Brecht lesen (von Hans-Thies Lehmann)

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Hans-Thies Lehmann

BRECHT LESEN



Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen


Dank Ich danke Harald Müller für die Möglichkeit, meine verstreuten Essays hier gesammelt präsentieren zu können, und dem Verlag für das aufmerksame und geduldige Lektorat. Für die Hilfe bei der Manuskripterstellung danke ich Inka M. Paul, für Inspiration und Anregungen Helene Varopoulou, für die Hilfe bei der Redaktion Theresa Schmidt und Paula Pleuser.

Für Helene V.

Hans-Thies Lehmann Brecht lesen Recherchen 123 © 2016 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Erik Zielke Grafik: Sibyll Wahrig Umschlagabbildung: Typoskript und Handschrift des Gedichts „Vom armen B. B.“ von Bertolt Brecht, aus: Akademie der Künste, Berlin: Bertolt-Brecht-Archiv, 04/25. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag Printed in Germany ISBN 978-3-95749-079-7


Hans-Thies Lehmann

BRECHT LESEN

Recherchen 123


Brecht lesen – Gesichter und Aspekte

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Schlaglichter auf den anderen Brecht

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Text und Erfahrung

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Der Schrei der Hilflosen

63

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Das Subjekt der Hauspostille

88

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Zum Asozialen des Sozialen

107

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Das Neue und der Genuss – Mahagonnygesänge

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Fabel-Haft

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Die Rücknahme der Maßgabe

165

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Versuch über Fatzer

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Schauspieler und Gangster

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Brechts Galilei -

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Kafkas Bruder

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Adornos Brecht

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„Sie werden lachen: es muß systematisch vorgegangen werden“ – Bloch und Brecht

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Chroniken: unheroische Dokumente

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Das vergessene Vergessen

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Das Schwimmgedicht

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Sexualität: ein „Furchtzentrum“

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Den Tod sterben

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Brechtblock

322

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Nachweis

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Kurzbiografie -

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BRECHT LESEN – GESICHTER UND ASPEKTE -

Es gehört keine besondere Prophetengabe dazu, ein erneuertes Interesse an Brecht in den kommenden Jahren vorherzusagen. Zum einen rückt der 70. Todestag des Dichters näher, sodass vom 1. Januar 2027 an Brecht „frei“ sein wird. Auch wenn die Zulassungspolitik der Erben schon etwas nachgiebiger geworden ist, lässt sich vorhersehen, dass ein unvoreingenommener Blick auf Brecht jenseits der orthodoxen Rezeption auf dem Wege ist. Zum anderen ist gesellschaftlich und politisch viel in Bewegung geraten. Die politische Mentalität hat sich verändert. Neue politische Fronten sind aufgetaucht, eine verschärfte Kritik und Selbstkritik der (westlichen) Demokratien verbindet sich mit dem Gefühl, dass die eigene Verantwortung Europas und des Westens für die Katastrophen im Süden der Welt verleugnet wird. In dieser veränderten Lage tritt immer deutlicher hervor, dass längst vergessene Kategorien wie Kapital und Geldzirkulation, Bankenmacht und Ausbeutung wieder aktuell klingen. Das verbliebene Restvertrauen in die sogenannten Eliten ist mehr oder minder ruiniert. Immer weniger akzeptieren die Menschen die Tatsache des obszönen Reichtums einer kleinen Gruppe, der für diese eine unfasslich große Macht bedeutet, die keinerlei Kontrolle oder Legitimität unterliegt. Weltweit ist zu beobachten, dass die Formen der Repräsentation in die Krise geraten sind. Immer öfter geben große Menschenmassen auf den Straßen ihren Forderungen Ausdruck. Nicht undenkbar, dass die Empörung über einzelne Auswüchse umschlagen könnte in politische Empörung über das System. Zugleich ist zu beobachten, dass diese Empörung ebenso leicht in dumpfe Reaktionen wie in aufgeklärte Kritik münden kann. Was aber das Brechtsche Theater auszeichnet, ist gerade, dass es bei ihm nie um Auswüchse oder skandalöse Erscheinungen des Kapitalismus geht, sondern um den Kapitalismus selbst, die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft, in der sich die Menschen immer nur wesentlich als Konkurrenten begegnen, nicht – um einen seiner Schlüsselbegriffe zu nennen – als Helfer. Wie Brecht und wie auch Heiner Müller, so wird der Beobachter deswegen auch heute nicht zu politischem Optimismus neigen. Der kluge Paul Valéry sagte, Optimisten schreiben schlecht; Heiner Müller spitzte zu, Optimismus ist Mangel an Information. Gleichwohl gibt es

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Brecht lesen – Gesichter und Aspekte

bei Brecht nicht nur das durchgreifende Bewusstsein von der Macht der Verhältnisse über den Einzelnen, sondern auch den Gedanken an ein Subjekt, das in jedem Moment in der Lage ist, das vollkommen Unerwartete, das Unkalkulierbare zu tun. Und wenn es eine basale, poetische und gedankliche Intuition Brechts gibt, eine idée fixe gewissermaßen, so war es das Wasser, das fließt, die permanente Veränderung, der Wechsel der Dinge. Sie steht im krassen Gegensatz zu Heiner Müllers zentraler Vorstellung, die das Steinerne war. Der Kontrast beider Dichter lässt sich zusammenfassen in der Variation, die Heiner Müller erdachte, zu jenem Satz Brechts am Ende der Mutter: „So, wie es ist, bleibt es nicht.“ Müllers Antwort lautete: „So, wie es bleibt, ist es nicht.“ Sammlung

Der Leser findet in diesem Buch Essays versammelt, die die jahrzehntelange, man kann sagen: lebensbegleitende Auseinandersetzung des Autors mit dem Werk Bertolt Brechts dokumentieren. Die Studien in ihrer Gesamtheit sollen dazu beitragen, immer noch virulente Vorurteile über Brecht zu revidieren und einen „anderen“ Brecht jenseits der politischen, literarischen und theaterästhetischen Klischees sichtbarer werden zu lassen.1 Im Zentrum steht naturgemäß Brecht der Theaterautor und Theaterdenker. Aufsätze zum Verhältnis von Fabel und Gestus und zu Leben des Galilei sowie zum Brechttheater in seiner Nachfolge anhand von Arturo Ui, einer der berühmten Inszenierungen des Berliner Ensembles, diskutieren Theorie und Praxis des epischen Theaters, um die Idee des Lehrens darin kritisch zu beleuchten. Die Dreigroschenoper und Mahagonny werden unter den Gesichtspunkten des Brechtschen Lebensthemas des Asozialen und des Surrealismus sowie der Idee der Verausgabung im Sinne Georges Batailles erörtert. Mehrere Aufsätze gelten den sogenannten Lehrstücken. Sie stellen heraus, dass es eher das Modell des – wie man eigentlich sagen muss – Lernstücks als die Techniken des epischen Theaters sein dürfte, was das Potential eines Theaters der Zukunft birgt, mit dem vielleicht die Zukunft des Theaters steht und fällt.2 Außerdem werden zentrale Aspekte des Werks wie das Vergessen, die Sexualität und der Tod thematisiert sowie die Beziehungen erörtert, die Brechts Werk zu markanten Positionen der zeitgenössischen Philosophie aufweist. Viel Raum beansprucht der Lyriker Brecht. Das mag in einer Buchreihe, die sich der Theorie des Theaters widmet, überraschen. Doch ist zu zeigen, dass nicht nur entscheidende Motive von Brechts Theatertexten sich mit denen der Gedichte decken, sondern darüber hinaus die

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Theatertexte ihre ganze abgründige Komplexität erst zu erkennen geben, wenn man sie mit den lyrischen Texten zusammenliest. Erinnerung

Angefangen hat alles mit einem Satz. Als Schüler erblickte ich eines Tages Anfang der 1960er Jahre auf dem Buchrücken eines jener blassgelben schmalen Einzelausgaben von Stücken Brechts, die uns – vor dem Erscheinen der zwanzigbändigen hellgrauen Suhrkamp-Ausgabe – mit Brecht bekannt machten, im Fenster einer Bibliothek oder Buchhandlung der Bremer Innenstadt diesen Satz und war elektrisiert: Daß da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind. Elektrisiert vom Inhalt, der den jugendlichen Sinn für Gerechtigkeit ansprach; aber ebenso sehr formal durch das wundervolle kleine Stolpern in Syntax und Klang, „die für es gut sind“. Ein so schlagend einfacher Dreh, den der Deutschlehrer vermutlich moniert hätte. Meine Begeisterung war naiv. Noch wusste ich nicht zu würdigen, dass der Satz das (nicht nur) moralische Problem des Guten und des Gutseins nicht vom Individuum her aufwarf, sondern von der Frage des Eigentums her. Dass der Einzelne nicht intrinsisch thematisiert wurde, sondern von dem her, was er für „es“ bedeutet. Dass dementsprechend durchaus absichtsvoll Mensch, Technik und Natur in der Fortsetzung des Textes auf eine Ebene gestellt wurden, in dem es weiter heißt: „[…] also / Die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen / Die Wagen den guten Fahrern, damit gut gefahren wird / Und das Tal den Bewässerern, damit es Frucht bringt.“ Humanität ist hier nicht in einem „Humanismus“ verankert, sondern Brecht denkt so, wie Marx seine Methode charakterisiert hat, als er formulierte: „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen.“ Und: „[…], daß meine analytische Methode nicht von dem Menschen ausgeht, sondern von der ökonomisch gegebenen Gesellschaft.“3 Was wusste ich aber damals von „theoretischem Antihumanismus“! Erst viel später sollte ich bemerken, dass Brecht als Lyriker eine andere Vorstellung als die geläufige vom menschlichen Subjekt zu artikulieren längst schon fähig war, bevor er Marx studierte. Und dass sogar in diesem Kreidekreis, einem Stück, das vielleicht am meisten von allen dem Vorwurf rosarotgefärbter Didaxe für einen Märchensozialismus Nahrung gibt, eine verborgene Auseinandersetzung mit dem Sowjetkommunismus vorliegt.4

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Drei Schwierigkeiten beim Lesen Brechts

Die Probleme, die einer Brechtlektüre heute im Wege stehen, sind von dreierlei Arten. Das eine ist politischer Natur und lässt sich als ein Dilemma beschreiben: Will man den Texten gerecht werden, so führt ihre Untersuchung regelmäßig zu einer Problematisierung, einem Zweideutig- und/oder Zweifelhaftwerden ihrer scheinbar oft geradezu blendend klaren Aussage. Adorno sah hier deutlicher als viele Brechtphilologie: „Schwer zu eruieren, was auch nur der Autor im Galilei oder im Guten Menschen von Sezuan meint, zu schweigen von der Objektivität der Gebilde, die mit der subjektiven Absicht nicht koinzidieren“5, erklärt er und fährt fort: „die effektvolle Frage der DDR-Dramaturgie: was will er sagen? reicht eben hin, um angeherrschte Autoren zu ängstigen, ginge aber vor jedem Stück Brechts zu Protest, dessen Programm es schließlich war, Denkprozesse in Bewegung zu setzen, nicht Kernsprüche mitzuteilen; sonst wäre die Rede vom dialektischen Theater vorweg nichtig.“6 Besteht aber nach verbreiteter Auffassung nicht gerade in dieser Eindeutigkeit der Aussage der politische Sinn und das Gewicht der Texte? Soll man sich also blind stellen für die Mehrdeutigkeit und die politische Sinnstiftung retten? Oder lässt man der philologischen Erkenntnis ihre freie Bahn und riskiert mindestens den Anschein, man wolle den vielleicht am direktesten politischen Dichter der neueren Geschichte entpolitisieren? Die hier versuchte Beantwortung, wenn nicht Lösung des Dilemmas besteht in der These, dass das wirklich Politische der Kunst in der Form zu suchen ist, nicht in ihrer inhaltlichen Setzung. „Das wirklich Soziale in der Literatur ist: die Form.“7 Es folgt, dass die Interpretation auf die Form den größten Werk legen, also Formsemantik betreiben muss, dass zugleich die Beziehung der Texte auf das Politische niemals aus dem Auge verloren werden darf. Denn es gilt, noch einmal mit Adorno, auch umgekehrt: „[…] wer Brecht einzig seiner künstlerischen Meriten wegen würdigt, verfehlt ihn nicht weniger, als wer über seine Bedeutung nach seinen Thesen urteilt.“8 Das Interesse an Brecht heute muss also als zusammengesetzt, komponiert, aus verschiedenen Motiven gedacht werden: Es ist ohne den Wunsch nach einer wie auch immer „politisch“ vermeinten Praxis undenkbar, jedenfalls radikal verkümmert. Aber ebenso müsste es verkümmert heißen ohne das Interesse am Bruch in der Praxis, in der Theorie und zwischen Theorie und Praxis. Die zweite Schwierigkeit: Der weltbekannte Brecht ist der übersetzte Theaterautor. Verhält es sich aber so, dass die Kunst gerade dieses Schriftstellers wesentlich darin besteht, dicht neben der Alltagssprache,

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oft nur um eine entscheidende Nuance von ihr abweichend, zu schreiben, so stehen allen Versuchen, diesen Stil der winzigen Abweichung vom Gewohnten und Gewöhnlichen in andere Sprachen zu übertragen, fast unüberwindliche Hindernisse im Weg. Oft fällt auch dem native speaker erst beim zweiten oder dritten Lesen auf, wo die unauffälligen Störungen versteckt sind, die die scheinbar klare Aussage ins Zwielicht rücken. Es handelt sich um eine Ästhetik des Widerhakens. Bei einer Übertragung ist die Gefahr sehr groß, dass die Nuance auf dem Weg verlorengeht, und es bleibt übrig: das Banale. Mit der Folge, dass der Ruhm des übersetzten Brecht dem Vorurteil weiter Nahrung gibt, seine Lehren seien so schlicht, wie ihre Formulierung oft klingt. Würde man, so möchte man pointieren, den Lyriker Brecht besser kennen, so hätte sich die Vorstellung des ästhetisch wie theoretisch simplen Lehrtheaters kaum verbreiten können. Keiner, der solche Gedichte schrieb, hätte so einfältig über das Theater denken können, wie es ein noch immer verbreitetes Vorurteil dem Dichter zu unterstellen beliebt. Leider haben auch eminente Brechtleser wie Adorno und Walter Benjamin es nicht vermocht, jener primitiven Vorstellung vom Lehrtheater Brechts den Boden zu entziehen: weder Adorno, der die glückliche Formel „Lehrstück als artistisches Prinzip“ fand und schon nach der Uraufführung Mahagonny die erste surrealistische Oper nannte; noch Benjamin, der schon in den 1930er Jahren bemerkte, dass der Kern von Brechts Theateridee mit Unterbrechung und Zäsur im Sinne Hölderlins zu tun habe. Gewiss gibt es in Brechts Œuvre und in seiner Selbststilisierung Anhaltspunkte für die verflachende Auffassung von seinem Theater. Und es geht gewiss nicht darum, die Benutzung einer Oberfläche seiner Stücke für konkrete politische Zwecke einfach abzulehnen. Dass aber die schlichteste, die gedankenloseste Auffassung von seinem Schaffen so bedrückende Vorherrschaft erlangen konnte, bedarf heute einer durchgreifenden Kritik. Die dritte Schwierigkeit besteht darin, dass Brecht lesen heute mehr denn je bedeuten muss, sich von einer Einsicht leiten zu lassen, die sich in die Formel fassen lässt: Brecht ist mehrere. Der Fetisch der Signatur darf keinen Einfluss auf die Leseweise haben. Sehr unterschiedlich sind die Gesichter, die Brecht, das schreibende Subjekt der Texte, dem Leser präsentiert, zu schweigen von der biographischen Multitude, die die Person war und von der er selbst früh schon sagte: „Mein Gesicht hat viele Elemente von Brutalität, Stille, Schlaffheit, Kühnheit und Feigheit in sich, aber nur als Elemente, und es ist abwechslungsvoller und charakterloser als eine Landschaft unter wehenden Wolken. Deshalb können viele Leute mein Gesicht nicht behalten (‚es sind zu viele‘ sagt die

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Hedda).“9 Diese Feststellung lässt aber den ganzen Umfang der mit ihr verbundenen Probleme erst erkennen, wenn man hinzufügt, dass die Spaltungen, Widersprüche und Unvereinbarkeiten nicht nur zwischen den verschiedenen Gesichtern bestehen, sondern in jedem einzelnen der ineinanderfließenden Bilder auftauchen. Es handelt sich also nicht darum, dass man nur das „richtige“ Gesicht treffen muss und dann schon eine klare Ausdeutung des Gemeinten produzieren kann – die gesuchte Identität findet man nimmer. „Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht.“10 Fotogalerie

Gehen wir aber rasch die Galerie der Gesichter durch, auf die der Leser Brechts schon bei flüchtiger Bekanntschaft mit dem Werk trifft. Da ist der anarchisch erscheinende junge Brecht, der in Augsburg Expressionismus und Revolution – Trommeln in der Nacht – an sich vorübergehen ließ und einige seiner schönsten Gedichte schrieb, viele davon 1927 in Bertolts Brechts Hauspostille versammelt. Dann ist da der zweite Brecht, der der Neuen Sachlichkeit, den man von einer bekannten Fotoserie im Outfit eines Lederjackenrockers kennt, ein Bürgerschreck, dem nichts heilig war und der doch die Umfrage einer literarischen Zeitschrift bei Autoren, welches Buch sie am meisten beeinflusst habe, mit dem berühmten (und wahren) Satz beantwortete: „Sie werden lachen, die Bibel.“ Dann ist da Brecht Nr. drei, dem die Dreigroschenoper über Nacht Weltruhm beschert, der sich aber – statt einfach auf dieser Woge des Erfolgs weiter zu schwimmen – politisch engagiert und Stücke für die Schulmusik- und Arbeiterbewegung schreibt. Er studiert bei Karl Korsch und anderen Mitte der 1920er Jahre Marxismus und ergreift in den politischen Kämpfen Partei für die Arbeiter, gibt jedoch bei alldem nie ein anarchisch-nietzscheanisches Element des Denkens auf. Er interessiert sich für die Schulmusikbewegung, Theater für Schüler, Lehrlinge und Arbeiter. Zugleich entwickelt er zwischen 1928 und dem Gang ins Exil 1933 das radikale Modell eines ganz anderen Theaters, des sogenannten Lehrstücks. Für Aufführungen sucht er die nichtkommerziellen Institute ebenso wie das Badener Musikfestival. Und macht Medienexperimente, die heute ihre Fortführung im Theater bei Robert Wilson, Chris Kondek, Kris Verdonck, in Formen des Netztheaters wie bei Gob Squad oder schon der Wooster Group finden. In einer eigentümlichen Spannung zu diesem revolutionären politischen Theatermann, den Ernst Bloch gar „Leninist der Schaubühne“ nannte, steht aber jener Brecht, der vierte in unserer Galerie, der Zeit seines Lebens nicht Mitglied der Kommunistischen Partei wird. Die

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deutschen Kommunisten verwahren sich entschieden gegen das Theater, das er vor seiner Flucht aus Nazideutschland zu verwirklichen sucht. Sie können – befangen in einer traditionellen Ästhetik, die beherrscht wird von der Ideologie des sozialistischen Realismus als Abbildungskonzept – mit Stücken wie der formal und inhaltlich unverdaulichen Maßnahme nichts anfangen. In den USA finden seine linken „Genossen“ für Brecht später den – nicht ganz unpassenden – Namen eines „Individualisten im Kollektivmäntelchen“. Und der DDR-Führung blieb Brecht nach der Rückkehr aus dem Exil stets verdächtig. Er hat sich nicht in Ostberlin niedergelassen, ohne seine österreichische Staatsbürgerschaft, sein Konto in der Schweiz, seine Publikationsrechte beim Suhrkamp Verlag in Westdeutschland gesichert zu haben. Soviel zum Thema des Vertrauens, das Brecht dem „sozialistischen“ Staat entgegenbrachte. Es war – das muss man so klar aussprechen – nur der Weltruhm, der Brecht einen gewissen Schutz geboten hat. Dann ist da, um auf die Kunst zurückzukommen, der fünfte Brecht, der die großen Dramen schrieb, mit denen wir in der Schule bekannt werden, die berühmten Exempel des epischen Theaters: Der kaukasische Kreidekreis, Der gute Mensch von Sezuan, Leben des Galilei, Mutter Courage, Herr Puntila und sein Knecht Matti und Schweyk im Zweiten Weltkrieg. Zu selten machen sich gerade die Bewunderer dieser Stücke klar, dass sie, die als das Herzstück seines Theaterkonzepts und (keineswegs grundlos) als ein bedeutender Beitrag zum Welttheater gelten, das Produkt eines Lebens im Exil gewesen sind – verfasst von einem Autor ohne Publikum, von Kompromissen und Zugeständnissen gezeichnet. Kurz vor seinem Tod 1956 befragt, welches seiner Stücke er für ein Modell eines Theater der Zukunft hielte, nannte Brecht nach einem Bericht Manfred Wekwerths keines dieser großen Werke des epischen Theaters, sondern – „wie aus der Pistole geschossen“ – das Lehrstück Die Maßnahme. Das war sein umstrittenstes Werk, oberflächlich betrachtet eine Verherrlichung des Parteigehorsams, in einer Sprache, die viele an die antike Tragödie erinnerte, und das die Liquidierung eines jungen kommunistischen Agitators durch die eigenen Genossen zum Thema hat, als er deren revolutionäre Arbeit gefährdet. Ein noch einmal anderer Brecht ist der, dem man in seinen letzten Lebensjahren zwischen der Rückkehr aus dem Exil und seinem frühen Tod mit nur 58 Jahren am 14. August 1956 begegnet. Er, das „Theatertier“, der ein Leben lang auf der Suche nach einem eigenen Theater gewesen war, hatte endlich eines bekommen: das Berliner Ensemble, das, nachdem es zuerst im Deutschen Theater zu Gast war, erst am 14. März 1954 in das Theater am Schiffbauerdamm eingezogen war. Kaum zwei-

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einhalb Jahre blieben ihm also in diesem Haus für die Arbeit mit dem Berliner Ensemble, dessen beginnenden Weltruhm er gerade noch erleben konnte. Aber diese kurze Zeit war überschattet von zunehmender Resignation über die gesellschaftliche Situation in der DDR. Die Verbitterung seiner letzten Lebensjahre, vielleicht sein früher Tod, haben wohl eine ihrer Ursachen in dem unaufhörlichen zermürbenden Kleinkrieg gegen die Kulturbürokratie mit seinen Kompromissen und der Notwendigkeit, zäh um jeden Meter künstlerischen Freiraums kämpfen zu müssen. Eine Anekdote aus den letzten Lebensjahren berichtet davon, wie Funktionäre bei ihrem üblichen Kontrollbesuch der Generalprobe monierten, das Stück sei viel zu lang – schließlich müssten die Leute morgens zur Arbeit gehen. Brecht blickte einen Moment lang nachdenklich und soll geantwortet haben: „Sie haben Recht. Wir haben da ein Problem. Wir müssen offensichtlich die Arbeitszeiten ändern.“ Es gab auch Brecht den Staatsdichter, der höflich die offiziellen Anerkennungen hinnimmt und am 17. Juni 1953 nicht öffentlich Kritik übt. Allerdings schrieb er in einem Gedicht: Die Lösung

Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, daß das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes?11 Er gibt sich zu einem einzigen Lobgesang auf Stalin her, tituliert ihn aber in einem Gedicht als der „verdiente Mörder des Volkes“. Viel Aufhebens ist von solchen, die sich zum nachträglichen Richteramt berufen fühlen, von dieser „Anpassung“ gemacht worden, ebenso wie von dem schwierigen Thema Brecht und Stalin. Der Leser wird Ausführungen dazu finden, sei aber schon jetzt darüber informiert, dass der Verfasser dieses Buchs sich nicht aufgerufen fühlt – zumal aus einer politisch und materiell eher komfortablen Lage heraus –, über Brechts Statements, Handlungen, unterlassene Handlungen und Parteinahmen in „finsteren Zeiten“ im Ernst nachträglich persönlich-moralische Urteile zu fällen.

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Theater der Alterität

Für Brecht stellt sich die Frage, wie man im Theater ein individuelles Schicksal, das persönlich ist, und zugleich die ganz unpersönliche historische, politische Entwicklung zur Darstellung bringen kann. Louis Althusser hat diese Spaltung thematisiert und mit Blick auf Brecht das Konzept einer Szene des Theaters als der Szene des Bewusstseins entwickelt, um das Materialistische des Brechttheaters erfassen zu können. Es besteht in der Erschütterung des ideologischen Bewusstseins, wie es Althusser theoretisch gefasst hat. Das Bewusstsein der Individuen ist ihm zufolge grundlegend „ideologisch“, es sieht die Welt dialektisch und „dramatisch“, im Licht menschlicher Beziehungen. Folgt man Althusser, kann man sagen, dass die Ideologie als ihren Kern exakt jenen anthropomorphisierenden Zugang zur Realität manifestiert, der für Lukács das Auszeichnende der ästhetischen Widerspiegelung ausmacht. Es wäre exakt das im Sinn der Moderne verfehlte Konzept, das dem Klassizismus, aber auch mutatis mutandis dem Realismus zugrunde liegt. Daher die furiose Polemik Brechts gegen Lukács in der sogenannten Expressionismusdebatte, die eigentlich eine Realismusdebatte gewesen ist. Dieses dramatische oder – wie Althusser zuspitzt – „melodramatische“ Bewusstsein kann in seiner fundamentalen Inadäquatheit nicht anders als durch einen unversöhnbaren Bruch zur Darstellung kommen zwischen der Zeit des historischen Prozesses und der Zeit des individuellen Selbstbewusstseins. „Wir haben es mit Zeitformen zu tun, die sich nicht eine auf die andere zurückführen lassen.“12 Sagen wir es mit einem Bild: der Wagen, den die Courage zieht, und Brechts Drehbühne. Diese Drehbühne funktioniert im Theater wie eine Art Objekt, das die gegenüber den Individuen rücksichtslose Bewegungsmacht der Geschichte selber symbolisiert, in dem und mit dem Mutter Courage „umgehen“ zu können glaubt. Sie ist ein wenig vergleichbar Mark Lammerts Mauer in Dimiter Gotscheffs Inszenierung der Perser des Aischylos, ebenfalls eine Art Symbol für den historischen Prozess. Was zwischen Mutter Courages Bewusstsein und dem, was ihr widerfährt, geschieht, läuft nicht nach dem Modell einer dramaturgischen Widerlegung ab, die auf eine dialektische Negation bezogen wäre. Ihr letzter Satz, „Ich muß wieder in’ Handel kommen!“, hätte auch ihr erster im Stück sein können. Vielmehr hat sich eine Kluft – und Althusser spricht öfter von der Stummheit dieser Diskrepanz – eine unausgesprochene Fremdheit aufgetan. Sie ist nicht vollständig in dem Begriff zu übersetzen. Es handelt sich um eine spezifische Alterität.

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Als Heterologie oder heterologisches Prinzip bezeichnet man im engeren Sinn seit Heinrich Rickert die Auffassung, dass entgegen dem Prinzip der Dialektik schon erkenntnistheoretisch der Gegenstand des Denkens außerhalb des Logischen gedacht werden muss. Im Unterschied zu Hegel ist die Alterität als ein unsistierbares Sich-Verändern, also auf eine Weise immer auch als ein Ver-Enden gedacht worden, als ein Heteron, das nicht nur als Fremdes dem Geist opponiert, sondern in ihm selbst als unaufhebbare Störung und Unterbrechung wirksam ist, also als eine vom Diskurs des Geistes uneinholbare Unterhöhlung seines Vermögens. Es kommt nun darauf an, dass das Stück eine unauflösliche Andersheit der Zeit des historischen Prozesses und der Zeit der Individuen erkennen lässt. Das ist der dramaturgisch-theoretische Grund, warum Mutter Courage nichts lernt: weil das Selbstbewusstsein des Individuums nicht aus sich selbst, kraft seiner eigenen Dialektik zur Wahrheit gelangt. Wir sehen den Irrtum der Mutter Courage, aber wir sind, sagt Althusser, selbst nichts anderes als die Brüder der Bühnenfiguren. V-Effekt hin oder her: Wir identifizieren uns mit ihnen. Gerade weil und indem wir in Mutter Courage unser Spiegelbild erkennen, wird uns erfahrbar, dass wir in denselben Illusionen und Mythen gefangen sind wie die Bühnenfigur. Es geht gerade nicht darum, den Zuschauer als Schlaumeier zu etablieren, der – völlig zufrieden mit sich selbst – sich klüger als die Bühnengestalten dünken kann. Sofern Brecht das Publikum erziehen will, so ist diese Erziehung völlig falsch verstanden als eine Lehre von Einsichten. Nicht darum geht es bei der Mutter Courage, wie das Klischee es will, dass wir, das Publikum, die kluge Einsicht haben oder bekommen, die Mutter Courage fehlt. Althusser spricht in geradezu poetischer Weise darüber, dass und wie sich das Theatererlebnis in seine eigene Person hinein fortsetzt: Ja, […] wir essen dasselbe Brot, haben die gleiche Wut, dasselbe Aufbegehren, dieselben Wahnvorstellungen […], wenn nicht sogar dieselbe Niedergeschlagenheit angesichts einer Zeit, die von keiner Geschichte bewegt wird. Ja, wie Mutter Courage haben wir den gleichen Krieg vor der Tür und greifbar nah die gleiche schreckliche Verblendung, die gleiche Asche in den Augen, die gleiche Erde im Mund. Wir haben denselben Sonnenaufgang und dieselbe Nacht, wir streifen dieselben Abgründe: unsere Unbewußtheit. Wir haben an genau derselben Geschichte teil – und damit beginnt alles. Deshalb sind wir selbst schon vom Prinzip her und von vornherein das Stück selbst; und seinen Ausgang zu kennen, ist unwichtig, weil es immer nur in

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uns selbst hineinführt, soll heißen: in unsere Welt. […] Zu fragen bleibt in der Tat also lediglich nach dem Schicksal dieser stillschweigenden Identität, des unmittelbaren Sich-Wiedererkennens; was hat der Autor daraus gemacht? Was machen die Schauspieler daraus, die vom Werkmeister Brecht […] angeleitet werden? Was wird aus jenem ideologischen sich-Wiedererkennen?13 Mit dem Konzept der inneren Diskrepanz des Kunstwerks ist Althusser viel weiter gegangen als der größte Teil der Brechtphilologie, die den Charakter des Destruktiven – also gerade die Zerstörung der Selbstgewissheit im Zuschauer – immer wieder darauf zurückgeführt hat, dass „dahinter“ doch eigentlich die Lehre des Dogmatikers Brecht stehe, die er dem Zuschauer verpassen will. Es ist aber ganz falsch, in Brecht einfach den Rationalisten und Aufklärer zu erblicken, der nur eine Botschaft über die Bühne weiterreicht. Worauf es vor allem ankommt, ist die Sistierung des Urteils. Es kann nicht darum gehen, von der Warte des Wissens aus die Protagonisten zu verurteilen, deren Bild beim Autor Brecht unsicher bleibt. Damit ist nicht gesagt, dass das Wissen nun in allen dialektischen Negationen stets fehlen muss. Bei Brecht erlaubt Althussers Konzept, die spezifische innere Verdopplung vieler seiner Texte, etwa des Galilei, den wir diskutieren werden, zu verstehen. Die innere Diskrepanz fasst zum einen das, was auch Brecht selbst formuliert: Im Kunstwerk wird ein Irrtum verhandelt, der (für den Zuschauer) als Irrtum widerlegt wird, also eine logische Operation. Zum andern das, was Brecht vielleicht weniger formuliert, als vielmehr in seinen Stücken realisiert hat: Die logische Operation wird von einer ästhetischen unterlaufen, indem zu dieser Logik eine Art Fremdheit, ein Verhältnis des Nicht-Verstehens tritt. Diese beiden Aspekte kommen im Begriff der inneren Diskrepanz zusammen und so gelangt Althusser zu dem Bild des gesprungenen Spiegels. Einerseits erkennen wir uns im Spiegel der Bühnenfigur wieder, andererseits erhält dieser Spiegel einen Sprung. Wie durch eine physische Resonanz aus der Distanz ein Glas zerspringen kann und sich plötzlich in einen Scherbenhaufen verwandelt. Das materialistische Theater Brechts (und das materialistische Theater überhaupt) kann nach Althusser im Grunde nur funktionieren, wenn es in dieser Weise dezentriert ist – nicht auf einen Helden orientiert, sondern nur darauf, aus dem Begreifen des Nicht-Begreifens heraus das Urteil auf sich selbst zu wenden. Der Regisseur Nicolas Stemann hat die Frage aufgeworfen, ob und wie es möglich sei, politisches Theater zu machen, das gleichermaßen

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wirksam wie aufrichtig ist, gleichzeitig kampfbereit und selbstreflexiv.14 Und er schreibt: Diese Fragen sind nicht rhetorisch. Meine Strategie war stets, dass der Kritisierende sich selbst ins Zentrum der Kritik stellen muss, um glaubwürdig zu sein. Eine der Ur-Geschichten des Theaters ist die Geschichte von Ödipus: Die Suche nach der Ursache der Pest führt ihn zu sich selbst, zur Erkenntnis der eigenen schuldhaften Verstrickung. Auch Ödipus wähnt sich zu Beginn in der Gewissheit der eigenen Unschuld. Diese Gewissheit nach und nach bröckeln zu sehen […] bis er erkennen muss, dass er es selbst ist, den er als Schuldigen an dem ganzen Schlamassel gesucht hat, darin besteht die Spannung des Dramas. – Wir sind Ödipus. Egal wie kritisch wir uns mit den Ursachen der Pest auseinandersetzen, wie sehr wir dagegen sind und wie schön wir dies in einem einfachen Hauptsatz formuliert kriegen: Wir sind es selbst! Sich dieser Erkenntnis auszusetzen und damit umzugehen wäre die Aufgabe des Theaters. Ohne sich hierzu zu verhalten, wird kein zeitgenössisches Theater wirklich politisch und aufrichtig sein. Selbstkritik der Praxis des Theaters als Teil dessen, was Kunst kritisiert, wäre der notwenige erste Schritt einer Kritik der gesellschaftlichen „Verkehrsformen“ (Marx), um der Berufung der Kunst zu folgen, die nach Heiner Müller darin besteht, die Wirklichkeit unmöglich zu machen. In dem Maße, wie man nicht nur das epische Theater, sondern auch das Lernstück berücksichtigt, tritt eine Besonderheit Brechts hervor, die über das Jahrhundert, das das Theater als Kunst erfand, hinaus- und in das 21. Jahrhundert vorausweist. Brecht führte nicht nur die Theaterkunst auf eine exzeptionelle geistige und künstlerische Höhe, sondern fasste auch den Gedanken, es am „Rand“ der Kunst, im Schwellenbereich zur Nichtkunst, anzusiedeln, bei anderen Praxisformen und Instituten wie Lehre, Propaganda, Schulung, Erziehung und Debatte. Er konnte so weit gehen, die Aufführung mit einem „Colloquium“ der Zuschauer und Spieler zu vergleichen, die Schauspieler als „Delegierte“ des Publikums zu bezeichnen. Freilich konnte diesen Versuch nur ein Künstler von dem schier grenzenlosen Einfallsreichtum, Witz und der Imaginationskraft eines Brecht wagen, ohne in die Banalität abzustürzen, das vergessen viele seiner Epigonen zu leicht. Subjekt

Die Menschen sind nicht mehr lebendig, die Dinge verlieren ihre Kraft, für die Menschen als Träger von menschlichen Bedeutungen zu fungie-

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ren: „Nun drängen, von Amerika her, leere, gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen […]“, schreibt Rilke am 13. November 1925.15 Bei ihm und anderen klingt in der Klage über die hohlen Dinge die Klage um das Ich an, die Klage über den Untergang der Subjektivität. Brecht kassiert mit einem Gewaltstreich diesen Ausdruck von Trauer, verlegt ihn, kaum mehr erkennbar, in die trockene Sachlichkeit seiner Sprache. In Hohlheit, Wandelbarkeit, Flüchtigkeit sieht er nicht nur einen beklagenswerten Verlust, sondern auch die Chancen für ein neues, bald wird dies für ihn heißen: potentiell revolutionäres Subjekt. Wenn er der oberflächlichen neuen Realität der Massen nicht etwa das Beharren auf dem Wert des Einzelnen entgegensetzt, so verfällt er doch auch nicht dem neusachlichen Pathos oder dem „Kult der Zerstreuung“. Brecht schreibt die Städte und ihre Bewohner in ein und dasselbe „Dispositiv“ ein, um durch ihre gegenseitige Spiegelung die Verfassung eines Subjekts im Prozess (Julia Kristeva) erfahrbar zu machen. Darum konnte Walter Benjamin mit Recht sagen, Brecht sei „der erste bedeutende Lyriker, der von städtischen Menschen etwas zu sagen hat“.16 Das menschliche Subjekt ist für Brecht nichts, das ist, sondern etwas, das wird. Es gehört nicht der Ordnung des Seins an, sondern der Ordnung des Ereignisses – in dem Sinne, dass es nicht nur keine fixe Identität aufweist und aus ebendiesem Grund auch jederzeit in der Lage ist, ganz neu zu beginnen und das Unerwartete, Unkalkulierbare zu tun. Brecht entnahm der marxistischen Lehre, ebenso wie dem Behaviorismus die Erkenntnis, dass die Umweltbedingungen den Menschen determinieren. So schreibt er über Galy Gay, die Titelfigur von Mann ist Mann: „Das wechselnde Außen veranlaßt ihn beständig zu einer inneren Umgruppierung. Das kontinuierliche Ich ist eine Mythe.“ Dennoch sind seine dramatis personae solche, die sich in gute Taten nicht stürzen, weil diese gut sind, sondern in einem Affekt der Herausforderung. „Ich wage es“, erklärt der Flieger. Es ist, als wüssten diese Figuren, dass der größte aller Aufklärer in das Zentrum der Aufklärung nicht die Klugheit gestellt hat, sondern den Mut. Aufklärung hat den Wahlspruch: „Habe Mut, dich deines Verstandes ohne Anleitung durch einen anderen zu bedienen.“ Politisch im Sinne Alain Badious aber kann man diese Gestalten nennen, weil sie einer Sache die Treue halten ohne Rückversicherung und im Geiste des Beginnens. Brecht und sein Jahrhundert

Wir lesen Brecht als eine emblematische Gestalt des 20. Jahrhunderts. Es ließe sich behaupten, dass es das Jahrhundert des Theaters als Kunst gewesen ist. Es hat die Idee der Inszenierung erfunden. Eine Art von

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Künstler ist erschienen, der weder als Schriftsteller noch als Interpret, aber als eine Art Denker der Repräsentation als solcher agiert und der eine sehr komplexe Vermittlung der Beziehungen zwischen Text, Spiel, Raum und Öffentlichkeit herstellt.17 Brecht ist emblematisch für das 20. Jahrhundert auch im Sinne der Frage danach, was man „den neuen Menschen“ nennt. Der neue Mensch war eine Obsession des Brechtjahrhunderts. Einerseits von rechts, denn Denker der politischen Rechten waren auf der Suche nach einem neuen Menschen, der im Grunde vorgestellt wurde wie ein wiedergefundener, restituierter, gleichsam heimgekehrter alter Mensch. Der ursprüngliche, „authentische“ Mensch ist verloren, verdeckt, verdorben und soll durch einen Prozess der Reinigung wieder neu erstehen. Mit mehr oder weniger Gewalt soll der Mensch zu seinem verlorenen Ursprung zurückgeführt werden. Während diese Variante der Suche nach dem neuen Menschen ihn in mythischen Ganzheiten wie der Rasse, der Nation, dem Blut und Boden verankert, gibt es eine andere ebenso radikale Frage nach ihm bei der Linken. Hier geht es darum, dass der neue Mensch aus der Modernität hervorgeht, dass er produziert werden kann und gerade ohne Rückversicherung in irgendwelchen Ursprüngen, viel eher durch die Kraft des Vergessens, die Hingabe an das Neue existiert. Bei Brecht finden wir sein ambivalentes Bild nicht nur im „Massenmensch“ und in der Phantasiegestalt der Augsburger Jugend, dem „Feuer-Wasser-Mensch“, sondern auch in jenem „Geschlecht voll Aussatz“ des Fatzer-Fragments, das von der Zeit des Krieges ausgespien wurde und von dem es heißt, dass es „untergehend die gealterte welt / abriss“18. Nietzsche

Das Kapitel Brecht und Nietzsche war lange Zeit umstritten.19 Inzwischen darf als ausgemachte Sache gelten, dass es gerade das Ferment nietzscheanischen Denkens war, das Brechts Marxismus immer wieder vor der Erstarrung bewahrte. Beim jungen Brecht ist es offenkundig, dass die Rezeption Nietzsches der von Marx vorausging. Zahllose Zitate, Anspielungen und analoge Denkfiguren sprechen hier eine deutliche Sprache. Es geht um einen spezifisch Brechtschen Materialismus. Der Name Nietzsche steht hier ein für eine Weltsicht, die sich der Fortschritts-, Moral- und Vernunftgläubigkeit der hegelianisierenden Tradition entgegenstellt. Die Bezugnahmen Brechts auf Nietzsche, auch in seiner „reifen“ Zeit, sind vielfältig: Sie erstrecken sich „auf den aphoristischen Stil, Denkinhalte und Denkformen, ein Denken in ständigen Umkehrungen, Sprüngen, Widersprüchen, überraschenden Wendungen und Gegenentwürfen“.20 Man könnte sagen, dass der Marxist Brecht

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gleichsam den traurigen Blick des Melancholikers hat, der sich selbst noch einmal nietzscheanisch spielend im Spiegel sieht. Allen Ideen von der Machbarkeit der Geschichte zum Trotz erfährt der einzelne Mensch den Geschichtsprozess immer als naturwüchsige Gewalt und Maschinerie. Das Subjekt bleibt eingebunden in eine wie immer ideologische, so doch unvermeidliche Fremdheit gegen die Geschichte. Dies ist der Punkt, an dem Louis Althusser seine Brechtdeutung angesetzt hat. Statt sich, wie viele marxistische und aufgeklärte Interpreten Brechts es tun, über den Einfluss des „antihumanistischen“ Nietzsche auf Brecht zu erregen, scheint es nützlicher, die Frage aufzuwerfen, ob Brecht nicht in Marx und Nietzsche differierende, aber doch verwandte Möglichkeiten gesehen hat, die idealistische Valorisierung des Individuums zu destruieren. Marx erkannte bekanntlich im menschlichen Subjekt den Schnittpunkt, das „Ensemble“ der gesellschaftlichen Verhältnisse; wie Freud fand, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei, so entdeckte auch Nietzsche im bewussten Subjekt einen labilen Regenten, der das, was in seinem Reich, dem Leib-Psyche-Raum, geschieht, nicht völlig überblickt. Marx und Nietzsche lieferten mit Freud die Voraussetzungen für die Erkenntnis der sozialen Determiniertheit, der triebbestimmten Dunkelheiten und der Pluralisierung des Subjekts – sämtlich Motive, die man bei Brecht vorfindet. Zu behaupten wäre, dass Brecht in allen dreien, jedenfalls aber in Nietzsche und Marx Ingredienzien für ein materialistisches Denken vorfand. Wenn Brecht formulieren konnte, dass das Ich ein immerwährend zerfallendes und neu sich bildendes Atom sei, so verdankt solche Erkenntnis sich Nietzsche ebenso wie Marx. „Neu beginnen kannst du mit dem letzten Atemzug.“ Sinnvoll sind solche auf den ersten Blick absurden und doch für Brecht überaus bezeichnenden Sätze nicht empirisch, sondern als Ausdruck für eine Sehweise, die jeden Zeitpunkt als Anfang erfährt, als ein mögliches Beginnen, als ein Ereignis, das durch seine Diskontinuität gegen das, was vorangeht, ausgezeichnet ist. Wenn ein Philosoph wie Alain Badiou das Politische geradezu definiert durch das Motiv des Beginnens und das Subjekt als ein „Ereignis“, sofern es jenseits aller Determination in jedem Moment das Unerwartete tun kann, so könnte er sich für solche Ideen mit vollem Recht auf Brecht berufen. Brechts Schreiben wandte sich sein Leben lang gegen die Eingemeindung des Lebens in die Logik. Immer wieder pointierte er den Widerstand des Körpers gegen den Begriff: Man erkennt dieses Motiv in der Forderung nach dem ausgelebten Sexus im Frühwerk, in der Insistenz auf das „Jetzt“ des jungen Genossen der Maßnahme, im Bauch des Galilei oder auch dem Bauch des

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Guten Menschen von Sezuan, wo es ja die Schwangerschaft ist, die das Doppelspiel der guten Shen Te und des bösen Shui Ta zum Platzen bringt. Brechts Kritik richtet sich gegen die Vergottung der Logik und ebenso gegen den Fetisch logischer Zwangsgesetze der Geschichte. Bei Nietzsche geht es im Begriff des Dionysischen um den Widerstand gegen alle moralische Weltverneinung. So fürchterlich die Wirklichkeiten sein mögen, denen wir begegnen, wir dürfen bei aller Kritik nicht das fundamentale Jasagen zur Welt vergessen. (Das war Nietzsches Kritik an den revolutionären Kommunisten, dass sie zugunsten einer idealen Zukunft die Welt, die es gab, die existierende gegenwärtige Welt entwerteten.) Brecht konnte ein solches Ja von Nietzsche lernen, ohne dass dies seinen Materialismus gefährdet hätte. So wie schon Lukrez die Menschen von der Angst befreien wollte, indem er die Sterblichkeit der Seele bewies, so bestand Nietzsche darauf, dass es nur diese eine Welt des Werdens gäbe. Das ließ sich Brecht nicht zweimal sagen, als er zum Beispiel im Schlussgesang der Hauspostille das Lied gegen Verführung schrieb: Laßt euch nicht verführen! Es gibt keine Wiederkehr. Der Tag steht in den Türen; Ihr könnt schon Nachtwind spüren. Es kommt kein Morgen mehr. Laßt euch nicht betrügen! Das Leben wenig ist. Schlürft es in vollen Zügen! Es wird euch nicht genügen. Wenn ihr es lassen müßt!21 Der späte Brecht fügt hinzu: Außer diesem Stern, dachte ich, ist nichts und er Ist so verwüstet. Er allein ist unsere Zuflucht und die sieht so aus.22 Die Einheit von Jasagen zur Welt und radikaler Kritik am Bestehenden ist ein Widerspruch, den Brecht in seinen Texten nicht auflöst, sondern immer neu artikuliert. Er war einverstanden mit allem, was wird. Dieses Werden aber war bei Brecht auch in den kämpferischsten Zeiten nie so recht nach dem Herzen der Hegelianer (auch unter den Marxisten), man

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denke an die wiederkehrende Formel „Gebt sie auf!“ im Badener Lehrstück: Wenn ihr die Welt verändert habt, Verändert die veränderte Welt, Gebt sie auf!23 Die Dialektiker hätten hier gern ein „Hebt sie auf!“ gehört und es kann kein Zufall sein, dass Brecht sich so nah an die Formel der Dialektik heranbegibt, um sie dann so auffällig zu meiden. Für ihn gibt es ein destruktives Werden ohne begrifflich vorgeplante Aufhebung. Das gemahnt eher an Heraklits Fließen und an Nietzsches Versuch, das Werden zu denken, als an die idealistische Dialektik. Tatsächlich gibt es ungeachtet des fortwährenden Gebrauchs des Worts Dialektik bei Brecht in seinem Denken eine direkte unmissverständlich antidialektische Geste. Ein Wort ist noch angebracht zum Thema Nihilismus. Vielfach wird gesagt, Brecht habe seinen Nihilismus mit dem Übergang zum Marxismus abgestreift. Aber auch der Autor des Galilei macht noch deutlich, wie einerseits das Weltbild der klerikalen Ideologie auf Sinnstiftung hinausläuft, während das revolutionäre Menschenbild sich mit der Freiheit andererseits auch den Verlust des Sinns, der Zentralstellung des Menschen einhandelt. Für Nietzsche stellt der Nihilismus, der den Menschen „aus dem Zentrum ins x“24 rollen sieht, eine freudig bejahte Bedingung für die Befreiung von der christlichen Entwertung der Welt dar. Für Brecht stellt sich im Galilei durchaus ernsthaft die Frage nach den Folgen für das Volk, die der Ausfall von religiösem Trost mit sich bringt. Das ist sicher keine fortschrittliche, aber doch eine bedeutsame Wirklichkeit, für die Galilei lange blind bleibt, bis er selbst an seinem inneren Zwiespalt erfahren muss, dass Inkonsequenz, „Verrat“ keinem Individuum erspart bleibt. Interessant ist die direkte Auseinandersetzung Brechts mit Nietzsche in dem Sonett über Zarathustra. Du zarter Geist, daß dich nicht Lärm verwirre Bestiegst du solche Gipfel, daß dein Reden Für jeden nicht bestimmt, nun misset jeden: Jenseits der Märkte liegt nur noch die Erde.25 Nicht verführerisches Herrenmenschentum wirft Brecht Nietzsche vor, auch keinen Sozialdarwinismus, er spricht nicht gegen einen Irrationalisten oder Antihumanisten. Es wird nicht Thema, dass Nietzsche sich

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dem Sozialismus entgegengestemmt oder den „Übermenschen“ gepredigt hätte. Es geht überhaupt nicht um bestimmte Inhalte bei Nietzsche, sondern um seinen Rückzug aus der Praxis. Nietzsche weigerte sich, die problematische Konfrontation des Denkens mit den Märkten durchzustehen. Während er seine Reinheit mit „Irre“ und dem fürchterlichsten Missbrauch seiner Lehre bezahlte, artikulierte Brecht, wo immer er historische Praxis zeigte, eine Spaltung – von den frühen Gedichten über die Lernstücke bis zum Galilei und dem Guten Mensch von Sezuan. Nietzsche hielt sich heraus, und Brechts Sonett klingt beinahe wie die Rede des Schülers, der die besten Intentionen des Meisters verwirklicht durch die Einbeziehung des Politischen. Er hat die Überzartheit des Geistes abgelegt, die er dem Autor des Zarathustra vorwirft. Es ist bemerkenswert, dass Brecht in einer Äußerung über Karl Korsch, seinen großen Lehrer seit den 1920er Jahren, beinah den gleichen Vorwurf erhebt: „Ich glaube, er ist furchtlos. Was er aber fürchtet, ist das Verwickeltwerden in Bewegungen, die auf Schwierigkeiten stoßen. Er hält ein wenig zu viel auf seine Integrität, glaube ich.“26 Von Brecht her sind beide zu lesen, Nietzsche und Marx. Marx – denn ohne den historischen Begriff, die Kritik des Kapitals und den Gedanken der Revolution bleibt Nietzsches Werden nur ästhetisch. Nietzsche – denn ohne die Kritik der Reste idealistischer Geschichtsdialektik, ohne ein Denken, das Zufall, Spiel und Tanz in sich aufnimmt, droht das revolutionäre Denken terroristisch zu werden. Angeknüpft wird, wie Brecht sagte, nicht beim guten Alten, sondern beim schlechten Neuen. Dieses oberflächliche neuerungssüchtige Gesindel Das seine Stiefel nicht zu Ende trägt Seine Bücher nicht ausliest Seine Gedanken wieder vergißt Das ist die natürliche Hoffnung der Welt Und wenn sie es nicht ist So ist alles Neue Besser als alles Alte.27 Nachleben

Brecht lebt, gewiss. Aber welcher? Es lebt der Brecht, ohne den Heiner Müller nicht denkbar gewesen wäre. Der, ohne den das deutsche Theater anders aussähe: Generationen von Nachkriegsregisseuren der 1960er bis 1990er Jahre haben Brechts Intellektualisierung des Theaters, die Techniken der Verfremdung, Bruch und Störung der Illusion und Einfühlung

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aufgesogen. Brecht ist im gesamten Stil des neuen deutschen Theaters anwesend, auch dort, wo sich die Regisseure nicht auf ihn berufen oder ihn sogar – meist mit dem Vorwurf: Vereinfachung und Didaktik – ablehnen. Peter Stein und Klaus Michael Grüber haben Brecht gemieden – und doch ist der Intellektualismus Steins, sind Frank Castorf, Einar Schleef, Christoph Marthaler, Nicolas Stemann, Falk Richter, sind Gruppen wie Rimini Protokoll, andcompany&Co., She She Pop und viele andere ohne den Brechtschen Impuls nicht zu verstehen. Auch wenn sie – wie alle guten Schüler, wie auch Heiner Müller – alles anders machen als der Meister. René Pollesch behauptet von seinem Theater, was man auch von Brecht sagen kann: „Bei mir gibt es keine Figuren, sondern einen Text, der gemeinsam gedacht wird.“ Brechts Protagonisten sind wohl bis zu einem gewissen Grade als Figuren zu verstehen – aber jedenfalls in den Lehrstücken als „Figuren“ im rhetorischen Sinn. Sie sind nichts als das, was sie durch ihren Kontext sind, sie haben keine Identität, sondern sind Konstellationen, die ohne sichere Grenze in das Feld ihres Kontextes übergehen – so wie rhetorische Figuren in einen Text eingebettet sind. Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Stärke, manchmal auch die Schwäche des deutschen Theaters seine ausgeprägte Neigung zu Reflexion, Kühle, Distanz, Kritik und einer hochgradigen Skepsis gegenüber einer Hingabe an Gefühlsräusche, die manchmal bis zur Emotionsphobie gehen kann. Kein Sentiment, das nicht sogleich gebrochen werden muss. Die Qualität des intellektuell anspruchsvollen Theaters ist spezifisch Brechtsches Erbe – ein Erbe, von dem man sagen muss, dass es weit in die deutsche Theatergeschichte zurückweist. War es doch in Deutschland bereits im 17. Jahrhundert aus vielerlei Gründen mehr das gelehrte Bürgertum als die Aristokratie, das das Theater trug. War doch, nicht nur über das jesuitische Schultheater, die Beziehung zwischen Schule und Theater in Deutschland immer schon ganz besonders eng. Steht nicht sogar unsere Klassik im Zeichen pädagogischer Erziehungsprogramme („Erziehung des Menschengeschlechts“ bei Lessing, „ästhetische Erziehung“ bei Schiller)? Das ist nicht einfach zu kritisieren oder zu verspotten. Es hat die große Tradition eines denkenden, gesellschaftskritischen Theaters hervorgebracht, das seine Verantwortung reflektiert und ihr durch die Bemühung um Verbesserung der Gesellschaft durch Erziehung und Belehrung des Publikums gerecht werden will. Es ist historisch gesehen kaum ein Zufall, dass der bedeutendste Beitrag Deutschlands zum neueren Welttheater ein Dichter war, für dessen Werk die Form der Didaxe konstitutiv ist. Doch es kann nicht schaden, sich gelegentlich die Schattenseite dieses Vorzugs der deutschen Theaterkultur

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vor Augen zu führen: die bis in heutige Diskussionen hinein unausrottbar scheinende Tendenz, den Theatersessel am Ende mit der Schulbank zu verwechseln. An der Brechtschen Theatertheorie zählt heute am meisten, dass sie von Spielern und Zuschauern gleichermaßen verlangt, das Theater als kommunikative Situation zu begreifen. Und genau dies ist, scheint mir, gegenwärtig die Aufgabe, der sich Theater stellen muss: das Publikum in einen Austausch und Diskurs über seine eigene Weise der Darstellung und erst derart vermittelt über gesellschaftliche Grundfragen zu verwickeln. Es muss das Publikum – das war Brechts erklärte Absicht – „spalten“, statt es im Sinne des Allgemein-Menschlichen zu vereinen. Und es will scheinen, als würden solche Ansprüche an das Theater von Jahr zu Jahr wieder aktueller. Theater bleibt Kunst, aber gerade weil es nach Brecht nicht mehr nur als ästhetische Praxis zu denken ist, sondern als mehr (und vielleicht auch weniger) als Kunst, benötigt es umso dringender die von Brecht immer eingeforderte neue „Zuschaukunst“. Als Prozess wird Theater mehr Praxis der Recherche, der Selbstbefragung, Abenteuer des Denkens und Vorstellens sein als Herstellung eines Produkts. Dabei dürften vielfach offene postdramatische Formen und Performance-ähnliches Theater dichter am Glutkern von Brechts Denken sein als große Stadttheater, die unter mancherlei Kompromissen seine Stücke spielen. Wenn das Theater nicht seine eigene Struktur als Institut und als Produktionsweise befragt, dann wird es gar nichts infrage stellen. Das wusste Brecht, und daran muss man heute erinnern. Entweder ist das Theater schon hier und jetzt ein Versuch, über die herrschenden Formen der Kommunikation hinauszukommen und wenigstens momentweise eine andere Form des Zusammenseins zu probieren – oder es ist nichts anderes als just another brick in the wall der Entertainment-Industrie. In einem seiner letzten öffentlichen Auftritte, einem Gespräch mit Dramaturgen, erklärte Brecht, was man jetzt brauche, seien „kleine bewegliche Formen, Theaterchen“. Er erinnerte an die Tradition des Agitprop und meinte, kleine Theaterkollektive könnten auch an den großen Theatern entstehen. Und zwar durch – hier hört man auf dem Band förmlich ein kleines erfreutes Schmunzeln über die eigene Formulierung – „Selbstzündung“. Er hat in diesen späten Jahren die Buckower Elegien geschrieben, Gedichte voller Skepsis. Und diese Skepsis hat ihn, so will uns scheinen, schon damals ahnen lassen, von welch lähmender Erstarrung die großen Theaterapparate bedroht waren und sein würden. Für Brecht ging es darum, das Theater selbst von Grund auf zu verändern. Das Publikum soll die Darstellung kritisch genießen, mitden-

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ken, frei und entspannt bleiben, sich nicht in Gefühlsräusche versenken lassen, die Brecht „unwürdig“ nannte. Er konnte nicht fassen, wie ernsthafte, im Daseinskampf erprobte Männer an der Garderobe ihre Logik abgeben, um sich in ganz unreale Theatergefühle leiten zu lassen. Theater musste etwas anderes werden als eine Selbstfeier des Bürgertums als Publikum. Nicht zu Unrecht sah er sich selbst als den Kopernikus der Theaterkunst, der das gesamte System des Theaters neu dachte: nicht mehr als Vorführung vor und für, sondern als Aufführung mit dem Publikum. Die Trauer den Denkenden Kalifornischer Herbst

1 In meinem Garten Gibt es nur immergrüne Pflanzen. Will ich Herbst sehn Fahr ich zu meines Freundes Landhaus in den Hügeln. Dort Kann ich für fünf Minuten stehn und einen Baum sehn Beraubt des Laubs, und Laub, beraubt des Stamms. 2 Ich sah ein großes Herbstblatt, das der Wind Die Straße lang trieb, und ich dachte: schwierig Den künftigen Weg des Blattes auszurechnen!28 Das Gedicht speist sich aus den Eindrücken und Gefühlen des Autors im Exil, doch es geht offenbar über den Anlass dieser Gelegenheit hinaus und spricht von einer allgemeineren menschlichen Erfahrung, die mit der Herbstlandschaft der Trauer einhergeht. Es gibt wenige Gegenstände in Brechts Schaffen, bei denen er so deutlich seine persönliche Abneigung erkennen lässt, wie gerade die kalifornische Landschaft. Sie hat gewiss viel abbekommen von der ungeduldigen Unzufriedenheit des Dichters mit seiner persönlichen Situation, in der er sich mehrfach isoliert gefühlt haben dürfte: allein ohne Publikum; in der ästhetisch-sozialen Fremde der USA, wo seine Kunst auf vollkommenes Unverständnis stieß; zudem so gut wie ohne Verdienstmöglichkeiten innerhalb des Kreises der Emigranten, die es zum Teil durchaus zu – vermutlich ein wenig beneidetem – Wohlstand brachten. Im ersten Teil des Gedichts porträtiert sich ein Ich, das sich im „Herbst“ erlebt, jenseits des guten Sommers, schon mit der Vorahnung

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auf den Winter, den Tod. Es spricht von seinem „Garten“, der im Gegensatz zum reicheren Landhaus des ungenannten Freundes in den Hügeln wohl einem eher bescheidenen Haus zugehört, vielleicht einem wie dem, das die Brechts in Santa Monica bewohnten. Der Garten ist durch Zeilensprung abgesetzt, um diesen Gegensatz zur Geltung zu bringen, zwischen dem bescheidenen Stück Land, das das seinige ist, und dem reicheren Landhaus in den Hügeln. Darin „[g]ibt es nur immergrüne Pflanzen“. Das ist zum einen der Hinweis auf die kalifornische Fauna, in der es wegen des ganzjährig sonnigen Wetters kaum eine Wahrnehmung der Jahreszeiten gibt. Dieser von vielen als angenehm empfundene Umstand wird aber ganz und gar nicht als positiv dargestellt. Die Wendung weist vielmehr durch das Wort „immergrün“ auf eine typische Friedhofspflanze hin. Der immergrüne Anblick erweist sich als Todesbild. Warum aber? Weil das Ich im Herbst auch „Herbst sehn“ will. Das dürfte sich nicht allein auf die Farben beziehen, die leuchtenden Herbstfarben im Unterschied zum dauernden Grün (das ja auch als Farbe der Verwesung und des Absinths bei Brecht und in der Lyrik eine Tradition hat), sondern vor allem auf den Wechsel der Jahreszeiten selbst, eines der großen Motive Brechts. Der Kalifornische Herbst entzieht der Wahrnehmung die Zeit, raubt ihr den Wechsel der Dinge, Untergang und Neuanfang. So steht das Gedicht von Anfang an im Zwielicht: einerseits Trauer über seine Lage, andererseits von Anfang an ein Widerstand gegen die Trauer über Vergänglichkeit, Herbstzeitlose. Um die Erfahrung des Wechsels wieder zu gewinnen, braucht das Ich das Landhaus des Freundes, zu dem es freilich eine Fahrt unternehmen muss – vielleicht auf jener Straße, auf der es dann das Herbstblatt beobachtet? Dort ergibt es sich aber nicht etwa einer tiefen meditativen Versenkung in den Herbst. Nein, „fünf Minuten“, jene fünf Minuten, die Brecht immer wieder als Indiz für eine kurz bemessene Frist des Denkens nutzte. So stehen die fünf Minuten in der Maßnahme als Allegorie der systematisch immer zu knappen Zeit, die der politisch Handelnde zur Verfügung hat, angesichts unvollständiger Informationen eine Entscheidung zu treffen. Der Kontroll-Chor fragt: „Fandet ihr keinen Ausweg, zu erhalten den jungen Kämpfer dem Kampf?“ Die vier Agitatoren antworten: Bei der Kürze der Zeit fanden wir keinen Ausweg Fünf Minuten im Angesicht der Verfolger Dachten wir nach über eine Bessere Möglichkeit. Auch ihr jetzt denkt nach über Eine bessere Möglichkeit.29

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Im Fatzer heißt es einmal: „Es ist gut, daß wir durch Zufall an eine Stelle der Welt gekommen, wo wir fünf Minuten nachdenken konnten. Jetzt können wir heimgehen.“ Hier nun kann das Ich für fünf Minuten stehen und „einen Baum sehn / Beraubt des Laubs, und Laub, beraubt des Stamms“. Was das Ich sieht, ist der Raub als allgemeiner Weltzustand, Raub durch Krieg oder Handel. Die Länder sind ihrer Laub-Kronen beraubt, da die Besten fliehen müssen. Die einzelnen Exilierten aber sind nur noch wegzuharkendes Laub, als einzelne Blätter nicht mehr wahrnehmbar. Oder doch? Man erkennt in dem vereinzelten großen Herbstblatt rasch das Gegenbild zum lyrischen Ich, das vom Wind der Umstände, ohne alle Möglichkeit, seinen Weg selbst zu bestimmen, „die Straße lang“ getrieben wird. Da ist es also aus der Nähe besehen, als einzelnes Schicksal, jenes „Laub, beraubt des Stamms“, das es im ersten Teil des Gedichts (oder im ersten der beiden unter dem Titel „Kalifornischer Herbst“ abgedruckten Gedichte) zu sehen gewünscht hatte. Es dürfte aber sich nicht allein um die Person handeln, ebenso steht das Blatt für das Geschriebene, das in diesem Wind umhertaumelnd ebenso ziellos wird und wirkt, nicht weiß, ob und zu welchem Adressaten es gelangen wird. An diesem Tiefpunkt der Erfahrung erfolgt nun jedoch mit den folgenden Worten eine Wendung, wie sie vielleicht typischer für Brecht nicht sein könnte, wie sie wohl von keinem anderen so geschrieben worden sein könnte: „[…] und ich dachte: schwierig / Den künftigen Weg des Blattes auszurechnen.“ Was wäre eine spartanischere, knappere, zugleich so lyrische Formel für die Leidenschaft des Rationalen noch im totalen Scheitern? Im Angesicht des taumelnden Blatts, das von totaler Zufälligkeit abhängt, lässt der Gedanke auch nur an den Versuch es auszurechnen, dieses Ich als nicht zu entmutigenden Forscher erscheinen. Das Wort „schwierig“ an der Stelle kann als eine der großen Untertreibungen in Brechts Œuvre gelten. Würde Brecht nicht sein Augsburgisches Idiom unterstellen, so wäre man geneigt, in diesem Wort nicht nur schwier-ig sondern noch einmal das schwier-Ich zu hören. Erfahrung der Trauer, des Schreckens, der Niederlage, die nicht verleugnet wird und ein schon in die Weise der Erfahrung eingeschriebener Widerstand des Denkens dagegen – das ist die Signatur der Schriften, die mit B. B. gezeichnet sind.

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Ich hatte einen „anderen“ Brecht in meinen Arbeiten der 1970er Jahre immer wieder gefunden und 1991 in Augsburg zum Thema der von mir gemeinsam mit Renate Voris geleiteten ersten Brechtkonferenz der International Brecht Society außerhalb der USA gemacht. Eine offenere und zukunftweisende Diskussion des „learning play“ hat sich inzwischen entwickelt, so bei Pollesch, den Fatzer-Tagen in Mülheim, She She Pop und andcompany&Co. Althusser, Louis: „Piccolo Teatro, Bertolazzi und Brecht. Bemerkungen über materialistisches Theater“, in: Alternative 137, Karlsruhe 04/1981, S. 82. Vgl. Weber, Betty Nance: Brechts „Kreidekreis“, ein Revolutionsstück. Eine Interpretation. Mit Texten aus dem Nachlaß, Frankfurt a. M. 1978. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003, S. 55. Ebd. Lukács, Georg: Werke. Bd. 15, Darmstadt/Neuwied 1981, S. 10. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 345. Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954, hrsg. v. Herta Ramthun, Frankfurt a. M. 1975, S. 138. GW 8, S. 101. Brecht, Bertolt: „Die Lösung“, in: GBA 12, S. 310. Althusser: Alternative 137, S. 97. Ebd., S. 85. Stemann, Nicolas: „Wir sind Ödipus. Überlegungen zum politischen Theater der Gegenwart“, in: Theater heute, Berlin 03/2016, S. 36–38. Rilke, Rainer Maria: Briefe, 3. Bd., hrsg. v. Rilke Archiv in Weimar, Frankfurt a. M. 1987, S. 898f. Benjamin, Walter: Werke II-2, S. 557. Badiou, Alain: Le siècle, Paris 2005, S. 65. Vgl. Akademie der Künste, Berlin: Bertolt-Brecht-Archiv, 109/88. Vgl. Grimm, Reinhold: Brecht und Nietzsche oder Geständnisse eines Dichters, Frankfurt a. M. 1979 sowie Lehmann, Hans-Thies/Lethen, Helmut: „Verworfenes Denken“, in: Brecht-Jahrbuch 1980, Frankfurt a. M. 1981, S. 149–171. Lehmann/Lethen: „Verworfenes Denken“, S. 151f. GBA 11, S. 116. GBA 15, S. 209. GBA 3, S. 46. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, 3. Bd., hrsg. v. Karl Schlechta, München 1966, S. 882. GBA 14, S. 420. Lehmann/Lethen: „Verworfenes Denken“, S. 170. GBA 14, S. 47. GBA 15, S. 44f. GBA 3, S. 123.


SCHLAGLICHTER AUF DEN ANDEREN BRECHT -

1. Un-ernst, grau „So ist das Andere, allein als solches gefaßt, nicht das Andere von Etwas, sondern das Andere an ihm selbst, d. i. das andere seiner selbst. […] Das Andere für sich ist das Andere an ihm selbst, hiermit das Andere seiner selbst, so das Andere des Andern, – also das in sich schlechthin Ungleiche, sich Negierende, das sich Verändernde […]“1 (Hegel)

Für Brechts Werk gilt seine schöne Wendung über die Architekturen: „Die halbzerfallenen Bauwerke / Haben wieder das Aussehen von noch nicht vollendeten / Groß geplanten […]“.2 Sein Text ist ein Erkundungsfeld, voll von Halbzerfallenem, zugleich das Manövergelände politischer Ideen, deren größeren Teil freilich das Schicksal der Vergänglichkeit ereilt hat, rasch, wie es dem Jahrhundert entspricht. Aber das Messer seines Schreibens weist scharf wie wenig andere auf die zerreißenden Probleme, denen jene Ideen antworteten und die nicht gelöst sind, weil der Sozialismus scheiterte. Vor den Fragen sterben die Antworten. Brechts Fragen leben noch. Deshalb – nicht nur, weil es vielfach einfach grandiose Kunst ist – stöbert man hoffnungsfroh immer neu auf dem Versuchsfeld, ohne das Entsetzen über Ideen, die in Todeskälte und Katastrophe führten, zu verleugnen. Der andere Brecht wäre der, von dem noch immer die Fragen und die Intelligenz der Weltbeschreibung Gültigkeit haben, nicht aber ohne allerstrengste Prüfung die Ideale des Kollektivs und der leninistischen Politik. Was genau von Brechts politischen Analysen und Idealen und Utopien bleiben wird, darüber wird man trotzdem nicht hastig urteilen wollen. Konsens dürfte zu erzielen sein über seine Irrtümer, die den Wert leninistischer Parteien betreffen; sein Schweigen über die Verbrechen des Stalinismus; seine Identifikation mit der verhängnisvollen Politik der Kommunistischen Internationale in den 1930er Jahren; die haarsträubende Versimpelung des Faschismusproblems – am Ende die Verkennung der Nachkriegsdemokratie in der Bundesrepublik und das trotz aufkeimender Resignation verbissene Festhalten an der historisch zukunftweisenden Rolle der SBZ/DDR. Der andere Brecht: Das ist ein Vorstellungsgelände, ein Wortgewässer, eine Textlandschaft, wo die „offiziellen“ Ideen sich immer wieder im

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Schlaglichter auf den anderen Brecht

Dickicht der Worte verlieren, wo die nur scheinbar gut kartographierten Gebiete sich als undeutlich oder verzeichnet erweisen. Der prägnante Ausdruck wirkt auf den zweiten Blick „verschwommen“, in der Figuration des Textes vereint die These sich mit ihrem Andern, der materialen Musikalität des Wörterleibs, und das Gewebe, das sie zeugen, ist kaum eine Idee, sondern eine „andere“ Textur. Eine frühe Tagebuchnotiz: Ich glaube nicht, daß ich jemals eine solche ausgewachsene Philosophie haben kann wie Goethe oder Hebbel, die die Gedächtnisse von Trambahnschaffnern gehabt haben müssen, was ihre Ideen betrifft. Ich vergesse meine Anschauungen immer wieder, kann mich nicht entschließen sie auswendig zu lernen. Auch Städte, Abenteuer, Gesichter versinken in den Falten meines Gehirns schneller, als Gras lebt. Was werde ich tun, wenn ich alt sein werde, wie kümmerlich werde ich dahinleben mit meiner dezimierten Vergangenheit und zusammen mit meinen ramponierten Ideen, die nichts mehr sein werden als arrogante Krüppel.3 Ja, dieses graue Beckettsche Bild für die verfallenden Ideen kann man sich vorstellen. Aber da sind noch die Worte, und da ist die Kraft des neu anfangenden Lesens, das immer gefunden hat und auch heute findet, dass bei einem großen Autor die Ideen untergehen können, aber das Versuchsfeld aus Worten ein Kraftfeld bleibt, das neue Ideen hervorruft. „Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht.“4 Der Andere ist der immer und unwiderruflich andere, der jeder Sistierung sich entzieht. Ambiguität, Zweideutigkeit, Paradoxie und Maske – auf den ersten Blick gehören diese Motive, die den Entzug des Ichs und des Sinns anzeigen, zum Urmütterhausrat der Brechtphilologie. Indessen reduziert man bis heute weithin diese inneren Spaltungen auf eine moralische Fragwürdigkeit (etwa die Predigt sozial verantwortlichen Tuns bei persönlichem Opportunismus, als pragmatische Schläue bemäntelt). Oder auf die Paradoxie zwischen Engagement und Poesie. Wie aber, wenn Gesicht und Maske nicht zu trennen sind, das Gesicht mitgehen würde, wenn man die Maske herabreißt, wie es bei Büchner heißt? Wie wenn der Spalt nicht zwischen Engagement und ästhetischer Autonomie des Dichtens verliefe, sondern beide Pole dieser Spannung spaltete? Der Text, nicht nur Brechts, steckt, indem er sich auf und in das Spiel der Sprache einlässt, ein Versuchsfeld ab, in dem jede Position – und scheine sie noch so klar – ein Stück Ernst verliert. Für sich selbst wusste Brecht das – auch in den finsteren Zeiten. Er sagt 1938 zu Walter Benjamin:

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Schlaglichter auf den anderen Brecht

Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde. „Wie ist das? Ist es Ihnen eigentlich ernst?“ Ich müßte dann anerkennen: ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artistisches, an das, was dem Theater zugute kommt, als daß es mir ganz ernst sein könnte. Aber wenn ich diese wichtige Frage verneint habe, so werde ich eine noch wichtigere Behauptung anschließen: daß mein Verhalten nämlich erlaubt ist.5 Keine Logik bleibt vom Spiel des Textes unangefochten. Einzig die Lektüre, nicht der Text, vermisst die Koordinaten. Ein Netz von Bezügen – Philologie tendiert zu rasch dazu, es aufzuschneiden, um – sehr vermeintliche – Sicherheit des Verstehens zu gewinnen. Vergessen wir nicht, was vergessen wird, wenn wir Brecht sagen. Immer wieder verfällt diese Rede dem Konstrukt des Einen, der – scheinbar – den Text mit der Signatur zu „seinem“ erklärt hat, verfällt dem Fetisch der Signatur. (Und übrigens des Geschlechts: Ist die Instanz, das Nicht-Wesen, welches den Text schreibt, mit der gleichen Sicherheit als männlich oder weiblich zu bestimmen wie die empirische Person des Autors Brecht?) Gedankenspiel: Wie viel gewönne oder verlöre man, wenn für einige Zeit ganz einfach das Nomen „Brecht“ – wie „Goethe“ oder „Shakespeare“ – sozusagen tabu wäre, wenn jedes Mal statt von dieser weithin imaginären und konstruierten Instanz nur von dem konkreten Text gesprochen würde? Der „andere Brecht“ als Thema wäre also zunächst ein NichtThema, wenn es doch ein Brecht ist, der sich per definitionem nicht definieren lässt? In der Tat, in der Praxis, ein Nicht-Thema, ein Verweis auf das Problem der Thematisierung selbst. Der andere Brecht bedeutet zugleich eine Reflexion auf die Art und Weise des Lesens und Inszenierens. Wenn Verstehen Fixieren von Bedeutung, Rekonstruktion ihrer Genese heißt, so stellt die Frage nach dem immer und notwendig anderen auch die Frage nach einem notwendigen Nicht-Verstehen im Verstehen selbst. Der andere Brecht bedeutet nicht: ein anderes Terrain, ein Anderswo, ein verkannter oder bislang weniger beachteter Aspekt, den man sozusagen nachtragen müsste, weil es eine Forschungslücke gibt. Es bedeutet: Hervorhebung einer Andersheit in sich selbst, die man mit einem Begriff, den Louis Althusser im Zusammenhang mit Brechts Theater prägte, Alterität nennen könnte. Alterität hieße dann eine Andersheit, die sich nicht im Sinne einer Dialektik aufheben lässt, ein Bruch zwischen zwei Realitäten, die partout nicht wie im Symbol verschmelzen oder dialektisch als tiefer gedacht Einheit erscheinen wollen.

