Theaterstücke von Yerandy Fleites Pérez Carlos Celdrán Agnieska Hernández Díaz
Reinaldo Montero Yunior García Abel González Melo
Pepe Dein Alejandro ist ein ganz schönes Großmaul. Susy Wenigstens hat er keine Angst, zu sagen, was er denkt. Pepe Die habe ich auch nicht. Susy Für dich ist das einfach. Pepe Glaubst du das? Schau mich an! Susy Schrei mich nicht an! Pepe Kritisieren ist einfach. Es ist viel schwerer, für dieses Land zu kämpfen, wenn alle es ständig schlechtmachen. Susy Ich hatte wirklich vergessen, was für ein Großkotz du doch bist. Aus Jacuzzi von Yunior García
TheaterstĂźcke aus Kuba
Die Übersetzungen in dieser Anthologie wurden in einem kontinuierlichen und intensiven Austauschprozess zwischen allen ÜbersetzerInnen vorgenommen. So kamen die Erfahrungen und Kompetenzen jedes Einzelnen allen Texten zugute. Herzlichen Dank an den Deutschen Übersetzerfonds, der diese gemeinsame Arbeit durch seine Förderung ermöglicht hat! Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt. Gefördert durch das Verbindungsbüro des Goethe-Instituts in Havanna
Theaterstücke aus Kuba Herausgegeben von Omar Valiño Reihe Dialog © Theater der Zeit, Berlin 2019 Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleitung Harald Müller Winsstraße 72, 10405 Berlin, Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Erik Zielke Gestaltung: Agnes Wartner, kepler Printed in Germany ISBN 978-3-95749-154-1 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-216-6 (ePDF) ISBN 978-3-95749-217-3 (EPUB)
DIALOG 30 –
THEATERSTÜCKE AUS KUBA –
Herausgegeben von Omar Valiño
Inhalt Omar Valiño Vorwort
S. 7
Miriam Denger, Carola Heinrich, Franziska Muche Alles hat seinen Preis
S. 15
Yerandy Fleites Pérez Passion King Lear
S. 19
Übersetzung: Miriam Denger
Carlos Celdrán Zehn Millionen
S. 69
Übersetzung: Mehdi Moradpour, Carola Heinrich
Agnieska Hernández Díaz Mehr, Macbeth! Ein dokumentarisches Fest
S. 109
Übersetzung: Miriam Denger
Reinaldo Montero Eldorado Un teatro pancarta – ein Parolentheater
S. 145
Übersetzung: Carola Heinrich, Franziska Muche
Yunior García Jacuzzi
S. 195
Übersetzung: Miriam Denger
Abel González Melo Mechanismen Ein Spiel mit den Gesetzen der Bewegung
S. 233
Übersetzung: Franziska Muche
–
biografien Rechtenachweis
S. 289 S. 297
Vorwort
Das kubanische Theater und seine Geschichte auf wenigen Seiten vollständig abzubilden, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Hier kann es nur darum gehen, einige markante Punkte herauszugreifen und im kubanischen Kontext zu verorten. Eine Herausforderung, ein Abenteuer – und im besten Falle ein erhellender Leitfaden für interessierte Leserinnen und Leser. An anderer Stelle (in einer Sonderausgabe Theater der Zeit spezial über Kuba und sein Theater) habe ich bereits ausgeführt, dass die institutionelle Landschaft des kubanischen Theaters der deutschen nicht unähnlich ist. Das mag verwundern, doch Theater wird in Kuba, wie in Deutschland auch, staatlich subventioniert – anders als in den meisten Ländern Lateinamerikas, in denen selbst Gruppen mit internationalem Renommee ohne öffentliche Mittel auskommen müssen. Kuba jedoch investiert viel in die Arbeit seiner zahlreichen Theaterleute – und das in einem Land mit gerade einmal elf Millionen Einwohnern. Trotz aller Parallelen zwischen kubanischem und deutschem Theatersystem gibt es aber auch wesentliche Unterschiede. Die kubanische Theatertradition ist mit der deutschen nur schwer vergleichbar. Tradition meint hier nicht nur die großen Namen und Werke, sondern vor allem den Platz, den eine Gesellschaft ihrem Theater einräumt. Doch gerade in letzter Zeit häufen sich die Anzeichen, dass Kubas Bühnen sich neues gesellschaftliches Terrain erobern: Die Theater auf der Insel erreichen heute mehr Zuschauer denn je. Die Höhe der Zuschüsse stellt im Vergleich der beiden Länder einen weiteren wesentlichen Unterschied dar – was wenig überraschen dürfte, angesichts ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Situation. Geld alleine ist aber nicht alles. Entscheidend ist die gesellschaftliche Anerkennung, die Würde der Theaterarbeit. Das wird auch an den rechtlichen Rahmenbedingungen deutlich, nach denen Theaterberufe in Kuba allen anderen Berufen gleichgestellt sind. Sie schaffen die Voraussetzungen dafür, dass die szenischen Künste und das Theater überall im Land lebendig sind – sowohl im Hier und Heute als auch auf lange Sicht – und dementsprechend öffentliche Wirkung entfalten können. Im Zentrum der Theaterarbeit stehen nicht wirtschaftliche, sondern künstlerische Vorhaben. So werden Theaterkollektive auch nicht von Managern oder Geschäftsführerinnen geleitet, sondern von Künstlerinnen 7
und Künstlern, vorwiegend aus dem Bereich Regie. Die Theaterlandschaft in Kuba setzt sich aus kleinen, mittleren und großen Kompanien zusammen, bis hin zum „Einmannbetrieb“. Zum künstlerischen Stab gehören neben Leitung und Schauspielensemble auch Autorinnen und Autoren sowie Dramaturgie, künstlerische Beratung, Bühnen- und Kostümbild, Bühnentechnik und Verwaltung. Die Gruppen entscheiden selbst, was und wie sie inszenieren wollen. Das Theater entwickelt sich, ausgehend von der Gründung des Theaters La Cueva 1936, hin zum modernen Ensembletheater eines Teatro Estudio, wie Raquel und Vicente Revuelta es 1958 eröffnen. Die kubanische Revolution, die zu Beginn des Jahres 1959 siegt, stellt einen Höhepunkt dieser Entwicklung dar: Dank ihr kann das Theater seinen Radius erweitern, Erfolge und Ideen der zurückliegenden Jahre bündeln und weiter ausbauen. Das Theater erlebt eine Blütezeit. Überall auf der Insel gründen sich mit institutioneller Unterstützung neue Gruppen, notwendige Infrastruktur entsteht. Zeitgleich wird die Ausbildung im Theaterbereich neu geregelt, die künstlerische Produktivität steigert sich in fast allen Bereichen. Die Kunst gibt sich einen neuen Rahmen und findet so letztlich auch ein neues Publikum. Doch zu dieser Zeit beginnt auch die Diskussion über ihre Rolle in der Gesellschaft, eine Debatte, die bis heute zu Spannungen und unversöhnlichen Konflikten führt. Eine Zeit lang entwickelt sich eine sehr lebendige und vielfältige Theaterszene, die Ende der 1960er Jahre beginnt, neue Zugänge zur Gesellschaft zu suchen. Diese Suche ist gemeinsamer Ausgangspunkt vieler unterschiedlicher Experimente, die das Verhältnis zwischen Bühne und Publikum neu in den Blick nehmen. Doch auch die Theaterwelt bleibt von der inneren Krise Kubas Ende der 1960er Jahre und den daraus resultierenden Fehlentscheidungen nicht verschont. Für einen großen Teil der Theaterleute bedeuten sie die Einschränkung ihrer individuellen und kollektiven künstlerischen Freiheiten und Rechte. Unvermeidlich hinterlassen so die 1970er Jahre im Leben und Schaffen der Künstler tiefe Spuren. Mit dieser Erfahrung im Rücken entwickelt sich in den 1980er Jahren eine neue Dynamik, die der Abwärtsspirale des vergangenen Jahrzehnts zu entkommen sucht und der kubanischen Kultur nach und nach neues Leben einhaucht. Zum Ende des Jahrzehnts hin kristallisiert sich eine neue Theaterästhetik heraus, ein Paradigmenwechsel, der eine Reihe von institutionellen und künstlerischen Veränderungen mit sich bringt. Im Zentrum stehen
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dabei die überaus komplexen sozialen Probleme jener Zeit und die Frage, wie der Einzelne sich zu ihnen ins Verhältnis setzt. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre kommt durch die enorme Produktivität der Kunstschaffenden Bewegung in Kubas Kultur. Der Wunsch, die Gesellschaft zu verändern, zieht sich wie ein roter Faden durch die künstlerische Arbeit. Es ist eine Zeit der Kurskorrektur, der Öffnung und offen geführten Diskussion, eine Zeit heterogener kultureller und ideologischer Einflüsse, wobei die wichtigsten von der Perestroika ausgehen. Ein neues ethisches Bewusstsein durchdringt die kubanische Gesellschaft, man besinnt sich auf die Wurzeln der Revolution. Die Kunst macht keinen Hehl aus ihrer kritischen Haltung gegenüber Antagonismen, Irrtümern und konservativer Gesinnung. Sie will revolutionär sein und ist es, indem sie kritisch bleibt. Sie stellt vieles in Frage und setzt sich mit dem Drama menschlicher Existenz auseinander, in dem Alltag, Heldentum und das Gewicht der Vergangenheit aufeinandertreffen. Die Kubanerinnen und Kubaner selbst und ihre Geschichte treten nun in den Fokus des künstlerischen Interesses. Inmitten der Auflösung der sozialistischen Staaten und des Zusammenbruchs der Sowjetunion treten Theater und Gesellschaft wieder verstärkt in Dialog. Das Publikum, besonders in Havanna, lässt sich darauf ein, trotz der schweren Wirtschaftskrise und ihrer Auswirkungen auf Gesellschaft, Ideologie, Politik und Alltag. Einmal mehr wird deutlich, wie sehr der Austausch zwischen Bühne und Nation von Anfang an Teil der kubanischen Theatergeschichte gewesen ist. Nun will das Theater noch mehr, es will den Puls der Insel, will ihr ganzes Gewicht. Viele voneinander unabhängige Erfahrungen dieser Zeit haben möglicherweise eines gemein: Sie streben nach Einheit, nach dem einen, dem gemeinsamen (Sinn-)Bild der Insel auf dem Wasser. Die Insel als unteilbares Ganzes, als Metapher. Nicht nur das Staatsgebiet einer Nation, sondern ein Ort der Kultur, ein Seinszustand. Hier spannt sich der Bogen zur Poetik eines Virgilio Piñera.1 Das Theater der Insel dient als Gradmesser dafür, wie sehr Kuba und die Welt sich zwischen 1980 und 2000 verändert haben. Obwohl immer wieder von Krisen erschüttert, hat das Theater, seinen Möglichkeiten entsprechend, zum „Aufbau“ des Landes beigetragen. Mitten im Chaos der allumfassenden Neustrukturierung findet das Theater seinen eigenen, freien Weg. 1) AdÜ: Der Autor bezieht sich hier auf den kubanischen Dichter Virgilio Piñera und sein 1943 verfasstes Gedicht „La isla en peso“ (Das Gewicht der Insel). Das bei seiner Veröffentlichung kontrovers diskutierte Gedicht wirft einen zynischen und skeptischen Blick auf die Insularität, Identität und das kulturelle Erbe Kubas. Es hat heute einen Kultstatus: Fast jeder Kubaner und jede Kubanerin kann die ersten Zeilen des Gedichts zitieren und es wurde von zahlreichen Autoren und Autorinnen aufgegriffen und bearbeitet.
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Es hat Anteil an der Artikulation einer neuen nationalen Identität, die keine äußeren Einschränkungen mehr erfahren soll. Das Theater lädt diesen Diskurs mit neuen Ideen, Formen und Bildern auf. Diese Entwicklungen erklären, warum das kubanische Theater bestimmte Kombinationen von Themen und Stilformen immer wieder aufgreift. Die Rolle des Vaters, die Undankbarkeit der Kinder, die Sprachlosigkeit in den Familien, die Ausübung von Macht – in den 1990er Jahren dienen diese Themen als Vehikel des immer lauter werdenden Wunsches nach einer sicheren Zukunft, nach der Ablösung der alten Generation. Zugleich beherrscht das Prinzip der Dekonstruktion die Bühne, das sich wiederum anderer Formen der Sinnproduktion bedient: Parodie, Ironie, Zitate, intertextuelle Verweise, Hyperbeln und Spiel. In den 2000er Jahren gibt es keine einzelne vorherrschende Tendenz mehr. Verschiedene, teils gegensätzliche Ansätze bestehen nebeneinander, inhaltlich und stilistisch frei reflektieren sie gesellschaftliche Wirklichkeiten auf der Bühne. Der Dialog mit globalen zeitgenössischen Strömungen, die sich nur schwer mit der eigenen kubanischen Tradition vereinbaren lassen, wird vertieft. Und wieder kämpft eine neue Generation darum, sich durchzusetzen. Seit sich das kubanische Theater um Modernität bemüht, spielen verschiedene Schulen und Ansätze der Theaterausbildung eine entscheidende Rolle. Zuständig für diese Ausbildung war in den vergangenen vier Jahrzehnten das Instituto Superior de Arte (ISA), die 1976 gegründete Universität der Künste. Zu ihren ersten Einrichtungen gehörte die Fakultät der Darstellenden Künste, die sich heute Facultad de Arte Teatral (Theaterfakultät) nennt. Das Studium am ISA dauert fünf Jahre. Die Studierenden machen ihren Abschluss in Schauspiel oder Bühnenbild, Theaterwissenschaft, Szenischem Schreiben oder Regie. Das Institut sucht den Austausch sowohl national als auch international, wollte sich niemals von der Außenwelt abschirmen. Statt auf alten Mustern zu beharren, war es stets an der Entwicklung neuer Strategien beteiligt, um die Tradition mit den Herausforderungen der Gegenwart in Einklang zu bringen. Viele, die das Gesicht des kubanischen Theaters heute prägen, haben in diesen Räumen studiert. Aus der dramatischen Literatur der Revolutionszeit sticht besonders jene hervor, die versucht, die sozialen Zusammenhänge von Theater und Revolution nachzuvollziehen. Fünfzig Jahre Dramatik ergeben nun übereinandergelegt ein Muster, an dem sich gesellschaftliche Entwicklungspro10
zesse ablesen lassen. Eine Literatur, die ständig darum kämpft, Ausdruck und Agora des Sozialen, Humanen und Politischen zu sein. Sie zeichnet sich durch die Vielfalt der Schreibprozesse und individuellen Poetiken aus, durch Ähnlichkeiten und Differenzen in der Arbeit der Autorinnen und Autoren. Sie ist geprägt vom jeweiligen Zeitgeist, schlägt Brücken zur Tradition und stellt Querverbindungen zwischen ihren natürlichen Bruchstellen her. Das kubanische Theater – geschrieben auf und außerhalb der Insel –, hat die Gesellschaft auf den Prüfstand gestellt, es hat die Geschichten von Individuen und Gemeinschaften erzählt, die sich zwischen Utopie und Widersprüchen, zwischen Kämpfen und Konflikten aufreiben. Auch die außerhalb der Landesgrenzen entstandenen Theaterstücke sind in diesem Kontext von Bedeutung. Selbst die bittersten Abrechnungen, von außen wie innen, sind ein Teil von dem, was uns als Nation ausmacht. Die Entwicklung des kubanischen Theaters im 21. Jahrhundert führt von der Unsichtbarkeit ins Rampenlicht. Während sich noch im Jahr 2000 auf den mageren Spielplänen kaum neue Titel finden und keine neue Generation von Dramatikern und Dramatikerinnen zu erkennen ist, hat sich das Bild 15 Jahre später radikal gewandelt. Die kubanische Theaterliteratur wird seitdem von bis dahin unbekannten Handschriften geprägt – teils aus früheren Jahrgängen, teils aus einer neuen Generation und nun verstärkt auch aus weiblicher Feder. Diese Neuerung ist nicht nur eine Tatsache, sie war notwendig. Auch wenn die altbewährten, geistreichen Klassiker verschiedener Epochen gerade im Theater immer neu interpretiert und fortgeschrieben werden: Jede künstlerische Perspektive braucht das Prisma der eigenen Zeit, muss Lesende und vor allem Zuschauende mit ihrer Sprache gewordenen Lebensrealität konfrontieren – andeutend, durchdringend, suchend. Diese Anthologie ist in erster Linie den Stücken, weniger den Autorinnen und Autoren gewidmet. Trotzdem stehen sie nahezu idealtypisch für die beschriebene Entwicklung. Die vorgestellten Stücke interessieren mich als Symptom und Ausdruck der lebendigen Theaterszene des heutigen Kubas – sprachlich, stilistisch und als Inbegriff des kulturellen und soziopolitischen Wandels. In den Spielzeiten 2014 bis 2017 gehören diese Stücke zu den wichtigsten Inszenierungen im Land. Ihre Präsenz auf Kubas Bühnen erscheint nur folgerichtig, wenn man bedenkt, dass das kubanische Theater sich in den letzten Jahren wieder verstärkt sozialen Themen zuwendet. 11
Die Reihenfolge der Texte schlägt eine abenteuerliche Reiseroute vor. Sie führt die Lesenden in neue Themenwelten bis tief auf den Grund unserer Geschichte, Hintergrund der ewig wiederkehrenden Dramen zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Texte zeichnen Wege nach, die Menschen einschlagen, um ihr Lebensziel zu erreichen. Wie sie sich schneiden an den scharfen Rändern der Wirklichkeit, damals wie heute. Ihre quälenden Erinnerungen. Zu dieser Reise möchte diese Anthologie einladen. Ob die Autorinnen und Autoren auf Kuba leben oder zwischen Kuba und anderen Ländern pendeln, ihr Herz schlägt für diese Insel, die aus der Luft betrachtet kaum mehr ist als eine feine Linie zwischen Festland und Meer und doch Anlass für mächtige Träume, unergründliche Gefühle, schmerzliche Widersprüche und große Herausforderungen. Am 17. Dezember 2014 verkündeten die damaligen Präsidenten Raúl Castro und Barack Obama der Welt die politische Annäherung zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten von Amerika. Seitdem haben die Menschen weniger Angst vor jener Mauer, die Kuba seit einem halben Jahrhundert von den Vereinigten Staaten trennt. Sie hält zwar noch immer stand, doch sie hat Risse bekommen. Jetzt aber gibt es mit Donald Trump einen Präsidenten, der die Zeit zurückdrehen und die Mauer wieder verstärken will. Von diesen äußeren Faktoren abgesehen, ist Kubas großes Problem die Realität. Die gewaltigen Herausforderungen der Realität. Wie wir sie aus- und umgestalten, ihr die Härte nehmen, sie angenehmer machen, an ihr teilhaben und Gehör finden. Deshalb ist unser Theater politisch. Ein Theater der Bürgerinnen und Bürger. Einige Intellektuelle messen den Symbolen zu viel Bedeutung bei und vernachlässigen darüber die eigentliche Debatte. Doch die Realität ist grausam und reich zugleich, was die Schwierigkeiten des alltäglichen Lebens betrifft. Widersprüche lässt sie schmerzhaft zu Tage treten. Und genau hier liegt möglicherweise das Problem des Theaters: Es steht zwischen Symbolen und Wirklichkeit, Zeichen und Handwerk. Widersprüche, die das Theater lebendig machen. Es heißt, das Theater wächst mit seinen Krisen. Yerandy Fleites Pérez’ Passion King Lear erzählt von Machtübergabe und den Masken des Verrats. In der Autofiktion Zehn Millionen schließt Carlos Celdrán die Leerstellen in der offiziellen Geschichtsschreibung der Revolution aus seiner ganz eigenen, persönlichen Perspektive. Agnieska Hernández Díaz dokumentiert in Mehr, Macbeth! Ein dokumentarisches Fest verschleierte Machenschaften in unterschiedlichen sozialen Schichten. 12
Reinaldo Montero nimmt in Eldorado kubanische Geschichte, Gegenwart und Zukunftsträume in den Blick. In Yunior Garcías Stück Jacuzzi geht es um Überzeugungen, Geständnisse und offene Rechnungen. Auch in Kuba kam 2018 unter dem Titel Nueve dramas en presente (Neun Stücke in der Gegenwart) eine Version dieser Anthologie im Verlag Letras Cubanas heraus. In gekürzter und leicht abgewandelter Form erscheint sie nun im Verlag Theater der Zeit, mit einem neuen Stück von Reinaldo Montero und der Erstveröffentlichung von Yunior Garcías Jacuzzi. Omar Valiño Übersetzung: Miriam Denger, Carola Heinrich, Franziska Muche
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Alles hat seinen Preis
Sechs Stimmen aus Kubas Gegenwart, eine Dramatikerin und fünf Dramatiker, werden in Theaterstücke aus Kuba hörbar. Sie erzählen von Menschen, die ein besseres Leben erträumen und einfordern – und oft daran zerbrechen. Dabei ist es nicht viel, was sie wollen: sozialen Aufstieg, ein bisschen Wohlstand, Teilhabe an der Macht und der Gestaltung ihrer Gesellschaft. Darum kämpfen sie, sei es in endlos langen Warteschlangen, der Luxusblase einer Hotelsuite, bei der Verteilung von Land und Erbe, auf den Schlachtfeldern der Chefetagen und in der Politik. Doch ihre Sehnsucht nach Verbesserung führt in menschliche Tragödien und hat am Ende einen hohen Preis. In Yerandy Fleites Pérez’ shakespeareschem Maskenreigen Passion King Lear ringen die Figuren rücksichtslos um Macht und Besitz, spinnen Intrigen, führen Kriege, täuschen Liebe vor. King Lears Entscheidungen stürzen das Land ins Chaos und setzen metaphysische Ängste frei, die auch eine mit Blut teuer bezahlte Wiederherstellung der alten Ordnung nicht mehr beruhigen kann. Fleites nutzt Shakespeares Stück, um die gesellschaftliche Realität Kubas und die politische Dimension eines Generationenkonflikts auszuleuchten. Wie ist Macht legitimiert, wo stößt sie an ihre Grenzen? Wie kann man sie loslassen, wenn man sich das ganze Leben an sie geklammert hat? Am Ende steht eine Welt, die sich keiner Illusion mehr hingibt und in der selbst Trauer nur noch ein Foto ist, um dessen Authentizität die Nachwelt streitet. Das Stück wurde 2017 in der Regie von Julio César Ramirez von Teatro D’Dos inszeniert. Zehn Millionen von Carlos Celdrán thematisiert die Wechselwirkungen zwischen Politischem und Privatem. Der Leiter des Argos Teatro in Havanna hat das autobiographische Stück mit seiner Theaterkompanie 2016 selbst inszeniert. Er feierte damit auch international große Erfolge, erhielt 2016 den Nationalpreis für Theater der kubanischen Schriftsteller- und Künstlervereinigung (UNEAC) sowie 2017 den Kritikerpreis für die beste Inszenierung. Dem Text liegen Tagebuchaufzeichnungen zugrunde, aus denen er ein Stück über eine Kindheit im Spannungsfeld zweier starker Elterncharaktere entwickelte. Die ehrgeizige, regimetreue Mutter zwingt den nachdenklichen Sohn in eine Therapie zur Umerziehung. Darüber befindet sie sich in einer kompromisslosen Auseinandersetzung mit dem zärtlichen, bürgerlichen Vater, der 1980 die peruanische Botschaft besetzt und schließlich, als poli15
tischer Dissident verschmäht, in die USA ausreisen darf. Vor dem historischen Hintergrund der titelgebenden Zehn-Millionen-Tonnen-Zuckerernte 1970, den Umerziehungsmaßnahmen und Massenauswanderungen erweitert Celdrán die berührende Erzählung über seine Familie zum Porträt einer ganzen Generation. Mehr, Macbeth! Ein dokumentarisches Fest von Agnieska Hernández Díaz greift ebenfalls einen klassischen Shakespeare-Text auf. Die Autorin konzentriert sich auf die Figuren Macbeth (bei ihr „Miguel“) und Lady Macbeth („Lady“). Um dieses Paar herum baut die Autorin den Rahmen einer fiktionalisierten Dokumentation, basierend auf im Vorfeld entstandenen Interviews mit Liebespaaren. Damit wird der Entstehungsprozess des Stücks selbst zu seinem Gegenstand. Lady kämpft mithilfe von Karriere- und Selbsthilferatgebern um die Beförderung ihres Gatten. Mit Erfolg: Miguel wird Geschäftsführer eines Unternehmens. Doch Selbstachtung, Familie und geistige Gesundheit sind verloren. Mit Mehr, Macbeth! entlarvt Hernández den skrupellosen Machtkampf und politischen Opportunismus der herrschenden Klasse des heutigen Kuba – und die allzumenschliche Gier. Der Text wurde 2015 beim Wettbewerb „Virgilio Piñera“ mit einer besonderen Erwähnung bedacht und in Kuba auch mit drei weiteren Dramen in dem Band Documental de amenazas. Posibles dramaturgias (2016) veröffentlicht, der den Literaturkritikerpreis gewann. Das Stück wurde 2015 von Regisseur Julio César Ramírez mit dem Teatro D’Dos uraufgeführt. In Eldorado von Reinaldo Montero probt eine Theatergruppe, als Stück im Stück, eine Bearbeitung des Mythos Eldorado, die vom Zusammenstoß zwischen Kolonialisten und Ureinwohnern erzählt. Montero zieht Parallelen zwischen der Ankunft der Spanier und der jüngsten Wiederannäherung Kubas an die USA: Die Geschichte wiederholt sich. Die internationalen Wirtschaftsdelegierten erfüllen die Rolle neuer Konquistadoren, die mit ihren Versprechungen Hoffnungen und Illusionen auslösen. Monteros Text ist poetisch, humorvoll und bildhaft. Manche dieser Bilder erinnern an die DDR: lange Schlangen, in die man sich einzuordnen hat oder fruchtlose Dialoge mit Obrigkeiten, wenn es um die Ausstellung einer Genehmigung geht. Die Darstellerinnen und Darsteller springen ständig zwischen ihren Rollen als Schauspielende und Figuren hin und her und werden dabei auch mit ihren eigenen Konflikten, Wünschen und Ängsten konfrontiert. Eldorado wurde von der Compañía del Cuartel in der Regie von Sahily Moreda im Jahr 2015 uraufgeführt. 16
Ein Jacuzzi ist in Yunior Garcías Stück nicht nur Titel, sondern zugleich Spielort: In der wohlig-beklemmenden Wärme einer zum Jacuzzi geadelten Badewanne treffen sich drei Freunde nach langer Zeit, um über ihr Leben zu sprechen. Doch schnell brechen alte Wunden auf und es entsteht Streit. Liebe und Sexualität, Überzeugungen, Unsicherheiten und die Rolle des Intellektuellen in einer restriktiven Gesellschaft – all das kommt in einem intimen Spiel der Gegensätze zur Sprache. Offen bleibt am Schluss, ob die Freundschaft der drei noch eine Zukunft hat. Die Autofiktion ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung des Autors mit der eigenen Biografie. 2016, bei der Uraufführung mit seinem Ensemble Trébol Teatro, vereinte er auch Regisseur, Hauptdarsteller und Autor in einer Person. García wurde dafür 2017 mit dem Preis Villanueva der UNEAC sowie dem Preis Aire Frío der Vereinigung Hermanos Saíz ausgezeichnet. Für Jacuzzi gab es 2019 beim Wettbewerb „Virgilio Piñera“ außerdem eine besondere Erwähnung. Mechanismen. Ein Spiel mit den Gesetzen der Bewegung von Abel González Melo ist Teil der Trilogie Verano Deluxe (Sommer Deluxe) und spielt in einem Luxushotel im Urlaubsparadies Varadero. Es bewegt sich damit im komfortablen Reich einer neuen kubanischen Oberschicht, das den meisten Kubanern verschlossen bleibt. Ausgehend von Ibsens Nora oder Ein Puppenheim beschreibt Melo die einschließende Mechanik einer Ehe im goldenen Käfig. Die klassischen Geschlechterrollen werden umgekehrt und die Handlung ins zeitgenössische Kuba verlegt, die Fabel bleibt jedoch dieselbe. Newtons Grundgesetze der Bewegung strukturieren das Stück und setzen ein Räderwerk in Gang, das die Abgründe hinter dem augenscheinlichen Glanz der neuen bürgerlichen Schicht Kubas zu Tage treten lässt. Mechanismen gewann 2014 den nationalen Dramatikerpreis „José Antonio Ramos“ der UNEAC und wurde 2015 am Argos Teatro in Havanna in der Regie von Carlos Celdrán uraufgeführt. Die Inszenierung wurde mit dem Caricato-Preis der UNEAC und dem Villanueva-Preis ausgezeichnet. Der Text wurde 2016 im Verlag Ediciones Unión veröffentlicht und erhielt den Literaturkritikerpreis. Miriam Denger, Carola Heinrich, Franziska Muche
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Yerandy Fleites Pérez
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PASSION KING LEAR
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Aus dem kubanischen Spanisch von Miriam Denger
Zur Erinnerung an Abelardo Estorino. Zusammen mit Teatro D’Dos.
„Tragik ist eine Vorstufe der Prophetie.“ Walter Benjamin 1
1) Walter Benjamin: [Ursprung des deutschen Trauerspiels], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I/1, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974.
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Dramatis personae King Lear Goneril seine älteste Tochter Regan seine mittlere Tochter Cordelia seine jßngste Tochter Kent Gloucester Edgar Gloucesters Sohn Edmund Gloucesters Sohn
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1. Mappa mundi
King Lear Es ist beschlossen. Das Land wird in drei Gebiete geteilt: Osten, Zentrum und Westen. Britannien befreie ich von der Last meines Alters – und mein Alter von der Last Britanniens. Das ist wichtig für unser Land, und weil mir sein Wohlergehen am Herzen liegt, ist jetzt der rechte Augenblick gekommen. Daher übertrage ich meinen Töchtern Goneril, Regan und Cordelia die uneingeschränkte Ausübung der Macht. Er breitet eine Landkarte aus. Goneril. Goneril King Lear, meine Liebe zu Britannien sucht ihresgleichen auf der Welt und findet sie nur in der Liebe zu Euch. Eine Passion, die mich sprachlos macht. Eine Passion King Lear. King Lear Über diesen Teil des Landes, von hier bis dort, mach ich dich zur Herrscherin. Fünf Provinzen: Osten. (Pause) Regan. Regan Vater, meine Liebe zu Britannien und zu Euch sind Früchte vom selben starken und gesunden Baum, an dem Gonerils Liebe wächst, unserem Lebensbaum. Und jedes andere Gefühl reiße ich aus meiner Brust, bis nur die Treue noch übrigbleibt zu diesem herrlichen Baum. Meine Liebe ist eine Kunst für sich. King Lear Du herrschst über diesen Teil. Fünf Provinzen: Westen. An Wohlstand und Noblesse steht die Bevölkerung Gonerils Untertanen in nichts nach. (Pause) Cordelia, dein Drittel reicht von Regans Reich bis zu den Ausläufern von Gonerils Gebiet. Des Landes Mitte und Mittelpunkt. (Pause) Cordelia. Cordelia Nichts. King Lear „Nichts“? Cordelia Nichts, King Lear. King Lear Darüber haben wir gesprochen, Cordelia. Versuch es noch einmal. Denk daran: Aus nichts wird nichts entstehen. Cordelia Lieber Vater, so lang ich lebe, habe ich von dir so viel Zuwendung erfahren, wie eine Tochter sich nur wünschen kann. Alles, was ich bin und habe, verdanke ich Euch, das stimmt. Mein Zuhause, meine Berufung. Bei jeder Entscheidung, die ich im Leben treffe, denke ich zuerst an Euch. Aber meine Liebe zu Britannien ist etwas, über das ich nie nach21
denke, sie ist da, und ich muss sie nicht hinterfragen, sie ist da, weil sie ganz natürlich ist. Meine Schwestern dagegen lösen sich in Luft und Erde auf, wenn sie einzig und allein Britannien dienen sollen oder, wie ich vermute, Euch. Ist es nicht so, Goneril? Oder, Regan? Was haben sie dann noch, die beiden Armen? Was mich angeht: Meine tiefe Liebe schließt so vieles ein. Vater, für mich ist es klar: Ich habe auch andere Lieben und werde auch anderes lieben. Das bin ich. Und alles, was ich bin, hab ich von Euch. King Lear Spricht dein Herz aus diesen Worten? Cordelia Voll und ganz. Und wenn ich ein zweites hätte, es würde dieselben Worte wiederholen. King Lear So jung und schon so … richtig? Cordelia Ehrlich? King Lear Vor einer Sekunde habe ich sie aufgefordert, mit ihrer Rede noch einmal von vorn zu beginnen. Willst du, dass ich dir einen weiteren Versuch zugestehe, ein weiteres Mal dieses … Privileg einräume? Es ist letztlich nur eine Formsache. Cordelia Nein. Pause. King Lear Gut. Also gut. Deine Ehrlichkeit soll dein Anteil sein. Deine Ehrlichkeit … Was ist das schon, deine Ehrlichkeit? Auch deine Ehrlichkeit verdankst du mir. Von mir hast du sie gelernt, sie gehört mir. Was soll das überhaupt sein, deine Ehrlichkeit? Dein Anteil Treue, um den ich dich eben noch angefleht habe. Eine Minute der ehrlichen Treue, zu mir und zu Britannien. Behalte sie für dich. Ich will nicht zurückbekommen, was mir schon gehört hat. Niemand hier will, was du frei heraus und „ehrlich“ auch mit jedem Fremden teilst. Behalt sie für dich. Das Land braucht sie nicht. Kent King Lear! King Lear Silence, Kent. Do not come between the dragon and your fury. Teilt euer Erbe unter euch beiden auf, meine Töchter. Ehrlichkeit … Teilt meine Macht. (wirft seine Krone hin) Teilt sie. Kent King Lear, ein Vaterland ist nicht teilbar. King Lear In zwei Teile teilen, sag ich. Cordelia King Lear, Vater, lieber Vater. Mein armer Vater. Es ist doch nur, weil mir die Worte fehlen … oder besser gesagt: weil ich nicht die richtigen Worte finde, um auszudrücken, was ich nicht fühle. Bitte, ver22
steh doch, es ist kein Verbrechen, sondern Sprache, nur eine Sprache, und ich bin sogar froh, sie nicht zu sprechen. Und worin unterscheidet sich diese Sprache von der meinen? Sprechen wir nicht alle das gleiche Spanisch auf Deutsch? 2 King Lear Nun, besser wäre es für dich, du wärst mit jener „Sprache“ zur Welt gekommen statt mit dieser. Gerade jetzt käme dir das sehr zupass. Kent Dieser Mann ist wahnsinnig! Ich bürge für Cordelias Liebe. King Lear Cordelia selbst hätte für ihre Liebe bürgen müssen, nicht du. Kent Mit meinem Leben bürge ich. King Lear Bei deinem Leben, schweig. Kent Willst du Landschaften, Straßen, Familien auseinanderreißen, willst du das Vaterland zerschlagen, King Lear? King Lear Das ist doch nicht Kent, aus dem ein solches Misstrauen spricht, Gloucester. Ich stell mir lieber vor, er wär ein Pantomime, der Gefühle nur imitiert. Hörst du das, Gloucester? Sag du es ihm, nur zu, raus damit. Gloucester Kent, das ist weder der richtige Moment noch der richtige Ort, um so einen Streit auszutragen. Kent Unsere Leute werden sich Zeichen in die Haut ritzen, Gonerils und Regans Initialen, damit für alle sichtbar wird, zu wem sie gehören. G oder R, je nachdem. King Lear Ein „Passierschein“, mehr noch, ein Persilschein. Pass auf Kent, du solltest passieren, bevor dir was passiert. Gloucester, Gloucester, sag du es ihm. Gloucester Kent, ich verpass dir was: Wenn du nicht passierst, wirst du passiert. Kent Dann soll mein Leben mir gleich sein, King Lear, im Schatten eines zweiköpfigen Scheusals kann ich nicht existieren. King Lear Schweig und verschwinde. Kent Dass du im Unrecht bist, schrei ich heraus, bis mir die Kehle versagt. King Lear ist im Unrecht. King Lear Hörst du das, Gloucester? Kein Zweifel möglich. Es ist Kent, unser Kent. Sag ihm, er soll verschwinden. Sag es ihm. Gloucester Kent, zisch ab. Komm später wieder, morgen oder noch heut Nacht, aber jetzt verpiss dich bitte auf der Stelle. Kent Das hier ist mein Zuhause. Es ist auch mein Zuhause. Aus seinem eigenen Haus kann man niemanden vertreiben. 2) Im spanischen Original: „Englisch auf Spanisch“.
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King Lear Hör zu, Kent: Dieses Haus ist nicht länger dein Zuhause! Cordelia Vater, warum es so weit kommen lassen? Wenn Ihr es wollt, dann lern ich morgen früh, noch heute Nacht, eine Rede auswendig, die süß in Euren Ohren klingt. Mit Gefühl trag ich sie vor, mit schönen Gesten schmück ich sie aus. Ihr habt mir doch in meinem Leben Schlimmeres schon verziehen. King Lear Schlimmeres? Noch nie! So weit also ist es gekommen. Nicht einmal ich dringe noch zu dir durch. Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst, Cordelia. Nein, nicht Cordelia, das bist du nicht, eine Kordel an meinem Hals bist du, eine Schlinge, die sich zuzieht. Kent King Lear, Vater unser. Mein Kapitän. Deine Töchter, deine schönen Töchter, werden dich hoffentlich beschützen, werden hoffentlich Britannien vor dir beschützen. Hoffentlich. Pause. King Lear Mein Vater, du zauderst? Noch schweigen die Wellen? Jetzt, da dunkel die Wolken ballt der Sturm, breit aus die schwarze Nacht, die Sterne verhüll und den Himmel, befrei vom Ufer das Meer, die Ungeheuer ruf herbei und vom tiefsten Grund herauf lass steigen die Fluten all des Ozeans! Gloucester King Lear, King Lear. King Lear Hmmmm? Gloucester Dieser Text ist von Theseus. Aus „Phaedra“. Von Seneca3. King Lear Weiß ich doch. Aber ich konnte nicht anders. Es ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Gloucester Können wir mit der Zeremonie weitermachen? King Lear Ja, lasst uns weitermachen. Ich übertrage also meinen Töchtern, Goneril und Regan, die volle Macht.
3) AdÜ: Seneca: Hippolyt (Phaedra). Tragödie in fünf Akten, übersetzt von Wenzel Alois Swoboda, Berlin 2015.
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2. Die helle Kammer I
Wie sich anhand der dokumentarischen Quelle des „Dramatis personae“ belegen lässt, spielte sich der öffentliche Teil der Amtseinführung folgendermaßen ab: King Lear, weiße Leinengewänder, die sich immer wieder in seinem Bart, Tolstoi-Schnitt, verheddern. Seine Füße ruhen auf einem großen Buch, möglicherweise William Shakespeares „Sämtlichen Werken“. Lear ist eher müde und entspannt als angespannt. Goneril, steht aufrecht, ganz in Rot. Lange, kräftige Zöpfe, sehr kräftige, von weißen Bändern durchflochten, fallen ihr über die Brust. Sie trägt einen Dolch im Gürtel. Mit einer Hand hebt sie unauffällig ihr Kleid, es soll nicht über den Boden schleifen. Sie zeigt Haltung. Eine neue Haltung, entsprechend der Würde der Amtseinführung. Sie lächelt kaum. Regan, steht aufrecht, ganz in Blau. Lange kräftige Zöpfe, sehr kräftige, von weißen Bändern durchflochten, fallen ihr über die Brust. Sie trägt einen Dolch im Gürtel. Mit einer Hand hebt sie unauffällig ihr Kleid, es soll nicht über den Boden schleifen. Sie zeigt Haltung. Eine neue Haltung, entsprechend der Würde der Amtseinführung. Sie lächelt. Cordelia, ein Hofnarr. Mütze mit blauen und roten Harlekin-Rauten, der Rest der Garderobe abgestimmt auf diese beiden Farben. Sie trägt einen kräftigen Zopf, sehr kräftig, mit einem weißen Band über ihrem Rücken. Den rechten Fuß hat sie vor den linken gesetzt, als wollte sie tanzen. Kent, nach Sir Edwin Landseer, „Der beste Freund des alten Schäfers“. Ein alter Mann. Hellbraune und schwarze Gewänder, abgetragen. Entspricht genau dem Bild eines Weisen. Man sagt, alles was existiert, wurde zuvor bereits erdacht, sehr zu unserem Bedauern. Wenn ich mich richtig erinnere, war das Arrangement ungefähr so: King Lear in der Mitte, an seiner Seite Goneril und Regan, einige Schritte 25
dahinter Cordelia und Kent (nicht vollständig zu sehen). Der außergewöhnliche Ort (eine Loge) und die Beleuchtung (Reflektorscheinwerfer) sorgten und sorgen für eine Art gemeinschaftlichen Geist, mehr oder weniger wahrnehmbar für alle Beteiligten. „Der Tag der Amtseinführung“ wurde nicht nur fotografisch festgehalten, sondern auch auf Keramiken, Wandteppichen und Schmuck verewigt.
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3. Sonnenfinsternis
Gloucester gönnt seinen Beinen eine Pause. Edmund bringt einen Brief. Edgar legt seine Galakleidung ab und beginnt, sich in Lumpen zu hüllen. Edgar Mein Name ist Edgar. Ich bin der Sohn von Gloucester, diesem Alten dort drüben. Und neben ihm, das ist Edmund, mein Bruder. Er spielt in diesem Stück den Bösen. Mein Vater kommt gerade sehr bekümmert aus der vorigen Szene, in der King Lear Britannien geteilt, Cordelia aus seinem Leben gestrichen und Kent aus seiner Heimat verbannt hat. Unwiderruflich. Altertümliche Urteilssprüche, so fundamentalistisch wie die Sprache, in der sie verfasst sind. Britannien hat lange mit dieser Angst gelebt, der Angst vor dieser Wunde namens Lear. Jedes Britannien hat den Lear, den es verdient. Unwiderruflich. (Pause) Edmund, mein Bruder Edmund, überreicht meinem Vater einen Brief, in meiner Handschrift geschrieben. Das macht aus mir ein Opfer des niederträchtigsten Verrats. Unverfroren enthüllt Edmund, mein Bruder Edmund, meinem Vater die ach so edlen Vorsätze unserer Verschwörung. Gloucester „Bruder, die Tage des Kinglearats sind gezählt. Mit jeder Minute rückt unsere Stunde näher, und der Wind lässt unsere alten Hymnen neu erklingen. Noch bevor die Sonne untergeht, lenkt Britannien seine geflickten Kutschen wieder durch die schmalen Gassen der Geschichte. Bis dahin haben wir Zeit, das Messer in unserem Mund zu schleifen. Deine Geschwister und Edgar PS: Tod King Lear! Tod dem Kinglearat!“ Edmund Ich hoffe nur, sein Herz spricht nicht aus dem, was er da schreibt. Gloucester So ein Ungeheuer kann er gar nicht sein. Oder doch? Und wenn es möglich ist, dass ein solches Ungeheuer existiert, warum ausgerechnet mein Edgar? Als er noch klein war, hab ich ihn in den Schlaf gewiegt, ich hab ihm Laufen beigebracht, Zähneputzen, Jagen. Wir haben zusammen Sun Tzu gelesen, John Donne, Chaucer, Marlowe, Pascal … Edgar Vertrieben aus dem eigenen Land und aus dem Leben meines Va27
ters durch den Verrat meines Bruders. Gloucester Ich habe immer gewusst, dass er die Autorität des Königs nicht akzeptiert. Warum also überrascht mich das jetzt? Seine konspirativen Gedanken, Überzeugungen, die Briefe, die Sprache. Stillschweigend habe ich gewisse Ungereimtheiten toleriert, auch gewisse Bekanntschaften, aus Rücksicht auf sein jugendliches Alter. Die alte Leier von einer besseren Welt, von Veränderung im Land. Du Dummkopf, Gloucester! Seine Absichten waren nichts anderes als ein blanker Abgrund, bis an den Rand gefüllt mit Korruption und Blut. Edgar Ich war immer schon eine wirkliche Bedrohung für all die Wirrköpfe da oben. Wirklich. (Pause) Mein Name ist Edgar. Ich bin Edgar, doch Edgar ist nicht mehr. Ich war Edgar … und Edgar nichts weiter als ein „fanatischer Extremist“. Öffentlich sagen sie das, Edgar ist nichts weiter als ein „fanatischer Extremist“. Ich bin das, was sie in mir sehen. Ich bin das, von dem sie wollen, dass ich es bin. (Pause) Als Tom wurde ich vorgestellt. Nennt mich Tom, Tom ist mein Name und meine Rolle. Er geht ab und klappert mit ein paar Münzen in einem Becher.
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4. Goneril
King Lear Essen! Das Essen! Wie lange soll ich noch warten! Goneril! Cordelia als Hofnarr verkleidet. Cordelia Goneril! Bist du taub?! Oder lahm? Goneril! King Lear Was willst du, Insekt? Cordelia Dich umflattern, mein Augenstern. King Lear Sonst noch was? Cordelia Mir knurrt der Magen. King Lear Wer bist du, Kerl? Cordelia Ich? Sieht man doch: ein Hofnarr. Ein hungriger Hofnarr. Nichts als Hunger unter dieser Narrenlarve. Ich bin der Hunger. Und du? Sieht man doch: ein verhungerter König. Nicht mehr König, nur noch Hunger. Nur noch ein Toter unter dieser Hungerlarve. Ich bin der Hunger und du ein toter Mann. King Lear Was willst du? Cordelia Dienen, aber vorher was essen. King Lear Woher kenne ich dich? Cordelia Aus bescheideneren Zeiten. Wir lebten zusammen in schönster Bescheidenheit. Du warst der König. King Lear Spielst du Domino? Cordelia Wie eine Weltmeisterin. King Lear Einen Weltmeister brauche ich, du Harlekin. Kent in seiner Verkleidung als alter Mann. Kent King Lear, Goneril sagt, sie fühlt sich nicht gut. King Lear Kriegt sie schon wieder ihre Tage? Kent Das hat sie gesagt. King Lear Ist das biologisch überhaupt möglich? Cordelia Zum wievielten Mal hat sie …? Kent Zum sechsten Mal. Cordelia Sechs Mal im Monat?! Kent In der Woche. King Lear Und warum ist niemand hier, um mir zu Diensten zu sein? Cordelia Ein Niemand ist doch hier, mein Lear. Bist du blind? Ich hab ihn gesehen. 29
King Lear Kennst du schon meinen Hofnarren? Kent Narren sind doch alle gleich, Mylord. King Lear Vielleicht, doch dieser Hungerleider schwört, er sei Weltmeister im Dominospiel. Kent Goneril sagt, solange Ihr weiter einen solchen Krach macht und „blökt wie ein Ziegenbock“, das hat sie gesagt, wird niemand kommen, um Euch zu dienen. King Lear „Niemand“? Kent King Lear, machen wir uns nichts vor, Ihr verpestet dieses Haus. King Lear Einbildung, nichts als Einbildung! Deine krankhafte Einbildung! Cordelia Mein Großvater ist so blind wie sein eigener Magen, denn nicht einmal der Magen selbst kann sehen, wie der arme Alte an Hunger stirbt. Goneril. Goneril Vater. King Lear Warum beben deine Nasenflügel, Töchterchen? Cordelia Was für ein glückliches Kerlchen du doch warst, als dir ihr Nasenflügelbeben noch egal sein konnte, stimmt’s? Goneril Was hat das zu bedeuten, noch so ein Ding in meinem Haus? King Lear Hofnarr, das ist meine Tochter Goneril, die älteste von dreien. Von zweien. Cordelia Zu Diensten, Mylady, für alle Fälle, für die Abfälle jedenfalls. Goneril Ein Narr! Erst dieser schmuddelige Alte und jetzt ein Narr! Cordelia Wie schon der Dichter sagt: Der Zaunkönig den Kuckuck nährt, bis er vom Kuckuck wird verzehrt. King Lear Er erinnert mich an Yorick. Weißt du noch, meine Tochter, Yorick? Ihr habt ihn geliebt. Goneril Ich weiß noch sehr gut, wer Yorick war, Vater, ja. Yorick, Yorick! Genug von Yorick! Dominosteine überall, Urinpfützen in den Ecken und Euer ständiges Fluchen – dieses Haus ist ein Schweinestall. Reißt Euch zusammen! King Lear Zusammenreißen? Ich mich? Cordelia Du hast es gehört. King Lear Schmerz, kommst du aus meinen Eingeweiden? Goneril Meine Eingeweide sind es, die schmerzen. Cordelia Die müssen dir ja ganz schön wehtun, deine armen Eingeweide. King Lear Ist hier jemand, der mir sagen kann, wer ich bin? 30
Cordelia Das, was von Lear noch übrig ist. King Lear Schau mir in die Augen, Goneril, bitte. Goneril Fangt jetzt nicht mit Euren üblichen Dummheiten an. King Lear Goneril? Goneril Ich schau Euch nicht an, ich schau Euch nicht an, ich will Euch nicht sehen. King Lear Ich weiß schon. Ach, Lear, warum hast du nicht einfach weit entfernt vom Geschlecht ihrer Mutter ejakuliert, damals, als du noch die Chance hattest? Goneril Besser, du hättest gleich ganz auf dem Boden geschlafen. King Lear Goneril? Keine Sekunde länger will ich dich belästigen. Goneril Genau, verschwindet! Ich ertrage Euch nicht mehr! Verschwindet, Ihr und Euer Pöbel! Und nehmt diesen verdammten Dominotisch mit! King Lear Pöbel? Du lügst, Goneril, du lügst, Gorilla! Dieser Dominotisch ist aus den edelsten Hölzern Britanniens, aber du, woraus bist du? Goneril Aus dem Abglanz eines alten Toten. (Pause) Was schaut Ihr so? Wolltet Ihr nicht gehen? Also, verschwindet. King Lear Ich schäme mich, dass du mir solche Tränen wert bist. Tränen, groß wie Trommeln. Regan, Töchterchen, deine Schwester Goneril … Nein, nein. Regan, das Scheusal von deiner Schwester. Nein, auch nicht. Besser: Regan, Goneril ist ein Scheusal … Nein, lieber nicht. Ich warte besser, bis Regan hier ist und ich mit ihr sprechen kann. Cordelia Lear! Der berühmte King Lear. Sogar die Kinder kennen deine Geschichte, Anfang und Ende. Lear, Lear, die alte Legende des alten King Lear.
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5. Regan (nach Gordon Mrowna)
Kent Seid willkommen, King Lear! King Lear Wo ist Regan? Kent Drinnen. Bei den anderen Gästen. King Lear Und du? Zum Rauchen rausgegangen? Kent Ich rauche nicht, Mylord. King Lear Also, warum bist du dann nicht drinnen, bei den anderen Gästen von diesem ewigen Nörgler? Kent Eure Tochter Regan ließ mich nicht hinein. King Lear Regan? Meine Tochter Regan? Kent Ja. King Lear Du wolltest wohl sagen, Gloucester, dieser ewige Nörgler, verbot dir, sein Haus zu betreten, als er deine schmutzigen Schuhe sah. Das versteh ich, das hätte ich auch getan. Kent Der alte Gloucester bat mich hinein, doch Eure Tochter Regan schickte mich wieder hinaus. King Lear Das bildest du dir ein. Kent Nein. King Lear Einbildung! Krankhafte Einbildung! Kent Wir wissen beide, dass es keine ist. King Lear Gar nichts weiß ich. Ich weiß nur, dass ich nichts weiß. Ich kenne meine Tochter, du Betrüger. Wie meine eigene Handfläche. Und meine Hände sind jungfräulich rein. Ich will nicht hören, was du sagst. Kent Das ist ein dreister Scherz. King Lear Nein. Kent Doch. King Lear Hysterica passio! Wo ist meine Tochter? Kent Drinnen. King Lear Folgt mir bloß nicht. Cordelia Kent! Kent Cordelia, das Leben des Königs ist in Gefahr. Cordelia Was für eine widerliche Familie. Kent Gloucester weiß schon Bescheid. Wir versuchen, ihn hier rauszuholen. Cordelia Wenn sie nur mein Gift schmecken könnten. Nur eine Zungen32
spitze von meinem Gift. King Lear, gefolgt von Gloucester. King Lear Sie weigert sich, mich zu sehen. Gloucester King Lear, Ihr kennt das Temperament Eurer Tochter. King Lear Temperament, welches Temperament? Zur Hölle mit ihrem Temperament, Gloucester! Ich verlange, meine Tochter Regan zu sehen. Hier draußen. Jetzt! Gloucester Aber ich habe sie doch schon informiert. King Lear Aber, aber … verstehst du denn kein Spanisch auf Deutsch? King Lear will seine Tochter sehen. Hast du ihr das gesagt? Sag Regan, sie soll hierherkommen, oder du schleifst sie mir an den Haaren herbei. Gloucester Ich will doch nur Frieden zwischen Euch. Frieden in meinem Haus. King Lear Keine Regan, kein Frieden. Pause. King Lear The heart gets on my heart! Cordelia Großväterchen, was erzählst du da schon wieder vom alten Will? King Lear Ich weiß nicht, warum, ich lande immer wieder bei ihm, das ist einfach meine Natur. Der Schwan vom Avon schlüpft mir aus dem Mund, eh ich es recht bemerke. Hör zu: „The heart gets on my heart!“ Das ist es, das meine ich, sonst gar nichts. Regan. Regan Ich freue mich, Euch zu sehen, Vater. King Lear Wenn du dich nicht freuen würdest, Tochter, müsste ich auf das Grab deiner Mutter spucken, weil es dann ein Hurengrab wäre, Regan, mein Töchterchen, deine Schwester ist ein Scheusal. Wie einfach sie … es ist so einfach, ich kann es nicht einmal erklären. Ach, Regan! Siehst du? Ich kann es nicht. Es zerfällt mir auf den Lippen. Regan Das weiß ich alles schon. King Lear Das „alles“ weißt du also schon, Tochter? Regan Glaubt Ihr wirklich, meine Schwester wäre dazu imstande, ihre Tochterpflichten zu verletzen? Ich glaube nicht. King Lear Nein? Hab ich etwa einen gemalten Affen im Gesicht, mein Kind? Regan Väterchen, du bist schon ein sehr alter Mann. Lasst zu, dass wir uns um Euch kümmern. Ernsthaft. Geht mit meiner Schwester zurück nach Hause. Sagt Ihr, es tut Euch leid, dass Ihr sie beleidigt habt. Bittet
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sie um Verzeihung, ein kleines bisschen wenigstens. King Lear Sie um „Verzeihung“ bitten? Ein „kleines bisschen“? „Liebe Goneril, Tochter mein, ich gebe es ja zu: Ich bin ein alter Scheißkerl. Sei nachsichtig mit meinem Geruch, meinem Gestank. Auf Knien fleh ich dich an, gib mir Kleidung, Nahrung und ein Bett.“ Regan Vater, es reicht. Ihr tut fast so, als verstündet Ihr kein Spanisch auf Deutsch. Bitte, geht zurück zu meiner Schwester. King Lear Niemals, Regan, nie! Goneril hat mir ihre Zunge tief ins Herz gestochen. Ein Geschwür soll ihr im Mund aufblühen! Regan Um Gottes willen, eines Tages wünschst du mir das auch. King Lear Nein, Regan, nein. Du bist eine Tochter, die weiß, was sie ihrem Vater schuldig ist. Du würdest nie die Hälfte des Landes vergessen, die ich dir anvertraut habe, dir vertrauensvoll „anverschenkt“ habe, das würdest du nicht, oder? Hoffentlich nicht. Regan Ah, da kommt Goneril. Sie muss hergeflogen sein. Goneril. King Lear Schämst du dich nicht, Gorilla, wenn du siehst, wie weiß meine Haare sind? Goneril Nein. King Lear Da siehst du es. Verweigere ihr den Gruß, Regan, spuck sie an. Goneril Warum sollte meine Schwester mir den Gruß verweigern, mich gar anspucken? King Lear Lear, Lear, noch hast du das Verbrechen nicht begangen. Regan Ziehen wir einen Schlussstrich unter diese Angelegenheit. Bitte, kehrt mit meiner Schwester zurück, wenigstens für die Zeit, in der mein Haus renoviert wird, das dauert höchstens noch vier Wochen. Das hier ist ein fremdes Haus, hier ist nicht Platz genug für uns beide. King Lear Zurückkehren? Mit der da? Nein, lieber leb ich unter der Erde bei den Würmern. Goneril Umso besser, denn das genau war der Ort, den ich bei Eurer Rückkehr für Euch vorgesehen hätte. King Lear Goneril, Tochter, du bist mein Blut, du bist Blut von meinem Blut, Fleisch von meinem Fleisch; genauer gesagt: eine Blutvergiftung, eine Eiterblase unter meiner Haut. Ein Geschwür, das im Verborgenen wächst, sehr wahrscheinlich ansteckend. Ein Krebsgeschwür in der Phantasie, zum Beispiel ein wuchernder Monolog, eine Fäulnis zwischen den Zeilen. Ein Geschwür, das den literarischen Rahmen 34
sprengt und alle Buchstaben verschlingt, sogar die Buchrücken. Doch du bist meine Tochter, ach, könnte ich doch wenigstens diesen Irrtum aus dir herausschneiden. Hör zu, ich will dich einfach nur nie wiedersehen. Adieu. Regan Aber Vater, ich bitte Euch doch einfach nur darum, dass Ihr meiner Schwester ein bisschen besser zuhört. Sie weiß genau, was sie tut. Sie hat es immer gewusst. King Lear Meine Regan, du warst immer die kränklichste von euch dreien. Hast du dich vielleicht im Text geirrt? Regan Kein Körper kann auf Dauer mit zwei Köpfen leben. King Lear (zu Cordelia) Ich gab euch alles. Cordelia Ähm… Regan Wurde auch langsam Zeit. Cordelia Außer eins. King Lear Was? Cordelia Nichts. King Lear Nichts kann nicht etwas sein, Kerl. Aus nichts kann nichts entstehen. Dummkopf. Cordelia Genau. Regan Auch in meinem Haus ist weder Abschaum noch Domino erlaubt. King Lear Nichts davon? Regan Nicht das allerkleinste Bisschen. King Lear Regan? Du meine treue Seele …? Pause. King Lear Meine Töchter, ich weiß noch nicht, was ich tun werde, aber ich verspreche euch ein Donnerwetter. (im Abgehen) Narr, schaff mir einen Meister her, der mich das Donnern lehrt. Cordelia Wenn du donnerst, kündige ich. Pause. Gloucester Ein Gewitter zieht auf. Regan Der Sturm. Goneril Gehen wir rein. Gloucester Die oberen Räume sind für Euch vorbereitet. Fühlt Euch wie zuhause. King Lear und … Regan Auf gar keinen Fall können sie hier unterkommen. Gloucester Umkommen, Myladies …? Goneril Nicht, solange wir deine Gäste sind. 35
Gloucester Auch King Lear ist mein Gast, besonders heute Nacht. Goneril Er soll seinen Wahnsinn schmecken. Gloucester Er ist sehr, sehr alt. Regan Völlig verrückt ist er und noch einsamer als der Mond. Goneril Und morgen früh noch einsamer. Regan Und noch verrückter. Goneril Ich kann Verrückte nicht ausstehen. Regan Ich auch nicht. Goneril Jedem Irren seinen Wärter. Gloucester Hier draußen gibt es noch nicht einmal einen Busch. Goneril Du bist ausschließlich uns verpflichtet, Gloucester. Das ist ein Befehl. Gloucester Aber King Lear, das ist King Lear! Goneril Wir sind King Lear. King Lear hat uns zu King Lear ernannt. Regan Diesen Schaden fügt er sich selber zu, Gloucester. Gloucester Sicher, aber es ist doch nur für eine Nacht, Myladies, morgen … Regan Hör mir zu, Gloucester. King Lear ist eine Verantwortung, die ich nicht auf mich nehmen würde, an deiner Stelle. Gloucester Was soll das heißen, „auf mich nehmen würde“? Goneril Gehen wir rein, Regan Gloucester Das ist eine fürchterliche Nacht. Edmund Bravo. Das wird eines langen Abends Reise in den Tag. Und mit diesen Donnerschlägen … Gloucester Bravo. Edmund Gehen wir rein? Gloucester Ich kann nicht nach diesen Regeln spielen. Ich kann diesem Befehl nicht folgen. Edmund Und was passiert jetzt? Gloucester Ich weiß nicht. Aber Britannien und King Lear sind in Gefahr. (Pause) Falls die beiden Frauen nach mir fragen, sag ihnen, mir ist schlecht, ich hab mich hingelegt.
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6. In der Hütte des armen Tom
Beim Dominospiel. King Lear (streicht in einem Textbuch herum) Und das werde ich auch nicht sagen: „Winde, tobt und wütet, zum Platzen blast die Backen auf! Brecht Wolken, ihr Wirbelstürme und Wasserfälle speit, lasst Kirchtürme stürzen und Wetterhähne sinken! Eilt voraus, ihr schwefelfeurigen Geistesblitze, jagt Donnerkeile in die Eichen und verkohlt mir mein weißhaarig’ Haupt!“ (streicht weiter) Nein, nichts davon. Cordelia Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst, Alterchen, aber spiel, du bist an der Reihe. King Lear Acht an beiden Seiten? Ich passe. Heute ist nicht mein Tag. Cordelia Wie viele große Männer der Geschichte haben wohl schon ihren Lebensabend zeternd in einer solchen Hütte verbracht? Kent Allgemeiner Hüttenkoller. King Lear Hört: „Donner, du, lass alles beben, hau platt den runden Erdenball, schlag die Gussform der Natur in Scherben, verschütte allen Samen, aus dem der undankbare Mensch entsteht.“ (streicht durch) Nie im Leben käme mir so etwas über die Lippen. Cordelia Jetzt spiel, Lear, beeil dich, nutz das Licht der Blitze. King Lear Ist das eine Sechs? Kent Eine Sechs. King Lear Ich leg an die Vier an. Kent Ich passe. Cordelia Alter Mann, die Nacht ist unbarmherzig. Warum bittest du nicht eine deiner Töchter um Unterschlupf, statt dir hier die Zunge zu verknoten? King Lear „Zitter und zerbrich, du armer Teufel, der als Ehrenmann verkleidet, menschlich Leben enden wollte. Die Gebirge deiner Schuld begleiche, versunk’ne Kontinente deiner selbst, Racheengel, Donnergötter, fleh auf Knien sie an um Gnade. Mir als Mensch hat man mehr angetan, als ich andren jemals antat“. Er streicht wütend. Schweig, Lear, schweig, schweig, schweig! Bring dies überkomm’ne Requisit, bring das Wort zum Schweigen! Cordelia Sei still und leg an die Drei. 37
King Lear Da sage ich doch lieber gleich: Ich passe. Cordelia Kein Schauspieler könnte je deine Rolle spielen, King Lear, niemals. Kent Könnte diese Nacht in einen Spiegel schauen, sie würde zutiefst erschrecken. Wann hat es zuletzt derart geregnet und gedonnert? Ich leg einen Doppelstein an die Drei. Cordelia Jetzt sag, was du nicht sagen wirst: „Du armer Strolch und Narr, in einem meiner Herzenswinkel ist mir noch immer leid um dich.“ Ich spiel die Fünf. King Lear Es stimmt, mein Freund, kein Schauspieler wird mich je verkörpern. Ein Schauspieler wäre Lear der Grausame, und doch nur Lear der Lächerliche. Wie könnte sich ein Schauspieler in die Vorstellung einfühlen, die ich von meinen Töchtern habe? Indem er sagte: „Goneril! Regan! In solch einer Nacht?“ Nein, ich brauche keinen Boten, der meinen Schmerz und meine Wut transportiert. Was ich brauche, ist ein Magnet, ein metaphysischer Magnet, der Steine zum Blühen bringt, Jelängerjelieber. Cordelia Was sprichst du da, kleiner Zaunkönig? King Lear Ich? Ich hab nicht gesprochen, ich kann nicht, mir ist ganz unaussprechlich. Der Mond wird’s gewesen sein in dieser mondlosen Nacht und der Wind. Cordelia Der Wind? King Lear Lass den Wind zu uns sprechen. Cordelia Einverstanden, aber jetzt spiel auch. King Lear Ich lege eine Sieben. Edgar Wer ist da? Kent Wer ist da? Edgar Tom. Ich bin Tom. Nur Tom. Cordelia Tom, du bist meinem Großväterchen Lear wie aus dem Gesicht geschnitten, jünger natürlich, und nicht so ein Tommkopf. Edgar Das hier ist meine Hütte. Cordelia Ist es deine Hütte, Tom, oder ist es die Hütte von deinem Onkel? King Lear War die Nacht nicht ein Spiegel? Kent Zeig dich. King Lear ist heut Nacht dein Gast. Edgar Ich bin bloß Tom. Eine milde Gabe für den armen Tom. Kent Bist du allein? Edgar Ich habe nichts. 38
Cordelia Hast du alles deinen Töchtern gegeben, armer Tom? King Lear Deine Töchter haben dir das eingebrockt? Du hast ihnen alles gegeben und nichts für dich behalten, überhaupt nichts …?! Cordelia Nicht ganz, immerhin hat er noch diese Hütte. King Lear Der Himmel soll auf deine Töchter stürzen, mit dem Hinterteil voran. Kent Tom hat keine Töchter, King Lear. King Lear Lear hat auch keine Töchter. Und spar dir den „König“. Cordelia Dieser Sturm macht uns alle noch ganz närrisch. King Lear Oh, großes Welttheater, wir sind nichts als deine Spieler. Spielst du Domino? Edgar Ein bisschen. King Lear Tom spielt mit mir. Spielsteine für ihn. Kent Ich leg die Neun. Cordelia Schau, da kommt ein Feuer gegangen – oder zwei herrenlose Augen. Eine Lichtquelle, endlich! King Lear Was glänzt da? Cordelia Eine Goldmünze. Goneril auf der einen, Regan auf der anderen Seite. Kent Wer da? Gloucester (von draußen) Gloucester! King Lear Auf, auf, all ihr mit Kindern geschlagenen Eltern! Schade, dass Domino ein Spiel für vier ist, doch er kann warten und wir wechseln uns ab. Gloucester. Cordelia Willkommen. Wir sind der Irre, der Bettler, die Mäßigkeit und der Narr. Wir spielen Domino im dominierenden Schein dämonischer Blitze. Edgar (bedrängt Gloucester) Eine milde Gabe, bitte. Medaillen, Abzeichen, Orden, all so etwas. Ein Almosen für den armen Tom. Gloucester Bessere Gesellschaft konnte King Lear wohl keine finden. King Lear Oh ja, ich hab das Licht zum Donner gefunden, doch schien es mir allzu verstrahlt. Also gewährte der gute Tom mir Unterschlupf. Ich darf doch Sohn zu dir sagen, Tom? Spiel, mein Sohn, du bist dran. Edgar Ich lege eine Eins. King Lear Ja, so spielt man das. Gloucester Sprechen wir besser nicht von unsern Kindern. 39
King Lear Mein Sohn, ich übertrage dir ein Drittel der Ländereien, die ich nicht habe. Das schönste Drittel von allen und das letzte, das mir bleibt, von meinem Scheitel bis zum Horizont. Cordelia Großväterchen, wenn du das Nichts verschenkst, dann fehlt uns was. Ich passe. Edgar (bedrängt Gloucester) Mein Lächeln hab ich verloren, doch zwei, drei Zähne sind mir geblieben. Was euch dekoriert, kuriert meinen Magen. Gloucester Hier, iss, Tom. Deine Gastfreundschaft ist unbezahlbar. Kent Ich passe ebenfalls. King Lear Nein, nein, mein Sohn, so nicht. Schau, das sind doch keine Spaghetti, das ist ein Kreuz. Kreuze beißt man an der Seite ab. So. Gloucester King Lear, wenn mein Dienst Euch je von Nutzen war, dann lasst erneut mich dienen. King Lear Wenn das Nichts dich nicht sättigt, mein Sohn, bekommst du meinen Clown zum Frühstück. Mir genügt auch die Erinnerung an ihn. Kent Ihr seid an der Reihe, King Lear. Gloucester King Lear … King Lear Ich werde zu meinem Sohn ziehen, in seinen Palast. Eine Zwei lege ich. Kent Er wird verrückt. Gloucester Das wundert mich nicht, seine Töchter wünschen ihm den Tod. Was ist nur los mit diesen Kindern. Und schlimmer noch, was soll aus den Kindern unserer Kinder werden? Was sind das nur für Zeiten! Und was für ein Sturm! King Lear Los, zieht dem Narren die Haut ab. Ich will meinem Sohn einen Mantel daraus machen. Cordelia Ich bedauere, Kinglearchen, doch meine Haut wärmt weder Euch noch Tom. Ich passe. King Lear Wäre meine Haut nur besser erhalten, ich würde sie abstreifen, ohne zu zögern, mein Sohn. Hätt ich doch nur die Würmer aufgehoben, die sie durchlöcherten … Kent King Lear, ruht euch ein wenig aus. Gloucester wird eure Partie zu Ende spielen. King Lear Begleite mich, mein Sohn. Richtung Regen, langsam. Auf meinem Weg sah ich den alten Bettler / Er saß am Straßenrand / Auf einer flachen Mauer, grob gebaut / Am Fuß eines mächt’gen Hügels / 40
Wer sein Pferd hinunter führt den steilen Pfad / Schwingt von dort ganz leicht sich wieder auf. Cordelia Der alte Cumberland-Bettler4, von Wordsworth. Kent Er ist verrückt. King Lear So lasst ihn ziehen, mit einem Segen auf dem Haupt / Lasst atmen ihn der Täler Frische / Solange er wandert / Soll ringen er mit Winterluft und Schnee / Soll der Heidewind ihm wehen / Die grauen Locken in sein verwelktes Gesicht. Gloucester Seinen Verstand finden wir schon wieder. Wichtig ist, dass er jetzt von hier fortkommt. Goneril und Regan … Cordelia Das würden sie nicht wagen. Kent. Kent Ich lege die Null an die Zwei. Sie haben es schon gewagt. King Lear Lasst ihn sich setzen, wo und wann er will / Ob unter Bäume, ob am Straßenrand ins Gras / Lasst mit den Vögeln ihn teilen / Was er an Essen finden kann / Im Auge der Natur hat er gelebt / Im Auge der Natur lasst ihn auch sterben.
