthur  Fühlst du dich jetzt gut? Denise  Wie du siehst, ich kann schon fast laufen. Arthur  Deine Augen … Warum nimmst du nicht die Kontaktlinsen raus? Denise  Hör zu … Da ist ein Schneeball wie in diesen Zeichentrickfilmen, die sie im Fernsehen zeigen, ein Schneeball, der dich von hinten überrollen wird.

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Arthur  Irgendein Tipp? (trinkt den letzten Schluck Whiskey) Wohin flüchten, sich verkriechen? Denise  (schadenfroh) Nein, „Dr. Arthur“. Ich wette, so nennen sie dich, wenn sie bei Morgengrauen anrufen. Nicht einmal die Psychopharmaka helfen. Pause. Sie fixieren sich. Arthur  (zu Isabel) All diese Tage … Ich habe mir immer wieder überlegt: Wir wissen nie, was wir uns gegenseitig sagen sollen. Entschuldige bitte. Die Zeit vergeht, aber so manches … du weißt … du weißt, wie das läuft. Die drei schauen sich eine Weile an. Arthur nimmt aus seiner Jackentasche ein zerknülltes Papier und reicht es Denise. Arthur steht auf und geht. Die beiden Frauen sehen ihm nach. Schweigen. Denise  Es ist dir klar, dass ich jetzt gehe, oder? Isabel antwortet nicht. Scheint in Gedanken versunken. Denise  Du weißt, dass ich im Begriff bin zu gehen und du alleine bleibst, ohne jemals rausgehen zu können, und ich werde dich nie anrufen, weil du sowieso nie ans Telefon gehst, und du wirst alt werden, von der Leiter stürzen, wenn du gerade eine Glühbirne wechselst, und du wirst an dem austretenden Blut irgendeiner geplatzten Ader ersticken und niemand wird davon erfahren, bis der Gestank deiner Leiche zum Nachbarn dringt und er den Notdienst benachrichtigt. Isabel antwortet nicht. Denise  Du verstehst doch, was ich sage, oder? (Schweigen) Hörst du mich? Pause. Isabel  (so als fiele es ihr plötzlich ein) Habe ich dir schon gesagt? Es ist dein Geburtstag. Isabel fängt zu singen an: „Happy Birthday …“ Denise  (gibt plötzlich auf) Es kommt mir auf einmal so lange vor. Isabel singt weiter. Denise  Er hat auch einen Brief geschickt. Denise glättet das zerknüllte Papier und liest leise vor sich hin. Wir können nicht verstehen, was sie sagt. Isabel hört auf zu singen. Denise lässt den Koffer mitten im Wohnzimmer stehen und geht – mit weniger Schwierigkeiten – in die Küche, nimmt ein Glas Wasser, holt dann eine Tablette aus dem Medizinschrank im Wohnzimmer. Reicht Isabel die Tablette, die sie ohne Widerstand einnimmt. Denise setzt sich auf einen Stuhl gegenüber 93


von Isabel. Die beiden schauen sich an.

Isabel  Wie ist die? Denise  Sie ist gut. Isabel  Wie gut? Wie gut ist sie? Denise  Du machst die Augen zu. Verlierst die Kontrolle. Es ist wie ein blauer, wolkenloser Himmel. Du lässt dich komplett fallen. Isabel  Klingt gut. Klingt hervorragend. Denise  (während sie spricht, könnte ihre Stimme überlagert werden von derselben Rede als Tonbandaufnahme mit ihrer Stimme) Du verlierst diese Angst, wie sie Tiere haben, wenn sie sich unterm Sofa oder Treppenhaus verkriechen. Du fühlst dich mutig und kletterst über Mauern, sagst Adieu, schlägst die Tür zu, der dumpfe Knall macht dir nichts aus. Du überquerst die Straßen, schaust nicht nach links und rechts, gehst auf der Bordsteinkante, schaust nicht auf den Boden. Du gehst bis ans Ende, biegst immer nach links ab, zahlst, was sie verlangen. (Pause) So wird das ab jetzt immer sein.

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Pedro Brício

FAST VERLORENE LIEBESMÜH

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Isabella Parkinson

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Personen Schauspieler 1 Marcos Schauspieler 2 João Schauspielerin 1 Mariana, Victoria Schaupielerin 2 Branca / Simone / Ludmila / TV-Moderatorin / Olivia

Anmerkung: Im Stück wird ein Spiel gespielt, bei dem die Schauspieler gleichzeitig die Personen und die Erzähler der Geschichte verkörpern. Sie interpretieren beispielsweise andere Figuren, indem sie die Rollen tauschen oder sich gegenseitig die Rollen wegnehmen.

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Erster Akt Die vier Schauspieler sitzen auf nebeneinander aufgereihten Stühlen. Alle schauen in Richtung Zuschauerraum. Die Bühne ist fast leer, bis auf eine Tischlampe auf dem Boden und einen geschlossenen Pappkarton, leicht angeleuchtet, an einer Ecke der Vorderbühne. Die Stimmung ist ausgelassen, wie bei einer szenischen Lesung.

1.

Branca  Erster Akt. João, Marcos, Mariana und Branca sind auf der Bühne. Branca, etwas abseits, legt Musik auf. Marcos  (zum Publikum) Ich werde anfangen, ich werde dir sagen, was ich fühle, ich werde dir sagen, dass ich ohne dich nicht leben kann, ich werde dir sagen, dass mein Leben nur Sinn macht, wenn du bei mir bist, ich werde dir sagen, dass ich dich liebe. Ich liebe dich. Ich werde nicht originell sein, ich werde nicht zurückhaltend sein, sondern total emotional. Ich will an deinen Lippen sterben. Das ist das Gegenteil von dem, wozu man mir geraten hat. Fang langsam an, bleib zart, zweideutig, charmant, schrei nicht, bleib cool, sei ein Mann deiner Zeit. Erzähl die Geschichte. Und sprich nicht in der ersten Person. Das beunruhigt, wie du weißt. Das Ich. Und du solltest nie, wirklich nie … Branca  Marcos bekommt einen epileptischen Anfall, fällt auf den Boden. João  (zu Mariana) Hat er dir gesagt, dass er das machen würde? Mariana schüttelt den Kopf. Branca  Marcos steht wieder auf. Marcos  (zu Mariana) Nein, nein, es geht mir gut, mir ist nur ein bisschen schwindlig … Ich freue mich, dich zu sehen, komm rein. Habe ich Blut auf der Stirn? Ach, ich bin mit dem Kopf gegen den Kühlschrank gestoßen, als ich die Weinflasche aufgemacht habe, das passiert mir ständig … Jetzt gibt es überall Weinflecken, sogar an den Wänden. Hast du die Küchendecke gesehen? Sie ist voller … roter Wolken … Mariana  Erzähl die Geschichte. 99


Marcos  Seit Jahren ist unsere Freundschaft wie ein Gefängnis für mich. Jede Geste war immer mit Schmerz verbunden. Ich bereue es, mit dir Schluss gemacht zu haben. Ich bereue es, dich deiner … neuen Liebe vorgestellt zu haben. Aber jetzt, da ihr nicht mehr zusammen seid … (deutet auf João) Mariana  Diese Szene gibt es nicht. João  Lass ihn doch auch mal machen, was er will. (zu Mariana) Antworte doch … Marcos  Vielleicht könnte diese Szene im zweiten Akt vorkommen, nach der Trennung. João  Wo bist du? Marcos  Bei mir zuhause. Ich habe zu viel Wein getrunken. Ich bin außer Atem. Ihr habt euch gerade getrennt. (deutet auf Mariana) Sie ist reingekommen, ich habe die Tür zugesperrt und mich zur Wand gedreht. João  Dann kann ich nicht dabei sein. Ich bin nicht hier. Ich bin deprimiert, ich irre umher, nachts. Marcos  Ich schaue dir in die Augen: „Ich will, dass du mich wieder liebst.“ Mariana  Wenn das möglich wäre … das Leben ist nicht so einfach, und ich … MARIANA und Marcos  … ich glaube nicht an die Liebe … ich muss jetzt los. Mach mir die Tür auf. Marcos  Das geht nicht. Ich habe den Schlüssel geschluckt. Mariana  Was? Marcos  Ich habe den Türschlüssel geschluckt. Pause. Mariana  Und wie komme ich jetzt raus? Marcos  Du bleibst hier … du bleibst hier, bis du mich wieder liebst. Branca  Musik. Bewegung. Marcos verteilt Karteikarten.

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2.

Marcos verteilt Karteikarten unter den Schauspielern.

Marcos  (zum Publikum) Ich bin der Erzähler in diesem Stück, in diesem kleinen Stück über die Liebe. Über Liebesmühe. Verlorene Liebesmühe. Diese letzte Szene wird eigentlich im Stück nicht vorkommen, weil meine Figur sich nicht trauen wird, ihr das zu sagen. Weder im ersten noch im zweiten Akt. Auch nicht später, im zweiten Teil der Geschichte, den wir nicht mehr sehen werden, den wir uns vorstellen müssen, nach dem Ende … weil Geschichten … sie gehen doch weiter, oder? João  (liest aus einer Karteikarte) Schauspieler, Dreitagebart, romantisch, Rimbaud, fast gutaussehend, riesige Schulden bei der Bank, talentiert, unsicher, einfühlsam, will ein Kind haben, wird viel Leid ertragen müssen … Marcos  Nicht sagen können, was man wirklich fühlt … João  Du hast seine familiären Probleme vergessen. Ernste familiäre Probleme … Branca  Todas las personas tienen graves problemas con la familia.1 Marcos  Was anderes sagen als das, was man wirklich fühlt … João  Mein Vater hat mich geschlagen. Jeden Abend, beim Abendessen, bevor er mir das Kartoffelpüree gereicht hat. Branca  (zu João) Enserio, chico? (zum Publikum) Mariana zerknüllt ihre Karteikarte. Mariana  So siehst du mich? Marcos  Ja. João  (zu Branca) Nein … aber so habe ich mich gefühlt … er war immer irgendwie gewaltbereit … Du bist so schön. Marcos  Nur fühlen … Branca  Mariana macht Notizen auf ihrer Karteikarte. Marcos  (zu Mariana) Was machst du? Branca  (liest von einer ihrer Karteikarten ab) „Simone. Soziologin. Süchtig nach Sex und Foucault. 26 Jahre alt. Brillenträgerin. Fleischesserin. Zwei Monate.“ Marcos  Auch wenn ich der Erzähler bin, werde ich nicht alles sagen können, was gesagt werden sollte. Über das, was geschehen ist, schon, aber 1) Alle Menschen haben Probleme mit ihrer Familie.

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nicht, wie jeder es aufgenommen hat … die empfindsame epische Reise jeder Figur. Es ist so wie in der Odyssee: Wer ist weiter gereist, Odysseus auf dem Meer segelnd oder Penelope zuhause wartend? Wenn wir über das Geschehene nachdenken, würde ich sogar … Mariana  Erzähl, was geschehen ist. João  Das wollen die Leute wissen. Branca  (liest aus einer Karteikarte vor) „Ludmila: Journalistin. Modejournalistin. 25 Jahre alt. Kann gut tanzen, wird irgendwann gut ficken können – solange sie keinen Vollidioten heiratet – liebt Thaiküche, will immer getrennt zahlen, will heiraten. Achtung … Olivia: Schildkrötentattoo auf dem Rücken. Aus Mallorca. Wohnt in Toledo. Macht Tortillas. Mag Actionfilme. Ich werde nie mit ihr schlafen. Das macht mich irgendwie nostalgisch … aggressiv.“ (zu Marcos) Dein Blick auf sie ist so beschränkt. Ich werde sie nicht so spielen. Und du hast noch nicht gesagt, wie die anderen Figuren heißen. (zeigt auf João und Mariana) Marcos  Ich wollte sie namenlos lassen. Mariana  Warum? Marcos  Ich weiß nicht, ich wollte, dass sie namenlos bleiben. Mariana  Findest du das originell? Marcos  Es könnte so sein: (deutet auf Mariana) X, (deutet auf sich selber) Y, (deutet auf João) Y2, (deutet auf Branca) Z. Wie eine mathematische Gleichung. Oder Sie, Er, Der, Die. João  Warum soll ich Y2 sein? Du bist doch Y2. Marcos  Die Geliebte, der Verliebte, der Freund, die Andere. Branca  Ich bin altmodisch. Ich liebe Namen. Mariana  (als würde sie eine Szene spielen) „João?“ João  „Hallo, Mariana.“ Mariana  „Willst du mit mir ins Kino gehen?“ João  „Was läuft denn?“ Mariana  „Jules und Jim.“ João  „Wir haben diesen Film schon 23 Mal gesehen.“ Mariana  „Auf DVD. Im Kino waren es nur 18 Mal. Ich liebe Jules und Jim!“ João  „Ich könnte Marcos auch einladen.“ Mariana  „Klar, ohne Marcos geht bei mir nichts!“ Marcos  Ich will über den Zusammenhang zwischen Liebe und Zufall sprechen. Die chaotische Mathematik der Liebe. Begegnungen als ir102


rationale mathematische Gleichungen. Mariana  Verliere nicht den Fokus. Jetzt wird es verwirrend. Die Geschichte ist ganz einfach … kein romantisches Onanieren. Kein Voyeurismus. Also, nicht nur. Die Menschen wollen an der Geschichte teilnehmen. Irgendwie. Achte auf die Menschen … es ist ganz einfach. Du musst nichts dazuerfinden … Der normale Alltag. Das wahre Leben. Mariana gibt Marcos ihre Karteikarte. Marcos  (liest aus der Karteikarte mit Marianas Notizen) „Mariana. 26 Jahre alt. Ich stehe neben Marcos, der mein erster Freund ist, an einer Bushaltestelle, Ende 2009. Er ist der Erzähler dieser Geschichte.“ Branca  Stimmungswechsel. Marcos hat eine Flasche Champagner dabei und Mariana ein Panettone. Sie warten auf den Bus.

3.

Mariana und Marcos gehen zu einem Lichtfokus auf der Vorderbühne, der für die „Bushaltestelle“ steht. João und Branca bleiben sitzen. Mariana spielt jetzt die Rolle von Marcos. Sie provoziert ihn damit.

Mariana  Mein Auto ist kaputt. Ich habe gerade erst einen Beetle Baujahr 2010 gekauft, und er ist schon kaputt. Vorher hatte ich einen Käfer Baujahr ’69, metallic-blau, original Lenkrad, hat mich nie im Stich gelassen. Ich habe ihn für 3.500 Reais verkauft. Ich wette, er kommt noch den Mount Everest hoch. Der neue hat mich 43.000 Reais gekostet … Scheiß Technologie. Es wird immer nur alles schlechter. (schaut zu Marcos) Die Frau neben mir ist Mariana. Sie ist genervt, sie fährt nicht gerne mit dem Bus. Was soll ich machen? Man kriegt kein Taxi am Heiligabend … Ich hätte ihr gerne meinen Beetle gezeigt. (Marcos kaut an seinen Fingernägeln.) Wenn sie genervt ist, kaut sie an ihren Fingernägeln. Sonst gibt sie sich ja große Mühe, älter und reifer zu wirken, was ihr meistens auch gelingt. Aber diese Fingernägel verraten sie. Sie sieht dann aus wie eine Fünfjährige, die sich zum ersten Mal die Nägel rot lackiert hat, sich unsicher ist und alles weggeknabbert hat. Ich finde es ziemlich … charmant. (Sie warten auf den Bus.) Übrigens, ich 103


heiße Marcos … (zu Marcos) Hast du was gesagt? Marcos  Ich? João  (zu Branca) Die Soße ist fast fertig! Mariana  Geht‘s dir gut? Du hast doch keine schlechte Laune, oder? Marcos übernimmt jetzt die Rolle von Mariana. Er macht sie nach. Marcos  Mir geht‘s blendend, blendend. Frohes neues Jahr. Mariana  Es ist erst Heiligabend, Mariana. Marcos  Ach ja, genau. Tut mir leid, mein Gedächtnis, ich habe zu viel getrunken … Ich bringe alles durcheinander. Ich war schon immer so. Schon als kleines Mädchen. João und Branca sitzen weiterhin auf ihren Stühlen und spielen eine Parallelszene, als wären sie in „Joãos Wohnung“. Branca spielt jetzt Simone, Marcos’ aktuelle Freundin. Branca  Branca spielt jetzt Simone, Marcos’ aktuelle Freundin. Sie trägt eine Brille, spricht mit João und tut so, als würde sie ein eingerahmtes Foto anschauen … Branca / Simone  (zu João) Deine Freundin ist echt schön. João  Das ist meine Mutter. Branca / Simone  Sie ist sexy … sie sieht dir ähnlich. João  Früher habe ich mich für dieses Foto von ihr geschämt, im Bikini, am Strand. Eine Mutter muss nicht unbedingt sexy sein … Aber sie hat es eingerahmt, es dorthin gestellt, und jetzt gefällt es mir sogar … Das war im letzten Sommer. Jetzt ist sie in eine andere Stadt gezogen. Mariana und Marcos stehen immer noch an der „Bushaltestelle“. Sie machen einander nicht mehr nach. Mariana  (zum Publikum) Seit zwei Jahren verbringen wir Heiligabend zu dritt. João  Sie war erst 16, als ich geboren wurde … Magst du Tomatensoße? Branca / Simone  Ja. Mariana  Ich meine, wir treffen uns erst, nachdem jeder bei seiner Familie war. Es könnte aber genauso gut Silvester, Karneval, Wochenende oder irgendein normaler Wochentag sein … Branca / Simone  … Es ist heiß hier drinnen. Mariana  Wir sehnen uns nach besonderen Tagen, oder? Marcos  Der Bus kommt einfach nicht. João  Die Klimaanlage ist kaputt. Mariana  Was für eine Erleichterung, Weihnachten mit Freunden zu be104


schließen, nach all den falschen Geschenken, den nahen Verwandten, von denen man noch nie etwas gehört hat, der unvermeidlichen Weihnachtsgans, na ja, ihr wisst, was ich meine. João  Siehst du den Typ, der auf der gelben Plane sitzt, mit der dunklen Sonnenbrille? Sieht aus wie Mick Jagger, oder? Branca / Simone  Ich glaube, das ist tatsächlich Mick Jagger. João  Er sieht ihm doch ähnlich, oder? Branca / Simone  (lacht) Er ist es doch nicht, aber es stimmt schon … Mariana  Erst in ein paar Jahren, wenn ich über diese Zeit nachdenke, wenn das, was wir gerade erleben, zur Nostalgie wird, wird es mir klar werden: Ja, wir drei waren eine Familie. Es geht also in dieser Geschichte auch um das Ende einer Familie … und den Anfang einer neuen … die blutsverwandt ist. Im Hintergrund hört man Jazz. Branca / Simone  (zum Publikum) Szenenwechsel. Mariana will abgehen, aber João hält sie fest und küsst sie. Marcos gibt João die Champagnerflasche. Eventuell sitzen sie schon am Tisch und unterhalten sich …

4.

Sie sitzen wieder wie am Anfang des Stückes. Sie sind in „ Joãos Wohnung“, trinken Wein und rauchen. Es ist Heiligabend. In dieser Szene können die Schauspieler freier mit den Stühlen umgehen. Sie können auch mal aufstehen, die Stühle näherrücken, etc.

Marcos  … bis auf die Frau. Sie hat sich nicht getraut, eine Nachricht zu hinterlassen. Sie haben zwei Tage lang nicht miteinander gesprochen … Branca / Simone  (nach drei Gläsern Wein, zu Mariana) Hast du eine Zigarette? Mariana  Ja. Marcos  Am dritten Tag hat sie eine ganze Flasche Wein allein ausgetrunken. Sie hat sich einsam gefühlt und ihren Ex-Mann angerufen … Branca / Simone  Ich mag deine Sandalen. Marcos  … der gerade mit seiner Freundin Schluss gemacht hatte. Sie 105


haben eine ganze Stunde miteinander telefoniert, sich gleich verabredet, zusammen gesoffen und noch in derselben Nacht miteinander geschlafen, in einem Hotel. Branca / Simone  (zum Publikum) João steckt den Kopf in einen Wassereimer. Marcos  Morgens wollten sie in der Bäckerei frühstücken. Ratet mal, wen sie da getroffen haben? Den anderen Typ, in den die Frau ein bisschen verknallt war. Er hat einen Milchkaffee getrunken und ein Butterbrot gegessen, auf dem Weg zur Arbeit. Er hat sonst nie in der Bäckerei gefrühstückt, er hatte immer Toastbrot zu Hause, aber es war verschimmelt, was er erst um sechs Uhr morgens bemerkt hat. Mariana  Leg mal Musik auf, João. Branca / Simone  Ja, lass uns tanzen! Marcos  Ich erzähle euch gerade eine Geschichte. Branca / Simone  Tut mir leid … Und wie ging es weiter? Marcos  Der Ex-Mann blieb total cool. Er hat sofort verstanden, was los war, und hat die beiden allein gelassen. Die Frau hat dem Typ erklärt, dass das Treffen mit ihrem Ex-Mann zwar nicht geplant war, aber nach der letzten Nacht müssten sie sich aussprechen. Der Typ war am Boden zerstört, hat aber gesagt, dass er sie versteht, klar, und ist gegangen. Und die Frau hat sich mit dem Ex-Mann versöhnt … Branca  Ist das etwa ein Happy End? João  (zu Mariana) Bist du schon mal im Meer ganz tief getaucht? Es ist da so dunkel, dass man nichts sehen kann … Mariana  Leg mal Musik auf … João  Lass uns ein Kind machen. Mariana  (lacht) Nach dem Abendessen … Branca / Simone  (presst Marcos Bein) Erzähl weiter. João  Kennt ihr diesen Tiefsee-Anglerfisch, der eine Lampe auf dem Kopf hat? João macht einen Tiefsee-Anglerfisch nach. Mariana lacht. Marcos  Ich gebe es auf. João  Tut mir leid, erzähl weiter. Branca / Simone  (presst Marcos Bein) Erzähl die Geschichte weiter … Marcos  Sie ist eigentlich nichts Besonderes … jetzt sind die Erwartungen zu hoch … Was müsste ich tun, um die Spannung zu halten? Das Paar umbringen? 106


Alle schauen zu Marcos.

Marcos  Na ja, die Frau macht mit dem Typ Schluss und versöhnt sich mit ihrem Ex-Mann. Aber einen Monat später trennen sie sich wieder. Klar, zwischen ihnen lief nichts mehr. Es war nur ein Nachklang der Geschichte zwischen ihnen. Wie wenn man vergisst, eine Platte vom Plattenspieler zu nehmen. Man denkt, die Musik geht weiter, aber da ist nichts mehr, nur dieses Geräusch … (macht das Geräusch nach) Na ja, sie ruft den Typ an, den anderen, von der Buchhandlung. Sie verabreden sich in einem Café, reden miteinander, aber sie traut sich nicht, ihr Herz zu öffnen, ihm zu sagen, was sie wirklich fühlt, ihm das zu sagen, was er hören will. Als sie sich verabschieden, sagt er ihr, dass er sie nicht mehr sehen will … dass er nicht länger leiden will. Sie haben sich nie wieder gesehen … Ende der Geschichte. Pause. Sie denken nach. Branca schaut aus dem Fenster. Branca / Simone  Es schneit… Mariana lacht. Branca dreht sich zu Mariana und will sie küssen, merkt, dass sie die falsche Person küssen will, und dreht sich zu Marcos. João  Irgendwie kann man das Leiden nicht vermeiden. Marcos  Zufall und Angst sind miteinander verknüpft … Branca/Simone küsst Marcos auf den Mund. Mariana  In den griechischen Tragödien werden die Figuren bestraft, weil sie ihre Väter töten, ihre Kinder töten, mit ihren Müttern schlafen … Marcos macht eine Geste wie „Ja, und?“ Mariana  Willst du damit sagen, dass heutzutage das persönliche Glück ein ähnliches Verfallsdatum hat wie ein Toastbrot? Ein Toastbrot, ja? João  Weihnachten macht mich depressiv … Marcos  Ich finde, das Tragische in dieser Geschichte ist das Schweigen. Dass wir nicht sagen können, was wir wirklich fühlen. João  Ich werde melancholisch. Ich vermisse meine Großmutter. Branca / Simone  Ruf sie an. João  Sie ist tot. Branca / Simone  Meine auch. Marcos  Wenn der Typ sie vielleicht nicht mit dem Ex-Mann gesehen hätte, würde er sich nicht so verletzt fühlen … das Frühstück in der Bäckerei, das Bild vom wahren Glück … manchmal kann man so ein Bild nicht mehr loswerden …

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Mariana  Menschen lieben es, verletzt zu werden. Sie genießen den Schmerz … Branca / Simone  Wie Jesus … João  Bitte, lass Jesus da raus. Branca / Simone  Das Bild von Jesus am Kreuz, leidend, ist eine Art Orgasmus … Habt ihr schon diesen Gesichtsausdruck bemerkt, den Kopf zur Seite geneigt, Blutstropfen, die seine Brust runterlaufen … es ist so erotisch … ich rede vom Leid. Die Lust am Leiden. Und die Leute, wenn sie Jesus am Kreuz sehen, denken: „Das ist es, ich will mich auch aufopfern, ich will auch für mein Leid geliebt werden. Ich will die Menschheit dadurch retten!“ João  Bitte … Branca / Simone  Du willst nicht über Jesus sprechen? João schüttelt den Kopf. Branca / Simone  Ich auch nicht … Ich gehe in die Küche, und wenn ich zurückkomme, spielen wir eine andere Szene. Marcos  Es gibt Menschen, die sich verlieben, nur um leiden zu können. Mariana  Die meisten Menschen können sich nicht in die Lage eines anderen versetzen. Das ist das Problem. João  Welche Menschen? Mariana  Liebende. Branca / Simone  Liebende wollen doch nur ineinander rein. (zum Publikum) Simone geht. Branca/Simone bleibt sitzen. Marcos  Sie ist eine kapitalistische, nymphomane, perverse Soziologin … Mariana  (zu Branca, als wäre sie weit weg) Kann ich dich irgendwann mal filmen? Branca / Simone  Simone bleibt auf der Bühne, am Bühnenrand. Es ist aber so, als wenn sie nicht mehr da wäre. Marcos  Es ist unmöglich, sich in die Lage eines anderen zu versetzen. Man kann einfach nie wissen, was der andere wirklich fühlt. Mariana  Aber man kann es irgendwie ahnen … Marcos  Echt? Mariana  Das nennt man Einfühlungsvermögen. João  Glaubt ihr, dass sie Soziologin ist? Mariana  Wer? João  Die, die deine Freundin spielt. 108


Marcos  Sie ist meine Freundin. Sie hat schon fast das gesamte Werk von Foucault gelesen. João  Sie sieht aus wie ein Model, nicht wie eine Soziologin. Mariana  Findest du das auch? Branca / Simone  (als wäre sie in der Küche) Plus de champagne? Mariana  (zu João) Siehst du? Sie spricht Französisch. (laut) Sí. (korrigiert) Oui! Branca / Simone  „Welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut.“ Robert Musil. João  Als Soziologin überzeugt sie niemanden. Ich glaube, sie studiert Tourismus. (zu Branca, als wäre sie weit weg) Wann ist Foucault geboren? Mariana  Ich finde sie großartig. João  Du bist schon in sie verliebt. Branca / Simone  (zum Publikum) Simone kommt zurück. (zu den Schauspielern) Habt ihr über mich gesprochen? Marcos, Mariana, João  Ja. Alle lachen. Branca / Simone  Super. Wie spät ist es? Marcos  Halb zwei. Mariana  Zwanzig vor zwei. Branca / Simone  Meine Uhr zeigt fünf Uhr morgens … manchmal sollte man gleich zum Ende des Abends kommen, wo Sachen wirklich passieren … natürlich brauchen wir meistens noch eine Flasche Cognac, eine Flasche Wein, noch einen Champagner, eine Hand an deinem Bein, an deinem Hintern, Kichern in der Toilette, eine direkte Anmache, gefährlich, unwiderstehlich … (Sie befummelt die anderen Schauspieler.) Oh, ich spüre den Champagner. Ohh, jetzt spüre ich ihn. Meine Zunge breeeeennt … João  (zu Mariana) Ich will ein Kind von dir. Branca / Simone  Und wir haben über alles gesprochen: über Kino, Theater, Klimawandel, Beziehungen, bla bla bla. Ich wollte sie anmachen, aber sie wollte lieber über Liebe sprechen. Echt … ich bin fast gegangen … wenn ihr ernsthaft über Liebe sprechen wollt, dann gehe ich! Ich bin auf die Toilette gegangen, kam zurück und sie … Marcos  (zu Mariana) Du meinst also, dass es sich lohnt, mit jemandem zusammen zu sein, den man nicht liebt? 109


Mariana  Wie bitte? Marcos  Du meinst also, dass es sich lohnt, mit jemandem zusammen zu sein, den man nicht liebt? Mariana  Das habe ich so nicht gesagt … João  Doch. Branca / Simone  Natürlich lohnt es sich … ich liebe dich nicht und wir sind trotzdem zusammen … und es ist super. Pause. Branca / Simone  Du liebst mich auch nicht. Stille. Branca / Simone  Was ist denn? Das ist doch nichts Neues. Marcos  Nein, aber so wie du es sagst … na ja, wir kennen uns erst seit zwei Monaten … Branca / Simone  Man kann die Wahrheit nicht anders sagen. Wir lieben uns nicht, wir sind zusammen und es ist super … oder liebst du mich etwa? Pause. Mariana  Ich werde uns Bier von der Kneipe bestellen … João  Es ist Heiligabend. Branca / Simone  Wollen wir einen Partnertausch machen? Pause. Branca / Simone  (lacht) Das war ein Scherz, schaut mich nicht so an … Heute ist Heiligabend, wir feiern die Geburt von Jesus, ich würde so was nie vorschlagen. Ich bin überzeugte Atheistin … also … wollen wir einen Partnertausch machen? Mariana  Eigentlich keine schlechte Idee … João  Ich müsste lachen. Marcos  Alle müssten lachen. Branca / Simone  Ja, die ganze Welt müsste lachen … Wisst ihr was? Ich glaube, ich werde nie wieder so einen Abend mit euch verbringen … es ist mein letzter Abend mit euch. (zu Marcos) Wir werden doch nächste Woche Schluss machen, oder? Branca / Simone steht auf, geht zur Vorderbühne. Branca / Simone  Ich brauche einen besonderen Abschied … Was könntet ihr mir schenken, damit ich euch nie vergesse? Marcos geht zu ihr. Er küsst sie auf dem Mund. Er nimmt ihr die Brille ab. Marcos  Du heißt jetzt Ludmila. 110


5.