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2. Das Schwarze

Einige haben ihn gesehen, den anderen Brecht, Hans Henny Jahnn zum Beispiel, der Brecht 1923 kennen gelernt hatte. Mit Arnolt Bronnen gemeinsam bereitete Brecht damals in Berlin eine Aufführung von Pastor Ephraim Magnus vor. Seitdem scheint Jahnn Brechts Arbeit „mit großem Interesse“ verfolgt zu haben. 1933 trafen beide als Exilanten in Dänemark wieder zusammen, dann erneut 1950 in Berlin.6 Unmittelbar nach Brechts Tod bat Peter Huchel Jahnn um einen Text zu Brecht für die von ihm geleitete Literatur- und Kulturzeitschrift Sinn und Form. Jahnn schrieb ihm (auf eine Mahnung hin) am 9. November 1956, er habe „an Bord eines Kohlen-Trampdampfers“ auf der Nordund Ostsee an dem Beitrag gearbeitet. Die Jahnn-Ausgabe bietet die Handschrift, die dem seinerzeit veröffentlichten Text zugrunde lag. Im letzteren hieß es: Man hat, jedenfalls bei uns im Westen, sich mit der marxistisch determinierten Weltanschauung Brechts befaßt, und es ist dabei zum Teil zu einem abfälligen Urteil über das Werk gekommen. Es ist offenbar schwer für Andersgläubige, es hinzunehmen, daß er Marxist war, wie andere große Dichter, Bernanos etwa, Christen waren – oder noch andere überzeugte Heiden. Nichts scheint mir unfruchtbarer, als von der Umgitterung her sich dem Werk Brechts zu nähern. Seine „Weltanschauung“ war von Anfang bis zum Schluß die eines nicht erblindeten Dichters. Sie war nicht so eingeengt, wie manche behaupten möchten; sie war auch nicht optimistisch ausgerichtet, das vor allem nicht; sie war an der Wirklichkeit orientiert.7 In der Handschrift des Beitrags ist es gar nicht „die Umgitterung“, sondern neutraler die Seite der marxistischen Weltanschauung, von der her man sich Brecht nicht nähern soll. Und im Anschluss an die zitierte Passage stehen die folgenden nicht im Druck erschienenen Sätze Hans Henny Jahnns: [Seine Weltanschauung] glitt, weil das Dasein der Menschheit nicht bis ins Rosenrote gesteigert werden kann, immer wieder auf die Seite der bitteren Feststellung hinüber. In keinem seiner Werke hat er die Schöpfungshärte verschwiegen oder gar geleugnet. Den Fortschritt oder die Möglichkeit zu den Besserungen hat er nicht geleugnet. Dennoch hat er das zu gewinnende Glück nicht als erheblich gepriesen. Der Verwandlung des Menschen hat er mit Skepsis gegenüber gestanden.

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Die Worte des Geistlichen im Dickicht der Großstädte sind in den späteren Arbeiten niemals zurückgenommen worden: „Der Mensch ist zu haltbar. Das ist sein Hauptfehler. Er kann zuviel mit sich anfangen. Er geht zu schwer kaputt.“ Man wird ihm auch nicht jene andern Verse, die vom armen B. B. handeln, entreißen können und unterstellen, sie seien überholt oder durch den Gang der Weltgeschichte entwertet: Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind! Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es. Wir wissen, daß wir Vorläufige sind Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes. Jeder, der auch nur einige Erfahrung mit dem Niederschreiben von Gedanken und Empfindungen hat, dem das Wesen des Formulierens nicht fremd ist, erkennt sogleich, daß das: „nichts Nennenswertes“ zusammen mit der Feststellung: „daß wir Vorläufige sind“ das Eigentliche der Aussage ausmacht […] die zweite Zeile der Strophe ist in der Vorstellung später entstanden als die Vierte, mag sie auch niedergeschrieben sein, ehe die letzte ihre grausame Wahrheit mit beispielloser Vollendung auf dem Papier bekannt gab.8 Brechts „grausame Wahrheit“ verbarg sich immer wieder in der genauen Leichtigkeit, der „beispiellosen Vollendung“ seiner Sätze, die im Labyrinth der Sprache mit magisch anmutender Präzision den Pfad der mühelosesten Gebärde erkunden. Klaue und Grazie, wie er es sich wünschte, wohnen seiner Sprache inne: Die Schlechten fürchten deine Klaue. Die Guten freuen sich deiner Grazie Derlei Hörte ich gern Von meinem Vers.9 Aber die Inschrift des härtesten Pessimismus in seinem Werk, die abgründige Skepsis des Didaktikers gegenüber der Verwandlung des Menschen ist nicht wirklich gelesen worden als das, was sie ist: als grauer Duktus und Ferment all seines Schreibens. Wird nicht noch immer, was sein Theater mit Artaud verbindet, sein Denken mit Nietzsche, als ein bloßes a-parte betrachtet?

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3. Vom andern B. B. – Grausamkeit und Lachen

Aber geht es nicht um höchst Ernstes? Gewiss. Die Texte Brechts selbst, denen Tod, Kälte, Verschwinden und Vereinsamung, Täuschung und Selbsttäuschung, Gewalt, Unterdrückung und Gegengewalt zentrale Motive bleiben – sind von Trauer und Tragik erfüllt. Trotzdem wird noch das Schlimmste durchwirkt mit Lachen, Humor, Bejahung des Spiels und der Veränderung. Bei den Erdbeben, die kommen werden, will B. B. vermeiden, dass ihm der Virginia-Tabak bitter wird. Aber nicht einfach, wie man erst liest, weil die Erdbeben Bilder der Katastrophe wären. Vielmehr erweisen sich die Beben auch als Wunschbilder eines „destruktiven Charakters“ für allseitige Zerstörung und als Inbegriff rücksichtsloser Veränderung: Nach Genuß von etwas schwarzem Kaffee erscheinen auch die Eisenzementbauten in besserem Licht. Ich habe mit Erschrecken gesehen (auf einem Reklameprospekt einer amerikanischen Baufirma), daß diese Wolkenkratzer auch in dem Erdbeben von San Franzisko stehenblieben, aber im Grunde halte ich sie doch nach einigem Nachdenken für vergänglicher als etwa Bauernhütten. Es ist gut, daß mir dieser Gedanke zu Hilfe kam; denn ich betrachte diese langen und ruhmvollen Häuser mit großem Vergnügen.10 Ganz so wie jene „langen Gehäuse des Eilands Manhattan“ des Gedichts – vorausgesetzt eben, sie dauern nicht zu sehr. Was ist also der Hurrikan verglichen mit dem Menschen, der seinen Spaß will, zum Beispiel in Mahagonny, seinen Hut aufessend – diesen berühmten Hut, den man einmal durch Brechts Werk verfolgen müsste? Hier wird es nun wirklich ernst – oder nicht? Wie immer man mit diesem Schreiben umgehen mag, humanistisch ist es nicht, sondern extrem, bösartig, kollektivistisch-anarchisch – und lässt sich das noch klar trennen? Nicht gegen das Asoziale war Brecht, nur gegen das Nichtsoziale. Zu lesen ist da eine eigentümlich unberührbar scheinende Härte, Kälte und Konsequenz: Den „anderen“ Brecht zu lesen kann gewiss nicht heißen, das wegzulesen. Schweig! Was, meinst du, ändert sich leichter Ein Stein oder deine Ansicht darüber? Ich bin immer gleich gewesen.11 Oder: „Ebenso kalt wie der Wind ist die Lehre ihm zu engehen.“12

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Ja, es gibt da eine „Dehumanisierung“ bis hin zu Bildern des Einswerdens mit Naturprozessen, dann Maschinen; im rätselhaften „Einverständnis“, Aufgehen in Chor und Kollektiv. Der andere Brecht ist deswegen nicht ein Heiner Müller avant la lettre, der in der Hamletmaschine schreibt: „Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen, Beine zu gehen, kein Schmerz, kein Gedanke.“ Und auch nicht umgekehrt der empfindsame Poet, der hinter der bösen Maske des mechanischen Ideals ein humanistisch gutes Wesen verbarg. Das schon überhaupt nicht. Noch einmal Heiner Müller, einer der allerbesten Brechtleser: „Was mich an Brecht interessiert, ist das Böse, das er selbst in seiner späteren Zeit sehr maskiert hat – oder zumindest der Weigel erlaubt hat zu maskieren. Aber das Böse ist bei Brecht die Substanz.“13 Es ist die Substanz eines Dichtens und einer Politik, die sich (fast) immer vor jedem „moralisierenden Dilettantismus“ (Walter Benjamin) zu bewahren wussten. Der andere Brecht ist der, bei dem das Böse unablöslich mit den humanen Zielen verschränkt ist. Müller spricht von Stellen in Arturo Ui oder Coriolan, an denen ein „Herzton“ Brechts durchkomme: Wo man plötzlich eine überhaupt nicht beabsichtigte und kalkulierte Sympathie mit diesem Aristokraten, der die Massen verachtet, spürt. Und FATZER besteht wesentlich aus dem Herzton dieser bösen Stellen, und deswegen ist es der beste Text. Ich finde, das ist auch ein Beleg für wirkliche Genußfähigkeit. Zum Genießen gehört Bosheit, Rücksichtslosigkeit.14 Schlagend ist dieser Ton in manchem Gedicht der 1930er Jahre: Wo mein Tank durchfährt Da ist die Straße Was meine Kanone sagt Das ist meine Ansicht Von allen aber Verschone ich nur meinen Bruder Indem ich ihn lediglich aufs Maul schlage.15 Zu überwinden ist die immer noch zu geringe Neigung, die abschüssigen Bahnen zu inspizieren, auf denen Brechts Postulate errichtet sind. Nur wo die Provokation ausgehalten, nicht vermieden oder verleugnet wird, kommt der Brecht, der stets der Andere des Andern war, in Sicht. Die Chancen einer Dekonstruktion, die die Spaltungen im Bau der Texte

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nachzuzeichnen erlaubt, waren lange Zeit im Lager der Brechtforschung ganz besonders gering, weil viele zwischen der öffnenden Mikrolektüre und der politischen Schlussmoral eo ipso einen absoluten Gegensatz vermuten. Tatsächlich gibt es nicht eine spielerisch-harmlose Offenheit des Sinns. Wäre sie alles, so könnte man mit Recht sagen: Ja und? Wenn der Sinn sich entzieht, dann entzieht er sich eben. Lass ihn gehen! Es ist aber ein Entzug, der eine Dimension des Schmerzes, des Verlusts, der Bedrohung einschließt. 4. Der Andere

Ein eigentümliches Spiel mit dem performativen Status der Sätze macht den anderen Brecht lesbar in einem Schlüsselgedicht im Lesebuch für Städtebewohner. Sein Schluss lautet: Sorge, wenn du zu sterben gedenkst Daß kein Grabmal steht und verrät, wo du liegst Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt Und dem Jahr deines Todes, das dich überführt! Noch einmal: Verwisch die Spuren! (Das wurde mir gesagt.)16 Nur als Name kann die deutliche (auf die Person deutende) Schrift als (auch polizeiliche) Anzeige drohen. Man ist offenbar rundum bedroht und verfolgt – die Welt ein Verfolgungs(t)raum. Sogar im Tod soll man unerkannt bleiben. Keine realistische Deutung wäre angesichts der hohen Abstraktion des Textes haltbar (etwa die, es gelte, Genossen einer konspirativen Arbeit, Angehörige oder Freunde noch durch die Anonymität des Todes zu schützen). Daher treffen auch weder GPU noch politischer Untergrund oder modernes Massen-Ich oder Flucht vor Autorität und Verantwortung mehr als assoziative Konnotationen. Es geht um ein Ich als Du. Angesprochen spricht es den Leser an (die Gedichte waren auch zur Grammophoneinspielung gedacht) und verkehrt am Schluss, indem es sich als Adressat statt Sender erweist, den performativen Status des ganzen Textes. „Gedenke zu sterben“, das alte Memento-mori-Wort, hat an einer ähnlichen Verunsicherung teil in der Zeile „Sorge, wenn du zu sterben gedenkst“. Liest man: „Wenn du an deinen Tod denkst“ oder: „Wenn du sterben willst“ oder: „Wenn du dir das Leben zu nehmen planst“? Den eigenen Tod sterben, wie man eine Arbeit tut, ist ein Hauptmotiv der

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Lehrstücke, die Brecht in Notizen als „Sterbelehre“ bezeichnet hat. Wieder bringt der scheinbar so schlichte Satz den Status der Aussage ins Schwanken: Niemand kann in solcher Kühle sagen: „Ich gedenke jetzt zu sterben …“ Vielmehr wird, was Gegenstand einer Feststellung, was „bitteres Gesetz der Welt“ (Der Jasager/Der Neinsager) sein könnte, der Form nach als Willensentscheidung formuliert, das passivisch Erfahrene/ Erlittene umformuliert zum willentlichen Akt. Wie wenn Brecht-Lesen allererst bedeutete, dem jeweiligen performativen Status der Sätze nicht zu trauen: damit zu rechnen, dass eine Aussage als Aufforderung, ein Befehl als Konstatierung, eine Antwort als Frage gelesen werden kann? Denn ebendies ist nichts anderes als der formal manifeste Ausdruck dessen, das das menschliche Subjekt selbst notwendig und systematisch verstellt und unzugänglich ist. Dass es nicht wissen kann, ob sein Tun und Denken einem eigenen Willen entspringt, einer befehlenden Stimme folgt, automatisch geschieht. Der Mensch ist das nicht feststellbare Wesen. In den zitierten Zeilen entsteht ein Spiel von Stehen, Liegen und Graben. Der Tod ist die Fest-Legung, die Grab-Legung eine Aufforderung: Grab-mal und Denk-mal weisen über den Tod hinaus. Dem Pathos der Ewigkeit und Unsterblichkeit antwortet der Brechtsche Text nicht etwa mit dem Pathos einer Verneinung dieser Glaubensartikel, sondern mit einer Übersteigerung des Vergehens zur positiven Qualität: Selbst-Verschwindung, Selbst-Überwindung im Sinne Nietzsches. „steht und verrät“: Bleiben ist Verrat, Treue besteht im Verschwinden. Ermöglicht schon im Tod die Transformation zur Leiche keine weitere Bewegung, so soll dieses peu de localité wenigstens geheim bleiben, auf dass dem Tod, der doch noch möglichen Zuweisung eines letzten Quartiers, ein Schnippchen geschlagen wird. Wenn die Schrift (das ist hier der Name) schon Anzeige ist, so wird nichts Geringeres suggeriert, als dass schon der Name eine Beschuldigung impliziert. Von der Taufe bis zum Grabstein haftet am Zeichen der Individuierung eine offenbar nicht weiter abgeleitete Schuld. Frühgeschichtlich schälte sich mit der Bestattung das Individuum aus der Gattung heraus. Hier aber, wo sogar die Überführung ins Totenreich die Überführung eines Täters meint, erscheint mitten im neusachlichen Ich, das dazu tendiert, in Kollektiv und Namenlosigkeit zu schwinden, ein anderes, leise nur in Konnotationen und Motiven mitgeschrieben. Eine Spielart des Textes wird sichtbar, die in die Lücken Schuld und Schuldigkeit fügt. Insofern der Verschuldung keinerlei Inhalt gegeben wird, entsteht die Identität von Schuld und benanntem Ich. Schuld aber ist eine Struktur von Geben und Nehmen.

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Die Spur der Schuld ist die Einschreibung des Individuums in die Textmaschine, die seiner Auslöschung dient. Das Individuum ist nicht ohne Gesicht, sondern vergehenden Gesichts – Gesicht also noch, das zugleich schon immer sein fading treibt. Daher wird bei Brecht die Schminke ein Pendant zur Schrift: Chiffre für eine radikale Veränderlichkeit, die doch ohne das – verhüllte – Gesicht der Dauer keinen Ort hätte: Mein Gesicht ist geschminkt, gereinigt von Aller Besonderheit, leer gemacht, zu spiegeln Die Gedanken, nunmehr veränderlich wie Stimme und Gestus.17 Schuld ist Schuldigkeit: Etwas wurde genommen, angenommen, eine Rechnung offen gelassen. Und in der Tat: Das heimliche Null-Zentrum des Textes ist der Umstand, dass dieses verdächtige Subjekt, das nur nimmt, von Anfang an etwas angenommen hat – von den Eltern: Wenn du deinen Eltern begegnest, in der Stadt Hamburg oder sonstwo Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten Zeige dein Gesicht nicht, Sondern Verwisch die Spuren!18 Der geschenkte Hut darf nicht, vielleicht „unbewusst“, vergessen werden. Dieser sinnlose, auswechselbare Hut zeigt eine Schuldigkeit an, die das im Gedicht immer nur aufbrechende Subjekt nicht abschüttelt. Gerade weil er Rätselbild bleibt, nur ein Feld von Konnotationen eröffnet (auf der Hut sein, behüten, Schutz, alter Hut …), schreibt der Hut das Beschenktsein selbst als Störung und Lücke in das Weltbild der Flucht ein. Alle Kraft wird darauf verwandt, dem Geben und der Gabe, der Vergangenheit, der vorangegangenen Generation, aber auch allen gebotenen Häusern, Stühlen und Mahlzeiten ihre Macht der Verpflichtung zu nehmen. Die Kälte dieser Freiheit bezahlt mit Entzug und Trennung. Darum bleibt es ein immer anderer, der – in der Klammer sprechend – das Gesagte als ihm Diktiertes anzeigt und so eine absolute Spaltung in die Intention treibt. Die Äußerungsform dieses Ichs ist gleichsam als Leseanleitung in den Text selbst eingeschrieben. Sie entzieht sich dem Charakter des mitteilenden Zeichens:

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Was immer du sagst, sag es nicht zweimal Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn. Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat, Wie soll der zu fassen sein! 19 Verwisch die Spuren! Ist diese Ökonomie der Nichtwiederholung von irgend nachvollziehbarer Vernunft? Empirisch offenbar nicht. Aber beachtet man, dass der performative Status verschoben sein könnte, so stößt man darauf, dass man tatsächlich nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen kann. Die gesetzte und passivisch erfahrene Unmöglichkeit des Halts, der Wiederholung wird als selbst-gesetzt formuliert. Die Lehre erweist sich als Feststellung. Die ganze Strophe thematisiert die Verdopplung: kein Double im Abbild, in der Rede, in der spiegelnden Übereinstimmung mit einem andern und nicht einmal Übereinstimmung mit sich selbst in der Verdopplung. Und hier taucht das Gespenst des Andern wieder auf, denn erst die Iteration ermöglicht überhaupt Bedeutung. Jede Rede, die Sinn machen will, ist Verdopplung, ohne die keine Erfindung wäre. Verneint wird mit der Verdopplung alle Rede von irgend gewissem (= verdoppeltem) Sinn; bejaht wird einzig eine – vielleicht „poetische“ – Rede der Unstabilität, ohne Lehre und Jünger, ohne identisches Subjekt, das ja erst in einer verdoppelnden Spiegelung sich seiner „selbst“ vergewissern könnte. Ohne Unterschrift ist keine Aussage beglaubigt (verdoppelt); das Subjekt hat – verstorben – ein Bild nicht „hinterlassen“ und – genau besehen – „nichts“ gesagt, weil es immer schon ein anderer war.

1991/2016

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik I. Werke in zwanzig Bänden. Bd. 5, Frankfurt a. M. 1969, S. 127. 2 GBA 14, S. 157. 3 Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954, hrsg. v. Herta Ramthun, Frankfurt a. M. 1975, S. 32. 4 „Der 4. Psalm“, aus: GBA 11, S. 33. 5 Benjamin, Walter, Versuche über Brecht, Frankfurt a. M. 1966, 118f. 6 Vgl. Jahnn, Hans Henny: Schriften zur Literatur. Kunst und Politik 1946–1959, hrsg. von Ulrich Bitz und Uwe Schweikert, Hamburg 1991, Erläuterungen der Herausgeber, S. 1302ff. 7 Ebd., S. 322. 8 Ebd., S. 313f. 9 GBA 15, S. 255. 10 Brecht: Tagebücher 1920–1922, S. 205.

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11 GBA 12, S. 312. 12 GBA 14, S. 281. 13 Müller, Heiner: „Ich wünsche mir Brecht in der Peep-Show. Gespräch mit Frank

Raddatz“, aus: Gesammelte Irrtümer 2, hrsg. v. Gregor Edelmann und Renate Ziemer, Frankfurt a. M. 1990, S. 118. Ebd. GBA 13, S. 367. GBA 11, S. 157. Ich bin durch einen schönen Aufsatz von Gerhard Neumann auf die Thematik der Schminke aufmerksam geworden. Zitiert nach: Neumann, Gerhard: „Geschlechterrollen und Autorschaft: Brechts Konzept der lyrischen Konfiguration“, in: Der andere Brecht I. Brecht-Jahrbuch 17, hrsg. v. Hans-Thies Lehmann, Renate Voris u. a., University of Wisconsin Press 1992, S. 117. 18 GBA 11, S. 157. 19 Ebd. 14 15 16 17

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TEXT UND ERFAHRUNG „Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion.“1 (Walter Benjamin)

Vom ertrunkenen Mädchen 1

Als sie ertrunken war und hinunterschwamm Von den Bächen in die größeren Flüsse Schien der Opal des Himmels sehr wundersam Als ob er die Leiche begütigen müsse. 2

Tang und Algen hielten sich an ihr ein So daß sie langsam viel schwerer ward Kühl die Fische schwammen an ihrem Bein Pflanzen und Tiere beschwerten noch ihre letzte Fahrt. 3

Und der Himmel ward abends dunkel wie Rauch Und hielt nachts mit den Sternen das Licht in Schwebe Aber früh war er hell, daß es auch Noch für sie Morgen und Abend gebe. 4

Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar. Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas.2 1

Das Gedicht zeugt stilistisch bereits von einer großen Sicherheit des jungen Autors. Es ist von bestechend „schöner“ Euphonie – persönlich, unverwechselbar im Duktus und zugleich ein typisches Produkt der Zeit. Die sogenannte Wasserleichenpoesie hat noch immer Konjunktur, die sich besonders von K. L. Ammers Rimbaud-Übersetzungen, etwa seinem Gedicht „Ophélie“ nährt. Plausibel ist der Zusammenhang der ex-

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pressionistischen Lyrik des Hässlichen, der Vorliebe für Wasserleichen und dergleichen mit der damals gerade eingeführten Kanalisation in Berlin. Die Expressionisten lassen sich von ihr inspirieren, die Stadt als unheimliches, von Schmutzwasser unterspültes Monstrum der Hässlichkeit und Unmenschlichkeit zu schildern. Gewiss war Brecht auch vertraut mit Baudelaires „Une Charogne“ (Ein Aas), wo ausführlich die Scheußlichkeit des Gestanks, der Verwesung und des Gewürms geschildert wird. Davon freilich unterscheidet sich Brechts Ton radikal, sein Text ist im Strom der Mode, auf die er reagiert, ein Solitär. Wollte man diesen Ton charakterisieren, so müsste man sagen, er ist durch eine Art zarter Abstraktion geprägt. Farben fehlen beinahe ganz, und an den Stellen, wo sie genannt werden, bezeichnen sie gerade die Abwesenheit von Farbe (bleich, dunkel). Auch der weißlich oder bläulich schimmernde Opal passt dazu. Leise, fast gesprächshaft ist der Ton. Die Art von Schock, den Baudelaire noch auslösen mochte, interessiert hier nicht. Das Gedicht wird bestimmt von einem Gestus, der von allem Anfang an Brechts Sprache lenkt: dem des Berichts. Der wird gegeben von einem Eingeweihten, der Autor erscheint als eine Art Mitwisser des Geschehens. Die Sachlichkeit des berichtenden Tons hindert aber nicht, dass etwas wie ein Geheimnis sich dem Leser mitteilt. Die Geschichte beginnt, wo Geschichten zu enden pflegen – mit dem Tod. Er ist das Geheimnis, von dem das Gedicht spricht. Der Sprecher weiß von dem, was danach kommt, zu reden, aber er weiß nichts zu deuten, die Frage nach der Vorgeschichte bleibt ohne Antwort. Was man registriert ist statt einer Erzählung eine Szene, in der bestimmte Motive hervortreten: Übergang und Zerfließen, Pluralisierung und Entpersönlichung. Sie bringen unwiderstehlich mit sich die Vergegenwärtigung einer umfassend vorgestellten Seinsweise der Auflösung aller festen Kontur: poetisch artikulierte Theorie des Schwindens. Aber greifen wir nicht vor. Schon die erste Zeile des Gedichts gibt Gelegenheit zu der Beobachtung, wie allererst formale Elemente vom Inhalt den Sinn erkennen lassen: „Als sie ertrunken war und hinunterschwamm“. Es dominieren die wiederholte Phonemkombination /un/ und der ebenfalls dreifache a-Laut. /un/ ist leise onomatopoetisch auf das Wasser bezogen, besonders durch die Parallele Vokal/Nasal/Verschlusslaut: /unk/, /und/, /unt/. Zugleich ist es grammatisch ein Negationspartikel. Entscheidend für die Konstruktion der Zeile ist das parallelisierende „und“. Dabei ist der lautliche Parallelismus der beiden Zeilenhälften sehr weit getrieben: sie – hin; ertrunken – unter; war – schwamm. (Man bedenke, dass Brecht als Augsburger auch den i-Laut lang, als /ï/ aussprach.)

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Die traurige Konnotation der ersten Zeilenhälfte wird durch das neutrale „hinunterschwamm“ versachlicht, indem beide Vorgänge durch die gleichordnende Konjunktion auf dieselbe Stufe gestellt wurden: Das Ertrinken erscheint so als der – gleichsam nur lästige – notwendige Übergang zum Hinunterschwimmen. Die Tendenz, das Hinabgleiten der Ertrunkenen von der Konnotation des Traurigen zu lösen und es fast als erwünscht erscheinen zu lassen, wird von dem Wort „schwamm“ verstärkt. Nicht nur ist die Bedeutung „Schwamm“ (der sich vollsaugt) objektiv in die zweite Strophe eingezeichnet („So daß sie langsam viel schwerer ward“). Es kann vor allem „schwamm“ aktiv und passiv gelesen werden: (passiv, tot) dahintreiben oder selbst (aktiv, lebend) schwimmen. Der aktiven Bedeutung von „schwamm“, die den Tod als erwünscht erscheinen lässt, korrespondiert die Konnotation des Rauschs in er/trunken, ein Wort, in dem ein Element des traditionellen Ophelia-Motivs, die ekstatische Trunkenheit im Selbstmord aufgehoben ist. Die erste Zeile löst den Gegensatz Leben/ Tod in eine Mischung auf, die nicht von einem Fixpunkt zum anderen führt, sondern in Rausch und Hinabschwimmen einen Übergang zwischen Tod und Leben zeigt. Das taucht das Subjekt in neues Licht: „Als sie/er trunken war […]“. Es wird hier der Leser „Das trunkene Schiff“ mithören, Arthur Rimbauds frühe radikale Formulierung für das Subjekt der poetischen Sprache der Moderne, das von sich sagt: „Et dès lors je me suis baigné dans le Poème De la mer […]“. Zugleich wird eine Anspielung auf die Differenz der Geschlechter lesbar. Als die das Psychische prägende Erfahrung der Differenz stellt die Geschlechtsidentität die Urform aller Identität überhaupt dar. Insofern das Subjekt des Satzes hier nur Pro-Nomen ist – der Name der Ertrunkenen fehlt – rückt das „sie“ in einen Kontext, in dem die sichere Identität noch auf andere Weise aufgelöst erscheint: Im Titel ist von einem Mädchen die Rede. Darauf könnte streng genommen nur ein „es“ folgen. Aber so viel liegt an der von Ambiguität gezeichneten Form „sie“, dass der Text nicht nur diese Verschiebung, sondern sogar eine Unlogik in Kauf nimmt, um sie zu erhalten: Syntaktisch hat „sie“ als Referenten gar nicht das im Titel genannte Mädchen, sondern die Leiche in Zeile vier. Die aber kann nach simpler Logik nicht noch ertrunken sein. Mithin ist „sie“ auf das Mädchen (es) bezogen – und syntaktisch doch nicht, auf die Leiche (sie) bezogen – und semantisch doch nicht, mit „er“ verknüpft, aber nur auf der phonetischen Ebene. Nicht nur sind damit alle grammatischen Geschlechter (sie/er/es) versammelt. Zugleich ergibt sich, dass als „Hauptperson“ im Gedicht ein Pronomen fungiert, das die Repräsentation eines Subjekts übernimmt, das es grammatisch gar nicht gibt.

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Löst die erste Zeile durch eine Reihe grammatischer, phonetischer und semantischer Besonderheiten die Identität ihres Gegenstandes auf, so führt der Text dieses Spiel um „sie“ in der zweiten Strophe fort. Tang und Algen hielten sich an ihr ein So daß sie langsam viel schwerer ward Kühl die Fische schwammen an ihrem Bein Pflanzen und Tiere beschwerten noch ihre letzte Fahrt Hier steht „sie“ lautlich zunächst in Beziehung zu „viel“: „So daß sie langsam viel schwerer ward“. Insgesamt dominieren die Formen ihr, ihrem, ihre, die durch Assonanz mit „Tiere“ verknüpft sind. Diese Assonanzen binden die Pronomina an einen Plural (Tiere) und an das „viele“ evozierende viel. Auch in der dritten Strophe wird, wieder auf andere Weise, ein Bezug des „sie“ auf die Pluralform hergestellt: „[…] daß es auch / Noch für sie Morgen und Abend gebe“. Das Pronomen scheint sich hier zwar unmittelbar auf das Mädchen, die Leiche, zu beziehen, steht aber syntaktisch auch für den Plural Sterne: Und der Himmel ward abends dunkel wie Rauch Und hielt nachts mit den Sternen das Licht in Schwebe Aber früh war er hell, daß es auch Noch für sie Morgen und Abend gebe. Auch in den letzten vier Zeilen gibt es eine analoge Konstruktion. Zwar ist zunächst das „sie“ dasjenige, das auch in „ihr Leib“ benannt ist: „Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war / Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß“. Man kann indessen das Pronomen auch als antizipiertes auffassen und auf die folgende Reihung beziehen. Gott vergaß „sie“, nämlich: Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar. 2

So verfolgt das Sprachspiel des ganzen Gedichts die Tendenz, die Identität der „Einen“ zu pluralisieren. Das Subjekt erscheint nicht als eines oder als viele, sondern als beides oder vielmehr: Singular und Plural, Individuum und Menge verschwimmen ineinander. Phonetische, syntaktische, semantische Elemente wirken zusammen, um einen Prozess der Auflösung zu (be-)schreiben, in dem der Gegenstand – wir ergänzen: jeder Gegenstand als nur in einer Bewegung des Übergangs oder Untergangs begriffen erscheint.

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In den ersten Zeilen nennt das Gedicht jenes Übergehen konkreter beim Namen: „Als sie ertrunken war und hinunterschwamm / Von den Bächen in die größeren Flüsse“. Der Ort der Bewegung wird ebenfalls nicht positiv fixiert, ist vielmehr selbst nur Fließen und Übergang, der in der Form des Komparativs („größeren“) erscheint. Der Durchgang vom Kleineren zum Größeren stellt nur eine Steigerung dar, dessen „Ziel“ (das Meer) kaum zufällig ungenannt bleibt, wäre es doch assoziiert mit dem Ende des Strömens. Die Fahrt ist eine Fahrt hinunter. Und sie ist eine von etwas fort (den Bächen) zu etwas anderem, doch Verwandtem hin (den Flüssen). Aber dieses ist selbst kein Zielpunkt, kein Telos, vielmehr selbst Fluss. „Mir ist schon so viel hinuntergeschwommen“, heißt es in einem frühen Gedicht von Brecht3, um einen Verlust zu bezeichnen. Bemerkenswert, wie schon in Gedichten des ganz frühen Brecht 1919/20 der Verlust, das „Hinabgehen“ als positive Erfahrung artikuliert wird: Wenn alles verbraucht ist und vieles verkauft nur nicht mehr ums übrige abgerauft! Ach, geh doch gemütlich und lässig hinab, was willst du verlangen als daß die nachsehen, sagen: er ist wohl gerne gegangen.4 Man spricht auch mit einer alten Metapher von Fellen, die einem davonschwimmen. Dieses Bedeutungsfeld kommt dem Gedicht zugute. Es ermöglicht ihm, eine Bewegung des Durchgangs und der Auflösung von Identität mit der Idee eines ständigen Verlustes zu verknüpfen, die hier, wie so oft bei Brecht, in die Figur des Vergessens eingeschrieben ist. Tragen wir noch einen Kommentar zu dem „Opal des Himmels“ nach. Er konnotiert nicht allein immanent ein schillerndes weißliches oder bläuliches Farbenspiel des Himmels, sondern womöglich eine Anspielung auf Rimbauds Opheliagedicht, in dem das lyrische Ich die Tote mit den Worten anspricht „O pâle Ophélia!“5). Die letzte Zeile der ersten Strophe suggeriert, dieser Himmel, vielleicht der der Transzendenz, fühle sich gleichsam gedrängt, durch ein Wunder (der Auferstehung, der Verewigung durch Poesie?) etwas an der Toten gutzumachen. (Nur an dieser einen Stelle tritt damit, mehr als dezent, der Gedanke auf, die Tote möchte vielleicht Zorn über ihr Schicksal fühlen.) In der zweiten Strophe markiert die merkwürdige Wendung „hielten sich an ihr ein“ eine Mischung aus oder ein Zwischen von Verschmelzung und Äußerlichbleiben, Last und Vertrautheit, die wiederum nicht Identität wird: „Tang und Algen hielten sich an ihr ein / So daß sie langsam viel schwerer ward“. Dass wieder ein Komparativ Verwendung fin-

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det, entspricht der Tendenz, alles, was ist, in Übergangsstufen aufzulösen.6 Und das Spiel, in dem alle Punktualität, alle Identität aufgelöst wird, setzt sich in den letzten vier Zeilen fort. Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar. Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas. Tatsächlich verformen sich die Gesichtszüge Ertrunkener zuerst derart, dass sie nicht mehr erkennbar sind – Signum, dass dies ein Individuum war, dessen Unteilbarkeit das Element nicht respektierte. Daher wird das Vergehen des Gesichts als erste Stufe des Vergessens genannt, die Hände als das Spezifische der menschlichen Gattung, das sie von den Tieren unterscheidet, folgen, ganz zuletzt erst werden die Haare aus dem Gedächtnis schwinden. Sie haben auch die Tiere. Zugleich ist im Bild der Haare noch eine andere Wendung geglückt: Sie verbinden sich unmittelbar mit den Wellen des Wassers. Nur scheinbar weist die Wendung „geschah es“ auf ein punktuelles Ereignis, einen Punkt im Strom der Zeit. Es wird gefolgt von einem „(sehr langsam)“, das, noch mehr als das folgende „allmählich“, den Anspruch, ein Geschehnis zu fixieren, gerade desavouiert. Der Augenblick wird wieder verwandelt in fließende, strömende Zeit. Zusätzlich bringt diese Wendung ein neues Motiv in das Sprachspiel, klingt es doch, besonders durch seine Separation in Klammern, wie eine musikalische Anweisung: lento di molto. Eine Art Musik stellt nun zwar das Gedicht vor, es fehlt ihm jedoch ganz das Trauermusikhafte, wie es Rimbauds „Ophélie“ kennzeichnete, in dem Musik direkt erwähnt wird. Es ließe sich zeigen, dass der Übersetzer der „Ophélie“, K. L. Ammer, im Zusammenhang mit Brecht durch dessen Adaption Ammerscher Villon-Übersetzungen für die Dreigroschenoper bekannt, gerade die Widersprüche der Rimbaud-Ophelia getilgt und die komplexe Auseinandersetzung Rimbauds mit der lyrischen Sphäre und Tradition in ein lento des schönen Klangs verwandelt hat. So könnte dieser Ausdruck eine Anspielung auf Karl Klammer sein, und Brecht hat das Wort nach einer Vermutung Peter Szondis vielleicht im Hinblick auf diesen Übersetzer in „Klammer“ gesetzt. Die Bewegung der „passage“ ist also entscheidend für die Erscheinung des Subjekts (nicht nur im grammatischen Sinn) bei Brecht. Wenn schon in der ersten Strophe die Imagerie der Vielzahl sich verzweigender Flüsse und Bäche dazu beiträgt, die Präsenz der „sie“ zu verwischen, die sich vielmehr in dieser Vielzahl von Bächen und Flüssen zu verteilen

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scheint, so stellt die Erwähnung von Tang und Algen einen weiteren inhaltlichen Hinweis dar. Sie erscheinen nicht nur als Elemente der Natur, mit denen das ertrunkene Mädchen (fast) eins wird. Vielmehr sind es ganz besondere Pflanzen, Halborganismen nämlich, die auf der Grenze von amorpher und lebendiger Natur angesiedelt sind, einen Übergang dazwischen bilden. Von hier führt der Weg wieder zur Frage des Subjekts und seiner fehlenden Einheit, und zwar über den Zauberberg, an dem Thomas Mann in dieser Zeit (1919 bis 1924) schrieb. Auch dort wird von Wasserpflanzen gesprochen: Es gab Lockerungen dieser zum hohen Ich vereinigten organischen Pluralität, Fälle, in denen die Vielzahl der Unterindividuen nur auf leichte und zweifelhafte Art zur höheren Lebenseinheit zusammengefaßt war. Der Studierende grübelte über die Erscheinung der Zellkolonien, er vernahm von Halborganismen, Algen, deren einzelne Zellen, nur in einen Mantel von Gallerte eingehüllt, oft weit voneinander lagen, mehrzellige Bildungen immerhin, die aber, zur Rede gestellt, nicht zu sagen gewußt hätten, ob sie als Siedelung einzelliger Individuen oder als Einheitswesen gewürdigt werden wollten und in ihrer Selbstaussage zwischen dem Ich und dem Wir wunderlich geschwankt haben würden.7 Genau um diese Grenzverwischung zwischen Einzelnem und Menge ist es zu tun, um den Übergang von der Individuation der „einen“ zur schwankenden Einheit der Individuen – antizipiert sie doch im lyrischen Bild die vielleicht für den politischen Dichter Brecht ausschlaggebende Bestimmung des Subjekts. Während die Erscheinung Ophelias bei Rimbaud fortdauern wird8, entschwindet sie bei Brecht, tritt zurück in das Element, aus dem sie geboren wurde, in die Natur, die zugleich das Reich der Namenlosigkeit ist. Es bleibt nichts Festes, nur der Übergang: die Bewegung ohne Ziel, der Fluss, das Wasser.9 3

Das Gedicht „Vom ertrunkenen Mädchen“ lässt sich als große Metapher auf das Vergessen lesen. Wenn für Dichter wie Rainer Maria Rilke, Stefan George oder die Expressionisten die Zeitlichkeit gewöhnlich nichts als Verlust repräsentiert und das Vergessen nur die Affirmation der zerstörenden Macht der Zeit, so steht das Motiv bei Brecht in einem überraschend anderen Kontext: Vergessen gewinnt ein Moment des Produktiven, und umgekehrt erscheint die Produktion selbst unter dem

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Stern des Vergehens. Vergessen wird im Text mit dem Verfaulen in Zusammenhang gebracht. Der Prozess der Verwesung ist produktiv, was schon impliziert ist in der leisen Suggestion einer Schwangerschaft („So daß sie langsam viel schwerer ward“). Auf die Tatsache, dass Verfaulen nicht nur ein Beenden darstellt, sondern ein Lebensprozess ist, ja aus Fäulnis selbst Leben entsteht, stieß bereits die Biologie des 18. Jahrhunderts. Von der modernen Naturwissenschaft wurde die Verwesung als Produktion erkannt, die Betrachtung der Fäulnis als Durchgangsstadium zu neuem Leben war ihr geläufig. So wurde die Biologie durch ihre Aufdeckung der spezifischen Strukturen des organischen Lebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewusstseinsprägend, wie noch einmal eine Stelle aus Thomas Manns Zauberberg belegen mag. Hans Castorp unterhält sich mit dem Arzt Behrens: „Dann wird die Sache weitläufig. Man fließt auseinander, sozusagen. Bedenken Sie all das Wasser! Und die anderen Ingredienzien sind ohne Leben ja wenig haltbar, sie werden durch die Fäulnis in simplere Verbindungen zerlegt, in anorganische.“ „Fäulnis, Verwesung“, sagte Hans Castorp, „das ist doch Verbrennung, Verbindung mit Sauerstoff, soviel ich weiß.“ „Auffallend richtig. Oxydation.“ „Und Leben?“ „Auch. Auch, Jüngling. Auch Oxydation. Leben ist hauptsächlich auch bloß Sauerstoffbrand des Zelleneiweiß, da kommt die schöne tierische Wärme her, von der man manchmal zu viel hat. Tja, Leben ist Sterben, da gibt es nicht viel zu beschönigen – une déstruction organique, wie irgendein Franzos es in seiner angeborenen Leichtfertigkeit mal genannt hat. Es riecht auch danach, das Leben. Wenn es uns anders vorkommt, so ist unser Urteil bestochen.“10 In diesem Passus ist jene Auffassung vom Prozess der Fäulnis wiederzuerkennen, die sich auch in Brechts Gedicht zeigt. Das Ende ist nicht eigentlich Ende, sondern bedeutet zugleich Übergang zu neuem Leben. Das Vergessen folgt einerseits auf das Verfaulen: „Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war / Geschah es […], daß Gott sie allmählich vergaß“. Andererseits aber geht es ihm auch voran. Gott vergisst: „Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt ihr Haar. / Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas.“ So wird mit dieser Bewegung selbst eine – wiederum nicht vollständige, sondern ineinander übergehende, dennoch differenzierte – Verschmelzung von Vergessen und Verfaulen hergestellt. Die geistige Bewe-

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gung des Vergessens und die physische des Ertrinkens können weder als ganz logisch aufeinander folgend noch als gleichzeitig oder auch nur als sich wechselseitig spiegelnd verstanden werden. Sie sind vielmehr versetzte, verschobene Erscheinungsweisen einer dritten Bewegung, die beide umfasst. Realisiert wird diese dritte Bewegung aber allein von den Ambiguitäten des sprachlichen Materials, von der Dynamik des Textes, die aus sich selbst die Aufhebung aller scharfen Grenzen produziert. Es mutet Brechts Motiv des Übergangs sonderbar verwandt an, wie Walther Rathenau in seiner Betrachtung über die damals wie heute oft berufene „Mechanisierung der Welt“ diese zu beschreiben sucht: Von allen Teilen der Erdoberfläche strömen die Urprodukte mineralischer und organischer Abkunft auf eisernen oder wässernen Wegen in die Sammelbecken der Städte und Häfen. Von dort verzweigen sie sich nach den Verarbeitungsstätten, wo sie in vorbestimmter Mischung eintreffen, um chemisch oder mechanisch umgestaltet als Halbprodukte einen zweiten Kreislauf zu beginnen. Von neuem getrennt und abermals gemischt und verarbeitet erscheinen sie als Verbrauchsgüter, die zum dritten Mal geordnet in den Lagern der Großhändler sich vereinigen, bevor sie die weitverzweigten Wege zum Kleinhändler und endlich zum Verbraucher finden, der sie in Abfallstoffe verwandelt und in den Gestaltungsprozeß zurücksendet.11 In dieser Beschreibung des ökonomischen Kreislaufs wird ein Sensorium erkennbar, das beherrscht ist von der Wahrnehmung der Durchgangshaftigkeit jeder ökonomisch bestimmbaren Phase und das den teleologischen Aspekt, das Produkt, über der Zirkulation fast zu vergessen scheint. Manche organizistischen Metaphern Rathenaus machen zugleich verständlich, warum Brechts analytische Schreibweise die Realität der Industrie, der Mechanisierung, der Städte in Natur- und Landschaftsmetaphern vergegenständlichen konnte: Dem Blutumlauf vergleichbar ergießt sich der Güterstrom durch das Netz seiner Arterien und Adern. In jedem Augenblick des Tages und der Nacht donnern die Schienen, rauschen die Schiffsschrauben, sausen die Schwungräder und dampfen die Retorten, um die Last dieses Umlaufs zu erneuern und zu bewegen.12 Es ist dieses Netz von Beziehungen, Wegen, Übergängen, Bahnen und Bahnungen, das die Phantasie der Zeitgenossen anregte – mehr noch als die gesteigerten Produktionsmöglichkeiten selbst. Wie der organische

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Körper wird die Produktion als ein System des beständigen Durchgangs erfahren. Alles Sein erscheint aufgelöst in Übergangsstufen. Auch in der Produktion selbst herrscht ein Zirkulieren, eine ständige Verschiebung, Zerstückelung usw. von Identitäten, die selbst zuvor schon nur Halbidentitäten waren. Der Dominanz der Zirkulation entspricht, dass die großen technischen Neuerungen jener Jahre, das Automobil und das Flugzeug, ebenso der Ausbau der Eisenbahnen, selbst Zirkulationselemente waren, in naher Verbindung zur Zirkulation standen. Brechts Schreiben registriert diese Konstitution der gesellschaftlichen Realität. Jedoch tut es dies mimetisch im Sinne Adornos, nicht abbildend: Das Dasein wird als ständiger Übergang, die Person als Halbprodukt, ständig in der Zirkulation eines Sinns seiner Existenz artikuliert, zugleich ständig in einer Bewegung von sich selbst, von der „eigenen“ Identität fort, ohne dass an deren Stelle eine neue andere Identität träte. Es kann nicht davon die Rede sein, dass von Brecht ein „Erlebnis“ im Gedicht verarbeitet und reflektiert würde, das logisch vor seiner sprachlichen Realisierung – unabhängig von ihr – bestünde. Vielmehr muss die besondere Schreibweise als die Art und Weise des hier artikulierten Erlebens selbst infiltrierend begriffen werden. Dies ist der Sachverhalt, um den es geht: Die Lyrik des frühen Brecht bringt am menschlichen Subjekt, seinem Raum, seiner Zeit, ja an allen Dingen eine Daseinsweise des Verschwindens und Vergehens zur Darstellung, alle Wirklichkeit im Stand einer Überganghaftigkeit. Dies – und nicht so sehr die dargestellten Gegenstände: Wasserleichen, vergehende Städte, vergessene Liebe usw. – macht den eigentlichen „Gegenstand“ der Texte aus. Deren Sprache bestimmt die Daseinsweise oder – mit Marx zu sprechen – die „Existenzweise“ der Gegenstände. Darum kann eine Notiz aus dem Jahre 1921 Brechts Sprache in einer Weise charakterisieren, die auf das Motiv unseres Gedichts ganz ebenso zuträfe: Man muß loskommen von der großen Geste des Hinschmeißens einer Idee, des „Nochnicht-Fertigen“, und sollte hinkommen zu dem Hinschmeißen des Kunstwerkes, der gestalteten Idee, der größeren Geste des „Mehr-als-Fertigen“. Schon wieder abbröckelnd, schon wieder verblassend, hingehend, lieblich ausweichend, leicht gefügt, nicht sorgfältigst gesammelt, gepreßt, erschwitzt, versichert!13 Brecht hat später immer wieder am Menschen das Unfeste, Vorläufige und nicht Auszudefinierende hervorgehoben. Diese Auffassung war bereits bei ihm als Sensorium der Sprache ausgebildet. Es bedurfte nicht des kon-

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zeptionell Ausgedachten, um das Subjekt als das, was man nicht ausrechnen kann, und als dasjenige, was in jedem Moment anfangen kann, weil es fortwährend endet, denken zu können. So bereitet ihn das Erscheinen des Kollektivs kein Erschrecken und vermochte er andererseits mit unvergleichlicher Hartnäckigkeit das einzelne Ich in Szene zu setzen, das dieses Kollektiv bedroht. Die Übergangshaftigkeit ist kein reines lyrisches Spiel, sondern philosophische, poetische und politische Kategorie. 4

Man hat von Brechts Lyrik gesagt, dass sie fast stets „Gelegenheitsdichtung“ sei, und in der Tat gibt es einen biographischen Kontext auch für dieses Gedicht. Am 1. Mai 1920 starb nach langer Krankheit Brechts Mutter. Nach Hanns Otto Münsterers Erinnerung entstand das zu den „Psalmen“ gehörige Gedicht „Lied von meiner Mutter“ nur einen Tag später. Es beginnt mit den Worten: „Ich erinnere mich ihres Gesichts nicht mehr, wie es war, als sie noch nicht Schmerzen hatte. Sie strich müd die schwarzen Haare aus der Stirn, die mager war, die Hand dabei sehe ich noch.“14 Die Parallele liegt auf der Hand zwischen dieser Verbindung des Motivs des Vergessens mit der Reihe Gesicht, Hand und Haar und der letzten Strophe des Gedichts „Vom ertrunkenen Mädchen“: „Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß / Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar.“ Man braucht unauffälligere Parallelen im „Lied von meiner Mutter“ wie die Formulierung „man fand einen Kindesleib“ (Mädchen) und das Sterben „auf den Abend“ („Und der Himmel ward abends dunkel wie Rauch“) nicht heranzuziehen, um in der Ballade vom ertrunkenen Mädchen eine Reflexion über den Tod von Brechts Mutter zu finden. Zugleich steht allerdings fest, dass sowohl im Sinne des OpheliaMotivs als auch in Hinblick auf die sonstige Produktion Brechts in jenen Jahren das Motiv immer auch auf die Geliebte verweist, die – schwanger, verstoßen, wahnsinnig – den Tod im Wasser sucht. In entsprechender Bedeutung wurde das Gedicht in die dritte Fassung des Stücks Baal eingefügt. Man mag aber auch zum Beispiel an „Der siebente Psalm“ oder an das Gedicht „Von den verführten Mädchen“ denken. Dort wird so deutlich das Schlagwort von den „Wasserleichen“ benutzt, dass man geneigt ist, an eine poetologische Selbstreflexion zu denken: Zu den seichten, braunversumpften Teichen Wenn ich alt bin, führt mich der Teufel hinab. Und er zeigt mir die Reste der Wasserleichen Die ich auf meinem Gewissen hab.15

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Der Dichter Brecht hat so viel Wasserleichenpoesie auf dem Gewissen, dass ihn der Teufel im Alter dafür zur Rechenschaft zieht. Der Hinweis auf diese verschiedenen „Bedeutungen“ des Motivs heißt jedoch, noch einmal, für die Analyse unseres Gedichts: Es kann von einem bestimmten Erlebnis, einem eindeutig fixierbaren Inhalt, den das Gedicht widerspiegelte, nicht die Rede sein. Für die Konzeption von Subjektivität, wie Brechts Text sie vorstellt, ist jedoch von Belang, dass die Verknüpfung Geliebte/Mutter eine von den durch die Psychoanalyse entdeckten Ambiguitäten darstellt, die das Objekt der Libido durchziehen. Wie jede psychische Repräsentanz mehrfach determiniert ist, so ist die Geliebte in jeweils besonderer Art und Weise Repräsentation der MutterImago.16 Worauf es hier ankommt, ist die Einsicht in die nicht zufällige, sondern konstitutive Überdeterminiertheit, also Vieldeutigkeit des Liebesobjekts. Im Prosagedicht „Von He“, das ebenfalls 1920 entstand, wird unmittelbar der Tod der Geliebten mit dem Tod der Mutter in einer Bildlichkeit der Auflösung und des „Hingehens“ verbunden: „Hört, Freunde, ich singe euch das Lied von He, der Dunkelhäutigen, meiner Geliebten über sechzehn Monate bis zu ihrer Auflösung.“ Der Schluss hingegen spielt durch die Zeitangabe auf den Tod der Mutter an: „Darum starb sie im fünften Monat des Jahres 20, eines schnellen Todes, heimlich, als niemand hinsah, und ging hin wie eine Wolke, von der es heißt: sie war nie gewesen.“ 17 Eine Bestätigung für die Verschmelzung von Mutter und Geliebter findet sich in Baal. Hier erscheint als vom Helden Verführte eine Sophie Dechant. In einer Szene will Baals Mutter ihn zu ordentlichem Lebenswandel veranlassen. Im ganzen Stück tritt Baal ihr mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und schlechtem Gewissen gegenüber. Das Motiv des schlechten Gewissens findet sich wiederum in dem oben zitierten „Lied von meiner Mutter“ angedeutet. Dort heißt es: 5 Viele gehen von uns, ohne daß wir sie halten. Wir sagten ihnen alles, es gab nichts mehr zwischen ihnen und uns, unsere Gesichter wurden hart beim Abschied. Aber das Wichtige haben wir nicht gesagt, sondern gespart am Notwendigen. 6 Oh warum sagen wir das Wichtige nicht, es wäre so leicht und wir werden verdammt darum. Leichte Worte waren es, dicht hinter den Zähnen, waren herausgefallen beim Lachen und wir ersticken daran in unsrem Halse.18

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In der erwähnten Szene hat Baal Sophie auf sein Zimmer gebracht, als die Mutter die Zärtlichkeiten unterbricht: Die Mutter Baals ist eingetreten. Steht im Finstern: Baal! Baal: Rufst du mir? Hält ein. Geht vorsichtig zur Mutter hin: Du, Mutter? … Was willst du? Mutter: Du bist nicht allein. Es ist jemand bei dir. Ich weiß, du hast immer die Menschen bei dir.19 Aufschlussreich ist dann die Wendung, mit der Baal die Mutter hinauskomplimentiert: Baal nimmt sie in die Arme: Sieh mal, Mutter! Ich bin’n wüster Bursche. Das ist so. Ich habe dich lieb. Aber du mußt jetzt heimgehen. Er führt sie langsam hinaus. Das wird meine Frau. Ich hab dich lieb. Mit ihr ab.20 Um die ganze Bedeutung des Motivs zu verstehen, muss man sich erinnern, dass Brechts Mutter keinen anderen Vornamen trug als Sophie, den Namen, den Brecht hier der Geliebten gibt. Dechant aber heißt die Geliebte, weil das Begehren nach der Frau von der Imago der Mutter so wenig zu trennen ist wie der doppelte Gesang im Kirchenchor, der Dechant (dis-cantus), von der Hauptstimme. 5

Das Gedicht aus der ersten Hälfte des Jahres 1920 scheint von jeder Erfahrung politischer Ereignisse unberührt geblieben zu sein. Mit den meisten anderen Gedichten Brechts aus dieser Zeit hat es gemein, dass seine Themen aus dem Bereich des Privaten bzw. einer eigenen literarischen Welt stammen oder zu stammen scheinen. Das Interesse dieser Poesie wird mehr von Rimbauds Ophelia beansprucht als von der gesellschaftlichen Realität der Klassenkämpfe der Nachkriegszeit. Es ist ein Text über Geliebte, über Sexualität und nicht zuletzt ein Gedicht, das vom Tod der Mutter spricht. Kann man aber denken, dass die private und literarische Sphäre den einzigen Vermittlungszusammenhang zwischen poetischer Produktion und der Erfahrung gesellschaftlicher Realität geliefert haben sollte? Ein Blick auf die politische Szenerie des Jahres 1920 macht klar: Es war ein Moment, in dem die Niederlage der Revolution, das Wiedererstarken der Reaktion offenkundig geworden, die Hoffnungen auf eine Revolution in Deutschland erlahmten. Tatsächlich stellt sich das Gedicht entgegen dem ersten Anschein auf verborgene Weise doch in diesen Kontext.

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Die ersten Monate des Jahres 1920 bilden eine Kette heftiger Kämpfe. In Deutschland tobt nach der Revolution im Gefolge des Weltkriegs der Bürgerkrieg. Die Rote Ruhrarmee hatte am 23. März 1920 ihre größte Entfaltung erreicht, als sie praktisch das ganze Gebiet „zwischen den Städten Wesel, Ahlen, Iserlohn, Remscheid und Düsseldorf“ beherrschte.21 Die „weißen“ Truppen, Reichswehr und Polizei, schlugen erst Anfang April die inzwischen auf etwa 10 000 Mann geschrumpfte Rote Armee vernichtend. Der folgende weiße Terror war auch nach kommunistischer Neigungen ganz unverdächtigen Quellen furchtbar.22 Noch Mitte März tobten auch in Mitteldeutschland, vor allem in Thüringen, heftige Kämpfe. Begonnen hatten sie mit dem Kapp-Putsch am 13. März 1920. Zu dieser Zeit hielt sich Brecht gerade in Berlin auf, reiste aber noch am selben Tag ab.23 Dies alles musste für ihn die Vertiefung und Erweiterung einer anderen Erfahrung vor der eigenen Haustür sein: die der bayerischen Räterepublik und ihrer Niederwerfung. Nicht nur, dass Brecht in der ersten Januarhälfte 1919 Wahlversammlungen der USPD besuchte und an seinem Stück „Spartakus“, später umbenannt in Trommeln in der Nacht, schrieb. Wahrscheinlich hat er im November 1918 als Lazarettrat dem Augsburger Arbeiter- und Soldatenrat angehört.24 Auch den großen Trauerzug für den ermordeten Kurt Eisner erlebt Brecht in München mit.25 Aber unter allen politischen Opfern dieser Jahre ging Brecht der Tod Rosa Luxemburgs besonders nahe. Seine Verehrung für sie kommt noch in einer späten Grabschrift für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Eingedenken an ihre Ermordung zum Ausdruck: Hier liegt Karl Liebknecht Der Kämpfer gegen den Krieg Als er erschlagen wurde Stand unsere Stadt noch. Hier liegt begraben Rosa Luxemburg Eine Jüdin aus Polen Vorkämpferin deutscher Arbeiter Getötet im Auftrag Deutscher Unterdrücker. Unterdrückte Begrabt eure Zwietracht!26 Aus den 1920er Jahren gibt es eine „Grabschrift 1919“:

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Die rote Rosa nun auch verschwand. Wo sie liegt, ist unbekannt Weil sie den Armen die Wahrheit gesagt Haben die Reichen sie aus der Welt gejagt.27 Weiterhin berichtet Völker, dass Brecht am Tag nach Rosa Luxemburgs Ermordung Versammlungen in München besuchte.28 Warum legen wir auf diese Tatsachen wert? Weil das „Gedicht vom ertrunkenen Mädchen“ eine verborgene Hommage an Rosa Luxemburg enthält. Nicht, dass der Tod im Wasser, den sie fand, das unmittelbare Vorbild für Brechts Gedicht gewesen wäre. Wir wissen, in welch vielfältiger Weise alle seine Motive in immer neuen Konstellationen und Varianten auftauchen, sich stets neue Konfigurationen erzwingen. Es gibt aber im BertoltBrecht-Archiv ein Typoskript, auf dem der Titel für das Gedicht lautet: „Vom erschlagenen Mädchen“. Dies ist weder aus Brechts Shakespearenoch aus seiner Rimbaudrezeption oder auch in Hinblick auf das Motiv der Geliebten oder auf den Tod der Mutter einleuchtend. Dagegen weist eine Erinnerung des Jugendfreunds Münsterer auf die Verknüpfung des Gedichts mit dem Tod Rosa Luxemburgs: Am 27. Januar [1919] sind wir in einer Protestversammlung, in der die Brehm spricht und pathetische Verse zu Ehren Rosa Luxemburgs vorgetragen werden. Brecht hat es realer und düsterer gesehen. In seiner Ballade von der roten Rosa, die wahrscheinlich nicht sehr viel später entstand und mit der bitteren Erkenntnis beginnt: Die roten Fahnen der Revolutionen Sind längst von den Dächern herabgeweht schwimmt sie als einzige Befreite eines erfolglosen Kampfes die Flüsse abwärts.29 Nachdem es im Januar 1919 zuerst geheißen hatte, eine Menge Unbekannter habe die Leiche am Landwehrkanal verschleppt, eine Lüge, die von Anfang an nicht sehr glaubwürdig klang, brachten die Zeitungen, vor allem die Rote Fahne, und dann der Prozess im Frühjahr 1919 allen Versuchen der Verschleierung zum Trotz doch das Geschehen an den Tag. Zunächst wurde Rosa Luxemburg vor dem Edenhotel wahrscheinlich schon durch mehrere Hiebe auf den Kopf mit einem Gewehrkolben erschlagen. Die so vielleicht schon Ermordete erhielt in dem Wagen, mit dem ihre Mörder sie fortschleppten, noch einmal einen Schuss in den Kopf, und schließlich wurde der leblose Körper in den Landwehrkanal geworfen. Der Zeuge Rusch sagte im Prozess aus,

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wie er den Vorgang beobachtet und das Auto mit den Tätern davonfahren sah. Wenige Augenblicke später kam Herr Hauptmann Weller. Ich meldete ihm. E: Früher haben Sie gesagt, Sie konnten sehen, daß es ein menschlicher Körper war. Z: Nein, ich muß mich dahin berichtigen, das kann ich nicht ganz bestimmt behaupten. Es war doch so dunkel, daß ich das nicht ganz bestimmt behaupten kann. E: Bitte weiter! Z: Ich meldete Herrn Hauptmann Weller: „Eben ist die Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen worden, man kann sie noch schwimmen sehen.“ Der Kanal trug nämlich die Leiche an der Oberfläche, unter der Brücke durch, so daß man sie bequem beobachten konnte, und verschwand. Weiter weiß ich nichts zu bemerken.30 Am 31. Mai 1919 wurde die Leiche von Rosa Luxemburg geborgen. Die Resignation, mit der Brecht die tote Rosa Luxemburg „als einzige Befreite“ beschreiben wollte, spiegelt sich auch in einem Gedicht mit dem Titel „Gesang des Soldaten der roten Armee“, das auf die Niederlage der Roten Armee in Bayern Bezug nimmt: Oft wurde nachts der Himmel rot Sie hielten’s für das Rot der Früh. Dann war es Brand, doch auch das Frührot kam Die Freiheit, Kinder, die kam nie.31 Diese Resignation hat bei Brecht freilich nicht das letzte Wort behalten. 6

Wie die „Grabschrift 1919“ ist also das Gedicht dem Eingedenken gewidmet. Der Tod der Mutter, die Phantasmagorie des Vergehens und der Tod der großen Revolutionärin verbinden sich in einer Mischung aus bewusster und unbewusster Erinnerung. Der Text entsteht in einer bestimmten historischen Konstellation, in der individuelle und allgemeinhistorische Erfahrung sich verbinden. Das Gedicht spricht nicht direkt von ihnen, denn nur verhüllt kann das Geheimnis der Konjunktion solcher Erfahrungen in der Sprache überleben. Und entgegen dem ersten Anschein ist das Gedicht, wie sich gezeigt hat, keineswegs leergefegt von

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den Spuren geschichtlicher Erfahrung. Das gilt auch für seine Szenerie. Wenn die Analyse erweist, dass zwar nicht die Oberfläche, wohl aber die Sprachgestalt des Gedichts und sein assoziatives Umfeld gesättigt sind mit den Spuren gesellschaftlicher Erfahrung, wenn direkte Anspielungen auf Politisches in ihm verborgen sind, dann kann umso befremdlicher das Vorherrschen einer Imagerie der Landschaft anmuten, der scheinbare Rückzug aus der Merkwelt des Städters in die Gefilde der Natur. Brecht selbst hat über das in dieser Zeit entstandene Stück Baal gesagt, es sei ein „Schwanengesang der Landschaft“. „Schwanengesang“ ist jedoch zu lesen als die Ankündigung des Todes, des Endes der Landschaft, während umgekehrt Brecht wenig später Chicago als Landschaft entdeckt: als „Dickicht“. So liegt die Vermutung nahe, dass auch die Landschaft für Brecht ein Filter sein könnte, Stadt und Landschaft nicht so disparat nebeneinander stehen, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Sucht man nach Elementen der Städtewelt in der Naturlandschaft des Gedichts, so steht am Anfang gerade das Element, in dem es sich am klarsten als Nicht-Stadt zu erkennen zu geben scheint, das Bild der Flusslandschaft: „Als sie ertrunken war und hinunterschwamm / Von den Bächen in die größeren Flüsse“. Hier wird eher das Bild eines sich verzweigenden Deltas, ein Netz von Wasserläufen evoziert, einer Pluralität eher als eine linear zu fassende Folge.32 Geläufig sind in der Lyrik der Moderne Metaphern, in denen Straßen und Städte in Vergleich zum Wasser gesetzt werden: Menschenstrom, fließender Verkehr, Häusermeer. Von dieser Bildlichkeit quillt die expressionistische Lyrik über. Doch hier geht es um Spezifischeres. Aus der Tradition des Ophelia-Motivs bei Rimbaud oder Shakespeare ist die Vervielfältigung der Bäche und Flüsse in Brechts Gedicht nicht zu erklären. Diese Erklärung findet sich vielmehr in einem Umstand, den man schon hätte bemerken können, hätte man die Einsicht ernster genommen, wie sehr die Augsburger Zeit Brechts frühe Lyrik prägte. Man muss wissen, dass Augsburg die Stadt mit den meisten Wasserläufen und Kanälen in Deutschland ist. Eine Unmenge kleiner und größerer, reißender und gemächlich fließender Kanäle, ein veritables Kanalnetz, durchzieht die Stadt und verleiht ihr ein sonderbares und einmaliges Gepräge. Das Geräusch ihres Rauschens und Plätscherns verlässt den Besucher der Altstadt Augsburgs an kaum einem Ort. Nun laufen diese Kanäle fast immer parallel zu den Straßen, wie der kleine Kanal, der an Brechts Geburtshaus vorbeifließt, oder auch der Wallgraben in der Nähe der Haindl’schen Siedlung, in der Brechts Eltern wohnten. Man würde vielleicht dennoch zögern, in den Bächen des Gedichts die Kanäle Augsburgs wiederzuerkennen, machte man nicht über die

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Namen dieser Kanäle die überraschende Entdeckung, dass man sie in Augsburg merkwürdigerweise nicht Kanal nennt, sondern fast sämtlich nach dem benannt hat, woraus sie einmal entstanden bzw. geschaffen wurden: nach Bächen. Sie tragen bzw. trugen zu Beginn des Jahrhunderts Namen wie: Senkelbach, Floßbach, Mühlbach, Lochbach, Hanreibach usw. Wenig fehlte und man wäre geneigt, die Flüsse auf die beiden Flüsse Lech und Werrach zu beziehen. Es kommt aber auf solche Determinierung nicht an. Vielmehr dient die Einsicht, dass gerade Augsburg eine Stadt ist, in deren Straßennetz die Wasserlandschaft gleichsam eingeschrieben ist, als Hinweis darauf, dass für Brecht die Landschaftsimagerie zum Abbild der Stadt werden konnte. Diese Erkenntnis führt auf die Frage, ob nicht auch Brechts spezifische Weise, die sich entwickelnde Großstadt zu rezipieren, von der hier herausgearbeiteten Sprachstruktur bestimmt ist. Wenn die Beobachtung stimmt, dass in die Bildlichkeit Brechts die Imago der Stadt in noch so zarter Weise eingeschrieben ist, so führt ein anderes Element des Gedichts hier weiter, der Vergleich in Zeile neun: „Und der Himmel ward abends dunkel wie Rauch“. Die Feststellung, dass semantische und phonetische Ebene des Textes, seine Motivik wie seine sprachliche Struktur, darauf zielen, eine Daseinsweise des Transitorischen zu erzielen, lässt sich am Bild des Rauchs erkennen, dessen sich Brecht ständig bediente. In ihm überschneiden sich die Bedeutung der Vergänglichkeit, der Hinweis auf den schwarzen Rauch des Opiums mit einem dritten Element, das in dem folgenden kleinen Gedicht über die Städte erkennbar wird. Über die Städte

Unter ihnen sind Gossen In ihnen ist nichts, und über ihnen ist Rauch. Wir waren drinnen. Wir haben nichts genossen. Wir vergingen rasch. Und langsam vergehen sie auch.33 So schreibt sich in die Landschaft des Gedichts der Rauch der Industrieanlagen ein, in einer Weise jedoch, welche die Stadt in ihrer Hinfälligkeit vorstellt. In der Kunst jener Jahre taucht das Bild des Rauchs immer wieder auf. Ein Holzschnitt von Frans Masareel zeigt im Vordergrund einen Wandersmann auf einem Wiesenhügel, der auf die Stadt hinabblickt, über der ein Wald von Rauchsäulen steht. Es ist der Blick des Liebhabers der Natur, der sie in der Stadt vermisst. Während aber der Blick des Expressionismus entsetzt vor der Stadt zurückschrickt, formuliert Brecht eine Einsicht in die Hinfälligkeit dieser Städte, die in ihrer

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Kraft seiner Sicht auf das Ich nicht nachsteht: Es ist derselbe Blick, der in der städtischen Landschaft das Abbild des transitorischen menschlichen Subjekts erkennt, für den diese ganz wie jenes – nur langsamer – vergeht.

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Benjamin, Walter: Charles Baudelaire, Frankfurt a. M. 1969, S. 118. GBA 11, S. 109. BFA 13, S. 188. GBA 13, S. 230. Eine in Vorbereitung befindliche Untersuchung von Brechts Bezugnahme auf Rimbaud wird sich auch mit Rainer Naegeles Text von 2001 befassen, der unsere Untersuchung von 1976 zwar nennt, jedoch allein mit Hinblick auf das Motiv Mutter/Geliebte, nicht z. B. auf unsere Entdeckung des Rosa Luxemburg-Themas. Vgl. Naegele, Rainer: Literarische Vexierbilder, Heidesheim 2001, S. 51–72. Die Wendung „daß sie langsam viel schwerer ward“ zeigt auch, wie Brecht hier über Ammer und Rimbaud auf ein Motiv bei Shakespeare zurückgeht. In Hamlet heißt es an der entsprechenden Stelle im Bericht über Ophelias Tod: „Queen: […] but long it could not be / Till that her garments, heavy with their drink, / Pulled the poor wretch from her melodious lay / To muddy death. / Laertes: Alas, then, she is drowned? / Queen: Drowned, drowned. / Laertes: Too much of water hast thou, poor Ophelia, / And therefore I forbid my tears […]“. Schlegels Übersetzung lässt die Königin sagen: „[…] Doch lange währt’ es nicht, / Bis ihre Kleider, die sich schwer getrunken, / Das arme Kind von ihren Melodien / Hinunterzogen in den schlamm’gen Tod.“ (Shakespeare, William: „Hamlet“, in: Sämtliche Werke, übers. von August Wilhelm von Schlegel, hrsg. v. Karl Sachs, Leipzig 1884, S. 88.) Mann, Thomas: Der Zauberberg, Oldenburg 1966, S. 387. Herv. v. Verf. Brecht hat übrigens Anfang 1920 Thomas Mann aus dem Zauberberg in Augsburg vortragen hören. (Vgl. Völker, Klaus: Brecht-Chronik, München 1971, S. 22f.) „Nun sagt der Dichter, daß im Schoß der Nacht du bleich / Die Blumen, die du pflücktest, suchst, in deine Schleier / Gehüllt, dahinziehst auf dem dunklen, stillen Weiher, / im Schein der Sterne, einer großen Lilie gleich.“ (Rimbaud, Arthur: Leben und Dichtung, übers. von K. L. Ammer, Leipzig 1921, S. 149. Brechts basale Imagination war vielleicht das Fließen des Wassers – eine entscheidende Differenz zu Heiner Müllers Faszination vom Steinernen. (Vgl Lehmann, Hans-Thies: „Leben der Steine. Kurze Phantasmagorie über Heiner Müllers Stein-Schriften“, in: Mayer, Brigitte/Schulte, Christian: Der Text ist der coyote. Heiner Müller Bestandsaufnahme, Frankfurt a. M. 2004, S. 232–243.) Mann: a. a. O., S. 371. Rathenau, Walter: Zur Kritik der Zeit, Berlin 1912, S. 53. Ebd., S. 53f. GW 15, S. 58. BFA 11, S. 21, Herv. v. Verf. GBA 11, S. 105. Freud hat über diesen Zusammenhang z. B. in Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens gehandelt. BFA 11, S. 22. Ebd., S. 21. Brecht, Bertolt: „Baal“ (1919), in: GBA 1, S. 46. Ebd. Schultzendorff, Walther von: Proletarier und Prätorianer, Köln 1966, S. 109. Vgl. ebd., S. 114 f. Völker: Brecht-Chronik, S. 21. Alle Daten aus Völker: a. a. O., S. 13. Ebd., S. 15. BFA 15, S. 196. BFA 11, S. 205.

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Text und Erfahrung

28 Völker: a. a. O., S. 13. 29 Münsterer, Hanns Otto: Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917–1922, Zürich

1963, S. 102.

30 Hannover-Drück, Elisabeth/Hannover, Heinrich (Hg.): Der Mord an Rosa Luxemburg

und Karl Liebknecht. Dokumentation eines Verbrechens, Frankfurt a. M. 1967, S. 104.

31 GW 8, S. 42. 32 Stellen wie die folgenden sind nur zufällig herausgegriffene typische Beispiele: „Ihr langer

Schatten schwankt im Häusermeer / Und löscht der Straßen Lichterreihen aus.“ Oder: „Um ihre Füße kreist das Ritornell / Des Städtemeers mit trauriger Musik […]“ (Heym, Georg: „Die Dämonen der Städte“, in: Bd. 1 Lyrik der Gesamtausgabe, hrsg. v. Karl Ludwig Schneider u. Gunter Martens, Hamburg 1964, S. 186.) 33 GW 8, S. 215.

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DER SCHREI DER HILFLOSEN „Arm sein und auch noch frieren, das macht unbeliebt.“1 (Brecht)

Von der Kindesmörderin Marie Farrar

1 Marie Farrar, geboren im April Unmündig, merkmallos, rachitisch, Waise Bislang angeblich unbescholten, will Ein Kind ermordet haben in der Weise: Sie sagt, sie habe schon im zweiten Monat Bei einer Frau in einem Kellerhaus Versucht, es abzutreiben mit zwei Spritzen Angeblich schmerzhaft, doch gings nicht heraus. Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. 2 Sie habe dennoch, sagt sie, gleich bezahlt Was ausgemacht war, sich fortan geschnürt Auch Sprit getrunken, Pfeffer drin vermahlt Doch habe sie das nur stark abgeführt. Ihr Leib sei zusehends geschwollen, habe Auch stark geschmerzt, beim Tellerwaschen oft. Sie selbst sei, sagt sie, damals noch gewachsen. Sie habe zu Marie gebetet, viel erhofft. Auch ihr, ich bitt euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilfe von allen. 3 Doch die Gebete hätten, scheinbar, nichts genützt. Es war auch viel verlangt. Als sie dann dicker war Hab ihr in Frühmetten geschwindelt. Oft hab sie geschwitzt Auch Angstschweiß, häufig unter dem Altar. Doch hab den Zustand sie geheim gehalten Bis die Geburt sie nachher überfiel. Es sei gegangen, da wohl niemand glaubte Daß sie, sehr reizlos, in Versuchung fiel. Und ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.