4) William Wordsworth: The Old Cumberland Beggar, im Rahmen der vorliegenden Stückübersetzung neu ins Deutsche übertragen.
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7. Augenlicht
Edmund hält die Augen seines Vaters in den Händen. Edmund Ein Knäuel aus winzigen Adern, noch lauwarm. Ein Rinnsal aus Blut und klebrigem Harz. Riecht nach rohem Fleisch, der Geruch der Tiefe verleiht ihm zusätzliches Gewicht. Zwei bittere Augapfelpillen, vergiftet mit Hass. Auf der Iris noch das Bild der lachenden Schwestern, im Hintergrund meine Stiefel und in meinen Stiefeln ich selbst. Goneril bindet ihr Haar zu einem Knoten, Regan schärft das Schwert. Und dieses unerklärliche Licht trennt meine Hände ab. Das bleierne Schweigen des Lichts. (Pause) Und nur ich habe die Augen meines Vaters. Gloucester mit einer Binde über den Augen. Edmund zieht die Binde weg und entfernt sich. Goneril und Regan. Regan Verräter! Goneril Blende ihn jetzt, auf der Stelle. Regan Widerlicher alter Mann. Gloucester Das bin ich nicht, Regan. Regan (zieht ihn am Bart) So ein strahlend weißer Bart und so ein schmutziger Verräter. Gloucester Ich hab noch nie jemanden verraten, nicht einmal mich selbst. Goneril Wohin habt ihr den König geschickt? Gloucester Zu den Seinen. Regan Wir sind die Seinen. Gloucester Nein, ihr seid die anderen. Goneril Reiß ihm die Augen aus. Gloucester Blendet mich nur auf der Stelle! Ich werde trotzdem sehen, wie ihr in euer Verderben rennt. Edmund Sagte er und pisste sich ein vor lauter Angst. Regan Die Augen des Königs: (zeigt jeweils auf die Augen) Das linke ist für Cordelia (die Närrin), das rechte für Kent. Das rechte zuerst. Edmund Raus mit dem Gelee! Er wirft das rechte Auge zu Regan. Goneril Und, wo sind jetzt deine Helden jetzt? Gloucester Ich sehe auch mit einem Auge noch … 42
Goneril Und dann das linke Auge. Edmund Raus mit dem Gelee! Er wirft das linke Auge zu Goneril. Regan Und jetzt, Alter, was ist jetzt mit deinem Augenlicht? Wo ist wohl das Licht geblieben? Gloucester Edmund! Wo ist mein Sohn? Edmund bindet Gloucester wieder die Binde um. Goneril Edmund? Edmund ist viel zu schlau, um Mitleid mit dir zu haben. Edmund Er schwieg, einige Sekunden lang. Dann schüttelte er heftig den Kopf und blutige Fäden fielen ihm wie Schlangen aus den leeren Höhlen. Möglicherweise, sagte er … Gloucester Edmund? Gloucester, ein Kindsmörder. Edgar ist das Opfer. Regan Raus hier. Goneril Überbring dem König diese frohe Botschaft. Edmund Welch traurige Szene, Myladies! Allein sie mir vorzustellen, hat mich angeekelt. Mir die Qualen meines Vaters vorzustellen. Dieses Urteil, „Edmund“, wie es dir von den Lippen perlte, Goneril. Wie mein Vater die Zähne zusammenbiss, als er es hörte: „Edmund“. Ach, wär mein Vater nie geboren oder auch dieser Verräter, ach, hätt doch nur ein and’rer ihn entlarvt. Regan (gibt Edmund eines von Gloucesters Augen) Erschrick nicht, Edmund. Goneril Es ist unausweichlich, wir müssen alle beseitigen, wer es auch sei. Regan Nur Mut! Deine Loyalität macht dich zu unserem engsten Verbündeten. Goneril General, Edmund. Regan Oh, es ist schon Zeit für meine Insulinspritze. Viel Kraft, General! Goneril Denk daran, vielleicht erkennt dein Vater schon morgen die wahre Größe deines Handelns und ist stolz auf dich. Ich an seiner Stelle könnte das morgen. Edmund „Könnte“ was? Goneril Dich mit anderen Augen sehen. Edmund Ich vertraue darauf, dass … Goneril Britannien … Meine einzige Sorge ist sein Wohlergehen. Ob meine Schwester Regan das auch so hält, weiß ich nicht. Ich würde dich ja einweihen, wenn ich sichergehen könnte, dass ihr beide nie … Edmund Niemals. 43
Goneril Nicht einmal in jener stürmischen Nacht, damals, bei deinem Vater zuhause? Edmund Nicht einmal in jener Nacht. Goneril Man hat ja so einiges gehört. Edmund Euch und mich, Goneril. Uns hat man gehört. Goneril Nun, Regan geht ohne weiteres als ruhmreiches Kapitel in die Geschichte ein. Memorabel. Soviel Spanisch verstehst du doch auf Deutsch? Edmund Ich verstehe, Mylady. Goneril In deine Hände lege ich die Zukunft Britanniens – unsere Zukunft. Sie gibt ihm Gloucesters zweites Auge. Halt die Augen offen. Edmund Ganz der Eure, Mylady, bis zum Ende.
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8. Tote Zeit / Fleisch der Poesie
Edgar Tod King Lear, Tod Britanniens König. So schrien wir. Tod Britanniens Mörder. Tod seinem ersten Sohn. Nur die Poesie wird überleben. So schrieben wir. Wer lebt schon länger als die Poesie, wer könnte? So dachten wir. In unseren Zeiten gibt es nur einen Grund, auf dem die Poesie gedeiht: das Blut des Königs. Blut erneuert die wahre Größe der Poesie und die verblasste Gestalt der Dichter. Gebt den Poeten die Poesie zurück und der Poesie die Poeten. Verbrecherverse. Versverbrechen. Schrieben wir. Wir schrieben Verbrechen in Versen. (Pause) Tod Britanniens König. Wir träumten von seiner Flucht aus der Zeit der Lebenden. Von einem Schweigemarsch zum steinigen Ende der Welt. Von einem endlosen Marsch durch die Hauptschlagadern des Intellekts. (Pause) Tod King Lear, rief ich. Stirb, so verfluchte ich ihn auf jede erdenkliche Weise. Wütend zog ich das R in die Länge, das in der Mitte des Worts, meine ich. Ich schrie meinen Hass auf Lear in alle vier Winde und mit der gleichen Wut rollte ich das R am Namensende. Meine Liebe brachte ich meinen Poetenfreunden als Opfer dar wie Fleisch, einem heiligen Tier in einer Schale geopfert. Und ich küsste die Klinge des Dolchs vor aller Augen, ein feierlicher Freudentaumel. (Pause) Wir waren in der Hütte. Wir schliefen. Wir schliefen so, wie jemand schläft, den die Angst zerfrisst. Lear im Delirium und ich umarmte ihn. Ich umarmte ihn: Ich hätte ihn erwürgen können, in diesem Moment. Und ich wollte es tun. Ich wog den Dolch in meiner Hand. Ich wollte. Ich wollte seine Haut zerfetzen, in Streifen sollte sie vom Hals ihm hängen, seine Arterien herausspringen wie Perlen aus einem Rosenkranz. Ein tödliches Wort wollte ich ihm durch den Gehörgang jagen. (Pause) Wir waren in der Hütte und ich wachte über den Schlaf des Königs. Durch Risse in der Wand, vom Schein der Blitze hell erleuchtet, drangen die Poetenfreunde ein, sie selbst erleuchteten Blitzen gleich. Ich verbarg mich in der Larve des Bettlers, ich, Edgar, schlafend/wach, und brachte viele Poeten um Schlaf und Traum. Ich kannte sie alle, jeder von ihnen war mir ein Bruder. Sie suchten einen Mörder, doch sie fanden nur einen Bettler in Mördergestalt. Oder ein Kind der Tage, Fahnenflüchtige der Geschichte. (Pause) Ich wollte es tun, doch vielleicht auch nur in meiner Rolle als Bettler. „Mein Sohn“ 45
hat er mich genannt und ganz tief drinnen wusste ich, es stimmte. Es stimmte, dass ich, Edgar von Gloucester, nicht mehr brauchte als dieses kleine Stück vom Glück. (Pause) Wir waren also in der Hütte und ich wollte King Lear ermorden. Den Schellenkönig zum Schweigen bringen durch diesen hochbetagten Mann. In meinem Alter will ich mehr darstellen als einen Bettler. Ich wollte und will vielleicht noch immer. Doch hätte ich den König nur zum Teil vernichtet, dort in jener Hütte. Ihm den Hals umdrehen … die Gedärme durchlöchern … Doch was war mit dem Wahn, mit seinem Wahnsinn? Wie lässt sich Wahnsinn töten, welche Waffen siegen über des Wahnsinns Waffen? Den Wahn eines Körpers, der nicht zu halten ist. (Pause) Ich wollte, doch vielleicht sollte ich nicht. Ich sollte nicht, vielleicht, weil sich tief in mir drin noch viele Lears verbergen. Ich sollte nicht, vielleicht, weil in uns allen noch viele Lears verborgen sind. Es gibt Gründe dafür, dass ein Mensch nicht zweimal in ein und dieselbe Zeit hineingeboren wird.
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9. Klein Lazarus in Dover
Edgar Mein Name ist Tom. Gloucester Tom? Wir sind uns in deiner Hütte begegnet, erinnerst du dich? Als die Nächte noch nicht so dunkel waren. Edgar Du weinst Blut, alter Mann. Gloucester Auch in jener Nacht hab ich geweint, du hast es nicht gemerkt, doch so war es und seit damals weine ich Blut. Ich weine über den Lauf der Welt, sei unbesorgt. Er geht an mir vorüber … Edgar Erlaubt, dass ich Euer Gesicht säubere. Gloucester Ja, mein Junge, mach das, ich will nicht aussehen wie ein Clown. Wenigstens nicht wie einer von diesen Horrorclowns, die auf der Straße die Leute erschrecken. Edgar Was macht Ihr hier so allein? Gloucester Ich bin zum Sterben hergekommen, Tom, so einfach ist das. Edgar Zum Sterben? Aha. Gloucester Lach ruhig, aber ich schwöre, ich kam nach Dover für mein letztes Rendezvous. Edgar Ich lache nicht, ich höre zu. Gloucester Ich wollte mich von diesen Klippen werfen. Von diesen Klippen, die Gott abgeschnitten hat wie eine Scheibe Brot und ins Meer getunkt wie in ein Glas Wein. Junge, so eine Szene wie die, die ich mir ausgemalt hatte, hast du noch nie gesehen, nicht einmal im Kino. Eine erbärmliche Szene. Und wie du siehst, hier bin ich, warte auf mein letztes Rendezvous, doch nur du bist erschienen, Werkzeug des Lebens. Edgar Doch warum lebt Ihr noch? Gloucester Man stirbt nicht, wenn man will, Tom, sondern, wenn man kann. Edgar Warum wollt Ihr sterben? Gloucester Weil auch ein Pferd mit gebroch’nen Beinen nicht weiterleben darf. Edgar Und jetzt? Gloucester Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, was ich anfangen soll mit diesem Bruchstück von Leben, das ich nicht geschafft habe, mir zu nehmen. 47
Edgar Das kann noch ziemlich viel Leben sein, alter Mann. Gloucester Ja, das macht mir Angst, mein Leben könnte sich wie eine Qual immerzu verlängern. Edgar Leben ist immer ein Wunder. Und Wunder gibt es keine mehr. Gloucester Wer bist du, Kerl? Tom bist du nicht, nicht heute. Edgar Nein, ich bin nicht Tom. Gloucester Wenn nicht Tom, wer dann? Edgar Ich bin Edgar, mein alter Mann. Edgar, dein Sohn. Gloucester Edgar? Edgar, seit wann bist du es? Edgar Seit Tom. Gloucester Nein. Edgar Prüf es. Gloucester (erkennt ihn) Ich habe keine Augen. Ich habe keine Augen. Der Tod hat meinen Blick nicht erwidert. Nicht einmal umgedreht hat er sich. Edgar. Und du hast auch etwas von meinem Edmund, ein bisschen. Edgar Edmund nicht, Vater. Gloucester Wie kannst du so sicher sein? Edgar existiert nicht ohne Edmund. Es gibt ihn einfach nicht, weder ihn noch Vaters Augen. Nicht bei William Shakespeare. Edgar Edmund ist ein Verräter. Gloucester Seit wann sind meine Söhne nicht mehr ein und derselbe Sohn? Edgar Seit Tom. Gloucester Also noch nicht besonders lang. Edgar Edmund ist der Urheber des Verbrechens, das Ihr hier verkörpert, Vater. Gloucester Edmund? Mein kleiner, unbedeutender Edmund …? Nein, Edgar, du täuschst dich. Edmund war noch gar nicht auf der Welt, als ich in Britannien feierlich das Band zerschnitt, zur Eröffnung der Fabrik von Verbrechen und Verrat. Komm schon, eine Umarmung. Verzeih mir, Edgar. Ich war blind. Und jetzt noch eine Umarmung für Edmund, nun mach schon. Ich war so ein Dummkopf. King Lear. Edgar King Lear. Gloucester King Lear, Marmorstandbild von einem Mann. King Lear Mein alter Ackergaul. Jeder deiner Söhne ist mehr wert als 48
alle meine Töchter zusammen. Jetzt wär es an der Zeit zu rufen, „Hey, Freund Apotheker, eine Unze Moschus, ich will meine Phantasie versüßen!“ Aber so was schreibt ja heute keiner mehr. Gloucester Erkennt Ihr mich, King Lear? King Lear An deine Augen erinnere ich mich gut. Bitte, schau mich an, wenn ich mit dir spreche. Gloucester Mit welchen Augen? King Lear Setz dir Glasaugen ein und gib vor, zu sehen, was du nicht siehst. Und wenn du weinen willst, nimm meine. Ich kenne dich sehr gut, dein Name ist Ödipus. Hör zu, Ödipus, der Weg nach Kolonnos ist der einzig wahre. Gloucester King Lear, erlaubt, dass ich Euch an einen sicheren Ort begleite. King Lear Willst du mir meine Augen ersetzen, blinder Gloucester? Oder mir deine leihen? Vielleicht lässt der älteste deiner verräterischen Söhne King Lear in ein Messer laufen. Edgar Ich bin kein Mörder, King Lear King Lear Ich seh auch nicht wie ein Verrückter aus. Gloucester Nimm ihn fest, Edgar. King Lear Festnehmen? Wollt ihr mich sigismundisieren5 ? Gloucester Niemand will zum Sigismund Euch machen. King Lear Solange ihr mich nicht sigismundisiert, gibt es noch Hoffnung. Gloucester King Lear. Wohin seid Ihr unterwegs? Edgar Ruht Euch ein wenig aus, später begleiten wir King Lear zu den Seinen. Gloucester Zu den Seinen? Wer sind die Seinen? Es gibt sie nicht mehr, mein Sohn. Wir, die Seinen, sind tot. Wir bringen ihn nirgends hin. Nirgends, das ist der sicherste Ort für jeden von uns, für King Lear und auch für mich. (Pause) Wir sind tot. Aber wir waren schon vorher tot, schon seit langem. Wir waren Blinde und blind, Verrückte und verrückt. Erst diese Pilgerfahrt lehrt uns wahrhaftig verstehen, wahrhaftig am Leben sein, mit allen Sinnen wahrnehmen, wie unsere Lebenszeit verrinnt. Edgar Wie viel Gutes hätte diese bittere Stimme zur rechten Zeit bewirken können! Wie viel das scharfe Bild unserer Wirklichkeit! Diese Tragödie beispielsweise hätte nie stattgefunden, Vater. Shakespeare hätte sie nie geschrieben. 5) AdÜ: Anspielung auf die Figur des Sigismund aus Das Leben ein Traum von Calderón de la Barca, III. Akt, 4. Szene.
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Gloucester Ein Jammer, oder? Denk darüber nach. Ein solches Werk schreibt man nur einmal, wurde nur dies eine Mal geschrieben. Edgar Unvergleichlich. Und doch … Gloucester Ich versteh dich, mein Sohn. Heute mehr denn je. Doch jede Prophezeiung benötigt eine Tragödie als Vorzimmer. Mit Prophetie kennen wir uns alle aus, doch von Tragik, von der Natur der Tragödie, werden wie niemals etwas wissen. Edgar Etwas war faul, das wussten wir, etwas musste sich ändern. Es musste so kommen, irgendwann, das wussten wir. Und doch … Gloucester Alles ändert sich. Wir ändern uns. Haben uns schon geändert. Edgar Und doch … Gloucester Was gibt es denn im Leben für mich noch zu sehen? Edgar Als ich von Edmund gesprochen habe … Gloucester Von „Guten“ und „Bösen“ hast du gesprochen, war es nicht so? Edgar Vom Schrecken. Gloucester Also, blind wie ich bin, sehe ich darin keinen Zusammenprall von Gut und Böse, sondern eine Vereinigung der beiden, nichts weiter. Zu den „Guten“ oder „Bösen“ gehören – das hat uns doch nur dahin gebracht, wo wir uns heute Abend befinden. Entfernter Trommelwirbel. Edgar Der Krieg rückt näher. Gloucester Unser Krieg gegen uns selbst.
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10. Ende des Abenteuers
King Lear kümmert sich um Kent. Cordelia. Cordelia Wie viel Zeit bleibt uns noch? Kent Eine Stunde, vielleicht weniger. Pause. Cordelia Seht, da ist ein König. Wie viele Menschen auf der Welt würden nicht alles dafür geben, einen König leibhaftig zu sehen, ihn zu berühren! Wie viele Schauspieler gäben nicht alles, um ihn zu spielen, wie viele Intellektuelle wären nicht gerne wie er. Ja, auch das. (Pause) Es ist noch nicht zu spät, Kent. Jeder andere liefe auf der Stelle los, um ihn der Welt schon morgen als Reliquie vorzuführen. Er ist ein uraltes Juwel und sein Wahnsinn ist unschätzbar wertvoll, ein Vorzug, für den Sammler hohe Summen zahlen, ob in Gold oder Groll. (Pause) Seht, da ist der König. Es ist der alte Streit: vom Blute sich ernähren oder im Blute untergehen. Unser Streit. Kent Unser König, es ist unser König, Cordelia. Unserer. Nur darauf kommt es an. King Lear ist unser. Cordelia Das stimmt. King Lear ist unser. Kent So wie die Fahne und die Hymne, die der Trupp dort draußen anstimmt. Cordelia Wie wahr. Ich weiß nicht, weshalb ich mir Sorgen mache. Ich habe solange in dieser Narrenhaut gesteckt, dass ich Cordelia hin und wieder vergesse. Mein Leben ist zu kurz, um deine Güte zu vergelten, Kent. Kent Mit deinem Vertrauen ist sie schon beglichen. Cordelia Was Goneril und Regan betrifft … Kent Vierzig Minuten, länger überstehen sie keinen Kampf. Das gibt ein Massaker, Cordelia, ein Massaker, das ist offensichtlich für jeden, der Ahnung davon hat. Cordelia Manchmal glaube ich, dass wir uns zu ähnlich sind. Uns ähnlich sind in Dingen, die weit über die Frage hinausgehen, ob wir Schwestern sind oder nicht. Mir ist jede Ähnlichkeit mit Goneril oder Regan zuwider, das war schon immer so. Kent In gleichen Situationen trifft man gleiche Entscheidungen und setzt sie mit ähnlichen Gefühlen und Absichten um. 51
Cordelia Ja, im Grunde glaube ich, wir sind uns ein bisschen ähnlich. Pause. Kent Nun weck ihn schon. Cordelia Wie sprech ich ihn an? Welche Worte ließ der Narr mir dafür übrig? Kent Sprich mit ihm. Sprich einfach mit ihm. Cordelia Vater … Vater … wacht auf. Wie geht es meinem King Lear? King Lear Die Scham, jemanden wie mich zu kennen, brächte mich um. Ich fühle eine Hand. Cordelia Das sind meine Finger. King Lear Und das Leben. Ich fühle das Leben. Das ist mein Leben! Cordelia Vater, Lear. King Lear Mach dich nicht lustig, bitte, ich bin ein alter Mann über achtzig. Und sicher nicht ganz richtig im Kopf. Ich kenn dich und diesen Mann kenn ich auch. Kent …? Cordelia, bist du es? Cordelia Ich bin es, Vater, ich bin es. King Lear Meine Tochter, auch wenn deine Klage aus reinem Gift bestünde, streckte ich ihr die Hände zur Schale geformt entgegen und tränke daraus, ohne zu zögern. Verachtet zu werden, das verdiene ich von niemandem außer dir. Auf, auf, warte nicht mit deiner Klage, lass sie aus allen Wolken regnen über diesen Garten weißer Haare. Cordelia Keine Verachtung, Vater. Ich liebe Euch, wie nur eine Tochter ihren Vater lieben kann. Nicht mehr und nicht weniger. King Lear Dein Herz spricht aus diesen Worten, ich weiß. Ich kann in deinen Brustkorb sehen und dort dem Faden folgen, mit dem es dir die Lippen bewegt. Ich habe es immer gewusst, damals schon und später auch. Kent Das Durcheinander klärt sich. Cordelia Wünscht Ihr Euch etwas, Vater? King Lear Ja, Geduld. Hab Geduld mit mir, Tochter. Verzeih mir, ich flehe dich an. Und du, Kent. Ich bin einfach nur ein alter Idiot, mehr nicht, da haben deine Schwestern schon recht. Cordelia Nein, Vater, meine Schwestern haben mit überhaupt nichts recht. King Lear Ich gab ihnen alles, Cordelia. Sogar dein Leben warf ich diesen Furien zum Fraß vor und somit auch das Leben des ganzen Volks. Was noch? War ich je bei Verstand? Bin ich es jetzt? 52
Cordelia Jetzt sind wir zusammen und meine Schwestern müssen sich verantworten vor der väterlichen Majestät und der Barmherzigkeit King Lears. King Lear Wo bist du gewesen, mein Spatz? Cordelia Bei einem Freund. Er gab mir Kleidung, Bett und Essen, ein Verwandter von Yorick, unserem alten Narren. Erinnerst du dich an Yorick, Vater? King Lear Ein Narr? Cordelia zeigt King Lear ein altes Bild. Cordelia Das sind wir, Vater, an einem Ort, den es nicht mehr gibt. Wie lange das her ist und wie weit weg. Oder aber es gibt ihn doch, nur in der Sprache der Zeit können Räume mehr als einmal existieren. Yorick, Gonillie, Reggae und ich. Gonillie und Reggae! Erinnerst du dich? Gonillie und Reggae klatschen, beide sind blonder als die Sonne. Gonillie fehlen zwei Zähne und ich habe einen von Yoricks Schuhen am Fuß. Wie klein war die Welt damals, so klein! Bei Yorick lösten sich die größten und längsten Dramen in schallendem Lachen auf. Er hat uns beigebracht, zu leben. Lachend zu leben. Lektionen in Freude und freudigem Dasein waren das. Ein Vogel mit Glöckchenstimme. Yorick. Oft verschwand er und tauchte erst am nächsten Tag wie durch Zauberhand wieder auf, am Brunnen bei den Speisesälen, mit seiner rotblau gemusterten Narrenkappe. Einmal, als wir nachmittags aus dem Teatrino kamen … so hieß das doch, oder, das Kasperltheater? Jedenfalls, als wir aus dem Kasperltheater kamen, hab ich durch einen Spalt in Euer Zimmer gelinst, Vater, und da war Yorick, mit eigenen Augen sah ich, wie Yorick sich verwandelte, er verkleidete sich als King Lear, ausstaffiert wie bei Shakespeare. Es war so traurig, Yorick sterben zu sehen, jeden Tag aufs Neue. (Pause) Die Zeit verging, ich wurde allmählich älter und erst viele Jahre später konnte ich verzeihen. Als ich dann das Bild wiedergesehen habe, begriff ich: König sein, das war einfach nur ein Beruf. Ein schweres, trauriges Amt, weiter nichts. Mein Vater, mein eigentlicher Vater, war dort, bei den Speisesälen, in diesem rotblauen Kostüm und zeichnete in aller Ruhe Sterne in den Staub. King Lear Dieser Narr kam mir bekannt vor. Und ich sollte recht behalten. Cordelia Für den Rest meines Lebens hätt ich dieser Narr sein können, wäre meine Lebenszeit nicht die Eure, King Lear. King Lear Du wundervolles Wesen, Cordelia, du mutige Theaterfrau! Sie 53
hat nicht gelernt, zu sagen, was sie nicht fühlt. Wie ein Bruder hat mich dieser Narr begleitet, meine Tochter. Kent Machen wir uns bereit, Cordelia, das Heer kann jeden Augenblick hier sein. King Lear Heer? Welches Heer? Cordelia Goneril und Regan ziehen an der Spitze eines Heers gegen das Eure ins Feld. King Lear Gloucester würde jetzt sagen: I change my kingdom for a horse. Und ich sage das auch. Kent Richard III., 5. Akt, 4. Szene. Cordelia Ich flehe Euch an, mein König, bleibt am Rande des Geschehens und riskiert nicht Euer Leben. Wenn das alles hier vorbei ist, wird Eure politische Autorität dringend gebraucht. Kent überreicht Lear eine Standarte. Kent Für Britannien! Für King Lear!
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11. Beginn der Tragödie
Regan Ziel unserer Allianz ist es, King Lear zu stürzen, und mit King Lear jede Spur von Kinglearismus. Der Kinglearismus ist unser schlimmster Feind. Und mehr noch als der Kinglearismus die Kinglearisten. (Pause) Cordelia und Kent … Edmund Goneril? Regan In Zeiten wie diesen ist jede Opposition von großer Bedeutung für die junge Nation. Wir kämpfen für eine gemeinsame Sache, verstehst du? Edmund Aber Goneril gehört doch nicht zur Opposition. Regan Noch nicht, aber schon sehr bald. In ein paar Stunden oder morgen früh. Wenn wir einander in die Augen sehen, eine der anderen, und alle diese Fragen auftauchen, auf die keine von uns beiden Antwort weiß – dann ist der Moment gekommen, dann ist es soweit. Du weißt, von welcher Szene ich spreche? Edmund Und das heißt? Regan Wir dürfen nicht bis morgen warten, General. Edmund Ich verstehe. Regan So viel Spanisch verstehst du auf Deutsch? Edmund Verstehe ich. Regan Apropos, ihr beiden habt wirklich nie …? Edmund Goneril war immer nur eine gute Freundin für mich, Regan. Regan Und ihr habt nie, niemals? Nicht mal im Original, bei Shakespeare? Edmund Nein, noch nicht einmal bei Shakespeare. Ich schwöre. Regan Dann haltet euch auch jetzt von jeder Vertraulichkeit fern, General. Edmund Keine Sorge. Regan Das ist ein Befehl. Goneril. Goneril Seid gegrüßt, General Edmund. Regan Goneril, nach jüngsten Berichten ist King Lear bei seiner Tochter. Goneril Selbst zu zweit können unsere Feinde uns nicht gefährlich werden. Edmund Die beiden alleine nicht, doch es folgt ihnen ein beachtliches Heer. Ein familiärer und persönlicher Streit darf jetzt nicht unser Ziel sein, Myladies. Regan Bauern, Faulenzer, Schüler und Frauen mit Schürzen und Kopftüchern. 55
Goneril Sehen die so aus, als müssten wir sie fürchten? Regan Nein! Die Kinglearisten sind, was sie immer waren. Goneril Sie waren aber auch schon immer hier. Das sollten wir nicht vergessen. Der Kinglearismus ist wie eine zweite Natur. Regan Wir befinden uns in einer Tragödie, das dürfen wir nie vergessen. In jeder Tragödie schleicht sich, unbemerkt, ein noch schlimm’res Übel ein. Goneril Was denkt der General? Edmund Über den Kinglearismus oder über die Kinglearisten? Goneril Müssen wir uns vor ihnen fürchten? Edmund Sie haben Lear. Sie kämpfen für Lear. Gebt mir einen King Lear und ich werde die Welt aus den Angeln heben. Goneril Wie auch immer, wir müssen jetzt unsere Strategie festlegen, für Politik ist später noch Zeit. Regan Für Politik ist immer Zeit. Edmund Das wird das Klügste sein. Goneril General, Edmund …? Edmund Ich habe noch ein Treffen mit einigen hochrangigen Offizieren. Ich komme später nach. Pause. Edmund Ich bin Edmund, General, Befehlshaber über tausende bis an die Zähne bewaffnete Männer. Edmund, bist du es? Ich bin, was ich darstelle: General. Und von General gibt es kein Zurück mehr, und selbst wenn, wozu? Es bleiben uns Patria und Patriotismus und über den ist es noch schwerer, sich lustig zu machen. (Pause) Oh, General, mein General. (Pause) Ich kann den Lauf der Geschichte nur so annehmen, wie er geschieht. Vielleicht sterbe ich bald. Vielleicht lebe und sterbe ich bald wegen meiner unerklärlichen Hinwendung zum Patriotismus. Niemand weiß, wohin so ein Amt noch führt. Man weiß nie.
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12. Krieg der Zeit
King Lear bei einer Fahne. King Lear Ich war Lear. Vater einer Nation, die es nicht gab und die nun eine ganz andere ist, von anderen Grenzen bestimmt als jene, die ich einst auf der Landkarte zog. Ich war Lear, verlorener Sohn meines selbst erfundenen Wahns. Ich war Lear und meine Gedanken heuerten beim Unternehmen Troja an. Homer konnte von mir sagen: „Und das ist Lear, nur seine Zärtlichkeit und seine Wut übertreffen ihn an Größe.“ Ich war Lear und kehre jetzt zurück in ein mir unbekanntes Land, zu einem mir unbekannten Volk, in eine mir unbekannte Gegend. Ich war Lear und bin jetzt ein Fremder in Dover. Menschen stieß ich in den Abgrund, die auf einen Fingerzeig hin für mich gestorben wären. Ideen stieß ich in den Abgrund, die mich auf einen Fingerzeig hin vernichtet hätten. Von diesen steilen Klippen Dovers habe ich sie fallen sehen. Ach, Dover, wie viele Jahrbücher erzählen von Ankunft und Abfahrt deiner Schiffe. Ach Dover, für so viele ein Symbol für so vieles. Lear. Ich legte meine Stirn in Falten, rief „bis zum Herz schlägt mir das Herz“, rief Hysterica passio. Ich bin Lear, doch konnte ich auch Hamlet sein, so oder so, kein Schauspieler könnte mich jemals spielen. Wie alle irgendwann war ich Hamlet, war ich Lear und bin ich jetzt ein Fremder. Zeit ist vergänglich, das hab ich zu spät begriffen und der Wahn wurzelt in anderer Zeit. Wo bist du, Lear, wo? Unter den Röcken welcher Patria, Seiltänzer auf welchem Horizont, welcher Spiegel schaut dir heute ins Gesicht und welche Wasserflächen morgen? Lear, Lear, nimm zahm wie ein Hund deinen verdienten Tod aus den Händen der Geschichte entgegen. Gib sie ab, deinen Schädel, deine Standarten. Ich war Lear und jetzt bin ich mein ärgster Feind. (Pause) Und dann diese Stille. Wenn mein Rheuma es zuließe, würde ich sie mit Händen greifen. Die Stille und den Rauch. Und danach diesen alten Mann. Diesen alten Mann, am Boden zerstört, ein Häufchen aus kleinen Steinen, King Lear (Ihr könnt mich den Vögeln zum Fraß vorwerfen!). Ich höre nur das Schweigen. Das Schweigen der Reitertruppen, das Schweigen der Degen, das Schweigen im Herzen meiner Kinder. Und ich höre mein eigenartiges Gestammel, das immer wiederholt: Lear, Lear, deine Kinder sterben. Lear, schling deine Klettenhände um sie und entreiße sie 57
dem Staub. Ich höre, wie das Rheuma in meinen Fingern knackt und dann sehe ich sie, wie Diamanten an die Hälse ihrer Pferde geschmiegt, sehe sie fallen, sich winden, sterben. Und diese Hände. Deine Hände, armer Lear, tanzen einen unmöglichen Tanz. Lear, Lear, dort, dort, ach, Lear, King Lear, der Krieg wütet nicht dort, in deinem Kopf spielt er sich ab, in diesem weißen Wetterhahn, der sich schwindlig dreht im Wind und abhebt Richtung Nimmerland. (Pause) Ich war Lear, ein Jahrhundert. Ich war Lear und wenn der Tag vorüber ist, noch weniger als dieser Mann, denn diese Schlacht findet ohne mich statt, die einzig bedeutende Schlacht meiner Zeit. Noch bin ich Lear, ich wünschte, ich wär’s nicht. Noch bin ich Lear und weiß nicht, wie lange noch. Noch bin ich Lear, all diese Leben liegen in meiner Hand. Doch was vermag noch meine Hand? Es gebührt ihr der Schrecken, zitternd die Fahne hochzuhalten, sich an die Symbole zu klammern, die den Krieg überdauern. (Pause) Der Krieg. Der Krieg und die Worte ziehen an meinen Augen vorüber wie ein Tag auf dem Land. Dies ist mein Kind und dieses hier und die Fahnen, beide, und die Schemen der Körper, umringt von Geiern, in der Ferne brennt ein Wagen, trocknet eine Mutter ihre Tränen mit einem Tuch und das dunkle Violett der Geliebten, die sich in den Fluss geworfen hat, und dort wo es flach ist, schleift der Fluss seine Steine und die Sätze Shakespeares, sie spitzen sich zu. (Pause) Ich war Lear und werde es vielleicht noch sein. Hundert Jahre unter dem Licht der Sonne. Wie grauenvoll! Ein ganzes Leben lang ein und derselbe Mann. Ich war Lear und solange ich es noch bin, solange noch dieser Mörder die Fahne hochhält mit seiner rheumatischen Hand, solange wird alles, was heute geschieht, in die Geschichte eingehen als einer der herrlichsten Tage unserer Zeit.
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13. Shakespeares drei Schwestern
Im Hintergrund hält Lear immer noch die Fahne hoch. Cordelia Diese Melodie war tief in meinem Kopf vergraben. Goneril Cordelia, wir haben sie so oft gehört, alle drei, dieselbe alte Leier. Stimmt doch, Regan, oder? Regan Ja, das ist die Melodie, die wir als Kinder … Goneril Es ist genau wie Papas Pfeifen, ganz genau. Diese Schleifen in der Luft, wie auffliegende Eulen. Cordelia Es wird doch nicht …? Regan Selbst wenn er wollte, könnte er uns das nicht pfeifen, seine Lippen brächten die alte Litanei nicht mehr zustande. Goneril Dann hören wir also Gespenster. Regan Trotzdem scheint es irgendwie von ihm zu kommen. Ein gewisser Hang zur Melancholie. Goneril Gespenster, die an Gespenster glauben, weiter nichts. Ist das nicht schon zu viel? Regan Es ist mehr als Nichts. Es ist etwas. Fast ist es etwas. Etwas Grundlegendes. Das ist schon was. Cordelia Alles geschieht, als wäre es von langer Hand geplant. Wie ein müdes Tier schleicht das Leben an uns vorbei. Regan Warum dauert das mit diesen spirituellen Amtswegen denn so lang? Goneril An so einem Tag, heut in einem Jahr, ist unser erster Todestag. Regan Und wie wird er so, dieser Tag, heut in einem Jahr? Cordelia Ich frage mich, in welcher Form man sich an uns erinnern wird. Als was zum Beispiel? Goneril Wie, als was man sich an uns erinnern wird, Cordelia? Cordelia Als Lears Töchter oder als Shakespeares drei Schwestern. Goneril (zu Regan) Shakespeare? William Shakespeare …? Regan Worauf willst du hinaus, Cordelia? Cordelia Darauf will ich hinaus, Regan: Die Töchter Lears starben aus ganz anderen Gründen als Shakespeares Schwestern. Die Töchter Lears starben einfach nur innerhalb der Parabel, ihre Geschichte war vorbei, doch Shakespeares drei Schwestern sind Teil einer historischen Deutung. Sie sind erst später gestorben, schön weit voneinander 59
entfernt. Man wird sich an uns erinnern als die Töchter Lears oder als Shakespeares drei Schwestern. Je nachdem, was gerade vorteilhafter ist für den, der sich erinnert. Goneril Ich erinnere mich an etwas, das schlecht war; doch verglichen mit dem Schlechten, an das ich mich erinnere, war ich nicht schlechter. Wie wird man sich an mich erinnern? Regan Es dauert noch ein ganzes Jahr, bis es soweit ist! Cordelia Es gibt Britanniens, Goneril. Britanniens im Plural. Regan Und was ist mit Britannien? Goneril Britannien hat seinen Mund wieder verschlossen und schweigt wie ein Grab, nicht eine Klage ist daraus zu hören. Cordelia Es ist wahr. Britannien weint seinen Kindern nicht nach. Regan Ja, das stimmt, es weint nicht um sie. Und erst wenn ich tot bin, werde ich das verstehen. Goneril Verdammt sei das Land, das nicht alle seine Kinder gleich und gerecht betrauert! Regan Ein Tier. Der hungrige Aasfresser nähert sich schon unseren Körpern. Das war zu erwarten. Es war an der Zeit. Goneril Das ist kein Tier, King Lear ist es. Das ist kein Schweif, sondern eine Fahnenstange und er umklammert sie nicht mit Krallen, sondern mit alten Urteilssprüchen. Nicht Fangzähne sind es, die uns bedrohen, sondern alte Worte. Cordelia Es ist unser Vater, ja. Kein Zweifel. Papa, der für uns pfeift. Für uns drei. Er pfeift für uns und während er pfeift, bilden sich Risse im trockenen Fleisch seiner Lippen. Er umarmt mich, so wie Kreon die vergiftete Kreusa in die Arme nahm. Regan Was wird aus uns, Goneril? Was wird aus unseren Leichen, die dort auf der Erde liegen? Der Schmerz lässt keinen Raum mehr für Fahnen, oder doch? Da ist nur Schmerz, Schmerz wie ein reißender Fluss, oder nicht? Wie sollte dort noch etwas anderes bestehen? Goneril Andere Aasfresser werden kommen, Regan, für uns werden andere Aasfresser sorgen. Vom Hunger bleibt genug übrig. Was übrig bleibt, kann der Hunger haben, es gibt mehr als genug. Regan Und auch Tote, so viele Tote unter denen man wählen und um die man sich sorgen kann. Pause. Regan Noch ein Tier. Wie grauenvoll! Dort kommt es. 60
Goneril Das ist kein Tier, es ist immer noch der gleiche King Lear. Cordelia Es ist unser Vater, er ist zurückgekommen und er pfeift. Er nimmt dich in die Arme, erst Regan, dann dich, Goneril, seine erste Tochter. Er nimmt und trägt uns fort, eine nach der anderen, jede einzeln. Und nicht in den Armen, sondern im Mund trägt er uns wie ein Jagdhund, der von Kugeln frisch getroffene Enten apportiert.
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14. Abspann der Tragödie
Edmund, verletzt am Boden. Edgar Ich, Edgar, bezeuge, dass du, Edmund, der Satan von Milton bist, der Schwindler von Chaucer, Gloucester von Shakespeare, und Edmund – auch von Shakespeare. Schon wieder der immergleiche shakespearsche Edmund. Edmund Edgar. So langweilig wie du selbst. Kent Ganz ruhig, Edgar. „Der Feige stirbt schon vielmal, eh er stirbt, die Tapfern kosten einmal nur den Tod“. „Julius Cäsar“, 2. Akt, 2. Szene. Edmund Feige? Wer war heute feige, ich, der für Veränderung im Land gekämpft hat, oder ihr, die ihr verteidigt habt, dass alles immer so bleiben soll, wie es ist. Welches von beiden ist das größere Verbrechen? Edgar Verschwende keine Worte mit heroischen Phrasen, Edmund, dir bleiben nur noch wenige Zeilen Text. Edmund Hör mich an, Edgar. Das ist kein Sieg, sondern eine Fata Morgana. Nicht für deine Heldentaten werden sie dich feiern, sondern für den Tod deines Bruders. Sicher, ich hätte dich genauso durchlöchert, doch auch mein Sieg wäre dann keine Heldentat, sondern ein Brudermord. Dafür wurden wir geboren. Das ist das Amt, das wir bekleiden. Tod King Lear! Kent So ein Weltraumschrott. Mörder. Edgar Warum unser Vater? Warum seine Augen? Edmund Seine Augen? Seine Augen waren sein Verderben und meines. Und über kurz oder lang auch deins, Edgar. Bestimmt willst du sie nicht sehen. Oder doch, nimm sie ruhig. Sieh, was er sah und wie er es sah. Sieh, wie er sah. Sieh, was ich gesehen habe. Nimm sie nur, wer braucht schon diese Pandora, wer? Edmund stirbt. Edgar In Dover habe ich meinen Vater geführt. Bis zum bitteren Ende war ich sein Blindenführer, sein kleiner Lazarus. Seine Augenhöhlen hörten nicht auf, zu bluten, nie hörten sie auf. Er hielt seine Söhne für einen einzigen Sohn, als wären beide ein und derselbe Mensch. Seine Sterbeszene war filmreif, ganz großes Kino. King Lear trägt die tote Cordelia auf seinen Armen. King Lear Utopie! Utopie! 62
Edgar Ein Gemälde von Hieronymus Bosch. King Lear Utopie! Utopie! Die Wiegenlieder fressen ihre Kinder. Utopie! Utopie, du segelndes Pferd. Utopie, in meinen ältesten Lumpen verlasse ich dein Reich. Kent King Lear. King Lear Edgar, bist du das? Edgar Edgar, King Lear. King Lear Edgar, Edgar … ja. Ich habe so viele deiner Texte gelesen, dass du für mich jetzt unter einem Taifun aus Worten verschwindest. Große Worte wie kleine lebendige Tiere. Kleine geschriebene Grausamkeiten. Edgar, bist du das wirklich? Kent Edgar hat uns von Anfang an begleitet. Er war Tom. King Lear Tom, ja, ich erinnere mich. Tom, Kreatur meiner Fieberträume. Du bist willkommen, mein Junge! Hilf mir Tom, hilf mir, diesen Schmerz zu ertragen, mein Sohn. Und was ist mit deinem Vater, dem ewigen Nörgler? Wo ist der ewige Nörgler, Mylords? Edgar Tot. King Lear Ich hab es geahnt, als ich die Leiche deines Bruders sah. Kent Goneril und Regan haben sich auf schlimmste Weise vernichtet. King Lear Auf die einzig denkbare Weise haben sie sich vernichtet. Ich spreche später noch mit ihnen. Sei mir willkommen, Edgar, in meiner Hütte bist du immer willkommen. Kent Niemand ist willkommen, Mylord. Alles ist tot. King Lear Nein, nicht alles. Die Erde lebt. Sattgefressen hat sich die Erde, sie lebt und wird weiterleben. Kent nimmt wieder Cordelias Leiche in die Arme. King Lear Ich bin aus Stein, meine Freunde. Es fehlt mir die Sprache, die dem Himmel den Tod eines Kindes erklären könnte. Hier, Utopie, die du langsam vorüberziehst, ich gebe dir meinen Fliederzweig. Ich gebe dir meinen Fliederzweig.6 Utopie, die du langsam vorüberziehst, hier, hier … Kent Volk von Britannien. Als Interimsgeneral setze ich dieser Tragödie ein Ende und lege alle Gewalt zurück in die Hände des rechtmäßigen Herrschers, in die Hände von King Lear.
6) Walt Whitman, Grasblätter, aus dem Englischen von Jürgen Brôcan, München 2009.
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15. Die helle Kammer II
Eine in Marmor gemeißelte (englischsprachige) Inschrift verkündet: „Goneril, Regan, Cordelia Geliebte Töchter Britanniens und King Lears“. Was die Authentizität dieses Fotos betrifft, hielt die damalige Presse sich zunächst bedeckt. Man vermutete einen Fälscher am Werk. Dieser Verdacht war aufgekommen, nachdem das Bild auf dem Titel einer nicht autorisierten Biografie über das Leben King Lears („Passion King Lear“) erschienen war. Das einzige natürliche Element auf dem Bild ist der Friedhof – sofern der Tod überhaupt natürlich genannt werden kann. Es scheint ein kalter Tag zu sein. King Lears zitternde Hand umfasst einen Blumenstrauß, den er mit Edgars und Kents Hilfe auf den Stein legen will, zu den Namensschriftzügen seiner Töchter. King Lear ist bleich wie ein Leintuch. Die Blumensorten und ihre Farben lassen sich nicht näher bestimmen, vielleicht weiß, rosa und gelb. Am Horizont glänzt die Sonne wie eine kleine, alte Goldmünze. Im Vordergrund, zwischen King Lears Kopf und dem Himmel, gleitet ein Raubvogel herab. Das Bild wirkt nicht wie ein Foto, sondern eher, als hätte jemand ein Stück aus der Wirklichkeit herausgerissen. Mit der Zeit wurde die Bildunterschrift zum einzigen Beleg dafür, dass es sich bei der Personengruppe tatsächlich um Lear, Kent und Edgar handelte: „Ein Jahr nach den tragischen Ereignissen, durch welche Goneril, Regan und Cordelia zu Grunde gingen, erwies oder erweist King Lear (in der Mitte), begleitet von Kent (links) und Edgar von Gloucester (rechts), seinen Töchtern die ihnen gebührende Ehre.“ Wie zum (verdächtigen) Beweis einer Komplizenschaft betont und begrenzt eine „Narbe“, ein Riss, ein mit Rotstift gezeichneter Kreis die nahezu gespenstische Gestalt des Königs. Mit den gleichen Vorbehalten wie die damalige Presse erweitern auch wir die theatrale Kurzweil/Kontroverse um dieses im historischen Originalzustand erhaltene Foto.
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16. Prophetie
King Lear Es ist beschlossen. Aufs Neue wird das Land zu alter Größe vereint. Britannien ist eins und wird es immer sein. (Pause) Aus Sorge um das Wohlergehen des Landes übertrage ich Edgar die rechtmäßige Ausübung unserer Macht. Das ist unser und des Volkes Wille. Edgar King Lear, vergesst nicht die Jurisprudenz über mein Leben und das Eures Volkes. King Lear Halt dies schwer getroff ’ne Land am Leben, Edgar, nur das. Britannien wiegt schwer. Der Buckel auf meinem Rücken ist kein Hologramm moderner Zeiten, er ist das Gewicht der Insel. Wenn ich sterbe, nimm sie mir vom Rücken und bestell die Felder damit, wenn du willst. Die schwere Last, die ich darstelle, fällt bald von deinen Schultern und von denen des Volks. Erst dann, ganz zum Schluss, werde ich das Recht gekannt haben. Er rollt die Karte aus und gibt sie Edgar. Nicht alle Generationen können von sich sagen, sie hätten Zeiten erlebt wie die deine. Edgar Diese Kartenrolle samt Hülle sorgfältig aufzubewahren, das wird meine Aufgabe sein. Wiesen, Berge, Wälder, reißende Flüsse … achtzig Zentimeter Länge, zehn Zentimeter Breite: Britannien. Und was mach ich jetzt damit? Mir in die Hosentasche stecken? Als Stock verwenden, um einen Hund zu erziehen? Als wäre Britanniens Gewicht nicht schon genug, das seit heute in meinen Händen liegt. King Lear Shakespeare. Kehr zurück zu Shakespeare. Die Antwort liegt in ihm. Zurück zum Schwan vom Avon. Wir alle leben in Shakespeare, kommen aus ihm und kapitulieren vor ihm. Mehr lässt sich dazu nicht sagen oder schreiben. Es steht uns nicht zu. Entzünde das fühllose Fleisch deiner Figur am alten Will! Geh mit ihm und schreib als junger Autor das Drama deiner Zeit. Kehr zu ihm zurück, junger Gloucester, und lies, was er über dich geschrieben hat. Edgar Shakespeare, King Lear? King Lear Shakespeare, mein Junge, Shakespeare. Bis zum heutigen Tag hast du noch nie etwas geerbt, abgesehen von ein paar Strümpfen und Schuhen deines Vaters oder einer Werkzeugkiste, vielleicht einem Fotoalbum … Heute erbst du kein Volk, nur sein Gedächtnis, du selbst 65
bist längst ein Teil davon. Noch bevor fünf Jahre um sind, wiederholt sich King Lears Tragödie tausendfach. Die Geschichte erzählt die immergleichen Ereignisse auf nahezu gleiche Weise. Die Erinnerung ist alles, was wir erben, und sie ist, ob es uns gefällt oder nicht, das Einzige, was zählt und sich ändert. Kent „Du hast weder Jugend noch Alter, sondern nur, als wäre es ein Mittagsschlaf, Träume von beidem.“ „Maß für Maß“, Akt 3, Szene 1. King Lear Auf, zum Dominospiel, Kent. Langsam, langsam. Pause. Edgar Mein Name ist Edgar. Mein Vater ist tot, mein Bruder ist tot, King Lear ist tot, Shakespeare ist tot. Mehr wird bei Shakespeare nicht über mich gesagt oder geschrieben. King Lears Tod war nicht körperlich. Mein Bruder starb für Britannien. Das Britannien meines Vaters und mein Vater starben denselben Tod. (Pause) Wir sind sehr, sehr einsam. Ich bin sehr, sehr einsam. Wenigstens sind sie nicht hier. Ach, wenn sie doch wenigstens hier wären. (Pause) Die hohen historischen Tiere stinken, also gewöhne ich mich an ihren historischen Gestank. Vielleicht könnte ich mich daran gewöhnen. Ich gewöhne mich an die Marmorschritte des Esels der Freiheit. Vielleicht alles nur eine Frage der Gewöhnung. (Pause) Wir hatten alle einen Leichnam. Wir alle haben einen Leichnam geliebt. Einer wird sich finden, der Britanniens Leichnam liebt. Einer liebt doch immer.
* Die Shakespeare-Zitate wurden von Miriam Denger ins Deutsche übertragen.
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Carlos Celdrán
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ZEHN MILLIONEN
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Aus dem kubanischen Spanisch von Mehdi Moradpour und Carola Heinrich
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Dramatis personae Er Mutter Vater Autor
Stühle. Ein Tisch. Auf dem Tisch Gegenstände: Gläser, Handys, der Karton einer Familienpizza. Eine Cola, eine Flasche Wasser, Bücher, Fotos. Vielleicht sogar die Textbücher des folgenden Stücks. Es ist keine Probe, könnte aber durchaus eine sein. Die vier Schauspieler. Sie sind auch die Figuren. In diesem Zimmer, in diesem Setting. Eine karge, leere Bühne. Sie kleiden sich wie Schauspieler, wie Menschen, wie Figuren. Sie essen, trinken, hören zu, laufen herum, warten. Sprechen zum Publikum oder miteinander. In die Kamera? Ihre Handlungen ermöglichen es ihnen, da zu sein, vor aller Augen.
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Erster Augenblick
Prolog
Autor Ich bin nicht der Autor. Ich schreibe diesen Text nicht. Ich sage es in seinem Namen. Im Namen des Autors. Dessen, der die Worte schreibt, die ich jetzt sage, diese. Ich sage: Ich bin der Autor. Während ich als Stipendiat in New York Theater studiere, schreibe ich. Es ist das Jahr 2001. Und es ist Sommer. Ein Dozent fragt während einer Probe: „Wer ist sie für dich? Wer ist die Mutter für dich in dieser Szene?“ Ich weiß es nicht. Und ich weiß es. Ich schreibe, um es zu erfahren. In der Szene gibt es auch einen abwesenden Vater, gestrichen, entfernt. Also schreibe ich, beantworte die Frage. Ich schreibe: Traum. Es beginnt mit einem Traum. Der bis heute wiederkehrt.
Traum
Er Das Haus. Vom Gehsteig aus flackert das kalte Licht am Eingang, der dunkle Garten, still, leer, nur Erde und Gestrüpp, die geschlossene Tür, die Zeit, irgendeine Zeit, Nacht, es ist Nacht. Kälte, Stille. Die Stille des Morgengrauens, des Dorfes. Die Feuchtigkeit. In der Hand den Koffer mit den Kleidern für den vereinbarten Monat. Am Eingang, allein, im kalten Licht. Warte ich. Ich werde ungeduldig, klopfe an die Tür, draußen, fester. Rufe. Angst, dort zu sein, allein, dass sie nicht aufmachen, dass er nicht aufmacht. Nicht da ist. Mein Vater. Es ist das Haus meines Vaters. Im Dorf. Endlich höre ich, wie er die Riegel zurückschiebt. Er macht auf. Ich bin es. Dort. An der Tür. Größer, dünner. 13 Jahre alt, vielleicht zehn, acht. Ich weiß nicht. Ich. Den Koffer in der Hand. Die Kälte in den Knochen. 71
Die des Morgengrauens. Die des Dorfes. Schlaftrunken lächelt er mich an, streicht mir über den Kopf, bringt mich ins dunkle Wohnzimmer. Vater „Was ist passiert? Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Den ganzen Tag habe ich auf dich gewartet.“ Er Ich spreche von meiner Mutter, rechtfertige sie: „Sie konnte mich nicht früher gehen lassen wegen ihrer Arbeit.“ Ich lüge, aber ihm ist es gleich, er weiß, wie sie ist, er kennt sie gut. Vater „Alles gut, alles gut.“ Er Er küsst mich. Vater „Es spielt keine Rolle. Jetzt bist du ja da. Hast du gegessen?“ Er Ich nicke. Vater „Komm, das Bett wartet.“ Er Wir gehen durch die Dunkelheit Richtung Zimmer. Während ich neben ihm hergehe, weiß ich, dass mein Vater nicht dort wohnt. Er ist gegangen. Vor … Jahrzehnten? Das ist nicht das Haus. Sein Haus. Ich weiß das und gehe trotzdem mit, ziehe mich aus, suche im Dunkeln das Kopfkissen neben ihm im Bett und höre, wie er mir leise zuflüstert: „Gute Nacht.“ In der Dunkelheit liege ich wach, ruhig: Das ist nicht das Haus, hier wohnen andere; beim Reinkommen sehe ich anstelle des Zauns eine Mauer, der Garten, zubetoniert, ist nun eine Garage, der rote Flammenbaum auf dem Gehweg nur noch ein Stumpf, ich sehe die Zeichen, aber trotzdem liege ich da neben ihm, täusche vor zu schlafen, unter dem Moskitonetz, verängstigt, ohne sagen zu können, was ich weiß, was ich sehe, die Zeichen, die Veränderungen. Beim Einschlafen denke ich daran, was passiert, wenn ich aufwache.
Reise zu mir
Vater Es ist der vereinbarte Monat bei mir. Im Haus. Im Dorf. Ein Monat im Sommer, in den Sommerferien. Nur ein Monat. So ist es vereinbart. Keinen Tag mehr. Er wartet das ganze Jahr auf diesen Moment, endlich ankommen und tun, was er dort tut, was er nur dort tun kann. Im Haus. Während des Sommers. Einmal im Jahr. Im vereinbarten Monat des 72
Jahres. An keinem anderen Ort. Vor der Abfahrt der Widerstand der Mutter, die sich dagegen sträubt, ihn gehen zu lassen, die Gereiztheit, mit der sie dem Fahrer Befehle erteilt, verärgert, streng: „Du bringst ihn zum Haus seines Vaters und kommst schnell zurück nach Havanna, ich habe es eilig.“ Immer in Eile, immer Arbeit ohne Ende. Besprechungen, Krisen, Probleme. Die Zuckerernte und die zehn Millionen Tonnen Zucker, die uns retten werden. Ihre Aufgabe, ihre persönliche Mission. Wenn Auto und Fahrer nicht zur Verfügung stehen, fällt dieser Umstand auf ihn zurück (warum muss er ausgerechnet heute zu diesem Haus, in dieses Dorf, zu diesem Mann, an diesem Tag voller dringender Notfälle), ein Umstand, der die vereinbarte Reise zu einem Ärgernis macht, einer Zumutung, einer Rücksichtslosigkeit: „wie rücksichtslos“, schreit sie und hört nicht auf, Befehle zu erteilen. Seit heute Morgen ist er fertig, den Koffer in der Hand, und wartet auf die Abfahrt. Er tut so, als wolle er nicht fahren, als würde es ihn nicht interessieren, das ist seine Strategie, aber sie weiß, dass er die Ferien in diesem Haus liebt, in meinem Haus, dem Haus des Vaters, sie weiß es und die Lüge macht die Dinge am Ende noch schlimmer.
Therapie
Mutter „Streit es nicht ab.“ Er Ich bestreite und bestreite, aber sie glaubt es nicht. Glaubt mir nicht. Drängt, macht Druck. Droht. „Vor mir reden sie nicht, ich schwöre. Nie. Über Politik, niemals.“ Mutter „Lüg mich nicht an! Schau mich an! Es ist gefährlich. Du weißt nicht, was sie dir damit antun. Deiner Zukunft. Du hast keine Ahnung, in welche Gefahr du dich bringst, jedes Mal, wenn du dorthin fährst! In dieses Haus! Ich denke nicht daran, damit du es weißt, ich denke nicht daran, dich gehen zu lassen, bevor du nicht die Wahrheit sagst. Was sie sagen. Alles, worüber sie vor dir reden. Denn ich weiß, dass sie reden.“ Er Dann rede ich. Damit ich gehen kann, damit sie mich gehen lässt, über den Spott, über die Kritik, über die Politik, über alles, worüber sie re73
den. Über alles, was ich höre. Was ich denke, dass sie reden. Ich rede, und übertreibe. Sie hört zu und nickt. Dann sehe ich, wie sie sich entspannt, während ich pausenlos rede, wie sich etwas in ihr löst. Wie sie sich zu mir setzt, mich anlächelt und anders anschaut. Wie sie anstatt zu schreien, „du wirst nicht mehr zu diesem Haus gehen“, mir mit einer ganz besonderen Aufrichtigkeit Ratschläge gibt, dass ich standhaft bleiben, fest an meine Prinzipien glauben soll. Ihnen die Stirn bieten soll, mit Mut, ohne Angst. Ich, ganz allein. Ohne sie, ohne Hilfe von irgendjemandem. Allein. Wie ein Mann. Dass ich verstehen muss, weil ich klug bin, dass der Feind drinnen sitzt, nicht draußen, im Kopf, im Herzen, in der Schwäche, in diesem gleichgültigen, anfälligen Charakter, „dem Charakter deines Vaters!“, sagt sie, der mich zum Versagen verdammt. Sie schaut mir in die Augen, ich in ihre. Für einen Augenblick, entsetzt. Versagen ist das Letzte, versagen ist alles. Versagen ist versagen. Ihnen gegenüber. Dem Bild gegenüber. Ihrem Bild gegenüber. Dem mächtigen Bild gegenüber, das über ihr schwebt, über mir, über der Welt. Ich neige immer dazu, zu versagen, ich weiß, ich weiß, dass sie weiß, dass ich das in mir sehe, den, der versagt, den, der ihr gegenüber versagen wird, allen, aber vor allem ihr gegenüber. Es ist gut, ihr Vertrauen zu gewinnen, dieser Moment mit ihr ist gut. Wie wir nebeneinander sitzen. Deshalb macht es mir wenig aus, ihr zu erzählen, was sie über meinen Vater hören will, über jeden, aber vor allem über meinen Vater, über ihn in mir, über mich als ihn, über die Gefahr, er zu sein und an ihrer Seite zu versagen, wie ein Fehler, ein Erbteil, ein Unheil. Nebeneinander sitzen und über ernste Dinge reden, über Verrat, über die Zukunft, und ich versage, versage, verrate und töte meinen Vater. Niemand kann mich aufhalten: Ich versage. Mutter „Streit es nicht ab.“ Er „Vor mir reden sie nicht, ich schwöre. Nie. Über Politik, niemals.“ Mutter „Lüg mich nicht an! Schau mich an! Es ist gefährlich. Du weißt nicht, was sie dir damit antun. Und deiner Zukunft. Du hast keine Ahnung, in welche Gefahr du dich bringst, jedes Mal, wenn du dorthin fährst! In dieses Haus! Ich denke nicht daran, damit du es weißt, ich denke nicht daran, dich gehen zu lassen, bevor du nicht die Wahrheit 74
sagst. Was sie sagen. Alles, worüber sie vor dir reden. Denn ich weiß, dass sie reden.“ Er Also rede ich. Und rede weiter, über alles, über Politik, über alles, worüber sie reden. Ich übertreibe, töte, lüge, um zu gehen. Mutter (zum Fahrer) „Bring ihn endlich hin zum Haus des Vaters und komm so schnell wie möglich wieder. Ich habe es eilig.“
Reise zu mir
Vater Der Abschied. Er schaut nicht zurück; mit einem Satz springt er auf das Trittbrett des Jeeps und flieht. Er stiehlt sich davon auf diese bedrohte, schuldhafte, rücksichtslose Reise. Eine Reise zum Haus des Vaters. Eine Reise zu mir. Das offene Feld, Zuckerrohrpflanzen auf beiden Seiten der Straße, Rauch am Horizont, Hitze, Platzregen, der auf die Plane des Jeeps hämmert, durch die Löcher dringt, durch die Ritzen und die Sitze durchnässt, die Kleidung, das Gesicht und die Scheiben beschlägt. Das Feld, getrübt durch die Scheiben, im Licht der Blitze, die trüben Dorfstraßen, mein trübseliges Haus im Regen, durchnässt stehe ich in der Tür. Er, der durchnässt auf mich zukommt. Jede Reise, ein Ärgernis, aber es lohnt sich, sage ich ihm, später. Eine verflixte Reise, gefährlich, aber sie lohnt sich, wiederhole ich, und er, er versteht, was ich sage, nickt zustimmend.
Begegnungen
Vater „Guten …“ Mutter „Was soll das?“ (zu ihm) „Wusstest du davon?“ Vater „Kann ich reinkommen?“ 75
Mutter (zum Vater) „Ich habe dich darum gebeten, nicht hierher zu kommen. In mein Haus. Das ist mein Haus. Bitte, wir können reden, wo auch immer du willst, aber nicht hier.“ Vater Wir ließen uns scheiden, bevor er es wirklich begreifen konnte. Wir beide, von Angesicht zu Angesicht, jetzt, im selben Zimmer, erscheinen ihm deshalb fremd, schmerzhaft. In jeder Begegnung, diese Verachtung, ihre Verachtung mir gegenüber, die ihm, das weiß ich, eine seltsame Scham bereitet, und Angst. Scham, dass sie mich seinetwegen ertragen und mit mir reden muss (jedes Mal, wenn wir uns sehen, wie jetzt, ist der Grund eine zweifelhafte Geschichte im Zusammenhang mit ihm), und Angst, weil er fürchtet, dass sie ihn dafür hasst, verachtet, was zweifellos so ist. „Ich ertrage es nicht, dass er herkommt, sag ihm das nächstes Mal“, sagt sie ihm zum Schluss, wenn ich gehe. „Entschuldige … ich … Kann ich reinkommen oder nicht?“ Mutter „Nenn mir Zeit und Ort und ich werde da sein, egal wo, aber bitte, ich wiederhole es, nicht hier. Nicht jetzt.“ Vater Ich kann gehen, weit weg von all dem, aber nein, ich bleibe, eingeschüchtert, unsicher, zerbrechlich, als würde ich mich dafür entschuldigen, vor ihr zu stehen unter der Last dieser Art von Scham, die auch ich in ihrer Gegenwart fühle, das schafft sie. Mutter (zu ihm) „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst sagen, er soll nicht kommen?“ (zum Vater) „Er hat es dir gesagt, oder? Was daran hast du nicht verstanden?“ Vater Ja, da sind immer eine Menge Schamgefühle im Spiel bei diesen Begegnungen, jede Menge unterdrückte Verachtung in ihr, die er nicht verstehen kann. Ich schaue ihn nicht an, vermeide es, doch ich weiß, er ist auf meiner Seite, an meiner Seite, das tut mir leid!, er ist traurig, mich so schutzlos zu sehen, ihrer kalten Wut gegenüber, ihren überheblichen Blicken, ihrer Ungeduld. Sie ist immer ungeduldig, kann es kaum erwarten, das Treffen zu beenden, das Gespräch, die Angelegenheit abzuschließen, die ihr die Zeit für wichtigere Dinge raubt; sie ist eine vielbeschäftigte, wichtige Frau mit einem richtigen Leben und einer richtigen Arbeit, „etwas, das dein Vater niemals haben wird“, schreit sie später, und lässt es mich bei diesen Begegnungen mit aller Kraft spüren. Sie setzt sich nie hin und bietet es auch mir nie an, sie empfängt mich im Stehen an der Tür, trifft mit kurzen Sätzen den Kern des Problems (sein zweifelhaftes Verhalten), scharfe, präzise, einsilbi76
ge Sätze und Einwürfe, die alles schnell zu Ende bringen, als würde sie mit einem Untergebenen reden, sie ist eine Spezialistin im Umgang mit Untergebenen, mit Leuten von niederem Rang, die unter ihrem Kommando stehen und sie unnötigerweise mit Nebensächlichkeiten belästigen. In solchen Fällen ist sie unerbittlich und hat keine Skrupel, sie schnell und erfolgreich auf ihren Platz zu verweisen („sag schon, einverstanden, was willst du, was brauchst du, wirklich, ich wiederhole, ich hab keine Zeit“), sie ist eine Frau, die befehlen kann und keine Rücksicht auf Zimperlichkeiten nimmt. Gerade als sie ihre Lieblingsstrategie richtig ausspielt, scheine ich es hingegen nicht eilig zu haben. Die Anspannung, der Stolz oder die Tatsache, dass ich die, die sie geworden ist, nicht mehr erkenne, bringen mich dazu, um ein bedachteres, kultivierteres Gespräch zu bitten („aber setzen wir uns doch, lass uns in Ruhe reden, hör mir zu, versteh doch, was ich dir sage“). Ich verhalte mich kultiviert, vernünftig und ich bitte und bitte darum, dass wir uns hinsetzen, uns wie Freunde unterhalten, wie zivilisierte Menschen, was die Situation mit jeder Sekunde unerträglicher und lächerlicher macht, für ihn, der weiß, was als nächstes kommt, der außerdem weiß, dass ich weiß, dass er da ist und diese Demütigung beobachtet, die ich hartnäckig abzuwenden, zu verbergen, zu überwinden suche. Ein normales, vernünftiges, kultiviertes Verhalten mir gegenüber ist für sie schlicht unmöglich, so dass sie mich schließlich rauswirft, ohne mich anzusehen oder ihre Stimme zu erheben oder sich auch nur im geringsten aufzuregen, als würde sie einen Chauffeur oder einen Bediensteten wegschicken. Mutter „Geh, bitte, ich habe zu tun.“ Vater Ich lasse ihn zurück. Mit ihr. Mit der Verachtung. Mutter (zu ihm) „Worüber haben wir gesprochen? Was habe ich dazu gesagt, dass er herkommt? Wie oft soll ich das noch wiederholen? Sag du es mir.“ Vater Das ist weder Hass noch Verbitterung wegen unserer Vergangenheit. Nein. Ihm ist klar, dass es das nicht ist. Ihm ist klar, das weiß ich, dass sie mir nichts nachträgt, wie so oft nach einer Scheidung jenseits der Grenzen der Liebe. Die klassische Hassliebe der Eltern. Nein. Es ist etwas anderes. Er weiß es. Ich weiß, dass er es weiß. Es ist reine, einfache Abneigung, eine tiefe, kalte, versteinerte Abneigung, ohne Leidenschaft. Die gleiche Abneigung, die ihn trifft, wenn er sich an ihrer 77
Seite weiterhin die Vorwürfe anhören muss, dass sie meine Besuche ertragen muss, meine Nähe. „Ich will ihn nicht hier haben, nie wieder“, schreit sie ihn an. Eine lähmende, kalte Angst. Er hat Angst vor ihr, große Angst vor dieser Kälte, vor der Ablehnung mir gegenüber, die sie auch auf ihn überträgt, auf ihn, der das Unerwünschte, das Unerträgliche herbeiführt: die Begegnung. Durch sein zweifelhaftes Verhalten. Er hat Angst vor dieser Kälte, die weder Hass noch Geschrei oder Beleidigungen oder Schläge oder Eifersucht oder Verbitterung oder Beschwerden oder Erpressung oder hysterische Szenen kennt, aber etwas anderes, das große Angst bereitet und große Scham. (zu ihm) „Beruhige dich, alles gut, mir geht es gut. Ich gehe ja schon, es wird spät, wir sehen uns in den Ferien, okay? Ruf mich an. Küsschen.“ Ich laufe davon. Vor alldem hier. Vor der Kälte. Auch vor mir selbst, vor ihm. Vor uns beiden. Ich bin dieser Sache nicht gewachsen. Lasse sie hinter mir und rette mich.