João singt für Mariana „Le Tourbillon de la vie“ aus dem Film „Jules und Jim“. Marcos und Branca holen vier Pappkartons von der Seitenbühne und stellen einen vor jeden Stuhl.

Mariana  Du singst immer besser … João  Ich habe in letzter Zeit viel geübt, in den Gossen … unter deinem Fenster … auf deinem Fenster, unter deinen Gossen. Mariana  Mein Kurzfilm wird bei den Filmfestspielen in Berlin laufen … Pause. João  Echt? Und das sagst du erst jetzt? Ist ja … toll. Mariana  Ich bin echt glücklich. João  Habt ihr das gehört? Ihr Film läuft bei den Filmfestspielen in … und wann? Mariana  In zwei Wochen. João  Du wirst dabei sein, oder? Haben sie dich eingeladen? Zahlen sie dir das Ticket? Du wirst dabei sein. Mariana  Sie zahlen das Hotel, und ich habe ein bisschen Geld gespart … Ich will, dass du mitkommst. João  Das ist toll. Ich … ich … Mariana  Ich zahle dein Ticket … bitte, João … ich will, dass du mitkommst. João schaut sie sprachlos an. Marcos  (souffliert leise) Ich würde auch gerne mitkommen, aber … João  Ich würde auch gerne mitkommen, aber meine Proben fangen bald an … das dramatische Stück, du weißt doch … Mariana  Deine Proben fangen doch erst in zwei Monaten an, oder? Sei nicht so blöd. João  Ich wollte schon mit dem Textlernen anfangen … Mariana  (kurze Pause) Überleg es dir. Überlege es dir wirklich.

111


6.

Marcos, Branca und Mariana setzen sich auf den Boden, jeder vor einen Pappkarton, und nehmen verschiedene Objekte heraus. João bleibt auf seinem Stuhl sitzen und schreibt einen Brief.

Branca  Liebeserinnerungen. Eine stumme Einstellung. Eine Projektion: 1986 bis 2010 … (deutet auf ihre Objekte) Sie gehören alle zu meinen Figuren, oder? Mariana  Hmmm, hmmm … (schaut ihre Objekte an) 1992, 1989, 1999, 2005, 2008. Marcos  Was war das Erinnerungsstück von 2005? Ich habe nicht viel aufbewahrt. Branca  Echt? Marcos  Ich bin oft umgezogen … Ich werfe Sachen einfach weg. Mariana  (deutet auf verschiedene Objekte) Pedro, Igor, Claude, Mateus. Pause. Marcos  Du hast den Fernseher nicht mitgebracht. Mariana  Er passte nicht in den Karton rein. Marcos  Hast du ihn noch? Pause. Branca  Und diese Scherben? Mariana  Eine Vase. Eine zerbrochene Vase. Marcos  (zu sich selbst) Ich erzähle die Geschichte weiter. João  (als würde er einen Brief schreiben) Meine Liebe, ich vermisse dich jetzt schon. Wie ist es in Berlin? Oder war es Salamanca, Biarritz, Calcutta … wo wolltest du nochmal hin? Wo bist du? Ich vermisse dich so sehr, ich würde mich am liebsten umbringen … Branca setzt Simones Brille auf und nimmt das Buch „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil aus ihrem Pappkarton. Branca  (zu Marcos) Du hast es nicht gelesen, oder? Du würdest es wahrscheinlich sowieso nicht verstehen. Marcos  (leise) Wo ist es denn? João  Du kommst am 26. zurück, oder? Meinst du, dein Film hat gute Chancen, was zu gewinnen? Gehst du viel aus? Wie viele Weinflaschen hast du für mich getrunken? Wie oft hast du an mich gedacht? Wie oft 112


hast du beim Onanieren an mich gedacht? Sind die Männer dort interessanter als ich? Könntest du dir vorstellen, alles hinter dir zu lassen und für immer dort zu bleiben? Ich will ein Kind von dir. Marcos  (schaut sich Marianas Objekte an) Ich habe deine Briefe nicht gesehen … wo sind deine Briefe? Mariana  Wie bitte? Marcos  Alle Briefe, die Mariana schon bekommen hat. Es sind keine Briefe dabei. Mariana  (setzt sich wieder auf den Stuhl) Tut mir leid, tut mir leid, ich bin schon beim Einchecken, ich bin schon im Flieger, auf dem Weg zu den Filmfestspielen. Un vin rouge, s‘il vous plaît! Branca  Welche Filmfestspiele? João  War sie nicht schon da? Branca und Marcos setzen sich wieder. Branca spielt jetzt Ludmila, eine andere Freundin von Marcos. Branca / Ludmila  Welche Filmfestspiele? Marcos  Wer bist du? Branca / Ludmila  Ludmila. Marcos  Wer? Branca / Ludmila  Ludmila, deine neue Freundin. Marcos  Tut mir leid … Ich habe dich nicht wiedererkannt. João  Welche Briefe denn? Marcos  (zu João) Die Briefe … (zu Branca/Ludmila) Tut mir leid, Ludmila. Branca / Ludmila  Schon gut, lass uns ein bisschen reden … Willst du mal heiraten und Kinder haben? João  Aber João hat die Briefe immer noch nicht verschickt! Wenn sie gerade bei den Berliner Fimfestspielen ist, heißt es, dass er noch dabei ist, die Briefe zu schreiben. Marcos  Es gibt auch andere Briefe. Meinst du, er war der Einzige, der ihr Briefe geschrieben hat? Mariana  Ich verlasse den Flughafen, ein zwei Meter großer Mann kommt mir entgegen, er hält ein Schild mit meinem Namen hoch, und das graue Auto, das uns abholt, ist schneebedeckt … João  Mariana kann die Briefe noch nicht gelesen haben. Sie kann nicht Briefe lesen, die sie noch nicht bekommen hat! Lass es uns richtig spielen. Mariana  Briefe, João, welche Briefe? Die Skype-Verbindung ist wirklich schlecht. 113


Branca / Ludmila  Du bist so einer, der keine Lust auf Heiraten und Kinder hat, oder? Marcos  Ja. Branca / Ludmila  Ich kann richtig gut Wäsche waschen … João  Ich will so nicht weitermachen. Branca / Ludmila  Ich weiß, wo es den besten Weichspüler gibt. Marcos  (zu João) Entspann dich. Sie kommt bald zurück. Sie wird deine E-Mails schon beantworten. João  Mariana, warum antwortest du nicht? Hast du meine E-Mails nicht bekommen?! Hast du die E-Mail nicht bekommen, in der ich dir sage, dass ich dir jeden Tag, bis du zurückkommst, einen Liebesbrief schreiben werde? Mariana  Mein Lieber, ich bin in einem Internetcafé, bei einem Türken, es gibt kein Internet im Hotel … ich vermisse dich so sehr … João  Schick uns deine Telefonnummer … deine Mutter macht sich Sorgen! Mariana  Mariana. Branca / Ludmila  Kannst du Reifen wechseln? Ich liebe es. Marcos  Glaubst du, dass Ludmila wirklich so ist? Branca / Ludmila  Ich spiele sie nicht so, wie sie ist, sondern so, wie du sie gerne hättest. Marcos  Es stimmt aber nicht. Branca / Ludmila  Du hast keine Ahnung von Frauen. Marcos  Passt auf, wir fangen jetzt eine neue Szene an. Ich bin zuhause und rede mit João, der gerade gekommen ist. Mariana ist bei den Filmfestpielen in ... Branca / Ludmila  Tokio. Marcos  Nein. Branca / Ludmila  Bora-Bora. Marcos  Na komm. Branca / Ludmila  Ludmila ist nicht dabei.

114


7.

Die Schauspieler sitzen in der Reihenfolge: Mariana, Branca, João und Marcos. Branca zündet sich eine Zigarette an.

Marcos  Eine Woche nach Heiligabend habe ich mit Ludmila Schluss gemacht. Branca / Ludmila  Simone. Die Soziologin, die wie ein Model aussieht. Ludmila ist die Neue, die dem Chef auf der Toilette einen runterholt. Marcos  … Simone. Ich habe mit Simone Schluss gemacht. Es gab keinen besonderen Grund, keinen Streit, keinen Seitensprung … Ich habe nur gemerkt, dass … Es gab auch keinen Grund dafür, mit ihr zusammenzubleiben. João  Du bist nicht damit klargekommen, dass sie dir gesagt hat, dass sie dich nicht liebt. Marcos  Ich war doch immer unverbindlich. Ich bin stolz darauf, dass ich realistisch bin, aber wenn ein anderer Mensch die Fantasie zerstört, mit der du deinem langweiligen Leben ein bisschen Glanz verleihen willst, ist das unverzeihlich … Am 25. bin ich verkatert aufgestanden und zur Bäckerei gegangen. Da habe ich Ludmila kennengelernt. Sie hat einen Saft getrunken und einem Weimaraner ein Putenbrust-Vollkornbrötchen gegeben. Der Hund war richtig schön, sah aus wie Brad Pitt. Ich habe mir einen Milchkaffee bestellt und angefangen zu weinen … Hast du was gesagt? João schüttelt den Kopf. Marcos  Mein Hemd war voller Tränen, und die Frau schaute mich mitleidig an. Und ich fragte mich: „Warum weine ich? Es geht mir doch gut.“ Und es stimmt, es ging mir gut. Richtig gut. Branca / Ludmila  Weinst du? Marcos  Ich glaube, ich habe was im Auge, danke … João  Ich bin schon da. Marcos  (zum Publikum) Nicht nur an diesem Tag oder in jenem Monat. Schon in den letzten drei Jahren ging es mir richtig gut. Jeden Tag, richtig gut. Ich habe nicht meditiert, nicht gebetet, habe mich schlecht ernährt, habe zu viel getrunken, zu viel geraucht, hatte die Therapie geschmissen, hatte keine große Ambitionen im Leben und … (nimmt 115


Ludmila wahr und spricht zu ihr) Tut mir leid, ich bin gerade ein biss-

chen dünnhäutig … manchmal bin ich zu dünnhäutig … dein Hund ist wirklich schön. Welche Marke? Welche Rasse? João  Bin ich schon da oder noch nicht? Marcos  (zu Branca) Hallo? João  Bin ich schon bei dir zuhause? Marcos schaut zu Branca, als müsste sie was sagen. Sie schaut zu ihm, sagt nichts und lächelt. João  (zu Marcos) Das sind deine Sachen. Heute ist der 20. Januar 2010, ich bin gerade durch die Tür reingekommen, wie ein unbekannter Soldat. Du hast mich empfangen, als würdest du mein Leiden nicht bemerken, als ob die weißen Wände … Marcos  Ich habe es schon gemerkt. João  … dieser Holzfußboden, diese Lampen und du, mit deinen nach hinten gekämmten Haaren, als könntest du mit deinem breiten Grinsen … Marcos  Du kannst hier übernachten, wenn du willst. João  Danke. Pause. Marcos  Gibt es was Neues bei dir? Pause. João  Ich habe deinen VW Beetle in der Garage gesehen. Marcos  Echt? João  Er sieht gut aus … fährst du nicht mehr mit ihm? Marcos  Doch … Doch. Pause. Marcos  Warum bist du durch die Garage gekommen? João  Der Fahrstuhl war kaputt. Pause. Mariana  (souffliert leise) Hat sie dich angerufen? João  Hat sie dich angerufen? Marcos  Nein. Pause. João  Ich glaube, ich werde aus dem Stück aussteigen. Marcos  Warum … gefällt es dir nicht? João  Ich glaube, ich bin kein guter Schauspieler … Eigentlich tauge ich für gar nichts …

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Marcos  Hör auf damit. João  Die meisten Menschen haben irgendein Talent im Leben, einige haben viele Talente und andere gar keins. Oder sie können schon alles machen, aber … als Dilettant. Ich glaube, ich gehöre dazu … zu den Dilettanten. Ein ewiger Dilettant … Wie soll ich die Gefühle meiner Rolle verkörpern, wenn ich nicht mal meine eigenen verstehe? Ich meine, ich weiß schon, wie ich mich fühle, aber ich verstehe es nicht. Marcos  Das kann auch gut sein … Ich finde schon, dass du talentiert bist. João  Es kann nicht sein, dass alles so … unüberschaubar ist … Worin bin ich gut? Marcos  Du bist ein guter Schauspieler. João  „Gut“ reicht mir nicht. Ich muss mindestens „sehr gut“ sein … Ich muss der beste Schauspieler der Stadt sein. Marcos  Nein, musst du nicht. João  Ich muss … überdurchschnittlich gut sein. Marcos  Du kannst ein großer Schauspieler werden. João  Abgesehen von kleinen Nebenrollen, der Kumpel des Bösewichts, der Typ, der als erster bei der Schießerei stirbt, ohne Nahaufnahme, der Freund, mit dem der Hauptdarsteller über seine blöden Probleme spricht, oder der lustige Typ von der Videothek, mit dem alle Mitleid haben, was kann ich sonst noch spielen? Worin bin ich denn überdurchschnittlich gut? Marcos  (denkt nach) Du kannst gut Billard spielen … und deine Tomatensoße … João  Das stimmt … ich kann gut Billard spielen … vielleicht sogar sehr gut, aber nicht überdurschnittlich gut … (seufzt) Seit einer Woche fühle ich mich richtig Scheiße, und trotzdem denke an nichts anderes, als wie sehr ich mir ein Kind wünsche … Was ist los mit mir? Letzte Nacht habe ich Mariana so vermisst und dann ging ich nach … Branca  Lapa. Mariana  Kreuzberg. Marcos  Lapa. Branca  Lapa. João steht auf und geht zur Vorderbühne. Lichtfokus. João  Ich war mir ganz sicher, dass es mir nichts bringen würde, aber ich bin trotzdem ausgegangen. Ich habe eigentlich gewusst, dass es mir noch schlechter gehen würde, wenn ich völlig besoffen nach Hause 117


zurückkomme. Aber ich dachte, wenn ich sowieso leiden muss, dann sollte ich wenigstens besoffen sein. Dann kann ich den nächsten Tag bewusst ruinieren. Jede kleine Hoffnung zerstören, den Sonnenaufgang am Ende der Straße ignorieren, als wäre er nur eine leuchtende Belästigung, eine Wimper im Auge … Natürlich würde ich damit alles nur schlechter machen … aber genau deswegen bin ich ausgegangen … Wo ist mein Schnaps? Marcos schaut ihn an. Marcos  Willst du was trinken? João  Ja, einen Schnaps. Habe ich gerade gesagt. Marcos  Ich habe noch Champagner von Weihnachten. Eine ganze Kiste, war ein Geschenk. João  Der Typ von der Bar hat mir noch einen letzten Schnaps eingeschenkt, und ich bin auf die Straße gegangen. Da standen noch so viele Menschen herum, man konnte ein paar Sterne am bewölkten Himmel sehen, es wehte eine leichte Brise. Bei einer Straßenlampe stand eine Frau mit einem Fahrrad. Sie fummelte an der Kette herum, am Reifen, schaute nach einer Seite, dann nach der anderen, machte sich wieder am Fahrrad zu schaffen, schaute mich an. Branca steht auf und geht zu ihm. Branca spielt jetzt João. Branca / João  Brauchst du Hilfe? João lächelt und denkt nach. Branca / João  Brauchst du … Hilfe? (zum Publikum) João versteht das Spiel und tut so, als würde er das Fahrrad reparieren. João / Frau mit dem Fahrrad  Si … ja … perdon, mein Deutsch ist nicht so gut … usted hablas Spanisch? Branca / João  Ein bisschen. Un poco. João / Frau mit dem Fahrrad  Yo … la Kette de la bicicleta ha quebrado … kaputt. Branca / João  Ah, la cadena. La cadena de la bici.2 João / Frau mit dem Fahrrad  Como sabes? 3 Branca / João  Yo lo estoy viendo, señorita. 4 João / Frau mit dem Fahrrad  Können Sie es … Branca / João  … reparieren? Si. Branca macht eine magische Geste, wie ein Zaubertrick, als würde sie damit das Fahrrad reparieren.

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2) Ach ja, die Fahrradkette. 3) Woher weißt du das? 4) Ich sehe es.


Branca / João  Listo, señorita. Ahora puedes ir con tu bici para donde quieras.5 João / Frau mit dem Fahrrad  Danke. Gracias. Branca / João  Mucho gusto, mi nombre es João.6 João lächelt. João und Branca  Olivia. Branca schaut ihn an und setzt sich wieder hin. João schaut sie an. Sie tauschen die Rollen. Branca / Olivia  Ich spiele jetzt wieder die Olivia … quieres venir conmigo, João? 7 João setzt sich wieder hin. Alle vier sitzen. Mariana  (als würde sie ein Drehbuch entwerfen) Ein Mann verliert seine Frau bei einem Unfall, bei dem er am Lenkrad saß. Er verkauft sein Haus, trennt sich von allem, was ihm lieb ist, trifft eine Frau, die einen Hut trägt in einer leeren Wohnung, die zu vermieten ist. Sie schlafen miteinander, er sagt zu ihr, dass sie ihn nicht fragen soll, wie er heißt … Marcos  Letzter Tango in Paris. Die Geschichte ist schon verfilmt worden. Branca / Olivia  Quieres venir a mi piso … tomarte una cerveza? Es aquí, muy cerca.8 João  Ich bin nur ausgegangen, weil ich Mariana vermisst habe … Marcos  Hast du mit ihr geschlafen? Branca / Olivia  El ascensor está roto …9 João  Wir haben die ganze Nacht Bier getrunken, die Frau war … unglaublich … Branca / Olivia  Gracias … Marcos  Du hast mit ihr geschlafen. João  Es gibt Frauen, es gibt Menschen, die man zwar vorher nie gesehen hat, aber die einem sofort total vertraut sind. Das erste Treffen ist eigentlich wie ein Wiedersehen. Das hat Sokrates gesagt, oder? Dass wir allwissend auf die Welt kommen, wir müssen uns nur an alles wieder erinnern. Marcos  Du hast mit der Spanierin geschlafen. João  Ich habe ihr die ganze Nacht von Mariana erzählt, und sie mir von ihrem Freund in Toledo … Ich habe ihr gesagt, dass ich mich krank und 5) Fertig. Jetzt kannst du mit deinem Fahrrad überall hinfahren. 6) Freut mich, ich heiße João. 7) Willst du mitkommen, João? 8) Willst du auf ein Bier mit zu mir kommen? Ich wohne ganz in der Nähe. 9) Der Fahrstuhl ist kaputt.

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schwach fühle. Sie hat meine Augen sanft aufgemacht und mir gesagt, dass es nicht stimmt, dass ich nur meine Freundin vermissen würde. Sie arbeitet als Krankenschwester, ist das nicht Ironie des Schicksals? Wir haben viel gelacht, meiner Freundin und ihrem Freund ewige Liebe geschworen, dann ist es still geworden und wir haben uns geküsst … wir haben miteinander geschlafen. Wir haben gefickt. Wir haben uns geliebt … ich weiß nicht, wie man es sagen soll. Sie schauen sich an. Marcos steht auf und läuft in Richtung Seitenbühne. Marcos  Ich hole den Champagner. João  Wie? Meinst du, es ist okay? Marcos  Hast du ein schlechtes Gewissen? João  Ja. Marcos  Das geht wieder vorbei. João  Ich bin ausgegangen, weil ich Mariana so vermisst habe, dass ich deswegen alles zerstören wollte, und dann habe ich mit einer anderen Frau geschlafen. Marcos  War es gut? João nickt. Marcos  Willst du mit Mariana Schluss machen und mit der Argentinierin gehen? João  Natürlich nicht. Spanierin. Und sie fliegt heute zurück nach Spanien. Aber auch wenn sie hierbleiben würde … Marcos  Es sind noch zwei Flaschen da … João  Meinst du, dass ich Mariana davon erzählen sollte? Marcos  Natürlich nicht. João  Ich habe ihr schon einen langen Brief geschrieben und ihr alles erzählt. Marcos  Zerreiße ihn … Du hast ihn nicht abgeschickt, oder? João  Noch nicht. Marcos  Verbrenne ihn. João  Der ist so gut geschrieben … Es wäre doch schade, ihn zu zerreißen. Ich werde ihn verstecken. Marcos  Frauen finden immer alles. João  Ich wollte die Briefe sowieso erst später abschicken … ich habe sie alle in einem Pappkarton aufbewahrt. (deutet auf den Pappkarton auf der Bühne) In dem da.

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Marcos  Der ist voll mit Briefen? João  Fast voll. Branca / Olivia  Yo bebería champagne si todavía estuviera contigo en Brasil, João.10 João  Manchmal bist du hier bei mir, zumindest in Gedanken … Branca / Olivia  Y en los sueños? 11 Pause. João  Vermisst du Mariana? Wir reden so selten darüber und … Marcos  Und? João  Du weißt ja … denkst du an sie? Vermisst du sie … Marcos  Klar, auch. Wir sind eng miteinander befreundet. João  Nein, ich meine, vermisst du sie … als deine Freundin? Marcos  Nein, natürlich nicht … Ich glaube nicht. Das weißt du doch. Vielleicht ein bisschen, klar, wie jede andere Ex-Freundin … aber nicht so … ich bin mit ihr befreundet. Wir sind miteinander befreundet. Warum fragst du das auf einmal? João  Ist die Frage so absurd? Kurze Pause. Marcos  Ich weiß es nicht. Pause. Marcos  Nein. Kurze Pause. João  Ich dachte, man würde nur im Film tagsüber Champagner trinken. (zu Branca) Yo beberia Champagner contigo auch. Branca / Olivia  Perdón, perdón, yo estoy haciendo mi check in, ya estoy dentro del avión, yendo para Toledo.12 João  Was ist denn heute für ein Tag? Was ist denn heute für ein Tag?! Mariana  Eine Frau, eine junge Frau, die in einer Krise steckt, trifft in einem Hotel in irgendeiner Großstadt einen interessanten Unbekannten … Marcos  Lost in Translation. Die Geschichte ist auch schon verfilmt worden. Um was Gutes schreiben zu können, musst du persönlich werden. Mariana  Persönlich? Du meinst, ich sollte über mich schreiben? (übertrieben) Über mich? Marcos  (mit geschlossenen Augen) João? 10) Ich würde mit dir Champagner trinken, wenn ich noch in Brasilien wäre, João. 11) Und in den Träumen? 12) Entschuldige, entschuldige, ich bin gerade am Check-in, ich sitze schon im Flugzeug nach Toledo. Einen Tomatensaft, bitte!

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João  Ja? Marcos  Ich glaube, ich bekomme einen epileptischen Anfall. (Pause) Achte bitte drauf, dass ich meine Zunge nicht verschlucke. (zu sich selbst) Tief atmen … Branca  „schilften und gurgelten seine Finger durch die Tonflut. Mochte man es weithin hören! Sein Rückenmark wurde von der Narkose dieser Musik gelähmt und sein Schicksal erleichtert.“ Der Mann ohne Eigenschaften. Was ist denn heute für ein Tag? Marcos  Schon gut. Der Anfall wird nicht jetzt sein … Was hast du gerade gesagt? João  Gibst du mir vor dem Anfall Bescheid? Marcos  Ich werde es versuchen. João  Wir brauchen irgendeine gute Nachricht. Mariana  Wenn es wirklich so sein soll, dann lieber gleich … Was ist denn heute für ein Tag? João  Was ist denn heute für ein Tag? (Zu Mariana) Warum schickst du mir keine Nachrichten? Wir haben schon so lange nicht mehr miteinander geredet … Branca  Heute ist der Tag!

8.

Die Schauspieler stehen auf und räumen die Stühle weg. Sie verteilen sich auf der ganzen Bühne. Musik.

Branca  Eine Frau. Una mujer! Wir nennen sie … Mariana  Eine Frau, wir nennen sie Mariana … Branca  26 Jahre alt! Mariana  Mariana, 26 Jahre alt, sie trägt (beschreibt, was sie anhat). Sie ist in einer fremden Stadt. So geht die Geschichte. Sie ist glücklich, der Film, den sie gedreht hat, lief erfolgreich auf einem internationalen Filmfestival, sie spürt dieses Glück im ganzen Körper, ein Gefühl von Wärme, aber sie spürt auch, dass ihr Körper … Marcos  Kommst du schon zu dieser Stelle? 122


João  Welche Stelle? Marcos  Ich liebe diese Stelle! Mariana  Ich gehe über eine Brücke, ich werfe eine Blume ins Wasser, ich hänge einen Zettel an die Tür: Willkommen! Marcos  Willkommen! Mariana  In der Telefonzelle höre ich nur ein buddhistisches Mantra: Ommmmm. Jemand berührt meine Haare und bekommt einen elektrischen Schlag, ich lege mich auf eine Wiese, ich denke nach, ich träume. Und als ich flüchtig nach oben schaue, kann ich 26 Wolken zählen. Alle schauen zum Himmel hoch. Marcos  Hast du eine E-Mail von ihr bekommen? João  Nein. Hat sie dir eine E-Mail geschickt? Mariana  Wem gehört dieser Körper, der nicht ihrer ist? João  Ich glaube es nicht … Mariana  Mein Esszimmer ist nicht größer als mein Handteller. Mariana und Branca  Im Computerladen gibt es eine Tastatur im Sonderangebot, bei der es nur „Enter“-Tasten gibt. João  Ich sehe, wie das Flugzeug zur Landung ansetzt … Marcos  Du bist am falschen Tag zum Flughafen gefahren, João, sie kommt erst morgen! João  Ich werde am Flughafen übernachten! Mariana  Ich könnte sagen, dass ich eine griechische Insel bin … Branca  João hat drei Tamburine mitgebracht! Lass uns eine Party machen! Marcos  Was geht denn hier vor? Branca  Das weißt du doch, es ist was Gutes! Marcos  Wen spielst du jetzt? Branca  Alle Frauen dieser Welt. Licht auf Mariana. Mariana  Jetzt stehe ich nackt im Badezimmer, mein Körper ist noch nass, ich zittere, ein paar Kinder spielen im Hotelflur, ich sehe das Glas, das mit meinem Urin auf dem Boden steht, ich bin ein Tier. Ich bin ein zitterndes Tier. Ich bin ein Tier, das nur darauf wartet, schreien zu können. Mariana und Branca  Ich bin schwanger! Marcos  Sie ist schwanger! João  Was? 123


Marcos  Schwanger! Schwanger! Mariana ist schwanger! João  (als würde er sie aus weiter Entfernung sehen) Mariana! Mariana! Branca  Musik! Marcos, Branca und João holen Mariana ab. João und Mariana küssen sich. Bewegung. Feiern. Der Höhepunkt! Sie fallen oder setzen sich auf den Boden, entspannen sich, trinken Wasser …

9.

Marcos steht jetzt allein auf der Bühne. Er übernimmt wieder die Rolle des Erzählers.