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4 An diesem Tag, sagt sie, in aller Früh Ist ihr beim Stiegenwischen so, als krallten Ihr Nägel in den Bauch. Es schüttelt sie. Jedoch gelingt es ihr, den Schmerz geheim zu halten. Den ganzen Tag, es ist beim Wäschehängen Zerbricht sie sich den Kopf; dann kommt sie drauf Daß sie gebären sollte, und es wird ihr Gleich schwer ums Herz. Erst spät geht sie hinauf. Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. 5 Man holte sie noch einmal, als sie lag: Schnee war gefallen und sie mußte kehren. Das ging bis elf. Es war ein langer Tag. Erst in der Nacht konnte sie in Ruhe gebären. Und sie gebar, so sagt sie, einen Sohn. Der Sohn war ebenso wie andere Söhne. Doch sie war nicht so wie die anderen, obschon: Es liegt kein Grund vor, daß ich sie verhöhne. Auch ihr, ich bitt euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. 6 So will ich also weiter denn erzählen Wie es mit diesem Sohn geworden ist (Sie wollte davon, sagt sie, nichts verhehlen) Damit man sieht, wie ich bin und du bist. Sie sagt, sie sei, nur kurz im Bett, von Übelkeit Stark befallen worden und, allein Hab sie, nicht wissend, was geschehen sollte Mit Mühe sich bezwungen, nicht zu schrein. Und ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. 7 Mit letzter Kraft hab sie, so sagt sie, dann Da ihre Kammer auch eiskalt gewesen Sich zum Abort geschleppt und dort auch (wann Weiß sie nicht mehr) geborn ohn Federlesen

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So gegen Morgen. Sie sei, sagt sie Jetzt ganz verwirrt gewesen, habe dann Halb schon erstarrt, das Kind kaum halten können Weil es in den Gesindabort hereinschnein kann. Auch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. 8 Dann zwischen Kammer und Abort, vorher sagt sie Sei noch gar nichts gewesen, fing das Kind Zu schreien an, das hab sie so verdrossen, sagt sie Daß sie’s mit beiden Fäusten ohne Aufhörn, blind So lang geschlagen habe, bis es still war, sagt sie. Hierauf hab sie das Tote noch gradaus Zu sich ins Bett genommen für den Rest der Nacht Und es versteckt am Morgen in dem Wäschehaus. Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf vor allem. 9 Marie Farrar, geboren im April Gestorben im Gefängnishaus zu Meißen Ledige Kindesmutter, abgeurteilt, will Euch die Gebrechen aller Kreatur erweisen. Ihr, die ihr gut gebärt in saubern Wochenbetten Und nennt »gesegnet« euren schwangeren Schoß Wollt nicht verdammen die verworfnen Schwachen Denn ihre Sünd war schwer, doch ihr Leid groß. Darum, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.2 1

Immer wieder, von den frühesten Gedichten bis in die großen Stücke der Exilzeit und der Nachkriegsperiode, findet sich das Thema der Mutter in Brechts Werk. Die Mutter, die ihre Kinder verliert, sei es durch eigene Schuld (Mutter Courage), sei es durch den politischen Kampf (Die Mutter und Die Gewehre der Frau Carrar) ist eines seiner wiederkehrenden Motive. Shen Te, der gute Mensch von Sezuan, scheitert in ihrer Doppelrolle nicht zuletzt an der Schwangerschaft; im Kaukasischen Kreidekreis wird die gute und die schlechte Mutter thematisiert. Zugleich exponiert Brecht in zahllosen Texten das Thema von Geburt und Schwangerschaft.3

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In dieser Ballade ist ein Kindesmord Gegenstand einer beklemmenden, minutiösen Schilderung. Es wird berichtet, wie ein Kind „zwischen Kammer und Abort“ von seiner Mutter getötet wird, nachdem eine Abtreibung nicht gelang. Abort ist Mord – dahin geht der Vorwurf gegen Frauen, die abtrieben, sich mit einem abortus criminalis ihres möglichen „Wurfs“ entledigten wie die „ledige Kindesmutter“ Marie Farrar. Das Gedicht weckt Mitleid mit dieser „verworfenen Schwachen“. In neun Strophen wird erzählt von schlimmen neun Monaten, Abtreibungsversuchen, sozialer Not, Schmerz der Schwangerschaft, einer Geburt in furchtbaren Umständen und am Ende vom Erschlagen des eben geborenen Kinds, der Tat, die von der Gesellschaft mit dem Wort Mord belegt wird, Verurteilung und Tod der Kindesmörderin. Befremden und Schock mischen sich in die Betroffenheit über diese Geschichte einer Mutterschaft, die unmöglich war, und zwar darüber, dass nicht die geringste Intervention eines Gefühls erfolgt. Die Abwesenheit jeden Indizes für mütterliches Empfinden seitens der Marie Farrar scheint unbegreiflich. Und doch zeigt der Text, dass Marie in ihrer Weise völlig logisch handelt, in ihrer Bewusstlosigkeit ununterscheidbar zugleich kalt und voller Einfalt. Reflexion, Gewissen, Freude oder Kummer, überhaupt ein eigenes Gefühl für ihre Schwangerschaft, eine eigene Meinung zu ihrer Lage, kommen bei dieser Waise nicht vor. Umstandslos beginnt der Text mit der Abtreibung. Nicht die leiseste Andeutung davon, was vorausging, wird gegeben. Diese doppelte Lücke – Fehlen von Emotionen und Fehlen einer Vorgeschichte – erzeugt den Eindruck einer unerträglichen Leere und Verlassenheit. Gänzliche Ohnmacht der Marie Farrar teilt sich mit, fast zwingt der Text, so resigniert und kommentarlos das Geschehen hinzunehmen wie die Kindesmörderin selbst. So klar, dass es offenbar der Rede nicht wert wäre, ist, dass die Farrar das Kind nicht haben kann. (Sie verfiele sehr vermutlich der sozialen Ächtung, dem Zorn der Herrschaft.) Mit dieser Selbstverständlichkeit ist aber das Fehlen der Vorgeschichte verbunden, das nicht eben zur Einfühlung in die Heldin beiträgt. Wenig weiß man von ihr. Ledig, auch aller Habe, erscheint sie betont korrekt: Obwohl die Engelmacherin das Kind nicht „ausgemacht“ hat, bezahlt sie gleich, was ,,ausgemacht“ war. Ihre Arbeiten erfüllt sie pünktlich und mechanisch. Dürftige zwei Referenzen auf Maries Innenleben bietet das Gedicht: In der Kirche gibt es „häufig Angstschweiß“, aber man sieht, wie selbst hier das Gefühl in einen Körperzustand überführt wird. Dann wird ihr, bei der Erkenntnis, dass die Geburt bevorsteht, „gleich schwer ums Herz“. Aber diese Schwermut verweist auch wieder auf die physische Schwere der Geburt: Im Spiel ist der Körper, nicht das Fühlen. So hat der Leser keine Chance, sich häus-

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lich mitleidig im Opfer einzurichten. Der unverwandte Blick von außen, den das Gedicht pflegt, lässt Marie Farrar, die „Täterin“, als Opfer erscheinen, als passiv Leidende. Mit diesem Leid solidarisiert sich anscheinend der Refrain. Er bittet um Hilfe, spricht sich gegen eine zornige Verurteilung aus, seine Rede zeugt (von) Mitleid: „Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen / Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.“ Deutlicher, meint man, kann es nicht gesagt werden: Hilfe wird benötigt in dieser Welt, deren Kälte Brecht immer wieder beschworen hat. Alles durchdringt diese Kälte: die Gesellschaft, die Häuser und Kammern, die Körper, die Gefühle. Der Text scheint sich mit einem Appell an das Herz des Lesers zu wenden. Vielleicht wohnt hier noch Wärme? „Die erste Lektion (Bittgänge) wendet sich direkt an das Gefühl des Lesers“, steht in der „Anleitung“ zur Hauspostille. Und doch hat es das Gefühl nicht leicht, dieser Anrede zu entsprechen. Es entfaltet sich vielleicht die Solidarität mit der geschundenen Frau, doch zugleich entsteht eine merkwürdige Beklemmung. Warum aber der Affekt eingeklemmt bleibt, davon lässt sich der Grund in einem kurzen Satz angeben: Marie Farrar ist stumm. Man sucht die unverstellte Stimme des Opfers und findet sie nicht. Andererseits hört man sprechen. Die Frage stellt sich, um wessen Stimme es sich handelt. Die Sprache der Erzählung, besonders auffällig in der jeweils ersten Hälfte der ersten und letzten Strophe, bildet einen ersten (juristischen) Rahmen für das Geschehen: Polizei und Gericht. Es kommt aber nicht, wie etwa in der Tradition des Hinrichtungslieds, die Täterin selbst zu Wort, ihrem letzten, wo sie die Missetat bereut und ihr Schicksal als warnende Lehre für andere darstellt, sondern die Stimme der Farrar wird nur indirekt hörbar, in der Nacherzählung des Protokollanten. Nur eine Echobildung, nicht die Stimme selbst, erreicht den Leser. Man hört sprechen, aber es ist allein das Protokoll, das redet. Man meint, anstelle einer menschlichen Stimme das stockende Klappern der Schreibmaschine im Amtszimmer zu vernehmen: Marie Farrar, geboren im April Unmündig, merkmallos, rachitisch, Waise Bislang angeblich unbescholten, will […] Marie Farrar, geboren im April Gestorben im Gefängnishaus zu Meißen Ledige Kindesmutter, abgeurteilt, will […]

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Zu diesem Fehlen des eigenen Worts passt, dass in der gesamten Geschichte das Schweigen, die Geheimhaltung, das Ersticken des verräterischen Schreis in den Mittelpunkt gerückt ist. Die Unterdrückung der Stimme betrifft Mutter wie Sohn. Ganz sieht es so aus, als rühre der „Verdruss“ der Kindesmutter daher, dass der Schrei als unerträgliche Wiederkehr des Verdrängten an etwas für sie selbst Verbotenes mahnt: Dann zwischen Kammer und Abort, vorher sagt sie Sei noch gar nichts gewesen, fing das Kind Zu schreien an, das hab sie so verdrossen, sagt sie Daß sie’s mit beiden Fäusten ohne Aufhörn, blind Solang geschlagen habe, bis es still war, sagt sie. Ein stummes Trommelfeuer4 der Fäuste tötet den Laut. An sich selbst aber muss die Farrar ganz genauso handeln: […] allein Hab sie, nicht wissend, was geschehen sollte Mit Mühe sich bezwungen, nicht zu schrein. Der Schrei der Hilflosen wird unterdrückt. Das sagt die Geschichte, wie sie hier in aller Kälte – ohne Schrei – erzählt wird. Ein zweiter Rahmen des Geschehens ist der Refrain. Christlich predigerhaft wird der Leser gebeten, nicht Zorn walten zu lassen, sondern das seligere Verzeihen. Auch der Refrain ist getragen von einer Stimme. Und wieder ist es eine andere: Fürbitte zwar, aber auch Für-Sprache in dem Sinn, dass wieder nicht die Farrar selbst zu Wort kommt, sondern für sie, an ihrer Stelle, gesprochen wird. Die Abwesenheit der Sprache, des subjektiven Bewusstseins, bei Brechts Marie hilft, eine fruchtbare Unsicherheit über die Absicht des Textes zu erzeugen. Die stumme Farrar wird so passiv und bewusstlos vorgeführt, dass sie sich paradoxerweise selbst bruchlos in das kalte Räderwerk der Gesellschaft einordnet, in dem sie zerstört wird. Keine Auflehnung wird sichtbar, die Kindesmörderin ist Teil des Räderwerks, nicht nur dessen Opfer. Sie gibt die Gewalt weiter an ihre arme „Kreatur“, der auch nicht geholfen wird. Vom fühllosen Protokoll wird sie daher nicht nur, wie es auf den ersten Blick scheinen kann, vergewaltigt. Sie selbst ist Trägerin der Gewalt, und so stellt das polizeiliche Protokoll auf vertrackte Weise auch eine adäquate Form ihres Bewusstseins dar. Sie „protokolliert“ wie dieses, was in und mit ihr geschieht. Das Gedicht wehrt so jede moritatenhafte oder romantisierende Verklärung ab. Lie-

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ber noch riskiert es den Vorwurf des Zynismus, wenn es am „Auswurf“ der Gesellschaft schonungslos Sprachlosigkeit und die Züge der Beschränktheit vereinigt. Das Stumme wird zum Zeichen des Dummen, wie stumm und dumm auch etymologisch zusammenhängen. Die Einsicht, dass Gewalt und Macht die Dummheit als ihr Gegenüber erzeugen, ist Brechts Text eingeschrieben. Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. Ja, es hat den Anschein, als sei das geradezu ein soziologisch-psychologisches Gesetz. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Der Vorgang ist dabei der, daß […] unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung [der Mensch] darauf verzichtet, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden.5 Maries Beschränktheit fehlt nicht viel zum Irrsein. Innen wie außen erliegt sie einer totenähnlichen Starre, in die sie schon verfallen ist, bevor sie, „halb schon erstarrt“, ihr Kind kaltmacht. Es heißt, sie sei „Jetzt ganz verwirrt gewesen“, ein Zug, der vielen klassischen Versionen des Motivs der Kindesmörderin eignet. Aber während die geistige Verwirrung der halbirren Mutter bei Heinrich Leopold Wagner etwa6 die äußerste Spaltung der Gefühle, die Qual der Zerrissenheit andeutet, wird dieser Zug bei Brecht so trocken notiert, dass kaum mehr als die juristische Frage nach einer eventuell verminderten Zurechnungsfähigkeit bleibt. Die Unsicherheit, die sich an der Kälte und dem scheinbaren Zynismus des Textes entzündet, ergreift alsbald die Deutung seiner „Intention“: Wenn Brecht für die Unterdrückte Partei ergreift, warum schildert er sie dann als fühllos, primitiv, animalisch-dumpf? Wenn Hilfe die Idee des Textes ist, warum wird geheim gehalten, wie sie aussehen könnte? Der ganze Bereich gesellschaftspolitischer Antworten bleibt ausgespart. Eine empfindliche Lücke. Will Brecht auf Reformen hinaus, wie im 18. Jahrhundert die Dramatiker des Sturm und Drang, wenn sie das bittere Los verführter Frauen anprangerten? So versteht Charles R. Lyons das Gedicht. Er sagt: „The ambiguous assignment of guilt in this early poem contains an implicit demand for social reform“, setzt allerdings selbst hinzu: „even though the nature of that reform is unclear.“7 Nirgends im Frühwerk trete Brechts „strong sense of compassion“ so explizit hervor, wie in diesem Gedicht.8 Nun kann freilich auch die gegenteilige Vermutung begründet werden. Suggeriert der Text nicht vielmehr, dass die sozialen Verhältnisse,

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die er schildert, unabänderlich sind? Sprechen dafür nicht die Verweise auf die Bibel, die Formel von „aller Kreatur“? Dieser Ausdruck kaschiert den Unterschied von Oben und Unten, er stammt aus dem Auftrag an die Jünger, das Evangelium zu verbreiten, eine bekanntlich nicht schichtspezifisch gemeinte Lehre. Für die These, Brecht wolle hier auf die Unabänderlichkeit des „menschlichen“ Schicksals hinaus, entschied sich etwa Martin Esslin. Für ihn war 1959 das „basic theme“ des Gedichts nichts anderes als die Erfahrung der „helplessness of man, his inability to influence the world around him“.9 Wohin zielt also der Text? Zielt er überhaupt? Antwort auf diese Fragen ist nur zu erhoffen, wenn seine Form untersucht wird. Auf der thematischen Ebene erhält man nur unbefriedigende und widersprüchliche Antworten. Er ist nun einmal keine Abhandlung über die Benachteiligung lediger Schwangerer, armer Mütter, über die Grausamkeit der Reichen oder ein anderes gesellschaftspolitisches Thema. Und ebenso wenig ein Traktat mit philosophischen oder religiösen Herleitungen des Übels in der Welt. Er spielt mit diesen Themen, verfolgt dabei aber eine eigene „Politik“, die sich festmacht an den Sprechweisen, in denen Realität konstituiert wird. 2

Kaum etwas fällt schon bei der ersten Lektüre so ins Auge wie die Konfrontation zweier Sprechweisen in Strophe und Refrain, die konträren „Horizonten“ entsprechen: Polizei – Religion, irdisches Gericht – himmlisches Gericht, Welt ohne Hilfe – Ruf um Hilfe. Gehen wir zunächst der Stilisierung des Berichts in ein teilnahmslos registrierendes Beamtendeutsch nach. Diese Stilisierung trägt eines der beherrschenden Themen der Ballade. Sie übermittelt durch ihre formale Struktur die Vorstellung von einer unerschütterlichen Macht: Polizei und Objektivität fallen zusammen, Gesetz und Gericht erscheinen als absolute Instanz. Das vereinzelte Individuum Marie Farrar bleibt ihr gegenüber ohnmächtig, bedeutungslos, „beiläufig“. So führt der Text durch seine Sprache die Konfrontation von vereinzeltem Subjekt und der Maschine des Staats ins Extrem. Diese Sprache verfremdet. Die an ihr hervorstechende Akribie aber ist eine scheinbare, denn das Aussperren aller Wertung verzerrt ganz offenbar die Realität, die sie scheinbar nur neutral registriert. Auf die verborgene Gewalt in dieser Sprache kommt es dem Text an, denn in ihr leben alle. Unbemerkt redet man in Formeln, die für Realität gelten, da sie die Verständigung zu gewährleisten scheinen. Jeder kann zum Agenten der Macht werden in dem Maße, wie er sich ihren „enkratischen“10 Sprechformeln nicht widersetzt. Im Text beginnt die Verzer-

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rung des Berichteten schon damit, dass durch eine winzige Zweideutigkeit das Geständnis des Mords wie eine Alibiformel klingt: Marie Farrar, so wird amtsdeutsch protokolliert: „[…] will / Ein Kind ermordet haben in der Weise“. Die Formel, die bei Entlastungen gebräuchlich ist (etwa: Sie will keine Mordabsicht gehabt haben.), lässt absurderweise die Tat der bis zur Leblosigkeit von den Umständen gesteuerten Frau als ihren Wunsch und Willen erscheinen. So rückt der Text einer unbeachteten Wendung der Amtssprache parodistisch zu Leibe. Licht fällt auf eine in dieser Sprache (und in der juristischen Instanz) verborgene Fiktion: die der autonomen Verantwortlichkeit des Täters. Die Geschichte führt vor, dass Marie Farrar mit maschineller Logik unter dem Zwang materieller Bedingungen handelt. Die Sprache dagegen evoziert den Bereich des bürgerlichen Rechts, des Strafvollzugs, in dem die Phantasmagorie des freien Willens ebenso lebt wie die der Gleichheit vor dem Gesetz, das es, wie Anatole France sagte, in seiner erhabenen Größe Armen wie Reichen gleichermaßen verbietet, unter den Seinebrücken zu nächtigen. Die Kreatur unterliegt der Strafe, und die Sprache fingiert ein autonomes Bewusstsein. Was aber im staatlichen Diskurs als Täter erscheint, das ist zunächst eine bedürftige Maschine, ein Körper, den dieselbe Sozietät, die ihm den Ehrentitel „Subjekt“ verleiht, den physischen Qualen aussetzt. Hunger, Durst, Angst, Schweiß und Schmerz heißt das materielle Dasein unter der aufgeleimten Maske der Rechtsperson. Der Text folgt einer genauen Logik, nicht einer zynischen Intention, wenn er scharf den radikalen Gegensatz zwischen der juristisch-polizeilichen Ebene und der animalisch-mechanischen Kreatur herauskehrt: Es geht nicht um die „realistische“ Schilderung einer Angehörigen der Unterschicht, nicht um die Darstellung sozialer Kausalnetze, sondern um die ideologische Sprache. So biegt das Gedicht die Frage, die man an ihn richten möchte, zurück auf den Fragenden: Inwieweit bewegen wir selbst uns in solchen Sprachen der symbolischen Gewalt: in der Sprache des Polizeiprotokolls, des „Rechts“, der staatlichen Macht? Diese Sprache, so führt der Text vor, ist unerbittlich. Für sie gibt es keine Gebrechen, nur Verbrechen. „Abgeurteilt“, die kommentarlose Sachlichkeit, mit der dies Wort am Ende, zwischen zwei Kommata, hingesetzt ist, sagt dem Leser: In dieser Realität hat die Geste des Predigers, des Bittenden buchstäblich nichts verloren. Die beim ersten Lesen so eingängige Bitte des Refrains erweist sich bei näherem Gebrauch des Gedichts als fragwürdig, ja absurd. Glaubt vielleicht die erste Lektüre im Refrain noch eine eindeutige, warme, herzliche Rede zu finden, die von der schwer einfühlbaren, vieldeutigen Kälte der Erzählung erlöst, so zerstiebt bei näherem Zusehen die Hoff-

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nung, im Refrain eine Stütze für die spontanen Gefühle zu finden. Wer allerdings auf die Form, auf die gespaltene Stimme oder Zunge in „des Teufels Gebetbuch“ nicht reflektiert, muss zu ganz haltlosen Thesen über das Gedicht gelangen. So schreibt Jürgen Bay in seiner Skizze „Brechts Utopie von der Abschaffung der Kälte“: „Noch deutlicher [als in dem Gedicht ‚Aus keinem anderen Grund‘] wird die Aufforderung zu aktivem Mitleid dann in dem Refrain des bekannten Berichts ‚Von der Kindesmörderin Marie Farrar‘ 1922.“11 Aber man kann ein „Nicht-inZorn-Verfallen“ kaum als „aktives“ Mitleid ansehen, und eine Bitte um Hilfe führt sich ad absurdum, wenn sie eine Schilderung kommentiert, in der nicht der geringste Ansatzpunkt für solche Hilfe auszumachen ist. Nein: Die Bitte, die „verworfenen Schwachen“ nicht zu verdammen, steht in schreiendem Kontrast zur vorgeführten Leidensgeschichte. Sie ist, denkt man einen Moment über sie nach, sogar pharisäisch.12 „Zweifellos gibt es keine Schuldigen, besonders nicht unter den Hilflosen, und wer will eine Schwangere anschreien, weil sie unter ein Dach will?“13 Dieser Satz steht in Brechts Tagebüchern aus dem Jahre 1921. Eine Bitte, die von der Vorstellung ausgeht, man könnte überhaupt seinen Zorn nicht auf diese Welt, sondern auf diese Kreatur richten, überführt sich selbst. Es wird nicht nur die Schuld im polizeilich-juridischen, sondern auch die im religiösen Sinn ad absurdum geführt. Auch die zweite Sprache, die der Text anbietet, die christlich-predigerhafte, erweist sich als falsch, unangemessen, nicht authentisch. Durch die überspitzte Konfrontation überführt der Text beide Sprechweisen der Absurdität. Es handelt sich mithin nicht lediglich um eine Umkehrung, sondern um eine Kritik des Bittgangs, der Fürbitte, des Gebets. Umso bedeutsamer ist, dass in der Geschichte selbst der Bittgang sich spiegelt – im Gebet der Marie zur Marie. Nicht nur, dass er – „es war auch viel verlangt“ – ohne greifbares Ergebnis bleibt: „Sie habe zu Marie gebetet, viel erhofft / […] / Doch die Gebete hätten, scheinbar, nichts genützt.“ Die Namensgleichheit zeigt hier, dass Marie sich tatsächlich nur an Marie um Hilfe wenden könnte: an sich selber! Mit bloßen Bitten ist, bei irdischen wie himmlischen Instanzen, nichts zu wollen. Von der himmlischen Marie ist keine Hilfe zu erwarten, weil die irdische die einzige Marie ist, die es gibt. Dieses Abkanzeln der christlichen Bitte lenkt zugleich den Blick auf das Spiel, welches der Text insgesamt mit Elementen der christlichen Überlieferung in Szene setzt. 3

Mit dem Predigerton des Refrains korrespondiert, dass die Leiden der irdischen Marie beständig überhöht werden durch Referenzen auf die

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biblische Geschichte der Dulderin Maria. Wir gehen näher darauf ein, weil erst die Details Aufschluss darüber geben, wie Brechts Text mittels einer Verschränkung verschiedener religiöser Topoi das Spiel seiner Bedeutungen produziert. Die Schwangerschaft birgt die Gefahr der Schande, wie sie zunächst auch die biblische Maria erschreckt. Die Geburt findet unter einem löchrigen Dach statt, als befinde man sich im Stall von Bethlehem. Marie erscheint in allen Stücken wie ein Objekt und passives Gefäß für die Befehle der Herrschaft. Auch darin ist diese Magd mit der „Magd Gottes“ (Lukas 1,38) verwandt, dass ihr Körper zwar nicht zum Gefäß des Heiligen Geistes, wohl aber einer anderen unsichtbaren Herrschaft wird: als willenloser Mechanismus, der, Höherem gehorchend, nur dient. Dunkel wie in der biblischen Geschichte bleibt, unter welchen Umständen sie schwanger wurde, wes Geistes Kind ihr Sohn ist. Das Bild der Maria, die durch ihre Fürbitte die Sünder reinwäscht, zeichnet sich ins Bild der Marie ein. Nicht nur, dass sie die „himmlische Frucht der befleckten Empfängnis“ („Über die Anstrengung“) austragen muss, das, was die Herrschaft angerichtet hat. Vor allem hat sie unentwegt zu wischen und zu waschen, was diese beschmutzt: Wäsche, Teller, Treppen usw. Ihre absolute Verlassenheit wird zum sarkastischen Abziehbild der Auserwähltheit. Vor allem aber ist es Brechts Verknüpfung der Szene der Geburt mit der Weihnacht, mit Stall und Weihnachtsschnee und Ärmlichkeit, die den Mord beim Abort zur parodistischen Verkehrung und zum Abziehbild der Geburt des Erlösers werden lässt. Das Kind wird erschlagen, „bis es still war“ – schon findet man sich in der stillen, der Heiligen Nacht. Die Verkehrung von Mord und Geburt setzt sich darin fort, dass der Text die Elemente der einen zur Darstellung des anderen benutzt: Kinder schreien nach der Geburt, zeigen damit Atmung, Hauch, Leben an. Hier bedeutet der Schrei umgekehrt die Nähe des Todes wie in der Passion, wenn es heißt: „Aber Jesus schrie abermals laut und verschied“. Neugeborene schlägt man, damit sie schreien, hier sollen die Schläge Kind und Schrei zugleich töten. Das Kind wird mit dem Laut, den es von sich gibt, eins – so wie in der religiösen Formel Jesus mit dem Wort, sofern aus der Jungfrau Maria „Gottes Wort“ geboren wurde. Wie oft in Brechts Texten wird das Gedicht zugleich zur Darstellung einer eigenartigen Version der Geburt des Worts, das stets nur so geboren wird, dass es zugleich abgetrieben wird, Abbruch, Abdrift, Totgeburt bleibt. Sogar als eine kleine Passionsgeschichte kann der Text verstanden werden. In der katholischen Tradition gibt es für sie eine Reihe festgelegter Stationen. So folgt dem Tod am Kreuz und der Kreuzabnahme das

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Niederlegen des toten Jesus in den Schoß der Mutter. Es könnte die eigenartige Wendung im Gedicht leise darauf anspielen, in der es heißt: „Hierauf hab sie das Tote noch gradaus / Zu sich ins Bett genommen für den Rest der Nacht“. In der folgenden Etappe der Passion steht im Mittelpunkt, dass der Körper Jesu in Tücher gelegt wird, Tücher, an die das Gedicht mit der Erwähnung des „Wäschehauses“ erinnert, und in das Grab gelegt, wie auch in diesem Wäschehaus das tote Kind ein geheimes Grab finden soll. Aber natürlich ersteht es sofort wieder auf – es wird gefunden, wie schon Jakob Apfelböcks Eltern, die er im „Wäscheschrank“ versteckt hat und begraben glaubte. Marie hat das Kind „versteckt am Morgen in dem Wäschehaus“. Statt diesen Morgen auf den Ostermorgen zu beziehen, hört man darin nun die Nähe zum Morden. Das kurze Leben dieses „Sohns“ ohne göttlichen Überbau wird zur kurzgefassten Version des Leidenswegs. Auf dem Weg „zwischen Kammer und Abort“ wird es erschlagen, so schnell wie es in der lakonischen Gebetsformel heißt: „Auf dem Holz der Krippe hast Du Dein Opferleben begonnen, am Holz des Kreuzes vollendet.“ Es wäre allerdings verfehlt, wollte man diese und andere Beobachtungen als symbolische Äquivalenz deuten: Marie = Maria, der Sohn = Jesus. Die Einschiebung und Überkreuzung verschiedener Sprechweisen, auch der religiösen, erfolgt so schematisch nicht. Es liegt zum Beispiel auf der Hand, dass die Elemente Geburt/Tod, Passion/Weihnacht, selbst Mutter/Kind, nicht eindeutig zuzuordnen sind. Marie Farrar wird ausdrücklich ihrem Kind angeähnelt: in ihrer Kälte und im Zwang zur Stummheit. Vor allem ist Marie selbst noch ein Kind – „Sie selbst sei, sagt sie, damals noch gewachsen“ – und auch ihr Leben wird mit der Passion verknüpft, die Schwangerschaft ist ihr Martyrium. Nägel und Angstschweiß sind Topoi der Kreuzigungsimagerie, mit der die Schwangerschaft hier in Assoziation gebracht wird. Wie sehr Brecht an der möglichst intensiven Verknüpfung der „realen“ und der biblischen Bildwelt gelegen war, bezeugt der Umstand, dass er um ihretwillen gelegentlich auch die Grammatik strapaziert. Die Stelle „[…] dann kommt sie drauf / Daß sie gebären sollte […]“ erklärt sich nur aus dem wörtlichen Zitat der biblischen Formel, die bei Elisabeth und Maria Verwendung findet: „Und Elisabeth kam ihre Zeit, daß sie gebären sollte; und sie gebar einen Sohn“ (Lukas 1,57) und „Und als sie [d. h. Maria und Joseph] daselbst waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“ (Lukas 2,6f.).

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Man kann das Spiel des Textes mit den christlichen Topoi nicht erörtern, ohne noch auf ein letztes Symbol einzugehen: Töten, das zugleich eine Geburt ist, findet sich im Akt der Taufe. Sie wird in der christlichen Lehre verstanden als der im kurzen Akt des Untertauchens vollzogene Tod des alten, sündigen Menschen und das Erstehen des neuen. Das Wasser im Ritual wird bei Brecht zum erstarrten und erstarren machenden Schnee, das Handauflegen des Priesters zum Trommelfeuer der Fäuste. In der christlichen Zeremonie berührt der Priester mit dem Daumen Ohren und Nase des Kindes, um es zur Aufnahme der christlichen Lehre mit allen Sinnen zu befähigen, besonders mit dem Ohr, denn „der Glaube kommt vom Hören“. Marie Farrar schlägt ihr Kind „ohne Aufhören“, bis es tot ist. Bei der Taufe soll der „unlautere Geist“ ausgetrieben werden, hier mit dem Laut der Lebensgeist überhaupt. Der Text sagt so, noch einmal, dass das physische, konkrete, „sündige“ Leben das einzige ist, so wie Marie die einzige Marie, die es gibt. Die Formel von der Austreibung des unlauteren Geistes muss umso mehr interessieren, als das Wort „lauter“ eng mit dem Wort „Kloake“ verwandt ist. Beide gehen auf lat. cluere – waschen, reinigen zurück, jene Tätigkeit also, bei der wir Marie Farrar gewöhnlich antreffen und die als Auswaschung zu Ab-ort und Abort gleichermaßen Beziehung hat. So antwortet schließlich die Verlegung an den stinkenden Schauplatz bitter auf den „Wohlgeruch Christi“, die katholische Formel vom „Duft der Lehre“. Von der Taufe sprechen heißt an den Namen denken, und es ist nicht nur der besonderen Eignung von Brechts Namen geschuldet, Sprachspiele zu tragen, dass in der Ballade von der Kindesmörderin dieser Name auf obskure Weise anwesend ist. Zweimal folgen aufeinander Worte aus dem Stamm Brechen und eine Form des Worts Gebären. An den Namen des Autors lässt weiterhin die suggestive Reihe von Silben denken, die von zentraler Bedeutung sind: Geburt, Abort, gebärt und die den Namen Bert förmlich herbeizitieren. Nimmt man hinzu, wie häufig Brecht in seinen Texten die Verbindung von Mutter, Kälte, Geburt und Tod zeichnet, dann leuchtet umso mehr ein, dass sein eigener Name in den Text verteilt ist, ausgestreut wie Samenkörner auf das Feld des Geschriebenen, nicht symbolisch auf die eine oder die andere Figur bezogen. Der spielerische Charakter der Verweise hindert das Gedicht daran, zum Anlass für ein gebildetes Dechiffrieren zu werden. Die Einschreibung gegenläufiger, differenter, widersprüchlicher, sich aber nicht gegenseitig aufhebender Bedeutungen ist nicht als vollkommen beherrscht oder beherrschbar zu denken. Objektiv verliert sich das Schreiben im Geflecht der Sprache, ihrer Ambiguitäten, in der Vielfalt der vom Text heraufbeschworenen Beziehungen, Konnotationen, Äquivalenzen. Sie

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sind nicht vollkommen überblickbar und beherrschbar. Jeder Text, der sich so hoch organisiert, wird ein wenig zum „Zauberlehrling“. Aber wie kann das Schreiben überhaupt irgendwo münden, wie der Prozess der Sprache, des Textes, sich, sei es auch nur vorläufig, schließen? In der Tat ist jede Grenze des Textes fiktiv, setzt ein Ende, das es nicht gibt. Vielleicht ist aber so die Inschrift des Namens zu verstehen: Er ist für den Text eine Art Block, eine Grenze, ein irreduzibler Verweis auf dieses Subjekt des Spiels, das im Namen vorläufig, momentweise zum Stillstand gebracht ist, als begrenzte, in einem für kurze Zeit ausgegrenzten Bezirk gespielte Fiktion der Identität.14 4

Es sollte klar sein, dass die Lektüre nicht primär das Ziel verfolgt, die aufgewiesenen „Zitate“ nachzuweisen, gar das Gedicht durch sie zu deuten. Die Pädagogik des Textes und mit dem Text benötigt vielmehr, dass solche Momente aufgezeigt werden, die an dem so ernsthaft zu rezipierenden Gedicht, das als Äußerung eines ungebrochenen sozialen Appells erscheint, den Kunstcharakter verdeutlichen. Die Einsicht, wie artistisch der Autor seine Karten mischt, ist nützlich, weil sie als Element des Spielerischen in Spannung tritt zur moralischen Emotion. Der Zitate, die den Text als literarisches Vexierbild mit allen Finessen ausweisen, sind noch mehr, und an ihnen lässt sich ablesen, was die Konfrontation der Redeweisen bezwecken mag. Was es mit dem pathetischen Schluss des Gedichts auf sich hat, wird zum Beispiel erst klar, wenn man sich entsinnt, dass Brechts Ballade (es sollte der Text in einer ersten Fassung „Ballade von einem Mädchen“ heißen) keine deutsche Ballade darstellt, sondern sich an die Form der alten französischen ballade anschließt: zehnzeilige Strophe, isometrischer Strophenbau und envoi (Geleit). Zum Kunstschema der ballade gehört, dass am Ende in der dritten Strophe (Brecht hat die Strophenzahl verdreifacht) das Geleit erscheint, das immer eine Anrede enthält. Daher stellt die pathetische Anrede am Schluss auch ein formales Kunstzitat dar: „Ihr, die ihr gut gebärt in saubern Wochenbetten“15. Es wird hier Literatur zitiert, ein Villonscher Gestus, und bei Villon ist die christliche Bitte um Nachsicht und Vergebung bereits sarkastisch getönt. So heißt es in der „Ballade par laquelle Villon crye mercy à chacun“16 in Ammers Übersetzung, dass Villon alle um Nachsicht bittet, besonders Mordgesellen, Gauner, Räuber, jedoch: Nicht so die Wachsoldatenhunde, die jeden Abend, jeden Morgen

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nur Rinde ließen meinem Munde, auch sonst verursacht Mühn und Sorgen. Ich möchte gerne sie verfluchen, obgleich ich sterbenskrank. Allein um weitre Händel nicht zu suchen, bitt ich auch sie mir zu verzeihn. Geleit

Man schlage ihnen ihre Fressen mit schweren Eisenhämmern ein. Im übrigen will ich vergessen, und bitte sie, mir zu verzeihn. Brecht wendet sich mit seinem Schlussappell in der „Marie Farrar“ an die, denen es gut geht, an solche Frauen, denen Villon in seinem Großen Testament mit der Begründung „j’ay tout donné aux servantes“ nichts vermacht – er hat schon alles an die Mägde vergeben.17 Brechts Vermächtnis an die Gutsituierten, die Schwachen doch nicht zu verdammen, ist ironisch gebrochenes Zitat. Wenn Brecht in der Tat bei Villon die Bitte um Nachsicht und andere Züge seiner Ballade vorgeprägt finden konnte18, dann wäre dieser Feststellung hinzuzufügen, dass schon Villon die christliche Bitte benutzte, um mit ihrer Hilfe der dem 15. Jahrhundert tief eingebrannten Erfahrung des Todes, der Vergänglichkeit, des Nichts und der Kürze des Lebens19 Ausdruck zu verleihen. Villon nimmt die religiösen Topoi beim Wort, jedoch als Gegenbild zum spirituellen und zum ewigen Leben, um sie mit aller Leidenschaft auf die physische Kreatur zu beziehen. Darin folgt der „arme B. B.“ dem „pauvre Villon“. Man könnte sagen, dass beide versuchen, der religiösen Denkweise das von ihr besetzte emotionale Terrain abzunehmen. Materialistisch wird das von der Religion unterhaltene Gefühl der kreatürlichen Wirklichkeit dargebracht. Auch mit dem Hinweis auf die christlichen Topoi, den katholischen Ritus und Villon ist der Collage-Charakter des Textes nicht erschöpft. Nur im Vorbeigehen sei bemerkt, dass die Bildlichkeit Brechts sich implizit auch mit Rimbauds Gedicht „Les premières communions“ auseinandersetzt, in dem sich der Abort mit Loch im Dach, die Weihnacht, das Schweigen der himmlischen Maria und andere Entsprechungen finden. Hier fällt auch die Wendung „révolte sans cri“, die Brechts Orientierung an dem Thema von Schweigen und Schrei inspiriert haben könnte.20 Für den materialistischen Gestus Brechts relevanter ist aber der

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Vergleich mit anderen Fassungen des Motivs der Kindesmörderin. Es wird im Allgemeinen beherrscht von den christlich-idealistischen Elementen Sünde, Schuld, Reue und Sittlichkeit. In der moritatenhaften Wendung nimmt dabei die Ausschilderung der Umstände breiten Raum ein, welche dartut, dass hier Sitte und Moral nicht gedeihen konnte. Brechts Einsatz mit der Zeile „Unmündig, merkmallos, rachitisch, Waise“ addiert so ziemlich alles, was dem tränenseligen Bänkellied teuer ist. Sie stellt eine übertreibende Häufung dar. Gericht, Hintertreppe, die arme Waise – viele Elemente des Genres des rührenden Kindermörderinnentrauerspiels sind im Spiel. Es folgt jedoch nicht die erwartete Story von Liebes Leid und Freud, Seelenqual, Gretchen und Bürgers Pfarrerstochter von Taubershain. Die Geschichte, die sich ans Gemüt wendet, fehlt, wird gleich abgetrieben. Brecht macht mit dem tradierten Motiv kurzen Prozess, verbietet (sich) den sentimentalen oder moralisch getönten Aufschrei. Greifen wir zu einem berühmten Beispiel, der „Kindsmörderin“ des jungen Schiller.21 Einige sinnfällige Oppositionen zwischen beiden Texten können den anti-idealistischen Gestus des Brechttextes verdeutlichen. Wenn die Zeit für die Einbildungskraft des Dichters bedeutsam ist, dann lohnt die Bemerkung, in welch auffälliger Häufung bei Brecht Formeln der mechanischen Chronologie auftauchen: im zweiten Monat, gleich, fortan, oft, damals, als sie dann dicker war, oft, nachher, an diesem Tag, den ganzen Tag, dann, gleich, erst, spät, als sie lag, das ging bis elf, langer Tag, in der Nacht. All dies allein in den Strophen eins bis fünf. Die Zeit erscheint als (sinn-)leeres mechanisches Nacheinander, während Schiller sie gerade zur Suggestion des höheren Sinns der Weltordnung gebraucht: „Horch – die Glocken hallen dumpf zusammen / Und der Zeiger hat vollbracht den Lauf“22. So wird bei ihm die Szenerie der Hinrichtung, die Erzählung der traurigen Geschichte, eingeläutet. Während es bei Brecht/Farrar keine Verantwortung im sittlichen oder juristischen Sinn gibt, bekennt sich Schillers Heldin gerade zu ihrer Schuld: Seht! da lag’s entseelt zu meinen Füßen – Kalt hinstarrend, mit verworrnem Sinn Sah ich seines Blutes Ströme fließen, Und mein Leben floß mit ihm dahin – Schrecklich pocht schon des Gerichtes Bote, Schrecklicher mein Herz! Freudig eilt’ ich, in dem kalten Tode Auszulöschen meinen Flammenschmerz.23

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In den Klagen und Gebeten, dem Verfluchen und letztlichen Verzeihen, das den Hauptinhalt der Schillerschen Ballade ausmacht, entsteht durch den Schrecken hindurch, jenseits der Schmerzen, die Apotheose eines göttlichen Raums, in dem sich ein Weltsinn verwirklicht. Von ihm hat Brecht genug. Seine Kritik gilt nicht nur der Täuschung des bürgerlichen Rechts, sondern der christlich-idealistischen Konzeption von Verantwortung, sittlichem Gesetz, Freiheitsphraseologie des „Humanismus“ und religiöser Sinngebung überhaupt, der die Größen Reue und Empfindung entsprechen. Schiller: „Wehe! – menschlich hat dies Herz empfunden! / Und Empfindung soll mein Richtschwert sein“; dagegen Brecht: „Diese Farrar erregte das Gemüt des Gerichtshofs durch ihre Unschuld und menschliche Unempfindlichkeit.“ 5

Juristischer Diskurs; Predigersprache; Bibeltradition; rituelle Formeln des Katholizismus; Villon; Rimbaud; Schiller; protokollarisches Registrieren; Moritat: Was zunächst als klassischer Fall von littérature engagée erscheinen konnte, erweist sich als ein Fall von raffinierter Collage und komplizierter Intertextualität. Das Schreiben bewegt sich im Prozess einer vielfältigen, unabschließbaren Auseinandersetzung, Zitierung, Verknüpfung, Überblendung einer Vielzahl von „Redeweisen“. Jede dieser Sprachen entwickelt einen spezifischen Code. Die poetische Praxis Brechts besteht darin, mittels der Durchquerung der unterschiedlichen spezifischen Codes einen tendenziell unendlichen Code zu produzieren, über dessen Zielrichtung eindeutige Aussagen kaum mehr möglich sind. Der Text wird zu einer die fixierten, beschränkten Redeformen umfassenden Sprache: mit Verwerfungen, Brüchen, sich kreuzenden Adern und Schichten. Der Text muss verstanden werden als Feld von Energien und ihren Strömungen. Die Sprache als Gestein, aus dem die verschiedenen Sprechformen je nur einen Teil herausgebrochen haben. Einerseits collagiert der Text in einer Ansammlung und Legierung die einzelnen Redeweisen. Andererseits kann er paradoxerweise gerade durch die weitgehende Reflexion des Zeichens eine Art allgemeinen Code produzieren, der es erlaubt, jede Sprechweise so zu „zitieren“, dass der Leser in seinem naiven Gebrauch dieser Sprechweisen verunsichert wird. Im Netz des Textes verfängt sich zunächst der polizeiliche Stil. Ihm gegenüber weisen die Inhalte pointiert auf den bedürftigen, auch maschinellen Körper. So werden zugleich die Kälte und der Zynismus attackiert, die sich in der „humanistischen“ ideologischen Fiktion des autonomen und verantwortlichen Rechtssubjekts verbergen. Umgekehrt funktioniert der Text dem spontanen Gefühl gegenüber. Es findet sich

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dem Aspekt des Fremden, Maschinenhaften in der Farrar selbst konfrontiert. Es kann nichts ausrichten. Da die Realität als die beherrschende Macht erscheint, behauptet der Text kalt die Nichtigkeit des Gefühls. Es wird seinerseits als hilflos-human erkannt. Es erliegt der Einbildung, nur ein Akt des guten ,,Willens“ sei erfordert, um Hilfe zu schaffen. Aber auch die Ebene des Animalischen und Kreatürlichen wird als Wahrnehmungsschema nicht bestätigt, wie viele Interpretationen behaupten. Ihm tritt nicht nur das Maschinell-Mechanische entgegen, sondern auch die betonte Tatsache, dass die soziale Gewalt auch im Opfer arbeitet. Der poetische Text kann also vermittels seiner Ästhetik, besonders seiner spezifischen Intertextualität seine Attacken lustvoll, spielerisch führen. Die Überblendung schafft trotz ihrer negativen Bewegung Licht. Die Zersetzung der ideologischen Spontaneität mündet nicht im Positiven, wohl aber in „Lust am Text“. Dessen Politik besteht darin, dass er das Pathos, den Schrei immer wieder zugleich provoziert und zurückweist, eine Politik und Poetik der Repulsion praktiziert, die den Lesenden aus den vorfabrizierten Ideen, Haltungen, Fühlweisen reißt und ihn in die prekäre Unsicherheit des textuellen Sprachspiels führt. Die Lektüre muss darum die aufgefundenen Momente, Bedeutungen stets im Sinn des Textes als Verunsicherung, Widerspruch, Mehrdeutigkeit aufgreifen. Die Reduktion des Textes durch die Benutzung nur einzelner Elemente zur „Deutung“ vernichtet den Effekt des Textes. Denn sie würde den Leser als seiner selbst gewisses Subjekt installieren, das über seine Sprache souverän zu verfügen glaubt. Der Text will dagegen das Subjekt der Sprache in der Vielfalt der Codes pluralisieren.24 Der Lesende soll in lustvoller Weise seiner Einordnung in die Instanzen und Sprachsysteme der Sozietät entfremdet werden. Er muss erkennen: Die als spontan erlebten Gefühle und Haltungen sind im sozialen Feld immer schon unspontan. Mehr noch: Sie sind keineswegs unschuldig, weil sie sich von vorgesehenen Typen des Redens, gesellschaftlich abgesicherten Diskursen ihre Existenz sichern lassen. Die Sachlichkeit des Protokolls, das Pathos der christlichen Rede können sich im Text gegenseitig kritisieren. Zugleich extendiert der Text die Kritik auf den Leser. Dieser muss sich vorführen lassen, dass seine Spontaneität eingebunden ist in die Gewalt der sozialen Diskurse: in den christlichen, den philantropischen, den liberalen. Der Ausweg der Sachlichkeit aber ist ebenfalls verlegt, denn in ihr lauert der Zynismus des Amtsstubenprotokolls. So bearbeitet der Text Naivität, verfolgt eine Strategie der Zersetzung. Jedoch ist nicht zu vergessen, dass auch die Wahrheit am Sachlichen: präzise Beobachtung, Erkennen der Hilfsbedürftigkeit und der „gebrechlichen Einrichtung“ der Welt im Spiel bleibt.

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Die „Soziolekte“ werden durchquert, ihre Wahrheit und ihr Ideologisches untrennbar gemischt, kein fester Ort, kein „Topos“ nur einer Sprache bezogen. Mit Roland Barthes zu reden, verhält sich der Text im Krieg der Sprachen „atopisch“: Die ideologischen Systeme sind Fiktionen (Idole des Theaters, würde Bacon sagen), Romane – aber klassische Romane mit Intrigen, Krisen, guten und bösen Personen […]. Jede Fiktion wird von einem sozialen Reden, einem Soziolekt getragen, mit dem sie sich identifiziert […] jedes Reden (jede Fiktion) kämpft um die Hegemonie; wenn es die Macht für sich hat, dehnt es sich überall hin aus im Strom und Alltag des sozialen Lebens wird es doxa: Natur […] aber selbst außerhalb der Macht, gegen sie, spalten sich die Redeweisen, kämpfen untereinander. Eine unbarmherzige Topik regelt das Leben der Sprache; die Sprache kommt immer von irgendeinem Ort, sie ist ein kriegerischer Topos. […] Der Text dagegen ist atopisch, wenn nicht in seiner Konsumtion, so doch wenigstens in seiner Produktion. Er ist nicht eine Redeweise, eine Fiktion, das System in ihm wird gesprengt, aufgelöst (dieses Sprengen, dieses Auflösen ist seine Signifikanz). Von dieser Atopie gewinnt und vermittelt er seinem Leser einen merkwürdigen Zustand: er ist zugleich ausgeschlossen und friedlich. Im Krieg der Sprachen kann es ruhige Momente geben, und diese Momente sind Texte. („Den Frieden“, sagt eine Person bei Brecht, „gibts im Krieg auch, er hat seine friedlichen Stelln … und zwischen dem einen Gefecht und dem andern gibt’s ein Bier …“)25 6

Nur in ganz besonderer Weise also betrifft das Gedicht von der Marie Farrar die Gefühle. Der Satz aus der „Anleitung“: „Die zweite Lektion (Bittgänge) richtet sich direkt an das Gefühl des Lesers“, ist gleichwohl keine Mystifikation. Nur darf man ihn nicht so lesen, wie es gewöhnlich geschieht: „Die Lyrik soll Menschlichkeit und Barmherzigkeit erzeugen.“26 Die Gefühle werden nicht bedient und bestätigt, sondern belehrt! Das Naheliegende: Aufschrei, Pathos, Klage wird verweigert. Neusachlich avant la lettre wendet sich der Text als eigenartige Verbindung von Spiel und Rationalität subversiv an und gegen die Spontaneität. Sie wird hervorgelockt, scheinbar gestützt, nur, damit ihr eine umso deutlichere Lektion erteilt wird. Gerade dort, wo der Text zum Beispiel an die Spontaneität des Gefühls, an Mitleid, zu appellieren scheint, führt er auf Glatteis. Der scheinbar so klare Refrain ist schon auf der einfachsten Bedeutungsebene alles andere als eindeutig: „Und ihr, ich bitte euch, wollt

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nicht in Zorn verfallen / Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.“27 Spricht das Ich die Bitte aus, weil alle Hilfe brauchen? Oder soll man nicht in Zorn verfallen, weil alle Hilfe brauchen? Und wen meint „alle Kreatur“? Diese Wendung zieht den Leser selbst in das Spiel: Die Lehre wandelt sich in einen Angriff und eine Warnung, denn das Gedicht demonstriert, wie das Opfer Marie zur Täterin wird. Es entsteht das Bild von einer Kette der Gewalt, die auch den Rezipienten erreichen kann. Nicht in Zorn zu verfallen wäre dann eine Sache nicht des Mitgefühls, sondern der Selbsterhaltung.28 Diese Deutung lässt sich durch einen Blick auf das Gedicht „O Falladah, die Du hangest!“29 erhärten. Dort bricht ein Zugpferd auf der Straße zusammen – man schreibt das Jahr 1919 mit seiner extremen Not – und schon stürzen aus den Häusern ausgehungerte Menschen und schneiden ihm buchstäblich bei noch lebendigem Leib das Fleisch von den Knochen. Berichtet wird aus der Perspektive des mittlerweile toten Pferdes, das fortfährt: Da fragte ich mich, was für eine Kälte Muß über die Leute gekommen sein! Wer schlägt da so auf sie ein Daß sie jetzt so durch und durch erkaltet? So helfet ihnen doch! Deutlich ist, wie auch hier die Täter, die wie Marie barbarisch Handelnden, als Opfer gezeichnet werden. Alle Gewalt ist immer schon Glied einer Kette von Gewalt. Das Pferd staunte zunächst über die Wandlung der Leute („einst mir so freundlich und mir so feindlich heute“) und gelangt von der Frage nach der Ursache zur Bitte um Hilfe für seine Mörder und Schlächter. Dann folgt jedoch noch eine Wendung: „So helfet ihnen doch! Und tut es in Bälde! / Sonst passiert Euch etwas, was Ihr nicht für möglich haltet!“ Was das Pferd nicht für möglich hielt und was ihm gleichwohl geschah, davor werden die Leser gewarnt. Beharren auf dem eigenen Lebensverlangen ist das Motiv, nicht Erbarmen, es sei denn jenes „Erbarmen mit sich selbst“, das Brecht später auch von den Müttern wie von den Vätern fordern wird: Ihr, die ihr überlebtet in gestorbenen Städten Habt doch nun endlich mit euch selbst Erbarmen! Zieht nun in neue Kriege nicht – ihr Armen Als ob die alten nicht gelanget hätten:

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Ich bitte euch – habet mit euch selbst Erbarmen! […] Ihr Mütter […] Ich bitte euch – lasset eure Kinder leben! Daß sie euch die Geburt und nicht den Tod dann schulden: Ihr Mütter – lasset eure Kinder leben.30 Zum Angriff auf den Leser wird also die Ballade von Marie Farrar, indem gerade die anscheinend unverdächtige, edle Haltung der „Großmut“ gegen die Verworfenen problematisch wird. Der Leser des Gedichts ist – als Student, als Schüler, als Lehrer, Dozent, als Intellektueller – immer schon einer, der, im Gegensatz zu den „Ausgestoßenen“, „Verworfenen“ dazugehört. So spricht ihn der Text an. Und in diesem Angriff auf die Position des „großmütigen“ Lesers terminiert die Logik dieses Textes. Es wird gezeigt, dass die der Kälte Unterworfenen nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Der Leser muss durch die Struktur des Textes lernen: „Es sind nicht die Hilflosen, die dem Terror Unterworfenen, die den Terror anzetteln, sondern die Gewalttätigen, die mit Hilfe ihrer Macht die konkrete Situation schaffen, die die ‚vom Leben Verworfenen‘ zeugt.“31 Aber noch weiter geht der Angriff, der darin besteht, dem Leser auch den vermeintlich unangreifbaren Boden seines Erbarmens, seines verständnisvollen Mitleids zu entziehen, indem erbarmungslos deren Ohnmacht und Wirkungslosigkeit mit der schweigenden Kälte der Realität konfrontiert wird. Dem entspräche die Art, wie Brecht selbst im Dezember 1921, in bitterer Stimmung, an eine „arme Kreatur“ im Hause Frank Warschauers denkt: Aber mir fiel das Schicksal des Dienstmädchens ein, das bei Warschauers in einem Loch haust und arbeitet, die Schwindsucht hat, keine Heimat, keinen Mann, das tagelang nichts spricht, und die Wohnung ist finster. Und ich sehe nicht mehr, wo der große Unterschied ist, ich bin weit entfernt von Mitleid, ich meine nur, wie arm wir sind, wie affenhaft und mißbrauchbar, elend, hungrig, geduldig.32 Nichts liegt ihm ferner als jener „falsche Großmut“, von dem Paulo Freire sprach. Der falsche Großmut bedarf zu seinem Funktionieren des Bilds vom Opfer, das in seinem realen Leiden den Vorwand abgeben muss für die Rhetorik des Mitleidens derer, die es besser haben, seelische Leiden, die dazu gut sind, sich im Schein der eigenen Hochanständigkeit zu sonnen. Brechts Lektion hat darum eine nicht zufällige Ähnlichkeit mit der des Pädagogen Freire:

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Wahre Großmut […] kämpft den Kampf, der die Ursachen beseitigt, von denen sich die falsche Barmherzigkeit nährt. Falsche Barmherzigkeit zwingt die Furchterfüllten und Unterdrückten, die vom Leben Verworfenen, ihre zitternden Hände auszustrecken. Echte Großmut ringt darum, daß diese Hände – einzelner oder ganzer Völker – sich immer weniger in bittender Haltung ausstrecken müssen und stattdessen mehr und mehr menschliche Hände werden, die durch ihre Arbeit die Welt verwandeln.33 7

Brecht hat Jahrzehnte später im Kaukasischen Kreidekreis gleichsam eine Antwort auf das Gedicht von der Marie Farrar gegeben. Das Stück stellt die wirkliche Mütterlichkeit: Fürsorge, praktische Liebe und Selbstlosigkeit der bloßen Mutterschaft durch Geburt gegenüber. Die Quintessenz lautet, dass das Kind, um welches der Streit zwischen der reichen Frau und der Grusche aus dem Volk geführt wird, der Mutter gehören soll, die „für es gut“ ist, nicht der blutsverwandten Mutter, die es nur geboren hat, aber sich nicht mütterlich betrug. Hier wird von Brecht der unmöglichen Mutterschaft der Farrar eine mögliche und wirkliche Mütterlichkeit der Grusche entgegengehalten. An die Hauspostille erinnert schon das erste Erscheinen des Gouverneurskinds auf der Bühne. Sagt das Gedicht „Von der Freundlichkeit der Welt“: „Und man holte euch nicht im Gefährt“, so wird das Kind hier gleich im Wägelchen auf die Bühne gerollt. Nicht mehr der Mensch, sondern der von seiner sozialen Stellung bestimmte Mensch ist Thema. Und da gibt es eben doch welche, die man im Gefährt holt. Es wäre verlockend, der Beziehung der beiden Darstellungen der Mutterschaft im Einzelnen nachzugehen, aber beschränken müssen wir uns darauf, dass Brecht Themen und Worte des Farrar-Gedichts verblüffend direkt wieder aufnimmt, um sie freilich anders zu wenden. In der Szene „Das hohe Kind“ tritt die Situation ein, dass in den Wirren einer Palastrevolte das Kind des Gouverneurs von seiner Mutter verlassen worden ist und Grusche, zunächst nur für einen Moment, darauf achtgibt, schließlich aber es nicht übers Herz bringt, das Baby umkommen zu lassen. Schon im Weggehen sieht sie sich nach dem Kind um und bleibt unbeweglich stehen, als der Sänger beginnt, die Szene zu schildern: Als sie nun stand zwischen Tür und Tor, hörte sie Oder vermeinte zu hören ein leises Rufen: das Kind Rief ihr, wimmerte nicht, sondern rief ganz verständig So jedenfalls war’s ihr. „Frau“, sagte es, „hilf mir.“

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Und es fuhr fort, wimmerte nicht, sondern sprach ganz verständig: „Wisse, Frau, wer einen Hilferuf nicht hört Sondern vorbeigeht, verstörten Ohrs: nie mehr Wird der hören den leisen Ruf des Liebsten noch Im Morgengrauen die Amsel oder den wohligen Seufzer der erschöpften Weinpflücker beim Angelus.“ Dies hörend Grusche tut ein paar Schritte auf das Kind zu und beugt sich über es ging sie zurück, das Kind Noch einmal anzusehen. Nur für ein paar Augenblicke Bei ihm zu sitzen, nur bis wer andrer käme Die Mutter vielleicht oder irgendwer Sie setzt sich dem Kind gegenüber, an die Kiste gelehnt Nur bevor sie wegging, denn die Gefahr war zu groß, die Stadt erfüllt Von Brand und Jammer. Das Licht wird schwächer, als würde es Abend und Nacht. Grusche ist in den Palast gegangen und hat eine Lampe und Milch geholt, von der sie dem Kinde zu trinken gibt. DER SÄNGER laut: Schrecklich ist die Verführung zur Güte34 Diese „Mutter“ wird im Verlauf des Stücks zeigen, dass sie so weit zur Güte verführt ist, dass sie nicht wie die Marie Farrar das Kind totschlägt, sondern dem Soldaten eine Latte über den Kopf haut, der das Kind dem Tod ausliefern will.35 Nach diesem Schlag kommentiert der Sänger: Und auf der Flucht vor den Panzerreitern Nach 22tägiger Wanderung Am Fuß des Janga-Tau-Gletschers Nahm Grusche Vachnadze das Kind an Kindes Statt. Die Musiker antworten: „Nahm die Hilflose den Hilflosen an Kindes Statt.“36 Hier ist die Umkehrung des Farrar-Gedichts vollendet, und wie zur Erinnerung an die Kältewelt der Hauspostille folgt die Regieanweisung „Über einem halb vereisten Bach kauert Grusche Vachnadze und schöpft dem Kind Wasser mit der hohlen Hand“.37 Anders als in den frühen Gedichten ist hier ein Eingriff, durch das halbgetaute Eis in das Wasser, möglich, ein Durchbrechen der Kette der Gewalt. Es kann eine Entscheidung geben, der eigenen Hilflosigkeit zum Trotz (oder besser: gerade ihretwegen) sich zum Helfer zu machen und der Aufforderung des Stücks „Hilf dem Hilflosen, Hilflose!“38 zu folgen. Der Sänger schil-

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dert die Gedanken der Grusche ihrem soeben aus dem Krieg heimgekehrten Geliebten gegenüber: Als du kämpftest in der Schlacht, Soldat Der blutigen Schlacht, der bitteren Schlacht Traf ein Kind ich, das hilflos war Hatt’ es abzutun nicht das Herz. Kümmern mußte ich mich um das, was verkommen war Bücken mußte ich mich nach den Brotkrumen am Boden Zerreißen mußte ich mich für das, was nicht mein war Das Fremde. Einer muß der Helfer sein. Denn sein Wasser braucht der kleine Baum. Es verläuft das Kälbchen sich, wenn der Hirte schläft Und der Schrei bleibt ungehört.39

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GBA 8, S. 44. GBA 11, S. 44–46. Es ließe sich dartun, dass dabei immer wieder die Geburt als sonderbar misslingend, als abgebrochen, als abgetrieben erscheint. Die Totgeburt und die nicht zum Ziel gelangende Gravidität sind tief in der Konstruktion und im Assoziationsfeld vieler der frühen Gedichte, etwa der Schiff- und Schwimmgedichte, verankert. Vielleicht ist auch dies eine Manifestation der von Peter von Matt beobachteten Weigerung, die eigene Geburt zu konstatieren. Die Konnotation Trommelfeuer der Fäuste, Trommelfell, Trommeln ist interessant. Das eigenartige Bild des Trommlers bei Brecht von Trommeln in der Nacht über die trommelnde und stumme Kattrin in Mutter Courage bis hin zum Kaukasischen Kreidekreis, wo das Kind Trommelchen genannt wird, wäre eine Untersuchung wert. Vgl. inzwischen: Müller-Schöll, Nikolaus: Das Theater des konstruktiven Defaitismus. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller, Frankfurt a. M. 2002, S. 231ff. Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung, zit. nach: Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Hamburg 1973, S. 13. Vgl. die Schlussszene von Heinrich Leopold Wagners Trauerspiel Die Kindermörderin, Stuttgart 1969, S. 120. Lyons, Charles R.: Bertolt Brecht. The Despair and the Polemic, London/Amsterdam 1968, S. 69. Ebd. Esslin, Martin: Brecht. A Choice of Evils, London 1959, S. 211f. Barthes, Roland: Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1974, S. 62. Bay, Jürgen: Brechts Utopie von der Abschaffung der Kälte, Stuttgart 1975, S. 28. So kennzeichnet Carl Pietzcker zu Recht die Schlussansprache. Vgl. ders.: „Von der Kindesmörderin Marie Farrar“, in: Brechtdiskussion, Kronberg 1974, S. 188. Brecht, Bertolt: Tagebücher, hrsg v. Herta Ramthun, Frankfurt a. M. 1975, S. 112. Biographische Bezüge bleiben dabei vorweg problematisch. (Vgl.: Völker, Klaus: Bertolt Brecht. Eine Biographie, München 1976, S. 34ff.) Sie lassen in diesem Fall immerhin erkennen, wie wenig eindeutig die Projektionen des Autors Brecht sind. Marieluise Fleißer weiß zu berichten, „daß er einen Horror vor Schwangerschaften hatte und auf den Zustand der Weiber schimpfte, hatte er sie in den Zustand versetzt, als täten sie es ihm mit Fleiß“ (zit. nach Völker, a. a. O., S. 43). In der Tat scheint der Brecht dieser Jahre mit der


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Befürchtung, Verhinderung und dem Herbeiwünschen von Kindern selbst ständig schwanger gegangen zu sein (vgl. ebd., Kap. 3). Aber er identifiziert sich auch mit einem möglichen Kind in Tagebuchnotizen wie: „Timbuktu ist gut, und ein Kind ist auch gut, man kann beides haben. Es heißt Peter oder Gise, man kann sie nicht morden.“ Heiraten will er aber nicht, denn „ich bin ein Provisorium und muß Sprungweite haben, ich wachse noch“. (Ebd. S. 51) Sie selbst sei, heißt es von Marie Farrar, „damals noch gewachsen“: Beziehungen des Autor-Subjekts zur Mutter, zum Kind, zu den Sprechern, zu den zitierten Sprechweisen. Dieses Subjekt existiert nur im gesamten Textprozess, nicht als Projektion einer Figur. Man kann nicht ohne genaue Berücksichtigung dieser Anspielung den Schluss allein aus der Dynamik von Brechts Gedicht verstehen. Für Pietzcker stellen die Sprechweisen des Gedichts „Masken“ dar, deren sich das Autor-Subjekt bedient, um seine Botschaft besser vermitteln zu können. Aber seine Thesen beruhen auf einer zwar verbreiteten, aber überprüfungsbedürftigen Auffassung des literarischen Textes. Er thematisiert die in die Ballade eingegangene Kritik sprachlichen Verhaltens. Der Konzentration auf die im Text vorgeführten Sprechweisen tut jedoch Abbruch, dass die Sprechweisen sogleich mit „Sprechern“ identifiziert werden. Diese Sprachen sind in sich selbst zweideutig, verweisen keineswegs, wie der erste Blick meint, auf identische Subjekte hinter ihnen. Aus dieser problematischen Vereinfachung folgt: Die Sprechweisen werden als „Masken“ eines „Balladensprechers“ begriffen, der als grundsätzlich mit sich identisch, als selbst in seiner Sprache nicht befangen gedacht ist. Diese Hypostasierung eines identischen Subjekts hinter den Masken scheint uns jedoch verfehlt, weil sie die Frage nach dem Subjekt im Textprozess verschüttet. Die „Charakterlosigkeit“ des Textes bleibt in Spannung zu seinem sozialen Gestus. Der Text zeigt als These nicht eine Welt in grotesker Sinnlosigkeit vor, kehrt nicht die christliche Bitte in eine an die Menschen um, sondern die menschliche Bitte wird zum Thema, die nicht imstande ist, eine praktische Gewalt aufzubieten: Sie, nicht die Welt ist absurd. Daher muss man Pietzckers Einschätzungen des Gedichts widersprechen, es predige eine „irrationale Lehre“ (S. 192), dass in ihm das Subjekt nach einem Weg suche, „die Standpunktlosigkeit zur Tugend zu erheben und zugleich unkenntlich zu machen“ (S. 193), und dass seine Sozialkritik „im Grotesken verharrt“ (S. 195). Der Text muss als eigene Praxis beurteilt werden, nicht als Ausdruck einer bestimmten Ideologie des Autors. Villon, François: „Ballade, in der Villon jedermann Abbitte leistet“, in: ders.: Balladen, übers. v. K. L. Ammer, Weimar 1949. Vgl. dazu auch Grimm, Reinhold: „Werk und Wirkung des Übersetzers Karl Klammer“, in: Neophilologus Nr. 44, Groningen 1960, S. 20–36. Vgl. Villon: Sämtliche Dichtungen französisch und deutsch, Wiesbaden 1976, S. 162: „Item, eta filles de bien, / Qui ont peres, meres et antes / Par m’ame! je ne donne rien, / Car j’ay tout donné aux servantes.“ Pietzcker, a. a. O., S. 199f. Vgl. Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1965, S. 190ff. Vgl. Rimbaud: Œuvres, Paris 1960, S. 124. Schiller, Friedrich: „Die Kindsmörderin“, in: ders.: Die Gedichte, Frankfurt a. M. 1963, S. 27–30. Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Vgl. Kristeva, Julia: La revolution du langage poétique, Paris 1974, und: Polylogue, Paris 1977. Barthes, a. a. O., S. 44–46. Marsch, Edgar: Brecht-Kommentar zum lyrischen Werk, München 1974, S. 121. „Ich bitte Euch!“ ist nicht nur lesbar als Feststellung, sondern auch als Formel für Empörung und Erstaunen: „Aber ich bitte Sie, mein Herr!“ Dann liest sich die erste Zeile des Refrains aber nicht mehr als: Verfallt nicht in Zorn!, sondern als: Ihr verfallt nicht in Zorn. Vgl. aber Lyons, a. a. O., S. 69ff., der die Haltung des Refrains mit der des Gedichts identifiziert und Brechts „strong sense of compassion“ betont. Interessant ist Lyons’ These, dass in „Marie Farrar“ eine Annahme der eigenen Schuld für soziales Leiden sich zeige, die dann in der Maßnahme noch wirke, in der jedoch die Gefühle als sinnlos und destruktiv erschienen. Die Lehrstücke wären demnach eine Art „purging of that very weakness“. BFA 14, S. 142ff. BFA 15, S. 205. Freire: a. a. O., S. 42. Brecht: Tagebücher, S. 178. Freire, a. a. O., S. 32. BFA 8, S. 28. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd. Ebd., S. 35. Ebd., S. 58.

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DAS SUBJEKT DER HAUSPOSTILLE -

Vom armen B. B.

l Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern. Meine Mutter trug mich in die Städte hinein Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Walder Wird in mir bis zu meinem Absterben sein. 2 In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang Versehen mit jedem Sterbsakrament: Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein. Mißtrauisch und faul und zufrieden am End. 3 Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch. Ich sage: es sind ganz besonders riechende Tiere Und ich sage: es macht nichts, ich bin es auch. 4 In meine leeren Schaukelstühle vormittags Setze ich mir mitunter ein paar Frauen. Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen: In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen. 5 Gegen abends versammle ich um mich Männer Wir reden uns da mit „Gentleman“ an Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen Und sagen: es wird besser mit uns. Und ich frage nicht: wann. 6 Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen Und ihr Ungeziefer, die Vögel, fängt an zu schrein. Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus und schmeiße Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein.