Therapie
Er „Kämpf!“ Meine Fäuste stecken fest in den Boxhandschuhen. Ich höre das Kommando zum zweiten Mal, jetzt lauter, „kämpf!“ Der andere Junge wartet auf meinen Angriff, in einer defensiven Haltung mit erhobenen Händen, die von riesigen Handschuhen ähnlich wie meinen umhüllt sind. Ich bin der Neue. Er ist schon lange hier und fühlt sich überlegen. Hat früher schon gekämpft. Muss sich nicht beweisen. Ich schon. Ich muss den Box-Test bestehen, damit mich die Ärzte für tauglich befinden. Die Box-Farce. Obwohl er mich angeberisch anlächelt und vor mir herumtänzelt, hat er panische Angst, dass ich ihn schlage. Ich sehe, dass er mich nicht aus den Augen lässt und weiß, was er durchmacht, was er fühlt. Es ist dasselbe, was ich fühle. Angst. Scham. Hemmungen. Aber er versteckt es besser als ich. Er hat gelernt zu spielen. Er tanzt und bewegt sich wie ein Boxer, lächelt spöttisch. Er biedert sich an. An meinem Zögern erkennt er sofort, dass ich ihm nicht 78
gefährlich werden kann, dass ich mich schäme, zu tun, was er tut, also macht er sich das zunutze, sammelt Punkte, schreit mir etwas zu, gibt an, plustert sich auf, schneidet mir Grimassen. „Kämpf, nimm Haltung an“, schreit der Arzt, verärgert, erbost, schubst mich von hinten, ich pralle auf den anderen, er stößt mich gewaltsam weg und lacht über seinen Sieg. Er ist schwach, dünn, hässlich, ich merke, er wittert seine Chance. Er nutzt sie. Ich schäme mich, zu sein wie er, den anderen etwas vorzuspielen, mich so sehr zu erniedrigen. Ich gebe nicht auf. Ich hasse es, hier zu sein. Alle hassen es, hier zu sein, aber sie spielen mit für einen Preis, für Anerkennung. Ich kann das nicht. Ich weine lieber. Weine. Das ist die Chance zuzuschlagen, er schlägt mir ins Gesicht. „Verteidige dich“, befehlen sie mir, „sei kein Feigling!“ Ich tu’s nicht. Ich merke, wie der andere trotz seiner Schwäche tobt und die Zuschauer ihm applaudieren, sie hören auf, sich lustig zu machen, lassen sich soweit täuschen, dass sie ihn feiern. Sie stehen von ihren Plätzen auf und tragen ihn auf den Schultern durch die Halle, er spielt weiter mit, lacht und ist zum Lachen, seine Lüge ist traurig, seine Gemeinheit, sein Triumph vor den Ärzten. Ich bleibe in der Mitte des Raumes zurück, zerstört. Ihnen reicht, dass wir das Spiel spielen, ihnen reicht die Show, von der sie später den Eltern erzählen, draußen. Im Wartezimmer. Ich kann nicht mitspielen. Es ist lächerlich. Sie stellen uns Aufgaben, Boxen, Spielzeugautos auseinander- und zusammenbauen, sich mit Kopfkissen schlagen, Ringen, in der Halle Fangen spielen, während sie uns hinter ihren Tischen beobachten. Das ist die Therapie. Alle anderen scheinen dort froh zu sein, ich nicht, ich weiß, was sie vorhaben, wonach sie suchen, was sie mit uns machen. Ich bin wie gelähmt. Das Wissen legt mich lahm, nimmt mir die Vorteile. Niemand ist hier glücklich, eine Lüge! Immer Lügen, sie ahmen nach und spielen vor, damit man sie in Ruhe lässt. Damit die Eltern, draußen, zufrieden sind, Hoffnung schöpfen aus den Berichten der Ärzte. Ich weiß das und das schadet mir. Am Anfang ist es nur ein Geflüster zu Hause, eine wachsende Bedrohung um mich herum, sie schauen mich an und flüstern, diskutieren hinter verschlossenen Türen, was sie mit mir machen sollen. Ich höre sie. Ich höre immer alles. Was los ist. Was sie in mir sehen. Sie fangen an, mich zu überwachen, stellen mir seltsame Fragen. Ich kenne die Antworten von Anfang an und sage nichts, ich führe sie in die Irre. Sie 79
weisen mich auch zurecht: „runter mit den Händen, red nicht so, fuchtel nicht rum, spiel nicht damit, geh raus.“ Es kümmert mich nicht. Ich hasse es, diese Befehle zu befolgen, mache weiter, tue nichts, ändere nichts. Bleibe in mich gekehrt. Gegen sie. Als man beschließt, man müsse mich behandeln, lehnt mein Vater es ab, meine Mutter besteht darauf, aber er lehnt es ab, bei vielen ihrer Treffen geht es also sicher darum, zu entscheiden, was mit mir passieren soll. Mein Vater möchte, dass ich eine Weile bei ihm auf dem Land wohne, in seinem Haus auf dem Land, es ist eine Lösung, ein richtiger Vater, ein Vorbild für ein Kind mit Problemen, ich habe Probleme, aber meine Mutter lehnt es rundweg ab und mein Vater muss akzeptieren, dass ich in Behandlung komme. „Nimm ein Stück Kreide, geh vor und zeichne einen Mann und eine Frau an die Tafel.“ Alle sind aufmerksam, neugierig, voller Erwartung, was ich tun werde. Ich weiß, wonach sie suchen. Was sie in meiner Zeichnung sehen wollen. Ich weiß immer alles. Das ist das Schlimmste, meine Klugheit. Sie haben sie von Anfang an gespürt und gehasst, ein weiteres Hindernis. Klug sein. Ich gehe und zeichne einen Mann und eine Frau, zwei Stöcke und einen Kopf. Keine Hüften, keine Schultern, keine Brüste. „Ist das ein Mann und das eine Frau? Bist du sicher?“ „Ich kann nicht zeichnen“, sage ich ihnen. Sie fragen nach einem Freiwilligen, ein anderer geht an die Tafel und zeichnet einen Mann und eine Frau, er weiß schon, wie er es machen muss, damit sie nichts Seltsames in der Zeichnung erkennen, er ist schon lange da, sie haben ihn schon, er gehört zu ihnen, blass, mit einem Mädchengesicht, er hasst mich, dort sind alle so, sie hassen, sie verabscheuen es, Freunde zu sein, sie sind mit ihnen befreundet, den Ärzten, und die benutzen sie für ihre Zwecke, damit sie ihnen etwas zu essen kaufen, sie unterhalten, indem sie den Neuen verprügeln, irgendjemanden. Sie geben sich dafür her, unterwürfig streiten sie sich in der Halle vor den Ärzten, sie kratzen, beißen sich, wälzen sich auf dem Boden unter den Schreien der anderen, die darauf wetten, wer gewinnt, sie versuchen, irgendwie durch den Vormittag zu kommen, zu gewinnen, irgendwie; ich nicht, ich bleibe teilnahmslos, passiv, niemand mag mich, die Ärzte sind jung, nur wenig älter als wir, sie sind gelangweilt, schlagen die Zeit mit uns tot, den Vormittag, den Nachmittag. Die Eltern warten voller Vertrauen auf die Tagesberichte, auf die täglichen Fortschritte ihrer Kinder drau80
ßen, auf den Erfolg der Therapie. Beim Mittagessen reden die Ärzte vor uns über Frauen, sie erzählen uns, was sie mit den Frauen machen, die anderen lachen, als würde es sie interessieren, als würden sie etwas von diesen Dingen verstehen, wer mehr weiß, gewinnt, wer etwas über diese Dinge erzählt, gewinnt. Die Ärzte erzählen, wie sie sich einen runterholen, sie fassen sich an und zeigen uns, was das ist, wie es geht, wir hätten alle noch keine Ahnung, sagen sie, aber wir müssten Ahnung haben, sie sind Männer, wir sind Männer, Männersachen, es ist nicht besonders männlich, den Eltern von diesen Dingen zu erzählen, niemand erzählt, was hier passiert, du lernst das, auf ihrer Seite zu sein, zu tun, was sie sagen. „Siehst du? Das sind ein Mann und eine Frau. Versuch es noch mal. Du hörst mir nicht zu, nimm die Kreide“, ich nehme sie, „zeichne! Bist du dumm, oder was?“ Sie wollen Hüften, Taillen, Schultern, Brüste. Die kann ich ihnen nicht geben. Das kann gefährlich sein. Wenn ich gut zeichne, erfahren sie etwas über mich. Sie reden unter vier Augen mit meiner Mutter im Wartezimmer, ich sehe, wie sie sich beschweren. Wie sie über mich reden, dass ich eine Katastrophe bin, aussichtslos, sie mögen mich nicht, bei mir funktioniert es nicht, ich reagiere nicht. Werde nicht besser. Vielmehr schlechter. Sie schaut mich wütend an, von Weitem, enttäuscht. Sie sind verärgert. Sie haben schnell verstanden, dass meine Weigerung anders geartet ist. Ich bin nicht korrigierbar. Gefährlich. Ich sollte nicht dort sein, ich schade dem Rest. Stehe ihnen im Weg. Ich weiß etwas, das die anderen nicht wissen, nicht wissen sollen. In diesem Alter. Meinem Alter. Das sagen sie nicht, aber ich weiß, dass sie es denken, dass sie es spüren. Ich wirke älter. Ich gehe nicht mehr hin. Sie werfen mich raus, hoffnungslos. Nicht korrigierbar. Sie geben auf, bringen mich nicht mehr dorthin, zu den Ärzten.
Familienalbum 1
Mutter (schaut sich die Fotos an) Es tut mir leid, aber daran habe ich keine Erinnerung. An die Beziehung mit ihm. Wie wir zusammen waren. Zusammen funktioniert haben. Befremdliche Fotos. Von Unbe81
kannten. Von den beiden, die ich hier sehe. Fotos von ihnen. Nicht von uns. Von zwei Unbekannten, die wir nicht mehr sind. Ich spreche von damals, als wir uns kennenlernten, ein typisches Provinzkaff-Pärchen, oder von den Flitterwochen, von denen alle Mädchen träumten, die damals wie ich als Jungfrau in die Ehe gingen. „Etwas hat von der ersten Nacht an nicht funktioniert. Vom ersten Mal an“, sagten sie. Für die beiden hat es nicht funktioniert, diese zwei, die während der Schwangerschaft zusammenblieben, bis der Hass kam, die Abscheu. Und dieses Album in Vergessenheit geriet. Ich sehe sie jetzt. Auf diesem Foto. Wie sie sich umarmen, am Meer, sein Arm um ihre Hüften, um ihr Blümchenkleid mit Ausschnitt, an der Taille enganliegend und an den Knien schmal geschnitten, typisch für die Fünfziger. Ihr Kurzes, braunes Haar, vom Wind zerzaust, der wiederum sein dunkles Baumwollhemd wie einen Luftballon aufbläht und einen Teil seiner nackten Brust hervorblitzen lässt. Das Meer im Hintergrund, schwarz und gekräuselt. Das Meer der alten Fotos, schwarz und weiß. Die Gesichter glatt, jugendlich, lachend, zart, junge Unbekannte. Die beiden. Sie lächelt in die Kamera, scheinbar glücklich, mit einem Lächeln, das schon ahnen lässt, was, wie ich weiß, später kommen wird. Eine Art Unbehagen, ein Schwindel, ich sehe es auch auf den Hochzeitsfotos, ein aufgesetztes, künstliches Lächeln, es verbirgt etwas, ich kann es nicht beschreiben, das aber bewirkt, das weiß ich, dass sie sich nicht wohl fühlt, gefangen in ihrem Brautkleid. Sie winkt aus dem Auto, umringt von den Gästen, der Familie. Dieses Gefühl, wenn ich mir die Fotos von einer Hochzeit ansehe, die ich nicht wiedererkenne, die fehlende Spontanität dieser Momentaufnahmen, die Dinge laufen nicht so, wie sie es gerne hätte, aber sie muss trotzdem so tun, als ob. Neben ihr steht er, glücklich, wirklich glücklich, ich sehe es, auf allen Bildern lacht er, weiß nicht, was mit ihr los ist. Ihr zum Trotz. Ihrem tiefsten Inneren. Ich verstehe nicht, was dort passiert ist. Ich weiß es, aber ich verstehe es nicht mehr. Wie sind sie dorthin gekommen? Wie ist es so weit gekommen? Vielleicht das Dorf, der Druck, das Alter. Der Brauch. Ein Fehler. Alles an ihnen ist ein Fehler. Dennoch: Das schwarze, gekräuselte Meer, ihr braunes, kurzes Haar, vom Wind zerzaust, seine entblößte, zarte Brust, sie hätten mehr verdient. Ein anderes Schicksal. Eine glückliche Nacht, eine ganze, die sie nie hatten. Aus Dummheit? Ich erinnere mich nicht. Die Fotos verdienen 82
es nicht, aufgehoben zu werden, niemand will sie, niemand hatte sie, niemand schätzt sie. Niemand begreift sie als seine. Das sind nicht wir. Wir sind niemand. Sie sind es! Zwei junge Menschen. Fremde an einem Strand, auf einer Hochzeit, vor langer Zeit. Erinnerungen von niemandem, an nichts. Nichts davon ist passiert, war real. Es ist nicht mal Vergangenheit. Nicht mal Erinnerung, weil sich niemand daran erinnert. Damit es Vergangenheit ist, muss sich jemand erinnern. Der Strand, der Wind, das Hemd. Sind nichts. Misslungene Fotos von zweien, die wir nicht waren.
Therapie
Er „Schick ihn auf eine andere Schule, weit weg vom Viertel, aufs Internat, wo seine Großmutter ihn nicht besuchen und niemand ihn verhätscheln kann“, raten sie ihr. Ich bin in der zweiten Klasse. Mitten im Schuljahr. Eines Tages gehe ich nicht mehr zum Unterricht, sie wartet nicht mal das Ende des Schuljahres ab, nimmt mich mittendrin von der Schule und schickt mich ins Internat. Es ist ein Internat außerhalb der Stadt, ich bin dort von Montag bis Freitag, ein Ort mit lauter anderen Kindern, die ich nicht kenne, Fremde jeden Alters, woher kommen sie? Eine Schule am Meer. Sie reden vom Strand, von dem wunderbaren Internat mit Strand, die Kinder munkeln, dass sie uns, wenn alles gut läuft, eines Tages runter zum Strand bringen. Die Schule liegt hoch oben in den Hügeln, man kann den Strand dort unten hören, aber sehen können wir ihn nicht, nur hören und fühlen, das Salz, das Rauschen der Wellen, die Meeresbrise, ein Ort am Meer. Wir wohnen in enteigneten Bürgervillen, in schönen, großen Häusern, die heute keine Fenster und Türen mehr haben, verwahrlost und voller Stockbetten, in denen die Kinder schlafen. Ich schlafe in einem Stockbett, durch die Fensteröffnung in meinem Zimmer sieht man einen Pinienwald und hört das Meer rauschen, früh morgens ist es kalt, die größeren Jungs reden die ganze Nacht, pausenlos, sie sitzen auf den Betten, rauchen und reden, ich höre ihnen zu, verstehe nicht ganz, was sie sagen. Morgens marschieren wir in Kolonnen 83
in den Speisesaal, später ins Klassenzimmer, alles in militärischen Kolonnen, ein Anführer gibt singend den Takt vor, in dem wir durch die Straßen des Viertels, das die Schule ist, marschieren, immer marschieren wir, das Einzige, was funktioniert, das Einzige, was organisiert ist. Wir waschen uns im Hof, hinter dem Haus, alle zusammen, im Freien. Es gibt nur ein einziges Bad im Haus, mit einem kalten Wasserstrahl statt einer Dusche, du machst dich unter dem Strahl nass und musst schnell raus, im Laufschritt, auf die Wiese im Hof, zum Trocknen, während der Nächste ins Bad geht. Es gibt weder Seife noch Handtücher, nur Wasser, kalt, hart, mit Druck. Du trocknest an der Luft, trocknest dich mit deiner Kleidung ab, ein Lehrer steht in der Tür, überwacht alles, gibt Befehle, „mach schon, schnell, jetzt du, beeil dich, was zum Teufel machst du da, raus jetzt“. Einige kennt er, ruft sie beim Namen, bei anderen wie mir hat er keine Ahnung, wer wir sind, es ist ihm egal, nicht sein Job. Er kennt meinen Namen nicht, niemand dort kennt meinen Namen, nicht einmal die anderen Jungs, ich kenne auch keinen Namen, von niemandem, bin allein, in der Kolonne, im Klassenzimmer, im Speisesaal, niemand weist mich einer Klasse zu oder stellt mich einem Lehrer vor oder erklärt mir, was ich tun oder wann ich wohin gehen soll. Ich setze mich in die erstbeste Klasse in einem der Häuser, die als Klassenzimmer dienen, jeden Tag setze ich mich in die letzte Bank und höre dem Lehrer zu, ohne etwas zu verstehen. Ihn interessiert nicht, was ich dort mache oder wer ich bin, ein Neuer wahrscheinlich, noch so einer, wer weiß. Ich höre zu und verstehe nichts von dem, was da vor sich geht, manche Kinder wissen mehr und antworten dem Lehrer, ich verstehe nur Bahnhof, es geht nur darum, den Vormittag irgendwie zu überstehen, nicht entdeckt und vor den anderen blamiert zu werden. Am nächsten Tag schleiche ich mich in eine andere Gruppe, in ein anderes Klassenzimmer, mit einem anderen Lehrer und anderen Kindern. Eines Morgens entdeckt mich ein Mädchen neben sich in der Bank und sagt mir sehr überzeugt, dass das nicht meine Gruppe ist, ich frage, woher sie das weiß, und sie sagt, dass ich zu einer anderen Gruppe gehöre, keine Ahnung, zu welcher. Ich mach mich aus dem Staub, als sie damit droht, mich beim Lehrer zu melden. Ich schäme mich dafür, nicht zu wissen, zu welcher Gruppe ich gehöre, es ist mir peinlich, zu fragen, ich tue so, als wäre ich da, versuche nicht aufzufallen, ich werde schon noch verstehen, mich schon noch einleben, wie die an84
deren auch. Ich habe kein Heft, mache keine Notizen, habe nichts, nur die Kleidung, die ich trage, ich kann mich nicht erinnern, ob es eine Uniform oder meine eigene Kleidung ist, ich trage sie immer, jeden Tag, jede Woche, die ich dort bin. Eines Tages komme ich nicht mehr zurück, meine Mutter beschließt, mich von der Schule zu nehmen. Warum? Ich weiß es nicht. Sie sprechen von Korruption, von Lehrern mit Schülerinnen, von nächtlichen Partys im Büro der Schulleitung, von Skandalen, von Anzeigen. Ich weiß es nicht und weiß es doch. Ich weiß es immer. Ich weiß, was sie vermeiden will, was sie fürchtet. Sie nimmt mich von der Schule und bringt mich in eine andere. Ein neuer Versuch, ein neuer Anfang. Die Therapie: Schwierigkeiten, Hunger, Einsamkeit, Entfernung überstehen. Ohne Wenn und Aber. Ich kenne die Worte, die sich um mich herum wiederholen. Ich kenne sie und lasse sie nicht zu. Außen vor bleiben, alles hassen, abwarten. Ihr nichts recht machen. Es widert mich an, mitzuspielen, ihr Spiel. Ich habe die zweite Klasse noch nicht abgeschlossen. Es ist noch dasselbe Jahr, ein Leben, eine Ewigkeit. Sie hat ihre Gründe, ich kenne sie, aber ich spiele nicht mit. Sie bringt mich von einem Ort zum nächsten, bei ihr, aber weit weg von ihr, sie lässt mich an diesen Orten zurück, unter Aufsicht, mit der Anweisung, die ich manchmal höre: „er soll was tun, kämpfen, sein wie die anderen.“ Immer der Neue sein, der aus der Stadt, der Seltsame unter Seltsamen, diesmal unter Bauernkindern, mit groben, gewalttätigen Lehrern. Mit hinterhältigen Schulleitern, die mich überwachen, um mich später bei ihr zu verpfeifen und Pluspunkte zu sammeln. Weit weg von Zuhause. Unter Fremden. Dieses Mal liegt die Schule in der Nähe der zentralen Zuckerfabrik im Süden der Provinz, die sie leitet (die siebziger Jahre, die Zehn-Millionen-Tonnen-Zuckerernte). Sie kommt voran, steigt auf. Gewinnt an Bedeutung. Ich schließe dort das Schuljahr mit guten Noten ab. Trotz der Veränderungen, Umzüge, Umstellungen. Klug sein, sich nicht unterkriegen lassen. Ich weiß, das ist mein Weg. Ich lebe im Haus einer Bauernfamilie mit vielen Töchtern, die mich freundlich aufnehmen und gut behandeln. Ich schlafe im halbfertigen Hinterzimmer, auf einem Eisenbett mit Matratze. Ich frühstücke mit ihnen in der Küche aus Holz, dann gehe ich allein in die Dorfschule, ich finde mich im Dorf sofort zurecht, in den Straßen, spiele mit den Kindern 85
aus der Nachbarschaft, wenn ich aus der Schule komme, einer von ihnen. Manchmal fährt sie in ihrem Jeep mit voller Geschwindigkeit mitten durchs Dorf, und die Leute rufen ihr im Vorbeifahren zu: „die Chefin, da fährt die Chefin“, so nennen sie sie, wie sie in ihrem Jeep thront, schön, dominant, geheimnisvoll, eine Heldin, die Herrscherin über alles. Bald nennen sie mich nur noch „der Sohn der Chefin“. Ich sehe sie bis Samstag nicht, dann holt sie mich ab und bringt mich nach Hause, in mein Zimmer. In ein Zimmer. In der Stadt.
Politik
Mutter Politik für mich? Für meine Generation? Das ist schnell gesagt: Es war eine Leidenschaft. Eine Entdeckung, etwas Erschütterndes. Jetzt nicht mehr, zum Glück. Nicht jetzt. Ihm brachte sie Unglück, das Ende, die Katastrophe. Sie brachte alles durcheinander. Alles, was vorher da war. Die Träume. Das Leben, wie es war. Dennoch: Mir öffnete sie die Augen, ließ mich gegen das Schicksal rebellieren, die Frau zu sein, von der er und seine ganze Familie träumten, gegen das Schicksal, dem ich mich wie jedes Mädchen in diesem Dorf zu fügen hatte; bis zum Sieg, dem Sieg der Revolution. Alle Leidenschaft, zu der ich fähig war, brach in diesem Augenblick hervor, eine ansteckende Euphorie, die sich rasend ausbreitete, doch er konnte sie nicht nachempfinden, verstand sie nicht, hielt weiter an den Interessen seiner kleinbürgerlichen, gutsituierten, mittelmäßigen Familie fest. So einfach, so traurig. Es war ein Erwachen, das den Traum auslöschte, zu einer lieben, verheirateten Frau und gehorsamen Mutter des ersten gemeinsamen Sohnes zu werden. Die Revolution machte diese Träume, nach denen ich mich so sehr gesehnt, für die ich ihn geheiratet hatte, im Bruchteil einer Sekunde lächerlich. Er wurde zu einem Nichts, einem mittelmäßigen kleinen Mann, der im Familienleben das Glück suchte. Auf einen Schlag war er nicht mehr die gute Partie, um die mich meine Freundinnen beneideten, ein Junge aus gutem Haus, gut aussehend, jung, gebildet, mit Zukunftsaussichten. Die Revolution ließ uns die große Freiheit erleben. Ich gab mich ihr hin, 86
der Politik, mit einer stürmischen Begeisterung, die all meine Leidenschaft für ihn abkühlte, alles Leben mit ihm, der trotz allem resigniert, hilflos wartete, bis ich in der Morgendämmerung heimkam, spät, schmutzig, erschöpft von all den langen Arbeitstagen, die ich mir selbst mit fanatischer Freude aufhalste. Ich kann mir vorstellen, wie sehr er sich schämte, mich nicht unter Kontrolle zu haben. Mich zu Hause ersetzen zu müssen, und stillschweigend die Demütigung zu ertragen, die das für einen Mann in einem kleinen Dorf bedeutete, in dem man alles übereinander weiß. Er hoffte, ich würde wieder normal werden, der Wahnsinn würde vorbeigehen. Er rechnete damit. Er war verliebt, nicht nur in meine Schönheit, die bemerkenswert war, sondern auch in meinen starken, unzähmbaren, einfallsreichen und überraschenden Charakter. Den ich vielleicht nicht mehr habe. An diesem Punkt hat er das Spiel wirklich verloren, denn er kam nicht gegen diesen Drang an, weil er im Grunde genommen viel zu verblüfft und fasziniert war, um mich mit harter Hand aufzuhalten. Ich verabscheute seine fehlende Härte, seine Schwäche, „die Schwäche deines Vaters“, sagte ich dir und warf dir dieses gefährliche Erbe vor. Ja, ich lechzte nach einer harten Hand, lechzte nach Männlichkeit, nach Lebensmut, nicht, dass ihm das alles völlig fehlte, aber er war verzaubert, überrumpelt davon, wie viel Härte, Kraft und Mut ich in mir hatte. Ich übernahm immer einflussreichere und sichtbarere Führungspositionen in der Lokalpolitik. Wurde eine wichtige, zuverlässige, mächtige Persönlichkeit, die alle berauschte, sogar ihn. Eine mächtige Frau war damals etwas Unerhörtes, Unvorstellbares, und so umgab mich bald eine einnehmende Aura, eine Anziehungskraft, die ich verstand und klug zu meinen Gunsten nutzte, was mich mit einem Schlag nach oben katapultierte, in einer Geschwindigkeit, die alle ins Staunen versetzte. Eine mächtige Frau ist stärker als ein mächtiger Mann. Sie verzaubert in doppelter Hinsicht, sie verstört und verunsichert, erst recht, wenn sie im herkömmlichen Sinne schön ist, so wie ich damals. Nach nicht mal zwei Jahren ist er schon ein Mann aus einer anderen Zeit, ohne Zukunft, ein Relikt aus einer verschwundenen Welt, ein oberflächlicher Junge aus einer ausradierten und nutzlosen Mittelschicht, mit dem ich verheiratet war, eine Welt, aus der ich unter allen Umständen ausbrechen musste. 87
Therapie
Er Verbrannte Zuckerrohrfelder. Die Ernte. Sie möchte, dass ich dabei bin, wenn sie das Zuckerrohr niederbrennen. Eine andere Art von Therapie: Die Felder brennen stundenlang, in der Nacht, die Morgendämmerung hindurch bis zum Tagesanbruch, die Männer kämpfen gegen das Feuer, gegen die Zeit, im Gefecht, vereint, besessen. „Damit er lernt, damit er dabei ist, damit er weiß, wie das ist“, sagt sie. Feuer überall, Rauchsäulen, schwarz, bis zum Himmel, die Männer stehen auf den Trittbrettern der Lastwägen, die Kleider verschwitzt und verbrannt, die Gesichter schwarz und fleckig, sie schreien Befehle, „und was zur Hölle macht dieses Kind hier?“ Wir schlafen in den Lkw-Kabinen. Mit dem Feuer, dem Rauch um uns herum. Überwachen die Flammen. Hungrig, sehr hungrig, ein Brot, ein blechernes Tablett, Reis, Bohneneintopf, Zuckerwasser, immer hungrig, immer diese Männer mit schwarzen Gesichtern, Masken. Es sind Masken. Ich sehe keine echten Gesichter, keine gewaschenen, sauberen, ich sehe nicht, wie sie wirklich sind, diese Gesichter. Nie. Sie fahren zur nächsten Ernte. Sie verschwinden. Keine Zeit zum Ausruhen, wir wachen auf, in der Dämmerung, in den Kabinen, auf dem Feld, die Zehn-Millionen-Tonnen-Zuckerernte! So sieht also die Therapie aus. „Wer ist das? Der Sohn der Chefin“, flüstern sie leise, im Dunkeln, die Männer, die sich um mich türmen, schwarze Gesichter, Masken, „und was macht er hier? Hilft beim Abbrennen.“
Familienalbum 2
Mutter (schaut sich das Album an) Ja, das ist sie. Nehme ich an. Auf dem Foto, dem immer gleichen Foto. Immer steht sie am Rednerpult und spricht, mit erhobenem Zeigefinger, ihr Gesicht glüht, vor gefüllten Theatersälen, die ihr gebannt lauschen, sie fühlt sich, nehme ich 88
an, als Naturtalent bestätigt. Auf allen Fotos steht sie da, mit Stiefeln und einer Baskenmütze, umgeben von unbekannten Menschen, optimistisch, die Amazone einer neuen Ära, herausfordernd, unterhaltend. Es sind unterhaltsame Bilder. Auf denen sie sich bestens unterhält. Da bin ich sicher. Sie ist jung. Und zum ersten Mal frei. Das ist sie. Das war sie. Das wahre Sie. Auf dem Höhepunkt ihres Lebens. Glücklich. Sie in diesen Jahren. Die ich wirklich war. Die ich nicht mehr sein kann. Nicht mehr sein will. Ich denke die ganze Zeit daran, wie unterhaltsam das Spiel der Politik und der Revolution für sie war, für das alltägliche, dörfliche Leben, das sie geführt hatte (die auf den Bildern, nicht ich heute), und wie langweilig alles Vorherige ihr plötzlich vorgekommen sein muss. Die Unterhaltung, der Rausch, der Rhythmus, das Tempo der Ereignisse weckten etwas in ihr, nehme ich an, entfernten sie von allem, was vorher war, vom kurzen ersten Akt ihres Lebens. Sie hatte größere Dinge im Sinn, zukunftsweisende, unterhaltende, gerecht oder nicht, aber unterhaltend, mächtig schwindelerregend, berauschend. Für die Jugend ist ein intensives Leben die interessanteste aller Wahrheiten. Soziale Gerechtigkeit soll zuallererst intensiv, schnell, abwechslungsreich, energisch, aber niemals langweilig oder schleichend sein. Und sie ist jung auf diesen Bildern und kann sich von dieser anfänglichen Verbindung mit der Revolution nicht lösen, die sie am Erwachsenwerden hindert, auf gefährliche Art und Weise, bis sie sich, erst sehr viel später, plötzlich verändert und geht. Dann gehe ich. Dann ging ich. Nehme ich an.
Therapie
Er „Dort werden sie dir nichts stehlen“, sagt meine Großmutter, während sie den Koffer packt, Hemden, Unterhosen, saubere Socken für jeden Tag der Woche. „Das ist eine richtige Schule“, wiederholt sie dabei. Ich fühle, alles wird gut. Im Fernsehen sehe ich die sauberen, großen, hellen Unterkünfte, die Schüler in blauen Uniformen, die taillierten Wintermäntel mit Gürteln und Metallschnallen, mit sehr dunklen, 89
sehr blauen Krawatten, für die Ausgangszeiten. Moderne Gebäude auf Betonpfeilern, mitten im Nichts. „Eine richtige Schule“, murmelt sie. Er spielt Volleyball. Anfangs bemerke ich ihn gar nicht, er hat Pickel, das ganze Gesicht entstellt wie ein Aussätziger. Sein Bett ist im Schlafsaal ganz hinten. Er fällt mir nicht auf, ist still, unsichtbar, scheint im Volleyball gut zu sein, aber wen interessiert das. In der ersten Woche verschwindet mein Bettlaken, ich komme aus dem Unterricht und es ist nicht mehr da, niemand weiß etwas, niemand hat etwas gesehen, niemand findet es schlimm, dass ich kein Laken habe. Später verschwindet das Kopfkissen, dann die Socken aus dem Koffer, alle auf einen Schlag, die fünf Paare von meiner Großmutter für jeden Tag der Woche. Ich zähle, dann fange ich wieder von vorne an, zähle jedes Kleidungsstück, suche, durchsuche alles gründlich, vielleicht hat sie es ja nur gesagt und doch vergessen, sie einzupacken, ich erinnere mich nicht richtig. Das kann nicht sein. Dann verschwinden die Unterhosen, die Kondensmilch, die Brote, die Bleistifte, die Hefte. Schock! Schock! Schock! Der Koffer ist leer, liegt platt im Schrank, als ich aus dem Unterricht komme, kaputt, zerrissen, aufgeschlitzt bis auf den Grund, sieht mich ausgeweidet und tot an, ohne Inhalt, ohne Bedeutung. Auch jetzt weiß niemand etwas, hat niemand etwas gesehen. So ist es nun mal. Jetzt verstehe ich. Mit einem Schlag. Das ist es. So ist es hier. Achtung! Hier gibt es keine Socken für jeden Tag der Woche. Niemand hat hier so viele Socken. Ab jetzt habe ich keine Socken, keine Unterhosen, kein eigenes Essen, keine Hefte mehr. Nur das Heft, das ich gefaltet in der hinteren Hosentasche trage, um im Unterricht so zu tun, als würde ich schreiben, obwohl ich es nicht tue, ich kritzele herum und merke mir alles, um zu bestehen. Er wird auch bestohlen, schläft ohne Laken, nackt oder in seiner Uniform, wenn es kalt ist, auf der fleckigen, schmutzigen Matratze, auf einer Pressspanplatte im Stockbett am Ende des Schlafsaals, ohne zu protestieren. Protestieren? Bei wem? Wer will das hören? Wen interessiert das? Ich weiß es jetzt. Ich weiß es schon lange, von Anfang an, aber jetzt wurde ich wieder daran erinnert. Mit Nachdruck. Diesmal für immer, hier hast du’s. Nichts sagen, nicht klagen, nicht beschweren, etwas tun und hier rauskommen. Hier gibt es niemanden. Nichts. Eine Leere da draußen. Der du egal bist. 90
Es ist kalt und ich versuche ein Laken zu klauen, er sieht es, sagt nichts, er ist seltsam, hässlich, es war egal, dass er mich gesehen hatte, er ist verschwiegen, schweigt, verpfeift mich nicht. Niemand verpfeift hier irgendwen. Ich lese, es gibt eine Bibliothek, in die niemand geht, niemand einen Fuß setzt, ich schon, eines Tages gehe ich hinein und nehme mir ein Buch heraus. Danach gehe ich weiter hin, um zu lesen, Ruhe zu haben, allein an diesem Ort, den niemand betritt. Ein langweiliger Ort, den es nicht gibt. Ich lese auch im Flur, hinten im Klassenzimmer, auf dem Feld, während der Feldarbeit. Lesen. Etwas tun oder nichts tun. Ich lese dort aus Langeweile. Ich lese „Rot und Schwarz“. Immer wieder. Ein und dasselbe Buch. So fängt es an mit dem Lesen, dem ununterbrochenen Lesen. Mit „Rot und Schwarz“. Vor allem aber mit Julien Sorel. Dem Protagonisten. Von den Brüdern verhasst, im Sägewerk, das bin ich, mit einem Buch bin ich auf einen Baum geklettert und lese, das bin ich, ein anderes Ich. Alles beginnt mit Julien Sorel, seinetwegen suche ich nach mehr, in der Bibliothek, Tag und Nacht. Oben im Baum mit einem Buch gegen die Brüder, die ihn von unten mit Steinen bewerfen, ich verwandle mich in ihn, der ununterbrochen liest, im Klassenzimmer, auf dem Hof, an dem Ort, den es nicht gibt. Im nächsten Jahr, dem zweiten Schuljahr dort, hat er ein reines Gesicht, ohne Akne, ohne Pickel, man sieht die Augen, sie sind groß. Dann landet er im Stockbett neben mir, seine Haut ist sehr hell, und hat Flecken, die er mit einer Tinktur behandeln muss, er kommt mit den Händen nicht an die Flecken am Rücken und bittet mich um Hilfe. Ich reibe ihm mit Watte die Flecken am Rücken ein, die Tinktur hinterlässt gelbe Flecken an meinen Fingern, sie riecht nach Eisen, nach Schwefel. Da ist etwas zwischen ihm und mir, die gelben Flecken an den Fingern, mein Opfer. Wir machen es, wenn niemand in der Nähe ist, manchmal im Badezimmer, auf der Toilette. Da bin ich, und reibe ihm den Rücken ein. Ein Geheimnis aus der Notwendigkeit heraus, er braucht meine Hilfe, ich helfe ihm. Notgedrungen sind wir Verbündete. Er will keine Flecken haben, er hasst sie, wie er seine Pickel hasst, also bittet er mich um Hilfe und akzeptiert, dass wir uns verstecken müssen. Er bittet mich, im Internat zu bleiben, wenn die anderen rausgehen, ich bleibe, dann holt er das Fläschchen und die Watte hervor und wir verstecken uns in der Toilette, schließen die Tür und ich behandle ihn. Dabei sehe 91
ich seine Augen, sie funkeln goldbraun, groß, deutlich. Man sieht sie, anders als vorher. Vielleicht sind es seine Züge, wie sein Gesicht zum Vorschein kommt, das Staunen darüber, in was es sich verwandelt, all dies lässt mich vielleicht auch seinen Körper entdecken, seinen wohlgeformten, weißen, nackten Körper, das neue Gesicht lässt dich den Körper entdecken, eine Taille, zwei weiße Füße, darunter. Er kommt zu mir, „was liest du?“ „Einen Roman.“ „Wie heißt er?“ „‚Rot und Schwarz‘.“ „Wozu?“ „Was?“ „Wozu liest du ihn?“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. „Einfach so, weil er mir gefällt.“ „Was? Was gefällt dir?“ „Lesen.“ „Warum?“ „Ich weiß es nicht.“ „Doch, du weißt es, du weißt viel.“ Er zeigt mir, wie er kommt, zeigt mir die Masse in seiner Hand. Er ist stolz darauf. Fragt mich: „Wie viel schaffst du?“ Ich sage es ihm, er spricht von Frauen. Errät meine Gedanken nicht, erzählt nur, Dinge, Wünsche. Also gehe ich mit zum Volleyball, sehe, was es heißt, gut darin zu sein, verstehe es durch ihn. Indem ich ihm zuschaue. Ununterbrochen. Ich lese und schaue ihm ununterbrochen zu. Mache nichts anderes. Lesen und ihm zuschauen. Ich sehe, wie ihn auch die anderen entdecken. Die Mädchen, selbst die harten Jungs, die klauen, sind fasziniert von ihm, von seinem Gesicht, neu zum Vorschein gekommen, es sucht die Begegnung mit allen und zwingt sie, den weißen, schwitzenden Körper zu sehen, der hochspringt und den Ball in der Luft schlägt und lächelt, ein Lächeln, das man jetzt sieht. Ich sehe, wie sie ihn bewundern, wie etwas passiert. Zum ersten Mal. Wie dieses gewisse Etwas plötzlich entsteht. Die Bewunderung. Ich schaue ihm zu, wie er springt, fällt, siegt. Jeden Tag, jede Woche. Ich spüre, wie alle ihn ansehen, alle auf einmal mit mir, durch mich, durch meine Augen, jeden Nachmittag, jedes Spiel, jeden Sieg auf dem Spielfeld. Ich folge ihm überallhin, nach der Schule, in den Speisesaal, in die Pause, aufs Feld. Meine Zeit gehört ihm. Ich habe ihn vor allen anderen gesehen, ihm mit den Flecken geholfen, jetzt, da sein Rücken strahlt, ist er auch meine Entdeckung. Alle sind stolz auf ihn, suchen seine Nähe, er ist der Beste, aber er lässt mich nicht im Stich, geht nicht weg, benutzt mich nicht. Er hat ein Bettlaken, niemand stiehlt es mehr, auch ich habe ein Laken, durch ihn. Er sagt: „Aus dir wird etwas“, weil ich lese, wegen der Bücher, weil ihn Bücher beeindrucken, obwohl er nicht liest. „Er soll keine Privilegien haben, sein wie die anderen, seinen Platz fin92
den, sehen, wie das ist“, sagt sie immer. Schließlich verstehe ich, was sie meint: Ich haue ab, mit ihm, ins Dorf, hänge herum, suche etwas zu essen. Springe über Wasserturbinen mit ihm. Klaue Prüfungen, pfeife mit ihm auf unsere beschissenen Lehrer. „Geht es dir gut?“, fragt meine Großmutter. „In der Schule? Geht es dir gut?“ Gut?! Klar geht es mir gut, Großmutter, in den vollgepissten und vollgeschissenen Unterkünften, mit den unverschämten Lehrern, die uns nichts beibringen, mit dem Missbrauch und den Schweinereien um mich herum. Er ist da. „Ihr seid wie Brüder“, sagen die anderen. Er antwortet nicht, ist aber stolz darauf, dass sie uns für Brüder halten. Das lernen wir dort, Zusammenhalt, wenn wir uns vor der Feldarbeit drücken, über die Felder flüchten, im Regen, bei Sonne, uns den Bauch mit Orangen vollschlagen, die Seife teilen, die Kleidung, die Stiefel, den Gestank, das Fieber, die Witze. Nichts anderes lerne ich. Nichts anderes lerne ich dort als er. Ich habe nichts Eigenes, ein Laken, die schmutzigen Kleider der Woche, „Rot und Schwarz“. Alles andere wurde mir gestohlen. Er war da. Mutter „Los bring ihn zum Haus des Vaters und komm schnell zurück, ich habe es eilig.“
Der letzte Sommer
Vater Endlich fahren sie los, im olivgrünen Jeep, mit voller Geschwindigkeit. Eine lange Fahrt über die Autobahn. Sie kommen durch die Schlucht von Las Lomas, von dort aus sieht man schon das Dorf, das Tal, den Fluss. Sie halten vor dem Garten, er springt aus dem Auto, den Koffer in der Hand, und umarmt mich, ich warte in der Tür, ohne Hemd, in Shorts, mit offenen Armen. Ich streiche ihm über den Kopf, seine Haare. Ich bitte ihn rein, ins träge Halbdunkel des Hauses. „Groß geworden bist du im letzten Jahr und dünner“, sage ich. Jedes Jahr ist er dünner, größer, erwachsener. Dann geht er durch die Zimmer, die Küche, die Waschküche, den Flur runter, bleibt am Fenster stehen, blickt auf den Hof voller Hühner, Steine und Kaninchen in Käfigen aus Holz 93
und Draht, weiße Kaninchen mit roten Augen, nervös, die ich züchte und schlachte, ein kleiner Kanal mit kaltem, grünlichem Wasser führt durch den Hof, voller Schlamm und Frösche. Ich folge ihm und frage nach der Schule, den Prüfungen, den Noten, was er jetzt eigentlich studieren möchte. Er versteht nicht. Kann nicht verstehen. Was hier vor sich geht. Ich nehme sein verschwitztes Hemd, hänge es zum Trocknen über die Stuhllehne, bringe ihm das Mittagessen, schaue ihm vom anderen Tischende zu, schweigend, froh, dass er da ist, noch einmal, noch einen Sommer lang. „Hast du keinen Hunger?“ Er „Doch.“ Vater „Iss.“ Er „Isst du nicht?“ Vater „Ich seh dir gern beim Essen zu.“ Ich spüre die Verzweiflung, die in den Augenblicken steckt. Meine, nicht seine. Ich weiß, es kann jederzeit losgehen, während er seinen Sommer genießt. Ein Sommer mit mir. Einer von vielen, die noch kommen. Er versteht nicht. Kann nicht verstehen. „Ich habe ein Geschenk für dich, eine Überraschung.“ Immer habe ich ein Geschenk, das in irgendeinem Paket aus Miami gekommen ist. Meine Brüder, seine Onkel, meine Mutter sind seit Jahren dort und schicken Pakete für die, die hier geblieben sind. Er „Was ist es?“ Vater „Ich weiß es nicht. Ich habe es noch nicht aufgemacht.“ Ich lebe allein in diesem Haus auf dem Dorf, seitdem meine Brüder ihre Ausreise genehmigt bekommen haben und gegangen sind. Mein Leben beschränkt sich aufs Warten. Und weil sich meine eigene Ausreise verzögert, vergeht das Leben, während ich darauf warte, woanders neu anfangen zu können. Es gibt Frauen, aber keine richtige Familie, außer ihm, wenn er in den Sommerferien wie vereinbart für einen Monat herkommt. Darum habe ich alle Zeit der Welt, die ich mit ihm verbringen, endlos Zeit, die ich ihm widmen kann, mit der Geduld eines Verdammten. Er „Luftballons.“ Vater „Sonst nichts? Sicher? Ich hab noch was gesehen.“ Er „Kaugummi.“ Vater Für ihn gibt es immer Luftballons und Kaugummis. Ich blase die 94
Ballons auf, sie riechen neu, nach Plastik, baue ihnen Schuhe, ein Stück Pappe ans Mundstück gebunden, damit sie auf dem Boden stehen, aufgereiht, die Ballons sind länglich glatt wie Gummipflanzen und leuchten in frischen Farben, bis zu seiner Abreise muss er möglichst viel mit ihnen spielen. Am Ende, wenn er fährt, stehen die aufgeblasenen Ballons in der Ecke, ein Ballongarten, der auf den nächsten Sommer wartet. „Heb sie für mich auf“, sagt er, deckt sie mit einem Laken ab und geht. Nicht im Traum könnte er sie mitnehmen. Es sind illegale Luftballons. Die aufgeblasenen Ballons bleiben hier, in einer Ecke, bis sie mit der Zeit von selbst platzen, einer nach dem anderen. Wenn die Ausreiseerlaubnis kommt, musst du sofort los, im selben Moment, ob nun im Morgengrauen, in der Nacht oder am Vormittag, nur mit dem Allernötigsten, es bleibt keine Zeit, anzurufen (über die Vermittlung in der Stadt anzurufen ist schwierig und zeitraubend) oder sich zu verabschieden. Dieser Sommer kann der letzte sein, der vorletzte, der vorvorletzte vielleicht. Niemand kann es vorhersehen. Niemand weiß, wie das Verfahren abläuft. Das mächtige Ausreiseverfahren. Für ihn ist es das Normalste der Welt, dass ich mich so intensiv um ihn kümmere, so ist es richtig, so wird es immer sein. Er versteht nicht. Kann nicht verstehen. Ich schon, deshalb sind diese Tage nur für uns, uns beide, nur wir zwei, wir spazieren immer durch die Dorfstraßen, gehen mit den Kaninchen über die Wiese im Hof, bleiben am Nachmittag im Schatten vor dem Eingang oder im Dunkeln der Autowerkstatt, wo ich als Strafe dafür, eine endgültige Ausreise beantragt zu haben, arbeiten muss. Zuhause halten wir mittags gemeinsam Siesta unter dem Moskitonetz im großen Bett, er isst mit Stoffservietten von richtigem Geschirr mit Silberbesteck, er liest Comics, die ich seit meiner Kindheit sammle, „Donald Duck“, „Lassie“, „Superman“ … schon vergilbt, auch illegal, farbig, in einer Pappschachtel, seiner Leseschachtel. Er weiß es nicht. Kann es nicht wissen. Wir fahren mit dem Fahrrad durch die Straßen, ich sitze im Sattel und trete in die Pedale, er auf der Stange zwischen meinen Armen, die den Lenker festhalten. Das Fahrrad, er und ich, durch das Dorf, in der Hitze. Wie ein Pferdemensch. Mythologisch. Der Sommer geht zu Ende, es kann der letzte sein, ich fürchte, es könnte der letzte sein, vielleicht auch nicht, vielleicht werden noch viele kommen. Ich weiß es nicht. 95
Niemand weiß es. Das Verfahren ist undurchschaubar, kein Wort, keine Zeichen. Nur Überraschungen. Er fährt zurück in die Stadt, zu seiner Mutter, dann ins Internat. Ich ahne, dass er für mich unerreichbar sein wird.
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Zweiter Augenblick Masse und Macht
Autor Erinnerungen an ein paar Monate des Jahres 1980. Er Sie rufen meinen Namen aus, ich soll mich dringend im Sekretariat melden. Dort sehe ich meine Großmutter. Etwas muss passiert sein, wenn sie unter der Woche ins Internat kommt. „Deine Mutter weiß nicht, dass ich hier bin, wir müssen reden“, sagt sie. Wir gehen zum Parkplatz, setzen uns in das Mietauto, mit dem sie aus der Stadt gekommen ist. Sie holt einen Brief aus der Handtasche, ein Verwandter aus dem Dorf hat ihn geschickt, als Erklärung, Bericht zum Verhalten meines Vaters. Mein Vater? Was ist mit ihm? Darin steht, was passiert ist. Was gerade passiert. Was weiter passieren würde. Was passiert war. Ich höre zu und höre doch nicht, verstehe nicht, was ich höre, erst viel später, Wochen später. Meine Großmutter liest den Brief vor und hält meine Hand. Der Brief erzählt, wie sich die Nachricht verbreitete, eine Botschaft würde allen, die es wollten, politisches Asyl gewähren, wie mein Vater mit anderen aus dem Dorf nachts in einem Lastwagen in die Stadt gefahren sei, wie sie sich gewaltsam Zugang zur Botschaft verschafft hätten, dass sie noch dort seien und darauf warteten, die geforderte Ausreise genehmigt zu bekommen, diese Verbrecher, Außenseiter und Verräter, die sich nun dort versteckten. Mein Vater? Im Fernsehen zeigen sie die Bilder aus der Botschaft. Der Brief verurteilt, was mein Vater getan hat, „unverzeihlich, ungeheuerlich“, schreiben sie und machen uns Mut, besonders mir, dem Sohn, ich solle stark sein, keine Angst haben, mich auf die Hilfe und das Mitgefühl der Verfasser verlassen, wer auch immer die sind. Ich achte nicht auf Details. Zu viele Wörter, zu viel Mitgefühl. Von wem kommt dieses Mitgefühl? Diese Ratschläge? Diese Solidarität will ich nicht. Brauche ich nicht. Als sie fertig gelesen hat, sagt meine Großmutter, mir würde nichts passieren, in dieser Hinsicht sei sie beruhigt. „In welcher Hinsicht?“, denke ich, aber ich solle niemandem davon erzählen. Besonders im Internat nicht. Es sei wichtig, nichts zu sagen. Und sie wiederholt: „Sie 97
werden dir deswegen nichts tun.“ Wer? Warum? Wovon spricht sie? Sie hat Angst und weint, als sie geht. Ich gehe zurück in den Unterricht, weiß nicht, was ich denken soll, eigentlich denke ich gar nichts, natürlich erzähle ich niemandem, was passiert. Aber passiert es denn? Passiert es wirklich? Es kommt mir weit weg vor. Aus einer anderen Welt. Im Fernsehen zeigen sie den ganzen Tag Bilder der besetzten Botschaft, voller Menschen, sie berichten, wie die ersten einen Wachmann getötet haben, um hineinzukommen. Ich sehe mir die ganze Zeit diese Bilder an, auch in der Wiederholung, und verstehe nicht, was sie mit mir zu tun haben, mit ihm. Unter den Lehrern und Schülern im Internat wächst der Unmut. Beim Morgenappell sprechen sie von nichts anderem, jeden Tag. Die Parolen, die wir im Schulhof aufgereiht rufen, befeuern uns. Was denke ich, was fühle ich? Ich erinnere mich nicht. Ich habe es ausgelöscht. Ich wiederhole mit den anderen jede Parole, jeden Schuldspruch im Chor, empört darüber, was ich sehe, was ich höre, was geschieht, „unerhört“, „beispiellos“. Davon überzeugt. Verärgert über das, was passiert, dort, auf diesen Bildern. Diese hässlichen Szenen, diese hässlichen Gesichter. Ganz anders als das meines Vaters. Ich bringe sie nicht zusammen. Trotzdem weiß ich, ich darf nichts sagen. Aber ich bringe sie nicht zusammen. Ich verstehe nicht. Gegen Mitte der Woche informieren sie uns beim Morgenappell, dass wir, bevor wir am Wochenende nach Hause dürfen, vor der besetzten Botschaft aufmarschieren und zusammen mit Hunderten Schülern an der Seite des Volkes gegen die Ereignisse demonstrieren werden. Ich weigere mich nicht, hinzugehen, erfinde kein Fieber, keine Erkältung, keine Krankheit. Ich gehe hin. Es hat nichts mit mir zu tun. Der Tag kommt. Wir fahren in Bussen hin. Am Ort des Geschehens, in der Stadt, werden wir in Gruppen aufgeteilt. Sie geben uns Plakate, Fahnen. Langsam bilden wir einen Block und schließen uns der Gruppe an, die seit Tagen unablässig auf der Straße vor der Botschaft demonstriert. Die Wut wächst, verwandelt sich in Stärke, in Energie, die Leute wiederholen Parolen im Chor, über die Lautsprecher hört man in voller Lautstärke Gesänge, die wie ein Soundtrack die Schritte und Protestrufe der Demonstration begleiten. Kurz vor der besetzten Botschaft begreife ich langsam, in welcher Situation ich mich befinde. Bis zu diesem Zeitpunkt, das weiß ich noch, war ich euphorisch, wegen des 98
Abenteuers, wegen allem, weil ich dabei war, mitmarschierte. Als wir uns der Botschaft nähern, sehe ich, wie die anderen um mich herum langsam aufhören zu spielen, sich verändern. Ich auch. Als wir fast vor dem Gebäude sind, im Zentrum der Ereignisse, wird mir übel. Übel. Ich verstehe, was gerade passiert, den Ausnahmezustand, die Ausweglosigkeit: Mein Vater ist da drin, könnte am Fenster stehen, mich sehen oder ich ihn. Ich bin hier draußen, schreie, verfluche, verurteile ihn, er da drinnen, kriegt diese Verachtung ab, ich hier draußen, gegen ihn, ohne dass er es weiß. Ich beginne zu spüren, was die Situation bedeutet. Bin damit allein in der Menge. Jetzt ist es eine Menschenmenge und ich bin nur ich, allein, hilflos. Verständnislos. Werde mitgeschleift. Hierher. Nach vorne. Zu ihm. Gegen ihn. Ausweglos. Ein paar Meter vor dem Eingang sieht man schon einige Besetzer auf dem Dach. Die Leute um mich herum haben sie kaum entdeckt, da schreien sie schon Parolen mit neuer, noch nicht dagewesener Wut. Als wir direkt vor der Fassade der Botschaft stehen, die wir in den letzten Tagen so oft im Fernsehen gesehen haben, geht ein Schaudern durch die Gruppe. Sie so nah zu sehen, zum Klang der Sprechchöre, die jetzt, direkt davor, noch viel lauter aus den Lautsprechern schallen, lässt den Block erbeben, uns alle, sodass wir gleichzeitig die Hände heben und schreien mit überraschender, verblüffender Wut. Auch ich schreie. Unerwartet, automatisch. Ich schreie, schreie immer wieder, was sie schreien, was wir schreien müssen. Was sie gesagt haben, dass wir schreien sollen. Was man dort schreit. In den wenigen Sekunden, in denen wir am besetzten Haus vorbeiziehen, suche ich ängstlich das Gesicht meines Vaters unter denen, die am Fenster stehen. Ich schreie, wiederhole die Parolen und zugleich suche ich ihn, angsterfüllt, besorgt, ich schreie und suche, beides zusammen aus demselben widersprüchlichen, unerwarteten, unkontrollierbaren Impuls heraus. Plötzlich, das weiß ich noch, nehme ich die Hände herunter, höre auf zu schreien, eine Reaktion, die niemand um mich sieht oder versteht. Im nächsten Moment, das weiß ich noch, weine ich, weil mein Vater da drinnen ist und ich hier draußen, weil ich schreie, weil sie schreien, wegen der Verachtung, wegen dieses Gefühls, das uns verbindet und trennt, weil ich nicht und doch wieder bin wie sie, fern und zugleich verbunden mit dem, was gerade passiert und nicht passieren darf, was ich verachte und unterstütze, ich weine und die Tränen löschen die 99
letzten Bilder der Botschaftsgebäude. Der Menschenfluss treibt uns voran, in die Wirklichkeit. Wir sind wieder die, die den Ausgang suchen, die parkenden Busse in den Seitenstraßen, die Witze, die Streitereien um einen Sitzplatz.
Die Banalität des Bösen
Mutter Er kommt an, euphorisch. Ich habe auf ihn gewartet; sehe ihn in dieser Stimmung und mache ihm weiter Mut. Gratuliere ihm erleichtert, umarme ihn. „Dein Vater hat etwas Schlimmes getan, etwas furchtbar Schlimmes“, wiederhole ich, das weiß ich noch, „er hat nicht an dich gedacht, nur an sich. Er hat sich für sich entschieden. Nicht für dich.“ Er musste verstehen, in welche Lage ihn der Vater mit seiner Flucht gebracht hatte, er musste standhaft bleiben gegenüber dem, was er getan hatte, diesem irreparablen Schaden, den er angerichtet hatte. Er nickt. Versteht mich. Ich sehe, dass er begreift, wie bedeutend dieser Augenblick ist. „Man muss entschieden sein“, sage ich ihm, „klar, in einem solchen Moment nicht schwanken“. Er ist meiner Meinung. Er stimmt mir zu. Endlich! Was für eine Erleichterung! Ich hatte Angst, er würde nicht verstehen, die Dinge komplizierter machen. Aber nein, so ist es nicht. Und ich freue mich. Und gratuliere ihm noch mal, umarme ihn, küsse ihn. Sage ihm, wie stolz ich bin. Auf ihn, auf seine Stärke, seinen Charakter. Dass er den Mut, die Courage hat, das Wesentliche zu sehen, das Wichtige. Er ist gerührt. Wegen meiner Worte. Wegen seiner selbst. Ich unterstütze ihn, sage ihm, dass wir im Recht sind, dass er das noch merken wird, dass er auf das, was er tut, vertrauen soll. Das Haus kocht, das weiß ich noch, das Viertel, die Nachbarschaft, durch das, was jede Minute, jeden Augenblick passiert. Überall. Ein einzigartiger, entscheidender Augenblick. Ich bitte ihn, nicht rauszugehen, aus Sicherheitsgründen. Da draußen geht alles durcheinander, ist unvorhersehbar. Es ist besser, sich zurückzuziehen, auszuruhen, alles zu vergessen. Ein paar Tage zu warten, bis sich die Dinge aufklären. „Er ist dein Vater, niemand weiß, was sie über dich denken, was passieren kann.“ Er willigt ein. Versteht. Wir 100
sind uns darin einig, zum ersten Mal vereint. Das Wochenende verbringt er eingeschlossen zuhause, ich kümmere mich um ihn, passe auf, dass ihn der Vater nicht anruft, wenn er es denn versucht, wenn er es wagt, sobald er nach Hause geschickt wird und dort auf die Ausreise wartet, die ihnen nun angeboten wird. Aus den Nachrichten, die wir ununterbrochen schauen, wissen wir, dass sie alle nach Hause schicken, um sie später außer Landes zu bringen. Für uns beide sind diese Wochen gut, das weiß ich noch. Es scheint ihn glücklich zu machen, dass ich mich um ihn kümmere, ihn umsorge, an seiner Seite bin, ohne dass wir uns wie sonst streiten. Auf einer Wellenlänge. Vereint. Wie nie. Langsam geht die Krise vorüber. Keine Bilder mehr, keine Anschuldigungen im Fernsehen, in den Zeitungen, auf der Straße. Das Leben ist wieder wie vorher, unser Leben. Also kehrt er ins Internat zurück. Zu seinem Unterricht. Und ich mache meins. Gehe zur Arbeit. Zu den Problemen, die keine Zeit für irgendetwas anderes lassen. Ein Unternehmen fordert uns zu hundert Prozent. Tag und Nacht, ohne Atempause, ohne Leben. Ein Opfer, das nur jene verstehen, die mich kennen. Die dabei waren und wissen, dass es so war, dass man so gelebt hat. Über Verwandte weiß er, dass der Vater das Land in einem Boot verlässt, zusammen mit anderen wie ihm. Trotzdem sprechen wir nicht darüber. Über dieses Ende, diesen Abgang. Auch nicht über die Einzelheiten der Reise. Wie, wann, unter welchen Bedingungen. Besser so. Allgemein über den Fall sprechen, darüber hinwegspringen. Über die Bilder, die davon übrig bleiben könnten. Ich bin auch nicht gut darin. Im Darüber-Reden. Ich glaube viel mehr, dass das Vergessen alles regelt. Das Land vergisst. Und das braucht er. Der Vater ist für immer gegangen. Eine Tatsache, die sich nicht umkehren lässt. Nicht regeln. Etwas Endgültiges, gegen das man nicht anzukämpfen braucht. Wie der Tod. So zu gehen, wie er gegangen ist, ist Sterben, Verschwinden. Punkt. Allerdings wirkt er gar nicht betroffen. Spricht nicht, fragt nichts. Will nichts wissen. Irgendwie reicht ihm, was er weiß. Das Wenige, das er weiß, ist ihm genug. Er kommt mir ruhig vor, sicher, gleichmütig. Sorglos. Wie es sein muss. Worüber denn reden? Wozu? Ob es regnete, als das Boot ablegte, ob es stürmte oder ob die Sonne schien. Ob er während der Überfahrt in Gefahr geriet oder nicht. Es gab einfach eine Reise, eine Ausreise. Einen Verrat. 101
Ich überwache das Telefon nicht mehr und schließe nach und nach mit dem Fall ab. Heute noch soll ich darüber sprechen, über damals. Aber was soll ich denn sagen? Welche Dinge heraufbeschwören? Ich kann etwas rekonstruieren, Fakten, vielleicht ein paar Ideen, die eine Rolle spielten, trotzdem sind es Ideen aus der Vergangenheit, schon überwunden, ich kann sie nur wieder hervorholen, hier und jetzt dramatisieren, für Sie. Und wenn man das tut, sind es nicht mehr die Ideen, die großen politischen Ideen, die sie einmal waren, es sind Scheinideen. Was ich sagen könnte, ist für das, was hier in diesem Stück gesucht wird, unbrauchbar: zu wissen, was wir waren. Dazu noch eine letzte Überlegung, dann ziehe ich mich aus diesem Text zurück: Vielleicht habe ich nicht richtig gehandelt, aber das war der Mensch, der ich damals war, an diesen Menschen habe ich geglaubt und wurde darin von einer Mehrheit unterstützt, die glaubte, dass es richtig war, so zu handeln. Korrekt. Ehrenwert. Es gibt keine Reue, das ist melodramatisch, eine schöne Illusion, ach, wenn wir sie nur immer zur Hand haben könnten: wahre Reue. Wenn wir bereuen, sind wir schon andere und zwischen der Vergangenheit und dem, was wir jetzt denken oder sind, gibt es keine Verbindung. Wir sind alt, sehen die Dinge anders als früher, haben unsere Meinung geändert und machen weiter. Zu beklagen, was passiert ist; uns selbst dafür zu belangen, was war oder nicht, was wir getan haben oder nicht, das ist dumm, denn niemand hört diese Bitte, diese Klage, es ist niemand da, der sie hören und darauf Taten folgen lassen könnte. So weit sind wir nicht. Und selbst wenn wir sie hören, es ist zu spät, wir sind jetzt ganz andere Menschen und der Aufschrei bewirkt nichts und klärt nichts. Es gibt keine Gerechtigkeit, keine echte Wiedergutmachung, nur die Gegenwart beschäftigt uns, weitermachen, vorankommen, kämpfen, leben. Ich bin eine andere.