Marcos  Die Woche, als Mariana zurückkam, als wir von der Schwangerschaft erfahren haben, war wahrscheinlich die glücklichste unserer Freundschaft … Wir drei sind durchgedreht. Ich sage wir drei, weil ich mit Ludmila Schluss machen musste. Sie konnte unser Glück nicht verstehen. Man hätte ihr zu viel erklären müssen, wir drei haben doch so viel zusammen erlebt … (zu Branca) Tut mir leid, aber du bist wieder allein … (zum Publikum) Die Zeit ist für uns stehen geblieben. Wir haben alle Uhren weggeworfen, um dieses neue Leben ungestört zu feiern … dieses neue Leben … (zu den Schauspielern) Ich muss euch sagen, dass ich euch liebe … und in dieser Woche … lebten wir glücklich bis ans Ende. João  Ende. Pause. Marcos  Und dann, von einer Sekunde auf die andere, übergangslos, war das Glück vorbei … João  Ende. Marcos  Eine Woche später, am dritten März, an einem sonnigen Montag, habe ich meinen Job verloren. Eigentlich habe ich ihn nicht verloren, er wurde mir weggenommen. Ich habe sieben Jahre lang für dieselbe Werbeagentur gearbeitet. „Ich habe das Ganze mit aufgebaut!“ Ich hätte nie gedacht, dass ich gekündigt werden könnte. Gekündigt werden nur die anderen, die Arbeitslosen. João  Wollen wir nicht von vorn anfangen? 124


Marcos  Und am Freitag passierte das Allerschlimmste. Nachdem ihr im Kino schlecht wurde, musste Mariana mit starken Schmerzen ins Krankenhaus gebracht werden. Sie hatte starke Blutungen, die Ärzte haben alles versucht, aber … sie hat das Baby verloren. Stille. Marcos  (zu den Schauspielern) Tut mir leid, dass ich es so erzählt habe … so abrupt … das werden meine letzten Worte als Erzähler sein … (zum Publikum) Ich kann nicht mehr. Ich bin der Erzähler, der mittendrin den Faden verliert. Ich bin die Figur, die mittendrin alles verliert und in eine Lebenskrise gerät. Ich bin derjenige, der nicht mehr weiß … wie es weitergehen soll … „Ende des ersten Akts“. Stille. João  Echt? Wenn du jetzt auch in einer Lebenskrise steckst und die Geschichte nicht weitererzählen kannst, dann wäre es besser, den Akt noch nicht zu Ende zu bringen … So ist es zu dramatisch. Dieser Satz, „Ende des ersten Akts“. Zu heftig. Der letzte Satz sollte nicht von dir kommen. Deine Figur sollte am Ende weicher werden … Marcos  Stimmt … Wie sollte der erste Akt deiner Meinung nach zu Ende gehen? João  Mit dem Anfang. Mit der ersten Szene. Ein bisschen Hoffnung als Kontrapunkt zum Tod. Der Tag, an dem wir drei … Der Tag, an dem du mich Mariana vorgestellt hast, vor dem Kino. Marcos schaut zu Mariana. Sie nickt. Branca  Ich weiß schon, ich bin nicht in dieser Szene … Kann ich eine Fußgängerin spielen? João  Es regnete …

10.

Branca geht ab. João steht allein. Marcos und Mariana kommen dazu.

Marcos  Das ist João, von dem ich dir erzählt habe … João, Mariana … João  Hallo. Mariana  Hallo … Wollen wir reingehen? Der Film fängt gleich an. 125


João  Ich glaube, ich komme doch nicht mit. Ich habe diesen Film schon so oft gesehen … Ich werde hierbleiben und ein bisschen nachdenken … Mariana  Auf der Straße? Marcos  Es ist doch jedes Mal anders … Mariana  (zu Marcos, während sie João anschaut) Sind das nicht deine Klamotten? Marcos  Ja, ich … Wir haben am Wochenende Klamotten getauscht, einfach so, es hat Spaß gemacht … Ich habe gerade seine Klamotten an, wir haben … Branca kommt dazu mit einem aufgespannten Regenschirm. Branca  Entschuldigung, ist das die Schlange für Jules und Jim? João, Marcos und Mariana stehen nicht in der Schlange. Sie schauen sich an. Mariana  Der Eingang ist da drüben. Branca  Danke … Branca geht und beobachtet sie von weitem. Marcos  Also, wollen wir reingehen? Mariana  (zu João) Kommst du doch nicht mit? Es ist merkwürdig … Ich habe dich vorher nie gesehen aber … du bist mir so vertraut … als würde ich dich schon lange kennen. João  Ich wollte gerade genau das Gleiche sagen … Marcos hat mir schon so viel von dir erzählt … du kommst mir so bekannt vor … als wärst du meine … wie sagt man das … was sagt man dazu? João und Mariana schauen sich an und lächeln. Branca  Der Film fängt gleich an! Regengeräusche. Mariana  (schaut nach oben) Es regnet. Mariana nimmt Joãos Hand. Sie zieht ihn von der Bühne. Marcos bleibt allein zurück. Marcos  Ich glaube, ich bekomme jetzt einen epileptischen Anfall. Regen. Ende des ersten Akts.

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Zweiter Akt

1.

João und Mariana ziehen den Vorhang zum hinteren Teil der Bühne auf. Dahinter sieht man ein fast leeres Wohnzimmer. Eine Tür, ein Sofa, ein paar Umzugskisten, ein Farbeimer. João und Mariana sind in der „Wohnung“. Marcos beobachtet die Szene vom Bühnenrand aus, im Halblicht.

João  Ist das alles, was übrig geblieben ist? Mariana  Es ist ganz leer … die Wohnung ist leer. João  Hast du sonst noch irgendwas gefunden? Mariana  Diese Vase war auf der Fensterbank. Sie hätte runterfallen können. Hast du sie dorthin gestellt? João  Ja … Pause. Mariana  Es gab noch einen Pappkarton an der Tür. João  Du bist so schön. Kurze Pause. Mariana  Du auch. Marcos  (leise) Das habt ihr nicht gesagt … João  Der Umzugstransporter wird schon unten sein … Mariana  Ich zahle dafür. João  Musst du nicht, ich mache das schon … ich kann die Rechnung später zahlen. Sie schauen sich in der Wohnung um. João  Die Wände sind gut gestrichen … Mariana  … João  Es gab einen Wasserschaden im Schlafzimmer. Mariana  … João  Die ganze Wand musste gespachtelt werden … Mariana  Echt? João  Gestern war schon jemand da, um sich die Wohnung anzuschauen. Unglaublich, oder? Mit einer Teenager-Tochter. Angeblich ein pensi127


onierter Geigenspieler … Das Mädchen hat einen Kaugummi an die Küchenspüle geklebt. Pause. João  Ich will nicht so eine Trennungsszene spielen, in der das Paar nur über Oberflächlichkeiten spricht, anstatt über die eigenen Gefühle zu sprechen … Mariana  Aber genau so ist es gewesen. João  Ich will nicht immer wieder darüber sprechen müssen. Das ist zu hart. Mariana  Warum hast du mir nicht gesagt, dass du mit einer anderen Frau geschlafen hast? João  Ich habe mich nicht getraut … es hat nichts bedeutet. Es hat mir nichts bedeutet … Warum müssen wir alle Klischees bedienen? Mariana  Weil wir normale Menschen sind, João. Und normale Menschen benehmen sich bei einer Trennung ein bisschen wie Figuren in einer Telenovela. João  Findest du? Das war eine der schlechtesten Szenen meines Lebens … Das ist das Schlimmste, was mir je passiert ist. Mariana  Warum tust du nichts? Warum sagst du nichts, um diese Szene, um diese ganze Geschichte, zu ändern? João denkt nach. Ihm fällt nichts ein. Mariana  Dann sag, was du gesagt hast, bevor ich mit dem Fahrstuhl runtergefahren bin. Marcos  (leise) Du hast die Treppe genommen, der Fahrstuhl war kaputt … João  „Hast du deine Haare schneiden lassen?“ Mariana  „Ja.“ Sie küssen sich. João will gehen. Mariana  Du hast recht, der Seitensprung hat mir auch nicht sehr viel ausgemacht. Aber so konnte ich die Schuld auf ihn schieben, das echte Problem vermeiden und mein eigenes Schuldgefühl loswerden. Sie musste nicht viel über den Trennungsgrund nachdenken. Als sie noch zusammen waren, hat sie ihn sich immer wieder angeschaut und gedacht: „Wir werden nicht mehr lange zusammenbleiben.“ Der Gedanke war schmerzhaft, sie versuchte ihn schnell wieder loszuwerden, aber es war ihr damals schon klar: „Wir werden uns trennen.“ Der Gedanke hat sie einfach nicht losgelassen, auch nicht in den schönen Momenten, in denen sie ihre Liebe zu ihm spüren konnte, wie an diesem letz128


ten gemeinsamen Heiligabend. Weißt du noch? Überall Champagnergläser, die Kerzen waren fast ausgebrannt, die Fenster waren offen … Sie wusste genau, was an ihm sie störte. Was ihr das Gefühl gab, ihn weniger zu lieben, ihn weniger zu bewundern, ihn verletzen zu wollen. Ihn bestrafen zu wollen. Weil er sie nicht lieben konnte, wie sie es sich gewünscht hätte. Er war unreif. Emotional von ihr abhängig. Er war schwach. Er war durcheinander … Seine Zeit ist abgelaufen. João  Du hast mal wieder nicht über Claras Tod gesprochen! João will gehen, kommt aber zurück. João  Du bist so gemein. Er wollte ein Kind, eine Tochter mit ihr haben.

2.

Branca kommt mit einem Stuhl auf die Bühne und stellt ihn am Bühnenrand ins Licht.

Branca  Yo voy a coger el telefono y llamar.1 Marcos  (zu Mariana) In dieser Nacht, als ich sah, wie schlecht es dir ging, musste ich mir selber eingestehen, dass ich dich auch nicht vergessen hatte, dass ich dich immer noch liebte … Marcos geht zur „Wohnung“. Marcos  Jetzt bin ich in meiner Wohnung. Ich habe zu viel Wein getrunken. Ich bin außer Atem. Ich habe gerade die Tür zugesperrt … Mariana  Du hast gesagt, dass du nicht mehr … Marcos  Du bist reingekommen, ich habe die Tür zugesperrt – du wolltest mit mir über deine Trennung von João sprechen – und ich habe mich zur Wand gedreht. João  Dann kann ich nicht dabei sein. Dann bin ich eben nicht hier. Ich bin deprimiert, ich irre umher, nachts. João verlässt die „Wohnung“. Marcos  Ich schaue dir in die Augen: „Ich will, dass du mich wieder liebst.“ Mariana  Ich werde diese Szene nicht spielen. Marcos  Warum nicht? 1) Ich hole das Telefon und rufe an.

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Mariana  Weil sie nie stattgefunden hat. Das hast du mir nie gesagt. Marcos  Aber das kann ich dir noch sagen. So oft du es hören willst. Mariana  (müde) Ich will diese Frau nicht mehr spielen. Mariana ist für eine Weile verschwunden. Ich will euch nur beobachten … unterhaltet mich … macht, was auch immer ihr wollt. João nimmt die Vase und wirft sie auf den Boden. Mariana und Marcos setzen sich aufs Sofa. Längere Pause. Branca  Glaubt ihr, dass wir uns mit der Zeit verändern können? Branca nimmt ein Handy aus der Tasche. Branca  (mit spanischem Akzent) Hola, Victoria? Yo necesito hablar contigo ahora, sí, ahora …2 Sie merkt, dass sie die falsche Rolle spielt und fängt an, Simone zu spielen. Branca / Simone  (trocken) Hallo, Marcos, Simone hier. Das ist schon die zehnte Nachricht, die ich dir hinterlasse. Ich habe ein Buch bei dir vergessen, „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ich brauche es wieder. Diese Woche noch. Ich will dich nicht noch einmal anrufen müssen … Sie ruft nochmal an. Jetzt als Ludmila. Branca / Ludmila  (freundlich) Hallo, Marcos, Ludmila hier. Wie geht‘s? Es ist schon so lange her, ich vermisse dich … Pass auf, wir arbeiten gerade an einem Artikel über erfolgreiche junge Männer und Frauen, die wegen der Krise ihren Job verloren haben … und da habe ich an dich gedacht … Würdest du mit uns darüber sprechen wollen? Über das erste Mal, dass du gekündigt wurdest, über deine erste große Lebenskrise, wie du mit der Arbeitslosigkeit umgehst … Ist es ein Schlag für das Selbstwertgefühl? Ich hätte dich gerne dabei … melde dich. Lass uns mal ein Bier trinken gehen, ich vermisse dich … ich lade dich ein … oder wir teilen uns die Rechnung. Na ja, wichtig ist, dass … lass uns treffen. Rufst du mich an? Ich vermisse dich. João  (zum Publikum) In diesen Monaten, die mir wie Jahrhunderte vorkamen … (bricht ab) Ich weiß nicht, wie man das spielen soll … Was soll ich sagen? Was kann man über den Tod sagen? Ich war nicht alt genug, um ein Kind zu bekommen, nicht alt genug, um ein Kind zu verlieren. Und eine Frau … Ich bin in der Zeit oft ins Theater gegangen, aber ich kann mich an nichts erinnern.

2) Ich muss mit dir sprechen, ja, jetzt.

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3. João und Marcos stellen zwei Stühle auf die Vorderbühne. Es ist das Bühnenbild für „Marcos Wohnung“. Marcos schaut Fernsehen. Mariana, im Halblicht, liegt auf dem Sofa, das im hinteren Teil der Bühne steht.

João  Es gibt kein Wasser mehr im Kühlschrank … ich kaufe welches … es kann doch geliefert werden. Pause. Marcos  Genau. João  Macht es dir wirklich nichts aus, dass ich bei dir wohne? Ich kann mir ein Hotelzimmer nehmen. Marcos  Das kannst du dir nicht leisten … aber es macht mir nichts aus, João. Joãos Handy piept. Er hat eine Nachricht bekommen. Er versucht die Nachricht abzuhören, kommt aber nicht durch. João  Man kann doch auch vom Festanschluss eine Nachricht auf dem Handy abhören, oder? Oh, ich weiß meine PIN nicht mehr. Längere Pause. João  Du solltest das Aquarium sauber machen. Es ist schmutzig … sind da überhaupt noch lebendige Fische drin? Pause. João  Willst du fernsehen? Marcos schüttelt den Kopf. João  Du willst nicht fernsehen? Marcos schüttelt den Kopf. João  Willst du über deinen Schmerz sprechen? Stille. João  Ich bin derjenige, der sich getrennt hat, und du trauerst! Marcos  Das war doch vor sieben Monaten! João  Ich leide immer noch! Marcos  Ich bin immer noch in Mariana verliebt. Sie schauen sich an. João  (zum Publikum) In diesen Tagen, in diesen Monaten, die mir wie Jahrhunderte vorkamen … ich muss jetzt wieder darüber sprechen … ich kann nicht loslassen, es ist wie ein Abszess … Marcos  Hast du gehört, was ich gesagt habe? 131


João  Du kannst mir das jetzt nicht beichten … Das wirst du nicht … (zum Publikum) Was ich gefühlt habe … (zu Marcos) Ich weiß nicht, wie ich es erzählen sollte … du kannst das jetzt nicht sagen. Im hinteren Teil der Bühne spricht Mariana mit jemandem hinter der Tür. Mariana  Hallo, haben Sie gestern einen Paket für mich angenommen? Einen Pappkarton … aber es sollte schon gestern da sein. Pause. Mariana  Wann kommt die Enthüllungsszene? Branca  Nada de nuevo en este lado del oceano …3 Marcos  Ich werde fernsehen. João  Mein Leben ist ein schwarzes Loch. Es wird nichts Gutes auf mich zukommen. Nie wieder. Mein Leben ist vorbei. Kurze Pause. Branca  Was hast du gesagt? João  Mein Leben ist ein schwarzes Loch. Es wird nichts Gutes auf mich zukommen. Mein Leben ist vorbei. Branca  Das stimmt nicht. Du wirst jetzt noch nicht sterben, hier stirbt keiner mehr. Wir treffen uns in ein paar Monaten wieder … das kaputte Auto … auf der Brücke. João schaut sie an. Branca  Ich bin dein Goodyear Ersatzreifen. Marcos macht den Ferseher an. Branca  (wie in einer Werbung) Goodyear … Goodyear Allwetterreifen. Marcos  Ich liebe Sky. Mariana  (am Handy) João, das Paket, das du mir schicken wolltest, ist immer noch nicht da … João  (am Handy) Ich habe es verbrannt. Ich habe dir schon gesagt, dass du mich nicht mehr anrufen sollst! Mariana fängt an zu weinen, sie schluchzt, leicht übertrieben. João  Hallo? Hallo! Mariana  Wann kommt die Enthüllungsszene?!

3) Nichts Neues von dieser Seite des Ozeans.

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4.

Branca steht auf. Sie spielt jetzt eine spanische TV-Moderatorin.

Branca / Tv-Moderatorin  Gracias, Pilares, por tus sinceras palabras. Un beso y mi cariño para todos los de Valencia … ahora nosotros vamos a entrevistar el chef … en un ratito vamos a aprender con el chef mexicano Pablo Ortis el secreto del nacho mexicano. Que el nacho no es solo una tapa muy fácil de hacer, en casa, para los amigos y la familia, sino que también puede ser nutritivo, versátil y casi sin gordura … no es verdad, Pablo? Sí … pero ahora el tema es muy serio. En nuestro espacio periodístico: „problemas de una nueva era: la depresión juvenil …“ 4 Mariana spielt jetzt Victoria, auch eine Spanierin. Sie spricht in ein rotes Telefon, das an der Wand angebracht ist. Victoria  Hola, Olivia? Me escuchas, Olivia? 5 João  Ich gehe zum Kiosk, um meine Prepaidkarte aufzuladen. João verlässt „Marcos Wohnung“ und geht zur anderen Bühnenseite. Branca / Tv-Moderatorin  Nosotros estamos aquí con tres hermanos. (liest aus einer Karteikarte) Pablo, Pablo también? Pedro y … Patricio La Parra. Estos tres hermanos de Valladolid se quedaron deprimidos, sin salir de casa, por tres años … sÍ, los tres hermanos, por tres años enteros, tuvieron depresión al mismo tiempo … pobre de esta madre … pero ella también tuvo la enfermedad en su juventud … que barbarie …6 João  Ist da jemand im Kiosk?! Branca / Tv-Moderatorin  Lo que comprueba que la depresión no es una derrota personal, pero sÍ un mal genético.7

4) Danke, Pilares, für deine offenen Worte. Viele Küsse und Grüße an alle in Valencia … wir werden jetzt gleich ein Gespräch mit dem Chef Pablo Ortis haben und von ihm das Geheimnis der mexikanischen Nachos erfahren. Nachos sind nämlich nicht simple Tapas, die man zuhause für Freunde und die Familie macht, sondern sie können auch sehr nahrhaft, sehr abwechslungsreich sein und fast fettfrei … nicht wahr, Pablo? Ja … aber jetzt zu einem sehr ernsten Thema. In unserer Zeitungsrubrik: „Aktuelle Probleme: Jugendliche Depression …“ 5) Hallo Olivia? Hörst du mich, Olivia? 6) Wir sind hier mit drei Brüdern. Pablo, Pablo auch? Pedro und … Patricio La Parra. Diese drei Brüder aus Valladolid sind sehr deprimiert. Sie haben drei Jahre ihre Wohnung nicht mehr verlassen … ja, diese drei Brüder litten drei ganze Jahre gleichzeitig unter Depressionen … Die arme Mutter … aber sie litt in ihrer Jugend ebenfalls unter Depressionen … wie schrecklich … 7) Was beweist, dass Depressionen nicht für ein persönliches Scheitern stehen, sondern ein genetisches Problem sind.

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João  (schaut zum Himmel hoch) Ich will doch nur meine Prepaid-Karte aufladen! Marcos geht zu João und spielt jetzt widerwillig einen Kioskverkäufer. Marcos / Kioskverkäufer  Ja? João  Haben Sie irgendeine Zeitung mit guten Nachrichten? Branca / Tv-Moderatorin  Pero los tres chicos lo han superado y ahora están aquí, estupendos, para hablarnos.8 Ein Telefon klingelt. Branca geht zur „Wohnung“. Sie spielt jetzt Olivia. Die Wohnung ist jetzt „Olivias Wohnung“ in Toledo, Spanien. Die Szenen zwischen João und Marcos am „Kiosk“ und Olivia und Victoria in Spanien laufen parallel. Victoria  (am Telefon, aufgeregt) Olivia? Olivia? Me oyes? Hörst du mich? Marcos / Kioskverkäufer  Du bist älter geworden … Du hast Sorgenfalten. João  Wie viel macht das? Marcos / Kioskverkäufer  Zwanzig. João  Scheiße, ich habe nur zehn … Marcos / Kioskverkäufer  Du kannst später zahlen. Branca / Olivia  (am Telefon) Estoy aquí. Victoria  Olivia, pasa algo? Hay siete mensajes tuyos. Estaba preocupada.9 Branca / Olivia  No, todo está bien … Tú estás bien? 10 Victoria  Sí, claro. Dónde estás? 11 Branca / Olivia  En casa. Estaba viendo la tele … el programa de Marta Perez.1 2 João hat gerade eine Nummer gewählt und hält das Handy ans Ohr. Victoria  Entonces …13 Branca / Olivia  Nada … João hört seine Nachricht ab. Victoria  Como que nada? No puede ser nada. Después de siete llamadas no puede ser nada.14 8) Aber die drei jungen Leute haben ihre Depression überwunden, heute sind sie hier, sie sehen blendend aus, um mit uns darüber zu sprechen. 9) Olivia, ist etwas passiert? Es gibt sieben Nachrichten von dir. Ich mache mir Sorgen. 10) Nein, alles in Ordnung … Geht es dir gut? 1 1) Ja, alles in Ordnung. Wo bist du? 12) Zuhause. Ich schaue gerade Marta Perez im Fernsehen. 1 3) Also … 14) Was heißt ‚nichts‘? Du hast mich sieben Mal angerufen. Nach sieben Anrufen kann es doch nicht sein, dass nichts ist.

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Branca / Olivia  Solo um momentito, Victoria … (sie hinterlässt bei einer anderen Nummer eine Nachricht) „Hola, João … soy Olivia, de España, te acuerdas de mi? 15, bici, escaleras … yo sé que es un poco extraño … pero necesito mucho hablar contigo …16 Mi teléfono es 43 11 3452340 … bueno, me llamas … urgente. Un gran beso. Olivia.“ 17 João legt auf und wird nachdenklich. Victoria  Olivia? João  Ich kann nicht der Erzähler sein, wenn ich nicht weiß, was passieren wird. Marcos  Es ist wie im echten Leben. Du musst improvisieren. João wählt eine Nummer am Handy. Victoria  Olivia, estas ahí? 18 Branca / Olivia  Sí, perdón … quería saber si podrías pasar por el mercado y comprar unos nachos mexicanos.19 Marcos  Vergiss nicht zu atmen … Victoria  Nachos? Sí, claro. Branca / Olivia  Diez cajas, por favor.20 Victoria  Diez?! Marcos  Vergiss nicht zu leiden … Branca / Olivia  Sí … diez. Estoy con tanto deseo …21 Marcos  Vergiss nicht, ohnmächtig … João wird ohnmächtig. Olivia  Estoy con tanto deseo que no me puedo controlar!!! 22

15) Hallo, João, Olivia aus Spanien, erinnerst du dich an mich? 16) Fahrrad, Treppen, ich weiß, dass es etwas merkwürdig ist … aber ich muss dich dringend sprechen. 17) Okay, ruf mich an … dringend. Einen dicken Kuss. 18) Bist du da? 19) Ja, entschuldige … ich wollte fragen, ob du am Markt vorbeigehen und ein paar mexikanische Nachos kaufen könntest. 20) Zehn Packungen bitte. 2 1) Ja, zehn. Ich bin so scharf darauf. 22) Ich kann mich nicht mehr beherrschen.

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5.

Fokus auf Branca / Olivia.

Branca / Olivia  (zum Publikum) Ich spreche jetzt Deutsch, obwohl Olivia aus Spanien kommt. Es ist doch ihr großer Monolog und mein großer Monolog, also … Ich will, dass ihr mich versteht. Es ist wichtig für Olivia, verstanden zu werden, sie ist im Augenblick sehr dünnhäutig. Kein Wunder unter diesen Umständen, in diesem dramatischen Augenblick. Seit einer Woche habe ich das Haus nicht mehr verlassen, ich kenne die Bewegungen der Schatten an der Wand schon auswendig … Na ja, ihr wisst schon … Kann mir jemand bitte helfen? Mariana geht zu Branca / Olivia und bindet ihr einen falschen Bauch an. Branca / Olivia  Gracias. Das ist die Enthüllungsszene. Jetzt könntet ihr euch wundern: „Oh … sie ist schwanger“. Ja, von einem Unbekannten … von einem One-Night-Stand. In einem fremden Land. In einem Bezirk, der Lapa heißt. Ich bin eine Fruchtbarkeitsgöttin! Que más? Ich habe monatelang versucht, zu verstehen, warum mein Schicksal in den Händen von einem Kondomfabrikanten liegt … Bueno, ich habe mich dazu entschlossen, Frieden mit meinem Schicksal zu schließen. Und mit Gott, auch wenn er sich in einem Kondom offenbart … Mariana  Durex. Marcos  Und Toastbrot. Branca / Olivia  Der Gott der kleinen Dinge. (schaut zum Himmel hoch) Gracias, Señor. Eres increíble … estoy muy feliz. Pero otra como esta sin avisarme y me transformo en budista.23 (zum Publikum) Ich bin katholisch, soy muy católica … Eigentlich sollte ich jetzt über die Verbindung zwischen Liebe und Zufall sprechen, die Mathematik de la pasión24, aber … Ich trage gerade Lippenstift auf und ziehe mein schönstes Kleid an. Die nächste Szene zeigt das Wiedersehen zwischen zwei Menschen, die zusammen ein Kind bekommen werden, die einander nicht lieben, wie sie sich lieben sollten, die überhaupt nicht zusammenbleiben wollen, die getrennt voneinander leben werden, sich aber manchmal mit Tränen in den Augen anschauen werden, wie zwei Goldfische im Aquarium.

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23) Danke, Herrgott. Du bist unglaublich … ich bin sehr glücklich. Aber wenn du mir nochmal so etwas antust, werde ich Buddhistin. 24) Die Mathematik der Leidenschaft.


6.

Eine „Brücke in Toledo“. Marcos und João stehen mit zwei Koffern auf der Straße und warten. Mariana steht in der Seitenbühne.

Marcos  Wann wollte sie kommen? João  Um zwei. Marcos  Es ist schon halb drei. Pause. João  Vielleicht ist sie vorbeigefahren. Marcos  Nein, das würde sie dir nicht antun … Bist du aufgeregt? João schüttelt den Kopf. Sie genießen die Aussicht. João  Glaubst du, es gibt irgendein Restaurant in der Nähe? Nein, besser nicht, sie könnte genau dann kommen. Marcos macht Fotos mit dem Handy. João  Ich glaube, Don Quijote kommt aus dieser Gegend … La Mancha … Nächtes Jahr werde ich alle Bücher zu Ende lesen, die ich irgendwann mal zur Seite gelegt habe … Marcos macht ein Foto von den beiden. Sie schauen sich das Foto auf dem Handy an. João  Da kommt ein Auto … Das Auto fährt vorbei, ohne anzuhalten. Marcos nimmt einen Reiseführer. Marcos  (liest vor) El puente de Toledo, construido con sillares de granito, se compone de una parte central formada por nueve arcos de medio punto con sólidos contrafuertes …25 Branca / Olivia kommt angerannt. Sie ist außer Atem. Branca / Olivia  Hola, chicos. La rueda del mi coche se ha pinchado. Necesitamos una nueva. Goodyear Duraplus.26 Marcos und João schauen sie an. Branca / Olivia  (spricht schneller) Chicos, la rueda del mi coche se ha pinchado. Necesitamos una nueva. Goodyear Duraplus. Marcos  Und wo werden nosotros una Ersatzreifen finden können?

25) Die Brücke von Toledo besteht aus neun Rundbögen aus Granitquadern … 26) Hallo Jungs, ich habe eine Reifenpanne. Ich brauche einen neuen Goodyear Duraplus.

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Branca / Olivia  Hay un taller cerca de aquí. Pero tenemos que caminar. Es de un hombre viejo, un mecánico que lucho en la guerra civil española, Senõr de Vega.2 7 Mariana wirft einen Reifen auf die Bühne. Er landet genau vor João, Marcos und Branca. Sie schauen den Reifen verblüfft an, als sollte er nicht hier liegen. João  Hier liegt ein Reifen. Branca / Olivia  Por dios, una rueda Goodyear! 2 8 Marcos  Plazer.2 9 Marcos. Branca / Olivia  Olivia. Marcos  Stimmt es, dass Don Quijote aus dieser Gegend kommt? Branca / Olivia  Os iba a encantar conocer el Señor de Vega. Él tiene tantas historias verdaderas. En su tienda tiene ruedas viejas de todos los tipos. Mientras cambia las ruedas se bebe una limonada en su terraza y los lagartos se quedan friendo al sol, pegados en la carretera … el encuentro con el Señor de Vega sería maravilloso.30 João  Ich weiß nicht, ob ich ein guter Vater sein werde. Branca / Olivia  Está bien. João  Du siehst schön aus. Branca / Olivia  Tú también.31 João  Und? Soll dieser Reifen eine Metapher sein? Branca / Olivia  No. Nada es una metáfora aquí. Las cosas ahora son muy concretas. Yo voy a tener un hijo.32 Marcos  Ich dachte, der Karton mit den Liebesbriefen würde für irgendwas stehen. João  Es ist nur ein Karton mit alten Liebesbriefen. Ich habe ihn aber verbrannt.