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7 Wir sind gesessen ein leichtes Geschlechte In Häusern, die für unzerstörbare galten (So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan Und die dünnen Antennen, die das Atlantische Meer unterhalten). 8 Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind! Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es. Wir wissen, daß wir Vorläufige sind Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes. 9 Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen Aus den schwarzen Wäldern in meiner Mutter in früher Zeit.1 1

Im Anhang zur Hauspostille findet sich das Gedicht „Vom armen B. B.“, auf das der Leser zurückgreifen wird, der Auskunft wünscht über das empirische Subjekt Brecht, den Autor der Gedichtsammlung. Warnen muss ihn hier freilich schon der Titel, stellt doch das B. B. bereits einen Akt der Stilisierung dar, das Monogramm eines Künstlernamens, den sich Berthold Eugen Brecht zulegte. Spielerisch ist dieses Monogramm in den Text hineingezogen durch die erste Strophe, die B. B. als bébé vorführt: „Meine Mutter trug mich in die Städte hinein / Als ich in ihrem Leibe lag […].“ Schon hier wird das „Autobiographische“ zweifelhaft. Das Subjekt, das nur scheinbar seinen Namen nennt, zieht sich in das Spiel der textuellen Verweise zurück. Der arme B. B. konnotiert den pauvre Villon, den Ahnherrn der poètes maudits. Wiederum verweist das Subjekt die Frage des Lesers nach der Person auf die Literatur. Villon gilt eines der Gedichte der Hauspostille, in dem es heißt: Francois Villon war armer Leute Kind Ihm schaukelte die Wiege kühler Föhn […] François Villon, den nie ein Bett bedeckte Fand früh und leicht, daß kühler Wind ihm schmeckte.2

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Wind, Essen, Frühe, Leichtigkeit, Armut und Kühle: Villon, B. B. und der Autor Brecht sind offensichtlich aufeinander bezogen und formen wohl ein Text-Subjekt, nicht aber einen autobiographischen Gehalt. Das Gedicht betrifft Brecht als das Subjekt der Gedichte der Hauspostille: ein moderner François, der so durch die Städte irrt wie jener, der die ville auch im Namen Villon trägt, einst durch Frankreich. Allerdings fällt der gravierende Unterschied auf, dass die „Armut“ dieses B. B., anders als die des Outsiders Villon, im Mitmachen besteht: Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch. Ich sage: es sind ganz besonders riechende Tiere Und ich sage: es macht nichts, ich bin es auch. Dieser B. B. dürfte es im Gegensatz zu Villon nicht leicht mit der Polizei zu tun bekommen, so wenig liegt ihm daran aufzufallen. Allerdings ist sein Einverständnis höchst vorläufig. Nachdem er in Strophe sechs „beunruhigt“ eingeschlafen ist, folgen, mit einem deutlichen Umschlag der Tonlage, Passagen, in denen mit prophetischem Gestus von Zerstörungen großen Ausmaßes die Rede ist. Dass aber derart das Ich mitten im Gedicht einschläft, hat diesen Grund: Die Reden vom Untergang der Städte sind seine Träume, die im unruhigen Schlaf kommen. In diesen Träumen verwandelt es sich in ein Wir und spricht als und vom Kollektiv. Erst die Verbindung von diesem Mitmachen und jenen Träumen macht den armen B. B. zu dem, was er ist. Das poetische Subjekt ist eingelassen in die Alltagswelt und gerade dies ermöglicht ihm, mit Hilfe seiner Kälte aus dem Stoff der Städte seine Träume zu spinnen, die aber alle das „wir“ betreffen. Es sind besondere Träume: Sie kreisen einzig um Zerstörung und Vergehen. Klaus Schuhmann beschreibt das Gedicht wie Clemens Heselhaus und andere vor ihm so: [Brecht] gibt jetzt in der Maske eines durchschnittlichen Amerikaners eine Art Prognose über diese ganze amerikanisierte Zivilisation […]. Das Großstadtleben wird […] als Daseinsform akzeptiert […]. Von der 3. Strophe an geht Brecht zum Bericht über. Der Tagesablauf eines Städtebewohners wird vorgeführt […] auch die Geselligkeit des Abends kann nicht über die Leere und Sinnlosigkeit des Städtelebens hinwegtäuschen […] der neue Tag […] wird sinnlos vertan wie der vorangegangene […]. Der modernen amerikanisierten Zivilisation wird das Urteil gesprochen […] Denken im Bannkreis spätbürgerlichen Verfalls […].3

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Es wird sich zeigen, dass fast alles hier anders liegt. Prognose und Untergang sind so umstandslos nicht zu verstehen, und auch wenn man die Amerikanismen des Gedichts nicht übersieht, fehlt diesem Subjekt viel zu einem „durchschnittlichen Amerikaner“. Brecht formuliert hier im Jahre 1922 schon quasi neusachliche Elemente der Position des Städtebewohners, wie sie später in dem geplanten Lesebuch für Städtebewohner Umriss gewinnt. Solche Elemente sind die trockene Diktion, das selbstverständliche Akzeptieren der kalten Welt verdinglichter Beziehungen, die Freundlichkeit, mit der eingesehen wird, dass die Menschen nicht die Schuldigen sind, wenn man ins Unglück stürzt. Auch der Brecht, der die Änderbarkeit des Schlechten ins Zentrum seines Denkens stellte, verfiel nie dem Impuls, den nächsten besten Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Gerade der marxistische Brecht, der wusste, dass die Erdbeben „Hüte aufhaben“, hat immer wieder dargestellt, wie dem Einzelnen Kälte und Gewalt als Effekt in einer langen Kausalkette begegnen. Verfolgt man die Bahn dieses Textsubjekts durch die Strophen des Gedichts, so fällt zunächst der Rahmen auf, den die erste und letzte Strophe setzen, in denen von Mutter, Kälte der Wälder und einem Hineintragen in die Städte die Rede ist. Kaum eine Deutung des Gedichts hat sich Rechenschaft darüber abgelegt, warum wohl gleichzeitig einerseits die Städte als kalt konnotiert, andererseits aber auch das Ich von Kälte erfüllt ist und auch die Wälder kalt und schwarz sind. In einem Standardkommentar lesen wir: „Der Wald ist heimische Ursprungszone, während die Stadt Ort kalter Aussetzung ist.“4 Im Text sucht man diesen Gegensatz vergebens. Benjamin hat treffend bemerkt: In den Wäldern ist es kalt, kälter kann es nicht in den Städten sein. Dem Dichter ist schon im Mutterschoß so kalt gewesen wie in den Asphaltstädten, in denen er leben sollte. […] Der Dichter spricht, als sei er schon im Mutterschoß ausgesetzt gewesen.5 Die Opposition Kälte – Wärme in einer überschaubaren Polarität von „guten“ und „schlechten“ Werten bleibt im Text nicht intakt. Damit aber auch nicht die verschiedenen allegorischen Gleichungen, die man an der Kälte ausprobieren kann: Kälte = Entfremdung, Verdinglichung, Individuation, Stadtleben, amerikanische Zivilisation, Trennung von der Mutter oder Isolation (des Dichters). Sie alle tragen zum Feld von Assoziationen bei, ermöglichen aber keine Fixierung der Bedeutung. Das Gedicht „Von der Freundlichkeit der Welt“ beginnt mit der erbarmungslosen Kälte und mündet doch in die Feststellung: „Fast ein jeder hat die

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Welt geliebt / Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt.“ Die „Kälte der Wälder“ ist auch die Kälte der Welt, wie sie jenes Lied beschwört: Auf die Erde voller kaltem Wind Kamt ihr alle als ein nacktes Kind Frierend lagt ihr ohne alle Hab Als ein Weib euch eine Windel gab. Doch ist der feindlich kalte Wind auch schön und befreiend6, keineswegs nur „Metapher für ein Dasein ohne jeglichen Sinn“7. Ohne eine präzise Diskussion darüber, was Nihilismus ist, bleibt auch fragwürdig, die Kältemetapher bei Brecht als Indiz „für nihilistische Weltanschauung“ zu deuten. Solche Formeln unterschlagen das Einverständnis mit Vergehen und Distanz als produktiven Möglichkeiten, dem ohne Bedauern gemachten Abschied von göttlicher Erleuchtung und Überwachung. So wenig der Titel „Von der Freundlichkeit der Welt“ ein bloßer Sarkasmus ist, ebenso wenig ist es die Dankbarkeit, die sich im „Großen Dankchoral“ äußert: Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben! Schauet hinan: Es kommt nicht auf euch an Und ihr könnt unbesorgt sterben.8 Wie man hier stirbt, ohne dass sich andere darum sorgen und ohne dass man selber sich um sie (oder den Tod oder Gott) sorgt, so kann auch der arme B. B. seine Frauen „sorglos“ betrachten: Er sorgt sich nicht um sie, die Distanz erlaubt Heiterkeit und einen (höflichen) Mangel an Fürsorge.9 Es kommt zur Ambivalenz von guter und schlechter Kälte noch eine weitere Verdopplung in eine innere und eine äußere Kälte hinzu: Die eine trägt der arme B. B. in sich, die andere affiziert ihn von außen. Kalt sind die Städte draußen, in denen man sich mit etwas Branntwein oder dem kleinen Feuer einer Virginiazigarre ein wenig wärmen kann. Kalt sind die Wälder und kalt ist das Ich von Innen, von den Wäldern her: „[…] die Kälte der Wälder / Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.“ Ist diese Kälte Gleichmut oder Verlorenheit, Zynismus oder rettender Schutz? Hört die Kälte beim Absterben auf? Nach dem Absterben? Sind Sterben oder Tod Zustände von Wärme? Es könnte ja sein, dass das Subjekt sein Eigenes – die Herkunft aus den Wäldern – verlieren muss, als ein „Ich“ absterben muss, um zur Wärme zu gelangen. Aber will es dahin gelangen? Welche Bedeutung hat die Kälte, von der das Absterben zeugt? Das

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Absterben eines Glieds, seine Erstarrung, rettet biologisch betrachtet den ganzen Körper durch Kälte vor der Kälte, indem bestimmte Körperteile starr werden und aus der Blutzirkulation herausfallen. Dieses Absterben von Gliedern ist eine Art vorläufiger, vorübergehender Tod. Quasi tot nimmt das Glied keine Fürsorge des ganzen Organismus mehr in Anspruch. Kaum anzunehmen, dass der Medizinstudent Brecht diese Bedeutung von Absterben nicht gekannt hätte. Aber von welchem Körper wäre der arme B. B. dann ein Arm, Bein oder sonstiges Glied? Diese Fragen zeigen, dass man mit dem Schema von einfachen oder doppelten Gegensätzen nicht auskommt. Vielmehr knüpfen die Signifikanten ein komplexes Netz von Bezügen, das verschiedene Ebenen hat, durch Anspielungen lebt. So lenkt der Gleichklang von Wald und Asphalt die Aufmerksamkeit auf einen Bezug, der weder Gegensatz noch Identität bezeichnet. Zu konstatieren ist, was die dominierende Kälte angeht, ein komplexes Spiel von Innen und Außen. Einerseits situiert sich das Ich in den Wäldern, aus denen es herausgetragen zu werden scheint, dann situiert es sich als im Mutterleib gelegen. Die Kälte gehört zu den Wäldern – also dem Raum, in dem sich das Ich (und auch die Mutter?) – befindet. Zugleich aber ist die Kälte im Ich selbst. Der scheinbare Gegensatz von Innen und Außen wird unterwandert, indem nicht mehr sicher ist, wo Ich, Wälder, Mutterleib im Verhältnis zur Kälte anzusiedeln sind. Der Schluss des Gedichts nimmt diese Bilder auf, um sie nur noch vieldeutiger zu machen: „Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen / Aus den schwarzen Wäldern in meiner Mutter in früher Zeit.“ Hier ist deutlich, dass es die folgende Lesart gibt: Die schwarzen Wälder befinden sich in der Mutter. Das Außen (Kälte) ist zugleich im Innen: im Ich und in der Mutter. Eine auffällige Anordnung der Motive in der ersten Strophe weist auf das Beziehungsfeld Außen – Innen hin: Zirkulär kreisen die Elemente der Strophe die Städte ein. In der Reihenfolge ihres Auftretens hat man: B. B. – Wälder – Mutter – STÄDTE – (Leib der) – Wälder – mein Absterben Mutter

Solche Anordnung lenkt aber auch den Blick auf die Beziehung Bert Brecht – Absterben. Wie das Gedicht in seinem weiteren Verlauf expliziert, wird in der Tat das Subjekt in seinem Dasein schon als ständiges Absterben verstanden, was in Lautassoziationen der ersten Strophe anklingt: in Wälder: älter; in Kälte: Älte; in Bertolt: alt. Zudem findet sich in AbsTERBen ein Anagramm von BERT.10

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Von Anfang an, das ergibt die Analyse, ist die Kälte so fundamental zweideutig, dass unklärbar bleibt, ob die Kälte im Leben ersehnt oder betrauert wird, ob das Absterben als (gefürchteter) endgültiger Tod oder (gewünschter) Scheintod zu verstehen ist. Unklärbar, warum Kälte gerade das ist, was mit dem Absterben vielleicht aufhört, obwohl Kälte just mit Sterben und Absterben assoziiert ist; ob die Kälte aus einem Raum vor der Geburt, aus dem Leib der Mutter oder aus dem Subjekt stammt; ob das Getragen- oder Verschlagenwerden in die Städte eine Einbuße, eine Lust oder eine hingenommene condition humaine anzeigt. Wie entfaltet der Text die in dem metaphorischen Rahmen der ersten und letzten Strophe angelegten Widersprüche? 2

Das Gedicht zerfällt in drei Teile mit je drei Strophen. Die ersten drei tragen ein „Ich bin“ in der ersten Zeile, die nächsten drei eine Zeitangabe (Vormittags, Gegen abends, Gegen Morgen), die letzten drei sprechen von Untergang, Erdbeben und Zerstörung. Leitet die erste Strophe zum Absterben hin, so setzt die Strophe zwei es in Szene: In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang Versehen mit jedem Sterbsakrament: Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein. Mißtrauisch und faul und zufrieden am End. Gegenbild und Ergänzung zugleich stellt die zweite Strophe für die erste dar. Die erste zeigt, was das Subjekt in sich trägt, die zweite, was es außen bei sich trägt. Die Kälte hat es von den Wäldern, von wem die Sterbsakramente? Deren Herkunft ist über eine grammatische Zweideutigkeit zu vermuten. Man kann lesen: Von Anfang an bin ich versehen mit den Sakramenten, aber auch: Von allem Anfang, von Gott vielleicht, der aller Dinge Anfang und das Wort ist, bin ich versehen. Die heiligen Sakramente werden zu Zeitungen, Tabak und Branntwein, denen die Eigenschaften misstrauisch (gegen die Zeitungen), faul (beim Rauchen) und zufrieden (beim Alkohol) entsprechen. Das Sterben, zu dem es die Sakramente gibt, ist die Daseinsform des Alltags. Von allem Anfang ist das Ich „Mißtrauisch und faul und zufrieden am End“. Unentscheidbar allerdings, wie dieser Passus zu verstehen ist. Bedeutet die Zeile: schließlich und endlich doch zufrieden? Oder: am Ende, wenn es ans Sterben geht, zufrieden? Oder: immer schon am Ende und damit zufrieden? Soviel lässt sich immerhin sagen, dass hier nicht Anfang, Neubeginn und Aufbruch zentral sind. Der Akzent liegt

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auf Sterben und Ende. Das Ich ist zufrieden mit dem Umstand, dass immer etwas zu Ende geht. Das alltägliche Dasein erscheint als alltägliches Sterben, und das Subjekt leidet nicht unter dem Ende, sondern ist zufrieden. So kann es, wie die Strophe drei vorführt, den Bräuchen folgen, wie man in einem exotischen Land vom dort üblichen „Brauch“ spricht. Sie lautet: Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch. Ich sage: es sind ganz besonders riechende Tiere Und ich sage: es macht nichts, ich bin es auch. Wenn die anderen Leute „besonders riechende Tiere“ genannt werden, so hat sich das Subjekt anscheinend gar nicht aus den Wäldern entfernt. Asphalt und Wald sind sich ähnlicher als gedacht. Mit dieser Strophe beginnend werden die Kontakte geschildert, an denen sofort eine merkwürdige Gemeinsamkeit auffällt: Leute, Frauen, Männer stehen im Plural. Das Ich findet sich schon durch seinen Singular von ihnen abgesondert. Es steht überhaupt, wie bei Wäldern, Städten, Sakramenten, sehr oft als Singular inmitten einer Vielzahl von Pluralformen, bis es – erst in den prophetischen Träumen – mit den anderen zu einem Wir verschmelzen wird. Auffällig ist an dieser Figur nicht so sehr, dass überhaupt Gruppen, die in unterschiedlichem Ausmaß anonym bleiben, die Szene beherrschen, sondern der Umstand, dass das Ich als deutlich vereinzeltes den Gruppen gegenübersteht. Gleichwohl werden die Bedürfnisse nach unmittelbarer Kommunikation in diese Figur eingebracht: Gemeinsamkeit, Riechen, Sprechen und Fragen, Betrachten und, wenn man die sexuelle Konnotation der Schaukelstühle akzeptiert, die Erotik. Über die ganz allgemeine Schilderung „entfremdeter“ Kontakte dürfte diese Darstellung aber hinausgehen, denn die Struktur vereinzeltes Ich – Gruppe kennzeichnet auch eine andere Relation: die von Autor und Leser. Auch der Autor spricht stets aus einer gewissen Abwesenheit, seine Kommunikation ist die eines Einzelnen zur anonymen Gruppe der Leser. Der Autor richtet sich freundlich nach den Bräuchen, macht sich, wie es für Brechts Texte charakteristisch ist, auf der Ebene der Kreatur, des Tiers, mit den Lesern gemein. Er liefert eine Kommunikation, auf die man allerdings nicht bauen kann, die vielmehr den Leser ins Schwanken und Schaukeln bringt. Verfolgt man die These weiter, Brecht könne es hier um seine schriftstellerische Kommunikation gehen, so bemerkt man: Er schweigt zu den Reden der sogenannten Gentlemen.

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Gegen abends versammle ich um mich Männer Wir reden uns da mit „Gentleman“ an Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen Und sagen: es wird besser mit uns. Und ich frage nicht: wann. Die Szene legt die Frage nahe, was es mit diesen Gentlemen auf sich hat – ein Ausdruck, der auf die Freundlichkeit des Subjekts (gentle) verweist, sicherlich ein Amerikanismus zu nennen, damit aber noch nicht verstanden ist. Es lässt sich nämlich zeigen, dass er einen – freilich verborgenen – Zusammenhang mit der poetologischen Dimension des Gedichts aufweist. Eine Tagebuchnotiz von Brecht berichtet über ein nächtliches Gespräch mit Orge (Georg Pflanzelt) vom 30. September 1921, das eben vom „Gent“ handelt, wie es dort heißt. Sie liest sich wie ein Kommentar zum Gedicht über den armen B. B.: Nachts mit Orge über den Gent. Der Gent fällt nur dadurch auf, daß er nicht auffällt. Es gelingt ihm anonym und inkognito zu bleiben. Er profaniert nichts. Er ist farblos, etwas Wasserfarbe, mit einem Taschentuch ausgewischt […]. Schon hier lässt die Darstellung an Keuners Lieblingstier, den Elefanten, und zugleich an Benjamins „Der destruktive Charakter“ denken. Der Text fährt fort mit einer Charakterisierung der Kommunikation des „Gent“: Er sagt kluge Worte, vielleicht, wenn es ohne Gefahr ist, an die man sich erinnert, an deren Sager man sich nicht erinnert. Er ist sachlich: er behandelt nicht den Gegenstand der Unterhaltung als Sache, sondern die Unterhaltung. Der Gent ist nie ironisch, immer ernsthaft und bei der Sache. Er schenkt den Leuten genau das Interesse das die Unterhaltung verdient. Der Gent verteidigt alle Dinge, der Unterhaltung zuliebe, und nie hartnäckig und nur, wenn es ohne Aufsehen geht. Wenn er schon etwas pervers ist verteidigt er sogar die Dinge, die ihm am Herzen liegen. Mit ihm kann man vielleicht nicht gut reden aber vorzüglich wohnen.11 Der „Gent“ zeichnet sich also dadurch aus, dass er bewusst einen Typ der Kommunikation anstrebt, in dem er selbst sich absentiert, dafür sorgt, dass an den „Sager man sich nicht erinnert“. Sein Ziel und der eigentliche Gegenstand seines Interesses ist der Akt der Unterhaltung, die Kommunikation selbst. Man wird sich erinnern, dass im Gedicht auch

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von den Antennen die Rede ist, „die das atlantische Meer unterhalten“. Über das Gesagte allein stellt sich der Kontakt her. Damit klärt sich der innere Zusammenhang der kalten, unauffälligen Abwesenheit mit dem Selbstporträt nicht so sehr der Person als des Autors Brecht. Der „Gent“ bringt nicht wohldefinierte Positionen in die Kommunikation ein (er ist „nie hartnäckig“), sondern stellt auf einem anderen Weg den Kontakt her: mittels seiner Durchlässigkeit, seiner aquarellartigen Durchsichtigkeit an der Grenze zur Unsichtbarkeit. Gerade so aber stellt sich das fast in der Anonymität verschwindende Textsubjekt im armen B. B. auch dar. Festzuhalten bleibt, dass Kälte, Distanz und Ausgesetztsein, wovon Eingang und Schluss des Gedichts handeln, in diesem Kontext neue Bedeutung gewinnen: Mit der Schrift des Textes nimmt das Autor-Subjekt eine konstitutive Kälte und Vergessenheit auf sich, die notwendige Abwesenheit aus dem Text, die persönliche Fremdheit zum Kollektiv der Leser. Der Autor eines geschriebenen Textes ist, verglichen mit der unmittelbaren Kommunikation des Sprechens (deren „Unmittelbarkeit“ hier nicht problematisiert werden soll), in gewisser Weise „tot“. Insofern fällt er tatsächlich mit seinem „Sterben“ zusammen, wie es die erste Strophe besagt. Alle Schrift, hat Jacques Derrida einmal geschrieben, ist von testamentarischem Wesen. Die Kälte weist auf eine für die schriftstellerische Praxis unumgängliche Absenz. Nur indem das poetische Subjekt, so sagt Brecht, sich „kalt macht“, trocken und fast wie tot redet, kann es den „Gent“ in seinem Schreiben realisieren, denn nur so wird es durchlässig für die Stimme der Realität. Der Gentleman ist der Name des kalten und freundlichen Textsubjekts, des Subjekts der Schrift. Den Eindruck des Zynismus kann solches Schreiben nie völlig vermeiden. Davon spricht eines der Gedichte aus dem von Brecht geplanten Lesebuch für Städtebewohner: Wenn ich mit dir rede Kalt und allgemein Mit den trockensten Wörtern Ohne dich anzublicken (Ich erkenne dich scheinbar nicht In deiner besonderen Artung und Schwierigkeit) So rede ich doch nur Wie die Wirklichkeit selber (Die nüchterne, durch deine besondere Artung unbestechliche Deiner Schwierigkeit überdrüssige) Die du mir nicht zu erkennen scheinst.12

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Die folgenden Strophen zeigen, inwiefern sich das Textsubjekt B. B. von den Gentlemen unterscheidet. Es frönt keinem naiven Fortschrittsglauben. Die amerikanisierten Gesellen stellen keineswegs ein Vorbild oder eine von Brecht akzeptierte Haltung dem Leben gegenüber dar. Leicht entgeht der Lektüre, dass sie sich mit dem Titel Gentleman nur anreden. Vielleicht ist der Hauptfehler dieser Fortschrittsgläubigen, mit denen der arme B. B. sich auf keine Diskussion einlässt, nicht so sehr die Erwartung einer Besserung überhaupt, sondern die Annahme, die Besserung werde mit ihnen vor sich gehen. Dieser Haltung steht die Erkenntnis entgegen: „Wir wissen, daß wir Vorläufige sind“. Die Gentlemen nehmen nur den äußeren Gestus des Fortschritts an. Wie lässige Amerikaner legen sie die Füße auf den Tisch und preisen den Fortschritt, während sie nur dasitzen. Auch die Frauen sitzen, und das „leichte Geschlechte“ der Menschen ist auch in seinen Häusern „gesessen“. Nur der arme B. B. wird nicht ein einziges Mal als sitzend geschildert. (Eher liegt er dann schon, wenn er nämlich einschläft.) Diese Beobachtungen weisen darauf, was den wirklichen „Gent“, (den richtig Kommunizierenden, den Autor) von den anderen unterscheidet. Während diese in den alltäglichen Gesten einer optimistischen Neuen Sachlichkeit avant la lettre aufgehen, hat das Ich B. B. eine geheime, andere Seite: Nachdem es seine Eindrücke gesammelt hat, schläft es „beunruhigt“ ein, nicht beruhigt über den zu erwartenden Fortschritt, und registriert seine vieldeutigen Träume. Die anderen okkupieren den Platz, den Tisch, vielleicht gar den Schreibtisch, auf den sie ihre Füße legen. Der arme B. B. aber macht sich daran, eine spezifische Prozessualität zu formulieren, die bei aller scheinbaren Ähnlichkeit zum Amerikanismus mit diesem kaum etwas gemein hat. Bevor dieser Unterschied zur Sprache kommt, ist zunächst die Einleitung zum „prophetischen“ Teil des Gedichts zu betrachten, die Strophe sechs: Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen Und ihr Ungeziefer, die Vögel, fängt an zu schrein. Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus und schmeiße Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein. Bei aller Unauffälligkeit, bei allem Sich-unter-die-Leute-Mischen hat der arme B. B. außerhalb gestanden, außerhalb der wärmenden Gemeinschaft (Strophe drei), der Liebe und Erotik (Strophe vier) und des Gesprächs (Strophe fünf). Jetzt wird man seine Absonderung auch äußer-

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lich sichtbar. Er ist allein. Der Übergang ist schmerzlich, das zeigt die Häufung pejorativer und vulgär konnotierter Worte (Ungeziefer, pissen, wegschmeißen). Die Sprache teilt Übermüdung, Gereiztheit und Beunruhigung mit, die nicht zu dem in Strophe fünf geschilderten souveränen Gehabe passen will. Aber es ist wohl gerade die Fähigkeit zur Beunruhigung, die den Traumblick für die Realität im Prozess für die Notwendigkeit und die Chance des Untergangs und Übergangs, öffnet. Wie Strophe drei hat Strophe sechs eine Übergangsstellung inne. Einerseits schließt sie den Komplex der Strophen drei bis sechs ab, andererseits schlägt sie mit ihren Anklängen an Beginn, Ende und Übergang (graue Frühe zwischen Nacht und Tag, die Vögel fangen an zu schreien) das Thema der folgenden Strophen an. Man sieht das Ich nicht nur allein, sondern am Rand, an der Grenze von Wäldern und Stadt. Das Ich ist „in der Stadt“, aber es weiß, was in den Wäldern zu seiner Stunde geschieht. Mehr noch, es ist, als ob es wie die Vögel jetzt selbst anfängt an zu „schrein“. In der „Liturgie vom Hauch“ spielen Vögel deutlich auf Literaten an.13 Ihr Kreischen heißt hier Schreien (beide Worte gehen auf dieselbe Wurzel zurück) und dies wäre durchaus ein Schreiben. Nicht unwahrscheinlich, dass Brecht hier das Autor-Subjekt B. B. gegen das „Ungeziefer“ der Alltagsjournalisten abgrenzt, gegen die Schmierfinken, deren Geschrei sich, wenn die Zeitungen erscheinen, vernehmen lässt. Dafür spricht auch, dass mit den implizit präsenten Zeitungen die Trias der Sterbsakramente, von denen nur Tabak (Wegschmeißen des Tabakstummels) und Branntwein (das Leeren des Glases) explizit auftauchen, wieder vollständig wäre. Nachdem dergestalt die Sterbsakramente in Empfang genommen wurden, kann der Weg in das Jenseits, das hier der Weg zugleich in den Traum ist, beginnen, der dem unruhigen Einschlafen folgt. Diese Unruhe gilt vielleicht nicht zuletzt dem gliederlösenden, ruhespendenden Schlafe. Wird er es besser mit dem Schläfer meinen als der Mutterschoß mit dem Ungeborenen? Wahrscheinlich nicht. Nichts macht den Schlaf so unruhig wie die Furcht vor dem Aufwachen.14 Es sind vor allem die Strophen sieben bis neun, die das Bild eines katastrophalen Untergangs heraufbeschwören. Strophe sieben lautet: Wir sind gesessen ein leichtes Geschlechte In Häusern, die für unzerstörbare galten (So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan Und die dünnen Antennen, die das Atlantische Meer unterhalten).

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Sogleich werden die Themen Zerstörung und Fortschritt angeschlagen. Aber wie sind diese Sätze zu verstehen? Eine Parenthese und ein „So“ sorgen für absolut divergierende Auslegungsmöglichkeiten: Hatte das „leichte Geschlechte“ es satt, dass seine Häuser für unzerstörbar galten? Und hätte deswegen jene „Gehäuse“ auf Long Island gebaut? Es würden dann zwei Epochen unterschieden. In der ersten zählte das Geschlecht der Menschen nichts, während seine Häuser für unzerstörbar galten. Es war flüchtig, leicht und bedeutungslos. Dann drehte es den Spieß herum und baute flüchtige, hohle „Gehäuse“, in denen es selbst jetzt vielleicht etwas gilt! Diese Lesart würde implizieren, dass Manhattan als zerstörbar gilt – im Unterschied zu den früheren Häusern – oder sind die „langen Gehäuse“ von New York als Exempel zu verstehen – „So haben wir [zum Beispiel] gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan“? Dann würden keine Epochen unterschieden, sondern Manhattan wäre ein Exempel für Gebäude, deren Zerstörbarkeit erst jüngst, vielleicht nur vom armen B. B., in Zweifel gezogen wird. Zusammen mit diesen Gehäusen wird die Erfindung des Rundfunks genannt, dessen Wellen leicht und unsichtbar die Wellen des Meers überqueren.15 Eine neue Art der Kommunikation verändert die Menschen, die, ebenso wie die analysierte Kommunikation des Textsubjekts „Gent“ selbst, an eine gewisse Unsichtbarkeit, die Ablösung der Stimme, des Gesagten vom Sager gebunden ist. Das Wort Antenne ist übrigens aus ital. antenna hergeleitet, was Segelstange bedeutet. So ist der Text indirekt wieder an das Thema der poetischen Kommunikation geknüpft, denn Segeln und Schiffen sind bei Brecht immer wiederkehrende Topoi für den literarischen Prozess. Dieser Topos reicht von den frühen Schiffgedichten bis zum Motto der Buckower Elegien. Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel stellen Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane.16 4

Strophe sieben lässt den Leser im Zweifel, ob sich nicht die Menschen geradezu nach zerstörbaren Gehäusen gesehnt hätten. Wäre dieses Verständnis begründet, so würde es allein genügen, alle pessimistischen, „nihilistischen“ Lektüren des Textes mindestens zweifelhaft machen, die in ihm eine Vision schrecklicher Zerstörungen und des Verfalls der modernen Zivilisation erblicken. Strophe acht vertieft diese Sicht:

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Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind! Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es. Wir wissen, daß wir Vorläufige sind Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes. Benjamin hat in seinem Kommentar zu diesem Gedicht das Essen mit dem Zerstören in Zusammenhang gebracht: Der Esser steht hier für den Zerstörenden. Essen heißt nicht nur sich nähren, es heißt auch zubeißen und zerstören. Die Welt vereinfacht sich ungeheuer, wenn sie nicht so sehr auf ihre Genießbarkeit als auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. Dies ist das Band, das alles Bestehende einträchtig zusammenhält. Der Anblick dieser Harmonie macht den Dichter so fröhlich. Er ist der Esser mit den eisernen Kinnbacken, der das Haus der Welt leer macht.17 Verblüffend ähneln sich die Heiterkeit des „destruktiven Charakters“, wie ihn Benjamin porträtiert hat, und die Fröhlichkeit des Essers: Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt. […] Zu solchem apollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. […] Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.18 Ineins mit der Vorstellung von Leere und Zukunftslosigkeit wird der Mensch als fröhlich spielend, alles Alte trauerlos hinter sich lassend gezeichnet. Nicht Schrecken wird verbreitet, sondern die Lust an der Zerstörbarkeit. Das Subjekt erfährt seine Lebendigkeit im Vergehen – der Dinge um es herum und auch seiner selbst! Nicht in der Dauer, sondern im Wechsel sucht es sich seines Daseins zu vergewissern. Eine kleine Theorie der Zerstörung fällt dabei ab. Unter den Behausungen gibt es Häuser, die als unzerstörbar galten, und es gibt eine Art von in anderer Weise unzerstörbaren „Gehäusen“. Ihr Bestand beruht geradezu auf der Zerstörbarkeit. In einigen Gedichten hat Brecht diese Gedanken entwickelt. Gegen die unzerstörbar soliden Bauernkarren aus früherer Zeit grenzt er zum Beispiel die andere Unzerstörbarkeit ab. Zwar funktioniert der äthiopische Karren noch – „Aber wer / Fährt auf ihm?“ Ganz anders heute:

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Schon Liegt der achte Autotyp Oben auf dem alten Eisen Aber Den neunten fahren wir Also haben wir uns entschieden Auf immer neuen Wagen voll Makeln Jederzeit zerstörbaren Leichten, zerbrechlichen Zahllosen Ewig zu fahren.19 Dass die Zeilen über den Wind, der bleiben wird, zu den berühmtesten zählen, die Brecht geschrieben hat, dürfte einen Grund darin haben, dass sie in einer einzigartigen Mischung aus Trauer, Leichtigkeit, triumphaler Prophetie und kühler Resignation einer Erfahrung zum Ausdruck verhelfen, die keinem Städtebewohner verschlossen bleibt. Die Stadt ist es, die ihm in neuer Weise bewusst macht, dass auch scheinbar unzerstörbare Realitäten tiefer als je zuvor vom Charakter raschesten Übergangs bestimmt sind. Das Besondere der Brechtschen Mischung besteht darin, dass seine Texte diese Erfahrung umwenden in eine lustvolle Erfahrung des Subjekts selbst als Übergang. Wie der arme B. B. nie sitzt und unsichtbar an allem vorübergleitet, so auch der Wind, der nirgends bleibt. Der biblische Gestus sorgt gleichzeitig dafür, dass der Aspekt von Öde und Verlorenheit, der in dieser Selbsterfahrung mitgesetzt ist, nicht verschwindet. Der Gleichklang von Städten und Stätten („und ihre Stätte kennet sie nicht mehr“) macht in den Städten auch Ödstätten sichtbar, die nur der Wind kennt. „Die Städte mit ihrem Asphalt, ihren Straßenzeilen und vielen Fenstern werden, nachdem sie zerstört und zerfallen sind, im Winde wohnen.“20 Aber dieser Aspekt der Negation behält im Gedicht nicht das letzte Wort. Es handelt sich eben gar nicht allein um eine Zukunftsvision in die Vergänglichkeit, sondern um die Charakterisierung einer Daseinsform der Flüchtigkeit im Hier und Jetzt. Das Verschwinden mit den Winden geschieht schon im Augenblick. So heißt es einmal: […] den Städten ist Sicher ein Ende gesetzt Nachdem sie der Wind auffrißt Und zwar: jetzt.21

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Der Untergang ist nicht Projektion in die Zukunft, sondern bedeutet das Jetzt des Übergangs. Angesicht aber der Schreckensvision kosmischer Zerstörungen sucht der Autor Brecht seinen Gleichmut zu bewahren: „Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich / Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit“. Wenn Bitterkeit ihn anwandeln könnte, so jedoch eher über die Möglichkeit, es könnten sich die „langen Gehäuse des Eilands Manhattan“ etwa als zu wenig zerstörbar herausstellen! 1925 notiert Brecht: Nach Genuß von etwas schwarzem Kaffee erscheinen auch die Eisenzementbauten in besserem Licht. Ich habe mit Erschrecken gesehen (auf einem Reklameprospekt einer amerikanischen Baufirma), daß diese Wolkenkratzer auch in dem Erdbeben von San Franzisco stehenblieben, aber im Grunde halte ich sie doch nach einigem Nachdenken für vergänglicher als etwa Bauernhütten […]. Es ist gut, daß mir dieser Gedanke zu Hilfe kam; denn ich betrachte diese langen und ruhmvollen Häuser mit großem Vergnügen.22 So ergibt sich eine überraschende Bedeutung für den Beginn der letzten Strophe. Hoffnung gründet sich weniger darauf, dass man die Katastrophe mit Gleichmut statt mit Bitterkeit überdauern werde, sondern darauf, dass auch die gefährlich standfesten Wolkenkratzer sich als vergänglich erweisen werden! Es ist der „schwarzen“ Lektüre, die die Rezeption des Gedichts weithin beherrscht hat, eine eher „helle“ gegenüberzustellen. Die Analyse der Bewegung von Untergang/Übergang, Kälte und Abwesenheit, des Subjekts und des Gentleman zeigen, dass das Thema des Gedichts nicht primär der Zustand der Zivilisation oder das Schicksal der Privatperson Brecht ist, sondern die Eigenschaften, die die Produktivität des Subjekts der Gedichte, ihres Sprachsubjekts ausmachen. Das Subjekt der Gedichte artikuliert sich als Subjekt einer Schrift. Es ist verloren und in ihr abwesend, in einer Kälte, die zugleich Bedingung für das Neue, den Übergang ist. Wenn auch Brecht für diese seine Schrift bedeutende „Anleihen“ bei Nietzsche tätigen konnte, so bleibt doch der spezifisch historische Ort des Gedichts deutlich erkennbar. Sein geschichtlicher Index ist das tief in die Konzeption des Subjekts eingeschriebene Bild der Stadt. Als zerstörerisches Er(d)-bébé-n figuriert sich hier am Ende das Subjekt. Es findet sich im Prozess der Dekomposition lustvoll wieder. Im mehrfachen Sinn weiß es sich als eines von vielen Vor-läufigem, genießt sich als Provisorium und als Vorläufer. Nicht aber im Sinne einer

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Abwertung des Vorläuferdaseins. „Alles Neue ist besser als alles Alte“: In diesem Neusein erlebt sich das Subjekt auch im Vergehen als Übergang. Wenn nach ihm „nichts Nennenswertes“ kommt, dann ist dieser Satz nicht zu verstehen als Entwertung der Zukunft, sondern als Kritik der Idee, das jetzige Dasein als Vorläufiges sei, dem „Eigentlichen“ gegenüber, das noch komme, nicht nennenswert. Die Affirmation des Verlustes, des Übergangs und Untergangs beinhaltet die Weigerung, das Jetzt im Namen von Utopien als wertlos zu betrachten: das Gegenteil also der Lesart des Textes, die ihn als Dokument nihilistischer Daseinsentwertung missversteht. Die aufgewiesene Idee des Subjekts rückt Brechts Konzeption des Menschen in die Nähe eines anderen Denkens, das der Verfasser der Hauspostille offenbar gut kannte: Das Gedicht „Vom armen B. B.“ weist so deutliche Spuren einer Nietzsche-Lektüre auf, dass man sich wundert, warum diese Spuren die Auslegung des Textes nicht geleitet haben. Zu bedauern ist dies umso mehr, als man durch einen Vergleich mit dem Text Nietzsches rasch erkennt, wie wenig hier mit einem Nihilismus oberflächlicher Raster anzufangen ist. Schon in der Vorrede zum Zarathustra finden sich Wendungen, die ohne Modifizierung auf Brechts Konzeption des Subjekts zu übertragen wären: Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist. Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden. [… ] Ich liebe den, dessen Seele übervoll ist, so daß er sich selber vergißt, und alle Dinge in ihm sind: so werden alle Dinge sein Untergang. […] Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Gebirge am Vormittag. Aber sie meinen, ich sei kalt und ein Spötter in furchtbaren Späßen. […] Siehe die Guten und Gerechten! Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werte, den Brecher, den Verbrecher – das aber ist der Schaffende.23 Unschwer erkennt man Brecht, den Brecher und Schaffenden, in diesen Sätzen wieder. Das Bild der zerstörbaren Städte, die Insistenz auf Abbau, Destruktion, Vergehen, Übergang, ohne dass das Neue deswegen Gestalt gewinnen müsste: Dies alles wird in Brechts Text zu Elementen einer Bildwelt, in der sich ein Subjekt im Prozess artikuliert. Wie

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Nietzsche die unaufhörliche Selbstübersteigung des Menschen, der Mensch müsse überwunden werden, verkündet, so beschreibt Brecht eine Daseinsform und denkt er ein Ich, das wie der Wind, durchlässig, als stets sich selbst zurücklassend gezeichnet ist. Keine Trauer erregt dieses Dasein des „Vorläufigen“, sondern Lust an der frischen Kälte, die das destruktive, sich verzehrende Dasein erlebt. Eine Reihe bemerkenswerter Ähnlichkeiten im Detail belegen, dass beim Autor des „Armen B. B.“ die Zarathustra-Lektüre sich massiv niederschlägt. Die Motive Wald, Kälte, Vögel und die Verknüpfung und Kontrastierung Wälder – Städte sind ein Echo dessen, dass auch Zarathustra seinen Weg vom Gebirge herab über die Wälder in die Städte nimmt. Dann mischt er sich wie der arme B. B. unter das Volk der Stadt. Es heißt auch: „Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!“24 Auch spricht Nietzsches Text öfter von den „Entzückungen der Kälte“, und man findet die Feststellung: „von den Wäldern her kommt Kühle“.25 Auch die betonte Freiheit von Verantwortung und Verpflichtung („In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“) schreibt Nietzsche dem Menschen zu, den Zarathustra sucht: „das ist der freie Geist, der Fessel-Feind, der Nicht-Anbeter, der in Wäldern Hausende“26. Wie Brecht das Subjekt, das durch die Städte geht, dem Wind gleichsetzt, so bezeichnet Zarathustra sich oft als Wind. Das Subjekt erscheint bei Brecht als Sterben. Zarathustra sagt: „Ja, viel bitteres Sterben muß in eurem Leben sein, ihr Schaffenden“27. Es ließe sich die Liste fortsetzen. Tragende Motive des Gedichts finden sich in Nietzsches Text wieder, bis hin zu den Erdbeben: Das Erdbeben nämlich – das verschüttet viel Brunnen, das schafft viel Verschmachten: das hebt auch innre Kräfte und Heimlichkeiten ans Licht. Das Erdbeben macht neue Quellen offenbar. Im Erdbeben alter Völker brechen neue Quellen aus.28 Und wenn Brecht ein Kind vorführt, das in jungfräulicher Unschuld an einer Virginia inmitten der Erdbeben raucht, so passt das nur ins Bild: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad […].“29 Das Subjekt entfaltet lustvoll eine Pluralität, es kann sich über holen und vergessen, weil es sich als vorläufig weiß. „[U]nstät bin ich in allen Städten und ein Aufbruch an allen Toren.“30 Es hält sich selbst und den Leser bei sich nicht auf, und ist dennoch ein Durchgang:

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„Wer dieses Gedicht gelesen hat, ist durch den Dichter hindurchgegangen wie durch ein Tor, auf dem in verwitterter Schrift ein B. B. zu lesen ist.“31

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GBA 11, S. 72f. Ebd., S. 55. Vgl. Schuhmann, Klaus: Der Lyriker Bertolt Brecht 1913–1933, München 1971, S. 109ff., der sich auf Heselhaus beruft. Marsch, Edgar: Brecht-Kommentar zum lyrischen Werk, München 1974, S. 143. Benjamin, Walter: Versuche über Brecht, Frankfurt 1966, S. 143. Vgl. zur „belebenden Wirkung“ der Kälte das späte Gedicht „Einst“. Anmerkungen dazu bei Hagen, Wolfgang: „Listig Nihilistisch“, in: Lehmann, Hans-Thies/Lethen, Helmut: Bertolt Brechts „Hauspostille“. Text und kollektives Lesen, Stuttgart 1978. Vgl. Bay, Jürgen: Brechts Utopie von der Abschaffung der Kälte, Stuttgart 1975, S. 16. GBA 11, S. 77. Das entspricht übrigens gar nicht dem Verhalten des Autors im wirklichen Leben. Das erinnert an die bekannte Zirkelstruktur zu Beginn des Johannesevangeliums: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott usw. Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Aufzeichnungen 1920–1954, Hrsg. v. Herta Ramthun, Frankfurt a. M. 1975, S. 156. Brecht, Bertolt: Versuche 1–12. Heft 1–4, Berlin/Frankfurt 1959, S. 116. Vgl. Schuhmann: a. a. O., S. 187ff. Auch Walter Benjamin, von dem dieser Kommentar stammt, hat nicht ganz vermieden, vom katastrophischen Aspekt des Textes sich den Blick trüben zu lassen. Wie er die „Mahagonnygesänge“ auf der Folie der Sozialkritik verkürzt las, so auch den „armen B. B.“. Die drahtlose Nachrichtenübermittlung, das Reich der unsichtbaren elektrischen Wellen, hat auf Brecht große Faszination ausgeübt. Sie trägt zur Erfahrung allgemeiner „Gleichzeitigkeit“ bei, wie sie zum Beispiel Stefan Zweig 1925 registrierte, als er die wachsende Gleichförmigkeit der Ausdrucksweisen erkannte: „Drei Beispiele sind der Tanz, die Mode, das Kino. Ein viertes Beispiel: das Radio. Alle diese Erfindungen haben nur einen Sinn: Gleichzeitigkeit […], und diese Gleichzeitigkeit, diese Uniformität berauscht durch das Überdimensionale.“ Vgl: Zweig, Stefan: Monotonisierung der Welt, Frankfurt a. M. 1976, S. 8f. GBA 12, S. 310. Vgl. Benjamin: a. a. O., S. 64. Benjamin, Walter: Illuminationen, Frankfurt a. M. 1961, S.310–312. GBA 13, S. 314. Vgl. Benjamin: Versuche über Brecht, S. 64. GBA 13, S. 306. Brecht: Tagebücher 1920–1922, S. 205. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, Bd. II, München 1966, S.281f., 286, 289. Ebd., S. 345. Ebd., S. 263, 366. Ebd., S. 360. Ebd., S. 345. Ebd., S. 457f. Ebd., S. 294. Ebd., S. 377. Vgl. Benjamin: Versuche über Brecht, S. 65.

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Die Dreigroschenoper hat Epoche gemacht im Leben Bertolt Brechts. Der Welterfolg – das Stück wurde nach der Uraufführung im August 1928 an 120 Theatern gespielt und reiste quer durch Europa – brachte ihm, der noch wenige Jahre zuvor wegen Unterernährung in die Berliner Charité eingeliefert worden war, zum ersten Mal wirklich Geld ein, er wurde – relativ – reich. Aber er schwamm nicht, was selten gewürdigt wird, einfach auf der Woge dieses Erfolgs weiter, den der Theaterskandal um Mahagonny im folgenden Jahr auf andere Weise fortsetzte, sondern wandte sich vielmehr der Schulmusikbewegung, den Arbeiterschulen zu und entwickelte seine radikalste, über das epische Theater schon wieder experimentierend hinausgehende, das Theater als Institution insgesamt sprengende Konzeption des Lehrstücks. Die Dreigroschenoper trägt Spuren dieser politischen und ästhetischen Radikalisierung, blieb aber, wie das Missverständnis ihres Riesenerfolgs bezeugt, den Erwartungen eines breiten bürgerlichen Publikums kommensurabel. Dass das zutiefst Böse des vielleicht weltweit bekanntesten deutschen Theaterstücks so wenig wahrgenommen wurde, lag zum einen an der Wahrung des Theater-Rahmens, der nicht wie im learning play aufgebrochen wird und der das Publikum gegen allzu heftige Lust und produktiven Schrecken der Selbsterkenntnis absichert. Zum anderen an der betörend schrägen Musik von Kurt Weill und nicht zuletzt an dem pointierten Witz der „sententiösen Drastik“ der Brechtschen Sprache, die es möglich machte (und macht), auch die finstersten Aperçus amüsiert zu genießen. Eine heutige Befassung mit der Dreigroschenoper, die sich nicht mit positivistischem Historisieren begnügen und nicht auf bloßes Amüsement abzielen will, steht künstlerisch vor einer kaum lösbaren, auch theoretisch hochproblematischen Situation gerade wegen der penetranten Beliebtheit des Werks. Je erfolgreicher eine Inszenierung den Witz und das, was einst ätzende Schärfe war, vergegenwärtigt, desto sicherer, so will es scheinen, verfällt sie der Harmlosigkeit. Brecht selbst erkannte schon, dass der Kapitalismus das gegen ihn gespritzte Gift in Rauschgift verwandelt und dieses genießt. Das Theater „theatert alles ein“, trifft man nicht sehr entschiedene Vorkehrungen dagegen. In der Einnahme einer zweifach verfremdenden Perspektive sind der Erfolg und die eigentümliche Haltbarkeit der Dreigroschenoper begründet. In ihr verbindet sich untrennbar ein Röntgenblick auf die Gesell-

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schaft mit dem entlarvenden Blick auf das Theater. Nicht nur als über die Gesellschaft nachdenkende Menschen, auch als Teilnehmer an der Theater-Veranstaltung spricht das Stück die Zuschauer an. Die Dreigroschenoper, schreibt Brecht, „befasst sich mit den bürgerlichen Vorstellungen nicht nur als Inhalt, indem sie diese darstellt, sondern auch durch die Art, wie sie sie darstellt. Sie ist eine Art Referat über das, was der Zuschauer im Theater vom Leben zu sehen wünscht.“1 Was er zu sehen wünscht, ist aber vor allem die Bestätigung seiner Wahrnehmung der Welt: als eine von menschlichen Impulsen, Leidenschaften und Beziehungen zwischen Individuen erfüllte – obwohl sie in Wirklichkeit durch und durch von der kalten Logik der Geldverhältnisse gesteuert ist. Es handelt sich um das Verlangen, wie in einem Spiegel jenes Bild, das wir uns im Sinne einer gleichsam „ewigen“ Ideologie von der Realität als einer „menschlichen“ machen, wiederzufinden. Darum überlassen wir uns nur allzu gern dieser sozusagen „anthropomorphisierenden“ Illusion, zu der uns das Theater verhelfen soll. Brecht war von der Überzeugung durchdrungen, dass sich die bürgerliche Gesellschaft durch eine umfassende, geradezu künstlerische Unsichtbarmachung, Verhüllung, eben eine theatermäßige Verkleidung ihrer Wirklichkeit auszeichnet. Darum kann in der Dreigroschenoper die Kritik der Gesellschaft unmittelbar zusammenfallen mit der Kritik des Theaters in seiner illusionistischen Form. Darüber „referiert“ das Stück, indem es die Diskrepanz zwischen Sehweise und Wirklichkeit, zwischen Bühne und Maschinenraum sichtbar macht. Wie Marx – das hat Brecht bei ihm gelesen – zu Beginn seiner Analyse des Kapitals die „Verrücktheit“ der bürgerlichen Tauschgesellschaft beschreibt, verhalten sich die Mitglieder der Gesellschaft, verhalten wir uns nicht in unserer Tätigkeit gesellschaftlich zueinander, sondern erst nachträglich, im Tauschgeschäft. Was zur Folge hat, dass sich die konkrete soziale Beziehung der Menschen zueinander darstellt „nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“.2 Es ist das Grundverhältnis dieser Verkehrung, die den Verfasser der Dreigroschenoper politisch und ästhetisch interessiert. Daher treffen Rezensenten daneben, die lobend hervorheben, Brecht übe Kritik an Korruption, Erpressung, Gewalt und Kriminalität als „Auswüchsen des Kapitalismus“. Gerade nicht. Solche Auswüchse mögen der Gegenstand der aktuellen Presse sein. Das Theater, das Brecht intendiert, zeigt den Kapitalismus. Zeigt die Schärfe der allgemeinen Konkurrenz, die alle treibt, nicht die besonderen Gemeinheiten, die begangen werden, um in ihr die Nase vorn zu haben. Zeigt

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den Schrecken des Profitsystems, nicht das Ärgerliche des ergaunerten Extraprofits. Es zeigt die Abhängigkeit des moralisch guten Verhaltens von den „Verhältnissen“: „Wer wollt auf Erden nicht ein Paradies? / Doch die Verhältnisse, gestatten sie’s?“ Dass sich an diesen „Verkehrsformen“ nichts entscheidend verändert hat – woran die enormen Fortschritte des Wohlstands nichts ändern – macht die fortdauernde objektive Gültigkeit seines Werks in dem Sinne aus, wie Heiner Müller sagte: „Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare noch unsere Stücke schreibt.“3 Parallel zur Reflexion des vom Geld beherrschten menschlichen Verkehrs im Kapitalismus gilt Brechts durchgängige Selbstreflexion der Asozialität der Unterhaltungsstätte Theater selbst, das den Zuschauern die Gelegenheiten zu folgenlosem Mitleid, schöner Selbstbespiegelung im Wohlgefühl eigener Moralität mit Hilfe der Einfühlung in Fiktionen serviert. Brechts Lieblingsfeind war von Anfang an die Mitleidsdramatik. Kein Zufall, dass der Unternehmer Peachum gerade die Kunst der Mitleidserregung als ein gewinnbringendes Geschäft betreibt. Die mitleidlos auf Wirkung kalkulierte Technik der Mitleidsbilder, die „zu den immer verstockteren Herzen“ der Mitmenschen sprechen sollen, verfällt einer komischen Selbstentlarvung. Dabei wird auch das avantgardistische Kunstpostulat des „Neuen“ parodiert: Leider, so Peachum, nutzen sich die Mittel zu rasch ab, immer müssen „neue Reize“ her, selbst Bibelsprüche verfehlen, zu oft eingesetzt, die erwünschte Wirkung, „den Menschen in jenen unnatürlichen Zustand“ zu versetzen, „in welchem er bereit ist, Geld herzugeben“.4 Systematisch will das Geschäft der Bettlerausstattung betrieben sein. Und es verlangt engagierten Einsatz. Darüber belehrt Peachum einen armen Schlucker, der es nicht geschafft hat und den er folglich hinauszuwerfen beabsichtigt: „Zwischen ‚erschüttern‘ und ‚auf die Nerven fallen‘ ist natürlich ein Unterschied, mein Lieber. Ja, ich brauche Künstler. Nur Künstler erschüttern heute noch das Herz. Wenn ihr richtig arbeiten würdet, müßte euer Publikum in die Hände klatschen. Dir fällt ja nichts ein! So kann ich dein Engagement natürlich nicht verlängern.“ Die Kritik der gesellschaftlichen Ausbeutung und der systematischen Produktion und Erhaltung des Elends fällt zusammen mit der Kritik einer Kunst, die auf ihre Weise, indem sie der politischen Situation Unterhaltungseffekte abgewinnt, mit dem Bestehenden auch dort im Bunde ist, wo sie scheinbar radikale Kritik übt, sich gar revolutionär gebärdet. Nun haben die Realitäten des sozialen Elends, auf die Brecht 1928 anspielt, andere Masken aufgesetzt – auch wenn sich, wie angedeutet, die basalen Strukturen des Sozialen keineswegs geändert haben. Das Vermö-

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gen der drei reichsten Personen der Welt ist größer als das Inlandsprodukt der fünfzig ärmsten Staaten. Die Ungleichheit von Reichtum und Armut nimmt nicht etwa ab, sondern zu: Das Einkommen der reichsten zwanzig Prozent der Weltbevölkerung belief sich 1960 auf das Dreißigfache des Einkommens der ärmsten zwanzig Prozent. Im Jahre 1995 war es auf das 82-fache gestiegen. Die Kosten dafür, allen Menschen der Welt 2700 Kalorien pro Tag, Trinkwasser und Zugang zu basaler Gesundheitsvorsorge zu verschaffen, würden in etwa dem entsprechen, was die Bewohner Europas und der USA im Jahr für Parfümerieprodukte ausgeben. Doch diese obszöne Groteske ruft keine Revolution hervor. Zudem wird sie von den jeweils unwetterartig hereinbrechenden konkreten humanitären Katastrophen überdeckt, über die die Öffentlichkeit jedes Mal wieder von Neuem in „Schrecken und Mitleid“ ausbricht, ohne je auf die Erkenntnis zu stoßen, dass, bei Lichte betrachtet, wir selbst, die auch im Theater versammelte Öffentlichkeit, die Profiteure der systematischen Katastrophe sind, die die Besitzverhältnisse und in ihrem Gefolge die realen Machtverhältnisse des Planeten darstellen. Und selbst wenn diese Einsicht hier und da momentweise dämmern sollte, so langt der Profit in unseren Breiten bis auf weiteres für erträgliche Sozialleistungen aus. Verlumpte Bettler sind weitgehend in die sogenannte Dritte Welt verschoben, kehren allerdings als Kriegsflüchtlinge und Migranten wieder. Mord und Totschlag als Geschäftsgrundlage, Korruption, politische und ökonomische Erpressung sind jedermann als Alltag der Konkurrenzgesellschaft geläufig, werden aber kaum als Grund zu einer Umwälzung der Verhältnisse betrachtet. Beide Kritiken Brechts, die ästhetische an der Illusion des Individuellen und die gesellschaftliche am falschen Schein der Verhältnisse, sind an der gleichen Logik interessiert: an der vertrackten Dialektik von Sozialem und Asozialem, genauer an der Entlarvung ihres Gegensatzes als Schein. Das Personal des Stücks besteht aus Gestalten, die man im damaligen Sprachgebrauch „Asoziale“ nannte: Ganoven, Zuhälter, Bettler, Huren, Trinker, Betrüger, korrupte Polizisten. Brecht zeichnet zwar in Wahrheit gerade die Mitte und den Kern der bürgerlichen Gesellschaft: das Geschäftsleben, die Käuflichkeit und Ausbeutung, Erpressung mit Not und Unterdrückung, aber er zeichnet diese Mitte des bürgerlichen Sozialen von ihrem „asozialen“ Rand her. Von Jugend an hat den Autor der Dreigroschenoper die Gestalt/das Phänomen des Asozialen fasziniert, hat seine politischen, moralischen und künstlerischen Gedankengänge, Konzepte und Imaginationen zuinnerst motiviert. Der „arme B. B.“ stilisiert sich schon zum Nachfahren des Vagabunden Villon oder Rimbaud, zu einem, der irgendwie fremd in den Städten bleibt, in denen

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er heimatlos umgeht, am Ende trotz aller Sozialität mit den „Gentlemen“ und den Frauen, die er um sich versammelt, ein Außenseiter bleibt, allein. Er bedarf weder der Lüge noch der Hoffnung, ohne die das Soziale nicht funktionieren würde. Eine Schlüsselgestalt wurde die Titelfigur des Fragment gebliebenen Lehrstücks Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer, an dem Brecht zwischen 1926 und 1931 arbeitete, in der gleichen hochproduktiven Phase seines Schaffens also, in die auch Die Dreigroschenoper und Mahagonny fallen. Fatzer ist der findigste Kopf eines kleinen Kollektivs und zugleich, durch egoistischen Mangel an sozialer Einordnung, sein Zerstörer. Von Baal, Kragler oder Shlink bis hin zur Galerie der asozialen Bürger, Räuber und Seeräuber Jenny in der Dreigroschenoper und weiter von dort zu Mahagonny und zum Richter Azdak, reicht, um nur einige zu nennen, die Serie der Varianten dieses „Typus“. Aber ist der Asoziale eigentlich ein charakteristischer Typus? Bei Brechts frühen Stücken mag das Wort noch hinreichen, aber seit Mann ist Mann, seinem ersten eigentlich epischen Theaterstück, das die Verabschiedung der Idee von Charakterkopf, Held und sogar individueller Identität schon im Titel trägt, ist eine Abstraktion in Brechts Werk eingetreten, die auch die Figuren betrifft. Wie soll man in der Dreigroschenoper Jonathan Peachum, Macheath, Tiger Brown, Polly, Lucy oder Jenny charakterisieren? Es sind mitnichten irgendwie durchgeformte „Charaktere“. Es handelt sich mitnichten um typisch asoziale dramatische Gestalten aus einer „realistischen“ Dramaturgie, vielmehr um fast allegorische „Figuren“. So gut wie keine individuelle emotionale Regung kommt in ihnen auf, die nicht durchsichtig bliebe auf ein allgemeines Verhalten – sofern es nämlich Interessen im Sinne der geschäftlichen pekuniären Logik entspricht. Ihre Funktion ist es, ein gewisses, freilich widersprüchliches und dadurch interessantes, Gestenrepertoire zur Geltung zu bringen. Es handelt sich um ein Theater der Gesten und zwar insonderheit der Gesten des Asozialen. In der Moderne hat der Begriff des „Asozialen“ historische Konnotationen angenommen, die noch fürchterlicher sind als die ohnehin geläufigen Ausgrenzungen früherer Zeiten und zwar durch die nationalsozialistische Propaganda und Praxis. Alle, denen irgendeine Art der Nichtzugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft“ nachgesagt wurde, hießen „asoziale Elemente“ und fielen der Ächtung und Ausmerzung anheim. In den Lagern bezeichnete sie ein schwarzes Dreieck, und es ist bekannt, dass sie in der sozialen Hierarchie der Lager wiederum als die Untersten und Verächtlichsten galten. Wenn heute, spätestens seit Michel Foucault, der Theoriediskurs die Gesellschaft der Disziplinierung als eine Macht-

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ordnung beschreiben kann, die sich in den kleinsten Zellen der Sozialität so beharrlich wie unauffällig reproduziert, so ist die Kritik dieser Zwänge von Staat, Ordnung, Sozialität, Sprache bei Brecht schon virulent. Zudem trat neuerdings wieder die Einsicht in die radikal a-ethische asoziale Natur der entfesselten (und auch der partiell gefesselten) Konkurrenz hervor. Mit einer Bestürzung, deren Tiefe der vorherigen Illusion entspricht, erleben die Leute am Beginn des 21. Jahrhunderts einen enormen Vertrauensschwund in die „führenden“ Wirtschaftskapitäne und Bankmanager, auch die Finanzmachenschaften der Reichen und der Politiker, und nehmen die manchmal radikale Asozialität von deren Haltung zur Kenntnis. Freilich gelangt die Einsicht in diesen asozialen Kern der gesellschaftlichen Wirklichkeit stets nur im Gefolge größerer Krisen an die Oberfläche und wird dann sogleich auf einzelne Missetäter abgelenkt (gierige Banker, verantwortungslose Atomkonzernchefs etc.), richtet sich nicht gegen das Asoziale der gelebten Formen und Strukturen des „Sozialen“. An diesem Punkt der Reflexion über das Asoziale in seiner ganzen Vielschichtigkeit war aber Brecht schon in den 1920er Jahren angelangt. In der Verwerfung des Sozialen verkörpert bei ihm der Asoziale die Krise des real existierenden Sozialen (der bürgerlichen Gesellschaft), die nur existieren kann durch seine Exklusion. Und er verkörpert zugleich die tiefe Sehnsucht nach einem anderen wirklichen Sozialen, das doch als das wirkliche Dasein der Kommune, des Kommunismus nicht genannt werden kann. Im Me-ti schreibt Brecht als Kin-jeh: Kin-jeh zeigte eine gewisse Schwäche für Verbrecher einfacher Art, wie Diebe, Raubmörder, Fälscher und Gewalttätige. Er sagte: Sie brechen die Sitte nicht mit der gleichen Begründung wie die Meister sie für das Brechen der Sitte vorschlagen, aber aus dem gleichen Grund: Weil Hunger herrscht und von der Gewalt Gewinn gezogen werden kann. Man kann sagen: sie vergehen sich aus Eigennutz gegen den Eigennutz. Immerhin brechen sie doch die schlechten Gesetze. Das Volk liebt sie deswegen. Unzählige Bücher verherrlichen sie. […] Sie sind einzeln und stehen doch nur scheinbar gegen die Allgemeinheit, d. h. gegen alle anderen. Eigentlich stehen sie gegen Wenige, welche sich aber den Anschein der Allgemeinheit zu geben wissen. […] Unsere Zeit hat kein Recht, selbstsüchtige Menschen zu verdammen, solange sie nicht Zustände schaffen will, die Selbstlosigkeit zu einer guten, d. h. für den Selbstlosen guten Tat machen. Die kleinen Verbrecher verletzen nur die Spielregeln der Selbstsüchtigen. Diese Spielregeln sind aber das Verdammungswürdigste.5

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In der Literatur des 19. Jahrhunderts umgab den „Asozialen“ noch ein Hauch von Romantik, galt ihm (wie in früheren Jahrhunderten den Narren) etwas vom Geheimnis, eine fast ehrfürchtige Scheu. Bettler, outcast, Exzentriker, Einzelgänger, Außenseiter: Für Baudelaire konnte der Asoziale, folgt man Walter Benjamin, zum Leitbild einer freilich zweideutigen, latent subversiven Abkehr von den bürgerlichen Verhältnisse avancieren. Bei Brecht hingegen, der an die Romantisierung der Räuber ja anknüpft, wird der (oder das) Asoziale als eine zutiefst zweideutige Figur in grelles Licht gerückt. Er wird zum Spiegel jener anderen verborgenen Asozialität, die im Sozialen selbst beheimatet ist, so dass beide austauschbar werden können (wie wenig später im Faschismus). Diese Wahrnehmung bremst die Faszination, die es auch gibt, an der Gestalt des Asozialen aus, ohne sie doch zu löschen. Er bleibt „dialektisch“: Träger einer produktiven, auch künstlerischen Energie, um deren dialektische Bändigung es zu tun ist, die aber gerade in ihrer alles soziale, moralische Maß sprengenden Anarchie zugleich als ein kaum verzichtbares Element findiger Produktivität: radikal bedrohlich und konstitutiv für das Soziale. Machen wir einen kleinen Besuch in der Galerie der Ganoven! An Peachum amüsiert, wie er, wohlsituierter Familienvater und Chef eines Großunternehmens „Bettlers Freund“, mit den Gangstermethoden der Erpressung und Gewalt arbeitet und seine Reviere wie ein Zuhälter sichert. Wir können nicht anders, als zwischen beiden Seiten, dem Schurken und dem Geschäftsmann den engsten Zusammenhang zu erkennen. Der Inhalt und die Form seines Geschäfts ist „Theater“. Er hilft Bettlern, durch (asozialen) Betrug, Schauspielerei und perfektere Kostümierung die soziale Hilfsbereitschaft der Mitmenschen zu aktivieren, indem er seine Kunden zu mitleiderregenden Gestalten formt, um dann von dem gesteigerten Betrag des Erbettelten zu profitieren: die Parodie sozialen Tuns. Und es ist die denkbar böseste Kritik an der Mitleidsästhetik sozial engagierten Theaters. Während Peachum, dem dramaturgisch die klassische Rolle des Raisonneurs zufällt, illusionslos die Schlechtigkeit der Wirklichkeit konstatiert, ist es überdeutlich, dass er selbst es ist, der sie erzeugt, aufrechterhält, an ihr verdient. Brecht: Er ist zweifellos ein Schurke, und zwar ein Schurke im Sinn des älteren Theaters. Sein Verbrechen besteht in seinem Weltbild. Dieses Weltbild ist in seiner Scheußlichkeit würdig, neben die Leistungen irgendeines anderen der großen Verbrecher gestellt zu werden, und doch folgt er nur dem „Zug der Zeit“, wenn er Elend als Ware betrachtet.6

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Besonders perfide klingt Brechts Lob, da Peachums Gestus der Gestus dessen ist, der sich scheinbar resignierend und einsichtig den „Verhältnissen“ entsprechend verhält, nicht den besseren Eingebungen, dem „höheren Streben“, das nur Ungemach mit sich bringt: Ein guter Mensch sein? Ja, wer wärs nicht gern? Sein Gut den Armen geben? Warum nicht? […] Doch leider sind auf diesem Sterne eben Die Mittel kärglich und die Menschen roh. Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben? Doch die Verhältnisse – sie sind nicht so!7 Für den Räuber Macheath, Peachums Gegenspieler und Figur eines anderen Typs von Unternehmer, sind seine Mit-Räuber ebenfalls zuerst einmal ganz unromantisch Angestellte. Brecht hebt an ihm den Gestus der bürgerlichen Abneigung hervor, die der Geschäftsmann Macheath gegen Blutvergießen hegt (sofern es für das Geschäft nicht unbedingt nötig ist); ebenso die sorgfältige Pflege eines gewissen Scheins von Romantik, die das geschäftliche Image verbessert. Wie Brecht weiter anmerkt, stellt er seine Solidität schon dadurch unter Beweis, „daß er sein geschäftliches Augenmerk, mehr noch als auf die Beraubung Fremder, auf die Ausbeutung seiner Angestellten richtet“.8 Brecht hat ihn als die Verkörperung bürgerlicher Sozialität mit unnachahmlich trockenem Humor gekennzeichnet: Der Räuber Macheath ist vom Schauspieler darzustellen als bürgerliche Erscheinung. Die Vorliebe des Bürgertums für Räuber erklärt sich aus dem Irrtum: ein Räuber sei kein Bürger. Dieser Irrtum hat als Vater einen anderen Irrtum: ein Bürger sei kein Räuber. So ist also kein Unterschied? Doch: ein Räuber ist manchmal kein Feigling.9 Im Stück ist der Umstand, dass Macheath noch selbst Hand anlegt, sein Schwachpunkt. Das kleine Kapital, das noch im Handgemenge mit der Produktion operiert (mit Gewalt), ist schon auf der Verliererstraße, wie er in einer mit Recht viel zitierten Rede darlegt: Sie sehen den untergehenden Vertreter eines untergehenden Standes. Wir kleinen bürgerlichen Handwerker, die mit dem biederen Brecheisen an den Nickelkassen der kleinen Ladenbesitzer arbeiten, werden von den Großunternehmern verschlungen, hinter denen die

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Banken stehen. Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes? Mitbürger, hiermit verabschiede ich mich von euch. Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. […] Daß Jenny mich angegeben haben soll, erstaunt mich sehr. Es ist ein deutlicher Beweis dafür, daß die Welt sich gleich bleibt.10 Die Rede verkörpert auf das Beste den asozialen Blick – und sie ist ein würdiges Gegenstück der Chaplinschen Geste. Bei Beiden wandert in Geste und Sprache das sonst unsichtbar Bleibende ein, worauf doch die Ordnung der geläufigen Sprache und Geste unausgesprochen gründet. Dieser asoziale Blick ist nichts anderes als der Spiegel des theoretischen Blicks, der die Fassade des Sozialen geröntgt hat. Und es ist wohl der gleiche asoziale Blick, den die Dada-Leute 1916 auf die Welt warfen, als sie das A-Rationale auf den Schild hoben als Antwort auf die sogenannte Rationalität, die sich als Ratio der Materialschlachten und des Massensterbens erwies. Tiger Brown ist die Verkörperung des Staates als (korrupte) Polizeigewalt. Brecht legte ihn als Verkörperung der modernen Spaltung von Person und Funktion an. Als Privatmann würde er die Schurkereien, die die Praxis des Funktionärs mit sich bringt, nicht über sich bringen. Und Lucy, Polly, Jenny sind insgesamt mit einem kleinen Satz aus Mahagonny getroffen, der fällt, wenn sein alter Freund Heinrich den Paul Ackermann nicht durch Geldleihen vor dem Galgen rettet, und lautet: „Paul, du stehst mir menschlich nah, aber Geld ist eine andere Sache.“ Brechts Text fährt an dieser Stelle fort: „Viele mögen die nun folgende Hinrichtung des Paul Ackermann ungern sehen; aber auch sie würden unserer Ansicht nach nicht für ihn zahlen. So groß ist die Achtung vor dem Geld in unserer Zeit“.11 Das hier kantisch anklingende Wort „Achtung“ legt, aus der Ethik grotesk in diese Umgebung verfrachtet, mit einem Schlag das Asoziale frei, das hinter aller moralischen und ethischen Rede im asozial verfassten Sozialen hervorlugt. In dieser Schärfe seines „bösen“, parodistisch-hellsichtigen Blicks liegt das nach wie vor wirksame Störpotential seiner Kunst beschlossen, speziell seiner Ästhetik, wo sie die Asozialität des Sozialen freilegt. Eine Methode dieser Freilegung des Asozialen als Kern des Sozialen ist bei Brecht die permanente Selbstentlarvung der Figuren nach allen Regeln der Sprach- und Gestenkunst. Das Verfahren setzt keine klare Gegenposition (wie hartnäckig hat eine marxistisch gemeinte Kritik das bei ihm bemängelt!), sondern funktioniert vor allem komisch und derge-

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stalt als eine Unterbrechung oder Zäsur des Diskurses. Im satirischen Dreigroschenroman ist sie zu einer Höhe entwickelt, die Benjamin veranlasste, den Satiriker Brecht auf eine Ebene mit Swift zu stellen. Die Theorie der Verfremdung ist nicht zuletzt, man hat das zu wenig gewürdigt, eine Theorie des Komischen. Das Verfahren hat viele Schichten, auf der einfachsten bricht die Fassade der scheinhaften Höflichkeit des Benehmens auf. Der Sache nach ebenso wie in Ton und Rhythmus führt von hier ein Weg zu den Texten von René Pollesch, in denen sich die objektive Ideologie der öffentlichen Diskurse komisch entlarvt mittels ihrer Umwandlung in Figurenrede. Man darf Pollesch, der in seinem Fatzer-Projekt den berühmten Wagen der Mutter Courage auf die Bühne holte und in einer Version der Antigone von Brecht in Zürich unverhohlen Theatergeschichte zitierte, als genuinen Erben Brechts bezeichnen. Viele Passagen der satirischen Selbstentlarvung in der Dreigroschenoper könnte man mühelos nach Art der Texte von René Pollesch setzen, etwa so: Macheath: […] So und mit dem Messer, nicht wahr, da ißt du die Forelle. Jakob, das ist unerhört, hast du so was schon gesehen, Polly? das ist doch einfach eine Sau, der so was macht, verstehst du mich, Jakob? Da kannst du was lernen […]12 Auch bei der feierlich-bewegten Lobrede auf die korrupten Geschäfte zwischen ihm und der Polizei macht sich durch den Bruch der Rhetorik das Geldgeschäft (und wieder die Sorge um den falschen Schein) geltend: Selten habe ich, der einfache Straßenräuber, na, ihr wißt ja, wie ich es meine, einen kleinen Fischzug getan, ohne ihm, meinem Freund, einen Teil davon, einen beträchtlichen Teil, Brown, als Angebinde und Beweis meiner unwandelbaren Treue zu überweisen, und selten hat, nimm das Messer aus dem Maul, Jakob, er, der allmächtige Polizeichef, eine Razzia veranstaltet, ohne vorher mir, seinem Jugendfreund, einen kleinen Fingerzeig zukommen zu lassen.13 Man tut gut daran, sich zum Verständnis der besonderen, verfremdenden Komik des Asozialen auf Brechts Verehrung für Chaplin zu besinnen, auf seine Begeisterung für die liebenswerte und bösartige, asoziale, schamlose Gestalt des Tramp. Die viel zu großen Schuhe, die zu enge Weste, die viel zu weiten ausgebeulten Hosen, das vornehme Stöckchen und, nicht zu vergessen, der hochbürgerliche Bowler-Hut – das galt ihm als geniale Erfindung eines wandelnden Widerspruchs. Brecht liebte

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Chaplin, liebte die verkommene Bürgerlichkeit des Tramps, stellte Chaplin neben Karl Valentins Humor, der, so Brecht, „absolut nichts Gutmütiges“14 habe. Hier ist das Modell der epischen Darstellungsmethode vorbereitet: Ohne falsche Scham rettet sich, asozial, verantwortungslos die Figur des Tramp gegen die Zumutungen einer durch und durch asozialen Normalwelt. Das Komische birgt freilich immer auch die Möglichkeit einer „tragischen“ Auslegung. In Mahagonny trifft kein reitender Bote des Königs ein, um die wachsende apokalyptische Verwirrung zu lösen. Surreal geht die Netzestadt als ein zweites Walhall in Flammen unter. Bis zum Unerträglichen zugespitzt ist der Schrecken des Asozialen durch seine scheinbare Affirmation im Badener Lehrstück, wenn die Hilfeleistung, das schlechthin Soziale, gegen die kalte Realität abgewogen und zu leicht befunden wird. Über die schon erkaltenden abgestürzten Flieger hinweg wird die Frage aufgeworfen, ob der Mensch dem Menschen hilft. Das Resultat ist: Er hilft nicht, also wird die Hilfe verweigert. Was im Badener Lehrstück durch seine Grausamkeit bei der Uraufführung einen Skandal hervorrief, ist in der Dreigroschenoper durch die Satire und den komischen Witz abgefedert. Wenn es wahr ist, dass der gewaltige Erfolg der Dreigroschenoper ihre beabsichtigte Wirkung fast gänzlich zunichtemachte, so stellt sich in der Gegenwart erst recht die Frage, wie man dem Wohlgefälligen der amüsanten Gesellschaftskritik einen Riegel vorschieben kann. In den letzten Jahren zeigt sich dabei eine Tendenz bei untereinander sehr verschiedenen Theaterleuten, die Verfremdung durch das Einbeziehen der Autorperson Brechts selbst zu erreichen. andcompany& Co., deren Arbeit tief von Brecht beeinflusst ist, benutzten in ihrer Fatzer-Version die Maske Brechts für alle dramaturgischen Gegenspieler und schufen auf diese Weise für die Zuschauer eine produktive Verunsicherung. Antú Romero Nunes hat in Hamburg eine Dreigroschenoper realisiert, bei der ebenfalls die verschiedenen Figuren alle in der typischen Brechtjacke auftreten und immer wieder in den Sprechgestus des Meisters verfallen. Dies scheint ein Indiz für den Stand von Verfremdung heute zu sein. Der Wirksamkeit von Brechts Verfremdungstechniken wird mit gutem Grund nicht mehr vertraut, möglich aber bleibt der Weg, Brechts Verfremdung selber wieder zu verfremden. Derartige postdramatische Selbstreflexion des Theaters muss keineswegs trockenes intellektuelles Belehrtheater werden, sondern hat das Potenzial, im Brechtschen Sinne das Spielerische mit dem Politischen zu vereinen. Trotzdem bleibt die Gefahr, dass die denunziatorischen Momente der Dreigroschenoper in der komischen Version der Unterhaltung verschwinden. Daher ist es eine selten realisierte, aber mindestens ebenso

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adäquate Möglichkeit, diesen destruktiven, bösen und sogar dämonischen Moment ins Zentrum zu rücken. Ich wüsste keine Adaptation der Dreigroschenoper zu nennen, die Brechts Intention, einen mentalen Schock hervorzurufen, eine Absicht, die der schiere Witz und die Musikalität des Stücks seinerzeit brillant verhinderten, näher käme als – ein Film, nämlich Dogville von Lars von Trier (2003), der den Motiven des Stücks ihre finstere, ja dämonische Macht beließ.15 Es handelt sich schon äußerlich formal um einen „Brecht-Film“ durch seine eigentümliche Bildästhetik. Sie verbindet das durchaus filmische, realistisch-melodramatische Spiel der Akteure mit einem unrealen, nur angedeuteten, buchstäblich „skizzierten“ Raum: Anstelle einer realistischen Szenerie sind die Räume mit Kreide auf dem Boden markiert. Nicole Kidman, Anmut und Gnade im Namen Grace, spielt eine Flüchtlingsfrau. Sie sucht Schutz vor Verfolgung und Bleiberecht in Dogville = Amerika. Aber das ist jenes Amerika, das überall ist: eine Gesellschaft, die sich, nachdem die Fremde zunächst einstimmig aufgenommen wurde, alsbald als hundsgemeine Gemeinschaft erweist. Während Grace anfangs durch ihre Hilfsbereitschaft und Mitarbeit bei allen Beliebtheit gewinnt, ändert sich die Lage, als man sie auch wegen Bankraubs sucht. Nun fordert die Stadt in rascher Steigerung Gegenleistungen für ihre Aufnahme. Aus der freiwilligen Hilfe wird Zwangsarbeit, dann brutale Ausbeutung als Sklavin und Hure. Für den Plot hat nach Auskunft des Regisseurs das Lied der Seeräuberjenny den Anstoß gegeben. Der Regisseur sah in Grace die Figur der Polly, die emblematische Unterdrückte, die Unterste, Verachtete und Beleidigte. („Meine Herrn, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen / Und ich mache das Bett für jeden“). Für den Kinobesucher ist zunächst die Kontinuität zu den Märtyrerinnen und Dulderinnen der vorangegangenen Filme von Triers offensichtlich. Aber der Regisseur wartet mit einer schockartigen Wendung der Dinge auf. Bei Brecht singt Polly von einer ungeheuren Traumphantasie der Rache. Das weltberühmt gewordene „Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen“ taucht auf, legt die Stadt in Schutt und Asche und verschont nur das „lumpige Hotel“, in dem die Seeräuberjenny schuftet. Dann kommen „Hundert“, „fangen einen jeglichen vor jeglicher Tür“ und stellen gerade ihr die Frage: „Welchen sollen wir töten?“ Die Letzte, die nun die Erste ist, verlangt: „Alle!“ Sie sieht dann ohne eine Regung von Mitleid, eher mit Vergnügen die Hinrichtungen an („Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla!“) – und entschwindet mit dem Schiff. Während dieses Lied ein Traumbild apokalyptischer oder messianischer Gewalt stellt, ist Lars von Trier an der Wirklichkeit des Affekts der Rache interessiert. So wird bei ihm aus der Vision eine

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Realität. Als die Verfolger von Grace eintreffen, zeigt es sich, dass derjenige, der Grace jagte, in Wirklichkeit ihr eigener Vater ist, ein mächtiger Mafioso, der nun seine Tochter fragt, welche Rache an dem Städtchen sie angemessen finde. Ihre Antwort lautet wie die der Seeräuberjenny: Alle sollen getötet werden. Und sie selbst greift zur Pistole, um ihren Geliebten, den Intellektuellen, der zuvor immer mehr seinen feigen Opportunismus gegenüber den Regeln der Gemeinschaft offenbart und sie im Ertragen ihres Leids bestärkt hat, mit Bedacht, sehr bewusst und in aller ruhigen Entschiedenheit zu töten. Das grundierende Thema von Dogville ist jenes Hervortreten des Asozialen im Sozialen, nur dass die Konsequenz, die das Lied bei Brecht andeutet, die aber in der Oper nicht gezogen wird, der anarchische Ausbruch der Rache bis zum terroristischen Massenmord, der im Song noch durch seinen Traumcharakter befreiend und „schön“ wirkt, im Film bis zum bitteren Ende ausbuchstabiert wird. Das geschieht bei von Trier in einer so grausamen Weise, dass damit verglichen die Konflikte in Thornton Wilders Our Town, auf das der Regisseur ebenfalls verwiesen hat, einfach beschaulich wirken und auch die Rache der alten Dame bei Dürrenmatt, an die man denken mag, psychologisch nachvollziehbarer bleibt. Auch bei weitherziger Auslegung ist diese Mischung aus kriminellem Blutbad, Anarchismus und Terror kaum als Bild der Revolution anzusprechen, es sei denn in einem quasi-theologischen Sinn der radikalen Unterbrechung der Geschichte. Auch im komischen Opernschluss der Dreigroschenoper bleiben die Schlusszeilen, deren Ton nicht in der komischen Selbst-Parodie aufgehen wollen: Verfolgt das Unrecht nicht zu sehr, in Bälde Erfriert es schon von selbst, denn es ist kalt. Bedenkt das Dunkel und die große Kälte In diesem Tale, das von Jammer schallt.16 Anders als mit einem solchen Appell, die Kreatur im Menschen zu achten, hat Lars von Trier in Dogville die Rache der Gedemütigten auf eine Weise Wirklichkeit werden lassen, die ihrerseits nicht erträglich ist und so den sozialen und den asozialen Blick auf das Ende der Gesellschaft im namenlosen Schrecken vermittlungslos aufeinanderprallen lässt. Das Soziale erscheint in seinem Film als die Hölle. Die Hölle, das sind – unter den obwaltenden Verhältnissen – die anderen. Und der apokalyptische Aufstand gegen sie bleibt ohne den Hoffnungs- und Utopiecharakter, den Ernst Bloch in diesem Lied fand.17 Der Film hinterlässt tiefe Verstörung,

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gerade weil er den Zuschauer über die aufgerissene Spaltung nicht mit einer „guten“ Ideologie beruhigt, sondern ihn zu einer Auseinandersetzung mit den eigenen emotionalen und gedanklichen Reaktionen zwingt. Brecht notierte im Zusammenhang mit seiner „großen Pädagogik“ über „die darstellung des asozialen durch den werdenden bürger des staates“ das Folgende: „der staat kann die asozialen triebe der menschen am besten dadurch verbessern daß er sie, die von der furcht und der unkenntnis kommen, in einer möglichst vollendeten und dem einzelnen selbständig beinah unerreichbaren form von jedem erzwingt. dies ist die grundlage des gedankens das theaterspielen in pädagogien zu verwenden“.18 Das ist eine von Brechts exponiertesten Formeln zur Praxis des Lehrstücks überhaupt. Triebe, die hier asozial heißen (aber gibt es eigentlich soziale Triebe?), sind der Ausgangspunkt dieser Überlegung. Nehmen wir aber einmal an, es gäbe (im Unterschied zu sozialen) wirklich bestimmte asoziale Triebe, so sollen diese der Notiz zufolge nicht etwa gemäßigt oder unterdrückt werden, sondern vielmehr „verbessert“! Kaum anzunehmen, dass Brecht der Unterschied zwischen bessern (heilen) und verbessern (perfektionieren) entgangen sein sollte. Es soll vielmehr in einem nicht näher gekennzeichneten „staat“, sagen wir Polis oder Gemeinwesen, so zugehen, dass das Gemeinwesen diese Triebe „erzwingt“– und zwar von jedem und in möglichst vollendeter Form. Diese Form kann nicht einzeln erreicht werden, aber von jedem erzwungen werden! Die Lösung des Rätsels dürfte sein, dass es eben um ein Theaterspielen geht, ein Spielen, das nicht etwa über die asozialen Triebe und ihre Schädlichkeit für das Sozialwesen belehrt, sondern vielmehr dafür sorgt, dass das Asoziale noch besser wird. Eine Stelle im Kleinen Organon spricht von dem Asozialen, von dessen vitaler Größe die Gesellschaft Genuss beziehen könne. Über den frühen Baal notierte Brecht bündig, er sei „asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft“. In der bürgerlichen Gesellschaft, in der Brechts Figuren existieren, gelten die Werte: Mitleid, Wohltätigkeit, Hilfsbereitschaft, Familiensinn, Selbstbescheidung wohl an der Oberfläche. Doch dürfen sie sich nur auf dieser Bühne gerieren, deren verborgenere Maschinerie sich als durch und durch asozial erweist: Räderwerk der alltäglichen Konkurrenz, Kälte der Geldbeziehungen, Nützlichkeit, Profit, Übervorteilung als Regel und Kriterium des alltäglichen Verhaltens. Alles kommt hier auf den (falschen) Schein an. Die beschworenen Werte bleiben Worte. Aber wäre die Trennung so einfach durchzuführen, die Dinge wären längst gelöst. Es verhält sich aber so, dass das Soziale in seiner Logik selbst das Moment des Asozialen benötigt, dieses wiederum als anarchistische These haften bleibt an seinem Anderen, dem Sozialen. Auch die Herstellung eines anderen So-

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zialen benötigt die Energien des Asozialen, das aber seinerseits die Praxis der Umwälzung des Alten gefährdet und sabotiert. Die Kunst hat angesichts dieser Widersprüchlichkeiten und Verwirrungen keinen Ausruf zu setzen, sondern ein Fragezeichen, das die Automatik des Diskurses zu unterbrechen vermag. Das Soziale, sein Funktionieren, ist stets an ein Gesetz gebunden. Dieses lässt vor dem Hintergrund einer durchaus nicht natürlichen, sondern höchst künstlichen Einrichtung der Gesellschaft, als natürlich erscheinen, was eigentlich zum Himmel schreien sollte. Wenn aber jede gesellschaftliche Ordnung, auch die beste, stets einen „Rest“ ausgrenzen, disziplinieren, einordnen oder vertilgen muss, den Rest eines „Bösen“, einer wesentlich asozialen Energie, so kann am ehesten in der Kunst diese Energie des Asozialen zur Erscheinung gebracht werden. Sie ist jener Exzess, der sich in keiner Sozialität beruhigt und, unvereinbar mit der Logik des Sozialen, immer noch nach etwas anderem verlangt: untrennbar verschwägert einem Durst nach Mehr, einem vernunftlosen Überschuss, gepaart mit der Rücksichtslosigkeit des Genießens. Insofern ist es mit dem Asozialen nicht anders bestellt als mit der Anarchie. Auch sie steckt verborgen unter dem Schein kühlster Rationalität und Logik der ökonomischen Kalkulation, bricht aber dann in Krisen hervor oder in Katastrophen, die von der Alleinherrschaft zweckrationaler ökonomischer Konkurrenz hervorgerufen werden. (Warum wird nicht auf katastrophisch gefahrvolle Atomenergie verzichtet? Am Ende ist der einzige Grund, dass die kapitalistische Konkurrenz es nicht erlaubt.) Für Brecht ist das Anarchische, Asoziale und Verantwortungslose der wahre Kern der bürgerlichen Ordnung, Soziabilität und Verantwortlichkeit. Das kommt schärfer noch heraus in der apokalyptisch zugespitzten Oper Mahagonny, in der die Kritik der anarchischen Konkurrenzgesellschaft sich mit der großen Hymne auf Anarchie und Destruktion paart. Paul Ackermann ruft aus: Siehst du, so ist die Welt: Ruhe und Eintracht, das gibt es nicht Aber Hurrikane, die gibt es Und Taifune, wo sie nicht auslangen. Und gerade so ist der Mensch: Er muß zerstören, was da ist. […] Was ist der Taifun an Schrecken Gegen den Menschen wenn er seinen Spaß will? […] Wozu Türme bauen wie der Himalaya Wenn man sie nicht umwerfen kann Damit es ein Gelächter gibt?19

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Im Zusammenhang mit Brechts Haupostille formuliert Benjamin: „Wenn Anarchie Trumpf ist, so denkt der Dichter, wenn in ihr das Gesetz bürgerlichen Lebens beschlossen ist, dann soll sie wenigstens beim Namen genannt werden.“ Und so greift er die üblichsten poetischen Formen auf und wendet sie um nach dem Prinzip, dass „der verantwortungslose und asoziale Mensch von diesen Dingen (von Gott, Volk, Heimat und von der Braut) so spricht, wie man vor Verantwortungslosen und Asozialen von ihnen zu sprechen hat: ohne falsche und ohne echte Scham“.20 Wenn im Kern des Sozialen das Asoziale haust, wird dann das Asoziale umgekehrt vom Sozialen beseelt? Keineswegs. Brecht hat keine Idealisierung des Asozialen im Sinn, auch wenn er eine Parallelfigur zu ihm, den „Massemensch“ in den ersten Phasen der Arbeit an Mann ist Mann durchaus als eine neue Qualität des Humanen betrachtete und eine Sympathie für den bösen, asozialen Feind der Ordnung allenthalben, nicht nur im Frühwerk, unverkennbar blieb. Die Zweideutigkeit aber war stets vorhanden und steigerte sich mit dem Erschrecken über das Erstarken der faschistischen Bewegung. Unter einem anderen Blickwinkel stellt sich das Asoziale und Anarchische im Kern der sozialen Ordnung und Herrschaft (der Arché) als das Element eines Elements von unkontrollierbarem Glücksspiel in der rationalen Ordnung dar. Sieht man einmal für einen Moment, unrichtigerweise, davon ab, dass sich einige in dieser Ordnung gegen alle Glücks- und Unglücksfälle sichern können, so ist die operettenhafte Komik und Zufälligkeit der Aktionen in Brechts Dreigroschenoper und Mahagonny ein verzerrtes Abbild dieser Wirklichkeit des Glücksspiels. Hinter der rationalen Ordnung spielt das unberechenbare Glück. Es gibt eine Geschichte von Borges, in der von einem Volk erzählt wird, das leidenschaftlich gern Lotterie spielte. Man liebte dieses Spiel so sehr, dass alle es betrieben und es zu den unerhörtesten Vermögensverschiebungen im sozialen Gefüge kam. Nun wurde es den Leuten irgendwann zu langweilig, dass man beim Glücksspiel nicht verlieren konnte, also erfand man auch Negativgewinne und konnte nun auch etwa das Los ziehen, Geld herzugeben, sein Vermögen zu halbieren, dann auch Gefängnisstrafen und andere Unbill zu erspielen. Kurzum, die ganze Gesellschaft war eine des Glücksspiels geworden. Und man wird das Paradox schon ahnen: Die vollendet durch das Glücksspiel regulierte Gesellschaft glich aufs Haar der existierenden, wie sie, scheinbar von Ordnung und Gesetz regiert, wirklich ist. Brecht hätte die Geschichte gefallen.