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Auf dem Weg zu sich selbst
Vater Erst im nächsten Sommer fährt er mit seiner Großmutter wieder ins Dorf, wird mir viel später erzählt. Am Ende des Aufenthalts, kurz bevor sie wieder in die Stadt fahren, besuchen sie, vielleicht aus Höflichkeit, seine Schwester väterlicherseits, meine andere Tochter, die ein paar Häuserblocks entfernt gewohnt hat. Von ihr erfahren sie, dass das Haus seit der Ausreise unbewohnt ist, versiegelt. „Wie groß du geworden bist“, sagt sie, das hat sie mir erzählt, an der Tür habe sie es zu ihm gesagt, und zwar so, auch das erzählt sie mir, wie ich es ihm jeden Sommer gesagt hatte, wenn er größer und erwachsener wiedergekommen war. Sie küsst ihn auf die Wange und lädt die beiden zum Mittagessen ein. Sie nehmen an. Irgendwann am Nachmittag, nach dem Essen, in dem Augenblick, als sie gerade gehen wollen, fängt sie vorsichtig an, die Schwester, ihnen von den Ereignissen nach der Rückkehr von der Botschaft zu erzählen, von diesen Tagen im vorigen Jahr, von denen er nichts wusste oder wissen wollte, oder von denen man ihn nichts wissen ließ. Sie erzählt ihm, wie ich nach dem Verlassen der Botschaft, anstatt direkt nach Hause zu gehen und dort auf die Ausreiseerlaubnis zu warten, entscheide, diese Tage des Wartens, vielleicht aus Angst, im Haus meiner Cousins zu verbringen. Woanders, wo mich niemand kennt. Die Cousins sind in der gleichen Situation wie ich, erzählt sie ihm, also denke ich, ich wäre dort sicherer. Außer Gefahr. Am Morgen nach meiner Ankunft findet draußen vor dem Haus ein Mitin de Repudio statt, eine von oben verordnete Hassprotestaktion. Sie beschreibt ihm also, wie solche Protestaktionen ablaufen, das hat sie mir gesagt. Hunderte von Menschen versammeln sich vor dem Haus, schreien Beleidigungen und Parolen, werfen Eier und Steine gegen die Fassade, die Fenster, die Tür. „Wir sind im hinteren Zimmer, liegen auf dem Boden, drücken uns in die Ecken, an die Wände, im Dunkeln, kein Licht, die Fenster geschlossen, es ist heiß, sehr heiß. Vor lauter Verzweiflung schlägt jemand vor, über den Hinterausgang aufs Dach zu klettern, um über ein anderes Dach zu fliehen. Aber egal, wo wir aus dem Haus schauen, überall warten Menschen, mit Stöcken und Steinen und brüllen uns an. Wir sind 103
umzingelt. Die Nachbarn haben das Haus umzingelt. Sie sind auf dem Hof, im Hausflur, auf dem Dach. Wir gehen zurück ins Dunkel, legen uns wieder auf den Boden, aus Angst, dass ein Stein durch die Scheibe fliegt. Wir haben Hunger, seit gestern ist nichts mehr zu essen da, auch kein Wasser. Egal, was passiert, wir können nur warten, ohne Bewusstsein, ohne Realitätssinn, ohne Zeitgefühl, voller Angst.“ „Er hatte Angst“, sagt sie, „kannst du dir das vorstellen? Es ist wichtig, ihn dort drinnen zu sehen, mit ihm zu fühlen und ihn zu sehen“, letzteres hat sie ihm so nicht gesagt, erzählt sie, sie wollte, aber sie konnte nicht. Er tat ihr leid. Zwei Tage lang belagern sie das Haus, stellen uns das Wasser ab, den Strom, das Telefon. Als meine Cousins die Ausreise endlich genehmigt bekommen, sind die da draußen schon vorgewarnt. Und weil sie wissen, dass sie durch die Haustür müssen, wenn sie gehen wollen, erwarten sie sie dort. Als der Vater rauskommt, den sie nicht kennen (denn sie kennen sich alle, die da drinnen, die da draußen, sie sind ein Leben lang Nachbarn gewesen, und er ist ein Fremder, den sie nicht kennen), da schlagen sie ihm ins Gesicht, in die Rippen, werfen ihn auf den Boden und treten zu, heben ihn hoch, über die Köpfe der Masse, werfen ihn immer wieder auf den Boden, bis er halb bewusstlos ist, das erzählt sie ihm, so wie ich es ihr erzählt habe, so wie es war, so wie es ist. Er konnte damals nicht direkt mit seinen Cousins mitfahren, erklärt sie ihm nach einer Pause, einer Pause, in der niemand in diesem Wohnzimmer spricht, an diesem Nachmittag. Seine Ausreise muss laut Gesetz von seinem eigentlichen Wohnort aus erfolgen, deshalb wird er in diesem Zustand nach Hause geschickt, soll dort warten, bis er an der Reihe ist, erzählt sie ihm. Und auch, wie sie mithilfe eines Nachbarn über den Hof in die Wohnung kann, um ihn zu sehen. Der Vater, beschreibt sie ihm, hat gebrochene Rippen, kaputte Frontzähne, ein geschwollenes Gesicht, überall Blutergüsse, auf der Brust, an den Beinen, er kann kaum schlucken, jedes Mal, wenn sie zu ihm kann, und das kann sie nicht immer, muss sie ihm etwas Weiches mitbringen, einen Brei oder so etwas, damit er etwas isst. Sie erzählt, wie der Vater jeden Tag versucht, ihn zu anrufen, ihn zu sprechen, wie ein Besessener, und wie die Anrufe jedes Mal, einer nach dem anderem, von der Zentrale zurückgewiesen werden. Sie erzählt ihm, wie sie am Ende den Käfig mit den Kanarienvögeln bei ihm abholt, weil, so erklärt sie, es verboten 104
ist, Möbel, Ziergegenstände, Kleidung, Fotos mitzunehmen … Im Dorf jedoch weigern sich die Nachbarn stumm, eine Protestaktion gegen den Vater durchzuführen, sagt sie ihm, niemand besucht ihn, aber es belästigt ihn auch niemand, sie lassen ihn in Ruhe, in diesen letzten Tagen in seinem verriegelten Haus. Als er geht, ist er krank, hat Schmerzen, so macht er die Überfahrt im Boot. Sie hat mir erzählt, wie er – nachdem sie zu Ende gesprochen hat, nach einer weiteren Pause, in der sie alle stumm dagesessen haben – ihr sagt, dass er manches im Fernsehen gesehen hat, hier und da, auf der Straße, die Schläge, die Schreie, die Krawalle, die Hetzjagden, dass er alles von Weitem gesehen hat, in seinem Viertel, in anderen Vierteln, unterwegs, dass er Geschichten über Leute gehört hat, denen es bei ihrer Ausreise genauso gegangen ist, aber dass er den Zusammenhang nicht hergestellt hat. „Warum?“, fragt sie ihn. „Ich dachte nicht, dass sowas passiert, nicht ihm“, antwortet Er. „Aber wie? Du hast es doch selbst gesehen?“ Fragt sie hartnäckig: „Ich weiß nicht, ich verstehe das nicht.“ Dann schweigt er, wie ich später erfahre. Ich glaube, jetzt gerade, in diesem Augenblick, versucht Er, der in New York lebt und schreibt, der immer weitergeschrieben hat, es zu verstehen, dieses „Ich verstehe das nicht“, das er damals zu seiner Schwester gesagt hat, an diesem Nachmittag, in diesem Wohnzimmer, nach der Pause. Er will sich erinnern, was los war, in diesem Er, der er damals war, der doch jetzt, so hat er es die Mutter sagen lassen, schon ein anderer ist und sich nicht erinnert. Es ist seltsam, sich nicht zu erinnern, wer man war, nicht? Oder warum man so war, wie wir es selbst nicht mehr verstehen. Er will es, aber er findet den Weg zu sich selbst nicht, zu dem, der er war, dem, der nicht fragt, nicht nachforscht, nicht reagiert, keine Zusammenhänge sieht. Unbeteiligt, zerstreut war er während dieser Monate, als er wartete, dass ihm die Schwester alles erzählte, berichtete. Eine Schilderung, von der ich erst später erfuhr, Jahre später, als es nicht mehr wichtig war, nicht mehr wichtig ist. Ich bin auch ein anderer, tut mir leid. Ein alter Mann. Einfach irgendein Mann, der hart gearbeitet hat, um seinen Weg zu gehen. Hier. Weit weg. Jemand, der nach vorne schauen, wegwischen und vergessen musste, wie so viele andere. Weder mehr noch weniger Vater als sonst jemand. Einer, der flieht, der verlässt, sich neu erfindet. Der getan hat, was er konnte. 105
Welche Rolle spielt es noch, was geschrieben oder gespielt wird, später, jetzt? Was er schreibt oder eingesteht. Wozu ist die Wahrheit noch gut, später, jetzt? Was fängt man noch mit ihr an, jetzt? Mit diesem Text?
Traum
Er Wir gehen nach draußen, meine Großmutter spricht nicht, an der Haltestelle sage ich, dass ich schuldig bin, und sie auch. Beide schuldig. Sie weint und schweigt, und bittet mich, zu schweigen, um meiner selbst willen, um meiner Zukunft willen und ich höre auf sie. Ich schweige. Schweigend fahren wir zurück in die Stadt. Später kehre ich zurück ins Dorf, ins Haus meines Vaters. In meinen Träumen. Ich gehe durch den Garten, klopfe an die Tür. Rufe ihn. Werde ungeduldig. Rufe wieder. Schreie. Und warte, dass er aufmacht. Schläfrig, lächelnd. Und mich ins Dunkel des Wohnzimmers einlädt. Manchmal macht er auf, manchmal nicht. Dann stehe ich draußen, die Kälte in den Knochen, den Koffer in der Hand, mitten in der Nacht. Wohl wissend, dass er nicht aufmachen wird, bleibe ich da stehen, an der Tür, unter dem flimmernden kalten Licht, ohne einen Ort zum Schlafen, ohne einen Ort, an dem ich auf den Morgen warten könnte.
Epilog
Autor Epilog, geschrieben in Havanna, 2012. Mein Vater ist nicht zurückgekommen, ich habe ihn in den folgenden dreißig Jahren nicht wieder gesehen. Er ist jetzt ein alter Mann, kurz vor der Rente, er hat andere Kinder großgezogen, sich ein neues Leben aufgebaut. Im Exil. Letzten Endes beschließt auch sie, fortzugehen, erstaunlicherweise, meine Mutter, ein schwieriger, sehr langer Prozess, es dauert Jahre, bis sie mit allem brechen kann, mit sich selbst, aber im entscheidenden 106
Augenblick schafft sie es und geht. Ich schreibe: Sie geht. Punkt. Sie geht. Sie. Auch. Auch. Punkt. Sie lebt im Ausland, allein, verdient Geld. Geschäftlich war sie erfolgreich. Sie haben sich nie wieder gesehen. Ich spreche von ihnen. Von meinen Eltern. Die beiden, die einmal zwei Jugendliche vom Dorf waren. Sie mussten nie wieder miteinander zu tun haben wegen irgendeiner zweifelhaften Geschichte im Zusammenhang mit mir. Ihre politischen Ideen sind heute ziemlich ähnlich, sie unterscheiden sich nur in Kleinigkeiten, mein Vater ist Republikaner und sie bewundert Obama. Wenn ich sie in den letzten Jahren besucht habe, haben sie mich in ihrem jeweiligen Zuhause freundlich aufgenommen, ich habe endlich ihre Familien, ihre Freunde und Angehörigen kennengelernt, habe die Orte gesehen, an denen sie ihr Leben verbracht haben (weit weg von meinem), sie haben mir die Städte gezeigt, wo sie leben, während meiner Reisen haben sie mir Geld gegeben, wenn es nicht reichte (ich mache Theater, reise mit dem Theater und mit Theater verdient man nie etwas). Sie haben mich zum Abendessen eingeladen, wir haben uns unterhalten und ich habe bei ihnen übernachtet. Ich habe mich für ihre Aufmerksamkeit bedankt und ihnen vor der Abreise versprochen, öfter zu schreiben. Seitdem das möglich ist, bekomme ich E-Mails mit Neujahrs- und Geburtstagswünschen, auch Fotos von ihren Enkeln und Enkelinnen, Neffen und Nichten, manchmal sehe ich sie auf Facebook und hinterlasse ihnen Nachrichten, schicke Grüße. Anrufen ist teuer, wobei schreiben auch besser ist, schreiben ist leicht: „hallo, tschüss, ich küsse euch, passt auf euch auf, schönes neues Jahr, seid alle lieb gegrüßt und umarmt.“ Schreiben ist leichter. Sprechen ist teuer, unmöglich.
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Agnieska Hernández Díaz
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MEHR, MACBETH!
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Ein dokumentarisches Fest Aus dem kubanischen Spanisch 1 von Miriam Denger
1) AdÜ: Alle im Stück verwendeten originalen Shakespeare-Zitate sind wörtlich aus der Macbeth-Übersetzung von Thomas Brasch oder der Macbeth-Übersetzung von Frank Günther übernommen und wurden nur dort minimal verändert, wo es der Anschluss an die szenischen Texte der Figuren Lady und Macbeth erforderlich machte.
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Dramatis personae Lady & Macbeth Gruppen, die mitmachen kรถnnen: Lady und Macbeth, futuristisch Lady und Macbeth, schwarz Lady und Macbeth, alt Lady und Macbeth, elisabethanisch Lady und Macbeth, Transvestiten Lady und Macbeth, Kinder
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Struktur 1. Wie man eine Lady und wie man einen Macbeth erkennt 2. Sprecht Hexen das ist ein Befehl 3. Will der Zufall mich zum König 4. Wer hoch hinaus will 5. Dass mein Messer nicht die Wunde sieht dies reißt 6. Mein ganzes Leben soll Luxus sein 7. Opfer und Täter 8. Lob der Verführung 9. Ich 10. Die Katze die Fische fangen will 11. Der Cashflow-Quadrant 12. Und schon sind meine Hände schmutzig 13. Das Gesetz der Anziehungskraft 14. Das Leben ist ein Schatten der wandert 15. Sich selbst vergeben 16. Du ziehst den Wald an 17. Wie man eine Lady und wie man einen Macbeth erkennt 18. Lady und Macbeth 111
1. Wie man eine Lady und wie man einen Macbeth erkennt Macbeth Guten Abend. Danke fürs Kommen. Dieses Stück basiert auf einem Rechercheprojekt. Es gibt da zwei Vornamen, die unsere Autorin spannend findet: Lady und Macbeth. Macbeth ist ein Name, den es auf Kuba so nicht gibt, also hat sie ihn ersetzt, und zwar durch den Namen Miguel. Miguel – ein trauriger Name, irgendwie. Oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich heiße nämlich Miguel. Die Autorin hat einfach im Telefonbuch nachgeschlagen und Miguel, Miguel, Miguel und Lady, Lady, Lady gefunden. Sie hat allen eine Postkarte geschrieben, jedem Miguel und jeder Lady. Und dann hat sie uns alle zusammengetrommelt, 23. Straße, Ecke Malecón, an einem bestimmten Tag in einem bestimmten Monat, um genau neun Uhr abends. Sie bat uns, unsere Männer oder Frauen mitzubringen, unsere Freundin oder unseren Freund. Ja, wir sollten mit Partner kommen, sofern unsere Beziehung schon länger als zehn Jahre besteht. Um neun Uhr hörte man wie jeden Abend die Kanonenschüsse, und sie forderte uns auf, zu hören, wie sich das Echo im nächtlichen Havanna ausbreitet. Sie fragte, ob wir eigentlich glauben, dass Havanna ein gefährlicher Ort sei oder nicht. Sie, die Autorin, wusste einfach nicht so richtig, was sie mit uns anfangen sollte, dort, an der 23. Straße, Ecke Malecón. Sie war ein bisschen eingeschüchtert von uns. Wir waren ja auch ein ganz schöner Pulk, fast hundert Personen, hundertmal Lady und Miguel. Also hat sie uns von ihrem ehrgeizigen Projekt erzählt, ihrem Theaterstück. Ich bin Dramatikerin und so weiter und so fort. Unsere Autorin fühlt sich von all den üblichen Well-made-Plays zunehmend gelangweilt, all diesen von A bis Z haarklein durcherzählten Geschichten. Sie riskiert lieber was, sagt sie … sie interessiert sich mehr für … und sie hat uns dann etwas erklärt, wie … so etwas wie ihre Theorie darüber, wie man die Geschichte von Lady und Macbeth erzählen kann, von den Verbrechen von Lady und Macbeth, von den Opfern und Tätern in unserer heutigen Gesellschaft, davon, was in unserer Gesellschaft überhaupt als Verbrechen gilt und warum die Mörder immer wieder ungeschoren davonkommen … So haben wir geredet, geredet und gearbeitet. Und wir, meine Frau und ich, wir waren an diesem Abend dabei, zusammen mit all den anderen Ladys und Miguels. 112
Die Autorin meint, es sei nicht gerade leicht gewesen, mit uns ins Gespräch zu kommen. Sie hätte uns ganz schön löchern müssen, nachbohren, Fangfragen stellen – auch zu sehr intimen Details unserer Beziehung. Aber wir haben nicht viel Persönliches erzählt, wir halten uns lieber bedeckt, was unser Privatleben und unsere politischen Ansichten angeht. Also, ich trete jetzt gleich hier von rechts auf und sage diesen Text. Macbeth Wir leben, wir lieben und wir sterben nicht unter einer Glasglocke. Wir leben, wir lieben und wir sterben abwechselnd in makellosen und in verheerenden Gebieten, in ungeheuren Gebieten ohne jede Moral. Wir probieren andere Männlichkeitskonzepte aus. Gebt mir einen festen Punkt und ich werde die Welt aus den Angeln heben. Männlicher. Leckt mich doch am Arsch. Das war die Idee der Autorin, das würde sie gerne sehen. „Organischer“ käme das bei mir rüber, sagt sie. Die kann mich mal am Arsch lecken. Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken. Lady Ich trete von links auf, singe eine Hymne, aber sie ist nicht zu hören. Irgendwann, als nur noch sechs Paare übrig waren, da hat die Autorin uns gefragt: Erinnert ihr euch an den Text, das ich euch gegeben habe? Erinnert ihr euch an Macbeth von Shakespeare? Ich möchte, dass jetzt alle einen Schritt vorgehen, die das Stück gut finden. Und jetzt jeder, der glaubt, dass Macbeth und Lady Mörder sind. (keiner bewegt sich) Und jetzt jeder einen Schritt vorwärts, der denkt, Macbeth und Lady hätten nicht tun sollen, was sie getan haben. (keiner bewegt sich) Und jetzt alle, die überzeugt davon sind, dass man andere Leute nicht einfach umbringen darf, um sich etwas zu nehmen, das einem nicht gehört. (keiner bewegt sich) Einen Schritt vor, wer sicher ist, dass wir nicht alles aus dem Weg räumen dürfen, was uns im Wege steht. (keiner bewegt sich) Und noch einen Schritt nach vorne geht jeder, der überzeugt davon ist, wir müssten gerecht sein und die Welt gerecht aufteilen, und auf die Zukunft vertrauen. (keiner bewegt sich)
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2. Sprecht Hexen das ist ein Befehl
Macbeth Macbeth läuft durch den Wald und trifft die Hexen, Hallo! rufen sie, und Gruß dir! Macbeth erschrickt, doch will er hören, was sie sagen. Sie schmeicheln seinen Ohren, diese Hexen mit den heulenden, rauen Stimmen. Wartet, ihr kuriosen Kreaturen! Bleibt, ihr Dunkelsprecher! Lebt ihr? Seid ihr, was ein Mensch befragen darf? In diesem Moment hört er die unheilvolle Prophezeiung: Gruß dir, Macbeth, König von morgen! König von morgen, das übersteigt jede Vorstellungskraft. Das ist wie der erste Zungenkuss, die Sekretärin, die sich endlich für dich auszieht, der erste Porno, die erste heimlich gerauchte Zigarette. Sprecht, ihr finsteren Gestalten, sagt mir, woher habt ihr so sonderbare Nachricht. Sprecht, Hexen, das ist ein Befehl. Lady Sag jetzt nicht, du hast davon noch nie geträumt. Nie wieder Busfahren. Kein Abschaum mehr in deinem Leben, keine Dicken, die dich anrempeln, keine Schwarzen, die neben dir stehen und schwitzen und stinken. Sag jetzt nicht, dieser Gedanke wär dir fremd, Macbeth. Schau dich an, Kleiner, wie hübsch du bist, doch was für ein erbärmlicher Auftritt. Hast du nicht mal darüber nachgedacht, weniger – sagen wir –, fleißig zu sein. Weniger als Macbeth, aber mehr! Nicht so glücklich, aber glücklicher. Nicht so ehrlich. Nicht so idiotisch. Mehr kleiner Herr als großer Knecht. Deine Kinder Könige … Ich sag dir, was mich anturnt: Ich wage, was ein Mann nur wagen kann. Ach, Junge, so eine Energie, so ein Feuer, so eine Lust bekommt man nur bei Shakespeare. Die Unschuld erwacht im jungen Angestellten … ein unfehlbarer Dreiklang: Ehrgeiz, Ziel, Cash. Sprich mir nach, Ehrgeiz, Ziel, Cash, Cash, Cash. Recht ist schlecht und schlecht ist recht. Gruß dir, Macbeth! Macbeth Du bist eine Hexe. Lady Die alle übertrifft …
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3. Will der Zufall mich zum König
Macbeth Er ist das dritte Kind von einer Schneiderin und einem Alkoholiker. Dieser besoffene, abstoßende Kerl, der, kaum hat er getrunken, zu Hause austeilt, aber weder Geld noch Süßes, weder Brot noch Fisch. Schläge teilt er aus. Ein Satz von seiner Mutter dröhnt ihm noch im Schädel: Wieso atmest du eigentlich, das möcht ich mal wissen, dein Vater kann dir nichts geben und ich auch nicht. Es ist hart, zu hören, dass man nichts zu erwarten hat, von niemandem. Noch härter als das ist nur dieses „auch nicht“. Lady Ach, Macbeth, immer all diese Dinge, die du nie hattest oder verloren hast. Ich traue nervösen Männern nicht über den Weg. Macbeth Genug Gründe, um einen Gegner aufzuschlitzen, vom Nabel hoch zum Kinn. Nur wie? Lady Indem man den Gegner entthront. Macbeth Macbeth hat kein Messer mehr. Lady Macbeth, der Held, pfeift auf Fortuna, bahnt sich seinen Weg, verwandelt sein Pech zu Gold. Ganz oben, im höchsten Vorstand, dort, wo gute Aussicht ist, spießt er den Kopf des Gegners auf die Zinnen der Burg. Das heißt: wenn er wirklich hoch hinaus will. Peinliche Fotos, Beschwerdeschreiben von leicht manipulierbaren Arbeitern, hier schnell einen Importplan restrukturiert und dort ein paar Gespräche mitgehört, Äußerungen des früheren Abteilungsleiters, bei denen Huber Matos, der Verräter, viel zu gut wegkommt, persönliche Ansichten des Direktors über die Tapferkeit von General Ochoa, eigenwillige Meinungen zur Öffnung des Malecón, die dazu führt, dass Menschenscharen übers Meer fliehen wie die Fische, Kommentare über die wirtschaftliche Situation in einem Land, das zwei Währungen hat, Anmerkungen über das kubanische Wahlsystem. Plötzlich machen subversive Informationen zum Verschwinden der Leiche Camilo Cienfuegos die Runde, es wird deutlich, wie viele Ressourcen im Unternehmen verschwendet und fehlgeleitet werden, und dann kommt auch noch ans Licht, dass Arbeitsmaterial gestohlen wurde und alle davon wussten, der Ex-Abteilungsleiter gibt seinen dummen, pedantischen Senf dazu, und ja, dann blasen wir noch das Curriculum Vitae von Macbeth ein bisschen auf mit ein paar Abschlüssen, 115
die wir gemacht, und mit ein paar, die wir nicht gemacht haben, und all das zusammen macht aus einem bescheidenen Angestellten in weniger als zwei Monaten eine vielversprechende Führungskraft. Hier sind die Schlüssel zu deinem Wagen, Macbeth. Ein Moskwitsch, schlechter Zustand, aber immerhin. Hier die Schlüssel zu deinem Büro. Eine Thermoskanne für Kaffee und eine für Tee. Wir werden eine Klimaanlage haben, eine Sekretärin, ein persönliches Telefon und einen Laptop. Und in deinem Büro steht ein strahlend weißes Kaffeeservice. Macbeth Wären Sie so freundlich? Lady Ohne zu zögern. Macbeth Könnten Sie mir …? Lady Nicht so schlapp, um Gottes Willen. Macbeth Einen Kaffee. Lady Ein Sofa und zwei Lehnstühle. Jeder, der dich sehen, sprechen und dich um etwas bitten will, soll es sich und seinem Hintern hier bequem machen, während er wartet – auf den Sohn eines Alkoholikers und einer Schneiderin. Auf einen führungsstarken König. Macbeth Will der Zufall mich zum König, soll er selbst mich krönen. Ich rühr keinen Finger, um andere aus dem Weg zu räumen, aus dem Amt zu drängen oder auch vom Thron zu stoßen. Auf meinem Weg nach oben geh ich nicht über Leichen.
4. Wer hoch hinaus will
Macbeth Meine Damen und Herren, vielen Dank. Der wundersame Ruf, er kann nicht böse sein, nicht gut. Wenn böse, warum zahlt er mir gleich zu Beginn die Wahrheit. Wenn gut, was geb ich der Versuchung nach? Mein Dienst als Arbeiter war mir ein Gewinn. Ich bin dem Staat schuldig, alles zu tun, was getan sein muss. Man hat mich gepflanzt und wird dafür sorgen, dass ich blühe. Mein Verdienst ist darum nicht geringer und wird nicht weniger gerühmt. Mein großes Glück, ins Übermaß gesteigert, will sich verstecken im Tränenmeer. Dies schien mir nötig, dir mitzuteilen, meine Liebe, Freundin meiner Sorgen, Mutter meiner Rechte, Schwester meines plötzlichen und durchschlagenden 116
Erfolgs, Geliebte eines Mannes, der ohne dich nichts weiter wäre als ein Wurm, zerquetscht von den Wartezeiten und der Bürokratie in diesem Land, ein Mann, der ohne dich eine einzige Katastrophe wäre, einer, der seinen Platz in der Welt nicht gefunden hätte, einer, der ohne dich nichts wüsste von Restaurants wie dem Castropol, La Catedral, Motivos, Espacios oder La Madriguera, geschweige denn, dass man dort Tintenfisch mit Salsa und Knoblauch serviert bekommt. Ohne dich wüsste ich nichts über Marken. Ohne dich wüsste ich nichts über Zara Young. Ohne dich hätte ich keine Mailadresse, dot cu. Ich bin der Mann, der ohne dich nie ein Profil auf LinkedIn hätte und auch keins auf Facebook. 646 Freunde und noch mehr als dreißig offene Anfragen. Ohne dich säße ich auf Partys einfach so herum, anstatt zu netzwerken, wie du das nennst, anstatt den kleinen Stricher zu spielen für Männer, den mutigen Helden für Frauen. Mit dir lacht mir das Leben und dreht sich immer schneller. Dies schien mir nötig, dir mitzuteilen, auf dass du in den Genuss der Freude kommst, die sich deinem Ehemann ankündigt und nicht den Beginn des neuen Zeitalters verpasst, das für uns nun anbricht. Behalt es aber noch für dich und kauf uns einen Rum. Ich mach hier los, so schnell das Protokoll es erlaubt und komm dann gleich zu dir nach Hause.
5. Dass mein Messer nicht die Wunde sieht dies reißt
Lady Du sollst sein, wie es dir versprochen ist, mein Lieber, das sollst du. Doch dein Wesen ist zu voll von Milch der Menschlichkeit, das Einfachste zu tun. Du wärst gern groß, du hast den Drang danach, doch fehlt Gemeinheit, die dazu gehört. Stell den Antrag und tritt in die Partei ein, sag, du willst es unbedingt, sag, du brennst darauf, endlich auch dabei zu sein. Stell den Antrag jetzt. Gib ihnen, was sie wollen. Akzeptier keinen Tag länger ein Leben, das ausschließlich von Leistung abhängt! My dear, nur Talent haben, das reicht nicht mehr. Niemanden interessiert, ob du zu hundert Prozent aus grauen Zellen bestehst. Schieb dir deine Ehrlichkeit am besten in den Arsch. Niemanden interessiert, ob du Gillette Protection 24 hours verwendest. Niemanden 117
interessiert es, wenn du verhungerst. Niemanden interessiert es, ob du ein Jahr lang die gleiche Zahnbürste verwendest. Niemanden interessiert, ob du aus Recycling-Material bestehst, ob du ein Restefresser bist, der Krusten aus Töpfen kratzt. Niemand interessiert sich dafür, was dich interessiert. Amerikaner, Europäer, Kapitalisten, sie haben längst ein Wort erfunden für diese notorische Sucht nach dem Verlieren: Loooser. Was du auch willst, du willst es edel, lehnst Falschspiel ab, doch willst auf falschem Weg zum Ziel. Der Pöbel rollt auf uns zu und kommt näher, deine Problemchen interessieren ihn nicht. Unaufhaltsam ist sein Verlangen, idiotische Verlierer wie dich zu zerquetschen. Jetzt kommt meine Lieblingsstelle: Kommt ihr mordlustigen Geister, löscht aus, was weiblich an mir ist. Vom Scheitel zur Sohle füllt mich mit Grausamkeit. Verdickt mein Blut. Verschließt meine Poren. Versperrt dem Mitleid den Weg. Mit Galle füllt meine Brüste. Komm Nacht, hüll dich in Höllenrauch, dass mein Messer nicht die Wunde sieht, dies reißt. Komm schnell, damit ich dir ins Ohr mein Denken gießen kann, auslöschen alles mit meiner Wörterwut, was dich davon zurückhält, die Krone dir aufs Haupt zu setzen. Immer willst du, dass das Schicksal alles für dich regelt. Aber genau dieser Wunsch macht Mittelmaß aus dir, macht dich zum abhängigen, treudoofen Schaf. Am liebsten würdest du doch einfach rumsitzen und drauf warten, dass ein anderer entdeckt, wie genial du bist, wie clever und wie unglaublich avantgardistisch. Du glaubst wohl auch an dieses dumme Märchen, dass Qualität sich schon von selbst durchsetzt. Schwachkopf. Wir machen den Übergang zur nächsten Szene mit Musik. Die Autorin will, dass wir so tanzen, als wären wir auf einer richtigen Party. Vielleicht so, wie wir damals getanzt haben, vor zehn Jahren, als wir uns kennenlernten. Die Autorin sagt, wir sollen vergessen, dass uns ein Publikum zuschaut. Ihr sollt richtig tanzen, ihr sollt euch wirklich berühren und küssen … tanzt den Übergang von Lady und Macbeth, Richtung Bett.
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6. Mein ganzes Leben soll ein Luxus sein
Macbeth Weißt du, was meine Mutter über unsere Wohnung gesagt hat? Lady Kann ich mir schon denken. Macbeth Dass sie unbewohnt wirkt. Nicht so aussieht, als lebten hier ein Paar und ein Kind. Anders ausgedrückt: dass du und ich nichts essen, um nicht scheißen zu müssen. Lady Liebling, denk dran, die Verabredung war, dass du Scheißen laut und verächtlich sagst. Macbeth Schscheißen. Sssschheißen. Meine Mutter sagt, dass du und ich nichts essen, um nicht zu scheißen. Lady Sag deiner Mutter, intelligente Menschen bevorzugen minimalistische Wohnungseinrichtungen, damit sie durch nichts von ihrem aim abgelenkt werden, ihrem Fokus, ihrem übergeordneten Lebensziel. Deine Mutter ist ein abstoßendes Schwein, eine schmuddelige Bauersfrau mit rissigen Fersen. Macbeth Lady! Lady Vergiss jetzt den Quatsch mit deiner Mutter und ruf Duncan an. Fünf Minuten reichen, um ihm in den Arsch zu kriechen. Macbeth Und was sag ich ihm dann, Lady? Unter welchem Vorwand ruf ich ihn an? Lady Lad ihn zum Essen ein. Luxussnacks, Darling. Sich den Bauch vollschlagen soll dann jeder bei sich zu Hause. Macbeth Unser ganzes Leben soll ein Luxus sein. Lady Mein ganzes Leben soll ein Luxus sein. Macbeth Aber lohnt es sich, ihn hierherzubringen? Lady Selbst dem Raben wird die Stimme heiser, krächzt er von Duncans unheilvollem Eintritt in mein Haus. Du bist nur leitender Angestellter, einer, den sie benutzen, einer, den sie immerzu manipulieren, natürlich immer zum Wohl des Unternehmens. Doch sie kennen dich nicht, kennen dein Gesicht nicht, du bist nur einer von vielen Namen auf ihrer langen Liste. Sag Duncan und all den anderen, deine Frau hat heute Geburtstag. Sag, du hast eine Überraschungsparty für mich vorbereitet. Und sag, dass deine Frau aus allseits bekannten Gründen, über die sowieso schon alle Welt spricht … dass sie deswegen nicht aus dem Haus kann … sie wissen ja, warum. 119
Macbeth Ich muss Essen und Getränke kaufen … Lady Die Zeiten haben sich geändert, Kleiner. Oder vielleicht auch nicht, denn sonst würden wir jetzt sagen: Duncan kommt zum Abendessen. Du hast den Ex-Direktor noch nicht aus dem Kühlschrank geholt und den ehemaligen Abteilungsleiter auch nicht. Lady reicht Macbeth eine tiefgekühlte Schweinekeule. Um ihn zu ärgern, legt sie ihm das Fleisch auf das Bett. Macbeth wirft es herunter. Lady wirft ihm ein Stück tiefgekühltes Schweinefleisch aufs Bett, um Macbeth zu ärgern. Macbeth lässt es fallen. Lady legt es ihm in die Hände und hält ihm die Hände fest, sodass er es nicht mehr loslassen kann. Macbeth Du machst einen besseren Menschen aus mir, mein Herz. Die Zukunft ist nah, das spüre ich.
7. Opfer und Täter
Macbeth Offen gesagt, geht es jetzt weiter mit dem Fluchtpunkt der Geschichte: Ein gealterter Macbeth betritt die Szene, er trägt eine Wegwerfwindel und zieht eine Kotspur hinter sich her. Lady und Macbeth (Kinder) (singen und spielen) Ein Hase läuft über das Feld, ein Hase läuft über das Feld …2 Lady Das Opfer steht in der Mitte, nah beim Täter. Opfer und Täter schauen sich in die Augen. Das Opfer fürchtet sich, schwitzt und atmet hektisch, auch der Täter fürchtet sich, schwitzt und atmet hektisch. Das Opfer ist leicht zu erkennen. Es hat fast immer Schrammen, Schmerzen, blaue Flecken, Verstümmelungen, Schäden und Unzulänglichkeiten. Es ist arm und krank, es leidet, wimmert, heult und klagt und es hat diesen funkelnden Opferblick, der aus der Tiefe seiner Seele schreit. Der Täter ist nicht so leicht zu identifizieren. Macbeth Ich war kein schlechter Mensch, oder, altes Haus? Aus mir ist die humanistische Besinnung doch nur so rausgesprudelt. 2) AdÜ: „Ein Hase läuft über das Feld“ ist ein Kinderspiel, in Deutschland ebenfalls bekannt als „Ochs am Berg“.
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Ich bin das Ergebnis eines Prozesses zur Berichtigung von Irrtümern und negativen Tendenzen.3 Ich habe immer die Menschen unterstützt, die ich geführt habe, ich habe meine Familie unterstützt, meine Kinder erzogen, ich war immer für dich da. Jetzt bleibt mir nur die Erinnerung. Ich sollte meine Memoiren schreiben. Alte, weißt du was? Es gibt eine Zeit, zu lieben, und eine Zeit, zu sterben. Ich kann nicht mehr. Lady (gibt Macbeth mit einem Löffel Brei zu essen) Das, was du da humanistische Besinnung nennst, ist nichts weiter als eine alberne Erfindung von dir und deinem Altersschwachsinn. Du hattest nie eine humanistische Besinnung. Du wusstest, wie man die Menschen kontrolliert, die man führt. Das mit deinem Berichtigungsprozess ist auch nicht wahr. Immer wenn du einen Fehler berichtigt hast, waren die Folgen noch schlimmer. Die Menschen, die für dich gearbeitet haben, haben dich nicht respektiert: Sie haben dich gefürchtet. Deine Familie hat dich gehasst. Deine Familie hat dich als Türöffner benutzt und als Zahlonkel beim Einkaufen, sie wollten deine Kreditkarte und deine Leistungsprämien. Das einzige, wovon deine Kinder wirklich überzeugt sind, ist, dass sie nicht so werden wollen wie du. Deine Erinnerung lässt dich im Stich. Deine Hand kann nur Pamphlete schreiben. Die Zeit, zu lieben, hast du verschwendet. Das einzige, womit du recht hast, ist, dass du zu nichts mehr zu gebrauchen bist. Du kannst gar nichts mehr. Schmeckt dir das Püree? Dann iss und stör nicht weiter. Lady legt Macbeth hin und tauscht seine schmutzige gegen eine saubere Windel. Lady und Macbeth (Kinder) (singen, spielen, bilden einen Kreis) Ein Hase läuft über das Feld, ein Hase läuft über das Feld. Ein Hase läuft über das Feld, ein Hase läuft über das Feld.
3) AdÜ: 1986 geriet Kuba in eine schwere Schuldenkrise, die Fidel Castro zum Anlass nahm, einen Prozess der „rectificación“ durchzuführen, jenem „Prozess zur Berichtigung von Irrtümern und negativen Tendenzen“, wie es im offiziellen Sprachgebrauch hieß. Er kam einer Abkehr von pragmatischen Prinzipien und einer Re-Ideologisierung gleich, die sich auch in der Rückkehr zu moralischen Arbeitsanreizen manifestierte. Konkret wurden die Arbeiterbrigaden und die Freiwilligenarbeit wieder eingeführt. Siehe: Frauke Gerwecke: Die Karibik: zur Geschichte, Politik und Kultur einer Region, Frankfurt am Main 2007.
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8. Lob der Verführung
Lady Ein Buch, mein Herr, ist dein Gesicht, darin kann jeder lesen schlimmes Zeug. Macbeth Nicht schon wieder diese Theorien über mein Gesicht. Lady Dann lass mich bloß in Ruhe, heut Nacht im Bett. Macbeth Was willst du damit sagen, rede ich zu viel? Lady Verführung ist ein Spiel mit dem äußeren Schein. Macbeth Diese Schwachstelle erwähnst du heute aber zum ersten Mal. Lady Sag laut, was du erreicht hast, aber erzähl ihnen nicht gleich die ganze Geschichte. Sprich nicht zu schlecht über unser Land. Mach aufmerksam auf das Problem, deute an, dass du eine Lösung hast, aber verrate nicht welche. Und was genau das Problem ist, verrätst du besser auch nicht. Macbeth Du überraschst mich. Immer wenn ich heimkomme, ist das Essen schon fertig und immer nur vom allerfeinsten. Lady Gib abwechselnd geniale Vorschläge und idiotische Kommentare zum Besten: Gut siehst du aus, Kamerad, verrat mir, wie du das machst, dass du so gut in Form bist, und was ist das für ein Parfüm, hmmm, riecht nach Ulric de Varens, nach einem Mann mit Erfahrung. Macbeth Und ich trage nur frisch gewaschene und gebügelte Kleidung … Lady Verwende Spitznamen, die vertraut klingen, damit alle glauben, Duncan und du, ihr wärt euch nah: Wie gehts, Hombre, Chef, Macho, Mann, Kamerad, Genosse, Kumpel … Klopf ihm auf die Schulter. Macbeth Du hast erzählt, dass du den Jungen mit in den Park genommen hast und dass es dir manchmal sogar so vorkommt, als könnte er Licht sehen, weil er aufwacht, wenn du die Lampe anknipst. Lady Und immer, wenn ein Dummkopf niest, lächelst du und sagst: Gesundheit. Macbeth Du erzählst mir seelenruhig, dass der Arzt da war und ihm die Infusion gegeben hat, dass der Junge gekotzt hat und dann eingeschlafen ist. Lady Wenn du verführen willst, musst du der erste sein, der verführt. Macbeth Und trotz allem bist du noch in der Lage, über all diese Dinge nachzudenken … für mich. Lady Hör mal. Nimm deine Zunge aus meinem Arsch und konzentrier dich. 122
Macbeth (spricht über das Kind) Weint es? Lady Liebling, ich möchte, dass du heute Nacht, die Verführung in Person bist: unschuldig, kalkulierend, bezaubernd und raffiniert. Macbeth Aber es weint doch. Lady Wenn wir die Kunst der Verführung beherrschen, wirkt sich das auch auf unsere Beziehung zur Welt aus, glaubst du nicht? Dieselbe Verführung, die dich ins Bett lockt, findet auch zwischen dir und anderen Arbeitern statt, zwischen uns und dem Publikum, zwischen Duncan und den Ausländern, mit denen er Verträge schließt. Zwischen Mutter und Kind. Das große Schmiermittel aller sozialen Beziehungen. Macbeth Ich gehe einen Moment zu ihm hinein. Ich habe immer weniger Zeit für ihn. Lady Ich brauche nicht noch ein Kind in diesem Haus.
9. Ich
Lady, alt. Lady Leben, ohne mich schuldig zu fühlen. Die Haare so lang wie Rapunzel und eine ebenso lange Leitung, aber kein schlechtes Gewissen. Vom Markt kam ich mit leeren Taschen zurück. Ich bin früh schlafen gegangen, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Ich war leise. Ich habe alles in Ruhe erledigt. Ich habe die Gesetze geachtet. Ich habe meinen Ehemann respektiert. Ich habe für die Kinder gesorgt. Ich habe das Haus jeden Tag geputzt. Ich habe nie einer Fliege etwas zuleide getan. Ich bin nie gereist. Ich habe nie Urlaub genommen. Ich habe dreimal täglich Trifluoperazin genommen. Ich habe vor dem Herd gestanden und nichts gehabt, was ich darauf hätte kochen können. Ich habe jahrelang dieselbe Schürze getragen. Manchmal, da hab ich ein bisschen getratscht. Manchmal, da hab ich kommentiert, wie andere Leute leben. Manchmal, da hab ich mich vom Fenster aus in das Leben anderer Leute eingemischt. Manchmal, da hatte ich selbst einfach nichts, was die Bezeichnung Leben verdient hätte. Und manchmal, da hab ich mich auch einfach nur aus dem Fenster gelehnt, um den Leuten zuzusehen.
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10. Die Katze die Fische fangen will
Macbeth Und wenn wir versagen? Lady Versagen? Wir? Aus welchem Grund denn? Wer sagt sowas? Wir haben schon genug Scheiße abgekriegt. Der Kübel Scheiße, den das Leben über uns ausgekippt hat, liegt dort in dem Zimmer, verliert seine Haare, kann nichts sehen, kotzt alle zwei Stunden und hat einen Tumor im Kopf, der ständig größer wird. Macbeth Alles, was du da aufzählst, wissen wir doch schon. Lady Ich habe keine Angst, die Dinge beim Namen zu nennen. Ein Tumor ist ein Tumor und das wird man doch noch sagen dürfen, er hat sich eingenistet, häuslich eingerichtet, er wuchert, jede Woche messe ich ihn, in Zentimetern, ich berechne sein Gewicht, ich bereite das Essen zu, das letztlich doch nur den Tumor nährt. Jeden Tag kämpfe ich gegen diesen Tumor, ich habe keine Angst vor ihm, ich scheiß auf ihn und an dem Tag, an dem mein Sohn endlich ausruhen kann und stirbt, werde ich diesen Tumor mit beiden Händen packen, herausreißen, anschauen, auf den Tisch legen und so lange mit dem Hammer auf ihn einschlagen, bis nur noch Staub von ihm übrig ist. Verstehst du? Ich habe keine Angst mehr vor dem Leben, denn das Leben hat mir diese Scheiße längst schon eingebrockt. Macbeth Gib mir das Telefon. Lady Du sagst ihm, dass du davon träumst, Vertreter zu werden, dass du Englisch kannst und Excel und Deutsch und diese ganze Computerscheiße. Sag ihm, du willst von der Insel runter und eigene Geschäfte machen, Einkäufer sein, Dinge kaufen, die bei uns gebraucht werden, Haushaltsgeräte, Schuhe, Handtaschen, Gummipuppen, alles, was anständig Provision abwirft, und die trägst du natürlich zur Bank und zwar zu einer, die nichts mit diesen schändlichen Banken zu tun hat, bei denen du nicht selbst bestimmen darfst, was mit deinem Geld passiert. Macbeth Und soll ich von den Fehlern anderer sprechen? Lady Nein, Dummerchen, von ihren Qualitäten, damit sie sie zu Präsidenten ernennen – auf den Antillen. Macbeth Ok, ok, dann müssten wir noch jemanden anheuern, der heute Abend die Getränke serviert. 124
Lady zeigt auf sich selbst. Macbeth Du arbeitest tagsüber schon genug. Lady Ich gehe von einem zum andern und serviere die Getränke. Sie trinken einen Schnaps und noch einen und noch einen und stellen sich dabei vor, dass deine Frau keine Unterwäsche trägt. Und wenn die versoffenen Naturen dann im Sauschlaf liegen wie im Tod – was für Deals könnten wir dann dem wehrlosen Duncan vorschlagen, so unbelauscht mit ihm allein. Du stellst das „ich trau mich nicht“ über das „ich will“. Die Katze, die Fische fangen will, Macbeth, muss sich den Pelz nass machen. Macbeth Ich hoffe, alle deine Kinder werden Söhne. Lady (Transvestit) Und ich hoffe, Macbeth, dass für dich heute Abend nur zählt: „Wer hat mir meinen Käse weggenommen?“, und: „Was ist meine Mäusestrategie?“
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11. Der Cashflow-Quadrant 4
Lady Hey, Kleiner, lass mich mal auf deinen Sitz. Hilfst du mir? Du und ich, wir zaubern jetzt ein bisschen was für die Leute hier. Gib mir doch mal diese Mappe da. Danke. Halt mal, bitte. Lady holt einen Filzstift raus und schreibt auf die leeren, kartonierten Seiten eines großen Ringbuchs in großen Buchstaben. Lady Ich mache euch nichts vor. Ich lese keine Bücher. Lesen ertrage ich einfach nicht. Aber nützliche Dinge lese ich durchaus. Ich lese Ratgeber. Selbsthilfebücher. Drei habe ich gelesen: „Mäusestrategie für Manager“ 5, „Rich Dad, Poor Dad – was die Reichen ihren Kindern über Geld beibringen“ 6 … und „Schuld sind immer die Kühe“ 7. Lest ihr Selbsthilfebücher? Nein? Das ist aber nicht gut. Das erste, das ich gelesen habe und das mein Leben verändert hat, war: „Rich Dad, Poor Dad“. Ich habe versucht, Macbeth den Cashflow-Quadranten zu erklären. Lady zeichnet ein Schaubild, in das sie ihre Statements schreibt.
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Arbeitnehmer
Unternehmer
Selbständige
Investoren
4) Robert T. Kiyosaki: Der Cashflow-Quadrant, München 1998. 5) Spencer Johnson: Die Mäusestrategie für Manager. Veränderungen erfolgreich begegnen, München 2015. Alle Textpassagen, die Lady daraus zitiert, sind original übernommen. Im amerikanischen Original von 1998 heißt das Buch „Who moved my cheese?“ – Wer hat meinen Käse weggenommen? 6) Robert T. Kiyosaki: Rich Dad, Poor Dad – was die Reichen ihren Kindern über Geld beibringen, München 2014. 7) Jaime Lopera Gutierrez: La Culpa Es De La Vaca: Anecdotas, Parabolas, Fabulas y Reflexiones sobre el Liderazgo, Bogotá 2008. Eine Übersetzung ins Deutsche liegt derzeit nicht vor.
Lady Angestellte oder auch Arbeiter sind leicht zu erkennen. Sie wiederholen die immergleichen Sätze: Ich suche eine sichere Arbeit mit einem festen monatlichen Einkommen. Die Arbeiter, die Angestellten, das sind Leute, die ihr ganzes Leben lang am Hungertuch nagen. Sie sparen und sparen, schränken sich ein, drehen jeden Penny dreimal um und erlauben sich nie den Luxus, mal richtig Urlaub zu machen. Arbeiter kaufen keine Markenkleidung und auch sonst nichts Hochwertiges. Sie kaufen runtergesetzte Ware, Schnäppchen, Großpackungen, Sonderangebote kurz vor Ablauf der Haltbarkeit. Die Arbeiter leiden. Wenn sie Besuch bekommen, ärgern sie sich, denn dann muss ein Hühnchen mehr auf den Tisch. Die Arbeiter haben eine Meinung, sie heben die Hand, sie ergreifen das Wort und bemühen sich, gute Arbeiter zu sein. Die Arbeiter arbeiten, machen sich die Hände schmutzig, kaufen Gallseife, um sich die Fettflecken aus der Kleidung zu waschen. Das Deprimierendste an den Arbeitern sind die Arbeiterinnen. Mit ihren Kindern an der Hand sind sie ständig nur am Rennen, wirken total hysterisch, bringen die Kinder in die Kita, geben ihnen einen gehetzten Kuss, spät abends holen sie die Kinder wieder ab und haben dann nicht mehr die Kraft zu küssen, zu lieben, zu strahlen, zu verführen. Meistens werden die Arbeiterinnen von den Arbeitern verlassen, früher oder später. Arbeiter und Arbeiterin teilen ihren Haushalt auf, das Wenige, das sie besitzen. Die Arbeiterin behält die Matratze, der Arbeiter den Fernseher. Die Arbeiterin kriegt die Waschmaschine, der Arbeiter den Ventilator. Sie teilen, trennen, zerschneiden und fangen wieder bei Null an, und eines schönen Tages lernen sie einen anderen Arbeiter oder eine andere Arbeiterin kennen. Die Arbeiterin träumt von einer besseren Arbeit. Der Arbeiter hört auf zu träumen und sagt sich: Ich kann ja gar nichts anderes, also werde ich so sterben, wie ich auch gelebt habe. Ich glaube, diesen Teil habt ihr verstanden … Die Selbständigen, hier in diesem Feld, die sorgen für sich selbst, z. B. eine Ballettlehrerin oder ein Zahnarzt, sie bauen ihr eigenes Business auf und legen ihre eigenen Preise fest. Sie haben einen großen Vorteil gegenüber den Arbeitern: Sie können sich ihre Zeit selbst einteilen. Zeit ist Gold für diese Leute. Time is Money. Je mehr sie arbeiten und ihre Körper verbrauchen, umso mehr verdienen sie. Aber das ist natürlich so nicht ganz richtig. Time ist nicht immer Money. Denn es gibt Leute, die machen Money, ohne allzuviel Time zu investieren. 127
Und dann gibt es da noch die Unternehmer. Die sind nicht ganz so clever wie die hier (sie zeigt auf Selbständige), aber doch intelligent genug, um sich mit den Leuten zu umgeben, die gut fürs Geschäft sind. Der Unterschied zwischen den Unternehmern und den Selbständigen ist, dass die hier (sie zeigt auf Selbständige) einen Burger-Laden aufmachen und die hier (sie zeigt auf Unternehmer), die stellen das lateinamerikanische Filialnetz von McDonalds auf die Beine. Der Unterschied ist, dass Unternehmer Rechnungen schreiben und Bücher führen, sie zählen das Geld, das ihr Geschäft abwirft … Und die Arbeit, die wird natürlich von der Arbeiterin und dem Arbeiter gemacht. Der Unternehmer kauft das Öl, mit dem die Arbeiterin ihre Kleider dreckig macht. Der Unternehmer ist es auch, der die Arbeiterin unter Druck setzt, damit sie ihr Kind noch länger im Kindergarten lässt, während er, der Unternehmer, in seinen wohlverdienten Urlaub fährt. Und die letzte Stufe in der Nahrungskette, das sind die Investoren. Sie kennen nur eine Priorität: das Investment wieder reinholen, und zwar mit Gewinn. Ihr Geld steckt im Finanzkreislauf, das ist der entscheidende Unterschied zwischen ihnen und den anderen. Und: Sie bekommen immer Geld, ganz gleich, ob sie arbeiten wie Hunde, wie Arbeiter besser gesagt, oder ob sie keinen Finger rühren. Lady blättert in ihrer Mappe und sucht eine leere Seite, unterstützt vom Mann aus dem Publikum. Sie zeichnet dieses Schaubild: Aktiv
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Passiv
Lady Alles, was Geld ins Portemonnaie bringt, sei es durch Arbeit oder auf anderen Wegen, sind Aktivposten. Und Passivposten sind alle, die dir Geld aus den Taschen ziehen – ob du arbeitest oder nicht. Clever wäre also, immer mehr Aktivposten zu generieren. Dein Haus? Aktiv oder Passiv? Wie kannst du dein Haus in einen Aktivposten verwandeln, damit es nicht nur ein Haufen Zement ist, in die du Farbe, Reparaturen und andere Dinge investieren musst? Dein Auto? Aktiv oder Passiv? Du musst Aktivposten in deiner Umgebung schaffen, Aktivposten, die Geld reinbringen, auch wenn du im Urlaub bist. Das lässt sich auf alles anwenden. (zum Mann aus dem Publikum) Danke. Danke für den Platz. Spot auf Lady. Lady Mäusestrategie für Manager. Wer hat mir meinen Käse weggenommen, wer hat dir deinen Käse weggenommen? Jeder von uns hat seine eigene Vorstellung davon, was Käse ist, und wir jagen diesem Käse nach, weil wir glauben, dass er uns glücklich macht. Wer Käse hat, ist glücklich. Wer ihn verliert, der leidet. Je wichtiger dir dein Käse ist, desto mehr willst du ihn behalten. Schnupper oft am Käse, damit du merkst, wenn er alt wird. Wer eine neue Richtung einschlägt, findet leichter einen neuen Käse. Allein schon die Vorstellung, wie der neue Käse schmecken wird, führt mich zu ihm. Je schneller du den alten Käse sausen lässt, desto eher findest du neuen. Der Käse verändert ständig seinen Standort. Wer kleine Änderungen früh bemerkt, passt sich den großen später leichter an. Wenn der Käse seinen Standort ändert, änderst du den Kurs. Und: Schuld sind immer die Kühe. Das ist noch so ein Selbsthilfebuch, das du unbedingt lesen musst. Schuld sind immer die Kühe.
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12. Und schon sind meine Hände schmutzig
Macbeth Ist das ein Dolch, den ich hier vor mir seh? Den Griff auf mich gerichtet? Macbeth lässt das Telefon zwar nicht fallen, traut sich aber offensichtlich nicht mehr, den Anruf zu machen. Lady nimmt ihm mit einem Ruck den Hörer aus der Hand. Lady Hallo … Ja, guten Tag … Macbeth Lady reicht das Telefon an Macbeth weiter. Macbeth entfernt sich ein bisschen von ihr, um zu sprechen … Und schon sind meine Hände schmutzig. Lady Gut, mein Lieber, dann geh sie dir waschen, deine Hände.
13. Das Gesetz der Anziehungskraft8
Alle Macbeth-Darsteller stehen ein wenig abseits der Party. Lady fordert einen Mann aus dem Publikum zum Tanzen auf. Sie hält ihn fest umschlungen und nötigt ihn, etwas aus einem Glas zu trinken, sie nimmt seine Hände und legt sie auf ihren Körper. Lady Das Gesetz der Anziehungskraft. Bist du schon mal jemandem auf der Straße begegnet, an den du kurz vorher gedacht hast? Hast du schon einmal das Radio angeschaltet und es kam genau das Lied, das du gerade vorhin noch gesummt hast? Ist es schon einmal vorgekommen, dass du plötzlich eine Frau küssen konntest, die du schon lange begehrt hast? Guten Abend, wie elegant … Oder glaubst du, dass du alles, was du erreichst, einer bewussten Anstrengung verdankst? Hast du nie darüber nachgedacht, dass es im Universum ein Gesetz des Zufalls gibt, das viel mächtiger ist? Dein Geist ist ein Magnet. Du ziehst das an, woran du denkst. Die in der physischen Welt beobachtbaren Prinzipien des Magnetismus und der Anziehungskraft wirken auch auf der nichtsichtbaren Ebene.
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8) Andrew Matthews: So geht’s dir gut, übersetzt von Michaela Schmidt, Freiburg 2015. Die Textpassagen, die daraus von Lady im Stücktext wörtlich zitiert werden, sind dieser Übersetzung entnommen.
Willst du nicht noch einmal gut darüber nachdenken? Bist du alleine hier? Wie ist es möglich, dass mein Geist die Dinge anzieht oder sie hervorbringt? Doch ja, gute Frau, es gibt eine magnetische Funktion im menschlichen Hirn. Du ziehst an, was dich beschäftigt. Hey, wenn du etwas trinken willst, sag mir bescheid! Dein Geist ist ein Magnet. Du bist magnetisch, Großartiges ziehst du ebenso an wie Scheiße. Was du dir wünschst und was du dir auf keinen Fall wünschst. Wenn du bei jedem Fick an AIDS denkst, hast du innerhalb kürzester Zeit einen positiven HIV-Test in der Hand. Werde nicht die Geliebte von jemandem, wenn du Angst vor deinem eigenen Ehemann hast. Wenn du Ausweiskontrollen fürchtest, arbeite nicht als Hure. Sei nicht diese fette Person, die um allen Süßkram einen großen Bogen macht. Du hast Angst vor der Polizei? Dann werde besser kein Dieb. Rauche nicht, wenn andere das Gras riechen können. Töte nicht, wenn du Angst davor hast, Spuren zu hinterlassen. Schmuggle nicht, wenn du Schiss vor dem Zoll hast. Klettere nirgendwo hoch, wenn du Angst hast, runterzufallen. Nein, Herzchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dein Flugzeug ist, das abstürzt, ist eins zu zehn Millionen. Klar stürzt es nicht ab. Du musst nur denken: Alles wird gut ausgehen. Ich bin groß, ich bin der Beste und alles wird gut ausgehen. Dein Geist ist ein Magnet. Großartiges ziehst du mit derselben Kraft an wie Scheiße. Du ziehst an, was du dir wünschst und was du dir auf keinen Fall wünschst.
14. Das Leben ist ein Schatten der wandert
Macbeth Wenn ich daran denke, was ich getan habe, erschrecke ich vor mir selbst … Letzte Woche habe ich Duncan gesehen. Lady Und mich und deine Mutter und deinen Hund und viele andere. Und weiter? Macbeth Er kam ins Büro, bat um einen Termin. Lady Sein Problem. Macbeth Lady, sie haben ihn nicht reingelassen. Lady Gut so. Irgendwann müssen Diebe und Opportunisten in diesem Land auf ihre Plätze verwiesen werden. 131
Macbeth Die Frau an der Rezeption hat ihn empfangen. Und sie hat dabei nicht mal ihre Kaffeetasse abgestellt. Ich hatte sie gebeten, seine Anrufe nicht durchzustellen. Lady Endlich wachst du auf, mein Lieber. Macbeth Während ich Formulare ausfülle oder Verträge mit den Deutschen abschließe, höre ich Rufe an der Tür. Dann denke ich, das ist doch Duncans vertraute Stimme. Hier ist mir das auch schon passiert. Ich denke, ich höre Duncan flehen, so wie damals an dem Tag, als ich ihn mit den Dokumenten konfrontiert habe, als ich zu ihm gesagt habe: Entweder du klärst das oder ich kläre es. Er hat mich scheinbar nicht verstanden, also hab ich es nochmal gesagt: Duncan, du klärst das oder ich. Manchmal erkenne ich meine eigene Handschrift nicht mehr, so oft hab ich die von Duncan gefälscht. Du schläfst die ganze Nacht, aber ich stehe auf. Und öffne die Tür. Wenn ich sie aufmache, sehe ich den alten Duncan und er weint. Lady Oh nein, bitte, keine Litanei. Was geschehen ist, ist geschehen. Macbeth Lady, schau mir in die Augen. Während du gestern Nacht geschnarcht hast, hat Duncan sich im Gefängnis aufgehängt. Mit seinem eigenen Hemd. Lady … Gut, das hätte ich nie von ihm gedacht, aber was willst du denn, was soll ich tun? Ich habe auch Probleme und hänge mich deswegen nicht gleich auf. Macbeth Wär ich gestorben nur eine Stunde vor diesem Schlag wär ein Geschenk mein Leben. Lady Und …? Macbeth Duncans Kinder sind zu mir gekommen. Sie haben sich mir an den Hals geworfen und geweint, Lady, wie sie geweint haben. Ich habe versprochen, ihnen zu helfen. Lady Und …? Macbeth Niemand ahnt, dass ich ein Emporkömmling bin, ein Aufsteiger, ein Hurensohn, der Duncan auf dem Gewissen hat. Duncan hat mir vertraut. Duncan war der Einzige im Unternehmen, der mich wirklich gefördert hat, mir viele Chancen gegeben hat. Und ich hab in die Hand gebissen, die … Lady So darfst du das nicht sehen. Du bist jung. Hast keine Grenzen. Das ist das Gesetz des Lebens. Macbeth Man hat die Kinder von Duncan erwischt. Böse Zungen be132
haupten, sie wollten das Land verlassen. Lady Sicher. Macbeth Sie haben scheinbar das Geld dafür. Lady Wie sollten sie auch kein Geld haben. Ihr Vater hat dieses widerliche Land ausgesaugt, dem ganzen Volk hat er Scheiße verkauft, zweihundert Prozent über dem eigentlichem Wert. Duncan hat Shiseido-Schuhe aus Billigplastik aufgekauft, Fakes für die Frauen bei uns. Shiseidos, die nur vom Anschauen schon auseinanderfallen. Nur eine Frau weiß, was das bedeutet, ein Shiseido-Schuh, mit Shisheido-Blasen und Shiseido-Sound beim Laufen. Der Chinese, der sie ihm verkauft hat, in China natürlich, denn China hat Duncan dafür bezahlt, dass er eine Woche in Shanghai mal so richtig die Sau rauslassen konnte, der hat also zu ihm gesagt, dass es da eine Liefertranche mit mangelhaften Schuhen gibt, die er im sumpfigen Salzsee von Qinghai versenken will. Und Duncan hat nur gesagt: Ich bin hierhergekommen, um für meine Hungertoten, meine Eingeborenen mit Lendenschurz, für meine Leute, die ja keine andere Wahl haben, um für sie alle die Shiseido-Schuhe vor dem Qinghai-See zu retten. Meine Indios haben keine Wahl. Meine Latinos haben keine Wahl. Mach weiter, produzier Scheiße, Chinese, ich kauf dir alles ab, gegen Gold, gegen Löffel, solange du mir eine ordentliche Kommission auf mein Blue-Ice-Konto überweist. Und das ist, was du jetzt tun wirst: Mach weiter so, überschwemm deine Leute mit diesem ganzen Mist, der auseinanderbricht und reißt und schmilzt, mit dem ganzen nutzlosen Plastikscheiß, den Puppen mit ihren großen Augen, die sich lösen und ins Innere der Puppenbäuche rollen, sobald ein Kind sie auf den Arm nimmt. Ich bin besser still. Das hier wäre ein anderes Stück von derselben Autorin mit dem Titel „Stück gegen die Chinesen“. Macbeth Eins will ich dir noch mit auf den Weg geben, mein Junge, hat er gesagt. Mein Junge, so hat er mich immer zärtlich genannt und ich ihn Kumpel, Konsorte, Komplize und er stand drauf, weil ihm die Schleimer mit ihren Johnny-Walker-Präsenten längst langweilig waren. Mir hat er vertraut, weil ich direkt und gradlinig zu ihm gesprochen habe, ohne Umwege. Mein Junge, Umgangsformen hast du keine, hat er gesagt. Und dann Lady, hat er sich umgedreht, mein Junge, hat er gesagt, schau mal im Büro in der Schublade ganz hinten nach, da liegt ein Brief für dich. 133
Lady Und was stand in dem Brief? Macbeth Wenn du drei Jahre auf diesem Posten durchgehalten hast, mein Junge, dann vergiss nicht, selbst einen Brief zu schreiben. Lady Wow! Fast bekomme ich Lust, zu vögeln. Wow, Duncan! Ich habe dich unterschätzt, wirklich, ich hab dich unterschätzt. Berühr mich, Macbeth, ich glaube, ich werde wirklich richtig feucht. Komm, berühr mich. Was für ein Mann, was für eine Würde, was für eine Ehre! Macbeth Hast du denn vor überhaupt nichts Respekt? Jemand ist gestorben und du lachst? Lady Entschuldige, entschuldige … ich bin schon als Kind immer ganz nervös geworden, wenn ich die Nationalhymne singen musste, zum Beispiel bei Totenwachen oder anderen öffentlichen Anlässen … Macbeth Innerhalb der Bandbreite der menschlichen Spezies gibt es verschiedene Menschenarten, Lady, das ist wie bei den Hunden. Wolfshunde, Windhunde, Zwerghunde, Dackel, Boxer, Afghanen und wir nennen sie alle Hunde. So ist es auch mit den Frauen. Aber ich werde mich nicht dazu versteigen, dir so einen Spitznamen zu geben. Du bist die einzige, die weiß, wer ich bin. Dich anzuschauen, ist, wie in mein Innerstes zu sehen. Dich jeden verdammten Tag zu sehen, widert mich an. Ich muss an all deine Pläne denken, an all die Jahre, in denen ich nicht mit meinem eigenen Kopf gedacht habe, Jahre, in denen ich durch diese Tür hinaus bin, um das zu tun, was du nicht konntest, weil ein Tumor dich gehindert hat … Viel zu lang schon lebst du mein Leben … Das Kind kann bei mir bleiben, aber ich muss jetzt meine Sachen packen und eine Zeit lang woanders wohnen … Du widerst mich an … Wir haben sie zerteilt, die Schlange, doch getötet haben wir sie nicht: Sie wird zusammenwachsen und sie selber wieder sein; ihr Zahn wird weiter unsern schwachen Hass bedrohen. Lady Ok, ok, selbstverständlich reden wir, du und ich, aber jetzt wasch dir das Gesicht und geh zu diesem Meeting, Darling. Und zieh dein schwarzes Hemd an. „La camisa negra, porque negra tengo el alma.“9 Macbeth Ich muss denken, ohne dass du mir deine Ideen in den Kopf setzt. Lady Du bist nervös. Macbeth Ich bin am Leben, das ist das Schlimmste.
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9) AdÜ: Song von Juanes (vom Album „Mi Sangre“). Das „schwarze Hemd“ wird dort aus Trauer über eine verlorene Liebe getragen: „Ich trage das schwarze Hemd, denn meine Seele ist schwarz“.
Lady Ich bring dir einen Schnaps. Macbeth Bis zum Rand. Nicht einen Tropfen verschütten. Lady Auf Duncan! Auf die Chancen, die er dir gegeben hat! Macbeth Du bist so kaltblütig. Lady Fast. Fast kalt, Macbeth. Macbeth Du kannst vor lauter Gier in deinen Augen nichts mehr sehen. Lady Fast. Fast nichts mehr. Macbeth Du denkst bestimmt, dass ich mich aufführe wie ein Mädchen. Lady Wie ein sehr kleines Mädchen. Aber das erste, was du herausfinden musst, ist: Hat Duncan eine Aufnahme gemacht oder etwas aufgeschrieben, bevor er sich erhängt hat? Macbeth Verdammt, ich höre deine verdorbene Stimme und glaube immer noch, dass du Recht hast. Lady Es ist meine Pflicht, dir zu sagen, dass du herausfinden musst, ob es Aufzeichnungen von Duncan gibt. Macbeth, Macbeth, Macbeth! Du bist dort, wo du immer sein wolltest. Geh zu diesem Meeting und fordere alle zu einer Schweigeminute auf. Schreib eine kleine Trauerrede, ein paar Abschiedsworte. Macbeth Das tue ich nicht. Lady Solltest du aber. Macbeth Dein Geist ist verrottet. Lady Versteck die Angst hinter einer Lobrede. Widme Duncan ein trauriges Gebet. Lass deine Augen schimmern vor Schmerz. Schluck, bevor du spricht, Macbeth, und bitte um diese widerwärtige Schweigeminute, damit alle sehen, dass du ein Mann der Ehre bist, seriös, fromm, bescheiden. Handle, Macbeth, handle endlich und erkämpf dir ein für alle Mal deinen Platz in der Welt. Lange Pause. Alle Macbeth-Spieler kommen im Chor zusammen: Macbeth (Chor) (wie eine Grabrede) Das Leben ist ein Schatten und der wandert, ein armer Spieler nur, der seine Stunde auf einer Bühne auf und ab geht und sich quält und dann ist er verschollen: Ein Märchen ist es, erzählt von ’nem Idioten voll Schall und Wut, ganz ohne Sinn. Macbeth Ehre und Würde sind tot. Armer Duncan.
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15. Sich selbst vergeben10
Lady Sich selbst vergeben. Das ist die wichtigste Säule jedes Selbsthilfekonzepts. Ihr solltet mehr Psychologie lesen, weniger Politik. Anderen vergeben ist schwer, sich selbst vergeben ist schwerer. Viele Menschen bestrafen sich ihr ganzes Leben lang seelisch und körperlich für ihre eingebildeten Mängel. Manche essen zu viel, andere zu wenig. Manche trinken, um zu vergessen. Zerstören systematisch ihre Beziehungen. Manche leben in Krankheit und Armut. Oder werfen ihr Geld zum Fenster hinaus. Sie denken: „ich bin so oft böse gewesen“, „ich fühle mich schuldig“, „Gesundheit und Glück habe ich nicht verdient“. Es würde dich überraschen zu erfahren, wie viele mittelmäßige, widerliche Dummköpfe, wie viele Opportunisten, wie viele Emporkömmlinge, wie viele Scheißdrecksleute hingegen völlig überzeugt davon sind, ihr Glück zu verdienen. Warum die Agonie unnötig in die Länge ziehen? Das führt zu nichts. Mach dich frei von Schuld. Ich sage nicht, dass es leicht ist. Es ist viel Arbeit, geistig gesund zu bleiben. Vergiss nicht: Schuld sind die Kühe, die Kühe sind immer schuld.
16. Du ziehst den Wald an
Macbeth Ich sah über den Platz und für ’nen Moment schien mir, der Wald finge an, zu gehen. Lady Der Wald von Birnam? Macbeth Nein, der andere. Lady Mit allem Drum und Dran? Macbeth Ja, mit allem, mit allem, ich spüre es, er kommt auf mich zu, mit allem, mit Martí, den Gebäuden, dem Mausoleum, der Fahne, der Nationalbibliothek, den Straßen, den Bürgersteigen, mit einem dunklen Himmel, mit allem, Lady, mit allem.
10) Auch dieses Selbsthilfekonzept zitiert die Autorin des Stücks aus dem erwähnten Buch von Andrew Matthews, So geht’s dir gut.
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Lady Schatz, du fieberst. Macbeth Ich werde aufgeben. Und wenn es so weit ist, will ich nicht, dass du noch hier bist. Ich will nicht, dass du siehst, wie ich falle, mich winde, mich verletze, sterbe vor Angst und mich verrate. Lady Du bist es, der diesen Wald anzieht, Schwuchtel. Macbeth Ich ertrag deinen Anblick nicht mehr. Lady Nur eins noch, Darling. Wie glaubst du, können dein Sohn, der Tumor und ich noch weiterleben, wenn du solche Angst hast? Macbeth Es wird euch gut gehen. Lady Weißt du was, Macbeth? Ich bin müde, ich gebe es zu. Es war hart. Es war, als hätte ich zwei Kinder, als hätte ich zwei Kinder zu unterrichten, zwei Kinder zu ernähren, zwei Kinder großzuziehen. Jeden Tag musste ich zwei über Wasser halten. Ich habe die Arbeit für uns beide gemacht. Jeden Tag. Macbeth Der Wald kommt näher. Ich kann es fühlen. Lady Du gottverdammtes Arschloch. Von welchem Wald redest du denn da? Da kommt nichts, gar niemand kommt da. Das Einzige, das sich da draußen bewegt, sind die Zweige von einem asiatischen Kunstfarn, der mich 25 Dollar 11 gekostet hat. Welcher Wald, verfluchte Scheiße, Macbeth? Welcher Wald? Macbeth Lass mich allein, bitte … Lady Die Füße solltest du mir küssen, noch bevor ich sie auf diese Schwelle setze. Und sobald ich durch die Tür gegangen bin – jagst du dir eine Kugel in den Kopf. Macbeth Es wird euch gut gehen. Lady Zum letzten Mal, Macbeth, sei kein Idiot, behalte alles für dich, verrat ihnen nichts. Macbeth Duncan ist gestorben wie ein dreckiger Putzlappen. Lady Weißt du was? Ich dreh einfach nicht durch, fang nicht an, im Schlaf zu sprechen, du erschießt dich nicht, ich lasse nicht zu, dass du dich erhängst, wir verlieren die Wohnung nicht. Wie findest du das? Mir muss man schon die Nägel ausreißen, um mich zum Sprechen zu bringen. Und das Beste, was ich für die Armen tun kann, ist, nicht zu ihnen zu gehören. Sei nicht so ein Feigling, so ein Weichei, Macbeth. Wovon zur Hölle sollen wir denn leben, wovon? Weißt du, wie Psychologen Menschen nennen, die große Ziele erreichen, obwohl sie Kinder von Alkoholikern und Schneiderinnen sind? Weißt du, welchen Begriff sie 11) AdÜ: Gemeint sind „kubanische Dollar“, also CUC.