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27) Es gibt hier ganz in der Nähe eine Werkstatt. Aber wir müssen zu Fuß hin. Sie gehört einem alten Automechaniker, der im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hat, Señor de Vega. 28) Mein Gott. Ein Goodyear-Reifen. 29) Erfreut. 30) Es wird euch Spaß machen, Señor Vega kennenzulernen. Er hat so viele wahre Geschichten zu erzählen. In seiner Werkstatt gibt es jede Menge alte Autoreifen. Während er die Reifen wechselt, trinken wir auf seiner Terrasse eine Limonade, und die Salamander braten auf der Landstraße in der Sonne … Die Begegnung mit Señor Vega wird wundervoll sein. 31) Du auch. 32) Nein. Hier ist nichts eine Metapher. Die Dinge sind jetzt ganz konkret. Ich bekomme ein Kind.


Mariana  (am Telefon) João, es tut mir leid, dass ich dir diese Nachricht hinterlasse, aber … Ich weiß, dass du mich darum gebeten hast, dich nicht mehr anzurufen, aber ich muss dir was sagen … Ich habe mich wieder verliebt … ich wollte nicht, dass du es von jemand anderem erfährst. Pause. João  Spanien ist so schön. (zu Marcos) Kannst du mir eine Frage stellen? „Ist das eine Windmühle, Señor?“ Marcos  „Ist das eine Windmühle, Señor?“ João  „Ja, Sancho Panza.“ João geht zu Mariana. Marcos  Ich glaube, ich bekomme jetzt einen epileptischen Anfall. Musik. João rennt hinter Mariana her. Auf der Hinterbühne bauen Branca und Marcos das Bühnenbild auf für „Olivias Wohnung“. Mariana  So war es nicht! João  Du wirst nicht wegrennen können! Liebt Mariana João noch? Mariana  Ich weiß es nicht … natürlich liebt sie ihn noch! João  Es ist ein älterer Typ, oder? Was macht er? Ist er Regisseur? Filmregisseur?! Mariana  Wie lange wird João brauchen, um sie zu vergessen? Bei dieser kleinen Europareise, vielleicht? Wann wird er ihr erzählen, dass eine andere Frau von ihm schwanger ist? Dass sie schwanger geworden ist, als sie noch zusammen waren! Wann wird er ihr erzählen, dass er von einer anderen Frau ein Kind bekommen wird?! João  Sprich nicht so … Mariana  Erst wenn dein Kind da ist, oder? João  Wir sollten uns wiedersehen. Wir sollten uns aussprechen. Mariana  Das würde uns nicht guttun. João  Trotzdem … Mariana  Wir haben uns nichts mehr zu sagen … João  Mariana ist nicht hier! Diese Szene gibt es nicht. Mariana  Nicht mal in deinen Träumen?

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7.

Marcos und Branca / Olivia sitzen schon in „Olivias Wohnung“. Gelbliches Licht. Ein bunter Teppich. Marcos spricht gebrochen Spanisch.

Marcos  Werbebranche. Bis jetzt zumindest. Branca / Olivia  Estás mejor? 33 Marcos  Sí, sí … yo soy Epileptiker, epileptico, aber manchmal liege ich falsch, ich glaube, ich werde einen Anfall bekommen, und dann passiert es doch nicht. Branca / Olivia  Hmm … „Werbebranche“? Marcos  Ich weiß nicht, wie man es auf Spanisch sagt. Werbebranche … Branca / Olivia  Publicista. Marcos  Ich bin, yo soy … Ich bin Texter in einer Werbeagentur. Texter? Mi trabajo es … ich sorge dafür, dass Leute Sachen kaufen wollen … hacer las personas desejaren cosas. Sachen, die sie meinen, brauchen zu müssen … ich verkaufe Träume … sueños … deseos … ich nutze die Unsicherheiten der Leute aus, das ist meine Arbeit. Branca / Olivia  Estás con hambre? 34 Marcos  Sí, gracias. João kommt vom Badezimmer herein. Branca / Olivia  Estás bien? 35 João  Sí … Marcos  Wo warst du? João  Ich wollte mir die Hände waschen. Marcos  Quiero hacer otra cosa.36 Ich weiß noch nicht genau was. Una otra cosa … João  Ist da jemand im Badezimmer? Die Tür war zugesperrt. Ich konnte sie nicht aufmachen. Branca / Olivia  Bueno … te sientes mal? 37 João  Nein, alles gut … Ich wollte nur das Öl von meinen Händen abwaschen.

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33) Geht es dir besser? 34) Hast du Hunger? 35) Geht es dir gut? 36) Ich möchte etwas anderes machen. 37) Okay … Geht es dir nicht gut?


Marcos  Ich fühle mich so, als würde ich mein Leben verschwenden. No, eso no es verdad,38 was für ein Klischee. So fühle ich mich eigentlich überhaupt nicht. Siento que yo merezco viver algo mayor …39 João  Wohnst du mit jemandem zusammen? Ah, dein Liebhaber … Marcos  … sinnlos, aber zumindest schöner … Branca / Olivia  Ja. Hice unos nachos mexicanos. Quieren almorzar? 40 Marcos  … das Leben sollte schön sein, oder? João  Wirst du ihn uns nicht vorstellen? Branca / Olivia  Ihn? João  Ja … wohnt dein Freund nicht mit dir zusammen? Branca / Olivia  Ah, no, nosotros … creo que ella está con vergüenza de venir hasta aquí …41 João  Ella? Sie? Marcos  Ich bin in letzter Zeit immer außer Atem. Atem. Außer. Branca / Olivia  Hola … bueno, chicos, esta es Victoria. Nosotras compartimos esta casa.42 Das Publikum kann Victoria noch nicht sehen, aber die Schauspieler schon. Marcos ist schockiert. Er geht zur Vorderbühne und fällt auf die Knie. João geht zu ihm. João  Nein … du musst keinen Anfall bekommen … Marcos schaut ihn verständnislos an. João  Ich bin dein Freund … ich liebe dich … lass mich den Anfall an deiner Stelle bekommen. Sie schauen sich an. João  Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Ich weiß, wie sich dein Körper angefühlt hat, als sie reingekommen ist. Vielleicht würdest du weniger leiden, wenn du sehen würdest, wie mein Körper während eines Anfalls leidet. Dann könntest du mehr Abstand gewinnen. Dann könntest du aus deiner Haut heraus. Vielleicht wäre der Schmerz nicht so groß, wenn jemand anderer ihn an deiner Stelle spüren würde … Lass mich den Anfall an deiner Stelle bekommen. João setzt sich neben Marcos auf dem Boden. Marcos  Jetzt. João legt sich hin. Musik. Lichtwechsel. 38) Nein, das stimmt nicht. 39) Ich habe den Eindruck, ich habe ein sinnvolleres Leben verdient … 40) Ich habe mexikanische Nachos gemacht. Wollt ihr was essen? 41) Ah, nein, wir … Ich glaube, es ist ihr peinlich, hierherzukommen. 42) Hallo … okay, Jungs, das ist Victoria. Wir teilen uns die Wohnung.

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8.

Victoria betritt langsam „Olivias Wohnung“. Sie trägt ein anderes Kleid als Mariana. Olivia geht zur Vorderbühne und spricht zum Publikum, während sie mit João das Bühnenbild auf „Garten“ umräumt.

Branca / Olivia  (zum Publikum) Victoria hatte kaum Ähnlichkeit mit Mariana. Die Haare vielleicht, die gleichen entschlossenen Augen, die Bereitschaft, dringende Probleme zu lösen, wie Glühbirnen wechseln im Himmel anderer Menschen. Je mehr ich versuche, sie zu beschreiben, umso weniger hat sie mit der Realität zu tun … In einer Woche werden Victoria und ich wieder allein in dieser Wohnung sein. Und Marcos wird ein Flanellhemd im Schrank vergessen haben. Es ist ihre erste Nacht hier zusammen, aber es ist so, als wäre es die letzte. Wenn wir in einer Telenovela wären, wäre der Witz, dass Marcos erst am Ende des Abends gemerkt hat, dass Victoria und ich ein Paar waren. Es ist schwer zu beschreiben, was genau passiert ist. Die Dialoge sind fragmentiert … vielleicht waren sie es schon immer.

9.

Victoria und Marcos sitzen auf dem Sofa und trinken Wein. Marcos macht Victoria an. João und Olivia liegen auf der Vorderbühne, im „Garten“.

Marcos  Victoria … „Victoria“ … so hieß eine der Spice Girls … Victoria  Quien? 43 Marcos  Victoria Beckham … mujer von David Beckham. Jugador de pelotas …44 der Metrosexuelle. Victoria  Ah, sí. Spice Girls. Mi gustaba en la adolescencia. Oía mucho.45 Marcos  „Las chicas temperadas“.46 João und Olivia lachen. Victoria und Marcos schauen sie an.

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43) Wer? 44) Viktoria Beckham … die Frau von dem Fußballer … 45) Die fand ich in meiner Jungend toll. Ich habe sie ganz viel gehört. 46) Die coolen Girls.


Marcos  Worüber lachen sie? Victoria  De nosotros dos.47 Kurze Pause. Marcos  Und du? Woran arbeitest du? Victoria  Yo trabajo en un hospital, con Olivia … conduzco una ambulancia.48 Marcos  Wow … du … wow … du fährst einen Rettungswagen? Victoria  Sí. Marcos macht ein komisches Geräusch. Victoria  Qué? Marcos  Nichts … Wollen wir noch was trinken? Marcos schenkt Wein nach. Victoria  Mi trabajo es intentar salvar a las personas que se están muriendo por ahí.49 Marcos  Ich bin … yo estoy … richtig krank. Victoria  Cual es tu enfermedad? 50 Marcos  Du weißt schon … Victoria  No … Marcos  João und ich lieben dieselbe Frau. Sie hat was … es ist … unmöglich, sie zu vergessen. Zu olvidar. Es ist schwer, über sie hinwegzukommen. Victoria  Entiendo … pero no te vas a morir.51 Marcos  Nein, ich glaube auch nicht, dass ich daran sterben werde. Victoria  Te vas a morir? 52 João und Olivia lachen leise. Marcos  Und Olivia und du, lebt ihr schon lange zusammen? Victoria  Unos, hum … bueno, nosotras hacemos el amor hace tres años. 53 Lange Pause. Marcos  Super … Pause. Er steht auf. Marcos  Ich gehe …

47) Über uns beide. 48) Ich arbeite in einem Krankenhaus, mit Olivia … ich fahre einen Rettungswagen. 49) Ich versuche, Menschen zu retten, die am Sterben sind. 50) Was hast du für eine Krankheit? 51) Verstehe … aber daran stirbst du nicht. 52) Du wirst sterben? 53) Ungefähr, hm … okay, wir schlafen schon seit drei Jahren miteinander.

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Victoria  … coger más vino.54 Marcos geht zum „Garten“. Marcos  Olivia, Victoria quiere hablar con usted …55 Branca / Olivia  Sí … después.56 Marcos  No, ahora.57 Sie will ahora mit dir sprechen. Branca / Olivia steht auf und geht ins „Wohnzimmer“. João  Ich werde ein Kind haben … Marcos  Wir sind in eine Falle geraten. Wir müssen sofort hier weg. João  Ihr Bauch hat sich bewegt … Marcos  Hier wird ein schlechtes Spiel gespielt, um mein kaum vorhandenes Selbstwertgefühl endgültig zu zerstören. João  Ich glaube, dass er meine Stimme erkannt hat. Oder sie … Egal was kommt, ich werde es lieben. Marcos  Merkst du nicht, was hier abgeht? João  Du wirst Patenonkel sein. Marcos  Aber merkst du nicht, was hier abgeht? João  Doch, schon. Marcos  João, ich habe dreitausend Dollar für beide Tickets bezahlt. Ich bin arbeitslos. Ich dachte, ich würde mit jemandem schlafen … ich muss mit jemandem schlafen. Irgendwann werde ich wieder mit jemandem schlafen müssen. Branca / Olivia und Victoria betreten den „Garten“. Sie tragen Perücken aus dem 18. Jahrhundert. Ein Walzer wird gespielt. Branca / Olivia  Vamos a bailar? 58 Branca nimmt Joãos Hand. Sie tanzen. Marcos nimmt Victorias Hand. Alle tanzen. Marcos  Wird der Abend so zu Ende gehen? João  Ich weiß es nicht. Marcos  Ich auch nicht. João  Dann können wir machen, was wir wollen. Marcos  Wenn das die letzte Szene in einem Film wäre, was würdet ihr tun? Victoria  Yo bailaría hasta el final de los créditos …59 Marcos  Yo filmaria tu barriga …60 54) … Wein holen. 55) Olivia, Victoria will mit dir sprechen. 56) Ja, später. 57) Nein, jetzt. 58) Wollen wir tanzen? 59) Ich würde tanzen bis zum Umfallen. 60) Ich würde deinen Bauch filmen.

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Victoria  Yo, otra vez, terminaría así. Dos horas de película, nosotros dos, nosotros cuatro, bailando vals, sin parar, hasta que las estrellas desaparezcan …61 Sie tanzen. João  Wenn es ein letztes Bild von dir geben sollte? Marcos  Ein letztes Bild für die ganze Welt… Victoria  En movimiento, desenfocada! 62 Marcos  Ja, alle unscharf! Sie tanzen schneller. João  Wenn du einen letzten Satz hättest? Victoria  Me encanta este baile.63 João  Was Dramatischeres! Branca / Olivia  Ich habe nichts zu sagen! Marcos  Ich habe nichts zu sagen! João  Ich habe nichts zu sagen! Victoria  Me encanta este baile! 64 João  Der letzte Satz muss schon einen tiefen Eindruck hinterlassen. Branca / Olivia  Mi bolsa se ha roto! 65 Sie hören auf zu tanzen. Victoria  Nein … mentira …66 Sie lachen, tauschen Partner und tanzen weiter. Victoria tanzt jetzt mit Olivia und João mit Marcos. Branca / Olivia  Mi bolsa se ha roto! 67 Marcos  Das hast du schon gesagt. Branca / Olivia  Enserio, Victoria! … enserio! Has venido con ambulancia? 68 Victoria  Sí. Ja, ich bin mit dem Rettungswagen da. Branca / Olivia  Puedes encender la sirena … voy a tener un hijo ahora.69

61) Und ich würde es wieder so enden lassen. Zwei Stunden Film, wir beide, wir vier, Walzer tanzend, ununterbrochen, bis die Sterne verschwinden … 62) In Bewegung, unscharf! 63) Mir gefällt dieser Ball. 64) Mir gefällt dieser Ball. 65) Meine Fruchtblase ist geplatzt! 66) Du lügst … 67) Meine Fruchtblase ist geplatzt! 68) Stimmt das, Victoria? … stimmt das? Du bist mit dem Rettungswagen gekommen? 69) Du kannst die Sirene einschalten … ich bringe hier und jetzt ein Kind auf die Welt.

145


Victoria  Qué? 70 Branca / Olivia  Yo voy a tener un hijo ahora. 71 Victoria  Das ist der Schlusssatz. Musik.

10.

Die vier Schauspieler stellen die Stühle wieder so hin wie am Anfang des Stückes und setzen sich. Von links: Mariana, João, Marcos und Branca.

Branca  Übergang. Sie bereiten sich für die letzte Szene vor. Es ist wieder Heiligabend. João, Marcos, Mariana und Branca sind bei Marcos. Branca legt Musik auf. Sie schauen sich an, als würden sie sich wiedererkennen. Freude, Fremdheit, Zugehörigkeitsgefühl und Unbehagen wechseln sich ab. Stille. Marcos  Wen treffe ich dann im Badezimmer? Meine Mutter. Als Flugbegleiterin angezogen. „Siehst du, ich habe es gewusst. Du wirst nie heiraten, nie Kinder bekommen, unsere Familie wird aussterben wie die Berggorillas. Wie die Familie von diesem armen Mann da.“ Ich schaue nach unten und auf dem Klo sitzt ein Mann in Pilotenuniform, ein Flugkapitän mit geschlossenen Augen und einem Lächeln im Gesicht. Wir geraten in starke Turbulenzen. „Komm, Mama, lass uns wieder hinsetzen. Wo hast du dieses Flugbegleiterinnen-Kostüm her?“ „Ich werde mich nicht hinsetzen, mir gefällt es hier.“ Das Flugzeug wackelt wieder. „Komm doch, bevor der Pilot sagt, dass wir uns alle hinsetzen müssen.“ „Das wird er nicht tun … weil dieser Mann hier … dieser Mann ist der Pilot … und er ist tot.“ Pause. João  Und dann? Marcos  Weiß ich nicht, ich habe nur bis hierher geschrieben. Ich finde, die Geschichte könnte auch da aufhören … Sie schauen sich an.

70) … Was? 71) Das Baby kommt.

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Marcos  Ich weiß, es ist ein wenig albern, sogar ziemlich albern. Es ist für den Wettbewerb einer Jugendzeitschrift, Science-Fiction, Kurzgeschichten … Ich benutze ein Pseudonym. Ist die Geschichte so schlecht? Mariana  Klar. João  Sie ist furchtbar. Marcos  Ich werde alles löschen. Alles, was ich bis heute geschrieben habe. Branca  Mach das nicht, ich liebe schlechte Science-Fiction … Mariana  Wann hast du Joaquin zuletzt gesehen? João  Vor fast sieben Monaten. Aber Olivia zeigt ihn mir immer, wenn wir miteinander skypen … Ich habe ein Foto von ihm dabei, mit Olivia zusammen. Er zeigt Mariana das Foto. João  Ich lege gerade Geld beiseite, von meiner Gage … ich glaube, ich werde ihn zu Karneval besuchen können. Mariana  Zu Karneval? Und worum geht es in dem neuen Stück? Ist es wieder ein Drama? João  Nein. Es ist genrelos … ein realistisches Stück, wie das … wie heißt es noch … das Leben. Es gibt keine Figuren, ich spiele mich selbst. Sowas ist gerade total angesagt. Mariana  Was? João  Man selbst zu sein. Mariana  Und gefällt es dir? João  Was bleibt mir übrig … (lächelt) Ja, doch. Und dein Freund? Mariana  Dem geht es gut … João  Ist er verreist? Mariana  Nein. Marcos  Was könnte man tun, um mehr Tiefe zu bekommen? Mariana  Du hast schon Tiefe. Marcos  Nein, ich bin oberflächlich … Du hast mich doch immer dafür kritisiert, du musst mich jetzt nicht anlügen. Man muss der Wahrheit ins Auge sehen, ich bin … ein Swimmingpool … ich bin im besten Fall ein aufblasbares Planschbecken. João  Du bist ein Olympia-Becken. Marcos  Ich bin ein kleines 200-ml-Wasserglas. Mariana  Du bist der Meeresgrund im Ozean, Marcos. Marcos  Wie kann es sein, dass ich so leide und trotzdem nur Schrott schreiben kann?! Die Werbebranche hat mein Gehirn ruiniert! 147


Marcos weint.

João  Weinst du? Marcos  Ich wollte mehr Tiefe haben! Ich freue mich, dass wir wieder zusammen sind! Fuck, wir sollten uns nie wieder trennen! Branca  Me gustan mucho tus historias improbables …72 Mariana  Ich wollte was sagen. João  Was? Mariana  Ich wollte … João  Mir gefällt dieser Satz nicht. Marcos  (zu Mariana) Wen spielst du jetzt nochmal? Mariana  Eine Meerjungfrau. Ich wohne in deinem Aquarium. Jeden Tag blinke ich dir zu, mein Tiefseetaucher. João  Ist das aus einer Telenovela? Mariana  Ja. João  Verdammt nochmal, Mariana … ist das die letzte Folge? Mariana  Hör doch auf, João. João  Aber bin nicht ich derjenige, der heiraten wird, oder? Sie ist immer noch mit dem Filmregisseur verheiratet. Und ich bin wie Charlie Chaplin, ich laufe mit meinem Spazierstock deprimiert zum Horizont. Mariana  Du wirst nie erwachsen. João  Genau, ich werde nie erwachsen. Ich werde nie erwachsen, genauso wie unser abgetriebenes Baby. Mariana  Du Arsch. Du hast noch einen Sohn. João  Lass uns darüber sprechen. Mariana  Er war nicht der einzige Grund, warum wir uns getrennt haben. João  Nein, wir haben uns getrennt, weil wir statt Liebe nur den Tod in dem anderen gesehen haben. Ich bin morgens aufgestanden, habe dich angeschaut, und obwohl du geatmest hast, obwohl du wunderschön ausgesehen hast, warst du für mich wie tot. Und du hast mich genauso angeschaut, als wäre ich das Ende deines Lebens. Mariana  Aber ich habe nie den Tod in dir gesehen! War es deswegen, also? Marcos  „Ende, Ende, Ende.“ Ich kann dieses Wort nicht mehr hören! Anfang, Anfang, Anfang! Mariana  Du steckst in einer Lebenskrise.

72) Mir gefallen deine unwahrscheinlichen Geschichten sehr.

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Marcos  Ich werde für immer in einer Lebenskrise stecken. Verstehst du das nicht? Verstehst du nicht, wofür diese Szene steht? Unsere Jugend ist vorbei! Vorbei! Aber wer sagt denn, dass es gut ist, jung zu sein? Marcos  Fangen wir nochmal von vorne an … Es ist Heiligabend 2009 (korrigiert sich) 2010 … Ich bin in der letzten Stunde zehn Jahre älter geworden … Mariana  Lass uns da weitermachen. Branca  Marcos steht auf und kommt mit einer Champagnerflasche zurück. Marcos  Es ist die letzte aus der Kiste. Mariana  Welche Kiste? João  Die Kiste Champagner … Marcos  Die ich letztes Jahr geschenkt bekommen habe. Kurze Pause. Marcos  Es ist die letzte aus der Kiste. Mariana  Welche Kiste? João  Die Champagnerkiste … Marcos  Die ich letztes Jahr geschenkt bekommen habe. João  Die du mit dem Beetle gebracht hast … Mariana  Der in der Garage abgestellt war, als ihr in Spanien wart. Marcos  Wo ein Reifen vor dir gelandet ist. João  Ein Reifen Marke Goodyear. Marcos  Ein Goodyear Allwetterreifen. Mariana  Und ihr Senõr de Vega nicht kennengelernt habt … Marcos  Und das ist keine Metapher. João  War das letztes Jahr? Mariana  Victoria sah mir ähnlich … Marcos  Der Motor war doch kaputt. Branca  Der Motor vom Beamer … Marcos  Der Beamer war auch kaputt … João  Beim ersten Mal im Kino … Branca  Ich sah aus wie Olivia … Mariana  Beim ersten Mal … João  Beim ersten Mal. Marcos  Bei unserem ersten Mal? João  Unser erstes Mal. Mariana  Bei unserem ersten Mal. 149


Kurze Pause.

João  Ich weiß es nicht mehr.

Sie stoßen an.

Marcos  Auf das Leben … João  Auf das Leben … Branca und Mariana  Auf das Leben. Marcos  (zu Branca) Hörst du nicht auf mit den Enthüllungen? Branca  Ich heiße Branca. João  Jetzt kannst du es sagen … Mariana  Ich … Marcos  (leise) Ich werde anfangen, ich werde dir sagen, was ich fühle, ich werde dir sagen, dass ich ohne dich nicht leben kann … Mariana  Soll ich es wirklich sagen? João  Ich werde nie so weit sein, das weißt du doch, aber mir ist es lieber, wenn du es gleich sagst … Branca  Ja. Mariana  Das wird das letzte Mal sein, dass wir Heiligabend miteinander verbringen. Ich wollte allein kommen, weil … es ist ein Abschied. Nächstes Jahr werde ich … es ist was passiert … Sie schauen sich an. Mariana  Ich bin schwanger. Pause. Branca  Stille. Jemand legt Musik auf. Wir hören nicht, was sie sagen. Die Schauspieler verlassen die Bühne. Sie gehen. Branca, João und Marcos gehen. Mariana bleibt allein auf der Bühne. Mariana  Mariana bleibt allein auf der Bühne. (Pause) João kommt rein und wirft ihr einen Pappkarton zu … Sie schaut nicht zu ihm, sondern nur zum Karton. Er geht wieder. Sie macht den Karton auf … und nimmt Briefe heraus … Ende. Das Licht geht langsam aus. ENDE

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Paulo Santoro

DAS ENDE ALLER WUNDER

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Henry Thorau

153


Das Leben ist ein Wunder. Jede Blume, Mit ihrer Gestalt, ihrer Farbe, ihrem Duft, Jede Blume ist ein Wunder. Jeder Vogel, Mit seinen Federn, seinem Flug, seinem Gesang, Jeder Vogel ist ein Wunder. Der Raum, der unendliche, Der Raum ist ein Wunder. Die Zeit, die unendliche, Die Zeit ist ein Wunder. Das Gedächtnis ist ein Wunder. Das Bewusstsein ist ein Wunder. Alles ist ein Wunder. Außer dem Tod – Gelobt sei der Tod, er ist das Ende aller Wunder. Manuel Bandeira „Vorbereitung auf den Tod“, in Estrela da Vida Inteira (Stern des ganzen Lebens)

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ER, ein alter Mann, sitzt in seinem Rollstuhl allein auf der Bühne. Er schläft. SIE, eine alte Frau, ebenfalls im Rollstuhl, fährt auf die Bühne.

Sie  (wie eine Hommage an ihn) Das Feuer ist nicht das Feuer. Das Feuer ist das Ding – das brennt und erlischt. SIE schläft ebenfalls ein. Pause. Beide wachen auf. Sie  Ich habe achtzig Jahre gelebt. Er  Ich habe fünfundachtzig Jahre gelebt. Sie  Fünfundachtzig? Vermutlich länger! Er  Wann haben wir geheiratet? Sie  Wir haben geheiratet? Er  Ich glaube schon. Sie  Das muss aber sehr lange her sein. Er  Alles ist sehr lange her. Sie  Und heute? Was machen wir heute? Er  Heute unterhalten wir uns. Mir scheint, wir tun nichts anderes. Sie  Du hast recht. Er  Ich, zum Beispiel, werde nie mehr unterrichten. Nie mehr. Ich werde nicht eine einzige Unterrichtsstunde mehr geben. Sie  Du hast einmal unterrichtet? Er  Natürlich habe ich das! Sie  Du hast ein großartiges Gedächtnis. Du erinnerst dich daran, dass du unterrichtet und mich geheiratet hast. Er  Vielleicht bilde ich es mir auch bloß ein. Ob ich mich erinnere? Wer hat mir das alles in den Kopf gesetzt? Was bedeutet „Erinnerung“? Sie  Ich erinnere mich nicht. Er  Wir können doch folgendermaßen vorgehen: Wenn ich mich an etwas erinnere und du dich auch daran erinnerst, heißt das: Es stimmt. Sie  (nicht überzeugt) Wir können es ja mal versuchen. Er  Also los: Ich war Professor! Daran kann ich mich erinnern. Erinnerst du dich auch daran? Sie  Wenn ich ehrlich sein soll: nein. Er  (leicht gekränkt) Wir können also nicht davon ausgehen, dass ich Professor war. Sie  Aber wir können auch anders vorgehen, um herauszukriegen, ob du wirklich Professor warst. Als Professor musst du dich an deine Doktorarbeit erinnern. 155


Er  Warum? Sie  Na ja, die Tatsache an sich – die Tatsache, dass du Professor warst – mag ja etwas dubios, wenn nicht gar absurd erscheinen, aber wenn du dich an deine Doktorarbeit erinnerst, ja dann … dann kannst du wirklich Professor gewesen sein. Er  Und was ist, wenn ich mich an irgendeine x-beliebige Doktorarbeit erinnere? Sie  Nein, das ist etwas anderes. Eine ‚x-beliebige‘ Doktorarbeit kann niemals die eigene Doktorarbeit sein. Von der hat man nur eine vage Idee. Aber wenn du dich so gut an sie erinnern kannst, dass du es schaffst, sie zusammenzufassen, dann ist es deine Doktorarbeit. Er  Wenn ich das hinkriege, dann war ich also wirklich Professor! Sie  Also, erinnerst du dich an deine Doktorarbeit oder nicht? Er  In meiner Doktorarbeit geht es um die Expansion der Galaxien. (düster emphatisch, mit leicht professoraler Attitüde) Astronomische Beobachtungen der 1920er Jahre haben nachgewiesen, dass unserer Milchstraße ferne Galaxien sich schneller von uns entfernen als Galaxien in unserer Nähe. Fortschrittliche wissenschaftliche Untersuchungen konnten infolgedessen nachweisen, dass die Galaxien endlos expandieren werden, ergo ihre Expansion niemals abgeschlossen sein wird. Die Expansion all dessen, was wir Materie nennen, wird erst dann abgeschlossen sein, wenn wir das Vakuum ohne Leben erreicht haben. Will sagen: Am undefinierten und infiniten Ende aller Zeiten wird sich alles in ein Vakuum transformiert haben. Sie  Alles? Er  Alles. Macht dir das keine Angst? Sie  Nein. Das verstehe ich nicht. Was meinst du denn mit „alles“? Er  Alles: du, ich, die Felsen, die eierlegenden Hühner. Nicht zu vergessen die Bibliotheken, die Seminare, die ökologischen Heiligtümer, die bedeutendsten historischen Museen und Naturkundemuseen. Die Luft, die Erde, das Wasser, alles aufgelöst ins Nichts. Sie  (denkt nach, nach einer Pause) Und das alles scheint dir nicht verwerflich zu sein? Er  Warum soll man hassen, was nicht zu ändern ist? Sie  Lassen wir diese Erinnerung einmal beiseite. Ich würde lieber über etwas anderes sprechen. Er  Worüber? 156


Sie  (sucht) Das schönste Ereignis in meinem Leben. Er  Das schönste Ereignis? Sie  In meinem ganzen Leben. (kleine Pause) Ich stand an einer Bushaltestelle. Ich habe mir ein Eis gekauft. Und weißt du, was ich dann gemacht habe? Ich bin zu Fuß bis zur nächsten Haltestelle … Er  (unterbricht sie) Warum hast du das gemacht: Du bist eine Haltestelle weiter gelaufen? Sie  Ich weiß es nicht. Einfach so. Er  Das ergibt doch keinen Sinn. Wenn du auf den Bus gewartet hast, hättest du die Strecke doch auch im Bus zurücklegen können. Sie  Stimmt. Du hast recht. Ich habe es aber trotzdem gemacht. Er  Ein ziemlich dummes Unterfangen. Vielleicht hattest du einfach Lust, dich etwas zu bewegen. Sie  Ich weiß es nicht. Mich etwas zu bewegen? Wer weiß? Das glaube ich eher nicht. Er  Vielleicht wolltest du an der nächsten Haltestelle eine andere, bessere Bus-Linie nehmen? Sie  Nein, das war es auch nicht. Er  Ist dir das nicht peinlich? Das schönste Ereignis in deinem Leben ein sinnloser kurzer Spaziergang! Sie  Ich bin noch nicht fertig. Hör zu. Als ich an der nächsten Bushaltestelle ankam, hatte ich das Eis aufgegessen. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich dort gefunden habe: eine kleine Hündin! Ein neugeborenes kleines Hündchen, das an der Bushaltestelle ausgesetzt worden war. Er  Ja und? Sie  Das Hündchen war total verzweifelt, allein und ausgesetzt, auf der Straße. In Gefahr! Die Autos rasten vorbei! Hätte ich einen Augenblick gezögert, wäre die kleine Hündin überfahren worden! Sie hat gestunken, sie war räudig, total vernachlässigt. Ich habe sie mitgenommen. Ich habe sie gebadet, ich habe sie aufgepäppelt. Und dann habe ich Menschen gefunden, die sie aufgenommen haben: ein altes Ehepaar, das so glücklich war, Gesellschaft zu haben! Er  Die Geschichte beeindruckt mich nicht. Du hast im Laufe deines Lebens … deines so langen Lebens so viele Tiere gerettet … Sie  Die Geschichte beeindruckt dich nicht! Wäre ich nicht von einer Bushaltestelle bis zur nächsten gelaufen, wäre das Hündchen gestorben. So hat es überlebt. 157


Er  Sie  Er  Sie  Er  Sie  Er

(wundert sich) Wie lange ist das her?