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GBA 24, S. 56–57. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke 23, Berlin 1962, S. 87. Müller, Heiner: Material, hrsg. v. Frank Hörnigk, Göttingen 1989, S. 106. GW 3, S. 54f. GBA 18, S. 87. GBA 24, S. 59. GW 3, S.60ff. GBA 24, S. 61. Ebd., S. 60. GW 3, S. 135f. GBA 2, S. 382. Ebd., S. 246. Ebd., S. 253. Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater 1, Frankfurt a. M. 1963, S. 173. Es kann hier keine durchgreifende Analyse des bedeutenden Films geleistet, sondern nur die Brecht-Referenz betrachtet werden. Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: „Im Zeichen der Teilung. Golonkas An Antigone und von Triers Dogville“, in: Kruschkova, Krassimira (Hg.): Ob?scene. Zur Prasenz der Absenz im zeitgenossischen Tanz, Theater und Film, Wien 2005, S. 151ff. GBA 2, S. 308. Bloch, Ernst: Werkausgabe Bd. 9, Frankfurt a. M. 1965, S. 394ff. GBA 21, S. 398. GBA 2, S. 356. Benjamin, Walter: Versuche über Brecht, Frankfurt a. M. 1966, S. 51.

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DAS NEUE UND DER GENUSS – MAHAGONNYGESÄNGE -

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Ebenso wie die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny haben die „Mahagonnygesänge“ der Hauspostille den Interpreten stets Schwierigkeiten bereitet – und dies wegen einer inneren Zwiespältigkeit: Sie formulieren zugleich ein Lebensideal und eine Kritik ebendieses Ideals, sofern es Teil der bürgerlichen Lebensverhältnisse ist, in untrennbarer Verschmelzung. Zerreißt man, auf der Suche nach der Aussage, die Ambivalenz dieser Texte, so erhält man zwar Thesen („Kritik des Kapitalismus“ oder „anarchische Verherrlichung primitiven und rücksichtslosen Genusses“), behält jedoch, zumal was die Oper angeht, stets soviel in der These nicht aufzurechnenden Rest, dass man zu Formulierungen wie Undeutlichkeit, Halbherzigkeit, Unentschiedenheit greifen muss, um die Lücke zu stopfen.1 Aber Mahagonny ist zwar in manchem ein Abbild der kapitalistischen Gesellschaft, ihres Kulturbetriebs vor allem, zugleich jedoch ein Anderswo: Name und Ort für die Illusion und Utopie der absoluten Freiheit, den Genuss in seiner radikalen Asozialität. Ein bestimmtes Abbildverhältnis, das Mahagonny als Signifikanten eines bestimmten Signifikats definierte, ist unmöglich zu konstruieren. Es würde die Anlage der Oper wie die Gesänge der Hauspostille vielmehr unbegreiflich machen. Verweist nicht Brecht selbst den Gedanken, nach einem Abbildverhältnis zu fahnden, lenkt er nicht selbst das Lesen auf das Spiel der Worte in der Signifikantenkette, wenn es am Ende des Kleinen Mahagonny heißt: Aber dieses ganze Mahagonny Ist nur, weil alles so schlecht ist. Weil keine Ruhe herrscht und keine Eintracht. Und weil es nichts gibt, Woran man sich halten kann. Denn Mahagonny, das gibt es nicht, Denn Mahagonny, das ist kein Ort, Denn Mahagonny – ist nur ein erfundenes Wort.2 Ein „erfundenes“ Wort ist eines, das nicht einem vorgegebenen Signifikat zuzuordnen ist, das keinen bekannten Ort3 angibt, sondern erst in der Entfaltung seiner Bezüge durch das Spiel des Textes selbst seinen

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Ort gewinnt. Daher führt es in die Sackgasse, nach einer fest definierten Position gegen die bürgerliche Gesellschaft zu fahnden, um dann ernüchtert festzustellen, Brechts Kritik sei falsch und oberflächlich.4 Stattdessen dürfte es sich so verhalten, dass das Thema von Mahagonny falsch und oberflächlich beschrieben ist, wenn man es als den Kapitalismus oder die kapitalistische Kunst definiert. Die marxistische Forschung, und nicht nur sie, hält indessen unverdrossen an der „Abbild“These fest. Sie bewegt sich daher leider noch heute mehr oder weniger in den Bahnen, die einst Ernst Schumacher5 abgesteckt hat. Sie sieht nur das Abbild einer anarchischen, moralisch verkommenen kapitalistischen Gesellschaft, findet allerdings zu bemängeln, dass Brecht die ökonomisch-politischen „Ursachen“ der Krise der Gesellschaft, die er zeichnet, nicht aufdeckt; falsch, dass er die Vormacht des Gelds nicht als grundlegendes Prinzip des Kapitalismus darstellt; schief, dass Brecht die amoralischen Grundregeln ausgerechnet von einem Holzfäller, einem Arbeiter, entdecken und aussprechen lässt.6 Brecht rückt, den Proletarier in ein schiefes Licht! Mahagonny ist für Schumacher von tiefem Pessimismus gekennzeichnet, der am „realen Humanismus“ zweifelt.7 Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wenn nur die Anarchie mit all ihren Grausamkeiten, mit ihrer ungeheuerlichen Entmenschlichung registriert wird, nicht aber auch der Gegenspieler des Kapitalismus, das kämpferische Proletariat unter Führung einer revolutionären Partei, dann bleibt nur Resignation und trüber Ausblick.8 Mahagonny artikuliert ein Themenfeld, das eben darum keine fixierbare und logisch vollständig beherrschbare Form zulässt, weil es selbst mit der Überschreitung des Begriffs, der Form, der Logik zu tun hat: Sein Thema ist der Genuss selbst. Die Gesänge und die Oper umschreiben das Andere der bürgerlichen Tauschverhältnisse in ihnen selbst. Die Lust spricht – aber in der Warensprache: Was den Inhalt dieser Oper betrifft – i h r I n h a l t i s t d e r G e n u ß. Spaß also nicht nur als Form, sondern auch als Gegenstand. Das Vergnügen sollte wenigstens Gegenstand der Untersuchung sein, wenn schon die Untersuchung Gegenstand des Vergnügens sein sollte. Es tritt hier in seiner gegenwärtigen historischen Gestalt auf: als Ware.9 Es lohnt festzuhalten, was Brecht in dieser Anmerkung zur Oper nicht sagt: Er sagt nicht, Thema sei, dass der Genuss zur Ware wurde. Er sagt

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Das Neue und der Genuss – Mahagonnygesänge

nicht, dass sein Warencharakter den Genuss unmöglich gemacht habe. Nein, in einer bestimmten „historischen Gestalt“ findet Brecht sein Thema vor, und hier beginnt die Untersuchung. Sie betrifft zugleich die Lust und ihre gesellschaftliche Form. Das gesellschaftskritische Bewusstsein muss davon verwirrt sein: Hätte Brecht nicht zu zeigen, dass kein Genuss möglich ist, weil der Kapitalismus ihn vereitelt? Hier liegt der Skandal: Wer ohne die vorgefasste Absicht, eine bruchlos antikapitalistische These herauszuhören, Mahagonny untersucht, der findet, dass die antikapitalistische Kritik darin mit einer Affirmation verwoben ist: Auch wenn der Genuss zur Ware wird, lässt sich das Individuum, Brecht zufolge, als „unermüdlicher Glückssucher“ den bis zur Selbstzerstörung intensiven Wunsch nach Genuss nicht rauben. Schlimmer noch, die Menschen suchen nicht nur, sondern finden in Mahagonny tatsächlich Genuss. Das engagierte Bewusstsein neigt dazu, Kritik der Gesellschaft mit dem Verzicht auf Genuss ihrer Möglichkeiten zu vermischen. Brecht zeigt, dass der Kapitalismus tatsächlich Lust produziert, dass er in der Entfremdung nicht aufgeht. Gerade die Beziehung zwischen Warenwelt und Genuss ist das Thema der Untersuchung, die in nuce schon in den Gesängen der Hauspostille enthalten ist. Im Programmheft zum Mahagonny-Songspiel steht: „Das kleine epische Stück – Mahagonny zieht lediglich die Konsequenzen aus dem unaufhaltsamen Verfall der bestehenden Gesellschaftsschichten. Er [sic!] wendet sich bereits an ein Publikum, das im Theater naiv seinen Spaß verlangt.“ Der Genuss ist in gewissem Umfang sprachlos: Radikale Souveränität des Genusses, so hat Georges Bataille an de Sade diagnostiziert10, missachtet letztlich den anderen als Subjekt, macht ihn zum willenlosen Objekt. Dass dieses Moment von Lust nicht abzutrennen ist, macht ihr Paradox aus: Die Missachtung des Anderen als selbst souveränem Ich kündigt partiell Gesellschaftlichkeit selber auf, damit aber auch die Bedingung von Sprache. Paradox ist das unvermeidliche Moment von Gewalt im Genuss. Nicht nur Kritik der Entfremdung ist es darum, wenn Paul Ackermann die Zerstörungslust preist, nicht nur verdinglichte Entfremdung, wenn gesungen wird: „Und wenn einer tritt, dann bin ich es / Und wird einer getreten, dann bist’s du.“11 Nicht einfach an das Inhumane, die kapitalistische Verformung des Genusses gebunden, ist dieser sadistische Aspekt, Brechts Untersuchung zufolge, auch konstitutiv für den Genuss, denn dessen höchste Regel heißt: „Du darfst es“. Brecht untersucht die Lust und zugleich ihre gesellschaftliche Form. In dieser Verbindung scheint uns das Bedeutsame der MahagonnyOper zu liegen, deren Rang im Rahmen des Gesamtwerks allgemein nicht hoch genug eingeschätzt wird. Wenn man dagegen die Einschät-

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zung vernimmt, „realistisch“ habe Brecht in der Netzestadt die Ausbeutung erkannt12, dann setzt solches Lob zu tief an. Es hat wohl kaum eine Zeit gegeben, deren Öffentlichkeit so radikal politisiert war, wie das Jahr der Uraufführung der Mahagonny-Oper. War kurz nach der Weltwirtschaftskrise, als selbst das konservative Kleinbürgertum für den Faschismus mit dem Schwindeletikett national-sozialistische Arbeiterpartei geködert wurde, die Einsicht in die Ausbeutung als solche für irgendjemand eine Provokation? 2

An den „Mahagonnygesängen“ fällt der Unterschied ihrer Diktion zu allen anderen Texten der Hauspostille auf. Hier gibt es eine Sprache, die sentenzartige Prägnanz, holzschnittartige Umrisse, Mischung aus Schlagerton, Jahrmarkt und Lyrik, Kasperletheater und Prophetie übergangslos verbindet. Wir beschränken uns auf die Männer, deren Songs eigens als Mahagonnygesänge Nummer eins, zwei und drei bezeichnet sind, und übergehen die in sonderbarem Englisch abgefassten Lieder „Alabama Song“ und „Benares Song“. Sie werden von Frauen gesungen (die „Bordell-Engel“ singen Englisch). Entstanden sind die Gesänge um 1926. Sie kommen laut „Anleitung“ „für die Stunden des Reichtums, das Bewußtsein des Fleisches und der Anmaßung“, also „nur für sehr wenige Leser in Betracht“. Diese sollen die Lieder „ohne Mimik“ anstimmen13 – vielleicht weil Mimik durch Individuierung des Vortragenden undeutlich machen würde, dass hier die Stimme einer Gruppe ertönt. Das beherrschende Moment des ersten Songs ist der Aufbruch. Mahagonnygesang Nr. 1

Auf nach Mahagonny Die Luft ist kühl und frisch Dort gibt es Pferd- und Weiberfleisch Whisky- und Pokertisch. Schöner grüner Mond von Mahagonny, leuchte uns! Denn wir haben heute hier Unterm Hemde Geldpapier Für ein großes Lachen deines großen dummen Munds.14 Man hat in der Formel der zweiten Zeile zu Recht den Anklang an volksliedhafte Wendungen beobachtet („Wohlauf die Luft geht frisch und rein, / Wer lange sitzt muß rosten“15). Indessen lässt der sonderbare Klang des „erfundenen Worts“ Mahagonny in Verbindung mit den

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Stichworten Pferd- und Weiberfleisch, Whisky und Pokertisch einen romantischen Ton nicht aufkommen. Die dritte Strophe zeigt, dass es sich um einen besonderen Aufbruch handelt: Auf nach Mahagonny Das Schiff wird lossgeseilt Die Zi-zi-zi-zi-zivilis Die wird uns dort geheilt. Die Zivilis ist zugleich die „Krankheit“ des bürgerlichen Daseins (civilis) in der Warenwelt und als Prostitutionskrankheit Syphilis Indiz für die Käuflichkeit der Liebe. Wie in der Dreigroschenoper fällt das Bürgerliche mit seinem scheinbaren Gegensatz, dem asozialen Prostituiertenmilieu, zusammen. Verbunden sind sie in der universalen Käuflichkeit. Die wird in Mahagonny geheilt. Aber zugleich sagt der Refrain: Denn wir haben heute hier Unterm Hemde Geldpapier Für ein großes Lachen deines großen dummen Munds. Das Ziel trägt also ebenfalls das Signum der Käuflichkeit. Das ganz andere ist in Wahrheit dasselbe: Aufbruch von Zivilis nach Zivilis. Nicht das Ziel ist das als schön Besungene, sondern die Fahrt selbst, der Aufbruch. Wenn der Refrain sagt „Schöner grüner Mond von Mahagonny, leuchte uns!“, dann sind die Singenden noch keineswegs dort. Der Mond von Mahagonny ist aber schon da und leuchtet – für die Fahrt nach Mahagonny. Soweit ein Zielpunkt benannt ist, zeichnet der Text das Bild Amerikas in ihn ein: Der grüne Mond konnotiert den Dollarschein, und die Strophe zwei verweist mit dem „Ostwind“ auf die Fahrtrichtung nach Westen: Auf nach Mahagonny Der Ostwind, der geht schon Dort gibt es frischen Fleischsalat Und keine Direktion. Die Anarchie, die hier suggeriert wird, lässt die Bedeutung „Durcheinander“ in „Salat“ aufleuchten. Direktion aber heißt auch Richtung. Das erwartete Paradies ist eines, in dem keine Richtung und keine VorSchrift existiert.

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Das Andere besteht also nicht, sondern kann nur phantasiert werden – als Aufbruch, Reise, Übergang – solange es neu, unbekannt, frisch ist: „Denn Mahagonny – das gibt es nicht.“ Da der Genuss in einer nur negativen Form aber gar keine Sprache finden könnte, artikuliert der Text die verschiedenen positiven Bestimmungen – so aber, dass sie sich in ihrer Verbindung gegenseitig durchstreichen: Amerika – bürgerliche Zustände (Käuflichkeit) – antibürgerliche Zustände – Reichtum – anarchische Lebensverhältnisse – Warenwirtschaft. Das Thema Spaß und Vergnügen durchquert diese Signifikate, keines von ihnen ist „gemeint“. Der Spaß, im Grunde jenseits der Sprache, vermag auf diese Weise zu sprechen, ohne dass er fixiert und damit wieder zum Verstummen verurteilt würde. Das Muster dieses Teppichs würde unerkennbar, wenn die einzelnen Fäden mehr als nur zu methodischen Zwecken isoliert würden, um dem Text eine Bedeutung zu imputieren, die er gerade meidet. Die Lust, die hier gewünscht wird als Reise und Traum, auch als Rausch (denn Brechts „grüner Mond“ verweist auch auf den grünen Absinth), ist aus primitiven und zugleich exotisch, phantastisch-amerikanisch anmutenden Materialien zusammengesetzt: Pferd und Weib als Fleisch, Trinken, Wetten und Spielen. Zum Ausdruck des Glücks werden sie, wie später Paul Ackermanns „Gesetze der menschlichen Glückseligkeit“, nur durch die Verknüpfung mit dem Bild des Aufbruchs, durch ihre gegenseitige Annullierung und Überschneidung, indem sie als das Neue, nie Gesehene, Frische gekennzeichnet sind. In diesem Zusammenhang gewinnt das „große Lachen“ seine Intensität. Es ist die Fröhlichkeit des Neuen, Lust des Zerstörens, wie sie Paul Ackermann besingt: Wozu Türme bauen wie der Himalaya Wenn man sie nicht umwerfen kann Damit es ein Gelächter gibt?16 Im Lachen sind die Organe im Spiel, die das Sprechen, die Herstellung sinnvoller Lautverbindungen, bewerkstelligen. Aber im Lachen dienen sie einem lustvollen Ausstoß, einer momentanen Auflösung aller Sinnordnungen, Lachen ist ein Augenblick, an dem Bataille versucht hat, die „Souveränität“ festzumachen. Lachen und Eros sind die der „Souveränität“ am nächsten kommenden Momente, die Bataille den Ordnungen des Diskursiven entgegenhält: das Lachen als Ausschöpfen und Auflösung zugleich des Sinns und als dennoch einzige Möglichkeit des Kommunizierens, Lachen über das Wissen, über die Angst, über das Ich, über alle angenommenen und wieder überschrittenen Fixierungen. Und daneben der Eros, als „approbation de la vie jusque dans la mort“, der be-

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ständig die Ordnung, die Kette der Fortpflanzung, erhält und sie ebenso unaufhörlich sprengt.17 Das Lachen, die Lust, die hier gesucht wird, ist – dumm: Der Genuss setzt Ratio und Logik außer Kraft. Schon darum ist er nur als instabil und vorübergehend zu konzipieren, als Fahrt und Aufbruch. Es gibt ein Gedicht von Brecht, in dem diese Auslegung des ersten Gesangs bestätigt wird, „Komm mit mir nach Georgia“: Seh diese Stadt und seh: sie ist alt Du erinnerst dich, wie lieblich sie war Jetzt betrachte sie nicht mit dem Herzen, sondern kalt Und sage: es ist genug Kommt mit mir nach Georgia Dort bauen sie eine neue Stadt Und wenn diese Stadt alt sein wird Werden wir weitergehen.18 Im Aufbruch selbst, nicht in einer fixierbaren Realität, im Neuen um seiner selbst willen, siedelt der Text das Wesen des Vergnügens an. 3

Die drei Gesänge haben einen chronologischen Zusammenhang untereinander. Die Männer besingen im ersten Lied ihren Aufbruch. Im Gesang Nr. zwei berichten sie in einer Mischung aus Gegenwart und Vergangenheit von den Gesetzen des Lebens in Mahagonny, von den inneren Widersprüchen des Genusses. Der dritte (als parodiertes jüngstes Gericht über das „Pack“ mit dem „grauen Säuferhaar“) spricht vom Ende, der Haltung gegenüber dem Tod. Mahagonnygesang Nr. 2

Wer in Mahagonny blieb Brauchte jeden Tag fünf Dollar Und wenn er’s besonders trieb Brauchte er vielleicht noch extra.19 Das Gesetz in Mahagonny ist, dass man jeden Tag Geld benötigt und, wenn man es „besonders trieb“, „vielleicht noch extra“. Man muss seine Haut verkaufen, und zwar so teuer wie möglich, aber leider wird man selbst ganz ebenso nur als „Fleisch“ betrachtet, wie man selbst die „Weiber“ als Fleisch betrachtet. Jeder unterliegt dem Wucher:

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Immer beißt es euch im Fleische Doch wer zahlt euch eure Räusche? Denn die Häute, die sind billig, und der Whisky, der ist teuer. Aufdringlich klingt hier ein „denn die Leute, die sind billig“ mit, sodass die Lesart, hier werde die Ausbeutung denunziert, sicher ihr Recht hat. In Mahagonny, so wird Paul Ackermann erfahren, gilt zwar, „daß man hier alles dürfen darf“, jedoch nur, „wenn man Geld hat“. Er wird am Ende aufgrund einer durch und durch absurden, dadurch die Realität der Geldwelt freilegenden Gerichtsverhandlung getötet „wegen Mangels an Geld, was das größte Verbrechen ist, das auf dem Erdenrund vorkommt“. Kritik an Ausbeutung und Ausnutzung, an der Entstellung der Liebe und der Genüsse durch den Warencharakter wird geübt, das Fehlen aller Solidarität beklagt. Menschen und Dinge zählen nur als Tauschwert, werden nach demselben Tauschmaß behandelt: Darum sitzen alle Leute Und verkaufen alle Häute Denn die Häute werden jederzeit mit Dollars aufgewogen. Zahlen, Zählen, Tauschen: Das Thema dieses zweiten Gesangs ist das Bezahlen, wie das des ersten das Aufbrechen ist. Um das Lied aber zu verstehen, darf man vom Refrain nicht abstrahieren. Seine Funktion ist eine konterkarierende. Seine Schlusszeilen lauten in den Strophen eins und zwei: Aber damals blieben alle In Mahagonnys Pokerdrinksaloon Sie verloren in jedem Falle Doch sie hatten was davon. (Hervorhebungen vom Verfasser) Wenn das Thema des Textes das Bezahlen ist, dann wird an dieser Stelle deutlich: Verlieren ist Gewinn. Sogar, wenn das Lied davon spricht, dass „allen Leuten ihre Häute abgezogen“ werden, sollte man daran denken, dass sich bei Brecht des Öfteren das Bild der allzu dicken Haut findet, durch die Kontakt verhindert wird. Man kann sagen, dass Brechts Untersuchung des Genusses in Gesang eins als konstituierendes Merkmal den Aufbruch, die Sehnsucht nach dem Neuen, erbrachte. Im zweiten Gesang ergibt die Untersuchung: Zum Genuss gehört das Verlieren. Sehen wir näher zu, wie – nicht zuletzt durch eine vieldeutige Verwendung der Tempora – ermöglicht wird, dass sich dabei Gesellschaftskritik und Utopie vereinigen: Strophe eins erzählt

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im Präsens vom Tauschverhältnis allgemein, die Strophe zwei von den hohen Preisen, also einer Zuspitzung der in Strophe eins angelegten Konflikte. Die Strophen pointieren an den geschilderten Verhältnissen das Negative. Der Refrain steht im Präteritum, und er setzt den „schlechten“ Momenten das gewichtige Aber entgegen: Zwar musste man teuer bezahlen, aber man hatte was davon. Die Beziehung von Refrain und Strophe rückt das Ausgesagte insgesamt ins Zwielicht. Nirgends findet sich, genau besehen, klipp und klar eine Verurteilung der Warenverhältnisse. Sie lassen sich ganz im Sinn der Anmerkung Brechts, es gehe um den Genuss in Gestalt der Ware, so verstehen, dass paradoxerweise das Verlieren gerade unabdingbar für den Genuss ist. Keineswegs ist der Verlust gesehen als eine Einschränkung, die man, je eher, desto lieber, zugunsten des Gewinnens fallen ließe. Denn wie schließt der letzte Refrain? Wer in seinem Kober bleibt Braucht nicht jeden Tag fünf Dollar Und falls er nicht unbeweibt Braucht er auch vielleicht nicht extra. Aber heute sitzen alle In des lieben Gottes billigem Salon Sie gewinnen in jedem Falle Und sie haben nichts davon. (Hervorhebungen vom Verfasser) Plötzlich erscheint das Verlieren als verlorenes Paradies! „Heute“, wo alle es mit dem lieben Gott und dem „Billigen“ haben, zählt nur Gewinn, Erhaltung und Sparen. Ist ein Verfall Mahagonnys eingetreten? Einerseits steht der letzte Refrain im Präsens und sagt so: Heute ist die Fähigkeit zum Verlust abhandengekommen. Andererseits ist in der dritten Strophe im Gegensatz zu den voranstehenden nur von „vielen“, nicht von allen die Rede. Vorher haben alle alles verkauft und genussvoll sich dem Verlust überlassen. Jetzt verkaufen viele nur noch viele Häute: Auf der See und am Land Siehet man die vielen Gottesmühlen langsam mahlen Und drum sitzen viele Leute Und verkaufen viele Häute Denn sie wolln so gern bar leben und so ungern bar bezahlen. Die Zeit der Maßlosigkeit ist vorbei. Zwei Epochen werden unterschieden, jedoch das nicht allein. Es werden nicht nur Zeitstufen konfrontiert, sondern auch eine Lebensweise gegen eine andere gehalten. Viele

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können nicht mehr verlieren, d. h. genießen. Mahagonny ist ähnlich „degeneriert“ wie „Bills’ Ballhaus in Bilbao“, in dem es einst Krach, Wonne, Schießerei und Brandylachen gab – „das Schönste auf dem ganzen Kontinent“. Aber leider: „Heute ist es renoviert – so auf dezent / Mit Palme und mit Eiscreme ganz gewöhnlich […]“.20 Wie das Ballhaus dezent wurde, ohne Brandy und ohne „Lachen“, so ist Mahagonny zivil geworden. Brecht hat als „Gegenstand“ seiner Oper angegeben den Genuss in seiner historisch gegenwärtigen Gestalt als Ware. Er deckt im Genuss das Merkmal des Verlierens auf, und die kapitalistisch gegenwärtige Gestalt des Verlierens ist das – Bezahlen. Sollte man eine Lehre der „Mahagonnygesänge“ destillieren, es wäre diese: Du musst bezahlen können! Kritisch wird festgehalten, „wie es ist“: In der Tauschgesellschaft steht jeder vor der Notwendigkeit zu zahlen. Affirmativ wird ineins damit gefordert, dass das Subjekt sich verausgabe. Nur in einer Verausgabung, die nicht auf Äquivalent, Gewinn und Wiederaneignung zielt, kann Genuss entstehen. Bezahlen ist die kapitalistische Übersetzung dafür: Warensprache. Sparen, Sich-Bescheiden, ängstliche Erhaltung des Besitzes und des Selbst werden verurteilt. Das Lied besagt, dass „mitten im Whisky“ von Mahagonny keine Alternative besteht zu der Notwendigkeit, sich auch an die am meisten entwerteten Formen des Lebens, sogar die allseitige Käuflichkeit, zu verausgaben. Verachtung trifft die, die „so gern bar leben und so ungern bar bezahlen“ wollen: „Wer in seinem Kober bleibt“ – das brave Leben wird als „Schweinerei“ denunziert. Mit dieser Pointe schließt der Gesang. Nicht Gewinn und Aneignung, sondern rückhaltlose Verausgabung strukturieren den Genuss. Lust ist Verlust. Obwohl der Hinweis überflüssig sein sollte, sei hier noch einmal wiederholt, dass es sich nicht um eine irgend „realistische“ Schilderung handelt, dass also Brecht mit gutem Grund hier sein Motiv der Transgression im Verlust abkoppelt von der Frage der Moral und dem sozialen Problem der ungleichen Verteilung der Güter. 4

Man wird in diesem Zusammenhang noch einmal an Georges Bataille und seinen Begriff der Verausgabung erinnern dürfen. Es verblüfft, wie viele Motive des Batailleschen Denkens in Brechts literarischer Praxis wiederkehren. Batailles Arbeiten der 1930er Jahre weisen dieselbe Konstellation von sozialkritischem Ansatz (Problem der Tauschgesellschaft, Produktionswahn) und politischer Fragestellungen (Faschismus, Kommunismus) auf wie die Brechts. Beide verweigern, trotz ihrer Sympathie für den Kommunismus, dessen theoretischen Implikationen die bedin-

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gungslose Gefolgschaft. Gemeinsam ist beiden das Bewusstsein, dass alle denkerische und literarische Anstrengung im Durchgang durch die möglichen Fixierungen eines Sinns immer einem anderen zustrebt; dass dieses aber nicht fixiert werden kann und soll, sondern nur in der Überschreitung und Auflösung aller möglichen Fixierungen des Denkens indirekt erscheint. Interessanterweise setzte Batailles Theorie, dass die Ökonomie des Lebens von Vergeudung und Verausgabung, nicht vom Sparen und Akkumulieren her zu denken sei, gerade bei einer Reflexion über die Krise des Jahres 1929 ein. In ihr erkennt er eine katastrophische Form der Verausgabung, eine Niederlage des Menschen, der es nicht vermochte, den unbezwingbaren Drang nach Verausgabung in einer „gloriosen“ Form zu realisieren.21 Es bereitet freilich der Logik und der Moral22 fast unüberwindliche Schwierigkeiten, die Verausgabung zu denken, weil im Einzelnen stets der Anblick des Mangels vor Augen steht, sodass der Überfluss als Lebensprinzip dagegen amoralisch erscheinen muss. Brecht bemerkte an der Szene, in der sich einer zu Tode isst, dass hier vor allem der Inhalt der Oper – der Genuss – unerträglich wirkte: der Vielfraß angesichts des Hungerelends nach dem schwarzen Freitag. Es soll nicht geleugnet werden, daß dieser Inhalt zunächst provokatorisch wirken muß. Wenn zum Beispiel im dreizehnten Abschnitt der Vielfraß sich zu Tode frißt, so tut er dies, weil Hunger herrscht. Obgleich wir nicht einmal andeuten, daß andere hungerten, während dieser fraß, war die Wirkung dennoch provozierend. Denn wenn nicht jeder an Fressen stirbt, der zu fressen hat, so gibt es doch viele, die an Hunger sterben, weil er am Fressen stirbt. Sein Genuß provoziert, weil er so vieles enthält. In ähnlichen Zusammenhängen wirkt heute Oper als Genußmittel überhaupt provokatorisch.23 Der Genuss wirkt provozierend, weil er unerlaubte Wünsche darstellt und so deren Spannung zum gesellschaftlichen Prozess deutlich macht. Brecht verlässt nicht zugunsten eines anarchischen Lebensideals den Horizont der sozialen Verantwortung. Das Aufeinandertreffen von Ordnung und Überschreitung der Ordnung ist sein „Thema“. Die rückhaltlose Verausgabung erscheint im Feld des Tauschs, das Asoziale im Kontext der Sozietät. Bataille hat die Vergeudung bis zur Selbstvernichtung in der Lust und das damit verschwisterte Moment der Übertretung des religiösen Gebots, die Übertretung der Grenze von Scham und Ekel, kurz: die Perversion, im Herzen des Eros zu denken versucht. Eros im Gegensatz zu Sexualität ist demnach immer geknüpft an eine „transgression réussie,

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qui maintenant l’interdit, le maintient pour en jouir“.24 Das Bewusstsein der „Sünde“ ist nicht zu trennen von der Lust, der akute Sinn für die Sündhaftigkeit erst macht die Übertretung zu einem Moment der Souveränität. „Das Unmögliche“ nennt Bataille diesen Moment, in dem Verbot und Übertretung gleichermaßen durchlebt werden, unmöglich, weil er weder denkbar oder vorstellbar noch positiv konzipierbar ist. Als Durchqueren und Überschreiten aller möglichen fixierbaren Denkinhalte kommt ihm dennoch „Realität“ zu. Zwei Tabus sind es vor allem, die den Kern aller Gesetze, aller „Verbotstafeln“, mit Mahagonny zu sprechen, ausmachen: die sexuellen Tabus und das Tabu der Gewalt. Beide konstituieren die Sozietät, beide sind in Mahagonnys großer Zeit außer Kraft gesetzt. Wenn Paul Ackermann verkündet, dass man alles darf, so liegt in der Konsequenz dieses unbeschränkten Genusses die Tendenz, die civilis aufzugeben. Alle Formen, in denen sich das Bewusstsein Lust verschaffen kann, erweisen sich als ungenügend. Dieser unaufhebbare Mangel wird in der Oper mit einer aufschlussreichen Steigerung dargestellt. Zunächst äußert Paul Ackermann gegen die Vorstellungen seiner Freunde über die Vorzüge von Mahagonny sein Ungenügen mit der stereotypen Antwort: „Aber etwas fehlt!“ Das Bewusstsein sucht sich im Absurden aufzuheben: Ich glaube, ich will meinen Hut aufessen Ich glaube, da werde ich satt. Warum soll einer nicht seinen Hut aufessen Wenn er sonst nichts, wenn er sonst nichts, wenn er sonst nichts zu tun hat?25 Aus einer amerikanischen Redensart (I’ll eat my hat, if …) wird eine Wendung, die aus einem Stück von Beckett stammen könnte. Weitergehend richtet sich der Wunsch dann auf ein Verlassen der menschlichen Position überhaupt. Am Ende der Szene heißt es: „Oh, Jungens, ich will doch gar kein Mensch sein.“ Und dieser Wunsch wiederum mündet konsequent in die Mimesis an die Natur mit ihrem Schrecken oder Terror. Immer steht das Bewusstsein im Weg, erlässt Gesetze, Verbote, fixierte Denkinhalte, produziert etwas, „woran man sich halten kann“. Vom Wunsch, dies alles hinter sich zu lassen, zieht sich ein Bogen zu der berühmten Erkenntnis: Wir brauchen keinen Hurrikan Wir brauchen keinen Taifun Denn was er an Schrecken tun kann

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Das können wir selber […] tun. Und: Was ist der Taifun an Schrecken Gegen den Menschen, wenn er seinen Spaß will?26 Untrennbar mischen sich Sozialkritik und Affirmation: dass das Moment des Destruktiven, Gewaltsamen, alle sozialen Regeln brechenden Ausbruchs ein notwendiger Bestandteil der Lust ist. Diese Destruktivität hat immer wieder zu Spekulationen über die anarchische Denkweise Brechts Anlass gegeben. In der Oper steht jedenfalls Lust an der Zerstörung im Zentrum jener „Gesetze der menschlichen Glückseligkeit“, die Paul Ackermann in der elften Szene entdeckt: Siehst du, so ist die Welt Ruhe und Eintracht, das gibt es nicht Aber Hurrikane, die gibt es Und Taifune, wo sie nicht auslangen. Und gerade so ist der Mensch: Er muß zerstören, was da ist […] Wozu Türme bauen wie der Himalaya Wenn man sie nicht umwerfen kann Damit es ein Gelächter gibt?27 […] Singt also zum Beispiel, weil es verboten ist.28 Die Übertretung um ihrer selbst willen wird zur Quelle der Lust und des Singens. Zerstörung erscheint als Lust und Freiheit, wie im Gedicht vom armen B. B. Die Besonderheit dieser Texte liegt aber darin, dass sie beständig diesen Wunsch mit den Systemen und Kategorien der Gesellschaft konfrontieren. Die daraus resultierende Ambivalenz wird jedoch, und das ist entscheidend, nirgends aufgehoben. Lust und Schrecken bleiben gleichermaßen affirmativ und kritisch; sie gehen in keiner begrifflichen Scheidung auf. Der Schluss der Oper, wenn die Netzestadt in zunehmender Unordnung untergeht, wurde stets als apokalyptische Vision genommen, die letztlich doch Mahagonny als Ort des Schreckens, als Hölle, bloßlegt. Ganz wird man diese Lesart nicht abweisen wollen. Die auffallende Parallele zum Schlussbild des Wagnerschen Ring wäre in diesem Sinne zu deuten. Wie Walhall in der Götterdämmerung geht Mahagonny in Flammen auf; hier wie dort steht Ratlosigkeit am Ende und das Bewusstsein,

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dass die alte (Götter-)Herrschaft am Betrug gescheitert ist, an dem sie von allem Anfang an krankte. Wenn Paul Ackermann am Ende zurückzunehmen scheint, was er lehrte, so muss man sich vergegenwärtigen, dass der Text sich an keinem Punkt identifiziert mit den Thesen, die in ihm aufgestellt werden. Paul Ackermann will nicht sterben. Angesichts des Todes zählt nichts mehr, entwertet sich alles Leben radikal. Brecht hat immer wieder die Spaltung beschrieben, dass der Einzelne seinen Tod nicht akzeptieren kann, obwohl er eben der Preis ist, den man „zahlen“ muss. Daher ist der Widerruf Paul Ackermanns nicht der Widerruf Brechts. Nicht anders steht es um die Zerstörung Mahagonnys. War es nicht gerade die Zerstörung gewesen, in der Paul Ackermann die Lust suchte, das Gelächter über die Türme, die man umwirft? Das Bild des Chaos wird nicht zum Plädoyer für die Ordnung. 5

Vom Ende Mahagonnys und seiner Bewohner scheint auch der dritte der Hauspostillengesänge zu handeln, in dem Gott erscheint und den Männern ihre Sünden vorrechnet. Mahagonnygesang Nr. 3

An einem grauen Vormittag Mitten im Whisky Kam Gott nach Mahagonny Kam Gott nach Mahagonny. Mitten im Whisky 1 Bemerkten wir Gott in Mahagonny. Sauft ihr wie die Schwämme Meinen guten Weizen Jahr für Jahr? Keiner hat erwartet, daß ich käme Wenn ich komme jetzt, ist alles gar? […] 2 Lachet ihr am Freitag abend? Mary Weeman sah ich ganz von fern Wie ’nen Stockfisch stumm im Salzsee schwimmen Sie wird nicht mehr trocken, meine Herrn. […]

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3 Kennt ihr diese Patronen? Schießt ihr meinen guten Missionar? Soll ich wohl mit euch im Himmel wohnen Sehen euer graues Säuferhaar?29 Auf seine Forderung aber, nunmehr zur Hölle zu gehen, reagieren die Männer mit Widerstand: „Rühre keiner den Fuß jetzt! / Jedermann streikt! […]“. Man wird diese Antwort besser verstehen, wenn man sie in das Bedeutungsfeld der anderen Gesänge einträgt. Dann wird sogleich deutlich, dass die Forderung „Marsch mit euch in meine Hölle, Burschen / In die schwarze Hölle mit euch Pack!“ an das Thema des Bezahlens anknüpft und nichts anderes bedeutet als die Zumutung, über das Erdenleben hinaus sollten die Männer noch für ihre Sünden bezahlen. „Gott hat mit seinem Befehl einen Fauxpas begangen“30, notiert Walter Benjamin. Die „Burschen“ (ein Wort, das wiederum auf Geld verweist: bursa, Börse, bourse) weigern sich: Jedermann streikt! An den Haaren Kannst du uns nicht in die Hölle ziehen: W e i l w i r i m m e r i n d e r H ö l l e w a r e n. Fechten im tradierten Topos die höheren Instanzen Gott und Teufel den Handel um die Seele des Menschen aus, so bringt „Jedermann“ hier, anders als bei Hofmannsthal, einen neuen Aspekt in den Kampf. Diese Männer greifen selbst in das Geschäft ein, wie Streikende es tun, und verlassen sich nicht auf die Erlösung, die im „Welttheater“ der Glaube dem Teufel siegreich entgegensetzt: Auf deiner Seiten steht nit viel Hast schon verloren in dem Spiel Gott hat geworfen in die Schal Sein Opfertod und Marterqual Und Jedermannes Schuldigkeit Vorausbezahlt in Ewigkeit.31 In Analogie und Verkehrung davon lassen sich die Männer von Mahagonny nicht in die Hölle schicken. Ihre Antwort lässt sich „übersetzen“: Der Gesang Nr. zwei hatte gezeigt, dass man zwar verlor, aber etwas davon hatte. Hier wird die Umkehrung vollzogen. Wir haben zwar das sündige Leben genossen, sagen die Männer, doch gehen

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wir nicht zur Hölle: „D e n n w i r h a b e n i m m e r d a f ü r b e z a h l t.“ Das Leben und der Genuss waren nur zu haben um den Preis der Verausgabung und des Todes. Alle in Mahagonny wussten um diesen Preis und lebten danach, dass ihre Lust Zerstörung und Selbstzerstörung einschließt, dass der Tod der Preis für das Leben ist. Soviel wird bezahlt, und mehr „ist nicht drin“. In der Oper wird das nach allen Richtungen entfaltet. Ambivalent platziert Brecht den Song von Gott in Mahagonny vor Paul Ackermanns Tod und das Ende Mahagonnys, das darauf folgt, die Verwandlung des Paradieses in die Hölle schreckt die Bewohner von Mahagonny nicht, „unbelehrt“ demonstrieren sie inmitten allseitiger Verwirrung für ihre Ideale. Gott kommt zu spät, um seine Rechnung zu präsentieren. Er hat keinen Anspruch mehr anzumelden. So wenig wie man einen Hurrikan braucht, braucht man ihn. Allerdings kann sich nun auch der Sterbende nicht auf ihn berufen. Paul Ackermann will, wenn es ans Sterben geht, den Kontrakt brechen, der besagte, dass man für alles den Preis zahlen muss. Er will seinen Tod mit Berufung auf Gott verhindern und muss sich mit dem „Spiel von Gott in Mahagonny“ daran erinnern lassen, dass er selbst die Lehre des (im doppelten Sinne) SchlussKapitels der Hauspostille verkündet hat: Laßt euch nicht verführen! Es gibt keine Wiederkehr. […] Was kann euch Angst noch rühren? Ihr sterbt mit allen Tieren Und es kommt nichts nachher. Schrecken und Lust an diesem „Nichts“ sind nicht zu trennen. Freiheit wird erkauft mit der radikalen Immanenz des Daseins: keine Strafe, aber auch kein Schutz. Im Bild des Tausches, des Gelds, des Systems von Einsatz und Gewinn, stellen die „Mahagonnygesänge“ zugleich das Andere dieses Systems dar. 6

Die Lust erscheint in den vier Szenen der Oper die die Vergnügungen der Netzestadt schildern, als Selbstverzehrung. Adorno spricht von einem morality play, von der „Moralität des zweiten Aktes, wo nach der Errettung vorm Hurrikan das dunkle Glück der Anarchie an vier allegorischen Bildern bewiesen wird, dem Essen, der Liebe, dem Boxen und dem Saufen; ein Glück, das je und je mit unversöhntem Tode bezahlt

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werden muß“.32 So wird der schwächere Boxer erschlagen. Der Boxer treibt aber, Brecht zufolge, ohnehin wie jeder wahre Sportler den Sport nicht als Ertüchtigung, sondern als eine Art von tendenziell bedingungslosem Einsatz, der körperlichen Ruin und Tod einschließt. Brecht schrieb um 1928: Wenn sie Sport genauso weit treiben, als er gesund ist, ist es dann Sport, was sie treiben? Der Große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein. […] ich bin gegen alle Bemühungen, den Sport zu einem Kulturgut zu machen. […] Ich bin für den Sport, weil und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (also nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist […]. [Hannes Küpper und George Grosz] boxen, wie ich genau weiß, weil es ihnen Spaß macht, und sie würden es auch tun, wenn es sie körperlich ruinieren würde.33 Nicht anders steht es um die Abteilung „Fressen“. In dieser Szene erscheint der Charakter des Vergnügens als Selbstverzehrung ganz buchstäblich. Jakob Schmidt sucht unablässig nach einer totalen, ihrem Wesen nach unmöglichen Erfüllung: Jetzt habe ich gegessen zwei Kälber Und jetzt esse ich noch ein Kalb Alles ist nur halb Ich äße mich gerne selber.34 Alle ehren ihn mit gezogenen Hüten nach seinem plötzlichen Ableben, als er sich zu Tode gegessen hat, weil er nicht ängstlich Maß hielt, sondern konsequent seinem Glück huldigte, sich ohne Maß und Ende zu füllen: Sehet, welch unersättlicher Ausdruck auf seinem Gesicht ist! Weil er sich gefüllt hat Weil er nicht beendet hat Ein Mann ohne Furcht!35 Wenn Genuss der Inhalt der Gesänge und der Oper ist und sich, wie dargestellt, als im weitesten Sinne Selbstverzehrung erweist, so führt der Text diese Figur selbst noch einmal durch: indem er sich immer wieder als Selbstverzehrung des Sinns gibt. So weist, was am Genuss demons-

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triert wird, zurück auf den Akt solcher Demonstration selbst, den literarischen Text. Dies sei abschließend an den Szenen „Lieben“ und „Saufen“ erläutert. In der Szene „Lieben“ zeigt sich, dass Liebe keinen Halt im gefährlichen Lebensstrom darstellt und als Fiktion damit dennoch nicht entwertet ist. Schein und Illusion gehören ebenso zum Dasein wie die platteste materielle Realität, und so wird das Wortgeklingel der schönen traditionsreichen Terzinen, die Dante anklingen lassen, im Lied von den Kranichen jäh mit der Szene des Bordells verknüpft. Männer stehen dort Schlange, warten darauf, dass ihr Vorgänger „fertig wird“ und stimmen den „Mandelay Song“ an: „Liebe, die ist doch an Zeit nicht gebunden / Jungens, macht rasch, denn hier geht’s um Sekunden“36. In ein und derselben Bewegung wird die Entfremdung denunziert, die mit der Käuflichkeit der Bordellliebe gegeben ist, und die Schönheit der Fiktion, des Scheins, gerade aus diesem Kontrast gewonnen. Da allerorten „Regen drohen oder Schüsse schallen“, verlieren sich die Liebenden in dem Duett von Jenny und Paul in einer abgehobenen anderen Zeit, von der nicht auszumachen ist, ob darin Wechsel von Tag und Nacht oder Zeitlosigkeit herrscht: Daß so der Kranich mit der Wolke teile Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen Daß aber keines länger hier verweile Und keines andres sehe als das Wiegen Des andern in dem Wind, den beide spüren Die jetzt im Fluge beieinander liegen. […] So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. Der Dialog am Ende, der das Transitorische der Liebe deutlich macht, mündet in die Affirmation des Scheins, der Illusion und Glück zugleich ist: Wohin ihr? Nirgend hin. Von wem entfernt? Von allen. Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Seit kurzem. Und wann werden sie sich trennen?

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Bald. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt. Dieser Schein ist der von der poetischen Sprache selbst erzeugte. Sie vermag die Spaltung zu artikulieren: Allein in ihr, der stets mit Fiktion, Täuschung, Illusion durchsetzten, gewinnt die Liebe überhaupt Gestalt. Eine reine, unverstellte Sprache der Liebe wird nicht als Utopie vorgestellt. Einzig in der gegenseitigen Aufhebung und Durchstreichung der Elemente Bordell, Romantik, Geld, Austausch, Eile, Ewigkeit gibt es ihre Sprache. Die Leuchtkraft dieser Szene widerlegt genauer als jede theoretische Abhandlung die Forderung nach einer einsinnigen, bruchlosen Sprache der Liebe, die – das war Brechts Überzeugung – nur in den Kitsch führen könnte. Auf das textuelle Moment verweist noch einmal die vierte jener Szenen, welche die glückseligen Verausgabungen beschreiben. In allen war hervorgetreten, dass das Begehren einer Ökonomie folgt, die nicht nach Maß, Ausgleich, Nutzen und (Selbst-)Erhaltung fragt, sondern die Grenze der Selbstverzehrung überschreitet. Die Szene nun, in der es um „Viertens Saufen laut Kontrakt“ geht, zeigt einen Rausch als imaginierte Fahrt auf einem „Schiff“ aus Billardtisch, Storestange als Mast und Hemden als Segel. Diese Reise wird allerdings Paul Ackermanns Mittel übersteigen, der schon bevor er sie antritt, pleite ist: Begbick: Aber jetzt bezahlen, meine Herrn! Paul: Jenny, komm her! Jenny, ich hab kein Geld mehr. Am besten ist es, wir fliehn Es ist ganz gleichgültig wohin! Meine Herrn, besteigen wir diesen Kahn Zu einer kleinen Fahrt auf dem Ozean!37 Er wird nicht bezahlen können und man richtet ihn deswegen hin. In der Motivik des Aufbruchs, der Reise, des Rausches ist die Szene verbunden mit dem ersten der „Mahagonnygesänge“. Was dort nur implizit ist, hat Brecht in der Opernszene hervorgekehrt: Die Reise in den Traum, den Rausch, die Liebe ist verschwistert der in den Tod. Der Schnaps in die Toiletten geflossen Die rosa Jalousien herab Der Tabak geraucht, das Leben genossen Wir segeln nach Alaska ab.38

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Paul will nach Alaska, von dem man erfahren hat, dass dort kalte schwarze Wälder sind, solche Wälder mithin, aus denen auch der arme B. B. in das Leben der Asphaltstädte getragen wird. Paul hat den Punkt erreicht, an dem er nicht mehr bezahlen kann. Er flieht, wie es das Lied von Georgia fordert, in das Neue, als ihm Mahagonny nicht mehr gefällt. Mahagonny wird zum Namen für das Leben selbst, aus dem es Paul Ackermann in den Tod, das Neue, zieht. Der Zwiespalt bleibt bestehen, den schon der andere Ackermann, der Ackermann aus Böhmen ertragen lernen musste: Lebendigkeit und Genuss sind an die Annahme des Todes gebunden. Leben („Schlürft es in vollen Zügen“, hat Paul Ackermann gesungen) ist ein „Saufen laut Kontrakt“, der am Ende den Tod vorsieht. Rausch, Todesfahrt, Himmelfahrt ins Paradies und läppische Realitätsverkennung zugleich ist diese „kleine Fahrt auf dem Ozean“ auch als „Liebesfahrt“ zu nehmen. So spricht Paul zu Jenny: „Bleibe unbedingt neben mir, Jenny“, und die Männer rufen den beiden recht zweideutige Aufmunterungen zu: Hallo, Paule, großer Navigator! Hallo seht, wie er schon das Segel bedient Jenny, zieh dich aus, es wird heiß, der Äquator […] Im Sturm der Leidenschaft „verneinen“ die Seefahrer die Anspielung auf das Bett: „Jenny, Paul gröhlend: Das Schiff, das ist kein Kanapee […]“. Sie zeigen ihre Trunkenheit, in der sie alles doppelt sehen – „Sechs von uns drei haben die Seekrankheit“ –, und Jenny, eben noch „ängstlich sich am Mast haltend“, mahnt mit einer sonderbaren Bemerkung zur Vorsicht auf den erregten Wogen: „Fahrt rascher und fahrt sehr vorsichtig. Segelt unter keinen Umständen gegen den Wind und versucht jetzt nichts Neues.“ Kurz darauf endet die eingebildete Fahrt dort, wo sie begann, in Mahagonny. Spätestens bei der zuletzt zitierten Bemerkung Jennys wird der Zuschauer sich fragen, ob er nicht mit dieser für die moderne Poesie so bedeutungsträchtigen Vokabel darauf gestoßen werden soll, dass die Szene insgesamt auch als eine Parodie der Baudelaireschen Reise ins Unbekannte zu verstehen ist, zumal Brecht den Topos der Poesie als Schifffahrt oft aufgenommen hat. Der Schluss des Gedichts „Le Voyage“, eine Inkunabel der Literatur der Moderne, das die erste Ausgabe der „Fleurs du Mal“ abschließt, lautet: Ô Mort, vieux capitaine, il est temps! levons l’ancre! Ce pays nous ennuie, ô Mort! Appareillons!

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Si le ciel et la mer sont noirs comme de l’encre, Nos coeurs que tu connais sont remplis de rayons! Verse-nous ton poison pour qu’il nous réconforte! Nous voulons, tant ce feu nous brûle le cerveau, Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu’importe? Aux fond de l’Inconnu pour trouver du nouveau!39 Ohne im Einzelnen die komplizierte Beziehung der Passage zu Baudelaire zu diskutieren, lässt sich doch soviel sagen: Durch literarische Bezüge (neben Baudelaire noch das populäre „Stürmisch die Nacht und die See geht hoch“ und die Sirenenklänge des Odysseus: „Sollen wir uns nicht am Mast anbinden, wenn der Sturm noch heftiger wird?“) demonstriert die Szene, dass ihre „Aussage“ in ihrer Literarizität zu suchen ist. Das war bei Baudelaire selbst schon so, der das Meer „noir comme de l’encre“ nannte. Dieser Selbstbezug eignet einem Typ von Zeichenpraxis, der imstande ist, Protest und Affirmation, die logisch unvereinbar sind, in ein und derselben sprachlichen Bewegung zu artikulieren. Der Rekurs auf die eigene Schrift erlaubt dem Text, die asoziale Natur des Triebs zur Darstellung zu bringen, sein paradoxes Verhältnis zur Sozietät. Gegen die entstellten und entfremdeten Formen der Lust setzt Brecht keine „reine“ als Utopie, und ebenso wenig bestimmt er die entfremdeten Formen als nur schlecht. Daher ist in seinem Text keine (explizite oder implizite) eindeutige Kritik Mahagonnys enthalten. Die „Mahagonnygesänge“ besingen den Genuss, seine paradoxe Realität und seine Unmöglichkeit zugleich, in einer Sprache, die dem Leser demonstriert, dass „das Richtige“ nicht „das ganz andere“ ist, sondern in „das Falsche“ immer schon eingetragen. Schließen wir mit einer hellsichtigen Analyse der Uraufführung des Stücks. Sie stammt aus dem Jahre 1930: Die ästhetische Form der Oper ist die ihrer Konstruktion, und nichts wäre falscher, als wenn man einen Widerspruch zwischen ihrer politischen, auf die Wirklichkeit gerichteten Absicht und einer Verfahrensweise herauslesen wollte, in der die gleiche Wirklichkeit nicht naturalistisch gespiegelt wird; denn die Veränderung, die die Wirklichkeit darin erfährt, ist eben durch den politischen Willen geboten, das Bestehende zu dechiffrieren. Mit der bloßen Konstatierung des epischen Theaters kommt man bei Mahagonny nicht weit. Es dient der Absicht, anstelle der geschlossenen bürgerlichen Totalität das bruchstückhafte Aneinander von deren Trümmern zu setzen, in den

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Hohlräumen zwischen den Trümmern das immanente Märchen in Besitz zu nehmen, aus der nächsten Nähe und selbst vermöge der infantilen Goldgräberpassion zu zerstören. Die Form, in der eine zerfallene Realität gebannt wird, ohne daß schon eine bessere gegenwärtig wäre, darf nicht selbst den Schein von Totalität annehmen. […] Gründlicher indessen als durch alle Montage und alle songspielmäßige Intermittenz wird die bürgerliche Immanenz bedroht durch Sprach- und Phantasieformen im einzelnen, die den schrägen und schreckhaften Kinderaspekt erzwingt. Mahagonny ist die erste surrealistische Oper. Die bürgerliche Welt wird als schon abgestorbene im Moment des Grauens präsentiert und demoliert den Skandal, indem ihre Vergangenheit sich kundtut. […] Die surrealistischen Intentionen von Mahagonny werden getragen von der Musik, die von der ersten bis zur letzten Note dem Schock gilt, den die jähere Vergegenwärtigung der verfallenen Bürgerwelt erzeugt. […] Ihr [der Musik] Surrealismus ist von aller neuen Sachlichkeit und Klassizität radikal verschieden. Sie geht nicht darauf aus die zerstörte bürgerliche Musik zu restituieren, […] ihre Konstruktion, ihre Montage des Toten macht es als tot und scheinhaft evident und zieht aus dem Schrecken, der davon ausgeht, die Kraft zum Manifest. Dieser Kraft entspringt ihr improvisatorischer, wandernder, obdachloser Elan.40

1978/2016

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Vgl. z. B. Seliger, Helfried W.: Das Amerikabild Bertolt Brechts, Bonn 1974, S. 133ff. Da auch er nach einem Abbildverhältnis fahndet, muss er konstatieren, dass sich im Mahagonny-Songspiel „die marxistische Wertung noch sehr undeutlich“ abzeichne, die Gesellschaftskritik noch „zu zaghaft“ sei und erst in der Oper gebe es dann die klar definierte negative Wertung, allerdings bleibe es dabei, dass das „Faszinierende“ das negative Bild unerwünscht aufhelle und so eine contradictio in adjecto bestehen bleibe. Eine große Ausnahme innerhalb der Forschung stellt der höchst lesenswerte Aufsatz von Gunter G. Sehm dar: „Moses, Christus und Paul Ackermann. Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, in: Brechtjahrbuch 1976, Frankfurt a. M. 1976, S. 83–100. Sehm weist mit Erfolg die Parodie der Bibel nach: Auszug der Kinder Israels aus Ägypten; Geschehen am Rande einer Wüste; Pakt Gottes mit der Sehnsucht nach einem Paradies; Bedingung der Zehn Gebote; Sodom und Gomorrha (Atsena und Pensacola); der Fall Babylons durch einen Sturm; der neue Bund mit seiner Lockerung der alten Gebote. Dieser Blickwinkel ermöglicht es Sehm, nicht dem üblichen auf die Katastrophe fixierten Interpretationsraster zu erliegen. GBA 2, S. 331. Völkers Verweise auf Arnolt Bronnens Erinnerung an den bajuvarischen „Spießertraum“ aus „Anarchie und Alkohol“ oder das Vorbild der Berliner Vergnügungszentren sollen damit nicht entwertet werden. Die Kritik muss aber dem methodischen Credo umso mehr gelten, das vorschnell annimmt: „Die Mahagonny-Welt war ein Spiegelbild der kapitalistischen Welt, so wie sie sich dem Stückeschreiber Ende der Zwanziger Jahre darbot“. Vgl. Völker, Klaus: Bertolt Brecht. Eine Biographie, München/Wien 1976, S. 153f. Vgl. etwa Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 4, München 1974, S. 1256.

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Vgl. Schumacher, Ernst: Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933, Westberlin 1977. Ebd. S. 273. Ebd. S. 276. Ebd. Brecht, Bertolt: Versuche 1–12, Heft 1–4, Berlin/Frankfurt a. M. 1959, S. 103. Vgl. Bataille, Georges: L’érotisme, Paris 1957, S. 182 ff. (dt.: Der Heilige Eros, Berlin/Wien/Frankfurt a. M. 1976.) Dort wird in Studien zu de Sade herausgearbeitet, dass das erotische Verhalten auf einer rückhaltlosen Verausgabung beruht, sich zum normalen verhält, wie Vergeudung zu Aneignung. Die Lust kennt keine Grenze, auch nicht die der Souveränität des anderen. Die Negation des anderen mündet konsequent in die Negation des eigenen Selbst. Diese Reflexion, die nicht verleugnet, dass sie aus einer Auseinandersetzung mit Hegels Herr-und-Knecht-Dialektik resultierte, führt zu dem Ergebnis, dass die Sprache de Sades ein Paradox darstellt: Die Grausamkeit des extremen Verbrechens, in dem die Lust mündet, ist letztlich moralische solitude. Die souveräne Lust ist das Unmögliche. Brecht: Versuche, S. 77. Völker: a. a. O. S. 154f. Genau genommen handelt es sich um einen recht unverbindlichen Vorschlag. Die Leser „können“ die Lieder „ruhig“ mit Gefühl und Stimme, aber ohne Mimik anstimmen. GBA 11, S. 100. Die Beobachtung wird von Seliger angeführt: a. a. O. S. 136. Brecht: Versuche, S. 67. Vgl. Kristeva, Julia: „Bataille, l’expérience et la pratique“, in: Bataille, Paris 1973, S. 267ff. GBA 13, S. 315. GBA 11, S. 101. GW 8, S. 320. Vgl. Bataille, Georges: Die Aufhebung der Ökonomie, München 1975, S. 45ff. Ebd. GBA 24, S. 77f. Bataille: L’érotisme, S. 43. Brecht: Versuche, S. 61. Ebd., S. 67. Ebd. Ebd, S. 71. GBA 11, S. 102. Benjamin, Walter: Versuche über Brecht, Frankfurt. a. M. 1966, S. 55. Hofmannsthal, Hugo von: Jedermann, Berlin/Frankfurt. a. M. 1960, S. 74. Adorno, Theodor W.: Moments musicaux, Frankfurt a. M. 1964, S. 136. GW 20, S. 28–31. Ebd. Brecht: Versuche, S. 73. GBA 13, S. 359. GBA 2, S. 370. Brecht: Versuche, S. 81f. Ebenso die folgenden Zitate. Baudelaire, Charles: Œuvres complètes, Paris 1968, S. 124. Adorno: a. a. O, S. 135–138.

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Zwei miteinander kommunizierende Perspektiven sind verlangt, wenn man heute vom Theatertheoretiker Brecht, der mittlerweile oft skeptischer beurteilt wird als der Dichter, ein Bild gewinnen will. Die eine wird eröffnet durch eine neue Lektüre des Konzepts episches Theater. Die andere ist der Blick auf seine Theorien im Lichte der Entwicklung des Gegenwartstheaters seit Brecht. Dieses hat eine Reihe von Formen hervorgebracht, die man post-brechtianisch nennen kann, in denen aber das Erbe Brechts nicht in seiner Ganzheit, sondern gleichsam zerlegt in seine Einzelteile erscheint. Es ist, als ob die neuere Theatergeschichte sich die Materialwert-These Brechts zu Herzen genommen hätte und seine Ideen in der Art und Weise verarbeitet, wie er selbst es in den 1920er Jahren für die Klassiker vorschlug: nämlich wie ein gebrauchtes Auto, das man nunmehr nach seinem Materialwert schätzt. Teile seiner Theorie und Praxis werden im neuen Theater den ursprünglichen Zusammenhängen entfremdet, mit anderem Sinn versehen und zu neuen Zwecken verwendet, wie Brecht selbst es mit Klassikern zu halten liebte. Er wehrte sich damals dagegen, daß eine gewisse schädliche Ehrfurcht, eine rücksichtslose und brutale Pietät das Publikum hindert, sich den Materialwert seiner [das ist Hebbels] doch nun schon einmal gemachten Arbeiten zunutze zu machen. Das Stück WALLENSTEIN zum Beispiel, um auch an einigen bisher unberührten Lesern nicht spurlos vorüberzugehen, enthält neben seiner Brauchbarkeit für Museumszwecke auch noch einen gar nicht geringen Materialwert; die historische Handlung ist nicht übel eingeteilt, der Text, auf ganze Strecken hinaus, richtig, zusammengestrichen und mit anderem Sinn versehen, schließlich verwendbar. Ähnlich ist es mit FAUST […]1 Wenn hier vom Gegenwartstheater die Rede sein wird, so nur von denjenigen seiner Züge, in denen neue Formsprachen und Techniken hervorgetreten sind. Was den „normalen“ Theaterbetrieb angeht, so gilt wohl weiterhin die alte blague mit der Frage: Was ist das erfolgreichste Theater des 20. Jahrhunderts? Antwort: das Theater des 19. Jahrhunderts. Zunächst also zu einigen Erscheinungen des Theaters nach Brecht:

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Man findet vielfach, u. a. im Theater von Jan Lauwers, ein Verfahren, das man postepische Narration nennen kann. Wie bei Brecht tritt an die Stelle eines abgegrenzten Raums der Fiktion ein zum Publikum hin offener Prozess, an die Stelle des Dialogs ein „dramatischer Diskurs“, wie man mit Andrzej Wirths weitsichtigem Aufsatz von 1980 sagen könnte. Auf allen Ebenen wird der Vorgang der Darstellung hic et nunc bewusst gemacht. Illusion und Einfühlung, entfallen. In Lauwers’ Version von Antonius und Cleopatra etwa wird die Nebenfigur Charmion, die Dienerin der Cleopatra, zugleich Erzählerin, die im Stil eines Conférenciers durch die Handlung führt. Textpassagen aus dem Shakespeare-Drama wechseln mit gerafften Erzählungen und Kommentaren: „Erster Akt, erste Szene. Wir sind in Alexandrien, irgendwo in Cleopatras Palast, und dort sind alle ein wenig betrunken“. Die Sprechweise der Akteure hat oft den Charakter eines neutralisierten Aufsagens von vorgegebenem Text, einer Art lauten Lesens, bei dem nie die Person des Akteurs hinter die Rolle zurücktritt. Alle Bühnenelemente, Stühle, Mikrophone (die natürlich erst recht die Sprache der Akteure auf den Theater-SpielVorgang hin öffnen), Requisiten, Filmprojektionen usw. fungieren als Elemente einer Bühnenkomposition, die nicht primär auf eine Abbildung von Welt, sondern auf einen vielfach fragmentierten theatralen Wahrnehmungsprozess zielt. In ihm tauchen zwar die „klassischen“ dramatischen Themen wie Begehren, Macht, Freundschaft, Trauer, zwischenmenschliche Konflikte auf, jedoch gleichsam nur in Scherben (Splitter und Scherben sind ein Lieblingsmotiv von Lauwers). Auf das Theater als hier und jetzt realen szenischen Vorgang kommt es an, der dem Zuschauer eigene Phantasien und Assoziationen erlaubt, nicht auf die Fiktion einer dramatischen Welt. Zugleich erlebt man mehr die Persönlichkeit der Darsteller in ihrem szenischen Agieren als die Rolle, Szenen statt kohärenter Fabel. Trotz der kalkulierten und geprobten Inszenierung durchbrechen oft die (scheinbare) Entspannung der Spieler oder die Unterbrechung des Dialogs durch eingelegte Tänzchen oder scheinbar privates Sprechen die Isolation des Bühnenvorgangs gegenüber dem Publikum. Das Theater kommt als Skizze daher, nicht als fertiges Gemälde. So lässt es dem Zuschauer die Chance, seine eigene Präsenz und seine Distanz zu fühlen, zu reflektieren, selbst zum Unfertigen beizutragen. Der Preis dafür ist die konsequente Herabminderung der „dramatischen“ Spannung zugunsten einer auch, aber nicht nur, epischen Gelassenheit. Wie immer in Lauwers’ Arbeiten erzählt der Abend milde und humorvoll vom Tod, seinem Schrecken, dem Verlust der anderen – aber er erzählt freundlich-entspannt, wie von jenseits des Todes. Wir sehen einer Gesellschaft zu, aber die Tür ist nicht ganz geöffnet. In

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Lauwers’ früheren Arbeiten schaute man gleichsam wie in eine Party entfernter Bekannter hinein: ein Abend bei (nicht mit) Jan und seinen Freunden. Ganz anders, doch auf ihre Weise ebenfalls post-brechtianisch, betreibt die amerikanische Wooster Group ein Verfahren der Auflösung szenischer Präsenz durch mediale Vermittlungen und fortwährenden Diskurs über das Theater selbst. Auch hier zerfällt die Narration in „Stückchen“ (Brecht). An die Stelle der Spannung auf den Ausgang tritt, wie auch Brecht es wollte, die „Spannung auf den Gang“, auf die einzelnen Szenen mit ihrem Gestus. In keinem Moment entsteht die Illusion, die Bühne imitiere einen Vorgang zwischen Menschen, der außerhalb dieser Bühnenrealität existierte. Stattdessen werden Elemente der Story zu einer Performance verwandelt, in der Rezitation, ausgestelltes Maskentragen, Rap-Musik, Einspielen von Video-Bildern und ein gegenüber dem Inneren der dargestellten Figuren neutrales und fremdes Sprechen als Von-außen-Sehen den gebrauchten Text „verfremden“. Es wird eine kritische Distanz zum Text sichtbar, der doppelt auf die „Probe“ gestellt wird. Sein Gebrauchswert befindet sich im Test, seine Nutzung steht noch nicht fest, die Szene scheint eher eine Probe zu zeigen. Diese Offenheit verbindet sich mit konstruktivistisch anmutenden Bühnengerüsten und der deutlichen Ausstellung der benutzten Technik (Mikrophone, Recorder, Videogeräte, Kabelage usw.). Es entsteht, was man mit Walter Benjamin eine Entauratisierung der Bühne nennen könnte. Sie wird durch die durchaus vorhandene Präsenz von „Stars“ (der frühverstorbene Ron Vawter, Willem Dafoe) keineswegs aufgehoben. Dabei können hinreißende Theatermomente entstehen, wenn zum Beispiel die Schauspieler, anscheinend völlig übermüdet, Momente aus der spätnächtlichen Szenerie von Tschechows Drei Schwestern darbieten und schöner als jede konventionelle Inszenierung die verdämmernde Provinz und die Komik des „nach Moskau“ in ein Tänzchen der Wodkagläser in den untätigen Händen überführen. Es ist auch kein Zufall, dass mit Millers Hexenjagd ein Stück benutzt wurde, das mit einer Brechtschen historisierenden Verfremdung arbeitet, um die Auswüchse der McCarthy-Ära zu geißeln. Das Strukturprinzip der wechselseitigen Unterbrechung zwischen Sprache, Tanz und technischer Bildpräsenz weist in die gleiche – Brechtsche – Richtung: Die Wooster Group tut den Schritt heraus aus dem geschlossenen Gehäuse der „Repräsentation“ und öffnet ein Spiel mit der Theatersituation, indem sie immer auch Theater über das Theater macht, szenisch über die Bedingungen der Szene reflektiert. Dekonstruktion des Textes und Brechtsche Reflexion des Theaters treffen sich.