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für Menschen verwenden, die unter schwierigen Bedingungen groß geworden sind, von denen nichts zu erwarten war und die allen genau das Gegenteil beweisen und Großes erreichen? Weißt du, wie die Psychologen Menschen nennen, die dazu bestimmt waren, Scheiße zu fressen? Resiliente Individuen. Das ist der Begriff für Leute, die etwas erreichen, obwohl das Leben überhaupt nichts von ihnen erwartet hat. Macbeth Duncan ist gestorben wie das letzte Häufchen Dreck. Er hat sich im Gefängnis aufgehängt an seinen Hemdsärmeln … die Beleidigungen, die wir jetzt im Anschluss zum Besten geben, sind alle authentisch. Es sind ein paar von denen, die meine Frau und ich uns in den zehn Jahren unserer Ehe oft an den Kopf geworfen haben. Die Autorin wollte, dass wir ein bisschen … wie sagt man das am besten … wir selber sind … Lady, deine Wut ist bezaubernd … Mir gefällt die Aura von Grandeza, die dich umgibt, deine Rebellion, dein Egoismus. Dieser Charme, dieser Luxus, deine Eleganz, deine Listigkeit, deine irrtümliche Armut, die Schurkin, die du raushängen lässt, wenn’s nötig ist. Deine Überlegenheit, deine Grübeleien, deine Energie, deine Titten, dein Verlangen, deine Nässe. Dein Ehrgeiz, deine Zähigkeit, deine Ziele, deine Disziplin, deine Lust, immer noch höher und weiter zu kommen. Deine Zärtlichkeit. Lady Und deine Schwäche. Macbeth Deine Tricks. Deine Schönheit. Deine Kraft, Lady. Deine Taille, deine Gerissenheit, dein Gang, deine Augen, dein Mund, der mir hasserfüllte Ratschläge gibt, deine Hände, die mich in all den Jahren so oft gerettet haben. Deine Verschwendungssucht, deine Gefährlichkeit, deine Wut. Wie ich sie vermissen werde, diese Wut. Lady Deine Feigheit, Macbeth. Macbeth Dein Überlebensinstinkt. Lady Dieser Todestrieb, der alle fünf Minuten in dich fährt. Macbeth Dass du immer gewinnen willst … Lady Ich habe keine Lust zu verlieren, Kumpel. Macbeth Und diese Kraft. Lady Deine Feigheit, Arschloch. Macbeth Es wird euch gutgehen. Lady Zum letzten Mal, Macbeth, lass diesen Wald nicht näher an dich ran. Macbeth Deine Liebe zu mir. Lady Meine Liebe zu dir, Miguel. Vor allem die, meine Liebe zu dir. 138
Macbeth Wie ein dreckiger Putzlappen ist Duncan gestorben, wie ein Arsch, wie ein Stück Scheiße, zertreten von irgendwem … Ehre und Würde sind tot … Und mitten in dieser ganzen Fäulnis wird irgendjemand auf die Idee kommen, meinen Käse zu verschlingen. Wer nimmt mir meinen Käse weg. Wenn meine Trauer aus mir herausbricht, wie ein Anfall, und ich dann heule wie ein Feigling, dann fliegt mein Käse durch die Luft. Irgendjemand streckt seine Hand danach aus und schnappt sich meinen Käse. Lady Zum letzten Mal, Macbeth, lass diesen Wald nicht näher an dich ran. Gib ihnen nicht das letzte bisschen Müll, das uns noch bleibt, erspar uns ein Leben auf der Straße, mach den Mund nicht auf. Macbeth Er kommt schon näher, Lady. Der Wald kommt näher. Lady Macbeth, verstehst du denn nicht, Schuld sind nur die Kühe. Macbeth Wie ein dreckiger Putzlappen ist Duncan gestorben, wie ein Arsch, wie ein Stück Scheiße, zertreten von irgendwem.
17. Wie man eine Lady und wie man einen Macbeth erkennt
Lady An jenem Abend, an der Ecke 23. Straße und Malecón, als wir mit mehr als fünfzig Paaren dort waren, forderte die Autorin die ganze Gruppe auf: Alle, die vor 1990 geboren sind, machen einen Schritt nach vorne. Macbeth Alle einen Schritt vor, die in diesem Land hier leben möchten. Lady Wer lieber in einem anderen Land leben möchte, geht nach rechts. Macbeth Alle einen Schritt vor, die stolz auf ihr Land sind. Lady Alle gehen einen Schritt vor, die lieber in einem anderen Land arbeiten möchten. Macbeth Alle einen Schritt vor, die nicht die Wahrheit gesagt haben. Lady Alle einen Schritt vor, die studiert haben, um einen Beruf auszuüben. Macbeth Alle einen Schritt nach vorne, die ein Gehalt haben, das ihrer beruflichen Ausbildung entspricht. Lady Alle, die Kinder haben: einen Schritt vor! Macbeth Alle mit eigenem Haus: einen Schritt vor! Lady Alle, die glauben, dass sie ein besonderes Talent haben, gehen nach rechts. 139
Macbeth Und alle nach links, die ein glückliches Händchen für Geschäfte haben. Lady Alle, die sich mehr erhofft hatten, heben die rechte Hand. Macbeth Alle, die in diesem Augenblick glücklich und mit sich im Reinen sind, heben die linke Hand. Lady Jeder, der ein neues Paar Schuhe trägt, geht einen Schritt nach vorne. Macbeth Jeder, der eine Arbeit hat, die ihm gefällt, kommt nach vorne. Lady Alle, die an die Ehe glauben, gehen einen Schritt vor. Macbeth Wer lieber ledig ist und alleine lebt, einen Schritt vor. Lady Jeder, der eine bestimmte Musik oder einen bestimmten Film mag, geht einen Schritt vor. Macbeth Jeder, der genau die Kleider in seinem Schrank hat, die er wirklich gerne trägt – nach vorne! Lady Alle einen Schritt vor, die heute Abend etwas gegessen haben, auf das sie wirklich Lust hatten. Macbeth Jeder, der diese Fragen ehrlich beantwortet hat, hebt sein Glas. Lady Jeder geht einen Schritt nach vorne, der schweigt, obwohl er nicht sollte. Macbeth Jeder macht einen Schritt nach vorn, der bereit ist, für seine Zukunft zu kämpfen. Lady Jeder geht einen Schritt vor, der alles aus dem Weg geräumt hat, was ihm im Weg gestanden hat. Macbeth Jeder, der schon mal andere Leute um ihren Erfolg beneidet hat, geht einen Schritt vor! Lady Gläser hoch, wer diese Fragen nicht ehrlich beantwortet hat! Macbeth Geht einen Schritt nach vorne, wenn ihr manchmal einfach nicht zurück nach Hause wollt. Lady Geht einen Schritt nach vorne, wenn ihr die ganze Zeit zurück nach Hause wollt. Macbeth Jeder soll einen Schritt nach vorne gehen, der schon mal eine Ohrfeige abgekriegt hat. Lady Und jetzt jeder, der schon mal jemandem eine Ohrfeige gegeben hat. Macbeth Und jeder, der schon einmal Lust hatte, jemanden umzubringen. Lady Jeder einen Schritt vor, der „Macbeth“ von Shakespeare gelesen hat. Macbeth Alle einen Schritt nach vorne, die das Stück gut finden. Lady Jeder einen Schritt vorwärts, der denkt, Macbeth und Lady hätten nicht tun sollen, was sie getan haben. 140
Macbeth Und jetzt alle, die überzeugt davon sind, dass man andere Leute nicht einfach umbringen darf, um sich etwas zu nehmen, das einem nicht gehört. Lady Jeder erhebt sein Glas, der sicher ist, dass wir nicht alles aus dem Weg räumen dürfen, was uns im Wege steht. Macbeth Jeder erhebe sein Glas, der überzeugt davon ist, wir müssten gerecht sein und die Welt gerecht aufteilen. Lady Jeder erhebe sein Glas, der auf die Zukunft vertraut! Macbeth Jeder hebe sein Glas, der all diese Fragen nicht vollkommen ehrlich beantwortet hat … Wir leben, wir lieben und wir sterben nicht unter einer Glasglocke. Wir leben, wir lieben und wir sterben abwechselnd in makellosen und in verheerenden Gebieten, in ungeheuren Gebieten ohne jede Moral. Wir probieren andere Männlichkeitskonzepte aus. Gebt mir einen festen Punkt und ich werde die Welt aus den Angeln heben. Männlicher. Leckt mich doch am Arsch. Das war die Idee der Autorin, das würde sie gerne sehen. „Organischer“ käme das bei mir rüber, sagt sie. Die kann mich mal am Arsch lecken. Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken. Lady Und ich trete von links auf, singe eine Hymne, aber sie ist nicht zu hören.
18. Lady und Macbeth
Macbeth Die Autorin möchte, dass ich heute Abend die letzte Mail vorlese, die ich geschrieben habe. Sollst du auch deine lesen? Lady Ich habe ihr geschrieben, als ich in Mexiko war. Ich habe nichts zu verbergen, Miguel … Da steht … Von: ladyladura@gmail.com. An: agnieskajosevna@gmail.com. Hallo, du wunderbare Frau … mir hat das fertige Stück sehr gut gefallen, es hat nichts von dem gefehlt, was wir dir erzählt haben, du hast uns ausgequetscht, du hast uns dazu gebracht, unser ganzes inneres Chaos vor dir auszubreiten, und hast es geschafft, Ordnung in diesen Sturm in unseren Köpfen zu bringen. Du weißt, dass ich nicht viel lese, aber dein Stück hab ich in einem Zug durchgelesen. Ich hoffe, dass du viel Geld verdienst mit diesem Stück, 141
hihi, damit du dir endlich diesen Laptop kaufen kannst, schau doch mal bei mir zuhause vorbei … ich hab Mami ein Paket dorthin geschickt mit Windeln und Sachen für das Kind, dem Jungen geht es mehr oder weniger gut, er wächst, im Januar fahr ich hin, er kriegt dann wieder die Infusionen, die er braucht, ich mag gar nicht daran denken, jedenfalls hab ich auch gleich was für dich mitgeschickt, ein Parfüm. Sorry, Amiga, aber ich glaube zu jemandem wie dir passt dieser Elizabeth-Arden-Duft nach grünem Tee mit Zitrone. Ich brauche ein klein bisschen mehr Glamour, was von Dolce & Gabbana, zum Beispiel. Amiga, ich vermisse Miguel, aber es führt kein Weg zurück. Der Mexikaner, mit dem ich jetzt zusammen bin, verwöhnt mich und kauft mir alles, was ich will, aber im Bett ist er eine Katastrophe, haha, was das betrifft, vermisse ich Miguel schon ein bisschen. Einen fetten Riesenkuss für dich und danke nochmal für das Stück, wirklich, und für diese nette Karte, ob die Leute wohl wissen, dass ich Lady Macbeth bin? Amiga, ich glaube, ich bin es tatsächlich. Noch mehr Küsse Lady Macbeth Meine Lieblingsdramatikerin: was für ein schöner Text. Lady ist ein Glanz, eine Sonne, die starke Frau, die sie ist. Ich bin ihr schwaches Gegenüber. Du hast ein scharfes Auge, eine gute Menschenkenntnis. Ich bitte dich nur um etwas Vorsicht mit den Namen und den Bezügen, du weißt schon, auch wenn in dem Text, den ich bisher gelesen habe, nirgends was davon steht und wir da auch gar nicht mehr arbeiten, aber trotzdem, es kann ja jeden Moment ein Anruf kommen und dann stellen sie mir Fragen und bitten mich um Hilfe. Ich arbeite jetzt im Miramar Trade Center, komm doch mal vorbei, dann trinken wir einen Kaffee oder so. Melde dich vorher kurz bei meiner Sekretärin an, 204 2345, Durchwahl 301, sie sagt mir dann Bescheid. Lady hab ich schon eine ganze Weile nicht mehr geschrieben. Ich schreibe nichts über sie, um nichts Schlechtes über sie sagen zu müssen. Sie ist in Mexiko und hat einen neuen Freund. Den Jungen hat sie bei ihrer Mutter gelassen. Ich sehe ihn jeden Tag. Im Januar, glaub ich, kommt Lady, dann müssen wir wieder über die Infusionen sprechen. Es geht mir fürchterlich. Ich glaube, das merkt man, oder? Ich bin noch nicht soweit, diese Frau wiederzusehen. Ich habe mir eine Auszeit von all meinen sozialen Beziehungen genommen, ich gebe mir nicht den Stress, mit irgendwem 142
auszugehen. Du bist wahrscheinlich die einzige Frau, mit der ich gerne ausgehen würde, aber du weißt zu viel über Lady und mich. Also, bitte, vergiss es ganz schnell wieder, dass ich dir hier beinahe ein Date vorgeschlagen hätte, und vergib mir den Aussetzer mit dem Kuss. Lady hatte mal vorgeschlagen, wir sollten einen Dreier machen, du, sie und ich, ich erzähl dir das, weil ich weiß, dass du darüber lachen wirst und dass du rot wirst wie deine Haare. Sei glücklich, ich wünsche dir weiterhin alles Gute für deine Theaterkarriere. Voll Zärtlichkeit Miguel PS: Komm besser nicht zum Kaffeetrinken, ich trau mir selber nicht ganz. Lady Miguel und ich haben uns getrennt. Aber es war schön, für dieses Stück noch einmal zusammenzuarbeiten. Macbeth Wenn du das sagst … Lady Doch, es war gut. Macbeth Und du fährst wieder nach Mexiko? Lady Ich fahr wieder nach Mexiko, Miguel. Macbeth Die Autorin hätte gerne, dass ich am Ende des Stücks die Hand von Lady nehme und, wenn ich will, deine Hand küsse. Und dann winken wir ins Publikum.
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Reinaldo Montero
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ELDORADO
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Un teatro pancarta – ein Parolentheater Aus dem kubanischen Spanisch von Franziska Muche und Carola Heinrich
für Berta Martínez / meine offene Schuld
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Dramatis personae Regisseur Assistentin Die Schwerfällige genannte Schauspielerin Die Keine genannte Schauspielerin Der Musiker-Schauspieler
Das Stück kann zwar mit drei Schauspielerinnen und zwei Schauspielern gespielt werden, dennoch ist Raum für weitere Schauspielerinnen oder Schauspieler oder eine Vielzahl von Schauspielerinnen und Schauspielern oder einen Chor oder eine Vielzahl von Chören. Anmerkung Was nun ist das Teatro Pancarta oder Parolentheater? Es ist mehr als das althergebrachte Dokumentartheater, das eine Dosis Wahrheit mit einer Dosis Simulation verbindet. Es ist mehr als das Resultat einer Untersuchung des Status quo, oder der irreführenden Lesarten des Status quo; es ist mehr als ein fiktiver Zeugenbericht oder das Ergebnis einer sogenannten teilnehmenden Beobachtung und es ist mehr als eine Verschwörung von Wirklichkeit und Abbildung. Das Parolentheater ist eine Betrachtung des Geschehens, das nicht anders sein könnte, und wagt einen Blick auf das, was noch geschehen wird, weshalb es zweifelsohne fest im Hier und Jetzt verwurzelt ist. Letzten Endes ist das Parolentheater genau dies. Ort Vor oder zwischen dem Publikum. Zeit Jetzt oder nie. Handlung Wie folgt. 146
„Ein Spannungsfeld kann den Panzer der Anekdote durchbrechen.“ „In der Verwirklichung des Unmöglichen liegt die größte Faszination der Kunst und ihr größtes Geheimnis.“ „Die Schauspieler dürfen sich nicht mit dem Text identifizieren, sie müssen die Mühle sein, die ihn zermahlt.“ „Allen denkbaren Kunstgriffen zum Trotz wird die Illusion immer fortbestehen.“ Tadeusz Kantor
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Erste Halbzeit Zu Anfang
1. Eine Schauspielerin bereitet sich nicht vor
Regisseur Da gehört der Stuhl nicht hin. Assistentin Fehlt noch mindestens ein zweiter. Regisseur Was erzählst du da? Assistentin Damit jemand zwischen den Stühlen sitzen kann … Regisseur Keine Späßchen, bitte. Seid ihr da hinten eingeschlafen? Schwerfällige Ich komme gleich. Regisseur Nicht gleich, sofort. Setz dich. Immer so schwerfällig. Hinsetzen heißt hinsetzen. Binde sie fest. Schwerfällige Vorsichtig. Regisseur …? Schwerfällige Das Bein. Die haben mir gestern das Knie demoliert, in der Probe. Regisseur Ihr seid ja alle aus Zucker. Theater ist ein Akt der Hingabe. Keiner hat mehr Lust, zu arbeiten. Ich verlange keine Leidenschaft, mit Lust an der Arbeit wäre ich schon zufrieden. Schwerfällige Es geht nicht um Lust oder Leidenschaft. Mein Knie tut weh. Regisseur Das Kruzifix muss gut zu sehen sein. Der Papst in Rom muss es sehen. Mehr als dieses kleine Kruzifix habt ihr nicht aufgetrieben? Weg damit. Ohne Kruzifix. Assistentin Heute war viel los, am Flughafen, in den Hotels, bei den Bestattern. Schwerfällige Weiter oben. Regisseur Nix da weiter oben, das Seil kommt dahin, wo es hingehört. Assistentin Es sind 104 Flugzeuge gelandet, voller Leute mit Anzug und Aktenköfferchen. Die Hotels platzen aus allen Nähten. Es gab 22 Bestattungen. Regisseur Was soll das? Willst du mich verrückt machen? Assistentin Vielleicht können wir das irgendwie benutzen. 148
Regisseur Zahlen. Statistik und Scheiße sind ein und dasselbe. Assistentin Das sind keine Zahlen. Keiner der 22 Toten hatte eine Grabplatte aus Marmor oder eine Statue mit Engeln oder ein Kruzifix auf der Brust. Können wir das benutzen oder nicht? Regisseur Schluss mit den Zahlen. An diesem Punkt wissen wir, was wir wissen, und was den Rest angeht: weg damit. Assistentin Das sind keine Zahlen. Ich rede vom Elend. Man sieht es an diesem Flughafen, der wie eine Absteige wirkt, an der Kleidung meines Mannes, an diesem Stuhl. Aber das wirkliche Elend sieht man vor allem im Tod. Schwerfällige Diese Szene ist wirklich hart für mein Knie. Regisseur Wie bitte? Schwerfällige Es tut weh. Wenn du willst, spreche ich den Text, ohne mich zu bewegen. Regisseur So geht das einfach nicht. Ruhe. Seid ihr da hinten taub? Stumm wäre besser. Ruhe, habe ich gesagt. Assistentin Fangen wir an? so viele schwarze wolken seht ihr sie? ich glaube sie sehen traurig aus oder werden es Regisseur Das ist das Theaterdach. Und das hier die Bühne. Und auf der Bühne fehlt eine Schauspielerin, eine echte, die nicht jammert, Knie hat und weiß, was sie sagt. Weiter. es sind trauerwolken Regisseur Unsinn. Schwerfällige Es tut so weh. Du würdest mir am liebsten Bein und Hals umdrehen. Du würdest uns umbringen. Regisseur Umbringen nicht, hinrichten. Ein Exempel statuieren. Assistentin Im Fernsehen haben sie Regen vorhergesagt, puh, schlimmer als die Sintflut. Regisseur Es gibt nichts Einsameres als eine Figur, die allein auf einem Stuhl sitzt, mitten in der Wüste, im Nichts, auf der Bühne. Diese Figur bin ich. Schwerfällige Ich bin ziemlich einsam mit meinem Schmerz, er zieht 149
sich bis hier hoch. Regisseur Ich lasse euch hin und wieder eine Übung machen. Die Schauspieler sollen einen Kreis bilden, sich im Kreis bewegen. Ich schicke einen in die Mitte, er soll die Augen schließen, sich langsam nach hinten oder nach vorne fallen lassen, wohin er will. Die im Kreis laufen immer weiter und müssen verhindern, dass er zu Boden fällt. Wenn ich in der Mitte des Kreises wäre, würde keiner einen Finger rühren. Euretwegen könnte ich mir auch den Hals brechen. Assistentin Warum nehmen wir statt des Stuhls nicht ein Bett? Wir haben Laken. Laken sind schwerer zu kriegen als Betten. Regisseur Seid ihr alle durchgeknallt? Den Stuhl gegen ein Bett tauschen, an diesem Punkt? Was Besseres fällt dir nicht ein? So hilfst du mir? Bist du meine Assistentin oder mein Martyrium? Schwerfällige Es geht mir nicht gut. Regisseur Warum habe ich mich nur darauf eingelassen? Assistentin Machen wir doch die nächste Szene. Das rote Meer mögen alle. Schwerfällige Im roten Meer brauche ich meine Beine nicht. Assistentin Hinten sind sie soweit. Regisseur Jetzt kommt Like a virgin. Hört ihr mich da hinten?
2. Like a Virgin
das rote meer wird sich urplötzlich öffnen das rote meer seht seht es öffnet sich das rote meer hat sich ganz weit geöffnet dieses so rote meer wie schnell es offen war so rot war es blassrosa ist es jetzt blassrosa? ein kleines blasses rosa so ganz teeniefarbe so ganz fräuleinfötzchen unternehmer aller länder vereinigt euch vereinigt euch und durchquert die öffnung des einst roten meeres rot wie palmen wie die palmen bei sonnenuntergang 150
kommt schon dringt ein in das jungfräuliche rosa oh like a virgin to dance like a virgin ah ja oh yeah
3. Neuigkeiten
In den Szenen mit ungerader Nummerierung bereiten der Regisseur, die Assistentin und die Schauspieler die folgende Szene vor. Musiker Manchmal weiß ich nicht, ob ich drinnen oder draußen bin. Keine Sprichst du vom Vögeln? Du weißt nicht, ob du ihn reinsteckst oder rausziehst? Musiker Ich fühle mich manchmal, als wäre ich da, und bin es nicht. Als wäre ich immer in Bewegung. Keine Wie aufregend. Musiker Es ist nicht so, dass ich „reingehe und darum bin ich da“ oder „rausgehe und darum bin ich nicht da“. Als wäre ich immer … im Vorübergehen. Ist dir klar, was ich meine? Keine Glasklar. Musiker Jetzt gerade, bin ich drinnen oder draußen? Ich erkläre es dir noch mal besser. Geh. Noch ein paar Schritte. Bis dahin. Du glaubst, du bist genau da, und vielleicht ist es in deinem Fall auch so und du bist da. Aber wenn ich du wäre, würde ich mich so fühlen, als ginge ich gerade noch dort weg. Verstehst du jetzt? Keine Hm ja. Musiker Ich bin nicht hier, ich weiß es. Ich bin noch nicht da. Keine Jetzt habe ich es, du stehst neben dir. Musiker Hältst du mich für verrückt? Keine Nein. Musiker Werde ich verrückt? Keine Nein. Musiker Sicher? Keine Sicher nicht. Musiker Ich muss durch eine Tür gehen, einen Schluck Kaffee trinken, 151
einen Fleck auf meiner Kleidung sehen. Durch diese drei Dinge werde ich spüren, dass ich angekommen bin, dass ich hier bin. Keine Ich habe Neuigkeiten für dich. Musiker …? Keine Ich habe meinen Namen geändert. Ich habe es nicht nur vor, ich habe ihn schon geändert. Musiker Den Namen zu ändern, ist Unsinn, das Schlimmste, was einem einfallen kann. Keine Es ist leicht, ich habe mir einen Namen gegeben, der mir gefällt. Musiker Sag mir nicht, welchen. Wenn du es mir sagst, wirst du fragen, wie ich ihn finde. Und ich werde ihn furchtbar finden. Aber keine Sorge, ich werde den Klang deines Namens vergessen, deines alten Namens. Abgemacht, ich werde dir gar keine Namen mehr geben. Keine Eins, zwei, drei, vier. Musiker Was machst du da? Keine Dehnübungen. Musiker …? Keine Ich bereite mich auf die nächste Szene vor. Musiker …? Keine Neues Eldorado, glaube ich. Assistentin Neues Eldorado. Musiker Gefällt mir. Keine Die Szene oder ihr Name oder meine Dehnübungen oder ich? Musiker Mir gefällt der Name, den du dir gegeben hast. Dein neuer Name ist KEINE.
4. Neues „Eldorado“
sie kommen schon sie kommen von allen enden der welt mit ihren spiegelchen ihren unechten ketten ohne arkebusen1 ohne kruzifixe arkebusen und kruzifixe nein nicht jetzt 1) AdÜ: Hakenbüchse, typische Schusswaffe der Konquistadoren.
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und später? später wenn nötig poch poch wer ist da? der gouverneur von new york und sein gefolge jüdischer geldverleiher dringen sie ein mein gouverneur poch poch wer ist da? der spanische handelssekretär und sein gefolge christlicher quacksalber dringen sie ein mein sekretär poch poch wer ist da? der steinreiche herr aus den vereinten arabischen emiraten und sein gefolge von erdölmohammedanern dringen sie ein mein steinreicher herr poch poch wer ist da? der weise gebieter der salomoninseln und sein gefolge buddhistischer glasfaserinstallateure dringen sie ein mein gebieter he sachte ohne zu drängeln hier ist eine schlange ei-ne schlan-ge achten sie unsere kultur achten sie eine unserer wichtigsten traditionen stel-lensie-sich-an verstehst du nicht was die leute sagen? bist du blöd lern kubanisch stell dich in die schlange und lass das gemecker die schlange ist eine ei-ne schlan-ge ei-ne der minister für den handel mit auslandia wird sie alle empfangen er hat gesagt al-le aber nur wenn sie sich ganz brav an-stel-len sie anstehen zu lassen ist das eine art rache? das gefällt mir ich der minister für den handel mit auslandia komme nicht hinterher weil auslandia ein riesiges land ist und sie aus all seinen provinzen kommen vom fernsten weltende kommen sie und bieten an oder loten aus was sie anbieten und ich verbringe tag und nacht damit zu empfangen bis zum gehtnichtmehr armer minister für den handel mit auslandia der hat augenringe der tut mir aber leid he du was soll das? wolltest dich vordrängeln bist kriminell bist undiszipliniert bist ein für wen hältst du dich eigentlich? zeig dein gesicht du sollst dein gesicht zei-gen ich glaube der kam inkognito will wohl als flüchtiger schatten eindringen wie aufregend aber wer-zum-hen-ker-bist-du? 153
dreimal darfst du raten ein dürrer kleiner chef den die dicken großen chefs des internationalen währungsfonds schicken kalt fast lauwarm ein dürrer kleiner chef den die dicken großen chefs der weltbank schicken lauwarm fast heiß ich mag nicht mehr raten ach sehr geehrter schatten yes ich brauche kapital yes und yes und yes das kapital erinnert mich an den wälzer dieses bärtigen puh nein bring dich auf den neuesten stand heutzutage ist das kapital ein rohstoff den es nur in auslandia gibt aaaah der schatten der einzudringen begehrt soll eindringen psst wohin willst du? setz dich und warte und du auch und du habt vertrauen ihr steht vor den toren eines neuen eldorado man muss vertrauen haben dass alles noch kommt oh eldorado ja oh gilding yeah selber für alle fälle gegen ramsch werden sie grundstücke häuser ärsche hirne tauschen bietet an was euch einfällt aber bietet an werdet nicht müde anzubieten und noch mehr anzubieten biete an, so hilft dir gott biete nicht an und kratzt ab nicht an-bie-ten ab-krat-zen was für idioten // es regnet es regnet / es regnet seinen lauf / es regnet investitionen und kredite // ich stelle mir vor wie investitionen und kredite vom himmel fallen wehe dem der keinen helm hat auf dass investitionen und kredite die sintflut bringen sintflut? ganz schön anmaßend eine inselflut das ist mehr als genug und die flut verwüstet segnet versüßt die bittere pille vergoldet schafft das eldorado yes und yes und yes 154
5. Walzer
Regisseur Der Walzer. Warum kommt der Walzer nicht? Ein, zwei, drei, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei. Hitze, ihr schwitzt. Schwitzt, auch wenn ihr gerade nicht schwitzt. Ihr würdet gern duschen. Ihr steht unter der Dusche. Die Schweißkruste löst sich, der Dreck löst sich. Ihr seid nass. Was spürt ihr? Schwerfällige Erfrischung. Regisseur Logisch. Such was anderes. Keine Jetzt müssen wir intelligent tun. Musiker Eine Dusche und ich fühle mich wie neugeboren. Auch logisch, oder? Keine Nach einer Dusche bin ich like a virgin. Regisseur Bitte kein Like a virgin mehr. Keine Das fällt mir eben ein. Regisseur Lustlose, einfallslose Schauspieler . Schwerfällige Frei. Nach einer schönen Dusche fühlt man sich frei. Regisseur Frei? Interessant. Schwerfällige Ich liebe die Freiheit. Regisseur Und was verstehst du so unter Freiheit? Schwerfällige … Regisseur Nur Deppen lieben, was sie nicht verstehen. Soll ich dir helfen? Der Spatz ist frei. Ja oder nein? Er fliegt, wohin er will. Schwerfällige Ich glaube, ja. Der Spatz ist frei. Regisseur Die Wolken sind frei. Schwerfällige Hm hm. Regisseur Die Luft ist frei. Schwerfällige Ja, genau. Regisseur Siehst du? Schwerfällige …? Regisseur Ein fliegendes Vögelchen, ein an den Himmel gepinseltes Wölkchen, ein vorüberziehendes Lüftchen. Siehst du, wie fade deine Freiheit ist. Schwerfällige Mir kratzt es im Hals. Regisseur Knieschmerzen, Spatzenhirn, Halskratzen. Musiker Dort drüben gibt es Wasser. 155
Regisseur Wer möchte alles Wasser? Bedient euch. Assistentin Du wirst verlangt. Regisseur Ich? Bereitet euch schon mal für Die Milchfrau vor. Ich bin gleich zurück. Musiker Wie hältst du das bloß aus? Keine Der will dich verrückt machen. Assistentin Er ist eben so, aber er ist kein schlechter Mensch. Er ist angespannt und unsicher. Immer unsicher, vor den Premieren. Außerdem lebt er allein, viel zu allein. Hat nicht mal einen Hund, der ihn anbellen könnte. Keine Wer wird für den schon bellen, den erträgt doch keine Sau. Der hat bestimmt noch nie jemanden geliebt. Der weiß gar nicht, wie Lieben aussieht. Musiker Wie sieht Lieben denn aus? Keine Zerbrich dir nicht den Kopf, das ist ein Satz aus einem dummen Stück, in dem ich irgendwann mitgespielt habe. Assistentin Vorbereitung für Die Milchfrau. Schwerfällige Der hat richtig Spaß am Schikanieren. Keine Am Arschlochspielen, am … Soll der sich doch selber ficken. Musiker Sachte, sachte. Keine Nix sachte, wir sind doch seine Tellerwäscher. Wir schrubben angebrannte Töpfe, eingesaute Suppenkellen. Wir polieren seine Impulse. Wir bringen die Texte, die er uns aufdrückt, zum Glänzen. Kein Wort des Dankes. Schwerfällige Deswegen leide ich immer Seelenqualen. Keine „Seelenqualen“. Meine Seele ist langsam aufgedunsen wie faules Fleisch. Musiker Meine Seele ist meine Hand. Schau dir meine Seele an. Ich verrenke mir die Finger, reiße mir einen nach dem anderen aus, hänge sie zum Trocknen auf, damit sie sich auf der Wäscheleine erholen. Dann ziehe ich sie wieder an und fertig. Schwerfällige Allmächtiger Gott, der Tyrann ist ein Armer im Geiste, öffne ihm dein Himmelreich. Keine Nicht nur unsere Hände und Seelen schwellen. Weil wir stundenlang Teller waschen, haben wir auch geschwollene Füße. Musiker Bei den Füßen funktioniert dieselbe Methode wie bei den Händen. 156
Keine Ach, ich habe noch nie auf deine Füße geachtet. Assistentin Er braucht länger. Wird fürs Fernsehen interviewt. Schwerfällige Der verlässt die Probe wegen eines Interviews? Und der ganze Wirbel um die Premiere, von wegen mit heißer Nadel gestrickt … Keine … und der tut alles, um ins Fernsehen zu kommen. Wer weiß ob die Interviewgeschichte nicht hirnverbrannter ist als nach dem Duschen an Freiheit zu denken. Musiker Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei … Schwerfällige Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei. Assistentin Er hat gesagt, wir sollen Die Milchfrau durchgehen. Keine Hilft ja nichts. Musiker Die Milchfrau von Eldorado oder Die ursprüngliche Akkumulation.
6. Die Milchfrau von Eldorado oder Die ursprüngliche Akkumulation
die milchfrau ging mit einem krug zum markt ich verkaufe diese milch und kaufe zwei krüge und fülle sie mit milch und verkaufe sie und mit dem geld kaufe ich vier krüge und dann acht und 16 und dreißig und sechzig und tankwagen und riesige behälter zum lagern von milch soviel milch ein milchfluss ein meer aus milch das meer schwimmt in milch ein milchschwall übertüncht das letzte bisschen blassrosa des meeres die milchfrau rutscht aus und bumm crash oh ah und ah oh die milchfrau am boden der einzige krug den sie im leben hatte auch am boden zerbrochener krug zerbrochenes leben vergossene milch ungetünchtes meer warum? und so spricht der herr 157
wenn scheiße aus gold wäre hätte ich den armen keinen arsch gegeben wort des herrn aber warum? und so spricht der herr weil es keine hoffnung für die von mir verlassenen geben kann und weil jene die zu euch kommen und von eldorado träumen euch zu dienern machen werden schlimmer als sklaven denn jene die als amboss des himmels geboren wurden kommen unter meinen hammer wort des herrn
7. Wo Musik ist, da kann nichts Böses sein (sagte Alonso Quijano)2
Assistentin Diese Musik gehört nicht hierhin. Schwerfällige Sie ist wunderschön. Assistentin Aber hier gehört sie nicht hin. Nicht hier. Keine So eine Musik passt immer, zu einer Massage am Abend, einem Candle-Light-Dinner, einer Liebesnacht. Ich werde schon vom Zuhören feucht. Musiker Dich macht doch alles heiß. Ich glaube, du bist sowieso von morgens bis abends klatschnass. Keine Hm ja. Musiker Ist ja nichts Schlechtes. Keine Hm ja. Musiker Spiel nicht mit dem Feuer, bei mir ist jeder Schuss ein Treffer. Schwerfällige Diese Bewegung mag ich nicht, ich fühle mich dabei nicht wohl, wenn er kommt, sag ich ihm, er soll sie ändern. Assistentin Bloß nicht. Keine Lass uns weiter Musik machen, das Interview dauert noch. Assistentin Spiel doch. Musiker Mit der da oder mit dem Instrument? Keine Mir fällt da was ein. Ich bin sehr einfallsreich. Wirst sehen. Ich spiel auf dir und mit dir und du übersetzt mein Gespiele mit dem Instrument. Schwerfällige Ich denke schon, nur Dumme glauben, dass die ganzen 158
2) AdÜ: Zitat aus: Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote, aus dem Spanischen von Ludwig Braunfels.
Ankömmlinge, dass diese Invasion wirklich helfen wird. Außerdem, wenn die hier in Geld baden wollen, fallen bestimmt ein paar Spritzer ab. Und außerdem sind alle Probleme meines Lebens mit Geld zu lösen, mit ganz wenig Geld, man muss ja nicht übertreiben. Und außerdem … Au, ich hatte mein Bein vergessen. Tut das weh. Ich muss doch zum Orthopäden. Musiker Ich will aber übertreiben. Ich will reich werden, Millionär. Ich träume von einer Bar, besser einem Club, in einem Raum stehen Spieltische, im anderen läuft fade Musik. Ja, fade, ich steh dazu. Schön viele seichte Lieder mit idiotischen Texten und dummem Geplärr. Ein Club mit sorgfältig zubereiteten Cocktails, sehr schick, fast schon ein Witz, und wenn man sie runterschüttet, schmecken sie wie köstlich leeres Geschwätz. Wichtig ist auch, in den Club kommt nicht jeder rein, nur Dummköpfe, die sich an Klamotten aufgeilen. Leute wie wir, die in Lumpen gehen, müssen sich als klamottengeil verkleiden oder draußen bleiben. Frauen mit Silikontitten dürfen auch nicht rein. Falsche Titten sind nur für Transen. Keine Besoffenen. Besoffene fliegen in hohem Bogen raus. Und ich habe die Spieltische im Blick, sehe den Wetten zu, immer bei der Sache, immer ein Ass im Ärmel. Und richtig viele Nutten. Nutten in allen Farben. Die schwarze Pikkönigin. Die sexgeile Herzkönigin. Die Karokönigin mit dem geilen Arsch. Die Kreuzkönigin mit den geilen Titten. Und es riecht ganz sauber. Kein Fünkchen Staub. Und dich mache ich zur Puffmutter. Das einzige und wirklich ernste Problem ist: Wenn ich meine Bar betrete oder meinen Club, nachmittags so gegen fünf, werde ich spüren, dass ich noch nicht da bin, dass ich immer noch nicht aus der Armut raus bin. Keine Meine größte Phantasie ist es, auf der Bühne zu vögeln. Reizt dich das nicht? Ich spiele und höre keinen einzigen Ton. Ah. Genau so. Hmmm. Hört mal, was für schöne Töne ich aus ihm raushole. Schwerfällige Nimm dich zusammen, Kleine. Musiker Wo Musik ist, da kann nichts Böses sein. Das ist nicht von einem Idioten wie mir, sondern von Alonso Quijano. Keine Wer ist das denn? Musiker Irgendjemand. Assistentin Los, die nächste. Musiker Die Sklaverei der Menschen ist das größte Leid der Welt.3 Das ist nicht von einem Vollidioten wie mir. 3) AdÜ: Zitat aus José Martí: Einfache Verse (Poesía XXXIV): „La esclavitud de los hombres es la gran pena del mundo.“
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Assistentin Das sagen die Marsmenschen. Jetzt kommen Die Marsmenschen. Musiker // Was du da mit mir gemacht hast, Süße, / das war schön, / ach, das war schön. // 4 Assistentin Los, Die Marsmenschen sind schon da.
8. Die Marsmenschen sind schon da und sie tanzen Reggaeton
kaufen sie jetzt jetzt ist der moment kaufen sie ein haus auf den namen eines weit entfernten verwandten sie haben ihn gerade kennengelernt das ist egal oder auf den namen eines freundes von vorgestern setzen sie ihr ganzes vertrauen in den freund von vorgestern oder auf den namen eines bekannten von vor zwei stunden ein toller mensch das sieht man sofort kaufen sie auf den namen irgendeines mit der gesellschaft verbundenen gesellschafters es gäbe ein risiko? wo gibt es keins? handeln ist sondieren investieren ist wagen leben gefährlich jetzt ist der moment jetzt oder nie je-etzt o-der nie setz einen dollar und du bekommst zwanzig sie sind da sie sind da die marsmenschen die marsmenschen sind schon da und sie tanzen cha-cha-cha nene nanana nix da cha-cha-cha sie tanzen reggaeton / kommt nach eldorado / kommt ihr verunglückten reime / die marsmenschen sind schon da / bevor ich mit wörtern schleime / noch immer nicht hier? / komm her zu mir / hast noch nicht den mut / bei dir alles gut / mein yankee-bruder ich sag es dir / mein mitbürger ich sag es dir / das wird ach herrje / das wird wart’s nur ab / gestern noch in imperialis4) AdÜ: Zitat von Ibrahim Ferrer (Buena Vista Social Club): // Esa cosa que me hiciste, mami, / me gustó, / ay, me gustó. //
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tenhand / heut brüder aus lincolns vaterland / wir hatten vor ihm keine angst / wir hatten vor ihnen keine angst / gestern / gestern / aber heute / heute / hegen wir gegen sie absolut keinen / keinen / keinen / groll. / für groll ist hier kein platz „vorsicht frisch gestrichen“ steht auf der politfassade das ist keine politik / was anderes gibt es nicht / wie warme semmeln geht es weg / und die leute warten und warten im dreck /
9. Keine bricht aus
Regisseur Stopp. Stopp. Das fliegt raus. Hier kommt gleich die nächste Szene. Musiker Das ist ja eine Riesenänderung. Assistentin Und wie war das Interview? Regisseur Es wird in ein paar Minuten gesendet. Keine Manchmal fühle ich mich so weit entfernt von dem, was ich höre und sage. Musiker Denk dran, „frisch gestrichen“ steht auf der Politfassade. Keine Ich meine was anderes. Schwerfällige Den Reggaeton. Keine Ich meine, dass ich mit meinen Figuren ein ständiges Blabla über Dinge veranstalte, die mich nicht interessieren, die mir niemals einfallen würden. Ich strenge mich wirklich an. Im Leben auch. Neulich habe ich mir den Mond angesehen. Ich bin gar nicht so eine, aber irgendwie hatte ich Lust darauf. Und wenn es heißt, schau in den Mond, schau ich in den Mond. Ich wollte mich selber heiß machen. Das war mir erst nicht klar. Dann schon. Ich bin ja nicht frivol, aber manchmal … erforsche ich eben gern meinen Körper. Was für ein kindisches Wort, „erforschen“. Daran ist genau dieses Blabla schuld. Da war ich also, die Augen fest auf den Mond geheftet, aber dann musste ich an den Klimawandel denken und an die Ozonschicht. Meine eigene globale Erwärmung gefror. Mir wurde schwindlig. Mir ist die Welt schon wichtig, auf jeden Fall, aber wenn man gerade auf etwas anderes Lust hat, dann ist 161
das eben so. Ich dachte, ich würde bei jenem Mond zum Beispiel an einen Märchenprinzen denken, der auf seinem Pferd angeritten kommt. Ein Ritter zu Pferde. Ich liebe Pferde und Ritter noch mehr. Und mein Ritter hätte einen Säbel. Ein Pferd mit dicken Eiern und ein Ritter mit dickem Säbel. Ein guter Anfang für die globale Erwärmung. Noch mal deutlicher: keine Machete, ein Säbel. Von Bäuerlichkeit habe ich selber mehr als genug. Verlange ich zu viel? Findest du mich überheblich? Verrückt? Fehlendes …? Es fehlt, auf jeden Fall. Ich denke ganz fest daran, ich bin ganz atemlos. Seht ihr? „Atemlos“ ist aus einem verlogenen Theaterstück. So redet doch kein Mensch, keiner ist atemlos, was soll dieser schwammige Begriff denn heißen? Aber in dem Stück musste ich ihn raushauen und er ist an mir hängengeblieben wie alles Schlechte. Ich rede wie der Wind, der durch den Eichenwald weht. Schon wieder. Merkt ihr das? Wir Schauspieler müssen uns soviel Scheiße ins Hirn stopfen und dann kotzen wir sie überall wieder aus. So. Zuviel geredet. Wahrscheinlich bin ich bald fällig. Hoffentlich krieg ich sie nicht zur Premiere, ach du Scheiße. Regisseur Geht’s weiter? Keine Meinetwegen. Assistentin Träume, die keinen Pfennig wert sind (zweiter Auftritt der Milchfrau).
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10. Träume, die keinen Pfennig wert sind (zweiter Auftritt der Milchfrau)
militantes unternehmertum und investitionsfonds zwei neue begriffe ich werde die technik nutzen und mit einem von draußen zusammenarbeiten und filme und serien zum unwiderstehlichen preis von zehn dollar verkaufen und für zehn dollar im jahr kriegst du zuhause was du willst und scheiß auf übervolle festplatten und scheiß auf krumme sachen und lad dir serien runter und klatschsendungen und horrorfilme lad runter was du willst und sogar was du nicht willst die zukunft ist nur einen tastenschlag entfernt pah sie haben nur geringe ambitionen wohnsiedlungen sind die zukunft golfplätze sind die zukunft einkaufszentren sind die zukunft und es gibt noch viel mehr zukunftsvisionen und alle sind sie strahlend und im gleißenden licht einer dieser zukunftsvisionen kommt auch der fortschritt und zerstört sich selbst pah ich denke in großen dimensionen ich werde die welt beherrschen ja ich beginne mit einem kleinen unternehmen und expandiere bis ans ende der welt ja das nennt man weitsicht ja das ist eine superstrahlende zukunft ich möchte dass die zukunft dass irgendeine zukunft mir ein richtig fettes breitband beschert und nicht nur ein telefonkabel ich bin zufrieden wenn mir die zukunft ein telefon bringt ich bin zufrieden mit einer wohnung auch ohne telefon mit einem zimmer mit bad bin ich zufrieden mit einem zimmer ohne bad dann pinkel ich in eine flasche jahrelang war ich mit einer flasche zufrieden brachte sie runter saß auf dem gehweg mit meinen freunden gehen meine freunde weiter weg? geht der gehweg den bach runter? gibt’s keinen fusel mehr für die flasche? wird die scheißflasche zerbrechen so wie der krug der durchtriebenen milchfrau? für pessimismus ist hier kein platz noch mal like a virgin
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11. Der Traum der Schwerfälligen
Regisseur Und Cut. Assistentin Das Bajonett ist da. Regisseur Ich warte schon so lange auf dieses Bajonett, ich weiß gar nicht mehr, wozu es gedacht war. Assistentin Ich auch nicht. Regisseur Wenn du dich nicht erinnerst, sind wir geliefert. Musiker Was kann man wohl mit einem Bajonett machen? Regisseur Erstich einfach denjenigen, der dich am meisten aufregt. Musiker Da gibt es ein Problem, wir haben keine Zweitbesetzung, wenn ich jemanden umbringe … Regisseur Kein Problem, ich sage, wen du erstechen sollst, und verteile den Text unter dem Rest. Schwerfällige Neulich hatte ich einen Traum. Er hat mit dem zu tun, was du vorhin gesagt hast, über die Leute, die sich an Klamotten aufgeilen. Ich sitze an einem Tisch mit Männern, lauter Männern, alle mit Schnauzer. Plötzlich juckt es mich, so richtig, es juckt im Nacken, am Rücken. Ich bin vergiftet, verpestet, krank, liege in einem Krankenhausbett und könnte mich pausenlos kratzen. Niemand ist bei mir, es gibt keine anderen Kranken, keine Ärzte, niemanden. Vor mir ein Plakat. Ich versuche, es zu lesen. Kann die Buchstaben nicht entziffern. Gebe mir Mühe. Habe keine Kraft. Schwitze. Schwitze und spüre die nassen Laken. Ich treibe auf einem See kranken Schweißes. Will um Hilfe rufen. Halte mich zurück. Weiß, niemand ist da, um mir zu helfen. Verzweifle. Mein Magen schnürt sich zusammen, ich kriege keine Luft mehr. Fühle mich so schwach. Meine Brüste tun weh. Vom Reiben. Mein Kopf funktioniert irgendwie nicht mehr. Ich zittere. Zittere so sehr, dass ich gleich zusammenbreche. Ich bin nicht mehr im Bett, auch nicht in dem See aus Schweiß. Vor mir erscheint ein Spiegel. Ich stehe vor einem Spiegel. Mein Gesicht hat weder Mund noch Nase. Ich habe nur Augen im Gesicht. Die Augen. Meine Augen weinen. Wie sauber die Tränen sind. Wie schön. Endlich etwas Schönes. Ich weiß nicht, wie lange ich geweint habe. Ich bin weinend aufgewacht und habe einfach weitergeweint. Musiker Wir Schauspieler sollten Zulagen bekommen für Nachtschichten, 164
erschwerte Arbeitsbedingungen und vor allem für Gefahren. Regisseur Die Entwicklung der Produktivkräfte aufhalten und das perfekte Chaos weiter fördern. Assistentin Du beginnst ab hier.
12. Die Entwicklung der Produktivkräfte aufhalten und das perfekte Chaos weiter fördern
privat und initiative zwei neue worte zusammen sind sie vor- und nachname des teufels die geschichte eines unternehmers geboren und aufgewachsen in einem kaff unser unternehmer hatte ein kleines vermögen angehäuft und wollte einen teil davon für einen guten zweck aufwenden die altenheime sind entsetzlich und er flog mit dem sportflugzeug ins dorf des guten zwecks nach seiner rückkehr wurde er festgenommen wegen bereicherung wegen illegaler nutzung des flugverkehrs wegen verblödung solche leute brauchen wir nicht denn es muss grenzen geben bei der anhäufung von reichtum denn man muss die entwicklung der produktivkräfte aufhalten wort des herrn die geschichte eines anderen unternehmers geboren und aufgewachsen im selben kaff dieser andere unternehmer häufte ein vermögen an nicht so klein wie der erste und auch er wollte einen winzigen teil einem guten zweck widmen die altenheime könnten verbessert werden er sprach nicht von entsetzlich sondern von verbesserungswürdig ein wichtiges detail und er flog mit dem flugzeug in die stadt des guten zwecks bei seiner rückkehr wurde er beglückwünscht und kam ins fernsehen und bekam ein größeres haus und wurde eingeladen als neuer hemingway im golf zu fischen und man brachte ihm golfspielen bei und sagte ihm 165
er solle nach panama fahren und kaufen was er wolle denn er galt als beispiel eines ausgebildeten bewusstseins wir brauchen genossen wie diesen denn die anhäufung von opfern darf keine grenzen haben denn das richtige bewusstsein muss gefördert werden wort des herrn
13. Eine andere Dimension
Assistentin Jetzt kommt das mit dem Auto. Keine Auto? Das wurde doch gestrichen. Musiker Und bitte. Mama, Papa, ich will einen Wagen. Ihr Brüder aus Lincolns Vaterland, ich will … Regisseur Stopp, stopp. Wann findet sich endlich eine Lösung für dieses Problem? Assistentin Welches Problem? Regisseur Komm bitte mal. Wir machen gleich weiter. Schwerfällige Jetzt tut es gerade nicht weh. Also mein Knie tut nicht weh. Musiker Mama, Papa. Spielen wir Mama und Papa? Keine Jetzt nicht, ich presse gerade alles so fest zusammen, dass ich die kleine Spalte da unten völlig abgewürgt habe. Musiker Die Arme. Keine Ich möchte deine Füße gern richtig sehen. Musiker …? Keine Gib mal her. Musiker Willst du mich untersuchen? Keine Komm schon. Musiker Untersuch mich von oben bis unten. Oder reicht dir ein Fuß? Ich glaube, das ist der bessere von beiden. Er gehört dir. Keine Hm. Musiker Enttäuscht? Keine Stark, hart, eine gute Größe, diese Vene ist sehr maskulin. Ein männlicher Fuß. Musiker Verstehe, wenn mein Fuß kein Fuß wäre, wäre er ein Schwanz. 166
Keine Das ist vulgär. Für mich ist dein Fuß ein Meisterwerk. Ich murkse mich da unten schon nicht mehr ab. Willst du mich sehen? Musiker Ich habe dich schon ganz gesehen, Einzelteile folgen. Keine Freu dich nicht zu früh. Lass mal deine Hände sehen. Musiker // Hände rauf und runter / und vor und zurück / und links und rechts / Hände zurück / vor / zurück / links / rechts. // Ich habe schon den Text und den Rhythmus, Musik braucht es keine, das wird ein Superreggaeton, ein Riesenerfolg. Ich werde berühmt sein. Menschenmengen werden mich verfolgen, um den Schwanz-Fuß des größten Reggaetonsängers zu sehen. Schau, nicht auf den Fuß. Schau mal. Wir sind allein. Ich meine, es ist niemand da. Keine Ist die Probe vorbei? Musiker Och, wer weiß das denn noch? Hast du es nicht gemerkt? Wir sind gerade in eine andere Dimension eingetreten. Ich bin immer noch hier. Und du dort. Wir sehen uns nicht, sind hier und dort. Hör dir diese Töne an. Klingen die nicht seltsam, zu seltsam? Keine Du machst mir Angst. Musiker Ich habe auch Angst. Wir werden gemeinsam vor Angst sterben. Keine Das ist kein Spiel. Assistentin Und der Stuhl für Die Bedrohung der Havanna Business School? Keine Blödmann, du hast mich erschreckt.
14. Die Bedrohung der Havanna Business School
setz dich auf diesen stuhl sitzt du bequem? hör zu wir reden hier nicht über geld oder über die vorzüge der vielen produkte die es gibt oder der vielen chancen die es gibt wir reden darüber wie man eine führungsrolle einnimmt ob nun im selbst gegründeten florierenden unternehmen oder in einer internationalen unternehmensberatung die sich hier ansiedelt wir wollen dass du dort wo alle probleme sehen chancen siehst wir bringen dir kreatives denken bei damit du greifbare ideen hast keine ideen die sich verflüchtigen 167
klare ideen halten gesellschaften zusammen es geht nicht um geld noch weniger um deine derzeitige wirtschaftliche lage es geht um deinen optimismus und deine fähigkeit dir eine neue denkweise anzueignen es geht uns nicht ums geld durch uns wirst du dich als unternehmer fühlen wir haben die methode das netz unserer hochschulen ist riesig washington paris london tokio bombay istanbul und jetzt havanna das hier wird kein setz dich auf diesen stuhl und schreib mit du brauchst jetzt nicht mitzuschreiben unsere lehre kaut dir nicht alles vor wir werden dir komplexe fälle vorlegen alle blickwinkel ansprechen und nicht jedes argument gelten lassen eines tages wirst du aufstehen bleib sitzen und entscheidungen treffen die wenig riskant sind oder doch riskant aber völlig legal soweit es eben geht und so wirst du kleine erfolge erzielen und dann ach dann wirst du dich zusammenschließen mit anderen wie dir einigkeit macht stark und individualität macht den unterschied wichtig ist dass du keine angst hast dich nicht in verwirrung stürzen lässt bring die dinge immer mutig zu ende und fast mühelos wird eines tages dein traum wahr werden wenn du direktor eines großen unternehmens bist jetzt steh bitte auf oder direktor einer großen stiftung oder einer großen internationalen organisation wenn du dich reich fühlst denn es geht nicht darum wirklich reich zu sein das ist leicht es geht darum sich reich zu fühlen wenn du dich als vielfacher eigentümer fühlst und mächtig und befriedigt wirst du einen blick zurückwerfen du musst jetzt nicht nach hinten schauen mach nicht alles was man dir sagt du wirst sehen was deine zeit bei uns bedeutet hat und verstehen dass wir für dich der weg die wahrheit und das leben waren setz dich du sollst dich setzen 168
wir wissen du wirst lernen du wirst dich verändern wie sich alle verändern aber du wirst einen großen vorteil haben durch unseren maßgeschneiderten unterricht in dem es nicht um geld geht geld wird nicht erwähnt das geld kommt von allein ganz sanft und sachte kommt das geld dein gesicht leuchtet wir haben es immer gewusst du bist einer von uns
15. Das Interview
Regisseur Jetzt kommt das Interview. Man hört die Moderatorin sagen: „Wir freuen uns, heute …“. Stille. Assistentin Was ist mit dem Ton? Man hört nichts. He, man hört nichts. Regisseur Das ist das Letzte. Assistentin Das liegt am Sender. Man hört die Moderatorin sagen: „Nun zur Reportage unseres Korrespondenten in Guantánamo. Ein Polizeitrupp aus Guantánamo ist …“ Assistentin Mach es aus. Regisseur Eine Katastrophe. Assistentin Geht es dir gut? Sollen wir Pause machen? Eine Viertelstunde? Oder machen wir weiter?
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Zweite Halbzeit Zum Schluss Regisseur Wir machen weiter. Keine Lächerlich. Regisseur Was ist da los? Keine Ich führe nur Selbstgespräche, wie die Verrückten. Musiker Hast du kein Mitleid? Keine Mit wem soll ich Mitleid haben, mit dem? Nicht ein Fünkchen. Schwerfällige Ich ein bisschen, aber nicht viel. Regisseur Also, kommt her, setzt euch im Kreis. So. Wir entspannen uns. Ich habe euch etwas zur Entspannung mitgebracht. Ein paar Züge werden uns allen gut tun. Hmmm. Jetzt du. Sehr gut, aber gib ihn bitte weiter. So. Perfekt. Gut. Wirklich gut. Jetzt geht es uns besser, oder? Und bitte. Assistentin Die Geschichte des Tabaks.
16. Die Geschichte des Tabaks
expedition nach guayana hier ist die schlange wer ist der letzte? juan martínez 5 steht schlange kommt dran wird eingetragen geht an bord macht sich eine zigarre an die expedition kommt an den zusammenfluss des orinoco mit dem caroni vorsicht nicht mit der politik vorsicht das pulverfass juan martínez raucht seine zigarre zu ende wirft den stummel zu boden geht unbeirrt weiter bumm nein kawumm das pulver geht in rauch auf wie der tabak in rauch aufging und der traum von der expedition
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5) AdÜ: Auf den Bericht von Juan Martínez, bei einer Expedition auf dem Orinoco um 1570, geht einer der frühesten Eldorado-Mythen zurück. Er bezieht sich auf die goldene Stadt Manoa, die am Ufer des im heutigen Venezuela vermuteten Parima-Sees liegt.
zum teufel mit der expedition wir müssen umkehren du nicht juan martínez du bist jetzt verdammt noch mal fällig lasst mich nicht in diesem kanu zurück ohne ruder ohne essen ohne eine letzte zigarre so trieb juan martínez dahin und es verging tag um tag um tag hunger schwäche nicht mal mehr lust zu rauchen ich werde sterben juan martínez bereitet sich auf den tod vor wie bereitet man sich auf den tod vor? da entdecken ihn ein paar ureinwohner wir entdecken weißer mann ah wir entdecken folgenschwere entdeckung für die ureinwohner aber nicht für unseren helden weißer mann sehen manoareich bald weißer mann bewundern und achten und nicht mit haut und haar ausrotten und die zeit verging wie im adlerflug über dem urwald juan martínez kehrte dorthin zurück wo er einst schlange gestanden hatte ich schwöre bei gott dem allmächtigen unserem herrn ich sage die wahrheit die reine wahrheit und nichts als die wahrheit ich schwöre der kaiser von manoa lebt in einem haus aus gold mit möbeln aus gold und spaziert durch gärten mit bäumen aus gold ich schwöre an einem bestimmten tag wird der körper des kaisers von manoa mit goldstaub bedeckt und er besteigt ein goldenes schiff voller gold rudert bis zur mitte des unendlich breiten flusses und wirft das ganze gold ins wasser bis sogar der kaiser selbst plumps macht mit seiner goldenen haut ich schwöre es dreifach ich schwöre es juan martínez hat nie widerrufen und so entstand der mythos des goldenen eldorado hier gibt es kein gold dieser art aber viel der anderen welcher? kommt ihr entdecker kommt ins zeitgenössische eldorado nicht so nein die schlange die schlan-ge als guter deutscher bin ich ein ernsthafter wissenschaftler und studiere den metabolismus kubanischer schlangen seit dem letzten drittel des zwanzigsten jahrhunderts bis heute 171
habe ich richtig verstanden? du willst uns erzählen wie wir schlange stehen sollen? neineinein es geht dir darum zu zeigen wie eine schlange schneller vorankommt neineinein du willst unsere schlangen irgendwie in ordnung bringen neineinein wir sind schwanzlose affen und bilden lange schlangen um das zu kompensieren neineinein neineinein? unverschämtheit wirst auch noch frech neineinein? ich würde gern gehen ich werde es mir überlegen denke darüber nach habe nachgedacht sie dürfen sich flott zurückziehen aber flott oder ich steck dich in ein boot ohne ruder und dann schau wie du nach deutschland kommst warte mal liegt das geld dort wo du lebst wirklich auf der straße? warte willst du zigarren kaufen cigar cigare sigari zigar charuto?
17. Lichter
Regisseur Kommt alle mal her. Wir probieren das jetzt aus. Das ist das Mondlicht. Das ist vielleicht nicht der Fachbegriff, aber ich möchte, dass ihr es euch so denkt. Mondlicht. Die Erde hat nichts dergleichen. Und wenn ich vom Mondlicht übergehe zu Rot wie das rote Meer … Schaut mal. Ist das nicht großartig? Keine Dieses Licht schmeichelt meinem Körper, erregt meinen Geist, lässt mich dir näher kommen. Regisseur Und danach kommt dieses Licht … Das hier. Die Königin der Lichter. Schwerfällige Ich habe Hunger. Regisseur Ich kann nicht mehr. Ich tue jetzt, als hätte ich nichts gehört. Assistentin Diese Lichtwechsel passen wirklich sehr gut zur Verhandlung. Fangen wir an? 172
Regisseur Ich muss mich kurz beruhigen. Schwerfällige Allmächtiger Gott, jetzt fällt es mir ein. Ich habe die Wäsche nicht reingeholt und es soll regnen. Regisseur Du bist wirklich unglaublich. Weißt du, ich werde einfach nicht mehr hinhören, wenn du den Mund aufmachst. Spar dir also die Mühe, deine Worte kommen ohnehin nicht bei mir an, sie kommen nicht an. Hast du gehört? Hast du mich gehört? Schwerfällige Aber ich kann Sie ja verstehen. Ich finde mich auch irgendwie seltsam. Es ist nicht das Bein, die Wehwehchen oder meine Sorgen, vielleicht alles zusammen, aber ich bin schon okay, seltsam, aber okay. Regisseur Seltsam, ja, sehr seltsam. Ihr zwei hierher. Beweg dich nach rechts. Dorthin. Keine In der Antike hieß das Schicksal. Musiker Ich warne dich. Ich schwitze beim Vögeln aus allen Poren. Wenn ich oben liege, wirst du klatschnass. Keine Lecker. Regisseur Perfekt. Die Verhandlung. Und bitte.
18. Die Verhandlung [give and take]6
setzen wir uns hin und verhandeln [we will sit together to give and take] there is one chair not two [es gibt nur einen stuhl] setzen wir uns auf diesen einen stuhl [we will sit down in this one] …? […?] eine hinterbacke du eine ich [buttock you buttock me] hey hey you have space in excess [he du du brauchst zu viel platz] ich habe mich zuerst hingesetzt [i sat down first] so first [aha zuerst] he he nicht schubsen [oh oh without pushing please oh] move up or you will lie down [rutsch rüber oder ich schmeiß dich runter] wir brauchen einen mediator [it is necessary a mediator] to put an end [der die sache beendet] 6) AdÜ: Gedacht als (bewusst unbeholfene) Live-Übersetzung auf der Bühne durch die Schauspieler.
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es geht darum zu beenden was nie hätte beginnen sollen [it is to should never have beginning to conclude oder so ähnlich] mittels gottes hilfe vermitteln wir mittelmäßigen medialen mediatoren und damit unserer mediation kein minderbemittelter geruch anhaftet oder die vermittlung im mittleren mittelmaß steckenbleibt aufs mittelprächtige mittelfeld reduziert wird messen wir erstens unmittelbar den medialen mittelwert um das rechte mittelmaß zu ermitteln und zweitens legen wir fest wie das mittellot jeder hinterbacke mittig die mittlere mitte trifft und drittens raten wir den mittelschülern sich mittelbar zugleich aber mit weile zu setzen jetzt setzt euch jetzt put the asses in the seat i will have the pleasure of sitting down after you [bitte sehr ich setze mich gern nach ihnen] nein nein gleichzeitig die zwei ärsche sollen sich gleichzeitig setzen asses at the same time bitte nach ihnen [me after you] die ignorieren uns einfach you are too slow [du bist einfach zu langsam] du bist einfach zu schnell [you are too quick] you should move a little [rutsch mal] he du schubst ja schon wieder was soll das? [hey you push me away again why? way? way?] always you violate the agreements and blocking [du brichst die ganze zeit die vereinbarung und blockierst nein nicht blockieren besser du behinderst ja behindern ist das bessere wort] aber du hängst die ganze zeit dem esel die möhre vor die nase [you are hanging the whole time the carrot in front of the donkey] i’m ready a long time ago [ich bin schon lange bereit] ich habe es satt auf dich zu warten [i am tired of waiting for you] not true [stimmt nicht] wir kennen uns [i know you and you know me] wir mittelmäßigen medialen mediatoren verstehen mittels gottes hilfe dass es um die frage geht doppelpunkt lieben oder hassen sie sich? love or hate? wir hassen uns natürlich lieben wir uns [we hate ourselves of course we love each other]
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we love ourselves of course we hate each other [wir lieben uns natürlich hassen wir uns] wir mittelmäßigen medialen mediatoren glauben mittels gottes hilfe doppelpunkt sie brauchen intimität fall gelöst closed case zwischen uns ist eine mauer [among us there is a wall] the walls falls [die mauern fallen] ich wusste es [i knew them] …?[…?] früher oder später musste uns das passieren [earlier or later this had to pass us] i knew too [ich wusste es auch] da hast du aber lange gebraucht [you had a long delay mmmm] you were not willing [da hast du dich aber lange geziert] ich konnte noch nie ohne dich leben [i have never been able to live without you] you never wanted me to live with you [du wolltest nie mit mir zusammenleben] küss mich bésame mucho [kiss me a lot] how sweet [mein süßer schatz] ich hole dich aus meinen eingeweiden hoch in mein herz [i take you out of my entrails and i put you in my heart] i take you out of my ugly lists and i put you in my beautiful lists [ich streiche dich von meiner hässlich-liste und setze dich auf die schöne] ich liebe dich [i love you] i love you too [ich liebe dich auch] ganz schön heiß [this is very hot] we won’t stop [halte wer kann]
19. Sound
Assistentin Ist das der endgültige Sound? Musiker Dieses Stück macht mich echt heiß. Keine Mmmh. Schwerfällige Ich bin einfach zu krank. Mein Tod naht, ich spüre es. Ich gehe nicht zum Arzt. Ich sage es niemandem. Sie werden es merken, wenn ich schon kalt bin. Regisseur Wer lacht da hinten? 175
Keine Die stürmische Jugend. Regisseur Ruhe. Den Sound bitte. Ruhe, habe ich gesagt. Schwerfällige Allmächtiger Gott, ich trage dich im Herzen, erbarme dich unser, mach wenigstens, dass dieser Tyrann vom Blitz getroffen wird. Regisseur Ich weiß, ich bin schwerhörig, aber ich mag den Sound. Bitte noch mal. Er gefällt mir langsam richtig. Das ist doch ein Sound, der einen wirklich erreicht. Musiker Bis wann geht die Probe? Regisseur Solange, wie sie dauert. Keine Hm. Musiker Hm. Assistentin Und bitte.