Vielleicht vierzig Jahre. Also ist die kleine Hündin längst tot. Ein Trugschluss. Du hast nichts verstanden. Das kleine Hündchen hat überlebt. (nach einer Pause) Die schönste Geschichte in meinem Leben. Erzähl sie! Ich bin neugierig! Besser nicht. Das schönste Ereignis in meinem Leben könnte nicht trivialer und simpler sein. Sie  Das ist ein Widerspruch. Wie kann das „schönste Ereignis“ das „trivialste“ sein? Er  Man muss einfach als schön empfinden, was einfach ist. Was ganz selbstverständlich ist. Will sagen, das schönste Ereignis in meinem Leben findet genau in diesem Augenblick statt. Sie  Wir stehen mit einem Bein im Grab! Er  Noch leben wir. Der schönste Augenblick in meinem Leben ist die ewige Gegenwart. (Pause) Das Jetzt. (Pause) Und jetzt ist immer wieder das Jetzt. Verstehst du das? (kleine Pause) Begreifst du das? (Pause) Jeder Augenblick ist der schönste Augenblick. Unter diesen Bedingungen ist der Tod inexistent. Sie  (schnell) Die Liebe. Er  Was soll mit ihr sein? Sie  Wir können uns über die Liebe unterhalten. Er  Über die Liebe unterhalten? Sie  Ja. Er  In Ordnung. Ich liebe dich. Sie  Wie? Er  Ich liebe dich, meine Liebe. Sie  Na sowas … Er  Genau das. Ich liebe dich. SIE erhebt sich aus ihrem Rollstuhl. Sie  Wenn du mich liebst, stehst du auch auf. ER erhebt sich auch aus seinem Rollstuhl. Sie reichen sich die Hände, singen und tanzen Ringelreihen. Sie sind nicht mehr alt. Sie  (schmiegt sich an ihn und umarmt ihn) Mir ist kalt. Er  Immer mit der Ruhe, Liebste. (Er macht Feuer im offenen Kamin.) So, gleich wird dir warm. Sie  Aber das Feuer wird ausgehen. Warum geht das Feuer aus? 158


Es wäre merkwürdig, wenn es nicht ausgehen würde. Du weißt nicht, was du antworten sollst … Das Feuer geht aus, weil das Brennholz verglüht, glaube ich. Und warum verglüht das Brennholz? Es wäre merkwürdig, wenn es nicht verglühen würde. Schon wieder! Was willst du? Das Feuer ist nicht das Feuer! Das Feuer ist das Ding – das brennt und erlischt. So ist das nun mal. Sie  Aber warum ist das so? Er  Wie sollte es denn deiner Meinung nach sein? Sie  Dass das brennende Objekt für immer brennt, immer, immer, immer. Er  Der Idee des Feuers ist inhärent, dass etwas zerstört wird. Sie  Es könnte aber doch auch ganz anders sein. Sie umarmen sich vor dem offenen Kamin. Sie  Ich habe riesigen Hunger. Er  Ich werde uns etwas zu essen bestellen. Worauf hast du Lust? Sie  Bitte kein Fleisch. Ich ertrage es nicht, dass ein Tier stirbt, nur damit ich was zu essen habe. Er  Wie wäre es mit ein paar Eiern? Sie  Auf keinen Fall. Das käme einer Abtreibung gleich. Er  Und wie steht es mit Reis und Erbsen? Sie  Wäre das nicht ein Attentat auf die Samen neuer pflanzlicher Wesen? Er  Salat? Brokkoli? Sie  Ich würde die Nahrungsmittel am liebsten der Erde selbst entnehmen. (kleine Pause) Hör mal! Da macht jemand Musik. (Sie lauschen.) Er  Wunderschön! Sie  Die Menschen können nicht ohne Nahrungsmittel existieren, sie können aber auch nicht ohne so schöne Musik leben. Er  Das stimmt nicht. Sie  Was stimmt nicht? Er  Dass man nicht ohne Musik leben kann. Man kann sehr gut ohne Musik leben. Sie  Dann erkläre mir mal, wie. Er  Welche Bedeutung hat Musik für einen Tauben? Nicht die geringste. Der Taube hört sie nicht. Sie  Beethoven war taub, dennoch war die Musik für ihn lebenswichtig. Er  Beethoven ist ertaubt, das ist etwas völlig anders. Jemand, der von GeEr  Sie  Er  Sie  Er  Sie  Er

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burt an taub ist, hat nie Musik gehört. Er wird geboren, er wächst heran, er pflanzt sich fort und stirbt. Wie alle Menschen, die Musik hören. Sie  (memoriert) Wächst heran, pflanzt sich fort und stirbt … Sie ziehen sich aus und reiben sich kräftig aneinander. Sie  (keuchend) Was machen wir jetzt? Er  (keuchend) Wir produzieren neue Lebewesen, die Musik hören! Sie  Aber es werden auch Lebewesen sein, die Fleisch essen! Er  Das können wir nicht verhindern, jeder hat die Freiheit, seine Lebensmittel selbst zu wählen! Sie  Die Freiheit, arme Tiere zu töten? Er  Wir müssen für die Arterhaltung sorgen! Sie  Aber genau das habe ich doch gesagt: für die Arterhaltung sorgen! Er  Unsere Art. Die anderen zählen nicht. Sie strecken sich erschöpft auf dem Boden aus. Er  (verzückt) Es gibt Gefühle, die sind wichtiger als das Leben selbst! Sie  Gefühle, wichtiger als das Leben selbst? Wie soll denn das gehen? Er  Gefühle, wichtiger als das Leben selbst. Wie die intellektuelle Ekstase, zum Beispiel. Sie  Was ist denn eine intellektuelle Ekstase? Er  Ein unvergleichliches Gefühl, das es kein zweites Mal gibt. Zum Beispiel die Erfüllung eines Ideals. Die Gewissheit über die Richtigkeit einer Überlegung. Sie  Die Gewissheit über die Richtigkeit einer Überlegung? Die Erfüllung eines Ideals? Diese Dinge sind nicht wichtiger als das Leben! Er  Dann erkläre mir bitte, warum sie das nicht sind! Sie  Das können sie auch gar nicht. Würden wir nicht leben, hätten wir auch keine Ideale und keine Gedankenspiele. Am Anfang war das Leben, das Denken kommt danach. Er  Ach, dieser existenzialistische Schwachsinn! Meine Liebe, die Menschen sterben, aber die Ideen bleiben. Willst du etwa sagen, das Leben, das erlischt, ist mehr wert als die Ideen, die überleben? Sie  Die Ideen der Menschen, die sterben, bleiben, aber sie bleiben den Menschen erhalten, die noch am Leben sind. Würden wir alle auf einmal sterben, würde keine Idee überleben. Die Ideen hängen von den Menschen ab. Was also ist wichtiger? Er  Ideen hängen nicht von den Menschen ab. Wir interpretieren nur ihre Schatten. Diese Feinheiten verstehst du nicht. 160


Sie  Nimm deine Tablette und du beschäftigst dich nicht mehr mit solchem Zeug. Sie stecken beide eine Tablette in den Mund. Er  Ah, du hast recht! Jetzt sehen wir andere Dinge! Sie  Früher hätten wir gesagt, das ist eine Konsole und das ist ein Fernseher. Von wegen! Es ist ein Bild von Picasso! Er  Ja, ein orangefarbenes Bild von Picasso! Sie  Es ist nicht orangefarben, es ist grau! Er  Grau war es früher! Als ich es erwähnte, war es orangefarben. Jetzt ist es marineblau. Sie  Schon nicht mehr! Er  Siehst du, es hat seine Farbe schon wieder verändert. Sie  Nicht einmal auf ein Bild kann man sich mehr verlassen! Er  Wunderbarer Picasso! Revolutionär! Sie  Niemand kann ohne die Bewunderung für solche Bilder leben! Er  Natürlich kann er das! Was bedeutet einem Blinden die Malerei? Sie  Die Wirkung der Tablette lässt nach. Er  Wie schade. Sie  In solchen Augenblicken bekomme ich Bauchschmerzen. Er  Bei mir lässt die Wirkung auch nach. Sie  Wie schade. Er  Vorbei. Sie  Vorbei. Er  Aber es hat doch eine ganze Weile angedauert. Sie  Hat angedauert, aber ist vorbei. Es wäre besser, wenn der Zustand immer andauern würde. Für immer. Dann hätte ich keine Bauchschmerzen. Und Picasso wäre immer grau. Er  Orangefarben. Marineblau. Sie  Wenn man es wirklich bedenkt, ist es besser, die Dinge gehen vorüber. Nachdem sie gedauert haben natürlich. Draußen ist eine Musikgruppe zu hören. Er  (läuft ans Fenster) Schau! Draußen zieht das Leben vorüber! Sie  Das kann ich auch von hier aus sehen! Er  Du meinst, du musst dir diese Dinge nicht aus der Nähe ansehen. Du irrst dich. Sie  Ich weiß zu jedem Zeitpunkt, dass das Leben vorbeigeht. Ich brauche keine Parade mit Fähnchen, um daran erinnert zu werden. 161


Er  Auch ich brauche keine Parade mit Fähnchen, um daran erinnert zu werden, dass das Leben vorbeigeht! Aber die Paraden machen das Lebensschauspiel sehr viel bunter! Sie  Bunter? Einen Vorgang, der so normal, der so alltäglich ist. Du hast nur deshalb vergessen, dass das Leben vorbeigeht, weil du auf einer Wolke von Ideen lebst. Mir passiert das nicht. Siehst du diese Strickjacke? Was glaubst du, wie ich das zustande gebracht habe? Das ist kein Stofffetzen. Das ist ein Fragment unseres Lebens! Er  Und hast du aus deinem Leben etwas Bedeutendes gemacht? Sie  Ich bin noch dabei. Schweigen. Er  Wenn du dir aussuchen könntest, wie du stirbst, welchen Tod würdest du wählen? Sie  Einen natürlichen Tod. Wie könnte ich mir etwas anderes vorstellen? Er  Und wie ist ein natürlicher Tod? Sie  Natürlicher Tod heißt natürlich sterben. Wenn die Kräfte versiegen. Er  Ein Schädelbruch bei einem Sturz ist kein natürlicher Tod? Sie  Bist du verrückt? Natürlich nicht. Er  Wieso nicht? Jeder Mensch kann eine Treppe hinabstürzen. Einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen. Mit dem Gesicht auf einen Pfosten aufschlagen. Das passiert andauernd. Nichts ist natürlicher. (kleine Pause) Es wäre unnatürlich, sich den Schädel zu spalten und nicht zu sterben. Sie  Und du? Welchen Tod würdest du wählen? Er  (nachdenkend) Den Tod des Dichters. Sie  Den Tod des Dichters? Er  Das Ende aller Wunder. Schweigen. Sie  Ich bin traurig. Er  Du tust dich schwer, glücklich zu sein. Sie  Wie das denn? Ich und schwertun? Ich bin traurig, nichts weiter. Er  Fühlt es sich gut an, traurig zu sein? Sie  Nein. Beschissen! Er  Und warum bist du dann traurig? Sie  Meinst du, ich habe es mir ausgesucht? Er  Vielleicht nicht. Vielleicht hast du aber auch nicht das Gegenteil versucht. 162


Sie  Was ist denn das für ein Schwachsinn? Wie kann ich mir denn aussuchen, glücklich zu sein? Er  Genau: aussuchen. Und deshalb behaupte ich, dass du dich damit schwertust, glücklich zu sein. Sie  Und was sollte ich machen? Er  Erlebst du nur schlechte Momente oder auch gute Momente? Sie  Schlechte und gute. Er  Lebe die guten ganz intensiv. Konzentriere dich darauf. Erinnere dich die ganze Zeit an sie. Sie  (etwas gleichgültig) Okay … und die schlechten? Er  Betrachte sie wie einen schmutzigen Teller. Sie  Einen schmutzigen Teller? Er  Du weinst über einen schmutzigen Teller? Du verzweifelst über einen schmutzigen Teller? Nein. Was machst du? Betrachte diesen Teller mit Gleichgültigkeit. Nimm ihn und spüle ihn ab. Das Gleiche muss man mit den Problemen machen, die schlechte Momente erzeugen. Sie  Wer hat dir gesagt, dass das Leben nur eine Summe von Augenblicken ist? Er  Niemand. Ich bin selbst darauf gekommen. Sie  Mein Leben ist völlig anders. Es ist ein einziger Moment. Und jetzt lass mich in Ruhe. Ich bin sehr traurig. Er  (nach einer Pause) Weißt du was, meine Liebe? Es gab in meinem Leben viele Momente, wirklich viele, wo ich mich auf dem Höhepunkt der Zufriedenheit selbst beobachtete und dachte: Ich bin glücklich, ich bin unendlich glücklich. Aber es gab auch Momente, wo ich zur einen Seite (nach links) und dann zur anderen Seite (nach rechts) schaute und dachte: Mann, was soll das? Wo bin ich? (Pause) Wer ist eigentlich dieses Ich, das sich manchmal für absolut glücklich hält? Er setzt sich wieder in seinen Rollstuhl, neben ihren Rollstuhl, in dem sie auch wieder sitzt und strickt. Jetzt sind sie beide wieder alt. Sie  (heftig) Ich bin ein Körper! Ein lebendiger Körper! Ich bin keine blöde Wortfabrik! In meinen Adern fließ Blut! Ich habe ein Herz, das mich am Leben hält! Ich habe einen starken Atem, damit du hörst, was ich sage! Er  (ruhig) Richtig. Du bist ein Körper. Sie  Ich bin ein Körper, ein Körper braucht keinen Gott! Er  Gott ist größer als die Einsamkeit. Selbst für einen Körper. Sie  Ich habe sie so satt, diese idiotischen Gedankenspiele. 163


Er  In der Vergangenheit waren wir blutjung und gesund … Aber heute ist Gegenwart. In der Gegenwart sind wir weder gesund noch jung. Wir sind Kranke im Endstadium, unsere Körper dienen uns zu nichts mehr. (kleine Pause) Ein altersschwacher, gebrechlicher Soldat erbat von Cäsar die Erlaubnis, sich das Leben nehmen zu dürfen. Cäsar antwortete ihm: „Glaubst du etwa, du lebst noch?“ (lacht) Sie  Wir sind nicht tot. Er  Nun, wir werden es aber bald sein. Sie  Hurra, wir leben noch. In der Gegenwart. Technisch zumindest. Es gibt auch Menschen, die weniger lebendig sind als wir, die dahinvegetieren und sich nicht verständlich machen können. Bei uns ist das anders. Wir können uns verständigen. (Pause) Aber wenn meine Stimmbänder versagen, wie willst du dann wissen, was ich denke? Er  Du kannst es aufschreiben. Sie  Wenn ich meine Hände nicht mehr bewegen kann. Er  Dann kannst du mit den Augen zwinkern, deinen eigenen Code kreieren. Sie  Wenn mein Hirn nicht mehr funktioniert. Er  Dann bist du schlicht und ergreifend tot. Sie  Dann produziere ich keine Gedanken mehr: denn sie sind abhängig von dem unaufhörlichen Hin- und Herschwappen dieser roten Flüssigkeit. Er  (wagemutig) Oder sie hängen von einem nicht Fleisch gewordenen Geist ab, der diese Flüssigkeit überlebt und alles, was sich zersetzt. Sie  Mach dich nicht lächerlich. Das glaubst du doch selbst nicht. Er  Die Wahrheit hängt nicht von meinem Glauben ab. Sie  Dann bringt es also überhaupt nichts, an irgendetwas zu glauben? Er  Wir müssen an nichts glauben – aber warum zweifeln? Sie  Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich morgen in einem lackierten Holzsarg liegen kann, ohne mir dessen bewusst zu sein. Er  Oder dir dessen bewusst zu sein, ohne darin zu liegen. Sie  Unsere Gedanken, unser Bewusstsein sind das Ergebnis elektrischer und chemischer Prozesse in unserem Gehirn. Er  Dann bist du aber auch verpflichtet zuzugeben, dass deine Vorstellung, unsere Gedanken seien das Ergebnis elektrischer und chemischer Prozesse – also die Vorstellung als solche –, ebenfalls das Ergebnis elektrischer und chemischer Prozesse deines Gehirns ist. Für jemanden, der eine „endgültige und absolute Wahrheit“ beansprucht, ist eine Vor164


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stellung, die aus einer simplen chemischen Reaktion hervorgeht, doch ziemlich mickrig … (beginnt zu weinen) Mein Sohn … (gespielt gleichgültig) Du hattest einen Sohn? (schluchzt) Mein Sohn … der kleine Körper meines Kindes … ich habe ihn gewärmt … ich habe ihn genährt … ich habe ihn gepflegt … ich habe diese immer durchsichtigere Haut liebkost … ich habe diese immer zerbrechlicheren Knochen gestützt … sein Hirn … sein armes Hirn … (solidarisch) Vorbei … es ist vorbei … Jetzt wartet er dort oben im Himmel auf uns. (weint) Ich vermisse ihn so, diesen kleinen schwachen Körper … Meine Liebe, du darfst jetzt nicht daran denken. Das darfst du nicht. Das tut dir nicht gut. Kannst du mir in dieser kurzen und stupiden Existenz etwas nennen, was uns wirklich guttut, mein Lieber … So darfst du nicht sprechen … wir haben viel gelacht … wir haben viel frischen Wind ins Gesicht bekommen … Und heute sind wir hier und dürfen uns glücklich schätzen, dass wir leben. Wir haben überlebt mit dem, was uns an vitalen Funktionen geblieben ist: unserem Bewusstsein und unserem Denken. Unser schwaches, fast verfaultes Fleisch hält keine Persönlichkeit, keine Kreativität mehr aufrecht. Was uns geblieben ist, ist die Essenz dessen, was wir sind. Fehlt dir der kleine Junge nicht? Würdest du dir nicht wünschen, heute in den Spiegel seiner leuchtenden Augen zu schauen? Nein. (kleine Pause) Ich habe alle notwendigen Tränen für ihn vergossen. (kleine Pause) Sein Körper hat uns verlassen. Sein Bewusstsein schwebt irgendwo durch den Raum. Vielleicht beobachtet er uns in ebendiesem Augenblick voller Mitleid. (hört auf zu weinen) Vielleicht … vielleicht beobachtet er uns. Oder er beobachtet uns nicht. Woher wollen wir das wirklich wissen? Was können wir wirklich wissen? Was wir wissen können? Du hast recht. Ich habe nie an solche Dinge geglaubt. Aber die Wahrheit hängt nicht von meinem Glauben ab. Darüber hinaus habe ich auch nie geglaubt, dass unser Bewusstsein das Ergebnis elektrischer oder chemischer Hirnprozesse ist. Du glaubst an nichts. 165


Er  Noch weniger zweifle ich. (Pause. Mit solidarischer Stärke insistierend.) Du hast alles für den Jungen getan, was in deinen Möglichkeiten stand. Sie  Ich weiß. Er  Alles. Sei dir dessen bewusst. (hypnotisch) Er hat die Gegenwart so gut gelebt, wie er konnte. Sie  Nur, dass er nicht unsere Gegenwart lebt. Er  Es gibt nur eine Gegenwart. Es gibt nicht deine und meine Gegenwart. Es gibt nur eine Gegenwart: die Gegenwart. Und die hat er gelebt. Sie  Eine kurze Gegenwart. Er  Die Gegenwart. Für ihn so gut wie möglich. Sie  (jetzt stark) Ich habe mich rührend um ihn gekümmert. Ich habe ihn genährt. Ich habe ihn lieb gehabt. Pause. ER sinkt schließlich in sich zusammen und beginnt heftig, aber stumm zu weinen. Ein guter Schauspieler kann sich dafür entscheiden, nicht zu weinen, wenn er deutlich machen kann, welche Kraft es ihn kostet, das Weinen zu unterdrücken. SIE beobachtet ihn. Eine ganze Zeit lang. Schließlich hört er zu weinen auf. Sie  Sehr gut, was fehlt uns, damit du unser so ruhiges Dahinleben nicht als vegetativ betrachtest? Er  Sex? Sie  (spöttisch) Und du glaubst, dass ich will? Er  (denkt nach, nach einer Pause) Ich rede nicht von dir. Sie  (nach einer Pause) Von wem denn dann? Er  Von niemand Bestimmtem. Sie  Was willst du damit sagen? Er  (entschlossen) Ich meine ein schönes Callgirl. Sie  Ein Callgirl? Er  Eine umwerfende Frau. Wie ich sie nie hatte. (Es muss deutlich werden, dass er dazu körperlich überhaupt nicht in der Lage ist.) Sie  Nie? Er  Wir stehen mit einem Bein im Grab, wir haben nichts mehr zu verlieren, alles ist möglich, ohne Scham, ohne Schuldgefühle, ohne Vorwürfe. Sie  Darüber hättest du mit dreißig nachdenken sollen. Dass wir mit einem Bein im Grab stehen, spielt keine Rolle. Er  Natürlich spielt das eine Rolle. Mit dreißig, mitten im Leben, wäre das nicht ohne Schuldgefühle und Verletzungen möglich gewesen. Sie  Doch, es wäre möglich gewesen, und ob! Ehebruch ist eine miese Sa166


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che, oder etwa nicht? Mit dreißig waren wir lebendig und verheiratet. Wie jetzt auch. Wenn du Sex mit einer Prostituierten … (unterbricht sie) Ich habe Callgirl gesagt. Du weißt, ich habe die Dinge immer beim Namen genannt. (fährt fort) Wenn du heute mit einer Prostituierten Sex hast, ist das genauso, als wenn du als Dreißigjähriger mit ihr Sex hast. Das verstehe ich nicht. Schau dich an. Schau mich an. Wir sind … was? Scheintot. Alt und gebrechlich. Macht das nicht alles leer und sinnlos? Nein. Unser Alter und unsere Gebrechlichkeit macht nicht alles leer und sinnlos. Unsere Gebrechlichkeit verändert nur unseren Blick auf die Dinge. Aber es genügt, dass wir mit dreißig an unseren Körpern Zeichen künftiger Gebrechlichkeit erkennen, um zu begreifen, dass alles „leer und sinnlos“ ist. Mit anderen Worten, du kannst nicht sagen, dass der Zustand, in dem wir heute leben, uns zwingt, deine Idee, Sex mit einer Prostituierten zu haben, mit anderen Augen zu sehen. Du willst also damit sagen, man sollte sowohl mit dreißig wie auch heute davon ausgehen, dass „alles leer und sinnlos ist“. Richtig? Richtig. Tatsache ist aber, dass wir mit dreißig nicht so gedacht haben. Zumindest ich habe nicht so gedacht. Ich tue es erst jetzt. Mag sein. Jetzt werden wir uns klar darüber. Wir begreifen endlich, was das Wort „sterblich“ bedeutet. Wir sind dabei, dieses Wort zu leben. Ich bin „brünett“, ich bin „zickig“ und ich bin sterblich. Großartig. Daraus schließen wir, „alles ist leer und sinnlos“, und zwar für alle Leute, egal wie alt sie sind, mit dem Unterschied, dass die Alten, die schon nach Friedhof riechen, das eher begreifen als Dreißigjährige, die nicht einmal daran denken wollen. Das ändert jedoch nichts an meiner Argumentation, meine Liebe. In einer Welt ohne Sinn, was macht es da für einen Unterschied, dass ein alter Mann in seinen letzten Augenblicken noch etwas Spaß haben will? Denselben Unterschied, den es bei einem testosterongesteuerten Dreißigjährigen macht. Würdest du mit dreißig auch so argumentieren? Aber natürlich. Du selbst hast mich gerade davon überzeugt, dass das Argument absolut in jeder Situation gültig ist. Ich hätte mit 17 genauso argumentiert. Mit dem Unterschied, dass ich nicht mehr 17 bin, sondern um ein Vielfaches älter. Mit dem Unterschied, dass ich nicht gesagt habe, dass das Argument 167


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per se gültig ist. Ich habe gesagt, dass es entweder immer gilt oder nie. Wenn es mit 90 stimmt, dann stimmt es mit 30 und auch mit 15. Und darin hast du mir zugestimmt, als du gesagt hast, je früher du darüber nachgedacht hättest, desto früher hättest du auch danach gehandelt. Du hast mir zugestimmt, dass du keinen Grund mehr hast, jetzt danach zu handeln. Du willst damit sagen, dass das Argument nicht zählt? So ist es. Du kannst keinen Sex mit einer Prostituierten haben – weder mit 20 noch mit 140 – weil das meine Ehre verletzt. Deine Ehre verletzt?! Es geht dir einzig und allein darum, Argumente zu finden, die deine Schuldgefühle verringern, weil du Sex mit einer Prostituierten haben willst. Du hast selbst gesagt: Mit 30 hättest du Schuldgefühle gehabt, heute nicht. Inzwischen wissen wir, dass es keinen Unterschied macht, ob du 30 oder 100 bist. Du sagst, im einen wie im anderen Fall besteht kein Grund zu Schuldgefühlen. Und ich behaupte das Gegenteil. Wozu also Schuldgefühle? Aus Respekt mir gegenüber. Du meinst, ich sollte nicht so viel Wert darauf legen. „Alles ist leer und sinnlos“, oder anders gesagt, wie lächerlich ist es doch, von „Ehre“ zu sprechen, wo wir doch alle erbärmliche sterbliche Menschen-Gestalten sind, voller Begierden, die nach ihrer Befriedigung lechzen. Ich finde, wir sollten einfach Respekt voreinander haben, denn das erlaubt uns, in Würde zu leben. (ernst) Führst du diese Diskussion nicht etwas zu sentimental? (fährt herunter) Rede doch kein dummes Zeug. Gut. Nun stelle dir mal folgende Situation vor, meine Liebe. Wir beide werden gemeinsam alt – stimmt doch, wir sind ein Ehepaar –, aber du hast dein Herz und ich habe mein Herz. Und nun fällt ein Meteor auf unser Haus, und einer von uns beiden wird zuerst sterben. Die Chancen, dass ich derjenige bin, der zuerst stirbt, liegen bei fünfzig Prozent. Da stehst du dann also vor meiner Leiche und sagst weinerlich: „Jetzt ist er tot, der Ärmste, nach so vielen quicklebendigen Jahren an meiner Seite.“ Du ziehst die Schublade mit meinen Socken auf – es gibt nichts Idiotischeres als eine Schublade mit Socken –, siehst sie mit Tränen in den Augen an und sagst: „Jahrein, jahraus hat er diese Socken getragen, der Ärmste, wozu sind sie jetzt noch nützlich?!“ Und was sollen wir daraus schlussfolgern? Wenn du vor mir stirbst, muss ich keinen Kompromiss mehr eingehen –