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In vielen anderen Varianten der zeitgenössischen Theaterperformance, des Tanztheaters und auch der textbasierten Formen findet man ähnliche Verfahren: Technologie, Medien und referierender Stil, abrupter Wechsel der Darbietungsformen und Ästhetik der Unterbrechung, Zurücktreten der Emotion qua Einfühlung zugunsten bewusster Ausstellung der Theatermittel. In wieder anderer Weise hat Einar Schleef eine Regiepraxis entwickelt, die gerade nicht die mediale Demontage der Präsenz, sondern physisch andrängende Überpräsenz von Körper und Stimme privilegiert. Sein chorisch verfasstes Theater holt ein anderes Motiv Brechts ein, das kollektive Subjekt, das seine Wirklichkeit für den Zuschauer nicht über die phantasierte Innerlichkeit einer Seele, sondern die Körperlichkeit eines gestischen Verhaltens gewinnt. Der Chor ersetzt den Einzelnen. Auch das ist eine Fortschreibung Brechtscher Motive, die bei Schleef noch verstärkt wird durch die Übernahme der Brechtschen Technik, Sprachgesten durch ungewohnte Betonungen und stockenden Rhythmus zu verfremden. So lässt dieses Theater hervortreten, was Brecht sich vom Gestus versprach: die Ablösung der Gesten von der Innerlichkeit. Auf viele andere, auf Bob Wilson zumal, sei in diesem Zusammenhang nur verwiesen, obwohl offenbar gerade sein Theater ein Drehpunkt und Schlüssel der neueren Theaterentwicklung ist. Die Bemerkung Heiner Müllers, dass Wilson ein Erbe Brechts sei und dass auf seiner Bühne „Brechts episches Theater einen Tanzplatz“2 gefunden habe, wäre eine eigene Erörterung wert. Man könnte fortfahren, andere Entwürfe, radikale und auch gemäßigtere Formen der neueren Regie zu untersuchen – Grüber, Mnouchkine, Brook oder Peter Stein, die jüngere Generation, etwa Jürgen Kruse oder Leander Haußmann: Das Ergebnis bliebe dasselbe. Brecht hatte enormen Einfluss auf die Ausbildung des Regiestils der 1970er und 1980er Jahre, aber sein Reich ist in Diadochen-Territorien zerfallen, das epische Theater zerfiel in seine Bauteile, die einzelnen Stücke seines Theatermodells treiben als Stückchen auf dem mainstream heutiger Theaterpraxis ebenso wie in den Gewässern des experimentellen Theaters. Kein Zufall, dass René Pollesch schon zweimal direkt auf Brecht zurückgriff, auf Fatzer in Streets of Berladelphia und auf Brechts Antigone-Bearbeitung in Bühne freie für Mick Levčik! in Zürich (2016). In anderer Weise ist die Arbeit der Gruppe andcompany&Co. durch und durch von Brecht, seinen Texten, seinem Theaterkonzept der Unterbrechung und des zeigenden Gestus beeinflusst. Die Liste ließe sich verlängern. 2

Diese Perspektivierung auf Brecht wirft eine spannende Frage auf: Wie wenn auch in seiner Theorie selbst schon deren einzelne Bauteile nicht

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so harmonisch und logisch zusammenhingen? Wenn der collagierte und durchaus in sich gebrochene Charakter seiner Thesen zu entdecken wäre? Dieser Gedanke mag schwer fallen nach den Jahrzehnten einer Rezeption, in der entweder Brecht zum Paradigma schlechthin des politischen Theaters, zum ganz für sich selbst dastehenden Block und Findling in der Theaterlandschaft des Jahrhunderts stilisiert wurde, weniger ein Objekt von als vielmehr der Kompass für Theateruntersuchungen. Und auf der Gegenseite jeder genauere Blick auf die Brüche in seinem Schreiben getrübt war durch die Absicht, den unbequemen Brecht insgesamt als Ideologen und Simplifikateur abzutun. In seinem „Versuch einer Synthese nachbrechtscher Theaterkonzeptionen“ stellte Andrzej Wirth 1980 fest, „daß das epische Idiom zur lingua franca des gegenwärtigen Dramas“3 wurde. (Peter Szondi hatte, schon 1956, als Literaturwissenschaftler in der Theorie des modernen Dramas ebenfalls die Episierung als das übergreifende Merkmal der Moderne seit der „Krise des Dramas“ identifiziert.) Man kann hier die Überlegung anschließen, dass die neuen Theaterformen mit der Beschreibung als „radikal episch“ nicht mehr in ihrem ganzen Umfang erfasst werden können. Wenn bei Wirth mit Bezug auf Handke, Richard Foreman und Bob Wilson die Rede vom „Drama ohne Dialog“ war, so scheint sich heute eher die Idee eines Theaters jenseits des Dramas aufzudrängen. Tatsächlich wird „die Fabel (wenn es sie überhaupt gibt), […] nicht mehr durch den Dialog wiedergegeben“, aber an die Stelle des dialogisierten Dramas sind nicht allein Episierung und eine „vermittelte Kommunikationsform zwischen dem Stückeschreiber und dem intendierten Zuschauer“ getreten. Man hat es mit einer umfassenderen Variationsbreite von Theaterästhetiken zu tun, in der Lyrisierung und Musikalisierung ebenso wichtig wurden und in der sich neben anderen Verschiebungen im Theaterbegriff zusammen mit der kohärenten Fabel die Selbstidentität der Bedeutung verlor. Denn es fällt auf, dass die meisten der post-brechtschen Theaterformen auf das Moment der Fabel geringen Wert legen. Mittlerweile wurden V-Effekte, Unterbrechung, Entpsychologisierung, Diskontinuität und Hervorkehren des Gemachten und Zurechtgemachten gängige Münze nicht nur avancierter Inszenierungspraktiken, sondern auch der trivialen Formate in Werbung, Film, Literatur und Popmusik. Darin zeigt sich vor allem: Auch die aufwändigsten Vorkehrungen solcher Verfremdung werfen das künstlerisch fragwürdig gewordene Prinzip der Übermittlung eines einfühlbaren Sachverhalts als These, Sinn, Aussage nicht wirklich um, solange die Selbstidentität der Aussage als solcher nicht zur Disposition gestellt wird. Genau das aber

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geschieht in der Hauptlinie der neueren Tradition, sodass man fragen muss, ob und inwiefern es nicht auch eine Schicht in Brechts Schreiben gibt, in der Momente solcher Selbst-Demontage eindeutiger Thesis eingelassen sind. Nur eine derartige Lektüre könnte den durchaus existierenden unterirdischen Korridor anzeigen, durch den Brechts Gesten mit dem ihm prima vista oft fernstehenden Feld des neueren Theaters kommunizieren. Es geht um eine innere Alterität und Selbstfremdheit auch in den theoretischen Schriften Brechts, die es aufzudecken gilt unter seinen ausdrücklichen Bemühungen, die libidinösen, affektiven, außerbegrifflichen Anteile der Theatererfahrung einer logischen, verifizierbaren und verbalisierbaren Erkenntnis, Mitteilung usw. unterzuordnen. Damit ist man bei der eingangs genannten anderen Perspektive – der Relektüre des Konzepts „episches Theater“ selbst und bei der Frage nach dem geeigneten Beobachtungsposten, von dem aus Brechts theatertheoretisches Werk seine produktiven, unausgeschöpften Seiten offenbart. Diese Position scheint heute mehr denn je nur erreichbar, wenn man sich von der Überzeugung leiten lässt, dass wir Brechts Theorie des Theaters nicht kennen. Was diese auf den ersten Blick paradoxe Pointierung ins Gedächtnis rufen will, ist ein Bündel von Umständen, die es nahelegen, eine Suche nach dem von sich selbst verschiedenen, sich selbst fremden Brecht zu betreiben und zu verzichten auf den Brecht, der als mit sich einige Autorität wahlweise kritiklos, also ohne Trennung der Elemente, berufen oder ebenso kritiklos verworfen wird. In beiden Fällen fällt die Lektüre dem Fetisch der Signatur zum Opfer. Vergessen wir nicht: Zeitlebens, vor allem aber nach 1933, war, was Brecht publizierte, von politischen und taktischen Rücksichten geprägt. Seine Thesen entstanden als Widerstand, Widerspruch und in der Hoffnung auf Schonung und Allianzen. Für die Exilzeit in den USA gilt, worauf Carl Weber mit Nachdruck hingewiesen hat: Brecht konnte nicht wissen, ob er je nach Deutschland würde zurückkehren können. Nichts von dem, was er in Amerika schrieb, blieb unberührt von den Rücksichten auf seine Lage und den möglichen Markt. Aber auch in den späteren Jahren in der SBZ/DDR blieben taktische Notwendigkeiten ein Ferment seines Schreibens. Bei Adorno heißt es dazu: Jüngst mußte der gesellschaftlich engagierte Brecht, um seiner Haltung irgend zum künstlerischen Ausdruck zu verhelfen, von eben der gesellschaftlichen Realität sich entfernen, auf die seine Stücke es abgesehen haben. Er bedurfte jesuitischer Veranstaltungen, um, was er schrieb, so weit als sozialistischen Realismus zu tarnen, daß er der Inquisition entging.4

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Man nehme hinzu die inneren Widersprüche, die ihn selbst umtrieben zwischen verschiedenen Wegen des Theaters, man nehme hinzu den Versuchscharakter vieler seiner Aufzeichnungen, die vorläufig, abgebrochen, auf Fortsetzung, Selbstkorrektur und Selbstwiderspruch angelegt sind – und man erkennt, dass diesen Theorietexten eher gerecht wird, wer darin den produktiven Widersprüchen, den Spuren der Brüche und der offen gebliebenen theoretischen Rechnungen nachgeht. Das Halbgesagte und Mitgesagte auch seiner theoretischen Texte ist zu lesen, deren innere Spannungen und wiederum die Spannung zwischen ihnen und den poetischen Texten sind auszumessen. Die poetischen und dramatischen Texte sind dabei eher als Korrektiv der theoretischen zu lesen, nicht als deren Bestätigung. Ohne eine solche Relektüre wird die These kaum zu widerlegen sein, dass Brechts episches Theater, weit entfernt, zukunftweisend das neue Theater geprägt zu haben, in Wirklichkeit nur ein machtvoller – kurzfristig erfolgreicher – Versuch gewesen sei, die klassische Tradition unter neuen Bedingungen zu bewahren. Könnte doch eine Lesart seines Werks geltend machen, Brecht habe gleichsam viel Ballast der aristotelischen Tradition geopfert, um das entscheidende Stück, die Fabel, vor dem Sturz zu retten. Indem er die tragende Säule des klassischen Dramas bewahrte, die Fabel im Sinne einer Geschichte von allegorischer Bedeutsamkeit, die auf der Bühne eine Totalität und ein Äquivalent für den Begriff, ein Wissen, eine Wahrheit bietet, erweise sich seine Destruktion der klassischen Tradition als deren Bewahrung, das epische Theater als last minute rescue der aristotelischen Tradition. 3

Vor dem Hintergrund dieser Frage geht es im Folgenden um den prima vista eher unproblematischen und relativ eindeutig scheinenden Begriff der Fabel und dabei im Sinne des Versuchs einer Relektüre um bekannte und scheinbar völlig erkannte Darlegungen Brechts zu diesem Thema. Der Status dieser Lektüre ist exemplarisch gemeint: Das ganze theoretische Œuvre Brechts, jedes einzelne seiner Konzepte, wäre in analoger Weise zu überdenken. Ein locus classicus ist die Passage, in der Brecht im Kleinen Organon den „gestischen Bereich“ erörtert. Ein Brechtscher Gestus zeichnet sich dadurch aus, dass er eine Vereinigung von mentalen, emotionalen und körperlichen Elementen darstellt und sich mithin – das wird zu selten betont – der rein begrifflichen Identifizierung letztlich entzieht. Ein Gestus wäre allenfalls durch eine umständliche Addition von Worten wiederzugeben, während er als Gesamtkomplex aus Körperhaltung, Tonfall und Gesichtsausdruck das Divergierende in sich vereint, nicht aber etwa im Sinne einer gesellschaftlich deutlich lesbaren

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Chiffre vereindeutigt und vereinheitlicht. Wie ein Palimpsest ist er nicht vollständig lesbar. Dieser Umstand, dass der Gestus gerade, wenn auch unter Einbeziehung von Sprache, eine transsprachliche Wirklichkeit bietet, wird bei der geläufigen Darstellung, der Gestus bringe als Signifikant ein bestimmtes Signifikat, die gesellschaftlichen Beziehungen, zum Ausdruck, meist unterschlagen. Brecht rückt den Gestus genau deswegen ins Zentrum, weil er als wesentlich körperliche, mimische und stimmliche Größe das Äußere von der Innerlichkeit abkoppelt. Ist aber diese Intention im Gestus verwirklicht, so auch die Folge, dass die Metabasis vom Mentalen ins Körperliche eine vollständige Rückführung ins Bewusstsein und damit eine wie immer geartete garantierbare Selbstidentität auch der sozialen Bedeutung des Gestus gerade ausschließt. Noch einmal und drastisch: Gesellschaftliche Bedeutung, die sich – wie es das Konzept des Gestus will – in körperlichen Vorgängen artikuliert, verliert eo ipso ihre unzweideutige Lesbarkeit. Sinnlichkeit unterläuft Sinn. Der Körper „sagt“ immer noch anderes, als er soll. Aus diesem Grund bleibt die Interpretation haltlos, die den Gestus auf einen „Ausdruck“ der sozialen Verhaltensweisen zwischen Menschen reduziert. Vor der Versuchung des Schauspielers, ihn auf „Sinn“ hin zu vereindeutigen, warnt Brecht ausdrücklich im Kleinen Organon, sind doch diese gestischen Äußerungen […] meist recht kompliziert und widerspruchsvoll, so daß sie sich mit einem einzigen Wort nicht mehr wiedergeben lassen, und der Schauspieler muß achtgeben, daß er bei der notwendigerweise verstärkten Abbildung da nichts verliert, sondern den ganzen Komplex verstärkt. Wie sehr der Gestus nur durch eine Erläuterung von geradezu epischer Breite sprachlich annähernd zu fassen wäre, wie sehr er sich, anders gewendet, von einer begrifflich fixierbaren Bedeutung entfernt (die Brechts Duktus natürlich an vielen Stellen suggeriert), zeigt sich, wenn Brecht konkret wird, um den „gestischen Gehalt“ zu verdeutlichen, und den Anfang seines Galilei diskutiert. Er will, liest man, „nachsehen“, „wie die verschiedenen Äußerungen Licht aufeinander werfen“. Die morgendliche Waschung und das Milchtrinken Galileis muss der Schauspieler verstehen und darstellen aus seinem Wissen über den Schluss heraus, das „Nachtmahl des Achtundsiebzigjährigen“. Einerseits erscheint Galilei als „gierig, den Knaben zu belehren“, zugleich soll diese Gier gezeigt werden als transformierbar in die andere „haltlose Gier“, mit der der alte Galilei sein Nachtmahl „fressen“ wird, wie Brecht schreibt, nachdem er seine Gier nach Belehrung verraten hat und seinen „Lehr-

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auftrag wie eine Bürde“ losgeworden ist. Es geht um die Gier und an ihr wiederum um die – weder hier noch im Stück aufgelöste – Ambiguität, dass die eine Gier und die andere miteinander verlötet sind. Was Galilei zu seiner Erkenntnis befähigt und was ihn zum Verräter werden lässt, ist ein und dasselbe. Denkende Erkenntnis und Genusssucht treten in Konflikt, aber – so sagt der Text – ohne die Gier nach Genuss gibt es auch nicht die zur Erkenntnis nötige Gier. Sogar Galileis Milchtrinken darf aus diesem Grund nicht „ganz achtlos“ erscheinen, wie man zuerst vermuten könnte. Ist sein Genuß an dem Getränk und der Waschung nicht eins mit dem an den neuen Gedanken? Vergiß nicht: er denkt der Wollust wegen! Ist dies etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Diese für die Galilei-Deutung und zumal den hier angesprochenen Schauspieler entscheidend wichtige Frage bleibt nun aber ganz ohne Antwort! Welche Hilfestellung bietet der Verfasser des Galilei an? „Ich rate dir [auffallende Zurückhaltung: soll man den Rat selbst in Zweifel ziehen, ihn eventuell nicht befolgen?], da du im ganzen Stück darüber nichts der Gesellschaft Nachteiliges finden wirst, und besonders, da du doch selbst, wie ich hoffe, ein tapferes Kind des wissenschaftlichen Zeitalters bist, es als etwas Gutes darzustellen.“ Wahrlich eine sibyllinische Auskunft über die Frage: „Ist Denken aus Wollust gut?“ Unklar, unentscheidbar bleibt schon, ob das Denken aus Wollust als etwas Gutes dargestellt werden soll, weil es ein Gutes ist, oder weil es vielleicht nur darauf ankommt, es als solches darzustellen! Brechts Geheimnis bleibt ebenso, warum das „tapfere Kind des wissenschaftlichen Zeitalters“ die Wollust als gut darstellen soll, die Galilei gerade an Tapferkeit hinderte. Auch bei der folgenden Bemerkung, dass der Mann, der hier ein neues Zeitalter begrüßt, am Ende gezwungen sein werde, dieses Zeitalter aufzufordern, dass es ihn mit Verachtung von sich stoße, wenn auch enteigne, muss sich der Leser des Galilei fragen, wo denn Brecht als sein eigener Interpret diesen Zwang hernimmt – findet man doch im Text eine ganz freiwillige Selbstverurteilung Galileis. Fragen über Fragen. Ich breche ab, auch die folgenden Einzelheiten bieten immer wieder dieses Bild: Die Erörterung dessen, was Brecht als „gestischen Gehalt“ oder „gestisches Material“ bezeichnet, übersetzt den Text in bloße Indizien, zeigt nichts als selbst wiederum höchst auslegungsbedürftige Mehrdeutigkeiten, Fraglichkeiten, Schichtungen und Relativierungen. Der gestische Gehalt besteht, und besteht nur, aus Widersprüchen, Frag-

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menten, Anzeichen, die in verschiedene Dimensionen auseinanderlaufen, dis-currunt. Dabei wird hier ja nur Brechts Selbstexplikation untersucht! Der poetische, dramatische Text aber sagt ja noch einmal anderes aus, als der Autor, wie man so sagt, sagen will. Ist doch, so Adorno, schon „schwer zu eruieren, was auch nur der Autor im Galilei oder im Guten Menschen von Sezuan meint, zu schweigen von der Objektivität der Gebilde, die mit der subjektiven Absicht nicht koinzidieren“. So Adorno, und im selben Zusammenhang: Die effektvolle Frage der DDR-Dramaturgie: Was will er sagen? reicht eben hin, um angeherrschte Autoren zu ängstigen, ginge aber vor jedem Stück Brechts zu Protest, dessen Programm es schließlich war, Denkprozesse in Bewegung zu setzen, nicht Kernsprüche mitzuteilen; sonst wäre die Rede vom dialektischen Theater vorweg nichtig. Brechts Versuche, subjektive Nuancen und Zwischentöne mit einer auch begrifflich harten Objektivität zu erschlagen, sind Kunstmittel, in seinen besten Arbeiten ein Stilisierungsprinzip, kein fabula docet […]5 Fabula docet: Vom Gestus sprechend, haben wir bereits die Fabel diskutiert. Denn genau im Anschluss an die herangezogene Darstellung des Galilei bzw. des Gestischen betritt sie selbst, Fabula in Person, die TextBühne des Kleinen Organon – und zwar als deus ex machina und Retterin aus dem Treibsand des aus der dialektischen Synthese gefallenen gestischen Materials. Nachdem Brecht in einem langen Absatz voller Wendungen oder Windungen – der Spieler soll Galileis „Ungeduld nicht allzu herrisch finden“, „das Geld habe Galilei schon beinahe vergessen“ usw. – keineswegs eine „Linie“ der Erklärung gegeben hat, fährt er den folgenden coup de théâtre auf: „Solch gestisches Material“ – das Wort lässt aufhorchen, ist es nicht gerade das in Teile zerlegte, von dem wir in der Materialwertpassage hörten? – „Solch gestisches Material auslegend, bemächtigt sich der Schauspieler der Figur, indem er sich der FABEL bemächtigt.“ Wo das Interessante, aber auch die Gefahr der Verwirrung am größten ist, naht Hilfe in Gestalt der Fabelfee, der sich der Spieler bemächtigen kann, um Ordnung zu schaffen. Das Wort Fabel ist von Brecht hervorgehoben. Aber was für ein sonderbares „indem“: Bis zu diesem Wort musste das zerstreute Material den Schauspieler bzw. seine Intention auf eine Figur förmlich zerreißen. Nun, wie aus dem Nichts, ist alles gemeistert: Der Schauspieler muss das gestische Material auslegen – es ist also im Text (in Figurenreden, Anweisungen, Dramaturgie, Konstellationen) bereits vorhanden und wird auf der und für die Bühne

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auseinander-gelegt. In diesem Prozess aber wird dem Selbstverlust und dem Schwanken plötzlich ein Ende gesetzt, denn einfach dadurch, dass der Spieler auslegt, „bemächtigt“ er sich der Fabel und dadurch, „indem“ er dies tut, zugleich der Figur. Das Wort Fabel übernimmt die Funktion, aus dem Labyrinth vieldeutiger Rätsel des gestischen Materials die Einheit der Figur buchstäblich hervorzuzaubern. Betrachten wir diese Rettungsszene noch genauer. Also es „bemächtigt sich der Schauspieler der Figur, indem er sich der FABEL bemächtigt“. Die Unterordnung der Fülle zu einer „endgültigen Figur“, das spürt man und das schreibt Brechts Rhetorik selbst, bleibt ein Gewaltakt, eine „Bemächtigung“. Ihre Folge ist eine Geburt: „Erst von ihr, dem abgegrenzten Gesamtgeschehnis aus, vermag er […] zu seiner endgültigen Figur zu kommen, welche alle Einzelzüge in sich aufhebt.“ In der Wendung vom „abgegrenzten Gesamtgeschehnis“ behauptet sich – in Anklang an die aristotelische Poetik mit ihrer Insistenz auf dem Ganzen (Holon), das Anfang, Mitte und Ende haben muss – der Logos. Aber der Satz bleibt umso mehr ein ganz ungedeckter Scheck auf die Aufhebung der Einzelzüge zu einem Ganzen. Es handelt sich um eine pure Dezision zugunsten von Aufhebung, dialektischer Einheit, Endgültigkeit. Das Problem liegt zutage. Brecht hat aber das Unhaltbare und buchstäblich Grundlose dieser Dezision in seinem Satz und gleichsam in einem Seitensprung selbst bekannt. Der letzte Satz wurde nicht ganz zitiert. Er lautet vollständig: Erst von ihr, dem abgegrenzten Gesamtgeschehnis aus, vermag er, gleichsam in einem Sprung, zu seiner endgültigen Figur zu kommen, welche alle Einzelzüge in sich aufhebt. Hier ist die Katze aus dem Sack, mit einem Sprung. Zwischen Fabel verstehen und Figurverstehen setzt Brechts Schreiben doch noch einen „Sprung“, der die Lösung verunziert – einen Salto, einen Quanten- oder Tigersprung vom Abgegrenzten aus, einen Sprung der Bemächtigung, einen tapferen, vielleicht todesmutigen Sprung über den Abgrund oder doch vielleicht in den Abgrund, der der Mensch auch bei Brecht bleibt? Jedenfalls verhält es sich so, dass mit diesem logischen Sprung nicht nur der Schauspieler, sondern auch Brecht selbst nur „gleichsam in einem Sprung“ auf den Pfad der Totalen gelangt. Die ganze Passage ändert nun ihr Gesicht. Liest man die Brüche und Sprünge mit, so wird aus einer Kernpassage des epischen Theaters ein Prozess der Verschüttung, der die Perspektive auch anderer Ausgrabungen eröffnet. Ein Theater der gestischen Szenen und Situationen, das eben in Sicht gekommen ist, wird

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in eine gegen Vieldeutigkeit, Zerfall und Unvernunft vorbeugende Fabel-Haft genommen. Angesichts der enormen Beweislast, die hier der Fabel aufgebürdet wird, fällt umso mehr ins Gewicht, dass Brechts Text hier und auch sonst kaum einen inhaltlich, sachlich definierenden Satz enthält, der besagt, was denn eigentlich die Fabel sei, geschweige denn, was sie zu der behaupteten synthetisierenden Leistung befähigt. Die Fabel wird weniger durch inhaltliche als durch rhetorisch affirmative Wendungen charakterisiert: „Auf die Fabel kommt alles an, sie ist das Herzstück der theatralischen Veranstaltung“; sie ist „das große Unternehmen des Theaters“ oder ganz formal die „Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge“. Dass die Fabel abgegrenzt ist, eine Einheit und ein Gesamtes, ein Holon, ist eine logisch-formale Bestimmung, die auch Aristoteles gibt. Wie soll sie begründen, dass aus dem gestischen Material eine „endgültige Figur“ entspringt? Sie kann es nicht begründen. Auch wenn Brecht die weiterhin unbewiesene Behauptung wiederholt, „in ihrer Gänze“ eröffne die Fabel „die Möglichkeit einer Zusammenfügung des Widersprüchlichen“. Oder: „die Fabel ergibt, als begrenztes Geschehnis, einen bestimmten Sinn“. Wie aber tut sie das? „[…] das heißt, sie befriedigt von vielen möglichen Interessen nur bestimmte“. Wie aber verträgt sich diese Bestimmung, die wiederum nicht die innere Verfassung der Fabel, sondern auf ihre Wirkung rekurriert, mit der Aufhebung „aller“ Einzelzüge? Sie verträgt sich nicht damit. Sache des Lesens ist es heute, Brechts Sprung als gesprungene Oberfläche seines Theoriegebäudes, die Spalten in seinem Text als produktive Brüche und Öffnungen lesbar zu machen, durch die der Wind hereinkann. So wie der Schauspieler gleichsam in einem Sprung – vielleicht in einem Riss, einer Lücke oder Fuge – seine Figur findet, so ist die „erpresste Versöhnung“ in Brechts Gesten nicht bedingungslos mitzuvollziehen, sondern ist vielmehr zu sondern im Text zwischen den Gesten der Vermauerung und jenen der Öffnung. Zu lesen ist dann: Brechts Text sucht einen Halt, die Verankerung der Einheit, das Prinzip der Aussage – in der Theorie – zu bewahren, und es ließe sich zeigen, inwiefern dieser parti pris in einem bestimmten Konzept von Rationalität wurzelt. Bestimmte Theoreme, nicht zuletzt das Fabelkonzept, mussten die Last dieser theoretischen Intention tragen, während auf der anderen Seite Brechts Theater, viele seiner Texte und andere Teile seiner Theorie ganz andere Wege der Demontage ästhetischer und metaphysischer Selbstidentität öffnete und qua Verfremdung auf eine radikalere Selbstfremdheit oder eine interne Andersheit, Alterität, verwies, vor der Brecht – in der Theorie – immer wieder zurückschreckte. Was ihm wohl nicht (oder

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kaum) möglich oder denkbar schien, war, wie Heiner Müller schreibt, eine „Dramatik ohne Protagonisten“.6 Es ist immer wieder konstatiert worden, dass Brechts Praxis als Dichter und Regisseur häufig seiner Theorie nur mit Mühe kompatibel ist. Die Analyse des Fabelkonzepts belegt aber hier an zentraler Stelle, dass sogar die theoretischen Aussagen in ihrer offenkundigen Bekundung nicht aufgehen wollen. Als Spuren der Konflikte treten in Brechts Ausführungen immer wieder Zweideutigkeiten auf, die die auf den ersten Blick klaren Thesen zweifelhaft machen und sogar durch die Art ihrer Darstellung unterminieren. Es sollte nicht eigens der Hervorhebung bedürfen, dass eine solche Lektüre nicht Schelte eines unstimmigen Fabelkonzepts im Sinn hat. Lächerlich, einem Autor in diesem Sinn Widersprüche ankreiden zu wollen. Im Gegenteil steht der Status, auch der poetische, ästhetische Status seiner theoretischen Texte in Frage. Es geht um die Spalten im Text. Es geht unter anderem darum, auch die theoretischen Äußerungen Brechts auf ihre „fabelhaften“ Züge hin zu befragen, sie als Texte im emphatischen Sinn zu nehmen, die nicht nur vermelden, was ihr Verfasser vermeint, und deren Poetizität oft genug Anlass gibt zu der Vermutung, Brecht hätte nicht nur im Zug der halboder unbewussten rhetorischen Skandierung seiner Thesen, sondern womöglich auch ganz bewusst Schräglagen und Schwankungen seiner theoretischen Plattform herbeigeführt, sprechende Lücken und Unklarheiten, um lesbare, halblesbare und kaum entzifferbare Schriftzüge vereinen zu können. 4

Die Brechtforschung hat bis heute zwei Basiskonzepte Brechts, Fabel und Gestus, nur als logisch und harmonisch sich ergänzende Bestimmungen des epischen Theaters aufgefasst. Sie hat kaum die Möglichkeit in Betracht ziehen wollen, dass zwischen dem, was Brechts Idee des Gestus anzielt, und seinem Konzept der Fabel nicht ein Verhältnis der harmonischen Konsequenz, sondern ein, vielleicht sogar unüberbrückbarer, Gegensatz bestehen könnte. Hans Martin Ritter unterscheidet in seiner ausgezeichneten Untersuchung des „gestischen Prinzips“ in Brechts „Vorgehensweise“ „die Aspekte: größerer Handlungszusammenhang (1), Zerschlagen dieses Zusammenhangs in kleine, widerspruchsvolle Einheiten (2), deren Zerlegung in Teilvorgänge (3), Verfolgen der Widersprüche bis in die sich jeweils bedingenden Haltungen der beteiligten Personen (4), das Manifestmachen der Widersprüche in der konkreten Geste (5)“. Dort jedoch, wo es um die Einheit des Ganzen geht, lässt sich der Interpret wohl doch zu sehr von Brecht anleiten. Die kleinen

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gestischen Schritte eines Teilvorgangs würden, so heißt es, von einem „Grundgestus“ dominiert. Vom Gestus der einzelnen Vorgänge geht es also stufenweise über den Gestus der Szenen bis zum Gestus des ganzen Handlungszusammenhangs – und der wäre eben, was Brecht als „Fabel“ bezeichnet. Sie stellt „eine die Einheit der Widersprüche herstellende Komposition […] mit einem ‚bestimmten Sinn‘: eine gesellschaftsanalytische Einheit“ und als Zusammenfügung von Gesten, Mimik, Aussagen usw. im Darstellungsprozess zugleich „eine theatralische Einheit“ dar.7 Während nicht oft genug wiederholt werden kann, wie sehr Ritter Recht damit hat zu akzentuieren, dass Brechts Begriff des „Gestus“ auf eine widersprüchliche, nicht in einer Signifikation aufgehende, körperlichmentale Aktion zielt und nicht etwa auf eine „Übersetzung“ sozialer Bedeutung, so wenig kann man seiner Darstellung da folgen, wo sie mit Brecht ebenfalls die Synthese herzaubert und damit allzu bereitwillig dem Hauptweg folgt, den Brechts theoretische Texte stets anbieten, und nicht den oft weiterführenden Nebenpfaden, auf die Brechts Ambiguitäten und Unklarheiten führen und die es erlauben, in seiner Theorie anderes zu lesen als das convenu, zumal das an seinem Denken ausfindig zu machen, was ihn mit der lebendigen Theaterarbeit nach ihm verbindet. Bei Brecht steht die Fabel in einer asymmetrischen Spannung zum Gestus. Während der Gestus sich auf die „Stückchen“ im Stück bezieht, sodass dort seine didaktische Aufladung, vom Konkreten der jeweiligen Situation mit ihrer nicht auszurechnenden szenischen Lebendigkeit und menschlichen Präsenz beinahe zwangsläufig relativiert wird, geht die Fabel aufs abstrakte Ganze. Sie impliziert eine Teleologie und wird so lehrhaft, allegorisch. Was der Gestus durch erkennbare Deixis spielerisch öffnet, weil szenische Komik, „sententiöse Drastik“ (Adorno), Sprachwitz und Körperlichkeit jede Sinnsetzung unterwandern, droht, transponiert auf die Ebene des Konzeptionellen, unterm Fabelbegriff sich wieder zu schließen. Dieser Widerspruch wird von Brecht nicht aufgelöst, auch nicht durch Konzepte wie den „Grundgestus“. Im Gegenteil akzentuiert sein Wortgebrauch – anstelle von Handlung, Vorgang, Geschichte gerade von Fabel zu sprechen – das Moment des Lehrhaften. Die Fabel als Genre ist ohne Aussage undenkbar. Wie das Exempel steht sie in einem besonders engen Zusammenhang zum systematischen, theoretischen Diskurs, und dem Lessingkenner Brecht dürfte kaum entgangen sein, dass der Konnex von Fabel und Lehre in Zusammenhang mit seinem Theater, das sich so ausdrücklich auf Didaxe, Wissenschaft, lustvolles Erkennen und Denken berief, den systematischen, argumentativen Charakter dieser Form erst recht evozieren musste. Die Fabel wurde schon in der Antike unter die rhetorischen Argumentati-

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onstechniken gerechnet, so unter dem Namen „logos“ in der Rhetorik des Aristoteles. Dessen Poetik gab auch darin den Grundton der klassischen Dramenidee vor, dass das Kunstgebilde Tragödie ein Analogon der Logik bilden sollte. Zumal die Kunst, den Plot zu bauen, diente der Herstellung einer para-logischen Totalität aus Anfang, Mitte, Ende, Schürzung und Lösung des Konflikts. Dieser Plot – Mythos in Aristoteles’ Sprachgebrauch – gilt ihm als die „Seele“ der Tragödie. Brecht seinerseits schreibt: „[…] die Fabel ist nach Aristoteles – und wir denken da gleich – die Seele des Dramas“. Ausgerechnet Seele! Nein: In gar keiner Weise denkt Brecht hier „gleich“ mit Aristoteles. Und dies schon aus dem einfachen Grund, weil für Aristoteles der Mythos zwar eine kunstvoll arrangierte systasis pragmaton (Zusammenfügung der Geschehnisse) darstellt, aber selbstverständlich zur Grundlage einen mythisch-historischen Stoff hat, während Brecht sich klar darüber ist und es auch öfter formuliert, dass mit seinem Begriff der Fabel vor allem der Charakter des zum Zweck einer Argumentation Erfundenen gegeben ist. Man erinnert sich an Lessings Abhandlungen über die Fabel. Ein allgemeiner Satz – „Der Schwächere wird gemeiniglich ein Raub des Mächtigeren“ – wird, um für ihn zu argumentieren, also ihn glaubhaft und möglichst „fasslich“ zu machen, aus dem Abstrakten ins Konkrete bekannter Tiere übersetzt. Nach dieser Verkleidung – „Der Marder frißt den Auerhahn; der Fuchs den Marder; den Fuchs der Wolf“ – wird noch aus dem „er frißt“ ein „er fraß“. Denn, ebenfalls nach alter rhetorischer Lehre, wirkt der Anschein des historisch verbürgten wirklichen Vorfalls besser als die nur erfundene Fabel. Nun ist die Erkenntnis richtig eingekleidet: „Und siehe, mein Satz ist zur Fabel geworden“. Der mörderische moralische Satz wurde zur episch referierten Handlung (Der Marder fraß den Auerhahn usw.). Die Handlung umhüllt jetzt wie ein Kostüm die Lehre. Dennoch eignet gerade einer Tierfabel wie allen offenkundig erdachten Fabeln eine gewisse Unwahrscheinlichkeit im Vergleich zu exemplarisch gewählter Historie, die durchs faktisch Gewordene überzeugt. Eine gewisse Unwahrscheinlichkeit gehört sogar zu ihrem Formprinzip: In der Fabel wird gerade das Unwahrscheinliche zum „Zeichen der mit der [Fabel] gegebenen allegorischen Intention“.8 Untrennbar ist die Idee der Fabel von allegorischem Sinn, und in der Tat sieht Brecht seine Fabel als eine Art indirekter Mitteilung des Stückschreibers an das Publikum. Was man in der Fabel findet, sind „zurechtgemachte Vorgänge, in denen die Ideen des Fabelerfinders über das Zusammenleben der Menschen zum Ausdruck kommen“.9 Was aber in unserem Zusammenhang noch mehr zählt: Auch ein zweites Problem der Tierfabel ist dem künstleri-

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schen Problem der Brecht-Fabel ähnlich: ihre Vorhersehbarkeit. Der Löwe ist mutig, der Fuchs schlau, der Wolf gefräßig: Ihr Verhalten in der Fabel wird nur bestätigen, was das Vorurteil schon ahnte. Das Prinzip der Fabel setzt überhaupt eine homogene Wirklichkeit voraus. Nur wo gewisse einsehbare Regeln die Welt durchherrschen, kann die Fabel sie als Exemplum auf die Pointe bringen als Beispiel für das Allgemeine im Besonderen. Daher setzt in der Moderne auch die Gültigkeit des Exemplums aus und tritt Brechts Insistenz auf der Fabel in Spannung zu anderen Teilen seiner Theorie, vom Gestus bis zur Natur, die Sprünge macht und dem Menschen als fortwährend zerfallendem Dividuum. Von der Problematik Fabel und Gestus aus wird eine neue Perspektive deutlich, in der Brechts Stücke sich als, man möchte sagen: simulierte Fabeln erweisen lassen. Sie tragen die Maske eines dramatischen fabula docet, realisieren aber in Wahrheit ein Als-Ob der „fabelhaften“ (und damit auch der parabolischen) Lehre. Ist doch bei Licht besehen auch das Einfachste nicht zu beweisen: dass man etwa nicht seinen Schnitt am Krieg machen kann, ist eine These, die wohl für alle Mütter Courage zutrifft, aber nicht für jede einzelne. Die Leute im Parkett kennen die Gegenbeispiele nur zu gut. Die Wackeligkeit von Brechts Lehren ist den guten Lesern Brechts immer schon aufgefallen. Auf diese Lehren kann man so wenig bauen wie auf den armen B. B. Und wenn auch Didaxe ein artistisches Moment wird, so büßt sogar – und das ist nur ein anderer Aspekt des gleichen Sachverhalts – der Lehrende selbst die Verlässlichkeit ein, wird ein unreliable narrator, wie ihn die Erzähltheorie kennt. Eher werden Lehrer selbst zum Bestandteil des artistischen procedere (als meist auch in den Stücken eher zweifelhafte Gestalten) und höhlen auf diese Weise den Status jedes von außen auf das Ganze projizierbaren lehrbaren Sinns aus. Im Übrigen wäre es ohnehin ein recht bescheidener Gewinn, der sich auf direktem Weg aus ihnen ziehen ließe: Brecht lehrte wohl nichts, was nicht unabhängig von seinen Stücken, und bündiger in der Theorie, erkannt worden oder den auf ihn geeichten Zuschauern vertraut gewesen wäre: daß die Reichen es besser haben als die Armen, daß es unrecht auf der Welt zugeht, daß bei formaler Gleichheit Unterdrückung fortbesteht, daß private Güte von der objektiven Bosheit zu ihrem Gegenteil gemacht wird; daß – freilich eine dubiose Weisheit – Güte der Maske des Bösen bedarf. Aber die sententiöse Drastik, mit der er dergleichen keineswegs taufrische Einsichten in szenische Gesten übersetzte, verhalf seinem Werk zu ihrem Ton; Didaxe führte ihn zu seinen dramaturgischen Neuerungen, die das zermorschte psychologische und Intrigen-Theater

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stürzten. In seinen Stücken gewannen die Thesen eine ganz andere Funktion als die, welche sie inhaltlich meinten. Sie wurden konstitutiv, prägten das Drama zu einem Anti-Illusionären, trugen bei zum Zerfall der Einheit des Sinnzusammenhangs.10 Diese Formulierung muss man in ihrer ganzen Schärfe verstehen: Gerade indem Brecht Sinn-Thesen in gestische Dramaturgie umsetzt, führt eben die poetische und theatrale Performanz, die vielleicht der Absicht nach den Sinn stützen und stärken soll, zu dessen Zerfall bei: „Verwandlung widerfährt im Kunstwerk auch dem Urteil. Diesem sind die Kunstwerke analog als Synthesis; sie jedoch ist in ihnen urteilslos, von keinem ließe sich angeben, was es urteilt, keines ist eine sogenannte Aussage.“11 Die skizzierte – und natürlich viel umfassender durchzuführende – Analyse des Fabelkonzepts legt nahe, dass Brecht sich der Spannungen und Diskrepanzen zwischen Behauptung und theatraler Darlegung und auch zwischen den verschiedenen theoretischen Setzungen bewusst war. Es gelang ihm in der Theorie nicht, wie Müller in seinem Brief an Gotscheff formuliert, die „Transformation der Fabel vom Stellplatz der Widersprüche zur Zerreißprobe für die Beteiligten“. Das hätte einen noch radikaleren Bruch mit der Tradition des Fabeltheaters impliziert. Aber in Brecht selbst schrieb etwas fortwährend gegen die eigene Tendenz zur Fixierung an. Wie er die Spannung zwischen Öffnung und teleologischer Schließung des Sinnzusammenhangs beruhigte, kann nicht mehr, konnte vielleicht nie genügen. Aufgabe der Lektüre seiner theatertheoretischen Arbeiten heute ist es, gerade diesen Brüchen im Einzelnen nachzugehen. Das bedeutet zumal, Theorie und Praxis Brechts nicht aus dem Gesamtprozess der Moderne und Postmoderne herauszuschneiden, ihn gar zum Fels klassischer politischer Aussage in den unübersichtlichen Wirbeln der Dekonstruktionen zu stilisieren. Gerade wenn im Sinne einer neuen Idee von Politik Brechts politische Impulse aus ihrer partiellen Verschalung in einem unhaltbar gewordenen Schema von Fronten und Klassen befreit werden sollen, ist zu bedenken, dass die Theorie Brechts gerade im Sprung zwischen den Aussagen und den Texten, in den offen gebliebenen Wunden besteht. Dass wir sie also in einem gewissen Sinn nicht „wissen“ können, weil sie gar nicht in einem positiven, referierbaren Zustand existiert, sondern lesend erst zu (er-)finden ist. Dass man seine Texte zerlesen muss, lesend die Teile zerlegen und anders wieder zusammenlesen. Es sollte deutlich werden, dass sogar kanonisch gewordene Texte an entscheidenden Punkten nicht in der Gestalt abrufbarer Setzungen vorliegen, dass es sich vielmehr um textliche Figurationen handelt, die aus ebendiesem Grund nicht positiv zu „kennen“ sind. Absicht-

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lich und ersichtlich wurden dazu nicht etwa – was nahegelegen hätte – die Lehrstücke gewählt, in denen These und Performanz sich fortwährend wechselweise ausstreichen, nicht der rätselvolle Fatzer und nicht die Nietzsche-Linie bei Brecht. Es wurden auch nicht jene dem vertrauten Credo einer humanistischen oder sozialistischen Sittlichkeit zuwiderlaufenden Momente in Brechts Werk bemüht, die Heiner Müller als den eigentümlichen „Herzton des Bösen“ bei Brecht bezeichnet und für das Wesentliche bei ihm gehalten hat, und auch nicht seine vieldeutige Lyrik. Vielmehr wurde die Aufmerksamkeit auf das Zentrum derjenigen Texte Brechts gelenkt, die den scheinbar gesicherten Boden für die normale, um nicht zu sagen normalisierte Sicht auf Brecht bieten. Und gerade sie belegen: Nämlich der Brecht ist unbekannt. Angesichts der Theater- und Medienentwicklung liegt die Behauptung nahe, dass man die Schlüsselkategorien des epischen Theaters im 21. Jahrhundert anders, zerfatzter wird lesen müssen. Dazu muss man sich wieder in die Höhle des Brechtschen Tigers begeben, dessen Klauen heute, im Zeichen normalisierter Orthodoxie, kaum mehr gefürchtet werden, dessen Grazie aber um ihr Bestes käme ohne die Pointe, dass sie die Anmut einer theatralen und poetischen Gewalt sein wollte, die nicht ein paar Gedanken zurechtrücken, sondern das Denken verrücken wollte.

1999/2016

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BFA 21, S. 114. Müller, Heiner: „Taube und Samurai“, in: Heiner Müller Material, hrsg. v. Frank Hörnigk, Leipzig 1990. 3 Wirth, Andrzej: „Versuch einer Synthese nachbrechtscher Theaterkonzeptionen“, in: Theater heute, 1/1980, S. 16. 4 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1969, S. 336. 5 Ebd., S. 55. 6 Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht, Köln 1992, S. 230. 7 Ritter, Hans Martin: Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht, Köln 1986, S. 31. 8 Stierle, Karl-Heinz: „Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte“, in: Poetik und Hermeneutik 5, Geschichte – Ereignis und Erzählung, hrsg. v. Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, München 1973, S. 356. 9 BFA 23, S. 292. 10 Adorno: a. a. O., S. 366. 11 Ebd., S. 187.

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DIE RÜCKNAHME DER MASSGABE -

„[…] Sinn für eine grenzenlose und folglich notwendig übermäßige, unberechenbare Verantwortung […]“ „[…] Gerechtigkeit beruht […] nicht auf Gleichheit, auf einem berechneten Gleichmaß, auf einer angemessenen Verteilung, […] sondern auf einer absoluten Asymmetrie […]“ „[…] ‚Idee der Gerechtigkeit‘: […] Forderung nach einer Gabe ohne Austausch, […] ohne Kalkül und ohne Regel, ohne Vernunft oder ohne Rationalität im Sinne des ordnenden, regelnden, regulierenden Beherrschens. Man kann darin also einen Wahn erkennen […]“1 (Derrida)

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Die folgende Skizze nähert sich Brecht von einer ungewohnten Seite. Das Maß, die Schuld, die Überschreitung – diese Begriffe, so will mir scheinen, lenken den Diskurs Brechts, nicht nur sein Theater, in entscheidender, aber zugleich verborgener Weise. Dass bei ihm das Individuum abdankt, seine „Absetzung“ (wie bei einem Herrscher) betreibt, hinterlässt in Brechts Schreiben eine Spur, denn in der Auslöschung des Gesichts ist doch dessen bindende Anwesenheit – sozusagen mit negativem Vorzeichen – gesetzt; am ausgestoßenen und gestürzten Moment der Unvernunft macht er die Kraftquelle der Vernunft, im Asozialen die conditio sine qua non der Veränderung des Sozialen sichtbar. Bertolt Brecht war ein Dichter des Maßes. Für das Pathos der Mäßigung besaß er einen sechsten und sehr poetischen Sinn. Das Maß fasst viel, fast alles. Politik ist, was das Maß gibt. Sie setzt das Maß des Erlaubten und Verbotenen, wägt Verhältnis und Mäßigkeit der Mittel und Zwecke, das Maß des Rechts. Was der Politik wie dem rationalen Diskurs aber entwischt, das ist all das, was von keinem Maß weiß, kein Maß hat, das Maßlose: das Begehren, alle Strebungen, die sich der Ratio der Selbsterhaltung, der Verantwortung entziehen. Das Maß ist die Ratio selbst: Maßverhältnis und Kalkül. Darum ist Die Maßnahme ein Schlüsseltext Brechts, des Dichters der Ratio und dessen, was ihr fremd bleibt. Jeder ästhetische Text, zumal aber der politische, hat es mit der Maßgabe zu tun, dem Zumessen der Gabe. Und mit der Frage, wer oder was das Maß gibt. Regel und Gesetz werden, auch im Fall der Vereinbarung, immer durch Macht, nie ohne Gewalt instituiert. Eine Revolution er-

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setzt das alte Maß – der Zeit, der Reichtümer, der Rangverhältnisse – durch ein neues, nimmt und gibt ein Maß. So enthält jede Maßgabe immer schon virtuell die Maßnahme, die der Maß-Regel Geltung verschafft – konservierend oder revolutionierend, Recht setzend oder Recht erhaltend.2 Und darum braucht das Maß Sicherung durch Macht – weil das, was die Politik bemisst, gerade das Nichtmessbare ist, das Grenzenlose, das Unbestimmte, von keiner Ratio Gehaltene, das Irrationale: der Affekt, das Begehren, der Mangel, der Körper. Aber lässt sich das Maß ohne Widerspruch denken, wenn das Gemessene gerade die Leidenschaft ist, die irreduzible Eigenheit eines Menschen, seine ihn gründende Irratio, wenn das Gemessene, der Mensch, im Doppelsinn des Worts immer das Vermessene ist? Kein politisches Maß kann gegeben und keine Maßnahme getroffen werden, die sich nicht vermisst, weil ihr Objekt eben darin sein Wesen hat, ungemessen, unmessbar, einmalig, körperlich und sterblich, leidenschaftlich und in jedem Sinn unberechenbar zu sein. Unberechenbar ist im Kaukasischen Kreidekreis das Rechtsmaß des bestechlichen Richters Azdak in seiner kurzen Amtszeit beinahe der Gerechtigkeit; unberechenbar die Zerstörungslust des Paul Ackermann in Mahagonny, der vom Menschen berichtet, dass er Türme umwerfen will, damit es ein Gelächter gibt. Unberechenbar ist die Leidenschaft zu helfen und zu fühlen im jungen Genossen der Maßnahme, unberechenbar das Opfer der Antigone in Brechts Version dieses Stoffs. Untrennbar aber vom Maß ist auch die mögliche Schuld. Darum wurde Bertolt Brecht ein Dichter der Schuld. Wer das Maß missachtet, unterschreitet, übertritt, macht sich schuldig, wird Schuldner. Das Maß schließt die Schuld immer schon als virtuelle, als mit ihm systematisch mögliche und so notwendige ein: Schuldigkeit, Schuld-Verhältnis, auch im kosmischen Sinn des Anaximander das, was ein StrafMaß gibt und verlangt. Auf ganz eigentümliche Weise, die bisher noch keine Darstellung gefunden hat, durchzieht dieser thematische Zusammenhang des zweideutig Maßlosen Brechts Theater und Poesie in ihren tiefsten Schichten, Fortschreibung eines der ältesten Theaterund Tragödienmotive unter den Bedingungen eines „revolutionären“ Schreibens. Das Unmaß und die mit ihm verbundene Schuld erscheinen zugleich als Quelle der Denklust wie des Verrats, des aberwitzigen Selbstopfers wie der kollektiven Verantwortung. Eine unmittelbare, unreflektierbare Strömung (Schrecklich ist die Versuchung zur Güte), gründet und bedroht zugleich die politische Ratio, die dieser Güte Realität verschaffen will. Eine gewisse Unvernunft, vielleicht ein „Wahn“, eine Torheit, lässt Vernunft als humane erst praktisch wirksam werden.

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Das Thema Schuld und Schuldigkeit ist ausgestreut über das gesamte Brechtsche Werk, von der frühesten bis in die späteste Zeit. Und zwar in der ganzen Spannweite von schnöden Schulden über eine erfahrene und umso stärker abgeleugnete Schuldigkeit im Sinne einer Verpflichtung bis hin zu einer Dimension der Schuld, die – erstaunlich genug – nicht weitab liegt von Erbsünde oder doch einer nie mehr gutzumachenden Verfehlung. Im Nachkriegs-Gedicht „An meine Landsleute“ bittet er die Mütter, doch endlich mit sich selbst Erbarmen zu zeigen und ihre Kinder leben zu lassen, mit der bezeichnenden Begründung: „daß sie euch die Geburt und nicht den Tod dann schulden“. In den frühen Gedichten ist die Schuld allgegenwärtig. Die Beunruhigung durch das Thema der Schuldigkeit bleibt bis zum Schluss: Ich nehme nichts von dem an […] Mir schuldet man Geld. Mir schuldet man Dank. Ich kann dies und das verlangen. Ich verweigere es. Genossen, laßt uns nicht ICH sagen […] Laßt uns den Zustand der Gesellschaft bekämpfen In der all diese Sätze wahr sind!3 Es bedarf nicht eigens der Betonung, dass bei einem Autor dieses Ranges das Thema Verpflichtung/Verschuldung/Verantwortung in keiner Weise auf individualpsychologische Schuldkomplexe reduzierbar ist. Die hartnäckige Wiederkehr dieses Motivs hat mehr mit dem ordre symbolique im Sinne Lacans, mit der kosmischen Kette der Verschuldung bei Rabelais oder der unausweichlichen éclipse des begehrenden Subjekts zu tun als mit vermutlichen Komplexen der Person Bert Brecht. Es geht um ein fundamentales Problem des ästhetisch-politischen Diskurses: Brechts Schuld-Thematik artikuliert einen Widerstand gegen den Diskurs des Kollektivs, des Sozialen und der Verpflichtung. Sie demonstriert zugleich, dass ein tief in der Erfahrung und in der Sprache beheimatetes Wissen von Schuldigkeit als unabweisbarer Schatten den Versuch begleitet, der als ein Leitmotiv des Brechtschen Werks gelten muss, den Versuch nämlich, allem Vergangenen den Charakter des Verpflichtenden zu nehmen, jede Schuld und Pflichtigkeit dem Alten gegenüber als bedrückende Last zugunsten des Neuen und der Veränderung abzuwerfen.

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Der junge Genosse in Brechts Lehrstück Die Maßnahme macht sich schuldig gegenüber der Revolution, die seine Genossen betreiben, weil er – unvernünftig, helfen wollend – nicht schuldig werden will gegenüber dem Jetzt seines eigenen Lebens. Er will nicht kalt auf Zukünftiges und Aufschub setzen, will seine spontane Lebendigkeit retten vor dem tödlich-kalten Kalkül. Nur an der Oberfläche scheint das Stück gegen ihn die gedankenlose Unterordnung unter die Parteidisziplin zu propagieren. Genauer besehen, arbeitet es eine radikale Spaltung und Dissoziation zweier Erfahrungszeiten heraus: Geschichtsprozess und Subjektivität. Wenn das Lied zum „Lob der Partei“ aussagt: „Der einzelne hat zwei Augen / Die Partei hat tausend Augen“, so sind diese zwei und jene tausend nicht ein und dasselbe Maß. Zwei – das weist auf das im präzisen Sinn maßlose Fühlen und Mitfühlen des Körpers hin: Mit meinen zwei Augen sehe ich, dass das Leid nicht warten kann. Tausend – das ist nicht 500 x 2, sondern bedeutet hyperbolisch das dem Körper heterogene Maß der Ratio: des Kalküls, der Mäßigung, der Reserve und Bewahrung. Sie bleibt aber sogar in diesem kältesten Exempel Brechtscher Kälte nicht das Maß aller Dinge. Die Leidenschaft des jungen Genossen ist vielmehr Chiffre für das Inkommensurable des eigentümlichen Individuums, das keinem Maß gehorcht, aber zugleich und gerade darum die anarchische Kraftquelle für jene politische Bewegung beinhaltet, die ihn in die Kälte und die Kalkgrube wirft. Der Widerstand dagegen, sein Selbst aufzulösen zugunsten der Ratio revolutionärer Taktik, wird durch das Konstativ einer „Maßnahme“ beendet. Doch die ist kein Urteil. „So war es kein Urteil?“, fragt der Kontrollchor in der Fassung der Moskauer Druckvorlage 1935/36, und die vier Agitatoren antworten, und zwar, wie Brechts Regieanweisung eigens vermerkt, sehr laut: „Nein! Eine Maßnahme!“4 Die Maßnahme selbst ist ohne Maß, denn das Maß kann sich selbst nicht messen. Wenn das Maß nicht an einem andern gemessen werden kann, so kann man es jedoch – zurücknehmen. Rücknahme der Maßgabe heißt nicht, das Maß wird verneint. Es wird suspendiert, in Schwebe gebracht. Um die Suspension des Maßes, nicht seine Verneinung geht es in Brechts Maßnahme. Durch eine subtile Ästhetik der Überspitzung sorgt der Text dafür, dass der Ausgang nicht als Antwort erscheinen kann, die Maßnahme nicht als Urteil. Obwohl Heerscharen von Auslegern meinten, diese Antwort als die des Textes lesen zu dürfen. Gerade weil die Ratio zu sehr im Recht, der junge Genosse allzu offenkundig im Unrecht ist, kann das Stück nicht als These gelesen werden. Die These der Dis-

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ziplin, die man bis heute in ihm liest, bleibt im Zwielicht. Die Maßnahme transformiert sich nicht zum Urteil, das Maßgabe wäre. Das Stück stellt den Höhepunkt der Versuchsreihe der Lehrstücke dar, die vom Ozeanflug (1928/29) über das Badener Lehrstück (1929) und Jasager/Neinsager (1929/30) zur Maßnahme führt. Thematisch erschließen sich die Lehrstücke erst ganz, wenn man sie als Sequenz versteht, bei der eine kohärente Problematik mit jedem neuen Stück/Schritt neu beleuchtet und vorangetrieben wird. Sowohl die Genese des Schuldmotivs in dieser Serie als auch die außerordentliche motivische Kohärenz der Stücke sind in der Forschung sehr vernachlässigt worden. Hier einige Hinweise dazu: Erstens: Fast allen Lehrstücken ist gemeinsam, dass sie eine allegorische Reise vorführen. Der Ozeanflug, die Flugreise des Badener Lehrstücks, die Reise um Hilfe gegen die Krankheit im Jasager und im Neinsager, die politische und faktische Reise der Agitatoren in der Maßnahme, die Durchquerung der Wüste in Die Ausnahme und die Regel, sogar in der gestaffelten Flucht des schließlich siegreichen Horatiers (Die Horatier und die Kuriatier) schwingt das Bild noch nach. Lebens- und Pilgerreise, Erkundungs- und Eroberungsreise – seit der Antike ist das Bild der Reise vielfältig besetzt. Aber erst die moderne Erfahrung der Unbehaustheit hat die Reise, früher eher eine Domäne von Epik, Roman und Erzählung, auch auf der Bühne heimisch gemacht. Nicht mehr erfährt hier ein im übertragenen Sinne reisendes Ich seine Lebensganzheit als Weg mit Aufbruch, Hindernissen, Gefahren und Ankunft, wie vom Don Quichotte bis zum Helden des Bildungsromans. Die modernen ziellosen und katastrophischen Reisen führen in den Untergang oder ins Zwielicht. Im Stationendrama von Strindberg bis Botho Strauß, in den zahllosen dramatischen Straßen- und WegeSzenen der Ausgesetztheit stellt die Moderne systematisch die Er-Fahrung von Versagen und Scheitern aus. Auch Brechts Lehrstück-Reise kommt nicht ohne dieses Motiv des Scheiterns aus, das der Reise allererst ihre spezifische Bedeutung verleiht. Verknüpft mit der Reise ist daher zweitens ein Konflikt oder eine Serie von Konflikten, die zur drohenden oder eintretenden Unterbrechung, Bruch, Bruchlandung, zum Abbruch der Reise führen. Das Flugzeug droht zu versagen, ein schmaler Pfad hindert den kranken Knaben an der Weiterreise, Ermüdung und Durst lassen die Wüstenreise im Sand verlaufen. Noch genauer besehen, ist der Bruch meist gefasst in der Imago des Sturzes. Es handelt sich um Flug und Absturz (Ozeanflug, Badener Lehrstück), im Jasager um einen „Wurf ins Tal“, wie das Nô-Spiel hieß, das Brecht zugrunde legte, in der Maßnahme um den Sturz in die Kalkgrube.

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Reise, Flug und Sturz ist das thematische Grundmodell der Lehrstücke, und seine allegorische Verweisungsfülle – vom ikarischen Sturz über den gefallenen Engel und den Sündenfall bis zur traumatischen Figur von Tod und Versagen – ist unabsehbar. Dem buchstäblichen Höhenflug menschlicher Autonomie und der Fortschritts-Reise der Naturbeherrschung wird kontrastiert die Erfahrung von Schwäche, Fehler, Unzulänglichkeit. Die Lehrstücke fragen, wie mit der für die Erfahrung des einzelmenschlichen Subjekts immer absoluten Grenze (Versagen, Sturz, Tod) umgegangen werden kann. Ihre Antwort lautet, dass nur ein sehr spezifisches Verhalten, eine Haltung, die Brecht mit dem – alles andere als klaren – Begriff „Einverständnis“ bezeichnet, diese Leistung möglich macht. Sie sind eine „Sterbelehre“, Brecht selbst gebraucht diese Wendung. Drittens: Fragt man näher nach dem, was zum Sterben gelernt werden soll, so geht es jedes Mal um einen Verzicht, anders ausgedrückt: um die Rücknahme eines Anspruchs im Moment eines Konflikts. Die erste Etappe dieses Brechtschen Experiments mit dem Verzicht ist der Ozeanflug. Der Feind, der den Konflikt für den Menschen schafft, ist hier die Natur: „Mir sind feindlich Wasser und Luft und ich / Bin ihr Feind“5. Für den Flieger gibt es die Gefahren Nebel, Eis und Schneesturm, Müdigkeit, also die Natur (auch die eigene), die auf einer Stufe mit der noch unzulänglichen Technik zu stehen scheint. Der Feind ist das – noch – Primitive. Ihm ist nur zu begegnen durch Mut. Der Flieger kann sich seiner Sache im Kampf mit den Naturkräften nicht sicher sein, aber er wagt es. Und zwar jetzt: 3 Tage habe ich gewartet auf das beste Wetter Aber die Berichte der Wetterwarten Sind nicht gut und werden schlechter: […] Aber jetzt warte ich nicht länger. Jetzt steige ich auf. Ich wage es.6 Unverkennbar ist dies der gleiche Gestus der Ungeduld und des Bestehens auf dem Jetzt, der in der Maßnahme dem jungen Genossen Verderben bringt. („Mit meinen zwei Augen sehe ich, daß das Elend nicht warten kann […] Darum mache ich jetzt die Aktion, jetzt und sofort.“7) Aber gerade diese – vielleicht tödliche, vielleicht sinnlose – Ungeduld ist bei Brecht zugleich immer auch der unverzichtbare Kraftquell und Motor des Kampfs für das Neue, das ganz außermoralisch als Impuls des Fortschritts aufgefasst ist. (Wie oft verfluchten Brechts Texte nicht die furchtbare, allzu lange Geduld der Unterdrückten.)

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Der Ozeanflug demonstriert die erste Stufe des Verzichts, der nötig ist, um den Kampf, den das Dasein hier bedeutet, zu bestehen: die Notwendigkeit, auf Gott Verzicht zu leisten. Um den Kampf bestehen zu können, ist Wagemut nötig, Ungeduld. Aber wichtiger noch ist der Verzicht auf kosmisch-göttliche Einbettung, religiösen Trost und Vertröstung. „Laßt euch nicht vertrösten“, war schon die Forderung des sehr jungen Brecht gewesen. Jetzt heißt es: „Was immer ich bin und welche Dummheiten ich glaube. / Wenn ich fliege, bin ich / Ein wirklicher Atheist.“ Der Flieger hat teil an der „Liquidierung des Jenseits und / Der Verscheuchung jedweden Gottes, wo / immer er auftaucht“.8 Ein großer Gesang besingt diese Vertreibung Gottes. Kaum jedoch ist er verklungen, da macht eine Wendung klar, wie schwer dieser Verzicht fällt. Der Flieger glaubt einen vielleicht tödlichen Fehler im Flugzeug auszumachen, sinkt immer tiefer, droht das Meer zu streifen, zu scheitern – da ruft er aus: „Halt! / WASSERGERÄUSCH (RADIO) / Mein Gott! Beinahe / Hätte es uns aber gefaßt!“9 Die menschliche Erhebung verarbeitet den Mangel an Sicherheit und Verlässlichkeit, indem sie auf die Zukunft baut, aber die Ängste sind nicht gestrichen. Verzicht auf Sicherheit in Gott, auf Geborgenheit in Metaphysik und Transzendenz ist die conditio sine qua non der Erfindung, des Fortschritts, der Aufklärung. Metaphysischer Trost fällt aus. Gott hat hier seinen letzten Auftritt in der Kette der Lehrstücke, angerufen in einem Reflex. An den Anfang des Badener Lehrstücks hat Brecht die Schlussverse des Ozeanflugs gesetzt und damit bekundet, dass die Stücke als sich fortentwickelnde Versuchsreihe verstanden sein wollen. In diesem grandiosen und grausamen Text wird der Verzicht neu akzentuiert: Nicht mehr allein auf göttliche, auch auf menschliche Hilfe muss verzichtet werden. Geraten wird, „der grausamen / Wirklichkeit / Grausamer zu begegnen und / Mit dem Zustand, der den Anspruch erzeugt / Aufzugeben den Anspruch. Also / Nicht zu rechnen mit Hilfe“.10 Das Subjekt wird in seiner kleinsten Größe gedacht: Gott nicht mehr, jetzt aber auch nicht mehr den anderen Menschen gegenüber könnte es noch einen Anspruch vortragen. Das Eigene muss aufgegeben werden, denn nirgends existiert eine Schuldigkeit, Verpflichtung der anderen, auf die man sich berufen könnte. „Und die Welt, die ist euch gar nichts schuld: / Keiner hält euch, wenn ihr gehen wollt“, hatte es schon in „Von der Freundlichkeit der Welt“ geheißen. Auch auf die Anerkennung von Verdiensten durch die anderen wird verzichtet. Damit ist deswegen viel gesagt, weil man seit Hegel in der Anerkennung durch das andere Selbstbewusstsein den Grund für das menschliche Selbstbewusstsein zu

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denken gewohnt ist. Nur durch sie ist es überhaupt. Dem Verzicht auf Hilfe, dann auf Ruhm folgt schließlich der Verzicht auf den Namen überhaupt und alles Eigentümliche: Wie hoch seid ihr geflogen? Wir sind ungeheuer hoch geflogen. Wie hoch seid ihr geflogen? Wir sind viertausend Meter hoch geflogen. Wie hoch seid ihr geflogen? Wir sind ziemlich hoch geflogen. Wie hoch seid ihr geflogen? Wir haben uns etwas über den Boden erhoben. Wer wartet auf euch? Viele über dem Meer warten auf uns. Wer wartet auf euch? Unser Vater und unsere Mutter warten auf uns. Wer wartet auf euch? Niemand wartet auf uns. Wer also stirbt, wenn ihr sterbt? Die sich etwas über den Boden erhoben. Wer also stirbt, wenn ihr sterbt? Auf die niemand wartet. Wer also stirbt, wenn ihr sterbt? Niemand. Jetzt wisst ihr: Niemand Stirbt, wenn ihr sterbt. Jetzt haben sie Ihre kleinste Größe erreicht. Das Subjekt erscheint als nur insoweit existent, als die anderen es durch ihr Fordern und Wollen, durch ihr Brauchen existieren lassen oder genauer: existieren machen. Eine ganze Theorie der brechtianischen Subjektivität wird in den folgenden Zeilen kondensiert. Existenz „entsteht“ nur in der Zu-Sprache der anderen; nur in der – wohlgemerkt: von außen bewirkten – Veränderung und in der Selbst-Aufgabe, also im Werden ist Sein; und gekannt wird nur, was sich als Werkzeug anderer, im Gebrauchtwerden, gerade unerkennbar macht:

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Indem man ihn anruft, entsteht er. Wenn man ihn verändert, gibt es ihn. Wer ihn braucht, der kennt ihn.11 Nach dieser radikalen Enteignung, dem Verzicht auf Selbst, Sein und Autonomie, könnte man denken, weiter könne der Verzicht nicht getrieben werden. Doch im Jasager, genauer im Übergang von der ersten zur zweiten Fassung, wird der Keil noch tiefer in das Ich getrieben. In diesem Text wird das Opfer zentral. Der Mensch, der im ersten Lehrstück auf Gott, im nächsten auf menschliche Hilfe verzichten lernte, muss nunmehr menschliche Gewalt erleiden und – von der noch bedeutenderen anderen Seite betrachtet – ausüben! Also auf Gewaltfreiheit verzichten: Weil der Lehrer und die Studenten die Forschungsreise sonst abbrechen müssten, folgen sie – in der ersten Fassung des Jasager – dem „großen Brauch“, den unterwegs erkrankten Knaben, den sie nicht mitnehmen können, in das Tal zu werfen. Entsetzen erfasst die Studenten beim Gedanken an das Opfer, das sie töten werden, aber der Brauch, die Notwendigkeit lässt keine Wahl. Hier nun stößt man auf das für die Lehrstücke neue Thema der Schuld. Bis zu diesem Punkt blieb in ihnen ganz unterbelichtet, ja verdrängt, dass Gewalt und Grausamkeit, Analyse und kalte Verhaltenslehre12 eine Schuld implizieren. Bei der Umarbeitung des Jasager nun fügt Brecht eine Stelle ein, die dieses Motiv in grelle Beleuchtung rückt: Als die Studenten mit Einverständnis des Knaben weiterreisen und ihn, wie es jetzt in der zweiten Fassung heißt, „liegen lassen“ (also dem Tod überantworten) wollen, treibt der Knabe ihr Problem auf die Spitze: „Ich will etwas sagen: Ich bitte euch, mich nicht hier liegenzulassen, sondern mich ins Tal hinabzuwerfen, denn ich fürchte mich, allein zu sterben.“13 Die erbetene Tötung wäre ein Akt der Humanität, aber zugleich auch die unwiderrufliche Bewusstwerdung über die Schuld. So lautet die Antwort der drei Studenten: „Das können wir nicht“, worauf der Knabe die Bitte in einen Befehl abwandelt, der nicht weniger zwingend ist als vormals der Brauch: „Halt! ich verlange es.“ Und der Lehrer erklärt: Ihr habt beschlossen, weiterzugehen und ihn da zu lassen. Es ist leicht, sein Schicksal zu bestimmen Aber schwer, es zu vollstrecken. Seid ihr bereit, ihn ins Tal hinabzuwerfen? Die drei Studenten: Ja.14 Im Zwischen dieses Aufschubs ist die entscheidende Wendung in der Kette der Lehrstücke eingetreten. Mit geradezu jansenistischer Konse-

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quenz muss das Subjekt sich mitten in der aufklärerischen Behauptung der Weltveränderung als unausweichlich schuldhaft erfahren. Ab hier steht die Konkretisierung und Ausgestaltung politischer Schuld in der Maßnahme am Horizont. Sie würde eine detaillierte Analyse erfordern, hier geht es nur um ihre logische Genese in der Sequenz der Verzichtleistungen in den Lehrstücken: Verzicht auf die Freiheit von Schuld.15 3

In einem Schlüsselgedicht Brechts, „Verwisch die Spuren“, findet man mitten in der kältesten Abweisung aller Verpflichtung die Spur einer unvordenklichen Verschuldung. Seine Schlussverse lauten: Sorge, wenn du zu sterben gedenkst Daß kein Grabmal steht und verrät, wo du liegst Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt Und dem Jahr deines Todes, das dich überführt! Noch einmal: Verwisch die Spuren! (Das wurde mir gesagt.)16 Nur wenn sie der Name ist, kann die deutliche (auf die „Person“ deutende) Schrift als (auch polizeiliche) Anzeige drohen. Das Ich/Du ist offenbar rundum bedroht und verfolgt, hinter oder in ihm liegt ein Verbrechen, dessen Spuren zu verwischen sind, dessen man überführbar ist, eine Schuld, deretwegen Anzeige und Verrat drohen, eine Schuld, die – noch im Tod – die Person ins Verschwinden treibt oder zieht. Die Welt ein Verfolgungs(t)raum, in dem man sogar im Tod unerkannt bleiben soll. Keine realistische Deutung wäre angesichts der hohen Abstraktion des Textes haltbar (etwa die, es gelte, Genossen einer konspirativen Arbeit, Angehörige oder Freunde noch durch die Anonymität des Todes zu schützen). Daher verfehlen alle assoziativen Konnotationen dieser Art die eigentliche Textbewegung. In ihr geht es weder um die GPU noch um den politischen Untergrund oder um das moderne Massen-Ich oder um die Flucht vor Autorität und Verantwortung. Wenn aber die Schrift selbst – und das ist hier der Name – schon Anzeige ist, so wird nichts Geringeres mitgeteilt, als dass schon der Name, das Anzeichen der Individualität, eine Beschuldigung impliziert. Von der Taufe bis zum Grabstein haftet an der Individuierung selbst, und deshalb am Namen als ihrem Zeichen eine offenbar nicht weiter ableitbare Schuld. Mitten im neusachlichen Ich, das dazu tendiert, in Kollektiv und Namenlosigkeit zu schwinden, erhält sich ein anderes, in Konno-

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tationen und Motiven mitgeschrieben, das in die Lücken Schuld und Schuldigkeit fügt. Insofern der Verschuldung keinerlei Inhalt gegeben wird, entsteht aber ein Paradox: die Identität von Schuld und benanntem Ich überhaupt. Schuld aber ist eine Struktur von Geben und Nehmen, Schuld ist Schuldigkeit: Etwas wurde genommen, angenommen, eine Rechnung ward offen gelassen. Und in der Tat erscheint als das heimliche Null-Zentrum des Gedichts der Umstand, dass dieses verdächtige Subjekt, das immer nur nimmt, von Anfang an eine Schuld bei sich trägt, weil es, immer schon, etwas angenommen hat – nicht zufällig von den Eltern: Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten Zeige, o zeige dein Gesicht nicht Sondern Verwisch die Spuren! Dieser sinnlose, auswechselbare Hut zeigt eine Schuldigkeit an, die das stets aufbrechende Subjekt nicht abschüttelt. Er darf in der nächsten Strophe keinesfalls liegen gelassen werden: „Aber bleibe nicht sitzen! Und vergiß deinen Hut nicht!“ Gerade weil er Rätselbild bleibt, nur ein Feld von Konnotationen eröffnet (auf der Hut sein, schützend behüten, das Gesicht verbergen), schreibt der Hut das Beschenktsein selbst als Störung und Lücke in das Weltbild der Flucht ein. Alle Kraft wird (wie in großen Teilen von Brechts Werk) darauf verwandt, dem Geben und der Gabe, der Vergangenheit, der vorherigen Generation, aber auch allen gebotenen Häusern, Stühlen und Mahlzeiten ihre Macht der Verpflichtung zu nehmen. Die Freiheit ist bezahlt mit Entzug und Trennung, darum bleibt auch das Gesagte ein Diktiertes, das eine undeutbare Spaltung in die Intention treibt. Es geht um ein Ich als Du. Angesprochen spricht es den Leser an (die Gedichte waren auch für Grammophoneinspielung gedacht) und verkehrt in dem zitierten Schluss, indem es sich als Adressat statt Sender erweist, zugleich den performativen Status des ganzen Textes: „(Das wurde mir gesagt.)“ Hört man dem „Sorge wenn du zu sterben gedenkst“ nach, so nimmt man das „Gedenke zu sterben“ wahr. Das alte Memento-mori-Wort hat teil an dieser Verunsicherung. Man kann lesen: „Wenn du an deinen Tod denkst“ oder „Wenn du sterben willst“ oder „Wenn du dir das Leben zu nehmen planst“. (Den eigenen Tod sterben wie eine Arbeit, ist ein Hauptmotiv der Lehrstücke, die Brecht in Notizen als „Sterbelehre“ bezeichnet hat.) Wieder bringt der scheinbar so schlichte Satz den Status der Aussage ins Schwanken: Nie-

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mand kann in solcher Kühle sagen: „Ich gedenke jetzt zu sterben …“ Vielmehr wird, was Gegenstand einer Feststellung, was als „bitteres Gesetz der Welt“ tituliert wurde (Jasager), der Form nach als Willensentscheidung formuliert, das passivisch Erfahrene umformuliert zum willentlichen Akt. Dem Pathos der Ewigkeit und Unsterblichkeit antwortet der Brechtsche Text nicht etwa mit dem Pathos einer Verneinung dieser Glaubensartikel, sondern mit einer sonderbaren Übersteigerung des Vergehens zur positiven Qualität: Selbst-Verschwindung, Selbstüberwindung im Sinne Nietzsches. Aus dem „steht und verrät“ hören wir heraus: Bleiben ist Verrat, Treue besteht im Verschwinden. Ermöglicht im Tod schon die Transformation zur Leiche keine weitere Bewegung, so soll dies peu de localité wenigstens geheim bleiben, auf dass dem Tod als doch noch möglicher Zuweisung eines letzten Quartiers ein Schnippchen geschlagen wird. Es ist in diesem Text gerade die Unbegründbarkeit der Schuldigkeit und Verantwortung, die dem Programm des Nicht-Antwortens („Öffne, o öffne die Tür nicht“) sein Profil gibt. Unbegründbar, weil unmessbar. Levinas sagt: Sie kennen diesen Satz von Dostojewski: „… in Wahrheit ist jeder vor allen und für alles schuldig … In Wahrheit bin ich für alle schuldig und vielleicht schuldiger als alle.“ Nicht wegen der einen oder der anderen Schuld, die tatsächlich meine ist, wegen Fehlern, die ich begangen hätte, sondern, weil ich verantwortlich bin gemäß einer totalen Verantwortlichkeit, die den Erwartungen von allen anderen und von allem bei den anderen, selbst von ihrer Verantwortlichkeit, entspricht.17 Daher begründet sich Identität (um deren Verhüllung, Transformation und Maskierung es in den Lehrstücken und in diesem Gedicht einzig zu gehen scheint) durch nichts anderes als eben diese Erfahrung unhintergehbarer Schuldigkeit oder Verantwortung. Noch einmal Levinas: „Faktisch muß man die eigentliche Identität des menschlichen Ich von der Verantwortlichkeit her benennen. […] Ich, nicht auswechselbar, ich bin ich einzig in dem Maß, in dem ich verantwortlich bin.“18 Wie also, wenn eine vor aller Berechnung, vor aller Zurechenbarkeit nicht behauptete, sondern erfahrene Schuldigkeit hier ins Spiel käme? Eine vor dem Maß und daher im genauen Sinn unvordenkliche? Das wäre eine paradoxe maßlose Schuld und Schuldigkeit. Wenn der unvermeidlich Maße setzende Mensch sich selbst nicht anders denn alles Maß transzendierend bestimmen kann, so gründet er zwangsläufig das Maß

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auf die Maßlosigkeit. Wirklich denkbar ist die Moral nur vom Begehren her, nur auf eine absolute, unvordenkliche und maßlose Schuldigkeit vor allem Schuldmaß ist die Möglichkeit, ein Maß von Schuld und Unschuld zu nennen gegründet, nur auf eine sozusagen transzendentale unendliche Verantwortung eine reale politische oder rechtliche Verantwortung. Sie konstituiert ihn insofern, seine Identität und Individualität – jedoch nur so, dass ihn die unvermeidlich immer schon vollzogene Übertretung des Maßes seine Identität und zugleich ihr Verfehlen, seine Kommunität mit anderen erfahren lässt. Die Geburt der kommunistischen Erfahrung aus dem Geist der Überschreitung. Nur von der Ausnahme her ließe sich am Ende die Regel denken, denn es gibt keinen Weg aus dem Konflikt von Regel und Ausnahme: Jeder „Fall“ einer Regel ist im Bereich von Moral, Recht und Politik eine Ausnahme oder der erste Fall, bei dem neu zu erfinden bleibt, ob eine Regel Anwendung findet oder nicht. Eine von den traditionellen Lesarten unterschiedene Brechtlektüre müsste daher fragen, in welcher besonderen Weise sein politischer Text diese Paradoxien und Antinomien artikuliert, zu welchen Akzentuierungen, Kurzschlüssen und Vertagungen er neigt, mit welcher Strenge er der Spur von Schuld und Maß folgt, wie er mit dem Zusammenhang beider in der zugleich vermessenen und unvermessbaren Topik des Subjekts rechnet oder spielt. 4

Abschließend möchte ich einen raschen Blick tun auf den komplementären Aspekt der hier skizzierten Verfassung des Brechtschen Subjekts. Wenn einerseits die Erfahrung einer unbemessbaren primordialen Schuld es prägt und zugleich seine Befähigung zur wohlbemessen rationalen politischen Übernahme von Verpflichtung und Schuldigkeit mitbegründet, so bedeuten andererseits Vermessenheit und Maßlosigkeit zugleich Lust und Genuss. Die Vernetzung des moralischen Themas mit dem der Lust, die eigentümliche Verschwisterung von Genussfähigkeit und Erkenntnis (Galilei) ist bei Brecht augenfällig. Die Überschreitung des Maßes ist das Thema der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Ihr Gegenstand ist der Genuss, Spaß als Inhalt und als Form. Im zweiten der drei in der Hauspostille bereits abgedruckten „Mahagonnygesänge“ wird bewiesen, dass Lust stets Verlust ist. Wo man nicht rechnet, sondern sich vergibt, ist zugleich die Lust. („Ich will nicht ausrechnen, was es kostet“, wird Shen Te singen.) Doch im Verfall Mahagonnys geht die Zeit der Maßlosigkeit verloren. Hier die Lust als maßlose Selbstvergeudung, dort das Gefühl unbegrenzbarer Verantwortung für den anderen – so fern von einander diese

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Motive scheinen: Beide verweisen auf eine Textur des Subjekts, in der die schönsten wie schlimmsten Regungen nicht ablösbar sind von einem Geben jenseits und vor allem Tauschen und von einer reservelosen Verausgabung. Die Lust des jungen Genossen an der Selbstverwirklichung im Helfen, die nicht kalkulierend rechnet, ist die Lust am Verlust, wo man „etwas davon hat“, zugleich aber konstitutiv für das ethische Motiv. Die Lust der Brechtschen Antigone, die sich opfert mit der Bemerkung: „ich begehr mein Schmerzglas voll“, benennt zugleich mit ihrer gefährlichen Lust auch den Grund für ihre Moral des Widerstands. Alles Messbare und Maßvolle hinterlässt einen Mangel. Daher ist das Selbst wesentlich Selbstverzehrung und Opfer. Diese Selbstverzehrung strukturiert sowohl das ethische Handeln als auch die Lust. Eine sehr Brechtsche Problematik der Gabe, der Verausgabung, des Gebens und des Vergebens zieht sich durch sein gesamtes Werk. Sie betrifft das berühmte Thema der Nachsicht. Sie ist der produktive Impuls, der den größten Dichter der Ratio und des Maßes immer wieder zu komplexen Verfugungen inspiriert, die einen Rest, der nicht aufgeht, in die politische Ethik eintragen, der seine Texte an der Oberfläche oft zu gehorchen scheinen. Die nur scheinbar unzweideutige kollektive Moral, zumal die forcierte leninistische Zweckethik, bricht sich an einem Überschuss und Exzess des Individuierten. Das Selbst ist in sich selbst eine Art von Schuld, maßlos, unbestimmbar, unumgänglich, unvermeidlich. Hier berührt man etwas wie den Glutkern des Brechtschen Œuvres. Selbst-Verlust und Opfer erweisen sich als untrennbar, Struktur zugleich der Lust und der Ethik. Maß und Logik der kommunistischen Moral und des „Spaßes“ sind gleicherweise auf eine vorgängige Maßlosigkeit begründet, und sie wird bei Brecht manifest werden in einer unvordenklichen Lust und Schuldigkeit, die jede rechnende Verhaltenslehre, jede berechnete Politik und jede rechte Moral der Zweckhaftigkeit stört.