20. Schrill (derselbe Sound)
von rechts wegen muss ich nicht schlange stehen rechts? sei mal lieber links als das rote meer knallrot war und fest verschlossen kam ich wagte es und kam mit meinem bisschen geld und half euch solidarisch solidarisch ja auch wenn das wort aus der mode gekommen ist solidarisch bewusst aufopferungsvoll auch andere worte sind aus der mode gekommen du bist kein hungerleider mehr hast ein nettes sümmchen mit uns gemacht bereust du das? ich sage nur ich fordere … du forderst? hast du noch nicht kapiert wie sehr es uns aufregt wenn sich einer aufspielt? so lange hier und noch immer nichts gelernt ein bisschen rücksicht ich verdiene es nicht ganz nach hinten zu gehen auf den letzten platz ich will einen vertrag verlängern okay? nicht einen vertrag schließen nur verlängern das ist einfach das ist nur eine formalität es roch hier von anfang an nach erpressung und erpressung hat hier keinen 176
platz am wenigsten emotionale erpressung die nach weiß ich was riecht ich bin ein mann ach ich erpresse nicht ach ich sage nur ihr könnt mich nicht behandeln als wäre es das erste mal wir können nicht was? was wir können nicht? willst du uns erzählen wie wir die dinge machen sollen? nein ach wie habe ich das nur so lange ausgehalten …? ihr beißt in die hand die euch füttert und dieser schrille ton? immer scheißt ihr auf verträge und nie zahlt ihr rechtzeitig und lasst mich auf messers schneide leben und ich weiß ihr habt geld und weiß wie ihr das geld nutzt und dieser schrille ton? und ich habe es satt hände zu schmieren wem soll ich denn noch was schenken? was soll dieser schrille ton? schrill? ein lüftchen ein pfeifen eine bombe fällt ihr macht mich wahnsinning könnt ihr diesen ton abstellen? das meer soll sich wieder rot färben und verschließen kein schritt zurück nicht mal zum schwungholen verlängert meine verträge auch wenn ihr weiter die zahlungsverpflichtungen nicht erfüllt gar nichts erfüllt und macht nicht mit den dürren rum die von den dicken geschickt werden nehmt mich einfach dran du kannst einem leidtun ich hätte heiraten sollen …? die tochter von du-weißt-schon-wem war in reichweite und hätte ich sie geheiratet hätte ich ihr ein kind gemacht … wieder dieser schrille ton? ich weiß manches sollte man nicht sagen nicht einmal denken ach ich dachte ihr mögt mich und ich weiß das wird vorübergehen wie eine kinderkrankheit und was macht der minister mit den ganzen leuten die er empfangen soll? was geht dich das an es ist noch früh der ist zu hause und frühstückt gleich vorher liest er die zeitung ja erstmal liest er die zeitung 177
der minister für den handel mit auslandia will völlig auf dem laufenden sein wenn er zur arbeit kommt mit dieser zeitung ist keiner auf dem laufenden aber ich schaue immer rein um zu sehen ob meine entlassung drinsteht so spar ich mir den weg ach schön heute gibt es zwei gute nachrichten schaut mal nichts über mein ministerium nichts über mich bist du immer noch da? durch euch konnte ich meinem leben einen sinn geben ich war ein trottel mit einem vertrottelten leben und jetzt … jetzt sagst du das richtige wenn auch ein bisschen spät das rote meer soll sich fest verschließen könnt ihr endlich diesen ton abstellen? schluss es hat aufgehört siehst du? was dich angeht haben wir nicht den geringsten zweifel du bist ein querulant querulant? worte die noch in mode sind hört mir kurz zu du selbst hast dein urteil schon lange unterzeichnet nein du darfst dich verabschieden nein jetzt wirst du aber sentimental warum weinst du denn? ich weine um den der ich war um den der ich bin um euch
21. Die künftige Witwe
Assistentin Ich weiß, ich werde Witwe sein. Eine Witwe mit festem Fleisch und ungebrochener Lust. Hoffentlich kommt mir die Lust nie abhanden. Eines Tages nach seinem Tod oder davor, besser davor, wird mir ein junger Mann seinen Arm anbieten und ein Lächeln schenken. Vielleicht auch weder Arm noch Lächeln, wer weiß, was für einen Stil er hat. Ich war schon immer open minded, gut im Multitasking, mit breitem Geschmack. Der junge Mann könnte auch sofort kommen, wozu warten? Mir egal, ob er arrogant ist, ob er meint, dass er die Welt 178
bei den Hörnern packen kann. Manche Fehler sind mir gleich. Aber er muss gut riechen und schmecken. Der Geschmack ist wichtig. Mich seinem Mund nähern, spüren, dass ich seinen Geruch mag. Ihn küssen und dass er zauberhaft schmeckt. Weil er jünger ist als ich, wird er mir untreu sein. Aber darunter werde ich nicht leiden. Ich werde alles in Kauf nehmen und ihn niemals verlassen. Ich werde glücklich sein und ihn glücklich machen. Manchmal ist Glück nicht fröhlich, manchmal nicht einmal freundlich. Ich verstehe mich. Ich werde ihn verstehen. Und ich bin weitergekommen. Ich habe einen Kandidaten im Auge und weiß auch schon: Der ist nicht nur was fürs Auge, er riecht und schmeckt auch gut. Regisseur Was kommt jetzt? Was jetzt kommt. Assistentin Rumi. Regisseur Hört ihr mich da hinten? Jetzt kommt Der Rumi-Moment. Komm. Hierher. Das wird reine Zauberei. Das Licht lässt dich erscheinen. Ihr werdet sehen. Und ihr beide schwankt zwischen Verzauberung und der Lust, ihn in hohem Bogen rauszuschmeißen.
22. Der Rumi-Moment
ich war ein arabischer dichter schrieb auf persisch mein name ist rumi rumi hier? ist ja unglaublich ein araber der rumi heißt und auf persisch schreibt? wer soll das sein? worin will er investieren? wie viel kann er uns leihen? ich habe mich aus höflichkeit vorgestellt ich bleibe nicht lange ich will nirgendwo lange bleiben besser ich hätte mich nicht vorgestellt ich weiß doch selber nicht wer ich bin vielleicht hat er recht und wer er war wusste er am wenigsten weiß er am wenigsten in die schlange warte mal der ist anders anders? was bringt der mit? wer verdammt noch mal ist dieser kerl? ich war weder zauberer noch christ noch jude noch muslim ich war weder aus dem osten noch aus dem westen weder aus dem fluss noch aus dem 179
meer ich lebte weder unter der erde wie die lava noch oben am himmelsgewölbe wie die sterne war weder luft noch feuer weder von jener welt noch von dieser noch werde ich aus der kommenden sein stell dich an oder du bleibst draußen psst und dabei hielten wir dich für adam und eva und die schlange und den ganzen garten eden war dein ort wirklich kein ort und dein körper kein körper? und deine seele? oder was du unter seele verstehst? die seele ja sie ist eine starke kraft ja ich hatte eine seele und habe sie noch erzähl uns endlich was du mitbringst erzähl uns von dir bitte keine nabelschau das mag ich rumi bitte ich kann euch nur sagen dass meine seele gesehen hat dass alle menschen eins sind und die einzige welt die ich kannte alle umfasste ja? und findest du das schlecht gut oder so lala? keine gute frage jetzt kann ich dich wieder nicht leiden sprich weiter nachdem meine seele von dieser monotonie der menschen und der welt erfahren hatte blieb ihr ein einziger wunsch …? …? zu verschwinden wie die seele verschwand die meine seele geliebt hatte und sie zu suchen und suchend schrieb ich dreißigtausend verse aber was suchte ich letztendlich? was suche ich immer noch? ich bin diese andere seele denn diese andere seele spricht durch mich suche ich mich selbst? will ich mich selbst nicht finden? spricht er von diesem land von uns von politik? psst muss ich nicht selbst verschwinden? he wo ist er hin? rumi? ich habe auch lust zu verschwinden nicht verschwinden in der schlange muss ordnung herrschen die schlange nicht aus der schlage treten
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23. Erfindungen ohne Zukunft
Regisseur Ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Ich erfinde ständig irgendwelche psychophysischen Übungen, damit ihr eure Bauchmuskeln spürt. Assistentin Ich würde gern ein Spiel erfinden, ein Kartenspiel. Ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung. Ich würde es das Münchhausen-Spiel nennen. Eigentlich: Münchhausen-Syndrom. Wer am besten blufft, gewinnt. Der größte Schwindler ist der Sieger. Manche Karten werden aufgedeckt, andere bleiben geheim. Wahrsagen wäre damit auch möglich. Jedenfalls ist das meine Idee. Regisseur Nein, bereitet nicht die nächste Szene vor. Wir machen einen Durchlauf vom Anfang bis hierhin, ohne Pause. Assistentin Dafür ist es wohl ein bisschen spät. Regisseur Theater ist ein Akt der Hingabe. Assistentin Und keiner arbeitet mehr mit Leidenschaft. Regisseur Machst du dich lustig? Assistentin Ehrlich, jetzt noch ein Durchlauf … Bitte. Versteh doch. Gefallen dir die Spielfiguren nicht? Regisseur Doch, sie sind richtig bühnentauglich. Assistentin Für mich waren Kartenspiele immer mehr ein Spiel als Schach. Regisseur Mehr Übungen bringen nichts, bei denen funktioniert das Hirn nicht, die plappern nur alles nach wie Papageien. Nichts zu machen. Wir machen keinen Durchlauf, jetzt kommt Das Spiel spielen. Denkt daran, es geht nicht nur um Schach, falls euer Gedächtnis euch schon wieder im Stich lässt. Assistentin Ich werde nie dazu kommen, das Münchhausen-Spiel zu erfinden.
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24. Das Spiel spielen (nicht nur Schach)
mein name ist maximin mein name ist minimax 7 mein leben ist angenehm üppig das ist deine meinung mein leben ist protzig auch üppig aber der stil ist ein anderer das ist deine meinung ich maximin möchte dass mein minimaler vorteil maximal wird ich minimax möchte dass dein maximaler vorteil minimal wird du spielst weiß sehr gut spielen heißt egoistisch sein ohne sich dabei zu verrennen ganz wie im leben spielen heißt entscheiden ohne zu wissen was kommt ganz wie im leben ich beobachte meinen gegner mehr als das spiel er sieht mich an er kennt mich in- und auswendig ich kenne ihn aber nicht so gut wie ich möchte ich weiß wie er immer agiert oder fast immer heute komme ich mit etwas unerwartetem …? ich habe ihn überrascht etwas neues? nagelneu lasker/bauer amsterdam 1889 er will mich beeindrucken ich berechne genau und leidenschaftslos oder versuche es zumindest ich wähle fast willkürlich oder glaube es zumindest wer könnte spielen was ich sehe ich mag solche situationen ich muss eine mordsentscheidung treffen dafür spielt man ziemlich absehbar ziemlich anmaßend 182
7) AdÜ: Auch wenn hier die Entscheidungsregel gemeint ist, denkt man in Kuba bei Minimax auch an die gleichnamige Mini-Supermarktkette.
ich hoffe dass er einen fehler macht ich verhalte mich seltsam er will mich verwirren ich verhalte mich umgekehrt und statt zu verteidigen überlasse ich ihm das zentrum er will mir dinge vorgaukeln jetzt verhalte ich mich schlecht biete zu früh ein opfer an opfer heißt dass einer der beiden einen dicken fehler gemacht hat sagt meister tartakower „vorsicht frisch gestrichen“ steht auf der politfassade es gibt keine politik nur zwei spieler die ein spiel spielen und das lenke ich selbstgefällig erhabener habenichts wie wenig schönheit die schönheit liegt in der idee die ihr zugrunde liegt sagt meister tarrasch ich kenne die zeile und diese strategie meine strategie wechselt wie der wechselnde mond ich lasse dich spielen wie ich dich schon immer spielen lassen wollte hast du den erwartet noch etwas neues von vor tausend jahren? finde es raus wie findest du den vollkommen unvollkommenes spiel also schau was jetzt kommt unvollkommen vollkommenes spiel wir können beide gewinnen …? meinst du ein remis ein remis ist eine bescheuerte art nicht zu verlieren dabei geht es ums gewinnen was für eine neuigkeit glaub bloß nicht das märchen dass einer gewinnt weil ein anderer verliert nein? nein aber aber ich versuche dich zu kriegen und du versuchst mich zu kriegen das siehst du falsch ich rede von wie können wir beide gewinnen wenn wir einander an den kragen wollen? so viele jahre spielst du schon dieses spiel verblödet hat es dich 183
ohne dir zu nahe zu treten schau mal ich versuche dich zu kriegen und du mich puh hör mir doch erstmal zu hörst du mir zu? aber ich will nur einen teil von dir kriegen und du nur einen teil von mir ich schwöre dir ich will ja verhandeln aber du erzählst bockmist bist entweder reif fürs irrenhaus oder durchgeknallt du willst nicht verhandeln du musst verhandeln jetzt wird hier druck gemacht heute nicht heute will ich nur einen teil von dir und das ist nicht der kopf mmh welchen teil willst du denn wenn nicht den kopf? deinen lammanteil ich will deinen löwenanteil der egoismus macht dich blind es ist die bedürftigkeit, die mich blind macht das gibst du zu nimm es als schwachen moment schon vorbei es ist nicht in ordnung dass du meinen löwenanteil willst …? man muss gerecht sein du sprichst von gerechtigkeit? wir müssen an einem strang ziehen wir sitzen im selben boot mein boot ist eine nussschale deins ein ozeandampfer vertrau mir doch einmal unmöglich sonst einigen wir uns dass einer von beiden gewinnt ist das ein ultimatum ja dass keiner von beiden verliert ist mein gegenangebot rhetorisch aber immerhin fangen wir an uns zu verstehen oder willst du nur zeit schinden? du beschimpfst mich als verlogenen rhetoriker sind wir schon in der beleidigungsrunde? und du antwortest mit beschimpfungen oder? heute bleiben sie mir im halse stecken ein neuer beitrag zu unserem spiel ich habe schon immer lieber schweigend gespielt 184
ich habe schon immer lieber geredet als gespielt na gut die figuren vom brett zu fegen war unnötig eine sehr ausdrucksstarke geste chaos verbreiten ist ausdrucksstark? ich warne dich ich kann die aufstellung rekonstruieren die aufstellung hat sich schon verändert prima kommen wir zum kern der sache? wenn du privilegien verteilst welches steht mir zu? weiß ich noch nicht sag bescheid wenn du soweit bist zum kern der sache? wenn du versprechungen machst welche wirst du halten? kommt drauf an so kommen wir nicht voran dass wir reden ohne das spiel zu spielen bringt uns voran reden ermüdet ich kenne dich nicht wer bist du eigentlich ich bin wer ich bin darf ich dir einen rat geben? die dinge müssen sich verändern damit sie so bleiben können meinst du das weiß ich nicht? du willst weder gewinnen noch verlieren noch ein remis du willst dass das spiel nie endet kein kommentar mein name ist maximin mein name ist minimax ich maximin möchte dass mein minimaler vorteil maximal wird ich minimax möchte dass dein maximaler vorteil minimal wird du spielst schwarz
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25. Die Gründe der Schwerfälligen
Schwerfällige Ich weiß schon, was los ist. Er nimmt mich einfach hart ran. Dabei hat er gar nicht so viel Kraft, er trainiert ja nie. Mickrig ist er aber auch nicht gerade. Schrecklich. Er packt mich, verbiegt mich, zerquetscht mich, macht micht platt. Nicht, dass ich das nicht mag. Wenn ich jetzt daran denke, macht es hier drin einen kleinen Hüpfer. Aber danach bin ich völlig hinüber. Die Schmerzen sind das wenigste, nur bin ich danach zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich habe mich wirklich in der Probe gestoßen, aber gestern Abend musste er unbedingt mein Bein nach oben dehnen, als sollte es den Himmel berühren. Dann hat er es umgebogen oder was auch immer, keine Ahnung, da war ich schon in anderen Sphären. Als er mich völlig erledigt hatte und ich Luft holen und aus dem Bett kriechen konnte, hinkte ich. Er macht mich fertig, schwach, krank. Er wird mich umbringen. Ich brauche etwas Neues, jemanden, der ganz anders ist. Und mir trotzdem gefällt. Warum können die Dinge nicht sanft dahinfließen, ruhig, wenigstens ohne diesen Wahnsinn, diese Verzweiflung? Besser jemand, der nicht aus diesem Land ist. Aber intelligent. Und selbst, wenn der mir am Ende nicht so gefällt, bin ich wenigstens nicht so kaputt, vorher, währenddessen und vor allem danach. Assistentin Eine patriotische paradoxe pathologische pragmatische paranoide Rede. Regisseur Bitte keine Parodie. Assistentin Gebt dem Affen ordentlich Zucker. Und bitte.
26. Eine patriotische paradoxe pathologische pragmatische und überhaupt nicht parodisierende Rede
fortschritte und rückschritte werden der vergangenheit angehören alles und es ist viel ist unter dach und fach und daran wird nicht mehr gerüttelt nicht mal wenn ein wirbelsturm kommt vorbei die gesten die man so symbolisch nennt 186
wir hatten vergessen dass die praxis das kriterium der wahrheit ist es lebe die neue utopie es lebe die utopie des wohlstands des fortschritts des gewinns jetzt können wir endlich einer aufstrebenden geraden linie folgen so aufstrebend und geradlinig wie möglich noch droht der ruhelose brutale norden der uns verachtet oder verachtet hat jetzt nähert sich ein sanfter und zärtlicher norden der uns liebt ich weiß nicht was schlimmer ist aber es bleibt uns nichts übrig als die friedenspfeife zu rauchen sie einen zug wir einen zug und alle schließbaren verträge werden geschlossen und der lange und steinige weg wird geebnet kein einziges schlagloch darf bleiben und der weiße rauch wird aufsteigen aufsteigen bis zum höchsten himmel und gott wird sehen dass es gut ist die neue verlogene devise lautet heute ist uns allen klar der ami ist ganz wunderbar heute ist uns allen klar der ami ist ganz wunderbar und denen die sich geringschätzig oder ironisch fragen ob uns wirklich klar ist oder nicht was wir da machen und wie wir die wirtschaft ankurbeln wollen denen sagen wir öffnen ist die devise und denen die mit der frage herausplatzen wie offen denn noch sagen wir es geht immer noch mehr rentabilität ist die parole oder dass die investoren uns für rentabel halten und aus unserem leben der knappheit wird ein produktives leben das uns ein leben im überfluss bringt ach heilige jungfrau von regla8 du mutter aller mütter mach dass das große kapital ein einsehen hat sag ihm dem risiko folgen rendite und gewinnströme und das ewige leben und dann stellen die uns auch noch vier schlüsselfragen nämlich gibt es garantien? gibt es sicherheiten? wird das eigentum respektiert? gibt es gesetze? die vier antworten sind ja und ja und ja und ja nieder mit den murrern nieder mit denen die nicht auf der höhe ihrer zeit sind nieder mit denen die unten bleiben müssen wir sind überzeugt dass unsere prominentesten gauner und mitläufer sich 8) AdÜ: bekannte Statue der schwarzen Madonna in Havanna.
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an die arbeit machen werden ich sage nicht gebt eure privaten laster auf ich weiß das ist nicht möglich auch nicht nötig ich sage nur respektiert die öffentlichen tugenden in der öffentlichkeit ach göttliche tugend utopie wo bist du? wo versteckst du dich? durch so viele käufliche jahre so viele jahre betrug diebstahl herumtreiberei straflosigkeit kam die tugend vom wege ab und jetzt brauchen wir sie mehr denn je denn unser sklaven-gen erfreut sich bester gesundheit seit der zeit der plantagen haben wir gelernt uns zu ducken wo ist bloß die tugend? bewusstlos? leblos? diese harten jahre haben uns abgehärtet haben uns gut getan wisst ihr wo die tugend ist? ich halte sie hier in dieser hand ja die tugend ist unser und sie flüstert mir etwas zu was? sie sagt gerade ihr stündlein habe geschlagen hört den klang der fanfaren von lokalen investitionen werden wir aufsteigen zu einer hochentwickelten volkswirtschaft wir können zerstören sind fachleute der zerstörung jetzt geht es darum weiter zu zerstören aber auf kreative weise auf dass der hochheilige überlebensinstinkt uns nicht blind machen möge sind wir überzeugt? überzeugt sind wir bereit? bereit wir sind überzeugt und bereit und verbunden mit der zukunft mit der wahren zukunft schluss mit den ständigen spannungen zwischen uns und der zukunft ich halte also die tugend in dieser hand die zukunft in der anderen und diese beiden kreaturen gehören mir nicht sind nicht mein eigentum tugend und zukunft gehören euch teilt sie auf da habt ihr sie
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27. Die Letzte und husch husch
Keine Wir sind müde. Es ist schon spät. Regisseur Wovon seid ihr müde? Wofür ist es spät? Macht ihr nicht sowieso nur, was ihr wollt? Dummheiten, nichts als Dummheiten. Für Dummheiten ist es nicht zu spät? Schwerfällige Allmächtiger Gott, eines Tages nehme ich ein Messer, stoße es ihm in die Brust, schneide ihm das Herz raus und esse es roh, ganz allein, ich gebe nichts ab. Ich weiß nur nicht, ob wir dadurch alle gewinnen oder ich allein verliere. Musiker Entweder verlieren wir alle oder du allein gewinnst. Um Mitternacht wendet sich das Blatt. Die letzte Karte im Stapel wird ein PikAss. Der Bube wird Dame. Und die Dame König. Es gibt Reiche, die um Mitternacht alles verlieren. Es gibt Arme … Nein, bei den Armen passiert nichts. Die Reichen verlieren nur bei anderen Reichen. Und der arme Arme, wie der Name schon sagt, ist auch darin arm. Keine Ist die Probe zu Ende? Gehen wir? Antwortet mir mal jemand? Assistentin Ich habe eine Idee. Regisseur Drück dich richtig aus, sag, du hast einen Einfall, du hattest im Leben noch keine Idee. Mehr Respekt vor Ideen bitte. Assistentin Wir machen noch die nächste und dann husch husch nach Hause. Regisseur Es fehlen noch ein Haufen Szenen, nicht nur eine. Keine Diesen ganzen Haufen stemmt aber keiner. Den halten wir nicht aus und das Publikum erst recht nicht. Regisseur Macht doch, was ihr wollt. Keine Wir machen noch die nächste und lebwohl mein Herz, nimm den Schleier, Margarita. Musiker Was ist das denn? Keine Ein dummer Satz, habe ich in einem Stück gelernt. Assistentin Zwischen Idee und Erfahrung, and never come back. Regisseur Zwischen Einfall und Aberwitz.
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28. Zwischen Idee und Erfahrung – zwischen Einfall und Aberwitz (anstelle eines Epilogs)
dank dauerredender filibuster philantrophen und spekulierender sammler entsteht das thematische museum von havanna „zwischen idee und erfahrung“ wird das motto sein ein paar feinde des projekts haben diesen leitspruch auf bedauerliche weise verdreht wir sagen nicht mit welchem satz sie diese blasphemie begehen „zwischen einfall und aberwitz“ nennen sie es es ist still sehr still was man entkräften will wird nie benannt denn das unbenannte existiert nicht aber was soll das mit dem thematischen museum? aufgrund des netten zustands der gebäude der straßen der havanneure der autos und tutti quanti wird havanna menschheitserbe weil es sich zersetzt und zerfällt weil es bricht und birst ist havanna ganz und gar museumstauglich komm nach havanna tritt ein ins museum der museen zum exponat der exponate zur kulturellen säule des universums ins eldorado der kunst eldorado ah eldorado ein so glänzendes wort so licht so glitzernd so dass es scheint als würde das wort selbst sich schimmernd in die dunkle luft meißeln wie schön Schwerfällige Allmächtiger Gott, er ist da, dort steht er. Er kommt mich holen. Er bringt mich durcheinander. Er gefällt mir so. Noch eine Runde Sex. Worüber beklage ich mich eigentlich. Das Ende hier soll endlich enden, damit wir gehen können und er mich auseinandernimmt, fertigmacht, mit der Schaufel sollen sie mich wieder zusammenkratzen. Warte einen Moment, wir sind gleich fertig. die welt soll ganz in dieses unerschöpfliche honigmeer eindringen und künstlerischen kapitalismus vollbringen und günstig haha werke und havanneure kaufen 190
havanneure sind schon längst eine marke sie brauchen ein gutes händchen das richtige timing ich verspüren lust wenn entdecken dumme kunst schund schaffende künstler ich sie bringen auf große globale weltbasar alle gewinnen Assistentin Jetzt Musik, bitte. ich weiß wir werden uns weder von glasperlen blenden lassen noch von der religion des geldes noch von irgendeinem anderen glauben denn wir stehen für die immer neuen alten werte darum können wir uns nicht als individualistische individuen fühlen nein und nein uns ruft ein neues opfer auf uns wartet eine neue mission lasst uns noch einmal widerstehen wie der blitz trifft uns eine biblische plage sie kommt im pulk durchquert die schneise in unserem geliebten ex-roten jetzt blassrosanen meer die moralische unterlegenheit der plage ist bewiesen es sind leute die nicht schlange stehen können den rest könnt ihr euch denken Musiker Mir geht es wie dem Gott Min: in ständiger Erektion. Wenn das hier vorbei ist und alle weg sind, veranstalten wir auf der Bühne den Fick des Jahrhunderts, mit Licht, ohne Licht, auf diesem Stuhl, ohne Stuhl. Keine Vergiss es. Ich spiele nur ein bisschen mit dir, weil es mir bei der Figurenfindung hilft. Und damit basta. Musiker Ich dachte, ich wäre angekommen. Jetzt bin ich schon wieder nicht hier. Keine Du Armer. Nennst du mich dann endlich „Keine“? Musiker Wenn ich endlich da bin, sage ich es dir. wir müssen uns organisieren und ein wenig nachdenken sehr wenig wer zu viel denkt läuft nur heiß vielleicht können wir stadtspaziergänge anlegen rundgänge die durch küchen führen es wird themenabende im themenpark geben 191
dominospiele im schein der straßenlaterne schallende gespräche an der straßenecke keine sorge wegen der abwanderung der besten köpfe oder der abwanderung kopfloser jugendlicher wir altern nicht wir wandern nicht ab die civilis fornicatio verbreitet sich stunde um stunde über die ganze insel und lässt unaufhörlich bäuche schwellen ora pro nobis und endlich veränderungen? große veränderungen? superveränderungen? riesenveränderungen? pausenlos aber ohne hast pausenlos und hastig denn man lebt nur einmal mit pausen und hast denn das chaos ist riesig mit pausen und ohne hast denn keiner weiß wie man das wieder hinkriegt ja wenn man drei havanneure zusammenbringt dann gibt es vier meinungen so ein durcheinander unser goldenes eldorado ist letztlich nur matt unser eldorado ist vielleicht matt aber es ist unser eldorado mich interessiert das gold das eldorado schenke ich euch Regisseur Licht suchen. in unserem eldorado sagen wir nein zur reglementierung denn reglementierung ist ein hindernis wobei wir dann sicher ins andere extrem fallen werden und sagen unser trumpf war schon immer das chaos und wird es bleiben in unserem eldorado sagen wir nein zur reglementierung denn reglementierung ist ein hindernis wobei wir dann sicher ins andere extrem fallen würden und sagen unser trumpf war schon immer das chaos und wird es bleiben zum henker mit der idee dass dies ein normales land sein könnte wir sind stolz darauf weiter unnormal zu sein schlagt euch aus dem kopf dass dies das singapur der karibik sein könnte swingerpups allein schon der name die frage die wir uns stellen müssen ist doch ganz einfach und einfach zu formulieren gibt es hier irgendein problem? kein einziges und weil es kein problem gibt sind lösungen überflüssig zauberhaft ist unser eldorado und wird es immer sein 192
unser eldorado beinhaltet die idee die erfahrung den einfall und den aberwitz Regisseur Fahr langsam den Scheinwerfer runter, nur den. Gut. Damit ihr dahinten es wisst, ich bin absolut fähig, mich am Premierenabend vor das Publikum zu stellen und ihnen zu sagen, dass die Ankündigung da draußen völliger Blödsinn ist, dass es keine Vorstellung gibt, dass dieses Stück noch nicht existiert, dass sie das Theater in Brand setzen sollen, wenn ihnen danach ist. Habt ihr mich gehört dahinten? Ist da noch jemand? Sind alle weg? Alle? Was mach ich dann noch hier? Noch jemand in der Umkleide? Licht aus.
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Yunior García
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JACUZZI
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Aus dem kubanischen Spanisch von Miriam Denger
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„Das Wasser, das dich bewegt“ Werbespruch der Firma Jacuzzi
„Das sind meine Verse. Sie sind wie sie sind. Ich habe sie von niemandem geliehen. (…) Ich flicke sie nicht aus diesem und jenem zusammen ich schöpfte sie aus mir selbst. Sie sind nicht mit akademischer Tinte, sondern mit meinem eigenen Blut geschrieben. (…) Für das Abbild bin allein ich verantwortlich. (…) Ich liebe die komplizierten Wohlklänge und die Aufrichtigkeit, auch wenn es hart scheinen mag. Alles, was man mir sagen wird, weiß ich schon.“1 José Martí
Dramatis personae Alejandro Susy Pepe
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1) José Martí, Mit Feder und Machete. Gedichte, Prosaschriften, Tagebuchaufzeichnungen, herausgegeben von Hans-Otto Dill und übersetzt von Christiane Bauer, Hans-Otto Dill, Christel Dobenecker, Franzsika Hexel, Annemarie Bostroem, Berlin/DDR 1974.
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Eine Badewanne. Scheinbar ausschließlich mit Wasser und Schaum gefüllt, bis plötzlich Alejandro daraus auftaucht. Er setzt sich schnell eine Brille auf, greift zu seiner Linken nach einer Armbanduhr und liest ab. Alejandro 33 Sekunden Nicht schlecht Die 33 hat mir immer gefallen Mathematiker sagen, sie ist eine Glückszahl Sie gefällt mir sehr Wenn der Arzt dir den Rücken abhört Bittet er dich, laut „Dreiunddreißig“ zu sagen2 Alexander der Große und Jesus sind mit 33 gestorben Sie hätten sich auch jedes andere Alter aussuchen können Sie waren schließlich Götter, aber nein Die 33 … ist die Atomnummer von Arsen Arsen, damit wurde Napoleon sehr wahrscheinlich getötet Lange bevor er wissen konnte Dass 33 einmal Frankreichs Ländervorwahl sein würde Müsste ich mich für eine Revolution entscheiden Würde ich die 33er3 nehmen Und trotzdem … erscheint mir 33 manchmal wenig Vor ein paar Jahren habe ich noch länger durchgehalten Und jetzt muss ich mich schon mit einer 33 zufrieden geben Ist vielleicht doch keine so gute Zahl Bei der Scharade4 ist der Aasgeier ihr Symbol Ich werde langsam alt 33 ist eine Scheißzahl Susy taucht aus dem Wasser auf.
2) AdÜ: Im spanischen Sprachraum üblich: Ärzte bitten Patienten, laut 33 zu sagen, während sie sie abhören. 3) AdÜ: 1933 gab es revolutionäre Unruhen in Kuba, General Machado wurde durch einen Generalstreik abgesetzt und durch eine Interimsregierung ersetzt, Batista wurde zum neuen „starken Mann“ in Kuba. 4) AdÜ: Bei der „charada cubana“, einem Glücksspiel, wird jeder Zahl ein Tier oder Gegenstand zugeordnet.
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Susy Sag mir die Zeit. Alejandro (schaut auf die Uhr) 59. Susy Wie viel? Alejandro 59. Susy Ah… Eine Minute. Alejandro Zu einer vollen Minute fehlt dir eine Sekunde. Es waren genau 59 Sekunden. Hast du ein Problem mit der Zahl? Susy Die hab ich nie leiden können. Bringt mir Unglück.5 Alejandro Jeder schmiedet sich sein eigenes Glück, sagt man. Susy Ja … und manche nehmen es anderen einfach weg. Alejandro Manche lassen es sich wegnehmen. Susy Ich nicht. Alejandro Und schon streiten wir wieder. Susy Wir streiten nicht. Alejandro Deswegen haben wir Schluss gemacht. In den letzten sechs Monaten unserer Beziehung haben wir jeden Tag gestritten. Susy Wir haben Schluss gemacht, weil ich dich mit einer anderen erwischt habe … in meiner Wohnung. Alejandro Es war nicht deine Wohnung. Sie war gemietet. Susy Und ich habe die Miete gezahlt. Alejandro Okay, du hast mich mit einer anderen erwischt, in einer Wohnung, für die du Miete gezahlt hast. Und die andere habe ich später geheiratet. Mit Nilda … Susy Erwähn ihren Namen bitte nicht. Alejandro Aber es war deine Schuld. Du hast unsere Beziehung an einen Punkt gebracht, an dem sie einfach unerträglich wurde. Mit ihr hatte ich wenigstens meine Ruhe. Susy Und, wie lange hat sie gehalten, deine Ruhe? Alejandro Jetzt fang nicht so an. Susy Ich habe dir nur eine Frage gestellt. Alejandro Genau. Du und deine spitzen Fragen. Susy Das war eine ganz einfache Frage.
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5) AdÜ: 1959 war das Jahr der kubanischen Revolution: Fidel Castro stürzte Batista und begann den politischen Umbau des Landes im Sinne der marxistisch-leninistischen Ideologie.
Alejandro Ich dachte immer, du würdest mich aus Frust so behandeln Weil es auf der Arbeit Probleme gab Weil du Stress hattest mit der Miete Weil meine Mutter sich in alles eingemischt hat … Aber nein Du bist so Das ist deine Natur Demütigen, das gefällt dir Es macht dir Spaß, den Finger in die Wunde zu legen, hier und hier … Du genießt das Du treibst mich zum Äußersten Du regst mich auf Und du bleibst still und schaust mich an Es erregt dich, wenn Leute die Kontrolle verlieren Susy Mich erregt nichts mehr, was mit dir zu tun hat. Alejandro Warum wolltest du, dass ich vorbeikomme? Susy Ich war mir nicht sicher, ob du die Einladung annehmen würdest. Alejandro Du hast mir eine Nachricht geschickt. Susy Hätte nicht gedacht, dass du noch dieselbe Nummer hast. Alejandro Diese Nummer habe ich schon mein ganzes Leben. Susy Das ist vier Jahre her. Alejandro 54026933. Dieselbe Nummer. Und weißt du, warum? Weil ich ein bodenständiger Mensch bin. Susy Wenn du das sagst. Alejandro Du stimmst mir nicht zu. Susy Okay. Entspann dich. Alejandro Was zur Hölle mach ich hier! Susy Du bist hergekommen, weil ich dir eine SMS geschickt habe. Alejandro Ja … weil du dachtest, ich hätte meine Nummer geändert. Susy Ist doch jetzt egal … ist ja angekommen … du bist hier. Punkt. Alejandro Du kannst dir nicht vorstellen, was ich gerade tun wollte, als deine SMS kam. Susy Bitte, sag es mir nicht. Alejandro Sie hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Susy Ich will es gar nicht wissen. Pause. Alejandro mustert den Körper von Susy mit langen Blicken. Alejandro Du siehst noch genauso aus wie letztes Mal. 199
Susy Du bist älter geworden. Alejandro Ein bisschen. Susy Ziemlich. Alejandro Du nicht. Du siehst sogar … besser aus. Susy Ich hab Sport gemacht. Nicht viel, ich will nur die Arme ein bisschen definieren, Bauch, Beine, Po straffen und darauf achten, dass die Brüste da bleiben, wo sie hingehören. Alejandro Deine Nippel sind hart. Susy Wegen der Kälte. Alejandro Deine Titten sind immer noch wunderschön. Susy Hör auf. Alejandro Ich weiß nicht, warum du nach all der Zeit noch so eine Wirkung auf mich hast. Susy Hast du einen Ständer? Alejandro Und was für einen. Pepe kommt aus dem Wasser.
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Susy Wieviel hat er geschafft? Alejandro Scheiße. Ich habe ganz vergessen, dass er da drin ist. Susy Sag mir seine Zeit. Pepe Es ist ein Spiel, es ist nicht so wichtig. Susy Wie kannst du sagen, dass es nicht wichtig ist, Arschloch. Sie küsst ihn auf den Mund. Du warst eine ganze Ewigkeit da unten. Vielleicht war das ein Rekord, wer weiß. Alejandro Das könntest du glatt professionell betreiben. Pepe Ich betreibe das professionell. Alejandro Im Ernst? Pepe Schon seit Jahren. Ich habe einen Master im Luftanhalten und einen Doktor im Runterschlucken. Stille. Pepe steigt aus der Badewanne. Alejandro Pepe … 200
Pepe Ich habe alles gehört, ich habe alles gespürt … ich hatte meinen Kopf zwischen deinen Beinen. Nur die Ruhe. Alejandro Ich schwöre, ich hatte vergessen, dass du da warst. Und ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass ihr beide … ein Paar seid. Susana und ich haben uns unterhalten … Susy Wir haben uns nicht unterhalten, sondern nur ein bisschen gestritten. Alejandro Du hast mich provoziert. Susy Streit hat Alejandro schon immer erregt. Alejandro Susana … Susy Alejandro … Es reicht. Ich habe dich zum Feiern eingeladen. Du solltest der Erste sein, der meine neue Wohnung sieht. Alejandro Damit du sie mir unter die Nase reiben kannst, deine neue Wohnung. Susy Nein! Ich habe dich eingeladen, weil du ein Freund bist. Einer der wenigen, die ich noch habe. Und weil es vier Jahre her ist, seit wir dich zum letzten Mal gesehen haben. Deswegen. Pause. Susy kommt aus der Badewanne, schenkt Rum in drei Gläser aus und verteilt sie. Sie will anstoßen, aber niemand macht mit. Alejandro In Ordnung. Also … erzähl mir was über deine neue Wohnung. Susy Sie gehört uns beiden. Pepe und mir. Alejandro Habt ihr geheiratet? Susy Wir wollen hier in Kuba heiraten. Alejandro Damit das von vornherein klar ist: Falls ihr einen Trauzeugen sucht, fragt, wen ihr wollt, aber nicht mich. Pepe Du bist sauer. Alejandro Es ist mir egal, das habe ich doch gesagt. Susy Niemand hat dich gebeten, der Trauzeuge zu sein. Pepe Er will es nicht zugeben, aber er ist sauer. Alejandro Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Unsere frühere Beziehung ist ein abgehaktes Thema. Susy hat mich nie geliebt, ich habe sie nie geliebt, wir waren einfach nur … zusammen. Susy Ich habe dich sehr wohl geliebt. Alejandro Das ist alles so … Pepe Unbequem, unerwartet … Alejandro Nein. Mich überrascht nichts mehr, was von Susy kommt. Pepe Wenn ihr wieder anfangt, bitte denkt dran, dass ich auch noch hier bin. Alejandro Von mir aus könnt ihr weiter über eure Wohnung sprechen. 201
Susy Du sagst das so, als wollten wir nur damit angeben. Wir sind nicht so wie du. Alejandro Ah… dann bin ich jetzt also ein Angeber? Susy Ja. Genau du Du und deine Freundin aus Havanna „mit Eigenheim“ Du und deine Karriere Du und deine Ideen Du und deine Geschichten Du Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben Hast du mir ins Gesicht gesagt, ohne mich geht es dir besser Dass du angekommen bist Endlich deine Ruhe hast Und ich sei immer noch eine Streunerin aus der Provinz Und ohne festen Wohnsitz 6 Wenn du mich jemandem vorgestellt hast Dann nur, um dieser Person zu beweisen Wie modern du bist Und wie gut du dich verstehst mit deiner Ex Und wenn du mich dann doch mal angeschaut hast Dann nur, um mich daran zu erinnern, dass ich nichts anderes war Als eine erfolglose Nutte Alejandro kommt aus dem Wasser und baut sich vor Susy auf. Pepe Es reicht! (Pause) Früher habt ihr euch getreten, an den Haaren gezogen, euch gegenseitig gebissen und alle fanden es immer wahnsinnig komisch. Ihr wart beinahe wie Kinder. Jetzt ist es überhaupt nicht mehr komisch, sondern nur noch lächerlich. Susy Ich will doch einfach nur … Alejandro Ich will einfach nur gehen. Susy Du bleibst hier. Alejandro Wenn du mich nur eingeladen hast, damit ich mir all das anhören muss, dann geh ich, danke. Gib mir meine Hose. Susy Ich habe sie weggeräumt. Alejandro Ich hole sie. Susy Sie ist im Schrank und kommt dort auch nicht raus. Ich hab abgeschlossen.
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6) AdÜ: „Palestina sin techo“: abwertender Begriff für Menschen, die in der Regel aus dem Osten Kubas in die Hauptstadt Havanna kommen und dort ohne offizielle Aufenthaltsgenehmigung leben und arbeiten.
Alejandro Dann gib mir den Schlüssel. Susy Ich weiß nicht, wo er ist. Alejandro Hörst du das, Pepe? Und du sagst, ich sei lächerlich. Susy Ich schwöre. Ich kann mich nicht daran erinnern, wo ich den verdammten Schrankschlüssel hingelegt habe. Alejandro Du willst nur nicht, dass ich gehe. Gib es doch zu. Susy Die Wohnungstür ist offen. Wenn du gehen willst … nur zu. Alejandro Nackt? Susy Tut mir leid. Pepe Wisst ihr, warum ich so lange unter Wasser war? Alejandro Susana … Pepe Ich bin eingeschlafen. Ich habe unter Wasser geschlafen und geträumt. Alejandro Interessiert mich nicht. Ich will gehen. Susy Und ich möchte dir meine Wohnung zeigen. Pepe Ihr könnt mich beide mal. Susy und Alejandro Pepe? Pepe Ich habe die Schnauze voll davon, euch zuzuhören. Jetzt hört ihr mir mal zu. Pause. Alejandro und Susy setzen sich auf den Rand der Badewanne. Pepe Mein Traum war bunt. Alejandro Bravo … Pepe Angeblich sind bunte Träume sehr selten … Alejandro Na ja … Pepe Ich kann euch nicht beschreiben, was ich geträumt habe, denn es hatte nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun. Es war ein abstrakter, außergewöhnlicher Traum. Und ich fand ihn toll. Alejandro Pepe, ich weiß nicht, was du geraucht hast, aber es tut dir nicht gut. Pepe Die Wirklichkeit widert mich an, Alejandro. Ihr beide und eure dämlichen Streitereien widern mich an. Zum Streiten bin ich nicht zurückgekommen. Alejandro Du bist zum Träumen zurückgekommen. Pepe Ja, zum Träumen. Hast du ein Problem damit? Pause. Pepe zieht einen Joint hervor und zündet ihn an. Alejandro Hört mal. Ich will nicht das schwarze Schaf der Gruppe sein. Hier kennt doch jeder die Schwächen der anderen. Pepe war immer et203
was … merkwürdig. Und Susy war schon immer … Susy Eine Nutte? Alejandro Wenn du das so sagst … Und ich war immer … Susy Unangepasst. Alejandro Mutig. Zu unangepasst, manchmal. Pepe Ja, ja … Alejandro Ich sage das, weil ich es für eine meiner Schwächen halte. Susy Sprich weiter. Alejandro Ich habe euch auch vier Jahre lang nicht gesehen. Ich habe euch auch vermisst. Alejandro bietet Susana den Joint an. Sie lehnt ab. Alejandro Pepe, ich hab dich lieb, du weißt das. Es ist mir egal, dass du meine Freundin fickst, das schwör ich dir. Susy Ex. Alejandro Wie auch immer. Susy … ich bitte dich um Verzeihung, wenn ich etwas gesagt oder getan habe, das dich verletzt hat. Nimmst du mich mal in den Arm? Susy Nein, danke. Ich brauche immer eine Weile, um von einem Gefühl aufs andere umzuschalten. Pepe Was in vier Jahren nicht alles so passieren kann … Alejandro Gar nichts ist passiert. Es gibt Leute, die kommen vier Jahre lang ziemlich gut klar, auch ohne ihre Freunde zu sehen. Pepe Ich war nicht auf Kuba. Wie hätte ich denn jemanden sehen sollen? Alejandro Du hättest schreiben können. Pepe Wozu denn schreiben? Um Fotos zu schicken? Um dir zu erzählen, wie gut es mir in Frankreich geht? Wie viel Spaß es macht, deine Freundin zu ficken? Susy Ex! Pepe Okay, ja, vielleicht hätte ich das machen sollen. Ich hätte dir ein Foto schicken sollen Von dem Cabrio, das ich mir im Dezember gekauft habe Das hättest du dir anschauen können Während du in Havanna Schlange stehst und auf den Bus wartest Ich hätte dir ein Foto von meiner Wohnung schicken sollen Sie liegt direkt neben einer riesigen Shopping-Mall Das hättest du dir zuhause anschauen können In deinem einsturzgefährdeten Haus bei der Kaufhalle 204
Das hätte ich vielleicht tun sollen, habe ich aber nicht Und weißt du, warum? Weil ich, anders als ihr beiden Es hasse, so rumzuprotzen Lange Pause.
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Susy Wir haben deinen Beitrag im Internet gesehen. Sehr mutig. Pepe Ein bisschen opportunistisch. Alejandro Ich will nicht über die Internetgeschichte sprechen. Susy Das war seine Meinung. Pepe Eine dumme Meinung. Alejandro Seid ihr sicher, dass wir noch Freunde sind? Susy Wenn wir es nicht mehr sind, sind wir völlig am Arsch … weil es sonst niemanden gibt. Also ich zumindest habe keine anderen Freunde. Pepe Ich auch nicht. Susy Vielleicht hat Alejandro ja in Havanna neue Freunde gefunden. Dein Internetskandal hat dich berühmt gemacht. Alejandro Ich bin auch weggegangen aus Havanna. Pepe In welches Land? Alejandro In das Land der vielen Parks, wo sogar die Esel Bier trinken – in meine Heimatstadt, nach Holguín, mein Fleckchen im Universum, wohin sonst? Pepe Und wie hast du Nilda davon überzeugt, mitzukommen? Susy Dieses Gespräch fängt an, mich zu langweilen. Ich mach uns mal Kaffee. Will noch jemand einen? Susy trocknet sich die Füße ab und zieht sich ein paar Flipflops an. Alejandro Ich musste sie nicht überzeugen. Sie hat mich fallen lassen. Susy zieht die Flipflops wieder aus und setzt sich. Susy Der Kaffee kann warten. Alejandro Ich bin nicht hier, um darüber zu sprechen. Pepe Wir sind deine Freunde. Die einzigen, die du hast. Alejandro Schaut ihr gerne dabei zu, wie ich leide? 205
Susy Selbstverständlich. Pepe Wenn du es uns nicht erzählst, dann wissen wir doch gar nicht, wie sehr du leidest. Um dir zu helfen, meine ich. Alejandro Okay, ich erzähle es euch. Pepe Das mit dem Internet? Alejandro Das mit Nilda. Susy Nicht schon wieder Nilda. Pause. Alejandro Ihr erinnert euch: Ich war ein Mega-Frauenheld, der totale Playboy, ein krasser Herzensbrecher … Susy Ich erinnere mich nur noch daran, dass er total megakrass klein war. Alejandro Wie auch immer. Als du und ich uns getrennt haben, habe ich Nilda geheiratet und das alles hinter mir gelassen. Susy Ohne Namen zu nennen. Alejandro Ich bin erwachsen geworden. Ich habe mir selbst gesagt Alejandro Diese ewige Fotzenjagd Ist was für pubertäre Pappnasen Mit wie vielen hässlichen Frauen hast du nur geschlafen Um deine Freunde zu beeindrucken Um einen Namen mehr auf die Liste schreiben zu können Um als richtiger Mann durchzugehen Es wird Zeit, dass du aufhörst, allen den harten Kerl vorzuspielen Und ein echter Mann wirst Also wurde ich mono-vaginal Ein Synonym für Männlichkeit Laut meinen Schwiegereltern Susy Und diese Mono-Vagina hat dich mit einem anderen betrogen. Alejandro Nein. Sie hat mich mit einer anderen betrogen. Pepe Nilda war eigentlich doch gar nicht so verkehrt. Susy Also bitte. Alejandro Eigentlich hat sie mich gar nicht betrogen. Wir … hatten diese Phantasien. Ihr wisst schon. Wie alle. Susy Klar … Alejandro Wir fingen an, uns eine junge Frau auszudenken, blond, wunderschön, wir haben ihr sogar einen Namen gegeben: Susy. Das hat 206
nichts mit dir zu tun, den Namen hat sie sich selbst ausgesucht. Susy Ich hab nichts gesagt. Alejandro Sowas … macht fast jedes verheiratete Paar. Susy Natürlich … Alejandro Und eines Tages hatten wir die Gelegenheit Es tatsächlich mit jemandem auszuprobieren Sie hieß nicht Susy Ich weiß gar nicht mehr, wie sie hieß Aber sie gefiel uns Sie gefiel uns beiden Ihr noch ein bisschen mehr als mir Die Wahrheit ist, nach und nach Ließen die beiden mich links liegen Doch ich hatte meinen Spaß Welcher Mann in diesem Land Träumt nicht von so einer Gelegenheit Zwei Frauen … Für dich allein … Gratis Schließlich wurde es zur Gewohnheit Fast jeden Monat tauchte eine neue Frau auf Und ihr wisst schon Das passiert ja jedem Mal Pepe Mir ist das nie passiert. Alejandro Weil du auf Männer stehst. Pepe Mann, Frau, egal. Ich habe einen Partner oder eine Partnerin nie geteilt. Mit niemandem. Susy Lass ihn weitererzählen. Jetzt, wo es interessant wird, unterbrichst du. Erzähl weiter. Alejandro Es ist überhaupt nicht interessant, Susy. Es ist der erbärmlichste Teil der Geschichte. Susy Genau deswegen. Alejandro Sie hat sich verliebt Sie hat sich in Susy verliebt Oder wie auch immer sie heißen soll Und sie wollten mich nicht mehr dabeihaben Nicht mal zum Zuschauen 207
Sie wollten alleine sein Sich alleine lieben Sich verwöhnen Lecken Einander alleine genießen Ich wurde nicht mehr gebraucht Also ließ sie mich fallen Und mir blieb nichts anderes übrig Als meine Sachen zu packen Und zurückzugehen In die Stadt, aus der ich komme Susy Was für ein Jammer! Sie wirkte so … Pepe Auf mich wirkte sie immer wie eine Hexe. Alejandro So sprichst du nicht von Nilda. Susy Erwähn den Namen der lesbischen Hexe nicht in meiner Wohnung! Alejandro Ein bisschen Respekt, verdammt nochmal. Du sprichst über meine Frau. Susy Sie hat dich fallen lassen, das hast du selbst gerade gesagt. Alejandro Ja, sie hat mich weggeworfen So, wie man eine ausgeleckte Büchse wegwirft Dose auf Dose, das klappert So, wie man eine Kippe ausdrückt Wenn man geraucht und seine Sucht befriedigt hat So, wie man ein Stück Klopapier entsorgt Nachdem man sich den Arsch damit abgewischt hat So hat sie mich weggeworfen Aber sie war meine Frau Wegen ihr hab ich dich verloren Mir eine Krawatte umgebunden Berge von Formularen unterschrieben Mir drei Jobs gesucht, um uns zu ernähren Aufgehört, mit meinen Freunden feiern zu gehen Aufgehört, Nutten zu vögeln Für sie wurde ich … Mono-Vaginal Pepe Ich nehme an, wie du selbst sagst … das kann jedem passieren.
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Alejandro Aber es ist mir passiert Und ich bin froh darüber Denn ich konnte mich endlich auf mich konzentrieren Ich bin zurück nach Holguín und fing an, zu schreiben Wie ein Wahnsinniger Ich schrieb die Texte meines Lebens, wirklich wahr Und dass ich jetzt ein Buch veröffentlich habe … Das verdanke ich nur dieser ganzen Geschichte Ah, richtig Ich habe welche mitgebracht Eins für jeden von euch Ich schreibe nachher noch Widmungen rein Susy Danke. Pepe Glückwunsch. Worum geht es? Alejandro Es ist autobiografisch. Eine Analogie zwischen mir und meinem Land. Darüber, wie wir beide nach und nach verschwinden … Wie wir zerfallen. Pepe Ach ja. Pepe wirft das Buch in eine Ecke. Susy Darauf sollten wir anstoßen. Pepe Was gibt es denn da zu feiern? Susy Vieles. Zum Beispiel Alejandros Buch, unsere Rückkehr aus Paris … und meine neue Wohnung. Sie stoßen an. Trinken. Tanzen.
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Alejandro Übrigens, Susy … jetzt fällt es mir schwer, deinen Namen auszusprechen, ohne dabei an die andere Susy zu denken. Entschuldige bitte. Als du mit mir zusammen warst, hast du immer gesagt, dieses Land sei nicht zu retten, selbst dann nicht, wenn sich alles ändern würde, was sich ändern müsste. Pepe Bitte, lasst uns nicht über Politik sprechen. Alejandro Du hast gesagt, es sei ein bösartiger Tumor, einer von der Sorte, die weder Chirurgie noch Medikamente ausmerzen können. Pepe Hört mir eigentlich irgendjemand zu, wenn ich was sage? Alejandro Und jetzt kommst du aus Paris zurück und kaufst dir eine Wohnung, ausgerechnet in Havanna … Pepe Nein. Keiner hört mir zu. Alejandro Warum? Susy Erstens kaufe ich sie, weil ich es kann Weil es ein Traum ist, den ich seit langem habe Aber ich musste weggehen, um ihn mir zu erfüllen Zweitens, weil es eine Investition ist Die Preise werden steigen Und in ein paar Jahren ist sie doppelt so viel wert Drittens Weil es mir im Ausland sehr schwer fiel Von Kuba als meiner Heimat zu sprechen Wo ich hier doch eigentlich gar nichts Eigenes hatte Nicht einen Meter Jetzt kann ich Heimat sagen Und dabei an etwas ganz Konkretes denken Pepe Darüber solltest du schreiben, Alejandro. Das könnte dein nächstes Buch werden. Alejandro Was ist mit meinem Buch? Pepe Nichts. Ich habe es nicht gelesen. Alejandro Du hast es nicht gelesen, war ja klar. Da schenke ich meinen besten Freunden mein erstes Buch und was machen sie: Sie werfen es in eine Ecke, als wäre es … Pepe Wenn du willst, dass ich es lese, dann lese ich es. 210
Alejandro Fass mein Buch nicht an! Du hast nasse Hände, Pepe. Ich will nicht, dass du es nass machst. Nur deswegen. Unangenehme Pause. Susy Gut. Du hast mir noch nicht gesagt, ob sie dir gefällt. Alejandro Was jetzt? Susy Die Wohnung. Alejandro Ich habe ja noch gar nichts gesehen außer dem Bad. Ihr habt mich direkt hier reingeführt. Susy Die Wahrheit ist … sie ist noch fast leer. Wir sind gerade erst eingezogen. Das Einzige, das funktioniert, ist der Jacuzzi. Alejandro Ihr habt einen Jacuzzi? Susy Ich meine das hier. Alejandro Das ist eine Badewanne. Susy Für mich ist es wie ein Jacuzzi. Alejandro Ich weiß nicht, ob du jemals in deinem Leben einen echten Jacuzzi gesehen hast, aber das … ist eine Badewanne. Pause. Susy ärgert sich. Susy Ich mach uns mal einen Kaffee. Alejandro Was ist denn los mit ihr? Pepe Liebling, für mich ist es ein Jacuzzi … Susy lacht nicht über den Witz. Sie geht ab.
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Alejandro Immer so empfindlich. Pepe Erinnerst du dich daran, wie du sie behandelt hast, als ihr einfach nur befreundet wart? Bevor ihr zusammengekommen seid? Alejandro Bevor sie … meine Freundin wurde. Pepe Sie spricht immer nur gut von dir, trotz allem. Sie sagt, du warst immer ein Gentleman. Immer so einfühlsam, obwohl du die allergrößten Nutten gevögelt hast. Und auch wenn du dich einen Scheißdreck für sie interessiert hast, hast du sie immer liebevoll behandelt. Deswegen hat sie dir immer alles verziehen. Alejandro Das mit Nilda hat sie mir nicht verziehen. 211
Pepe Nilda ist ein Thema für sich. Alejandro Wann genau hast du dich in sie verliebt? Pepe In Nilda? Alejandro In Susy. Pepe Ich weiß es nicht. Alejandro Hat sie dir schon gefallen, als sie noch meine Freundin war? Pepe Sie war immer eine sehr schöne Frau. Alejandro Paris hat dir nicht den Zynismus ausgetrieben. Ich hätte dir sogar verziehen, wenn du dich in mich verguckt hättest … aber in Susy … Pepe Bist du etwa eifersüchtig? Alejandro Ich dachte, du wärst straight, also normal, eine Schwuchtel eben. Pepe Bin ich auch. Alejandro Ich war immer so wütend, wenn du mit einer Frau geschlafen hast. Aber ich dachte, das geht vorbei, ich dachte, es liegt an, ich weiß nicht, Hormonschüben oder so. Pepe, du bist und bleibst eine … Schwuchtel. Also straight. Normal eben. Pepe Ich bin ein menschliches Wesen, Alejandro. Ohne Etikett. Ich verliebe mich in Menschen, das können Männer sein oder Frauen oder beides, das ist nicht wichtig. Es sind nicht ein Paar Eier oder ein Paar Titten, die ich anziehend finde. Alejandro Was findest du an Susy anziehend? Pepe Lass uns besser über etwas anderes sprechen. Alejandro Ich will genau darüber sprechen. Pepe Ich bin ein Zyniker und du ein Masochist. Weder Paris noch Holguín ändern daran etwas. Alejandro Ich will raus aus diesem … Jacuzzi, und euch nie wiedersehen, keinen von euch beiden. Aber ich will alles geklärt haben, bevor ich gehe. Pepe Aha… also stört es dich doch. Alejandro Eine Fliege in der Suppe stört mich. Ein Krümel im Auge, ein Stein im Schuh … stören mich. Susy mit dir zusammen zu sehen, tut mir weh. Das sind verschiedene Wörter. Pepe Also liebst du sie noch? Alejandro Antworte: Was zur Hölle gefällt dir an ihr? Pepe Sie ist die beste von uns dreien Besser als du oder ich 212
Ich sehe sie gerne lachen Sie lacht, auch wenn wir Grund genug hätten Aus dem fünften Stock zu springen Mir gefällt, dass sie singt, wenn sie aufsteht Auch wenn sie falsch singt Auch wenn sie immer den Text vergisst Ich mag es, wenn sie nackt durchs Zimmer läuft Und sich im Spiegel betrachtet Wenn sie mein Hemd anzieht Das ihr so gut steht Wie sie mich beim Einschlafen beobachtet Und mir übers Haar streicht Dass sie trotz allem lieber in Havanna wohnt als in Paris Und dass sie glaubt, eine Badewanne sei ein Jacuzzi Ich mag es, wenn sie glücklich ist und „Liebling“ zu mir sagt „Pepe“ nennt sie mich nur, wenn sie sauer auf mich ist Doch aus ihrem Mund klingt selbst „Pepe“ gut … Sogar wenn sie sauer ist Alejandro Du liebst sie nicht. Pepe Aber du schon? Alejandro Um Susy zu lieben Muss man akzeptieren, wie unerträglich sie ist Dass sie ein ziemlich dummes Lachen hat Dass sie fürchterlich schlecht singt Um sie zu lieben, muss man verstehen Dass jede Form von Beziehung zu ihr Ein Terrorakt ist Ein Lastwagen, der in eine Menschenmenge fährt Und trotzdem … Weiter bereit sein, das Risiko einzugehen Pepe Ich gebe sie dir nicht zurück. Ich denke nicht dran. Alejandro Und ich bitte dich auch gar nicht darum. Susy kommt zurück.
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Susy Wollt ihr den Kaffee lieber schwarz oder mit Milch? Alejandro und Pepe Schwarz. Alejandro Schwarz mit wenig Zucker. Pepe Dann für mich lieber mit Milch … und viel Zucker. Alejandro setzt sich wieder in die Badewanne. Alejandro Susy, ich muss zugeben, dein Jacuzzi gefällt mir. Susy Ich weiß, dass es eine Badewanne ist. Alejandro Ach, schau an, sie weiß es! Susy Seit meiner Kindheit wollte ich eine haben Aber meine Ingenieurseltern Haben nicht genug verdient, um mir eine zu kaufen Und selbst wenn sie es gekonnt hätten Kam das Wasser bei uns im Viertel Rotbraun aus der Leitung Mein Traum war eine Wanne voller Eselsmilch zu füllen Wie Kleopatra Eureka zu rufen Wie Archimedes Zu schreien Wie in „Psycho“ Und darin zu sterben Wie Marat Alejandro Glückwunsch, Pepe, die Frau ist belesen. Susy Du hast mich immer unterschätzt, aber ich bin überzeugt davon, dass dein Buch voller Sätze ist, die von mir sind. Susy nimmt Alexanders Buch und schlägt es auf. Sie liest etwas vor, nach dem Zufallsprinzip. Susy „Feigling“. Das muss ein sehr autobiografisches Gedicht sein. Alejandro Es sind keine Gedichte. Pepe Ich … hole dann mal den Kaffee. Alejandro Schwarz mit wenig Zucker. Pepe Ich weiß. Pepe geht ab.
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Susy liest laut vor. Susy Die Angst lernte ich kennen Von Angesicht zu Angesicht Ohne Erlaubnis kam sie durch die Tür Schenkte sich selbst einen Kaffee ein Und lange saßen und sprachen wir Wir stehen einander nah, das ist gewiss Ich wurde ihr Vertrauter Und ich meine nicht Die angst in Kleinbuchstaben Diesen abgenutzten, ausgeleierten Schockmoment Die natürliche Reaktion auf Gefahr Oder die simplen Gefühle der Feiglinge Ich spreche von einer anderen Angst Andersartig und in Großbuchstaben Angst, die mir unter die Nägel kriecht Unerbittliche, rohe, zynische ANGST Panik vor dem Nichts Entsetzen vor dem Licht Schreck aus heiterem Himmel Erste Hilfe richtet dagegen nichts aus Glaube und Gesellschaft schützen davor nicht Verzweifelte Angst Abgründige Angst Tyrannische ANGST, grausam und sinnlos Furcht Nervosität Bestürzung Ich meine Den unbarmherzigen Terror … am Leben zu sein Die Angst lernte ich kennen und ich sprach mit ihr Und dann hatte ich nicht mal den Mut Nicht mal das kleinste bisschen …
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Alejandro Um nach dir zu fragen. Susy schaut Alejandro einige Sekunden lang an. Sie steigt in die Badewanne und bleibt aufrecht ihm gegenüber stehen. Susy Ich krieg’s echt noch an die Nerven wegen dir. Nicht eine Nachricht in vier Jahren, kein Kommentar auf Facebook, nicht mal ein unschuldiges LIKE. Bis zu diesem Skandal. Das, was du gesagt hast, ging viral durchs Netz. Haben sie dir was angetan? Alejandro Alles, was ich gemacht habe, war … 15 einfache Fragen zu stellen. Susy In diesem Land hast du damit ein echtes Tabu gebrochen. Alejandro Nur 15 Fragen. An jedem anderen Ort der Welt nennen sie das Neugier … oder Journalismus. In Kuba stellst du 15 unbequeme Fragen und gehst sofort … viral. Susy Hat die Polizei dir Schwierigkeiten gemacht? Alejandro Nein. Susy Hast du Angst? Alejandro Nein. Sie zieht sich die Bluse aus. Susy Und jetzt? Alejandro Pepe kommt gleich wieder. Susy Er weiß, dass ich es mit dir machen will. Ein letztes Mal. Alejandro Als Erinnerung an die gute alte Zeit? Susy Um mich davon zu überzeugen, dass du nicht der Größte bist. Stille. Alejandro Ist er besser als ich? Susy Anders. Alejandro Küsst er wie ich? Susy Das ist vier Jahre her. Du müsstest meine Erinnerung auffrischen. Alejandro steht auf und geht zu ihr. Er streicht ihr zärtlich übers Haar. Seine Lippen nähern sich denen von Susy … er widersteht. Er umarmt sie. Alejandro Ich bin nicht mehr derselbe Ich rasiere mir nicht mehr die Beine Ich habe Zellulitis Ich habe gelitten wegen einer Frau, die ich nie geliebt habe Wegen mir habe ich gelitten Nicht wegen ihr Wegen mir 216
Ich bin gut darin, Fragen zu stellen Ganz ausgezeichnet Und vielleicht können meine Fragen Immer noch irgendetwas wachrütteln In irgendwem Aber ich bin nicht mehr gut darin, Antworten zu geben Entschuldige bitte Pause. Alejandro nimmt Susys Bluse und reicht sie ihr. Susy Es muss ja nicht heute sein. Susy zieht sich die Bluse wieder an. Lange Stille.
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Pepe kommt mit einem Tablett und drei Espressotassen zurück. Pepe Wer bekommt den schwarzen … mit wenig Zucker … Jeder nimmt seine Tasse, und ohne zu sprechen trinken sie ihren Kaffee. Pepe bricht das Schweigen. Pepe Also, wer von uns beiden küsst jetzt besser? Susy Du, natürlich. Pepe Wie war das Gedicht von Alejandro? Alejandro Es sind keine Gedichte. Pepe Aber was zum Teufel schreibst du denn dann? Alejandro Monologe. Erneut Pause. Alejandro Ich räume die Tassen weg. Alejandro geht ab.
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Pepe Also … Was ist jetzt mit Alejandro gelaufen? Susy Nichts. Pepe Ich dachte ja, er bekäme Probleme wegen dem Internetskandal. Susy Achso … davon sprichst du. Pepe Ja … Davon habe ich gesprochen … Dein Alejandro ist ein ganz schönes Großmaul. Susy Wenigstens hat er keine Angst, zu sagen, was er denkt. Pepe Die habe ich auch nicht. Susy Für dich ist das einfach. Pepe Glaubst du das? Schau mich an! Susy Schrei mich nicht an! Pepe Kritisieren ist einfach. Es ist viel schwerer, für dieses Land zu kämpfen, wenn alle es ständig schlechtmachen. Susy Ich hatte wirklich vergessen, was für ein Großkotz du doch bist. Pepe Zum Glück bin ich hier, um dich daran zu erinnern. Susy Das ist gelogen Du warst immer ein Lebenskünstler Ein Mamasöhnchen und ein Papasöhnchen auch Ein Privilegierter Deswegen passt dir das ganz gut in den Kram Wenn alles einfach so weiterläuft Denn wenn die ganz normalen Leute Gelegenheit bekämen Etwas aus sich und ihrem Leben zu machen Wäre ein Typ wie du Ja nur einer von vielen Pepe So wenig kennst du mich Im Ernst … Wie wenig du mich kennst Mein Vater hatte Privilegien Ja Aber er hat nie auch nur einen Peso gestohlen Nicht einen einzigen Peso, verdammt Und ich bin nicht blind Ich weiß, dass dieses Land einen Haufen Probleme hat 218
So wie jedes andere Land der Welt auch … Oder willst du mir erzählen, dass Frankreich perfekt ist Susy Diese Diskussion führt uns nirgendwohin. Pepe Ich glaube an dieses Land hier Und ich verteidige es, weil ich Lust dazu habe Aus Respekt vor den Dingen Für die mein Großvater gekämpft hat Die mein Vater verteidigt hat Und die sie mir weitergegeben haben Ich bin nicht so wie du Du hast dieses Land eingetauscht Gegen Markenklamotten Und Twitter Und Wein für hundert Euro die Flasche Ich bin nicht wie Alejandro Der immer nur die Fehler sieht Einzig und allein Die Fehler Ich bin dankbar Und ich bleibe es Auch, wenn die Leute in meinem Land immer undankbarer werden Leute wie Alejandro Und Leute wie du Alejandro kommt herein.
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Alejandro Sag mir, bei wem genau … ich mich bedanken soll. Pepe Ich gebe auf. Zwei gegen einen. Alejandro Im Ernst Ich will keinen Streit, aber Das mit dem ständigen Bedanken steht mir bis hier Kannst du mir mal verraten Ohne dass du laut wirst 219
Wem ich mein Gehalt verdanke Und die Warteschlangen Und Wartelisten Mein Telefonguthaben Ich will jetzt hier keine großen Reden schwingen, aber … Wem verdanke ich das kleine Zimmer, in dem meine Mutter lebt? Meine Mutter, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet hat Ohne das kleinste bisschen Aussicht auf Verbesserung Antworte, aber bleib ruhig Bei wem soll ich mich dafür bedanken Dass mir die Regierung eine gute Ausbildung verweigert hat Nur weil ich mit den Zeugen Jehovas die Bibel gelesen habe 7 Wem verdankt Susy, dass sie an der Universität studieren durfte Gratis Und wem soll sie dankbar sein dafür Dass sie mit einem Ami schlafen musste Fast gratis Um sich eine billige Scheißbluse kaufen zu können Die sie später wieder verkauft hat, weil sie Geld für Essen brauchte Hier, unter uns Ich will keinen Bürgerkrieg vom Zaun brechen Und auch kein Melodram Wem zur Hölle verdanken wir das? Und, um diese kleine Dankesrede zu beenden Meiner bescheidenen Meinung nach Alles, was ihr für mich getan habt … Das einzige, was noch fehlt, ist, dass ich meine Hosen runterlasse … Und mich bücke Pepe Susy hat recht, dieses Gespräch führt nirgendwo hin. Pause.
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7) AdÜ: Schüler in Kuba müssen eine Art Gesinnungstest bestehen, um die berufliche Laufbahn ihrer Wahl einschlagen zu können. Durchfallen ist aus religiösen und politischen Gründen möglich, ebenso wie aufgrund mangelnder Disziplin. Denjenigen, die nicht bestehen, stehen nur die weniger attraktiven Ausbildungswege offen.