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mit deiner „Würde“ zum Beispiel – und ich tue das, was ich mir vorgenommen habe. Sollte ich früher sterben, wirst du begreifen, was es heißt, dass ich mir meinen kleinen Wunsch nicht mehr erfüllen konnte, und du wirst dir Vorwürfe machen. Ich habe verstanden: Ich soll also wählen zwischen schlechtem Gewissen und Schande. Wir müssen uns darüber klar werden, dass es schlichtweg lächerlich ist, von Dingen wie „Ehre“ zu sprechen angesichts des Schauspiels unserer Fleischeslust – angesichts des Schauspiels unseres … fleischlichen Versagens … ohne Erinnerung an das Verlangen. Und auch ohne Erinnerung an deine Frustrationen. Unser Körper wäre lebendiger gewesen, wenn er nicht so viele Frustrationen hätte erleben müssen. Warum bist du dir so sicher, dass es notwendig ist, sich vorzustellen, dass wir nur Fleisch sind, damit du deine These verteidigen kannst, Sex mit einer Prostituierten haben zu müssen … Du denkst also nicht so? Kann sein. Aber es nicht „alles erlaubt“, nur weil wir Fleisch sind. Respekt erwarte ich von dir nicht nur mir gegenüber. Respekt erwartest du auch dir selbst gegenüber. Dein Respekt vor mir ist auch dein Respekt vor dir. Das verstehe ich nicht. Stelle dir mal folgende Situation vor. Du hast gerade deine Prostituierte eingeladen. Sei bitte höflich, wenn sie kommt, und verwende den Begriff nicht in ihrer Gegenwart. Ich habe dann schon meine Tabletten genommen und bin schlafen gegangen. Sie läutet an der Tür. Du gehst hin und öffnest. Du bist etwas erregt, aber auch aufgeregt, sogar etwas verwirrt, du weißt nicht genau, was passieren wird. Wenn du sie anschaust, stellst du fest, dass sie nicht ganz dem Foto aus dem Internet entspricht. Die Kurven sind alle da, aber sie ist kleiner, sie hat ein paar Speckröllchen angesetzt, oder sie ist zu stark geschminkt, übertrieben grell angemalt, ekelerregend – oder sie ist überhaupt nicht geschminkt, vor dir steht eine völlig verlebte, abgetakelte Person. Und du fragst dich: Was ist eigentlich die perfekte Frau? Was ist das eigentlich für ein Wesen, das mich dazu bringen soll, das Leben nach einer einzigen sexuellen Begegnung mit anderen Au169


gen zu sehen? Aus welcher Entfernung muss ich sie betrachten, um eine vollkommen zarte Haut zu sehen? Wie muss ich ihr gegenübertreten, damit ihre gute Laune nicht umschlägt? Du bist völlig klar im Kopf – du hast wegen deiner blutdrucksenkenden Medikamente keinen Tropfen Wein getrunken – und deshalb drängen sich so viele Fragen auf. Und während du dir diese lebenswichtigen Fragen stellst, ist sie schon hier im Zimmer. Sie lächelt, sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen da. Du merkst sofort, dass sie, wie versprochen, ein Profi ist – sie ist keine gewöhnliche Prostituierte und schaut nicht auf die Uhr. Sie hat einen anderen Zeitrhythmus als du. Sie macht alles sehr schnell, aber jeder Griff sitzt. Nach einigen Minuten hast du dich bereits an ihr Aussehen gewöhnt. Sie ist wirklich hübsch, und dir wird klar, dass sie noch attraktiver sein kann als in ihrem Internetauftritt. Es besteht kein Zweifel: Sie ist ein menschliches Wesen. Aber du musst mit ihr Sex haben. Du musst sie splitternackt vor dir haben – bevor du überhaupt weißt, wer sie ist. Du musst dir eingestehen, dass sich dieses unbekannte Wesen vor dir auszieht. Du musst spüren, wie diese samtweiche Haut deine faltige Lederhaut berührt. Von dem Moment an, wo sie das Zimmer betrat, hast du es aufgegeben, ein freier Mann zu sein: Jetzt bist du nur noch Konsument. Du lässt dich auf das Spiel ein und, erregt wie du bist, flößen dir die falschen Lustschreie des „Premium Escort-Girls“ keinen Ekel ein. Und irgendwann merkst du, dass du irgendwie zum Happy End gekommen bist. Sie zieht sich an, und du weißt nicht, was du jetzt mit dir anfangen sollst. In diesem Augenblick wird dir klar, dass du von dieser Frau ausgenommen wurdest. Dass sie nichts von dir will außer deinem Geld. Dass du von ihr nichts zu erwarten hast. Sie geht und lässt dich in deinem ganzen Dreck zurück. Nach alldem kannst du sogar versuchen, dir einzureden, dass das wohl doch nicht der beste Zeitpunkt war: Am Vorabend hattest du eine Rheuma-Attacke oder am nächsten Tag stand eine lästige Untersuchung an. Die ganze Freude lag in der Erwartung des reichen Kindes vor dem Auspacken der Geschenke. (kleine Pause) Und jetzt sitzt du da. Allein. Die Erregung ist vorbei. Sie hat eine Zeitlang standgehalten, aber jetzt ist sie vorbei. Du denkst nicht mehr an deine Wollust, und so nimmt alles wieder seinen gewohnten Lauf, „leer und sinnlos“. Wie vorher. Schweigen. Er  Die Phantasie ist mehr wert als die Realität … 170


Schweigen.

Sie  Eine Art, die Dinge zu sehen.

Schweigen. ER fährt langsam mit dem Rollstuhl hinaus.

Sie  (während er hinausfährt, nimmt sie den Anfang des Stückes wieder auf) Feuer ist nicht das Feuer. Das Feuer ist das Ding – das brennt und erlischt. (ER ist inzwischen nicht mehr zu sehen. Pause. SIE erinnert sich wie in Trance.) Astronomische Beobachtungen der 1920er Jahre haben nachgewiesen, dass unserer Milchstraße ferne Galaxien sich schneller von uns entfernen als Galaxien in unserer Nähe. (Während sie spricht, schiebt ein Mann unauffällig den leeren Rollstuhl ihres Mannes herein, als würde er ein unnützes Objekt in einen Abstellraum entsorgen.) Fortschrittliche wissenschaftliche Untersuchungen konnten infolgedessen nachweisen, dass die Galaxien endlos expandieren werden, ergo ihre Expansion niemals abgeschlossen sein wird. (Inzwischen ist der Mann, der den Rollstuhl hereingeschoben hat, wieder hinausgegangen. Pause. SIE spricht sanft weiter und schaut dabei auf den leeren Rollstuhl.) Die Expansion all dessen, was wir Materie nennen, wird erst dann abgeschlossen sein, wenn wir das Vakuum ohne Leben erreicht haben. Will sagen: Am undefinierten und infiniten Ende aller Zeiten wird sich alles in ein Vakuum transformiert haben. Alles: du, ich, die Felsen, die eierlegenden Hühner. Die Bibliotheken, die Seminare, die ökologischen Heiligtümer, die bedeutendsten historischen Museen und Naturkundemuseen. Die Luft, die den Schall der Hymnen durch die Erdatmosphäre trägt. Die Erde. Das ganze reine Wasser. Als SIE ihren letzten Satz beendet hat, kommt ER wieder in seinem Rollstuhl hereingefahren. SIE ist überrascht, ihn zu sehen. ER hält vor ihr an. Sie lächeln sich an. Sakralmusik. Sie reichen sich die Hände. Der Mann, der unauffällig den leeren Rollstuhl des Mannes hereingeschoben hat, schiebt nun einen Rollstuhl herein, der genauso aussieht wie der Rollstuhl der Frau. Dann geht er wieder ab. Das Stück endet damit, dass ER und SIE nun nebeneinander in ihren Rollstühlen sitzen, identische leere Rollstühle vor sich. Ende

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Sérgio Roveri

HÄNGEPARTIE (MIT INNENANSICHTEN)

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Ute Hermanns

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Arbeitsbühne an der Fassade eines Wolkenkratzers. Darauf sitzen José Mário und Claudionor. Sie sind zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, tragen die Dienstuniform ihrer Reinigungsfirma und arbeiten als Fensterputzer. Auf der Arbeitsbühne gibt es Eimer, Besen, Fensterabzieher und Tücher. Die beiden sind angeseilt. Als der Vorhang aufgeht, erledigen sie mechanisch ihre Aufgaben. Nach fast einer Minute fängt José Mário ein Gespräch an.

Mário  (beobachtet unruhig den schweigenden Claudionor) Was hast du heute? Claudionor  Warum? Mário  Du bist so still. Seitdem wir heute hier angefangen haben, sitzt du da mit deinem großen Maul. Claudionor  Es war nichts. Mário  Warst du gestern beim Bingo-Spiel? Claudionor  Nein. Mário  Dann deswegen. Claudionor  Wieso deswegen? Mário  Bist direkt nach Hause, warst länger mit deiner Frau zusammen und machst jetzt dieses Gesicht. Claudionor  Als ich heimkam, war meine Frau nicht da. Sie kam viel später. Jetzt hat sie angefangen, im Stadtviertel Lose bei Tombolas zu verkaufen. Man weiß nie, wann sie nach Hause kommt. Mário  Ehrlich? Claudionor  Sie hat letzte Woche angefangen. Und schon drei Heftchen mit Loskärtchen verkauft. Mário  Was sind das für Tombolas? Claudionor  Bei der ersten gab es einen Schnellkochtopf. Bei den anderen hab ich nicht gefragt. Ich glaube, es gibt solche Sachen: Töpfe, Gläsersets. Ich weiß, dass die Dinge in eine Tragetasche passen müssen, denn sie zeigt dem Kunden das Produkt mit den Loskärtchen. Das hat sie mir gesagt. Mário  Sind das etwa solche Loskärtchen mit Frauennamen? Claudionor  Ich hab nicht darauf geachtet. Warum? Mário  Tu mir einen Gefallen. Wenn es diese Loskärtchen mit Frauennamen sind, schau mal, ob es eins mit Magali gibt? Wenn ja, kannst du eins für mich kaufen? 175


Claudionor  Und wenn nicht? Mário  Wenn nicht, dann will ich keins. Du kaufst nur, wenn es Magali gibt. Claudionor  Du könntest eins mit irgendeinem Namen kaufen, um zu helfen. Mário  Wenn ich mal in einem Monat etwas flüssiger bin, gerne. In diesem Monat kaufe ich nur, wenn es Magali gibt. Claudionor  Ist gut, ich seh mal nach. Schweigen. Die beiden putzen weiter Fenster. Claudionor  Warum Magali? Mário  Schon als kleiner Junge habe ich immer, wenn ich ein Los mit Frauennamen gesehen habe, nur dann ein Los gekauft, wenn es Magali gab. Claudionor  Wie dumm! Mário  Wieso dumm? Gibt es nicht Leute, die sagen, sie hätten eine Glückszahl, einen Schutzheiligen? Ich vertraue diesem Namen. Eines Tages werde ich noch etwas gewinnen, wenn ich auf Magali setze. Claudionor  Kanntest du mal eine Magali, die dir den Kopf verdreht hat? Mário  Nein, nie. Aber dieser Name wird mir Glück bringen. Claudionor  Na dann … Mário  Vergiss nicht, noch heute nachzusehen. Weitere Sekunden des Schweigens. Die beiden putzen weiter. Mário  Du hast mich beredet und beredet, aber nicht geredet. Claudionor  Worüber geredet? Mário  Warum du dieses Gesicht machst. Claudionor  Ach … Mário  Willst du nicht reden? Wenn wir reden, geht der Tag schneller vorbei. Claudionor  Ja, das stimmt. Schweigen. Mário  Gut, vergiss es. Ich werde dir hier nicht wie ein Trottel die Würmer aus der Nase ziehen, wenn du nicht reden willst. Claudionor  Weißt du, was los ist? Heute Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Den mochte ich überhaupt nicht. Mário winkt und lächelt jemandem im Gebäude zu. Mário  Sieh nur, achte auf die Klamotten von Vilma. Dann sag mir, ob sie das extra macht. Was für eine Schlampe! Keiner kann mir erzählen, dass sie nicht fragt, an welchen Tagen wir kommen und hier die Fens176


ter putzen. Unmöglich. Ob sie jeden Tag solche Kleider trägt? Sag mir, sie provoziert doch, oder? Sag es mir. Claudionor schweigt. Mário  Worüber hast du gerade geredet? Ach, der Albtraum. Claudionor  Von Albtraum war keine Rede. Ich sagte nur, dass ich einen seltsamen Traum hatte. Mário  Ist das nicht dasselbe? Claudionor  Nein. Mário  Also gut. Was war denn? Jetzt erzähl mal. Claudionor  In meinem Traum war ich allein hier oben. Mário  Wieso allein? Und ich? Claudionor  Du warst nicht da. Mário  Das ist ja komisch. War es nicht auch meine Schicht? Claudionor  Was weiß ich, ob es deine Schicht war. Kann ich weiterreden? Mário  Nur zu. Claudionor  Im Traum fuhr ich die Arbeitsbühne nur nach oben, anstatt wie bei uns immer nach unten. Ich kam nie bis ans Dach des Hochhauses heran. Je weiter ich nach oben kam, umso ferner blieb ich dem Dach. Das Gebäude wurde nach oben hin nicht schmaler, wie dieses, es wurde breiter. Es ging auseinander wie ein Avocadobaum, hast du schon mal so etwas Verrücktes gesehen? Ich sah nach unten und konnte gar nichts mehr erkennen, so weit war ich oben. Das Allerkomischste: Im Traum war ich barfuß. Alle Stockwerke waren leer. Total leer. Mário  Da gab es keinen einzigen Menschen? In keinem Stockwerk? Wie lustig! War es vielleicht am Neujahrstag? Wirst sehen, dass es so war, sonst gibt es das ganze Jahr über jemanden, es taucht immer jemand auf, um zu arbeiten … Claudionor  Es war total leer, sagte ich schon. Keine Menschen, keine Möbel. Dann erschien ein großes Tier, ein pechschwarzer Vogel, und begann, das Seil anzupicken. Mário  Ein Hanfseil? Claudionor  Ja, es war kein Stahlseil. Das Tier hackte exakt immer auf dieselbe Stelle. Ich wollte schreien, um es zu verscheuchen. Aber aus meinem Mund kam nur Nebel, wie er aus dem Mund kommt, wenn es hier oben sehr kalt ist. Dann löste sich das Seil langsam auf und die Arbeitsbühne kippte zu einer Seite hin. Der Eimer kam ins Rutschen und fiel runter. Dann fielen Tücher, der Fensterabzieher fiel, alles rutsch177


te runter. Ich war schon verloren, hing am Seil, glaubte, dass nur ein Schnabelhieb fehlte, um es zu zerreißen. Als das Tier diesen letzten Schnabelhieb tat, klingelte mein Wecker. Meine Frau sagte, dass ich einen Schrei ausgestoßen hätte, als der Wecker klingelte. Mário  Krass, und du sagst, es war kein Albtraum? Claudionor  Ich glaube nicht. Es war ein grässlicher, aber ganz genauer Traum. Ein Albtraum ist für mich, wenn man laufen will, aber ein Bein nicht mitmacht, oder ertrinkt, nur untergeht und untergeht, weil man nicht schwimmen kann. Von einem Toten zu träumen, ist auch ein Albtraum, sogar wenn der Tote im Traum noch nicht tot ist. Das stelle ich mir unter einem Albtraum vor, oder etwa nicht? Oder Träume, bei denen man nichts versteht, wo man dauernd an einem anderen Ort unter vielen Menschen ist, die man nicht kennt. Mein Traum war anders, der Ort war mir gut bekannt. Es war dieses Hochhaus hier … Aber es gibt einige Dinge, die ich nicht ganz verstehe. Mário  Was denn? Claudionor  Nun, warum war ich barfuß? Stille Claudionor  Was ist? Mário  Nichts, ich bin hier und denke an deinen Traum. Dieser schwarze Vogel. Das war kein Geier. Denn ein Geier kennt die Leute aus der Nähe, einige werden von den Leuten bereits mit Namen gerufen. Ein Geier würde dem Menschen nichts Böses wollen, meine ich. Hier oben dienen wir ihnen sogar als Gesellschaft. Wo ich gerade davon rede, hast du bemerkt, dass die Geier verschwinden? Echt, erst jetzt habe ich das gemerkt. Es gibt fast keine Geier mehr, so was … (Pause) Gut, vergiss es. Aber mich beschäftigt die Geschichte mit dem Seil. Dass der Vogel das Seil zerfetzt. Ich meine, darin liegt das Geheimnis. Dass du barfuß bist, bedeutet nichts, meine ich. Claudionor  Meinst du? Mário  Klar. Das Seil zu zerfetzen soll uns etwas sagen. Immer wenn etwas schiefgeht, sagen die Leute, das Seil ist gerissen, ist es nicht so? Mir zeigt dieser Traum, dass bei uns etwas nicht gutgehen wird. Ich werde meiner Schwiegermutter diesen Traum erzählen. Sie kennt sich aus in diesen Dingen wie Kartenlegen, böse Geister, Macumba. Ich denke, sie wird das gut erklären können. Claudionor  Was macht deine Schwiegermutter? Ist sie Wahrsagerin? 178


Mário  Ich glaube, sie ist keine richtige Wahrsagerin. Ich weiß nicht genau, wie das heißt, was sie macht. Zu ihr kommen Frauen und fragen, ob ihre Ehemänner Arbeit finden, ob sie auf Raten kaufen können, ob ihr Freund eine andere hat, solche Sachen. Claudionor  Und, trifft sie ins Schwarze? Mário  Das Schlimmste ist, dass sie ins Schwarze trifft. In unserem Viertel ist sie sehr berühmt. Alle vertrauen ihr. Es gibt Monate, da verdient sie mehr als ich, glaubst du das? Claudionor  Gut, um mehr zu verdienen als wir, muss es nichts Großes sein. Ich meine, wenn sie die Zukunft deuten kann, dann hätte sie ihrer Tochter nicht erlaubt, dich zu heiraten. Hat sie nicht gesehen, dass du ein armer Schlucker bist, der als Fensterputzer arbeitet? Mário  Damals war ich kein Fensterputzer, du Mistkerl. Claudionor  Was warst du denn? Mário  Ich arbeitete bei einem Pizza-Bringdienst. Wegen einer Feuerwehrsirene kann Claudionor nicht gut hören. Claudionor  Was? Mário  Ich ar-bei-te-te bei einem Pizza-Bringdienst. Hast du mich jetzt verstanden? Claudionor  Krass, was für ein Unterschied. Glaubst du, dass ich dieser Alten vertrauen werde? Du musst ihr meinen Traum erst gar nicht erzählen. Mário  Wenn du nicht willst, dass ich ihn erzähle, dann eben nicht. Scheiß drauf, für mich ist das eine Aufgabe weniger. Vor allem braucht man nicht besonders schlau zu sein, um zu wissen, warum du so drauf bist, ein Spinner mit törichten Träumen. Seit dem Tag, als sie von den Robotern sprachen, hast du Schiss, ich hab es gleich begriffen. Claudionor  Reg dich ab, Mann. Du warst es doch, dem die Geschichte mit den Robotern nicht aus dem Kopf gegangen ist. Hast zwei Nächte lang nicht geschlafen, schon vergessen? Du hast nur noch darüber geredet. Mir doch egal, wenn sie uns durch einen Roboter ersetzen, dann besorge ich mir einen anderen Job. Ich kenne viele Leute … Mário  Na, dann fang schon mal an, dir einen anderen Job zu suchen. Denn ich glaube, dass sie schon bald einen Roboter kaufen, der tun soll, was wir tun. Und wen kennst du überhaupt? Claudionor  Das interessiert hier nicht. Wer eine warme Brust zum Anlehnen hat, darf das nicht besingen, sonst wollen alle daran saugen. 179


Übrigens, wie viel kostet ein Roboter, der Fenster putzt, was meinst du? Ich denke, wenn sie unser Gehalt aufs ganze Jahr rechnen, reicht das nicht mal für einen Roboter. Und wenn es regnet? Mário  Was soll das heißen? Claudionor  Was das heißen soll? Wir schütteln unsere Kleider aus und gehen wieder an die Arbeit. Hast du schon mal dran gedacht, wenn Regenwasser in einen Roboter läuft? Es gibt dann einen Kurzschluss und hier oben bricht Feuer aus. Glaubst du, einer von denen, die hier oben arbeiten, behält die Ruhe, wenn er weiß, dass der Roboter bei Regen Feuer fängt? Glaubst du das wirklich? Wenn die Flammen sich im ganzen Gebäude ausbreiten können … Da hilft kein Beten. Sie werden Unterschriften sammeln, damit kein Roboter hier hinkommt, da bin ich sicher. Kannst du dich erinnern, wie sie sich wehrten, eine Fernsehantenne auf dem Haus anbringen zu lassen, und welchen Krach sie geschlagen haben? Mário  Was für eine Fernsehantenne? Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Claudionor  Stimmt, das war in einem anderen Gebäude, ich hab mich vertan. Aber diese Leute, die in diesen Büros arbeiten, sind überall gleich. Sie werden hier auch aufschreien, sobald sie herausfinden, dass Roboter Feuer fangen können. Mário  Glaubst du, das Unternehmen wird nicht daran denken? Sie werden einen Roboter kaufen, der kein Feuer fängt. Oder jemanden als Aufsicht abstellen, der den Roboter reinholt, wenn es anfängt zu regnen. Claudionor  Aber dann müssen sie mehr Leute einstellen. Sie müssen jemanden zur Aufsicht abordnen, der nur prüfend in den Himmel schaut, ob es regnen wird. Das wäre sogar eine gute Arbeit. Wenn ich wüsste, dass dafür eine Stelle frei würde, bin ich sogar dafür, dass sie einen Roboter kaufen. Mário  Ehrlich, ich glaube, Regen ist nicht das Problem. Das Problem ist der Wind. Wenn nach dem Mittagessen diese Böen aufkommen, wird der Roboter, so wie wir, das Gleichgewicht halten können? Ich bezweifle das. Jetzt stell dir mal vor: Es kommt Wind auf, da unten steht ein Typ rum, denkt über das Leben nach, über die Rechnungen, die er bezahlen muss, und dann plötzlich, plumps, fällt ein Roboter genau auf seinen Kopf. Denk mal an das Schmerzensgeld, das er der Firma abver180


langen wird. Wenn der Typ stirbt, dann ist das Unternehmen am Ende. Es muss dann viel Kohle an die Familie des Toten zahlen. Claudionor  Ach, du Trottel, glaubst du, der Roboter wird ungesichert arbeiten? Wenn sie schon eine Riesensumme für das Gerät ausgeben, wird er gut angeschnallt arbeiten, da kann der Wind nach Belieben pfeifen. Leute wie wir, die für das Unternehmen viel billiger sind, arbeiten in einem Korsett von Stahlseilen. Mário  Siehst du, im Grunde stimmst du mir zu. Ein Roboter wird nur Probleme machen, sie werden mit uns noch eine ganze Weile weitermachen, wetten? Claudionor  Ich weiß nicht, José Mário … Mário  Nenn mich nicht José Mário, verdammt. Ist es so schwer, einfach nur Mário zu sagen? Claudionor  … sie haben mir schon gesagt, dass Japan voll mit solchen Robotern ist, die diese Arbeit tun … Mário  Ja, aber mir haben sie auch erzählt, dass man in Japan sogar in der Kühltruhe schläft. Hast du hier schon mal jemanden in der Kühltruhe schlafen sehen? Ich hab einmal im Fernsehen gesehen, wie es da so läuft: Nachts wird der Ort, der Küche war, zum Schlafzimmer. Sie drücken dort auf einige Knöpfe, der Herd verschwindet und du schläfst da, wo eigentlich die Küche ist. Jetzt stell dir vor: So wie Japaner Teigtaschen frittieren, hast du da schon mal an den Fettgestank gedacht, der an den Leuten kleben bleibt? Da sei Gott vor! In Japan gab es die Atombombe, da ist alles anders. Du solltest diesen Dingen aus Japan keinen Glauben schenken. Wenn das Leben dort so super wäre, warum arbeiten dann hier so viele Japaner in den Wolkenkratzern, die wir saubermachen? Claudionor  Ist dir das auch schon aufgefallen? Ich dachte, dass nur ich das bemerkt hätte. Mário  Mist, seit meinem ersten Tag. Aber je sauberer das Fenster wird, desto mehr Japaner sehen wir in den Büros. Wir ziehen den Fensterabzieher von oben nach unten und schwupp steht da ein Japaner. Wir ziehen den Fensterabzieher von links nach rechts und schwupp sitzen da tausend Japaner. Claudionor  Gut, auf jeden Fall ist es besser, wenn wir bei dieser Robotergeschichte achtsam bleiben.