1994/2016

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Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität, Frankfurt a. M. 1991, S. 40, 45f., 52. Vgl. dazu Benjamin, Walter: „Zur Kritik der Gewalt“, in: Schriften, Bd. I, Frankfurt a. M. 1955, S. 3ff. GW 10, S. 964f. Brecht, Bertolt: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung, hrsg. v. Reiner Steinweg, Frankfurt a. M. 1972, S. 100. GW 2, S. 574. Ebd., S. 568. Brecht: Maßnahme, S. 57f.

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GW 2, S. 576f. Ebd., S. 578. Ebd., S. 599. Ebd., S. 608. Vgl. dazu Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994, der Brechts Denkfigur in höchst aufschlussreicher Weise kontextualisiert. Brecht, Bertolt: Der Jasager und Der Neinsager. Vorlagen, Fassungen und Materialien, hrsg. v. Peter Szondi, Frankfurt a. M. 1971, S. 38. Ebd., S. 39. Die Debatte über dieses Stück hat übrigens meist das Wesentliche verfehlt, dass nämlich der „Brauch“ nicht etwa eine Mythos-verliebte irrationalistische Erfindung Brechts darstellt, sondern gerade durch seine rationale Unauflöslichkeit allegorische Chiffre grausamer Notwendigkeit des Handelns werden kann. Nur als Brauch jenseits allen „Sinns“ vermag aber diese Chiffre die Handlungszwänge überzeugend zu bedeuten. Brechts so oft gelobte „Rationalisierungen“ in der zweiten Fassung des Jasager und im Neinsager (fortgeschrieben in der Maßnahme hat er bezeichnenderweise die Thematik des Jasager) beschädigen eher die Textlogik, als sie zu steigern, denn während die abstrakt-formalistische Konfliktdarstellung das Unerträgliche des Opfers erscheinen lässt, tendiert die ins Realistische korrigierte Fassung zu einer bloßen Kasuistik, mehr noch: zu einer höchst fragwürdigen Rechtfertigung des Opfers, einem Annehmbarwerden des Schreckens. GW 8, S. 267f. Lévinas, Emmanuel: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien 1992, S. 76. Ebd., S. 78.

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VERSUCH ÜBER FATZER -

Fatzer sollte die Geschichte von vier Deserteuren erzählen, die 1918 in Mülheim an der Ruhr untertauchen. Sie warten und hoffen auf die Revolution, geraten bei ihren Versuchen, sich im Untergrund Nahrung zu verschaffen, und auch über andere Fragen in Konflikte untereinander und werden – so scheint es nach den Skizzen für den Schluss – am Ende aufgespürt und getötet. Einer der vier ist Johann Fatzer, einerseits der „findigste“, andererseits radikaler Egoist. Die eine Eigenschaft ermutigt und stärkt das kleine Kollektiv, die andere führt die Spaltung der Gruppe herbei, die Fatzer am Ende liquidieren will. Dieser verstrickt sich bei seinen Versuchen, für die anderen Proviant herbeizuschaffen, in der Stadt in tätliche Auseinandersetzungen, die die Gruppe, die unentdeckt bleiben muss, in Gefahr bringen. Als er zusammengeschlagen wird, helfen ihm die drei anderen nicht, sondern tun so, als kennten sie ihn nicht. Fatzer blieb ein Fetzen. Brechts Arbeit an diesem Projekt zwischen 1926 und 1931 führte nicht zu einem Stück. In dieser Zeit schrieb er jedoch Lehrstücke, zumal Die Maßnahme, schrieb Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Mahagonny und anderes. Diese Stücke waren, und das unterscheidet sie vom Fatzer-Versuch, zu vollenden. Im Fatzer aber, das kann die Textanalyse zeigen, verständigte Brecht sich in solcher Radikalität über die eigenen politischen und theatralen Selbstwidersprüche, dass er an diesem Abgrund, zumal am Versuch, den Konflikt von „Ego“ und Kollektiv überzeugend auszutragen, „scheiterte“. Wenn denn angesichts der enormen Nachwirkung und Wertschätzung, der sprachlichen Gewalt und der theatertheoretischen Sprengkraft des Fragments von Scheitern im Ernst die Rede sein könnte. In den anderen „Versuchen“ gelang es ihm, auf die eine oder andere Weise – wenn auch nicht ohne Spuren der Gewalt – die Risse zu überbrücken, die seine eigene Radikalität in sein Denken riss. Eine Notiz zu Fatzer dagegen besagt: „Das Ganze, da ja unmöglich, einfach zerschmeißen. Zur Selbstverständigung.“ Fatzer konnte, wie es scheint, nicht episches Theater werden, aber auch kein Lehrstück. Nicht Tragödie und nicht surrealistische Phantasmagorie. Episches Theater wurde die Heilige Johanna, Lehrstück und Tragödie Die Maßnahme, als die „erste surrealistische Oper“ (Adorno) entstand Mahagonny. Brecht war sich des fundamentalen Anspruchs seines Unternehmens durchaus bewusst. Nach der erfolgreichen Berliner Uraufführung der Dreigroschenoper ging er im Spätsom-

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mer/Herbst 1928 wieder an den Fatzer und schrieb an Helene Weigel, er hoffe, bald einen „Urfatzer“ zu haben. Er hebt das Wort im Text hervor, der Gedanke an Fatzer als „seinen“ Faust – oder Götz – liegt ihm nahe. Worin aber bestanden die dramaturgischen Hinderungen? Das erste Problem ist schon die Unmöglichkeit, eine Fabel zu erzählen. Der kohärenteste Versuch Brechts, die Fabel zu erzählen, beschreibt nur den Weg der Handlung bis zur Peripetie, als die Genossen als eine Art Judas Verrat üben und Fatzer verleugnen. Verrat ist hier Ur-Schuld und politische Notwendigkeit zugleich. Heiner Müller hat Brecht an dieser Stelle aufgenommen. Sein Theater insgesamt dreht sich um die Dialektik von produktiver und destruktiver Arbeit des Verrats. Brecht lässt aber den Ausgang, überhaupt die Einzelschritte der Handlung im Versuchsstadium. Nur dass es zu keinem guten Ende kommen sollte, stand wohl fest. Fatzer als Sujet aber konnte keine Fabel finden. Das zeigt sich an einer interessanten Auffälligkeit: Es gibt keine Instanz der Erzählung, wie sie in der Maßnahme konstruiert wird. Am Ende steht in beiden Fällen eine Liquidierung, doch sind im Fatzer anscheinend alle Beteiligten der Gruppe tot, sodass sich dramaturgisch die Frage nicht vermeiden lässt, wer überhaupt Träger der Erzählung sein könnte – der Chor der Toten als letztes und einziges Subjekt einer Fabel? Die Frauen? Keine Fabel-Perspektive wollte gelingen. Das zweite Problem: die Öffnung in die Theorie. So wenig der sauberen Aufteilung in Arbeitsphasen ganz zu trauen ist – es scheint klar, dass Brecht um 1928/29 darauf verfiel, den Komplex Fatzer in Kapitel aufzuteilen: „Geschlechtskapitel“, „Todeskapitel“, „Lähmende Gesichte“ und „Zertrümmerung der Anschauungen durch die Verhältnisse“. Das parataktische Nebeneinander, das an die Stelle einer hypotaktischen Teleologie der Fabel tritt, zeigt an, dass nicht nur die Erzählform der Fabel, sondern das Erzählen selbst, das zur Fabel führen kann, in die Krise geraten ist. Aus dem Plot wird ein Tableau thematischer Abhandlungen oder eine Reihung oder Schautafel von Gesten. Damit dringt, was man Theorie nennen könnte, in die Praxis des Theaters ein. Was in Brechts „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“ immer als Erneuerung und Destruktion des Dramatischen am Horizont stand, wird jetzt zur Unmöglichkeit einer „ästhetischen“ Abschließung. Die Grenze, die den ästhetischen Bereich gegen den theoretischen abschirmt, wird durchlässig. Theater erscheint als Szene und als sprachlich-rhythmisch skandierter Denkprozess. Ebenfalls in die späteren Arbeitsphasen fällt die Ergänzung der Spielszenen, die Brecht das „Fatzerdokument“ nennt, durch den „Fatzerkommentar“. Judith Wilke hat gezeigt, dass im Fatzer-Material die Unterscheidung von Dokument und Kommentar nicht etwa die eines

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Primär- und Sekundärtextes sein kann, die Texte vielmehr „als eine Art diskontinuierlicher Umschrift des Fatzer-Stoffs auf dem anderen Schauplatz der Theorie“1 verstanden werden müssen. Es ist ein Irrtum, wenn die Herausgeber der Frankfurter und Berliner Brechtausgabe glauben, Brecht habe mit dem Kommentar einen „Rahmen“ für Fatzer schaffen wollen. Auch wenn er einmal an Helene Weigel schreibt, er baue noch immer am „Rahmen“ herum, geht es um die Demontage jedes sichernden Rahmens. Die Kommentare werden gleichberechtigt mit dem Dokument oder selbst Teil des Dokuments. Es erhellt aus diesem Prinzip, warum, was ja zunächst verwundern muss, Brecht so oft betont, dass die Kommentare, ihre Lehren nicht etwa dazu dienen sollen, das Gespielte autoritativ zu deuten, sondern dazu da sind, kritisiert und überwunden zu werden. Sie sind nicht das letzte Wort von außen (und oben) über das Spiel, sondern dessen Bestandteil und also von keiner Autorität gedeckt. Dass damit das tradierte Verhältnis von Vorgang und Auslegung, Darstellung und Deutung des Dargestellten überhaupt zerbricht, wird mehrmals deutlich. Ein Beispiel kann die Komplexität der Fragen verdeutlichen: „Wenn einer am Morgen einen Verrat ausüben will, dann geht er am Morgen in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der ein Verrat ausgeübt wird. Wenn einer abends essen will, dann geht er abends in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der gegessen wird.“ Man beachte, dass es nicht etwa heißt, man gehe erst – zum Beispiel „morgens“ – ins Pädagogium, um den realen Verrat – den man dann (zum Beispiel „abends“) ausüben will – vorher zu üben. Nein: das „Aus-Üben“ wird aus seinem mentalen Status („Wollen“) in physische Handlungen, in eine Szene hinausgesetzt! Das hier genannte Durchspielen, das man sich als Spiel mit anderen zusammen vorzustellen hat, hat den Sinn einer Statusmetamorphose des Handelns anzuzeigen dergestalt, dass – ebenso wie im Begriff „ausüben“ – darin die szenische Wiederholung vom singulären Akt gar nicht mehr klar zu trennen ist. Theater „sagt“ also gar nichts anderes und sagt überhaupt nicht mehr als das „Reale“, sagt es auch nicht vorher, es „bringt nichts“ im Sinne eines Lernens neuer mentaler Einsichten. Es stellt vielmehr eine Übersetzung des Mentalen ins Gestische her. Darum können die zitierten Sätze das Theaterspiel geradezu als Supplement des „realen“ Tuns erscheinen lassen: „wenn einer … will, dann geht er … und spielt durch“. Hier ist, dies nur am Rande, die Theorie des Gestus zu situieren – nicht etwa als sinnlich-körperliche Darstellung einer sozialen „Bedeutung“, sondern als gestische Darstellung der Offenheit von Sinn. Was Brecht am Gestus anzog, war seine letztendliche Rätselhaftigkeit, nicht das, was ihn anderen theatralen oder diskursiven Verfahren anähnelt.

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„Um seine Gedanken zu ordnen, liest der Denkende ein Buch, das ihm bekannt ist. In der Schreibweise des Buches denkt er.“ Das ist das Lesemodell des Theaters. Man darf übersetzen: „Um sein Denken des Politischen zu ordnen, spielt das Publikum sprachlich und gestisch einen theatralen Vorgang mit und durch, der ihm schon bekannt ist. In der Art und Weise der gestischen und sprachlichen Darstellung des Vorgangs denkt es.“ Worum es geht: mit dem Theater zu lehren, aber als Inhalt der Lehre die Unmöglichkeit der Lehre zu artikulieren. Sie erfahrbar zu machen heißt aber nicht etwa, diese Unmöglichkeit ihrerseits wieder als Lehre zu fassen. In einer anderen Passage, die das Verhältnis von Durchspielen und Verstehen betrifft, unterscheidet Brecht solche Anleitungen für die Spieler, die die theatrale „Darstellung“ betreffen, von solchen, „die den Sinn und die Anwendung des Dokuments“ betreffen. Es verblüfft, mit welcher Schärfe er dabei der Darstellung absoluten Vorrang vor dem Sinn gibt. Das Studium von Anleitungen zum Sinn wäre, heißt es, sogar „gefährlich“ ohne das Studium der Anleitungen zur Darstellung. Das Spiel ist absolut primär gegenüber dem Verstehen. Kein Sinn also, der zur Darstellung kommt, sondern Performanz, die Sinn erzeugt, kein Theater im sichernden Rahmen, sondern eines, in dem der Sinn spielend allererst erfunden wird. Das Lehrstück ist wie eine Schreibfläche, die, gleichsam leer, darauf wartet, dass die Nutzer sie beschreiben. Das Lehrstück ist, radikal verwirklicht, buchstäblich, ein Leerstück. Fatzer handelt von einer antizipierten Revolution. Es fällt aber auf, dass Brecht, der die Revolution wünschte und für denkbar hielt, diese Revolution als Bild nicht gestalten mochte. Es stellte sich ihm der Vorgang der Umwälzung vielmehr in der Figur der Desertion dar, als buchstäbliches „Sich-Absetzen“, als Ablassen, Nicht-mehr-Machen, Unterlassen. Das Politische scheint nur als ein Aufhören und eine Unterbrechung fassbar. Man denke an Benjamins Darstellung des Generalstreiks als Figuration einer Unterlassung von Handeln als das einzige rein revolutionäre Handeln.2 Schon in Trommeln in der Nacht ist der Rückzug von der Revolution die subjektiv einzig erfahrbare Realität davon, „Weggehen“ die eigentliche Wirklichkeit des Tuns. Das Grundmodell der Desertion hat fast zwingend eine Dramaturgie des „Zwischen“ zur Folge. Die Deserteure befinden sich zwischen allen Lagern, in einem Niemands- oder Keunerland. Es liegt nahe, dass unter diesen Umständen der Hauptinhalt und Grundgestus des Fatzer-Stücks – das Warten wird. Die Desertierten warten auf die Revolution, das Kriegsende in einem für sie rettenden Sinn. Fatzer wartet auf Unterstützung durch andere Soldaten. Die anderen warten auf Fatzer, das ist ihre Haupttätigkeit. Sein Ausbleiben ist der Kern von allem: „Warum, Fat-

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zer, bist du nicht gekommen, wie’s ausgemacht war?“ Brecht hat hier ein ideales Terrain gefunden für die Dramaturgie des „A-Thetischen“, wie man mit Nikolaus Müller-Schöll sagen kann. Tun ist Desertieren, die Handelnden sind Wartende, das eigentliche Thema des Theaters wird der Zerfall – wie nämlich die vorläufig noch gegebene Einheit der vier Deserteure zerfällt. Angesichts derart verschärfter und bewusst zugespitzter Probleme der Darstellung stehen ersichtlich alle Grundfragen des Theaters auf dem Spiel. Zumal um die „dramatische Kollision“, Hegels Begriff für die Grundstruktur des Dramas aus dialektischem Konflikt und Lösung, steht es in einem solchen Modell nicht gut. Nicht eine Antwort, wohl aber eine weitgetriebene (und aktuell gebliebene) Problematisierung der dramatischen Form des Theaters ergibt sich aus der Analyse des „gescheiterten“ Fatzer und zumal aus dem Blick in Brechts Werkstatt. Während zu Beginn ein noch dramatisch gedachtes Gegeneinander zwischen dem rationaleren und auf Gemeinschaft bedachten Koch und dem anarchischen Egoisten Fatzer besteht, verliert sich am Ende diese Konfrontation immer mehr, wie das Dialogische überhaupt. Als Koch im Lauf der Arbeit mehr und mehr zum Bild des Funktionärs avanciert und den Namen Keuner erhält, schreibt Brecht keine Konfrontationen mehr, sondern nur noch Skizzen dazu. Die dramatische Kollision zerfällt in Chöre, Einzelstimmen, Monologe. Artikuliert werden radikale Grenzpositionen, die sich aber, das ist der springende Punkt, wohl auch in Brechts eigener Wahrnehmung einander auf unheimliche Weise annäherten. Der Nihilismus ist der bedrohliche Schatten alles nicht-thetischen Schreibens, und er dringt bei Koch ebenso wie bei Fatzer durch. Radikaler Wunsch nach Ordnung, Richtigkeit, rationaler Praxis hier, radikaler Egoismus dort begegnen sich im Nichts. Eine der letzten Reden von Koch gegen den egoistischen Fatzer klingt wie dessen aggressiv gewordener Spiegel: „So wollen wir ihn also umbringen, damit / Die nach uns kommen eine Warnung haben? – Nach uns kommt nichts. Aber / Solang wir da sind, geschieht alles / Richtig. / Das soll zu niemandes Nutzen sein / Daß ich ihn erschlag, weil er mir zuwider ist / Und ich ihn sehn will ausgetreten / Und da wo sein Gesicht war / Der Dreck von meinem Stiefel.“3 Oder: So Soll dieser Fatzer auch kein besserer oder schlechterer Fatzer Sein, sondern es soll Kein Fatzer mehr sein Damit auch dieser Erd ein Zeichen ist Errichtet in Kümmerlichkeit, drum statt des Steins

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Von riesigem Umfang nur ein Loch geworden Aber doch ein Zeugnis dafür, daß auch In finsterer Zeit schwarz schwarz war und weiß weiß.4 Es gibt kein Drama Fatzers. Aber es muss auffallen, dass sich Brecht mindestens dreimal im Fatzer-Fragment auf das Modell der antiken Tragödie bezieht. Plötzlich lautet eine Notiz: „Die Tragik des Schlußteils ist eine dialektische“. Ebenso unvermittelt taucht die Formulierung auf „Vieles Gewaltige lebt“ – offenkundig eine Assoziation an das berühmte Chorlied über den Menschen in der Antigone des Sophokles. Tatsächlich lässt sich Fatzer als eine moderne Antigone-Version lesen. Gesetz und Ent-Setzung stehen sich hier wie dort asymmetrisch gegenüber, das „Gewaltige“ oder Ungeheure, Unheimliche des Menschen situiert sich genau in diesem Zwiespalt, das „findige“ Wesen par excellence zu sein, aber am selbstgesetzten Nomos der Polis scheitern zu können. Brecht vermerkt, die Tragik habe ihre Wurzel darin, dass der „Typ“ Fatzer alle „in Privates“ verwickle, zumal auch in den Streit um die Frau. Antigone war es, die den Staat in scheinbar „Privates“, die Familie als vor- und außerpolitischen Konfliktbereich5 verwickelt, das sich indessen als reale Basis der Polis erweist. – Im Bruchstück „Fatzer, komm“ findet sich die Stelle: „Der Geschlagene entrinnt nicht / Der Weisheit. / Halte dich fest und sinke! Fürchte dich! Sinke doch! Auf dem Grunde / Erwartet dich die Lehre“. Das wiederum ist nichts anderes als eine Version des Aischyleischen pathei mathos (durch Leiden lernen), und die Ermunterung „Fürchte dich!“ zitiert die tragische Formel „Furcht und Mitleid“ herbei und zielt im Sinne der Phobos-und-Eleos-Formel auf eine Katharsis. Das antike „Waschritual“, wie Brecht gern schrieb, hat aber hier eine besondere politische Pointe. Der Text fährt fort: „Zu viel Gefragter / Werde teilhaftig des unschätzbaren / Unterrichts der Masse. / Beziehe den neuen Posten.“ Die neue Katharsis bedeutet, dass der zu viel Gefragte keine Antwort mehr geben muss. Vielmehr erhält er selbst Unterricht als Masse-Mensch. In dieser Masse geht es kaum mehr ums Richten, sondern um ein Unter-Richten. Wenn man das letztere wörtlich als ein „Weniger“ als Richten, als Schwundform von Richten lesen darf, so ist das Resultat dieser Katharsis, nach welcher Richten und Richtung nicht länger vorherrschen, eine radikal veränderte Position, der „neue Posten“, von dem man nichts anderes wissen kann, als dass er eben „neu“ ist – pour trouver le nouveau. Furcht und Sinken gehören zu diesem, mit Karl Heinz Bohrer gesagt: „Schrecken in der Erscheinung“. Der nichts als neue Posten ist aber der Posten, die „Position“ des Neuen selbst, die Geste oder Haltung ein Halt des Alten, Position des Begin-

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nens, des Von-vorn-Anfangens. Benjamin nannte Brecht nicht grundlos den „Spezialist des Von-vorn-Anfangens“. Aus den erörterten Schwierigkeiten erwächst die Besinnung Brechts auf die Nähe seines Theaters zum antiken. Der Chor, die Katharsis, die Abdrift vom Prozess des Richtens zeugen davon. Warum gelang dies bei der Maßnahme, nicht aber mit Fatzer? Zunächst besteht das Eigentümliche der Konstruktion im ersten Falle darin, dass der Inhalt des Vorgefallenen, über den ein entscheidendes Urteil abgegeben werden soll, selbst – wiederum eine Entscheidung und ein Urteil ist: die höchst praktische Beurteilung des jungen Genossen, der sich, so scheint es, „falsch“ verhielt, sodass die anderen Agitatoren für ihn die Konsequenz aus seinem Versagen gezogen, ihn getötet und unkenntlich gemacht haben. Im Stück spielen die verbliebenen Agitatoren das Vorgefallene vor, damit der Kontrollchor ein Urteil über ihre Maßnahme abgeben kann. Das Resultat lautet – nicht ganz unerwartet – „wir sind einverstanden mit euch“. Da der junge Genosse selbst, wie es heißt, sich „einverstanden“ erklärt hatte, sind die nachträglich Urteilenden sozusagen nur eine Verlängerung seines eigenen Denkens. Jedenfalls auf den ersten Blick. Auf den zweiten hingegen ist in der Maßnahme, so kann man sagen, die Unterhöhlung des Urteils durch das Fragwürdige des verdoppelten Einverständnisses in den Stoff verlegt, sodass in einer der Fassungen sogar ausdrücklich bestritten werden kann, es handle sich bei der Liquidierung des jungen Genossen überhaupt um ein Urteil – nein, es war nur „eine Maßnahme“. Da Brecht für Fatzer das Ritual der gedoppelten Verhandlung und Urteilsfindung nicht gebrauchen will, fehlt jener Rahmen, der das Lehrstück auf die dramatische Theaterform, das „epische Theater“ zurückbezieht. Dieses Scheitern wird jedoch produktiv, weil es in einer noch grundsätzlicheren Weise den Theaterprozess insgesamt neu zu denken zwingt. Auf den ersten Blick wird auch in Fatzer das Geschehene, nicht anders als in der Maßnahme, berichtet, um es einer Entscheidung und Beurteilung zuzuführen. Aber es gibt gravierende Unterschiede, die in dem folgenden Text zutage treten: ZWEI CHÖRE Aber als alles geschehen war, war da Unordnung. Und ein Zimmer Welches völlig zerstört war, und darinnen Vier tote Männer und Ein Name! Und eine Tür, auf der stand Unverständliches. Ihr aber seht jetzt

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Das Ganze. Was alles vorging, wir Haben es aufgestellt In der Zeit nach genauer Folge an den genauen Orten und Mit den genauen Worten, die Gefallen sind. Und was immer ihr sehen werdet, am Schluß werdet ihr sehn, was wir sahn: Unordnung. Und ein Zimmer Welches völlig zerstört ist, und darinnen Vier tote Männer und Ein Name. Und aufgebaut haben wir es, damit ihr entscheiden sollt Durch das Sprechen der Wörter und Das Anhören der Chöre Was eigentlich los war, denn Wir waren uneinig.6 Dieser Text verdient einen ausführlichen Kommentar. Die Überschrift „Zwei Chöre“ kann bedeuten, dass Brecht zwei Chöre im Sinn hatte, nur einen von beiden tatsächlich ausformuliert hat, sie kann aber ebenso zwei Sprechpositionen oder Stimmen meinen, wofür die Zweiteilung, die Refrain-artige Wiederkehr der Schluss-„Szene“ des Ganzen (das völlig zerstörte Zimmer) spricht. Auch gibt es eine gewisse Zweiteilung der Ebenen des Sehens und der Sprache. Der Text (er ist der späten vierten Arbeitsphase zugeordnet) manifestiert aber zugleich die Tendenz von Brechts Arbeit am Fatzer zum Chorischen. In dieser letzten Phase der Arbeit nimmt gegenüber den noch mehr auf epische Dramaturgie zielenden früheren Szenen die Bedeutung der Chöre zu, daneben die Monologe vor allem Fatzers. Gleichzeitig treten die Kommentare hinzu. Die fortwährende Neukonzeption der Dramaturgie des Fatzer führt, so kann man resümieren, vom Dialog der Kollision weg zu einer mehr musikalischen Dualität und Polylogie von Stimmen. Zwischen Kommentar, Monolog und Chor besteht aber die dramaturgische Verwandtschaft, dass sie alle gleichsam aus der Fiktion „heraus“ sprechen. Wenn bei Brecht sonst, auch im epischen Drama, der durch epische Erzählformen gerahmte Dialog doch immer noch das wesentliche Darstellungsprinzip bleibt, so ist die Dominanz der Formen des Kommentars, des Monologs und des Chors geeignet, das Modell des Dramas als einer Mimesis von Handlung in Dialogform überhaupt zu zerrütten – so wie sie selbst bereits Index dieser Zerrüttung ist. Brechts Arbeit am Fatzer-Stoff hat ihn an die Grenze geführt, wo das Ästhetische sich nicht nur von der Theorie, sondern auch vom Ritual abhob. Der Chor verweist auf das Modell

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der antiken Tragödie in dem präzisen dramaturgischen Sinne ihrer Charakteristik als Zeremonie und Ritual. Die Chöre sind Indiz einer Darstellungsweise, in der das Vorgefallene nicht als abgeschlossenes singuläres Ereignis in seiner aufs Ende einer Fabel zielenden Logik dargestellt und aufgeschlüsselt wird, sondern als ein Akt der Wiederholung vorund mit einer Gemeinde ausgestellt und durchgespielt wird. Brechts Theater des Gestischen (das ich mir aus seiner Verschweißung mit seinem Theater der Fabel herauszulösen erlaube) sollte, nahe dem antiken Vorbild, ein Theater sein, in dem mehr als die sogenannte Handlung, also das sinnerfüllte, kausal verursachte und teleologisch gerichtete Tun die Form der Zeremonie beherrschend wäre. Eine Notiz Brechts7 besagt, dass die Schauspieler, ernst wie Akrobaten, in weißen Arbeitsanzügen spielen könnten – „dann können die Vorgänge einfach wie Zeremonien absolviert werden. Zorn oder Reue als Handgriffe. Der Furchtbare darf überhaupt keine Figur sein sondern ich oder ein anderer. Wie jeder eben in der Lage wäre“. Die Spieler werden mit einer Fußballmannschaft verglichen, in der jeder ein anderes Zentrum hat als sich selbst – alle nämlich denken nur an das „Ganze“ – oder genauer: Es scheint, als ob sie an anderes, nämlich an das Ganze dächten. Es ist nicht nur eine verblüffende Nuance, die das Modell „Vorspielen zum Zwecke der Beurteilung“ im Fatzer von der Maßnahme unterscheidet. „Und was immer ihr sehen werdet, am Schluß werdet ihr sehn, was wir sahn: / Unordnung. Und ein Zimmer / Welches völlig zerstört ist […]“. Hier tritt an die Stelle einer dramatischen Explikation nicht die Episierung, sondern das Ritual einer Wiederholung. Sie erklärt nicht und mündet stattdessen in einem Tableau, dem buchstäblich und ausdrücklich Unverständlichkeit einbeschrieben ist – so wie ein Name, der ominös und rätselvoll bleibt. Im Namen welchen Gottes, welcher überwachenden Instanz, welches Protagonisten oder welchen Autors kann eine solche Szene der Verwirrung stehen? Es ist auffällig, wie sehr ihre Elemente (Chaos, Gewalt, Unordnung, zerstörtes Zimmer) jener anderen Szene ähneln, die Walter Benjamin in seinem Aufsatz über das epische Theater damals skizzierte: Das primitivste Beispiel [des epischen Theaters]: eine Familienszene. Plötzlich tritt ein Fremder ein. Die Frau war gerade im Begriff, eine Bronze zu ergreifen, um sie nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen, um nach einem Schutzmann zu rufen. In diesem Augenblick erscheint in der Tür der Fremde. „Tableau“ – wie man um 1900 zu sagen pflegte. Das heißt: der Fremde wird mit dem Zustande konfrontiert; verstörte Mienen, offenes

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Fenster, verwüstetes Mobiliar. Es gibt aber einen Blick, vor dem auch gewohntere Szenen des bürgerlichen Lebens sich nicht soviel anders ausnehmen.8 Die Vieldeutigkeit und Chaotik der Szene leitet über zu jener verblüffenden Nuance, die erst recht den Unterschied des Fatzer-Textes zur Maßnahme und die Distanz zu dem, was dort noch als Wissen, Verstehen und Urteil vorstellbar war, erkennen lässt. Es wird eigentlich in diesem Theater an der Grenze des Lehrstückbereichs überhaupt nicht mehr eindeutig gefragt nach einer möglichen Entscheidung im Sinne einer Bewertung des Vorgefallenen! Vielmehr wird, wie man liest, alles dargestellt, „damit / Ihr entscheiden sollt / Durch das Sprechen der Wörter und / Das Anhören der Chöre / Was eigentlich los war, denn / Wir waren uneinig.“ Indem die Worte wiederholt – und zugleich in gewisser Weise jetzt (im Theater) zum ersten Mal – gesprochen und die Chöre gehört werden, stellt man überhaupt erst den Sinn und sogar den Inhalt der Ereignisse fest, nämlich „Was eigentlich los war“: was geschehen ist, was die Logik des Geschehenen/Gesehenen war, aber auch: was „lose“ war, kaputt und nicht mehr zusammenhing. Über all das soll jetzt erst entschieden werden. Denn man weiß es nicht, die Beteiligten selbst „waren uneinig“ – in den beiden Bedeutungen, dass sie im Geschehen uneinig waren (die Fatzer-Handlung ist die Geschichte der Uneinigkeit des Kollektivs) und dass sie sich über die Auslegung der Geschehnisse uneinig waren. Buchstäblich würde dann aufgrund seines, wie man unterstellen muss, extrem auslegbaren, vieldeutigen Sprach- und Gestenmaterials das Stück erst entstehen im Moment seiner Verdopplung, seiner Rezeption. Leerstück ist das Stück auch, weil es geschaffen wird erst im Ereignis der Darstellungszeremonie, die gemeinsam mit dem Publikum vollzogen wird. Damit ist der Raum eines Theaters jenseits (des Primats) der Repräsentation eröffnet. Theater gibt sich als Ritual und Ereignis, es verabschiedet seine von Wissen, Debatte, Fest, Schule usw. getrennte Verfassung als ästhetischer Fiktion überhaupt. Es stellt die jeweils einmalige Umsetzung eines Modells für einen nicht wiederkehrenden Moment dar und realisiert damit eine Untrennbarkeit von Wiederholung und Einmaligkeit. Zugleich ist der Text der Möglichkeit einer nur kommentierenden Auslegung beraubt, er wird – auch als Dokument – erst geschaffen durch den und in dem Moment des Kommentars. Bei Kafka gibt es die bekannte Wendung, dass wer die Gleichnisse erklären will, sie nicht verstanden hat. Das Gleichnis in einer Erzählung geht der Erzählung wohl voraus, wird aber doch erst durch sie existent. Seine Erklärung könnte nur auf Wiederholung hinauslaufen. Der eigentlichen geht die uneigent-

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liche „Bedeutung“ voraus. Was „eigentlich“ los war, wird darum erst los sein im Moment des Theaters. Nachsatz: Die Gefahr seiner Theaterutopie, die Brecht nicht entgangen ist, bestand darin, dass der Entzug der Thesis das Theater, seine Artikulation, dem Missbrauch, der Manipulation und der Ausfüllung der Lücke durch autoritäre Setzung offensteht. Auf dieser Ebene, nicht in der vordergründigen und immer überschätzten Didaxe ist sein Theater, sind dessen Grenzen zu befragen. Es lässt sich ein obskurantistischer, irrationalistischer und terroristischer Gebrauch denken, den man von dieser Ästhetik machen kann. In den Debatten um die Lehrstücke hatte Brecht selbst genug Gelegenheit, sich davon zu überzeugen. Wie immer reagierte er mit verschiedenen Weisen des Lavierens. Lieber aber nahm er in Kauf, dass die Maßnahme als Verherrlichung des Kadavergehorsams verstanden werden konnte, als die Gefahr, Denken und Verhalten darin zu bestätigen, in wohligem Schauer tragische Grundverhältnisse passiv zu beweinen. Lieber noch erweckte er den Anschein autoritärer Setzung als den einer bequemen Suspension praktischer Konsequenzen. In dieses Grenzterritorium desertiert, dachte er in immer neuen Ansätzen sein Theaterkonzept weiter auf eine Performanz hin, in welcher der Gestus der Apokalypse, der enthüllten Wahrheit keine Geltung mehr haben sollte. Vielmehr könnte Benjamins Formel, Wahrheit sei nicht Enthüllung, die das Geheimnis zerstört, sondern Offenbarung, die ihm (dem Geheimnis) gerecht wird, Leitfaden einer Theaterpraxis des Gestischen sein, die Brecht im Fatzer visionierte, die aber aus nachvollziehbaren politischen Erwägungen und sehr praktischen Umständen heraus nur Entwurf bleiben konnte, ein radikales Fragment, das noch immer (weiter) zu denken ist.

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Wilke, Judith: Brechts „Fatzer“-Fragment. Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar, Bielefeld 1998, S. 10. Benjamin, Walter: „Zur Kritik der Gewalt“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1999, S. 179–204. Brecht, Bertolt: Stücke 10: Stückfragmente und Stückprojekte, Teil 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 459. Ebd., S. 460. Vgl. Judith Butlers Konzept der vorpolitischen Opposition in: dies.: Antigones Verlangen, Frankfurt a. M. 2001. Brecht: a. a. O., S. 477. Ebd., S. 691. Benjamin, Walter: Versuche über Brecht, Frankfurt a. M. 1966, S. 26.

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Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui in der Einrichtung des Berliner Ensembles war eine außerordentliche Aufführung, sie bleibt ein Monument der neueren deutschen Theatergeschichte. Seit der Premiere 1959 blieb sie bis weit in die 1970er Jahre hinein auf dem Spielplan und wurde 532 Mal gespielt. Zu ihrer singulären Präsenz in beiden Teilen Deutschlands kam eine breite internationale Rezeption. Es handelte sich beim Berliner Ensemble um das Brecht-Theater schlechthin, das freilich schon wenige Jahre nach dem Tod des Übervaters auf der Schwelle zu seiner eigenen Museumswerdung stand. „Einar Schleef hat mit Tragelehn am Berliner Ensemble ‚Katzgaben‘, ‚Frühlingserwachen‘ und ‚Fräulein Julie‘ inszeniert. Das war die einzige Zeit nach Brecht, in der das Berliner Ensemble lebendig war. Bei Wekwerth wurde es ein geschlossener Raum, in dem Kirchengeschichte stattfand.“1 Nur Ruth Berghaus versuchte in den wenigen Jahren ihrer Intendanz, „aus dem Museum wieder ein Theater zu machen“, wie Heiner Müller bissig notierte.2 Es stellt sich die Frage, ob man in dieser Inszenierung neben ihren unbestreitbaren Qualitäten, die sich noch heute sogar in der Aufzeichnung übertragen, auch schon die Spuren des Verfalls erkennen kann, den Anfang vom Ende einer Theaterästhetik, die verarbeitet, aber auch überwunden werden musste, um das Feld für das zeitgemäße neue Theater in seinen unterschiedlichen Spielarten freizumachen. Die Aufführung steht gleichsam auf der Schwelle zwischen dem Gestern des Brecht-Theaters und dem Heute des im mehrfachen Sinne post-brechtschen Theaters, sie bündelt noch einmal die großen Qualitäten des Alten und lässt zugleich Züge erkennen, von denen sich das Theater danach verabschieden musste. Zum Problematischen der Aufführung gehört zweifellos, dass man in und hinter der Inszenierung immer wieder den Gestus eines allzu sicheren Wissens fühlt, ein allzu sehr von sich überzeugtes Meinen der Regie und der Spieler. Damit teilt die Aufführung das Zwiespältige der Brecht-Tradition selbst. Unverkennbar machte es sich die Regie mit dem erhobenen – und seinerzeit nur allzu deutlich auf den Westen weisenden – Zeigefinger3 zu leicht. Auf der anderen Seite wurde hier immerhin das Brecht-Theater als Körper- und Gestentheater, als Spiel und nicht ohne Elemente des Albernen und Absurden praktiziert. Die Aufführung lebt am Ende nicht von der

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allzu durchsichtigen Lehre – „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ –, sondern von der aufklärenden Komik und dem zweckfreien Spaß an der Performanz. Das ist vor allem der singulären Leistung des Darstellers Ekkehard Schall zu danken. Seine Verkörperung des Ui ist extremes Körpertheater. Sie hat alles, was zu einer Performance gehört. Die exzessive, doch disziplinierte Beweglichkeit, die teilweise akrobatische Finesse, die Hals- und Kopfbewegungen, die Parodie der Hitlerdiktion … Wie er mit einer Drehung und Wendung des Kopfes, des Körpers ganze Geschichten erzählt, indem er an einem Mitspieler hochoder herunterblickt, wie er auf einem Sessel balancierend wie ein Profi des Zirkus agiert, diese chaplineske Karikatur – das begründete mit Recht Schalls Weltruhm in dieser Rolle. Ich habe die Aufführung 1965, 1966 und 1967 gesehen, zuerst, als ich aus Bremen mit einer Schulexkursion in das noch zweigeteilte Berlin kam und begeistert das intelligente Brecht-Theater bewunderte, später noch einmal in den 1970er Jahren. Peter Palitzsch, einer der Regisseure, der einige Jahre zuvor im November 1958 die Uraufführung von Arturo Ui in Stuttgart herausgebracht hatte, mit dürftigem Erfolg, war mir als Brecht-Schüler ein Begriff, Manfred Wekwerth nicht. Wir Schüler, kurz vor dem Abitur, kamen aus einer selbst politisch lebendigen Stadt in das geteilte Berlin, alles war abenteuerlich, in der Berliner Luft lagen Protest und Auflehnung gegen die Adenauer-Republik, die Betonanzüge, die Enge der Familie, die politische Unempfindlichkeit. Man dürstete nach einem Theater der Intelligenz, der politischen Schärfe, der Auseinandersetzung mit der Nazizeit, aber auch mit einer lebendigen Atmosphäre. Und da landeten wir im Arturo Ui, ohne dass mich damals das Besserwisserische der Aufführung gestört hätte oder mir auch nur aufgefallen wäre – es entsprach nur zu gut meinen eigenen politischen Meinungen. Was mir an der Aufführung in den 1960er Jahren enorm gefiel, war die schiere Komik, die das Amüsement erlaubte und den Zuschauer aus diesem Amüsement immer wieder in das Erschrecken und die Selbstkritik zurückholte. Die schaurige Komik des Stücks, das in der amerikanischen Übersetzung The Gangster Play We Know hieß, das Zirkus- und Jahrmarkthafte stellt sich in der Rückschau dar als ein frühes Beispiel der Einbeziehung des Popkulturellen, wie man es im Theater heute oft dort findet, wo es wirklich lebendig ist, bei René Pollesch etwa. Theater muss Spiel sein und bleiben, sein Albernes behalten dürfen, den Schatten des Unernstes, auch und gerade wenn es das Ernsteste verhandelt. Ekkehard Schalls Ui kam von Chaplin her, war an Der große Diktator geschult. Man hatte am Berliner Ensemble den Film und Chaplins Spiel sehr genau studiert. In

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Brechts Sinne war es, in Hitler ebenso wie anderen Nazigrößen gerade „keine großen politischen Verbrecher, sondern die Verüber großer politischer Verbrechen“4 zu zeigen, also die Aura heimlicher Bewunderung für die Größe im Bösen gänzlich zu demontieren. Schall selbst notierte dazu: „Mir kam es darauf an, Ui in seiner gesellschaftlichen Prämisse als Kleinbürger zu zeigen, der in einer unangenehmen Lage seinen erlernten Beruf Räuber erweitern muss, um zu überleben und zu reüssieren. Das Berufsbild Räubertum verwandelt sich in das Berufsbild politisches Gangstertum.“5 Die Rolle gewann ihm sogleich Anerkennung, sicherte ihm eine Art ersten Platz unter den DDR-Schauspielern, Bewunderung im Westen. Beim renommierten Festival Theater der Nationen in Nancy gewann die Aufführung den ersten Preis. Sie erregte sogar – unwahrscheinlich, aber wahr – die Bewunderung der englischen Kritik, die sich überschlug in Hymnen auf einen „histrionic insight which earns our profoundest admiration“ und eine „strange Chaplinesque quality“.6 Formal betrachtet, ist die Dramaturgie des Stücks durch eine „Doppelverfremdung“, so Brechts eigener Ausdruck, gekennzeichnet: Gangstermilieu und großer klassischer Stil tauchen beide die Geschichte in fremdartiges Licht. Es handelt sich um ein „Parabelstück“ – ebenso wie Die Rundköpfe und die Spitzköpfe und Turandot –, nicht um ein Schlüsselstück, in dem man nur die historischen Figuren erraten soll, obwohl diese mehr als leicht erkennbar sind: Ui – Hitler, Giri – Göring, Givola – Goebbels, Roma – Röhm. Es geht, wie der Titel sagt, zunächst mehr um die Gangster als um die deutschen Nazis. Brecht war trotz des direkt politischen Einsatzes sehr daran gelegen, das „Gangster Play We Know“ nicht einfach als allegorische Einkleidung der Politik zu fassen, sie sollte ein Eigenleben haben, als solche verstanden und genossen und nicht in jedem einzelnen Zug auf die politische Triftigkeit verpflichtet werden. Lustig ist Eislers Bericht über die häufigen Kinobesuche im amerikanischen Exil, die Brecht und er unternahmen. Sie sahen vor allem Gangsterfilme, „um, wie wir uns beide lügnerisch versicherten, soziale Studien zu betreiben“.7 Schon von seiner ersten Amerikareise 1935/36 hatte Brecht allerlei Materialien über Gangster mitgebracht, er kannte Scarface und Little Caesar, wusste von Al Capones Gemetzel unter einer konkurrierenden Bande (im Februar 1929 in St. Valentine), die er im Arturo Ui mit dem Röhm-Putsch überblendet, Hitlers Abschlachtung seines Freundes Ernst Röhm, Ernesto Roma im Arturo Ui, und der SA-Führer. In dieser Szene sieht man gut die Inspiration durch Slapstick und die Gangsterfilme. Die Niederschlagung des sogenannten Röhm-Putsches, das Massaker in einer Garage, wirkt wie eine Filmszene. Brecht verstand

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die Zusammenhänge zwischen Prohibition, Korruption, staatlicher Verwaltung, Polizei und Gangsterwesen. Und er brachte all dies mit dem Kapitalismus in Zusammenhang, hatte, marxistisch belehrt, Räuber und Bürger als einander nicht fremd, sondern wesensverwandt gedacht. Schon aus der Dreigroschenoper ist ja seine Pointe überliefert: „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank.“ Brecht liebte, wie man weiß, schon in der Jugend auf dem Augsburger Jahrmarkt, dem Plärrer, die Moritatensänger, die in grellfarbigen Bildern und hölzernen Versen „wahre“ Schauergeschichten zum Besten gaben. Arturo Ui sollte nach diesem Vorbild eine „Jahrmarktshistorie“ sein. Damit griff Brecht also zurück auf alte Volkstheatertraditionen, auf Bänkelsang und die Vorführung sensationeller Monstrositäten. Die Bühne der Aufführung stammt von Karl von Appen, ein wichtiger Inspirator für Einar Schleef, von Brecht hochgeschätzt und für sein Konzept der „Bühne des Konflikts“ bekannt geworden. Er gibt im ersten Teil die Jahrmarktsbude und dann nach der Machtergreifung das Zirkuszelt. Die schräge, zwischen Jahrmarkt, Sensation und Schreckensbild changierende Musik schrieb Hans-Dieter Hosalla. 2

Ein Prolog kündigt im Stil eines Jahrmarktschreiers die „große historische Gangstershow“ an wie ein Panoptikum, wobei die Attraktionen, Dogsborough, Givola, Giri und Arturo Ui jeweils hinter Schaukästen, in denen ihre historischen Vorbilder als Wachsfiguren stehen, hervortreten: Jahrmarkt, Glühbirnen einer Schaubude, Zirkus, Kabarett und Monstrositäten-Show in einem. Die ersten Szenen zeigen die Voraussetzungen für Uis/Hitlers Aufstieg. Es gibt eine ökonomische Krise. Die Kapitalisten können ihren Karfiol (hoher Stil für Blumenkohl) nicht mehr absetzen – das ist die erste komische Reduktion der Weltwirtschaftskrise. Die Blumenkohlhändler brauchen Liquidität, bemühen sich um Staatshilfe. Dazu bestechen sie den ehrwürdigen Dogsborough/ Hindenburg und als dieser Weg zu Schwierigkeiten führt, müssen sie nolens volens einen „starken Mann“ damit beauftragen, die drohende Untersuchung zu einem für sie guten Ende zu führen. So kommt Ui nach längerer Zeit im Wartestand und – in Brechts Version – durch die Möglichkeit, Dogsborough zu erpressen, ins Geschäft. Zunächst lässt er gefährliche Zeugen ermorden, dann kommt seine Methode, das bekannte „rackett“ zum Zuge – also die organisierte Erpressung nach dem Motto: „Du willst doch, Karfiolhändler, deinen Laden nicht in Flammen aufgehen sehen, also vertraue dich gegen Zahlung eines Anteils unserem Schutz an.“ Das war bekanntlich die Geschäftsbasis der Gangster-Banden

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in den USA. Jeweils am Ende der Szenen gibt es Schrifttafeln, die die historischen Parallelen nachträglich und nicht im Vorhinein angeben. Der Krise „oben“ entspricht eine Krise unten: Die Gangster um Arturo Ui sind von Untätigkeit bedroht; es gibt Aussteiger (die freilich rasch liquidiert werden). Diese Kämpfe spiegeln die Differenzen innerhalb der Nazi-Bewegung zwischen einer eher proletarischen Quasi-Linken bei den Faschisten, etwa bei den Leuten um Röhm (die zum Teil womöglich wirklich an eine Art nationaler und sozialistischer Revolution glaubten), und denen, die die Macht suchten, um ein diktatorisches System von oben zu errichten, ohne an den Klassenverhältnissen etwas zu ändern. Man verfolgt nun, wie Ui mittels Erpressung und Gewalt politische Macht erlangt, sicher unter Verzerrung der historischen Tatsachen, und – die Szene ist einer der Höhepunkte der Aufführung – bei einem Schauspieler Unterricht im öffentlichen Auftreten nimmt. Hitler hat in der Tat, wie es scheint, bei einem in München bekannten Charakterkomiker namens Friedrich Basil Schauspielunterricht genommen. Verbürgt ist, dass er wegen seiner strapazierten Stimmbänder den Operntenor Paul Devrient zu Rate gezogen hat.8 Ein älterer Schauspieler des Berliner Ensembles, Siegfried Weiß, gab den Mimen mit der lächerlichen Grazie des alten Stils (bei Heiner Müller war es 1995 der alte Bernhard Minetti, der Martin Wuttke als Ui seine Lehren erteilt). Es handelt sich hier in mancher Hinsicht um eine Schlüsselszene des Stücks. Denn es bezieht seine Wirkung nicht zuletzt aus dem Zitat der Klassiker, ihrer Verssprache und einzelner Szenen. Die Gangster sprechen im klassischen Versmaß, verhüllen die schnödesten Absichten in großer Rhetorik, gehobenem Stil. So wird mehrfach Shakespeare, außer Julius Cäsar auch Richard III. und Macbeth parodiert und zitiert, Faust – besonders die Gartenszene – und Schiller. Auch der Usus des Endreims zum Abschluss von Szenen wird von Shakespeare übernommen, ebenso wie der Wechsel zwischen Verssprache und ungebundener Rede. Vor allem aber wird in der Schauspielerszene enthüllt, wie schrecklich ähnlich sich die große Theaterrhetorik und die Rhetorik der Politiker waren. Noch heute kann man bei Tonaufnahmen der Theatergrößen der 1920er Jahre erschrecken über die Ähnlichkeit mit den Hitlerschen Sprachgesten. Wie in der Dreigroschenoper findet man auch hier das Verfahren, dass Gesellschaftskritik und Kritik des Theaters des hohen Stils zusammenfallen. In einer Diskussion unter den Gangstern geht es um die sogenannte Natürlichkeit im öffentlichen Auftreten und im Theater, wobei Arturo Ui auf der Verführungskraft des künstlichen, klassischen Sprechens besteht:

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Givola: Aber so kannst Du nicht vor den Karfiolhändlern gehen! Es ist unnatürlich! Ui: Was heißt unnatürlich? Kein Mensch ist heut natürlich. Wenn ich gehe, wünsche ich, daß es bemerkt wird, daß ich gehe. […] Der Schauspieler: Ich denke, der Gang ist für Ihre Zwecke in Ordnung, Herr Ui. Was wünschen Sie noch? Ui: Das Stehen vor Leuten. Givola: Stell zwei kräftige Jungs dicht hinter dich und du stehst ausgezeichnet. Ui: Das ist ein Unsinn. Wenn ich stehe, wünsche ich, daß man nicht auf zwei Leute hinter mir, sondern auf mich schaut. Korrigieren Sie mich! Er stellt sich in Positur, die Arme über der Brust gefaltet. Der Schauspieler: Das ist möglich. Aber gewöhnlich. Sie wollen nicht aussehen wie ein Friseur, Herr Ui. Verschränken Sie die Arme so. Er legt die Arme so übereinander, daß die Handrücken sichtbar bleiben, sie kommen auf die Oberarme zu liegen. Eine minutiöse Änderung, aber der Unterschied ist gewaltig. Vergleichen Sie im Spiegel, Herr Ui! […] Givola: Nur, man könnt sagen: ’s wirkt Nicht angeboren. Es gibt Leute, die Da heikel sind. Ui: Selbstredend gibt es die. Nur kommt’s nicht an, was der Professor denkt Der oder jene Überschlaue, sondern Wie sich der kleine Mann halt seinen Herrn Vorstellt. Basta.9 Ekkehard Schall, Jahrgang 1930, geboren in Magdeburg, gestorben 2005, war von Brecht selbst als noch recht junger Mann 1952 ans Berliner Ensemble engagiert worden, ein hochbrillanter und bis zur Erschöpfung arbeitender Schauspieler, in vielen Rollen als Baal und Fatzer, als Azdak, Puntila, Galilei, auch als Brecht selbst im Messingkauf, memorabel als Coriolan und eben vor allem andern als Arturo Ui. Er war ein Star, ein „Hauptrollenspieler“ am Berliner Ensemble gerade in der Phase der Erstarrung dieses Theaters. Man mag sich bei seiner Darstellung manchmal fragen, ob er nicht zu wenig die eigene Position zur dargestellten Figur Ui/Hitler deutlich macht. Ich meine, der Vorwurf ist unberechtigt. Die Komik, die durch Lächerlichkeit tötet und die ernsten Momente des plötzlichen Erschreckens und der Nachdenklichkeit befanden sich in der Waage. Schall selbst wiederum notierte dazu:

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„Ui/Hitler ist (von sich aus gesehen) kein schlechter Mensch, er tut sein Bestes. Moralischer oder historisch bekannter Wert als Voraussetzung einer Darstellung ist ein Kunsttöter, so wirkungsvoll wie Liebestöter.“10 Heiner Müller schrieb am 13. Januar 1974 diese kleine Hommage an Ekkehard Schall: Als zum 532. mal auf der Bühne stand In der Rolle des Arturo Ui der Schauspieler Ekkehard Schall, verließ der von ihm porträtierte Adolf Hitler, mit Neugier auf die berühmte Darstellung (Deren Ruhm sich herumgesprochen hatte Unter den Toten sogar) heimlich sein Bunkergrab. Und reihte sich ein unter die Zuschauer im Berliner Ensemble Und es geschah, daß er nicht erkannt wurde Vor dem genaueren Abbild, sondern unbemerkt Kleiner und kleiner werdend zurückschwand in seine Versenkung So daß er genannt wurde von nun an Von den anderen Toten nicht mehr mit seinem Vorübergehenden Namen Adolf Hitler, sondern nur noch Arturo Ui.11 Es ist nicht uninteressant zu bemerken, dass die Aufzeichnung, die das DDR-Fernsehen von der Inszenierung vornahm, erst aus dem Jahre 1974 stammt! Man darf vorsichtig sagen, dass man sich nicht eben damit beeilt hat, dieses Weltereignis des Theaters zu dokumentieren und bekannt zu machen. Mit der in der DDR offiziell geförderten Linie des sozialistischen Realismus hatte es wenig zu schaffen. (Man denke nur daran, dass Heiner Müllers Lohndrücker nur kurz zuvor in puncto Dramaturgie und fehlender Perspektive abgekanzelt worden war.) 3

Nach der Machtergreifung gibt es die Entscheidung über die Richtung, die Uis Aktivitäten nehmen. Geht er mit dem Trust den Weg der Machtausbreitung oder folgt er den Leuten um Roma/Röhm? Dabei zeigt Brecht Uis Schwanken wieder als quasi absurdes Theater. Zunächst entschließt er sich mit Roma gegen Giri und Givola zu gehen. Roma freut sich schon auf den Coup gegen seine beiden Rivalen und Ui übt eine Rede über den Verrat ein. Da bietet sich die Möglichkeit mit der Stadt Cicero ins Geschäft zu kommen. Cicero ist der Name einer Vorstadt von Chicago und steht hier offensichtlich für Österreich, Dullfeet ist der

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österreichische Kanzler Dollfuß, den Hitler ermorden ließ. Ui schwenkt sofort um, seine innere Haltlosigkeit wirkt sich als Stärke im politischen Machtpoker aus. Man muss selbstverständlich heute die Frage aufwerfen, inwiefern Brechts Stück als Faschismus-Analyse adäquat ist, und wird hier zu einer eher zweifelnden Antwort kommen. Seine begrenzte Reichweite ist in einer verkürzten Lesart des Faschismus zu sehen. Bei Brecht kommt nicht in den Blick, dass so viele Bürger und auch Arbeiter den Faschismus wollten und getragen haben. In seinem Stück sind die kleinen Leute einfach lediglich erpresst und mutlos. Der irrationalistische Appell an rassistische Wahnideen und Größenphantasien, die masochistische Lust an der Unterwerfung, die Brecht in anderen Zusammenhängen viel schärfer gesehen hatte, kommen nicht vor. Die Logik der Handlung lässt nach üblichen dramaturgischen Standards durchaus zu wünschen übrig – wie schon in Mahagonny, das Adorno die erste surrealistische Oper genannt hat. Der gewöhnlich sehr bedachtsam formulierende Germanist Burkhardt Lindner erklärt: „Streng stückimmanent genommen, ist es absurdes Theater, das als Aufstieg des Ui inszeniert wird.“12 Mit der Pointe freilich, dass gerade diese Absurditäten das Gefühl für die Absurdität auch der Realgeschichte wecken. Das Verhältnis zur Geschichte war eines der „Anspielung“, nicht der abbildenden Widerspiegelung. Das gibt dem Zug von kabarettistischer Travestie ein Stück weit sein Recht. Immerhin ist mit Recht hervorgehoben worden, dass Brecht umgekehrt auch keine schematische Marionette des Kapitals nach dem Lehrbuch des orthodoxen Marxismus zeichnet. Ui geht vielmehr seine eigenen Wege. Er wird zwar funktional geheuert, lässt sich aber nicht einfach domestizieren. „[…] es ist Handlangertum, Faustlangertum, aber die Faust hat eine gewisse Selbständigkeit“13. Das Stück ist entstanden in nur drei Wochen im März 1941 – für die Einzelheiten verweise ich auf die detaillierte Darstellung von Raimund Gerz14 sowie auf die von Gerz herangezogene Studie von Günter Heeg von 1977 Die Wendung zur Geschichte15. Doch findet sich schon in Walter Benjamins Notizen zu den Svendborger Gesprächen mit Brecht der Hinweis auf einen Plan Brechts in den 1930er Jahren für „eine Satire auf Hitler im Stile der Historiographen der Renaissance“. 1941 schien nach dem Blitzkrieg und der Besetzung Frankreichs und der Benelux-Länder der Siegeszug der Nazis tatsächlich unaufhaltsam. Im April hat Brecht gemeinsam mit Margarete Steffin die Jamben sprachlich verbessert. Das Stück war in der Hoffnung auf eine Aufführung in den USA geschrieben worden – „eine Art Music-Hall-Aufführung am Broadway“16 – und

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Brecht hatte entsprechend in Erwartung einer englischen Fassung die letzte sprachliche Feinarbeit erspart. Man darf nicht vergessen, dass Arturo Ui zu Lebzeiten Brechts nie aufgeführt werden konnte. In der Nachkriegszeit hatte Brecht wohl Bedenken, dass die satirische Behandlung der jüngst vergangenen NaziZeit in einer Art von schaurig-komischem Panoptikum Gefahr lief, einer unerwünschten Verharmlosung des Gegenstands Vorschub zu leisten. Dem suchte die Aufführung Rechnung zu tragen durch den sehr Brechtschen Schluss. Das Stück endet mit dem Ausblick auf den Imperialismus der Nazis, beginnend mit dem „Anschluss“ Ciceros/Österreichs in einer typischen Ui-Rede: […] der Friede in Chicagos Grünzeughandel ist kein Traum mehr Sondern rauhe Wirklichkeit. Und um den Frieden Zu sichern, habe ich heute angeordnet Daß unverzüglich neue Thompsonkanonen Und Panzerautos und natürlich was An Brownings, Gummiknüppeln und so weiter noch Hinzukommt, angeschafft werden, denn nach Schutz Schrein nicht nur Cicero und Chicago, sondern […] Es folgt eine ellenlange Liste von Washington über Detroit und Pittsburg bis Boston, Minneapolis und New York. „Das alles will geschützt sein! Und kein ‚Pfui‘ / Und kein ‚Das ist nicht fein!‘ hält auf den Ui!“ Dann tritt Schall vor den Vorhang, der sich eben geschlossen hat, nimmt den falschen Bart ab und spricht den bekannten Epilog: Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert Und handelt, statt zu reden noch und noch. So was hätt einmal fast die Welt regiert! Die Völker wurden seiner Herr, jedoch Daß keiner uns zu früh da triumphiert – Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch! 4

Bertolt Brecht gehört an den Anfang jeder eigenen Traditionsbildung des modernen und postmodernen, nicht mehr klassischen Theaters heute. Er hat eine geradezu kopernikanische Wende im Theaterverständ-

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nis geschaffen: die Abkehr von der Idee der Illusion auf der Bühne, die Abkehr von dem Ideal, dass der Zuschauer im Theater am besten vergessen sollte, dass er sich im Theater befindet. Episches Theater und Lehrstückmodell waren zwei Varianten dieses neuen Denkens. Wir sollen uns im Theater als in einem gemeinsamen Raum mit den Spielern verhalten, wir sollen uns bewusst bleiben, dass da etwas, ein Spiel, ein Stück, hier und jetzt für uns vorgestellt und dargestellt und nicht ein Museumsstück ausgestellt wird. Damit ist der Gedanke des Theaters der Situation eröffnet. Theater, stets eine Mischung aus Spiel, Alltag, Vorführen und Informieren – dieses Theater muss sich nach Brecht als gesellschaftlicher Moment verstehen. Es kann sich so wenig heraushalten aus den Debatten des Tages wie aus den Grundfragen danach, wie Menschen ihr Zusammenleben gesellschaftlich regeln wollen. Aus diesem Grunde kann sich im doppelten Sinn nach Brecht das Theater nicht mehr und heute sogar immer weniger von der Utopie verabschieden, dass es in irgendeiner Weise, auf irgendeiner Ebene auch eine Alternative zur Gesellschaft darstellt, nicht nur ein Teil von deren Unterhaltungsmaschine ist. Es lebt von einer Energie, die Spaß macht, aber das ist auch die Energie für den Impuls, dass eigentlich alles anders sein sollte. Mit Müller zu reden, für die Aufgabe der Kunst, „die Wirklichkeit unmöglich zu machen“. Das ist seine Energie, und dass ich als junger Student, in der politisch recht bewegten Zeit vor 1968, Grund hatte, eine solche Energie in der Aufführung zu sehen und zu spüren, bestätigte mir später zum Beispiel die Lektüre von Peter Brook. Er schreibt an einer Stelle von Der leere Raum über das, was er das „derbe Theater“ nennt: Das heilige Theater hat seine Energie, das derbe hat eine andere […]. Dieselbe Energie, die Rebellion und Opposition hervorruft, nährt es auch. Das ist eine militante Energie: die Energie des Zorns, manchmal die Energie des Hasses. Die schöpferische Energie hinter dem Erfindungsreichtum in der Inszenierung des Berliner Ensembles Die Tage der Kommune ist die gleiche Energie, die Männer auf die Barrikaden treiben kann, die Energie des Arturo Ui könnte geradewegs zum Kriege führen. Der Wunsch, die Gesellschaft zu verändern, so daß sie sich ihren ewigen Heucheleien stellt, ist ein großer Krafterzeuger. Figaro, Falstaff oder Tartuffe karikieren oder zerstören durch Gelächter, und die Absicht des Autors ist die soziale Ächtung.17 Die Erinnerung an mein Theatervergnügen von einst macht es mir nicht leicht, aber man muss im Nachhinein den schärferen Kritiken beipflich-

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ten, die das Erstarrte dieser Theaterästhetik und den kompensatorischen Charakter der artistisch vollkommenen Performance des Hauptdarstellers betont haben. Günther Heeg hat ausgezeichnet den propagandistischen Charakter der Aufführung und ihre Verpflichtung auf die Tradition einer rahmenden und gerahmten Theaterästhetik des sinnstiftenden Tableau herausgearbeitet und in diesem Zusammenhang aufschlussreich die Körperlichkeit und das Spiel von Ekkehard Schall und von Martin Wuttke in der Inszenierung Heiner Müllers von 1995 kontrastiert. Daß die Bilder dieser Inszenierung nicht durchsichtig sind auf die Arbeit des Ab-, Um- und Aufbauens, läßt die Zwischenszenen aus Improvisation, Transparenz, spontaner Bewegung und Bewegtheit im Nachhinein nur noch als Propaganda erscheinen. […] Dem Körper dieses Ui fällt nichts schwer, scheinbar mühelos gehorcht er den Einfällen des Darstellers und des Regisseurs. Wie ein Gummiball, wie eine Springmaus federt er beim Einüben einer Rede […] aus dem Sessel in die Luft […] von der Erinnerung an alles Kreatürliche befreit, ein kompensatorisch erzeugter Kunst- und Überkörper, ein artistischer Körper. […] Müllers Inszenierung, darin liegt nicht ihre geringste politische Bedeutung, setzt sich explizit mit diese staatsfrommen Brecht-Theater auseinander. […] Der Körper [Martin Wuttkes] ist nicht sozial festgelegt, sondern artikuliert das Begehren, nein die Gier, die das im Menschen tiefsitzende Gefühl grundsätzlicher Mangelhaftigkeit hervortreibt. Lange bevor er spricht, hechelt er an der Rampe wie ein Hund. Die Haltung gebückt, die Zunge blutrot: Im deutschen Schäferhund steckt ein Wolf. […] Die Sprache changiert zwischen Bedeutung und Klang, es ist durchzogen von einem kindlich-trotzigen Greinen, vom Wolfsgeheul der Gier. […] Der Körper dieses Ui/Ubu, der Körper Wuttkes wird – jedenfalls im ersten, besseren Teil der Aufführung – von keinem Tableau bedeckt. Er ist ohne Scham, unverschämt.18

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Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht, Köln 1994, S. 248f. Ebd., S. 248. Heeg, Günther: Klopfzeichen aus dem Mausoleum: Brechtschulung am Berliner Ensemble, Berlin 2000, S. 32. GBA 24, S. 316f. Schall, Ekkehard: o. T., S. 14.