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Alejandro Weißt du, Susana, was ich gerade machen wollte, als ich deine Nachricht bekommen habe? Pepe Nilda hinterherweinen. Susy Ich habe euch doch gesagt, ich will diesen Namen hier nicht hören. Alejandro Ich war in Holguín … Pepe Ich verstehe nicht, warum dich dieser Name nach all der Zeit immer noch so aufregt. Alejandro Wenn du mich nochmal unterbrichst, Pepe, schlag ich dir im Namen der Freundschaft, die wir einmal hatten, alle Zähne aus. Pepe Der Alkohol fängt an, zu wirken. Susy Lass ihn ausreden. Alejandro Weiterreden ist völlig sinnlos. Okay. Pass ich mich halt meiner Generation und dem ganzen Mainstream an. Jacuzzi! Fiesta! Spielen wir mit dem Handy! Schick mir was über Zapya. Musik, Reggaeton … Hauptsache schön krass! Susy Ich höre dir zu. Pepe (angespannt) Bitte … Susy Pepe. Pepe zündet sich eine Zigarette an und stellt sich in eine Ecke. Susy Was wolltest du tun, als du meine SMS bekommen hast? Alejandro In Holguín gibt es einen Ort, der La Loma de la Cruz heißt. Eine Treppe führt dorthin, mit 462 Stufen. Susy Das weiß ich. Alejandro Ich war ganz oben und habe auf die Stadt hinuntergeschaut. Pepe Wie rührend … Alejandro Unglaublich, wie der Ort An dem du deine beste Zeit verbracht hast Dir so fremd werden kann Wie ein künstlicher Körperteil Ich habe die Stadt von oben betrachtet Und an Reinaldo Arenas gedacht Er vergleicht diese Landschaft Mit einem Friedhof Wie kann ich eine Stadt 221
„Meine Stadt“ nennen, in der ich keinen einzigen Freund mehr habe In der ich kaum noch eine Adresse kenne In der sie meinen Akzent komisch finden Es ist schwierig Wenn man sich in diesem Alter Mit 33 Eingestehen muss Dass man nirgendwo hingehört Dann kam mir ein Gedanke Die Treppe hochzugehen ist nicht schwer Runtergehen schon Was würde passieren, wenn ich runterrennen würde Mit voller Geschwindigkeit, alle Stufen auf einmal Ich könnte hinfallen Und würde mir sicher den Hals brechen Oder die Wirbelsäule Oder beide Beine Das wäre ein schmerzhafter Weg Alles zur Hölle zu schicken Aber ein sehr symbolischer Akt, ohne Frage Treppenstufen runterrollen 462 Mal aufschlagen 462 Möglichkeiten, zu sterben Doch was, wenn ich nicht stolpern würde … Wohin würde mich dieser Schwung dann tragen? Pepe Zum Flughafen, vielleicht. Susy Pepe. Pepe Und dann sagt er, dass ich seltsam bin. Susy Pepe … Pepe Ich war ein paar mal da und mir kam Holguín immer wie eine fröhliche Stadt vor. Susy Pepe! Pepe Er hat das Problem, nicht seine Stadt. Wenn dein Leben elend geworden ist, dann ist das deine Schuld, Alejandro. Holguín bleibt Holguín, ob mit oder ohne dich. Alejandro Für dich war ich immer … wie hast du gesagt … ein Scheißkerl. Pepe Natürlich nicht. Mir gefällt, wie das Wort klingt. Scheißkerl. 222
Susy Lasst uns das Thema wechseln. Alejandro Er soll es ruhig rauslassen, er soll alles sagen, was er denkt. Was bin ich für dich, sag schon, Pepe, was Schlimmeres als ein Scheißkerl? Pepe Ein fauler Sack bist du, ja genau. Ein ziemlicher Nichtsnutz … Alejandro Moment, das muss ich mir aufschreiben. Pepe Schreib ruhig. Ein fauler Sack, der sich hinter der Bezeichnung „Schriftsteller“ versteckt, Komma, und nichts Produktives leistet. Punkt. Wie viele Leute lesen, was du schreibst? Sag schon. Nenn mir irgendeine Person, die ein Gedicht von dir auswendig aufsagen kann. Alejandro Es sind keine Gedichte. Pepe Schrott ist das. Typen wie du liegen dem Land nur auf der Tasche. Sie leisten nicht den geringsten Beitrag zu irgendwas. Sie sitzen den ganzen Tag am Computer und noch bevor sie den ersten Satz hinschreiben, müssen sie vier- bis fünfmal Solitaire spielen. Und du traust dich trotzdem noch, Kritik zu äußern. In jedem anderen Land würdest du verhungern. Alejandro Du bist immer noch die gleiche Kommunistenschwuchtel. Pepe Und du ein Idiot. Alejandro Es ist leicht, in Paris ein Kommunist zu sein. Pepe Wenigstens falle ich niemandem zur Last. Das Geld, das ich meiner Mutter schicke, ist mehr wert als dein Buch und der ganze Schrott, den du schreibst. Du kannst nur kritisieren. Was hat dir die Revolution denn getan? Welches Problem hast du mit ihr? Alejandro Du sprichst von der Revolution, als wäre sie eine Sache. Die Revolution ist ein Prozess. Pepe Weißt du, was los ist mit der Revolution? Alt ist sie geworden Als sie losging Wollte jeder sie flachlegen Niemand konnte den Blick abwenden Die Jugendlichen haben sie angebetet Blieben stehen mit offenem Mund Sie war das Aufregendste und Sinnlichste Das man sich nur vorstellen konnte Und jeder wollte mit ihr schlafen Alejandro Ja. Entweder man ließ sich mit ihr ein oder man konnte di223
rekt wegziehen aus seinem Viertel. Pepe Jetzt muss man nicht mehr mit ihr ins Bett, Alejandro. Jetzt müssen wir lernen, sie als Mutter zu betrachten und zu respektieren. Alejandro Schöne Worte, aber ich glaube, deine Revolution sollte sich mal die Haare färben. Pepe Raus aus meiner Wohnung. Alejandro Entschuldige, habe ich mit der Mutter einen wunden Punkt getroffen? Pepe Du willst etwas ändern? Steh auf, tu etwas, bring dich ein. So wie die Leute es gemacht haben, die wirklich Eier in der Hose haben. Alejandro Hier sind meine Eier! Niemand hat sie mir abgeschnitten. Ich schreibe und sage, was ich denke, vor wem auch immer. Susy Und was bringt dir das? Pepe Misch dich nicht ein, Susy. Susy Sag mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe! Antworte, Alejandro. Was bringt dir das? Dass sie dir auf die Schulter klopfen? Dass Leute zu dir kommen und dir ins Ohr flüstern, dass sie auf deiner Seite sind? Dass sie eine Show abziehen, diese Idioten, denen doch eigentlich überhaupt nichts fehlt und die dich nur als Speerspitze benutzen? Alejandro Ich dachte, wir seien da einer Meinung. Susy Wir sind einer Meinung Aber das Leben ist ein bisschen komplexer und größer Und anscheinend hat deines sich in einen Teufelskreis verwandelt Niemand in diesem Land Alejandro García Ist so viel wert wie ein einziger Tropfen von deinem Blut Für wen willst du also sterben Sag es mir Schrei es, wenn du willst Für die Frauen in Strumpfhosen Die in der Warteschlange anstehen, ohne zu wissen wofür Und ihre Zeit mit Lästern totschlagen Die alles und jeden denunzieren, völlig skrupellos Für die Feiglinge, die selbst dann noch „Viva“ rufen Und klatschen Wenn ihnen die Scheiße bis zum Hals steht 224
Die die Faust hochrecken und was von Würde brüllen Und gar nicht wissen, was dieses Wort bedeutet Für die Kerle, die ihre Freundinnen auf den Strich schicken? Für die Mütter, die feiern, wenn ihre Töchter volljährig sind Und alte Europäer heiraten können, kurz vorm Herzinfarkt Für die Intoleranten, die gestern noch mit Eiern geworfen haben Und die heute bereit sind Mit Stöcken auf jeden loszugehen Der anderer Meinung ist Für die Korrupten Die Denunzianten Die Heuchler Die Schwarzmarkthändler Die Säufer Die Opportunisten Dieses Land hat schon Metastasen gebildet Lass die Dicken in ihren weißen Leinenhemden doch ihre Feste feiern Was interessiert dich das Nichts wird sich ändern Nichts Und selbst wenn Anständige Leute wie du machen einfach weiter wie gehabt Völlig unangepasst Alejandro Scheint so, als wäre das die einzig anständige politische Haltung … unangepasst. Pepe Und die bequemste. Susy Ich liebe dich, Alejandro Pepe fragt mich das ständig Und ich wechsle das Thema Aber jetzt antworte ich: Ich bin immer noch verliebt in dich In den Alejandro, der du tief in dir drin immer noch bist Ich weiß, dass er noch da ist, irgendwo Rebellisch, aber nicht verbittert Ehrlich, aber nicht selbstgefällig Der Alejandro, der jedes Buch zuklappte, das er gerade las Wenn er mich nackt sah Der die Nachrichten ausgemacht hat 225
Um mich singen zu hören Und ich weiß, dass ich fürchterlich falsch singe Das ist alles wichtiger als Politik Alejandro Es ist das einzige Was am Ende wirklich zählt Alle Reden der Welt würde ich eintauschen Für eine Umarmung von dir Pause. Pepe schüttet den Inhalt seines Glases in die Badewanne.
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Pepe Und was wird jetzt aus mir? Susy Verzeih mir. Alejandro Es gibt nichts zu verzeihen … Wir sind, wie wir sind. Pepe Ich fühl mich jetzt genau wie Alejandro, als Nilda und Susy ihm den Rücken zugedreht haben, um sich zu verwöhnen, zu lecken, sich zu genießen, nur für sich allein. Susy Du hast gewusst, dass es so kommt. Pepe Das ist der Punkt. Ich wusste es und ich habe es zugelassen. Die Frage ist: aus Zynismus oder aus Dummheit? Alejandro Das weißt nur du. Pepe Schau dich an. Schau ihn an. Du kennst ihn nicht. In diesem Moment ist er glücklich. Sein Leiden ist vorbei. Zur Hölle mit Nilda und der Politik und diesen 462 Stufen. Glücklich! Aber nicht wegen dir, du bist ja so naiv, sondern wegen seinem Ego. Susy Ich bleibe in Kuba. Pepe Für immer? Susy Eine Zeitlang. Ich muss nachdenken. Pepe Offensichtlich. Du hast, was du immer wolltest: eine Wohnung, eine Badewanne … mit einem Alejandro, der drin sitzt. Susy Wir können die Wohnung verkaufen. Pepe beginnt, sich anzuziehen. Pepe Keine Eile … Genießt es erst mal. 226
Susy Du bist spitz. Pepe Wir sind, wie wir sind. Das hat er gesagt, dein Lieblingsschriftsteller, auch wenn der Satz eher so klingt, als käme er von einem Boxer. Susy Wo willst du jetzt hin? Pepe Kümmert dich das? Susy Natürlich. Bleib doch. Die Wohnung gehört dir mehr als mir. Pepe Ich weiß und ich denke auch nicht daran, sie dir zu schenken. Schließlich heiße ich Pepe, nicht Nilda. Susy Hör auf. Pepe Ich geh lieber in ein Hotel … am Malecón. Susy Hör auf! Pepe Ich mach da nicht mit, bei was auch immer sie in diesem Jacuzzi treiben, der Konterrevolutionär und seine Nutte! Susy gibt Pepe eine Ohrfeige. Lange Pause.
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Pepe Was findest du nur an diesem Kerl? Ich war hundertmal besser zu dir. Ich habe dich geliebt, dich respektiert, ich war dir treu. Susy Ich muss mich nicht für meine Gefühle rechtfertigen. Pepe Ich auch nicht. Alejandro Und was fühlst du? Du hast es gar nicht gesagt. Pepe Das interessiert doch keinen hier. Alejandro war immer der Hauptdarsteller in dieser Beziehung, Susy hatte eine Nebenrolle und ich war nur ein Zuschauer. Alejandro Dann geh auf die Bühne und sag, was du fühlst. Pepe Neid. Ja Nicht darauf, was du bist, sondern auf das, was du auslöst Zweifel Ich hab mich in Susy verliebt Und dachte, du wärst es, in den ich mich verliebt habe Ich habe Sex mit ihr gehabt und mich gefragt Ob sie bei mir das gleiche fühlt Ich habe sie geküsst, ohne zu wissen 227
Ob sie mich mit dir vergleicht Oder ob ich sie mit dir vergleiche Eifersucht Ich bin gestorben, jedes Mal, wenn Susy Deinen Namen ausgesprochen hat Dein Name aus ihrem Mund klingt besser als meiner Wut Hilflose Wut, immer, wenn ich mitten in der Nacht aufwache Und sehe, wie sie dich auf Facebook sucht Wie sie Alejandro bei Google eingibt Während ich so tue, als würde ich schlafen, damit sie nichts merkt Mitleid Ich hatte Mitleid mit ihr, weil sie so unzufrieden war Obwohl ich ihr alles gegeben hätte Wovon sie vorher nur träumen konnte Und Erleichterung Letztlich spüre ich: Erleichterung Denn das Schlimmste, was mir passieren konnte Ist mir schon passiert Pause. Alejandro Wir müssen nicht die gleichen Ansichten haben. Du bleibst mein bester Freund. Pepe Und du meiner. Alejandro Die besten Freunde sind die einzigen, die dir wehtun können. Die anderen … was zählen die schon. Letzte Pause. Alejandro macht seine Zigarette aus und geht Richtung Vorbühne.
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Alejandro Du musst nicht gehen Wenn in diesem Zimmer einer zu viel ist Bin ich das Susy liebt nicht mich 228
Sie liebt einen Alejandro, den es nicht gibt Und dieser Alejandro hier Von dem alle behaupten, er sei so mutig Der hat Angst Ich habe Angst vor der Trägheit Ich habe Angst davor, dass Susy vielleicht recht hat Und dass es am klügsten wäre, einfach zu schweigen Ich habe Angst davor, zu schweigen Und Angst, dass meine Kinder mir das einmal vorwerfen werden Ich bin paranoid Sie haben meine Zahnbürste verwanzt Den Rasierer Die Seife Jugend ist eine Krankheit, die mit der Zeit heilt Und ich bin auf dem Weg der Genesung Die Alten werden nichts ändern Die Alten passen sich an Werden fett Bekommen einen Bauch Schlafen vor dem Fernseher ein Stehen in endlosen Warteschlangen Für ein Stück Brot und die Zeitung Sie haben resigniert Die Alten machen keine Revolutionen Sie wollen keinen Ärger mit der Polizei Sie haben keinen Sex nachts im Park Die Alten träumen nicht Sie haben lange genug gelebt und wissen, Dass keine Anstrengung Keine Es wert ist Ich wäre gerne ein normaler Mensch gewesen Ein ganz normaler Kubaner Mitglied im Komitee zur Verteidigung der Revolution8 8) AdÜ: Die Komitees zur Verteidigung der Revolution sind Nachbarschaftsorganisationen, die der Staatsregierung unterstehen. Sie sind Auge und Ohr der Partei, nehmen aber auch soziale Aufgaben wahr. Kubaner, die ihnen nicht beitreten, werden oft gesellschaftlich ausgegrenzt und müssen mit Schikanen rechnen.
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Ein mittelmäßiger Schriftsteller, der Ehrungen entgegennimmt Dafür, dass er im Land geblieben ist Ich hätte mich gerne damit zufriedengegeben An den besseren Menschen zu glauben Den Nachrichten zu vertrauen Unsere Führer für wahre Genies zu halten Unbesiegbar Unfähig, zu lügen Ehrbar Und wenn es uns trotz alledem schlecht geht Dann nur, weil sie von nichts gewusst haben Ich will der Typ sein Der sich ganz einfach nicht für Politik interessiert Dem es gefallen hätte, mit Nilda zusammenzubleiben Sich von zwei, drei Träumen zu verabschieden Auf ein Häuschen hinzuarbeiten Sich eine Geliebte für die Wochenenden zu suchen Und Taschen voller Essen nach Hause zu bringen Der fröhliche Typ, der glücklich darüber ist Euch als Freunde in Frankreich zu haben Die mir ab und zu schreiben Mir Geld aufs Telefon laden Und nach meiner Schuhgröße fragen Ich wäre gern ein Optimist gewesen Hätte mich den Reformen angeschlossen Auf einen prosperierenden und nachhaltigen Sozialismus gewartet Daran geglaubt, dass fünf strahlende Jahre vor uns liegen Ich wäre gerne ein Kämpfer gewesen Dollars kaufen und verkaufen Ein paar Rinder schlachten Mir ein Tattoo stechen lassen Marihuana mit Oregano rauchen Mich durchkämpfen Einen Kiosk in meiner Garage aufmachen Pizza verkaufen Ein Zimmer vermieten, in dem Touristen Mit Minderjährigen vögeln können 230
Der Versuchung widerstehen Auf einem Floß abzuhauen Oder bei der Visa-Lotterie El Bombo mitzumachen Sämtliche Grenzen Lateinamerikas zu überqueren An der Mauer zu campen Mit denen unser Feind sein Gebiet umgibt Oder unser Freund Das weiß ich nicht mehr so genau Siegen Stolz auf das kubanische Volk sein Auf meine Baseball-Mannschaft Kämpfen, durchhalten und gewinnen – oder verlieren, ganz gleich Aber ich bin unangepasst Ich glaube nicht … Ich glaube nicht … Ich glaube an nichts! Bei mir haben die Impfungen nicht gewirkt Und das Kompott hat keinen Proletarier aus mir gemacht Ich bin kein normaler Mensch Ich liebe Susy nicht so, wie ein Unternehmer sie lieben könnte Einer von diesen Selbständigen Einer von diesen „neuen Menschen“ Ich bin am Arsch An diesem Punkt in meinem Leben Kann ich weder jemanden lieben Noch mit jemandem befreundet sein Bevor ich gehe … Kann ich noch eine letzte Zigarette mit euch rauchen? Die drei steigen wieder in den Jacuzzi. Sie zünden ihre Zigaretten an und rauchen.
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Abel González Melo
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MECHANISMEN
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Ein Spiel mit den Gesetzen der Bewegung Aus dem kubanischen Spanisch von Franziska Muche
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für Carlos Celdrán und zum Gedenken an Henrik Ibsen und Isaac Newton, meine Meister der Mechanik und für meine Physikerfamilie: Osvaldo de Melo Pereira, María de las Mercedes Sánchez Colina und Claudia de Melo Sánchez
Vorbemerkung des Autors
Als ich Mechanismen schrieb, hatte ich Argos Teatro vor Augen. Meine fast zwanzig Jahre währende Verbindung zu Carlos Celdrán mit seinem Ansatz, die Bühne als Schmelztiegel unserer Gesellschaft zu verstehen. Ich dachte an seine herausragenden Schauspieler und künstlerischen Mitarbeiter. Als Dramatiker der Truppe, mit der ich aufgewachsen bin, als privilegierter Zuschauer ihrer großartigen Inszenierungen von Brecht, Azama, Koltès, Beckett, Kater, Piñera, Sartre, Tschechow … So schrieb ich dieses Stück im Bestreben, das auf die Bühne zu bringen, was mich an der Realität verstört: eine intime Auseinandersetzung, die ich öffentlich machen muss. Genau das interessierte mich an Henrik Ibsen, denn er gab mir die Möglichkeit, das Obszöne zu entlarven. Selbst wenn es sich hinter Glitzer und Glamour versteckt, selbst wenn Geschlechterverteilung, Beweggründe und Epoche andere sind: Es gibt eine allem übergeordnete Grundfigur der Überheblichkeit und Zerrüttung in Ibsens Dramatik, die uns immer dabei hilft, die Schrecken der Gegenwart (und uns selbst darin) zu verstehen. Deshalb reizte mich auch Isaac Newton: wegen seiner klaren und schonungslosen Art, die Gesetze der Mechanik zu formulieren, die in der klassischen Physik ebenso nachweisbar sind wie im Inneren des menschlichen Wesens. Daraus entstand die Grundidee des Stücks: eine Topographie des Verhaltens, durch die sich eher Körper als Figuren bewegen, Akt für Akt, nach den Grundgesetzen von Trägheit, Aktion und Reaktion. Wie Tiere in einem Labor, die sich nicht beobachtet wissen, können die fiktiven Figuren sich frei bewegen. Und wir – als echte Wissenschaftler – haben Gelegenheit, sie zu studieren.
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Bewegte Körper Osvaldo Telmer Schriftsteller Nara Telmer seine Frau, Direktorin der Hotelkette Gran Cuba Katia Pérez Ärztin, Leiterin der Gesundheitsabteilung Carlos Rogbar Anwalt, Leiter der Finanzabteilung Linda Kristín eine alte Freundin Osvaldos Die gesamte Handlung spielt in der Luxusbürosuite der Telmers im 15. Stock des Hotels Gran Cuba im Badeort Varadero, an einem Wochenende im Juli, irgendwann in den letzten Jahren. Drei Türen: Eine führt in den Flur, eine ins Büro, die großen Glasschiebetüren zur Terrasse.
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DIE SPIELGESETZE I. Erstes newtonsches Gesetz oder Trägheitsprinzip1 (Freitag/Morgen) Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen, geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern.
II. Zweites newtonsches Gesetz oder Aktionsprinzip (Samstag/Nachmittag) Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt.
III. Drittes newtonsches Gesetz oder Reaktionsprinzip (Sonntag/Abend) Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper auf einander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.
1) AdÜ: Die Übersetzung der Newtonschen Gesetze entspricht wie im Spanischen der ursprünglichen Formulierung: Isaac Newton: Mathematische Principien der Naturlehre (1872), aus dem Lateinischen von Jakob Philipp Wolfers.
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I Erstes newtonsches Gesetz oder Trägheitsprinzip (Freitag/Morgen)
Die Suite wird vom Sonnenlicht durchflutet, das durch die Glastüren dringt. Osvaldo kommt durch die Flurtür herein, er trägt mehrere Tüten, die er auf dem Sofa abstellt. Er geht zum Schreibtisch, öffnet seinen Laptop und liest. Osvaldo (schreit) Marina! Bringst du mir eine Cola? Ein paar Sekunden vergehen. Er liest weiter, schreibt etwas in ein Notizbuch. Osvaldo Marina! Nara (kommt aus dem Büro.) Sie ist heute nicht da. Ihr Sohn hat Fieber. Osvaldo (unterbricht seine Arbeit.) Seit wann bist du hier? Ich dachte, du kommst später. Nara Ich war gar nicht fort. Wir hatten bis eben eine Sitzung im Büro. Sie geht zu ihm und küsst ihn auf den Hinterkopf. Osvaldo Langsam gewöhnst du dich an das schöne Leben in einer Suite, was? Nara Klar, vor allem, weil ich so viel hier bin … Du siehst ja, wie viel Zeit mir bleibt, ich kann den ganzen Tag im Internet rumhängen, genau wie du. Sie setzt sich aufs Sofa, nimmt die Fernbedienung und schaltet den Fernseher an. Osvaldo Ich bin schon still … Nara Wenn wir in Cárdenas geblieben wären … Osvaldo Von Cárdenas aus kann man nicht die Gran Cuba Hotels in Varadero leiten. Nara Dort hatten wir wenigstens unsere Ruhe. Ich bin morgens hergefahren und abends zurück. Sie zappt durch die Kanäle. Osvaldo Du hättest Vater sagen können, dass er deinen Namen nicht ins Spiel bringen soll. Er hat das getan, weil er sich auf dich verlassen hat … Nara Ja, er hat sich auf mich verlassen. 238
Osvaldo Damit nicht alles den Bach runtergeht oder das Geschäft in den Händen wildfremder Leute landet. Damit wir es leichter haben, nicht damit du so ein Gesicht ziehst. Nara Osva, ich mache das alles gern. Trotzdem … Osvaldo Eins nach dem anderen. Du machst deine Sache gut, Schatz. Es ärgert mich, dass du das nicht merkst. Nara Die Partei hat uns hier in Varadero viel mehr im Auge als … Osvaldo Aber gerade die Partei hat uns doch erlaubt, mit den Kindern herzuziehen. Nara Ich weiß, was ich sage. Als dein Vater noch lebte, war es anders. Er hielt seine Hand über uns, wir hätten nie Probleme bekommen. Jetzt haben die Deutschen höhere Ansprüche, wollen überall mitmischen und hier werden uns jeden Tag mehr Steine in den Weg gelegt, es gibt mehr Kontrollen … Dein Vater war ein Bollwerk gegen die Flut. Jetzt fühlt es sich so an, als könnte alles jeden Moment auseinanderbrechen. Osvaldo Die Betriebskontrolle lief doch gut, oder? Sie nickt. Osvaldo Ist die Übergabe etwa nicht reibungslos verlaufen? Nara Reibungslos. Osvaldo Dann entspann dich doch. Nara Ich bin ja entspannt … Aber das Drumherum nicht. Osvaldo Hör auf mit der alten Leier … Er nimmt die Fernbedienung und macht den Fernseher aus. Was ist so schlimm daran, in einem Hotel zu leben? Nara Es geht nicht um das Hotel, sondern um das Gerede … Osvaldo Welches Gerede? … Was ist denn? Nara Frag lieber, was nicht ist. Osvaldo Erzählst du’s mir? Nara Vergiss es. Es läuft auf dasselbe hinaus. Osvaldo … Nara Dasselbe wie immer. Osvaldo Dasselbe wie immer hast du unter Kontrolle. Nara (erhält eine Nachricht auf dem Handy, liest) Eben sind zwei Franzosen mit Hummervergiftung 2 ins Krankenhaus eingeliefert worden. Osvaldo Der vom Buffet? 2) AdÜ: Hummer, Langusten und Garnelen sind für Kubaner verboten, damit genug für die Touristen bleibt. Die „Regelung der Fischerei“ erhebt eine Geldstrafe für jeden, der diese „Fischspezien fängt, an Land bringt und verkauft, da sie ausschließlich der kommerziellen Fischerei vorbehalten sind“.
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Nara Katia kommt in fünf Minuten. Osvaldo Wir haben gestern Hummer gegessen. Nara Ich nicht. Ich hatte Sodbrennen. Osvaldo Es bleibt doch alles beim Alten. Nara Weiß ich ja. Osvaldo Unsere Leute wissen, was sie tun. Sie wurden in Krisenzeiten geschult und wissen, wie man vorgeht, wie man Probleme löst. Sie sind da, um dir den Rücken freizuhalten. Allen voran Katia. Sie seufzt. Osvaldo Willst du einen Drink? Nara Katia kommt gleich. Osvaldo Ich mach dir einen Drink. Er geht in die offene Küche, wo sich die Minibar befindet, und schenkt zwei Drinks ein. Übrigens hat in der 17. Straße eine unglaubliche Patisserie aufgemacht. Wirklich beeindruckend, alles in Orange. Nara Du Naschkatze … Osvaldo Windbeutel, Kuchen, Torten … Nara Und du legst kein Gramm zu. Osvaldo Sie heißt … La Butifarra 3? Nara Wieso sollte eine Patisserie nach einer Wurst heißen? Osvaldo Wir könnten morgen mit den Kindern hingehen … Nara Ich geh nicht gern mit den Kindern Süßkram essen. Osvaldo Aber es ist doch nur einmal! Nara Ich will nicht, Osvaldo! Sie schaltet den Fernseher wieder an. Als könnten wir uns so ein Leben erlauben … Osvaldo Normal wäre, das Leben wie früher zu genießen: im La Alondra 4 zu Abend essen, danach weggehen … Das ist keine Geldverschwendung. Nara Es ist nicht gut, wenn man uns an solchen Orten sieht. Osvaldo Weil sie teuer sind? Nara Weil man da nicht jeden reinlässt. Osvaldo Was für eine Solidaritätsflagge trägst du denn auf einmal vor dir her? Nara Es geht um etwas anderes, ich trage jetzt Verantwortung. Osvaldo Du hast früher schon Verantwortung getragen und jetzt wieder.
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3)AdÜ: Eine Butifarra ist eine in Spanien wie in Lateinamerika beliebte längliche Schweinswurst. 4) AdÜ: Der Name des Restaurants bedeutet Die Lerche und verweist auf den Kosenamen, den Torvald Helmer in Ibsens Stück für Nora verwendet.
Nara Man protzt nicht. Osvaldo (bringt die Drinks) Vater hat das alles über dreißig Jahre lang geleitet und uns hat es nie an etwas gefehlt. Niemand hat jemals etwas gesagt. Wen geht das etwas an? Wir leben in einer anderen Welt. Nara Muss ich dich daran erinnern, dass dein Vater nicht mehr da ist? Osvaldo Und nur weil er nicht da ist, müssen wir verhungern? Nara Osvaldo, bitte! Wann hab ich das gesagt? Der Kühlschrank ist voll. Es reicht! Er wendet sich wieder seiner Arbeit am Laptop zu. Sie trinkt. Nara Bist du fertig mit dem Bericht? Osvaldo Ich muss nur noch zwei unstimmige Zahlen prüfen. Heute Morgen wollte ich in der Finanzabteilung anrufen, aber die Tauchstunde hat länger gedauert. Nara Warte lieber, bis ich dir alles weiterleite. Es wird Bewegung in die Finanzabteilung kommen. Osvaldo Bewegung? Nara Die Struktur wird sich ändern. Die Leute. Osvaldo (sieht sie an) Wirfst du Leute raus? Nara Allen voran diesen Idioten Carlos Rogbar. Osvaldo Du wirfst Rogbar raus? Nara Ich vertraue ihm nicht. Der kann doch sonst was anrichten … Ich werde niemandem einen Irrtum durchgehen lassen, keinen einzigen Fehltritt. Es war hart, so weit zu kommen. Osvaldo Aber jetzt sind wir angekommen. Nara Sind wir das? Osvaldo Warum Rogbar? Nara (sieht die Tüten) Hast du das alles gekauft? Stille. Osvaldo Ich war kurz im El Palmar und hab den Kindern ein paar Sachen für den Strand gekauft. Nara Und für dich? Osvaldo Keine Sorge … Für mich will ich nichts ausgeben. Nara Osva, so ist es nicht gemeint, versteh das mit den Ausgaben nicht falsch … Osvaldo Ich brauche wirklich nichts. Nara Bitte: Verzichte nicht auf das, was dir gefällt. Man muss vorsichtig sein, das ist alles. Ich will nicht als geizige Zicke dastehen. 241
Osvaldo (lächelt ihr zu) Das bist du nicht. Sie küssen sich. Naras Handy klingelt. Nara (geht ran) Ja, ich komme gleich. Sie legt auf, macht den Fernseher aus, steht auf. Katia ist schon ins Büro gegangen. Osvaldo Wo lang denn? Nara Ich habe die Tür am Ende des Flurs freiräumen lassen. Die Leute, die zu mir kommen, sollen dich nicht stören. Osvaldo Es stört mich nicht, wir arbeiten doch zusammen … Nara Niemand braucht zu sehen, wie wir leben. Osvaldo Aber es ist doch … Nara Das bleibt so. Der Eingang ist über den Flur. Okay? Er wendet sich wieder dem Laptop zu. Sie will gehen, bleibt aber stehen, als sie ihn reden hört. Osvaldo Wenn du mit Katia fertig bist, frag sie, ob sie mich bis El Tricornio mitnehmen kann. Ich muss fürs Frühstück einkaufen, ich habe vergessen, Marina daran zu erinnern. Nara Und dein Auto? Osvaldo Das ist in der Werkstatt. Es bekommt einen neuen Lack, das war dringend nötig. Der Taxifahrer hat ununterbrochen geraucht, mir war kotzübel. Nara Ich kann dich mit meinem Auto zum Tricornio fahren. Osvaldo Katia fährt bestimmt in die Richtung. Dann kann ich auch gleich die Kinder abholen. Der Magnetstreifen der Kreditkarte funktioniert übrigens schon wieder nicht mehr. Nara Kommst du bis Montag mit dreihundert zurecht? Osvaldo nickt, ohne vom Laptop aufzuschauen. Nara Auch für die Werkstatt, meine ich. Osvaldo Was immer du für richtig hältst. Sie nimmt Geld aus ihrer Brieftasche und bringt es ihm zum Tisch. Beobachtet ihn ein Weilchen bei der Arbeit und geht schließlich in ihr Büro. Osvaldo steht auf, geht zu den Glastüren, sieht hinaus. Das Hoteltelefon klingelt. Osvaldo (nimmt ab) Ja? Linda Kristín? … Nein … Ach, doch, meine Güte, natürlich, Linda … Selbstverständlich, sie soll hochkommen. Ja, ja, gleich ins Zimmer. Er öffnet die Tür zum Flur und lässt sie angelehnt. Räumt die Gläser ab 242
und trägt sie in die Küche. Rogbar (im Hereinkommen) Hallo. Osvaldo (dreht sich um) Was machst du hier? Rogbar Ich hab die angelehnte Tür gesehen und bin hereingekommen. Osvaldo Wir haben noch nicht den Ersten, am 1. August … Rogbar Darum geht es nicht. Ich wollte nur wissen, ob ich zu deiner Frau kann. Osvaldo Zu ihrem Büro geht es über den Flur. Rogbar Wird sie Zeit für mich haben? Osvaldo Klopf an. Sie sehen sich an. Stille. Osvaldo Über den Flur. Rogbar Ach ja. Er setzt zum Gehen an, hält aber plötzlich inne. Das ist die Kaisersuite, oder? Wann seid ihr eingezogen? Ist ja alles noch halbleer … Osvaldo Nara hat gerade Dringendes zu erledigen. Rogbar Egal. Ich warte. (geht) Osvaldo schließt die Tür und lehnt sich kurz daran. Er sucht seinen Drink, stürzt ihn herunter, schenkt nach. Es klingelt. Er macht auf. Linda Mein Lieber, nach so vielen Jahren … Osvaldo Linda … Sie umarmen sich. Linda Wie schön, dich zu sehen. Du siehst gut aus. Osvaldo Ach, Linda … Wie schön, dass du hier bist. Bei mir ist der Groschen nicht gleich gefallen, als die Rezeptionistin deinen Namen gesagt hat. Linda Phantastisch, dieses Hotel … Osvaldo Vater hat immer dafür gesorgt, dass alles gut läuft. Linda Alles so elegant. Osvaldo Komm rein. Sie tritt ein, er schließt die Tür. Linda Es kommt einem fast unwirklich vor, dass es auf Kuba solche Orte gibt. Osvaldo Aber du bist schon in Varadero gewesen, oder? Linda Ach was, nicht mal als Kind … Meine Familie fuhr nach Guanabo, weißt du? Das war näher an Havanna und Varadero war schon immer teuer … 243
Osvaldo Das ist ein Märchen, es ist überhaupt nicht so teuer. Linda Vielleicht nicht für dich, du kennst es nicht anders. Osvaldo Seit wann bist du hier? Linda Ich bin gerade in Matanzas angekommen. Osvaldo Was trinkst du? Linda Irgendwas. Osvaldo Ich war beim Whisky. Linda Whisky, so früh? Osvaldo Ich kann dir anbieten, was du möchtest. Linda Vielleicht eine Zitronenlimo? Osvaldo Natürlich. Bedien dich. (zeigt ihr die Minibar) Linda (bedient sich) Eine Hitze ist das da draußen … Osvaldo Der Juli ist der schlimmste Monat. Linda Bei den Temperaturen hier drinnen wirst du wenig davon mitbekommen. Osvaldo Ich verschanze mich ja nicht. Sie stoßen an. Linda Auf die gute alte Zeit. Osvaldo Auf die neue. Sie trinken. Linda Übrigens ging da ein Mann vorbei, als ich aus dem Aufzug kam … Osvaldo Ja, er arbeitet für uns. Linda Aber ist das nicht …? Osvaldo Er hat schon seit Jahren eine leitenden Position in der Hotelkette. Linda Er kommt mir aus Cayo Largo bekannt vor. Osvaldo Ja, er war in Cayo Largo. Linda Natürlich, dort haben wir uns kennengelernt. Carlos Rogbar, oder? Osvaldo Das muss lange her sein. Linda Lange, ja … Ich dachte, in Cayo Largo hätten sie ihn rausgeworfen. Er wurde bei irgendeiner hässlichen Sache erwischt. Osvaldo So was habe ich auch gehört. Aber mein Vater hat immer gesagt, er sei ein wertvoller Mann. Linda Das hat er gesagt? Osvaldo Dass man Menschen wie Rogbar um sich haben müsse. Vater hat ihn gerettet und an die Spitze der Finanzabteilung des Gran Cuba gestellt. Linda Und wer wagt es, Herrn Telmer zu widersprechen, was? 244
Osvaldo Er wird seine Gründe gehabt haben. Linda Seine Gründe. Sie trinken. Linda Osvaldo, tut mir leid, das hatte ich ganz vergessen … Dein Vater ist gestorben. Osvaldo Ja, im Dezember. Linda Ich habe natürlich davon gehört. Kein schönes Jahresende. Osvaldo Das war das geringste Problem. Linda Wie fühlst du dich? Osvaldo Jetzt geht es wieder. Linda War er sehr altersschwach? Osvaldo Überhaupt nicht, er war stark. Aber plötzlich bekam er Resorptionsprobleme. Ich hielt es für Krebs, aber die Ärzte waren sich sicher. Linda Was? Resorption? Osvaldo Ja, eine entsetzliche Krankheit. Er konnte weder Eisen noch Natrium verwerten. Die Details erspare ich dir, die letzten Monate waren furchtbar, er hat sehr gelitten. Das Haus war ein einziges Drunter und Drüber. Glücklicherweise fanden wir drei Frauen, die sich abwechselten. Ihm zu essen zu geben und zu sehen, wie … ihn zu baden, alle fünf Minuten sauberzumachen, die Windeln, die Laken, die Infusionen … Linda Das muss so schwer für dich gewesen sein. Osvaldo Nara ging es auch sehr schlecht. Sie wäre beinah gestorben, hast du das gewusst? Linda Sag bloß. Osvaldo Wegen der Sache mit Vater. Sie hat sich zuviel zugemutet … Sie ist so tüchtig, hat so vieles organisiert, die bestmögliche Versorgung, die Einweisung ins Krankenhaus … Vater ist gut umsorgt gestorben, du kannst es dir denken, dazu kamen die Ehrungen durch die Partei, das offizielle Begräbnis … Unsere Familie war immer gut vernetzt, sehr engagiert, du weißt ja … Linda Ja, ja, ich weiß. Osvaldo Die Belastung durch Vaters Krankheit, der ganze Stress am Ende, irgendwann bekam Nara die Rechnung dafür. Anfang des Jahres hatte sie ständig Anfälle … Panikattacken. Kaum war Vater begraben, bekam sie ganz komische Sachen. Linda Zum Beispiel? 245
Osvaldo Zuerst Schmerzen in der Brust, die aber nicht vom Herzen kamen. Dann Schlafstörungen, und wenn sie einschlief, wachte sie schreiend wieder auf … Sie hatte auch eine Art inneres Zittern, als würde sich ein Muskel selbständig bewegen und man kann ihn nicht anhalten, kennst du das? Faszikulationen nennt man das, es ist gefährlich. Linda Und alles durch den Tod deines Vaters? Osvaldo Vor allem durch das, was getan werden musste, damit hier alles weiterläuft. Linda, die Leute sehen nur das Schöne an der Luxushotelkette, die mein Vater in unermüdlichen, jahrelangen Verhandlungen mit den Deutschen zu diesem Paradies gemacht hat. Aber niemand kann sich die inneren Mechanismen vorstellen. Die ganzen Lügen, die ganzen Intrigen. Der Kampf gegen das Mittelmaß, gegen die Arschlöcher, die Vater etwas übelgenommen hatten und plötzlich ihre Gelegenheit witterten, endlich den Spieß umzudrehen. Ich brauche dir ja nicht zu sagen, dass der Nationalsport dieses Landes nicht Baseball ist, sondern Neid. Linda Neid kann ich nicht ertragen … Und ist jetzt alles gut, mein Lieber? Osvaldo Gott sei Dank, ja. Auch weil die da oben Nara vertrauen. Weil die wissen, dass sie schon seit Jahren bei der Partei ist und als einzige im Management nach Vaters Tod die Geschäfte des Gran Cuba weiterführen konnte, ohne dass alles den Bach runtergeht. Ich habe kein Talent, keinen Sinn dafür, Vater hat ihr alles beigebracht … Viele Leute denken, er hätte sie willkürlich ernannt, aber das stimmt nicht. Sie hat sich ihren Platz da oben redlich verdient. Linda Man muss uns Frauen solche Gelegenheiten geben, auf uns bauen. Ist sie jetzt wieder gesund? Osvaldo Es geht ihr viel besser, aber das hatte seinen Preis … Willst du noch eine Limo? Oder etwas Süßes? Linda Nein, danke. Osvaldo Der Arzt hat uns empfohlen, eine Weile auf Abstand von allem zu gehen, damit Nara den Stress loswird. Wir mussten nach Europa reisen. Linda Ihr wart in Europa? Osvaldo Madrid kannten wir schon, also haben wir die Gelegenheit genutzt und sind nach Paris gefahren. Linda Ach, wie schön, Paris. Und was habt ihr gekauft? Osvaldo Du weißt doch, wie Frauen sind … Wo wir schon mal in Paris waren, hat Nara sich ein paar gute Sachen zum Anziehen gekauft. 246
Linda Ach ja, Sachen, die ewig halten. Markensachen sind großartig. Osvaldo Am Ende waren wir noch bei Freunden auf Sizilien. Linda Die Reise hat dich bestimmt ein Vermögen gekostet. Osvaldo Unter normalen Umständen hätte es uns nichts ausgemacht, aber alle Ersparnisse waren für Vaters Krankheit draufgegangen … Linda Und was hast du gemacht? Osvaldo (spricht leiser) Wenn Nara das erfährt, bringt sie mich um, sie würde das nicht verkraften. Linda (flüstert) Was hast du gemacht? Osvaldo Ich habe mir das Geld geliehen. Linda So viel? Osvaldo Ich zahle es auf Raten zurück. Linda Du Armer. Osvaldo Ich habe es von jemandem, der mich sehr mag, der sehr reich ist … Linda Reicher als du? Osvaldo Ich bin ein armer Schlucker. Linda Schulden machen mir Angst. Osvaldo Nara wurde gerade zur Geschäftsführerin ernannt. Ab September verdient sie mehr Geld und ich kann alles zurückzahlen. Ich spare hie und da ein bisschen, schaue, dass Nara nichts mitbekommt … Zum Glück war sie mit dem Umzug ins Hotel beschäftigt, wir sind immer noch nicht fertig eingerichtet, wie du siehst … Linda (läuft herum, geht zu den Glastüren) Was für ein wunderbarer Ort. Osvaldo Ich weiß, das wirkt ein bisschen übertrieben, aber Nara muss ihr Büro hier haben, damit sie immer alles unter Kontrolle hat. Linda Und wie lange seid ihr noch in dieser Suite? Osvaldo Nein, nein, das bleibt jetzt so. Wir bleiben für immer hier … Ein idealer Ort zum Spielen für die Kinder. Es gibt ein Fitnessstudio, eine Sauna, den Strand … Ich habe hier meinen Schreibtisch … Ich schreibe Berichte für Nara, weißt du? Linda Toll, so bleibt alles in der Familie. Osvaldo Genau. Das hat Vater auch gesagt. Linda Nara heißt ja euretwegen Telmer … Komisch, dass sie ihren Geburtsnamen abgelegt hat 5 … Osvaldo Das ist wegen der Deutschen, so läuft alles besser. Ein einziger Name, da kann man nichts falsch machen. Erinnerst du dich an Nara? 5) AdÜ: Im spanischsprachigen Raum behalten Eheleute ihren jeweiligen Geburtsnamen, die Kinder erhalten einen Doppelnamen.
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Linda Persönlich hab ich sie nie kennengelernt … Aber in dieser Branche weiß jeder, wer Nara Telmer ist. Osvaldo Ach Linda, ich rede wie ein Wasserfall und lasse dich gar nicht zu Wort kommen … Linda Kein Problem, ich höre dir gern zu. Osvaldo Das viele Reden macht mich ganz verrückt … Er setzt sich an den Schreibtisch, zeigt ihr etwas am Laptop. Schau mal, die Zeichnung hat Pedrito mir gestern Abend geschenkt. Linda Ist das dein Sohn? Osvaldo Der Ältere. Linda Habt ihr zwei Kinder? Osvaldo Ja. Hier ist ein Foto von uns vieren. (lächelt) Linda Wunderhübsche Kinder. Stille. Osvaldo Wie lange bleibst du? Linda Darüber wollte ich mit dir sprechen … Ich ziehe hierher. Osvaldo Wirklich? Und Cayo Largo? Linda Naja … Da bin ich nicht mehr. Osvaldo Du ziehst nach Varadero? Und dein Mann? Linda Der wird nicht … (weint los) Osvaldo Nein, bitte nicht … Er reicht ihr ein Tempotaschentuch. Schon gut … Er nimmt sie in den Arm. Linda Es ist eine Schande, Osvaldo … Osvaldo Was denn? Linda Vor einem Monat hat er eine Chinesin geheiratet. Osvaldo Sag bloß, Linda … Linda Eine Chinesin und sie nimmt ihn mit nach Peking. Osvaldo Nach Peking? Linda Sie haben in Havanna geheiratet, in der chinesischen Botschaft. Am Tag nach der Hochzeit hat er sein Parteibuch abgegeben. Die Personaltante hasst mich, sie hat die Gelegenheit genutzt und alle gegen mich aufgehetzt. Letzten Donnerstag wurde das Unternehmen umstrukturiert und ich sitze auf der Straße. (weint) Findest du es gerecht, dass eine Frau wie ich noch so erniedrigt wird? Osvaldo Das kann nicht wahr sein. 248
Linda Ist es aber, jedes Wort. Und obendrein werde ich für eine Chinesin abserviert! Osvaldo Wenn ich dir irgendwie helfen kann … In Cayo Largo sind wir nicht, das weißt du, da habe ich keine Kontakte. Linda Ich will nicht mehr zurück, Osva. Ich habe mir gedacht … Es fällt mir schwer, dich darum zu bitten … Osvaldo Worum? Linda Ich hab dich noch nie um was gebeten, aber ich dachte, jetzt wo Nara Geschäftsführerin ist, habt ihr vielleicht etwas für mich frei … Ich konnte meine Personalakte rechtzeitig rausholen, mit meiner Beurteilung, schau … Sie will Unterlagen aus ihrer Handtasche holen und sie ihm zeigen. Osvaldo Nein, das ist nicht nötig … Linda Ich habe einen MBA gemacht, ich bin eine qualifizierte Frau … Osvaldo Ja, ja. Linda Bitte fühl dich nicht verpflichtet … Ich weiß, solche Sachen sind schwierig, noch dazu aus heiterem Himmel. Aber ich weiß nicht mehr, wohin, mein Lieber. Osvaldo steht auf, schenkt ein Glas Wasser ein und bringt es Linda. Sie trinkt. Osvaldo Beruhige dich. Wir finden eine Lösung, du wirst sehen. Linda seufzt, trocknet ihre Tränen. Katia (kommt durch die Bürotür herein) Störe ich? Osvaldo Ach was … Linda ist eine alte Freundin, wir haben uns gerade auf den neuesten Stand gebracht. Katia Natürlich, du hast viel von ihr erzählt … Osvaldo (zu Linda) Das ist Katia, sie ist Ärztin und leitet die Gesundheitsabteilung der Hotelkette. Katia Freut mich. Linda Mich auch. Küssen sich auf die Wange. Katia Hast du geweint? Linda Ich habe eine Salzwasserallergie. Katia Dann ist Varadero nichts für dich, das Leben hier ist gesalzen und gepfeffert. Linda Jeder muss irgendwann lernen, die Würze des Lebens zu genießen. Sie lächeln. Osvaldo Also, Katia, Linda möchte hierherziehen. 249
Katia Hierher heißt ins Gran Cuba? Linda Niemals, das kann ich mir nicht leisten. Osvaldo Sie wird eine Weile in unserem Haus in Cárdenas wohnen. Linda Osvaldo, das ist doch nicht nötig … Osvaldo Das wird so gemacht, wenigstens, bis du Arbeit findest. Katia Suchst du Arbeit? Linda Von Luft und Liebe kann man nicht leben, Frau Doktor. Katia Da sind wir uns einig. Osvaldo (zu Katia) Seid ihr fertig? Linda zieht sich ein wenig zurück. Katia Ich schon, Nara hat noch die unschöne Aufgabe, dieses Ekel Rogbar zu verabschieden … Osvaldo War er bei ihr? Katia Hoffentlich zum letzten Mal. Osvaldo Sie wirft ihn also raus? Katia Er kann heilfroh sein, wenn wir es dabei bewenden lassen … Ich weiß, Osva, dein Vater hat ihn immer verteidigt, aber ich hab nie verstanden, warum. Mit so nichtswürdigen Menschen kann man nicht arbeiten. Aber gut, Nara mag es nicht, wenn ich mit dir über diese Dinge rede. Ich gehe jetzt. Du wolltest mitfahren und die Kinder abholen? Osvaldo Ich fahre später, danke. Katia Komm schon. Ich nehm dich mit. Osvaldo Nein, danke. Ich bleibe noch einen Moment bei meiner Freundin. Katia Ach so. Küssen sich auf die Wange. Katia Bis bald, Linda. Linda (lächelt) Ja. Katia geht. Osvaldo Was ist denn? Linda Osvaldo … Ihr beide …? Osvaldo Katia? Linda Ist da etwas zwischen euch? Nara kommt vom Büro aus herein. Osvaldo Erinnerst du dich an Linda, Nara? Nara Linda? Osvaldo Aus Cayo Largo. Nara Ach, deine Freundin, natürlich. 250
Linda Es freut mich, Sie kennenzulernen, Nara. Nara Bitte sag du, wir sind doch nicht bei Ibsen. Sie lächeln. Küssen sich auf die Wange. Nara Entschuldige, dass ich so ein Gesicht ziehe, aber ich habe gerade eine heikle Sache hinter mich gebracht und bin völlig am Ende. Osvaldo Ist Rogbar fort? Nara Ich muss nach Cárdenas. Osvaldo Isst du vorher noch was? Nara Ich esse bei meiner Mutter. Osvaldo Ich habe Linda gesagt, dass sie in Cárdenas wohnen kann. Nara Bist du zu Besuch? Linda Ich bin in Varadero, um hier mein Glück zu versuchen. Osvaldo Wer könnte besser das Haus hüten als eine Freundin. Linda Ich möchte nicht stören. Nara Du störst nicht. Osvaldo Ich habe auch gedacht … Gerade ist so viel Bewegung im Personalbereich, Schatz … Linda ist eine hochqualifizierte Frau. Nara Sprichst du Deutsch? Linda Natürlich. Und Englisch und Französisch. Osvaldo Ist sie nicht phantastisch? Nara Jetzt gerade bräuchte ich jemanden für die Finanzen. Linda Das habe ich studiert. Nara Soll ich dich nach Cárdenas mitnehmen und wir reden unterwegs weiter? Linda Ich bin euch so dankbar. Wenn nichts draus wird, ist es nicht schlimm, allein schon, dass ihr mir zuhört … Osvaldo Es gibt immer Licht am Horizont, siehst du? Nara Ich dachte, vielleicht hole lieber ich die Kinder ab und wir essen bei Oma gemeinsam zu Mittag. Sie haben sie seit letzter Woche nicht gesehen. Osvaldo Okay. Dann dusche ich und geh schon um acht zur Salsastunde. Linda Du nimmst Salsastunden? Nara Für das Bankett mit den Deutschen am Sonntag. Nicht, dass er es nötig hätte, Linda, aber wie du siehst … Osvaldo Jedem seins. Nara Ja, ja, das alte Lied. Osvaldo Das Bankett wird dort oben stattfinden, am Pool. Die schönste 251
Aussicht von ganz Varadero hat man vom Gran Cuba. Warum kommst du nicht morgen zum Mittagessen? Linda Sehr gerne. Nara Gehen wir? Linda (zu Osvaldo) Ich bin so glücklich, mein Lieber. Osvaldo Bis morgen. (zu Nara) Gib Linda meine Handynummer, damit sie mich anrufen kann. (küsst sie, zu Linda) Wenn irgendwas ist, du weißt ja, wo du mich findest … Linda und Osvaldo umarmen sich. Nara Komm, es ist schon spät. Linda und Nara ab. Osvaldo geht ins Bad. Man hört das Plätschern der Dusche. Rogbar kommt durch eine der Terrassentüren herein. Geht zur Minibar, öffnet eine Bierdose und trinkt. Er setzt sich aufs Sofa, legt die Füße auf den Tisch. Osvaldo kommt herein. Er zieht sich einen Bademantel über. Rogbar Tag. Osvaldo Du schon wieder? Rogbar Ich hab gesehen, dass Nara fort ist. (steht auf) Osvaldo Wie bist du reingekommen? Rogbar Ich war gar nicht draußen. Ich bin aus dem Büro auf die Terrasse gegangen. Osvaldo Wie kannst du es wagen, uns auszuspionieren? Rogbar Ich habe nicht spioniert. Ich brauchte frische Luft. Musste mich wieder fangen. Osvaldo Ich rufe sofort die Security. Rogbar Ruf niemanden. Ich bin gleich wieder weg. Ich will nur kurz mit dir reden. Osvaldo Wir haben nichts zu bereden. Rogbar Haben wir doch. Osvaldo Bis zum Jahresende werde ich dem Unternehmen alles zurückzahlen, wie abgemacht. Rogbar Darum geht es nicht. Osvaldo Worauf willst du hinaus? Rogbar Du weißt bestimmt, dass ich kündigen soll. Osvaldo Nara spricht mit mir nicht über diese Dinge. Rogbar Haha … Für wie dumm hältst du mich? Osvaldo Ich schreibe nur. Ich arbeite in diesen vier Wänden. Mit Perso252
nalentscheidungen habe ich nichts zu tun. Rogbar Osvaldo, ich weiß doch, wie das läuft. Du hältst alle Fäden in der Hand und rührst dabei keinen Finger. Deine Frau wird sich auf die Seite von Gewerkschaft und Partei stellen und für mich gibt es kein Entkommen. Nur du kannst mir hier raushelfen. Osvaldo Raushelfen? Rogbar Sie haben keinen triftigen Grund für meine Entlassung. Ich soll immer noch für Cayo Largo bezahlen, das ist nicht gerecht! Katia konnte mich noch nie leiden und jetzt, wo dein Vater tot ist, hat sie Nara ihr Gift eingeträufelt. Osvaldo Haben sie was bei dir gefunden? Rogbar Meine Papiere sind sauber. Sie konnten mir nichts anhängen. Osvaldo So arbeiten wir nicht, Carlos Rogbar. Vater hätte das nie zugelassen. Niemand hängt jemandem etwas an. Du bist nicht neu in diesem Gewerbe, du weißt sehr gut, wie wir in den Gran Cuba Hotels arbeiten. Wir haben ein System, wir haben Prinzipien. Rogbar Natürlich, ich weiß sehr gut, welche Prinzipien du von dieser Suite aus vertrittst. Osvaldo Nicht in diesem Ton! Rogbar Hier haben sich alle ordentlich bedient, so wie ich und noch mehr. Und jetzt soll ich meine Kündigung einreichen? Das Rad soll sich weiterdrehen und mich zerquetschen. Alles muss überholt werden, das Bild erneuert, damit die Prüfer stillhalten. Aber ich mache nicht mit bei diesem Spiel, ich schwör’s dir, ich tue ihnen nicht den Gefallen, klein beizugeben. Ich bin kein Bauernopfer! Sieh dir mein Haus an, ist es vielleicht ein Palast? Das, was ich hier raushole, reicht gerade, um meine Kinder zu ernähren und auf eine ordentliche Schule zu schicken. Ich bin nicht so wie die, die Geld auf ihren deutschen Konten anhäufen und in Varadero ihre Hände in Unschuld waschen! Osvaldo Rogbar! Rogbar Ich bin verheiratet, ich habe eine Familie, die von meiner Stelle abhängt und ich lasse mich nicht plattmachen. Osvaldo setzt sich aufs Sofa, vergräbt das Gesicht in den Händen. Rogbar (setzt sich neben ihn) Du sollst dich nur für mich einsetzen. Ich weiß, dass du mit Nara sprechen kannst. Auf dich wird sie hören. Osvaldo … Rogbar Es ist wegen meiner Kinder, Osvaldo. Du musst mich verstehen. 253
Osvaldo Bei solchen Entscheidungen habe ich keinen Einfluss auf Nara. Es hängt nicht von ihr ab, es gibt ein Leitungskomitee … Rogbar Die Frau, die mit Nara rauskam … war das vielleicht Linda Kristín? Osvaldo Es war Linda, ja. Rogbar Weswegen ist sie gekommen? Osvaldo Wir kennen uns seit dem Kindergarten. Rogbar Hat sie dir gesagt, dass sie mich kennt? Osvaldo … Rogbar Wollte sie Arbeit? Osvaldo Ist das ein Verhör? Rogbar Ich weiß, dass ihr Vertrag in Cayo Largo gerade gekündigt wurde. Osvaldo So wie deiner, vor Jahren. Rogbar Und damit sie eingestellt werden kann, willst du jetzt meine Kündigung? Denn du bist derjenige, der mich rauswirft, Osvaldo Telmer, oder? Osvaldo Wer hat das gesagt? Rogbar Das mit Cayo Largo war ein Verwaltungsfehler und ich habe dafür gebüßt. Dein Vater hat mich nach Varadero geholt und mir die Chance gegeben, mich zu beweisen. Du hast kein Recht, mich so in den Dreck zu ziehen … Hilfst du mir? Osvaldo … Rogbar Ich habe da ein paar Sachen in der Schublade. Es wird dir nicht gefallen, wenn die ans Tageslicht kommen. Osvaldo Sachen? Rogbar Dokumente, Verträge, Rechnungen … Tausende Dollar, die ohne Belege von einem Konto zum andern fließen. Osvaldo Ich kann alles belegen. Rogbar (holt ein Schriftstück aus der Tasche) Auch, warum du diesen Scheck unterschrieben hast, als wärst du dein Vater? (gibt ihm den Scheck) Osvaldo liest. Rogbar Du kannst ihn zerreißen, es ist eine Kopie. Das Original habe ich. Osvaldo Warum kommst du jetzt damit? Rogbar Weil du mich aus dem Verkehr ziehen willst. Osvaldo Ich ziehe niemanden aus dem Verkehr. Dieses Geld haben wir für Vaters Krankheit ausgegeben. Rogbar Und du meinst, das interessiert die Justiz? 254
Osvaldo Nara und ich mussten auf Reisen gehen! Es ging ihr sehr schlecht … Rogbar Sehr gut. Alles hat seinen Preis … Osvaldo Es war ein Darlehen, Rogbar, ich gebe alles zurück. So war es vereinbart: ein ganz legales Darlehen. Rogbar Die Unterschrift ist nicht legal. Stille. Osvaldo Du bist das Letzte. Rogbar Setz dich für mich ein und du wirst nie wieder ein Wort darüber von mir hören. Osvaldo (steht auf, gibt ihm den Scheck zurück) Gib ihn Nara. Rogbar Was? Osvaldo Es ist mir egal. Rogbar (steht auf) Was ist dir egal? Osvaldo Ich werde dafür sorgen, dass es wie eine Fälschung aussieht. Ein rachsüchtiger Hund, der einem ans Bein pinkelt … Rogbar Ich dachte, so würdest du nicht arbeiten. Dass in der Hotelkette Gran Cuba alles mit rechten Dingen zuginge. Osvaldo Du wirst damit nicht durchkommen. Rogbar Und der Skandal? Osvaldo Skandale löscht man mit einem Eimer kalten Wasser. Rogbar nimmt einen Umschlag aus der Tasche und gibt ihn ihm. Rogbar Den hier auch? Osvaldo reagiert nicht. Rogbar Nimm. Er beißt nicht. Osvaldo … Rogbar Vorläufig. Osvaldo nimmt den Umschlag, holt ein paar Fotos heraus, sieht sie sich an, stutzt. Osvaldo Was zum Henker …? Rogbar Das sind Aufnahmen aus einem Video. Osvaldo Aber … (sinkt aufs Sofa) Rogbar Ich hielt es für taktvoller, dir die ganze Vorstellung zu ersparen. Osvaldo Woher hast du …? Rogbar Ich hab dir gesagt, dass ich kämpfen kann. Osvaldo … Rogbar Es würde mich nicht wundern, wenn dir sogar das egal wäre. 255
Aber was werden die Deutschen sagen, wenn das rauskommt? Osvaldo … Rogbar Und die Partei? Was werden die von der Partei sagen? Stille. Rogbar (geht noch näher heran) Entweder stoppst du diese Maschinerie … oder ich lasse die Bombe platzen, aber dann sitzen wir alle in der Scheiße. Rogbar geht durch die Flurtür ab. Osvaldo sieht sich die Bilder an. Er fällt rücklings aufs Sofa.