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Mário  Es gibt noch etwas, was ich an Japan nicht mag. Da ist es jetzt schon morgen. Claudionor  Was? Mário  Genau das, was ich sagte: Da ist es jetzt schon morgen. Ein Nachbar von mir ist zum Arbeiten nach Japan gegangen. Als er zurückkam, sagte er mir, dass er an einem Tag aus Japan ausgereist ist, eine lange Zeit unterwegs war und hier einen Tag früher ankam. Claudionor  Früher als was? Mário  Früher als an dem Tag, an dem er dort abgereist ist. Claudionor  Echt? Ob das wahr ist? Was für eine verrückte Sache! Also, ehrlich gesagt hab ich mir nie etwas aus Dingen aus Japan gemacht. Ich mag die USA lieber. Da ist alles sicherer. Mário  Woher weißt du das? Du bist nie dort gewesen. Claudionor  Muß man dahin, um das zu wissen? Man muss nur fernsehen. Achte mal auf die Filme: Die Amerikaner verreisen, reisen, und wenn sie zurückkehren, dann liegt der Haustürschlüssel immer noch unter der Fußmatte. In den USA nimmt keiner etwas weg. Die Leute bleiben eine lange Zeit fort, der Schlüssel liegt immer noch an derselben Stelle. Versuch mal, hier aus dem Haus zu gehen und den Schlüssel unter der Fußmatte liegen zu lassen … wenn du zurückkommst, ist nicht mal mehr die Fußmatte da. Mário  Jetzt, wo du es sagst, ist bei mir der Groschen gefallen. Stimmt das wirklich? Claudionor  Natürlich. Bei ihnen gibt es noch etwas, das besser ist. Sie können mit nur einer Hand ein Ei aufschlagen. Ich hab das in einer Menge von Filmen gesehen. Sie stehen früh auf und braten ein Ei. Mit einer Hand rühren sie in der Pfanne, mit der anderen schlagen sie das Ei auf. Bei uns braucht man beide Hände und lässt dabei noch Eiweiß neben die Pfanne tropfen. Sie sind viel fortschrittlicher als wir, zumindest glaube ich das … Flugzeuglärm. Beide schauen in den Himmel. Claudionor  Kennst du diese Fluggesellschaft? Scheint pleitegegangen zu sein. Mário  Die ist das? Ich dachte, es wäre die andere. Claudionor  Es scheint noch eine zu geben, die auch pleitegegangen ist. Mário  Von mir aus können alle pleitegehen. Das wäre eine Lärmquelle

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weniger in unserem Leben. Habe sowieso kein Geld, um mit dem Flugzeug zu reisen … Claudionor  Ich hoffe, doch noch mal mit dem Flugzeug reisen zu können. Aber nicht, um diesen Weg zu machen, den wir schon kennen. Ich würde gerne an einen fernen Ort fliegen, wo es keine Hochhäuser gibt, um die Arbeit ein wenig zu vergessen. Mário  Ach, wenn es so sein soll, warum kehrst du nicht an das Ende der Welt zurück, wo du geboren bist? Das ist weit weg und es gibt keine Hochhäuser. Sekundenlange Stille. Beide schauen auf die geleistete Arbeit. Mário  Meine Seite ist schon sauber. Claudionor  Meine auch. Fahren wir eins runter? Sie ziehen die Seile und fahren mit der Arbeitsbühne ein Stockwerk tiefer. Scheinwerfer leuchten auf und markieren den Szenenwechsel. Mário  Claudionor? Claudionor  Was ist? Mário  Rat mal, was mir jetzt erst aufgefallen ist. Claudionor  Kann man das kaufen? Mário  Hör auf, dich dumm zu stellen. Es betrifft uns beide, hier oben. Claudionor  (nach kurzem Überlegen) Woher soll ich das wissen? Mário  Schau mal, ob ich recht habe. Als ich diese Arbeit annahm, dachte ich: Krass, jetzt werde ich die tollen Typen von oben sehen können. Der Typ kann unendlich Kohle, ein importiertes Auto, eine hübsche Frau an seiner Seite haben, ach, aber ich werde richtig über ihnen sein. Viel weiter oben. Klar ist das Blödsinn, aber es ist lustig. Aber weißt du, was ich erst heute begriffen habe, weißt du das? Claudionor  (gelangweilt) Keine Ahnung. Mário  Heute habe ich begriffen, dass man noch immer den Kopf beugen muss, um auf die Leute zu schauen, obwohl man oben ist. Hast du das schon bemerkt? Wenn ich dir einen mächtigen Chef zeige, der ins Gebäude geht, so etwa: sieh nur, sieh nur, dann musst du, um ihn zu sehen, den Kopf beugen. Sogar hier oben. Anders gesagt: Arm ist immer arm, auf dem Boden oder in den Wolken, denn es ist unser Schicksal, immer den Kopf zu beugen. Claudionor schweigt weiter, was Mário sichtlich ärgert. Mário  Wirst du nichts über meine Entdeckung sagen? Claudionor  Was denn sagen? 183


Mário  Irgendetwas. Sagen, dass ich etwas Tolles gedacht habe, an das du nie zuvor gedacht hast, und ich viel zu schlau bin, um diesen Job hier weiterzumachen, ach, was weiß ich. Irgendetwas musst du sagen. Claudionor  Es ist toll. Mário  Nur das? Claudionor  Nur das, und das ist schon zu viel. Mário  Neidisch, du bist echt neidisch auf mich. Das habe ich schon lange von dir gedacht, aber jetzt bin ich mir sicher. Du kannst nur antworten, wenn das Thema ungut ist, aber wenn man eine so ernste Sache sagt, bei der man überlegen muss, dann kannst du nichts sagen, bist total zugeknöpft. Weißt du, was das ist? Du bist ein Idiot. Claudionor  Du bist ein Idiot! Als das Flugzeug in dieses Riesenhochhaus flog, dort in den USA, erinnerst du dich daran, was ich sagte, oder erinnerst du dich nicht? Hätte es genau in diesem Augenblick einen Fensterputzer gegeben, dann wäre er der erste Tote gewesen. Er wäre noch vor dem Piloten gestorben, vor den Passagieren, vor allen. Als ich das gesagt habe, hast du geschwiegen wie ein Brett. Ja, das war Neid, weil du niemals vor mir etwas so Intelligentes hast denken können. Mário  Aber das war nicht intelligent, das lag auf der Hand. Claudionor  Das lag auf der Hand, aber keiner hat es gesagt. Hast du das irgendjemanden sagen hören? Im Fernsehen, in der Zeitung, niemand hat das gesagt. Mário  Ist gut, ja. Das war sehr intelligent. Claudionor  Aha, ist das so schwer zuzugeben? Mário  Aber was ich zum Beugen des Kopfes gesagt habe, das steht dem nicht nach. Claudionor  Ja, hat nicht den gleichen Schub wie das Flugzeug, ist aber auch eine gute Entdeckung. Sie verbringen einige Minuten schweigend, konzentrieren sich auf die Reinigung der Fenster. Mário schaut auf die Uhr. Mário  Wie viel fehlt noch bei dir? Claudionor  (schaut auf die Uhr) Fünfzehn Sekunden. Mário  Bei zehn gehen wir … Mário und Claudionor  Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins … Zigarette!!!! Sie ziehen Zigaretten aus den Taschen und fangen an, genüsslich und elegant zu rauchen, blasen den Rauch in Richtung der Fenster. Jeder steht auf 184


seiner Seite der Arbeitsbühne, demonstrativ ans Stahlseil gelehnt.

Mário  Sterbt vor Neid, ihr Krawattenträger! Claudionor  Los, geht auf dem Bürgersteig rauchen, ihr blässlichen Blondinen. Mário  Schließt euch in den Buden ein, um wie eure Würstchen zu riechen, los … Claudionor  Geht euch auf der Toilette verstecken, los … Die beiden lachen, während sie tiefe Züge tun. Mário  Ach, die Freiheit … Claudionor  Ach, die Höhen … Starker Wind. Die Arbeitsbühne schwankt, und sie drücken schnell die Zigaretten aus, um sich an den Stahlseilen festzuhalten. Claudionor  Scheißleben. Zeitsprung. Jetzt können beide auf der Arbeitsbühne stehen. Claudionor beginnt, ein Lied zu trällern. Mário wirkt genervt. Mário  Weißt du was? Claudionor  (hört auf zu singen) Hallo? Mário  Du singst sehr schlecht. Claudionor  Ich hab nicht für dich gesungen. Mário  Zum Glück. Aber mein Problem ist es, hier zu sein. Mein Tag ist schon nicht einfach, wenn es ruhig ist, aber wenn du dann auch noch singst, machst du ihn noch beschissener. Claudionor  Ich versuche immer noch herauszufinden, worauf du stehst. Du gehst nicht zum Bingo, magst keine Musik, hast dieses stinksaure Gesicht. Mário  Wer hat gesagt, dass ich keine Musik mag? Ich mag Musik sehr. Doch mir gefällt es nicht, dich singen zu hören. Es ist so schlecht, dass es wehtut. Vor allem heute, wo der Wind zu dieser Seite weht und deine schräge Stimme direkt an mein Ohr trägt. Claudionor  Mensch, wenn das dein Problem ist, können wir die Seiten tauschen. Mário  Wenn wir die Seite wechseln, hörst du dann mit diesem Singsang auf? Claudionor  Lass nur, du kannst da bleiben. Mann, es gibt Tage, da gehst du jedem auf den Sack. Mir ist die Lust zum Singen vergangen. Mário  Jetzt werden wir die Seiten tauschen. Claudionor  Ich hab schon gesagt, dass ich ruhig bleibe. 185


Mário  Ich hab dich hier oben noch nie um etwas gebeten. Können wir die Seiten tauschen, verdammt? Die beiden wechseln die Seiten. Claudionor  Ist es besser? Mário  Der andere, der gern sang, war Juvêncio. Aber er sang wenigstens gut. Am Anfang fanden es die Leute im Büro seltsam. Sie sahen diesen riesigen Mund am Fenster und dachten, dass es ihm schlecht ginge und er um Hilfe riefe. Drinnen können sie nichts hören, also wussten sie nicht, dass es Musik war, sie dachten, dass der Juvêncio sich so benahm, um jemanden zu Hilfe zu rufen. Die Leute vom Wachdienst kamen mehrmals und fragten, ob ihm schlecht sei. Ich sagte zu Juvêncio: Hör auf, so blöd zu sein, Mann. Sie sind auf der anderen Seite, schauen dich an, wie du deinen so großen Mund auf- und zumachst, es sieht so aus, als wären wir in einem Aquarium. Wegen Juvêncio hab ich einen Anschiss wegen Singen bei der Arbeit bekommen. Je weniger Grimassen wir schneiden, umso besser. Claudionor  Du denkst viel an die im Innern des Gebäudes. Das hab ich schon bemerkt. Du wirst fragen, ob sie an uns denken, mach nur. Manchmal putzen wir ein ganzes Stockwerk eine ganze Stunde lang und niemand würdigt uns eines Blickes. Es scheint so, als gäbe es uns nicht. Mário  Sie arbeiten auch. Willst du, dass sie ihre Arbeit unterbrechen, um uns zuzuwinken? Wie oft hat die Leitung gesagt, dass jeder sich um seine Arbeit kümmern soll? Wer draußen ist, unterhält sich nicht mit dem, der drinnen ist. Claudionor  Ich bitte niemanden darum, sich mit mir zu unterhalten. Aber es würde doch nichts kosten, ab und zu einen Blick auf uns zu werfen. Es gibt Tage, da gehe ich nach Hause und meine, ein Gespenst zu sein, es kommt mir vor, als wäre ich unsichtbar. Mário  Aber die Wilma hat uns immer im Blick. Claudionor  Wilma zählt nicht. Mário  Warum zählt sie nicht? Claudionor  Weil sie hässlich ist, verdammt. Um eine hässliche Frau zu sehen, kann man unten bleiben, auf dem Bürgersteig, der ist voll mit Schrott. Hier oben hätten wir eine Entschädigung verdient. Mário  Wenn du ein bisschen singen willst … nur zu … alles gut, aber sei leise, um Gottes willen! 186


Claudionor  Jetzt mag ich nicht mehr. Wenn ich leise singen soll, singe ich zu Hause. Mário  Sing so laut wie du willst, ich werde mich auf andere Dinge konzentrieren, alles gut … Claudionor  Ich will gar nicht mehr singen, mir ist die Lust vergangen. Mário  Es ist nur … danach habe ich bereut, dass ich Juvêncio gebeten hatte, mit dem Singen aufzuhören. Ich hätte das nicht tun müssen. Eines Tages hat Juvêncio mir erzählt, dass er seinen Jungen mitbringen würde, der die Arbeit hier kennenlernen wollte. Ich sagte: Ach, wozu das? Was wird der Junge sehen? Aber er sagte, dass ihn sein kleiner Junge jeden Tag darum bäte, die Arbeit seines Vaters kennenlernen zu dürfen. Tatsächlich brachte er ihn eines Tages mit, ein Dreikäsehoch, redegewandt, unglaublich. Hatte das gleiche hochstehende Haar wie Juvêncio. Juvêncio blieb mit dem Jungen da unten stehen, zeigte ihm das Gebäude und sagte: Siehst du, hier arbeitet dein Vater. Ich stand dort, neben ihm. Die Augen des Jungen wurden größer, es schien, als sähe er Gott weiß was. Wäre alles dort geendet, wäre es gut gewesen. Aber du weißt, wie Kinder sind: nie zufrieden. Gleich darauf wandte sich der Junge an Juvêncio und fragte: Aber in welchem Stockwerk arbeitest du, Vater? Achte nur mal auf die Frage: in welchem Stockwerk? Der Juvêncio drehte und wendete sich und sagte: Ach, das kommt drauf an, jeden Tag in einem anderen. Es gibt Tage, da arbeite ich im 15., dann Tage, da arbeite ich im 20. … das ändert sich oft. Wäre ich Juvêncio gewesen, hätte ich mich aus dem Staub gemacht, bevor es noch verwickelter wurde. Aber Juvêncio passte nicht auf, und der Junge bat darum, hinaufzufahren und den Schreibtisch vom Vater anzuschauen. Juvêncio antwortete, dass er um diese Zeit nicht ins Gebäude nach oben könne. Der Junge hakte nach: Warum nicht? Schau nur, wie viele Leute da hineingehen. Lass uns auch hineingehen, nur kurz, nur um einmal mit dem Fahrstuhl zu fahren, komm, Vater. Der Juvêncio sagte, dass es nicht gehe und es für den Jungen nichts, gar nichts zu sehen gebe. Daraufhin verstummte der Junge und schaute eine Weile auf das Gebäude. Anschließend schaute er Juvêncio ins Gesicht und sagte: Dann lass uns gehen, Vater. Er fasste den Vater an der Hand und sie gingen fort. Ich kann mich irren, aber ich glaube, dass der Juvêncio nach diesem Tag nie wieder gesungen hat. Mário putzt die Fenster jetzt wieder mit mehr Schwung. 187


Claudionor  (wenige Sekunden später) Hm … hast du gestern die Nachrichten gesehen? Mário  Nein, welche Nachrichten? Claudionor  Die nach der Telenovela kommen. Mário  Was war denn? Claudionor  Ein Polizeikommissar tauchte auf und sagte, dass von den Menschen, die aus dieser Stadt verschwinden, über die Hälfte sagen, etwas erledigen zu wollen, und dann nicht mehr zurückkommen. Mário  Wie denn? Was denn? Claudionor  Was denn, was denn? Was weiß ich, sie sagen, dass sie etwas erledigen werden, und kommen nie wieder, sie flüchten, verstehst du? Sie werden zu Nebel. Mário  Ob das wahr ist? Claudionor  Also, wenn der Polizeikommissar im Fernsehen war, um das zu sagen, dann, weil es die Wahrheit ist. Mário  Du glaubst alles, was ein Polizeikommissar sagt? Kann ein Polizeikommissar nicht auch lügen? Nur weil er von der Polizei ist? Also gut, nimm es diesem Dummkopf ab, glaub alles, was du hörst, vor allem, wenn es von der Polizei kommt. Claudionor  Verdammt, bist du heute ätzend. Du stänkerst, wenn man singt. Du stänkerst, wenn ich etwas erzähle. Mário  Du musst nicht gleich sauer werden, wir unterhalten uns doch nur. Ich sage das, weil ich meine, dass du manchmal zu leichtgläubig bist … Was hat der Polizeikommissar noch gesagt? Claudionor  Er hat gesagt, was ich erzählt habe. In mehr als der Hälfte aller Fälle ist das so. Jemand verschwindet, wird aber nicht vom Banditen entführt, ist nicht gestorben, hat das Gedächtnis nicht verloren, ist nicht im Krankenhaus, nichts dergleichen. Er ist verschwunden, weil er tatsächlich verschwinden wollte. Er sagt, dass er Zigaretten kaufen geht, und, haste nicht gesehen, weg war er. Taucht nie wieder auf. Vergisst absichtlich alles. Mário  Mutige Leute, nicht wahr? Alles einfach so aufgeben, die Familie, wahrscheinlich gibt es ein kleines Kind, das Haus … Einfach abhauen, nur mit den Kleidern am Leib. Claudionor  Und verschwindet von der Landkarte. Die Familie sieht ihn nie wieder, kein Telefonat, nichts. Eine Frau kam in die Sendung und erzählte, wie es bei ihrem Mann war. Er hat gesagt, dass er Zigaretten 188


kaufen gehen wollte. Es ist jetzt acht Jahre her, dass er weg ist. Die Frau sagte, dass es leichter wäre, wenn er gestorben wäre, denn wenn jemand stirbt, hörst du auf zu hoffen. Du leidest alles auf einmal durch und fertig. Aber bei ihr ist das nicht so. Seit acht Jahren denkt sie, dass er zurückkommen wird … Eine traurige Geschichte, oder? Auf diese Weise hoffen, eine so lange Zeit … Als ich schlafen ging, musste ich daran denken, weißt du? Ich hatte das Gesicht dieser Frau vor mir. Eine Schönheit, verstehst du. Sie kann gut reden, hat ein ordentliches Haus, ist eine von den Frauen, die man ungern aufgibt und verlässt. Also ich glaube, dass sie jetzt, wenn sie Bus fährt, auf der Straße geht, was weiß ich, dass sie jetzt ihren Mann überall sucht, das muss sie doch, oder? Ich glaube, das hört nie auf. Mário  Ein Problem ist, wenn ein anderer Mann auftaucht. Was soll sie sagen? Sie ist keine Witwe. Soll sie sagen, dass sie ihren Mann seit acht Jahren sucht? Niemand glaubt das, jeder wird denken, dass es ein Kniff ist, um den Neuen loszuwerden … Claudionor  Also, jetzt stell dir vor, wenn sie hier arbeiten würde, Mário, ihre Verzweiflung. Wenn sie nach unten schaut und glaubt, dass der Ehemann eines von den Köpfchen da unten sein könnte. Sie würde es nicht ertragen, jeden Tag so viele Leute zu sehen, möglich, dass sie verrückt würde. Ich hab ihr später recht gegeben: Wenn der Mensch stirbt, ist er gestorben und fertig, du weißt, wo sein Grab ist. Einfach verschwunden, das ist hart. Dann dachte ich auch an den Ehemann. Ist es denn so, dass der, der geht, sich nicht mehr an den erinnert, der zurückbleibt? Sorgt er sich nicht, will er nicht wissen, wie es um die Gesundheit steht, ob es gutgeht, ob man sehr leidet … Mário  Ja … Weißt du, was das Traurigste ist, was ich hier je gedacht habe? Claudionor  Was denn? Mário  Wenn diese Person, die aus der Welt verschwindet und alles zurücklässt, sagt, dass sie Zigaretten kaufen geht, und dann nie wieder zurückkehrt … was weiß ich, hast du mal daran gedacht, wenn diese Person nicht einmal raucht? Claudionor  Ja, schon möglich. Wer weiß schon, was in den Köpfen der anderen vor sich geht, nicht wahr? Mário  Gott bewahre! Beide schweigen und putzen eine Zeit lang die Fenster. Sie konzentrieren sich auf die Arbeit. Sie arbeiten gründlich und geschickt. Claudio beginnt, 189


seinen Hals zu recken, er versucht zu erspähen, was im Stockwerk über ihm geschieht. Plötzlich macht er einen kleinen Sprung, um besser sehen zu können, und bringt die Arbeitsbühne ins Schwanken.

Mário  Bist du verrückt geworden? Willst du uns umbringen? Claudionor  Schau mal, die Gymnastik fängt schon an. Die Lehrerin ist angekommen. Mário  (versucht, seine Wut zu verbergen) Schon? Claudionor  Hätte ich nicht aufgepasst, hätten wir den Anfang verpasst. Beide fahren die Arbeitsbühne ein Stockwerk höher. Mário  Komm ein bisschen weiter hierhin. Claudionor  Heute sind nur wenige Leute da, warum wohl? Mário  Diese Lehrerin kommt jede Woche immer zu einer anderen Zeit. Wie sollen die Leute das wissen? Sogar wir, wären wir nicht pfiffig, würden die Unterrichtsstunde versäumen. Claudionor  Ich war pfiffig. Und du beschwerst dich noch. Mário  Pfiffig sein ist eine Sache, uns beinahe umbringen eine andere. Claudionor  Hast du etwas bemerkt? Heute sind kaum Männer da, nur die beiden dort in der Ecke. Mário  Ich finde es besser, wenn es wenige Männer gibt, weil die Lehrerin dann nicht so übertreibt. Für uns ist es schwer, mitzukommen. Claudionor  Ich wüsste gern, welche Musik sie auflegt. Meinst du, dass es immer dieselbe ist? Mário  Ich glaube nicht, sie sucht die CD aus, schau nur. Igittigitt, die Dicke ist wieder da. Claudionor  Mist, ich krieg zu viel, wenn die Dicke kommt. Das lenkt mich ab. Mário  Die Lehrerin schenkt der Dicken viel Aufmerksamkeit, weicht ihr nicht von der Seite. Claudionor  Die Dicke macht alles falsch, die Arme. Die Lehrerin muss wirklich aufpassen. Das stört mich, denn ich verpasse dann einige Übungen. Mário  Wäre ich einer von den Schülern da drinnen und eingeschrieben, würde ich mich beschweren. Ich glaube, sie muss allen Schülern die gleiche Aufmerksamkeit widmen. Es gibt den da, mit dem Bart, hast du schon bemerkt, wie er sich immer drückt? Wenn die Lehrerin neben der Dicken steht, dann hört er mit der Übung auf, er tut nur so, als ob. Erinnerst du dich an die letzte Woche? Diese Übung, bei der man 190


das Bein hebt, hat er ausgelassen. Der Dummkopf glaubt, dass keiner es gesehen hat. Claudionor  Ich hab die auch ausgelassen, es gibt Sachen, die kriegt man nicht mehr hin. Wir haben erst spät mit der Gymnastik angefangen. Mário  Schau mal die Klamotten der Dicken heute. Was ist denn das? Ist das Gelb? Claudionor  Geht mehr ins Grüne, glaube ich. Alle kommen in schlichten Farben, nur sie sieht aus wie das Außenschild eines Grillrestaurants, einer Churrascaria. Mário  Halt den Mund, es geht los. Von da an müssen Mário und Claudionor eine Reihe von Übungen machen, meistens Dehnübungen, und sie versuchen immer nachzumachen, was die Lehrerin und die Schüler im Innern des Gebäudes tun. Sie strecken den Hals, drehen ihn von einer Seite auf die andere, wobei sie bis fünf zählen. Sie machen Dehnübungen für Arme und Schultern. Die Übungen können sie nicht richtig ausführen, denn beide befinden sich in einer unvorteilhaften Lage: Sie müssen die Arbeitsbühne mit den Arbeitsmaterialien fürs Putzen und mit den Stahlseilen im Gleichgewicht halten. Claudionor  Geh ein bisschen da rüber, Mário. Mário  Willst du, dass ich runterfalle? Geh du. Claudionor  Ich steh schon am Rand, siehst du das nicht? Mário  Und wo bin ich? In der Mitte? Schau her, auf der Arbeitsbühne ist keine Handbreit mehr frei. Ich hänge mit dem Hintern fast in der Luft. Claudionor  Mist, sieh mal. Jetzt müssen wir die Arme ausstrecken. Mário  Ich strecke jetzt einen aus und den anderen dann zu Hause. Was ich jetzt nicht hinbekomme, mache ich später im Schlafzimmer. Claudionor  Und du meinst, dass Gymnastik so funktioniert? Eine Hälfte jetzt und die andere Hälfte am Abend? Du musst jetzt alles machen, sonst werden wir krumm und schief. Mário  Schau nur, Claudionor, die Dicke hat ausgesetzt. Die Lehrerin geht hin, um zu helfen. Claudionor  Ich sehe es, du musst nicht alles ansagen, was da drinnen passiert. Das Fenster ist sauber und ich bin nicht blind … Mário  Dann sagst du, ich sei gereizt? Claudionor  Du redest ununterbrochen und störst mich beim Zählen … Aber diese Dicke ist eine Schlampe, jetzt werden wir aus dem Takt kommen. 191


Mário  Alles klar, mir gefällt die Dicke auch nicht besonders, aber du hast so eine Wut auf sie. Claudionor  Soll man nicht wütend sein? Sie stört nur. Mário  Ach, vergiss sie ein wenig, mach schon … Im Grunde glaube ich, ich würde sie anbaggern, wenn dich das interessiert … Claudionor  Ich war mir sicher, dass du sie anbaggern würdest. Ich glaube, dass du alles Mögliche anbaggerst … Mário  Wovon redest du? Claudionor  Nichts … Mário  Schau mir ins Gesicht und antworte, wenn du ein Mann bist … Claudionor, der seinen Hals in die andere Richtung streckt, braucht eine Weile, bis er sich Mário zuwenden kann. Claudionor  Acht, neun, zehn … (dreht sich zu Mário) – Ich rede von gar nichts. Nur, dass du jede Menge anbaggerst. Du hast Vilma angebaggert, jetzt sagst du, dass du die Dicke anbaggerst. Ich glaube, deshalb hast du ein verhärmtes Gesicht. Du hast viele hässliche Frauen im Kopf, das kommt davon … Mário  Der Typ mit dem Bart hat wieder aufgehört. Ich werde ans Fenster klopfen, um der Lehrerin Bescheid zu sagen, das ist nicht okay. Claudionor  Du wirst auf keinen Fall klopfen. Wir sind keine Kursteilnehmer, das bringt nur Scherereien und hinterher dürfen wir nicht mehr mitmachen. Das ist das Einzige, was wir in diesem Job umsonst haben. Hör auf, so gestresst zu tun. Mário  Aber ich finde es nicht richtig, dass ein einziger Teilnehmer den ganzen Kurs behindert. Fertig, die Dicke schwitzt wieder. Sie nehmen die Übungen wieder auf. Mário  Heute ist es viel zu leicht, findest du nicht? Sie hat nicht einmal die kleinen Gewichte genommen … Claudionor  Kaum macht man den Mund auf, sieh mal, schon hat sie die Gewichte aus dem Schrank geholt. Mário  Ich bin doch nicht blind. Jeder nimmt seinen Eimer und sie beginnen eine Übungsreihe mit Gewichten. Sie nehmen den Eimer mal in die eine, dann in die andere Hand und machen wechselseitig die Übungen. Sie konzentrieren sich und schweigen, folgen immer der Anleitung der Kursleiterin. Claudionor  Wenn wir zahlen müssten, wie teuer wäre es wohl?

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Mário  Weiß nicht, in diesem Stadtviertel ist alles teurer … Mindestens fünfzig pro Monat. Claudionor  Meinst du? Mário  Weiß nicht, keine Ahnung. Ich tippe mal. Aber wenn es da, wo ich wohne, schon fünfunddreißig kostet. Claudionor  Jetzt fängt die Übung mit dem Seilspringen an. Die ist hier nicht zu machen. Warum nimmt die Dicke das Seil? Wir wissen doch, dass sie nicht hüpfen wird. Willst du’s sehen? Die beiden drücken erwartungsvoll die Gesichter ans Fenster. Mário  (lachend) Schwabbelige Dicke. Alles, was mit Hüpfen zu tun hat, lässt sie aus. Ob sie im Bett mitmacht? Claudionor  Genug für heute, oder? Mário  Ja, mir reicht es auch. Gymnastik macht frisch, nicht wahr? Beide setzen sich auf die Arbeitsbühne und beginnen, tief und bewusst zu atmen und sich zu entspannen. Claudionor  Das ist eine gute Stunde. Nach der Gymnastik ist der Körper entspannter, weicher … Ich glaube, das sollte alle Welt tun, ungefähr zweimal pro Woche ein wenig für die Gesundheit tun … Hast du noch eine Zigarette? Mário  Hab ich. Claudionor  Gibst du mir eine? Mário gibt Claudionor eine Zigarette und nutzt die Gelegenheit, sich auch gleich selbst eine anzustecken. Claudionor  (zieht genüsslich an der Zigarette) Wer etwas für seine Gesundheit tun will, findet immer Zeit. Nur Penner oder Leute, die keine Lust haben. Geld ist keine Entschuldigung. Schau uns an: Sogar hier oben nehmen wir uns Zeit, etwas für uns zu tun. Schweigen. Die beiden rauchen, offensichtlich entspannt. Mário  Weißt du … Meine Schwiegermutter hat gestern etwas gesagt, worüber ich auch nachgedacht habe … Nicht nur du hattest deinen Traum, nein … Claudionor  Jene Schwiegermutter, die Wahrsagerin ist? Mário  Ich hab nur eine Schwiegermutter. Sie kam zum Abendessen zu uns und fing an, über Arbeit und Zukunft zu reden. Claudionor  Wenn sie etwas Schlechtes vorausgesagt hat, dann kannst du den Mund halten. Das will ich nicht hören. Das taugt nicht zum Ge193


spräch für uns hier oben. Mist, jetzt wo wir hier sind und uns nach der Gymnastik ausruhen, komm mir nicht mit tragischen Themen. Mário  Es ist nichts Tragisches. Hör auf, so blöd zu sein. Sie hat über etwas gesprochen, das sie über uns, hier oben, gedacht hat … Claudionor  Was ist mit uns beiden hier oben? Wir sind hier nicht allein. Es gibt hier jede Menge Gebäude mit Leuten, die tun, was wir tun. Mário  Aber genau darüber hat sie gesprochen. Sie findet, dass wir sehr ungeschützt arbeiten und es deshalb mit unserem Leben nicht vorangeht. Claudionor  Wie, ungeschützt? Was wollte deine Schwiegermutter? Dass wir ein Zeltdach hier über uns spannen? Dass wir unter einem Regenschirm arbeiten? Mário  Gut, wenn du mit dem, was ich sage, nicht einverstanden sein willst, brauchen wir nicht weiterzureden. Du kennst meine Schwiegermutter nicht einmal und kommst schon mit deinem Hass auf sie. Du sagst, dass ich den ganzen Tag schlecht drauf bin, aber du stehst mir in nichts nach. Claudionor  Ich bin wirklich nicht deiner Meinung. Wenn du nichts erzählen willst, ist das dein Problem. Es interessiert mich nicht im Geringsten, was deine Schwiegermutter meint oder nicht. Mário  Aber jetzt werde ich es erzählen, verdammt. Wenn du nichts hören willst, halte deine Ohren zu. Sie sagte, dass wir hier auf dem Präsentierteller sitzen, wirklich, jawohl, mein Herr. Weißt du warum? Weil jedes Mal, wenn Gott nach unten schaut, um Strafen zu verteilen, er uns zuerst sieht. Deshalb schickt er uns die Strafen, die eigentlich für andere bestimmt sind. Da wir immer hier sind und es ihm leicht machen, nutzt er die Lage aus und lädt alles über uns ab, so wird es leichter für ihn, weil er schneller mit seinen Hausaufgaben fertig wird. Er stellt seine Leiter vor den Himmel, und wen sieht er zuerst? Dich und mich. Und fertig: Er schickt alle Unglücke auf uns nieder. Claudionor schweigt eine Weile. Claudionor  Das hat deine Schwiegermutter gesagt? Mário  Ja, und das geht mir jetzt nicht mehr aus dem Kopf. Claudionor  Also, deine Schwiegermutter hat ein Brett vorm Kopf. Wenn es so wäre, gäbe es an bewölkten Tagen nie eine Strafe. Frag sie mal danach. Bin gespannt, was sie antwortet. Mário  Aber … 194