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II Zweites newtonsches Gesetz oder Aktionsprinzip (Samstag/Nachmittag)
Osvaldo steht in der Küche und wäscht Gemüse in einer Schüssel. Es klingelt, er macht die Tür auf. Linda kommt herein. Osvaldo Na, wie geht’s? Sie küssen sich zur Begrüßung. Linda Sehr gut. Und dir? Osvaldo Ich mache uns gerade was zu essen. Sie gehen in die Küche. Linda Danke, dass du den Chauffeur geschickt hast. So viele Umstände, das ist mir fast schon unangenehm … Osvaldo Dafür sind Chauffeure da. Ich hätte dich selber abgeholt, aber mein Auto ist noch bis Dienstag in der Werkstatt. Linda Du hast ein Auto? Osvaldo Sicher, einen Peugeot. Gebraucht. Ich fahre dich durch ganz Varadero, versprochen. Linda Ah, einen Dienstwagen. Osvaldo Nein, das ist mein Auto. Es hat Vater gehört. Linda Aber Nara hat ein anderes. Osvaldo Sie hat für ihre Sachen den Lada. Linda Kann ich dir helfen? Osvaldo (gibt ihr einen kleinen Zerstäuber) Das kannst du schon mal auf den Salat sprühen, ich schneide inzwischen die Tomaten. Linda (sprüht) Ist das ein Dressing? Osvaldo Nein, ein Desinfektionsmittel. Linda Raffiniert. Osvaldo Es ist wegen der Keime. Sie arbeiten still vor sich hin. Osvaldo Und das Haus in Cárdenas? Linda Fabelhaft! Osvaldo Es ist herrlich, oder? Linda Am liebsten möchte man gar nicht vor die Tür. Und die vielen Fernsehkanäle … 257
Osvaldo Die haben wir hier auch. Linda Kriegt ihr die Sender aus Miami? Osvaldo Die Hotelantenne empfängt alles. Linda Ich liebe Serien und in Cayo Largo gab es immer Probleme mit dem Empfang. Varadero ist einfach anders … Osvaldo I love Varadero. Linda Fahrt ihr nie nach Havanna? Osvaldo Nara manchmal, zu den Sitzungen im Ministerium. Ich nie. Linda Das brauchst du auch wirklich nicht. Er lässt das Gemüse abtropfen und legt es auf eine Platte. Linda Wobei, wenn ich Kinder hätte, ich hätte Angst, so weit ab von allem zu leben, falls mal etwas mit ihnen ist. Osvaldo Weit ab wovon? Die beste Klinik der ganzen Region ist in diesem Hotel und Katia leitet sie. Linda Gestern hatte ich den Eindruck … Osvaldo Welchen Eindruck …? Linda Ich will mich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen. Osvaldo Wir arbeiten seit Jahren zusammen. Katia ist Naras rechte Hand. Ich kann es ihr kaum verdenken, dass sie mich gern hat. Linda Hat sie dir das Geld für die Reise geliehen? Osvaldo (lächelt) Katia? Ach wo … Linda So eine elegante Frau. Man sieht ihr an, dass sie gut verdient. Osvaldo Wenn sie dich hören würde, müsste sie sicher lachen. Sie lebt von ihrem Gehalt, wie alle hier. So wie du auch bald. Linda Ich werde nicht dasselbe verdienen wie die Leiterin der Gesundheitsabteilung. Osvaldo Wer weiß. Linda Aber du bist Telmers Sohn und trotzdem von Nara abhängig, wenn du deine Schulden abzahlen willst. Osvaldo Ich kann dir versichern, das ist auch besser so. Linda Ja? Osvaldo Möglichst wenig in Erscheinung treten. So fühle ich mich … freier. Linda Eigenartig … Ich würde mich freier fühlen, wenn ich mein eigenes Geld hätte. Osvaldo Ich nicht. Linda Naja, jedes Paar ist eine Welt für sich. 258
Osvaldo Ich kümmere mich lieber um die Wohnung. Linda Um die Suite, meinst du. Sie lachen. Linda geht zu den Glastüren. Osvaldo Wir haben ein Zimmermädchen, das putzt und sich um die Kinder kümmert. Niemand kocht, weil wir fast immer zum Buffet gehen … Aber heute wollte ich eine Ausnahme machen und dir das Essen selbst zubereiten. Linda Es wird mir bestimmt großartig schmecken, mit Blick aufs Meer, den Strand, den Hafen mit den ganzen Yachten … Hast du einen Yachtführerschein? Osvaldo Ach wo. Wenn ich mich mit Yachten auskennen würde, wäre ich längst abgehauen. Linda Abhauen, aus diesem Paradies? Osvaldo Einfach verschwinden, ja. Linda (geht zu ihm) Was sagst du da? Osvaldo (seufzt) Ich weiß nicht. Ich habe oft … so eine komische Angst … als würde ich nicht hierhergehören … Das ist eigenartig, ich habe ja hier mein ganzes Leben verbracht. Linda Mach dich nicht verrückt. Osvaldo Würdest du nicht alles für ein Abenteuer aufgeben? Linda Und wer nicht? Ein Abenteuer, ja … Kommt drauf an … Würdest du mit der Ärztin fortgehen? Osvaldo Pst… Darum geht es nicht. Linda Und Nara? Osvaldo … Linda Was? Osvaldo Wir haben uns so vieles gemeinsam aufgebaut. Linda Letzten Endes ist die Liebe eine einfache Sache … Osvaldo Ich bete meine Frau an. Stille. Osvaldo Das Olivenöl ist alle. Ich muss kurz runter in den Hotel-Shop. Linda Lass mal, ich gehe schon. Osvaldo Wenn du so lieb wärst … Dann decke ich inzwischen den Tisch. Bitte. (gibt ihr einen Geldschein) Er ist im ersten Stock. Linda Bin gleich zurück. Osvaldo Sollte es dort keins geben, geh auf die andere Straßenseite, im Supermarkt gegenüber gibt es ganz sicher welches. Nimm die Schlüsselkarte mit, dann musst du nicht klingeln. (gibt sie ihr) 259
Linda (nimmt sie) Okay. (geht durch die Flurtür ab) Osvaldo deckt den Tisch. Nara (kommt vom Büro aus herein, ein iPad in der Hand) Hast du gelesen, dass es eine Quallenplage gibt? Osvaldo Quallen im Juli? Nara Sie kommen aus Florida. Osvaldo Vielleicht treibt sie die Hitze hier herunter. Nara Ich hab noch nie gehört, dass es im Sommer Quallen gäbe. Osvaldo Die Welt steht kopf. Nara Die Rettungsschwimmer wissen schon Bescheid, aber es ist besser, wenn unter den Hotelgästen keine Panik ausbricht. Osvaldo Zwei, drei kleine Quallen werden keinem wehtun. Nara Anscheinend sind es nicht nur zwei, drei. Osvaldo Lass die Flaggen aufstellen. Nara Noch nicht. Stille. Osvaldo Isst du mit uns? Nara Ist Linda noch nicht da? Osvaldo Sie ist draußen. Kommt gleich wieder. Nara Warum gehen wir nicht zum Buffet? Osvaldo Ich habe schon alles vorbereitet. Nara Was hast du gemacht? Osvaldo Quallenauflauf. Sie zieht eine Grimasse. Osvaldo Dummerchen. Es gibt Nudeln mit Garnelen und Gemüse. (geht zu ihr, nimmt sie in den Arm) Komm schon, iss mit uns. (küsst sie) Nara Was hast du denn getrunken, dass du so zärtlich bist? Osvaldo Ich bin einfach so zärtlich. Nara Einfach so? Am Samstagmittag? Osvaldo Ich bin zärtlich, weil ich dich liebe. (küsst sie noch einmal) Nara Ich muss wieder ins Büro, ich habe Dringendes zu erledigen. Osvaldo Ich wollte mit dir über Rogbar sprechen. Nara (löst sich von ihm) Das ist es also. Osvaldo Sind wir nicht ein bisschen vorschnell? Nara Vorschnell mit dem Rauswurf dieser Ratte? Osvaldo Er hält den Kontakt zu den Investoren, er war drauf und dran, den Deal mit den Holländern abzuschließen … Wenn wir ihm ein paar 260
Monate geben … Nara Er ist nicht vertrauenswürdig, Osva. Osvaldo Vater hat immer gesagt … Nara Dein Vater war ein Genie, aber manchmal fehlte ihm der Weitblick. Osvaldo Trotzdem hat er alles mit Rogbar besprochen. Nara Dann wird dieser Gauner etwas über Vater gewusst haben. Osvaldo Meinst du? Nara Warum hat er ihn wohl nach dem Eklat in Cayo Largo so schnell hergebracht. Osvaldo Menschen machen Fehler, Vater wollte ihm eine Chance geben. Nara Vielleicht war das der Anfang aller Probleme. Osvaldo Rogbar hat seine Sache ziemlich gut gemacht. Er ist Vaters Linie treu geblieben … Nara Hast du mir nicht gestern erst gesagt, dass ich meine eigene Linie finden muss? Osvaldo Es wäre vielleicht klug, sich nicht von ihm zu trennen, sieh es einmal so … Es gibt Möglichkeiten, Aufgaben für ihn. Setz ihn anders ein, nimm ihm weg, was du für richtig hältst, aber wirf ihn nicht raus. Nara Ich werfe ihn nicht raus. Er wird selbst seine Kündigung einreichen. Osvaldo Und wenn er es nicht tut? Nara Mein Kopf tut weh, ich möchte nicht mehr darüber reden. Osvaldo Und wenn er es nicht tut? Nara Er wird es tun. Osvaldo Er weiß zuviel, es ist nicht gut für uns, wenn er da draußen frei und aufgebracht herumläuft. Nara Wir bieten ihm 3000, damit er unterschreibt und ohne einen Mucks verschwindet. Osvaldo Mit so wenig Geld wird er sich nicht abspeisen lassen. Nara Ihm bleibt nichts anderes übrig, er wird unterschreiben. Osvaldo Und seine Familie? Glaubst du, Rogbar wird die Arbeit so vieler Jahre über Bord werfen, für 3000? Nara Ich verstehe nicht, wieso du ihn auf einmal verteidigst, Osva. Osvaldo Ich analysiere den Fall nur ganz objektiv. Nara Du bist nicht objektiv. Nicht, wenn es um ihn geht. Osvaldo Und du bist wie immer die Objektivität in Person! Nara Ich mag Rogbar nicht! Die Art, wie er die Dinge handhabt, wie er auf Katia und mich herabsieht, als wäre er hier der King, als würden 261
wir ihm etwas schulden … Weil ich eine Frau bin und jünger als er, erkennt er mich nicht als Chefin an. Er hat sich nie damit abgefunden, für ihn war ich immer eine Zumutung deines Vaters, ich war die Frau des schriftstellernden Söhnchens und jetzt, wo ich das Sagen habe, kapiert er nicht, dass sich die Regeln geändert haben. Ich gehe ihm einfach gegen den Strich! Osvaldo Siehst du, dass du nie mit mir sprichst? Über diese Dinge hätten wir schon vor Wochen reden können … Nara Davon verstehst du nichts! Osvaldo Aber wenn du nicht mehr kannst, kommst du zu mir. Und wenn die Katastrophe über uns hereinbricht, soll ich wieder das Telefon in die Hand nehmen, die da oben anrufen und alles in Ordnung bringen. Nara Ich weiß, was ich tue. Eine Katastrophe lasse ich nicht zu. Osvaldo Bitte: Mach ihm alle Vorschriften, die du willst, aber gib ihm eine Chance … Denk mit kühlem Kopf, nicht mit Wut im Bauch. Nara Ich habe keine Wut im Bauch, sondern einen kühlen Kopf. Während der Sitzungen, während der Geschäftsessen habe ich keine Ruhe, wenn dieser Rogbar in der Nähe ist … Ich habe das Gefühl, als könnte er jeden Moment irgendwelchen Unsinn von sich geben, etwas Schlimmes sagen und uns fertigmachen. Osvaldo Lass ihn hier und er wird uns nicht fertigmachen. Nara Hast du Angst vor ihm? Osvaldo Sagen wir, der Frieden ist mir lieber. Stille. Er legt Servietten auf den Tisch. Nara War er bei dir? Osvaldo … Nara Rogbar war bei dir. Osvaldo Wir haben uns nur fünf Minuten unterhalten. Nara Aber Osvaldo … Wie kannst du nur ein Wort mit diesem Kerl wechseln? Osvaldo Er hat Angst, es ist normal, dass er versucht … Nara Rogbar hat in diesen Raum nichts verloren. Hier leben meine Kinder, hier lebst du, das ist mein Terrain. Osvaldo Er wollte in dein Büro und hat sich in der Tür geirrt. Nara Der irrt sich nicht. Osvaldo Ich will nicht, dass er dummes Zeug redet. Nara Ich habe alles unter Kontrolle. Osvaldo Alles? 262
Nara Lässt du das bitte meine Sorge sein? Es klingelt an der Tür. Nara Das ist bestimmt Linda. Ich habe ihren Lebenslauf schon an die Personalabteilung geschickt. Osvaldo Heißt das, … sie bleibt? Nara Es wäre schade um sie. Osvaldo Das freut mich aber. Nara Sie wird die Finanzabteilung leiten. Osvaldo … Nara Hältst du das für keine gute Idee? Osvaldo Und Rogbar? Nara Du wolltest Linda, oder? Osvaldo Und Rogbar? Nara Ich habe ihn gerade um seine Kündigung gebeten. Osvaldo Nara … Es klingelt noch einmal. Nara Mach Linda auf. Sie wird am Verhungern sein. (Geht wieder ins Büro.) Osvaldo geht zur Flurtür und öffnet sie. Katia Ist Nara hier? Osvaldo Sie hat sich gerade im Büro verschanzt. Katia (kommt herein) Kannst du die Tür von innen verriegeln? Osvaldo Sie wird eine Weile nicht herauskommen. Was ist denn? Katia Esst ihr nicht zusammen? Osvaldo Ach wo. Ich warte auf meine Freundin Linda. Sie geht zur Minibar, holt sich eine Coca Cola und trinkt. Osvaldo Hast du schon gegessen? Katia Der Test ist positiv. Osvaldo Der … Aber sollte das heute …? Katia Das Ergebnis ist eben aus der Klinik gekommen. Osvaldo … Katia … Osvaldo Müssen nicht noch andere Tests gemacht werden? Katia Das war der Test. Er geht zu ihr. Katia (geht auf Distanz) Ich will kein Mitleid. (lässt sich aufs Sofa fallen) Osvaldo (setzt sich neben sie) Wenn es dir schlecht geht … 263
Katia Es geht mir nicht schlecht. Ich bin am Ende. Osvaldo … Katia Ich muss es Nara sagen. Osvaldo Ihr was sagen? Was jetzt zählt, bist du. Katia Und obendrein überschwemmt diese Quallenplage den Strand … Osvaldo Die Quallen sind doch egal. Katia (holt Luft, trinkt, steht auf) Alles wird gut. (läuft herum) Morgen mache ich die Tests alle noch einmal von vorn. Es kann ein Irrtum gewesen sein, ein Laborfehler … Ich habe es satt, dass die Leute Messfehler machen, wir sind nicht mehr so genau wie früher … Und wenn das Reagenz abgelaufen war? Und was ist mit dem Mikroskop? Diese Elektro-Mikroskope aus Korea sind eine Katastrophe, ungenau und unscharf … Die Probe könnte während des Transports verunreinigt worden sein oder ein Glas wurde schlecht sterilisiert, der Tropfenzähler, die Lauge, irgendwas … Vielleicht wurde ein Fehler gemacht. (bleibt stehen, sieht Osvaldo an) Klingt das nicht logisch? Osvaldo Bestimmt wurde ein Fehler gemacht. Katia Normalerweise müsste alles negativ sein. Osvaldo Normalerweise ja. Katia (setzt sich wieder, ganz in seine Nähe) Aber der Test sagt etwas anderes. Osvaldo Ein Fehler. Bestimmt. Katia (sieht ihn an, ihre Augen werden feucht) Ich will nicht sterben. Sie weint los. Er nimmt sie in den Arm. Katia (fast unhörbar) Ich habe überhaupt keine Lust, zu sterben … Osvaldo … Katia (löst sich von ihm) Wir hatten nie Zeit, miteinander zu reden. Osvaldo Wir reden oft und viel, Katy. Katia Wir sagen uns Dinge, ja, aber nicht wirklich … Osvaldo … Katia Immer habe ich mit Formalitäten zu tun, mit Papieren, mit Medikamenten, die nicht eintreffen … Die Auseinandersetzungen mit dem Zoll, mit dem Ministerium. Ich renne von hier nach da und spiele den Feuerlöscher … Die Frau, die sich gestern eine Hummervergiftung zugezogen hat … Die Meeresfrüchte durchlaufen sämtliche Kontrollen, aber wir arbeiten mit so mittelmäßigem Personal … Glücklicherweise ist das Problem gelöst, aber … Wie soll es denn weitergehen, wenn wir 264
von mittelmäßigem Pack umgeben sind? Niemanden interessiert, ob das besser wird. Ich gehe auf die Straße und alles ekelt mich an. Der schlechte Geschmack, die schrille Musik, das ganze Prollgehabe und der Strand über Kilometer ein einziger Saustall … Osvaldo Wovon redest du? Katia … Osvaldo Strand? Versifft? Katia Wie kann ich irgendwas in Ordnung bringen, wenn ich mich selbst nicht in Ordnung bringen kann? Osvaldo … Katia Geht denn alles kaputt jetzt, wo dein Vater nicht mehr da ist? Osvaldo Nichts geht kaputt. Katia Heute morgen habe ich die Augen aufgemacht und wusste, dass mir etwas Schlimmes passieren wird. Osvaldo Gib dir nicht die Schuld an etwas, für das du nichts kannst. Katia Ich bin keine schlechte Frau, oder? Osvaldo … Katia Ich rauche nicht, ich trinke nicht … Ich gehe ins Fitnessstudio, ich mache Diät … Und jetzt das? Osvaldo … Katia Was ich dir sagen muss, ist … Ich habe so viele Jahre mit Nara … Osvaldo (legt ihr die Hand auf den Mund) Sag nur das, was du sagen willst. Sie küsst ihn auf den Mund. Osvaldo (löst sich von ihr) Das … Katia Tut mir leid. Osvaldo Das darf uns nicht passieren. Katia Und wenn es passieren würde? Osvaldo beugt sich über sie und küsst sie. Katia Lass uns fortgehen. Osvaldo Was? Fortgehen, ich? Katia Ich habe Geld gespart. Genug, dass wir verschwinden könnten, irgendwohin gehen, uns aus dem Staub machen. Osvaldo Ich kann nirgendwohin gehen. Katia Natürlich kannst du. Osvaldo Nein, kann ich nicht… Katia Nur ein einziges Mal aus diesem Wahnsinn ausbrechen und wirklich leben! 265
Osvaldo … Katia Ein einziges Mal! Osvaldo Und meine Kinder? Katia … Osvaldo Und Nara? Katia Wir können fortgehen. Osvaldo Das kann ich Nara nicht antun. Katia Lass uns gehen. Osvaldo … Katia Lass uns gehen! Osvaldo Aber wohin denn? Katia Keine Ahnung. Wohin auch immer. Was sich ergibt. Osvaldo … Katia Jetzt einfach ins kalte Wasser springen. Osvaldo … Katia Ich werde nicht sterben, ohne vorher ins Wasser zu springen. Osvaldo Du wirst nicht sterben und wir werden nicht fortgehen. Katia … Osvaldo Aber frag mich bitte nicht noch mal! Katy, ich bitte dich, frag mich nicht nochmal … (löst sich von ihr) Katia Ist es wegen Nara? Verzichtest du wirklich wegen Nara? Ihretwegen? Osvaldo Ich tue es wegen meiner Kinder. Katia Deine Kinder gehen irgendwann auch fort und dann bist du einsam wie ein Hund. Stille. Katia Hier geht alles den Bach runter und ich will das nicht miterleben. Osvaldo Meinst du Rogbar? Katia Nein. Das alles hier. Dieses Land geht den Bach runter. Osvaldo Du phantasierst. Katia Es gibt kein sicheres Fleckchen mehr. Osvaldo Das ist der sicherste Ort, den du dir vorstellen kannst. Katia Dein Gran Cuba. Osvaldo Du solltest dich ein bisschen ausruhen. Katia Und morgen weitermachen wie immer? Osvaldo Genau. Weitermachen. Katia … Osvaldo … 266
Katia Ich sterbe, aber ich bin nicht verrückt. Sie steht auf und geht in Richtung Büro. Osvaldo Was hast du vor? Sei vorsichtig mit dem, was du sagst. Sie ist gerade sehr angespannt. Katia (klopft an die Tür) … Naras Stimme Ja? Katia Ich bin’s. Naras Stimme Komm rein. Katia geht und schließt die Tür hinter sich.Es klopft an der Flurtür. Osvaldo geht öffnen. Rogbar kommt herein, ein Schreiben in der Hand. Sie sprechen leise miteinander. Rogbar Ist das alles, was du erreicht hast? Osvaldo Das ist gerade nicht der beste Augenblick zum Reden. Rogbar Aber mit Katia kannst du reden und sonst was anstellen. Osvaldo Was hast du gehört? Rogbar Sagen wir, ich habe abgewartet, bis ihr die Bedingungen des Untergangs zu Ende verhandelt. Osvaldo Was verdammt noch mal …? Rogbar Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Du weißt, ich kann schweigen wie ein Grab. Osvaldo Katia und ich … Rogbar Ihr überascht mich immer wieder. Aber verschwende deine Zeit nicht damit, mir irgendwas zu erklären. Ich will mein Geld und Schluss. Osvaldo Du wirst dafür bezahlt, dass du die Kündigung unterschreibst. Rogbar 3000 mickrige Dollar? Osvaldo Mehr gibt es nicht. Rogbar Anscheinend ist dir die ganze Sache nicht klar. Osvaldo Wenn du mir das Video gibst und versprichst, zu verschwinden, kann ich dir 2000 Dollar mehr beschaffen. Rogbar Ich will 20 000. Osvaldo lacht. Rogbar Ich bluffe nicht. Osvaldo Du bist durchgeknallt, oder? Rogbar Gib mir 20 000 und ich übergebe dir alle Dateien, lösche alles und hinterlasse keine Spuren, die dich in irgendeiner Weise belasten. Osvaldo Mich wird nichts belasten. Rogbar Deine Frau will mich aus der Tourismusbranche drängen – und 267
wohin schicken? In irgendein Schrottministerium? Osvaldo … Rogbar Sie wollen, dass ich kündige, und beziehen sich auf meine … (liest in dem Schreiben) „mangelnde Eignung“. Zwölf Jahre lang war ich geeignet und plötzlich, eines schönen Tages, bin ich es nicht mehr. Okay. Ich bin vielleicht kein Ökonom, aber ich bin Anwalt. Und als Anwalt weiß ich: Was du getan hast, nennt man Veruntreuung staatlicher Mittel. Obendrein noch Urkundenfälschung und Versuch der Bestechung eines Untergebenen. Osvaldo Das war ein ganz normaler Vorgang. Ich habe dich nicht bestochen. Rogbar Vor Gericht könnte ich behaupten, dass du es versucht hast. Osvaldo Gib mir das Video und mach mit dem Dokument, mit meiner Unterschrift, was du willst … Rogbar Wenn du mir das Geld in bar gibst, weise ich deine Schulden als Spende aus. Vorletztes Jahr haben wir das bei den Weihnachtsshows so gemacht und niemand hat nachgefragt. Alles astrein. Osvaldo Soviel habe ich nicht. Rogbar Du kannst es besorgen. Osvaldo Ihr haltet mich für reich, aber ich habe zwei Kinder zu versorgen. Rogbar Als ob es deinen Kindern an irgendwas fehlen würde! Und was ist mit meinen? Osvaldo Geh jetzt, Nara kann hereinkommen und es ist nicht gut für dich … Rogbar Ich dachte, sie würde es gut finden, dass ihr Mann Telmers Unterschrift gefälscht hat? Osvaldo Ich werde beweisen, dass es Vaters Unterschrift ist. Rogbar Der Scheck ist einen Tag nach seinem Tod datiert, Osvaldo. Ein kleines, aber entscheidendes Detail. Osvaldo sieht es sich an. Rogbar Ihr denkt vielleicht, ich bin chaotisch, aber ich kriege alles mit. Auch die Details. Osvaldo 4000, du gibst mir das Video, zerreißt den Scheck und verschwindest. Rogbar Zwanzig und wir sind quitt. Osvaldo Wo verdammt nochmal soll ich die hernehmen? Meinst du vielleicht, ich scheiße Geld? 268
Rogbar Jetzt bist du derjenige, der sich aufregt. Osvaldo wirft sich auf ihn, stößt ihn gegen die Wand. Rogbar Los, los! Hau mir eine rein, dann habe ich wirklich freie Bahn und kann dich anzeigen. Osvaldo lässt ihn los. Rogbar Ich will keine Probleme machen, sondern das lösen, was ansteht. Bitte Katia um das Geld. Osvaldo Katia geht es schlecht. Rogbar Genau deswegen wird sie dir das Geld geben. Osvaldo … Rogbar Sie stirbt vor Scham, wegen dir. Osvaldo … Rogbar Dabei hast du ihr gar nichts von dem Video erzählt … Osvaldo Halt dich bloß von Nara und Katia fern! Rogbar Und was macht das Papasöhnchen, wenn ich ihnen zu nahe komme? Osvaldo Du bist einfach erbärmlich. Rogbar lächelt. Osvaldo Woher weiß ich, wenn ich dir das Geld gebe, dass du nicht in zwei Monaten zurückkommst und mehr verlangst? Rogbar Ich komme nicht zurück. Osvaldo Gehst du nach Havanna? Rogbar Für 8000 bringt uns noch diesen Freitag eine Yacht nach Miami. Osvaldo Nach Miami? Rogbar Der Rest und ein paar Ersparnisse sind für den Neuanfang dort, damit ich mir etwas aufbauen kann … Osvaldo … Rogbar Ich ertrage es nicht, noch einmal so gedemütigt zu werden, Osvaldo. Ich arbeite nicht mehr für den Staat, für einen Hungerlohn, für den ich noch dankbar sein soll … Als ich gestern hier rausging, musste ich über das alles nachdenken … Abends habe ich mit Flavia darüber gesprochen, sie will das schon lange. Sie hat Verwandte in Tampa, die werden uns helfen, aber ich kann nicht mit leeren Händen kommen. Wenn ich nicht mehr in unseren Hotels arbeite, gehe ich lieber fort und träume davon, dass meine Kinder Englisch lernen und diese Tortur nicht mitmachen müssen. Osvaldo Dann geht ihr alle gemeinsam … 269
Rogbar Ich könnte sie niemals zurücklassen. Und hier habe ich keine Perspektive mehr. So, wie die Dinge liegen, ist es fast ein Geschenk für mich, dass Nara mich loswerden will. Osvaldo … Rogbar Von diesem 15. Stock und deinem klimatisierten Peugeot aus kannst du die Wirklichkeit nicht sehen. Osvaldo Meine Wirklichkeit ist auch nicht gerade rosig. Rogbar Dann stell dir vor, wie es den Leuten da draußen geht. Osvaldo seufzt. Rogbar Wir haben uns einmal gut verstanden, Osvaldo. Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Ich habe dir meine Wahrheit erklärt, damit du sie verstehst, ich bin nicht der Lump, für den Nara mich hält, ich wollte dir niemals schaden, ich war für deinen Vater wie ein Sohn. Wie könnte ich sein Andenken verraten? … Ich will niemandem zu nahe treten, dein Privatleben ist mir egal, das deiner Frau auch, aber ich musste mich absichern, das verstehst du doch. Ich möchte dich in keine Zwangslage bringen, aber mir bleibt nichts anderes übrig! Osvaldo sieht ihn fassungslos an. Naras Stimme. Osva! Osvaldo Du musst gehen. Naras Stimme Ist Linda bei dir? Osvaldo (ruft) Ich komme! Rogbar Du wirst mir das Geld besorgen, oder? Osvaldo Falls ich das nicht schaffe … So oder so hättest du nichts davon, dieses Video publik zu machen. Das ist nicht deine Art. Rogbar Wenn du dich da nur nicht täuschst. Osvaldo Ich habe keine 20 000 Dollar. Rogbar Ich werde dieses Land verlassen, egal wie. (zerknüllt das Papier und wirft es wütend auf den Boden, geht) Osvaldo sieht Rogbar über den Flur nach. Er schließt die Tür, geht zum Büro. Für ein paar Sekunden bleibt die Suite leer. Linda (kommt herein) Osvaldo? Sie stellt eine Plastiktüte auf dem Tisch ab, sieht das zerknüllte Papier am Boden, hebt es auf und liest. Osvaldo kommt herein. Linda Es gab nirgendwo Öl. Osvaldo Nein? Linda Ich habe Essig mitgebracht. Stille. 270
Osvaldo Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Linda Zwischen den Ständen ist kein Durchkommen. Die Leute verlassen fluchtartig den Strand, mit Beuteln, Kühltaschen, ganze Familien kommen von dort … Anscheinend ist die Küste von Quallen überschwemmt. Osvaldo Aber heute morgen war ich tauchen und das Wasser war glasklar. Linda Vielleicht kam die Plage ganz plötzlich. Osvaldo … Linda Und überall dieses Glitzern im Sand, ich kam kaum vorwärts … Osvaldo Möchtest du was essen? Mir ist der Appetit vergangen … Linda (über den Brief) Aber es war ganz gut, dass ich eine Weile gebraucht habe, oder? Osvaldo Hast du es gelesen? Linda Ich habe Rogbar durch den Flur stürmen sehen. Osvaldo So, jetzt stoßen wir erstmal darauf an, dass du die Finanzabteilung leiten wirst. Linda Im Ernst? Osvaldo Absolut. Linda Hat Nara dir das gesagt? Osvaldo Es ist alles schon in Bearbeitung. Linda (umarmt ihn) Ach, mein Lieber … Osvaldo Du weißt, dass das Rogbars Stelle war, oder? Linda (löst sich von ihm) Ebendie? Osvaldo Hm hm. Linda Es ist aber nicht meinetwegen … Osvaldo Nein, nein. Überhaupt nicht. Linda sieht sich nochmal das Schreiben an, dann wieder Osvaldo. Linda Wollte er was von dir? Osvaldo Im Gran Cuba ist er am Ende. Er hat das Vertrauen des Vorstands eingebüßt, Nara erträgt weder seine Art noch sein Benehmen … Linda Ein schwieriger Mensch, ja. Osvaldo Du kanntest ihn gut? Sie nickt. Osvaldo Vielleicht macht es ihn deshalb fertig, dass gerade du ihn ersetzt. Linda Hat er es mitbekommen? Osvaldo Er kann es sich denken. Linda Osvaldo … Schuldest du ihm was? Osvaldo … 271
Linda Hat er dir das Geld geliehen? Osvaldo Es war kein persönlicher Kredit. Aber trotzdem … Er bringt mich damit ganz schön in Schwierigkeiten. Linda Es ist nicht gerade empfehlenswert, sich mit Carlos Rogbar einzulassen. Osvaldo … Linda Er spielt nicht fair. Osvaldo Es muss einen Weg geben, ihn aufzuhalten. Linda Er war mein Liebhaber. Osvaldo Ah. Stille. Osvaldo Hör mal, Linda, wenn du mir in der Sache hilfst … Linda Er schuldet mir was. Vielleicht ist das der Moment, es einzufordern. (geht zum Tisch, setzt sich, isst) Osvaldo Rogbar hat ein Dokument, das … Es war leichtfertig, ein Scheck, den ich nicht hätte unterschreiben dürfen. Ein kleiner Kredit vonseiten des Unternehmens … für die Europareise. Linda (kaut) Ja, ja. Osvaldo Niemand hat etwas davon, wenn das die Runde macht. Oder Nara in die Hände fällt. Linda (isst) Niemand. Osvaldo Dann ist da noch was. Ein Video. Das brauche ich. Und alle Kopien, die er auf seinem Computer hat, auf seinen Festplatten … Linda Ein Video von dir? Osvaldo Fast. Linda Das macht er immer so. Osvaldo Er spitzt die Lage auf eine Weise zu, die mich belastet und verunsichert, er bringt mich in Bedrängnis … Man kann es drehen und wenden, wie man will, es ist Erpressung, das habe ich nicht verdient … Linda Wohnt Rogbar hier im Hotel? Osvaldo Nein. In der 48. Straße, mit seiner Familie. Ein gelbes, zweistöckiges Haus, neben einem Friseur. Aber im Moment … (sieht auf die Uhr) Würdest du zu ihm gehen? Linda Natürlich. (steht auf) Osvaldo Wenn du dich beeilst, erwischst du ihn vielleicht im zweiten Stock. Er isst in der VIP-Lounge. Linda Ich fahre runter. Dass ich jetzt Erfolg habe, muss er schon aushalten. 272
Osvaldo Isst du nichts mehr? Linda Lass mal. Ich bin gleich zurück. (geht) Stille. Osvaldo (geht zum Telefon, wählt eine Nummer) Können Sie das Geschirr abräumen? Die Essensreste stinken. (legt auf) Osvaldo geht zu den Glastüren, sein Blick verliert sich in der Weite des Meeres.
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III Drittes newtonsches Gesetz oder Reaktionsprinzip (Sonntag/Abend)
Die Suite ist in stimmungsvolles Licht getaucht. Vom Bankett dringen Musikfetzen herunter. Es klingelt. Linda kommt zur Terrassentür herein, geht zur Flurtür und öffnet sie. Rogbar Du hast mir zu Hause eine Nachricht hinterlassen? Linda Ich bin seit zwei Tagen in Varadero. Rogbar Ich habe dich mit Nara im Auto gesehen. Linda Du hast dich nicht verändert, dir entgeht einfach nichts. Rogbar In Varadero reichen dafür keine zehn Augenpaare. Linda Setz dich. Osvaldo und Nara kommen erst nach der Salsa Rueda runter. Rogbar Ach ja, die Glücklichen. Linda Es ist ein großes Bankett. Rogbar Du lebst wieder dein Partyleben … Linda Ich habe schon immer gern getanzt. Rogbar Und ich dir gern vom Rand aus zugesehen. Linda Du hättest kommen können … Rogbar Ich habe nichts mit ihnen zu feiern. Linda Setzt du dich? Er beobachtet sie. Linda (setzt sich aufs Sofa) Vor … zwölf Jahren haben wir uns zuletzt gesehen, oder? Rogbar Ich hätte schwören können, dass es länger her ist. Linda (lächelt) Du kriegst eine Glatze. Rogbar Und du hast längere Haare. Linda So ist das Leben. Rogbar Ja. Stille. Rogbar (setzt sich neben sie) Ich dachte nicht, dass ich dich noch einmal wiedersehe. Linda Es hat mich gefreut, deine Kinder kennenzulernen. Dass du noch mit Flavia zusammenbist. 274
Rogbar Flavia und ich … Linda Du denkst hoffentlich nicht, dass du dich vor mir rechtfertigen musst, oder? Rogbar … Linda Ich habe auch mein Leben gelebt. Rogbar Ja … Joaquín … Ein großer Biertrinker. Ich habe die Hochzeitsfotos gesehen. Linda Das glaube ich nicht. Auch die mit den Delfinen? Rogbar Klar. Es hat mir Spaß gemacht, dich dort zu sehen. Diese Bilder kursierten ja überall auf Facebook. Sie lächeln. Linda Joaquín wurde in die Zentrale versetzt, nachdem du gegangen bist. Rogbar Du meinst, nachdem ich „gegangen wurde“. Linda Du hast ein richtig gutes Karma, niemand will dich um sich haben. Rogbar Aber du hast mich ertragen. Linda Es war auch deine Entscheidung. Rogbar Ich würde eher sagen, wir haben uns das Risiko geteilt. Linda Ich wollte nicht auf diese Weise verschwinden, es wäre Wahnsinn gewesen. Rogbar Ich habe das wirklich respektiert. Ich habe es verstanden. Mit den Jahren dachte ich, du hättest für deinen Traum gekämpft, deinen Wunsch, dort Kinder zu bekommen, im friedlichen Cayo Largo, weitab vom Großstadtmief. Linda … Rogbar Zwölf Jahre später sind diese Kinder immer noch nicht da. Linda Sieh mich nicht so an, als wäre ich Schuld daran. Rogbar … Linda Ich bin dir nichts schuldig. Rogbar Dennoch … Wenn wir es getan hätten … Verstehst du? Wenn wir uns entschieden hätten … Linda Du hast mich verlassen, Rogbar. Rogbar Und du hast dich gerächt, Linda. Linda Ich habe vor Gericht nicht gegen dich ausgesagt. Rogbar Du hattest schon genug gesagt. Linda Ich habe verhindert, dass du ins Gefängnis musst. Rogbar Und weil ich dir dafür ewige Dankbarkeit schulde, fällst du mir jetzt in den Rücken und nimmst den Job an, aus dem ich gerade gefeuert wurde. 275
Linda Ich wusste nicht, dass es deiner war. Rogbar Und das soll ich jetzt glauben? Linda Du darfst nicht so von mir denken! Ich könnte dir niemals schaden! Seit Jahren kreisen meine Gedanken um diese Geschichte … Ich habe nicht deine glückliche Familie, ich habe nicht dein Happy End, ich habe nicht die Kinder, für die du dich aufopferst …Und weißt du, warum? Weil ich nicht wollte, dass Joaquín ihr Vater ist … Der perfekte Mann für alle, oder? Ich fühlte mich bei ihm geborgen, er unterstützte mich, er wollte mich und ich dachte, dass er mich nicht belügt, aber im tiefsten Inneren war ich einsam … Nicht einmal Mutter konnte das verstehen. Einsam und leer! Meine Bitterkeit, meine Angst, die jahrelange Unruhe, und das Ergebnis ist: Er lässt mich fallen wie eine heiße Kartoffel und haut mit einer anderen ab. Das ist meine Wunde, Rogbar. Das ist das Ergebnis meiner Liebe zu dir. Er senkt den Blick. Linda So stehe ich vor dir und bitte dich, mich anzusehen. Er sieht ihr in die Augen. Linda Du hast kein Recht, dich in das Leben von Osvaldo und Nara einzumischen. Rogbar … Linda Beiß nicht wieder in die Hand, die dich aus dem Sumpf gezogen hat. Rogbar Deswegen das Ganze? Linda Deswegen was? Rogbar Diese ganze Show über das, was du für mich empfindest … Linda Das ist keine Show. Rogbar Alles, was ich dir abnehmen soll, deine Einsamkeit, deine Liebe … Nichts davon hat mit mir zu tun? … Alles nur, um Osvaldo zu retten? Linda Es hat alles mit dir zu tun. Rogbar Und ich dachte, du sagst die Wahrheit … Linda Ich sage dir meine Wahrheit. Rogbar Und wie es mir ging? Hast du eine Ahnung, was ich für dich empfinde? Linda Hör mal … (nimmt sein Gesicht in die Hände) Ich bin nur in Varadero, um dich zu sehen. Langsam umfasst er ihre Hände mit den seinen. Linda Der Rest ist … gesunder Menschenverstand. 276
Rogbar (flüstert) Die beiden haben mein Leben zunichte gemacht. Linda Nimm es nicht so … Rogbar Ihretwegen bin ich jetzt der letzte Dreck. Linda Telmer hat dich nach Varadero geholt. Er hat dich hier arbeiten lassen. Rogbar Ich weiß! Ich weiß! Linda Er hat dir eine zweite Chance gegeben. Rogbar Glaubst du, es fällt mir leicht, Osvaldo zu konfrontieren? Linda Dann lass es! Rogbar (fast unhörbar) Mein Gott, Linda … Du weißt nicht, was ich durchmache … Er weint auf ihrem Schoß. Sie streichelt ihn. Rogbar Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte … Linda Lass uns neu beginnen. Rogbar Ich bin schon fast an Bord einer Yacht nach Miami. Linda Du gehst? Rogbar Meine Kinder sollen woanders aufwachsen. Ich ertrage den ganzen Dreck nicht mehr. Es fühlt sich an wie ein ständiger Drahtseilakt. Linda … Rogbar Warum verdammt nochmal kommst du jetzt? Sehen sich an. Küssen sich zärtlich. Rogbar Ich habe vorhin noch eine Mail an Nara geschickt und ihr alles erzählt. Linda … Rogbar Seit Tagen kann ich nicht schlafen, ich mache das bestimmt nicht gern … Linda Warum willst du dann unbedingt den Bösewicht spielen? Rogbar Ich werde das Dokument vernichten, ich will es nicht haben … Linda Und das Video? Rogbar holt eine MiniDisc aus der Tasche und gibt sie ihr. Rogbar Gib es ihm. Ich habe kein Interesse mehr daran. Linda Wegen der Mail … Das sollen die beiden klären. Sie müssen reden. Rogbar Und wir beide, was machen wir? Linda Keine Ahnung, sag es mir. Rogbar Wir brauchen viel Geld. Linda Geld kommt und geht. Rogbar Blödsinn. Eine absurde Theorie. Ich brauche Geld und zwar hier 277
und jetzt. Ich muss fliehen. Die Musik endet. Man hört Beifallklatschen. Linda Gleich kommen sie runter. Sie stehen auf. Linda Sehen wir uns nachher? Dann können wir alles in Ruhe besprechen … Rogbar Und fortgehen? Linda Fortgehen ist nicht die einzige Möglichkeit. Rogbar Ich weiß nicht, ob es die einzige ist, aber ich stecke hier fest. Linda Hey, wir besprechen es. Rogbar Okay, wir besprechen es … Auch wenn ich nicht weiß, ob es Sinn ergibt. Wo übernachtest du? Linda In Osvaldos Haus in Cárdenas. Rogbar Ich komme um Mitternacht. Linda Gut. Um Mitternacht. Sie küssen sich. Rogbar Ich glaube das alles nicht. (geht) Osvaldo kommt durch die Terrassentür herein, ein Glas in der Hand. Osvaldo Das war er. Linda Er ist gerade fort. Bitte. (gibt ihm die MiniDisc) Osvaldo (lächelt) Dann … Linda Er wird es niemandem zeigen. Osvaldo Und die Kopien? Linda Ich glaube nicht, dass er welche hat. Du kannst aufatmen. Osvaldo (umarmt sie) Linda … Linda Er hat erkannt, dass das hier keinen Sinn ergibt. Osvaldo (löst sich von ihr) Ich kann dir ein bisschen Geld geben, für alle Fälle … Linda Nein, nein … Es ist nur … Als er hier ankam, hatte er schon an Nara geschrieben und ihr alles andere erzählt … Osvaldo Ja? Linda … Osvaldo Also … Naja … Linda Denkst du, sie hat es schon gelesen? Osvaldo Ich glaube kaum, sie war den ganzen Abend … wie immer. Ob sie es wohl gelesen hat? Nein, es ist Sonntag ... Nara liest ihre Arbeitsmails nicht um diese Zeit … Morgen lasse ich die Mail auf dem zentralen Server löschen … Und wenn nicht … Sie wird das schon verstehen, 278
das ist das geringste Problem. Linda Kommst du zurecht? Osvaldo Ja, ja … Linda Du hast viel getrunken. Osvaldo Das bin ich gewohnt, keine Sorge … Bleibst du noch ein bisschen? Linda Ich muss zu ihm. Osvaldo Zu Rogbar? Linda Damit er sich beruhigt. Osvaldo Pass auf dich auf. Linda Er kämpft ja auch nur ums Überleben. Osvaldo Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll … Linda Das hast du schon getan. (zeigt auf die MiniDisc) Pass gut darauf auf. Osvaldo Natürlich. Osvaldo geht zum Schreibtisch, öffnet ein Schubfach, legt sie hinein, schließt es wieder. Ich ruf dir ein Taxi. Linda Lass mal. Ich frage an der Rezeption. Von der Terrasse kommt Nara. Sie trinkt. Nara Linda, du bist hier … Ich wollte dir den deutschen Botschafter vorstellen … Du warst so schnell fort … Linda Mir war ein bisschen schummrig. Ich bin die Höhe nicht gewohnt. Nara Trink ein Mineralwasser. Linda Ach, es geht schon wieder … Nara Die Salsa Rueda war ein voller Erfolg! Linda Wirklich? Nara Hast du meinen Mann nicht tanzen sehen? Osvaldo Nein, sie hat mich nicht gesehen. Nara Der kann sich bewegen, wie ein Teufel … Ich sag es ja, mein Mann ist einfach der Beste … (küsst ihn) Osvaldo Linda muss gleich gehen. Nara Schon? Du bist nicht mal in den Pool gesprungen … Linda Ein andermal. Nara Bei dieser Hitze geht nichts über eine Abkühlung. Linda Sehen wir uns morgen früh? Osvaldo Ich schlafe bis Mittag, ich bin so müde … Aber Nara ist bestimmt um neun auf den Beinen. Nara Dann stell ich dich gleich dem Leitungskomitee vor. 279
Linda Okay, bis dann. Nara Tschüss. Osvaldo (begleitet Linda zur Flurtür und umarmt sie) Schlaf gut. Linda Ihr auch. (geht) Er holt sich sein Glas, trinkt und geht dabei zu den Glastüren, wo Nara steht. Sie sehen nach draußen, Arm in Arm. Nara Ich liebe den Salzgeruch, den dieser Sommerwind herträgt. Osvaldo Stimmt, so eine Brise ist ungewöhnlich. Nara Sie beruhigt. Osvaldo Als wäre die Welt nur dieser eine Augenblick. Nara Und das Riff von Quallen überschwemmt … Osvaldo Unglaublich, dass ein so giftiges Tier ein so schönes Licht verbreiten kann. Nara Wie lauter kleine Lichter in Aquamarinsteinen. Osvaldo Und keine Menschenseele am Strand. Nara Morgen sind die Leute zurück. Osvaldo Wenn die Räumfahrzeuge die toten Quallen aufgelesen haben. Draußen spielt wieder Musik. Nara schließt die Terrassentüren, die Musik wird leiser. Nara Und die Kinder? Osvaldo Sind mit Marina im Spielzimmer. Katia (kommt von der Terrasse) Ich wollte mich verabschieden. Nara … Osvaldo Wie, so schnell? Trink was mit uns. Katia Ich will euch nicht das Fest verderben. Osvaldo Bleib doch noch ein bisschen. Katia Lieber nicht, die Touristen da oben drehen langsam durch. Nara Aber die Deutschen sehen zufrieden aus. Katia Du hast ein Bankett nach ihrem Geschmack ausgerichtet. Osvaldo In weniger als einer halben Stunde waren die Krabbencocktails aufgegessen. Nara Es war auch alles für sie. Katia Ein Fest, wie es im Buche steht. Osvaldo So soll es sein. (umarmt Nara) Auf dass Nara Telmer die Leitung des Gran Cuba mit Glanz und Gloria übernimmt! Nara Lass mich los, du bist ja richtig anhänglich … Osvaldo (küsst sie) Ich bin so glücklich … Jetzt kommen die besten Zeiten. 280
Katia Ganz bestimmt. Schade, dass ich nicht dabei sein kann … Nara Jetzt bloß nicht sentimental werden. Stille. Katia Gut, ich wollte euch nur sagen: Ich bin weg. Osvaldo Du bist hier zuhause, Katy. Alles, was wir getan und erreicht haben … haben wir auch dir zu verdanken. Du wirst dich erholen, es dauert eben eine Weile … Katia Gib dir keine Mühe. Osvaldo Du wirst wieder gesund. Nara Naja … Man muss nach vorn schauen, oder? Osvaldo Mach die Tests nochmal. Katia Ich gehe fort aus Varadero. Mir ist es hier zu heiß. Ich brauche Abstand. Ich werde eine Zeitlang in Trinidad bei meiner Schwester wohnen. Nara Keine Sorge, es gibt nichts Dringendes. Katia Wenn was ist, erreicht ihr mich übers Handy. Nara Schalt es ab. Ruh dich aus. Osvaldo Wenn du willst, fahre ich morgen mit dir ins Krankenhaus … Katia Auf Wiedersehen. (geht) Stille. Osvaldo Gehen wir wieder hoch aufs Fest? Nara Ich muss meine Mails lesen, ich habe heute noch nicht reingesehen. Nara lässt das Glas auf dem Tischchen stehen und geht in Richtung Büro. Osvaldo Mach das doch später, komm her … (umarmt sie) Nara Jetzt nicht, Osva … Osvaldo Komm, lass uns hochgehen … Die Kinder sind noch nicht da, das müssen wir ausnutzen. Ich will tanzen. Nara Ist ja gut, gib mir eine Minute … Osvaldo Du willst wirklich um diese Zeit noch arbeiten? Nara Ich bin gleich wieder da. (geht) Er setzt sich. Draußen hört die Musik auf zu spielen. Nara (ihr iPad in der Hand) Hast du Rogbars Mail gelesen? Osvaldo … Nara Sag mir, ob du das hier gelesen hast, er hat dich in Kopie gesetzt. Osvaldo Ich muss das nicht lesen. Ich weiß, was drin steht. Nara Aber es ist nicht wahr, oder? Osvaldo Jedes einzelne Wort ist wahr.
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Nara sieht wieder auf ihr iPad, liest noch einmal die Mail, schüttelt den Kopf. Nara Siehst du diesen Anhang? (hält ihm das iPad unter die Nase) Osvaldo (sieht nicht hin) … Nara Dieses Dokument ist in seinem Besitz? Osvaldo … Nara Ist das deine Unterschrift oder nicht? Osvaldo Ich hab doch gerade ja gesagt. Nara (wirft das iPad aufs Sofa) Was fällt dir ein, so etwas hinter meinem Rücken zu verhandeln? Osvaldo Ich habe noch nie etwas hinter deinem Rücken gemacht. Nara Und was ist das? Osvaldo Es geht nicht um ein Geschäft … Lass mich dir … Nara Was soll ich dich lassen?! Osvaldo … Nara Sag wenigstens, dass das mit dem Datum nicht wahr ist. Osvaldo Du weißt genau, an welchem Tag Vater gestorben ist. Nara Was fällt dir ein, mich da reinzuziehen? Osvaldo Ich ziehe dich nirgendwo rein. Nara Hast du eine Ahnung, was es heißt, in der Hand dieses Arschlochs zu sein? Dieses Stück Papier war der Grund für die ganze Heimlichtuerei mit Rogbar, seine ganzen Besuche? Daher also deine Beharrlichkeit, dein Kampf, dass er bleiben darf, dein Samaritergehabe? „Armer Rogbar. Geben wir ihm eine Chance.“ Natürlich, das hat er ja von dir verlangt. Er wusste ja, in welcher Liga er spielt, in aller Seelenruhe, mit der Gewissheit des Siegers … Und wem verdanken wir das alles? Der Laune eines Spinners wie dir! Mein Gott, wie blöd muss man denn sein? Wie bescheuert? (atmet) Wie lange wolltest du das vor mir geheimhalten? Du lebst in diesen vier Wänden, mit all dem Luxus, nimmst dir Geld für deine Tauchstunden, für Italienisch, fürs Surfen … Spazierst durch alle Läden, als wärst du der Prinz von Monaco, verschleißt Kreditkarten, spielst Squash mit deinen Kumpels aus dem Club … Isst an Orten, die nicht einmal Minister betreten würden, nimmst dir für alles ein Dienstmädchen, verteilst Trinkgelder in alle Richtungen … Du bist so dermaßen auf dem Holzweg, Osvaldo Telmer! Du bist gefangen in diesem Goldfischglas, schwimmst von einer Seite zur anderen, sitzt in dieser Wohnung wie eine Pappfigur und vor deiner Nase bricht die 282
Wirklichkeit in sich zusammen! (seufzt) Du glaubst doch, dass alles vom Himmel fällt, dass man alles ausgeben kann, das Vermögen zum Fenster rausschmeißen, und dabei hast du keinen Schimmer, wie hart jeder verdammte Dollar verdient ist. Du bist so dumm! Er blickt ins Leere. Nara Ich kann das einfach nicht glauben … Warum musstest du dir überhaupt etwas leihen? Warum schließt du einen Pakt mit diesem Schuft von Rogbar? Habe ich dir nicht alles gegeben? Sag es mir! Habe ich dich nicht wie einen König behandelt? Mich an deiner Seite abgerackert, immer Gewehr bei Fuß, damit es dir an nichts fehlt? Warum musstest du mich belügen? Osvaldo sieht sie nicht an. Nara Verstehst du, was mich das kosten kann? … Kannst du dir vorstellen, was los ist, wenn die Partei davon Wind bekommt? Das Vertrauen, das alle in mich gesetzt haben … Das Unbehagen gegenüber den Investoren … Meine Integrität in Frage gestellt! … Meine ganze Karriere in Trümmern! Denn wenn die Sache ins Rollen kommt, wenn Anzeige erstattet wird, wenn es zum Prozess kommt, wird man dich retten, das weiß ich, dir wirft man von oben einen Rettungsanker zu und holt dich gesund und munter da raus … Aber ich bleibe am Boden liegen, zu Staub zermalmt, im tiefsten Loch. Jedes Jahr, das ich dich ertragen habe, wird umsonst gewesen sein. Und das verdanke ich dir. Stille. Nara Na los, erklär es mir … Warum hast du mir das angetan? Irgendeine Erklärung wird es wohl geben, oder? Osvaldo … Nara Sag was, Scheiße noch mal! Osvaldo … Nara Dein Vater hat es schon immer gesagt … Mein Fehler, ich habe nicht richtig zugehört. Dein Vater hat mich immer gewarnt, was du für ein Chaot bist: „Man kann sich nicht auf ihn verlassen, er hat kein Hirn im Kopf und keine Eier in der Hose!“ … Osvaldo … Nara Und das Schlimmste … was mir am meisten wehtut … ist weder die Demütigung noch der Hohn oder diese Schlacht zu verlieren … Was mich fertigmacht, ist, dass du das alles, deine Oberflächlichkeit, deine Charakterschwäche, deine Hirnrissigkeit, deinen fehlenden Weitblick, 283
deinen völligen Mangel an Vernunft … Das Schlimmste ist, dass du diese ganze Scheiße vor meinen Kindern abziehst! Osvaldo Es sind auch meine Kinder. Nara Einen schlechteren Vater hätten sie nicht bekommen können! Stille. Nara Jahrelang schütze ich diese Familie … Passe auf, ja keinen falschen Schritt zu tun, der unser Leben aus dem Lot bringen könnte … Osvaldo Davon bist du ziemlich überzeugt, oder? Nara Ich habe geackert wie ein Tier. Ich habe für das Gran Cuba und für die Kinder gelebt. Ich habe nicht einen Fleck auf meiner Weste! Osvaldo steht auf, geht zum Schreibtisch, öffnet das Schubfach, holt die Bilder heraus. Osvaldo Und das? (legt ihr die Bilder vor) Stille. Osvaldo Willst du sie dir nicht ansehen? Nara (betrachtet die Bilder) … Osvaldo Nicht einen Fleck, ja? Nara Das ist eine Falle. Osvaldo … Nara (sieht ihn an) Hast du mir diese Falle gestellt? Osvaldo Welche Falle? Das bist du mit ihr, Nara. Siehst du nicht den Strand? Deine Autotür? Das Datum, ganz unten? Warum verdammte Scheiße zwingst du mich, dir das zu zeigen? Nara Das passiert gerade nicht wirklich. Osvaldo Trotzdem küsst du sie auf dem Bild! Nara Ich kann nicht mehr! Nara zerreißt die Bilder, wirft die Schnipsel auf den Boden. Ich habe dich satt! Sie nimmt ihr iPad und geht zum Büro. Osvaldo rührt sich nicht. Geht dann zu einer der Terrassentüren, lehnt sich raus, atmet. Man hört wieder Musik. Er zieht sein Hemd aus, geht zu Boden, macht Liegestütze. Zwanghaft, verzweifelt. Nara kommt herein. Im Stehen sieht sie ihm bei seinen Turnübungen zu. Nara Gerade kam noch eine Mail von Rogbar. Er macht weiter Liegestütze, reagiert nicht. Nara Er schreibt, dass er uns den Scheck zukommen lässt. Dass wir das Original zerstören können. Dass er nichts von dem tun wird, was er gesagt hat. 284
Er scheint nichts zu hören. Sie spricht wie in Trance. Nara Heißt das, es ist alles in Ordnung? So ist es, Osva … Alles geht wieder seinen Gang, unser Leben geht weiter wie immer … Rogbar hält den Mund, er verschwindet, nimmt die Kündigung an … Wir können nach oben gehen, Schatz … Tanzen wir? Wir können wieder tanzen gehen! Das Tempo der Liegestütze wird immer hektischer. Nara Kannst du die Liegestütze bitte sein lassen? … Kannst du damit aufhören? Er fällt zu Boden. Steht auf. Geht zur Minibar, holt sich eine Flasche Wasser und trinkt sie in einem Zug aus. Die Musik verebbt. Osvaldo Ich nehme keinen einzigen Befehl mehr von dir entgegen. Du willst reden? Okay, reden wir. Dirigiert sie zum Sofa. Sie setzt sich. Nara Was da zwischen Katia und mir ist … Osvaldo Du brauchst mir nichts zu erklären. Darum geht es nicht. Nara Aber ich muss dir doch sagen, dass … Osvaldo Ich weiß schon alles, was du mir sagen könntest. Du hast so viel gesagt … Jetzt halt den Mund und hör mir zu. Stille. Osvaldo Katia ist nicht das Problem. Sie am allerwenigsten. Hier geht es nicht um Liebe oder Begehren oder Lust. An diesem Punkt spielt das keine Rolle mehr. Hier geht es um die Wirklichkeit, wie du selbst gesagt hast: die Wirklichkeit … Was ich Rogbar wegen versucht habe, vor dir zu verbergen, war weder das Dokument noch die Unterschrift … Ich hatte zwar Zweifel, ob ich das Problem tatsächlich lösen können würde oder nicht oder rechtzeitig, aber das war ganz bestimmt nicht meine Sorge … Und weißt du, warum? Weil ich überzeugt war: Selbst wenn es mit diesem Schreiben zum Schlimmsten käme, wenn der Kerl die Sache vorantreiben und uns vor Gericht bringen würde, könnten wir beide uns an einen Tisch setzen und uns gemeinsam die beste Strategie überlegen … Gemeinsam aus dem Loch kriechen … Und ein weiteres Mal gemeinsam den Berg erklimmen. Ohne einen Rettungsanker von irgendwem, ohne Egoismus, ohne dich jemals im Sumpf zurückzulassen. Wir beide zusammen! … Wenn ich von einer einzigen Sache überzeugt war … dann davon. Dass wir jede Schuld gemeinsam tragen könnten. Sie rührt sich nicht. 285
Osvaldo Worum es mir bei Rogbar wirklich ging, war, den Eklat zu verhindern … (zeigt auf die Überreste der Bilder) Ich meine nicht den Eklat da draußen, sondern diesen hier. Deinetwegen wollte ich diese Auseinandersetzung vermeiden. Weil du hart bist, streng und ernst. Ich habe diese militärische Disziplin geschluckt, weil ich mit dir zusammen sein wollte … Wie konntest du glauben, dass ich dir eine Falle gestellt hätte? Für wen hältst du mich? Ich wollte das deinetwegen verhindern! Ich wusste, dass du so reagieren würdest, und ich hätte alles gegeben, wenn diese Bilder, wenn das Video, das der Typ damals gemacht hat … Du warst ein einziges Mal leichtsinnig, bist einmal kurz aus der Reihe getanzt und Rogbar hat gleich zugeschlagen und diesen Zirkus veranstaltet …Ich hätte alles und noch mehr gegeben, damit das nicht ans Licht kommt. Und du es niemals erfährst. Stille. Osvaldo Aber vorhin ist mir klar geworden, dass du sie sehen musst. Dass du dir deiner Wirklichkeit bewusst werden musst. Mir nicht die ganze Zeit vorhalten kannst, was ich tun oder lassen soll, was ich kaufen soll oder nicht mit dem Geld, das du dank meiner Familie verdient hast … Vielleicht hast du mit einer Sache recht: Von diesem Goldfischglas aus kann ich die Welt nicht sehen. Ich lebe in einem Hotel, werde von dir versorgt, bringe den Kindern Klavier bei … Ja, ganz bestimmt ist alles wahr, was du über mich gesagt hast … Bin ich der Blödmann, den du beschreibst? Vielleicht. Ich habe nichts getan, nicht für das Gegenteil gekämpft, sondern stumm ertragen. Erst habe ich meine Zeit unter meinem Vater verschwendet … Und eines Tages bist du aufgetaucht, und ja, ich habe mich verliebt. Ich war verrückt nach dir … Aber dann kam Papas nächster genialer Schachzug: Er gab dir Macht und Privilegien, er machte dich zu der Tochter, die er nie hatte, und ließ mich links liegen … Klar, so einem dummen einzigen Sohn wie ich es bin, einem Schriftsteller, kann man nichts ernsthaft anvertrauen. Ich bin derjenige, der zum Spaß shoppen geht, der tanzt, um zu gefallen, der Snob, der weder fragt noch traurig ist oder die Dinge verkompliziert. Das haftet mir an, oder, Nara? Direkt aus Vaters in deinen goldenen Käfig … Eine Pappfigur auf dem Sofa! Was zum Henker wollte der Alte von mir? Was hat er denn von mir erwartet? Dieser Scheißheuchler, dieser Macho, der uns alle fertiggemacht hat … Tut mir leid, wenn ich ihn enttäuscht habe, aber ich wollte kein solcher Despot werden wie er! Ich hatte kei286
ne Lust, zu sein, wie er mich haben wollte! Macht interessiert mich nicht! Ich bin anders! Ich … Ich Spinner, ich Dummkopf … Ich dachte, dass dir diese Unterschrift egal wäre, dass du mich verstehen würdest … Dass uns ein Wunder geschehen könnte. Nara Niemand könnte sich so aufopfern, es ist nicht fair, das von mir zu verlangen! Osvaldo Aber ich hätte es für dich getan. Stille. Nara Die Kinder kommen gleich … (steht auf, läuft herum) Wollen wir uns alle zusammen einen Film ansehen? Osvaldo Wo wir gerade über die Kinder reden … Du hast dein Leben auf meinem Buckel verbracht, mich als Schild benutzt, als Trittbrett, und ausgerechnet du sagst mir, dass ich nicht in der Lage sein soll, sie großzuziehen. Nara Das habe ich nicht so gemeint. Osvaldo Du bist ja die Übermutter und mir sagst du, dass ich gehen soll. Nara Nein, nein … Ich will nicht, dass du gehst … Osvaldo Schau mal … Ich war dein Ticket nach ganz oben. Ich, ein Ehemann, mit dem du nie gern geschlafen hast, der dich vor einer Partei geschützt hat, an die du nicht glaubst … Nara Sei still, man kann dich hören. Osvaldo Eine Hungerleiderin wie du, die sich bei mir das erste Mal im Leben sattgegessen hat! Nara Was sagst du da? Osvaldo Hast du Vater auch gefickt? Bei ihm gab es nichts umsonst … Nara Arschloch! Osvaldo Was hast du noch alles gemacht? Du gibst mir die Schuld, dass ich alles ausgebe, dabei lebst du selber in diesem Imperium, auf Kosten des Elends der anderen? Nara Du hast das auch alles ausgenutzt! Osvaldo Opportunistin! Diebin! Nara Hau ab! Ich rufe die Security! Osvaldo (drückt sie an die Wand) Ruf sie doch! Mach einen Skandal! Sollen sie mich auf die Straße setzen! Los, rauswerfen sollen sie mich! Denn ich kann mir sehr wohl da draußen eine neue Welt erschaffen. Ohne Partei, ohne Gran Cuba, ohne dich. Ohne diese ganze Scheiße. Los, ruf sie! Mal sehen, ob du die Eier dazu hast! 287
Sie weint. Er umarmt sie, streichelt sie. Nara Fass mich nicht an. Osvaldo Arme Kleine … Nara Lass mich los … Osvaldo Ich dachte … Wenn ich gehen würde … wenn ich für immer fortgehen würde, fliehen würde, ohne einen anderen Gedanken, wenn ich die Tür hinter mir zuschlagen würde, wie du es dir erhoffst, wenn ich verschwinden würde … Wer spielt dann mit den Kindern? Wer kauft ihnen was zum Anziehen, wer geht mit ihnen an den Strand? Und in die Schule? Und in die Patisserie? Du? Bestimmt nicht … Du kannst das nicht. Nara Du weißt nicht, wozu ich in der Lage bin. Osvaldo Du bist anders. Du hast das noch nie gekonnt. Sie versucht, sich loszumachen. Osvaldo (hält sie fest) Meine Kinder ziehe ich selber groß. Sie macht sich los. Sie stehen einander gegenüber. Osvaldo Vergiss es. Hier fällt keine Tür ins Schloss. Black.
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Biografien
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Foto: Aymara Santana
Yeandry Fleites Pérez
Yerandy Fleites Pérez (*1982 in Ranchuelo) ist Dramatiker, Dozent und künstlerischer Berater. Er studierte Szenisches Schreiben am Instituto Superior de Arte (ISA) in Havanna, wo er heute den Virgilio-Piñera-Lehrstuhl leitet. Zu seinen bekanntesten Werken zählen El Gallo Electrónico, Partagás, Mi tío el exiliado, das in dieser Anthologie enthaltene Stück La pasión King Lear (Passion King Lear) und die Tetralogie Pueblo Blanco, welche die Stücke Antígona, Un bello sino, Jardín de héroes und Ifigenia umfasst. Seine Dramen werden auf den kubanischen Bühnen gespielt und erscheinen in Anthologien im In- und Ausland, beispielsweise in Teatro cubano actual. Novísimos dramaturgos cubanos (2008) oder Dramaturgia de la Revolución. 30 obras en 50 años (2012), Dramaturgia cubana contemporánea (Mexiko 2015) oder Santa tu boca. Ocho dramaturgos cubanos (Spanien 2015). Yerandy Fleites wurde in Kuba mehrfach ausgezeichnet: Er erhielt die Preise Calendario, José Jacinto Milanés und La Edada de Oro für Theater. Letzterer wurde ihm im Jahr 2014 für das Kindertheaterstück Balada para Jake y Mai Britt verliehen, mit dem er in der Behandlung von Tabuthemen neue Wege beschritt. Für Maneras de usar el corazón por fuera erhielt Yerandy Fleites den Virgilio-Piñera-Preis 2018.
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Foto: Laura Ramos
Carlos Celdrán
Carlos Celdrán (*1963 in Güines) ist Dramatiker und Theaterregisseur. Er studierte Theaterwissenschaft und Szenisches Schreiben am ISA in Havanna, wo er heute lehrt, und Darstellende Kunst an der Universität Rey Juan Carlos in Madrid. Als Dozent gibt er Schauspiel- und Regiekurse an Universitäten in Kuba und im Ausland. Neben Theatertexten verfasst er auch Drehbücher und Essays. Er ist Regisseur und Leiter des Theaterkollektivs Argos Teatro in Havanna, das er 1996 gründete. Zu seinen erfolgreichsten Inszenierungen gehören La señorita Julia (Fräulein Julie) (2001) von August Strindberg und Aire Frío (2012) von Virgilio Piñera. Er brachte auch sämtliche Stücke von Abel González Melo auf die Bühne, unter anderem Chamaco (2006), Talco (2010) sowie 2016 das in dieser Anthologie enthaltene Mecánica (Mechanismen), für das er 2015 den Caricato-Preis erhielt. Diez Millones (Zehn Millionen), das hier veröffentlichte Stück aus Celdráns Feder, inszenierte er für die Uraufführung selbst. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, allein mehrfach den Kritikerpreis, den Villanueva-Preis sowie den Caricato-Preis. 2000 wurde er vom kubanischen Kulturministerium für seinen Einsatz für die kubanische Kultur geehrt und 2016 erhielt er den Nationalpreis für Theater. Zuletzt gab es für sein Drama Misterio y pequeñas piezas eine besondere Erwähnung beim Wettbewerb „Virgilio Piñera“ 2018.
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Foto: Agnieska Hernández
Agnieska Hernández Díaz
Agnieska Hernández Díaz (*1977 in Pinar del Río) ist Theater-, Roman- und Drehbuchautorin sowie Regisseurin. Sie studierte Szenisches Schreiben am ISA in Havanna, wo sie auch als Dozentin tätig war. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter Aufenthaltsstipendien 2008 am Royal Court Theatre in London und 2012 bei „Panorama Sur“ in Argentinien. Den Literaturkritikerpreis erhielt sie 2010 für ihren Erzählband Se cambian objetos por historias personales und 2016 für die Dramensammlung Documental de amenazas. Posibles dramaturgias, die auch das Stück El deseo Macbeth (fiesta documental) (Mehr, Macbeth! Ein dokumentarisches Fest) aus dieser Anthologie enthält. Sie gehört zwischen 2015 und 2018 zu den meistgespielten Autorinnen auf kubanischen Bühnen. Zu ihren größten Erfolgen zählen die Inszenierungen El año de Kalhil Madoz (documental de amenazas) von La Franja Teatral im Jahre 2012 und 2015 Harry Potter: se acabó la magia von Teatro El Público in der Regie das kubanischen Starregisseurs Carlos Díaz sowie El deseo Macbeth (fiesta documental) von Teatro D’Dos in der Regie von Julio César Ramírez . Ihre Theatertexte werden auch auf internationalen Bühnen gespielt, so beispielsweise die Theater- und Kinoproduktion The closest farthest away/Entrañable lejanía (Los Angeles) oder 2012 Strip-tease (Neapel).
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Foto: Sahily Moreda
Reinaldo Montero
Reinaldo Montero (*1952 in Ciego Montero) ist Dramatiker, Lyriker, Essayist, Roman- und Drehbuchautor. Er wurde national wie international vielfach ausgezeichnet, darunter seine Romane Donjuanes mit dem Preis der Casa de las Américas 1986, Trabajos de amor perdidos mit dem Juan-Rulfo-Preis 1996 sowie La visita de la Infanta mit dem Alejo-Carpentier-Preis 2005. Er schrieb mehrere Drehbücher, beispielsweise für El encanto del regreso (Caracol-Preis 1992 und Preis des Filmfests in Bogotá 1993). Mehrere Vorlagen aus seinem umfangreichen Werk wurden verfilmt, etwa der Roman Música de cámara (2004) unter dem Titel Afinidades. Des Weiteren veröffentlichte er zahlreiche Essay- und Gedichtsammlungen. Auch seine Dramen wurden ausgezeichnet, national und international aufgeführt und publiziert. Zu seinen erfolgreichsten Theaterstücken zählen Con tus palabras (Premio David 1984), Los equívocos morales (Castilla-La-Mancha-Preis 1992), Medea (ItaloCalvino-Preis 1996, Kritikerpreis 1997) und Liz (Fray-Luis-de-León-Preis 2007 und 2009). Die jüngsten Stücke Áyax y Casandra (2016), publiziert in dem kubanischen Band Nueve dramas en presente (2019), und das in dieser Anthologie veröffentlichte El dorado (2015) wurden beide von der Compañía del Cuartel aufgeführt. Zuletzt erhielt er den Theaterpreis der spanischen Schrifstellervereinigung 2018 für El sueño del amor produce monstruos. Seit 2018 ist Reinaldo Montero Mitglied der Academia Cubana de la Lengua.
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Foto: Pedro González
Yunior García
Yunior García (*1982 in Holguín) ist Schauspieler, Regisseur und Dramatiker. Er studierte Darstellende Kunst am ISA in Havanna. 2011 erhielt er ein Aufenthaltsstipendium des Royal Court Theatre in London und mehrere nationale Auszeichnungen wie den José-Jacinto-Milanés-Preis 2015 für Pasaporte sowie die Preise Villanueva und Aire Frío 2017 für das in dieser Anthologie enthaltene Jacuzzi. In seiner Geburtsstadt Holguín leitet er die Theatergruppe Trébol, mit der er einen Großteil seiner Stücke erarbeitet hat. Zu den erfolgreichsten gehören Cierra la boca, Sangre, Jacuzzi und Semen, die auf vielen kubanischen Bühnen zu sehen waren. Letzteres wurde 2012 publiziert und 2016 auch verfilmt. Seine Stücke wurden von verschiedenen kubanischen und internationalen Verlagen publiziert, in Anthologien wie Teatro cubano actual. Novísimos dramaturgos cubanos (2008), La isla teatral: teatro cubano contemporáneo (USA 2012) oder Santa tu boca. Ocho dramaturgos cubanos (Spanien 2015). Neben dem Theater schreibt er auch Drehbücher für Filme und Serien. Als Regisseur dreht er auch selbst Kurzfilme, beispielsweise Cerdo, für den er 2016 ein Stipendium des Kubanischen Instituts für Filmkunst und Filmindustrie (ICAIC) und 2019 den Preis der Stadt Holguín erhielt.
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Foto: Daniel Caño
Abel González Melo
Abel González Melo (*1980 in Havanna) ist Dramatiker, Regisseur, Lyriker, Drehbuchautor und Dozent. Er studierte Theaterwissenschaft am ISA in Havanna, wo er auch als Dozent für Szenisches Schreiben und Theaterwissenschaft tätig war. Seinen Master und ein Doktorat machte er an der Universität Complutense in Madrid. Mit dem Stück Chamaco gelang ihm 2005 der Durchbruch, wofür ihm der Preis der spanischen Botschaft in Kuba und der Villanueva-Preis verliehen wurde. Das Stück wurde national und international inszeniert und publiziert sowie 2010 verfilmt. Für Nevada erhielt er 2005 ein Aufenthaltsstipendium am Royal Court Theatre in London. 2009 erhielt er mit Talco den deutsch-kubanischen Theater-Preis des GoetheInstituts und daraufhin ein Stipendium für eine Hospitanz am Maxim Gorki Theater in Berlin. 2014 gewann er die zwei wichtigsten Dramatik-Preise Kubas: den José-Antonio-Ramos-Preis für das in dieser Anthologie enthaltene Mecánica (Mechanismen) und den Virgilio-Piñera-Preis für Epopeya. Für Sistema erhielt er den Kritikerpreis und 2014 eine Ehrenauszeichnung der Casa de las Américas. Alle seine Stücke werden in Kuba von Carlos Celdrán am Argos Teatro in Havanna aufgeführt. Seine Texte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und unter anderem in Mexiko, den USA, Großbritannien, Spanien und Uruguay inszeniert. Seit 2010 ist er Dozent an der Universität Carlos III in Madrid. Übersetzung: Miriam Denger, Carola Heinrich, Franziska Muche
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Rechtenachweis Yerandy Fleites Pérez Passion King Lear Originaltitel: La pasión King Lear Aus dem kubanischen Spanisch von Miriam Denger Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag Theater der Zeit. Carlos Celdrán Zehn Millionen Originaltitel: Diez millones Aus dem kubanischen Spanisch von Mehdi Moradpour und Carola Heinrich Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag Theater der Zeit. Agnieska Hernández Díaz Mehr, Macbeth! Ein dokumentarisches Fest Originaltitel: El deseo Macbeth. Fiesta documental Aus dem kubanischen Spanisch von Miriam Denger Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag Theater der Zeit. Reinaldo Montero Eldorado. Un teatro pancarta – ein Parolentheater Originaltitel: El dorado. Un teatro pancarta Aus dem kubanischen Spanisch von Franziska Muche und Carola Heinrich Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag Theater der Zeit. Yunior García Jacuzzi Originaltitel: Jacuzzi Aus dem kubanischen Spanisch von Miriam Denger Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag Theater der Zeit. Abel González Melo Mechanismen. Ein Spiel mit den Gesetzen der Bewegung Originaltitel: Mecánica. Demostración de las leyes del movimiento Aus dem kubanischen Spanisch von Franziska Muche Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag Theater der Zeit.
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Die Entwicklung des kubanischen Theaters im 21. Jahrhundert führt von der Unsichtbarkeit ins Rampenlicht. Während sich noch im Jahr 2000 auf den mageren Spielplänen kaum neue Titel finden und keine neue Generation von Dramatikern und Dramatikerinnen zu erkennen ist, hat sich das Bild 15 Jahre später radikal gewandelt. Die kubanische Theaterliteratur wird seitdem von bis dahin unbekannten Handschriften geprägt – teils aus früheren Jahrgängen, teils aus einer neuen Generation und nun verstärkt auch aus weiblicher Feder. Aus dem Vorwort von Omar Valiño
Kuba ist Schauplatz und Schnittstelle für jedes der hier präsentierten sechs Theaterstücke. Sie helfen, das Bild eines Landes zu vervollständigen, das sich neu konfiguriert; und auch wenn noch Bausteine fehlen, stellt es doch das Puzzle dieser Insel dar. Die sich wiederholende Rückkehr in die Vergangenheit als Gedächtnistraining, das Hinterfragen der Gegenwart und die Auseinandersetzung mit dem Leben einer Nation, die sich tagtäglich neu erfindet und über eine wünschenswerte Zukunft nachdenkt, sind der Hintergrund, vor dem sich mannigfaltige Gestalten und Figuren tummeln. Mit bewährtem Halt und solidem Handwerk liefern die Autoren Werke, die aktuelle Themen bearbeiten und einen beeindruckenden sozialen Gehalt haben. Es sind Stimmen, die in ständigem Dialog miteinander und mit ihrer Zeit leben und somit das Zeugnis einer ganzen Epoche ablegen.