Claudionor  Da gibt es kein Aber. Ich werde dieser Frau noch auf die Schliche kommen. Was für eine Scheißzigarette hast du mir gegeben, so ein Schrott … Mário  Dieselbe Marke wie immer. Claudionor  Aber heute schmeckt sie schlechter … Mário  Mist, dann frag nicht mehr. Morgen kaufst du dir ein paar mehr und schnorrst nicht mehr bei mir. Diese Zigarette ist einwandfrei, du bist jetzt nur wegen meiner Schwiegermutter so drauf. Ich sagte, dass es mich auch aufgewühlt hat. Ich verstehe … Claudionor wirft die Zigarette weg. Mário  Genau, super. Wenn die jemandem da unten auf den Kopf fällt, dann wird es schön für uns … Claudionor  Verdammt, sie sollen aufpassen. Heute fällt nur eine Zigarette runter. Morgen, wenn der Roboter runterfällt, wird es viel schlimmer sein. Mário  Schon gemerkt? Schon gemerkt, wie ich doch recht hatte? Im Grunde geht es doch nur um den Roboter. Verflucht sei die Stunde, in der sie uns von diesem Roboter erzählt haben. Claudionor  Fängst du schon wieder an? Mário  Nein. Claudionor  Gut so, für heute reicht es mit dem Roboter. Mir hängt es zum Hals raus. Mário  Aber ich hab Recht, das habe ich … (Pause) – Schau nach oben … Claudionor  (schaut nach oben) Großer Mist, das musste ja so kommen … Mário  Glaubst du, dass er gesehen hat, wie du die Zigarette weggeworfen hast? Claudionor  Weiß ich nicht … Seit wann ist er wohl da oben? Mário  Ich habe Angst, dass er uns schon bei unserer Gymnastik beobachtet hat … Claudionor  Wenn er das gesehen hat, sind wir geliefert. Er hat mehr als einmal gesagt, dass hier nicht der Ort für Gymnastik ist. (Pause) – Winkt er oder bilde ich mir das nur ein? Mário  Ja. Was meinst du, will er wohl sagen, Mist? Claudionor  Wir müssen es nicht verstehen, um zu wissen, dass es ein Anschiss ist. Antworte irgendetwas. Mário  Was soll ich antworten, wenn ich nicht höre, was er sagt …

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Claudionor  Winke einfach, mach ein Okay-Zeichen … antworte irgendetwas, Mann. Er mag dein Gesicht sowieso lieber als meins. Mário fängt an, Okay-Zeichen zu machen, und schaut nach oben, während Claudionor, flüsternd, eine ganze Salve Schimpfwörter raushaut. Claudionor  Los, du Hurensohn, hoffentlich schlägt ein Blitz in deinen Schädel ein, du Opfer. Da oben stehen, sich wie ein Affe benehmen ist einfach, komm mal hier runter, um zu sehen, wie schön es ist, richtige Knochenarbeit zu machen … Mário  Halt den Mund, Claudionor. Der Typ geht ja schon weg. Claudionor  Was wollte er? Mário  Wie soll ich das wissen? Zumindest will er nach Dienstschluss mit uns reden. Gewiss will er uns eine Standpauke halten. Wer hat dir gesagt, dass du Zigaretten auf die Köpfe von Passanten werfen sollst? Claudionor  Sag die Wahrheit: Gibt es jemanden auf dieser Welt, den du mehr hasst als diesen Chef? Mário  Ach, was weiß ich … Claudionor  Los, antworte, ich will es nur wissen. Es gibt keinen … Dieser Typ ist die schlimmste Plage in unserem Leben. Ein Scheißer. Weißt du, was ich wirklich möchte? Dass er eines Tages dort oben steht, so wie heute, und plötzlich kommt ein Hubschrauber und der Flügel rasiert diesem Opfer den Kopf ab. Mário  Ein Hubschrauber hat keine Flügel. Claudionor  Wie heißt denn das, was sie haben, das, was sich dreht? Mário  Ja, ich weiß, was du meinst … Claudionor  Also, wenn das Ding diesem Kerl den Kopf abschneiden würde und wir hier stehen würden, um seinen Kopf fallen zu sehen, direkt vor uns … und der da unten zerspringen würde. Ich würde nach unten schauen und würde dann so, mit ausgestrecktem Zeigefinger, rufen: Hallo, Paraíba, Provinzratte aus dem Nordosten, wusstest du nicht, dass du den Bürgersteig nicht schmutzig machen sollst? Willst du deine Arbeit verlieren? Willst du das? Mário  Mann, das ist nicht korrekt, er hat uns nie Provinzratten genannt. Claudionor  Hat er nur nicht gemacht, weil er sich im Griff hat. Lust hat er schon. Merkst du nicht, wenn jemand Provinzratte zu dir sagen will? Jetzt mal ernst, hast du dir schon mal vorgestellt, wenn das tatsächlich passieren würde? Der Hubschrauber geht runter und schwapp säbelt er den Hals dieses Hurensohns ab! Der Kopf fällt, dreht sich, dreht sich 196


… mit dem entsetzten Blick des Gockels, der nicht versteht, was gerade passiert … Mário  Hör auf, so einen Mist zu erzählen … Claudionor steht auf der Arbeitsbühne. Claudionor  Los, Mário, hör nur einmal auf, in deinem Leben so dämlich zu sein. Los, wir rächen uns. Tu so, als würde sein Kopf runterfallen. Schau nur, er fängt schon an zu fallen. Du bist der Torwart, stell dich hin, los … Bleib stehen, denn ich werde den Kopf des Hurensohns kicken und du hältst ihn. Los, wie bei der Fußball-WM. Danach umarmen wir uns und feiern. Mário  Ich werde nichts halten, setz dich da hin, verdammt. Claudionor  Klar, dass du das nicht tust. Du bist eine Schwuchtel, neben allem anderen. Aber du musst ihn nicht halten, besser ist, ihn nicht zu halten. Du musst den Kopf auf den Bordstein fallen lassen, damit man weiß, dass er eine schmutzige Provinzratte war. Es muss eine Riesensauerei da unten geben. Bist du fertig? Los, gehen wir … Mário  Zum Teufel, setz dich … das Gerüst schwankt … Claudionor  Schau nur, großer Mário, der Kopf fällt, er kommt, er kommt … jetzt ist er da. Claudionor setzt an, um einen Ball zu kicken. Claudionor  Da kommt der Bombenschuss … Claudionor kommt aus dem Gleichgewicht und fällt. Er wird vom Sicherheitsgurt gehalten und kann sich ans Stahlseil klammern. Mário ist verzweifelt und springt, um ihm zu helfen. Mário  Hab ich dir nicht gesagt, du sollst mit diesen dummen Spielchen aufhören? Pass auf, du Idiot! Du wirst noch runterfallen und mich auch ins Verderben reißen … Halt dich fest, ganz fest, verdammt. Mário fängt an, Claudionor wieder auf das Gerüst hochzuziehen. Beide sind angespannt, und dieser Einsatz muss einige Sekunden dauern … Mário  Gib mir die Hand, du Mistkerl. Claudionor  Ganz ruhig, ganz ruhig … wir sind außer Gefahr … Mário  Ganz ruhig, verflixt. Gib mir die Hand, los, mach schon … setz den Fuß hierher, genau so, genau so … Halt dich hier jetzt hier fest, gib dir einen Ruck. Claudionor schafft es, wieder auf die Arbeitsbühne zu robben. Mário, am anderen Ende, ist erschrocken und schnauft. Beide halten eine Weile still, jeder auf seiner Seite des Gerüsts. 197


Claudionor  Ich hab den Schuss verpasst. (Pause) – Deine Schuld, weil du mir Pech gewünscht hast. Sekunden des Schweigens. Beide sind still, putzen die Fenster. Mário  Es gibt Momente, da jagst du mir einen Schrecken ein. Claudionor  Es war nur ein Ausrutscher, keiner ist gestorben. Alle rutschen mal bei dieser Arbeit aus. Mário  Nicht wegen des Ausrutschers. Das hat mich auch erschreckt, aber ich rede von deinem Hass. Claudionor  Was? Mário  Du scheinst vieles zu hassen. Auch vorhin, als du davon sprachst, den Kopf vom Chef zu kicken. Manchmal glaube ich, dass es wahr ist. Wenn du könntest, würdest du tatsächlich seinen Kopf kicken. Sogar den von mehr Leuten. Claudionor  Uff, du etwa nicht? Mário  Ich nicht. Warum sollte ich das tun? Claudionor  Wenn du das nicht weißt, dein Pech. Mário  Wir hätten sterben können … In dem Augenblick kam mir dieser Traum von dir wieder in den Kopf. Claudionor  Hab ich nicht gesagt, dass ich im Traum allein hier oben war? Mário  Genau deswegen hatte ich Angst. Wenn du allein warst, dann weil ich gefallen war. Es ist immer so, wer schweigt, zahlt am Ende. Claudionor  Warum hasst du unseren Chef nicht? Mário  Mensch, er hat mir nie etwas getan … Claudionor  Wie, er hat dir nie etwas getan? Er gibt nur Befehle, brüllt nur und schaut uns verächtlich an. Nur weil er mir Befehle gibt, ist das für mich allein Grund genug, ihn zu hassen. Mário  Wenn er keine Befehle geben würde, wem würden wir dann gehorchen? Claudionor  Niemandem. Mário  Wo wären wir jetzt, wenn wir niemandem gehorchten? Ich bin nur hier, weil man mich raufgeschickt hat. Hätten sie mich nicht raufgeschickt, dann würde ich hier nicht hochsteigen, ich bin doch nicht verrückt. Deshalb muss es jemanden geben, der Befehle gibt, sonst macht das keiner. Claudionor  Genau davon rede ich: Du hasst nicht den, der dir befiehlt, hier hochzusteigen? 198


Mário  Hör auf, meinen Schädel durcheinanderzubringen. Ich will nicht werden wie du, mit dem Willen, die anderen zu treten … Claudionor  Dann sag mir eine Sache, die du hasst, und dann gebe ich Ruhe. Mário  Es gibt nichts. Claudionor  Es muss etwas geben. Jeder hasst etwas. Du kannst darüber nachdenken … Mário  Es gibt Dinge, die ich nicht mag, aber es ist nicht so, wie bei dir, dass ich etwas hasse … Claudionor  Also gut, das langt. Sag, was es ist. Mário  So etwas zum Beispiel … Warst du schon mal auf der Toilette im Shoppingzentrum? Claudionor  Ja. Mário  Also, dann hast du schon diese Apparate gesehen mit Papierblättern zum Händetrocknen? Auf allen steht geschrieben: Zwei Blätter reichen. Die reichen eben nicht. Gar nicht. Wir, die wir mit der Reinigung arbeiten, wissen, dass es nicht stimmt. Zwei Blätter reichen nicht, um die Hände abzutrocknen. Manchmal nicht mal drei. Nur ab vier aufwärts, ab fünf aufwärts. (erregt sich) Das geht mir an die Nieren. Warum sagen die, dass zwei Blätter reichen? Wir nehmen so viele, wie wir wollen. Wir haben nicht mal einen Groschen, den wir im Shoppingzentrum ausgeben können, und dann gehen wir auf die Toilette und müssen uns mit nur zwei Blättern begnügen? An einem Tag habe ich eins, zwei … gezogen … es gab niemandem auf der Toilette und ich habe gesagt: Spart Blätter am Arsch. Ich riss alle Blätter raus, alle, und warf alles in den Müll. Ich sagte ganz laut: Ich will den Hurensohn sehen, der mir sagen wird, mit wie vielen Blättern ich meine Hände abtrocknen werde … Claudionor  Aber das ist nicht … Mário  Halt den Mund, ich rede noch. Noch etwas, das ich nicht mag, ist, wenn jemand sagt: „Nichts gegen …“ Ich höre das jeden Tag im Bus. Jemand spricht schlecht über … was weiß ich, über einen Kellner. So fängt es an: „Nichts gegen den Kellner“ … und dann kommt schon das Gewitter über den Armen. Wer schlecht über einen Bettler reden will, sagt: „Nichts gegen den Bettler.“ Ich sehe dem Gesicht der Person an, dass von ihr aus alle verrecken könnten. Das kann ich nicht ab, das kann ich nicht ab, verstehst du? Warum muss man „Nichts gegen“ sagen? Sag 199


gleich, was du denkst, und fertig! Ich habe Angst, dass ich eines Tages, was weiß ich, Gott behüte. Aber wenn ich eines Tages auf die Toilette eines Shoppingzentrums gehe und ein Idiot sagt, „Nichts gegen“ und sich dann nur zwei Blätter nimmt, um sich die Hände zu trocknen … also, wenn ich dann schon nicht mehr richtig ticke, denke ich, dass ich den Hurensohn gleich dort auf der Toilette umbringe. Ich schlage seinen Kopf ganz oft auf das Waschbecken und schreie ihn an: „Sag ‚Nichts gegen …‘, los, sag es, du Idiot. Dann lernst du, nicht nur zwei Blätter zu nehmen, die nicht reichen, verstehst du, zwei Blätter reichen nicht, um die Hände von irgendjemandem abzutrocknen …“ (Pause, etwas gelassener) Aber davon abgesehen, stört mich der Rest nicht. Ich trage keinen Hass in mir, nein … (blickt zum Fenster) – deine Seite ist sauberer, oder meine ich das nur? Claudionor  (verwirrt) Ich glaube beide Seiten sind gleich, oder? Mário  Lass mal sehen … ja, ich glaube, sie sind gleich. Claudionor  Manchmal möchte ich nicht an ihrer Stelle sein. Mário  Ihrer … wem? Claudionor  Ihrer, da drinnen. Wir putzen die Fenster für sie, und wenn sie dann bis hierher kommen, ganz nah ans Fenster, was werden sie sehen? Dieses andere Gebäude hier hinten hat nur eine Sichtweite von zehn Metern. Da ist es egal, ob die Fenster sauber oder schmutzig sind, das kommt aufs Gleiche raus … Mário  Habe ich dir nicht gesagt, dass du dir zu viele Gedanken über die da drinnen machst? Schau nur, du denkst schon wieder an sie. Wir müssen nicht daran denken, was die Leute sehen werden. Wir müssen unsere Fenster sauber hinterlassen und fertig. Wenn sie etwas sehen werden, ist das ihr Problem. Wenn sie nichts sehen wollen, ebenso, ach, von mir aus sollen sie sich doch selbst ficken. Claudionor  Ich glaube, dass du mehr Wut im Bauch hast als ich. Mário  Stimmt nicht, du hast viel mehr Wut. Claudionor  Du hast Wut. Ich hasse ein, zwei oder drei Dinge, sehr sogar, aber es sind wenige Dinge, die kann ich an einer Hand abzählen. Dein Hass ist geringer, dafür hasst du viel mehr Dinge. Wenn man summieren würde, ach, da gewinnst du um Längen. Wahnsinn, ach, was für ein mieses kleines Subjekt du bist … Mário  Das Schlimme an dieser Arbeit ist, dass wir, wenn wir so viel Mist zu hören bekommen, nicht auf einen Cafézinho rausgehen können. 200


Wenn wir in einem Büro arbeiten würden, weißt du, was ich tun würde? Ich würde dich allein weiterreden lassen. Ich würde sagen: Ach, ich gehe mal kurz raus und komme gleich wieder. Ich würde mir viel Zeit lassen und lange nicht zurückkommen, sehr lange, so lange, bis ich dein Gesicht vergessen hätte. Hier kann ich nirgends hingehen, deshalb höre ich dir zu und verlerne Dinge. Sehe mein Leben nur rückwärts laufen. Wenn es von mir abhinge, würdest du hier allein sitzen, zu den Mauern sprechen … Wieder konzentrieren sie sich auf die Reinigungsarbeiten, geben durch Handlungen zu verstehen, dass der Arbeitstag zu Ende geht. Sie legen die Tücher in die Eimer, sammeln die Fensterabzieher ein und lassen, während sie schweigen, die Arbeitsbühne bis auf den Boden herunter. Sie steigen von der Arbeitsbühne, schauen nach oben und betrachten die geleistete Arbeit. Mário  Gehen wir und sehen, was der Chef möchte? Claudionor  Kann das nicht bis morgen warten? Mário  Lass uns jetzt gehen. Wenn es einen Anschiss gibt, ist es besser, ihn abends einzustecken als am frühen Morgen. Sie nehmen die Eimer und die Fensterabzieher in die Hand. Claudionor  Ach, erinnere mich daran, dass ich dich danach noch etwas fragen möchte. Mário  Den Namen des Loses, oder? Hast du geglaubst, dass ich ihn vergessen würde? Es ist Magali. Claudionor  Nein, das meine ich nicht. Ich wüsste gern, wie die Geschichte mit Juvêncio weitergegangen ist … Mário  Krass. Er hat noch 15 oder 20 Tage hier gearbeitet, nachdem er den Jungen hierhergebracht hat, und ist dann verschwunden. Er sagte, dass er sich um eine andere Arbeit kümmern wollte, und ist nie wieder hier erschienen. Anfangs fanden wir das seltsam, er ist nicht einmal gekommen, um sich zu verabschieden … Aber dann, weiß nicht … muss er sich dort arrangiert haben. Claudionor  Wirst sehen, dass er Zigaretten kaufen gegangen ist … Mário  (lacht) Juvêncio hat nicht mal geraucht … Claudionor  Genau das beschäftigt mich … Mário  Gut, gehen wir und hören, was der Mann will … Claudionor  (schaut ein letztes Mal auf das Hochhaus) Hoffentlich regnet es nicht heute Nacht … Es ist ein Schmuckstück … 201


Mário  Wenn es regnet, wird es auch nicht das erste Mal sein. Dann machen wir morgen nur die Flecken weg. Claudionor  Ja … nur die Flecken … Sie gehen ab. ENDE

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Autorinnen und Autoren

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Foto: Will Sampaio

Newton Moreno

Newton Moreno, geboren 1968 in Recife, Pernambuco, im Nordosten Brasiliens, lebt und arbeitet als Dramatiker, Drehbuchautor und Regisseur heute in São Paulo. Er hat an der Universität São Paulo (USP) im Fach „Artes Cênicas“ (Angewandte Theaterwissenschaften) promoviert und ist Gründer und Regisseur der freien Theatergruppe „Os Fofos Encenam“ (frei übersetzt: Die inszenierenden Fluffis). Die brasilianische Uraufführung von Agreste (Malva Rosa), 2004, in der Regie von Márcio Aurélio, wurde 2006 im kulturellen Rahmenprogramm der Fußballweltmeisterschaft „Copa da Cultura“ als Gastspiel im HAU, Theater Hebbel am Ufer, in Berlin gezeigt. Er hat zahlreiche weitere Stücke geschrieben, die zum Teil im kargen Nordosten Brasiliens spielen, aber auch solche, die deutsch-brasilianische Beziehungen wie auch LGBT-Themen behandeln. Für seine Arbeit als Dramatiker, Regisseur und Bühnenbildner hat er zahlreiche Preise erhalten. Agreste erschien mit zwei weiteren Stücken des Autors (Body Art und A Refeição) in der Reihe „Coleção Palco – Sur Scène“ in der Imprensa Oficial do Estado de São Paulo, 2008. Zum Autor liegen zwei wissenschaftliche Publikationen in deutscher Sprache vor: Katja Roloff, die Übersetzerin von Newton Moreno, hat ihre Diplomarbeit über „Die Darstellung von Geschlechternormen im Drama Agreste (Malva Rosa) von Newton Moreno“ verfasst (Humboldt-Universität Berlin, 2011), und Henry Thorau hat „Vida e morte agrestina. Anmerkungen zu Newton Morenos Agreste“ veröffentlicht in: Ders., Tobias Brandenberger (Hrsg.): Corpo a Corpo – Körper, Geschlecht, Sexualität in der Lusophonie, Berlin 2011. 204


Foto: Lucas Ávila

Grace Passô

Grace Passô geboren 1980 in Belo Horizonte, der Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais. Sie ist Dramatikerin und Schauspielerin. Überregional bekannt wurde sie nicht nur als Autorin, sondern auch als Gründerin und Leiterin verschiedener Theatergruppen, darunter „espanca!“, von der ihr im vorliegenden Band abgedrucktes Stück Für Elise (Por Elise) 2005 in ihrer Regie in Curitiba uraufgeführt wurde. Sie genießt in Brasilien inzwischen als Autorin und Performerin Kultstatus. Darüber hinaus arbeitet sie als Workshopleiterin und Dozentin für Szenisches Schreiben, Regie und Darstellendes Spiel. Im Frühjahr 2018 trat sie mit Preto (Schwarz), einer Produktion der Companhia Brasileira de Teatro, Rio de Janeiro, im Rahmenprogramm des Berliner Theatertreffens im Haus der Berliner Festspiele und auch im Mousonturm in Frankfurt/Main auf. Por Elise erschien 2012 in der Editora Cobogó, Rio de Janeiro, als Band I einer Reihe von Theaterstücken der Autorin. Weitere Stücke in der Reihe sind Amores surdos (2012, Taube Lieben) Band II, Marcha para Centauro (2012, Marsch für Zentaur) Band III, Congresso international do medo (2012, Internationaler Angst-Kongress) Band IV. Grace Passô wurde als Autorin wie als Darstellerin mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet.

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Foto: Alan McCredil

Silvia Gomez

Silvia Gomez, geboren 1977 in Belo Horizonte, der Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais, wo sie Theater- und Sozialwissenschaften studiert hat. Sie lebt heute in São Paulo, arbeitet als Journalistin und ist eine der bekanntesten Dramatikerinnen ihrer Generation. Von 2003 bis 2011 gehörte sie in São Paulo dem vom auch international bekannten Regisseur Antunes Filho gegründeten Dramatikerkreis „Círculo de Dramaturgia do Centro de Pesquisas Teatrais (CPT-SESC)“ an, der sich der Erforschung und Entwicklung neuer dramatischer Erzählstrategien widmet. In dieser Zeit schrieb sie 2005 O céu cinco minutos antes da tempestade, das im vorliegenden Band unter dem Titel Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm abgedruckt ist. In Brasilien erschien das Stück 2006 in der Buchreihe des „Círculo de Dramaturgia“, die Uraufführung fand 2008 im Theater des „Centro de Pesquisas Teatrais“ statt. Silvia Gomez hat zahlreiche weitere, vielfach preisgekrönte Stücke geschrieben, darunter O amor e outros estranhos rumores (2010, Liebe und anderes Rauschen), Mantenha fora do alcance do bebê (2015), das unter dem Titel Von Babys fernhalten im Zuckerhut Theaterverlag, München, vorliegt. Seit 2017 ist Silvia Gomez am „Círculo de Dramaturgia do Centro de Pesquisas Teatrais“ Dozentin für Szenisches Schreiben.

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Foto: Ana Alexandrino

Pedro Brício

Pedro Brício, geboren 1972 in Rio de Janeiro, wo er bis heute als Autor und Regisseur lebt. Er hat Theater- und Filmwissenschaften an der Universidade Federal Fluminense (UFFRJ) in Rio de Janeiro studiert und besuchte theaterpraktische Ergänzungs- und Aufbaukurse an der Desmond Jones School of Mime, der École Philippe Gaulier in London und an der Scuola Internazionale dell’Attore Comico in Reggio Emilia. Fast verlorene Liebesmüh (Trabalhos de amores quase perdidos) entstand 2011 und wurde im selben Jahr in seiner Inszenierung am Espaço Cultural Sergio Porto (Kulturraum Sergio Porto) in Rio de Janeiro uraufgeführt. 2012 erschien die Buchfassung in der Editora Cobogó, Rio de Janeiro. Pedro Brício hat weitere, ebenfalls mit bedeutenden Preisen ausgezeichnete Stücke verfasst, u. a. A Incrível Confeitaria do Sr. Pellica (2005, Die unglaubliche Konditorei des Herrn Pellica), Cine-Teatro Limite (2008, Grenze KinoTheater), und Breu (2012), das unter dem Titel Blackout im Zuckerhut Theaterverlag, München, vorliegt. Pedro Brício hat sich auch als Regisseur einen Namen gemacht und u. a. Stücke von Edward Albee und Samuel Beckett inszeniert.

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Foto: Studio 8

Paulo Santoro

Paulo Santoro, geboren 1972 in Ribeirão Preto im Bundesstaat São Paulo. Er hat Literaturwissenschaft an der Universidade de São Paulo (USP) studiert. Bekannt wurde er als Dramatiker mit dem Stück O canto de Gregório (Gregorios Gesang), das Antunes Filho 2004 mit seinem Ensemble uraufführte. Wie Silvia Gomez gehörte auch Paulo Santoro in São Paulo zum bekannten Dramatikerkreis „Círculo de Dramaturgia do Centro de Pesquisas Teatrais (CPT-SESC)“, der sich der Erforschung und Entwicklung neuer dramatischer Erzählstrategien widmet. Zwei seiner Stücke, O canto de Gregório und das im vorliegenden Band abgedruckte Das Ende aller Wunder (O fim de todos os milagres) erschienen 2006 in der vom „Círculo de Dramaturgia“ herausgegebenen Buchreihe. Paulo Santoro ist Autor zahlreicher weiterer Theaterstücke, darunter A mulher que ri (2008, Die Frau, die lacht), Plínio contra as estrelas (2012, Plínio gegen die Sterne). 2016 erschein sein erster Roman, A vida longa dos vermes (Das lange Leben der Würmer). Das Ende aller Wunder wurde 2017 unter dem Titel The end of all miracles am Albany Theatre in London uraufgeführt.

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Foto: Victor Affaro

Sérgio Roveri

Sérgio Roveri, geboren 1960 in Jundiaí im Bundestatt São Paulo, hat Journalismus an der Katholischen Universität von Campinas studiert. Er ist Autor von mehr als zwei Dutzend Theaterstücken, von denen etliche mit bedeutenden Dramatiker- und Inszenierungspreisen ausgezeichnet wurden. Eine Auswahl seiner Dramen ist in bislang drei Anthologien erschienen: Coleção Primeiras Obras, Imprensa Oficial do Estado de São Paulo, Band IV, 2009; Sérgio Roveri em Quatro Tempos, Giostri Editora, São Paulo, 2012; Medeia, Maria e Marilyn, Giostri Editora, São Paulo, 2013. Sérgio Roveri ist außerdem Verfasser von Biografien, u. a. über den Dramatiker und Schauspieler Gianfrancesco Guarnieri, in den 1960er Jahren Weggefährte von Augusto Boal am Teatro de Arena von São Paulo. Guarnieris Stück Eles não usam blacktie aus dem Jahre 1958 über die Gewerkschaftsbewegung und einen Industriearbeiterstreik liegt auf Deutsch unter dem Titel Sie tragen keinen Smokingschlips beim Henschel Verlag, Berlin, vor. Sérgio Roveri arbeitet auch als Drehbuchautor für den brasilianischen Fernsehgiganten TV Globo. Hängepartie (mit Innenansichten) (Andaime (com vista para dentro)) wurde 2007 am Teatro Vivo in São Paulo uraufgeführt und mit dem Prêmio Funarte de Dramaturgia der staatlichen Theaterstiftung FUNARTE ausgezeichnet und im selben Jahr in der von FUNARTE herausgegebenen Anthologie Edição do Prêmio veröffentlicht. Eine weitere Ausgabe, zusammen mit anderen Stücken des Autors, erschien 2009 im Band O Teatro de Sérgio Roveri in der Reihe Coleção Aplauso, Imprensa Oficial do Estado de São Paulo. 209



Rechtenachweis Pedro Brício Fast verlorene Liebesmüh Originaltitel: Trabalhos de amores quase perdidos Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Isabella Parkinson Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag Theater der Zeit. Silvia Gomez Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm Originaltitel: O céu cinco minutos antes da tempestade Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michaela Ulich Die Aufführungsrechte liegen beim Zuckerhut Theaterverlag in München. Newton Moreno Wüstes Land, Agreste (Malven-Rose) Originaltitel: Agreste (Malva Rosa) Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Katja Roloff in Zusammenarbeit mit Berthold Zilly und Senia Hasičević Die Aufführungsrechte liegen beim Zuckerhut Theaterverlag in München. Grace Passô Für Elise Originaltitel: Por Elise Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Katja Roloff Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag Theater der Zeit. Sérgio Roveri Hängepartie (mit Innenansichten) Originaltitel: Andaime (com vista para dentro) Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Ute Hermanns Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag Theater der Zeit. Paulo Santoro Das Ende aller Wunder Originaltitel: O fim de todos os milagres Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Henry Thorau Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag Theater der Zeit.

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Über den Herausgeber Henry Thorau, Professor em. für Brasilianische und Portugiesische Kulturwissenschaft an der Universität Trier, ist einer der profiliertesten Kenner der Dramatik Brasiliens und hat zahlreiche Bücher verfasst, herausgegeben und übersetzt, zuletzt die Monografie Unsichtbares Theater, und u. a. Augusto Boals Schriften zum Theater der Unterdrückten herausgegeben und übersetzt.


Newton Moreno Wüstes Land, Agreste (Malven-Rose) Grace Passô Für Elise Silvia Gomez Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm Pedro Brício Fast verlorene Liebesmüh Paulo Santoro Das Ende aller Wunder Sergio Roveri Hängepartie (mit Innenansichten)


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