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Gerz, Raimund: „Der Aufstieg des Arturo Ui“, in: Brecht-Handbuch, Bd. 5, hrsg. v. Jan Knopf, Stuttgart/Weimar 2001, S. 454–479. Ebd., S. 461. Ebd., S. 466. GBA 7, S. 50ff. Schall: a. a. O., S. 19. Ebd., S. 21. Burkhardt Lindner nach Gerz: a. a. O., S. 463. GBA 27, S. 63. Gerz: a. a. O., S. 459f. Vgl. Heeg, Günther: Die Wendung zur Geschichte : Konstitutionsprobleme antifaschistischer Literatur im Exil, Stuttgart 1977. 16 Wekwerth, Manfred: Schriften. Arbeiten mit Brecht, Berlin 1975, S. 141. 17 Brook, Peter: Der leere Raum, Berlin 1988, S. 101. 18 Heeg: Klopfzeichen aus dem Mausoleum, S. 32–37. 7 8 9 10 11 12 13 14 15

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1938 vollendet Brecht in Skovsbostrand im dänischen Exil die erste Fassung seines Galilei, die – schon 1939 leicht überarbeitet – der Uraufführung des Dramas 1943 in Zürich zugrunde lag. Die spätere Konzentration auf die zentrale Gestalt ist zunächst weniger ausgeprägt: Die erste Niederschrift trägt noch den Titel „Die Erde bewegt sich“. In den USA entsteht 1944 bis 1947 eine zweite „amerikanische“ Fassung, die unter dem Titel „Galileo“ in Los Angeles mit Charles Laughton in der Hauptrolle zur Aufführung kommt. 1955/56 erarbeitet Brecht am Berliner Ensemble eine dritte Version, die wesentliche Teile der Urfassung wiederherstellt und – während der Proben erneut verändert – der Spieltext für die berühmte Inszenierung des Berliner Ensembles von 1957 wird. Grundstruktur und Handlungsverlauf bleiben in allen Fassungen identisch, während von der dänischen über die amerikanische bis zur Berliner Version eine wesentliche Verschiebung der Thematik erfolgt. Die Fabel des Stücks enthält folgende Handlungsmomente: Galilei, Lehrer der Mathematik in Padua, findet Beweise für die kopernikanische Lehre, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, wie es das kanonisierte ptolemäische Weltbild annimmt. In der Republik Venedig findet er Forschungsfreiheit, aber weder genügend Mittel noch Muße zur Arbeit und geht darum an den Hof des Großherzogs von Florenz, obwohl dort die Inquisition mächtig ist. Als die Pest ausbricht, bleibt er mutig in der Stadt, um seine Arbeit weiterführen zu können. Seine Forschungen werden auf den Index gesetzt, Galilei arbeitet im Verborgenen weiter. Bei der Wahl des Papstes Urban VIII. rechnet er – allzu optimistisch – mit einer liberaleren Haltung der Kirche und nimmt seine Forschungen offen wieder auf. Es kommt zum Prozess vor der Inquisition, Galilei widerruft seine Erkenntnisse und fügt damit dem wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt schweren Schaden zu. Seine über den Verrat entsetzten Schüler wenden sich von ihm ab. Nach dem Widerruf lebt Galilei als Gefangener der Inquisition unter der Obhut und Aufsicht seiner Tochter in einem Landhaus unweit von Florenz. Zwar schreibt er heimlich ein die Wissenschaft revolutionierendes Werk, doch in einer von dem ihn besuchenden Schüler Andrea „mörderisch“ genannten Selbstanalyse seines Falls kommt Galilei am Ende zu dem vernichtenden Urteil, er habe sich durch seinen Verrat nicht nur „selbst zerstört“, sondern aus der Welt der Wissenschaft definitiv ausgeschlos-

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sen. Der Wissenschaftler dürfe sich der Aufgabe nicht entziehen, auch die soziale Praxis zu beeinflussen, die seine theoretische Arbeit möglich macht. Seine Haltung erscheint als Verrat nicht nur an der Wissenschaft, sondern auch an der Gesellschaft. Denn das Volk und die aufstrebende bürgerliche Klasse benötigen die Wissenschaft für ihre modernen Ziele. Zugleich überlässt er die heimlich gemachte Abschrift seines Werks seinem Schüler, der es aus Italien hinausschmuggeln kann: Die Aufklärung wird fortschreiten. Vielen gilt mit guten Gründen Leben des Galilei als das bedeutendste Theaterstück Brechts überhaupt. Allerdings ist es bei Schülern, die das Stück durchnehmen müssen, als Schlaftablette gefürchtet. Und in der Tat eignet der Dramaturgie eine gewisse epische Behäbigkeit, und ebenso können die oft allzu klug geschliffenen Dialoge jene Langeweile hervorrufen, die man angesichts von allem zu Fertigem empfindet. Entgegen einer noch immer verbreiteten Fehlinformation handelt es sich nicht um ein Thesenstück zur Verantwortung der Wissenschaft für die Atombombe. Erst im Dezember 1938 erfuhr Brecht von der gelungenen Urankernspaltung, und er fügte erst 1939 dem Stück eine kurze Passage ein, die – in wohlgemerkt optimistischem Ton – auf „neue Entdeckungen“ anspielt, „welche die Glücksgüter der Menschen unermesslich vermehren müssen“. Um die Atombombe geht es erst, als Brecht mit Laughton unter dem Eindruck von Hiroshima die amerikanische Übersetzung herstellt. Überhaupt steht nicht die individuelle moralische Verantwortung des Wissenschaftlers im Vordergrund. In einer Notiz von 1947 macht Brecht sich vielmehr Sorgen, dass man in Galilei eine Moral hineinlesen könnte und schreibt: „im galilei ist die moral natürlich in keiner weise absolut. wäre die gesellschaftliche bürgerliche bewegung, die sich seiner bedient, als absteigend dargestellt, könnte er ruhig widerrufen und damit etwas recht vernünftiges besorgen. (siehe jasager und neinsager!)“1 Es ist interessant, wie Brecht seine Figur in wechselnder Beleuchtung erscheinen lässt. Vor der Inquisition verhält er sich „feige“, aber zuvor blieb er, um weiter zu forschen, heldenhaft in der Stadt, die von der Pest befallen ist. Und er ging das Risiko der Verurteilung ein, als noch zweifelhaft war, wie es um seine Sache steht. Einmal gefährdet er seine Wissenschaft, um sich nicht zu gefährden. Das andere Mal gefährdet er sich, um seine Wissenschaft nicht zu gefährden. Ein Urteil über seine persönliche moralische Stärke kann aufgrund der Informationen des Textes nicht gefällt werden. Das zentral gestellte Problem ist ein anderes. Es geht um ein im politisch-pragmatischen Sinne „richtiges Verhalten“, nicht um persönliche Moral. Wie die Anspielung auf den Jasager in der Notiz Brechts schon

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nahelegt, ist Galilei auf dieses Thema der Lehrstücke orientiert. In der dramatisch wirkungsvollen Szene der Wiederbegegnung von Lehrer und Schüler tritt das subjektive moralische Problem der mangelnden Standhaftigkeit Galileis daher vollkommen zurück gegenüber der katastrophalen Auswirkung seines Verhaltens für die Verbreitung der neuen Lehre im internationalen Maßstab. Andrea: Auch wir hören, daß die Heilige Kirche mit Ihnen zufrieden ist. Ihre völlige Unterwerfung hat die allzu eifrigen und ohne Rücksicht auf die kirchlichen Dogmen der Wissenschaft dienenden Geister darüber belehrt, daß man nicht forschen soll, wenn es von den Oberen nicht gewünscht wird […]. Galilei: mühsam Leider gibt es Länder, die sich der Obhut der Kirche entziehen. Ich fürchte, daß die irrtümlichen und verurteilten Lehren dort wenigstens weiter gefördert werden. Andrea: Auch dort traf im Folge Ihres Widerrufs ein für die Kirche erfolgreicher Rückschlag ein. Ihr Name ist auf den Lippen aller derer, die in dem ungehemmten Fortschritt der Naturwissenschaften eine Bedrohung der allgemeinen Ordnung sehen. Galilei: Ich verstehe. (Pause)2 Dieses Motiv ist eine freie Erfindung Brechts, die keinerlei Basis in der historischen Wirklichkeit hat. Dass Brecht die historischen Fakten nur respektiert, soweit sie dem eigenen Argumentum nicht im Wege stehen, ist keine sensationelle Erkenntnis. Doch gibt die hartnäckige Tendenz der Sekundärliteratur zu dem Stück, gerade seine Behandlung des historischen Materials ins Zentrum zu rücken, Anlass, sie zu wiederholen. (Im verbreitetsten Brecht-Handbuch wird etwa seitenlang liebevoll das Problem hin- und hergerollt, ob denn Brechts Konzeption sich mit der Historie in Einklang bringen lasse.) Aber das Geschichtliche ist in Galilei wenig mehr als eine bloße Chiffre für eine gegenwärtige Problematik. Insofern haben Forscher wie K. D. Müller richtig gesehen, der Galilei dem ersten Anschein zum Trotz nicht als ein historisches Drama, sondern als ein Stück vom Parabeltypus auffasste. 2

Um die ursprünglich treibende Thematik des Galilei zu erkennen, die eine politische ist, bedarf es der Vergegenwärtigung der Lage des im Exil lebenden Autors bei der ersten Niederschrift des Stücks. Das Jahr 1938 brachte die Nazierfolge der Tschechoslowakei und Österreich. In den Beginn der Arbeit am Galilei fiel die Kristallnacht vom 9./10. November

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1938. Brecht schreibt um diese Zeit von einer „schnell wachsenden Finsternis über einer fiebernden Welt“ und spricht von einer „Reaktionsepoche“. Reduziert man jedoch aufgrund dieser Umstände die Bedeutung des Stücks, wie es die Brechtforschung bis heute weitgehend tut, auf einen Aufruf an die bürgerliche Intelligenz, sich dem Faschismus zu verweigern, so amputiert man dem Stück zugunsten einer – gewiss unbestreitbaren – Teilwahrheit seinen provokativen Bedeutungskern. Dessen Erörterung hat mit der Erinnerung zu beginnen, dass es nicht nur in der Lehrstückphase, wo es offensichtlich ist, sondern in Brechts Theaterschaffen insgesamt so gut wie immer um die Bearbeitung ungelöster und in gewissem Sinn unlösbare Konflikte innerhalb des eigenen Denkens, des marxistischen, kommunistischen Denkens geht, um zerreißende Probleme des Bewusstseins, die der Dichter selbst erfuhr. Während ein großer Teil seiner Leser, auch der wissenschaftlichen, ihm stets wieder die Position der unanfechtbaren Autorität zuspielen wollen, ist der Bedeutungsgehalt von Brechts Werken kaum je im Sinne eines eindeutigen Niederschlags seiner politischen Überzeugungen dingfest zu machen. Es ist diese Einsicht, gegen die in zahllosen Deutungen gesündigt wird und die nicht nur für Brecht Gültigkeit besitzt: Die gesellschaftspolitischen Positionen eines großen Autors werden in seinen Texten nicht so sehr ins Spiel gebracht, als vielmehr aufs Spiel gesetzt. Wäre dem nicht so, hätte Kunst in der Tat das Prädikat „besonders überflüssig“ verdient – als nur umständliche Verdopplung des AutorBewusstseins. So simpel aber verhält es sich mit den Werken Brechts nicht, nicht einmal mit denen, die sich dem Vorwurf des Belehrtheaters am meisten anbieten. „Schwer zu eruieren, was auch nur der Autor im Galilei oder im Guten Mensch von Sezuan meint, zu schweigen von der Objektivität der Gebilde, die mit der subjektiven Absicht nicht koinzidieren“, erklärt Adorno zu Recht.3 Im Galilei ist nicht nach einer These zu suchen, die das Stück illustrierte, sondern nach der szenischen Artikulation eines in Brechts Denken selbst unaufgelösten Konflikts. Gehen wir davon aus, dass Galilei wesentlich als Figur des Intellektuellen, des Forschers und Theoretikers zu sehen ist, als den der Autor Brecht sich selbst sah, und folgen Günther Heegs Pointierung: „Zugespitzt: Leben des Galilei ist ein Selbstportrait Brechts im Spiegel der historischen Figur Galilei.“4 Welches schwer lösbare Problem konnte es für einen kommunistisch denkenden Dichter im Jahre 1938 geben, das den Intellektuellen einer Inquisition konfrontierte? Die Antwort liegt auf der Hand: Es gab nur eine Inquisition, die für Brecht selbst ein kaum auflösbares subjektives und objektives Problem und damit einen dichterischen Vorwurf lieferte:

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die Inquisition des Stalinismus, die in den großen Moskauer Schauprozessen der Jahre 1936 bis 1938 kulminierte. Zu diesem marginalisierten oder ganz vernachlässigten Zusammenhang seien einige Fakten in Erinnerung gerufen. Am Stalinschen Staat kritisierte Brecht in den 1930er Jahren, dass er sich in der Theorie als dogmatischer Wächter über die reine Lehre aufspielte, in der Praxis jedoch keineswegs in Richtung auf das in der Marxschen Theorie vorgesehene Absterben des Staates hinbewegte, sondern vielmehr auf seine bürokratische und dann immer terroristischere Festigung. Walter Benjamin berichtet 1938 von ihren Gesprächen: „Brecht stellt sich, listig und verdrückt, vor dem Sessel, in dem ich sitze, hin – er macht ‚der Staat‘ nach – und sagt, mit einem scheelen Seitenblick auf vorgestellten Mandanten: ‚Ich weiß, ich soll verschwinden‘“.5 Brecht gelangt zu einer Gleichsetzung von Kirche und Politbürokratie. Benjamin: „Brecht spricht von seinem eingewurzelten von der Großmutter her ererbten Haß gegen die Pfaffen. Er läßt durchblicken, daß die, welche die theoretischen Lehren von Marx sich zu eigen gemacht und in Behandlung genommen haben, immer eine pfäffische Kamarilla bilden werden. Der Marxismus bietet sich eben allzu leicht der ‚Interpretation‘ dar …“ In diesem Licht ist Brechts wiederholte Aufforderung zu lesen, bei einer szenischen Realisierung des Galilei die Kirche einfach als „weltliche Obrigkeit“ darzustellen, deren Ideologie im Grunde austauschbar mit mancher anderen sei.6 Das Stück müsse die Kirche einerseits als „letzte wissenschaftliche Instanz“ zeigen, insofern die Wissenschaft eine legitime Tochter der Theologie sei, von der sie sich emanzipiert habe; zugleich aber auch als letzte „politische Instanz“. Die Handlung demonstriere „einen vorläufigen Sieg der Obrigkeit, nicht der Geistlichkeit“.7 Wo aber gab es für Brecht eine Instanz, die als wissenschaftliche (theoretische) und zugleich als politische letzte Instanz fungiert, wenn nicht in der kommunistischen Partei? Brecht glaubte pragmatisch zu sein, als er den sogenannten demokratischen Zentralismus im Sinne der leninistischen Parteidoktrin bejahte, der besagte, nach demokratischer Debatte über die Linie des Kampfes habe jeder sich ohne Widerspruch an das Beschlossene zu halten. Jede Opposition gilt danach als Verrat, da es nur die eine Alternative gibt: entweder das Kollektiv, das als einziges fähig ist, geschichtlich zu handeln, die Kommunistische Partei, von der eigenen Auffassung zu überzeugen, oder sich seiner Autorität zu unterwerfen. Ist dies nicht der Fall, so nimmt jede Handlung, schon jede Theorie, die sich gegen dieses einzige handlungsfähige Subjekt richtet, sofort den Charakter des Verrats an.8 Gewiss gab es eine Seite in Brecht, die sich von dieser unbarmherzigen Logik und ihrem

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scheinbaren politischen Pragmatismus angesprochen fühlte – man denke an Gedichte wie „Lob der Partei“ –, doch er war nicht blind, was die Deformation dieser Prinzipien im Stalinismus anging. So formulierte er im Me-ti: Die Vereine außerhalb Sus verfielen. Nicht die Mitglieder wählten die Sekretäre, sondern die Sekretäre wählten die Mitglieder. Die Losungen wurden von Su verfügt und die Sekretäre von Su bezahlt. Wenn Fehler gemacht wurden, bestrafte man, die sie kritisiert hatten; aber die sie begangen hatten, blieben in ihren Ämtern. Sie waren bald nicht mehr die Besten, sondern nur mehr die Gefügigsten. Einige Gute blieben die ganze Zeit durch, weil sie, wären sie gegangen, nicht mehr mit den Mitgliedern hätten sprechen können, aber bleibend konnten sie ihnen nur sagen, was sie für falsch hielten. Dadurch verloren auch sie das Vertrauen der Mitglieder und zugleich ihr eigenes. […] Die Auftraggeber in Su selber erfuhren nichts mehr, weil die Sekretäre nichts mehr berichteten, was unerwünscht sein könnte. Angesichts dieser Umstände verzweifelten die Besten. Me-ti beklagte den Verfall der großen Methode. Meister Ko wandte sich von ihr ab. To-tsi leugnete alle Fortschritte in Su …9 1936 war Trotzkis Die verratene Revolution erschienen. Die 1923 gegründete linke Opposition griff die Parteispitze immer wieder wegen ihrer Prätention auf päpstliche Unfehlbarkeit an. Trotzki: „Wie die katholische Kirche hat die führende Kaste […] der Partei das Dogma der Unfehlbarkeit […] behauptet“.10 Der Konflikt zwischen der kirchlichen Lehre, die sich auf die Autorität des Aristoteles beruft, und der empirischen Forschung Galileis, die als Häresie angesehen werden muss, wird durchsichtig auf den Antagonismus zwischen der Statik eines zum Dogma erstarrten und einem lebendigen, selbstkritischen Materialismus. Direkt betroffen ist Brecht von der kulturpolitischen Dogmatisierung der „Moskauer Clique“ um die Zeitschrift Unser Wort. Walter Benjamin schreibt im Juli 1938 an Gretel Adorno: „Was Brecht betrifft, so macht er sich die Gründe der russischen Kulturpolitik [die Benjamin zuvor als große ‚Misere‘ des ‚linientreuen Schrifttums‘ im Allgemeinen gekennzeichnet hat] durch Spekulationen über die Erfordernisse der dortigen Nationalitätenpolitik klar so gut er kann. Aber das hindert ihn selbstverständlich nicht, die theoretische Linie als katastrophal für alles das zu erkennen, wofür wir uns seit 20 Jahren einsetzen. Sein Übersetzer und Freund war, wie du weißt, Tretjakoff. Er ist höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben.“11 Brecht gebe nur sehr „skeptische Antworten“,

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wenn die „russischen Verhältnisse“ zur Sprache kommen. Brecht notiert: „literatur und kunst scheinen beschissen, die politische theorie auf dem hund. in einem offiziellen artikel erklärt ein gewisser wukressenski als stalins theorie das absterben des staates erfolgt durch seine allseitige festigung […] über die ‚politische demokratie‘ erfährt man nichts als phrasen, und nichts erfährt man über die soziale organisationsform der produktion.“12 Über Benjamins Marxlektüre freut Brecht sich mit der Bemerkung: „Wo man immer weniger auf ihn stößt und besonders wenig bei unseren Leuten“.13 Und 1939 notiert er niedergeschlagen zum Hitler-Stalin-Pakt, „ich glaube nicht, daß mehr gesagt werden kann, als daß die union sich eben rettete, um den preis, das weltproletariat ohne losungen, hoffnungen und beistand zu lassen.“14 Als ein Hauptmotiv der von Galilei verbreiteten neuen Wissenschaftlichkeit wird im Drama der Zweifel betont. Im spezifisch marxistischen Kontext verliert das Motiv seine triviale Allgemeinheit. Es geht um das Absterben echter Selbstkritik und unvoreingenommener empirischer Untersuchungen innerhalb des Marxismus, das Brecht um diese Zeit konstatiert. Zweifeln und Beweisen statt blindem Glauben ist das eigentlich revolutionäre Moment an Galileis Wissenschaft. Sie ist mit ihrer Vereinigung von Theorie und Praxis für Brecht Chiffre des theoretischen und praktischen Kommunismus der Gegenwart; die von Galilei enthusiastisch begrüßte „neue Zeit“ Inbild der revolutionären Umwälzung, die Brecht zu erleben hofft. Am Ende des Gedichts „Lob des Zweifels“ ist von den Führern die Rede, die den von ihnen Geführten den Zweifel erlauben müssen. In der Maske des Me-ti sagt Brecht: „Nur eines berechtigt mich zu sagen, daß ich wirklich ein Anhänger der großen Ordnung bin. Ich habe sie oft genug angezweifelt.“15 (Die „große Ordnung“ wird immer wieder von Brecht als Chiffre für die kommunistische Gesellschaft eingesetzt.) 3

In den 1930er Jahren befasste sich Brecht, der Flüchtling im Exil, begreiflicherweise mehrfach mit den Gestalten der exilierten, verbannten, oder isolierten Dichter, Weisen, Denker und Vordenker. Sich selbst verglich er vielleicht mit nichts Geringerem als den Begründern des historischen Materialismus. Auffälligerweise im Zusammenhang eines Gesprächs darüber, dass die Sowjetunion in ein historisch älteres „monarchisches Stadium“ mit „persönlichem Regiment“ zurückgefallen sei, kommt er darauf zu sprechen, dass „Marx und Engels mit der Auflösung der Ersten Internationale aus dem Aktionszusammenhange mit der Arbeiterbewegung herausgerissen worden seien. Seither hätten sie nur

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noch Ratschläge, und zwar private, die zur Publikation nicht bestimmt gewesen seien, an einzelne Führer gerichtet. Auch sei es kein Zufall – wenn auch bedauerlich –, daß Engels sich zuletzt der Naturwissenschaft zugewandt habe.“16 Wertvoller Hinweis: Wie Engels, der Begründer der neuen Wissenschaft, ihre reale soziale Umsetzung nicht mehr beeinflusst, so muss Galilei/Brecht sich auf reine Wissenschaft/Theorie zurückziehen, isoliert von der gesellschaftlichen Umsetzung seiner Ideen. Es liegt auf der Hand, dass angesichts seiner schweren Zweifel und Vorbehalte Brecht kaum anders konnte, als die eigene öffentliche Zurückhaltung, seine Solidarisierung mit dem Stalinschen Staat als dem wichtigen Gegner Hitlers auch immer wieder angst- oder schamvoll in Frage zu stellen. Brechts öffentlich bekundete Solidarität mit der Sowjetunion ließ es nicht zu, dass er jemals offen gegen die Verhaftung und Ermordung von Menschen protestierte, sogar solchen, die ihm nahe standen, wie Carola Neher. Immerhin geht es in dem Gedicht „Ist das Volk unfehlbar?“ um die Erschießung Tretjakows: Mein Lehrer Der große, freundliche Ist erschossen worden, verurteilt durch ein Volksgericht. Als ein Spion. Sein Name ist verdammt. Seine Bücher sind vernichtet. Das Gespräch über ihn Ist verdächtig und verstummt. Gesetzt, er ist unschuldig? Wie mag er zum Tod gehn?17 Wäre es möglich – unausdenkbarer Gedanke –, dass er damit einem Staat diente, der, mit Trotzkis Begriff, die Revolution längst verraten hatte? Brecht schwieg, aber, so erinnert sich Benjamin: „Die russische Entwicklung verfolge er; und die Schriften von Trotzki ebenso. Sie beweisen, daß ein Verdacht besteht. […] Sollte er eines Tages erwiesen werden, so müßte man das Regime bekämpfen – und zwar öffentlich. Aber ‚leider oder Gottseidank, wie sie wollen‘“ – diese Wendung gibt Benjamin wörtlich wieder – sei „dieser Verdacht heute noch nicht Gewißheit. Eine Politik wie die Trotzkische aus ihm abzuleiten, sei nicht zu verantworten.“18 Im persönlichen Bereich kann der vielgerühmte Zweifel zur schweren Schuld werden, wenn er eine vielleicht geforderte sofortige Parteinahme verhindert. Dass der Text das Problem, unter Gefahr für Leib und Leben die Wahrheit zu bekennen, als ein politisches und nicht als ein individuelles

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moralisches erscheinen lässt, dürfte wenig daran geändert haben, dass es für Brecht persönlich ein solches war. David Pike findet das schlechte Gewissen Brechts über sein Schweigen in dem Gedicht „An die Nachgeborenen“: Der dort ruhig über die Straße geht Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde Die in Not sind Und wie muss Brecht ein im Oktober 1938, also unmittelbar vor der Niederschrift des Galilei, erschienener Artikel in der Trotzkistischen Zeitschrift Unser Wort getroffen haben, der ihn, Brecht, ganz persönlich anrief. David Pike hat das Dokument aufgefunden, aber es nicht mit Galilei in Zusammenhang gebracht. In diesem Artikel heißt es: Sie, Herr Brecht, haben Carola Neher gekannt. Sie wissen, daß sie weder eine Terroristin, noch eine Spionin, sondern ein tapferer Mensch und ein große Künstlerin war. Weshalb schweigen Sie? Weil Stalin Ihre Publikationen „Das Wort“ […] bezahlt? Woher nehmen Sie noch den Mut, gegen Hitlers Mord an Liese Herrmann, Anettka André und Hans Linden zu protestieren? Und weiter: Wenn Felix Halle, Ernst Ottwaldt, Carola Neher, Rudolf Haus etc. in Hitlers Kerkern säßen und in Todesgefahr schwebten, wie würdet ihr schreien, schreiben, das arme Weltgewissen maltraetieren. Doch wenn Stalin die gleichen Leute umbringt, so rührt euch das nicht im geringsten. […] Und ihr wundert euch noch, daß ihr Schritt für Schritt an Boden verliert, der Faschismus stets größere Kreise zieht? […] Stalin kaufte eure moralische Autorität, um das Weltgewissen einzuschläfern, ihr gabt euch dazu her und wundert euch noch, wenn euch danach das Weltgewissen den Hintern zukehrt? Eure Tätigkeit erschöpft sich in dem einen Wort: Verrat. Verrat an euren Büchern und eurer Moral, Verrat an den Opfern Hitlers und an den Opfern Stalins, Verrat an den Massen und Verrat an euch selbst. Wahrhaftig, bessere Alliierte könnte der Faschismus nicht finden als solche Gegner. Wenn es euch nicht gäbe, Goebbels müßte euch erfinden.19 Hier liegt das Undenkbare zutage. Die Möglichkeit, es zu artikulieren, bestand, so scheint es, wohl nur im widerspruchsvollen Diskurs

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der Kunst. Für Brecht persönlich war nicht auszuschließen, dass sich die Kapitulation vor der Stalinschen Kirche am Ende als Verbrechen an der „neuen Zeit“ statt als weitblickende List erweisen würde und zugleich als Verrat an den ihm nahestehenden „Genossen“ und an Freunden. 4

Nicht als individuelles moralisches, sondern als politisches Problem hat sich ein Tableau abgezeichnet, das jeden zeitgenössischen Zuschauer des Galilei an die desolate Lage der marxistischen Intelligenz erinnern musste, die oft aus begründeter Todesfurcht oder Opportunismus, vielleicht auch einmal aus ehrenwerten Gründen sich der neuen Stalinschen „Weltkirche“ gegenüber in der Zwangslage befanden, politische Handlungen zu rechtfertigen, an die sie selbst nicht glaubten. Da niemand abzusehen vermag, was es für den Kampf gegen Hitler bedeutet hätte, wenn sich in der Sowjetunion ein innerer Kampf, womöglich ein Bürgerkrieg, entwickelt hätte, wird man es sich mit dem historischen Urteil über diese politische Position, die damals viele einnahmen, nicht zu leicht machen dürfen. Brechts Darstellung in der ersten Fassung zielt darauf ab, durch die erbarmungslose Konfrontation und ohne eine dialektische Auflösung den Zwiespalt, die Spaltung im Bewusstsein und der Praxis der Kommunisten in Szene zu setzen. Der Konflikt sollte nicht im Selbstbewusstsein des Helden ausgetragen und aufgehoben werden. In frühen Entwürfen findet sich bei Brecht noch der Arbeitstitel „Leben des Galilei. Fassung für Arbeiter“ und die Urfassung trägt den Titel „Die Erde bewegt sich“. Beides weist darauf hin, dass Galilei anfangs, wenn nicht als Lehrstück konzipiert, so jedenfalls noch im Zeichen der Lehrstückidee konzipiert war. Manche Anspielungen der ersten Fassung in diesem Sinne sind später entfallen. Darin wird Andrea zum Beispiel „Rotschädel“ genannt. Will sagen: Auch der revolutionären Jugend, so der aktuelle Bezug 1938, kann der opportunistische Intellektuelle/Galilei nicht mehr Vorbild sein. So wie Galileis Widerruf (in Brechts historischer Fiktion) die revolutionäre bürgerliche Bewegung um einen großen Teil ihres optimistischen Schwungs und ihrer Überzeugungskraft bringt, so die stalinistische Realität und die Anpassung vieler Tuis an sie. Galilei weiß: „Freilich, wer wollte noch für diese kühnen neuen Lehren sprechen, nachdem ich, eine ihrer Autoritäten sie der Lüge geziehen habe?“ Und er ist der Meinung, „daß ich alles zerstört habe, was es an Versuchen gab, die dem blinden Glauben schädlich sind“.20 Galilei ist hier beides zugleich: einerseits ein Widerstandskämpfer, der mit List seine Forschungen weiter betreibt, andererseits Schuldiger,

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der selbst mitleidlos seine „Selbstzerstörung“ verurteilt. Der Autor befragt im Medium des Theatertextes die marxistische Intelligenz und nicht zuletzt sich selbst, ob die Position der Anpassung ohne Selbstzerstörung durchgehalten werden kann. Die hier skizzierten historisch-politischen Zusammenhänge, die die Frage betreffen, worin für Brecht Galileis Versagen bestand, hat die Brechtforschung bis heute vernachlässigt, auch nachdem Journale, Briefe usw. aus dieser Zeit zugänglich wurden. (Umso erfreulicher ist es, dass Stephen Parker in seiner Biographie Bertolt Brecht: A Literary Life, 2014, von der biographischen Seite zahlreiche Argumente vorlegt, die unsere Deutung stützen.) Die Auslegungen konzentrieren sich durchweg auf die Frage nach der Verantwortung des bürgerlichen Wissenschaftlers für den Faschismus, dann die Atombombe. Dagegen hat Isaac Deutscher schon 1963 in seiner Trotzki-Biografie behauptet, es seien die Moskauer Schauprozesse gewesen, die Brecht zum Galilei angeregt hätten. (Seine These hat er zwar durch eine allzu direkte Gleichsetzung Galilei = Bucharin geschädigt, aber Deutscher war kein Literatur- oder Theaterwissenschaftler.) 1965 stritt Ernst Schumacher diesem Gedanken mit bis zum Absurden unzulänglichen Argumenten jede Berechtigung ab, erst recht der Idee, die thematische Strukturierung des ganzen Dramas um das Problem des Stalinismus ins Zentrum zu rücken. Fest steht jedoch: Brecht hat mehrfach in überlieferten Äußerungen den Moskauer Prozessen ein intensives Interesse entgegengebracht; die rasch veröffentlichten Prozessprotokolle befanden sich in seinem Besitz; sie weisen Anstreichungen auf, die seine Lektüre bezeugen und ein besonderes Interesse an Bucharin, Rykow und den beiden des Mordes an Gorki angeklagten Ärzten verraten. Das Schlusswort Bucharins erinnert in einigen Passagen sowie im Tonfall sogar nach Schumachers eigenem Bekunden, der die Ähnlichkeit „zufällig“ nennt, „auffällig“ an Galileis Selbstanalyse. Bedeutung fürs Galilei-Verständnis kommt einer Kritik der Schauprozesse im Buch der Wendungen zu: Me-ti (das ist Brecht) tadelte den Ni-en, weil er in seinen Prozessen gegen seine Feinde im Verein vom Volk zu viel Vertrauen verlangte. Das sei „wie wenn man von mir verlangt, daß ich etwas Unbeweisbares glaube. Durch den beweislosen Prozess hat er dem Volk geschadet. Er hätte es lehren müssen, Beweise zu verlangen.“21 Während man bei orthodox-marxistischen Wissenschaftlern den Verdacht nicht unterdrücken kann, es ginge darum, Brecht à tout prix vor dem Verdacht zu bewahren, er könne Ansichten gehegt haben, die im politischen Jargon „antisowjetisch“ oder „trotzkistisch“ heißen, scheint bei der „westlichen“ Forschung vor allem eine andere Sichtblo-

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ckade wirksam zu sein. Man ist entschlossen, sich den Brecht der klaren moralischen und politischen Botschaft nicht rauben zu lassen, denn das wäre eine Revision, die zugleich ein ganz neues kritisches Durchdenken der Idee des epischen Theaters nach sich ziehen müsste. Eine der wenigen, die die politische Dimension des Stücks analysiert haben, ist die früh verstorbene Betty Nance Weber, die sich dem Versuch gewidmet hat, die Meisterwerke des epischen Theaters – Mutter Courage, Galilei, Der kaukasische Kreidekreis – als kritische Chronik und Dramatisierung der sowjetischen Geschichte von 1917 bis 1938 lesbar zu machen. Dies bleibt ein großes Verdienst, auch wenn sie in zu einseitiger Weise eine Identifizierung Galilei/Brecht = Trotzki vornahm und es den Kritikern so leicht machte, ihre Erkenntnisse, die alle auf eine Bezugnahme des Textes auf die Prozesse hindeuten, insgesamt zu ignorieren. Brecht griff in seinem Gedicht „Die Bolschewiki entdecken im Sommer 1917 im Smolny, wo das Volk vertreten war: in der Küche“ eine Episode aus Trotzkis Mein Leben auf.22 Im Jahre 1910 publizierte Trotzki die Idee der permanenten Revolution, 1610 bestätigt Galilei die Lehre des Kopernikus mit der im Text betonten permanenten Bewegung. Brecht ändert das historische Datum der Amtszeit des neuen Papstes von 1623 auf 1624 – 1924 starb Lenin, der Aufstieg Stalins begann, der oft „der rote Papst“ genannt wurde. Galileis Widerruf fand am 22. Juni 1633 statt – Trotzki vergleicht den Widerruf von Rakowski 1933/34 mit dem von Galilei. Die – historisch haltlose – Vorstellung, Galilei sei einen Moment lang ebenso stark gewesen wie seine Gegner, klingt wie ein Echo auf Trotzkis selbstkritische Feststellung“23, er hätte noch auf dem Zwölften Parteikongress gegen Stalins Bürokratie siegen können. 5

In Brechts Version der historischen Ereignisse scheitert Galilei nicht nur an der Inquisition, sondern auch daran, dass er sich, politisch blind, in ihren Machtbereich begeben hat – aus der Republik Venedig an den Hof zu Florenz –, weil er die politische Komplexität der Lage überhaupt nicht erkennt. Für Galilei gibt es nur eine Zeit, in der er existiert. Das ist die lineare Zeit des fortschreitenden Wissens, die Zeit der Entwicklung der Vernunft: Zeit der Logik. Diese Vernunftgläubigkeit des Aufklärers aber wird vom Bühnengeschehen konfrontiert mit einer zweiten, einer verwirrenden geschichtlich-politischen Zeitform. In Florenz herrscht politisch das Gestern, in Venedig, wenn auch noch schwach, das Morgen. Galilei schätzt die neue Freiheit falsch ein und unterschätzt die langsame verwickelte Zeit der Machtpolitik. Er begreift nicht, dass Florenz die Stadt, in der er seine Forschungen vorantreiben kann, zugleich die

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Stadt ist, die auf der Zeitlinie der politischen Entwicklung rückständig und reaktionär ist. Er scheitert, weil er die historische Umwelt nur nach der Maßgabe seines Bewusstseins als Wissenschaftler wahrnimmt. (Das gilt auch für die persönliche Welt, wie sein Verhalten gegenüber der Tochter Virginia zeigt, deren Heirat er seine Wissenschaft opfert.) Man kann die Dramaturgie des Stücks mit Louis Althusser als planmäßige innere Dissoziation zweier Zeitformen auffassen. In Leben des Galilei wird eine Blindheit deutlich, die analog ist zur Mutter Courage: Der Zuschauer sieht, dass die Bühnenfigur etwas nicht sieht: So erscheint im „Leben des Galilei“ jene Geschichte – die langsamer als das ungeduldige Bewußtsein des Wahren ist – als ebenso verwirrend für ein Bewusstsein, dem es in seiner kurzen Lebenszeit nie gelingt, sich dauerhaft zu „überwinden“. Erst diese schweigende Konfrontation des Bewußtseins (das seine eigene Situation in dialektisch-dramatischer Weise erlebt und glaubt, die ganze Welt werde durch seine eigenen Kräfte bewegt), mit einer indifferenten Realität (die unter dem Blick dieser vermeintlichen Dialektik immer eine andere ist: anscheinend eine undialektische) ermöglicht die immanente Kritik der Bewußtseinsillusionen.24 Soll das Theater diese Dissonanz zwischen Bewusstsein und ihm fremden Prozess der Geschichte aber nicht auflösen, indem der Widerspruch sich dialektisch in einem Selbstbewusstsein austrägt und aufhebt, so ist das Drama auf eine Darstellung angewiesen, die das ungeduldige Bewusstsein des Wahren in stummer und sprachloser Weise konfrontiert mit der dem Einzelnen gegenüber indifferenten geschichtlichen Realität. Allein durch eine solche Ästhetik der Spaltung kann für den Zuschauer die Kritik der eigenen Bewusstseinsillusion entstehen – sei es die Illusion der Möglichkeit, schlau mit den Verhältnissen, dem Krieg umzugehen und seinen „Schnitt zu machen“ (Mutter Courage), sei es die Illusion von der Macht der rein intellektuellen Arbeit der Theorie (Galilei). Diese für das Subjekt tröstlichen Illusionen werden in den Stücken Brechts aufgeführt und „vorgeführt“. Brecht hat die Problematik des klassischen Theaters in eben dem Sinne umgewälzt, als er es ablehnte, Sinn und Implikation eines Theaterstücks in der Form eines Selbstbewußtseins zu thematisieren. Hierunter verstehe ich, daß die Welt Brechts notwendigerweise jeden Anspruch von sich weisen muß, sich ihrer selbst in der Form eines Selbstbewußtseins zu versichern und erschöpfend darzustellen,

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um im Zuschauer ein neues, wahres und aktives Bewusstsein zu produzieren. […] Brecht will vor allem eine Kritik der spontanen Ideologie produzieren, in der die Menschen leben. Daher muß er notwendigerweise jene formalen Bedingungen der Ästhetik der [klassischen] Ideologie, wie sie das Selbstbewußtsein (und seine klassischen Ableitungen: die Regeln der Einheit) darstellt, aus seinem Werk ausschließen. Bei ihm (gemeint sind immer die großen Stücke) kann keine Person die Totalität der Bedingungen des Dramas durch Reflektieren in sich aufnehmen. […] In genau diesem Sinne sind seine Stücke dezentriert, weil sie kein Zentrum haben können und weil Brecht, der vom naiven und illusionsbeladenen Bewußtsein ausgeht, es ablehnt, aus diesem das Zentrum der Welt zu machen, das es sein will. Darum liegt das Zentrum sozusagen seitwärts und ist in dem Maße, wie es sich um die Entmystifizierung des Selbstbewußtseins handelt, immer versetzt, immer außerhalb und in Bewegung, um die Illusion zum Wirklichen zu überschreiten.25 Die Spaltung bedeutet eine Dramaturgie der Dezentrierung. Die amerikanische Fassung zielte dagegen auf eine Dramatisierung im klassischen Sinn. Sie zentriert die Konflikte auf das Individuum, führt die Bühnenrealisierung vom Epischen fort und nähert sie dem Realismus an. Kaum ist so noch mit der politischen „Spaltung“ des Publikums zu rechnen, die Brecht vorschwebte. Vielmehr spitzt der Text nunmehr das persönliche moralische Versagen Galileos als Individuum zu (wobei er sich noch weiter von der historischen Wirklichkeit entfernt). Galilei erscheint als „Kollaborateur“. Die Betonung der persönlichen Verantwortung des Wissenschaftlers im Zeitalter der Atombombe verdrängt die politische, dem Lehrstück noch nahe Problematik der Erstfassung hin zugunsten einer psychologisch-moralischen Fragestellung. Doch reichte offenbar Brechts dramaturgischer und inhaltlicher Opportunismus nicht aus. Trotz der saftigen und komplexen Darstellung Galileis durch den Starschauspieler Charles Laughton fand das amerikanische Publikum keinen rechten Zugang zum Stück. Sogar die offenkundigen Parallelen zur Gegenwart blieben vielen verborgen. Die dortigen Sehgewohnheiten kamen mit der Brechtschen Methode, seiner mehr auf distanzierter Betrachtung als auf Einfühlung basierenden Theateridee nicht zurecht. Daran änderten auch die sechs Vorstellungen in New York im Dezember 1947 nichts. Dem gegenüber stellt die Arbeit am Galilei des Berliner Ensembles 1955/56 in sich selbst ein dramatisch-dialektisches Stück Theatergeschichte dar. Brecht selbst konnte nur noch vom Dezember 1955 bis

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zum März 1956 an der Probenarbeit teilnehmen. Darin ging es vor allen Dingen um die dialektischen Pole des Stücks, den Anfang mit Galileis emphatischer Begrüßung der neuen Zeit und die Schlussszene mit seiner Selbstverurteilung. Brecht musste die Proben seiner angegriffenen Gesundheit wegen abbrechen, und nach seinem Tod im August 1956 führte Erich Engel sie zu Ende. Im Januar 1956 aber hat Chruschtschow die berühmte Geheimrede über Stalin gehalten, deren Text, noch vor der Veröffentlichung Mitte des Jahres, unter Intellektuellen zirkulierte. Nach verschiedenen Berichten von Zeugen, die bei den Proben zugegen waren, verschärfte Brecht, nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Enthüllungen die Kritik an Galilei zu einer tatsächlich mörderischen Analyse. Galilei erklärt er zu einem „sozialen Verbrecher“, er „haßt die Menschheit fanatisch“. Das Bild des Verbrechers sollte das des Wissenschaftlers völlig überlagern. Direkt äußerte Brecht auch jetzt nicht, dass er im Galilei Probleme der durch den Stalinismus erstarrten kommunistischen Weltbewegung behandelt hatte. Nur die Notiz einer Mitarbeiterin während der Berliner Galilei-Proben stellt eine zaghafte, nur formale Beziehung zwischen Galilei und dem Stalinismus her: „Nach Brechts Ansicht ist mit der Darstellung des Galilei gelöst, die Darstellung zum Beispiel der großen Sowjetprozesse. Es ist technisch gelöst. Die Selbstanalyse Bucharins, wo er im Augenblick der Analyse so hoch über sich selbst steigt wie sonst keiner im Gerichtssaal.“26 Stattdessen klammerte sich Brecht hartnäckig an die unhaltbare These, der historische Galileo Galilei sei so vernichtend einzuschätzen. Eine (typisch) Brechtsche Camouflage bis zum Schluss. Ernst Busch kämpfte immer wieder gegen diese Auslegung an: In den letzten Proben, die er gemacht hat – und das hatte, finde ich, durchaus auch eine tragische Note –, hat er sich immer mit Busch gestritten, ihm gesagt Busch, Sie spielen einen Verbrecher, das ist ein Krimineller, ein Mann, der die Wahrheit weiß und sie nicht sagt. Und Busch sagte immer: Aber Brecht, das haben Sie nicht geschrieben. Und Brecht bestand immer darauf: Busch, Sie sind ein Krimineller. Und Busch sagte immer wieder: Brecht, das haben Sie nicht geschrieben.27 Es ist recht offensichtlich, worum es in diesem Konflikt wirklich ging: Brecht war fest entschlossen, die Aufführung seines Galilei-Stücks für eine unzweideutige Polemik gegen jeden, aber auch jeden Anflug von Opportunismus des einzelnen Intellektuellen gegenüber der Partei = Kirche zu nutzen. Darum durfte Galilei keine Gnade finden. Niemand

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sollte sich der Erkenntnis der furchtbaren Folgen des Opportunismus für das politische Leben der Partei und auch des „sozialistischen“ Staats und der Gesellschaft entziehen können. Busch hatte Recht, was den Text betraf. Was Brecht wollte, bezog sich auf die konkrete beabsichtigte Wirkung des Theaters in der konkreten gesellschaftlichen und ideologischen Situation. Diese Intention verschwand unter Engels Regie. Weltweit wurde der Galilei des Berliner Ensemble bei Gastspielen als eine Glanzleistung des Theaters gefeiert, aber in einer Fassung, in der Busch/Galilei am Ende durchweg Sympathie und Mitleid weckte. „Die Moral des Stücks und die Moral der Inszenierung gingen völlig aneinander vorbei; statt der Verdammung des ideologischen Kompromisses kommt sein Lob und seine Absolution.“28 Günther Heeg hat in dem erwähnten großartig erhellenden Text, auf den der Leser mit Nachdruck hingewiesen sei, dargelegt, inwiefern an den Brüchen und Lücken auch der Textebene ablesbar ist, „daß Brechts Auseinandersetzung mit Brecht nicht zum Abschluß kam, er sein Leben lang mit Galilei nicht fertig wurde“.29 Lapidar hält er fest: „Die Berliner Fassung von Leben des Galilei von 1955/56 ist Brechts weitestgehender Versuch, die Frage nach der Schuld zum Dreh- und Angelpunkt des Epischen Theaters zu machen.“30 Die Motive dafür glauben wir ein Stück weit deutlich gemacht zu haben. Im Text selbst aber liegt das Material dafür bereit, wenn man ihn nur hellhörig genug liest. Heeg hört aus der großen Predigt Galileis in der 14. Szene der Berliner Fassung ihre Theatralität heraus: „Das Theatralische dieser Straf- und Bußpredigt ist nicht zu übersehen. Wie da einer der eigenen Schwäche, dem eigenen Versagen ein moralisches Kostüm umhängt, sich selbst an die Brust klopft und damit das Weltgewissen vor die Schranken des Gerichts fordert – das ist die große Oper der Schuld. Der Tenor ist geliefert, aber er kann’s nicht lassen, der Nachwelt sein Addio zuzuschmettern, den eigenen Untergang als Zugewinn an Einsicht und Weisheit zu interpretieren, die Selbstanklage à la Rousseau in eine universale Abrechnung mit der Zeit zu überführen und sich selbst, den eigenen Fall zum Urheber aller nachfolgenden Sündenfälle machend, noch einmal mit der Größe des Heroen in einem Zeitalter der Zwerge auszustatten.“31 Und die enthusiastische Rede von Galilei, der das neue Zeitalter in der ersten Szene begrüßt? Sie trägt mindestens so sehr wie das Impressum der Aufklärung und der Marxschen Lehre das einer nietzscheanischen Lust an der neuen Freiheit von Gott, an der Leere des Universums. Sie macht aber nicht erschauern wie bei Pascal, sondern ruft nur zur amoralischen Lust des Erkennens auf.

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Galilei: Die alten Lehren, die tausend Jahre geglaubt wurden, sind ganz baufällig. An diesen Gebäuden ist weniger Holz als an den Stützen, die halten sollen. Das neue Wissen aber ist ein Neubau, von dem nur das Gerüst steht. […] Die Himmel, hat es sich herausgestellt, sind leer. Darüber ist ein fröhliches Gelächter entstanden. […] Es hat immer geheißen, die Gestirne sind an einem kristallenen Gewölbe angeheftet, daß sie nicht herunterfallen können. Jetzt haben wir Mut gefaßt und lassen sie im Freien schweben, ohne Halt, und sie sind in großer Fahrt, gleich uns, ohne Halt und in großer Fahrt.32 Wird hier jedoch nicht auch von einer allzu vollendeten Rhetorik eine tiefere Angst übertönt? Mit Galileis Entdeckung verbindet sich die schockhafte Erfahrung der Kontingenz menschlichen Daseins, nicht das Versprechen einer neuen und besseren menschlichen Ordnung. Alle Personen des Stücks wissen um diese Erfahrung, außer Galilei und sein Homunculus Andrea. Und doch hat sie sich seinem (und seines Autors) Entwurf tief eingeprägt. Die überschwängliche Vision eines neuen Zeitalters, der politische Kurzschluss von der Abschaffung des ptolemäischen Himmels über der Erde auf die Abschaffung der gottgewollten Obrigkeit kaschiert nur schlecht den Schrecken des marginalisierten und überflüssigen Ich.33 Heeg ist aufgefallen, dass gerade die Vertreter der alten Ordnung im Stück oft „starke Texte“ haben, die über die vom Autor zugewiesenen Grenzen der Figuren hinausgehen. In ihnen verschafft sich jene Angst Geltung, die in der gleichsam „offiziellen“ Figurenrede unterzugehen droht. Der Text ist nicht bei Wasser und Brot in eine Figur einzusperren, er nimmt autonome Bedeutung an. Die Fabel ist der ptolemäische Himmel, der sich schützend über die Bühne von Brechts Theater wölbt. Auch und ausgerechnet in Leben des Galilei, das sich ganz der kopernikanischen Wende verschrieben hat. In der Dramaturgie des Stücks, im Modell seiner Inszenierung ist vom kopernikanischen Denken wenig zu spüren, das sein Titelheld propagiert.34 Das aber „hat mit Brechts […] minutiösen Durchkonstruktionen der Fabel zu tun. […] Eines erklärt sich aus dem anderen, jeder Widerspruch

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macht Sinn, bis […] die Fabel geschlossen ist. Das Epische Theater, das Brecht hier vorführt, beruht auf einer Hermeneutik der geschlossenen Gestalt.“35 Diese Doppelbödigkeit des Textes aber, so zeigt Heeg, lässt erkennen, wie nahe Brechts episches Theater noch dem klassischen dramatischen Modell steht, das den Sinn in der Ganzheit des Spiels sinnfällig werden lassen wollte. Im Prozess der Säkularisierung springt das Theater für die Theologie ein, der Schöpfergott wechselt vom Jenseits auf die Bühne, das Weltbild der Aufklärung wird durch das Theater vorbestellt und beglaubigt. […] Mag [der Sinn] auch aus der Welt verschwunden sein, im Theater erstrahlt er umso heller. Die Tableaus der Guckkastenbühne zeigen, was, nein: dass die Welt im Innersten zusammenhält – eben dies ist auch die geheime Intention des Epischen Theaters.36 Nachzutragen bleibt ein Kuriosum, das mehr ist als ein solches. In einer Episode, die Brecht 1938 zunächst in die erste Niederschrift des Galilei aufgenommen hat, dann jedoch verwarf, liest Virginia Galilei einige der Inschriften von der Decke der Bibliothek Montaignes vor. Galilei kommentiert jede der Inschriften, bis er an die folgende gerät: „Virginia: Wie einen Schatten hat Gott den Menschen erschaffen. Wer kann ihn richten, wenn die Sonne untergegangen ist? Galilei schweigt.“37 Über die Dialektik von Scham und Schuld sowie über den „Schatten der Tragödie“, den das epische Theater hier wirft, sei der Leser auf die Darlegungen von Heeg verwiesen. Er stellt unter anderem fest: Das Schweigen des Galilei ist das Schweigen der Scham. Stumm artikuliert es das Eingeständnis, das nach dem Untergang der göttlichen Sonne keine menschliche Instanz zum obersten Richter über Gut und Böse mehr berufen ist. Stumm erinnert es an die Schattenexistenz des Menschen, an seine Todverfallenheit. Stumm weist es darauf hin, dass die Zeit der Schaubühne als moralischer oder gesellschaftskritischer Anstalt abgelaufen ist.38 Womit die Frage wieder eröffnet ist nach einem Theater jenseits von Richter- und Urteilsspruch, das den im Sinne Althussers materialistischen Dimensionen des Brecht-Textes, also seinen Brüchen, Lücken, seinem Verstummen gewachsen wäre.

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Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal II, Frankfurt a. M. 1963, S. 800. GBA 5, S. 99. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003, S. 55. Heeg, Günther: Klopfzeichen aus dem Mausoleum. Brechtschulung am Berliner Ensemble, Berlin 2000, S. 143. Benjamin, Walter: Versuche über Brecht, Frankfurt a. M. 1966, S. 128. GBA 24, S. 238. Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater 4, Frankfurt a. M. 1963, S. 220. Maurice Merleau-Ponty hat in noch immer nicht überbotener Weise dieses abgründige Thema ausgeleuchtet. Vgl. ders.: Humanismus und Terror, Frankfurt a. M. 1966. GBA 18, S. 168. Vgl. Trotzki, Leo: Verratene Revolution, Essen 1990. Benjamin, Walter: Briefe, Bd. 2, hrsg. v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno, Frankfurt a. M. 1966, S. 771f. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal I, Frankfurt a. M. 1963, S. 36. Benjamin: Versuche über Brecht, S. 132. Brecht: Arbeitsjournal I, S. 62. GBA 18, S. 151. Benjamin: Versuche über Brecht, S. 131. GBA 14, S. 435f. Benjamin: Versuche über Brecht, S. 131f. Zitiert nach David Pike in: Brecht-Jahrbuch 1982, Frankfürt a. M. 1982. GBA 5, S. 100. GBA 18, S. 169. GW 8, S. 392. Vgl. Trotzki, Leo: Mein Leben, Frankfurt a. M. 1974. Althusser, Louis in: Alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion Nr. 137, 04/1981, S. 80. Ebd., S. 81f. Schumacher, Ernst: Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts, Berlin 1977, S. 110. Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 2, Frankfurt a. M. 1990, S. 59. Schumacher: a. a. O., S. 304. Heeg: a. a. O., S. 158. Ebd., S. 147. Ebd., S. 148f. BFA 5, S. 10f. Heeg: a. a. O., S. 152f. Ebd., S. 150. Ebd., S. 144–146. Ebd., S. 146f. BFA 5, S. 115. Heeg: a. a. O., S. 160.

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KAFKAS BRUDER -

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Brecht und Kafka zusammenzudenken, scheint manchem vielleicht immer noch – zumindest auf den ersten Blick – verwegen. Und doch finden sie sich bei einigen bedeutenden Theoretikern und Künstlern in einem gemeinsamen Horizont reflektiert. Deren Interesse an Kafka und Brecht deutet auf tiefere, vielleicht verborgenere Ähnlichkeiten, ja Gemeinsamkeiten hin, als es das Schema der üblichen Rezeption vermuten lässt. Auffallend ist schon die Parallele, dass beide Autoren eine Lehrgattung, zum einen das Lehrstück (Brecht), zum anderen die Parabel (Kafka), aufgreifen, sie aber gleichsam gegen den Strich bürsten. Bei Kafka handelt es sich nicht um parabolisch verkleideten Sinn, sondern um sozusagen „blinde Parabeln“ – ein glücklicher Begriff, den man Gerhard Neumann verdankt. Sie erweisen sich als Parabeln, die in der Form einer verkleideten Sinnaussage das Aussagen des Sinns gerade in Frage stellen. Recht betrachtet, handelt es sich aber bei Brecht ebenfalls um die Simulation einer Lehre. Was die Lehrstücke wirklich zu lehren haben, ist eher die Grenze alles Lehrbaren als die berüchtigten Weisheiten, dass der Regen von oben nach unten fällt. Ihre Lehre geht vielmehr auf eine Leere, das Lehrstück ist ein Leerstück. Für Kafka gilt, dass sich diese Erkenntnis weithin durchgesetzt hat, verbunden mit der anderen, dass Kritik des Sinns nicht etwa gleichbedeutend ist mit Abwesenheit von Sinn – in diesem Fall wäre sein Werk ohne Interesse –, sondern heißt: über die Möglichkeit von Sinn wird verhandelt. Bei Brecht liegt der Fall insofern anders, als die Kruste der Vorurteile noch immer sehr dick ist, die verhindert, dass ein anderer Brecht als der geläufige lehrerhafte sichtbar werden kann. Für diesen anderen Brecht spielen aber Motive wie das Absurde, unaufhebbare Mehrdeutigkeit, Zweifel und das Bataillesche Gelächter über den zerplatzenden Sinn eine noch immer nicht genügend gewürdigte Rolle. Auch ein ähnliches Sprachideal springt dem Lesenden bei Kafka wie bei Brecht ins Auge: das Ideal einer radikal gedachten Nüchternheit. Es ist oft hervorgehoben worden, dass die Kunst der Brechtschen Lyrik gerade in ihrer nächsten Nähe zur Alltagssprache besteht. Wenn alles Wesentlich in die Abstraktion der „Funktionale“ abgewandert ist, so bleibt für die „kunstvolle“ Rhetorik früherer Literatur kein Raum mehr. Beide, Kafka wie auch Brecht, suchen, das Poetische ihres Schreibens nicht in

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der Hyperbel, nicht im ungewöhnlichen Ausdruck zu realisieren, sondern in der nächsten Nähe zum alltäglichen Sprachgebrauch. Kafka notiert: „Die besondere Art meiner Inspiration, […] ist die, daß ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe, zum Beispiel ‚Er schaute aus dem Fenster‘, so ist er schon vollkommen.“1 Das klare Wasser des Sees, in den die Schwäne „ihr Haupt tunken“, heißt bei Hölderlin „heilig-nüchtern“. So scheinen beide Dichter von dem Verlangen besessen, die Sprache von allem rhetorischen Zierrat zu entblößen, um eine tiefere Wahrheit der nüchternsten Sprachbewegung selbst hervortreten zu lassen – ein Spiegel, ungetrübt von Absichten und jenseits jeder vom Autor gedachten Idee, die die Sprache zum Vehikel erniedrigen würde. Es liegt auf der Hand, dass diese Haltung bei Kafka offensichtlicher zutage tritt als bei Brecht. Aber Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Sprache, einfach urteilslos Wirklichkeit zu treffen, findet sich auch bei ihm. Der junge Brecht hat schon notiert: „Die Sprache ist dazu da, um die Taten zu verurteilen. Dies ist ihre einzige Rolle. Aber sie füllt sie nicht einmal aus.“ Kafkas Schreiben verzichtet grundsätzlich auf die Metapher. Seine „Verwandlung“ setzt dort ein, wo keine sichernde Grenze mehr zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung gezogen werden kann – wodurch die literarische Rede und auch ihre Theorie zwangsläufig Abschied nehmen muss von der Vorstellung, Dichtung könne Realität zum Gegenstand von metaphorischer Abbildung machen und dabei die Sicherheit der Unterscheidung von wirklicher und metaphorischer Bedeutung aufrechterhalten. „Die Metaphern sind eines in dem vielen, was mich am Schreiben verzweifeln lässt.“2 Bei Brecht wiederum scheint das Protokollartige vieler seiner Texte fortwährend mitzuteilen, dass keine poetische Metapher an die darzustellende Realität heranreicht. Es wäre die These zu wagen, dass die Funktion des epischen Erzählens bei Brecht eine vergleichbare Funktion der Verfremdung ausübt wie Kafkas Methode der Erzählung (meist in der dritten Person) aus der beschränkten Perspektive des Protagonisten. In beiden Fällen nimmt der Leser im Hintergrund dessen, was die Protagonisten meinen, sagen, denken mögen, eine andere auktoriale Instanz und Position wahr, eine andere Wirklichkeit, die das Meinen der Protagonisten begrenzt, fragwürdig, von Ideologie geleitet erscheinen lässt. Und wenig verschlägt dieser Gemeinsamkeit gegenüber, dass jene Instanz einmal die Form einer rätselhaft bleibenden Verborgenheit der wirklichen Zusammenhänge annimmt (bei Kafka), einmal als den Subjekten unzugängliches Wirken der gesellschaftlichen Zusammenhänge ihres Daseins (bei Brecht). In beiden Fällen geht es um die Unmöglichkeit für das Selbstbe-

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wusstsein, von sich aus, in einer womöglich „dialektischen“ Entfaltung seiner selbst, zu (s)einer Wahrheit zu gelangen. Wenn bei Kafka die Figur des Außenseiters zum zentralen inhaltlichen Motiv avanciert, so ist auch bei Brecht, der doch den großen Sinn für Solidarität und Kollektiv hat, die Gestalt des Egoisten, des spontan auf sich Bestehenden und des Verräters am Kollektiv das zentrale Motiv seiner Stücke. Im Grunde geht es immer um Deserteure. „Ich scheiße auf die Ordnung der Welt. Ich bin verloren“3, heißt es in Fatzer. Mit wenig Übertreibung wäre eine Untersuchung denkbar, die Brechts gesamtes Theaterschaffen im Licht einer Poetik der Desertion beleuchtet. Brechts literarische Praxis war nicht, wie oft behauptet wird, der Versuch, Einordnung und Unterordnung zu propagieren. Vielmehr geht es von Kragler bis Galilei, vom jungen Genossen bis zu Fatzer, von Paul Ackermann bis zum Azdak, der, nur weil er bestechlich ist, Recht sprechen kann, immer wieder gerade um das Gegenteil, immer wieder um das eine Lebensthema Brechts: nämlich die Produktivität der Abweichung und ihr (tragisches) Scheitern. Der Einzelne, der aus subjektivem Fühlen heraus gegen den Strom der eigenen Partei schwimmt; das Individuum, das voll von Unvernunft auf dem Jetzt seines Lebens besteht – gegen alles planende, also den Wunsch aufschiebende Kalkül. Jedes seiner Stücke betreibt die Darstellung der Wirksamkeit einer radikalen Unvernunft mitten im Herzen der Rationalität. Wie eingangs erwähnt, findet man bei verschiedenen Künstlern und Theoretikern ein Naherücken von Kafka und Brecht. Heiner Müller ist ein Beispiel, dessen Bewunderung beiden Künstlern galt. Sein Werk ist von Nikolaus Müller-Schöll mit Brecht und Benjamin unter dem Term des „konstruktiven Defaitismus“ zusammengebracht worden. Tatsächlich hat Müller, der Brechtianer par excellence, zur Selbstschulung ganze Texte von Kafka Wort für Wort abgeschrieben. Der Prosablock „Der Mann im Fahrstuhl“ in Der Auftrag ist ein durch und durch kafkaesker Text, man denke nur an das Prosastück „Eine alltägliche Verwirrung“. Müller hat In der Strafkolonie als Kurzfassung verarbeitet und Kafkas „Das Stadtwappen“ zitiert. Er nennt „Kentauren“, Teil vier der Wolokolamsker Chaussee ein „Greuelmärchen aus dem Sächsischen des Gregor Samsa“ und es gibt vieles mehr an Bezugnahmen. Dies alles lässt eine eigentümliche Nähe zu Kafka, der – wie Müller einmal notiert – „für das Feuer schrieb“, erkennen. „Kafka hat sich ins KZ geschrieben, weil er Auschwitz als die Konsequenz europäischer Kultur spürte.“4 Es wären andere Beispiele zu nennen, etwa Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, die in ihrem Film Klassenverhältnisse, eine Konjunktion von Brecht und Kafka, Verfremdung und absurd anmutender Narration

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herstellen. Vor allem aber hat Walter Benjamin Kafkas Schreiben in einem Vokabular erörtert, das ihm Brecht sonderbar naherückt. Er definiert seine Texte als Versuchsanordnungen, in denen Gesten nach ihrer Bedeutung befragt werden. „Ja man darf weitergehen und sagen, […] daß Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere, symbolische Bedeutung haben.“5 In diesem Zusammenhang hat er die Bedeutung der Gesten bei Brecht und Kafka verglichen. Bei beiden speist sich ihm zufolge die Kraft des Gestischen gerade aus der Möglichkeit, die einsinnige Semiotisierung der erfahrenen Wirklichkeit durch Sprachzeichen zu destabilisieren. Die Gesten Kafkas sind kaum deutbar und hochsuggestiv zugleich: all jene gesenkten, gebeugten und geneigten Köpfe, das Sich-Aufrichten und Hochrecken der Figuren, das Hinkauern, Fallen, Liegen und Sich-Krümmen, das rätselhafte Händeklatschen, die Gebärde der Scham am Ende von Der Prozess oder der Deckenwurf des Vaters in Das Urteil: „‚Nein!‘, rief der Vater, daß die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond.“6 Soviel steht fest: Sie alle unterbrechen die Bahn sinngebender Formulierung in der Sprache zugunsten einer körperlichen Gebärde, deren Bedeutung im Ungewissen bleibt, auch wenn sie noch so dringend nach Deutung ruft. 2

Entgegen einer verbreiteten Fehldeutung sind die Gesten auch bei Brecht keineswegs eindeutig definiert, zumal der eigentliche Schlüsselbegriff bei Brecht der des Gestus ist. Falsch ist die Vorstellung, dem Gestus sei eine sicher lesbare „soziale“ Bedeutung beizumessen. Der Gestus ist für Brecht eine Kategorie der Performance, die gerade durch ihre Widersprüchlichkeit einen Knoten von Bedeutungen schafft: „Unter einem Gestus sei verstanden ein Komplex von Gesten, Mimik und (für gewöhnlich) Aussagen, welchen einen oder mehrere Menschen zu einem oder mehreren Menschen richten.“ Eine Regung, eine Äußerung, ein Tun tritt erst in das Feld des Gestus ein, wenn die Beziehung auf andere dabei gegeben ist. Demnach wäre die gestische Handlung eines Menschen, der seinen Gott anruft, kein Gestus. Der Gestus ist in diesem Sinne immer sozialer Gestus. Kurioser Weise hat Brecht um 1926 im Zusammenhang mit dem Baal die folgende Notiz gemacht: „Die dramatische Biografie ‚Baal‘ behandelt das Leben eines Mannes, der wirklich gelebt hat. Es war ein gewisser Josef K., von dem mir Leute erzählten. […] Mein Freund sagte mir, er habe durch die unvergleichliche Art, sich zu

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bewegen (im Nehmen meiner Zigarette beim Sichsetzen auf einen Stuhl und so weiter), auf eine Reihe von vornehmlich jüngeren Leuten einen solchen Eindruck gemacht, daß sie seine Art nachahmten.“7 So wie bei Kafka die Sprache ihrer Unfähigkeit überführt wird, unzweideutig auf Wirklichkeit zu referieren, so hat Brechts Technik des Gestus die Einsicht zur Folge, dass sprachliches Signalement die Komplexität der Wirklichkeit am ehesten trifft, wenn es gerade auf die eindeutig lesbare Bedeutung Verzicht tut und alle Bedeutung vielmehr durch körperliche, also eo ipso kaum je ganz eindeutige Zeichengabe bricht. Gerade diese Uneindeutigkeit soll im Theater durch den Gestus hervortreten. Man muss angesichts so weit verbreiteter Vorurteile immer wieder darauf bestehen: Den Gestus hat Brecht als zentrales Konzept seiner Theatertheorie nicht in Anschlag gebracht, um begrifflich Gewusstes mit dem Körper illustrierend darzustellen. Vielmehr weil eben das Wort, der Diskurs, die Theorie nicht ausreicht, um die entscheidenden politischen Probleme und Konflikte darzustellen, wird das Theaterspiel und also vor allem das Gestische benötigt. Das ist der radikale Gedanke, welcher der Lehrstückidee zugrunde liegt: Die Schulung und Selbstschulung, das Lehren und Lernen des Politischen kann nicht nur eine Sache der Sprache, der Theorie sein, sondern benötigt unausweichlich das körperliche Durchspielen, also das Theater. Greifen wir zur Illustration ein Beispiel aus dem vielleicht am meisten auf Didaxe geeichten, scheinbar am meisten der Brecht-Orthodoxie entgegenkommenden Kleinen Organon für das Theater auf. Brecht beschreibt für einen potentiellen Schauspieler den Gestus des Galilei: Gehen wir um zum geistigen Gehalt zu kommen die Anfangsszenen eines neuen Stückes durch, meines „Leben des Galilei“. […] Es beginnt mit den morgendlichen Waschungen des Sechundvierzigjährigen, unterbrochen durch Stöbern in Büchern und eine Lektion für den Knaben Andrea Sarti über das neue Sonnensystem. Mußt du nicht wissen, wenn du das machen sollst, mit dem Nachtmahl des Achtundsiebzigjährigen, den eben derselbe Schüler für immer verlassen hat? Er ist dann schrecklicher verändert, als diese Zeitspanne es hätte zuwege bringen könnnen. Er frißt mit haltloser Gier, nichts anderes mehr im Kopf, er ist seinen Lehrauftrag auf schimpfliche Weise losgeworden, wie eine Bürde, er, der einst seine Morgenmilch achtlos getrunken hat, gierig, den Knaben zu belehren. Aber trinkt er sie wirklich ganz achtlos? Ist sein Genuß an dem Getränk und der Waschung nicht eins mit dem an den neuen Gedanken? Vergiß nicht: er denkt der Wollust wegen! Ist dies etwas Gutes oder etwas

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Schlechtes? Ich rate dir, da du im ganzen Stück darüber nichts der Gesellschaft Nachteiliges finden wirst, und besonders, da du doch selber wie ich hoffe, ein tapferes Kind des wissenschaftlichen Zeitalters bist, es als etwas Gutes darzustellen. Aber notiere es deutlich, viel Schreckliches wird in dieser Sache passieren.8 Es geht um die Gesten der Gier und bei der Gier darum, dass sie unauflöslich in einer politisch und moralisch prekären Ambiguität verbleibt. Denn das, was Galilei zum Erkennen befähigt, und das, was ihn zum Verräter werden lässt – die Gier zu lehren und die Gier zu fressen –, sind untrennbar verlötet und genau diese Identität der Impulse, die im Grunde moralisch und politisch undenkbar ist, soll der Gestus zeigen. Ist Denken aus Wollust etwas Gutes? „Ich rate dir“, heißt es mit sonderbarer Unbestimmtheit, „es als etwas Gutes darzustellen.“ Aber wie soll man das verstehen? Weil man es so darstellen muss oder weil es gut ist? Und warum soll gerade der Tapfere die Wollust als Motiv positiv darstellen? Wie immer man es drehen und wenden mag, sibyllinisch bleibt die Auskunft Brechts allemal. Sie ist kaum klarer als die Sacherläuterungen Kafkascher Beamter. Was Brecht als „gestischen Gehalt“ oder als „gestisches Material“ bezeichnet, bleibt im Text eine Serie von Indizien ohne letzte Gewissheit. Wie aber ist es möglich, dass diese Geste des Autors Brecht so gründlich verkannt und buchstäblich überlesen werden konnte und kann? Immer wieder lässt sich feststellen, dass Brecht nicht nur in seiner Dichtung, sondern sehr oft auch in den theoretischen Schriften, planmäßig eine Ästhetik des Widerhakens praktiziert, bei der durch sprachliche Nuancen oder dramaturgische Verfahren unter und hinter der scheinbar schlichten Aussage ein Schwanken des Sinns hervortritt, das die eindeutige Lesbarkeit – anders und an anderer Stelle als bei Kafka – suspendiert. 3

Was heißt an anderer Stelle? Bei Kafka gibt es eine Kritik der Sprache als Mitteilung, als ein verdinglichendes Fest-Stellen der Realität, die ihn zu dem Bemühen um etwas wie eine „reine Sprache“ treibt, zu dem – im Grunde natürlich unmöglichen – Unterfangen, die Sprache zu bewahren, sie zu retten dadurch, dass sie ihre Referenzfunktion und damit alle gewisse Unterscheidung von Realem und Metaphorischem, von Humanem und Tierhaftem demontiert. Sprache sucht bei Kafka den Punkt, wo sie, wie laut Gershom Scholem die Heilige Schrift der Tora, im Grunde nicht und nichts bedeutet, sondern nur sich selbst manifestiert. Einen Sinn nicht darstellt, sondern nur eine Kraft manifest macht. Die Tora ist Scho-

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lem zufolge im Grunde nur Hieroglyphe des Gottesnamens, das absolute Wort: „Dieses Wort teilt sich ursprünglich in seiner unendlichen Fülle mit, aber diese Mitteilung – und das ist der springende Punkt – ist unverständlich! Sie ist keine Kommunikation, die der Verständigung dient.“9 Nikolaus Müller-Schöll hat darauf aufmerksam gemacht, welch große Bedeutung in Benjamins Brecht-Wahrnehmung der Gedanke einnimmt, dass es bei Brecht eine durchaus analoge Fragestellung gibt, nämlich die „Richtung auf eine von allen magischen Elementen gereinigte Sprache“10. Das wäre eine Sprache, die man radikal endlich und rein mittelbar nennen könnte, eine Sprache „ohne Ethik, Moral oder Erkenntnis, eine Sprache ohne Verdinglichung, ohne Ungewissheit über Sprecher oder Referenten, ohne Aufschub und Ablenkung des Sinns“11. Bei Kafka wäre die Sprache, die er als „reine Sprache“ betrachtet, eine, die im Grunde nichts bedeutet. Wir lassen hier die sprachphilosophische Problematik auf sich beruhen, die in diese Reflexionen hineinspielt, und lassen es bei der Feststellung der Parallele zwischen Brecht und Kafka in diesem Punkt bewenden. Während Kafka auf der Suche nach einer „reinen Sprache“ die Sprache selbst von ihrer Darstellungsfunktion zu befreien sucht, will Brecht bei aller Einsicht in das Verfehlte und Verkehrte der Sprache als Repräsentation zum Trotz nicht ablassen vom Sprechen als Aussagen – und dies wohl um der möglichen, wie immer auch indirekten (womöglich politischen) Wirksamkeit der Kunst willen. Doch das Aussagen erfährt in seinem Schreiben in ähnlich radikaler Weise wie bei Kafka eine Zäsur: durch Entstellung, Verschiebung, Verunklarung, Zweifelhaftigkeit dort, wo man zunächst eine klare Aussage oder ein deutliches Urteil zu vernehmen glaubt. Dennoch lässt er die Abbildung, die Kommunikation, die Alltagsrede und das Urteilen in sein Schreiben ein, bricht, spaltet und versetzt, verschiebt diese Gesten jedoch so sehr, dass das politische Bewusstsein einen Schwindelanfall davonträgt. Brecht hat sich nicht gescheut, die Momente der Kälte, der Verdinglichung, die allem politischen Eingriff anhaftet, auf sich zu nehmen und ihnen Einlass in seinen Text zu gewähren – während Kafka das Schreiben ohne Telos als eine Möglichkeit des „Heraustreten aus der Totschlägerreihe“ ansah. Kafka wollte die Sprache nach Maßgabe des Möglichen vom Referieren auf Wirklichkeit rein halten. Brecht ging nicht den Weg des Verzichts auf alle Referenz, auch nicht im Verzicht auf die Nähe zur kommunizierenden Alltagsrede. Adorno hat jedoch unzulässig vereinfacht, als er schrieb: „Das Kunstwerk, das den Gehalt von sich aus zu besitzen glaubt, ist durch Rationalismus schlecht naiv: das dürfte die geschichtlich absehbare Grenze Brechts sein. […] Die Dunkelheit des Absurden

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ist das alte Dunkel am Neuen. Sie selbst ist zu interpretieren, nicht durch Helligkeit des Sinns zu substituieren.“12 Gerade das geschieht aber bei Brecht – wenn auch auf andere Weise als in der Sprache Kafkas. Dramaturgisch und poetisch wird der Sinn stets wieder gespalten, auch wenn dies nicht immer klar zutage liegt. 4

Wie sah Brecht selbst Kafka? Benjamin berichtet, Brecht habe ihm gegenüber Kafka als den „einzig echten bolschewistischen Schriftsteller“ bezeichnet. Und Brecht notierte über Kafka: Bei ihm findet sich in merkwürdigen Verkleidungen vieles Vorgeahnte, was zur Zeit des Erscheinens der Bücher nur wenigen zugänglich war. Die faschistische Diktatur steckte den bürgerlichen Demokratien sozusagen in den Knochen, und Kafka schilderte mit großartiger Phantasie die kommenden Konzentrationslager, die kommende Rechtsunsicherheit, die kommende Verabsolutierung des Staatsapparats, das dumpfe, von unzugänglichen Kräften gelenkte Leben der vielen einzelnen. Alles erschien wie in einem Alpdruck und mit der Wirrheit und Unzulänglichkeit des Alpdrucks. Und zu gleicher Zeit, wo der Intellekt sich verwirrte (mich erinnert Kafka immer an die Aufschrift am Tor der dantischen Hölle: „Wir sind jetzt angekommen vor dem Tor des Lands / wo alles wehrlos ist, was leidet / das hat verspielt das Erbgut des Verstands“), klärte sich die Sprache. Deutsche Schriftsteller werden unbedingt diese Werke lesen müssen, so schwer das ist, da die Stimmung der Ausweglosigkeit sehr stark ist und man zu allem Schlüssel braucht wie bei Geheimschriften. Ich sehe, ich habe viele Mängel aufgezählt in diesen kurzen Sätzen, mit denen ich eine Ehrung beabsichtige, und tatsächlich bin ich weit davon entfernt, hier ein Vorbild vorzuschlagen. Aber ich möchte diesen Schriftsteller nicht auf den Index gesetzt sehen, bei allen seinen Mängeln. Oft dienen die Schriftsteller uns auch mit dumpfen, dunklen und schwer zugänglichen Werken, die man mit großer Kunst und Sachkenntnis lesen muß, als wären sie illegale Zuschriften, dunkel aus Furcht vor der Polizei. Und man kann auch mit Nutzen Werke voll von Irrtümern lesen, wenn sie auch anderes enthalten. Mißtrauen vernichtet nicht das Lesen, sondern Mangel an Mißtrauen.13 Und Brecht hat Kafka einen wunderbaren und in seiner sich schlangenartig in sich selbst einrollenden Syntax pastiche-artigen Text gewidmet, „Geziemendes über Franz Kafka“:

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Wenn es überhaupt erlaubt ist, über eine wirklich ernste Erscheinung wie Franz Kafka inmitten einer literarischen Umwelt, der gegenüber Ernst jeder Art einfach ungerecht wäre, in einer Sprache, die ihre gewohnheitsmäßige Saloppheit also nur durch höfliche Einsicht verteidigen könnte, irgend etwas zu sagen, was gemessen an dem Gegenstand auf jeden Fall belanglos sein muß, so bedürfte es zum mindesten eben der Entschuldigung. Zu ihrer Ehre muß gesagt werden, daß die Zeit ziemlich unumwunden zugibt, daß sie nichts für Erscheinungen wie Kafka ist. Alle Versuche, ihn für einen der Ihrigen zu erklären, müßte dem Geschmeiß diesseits und jenseits des gemeinsamen Feuilletonstrichs eventuell auch mit Mitteln verkleidet werden, die in ihrer Zweckdienlichkeit vielleicht nur früheren barbarischen Zeiten geläufig waren. Ich würde im Bedarfsfall vor völliger Existenzvernichtung keinen Augenblick zurückschrecken.14 Wenn, würde, könnte, im Falle, bedürfte – kaum jemand dürfte sich zutrauen, festzustellen, was diese geschlängelte Passage im Grunde aussagt – abgesehen von der Bewunderung trotz und wegen aller Distanz. In Brechts Gedicht „An den Schwankenden“ wird konstatiert, die Finsternis im Weltleben nehme zu, die Kräfte derer, die sich dagegen auflehnen, aber ab. Nach vielen Jahren der Arbeit stehen die Genossen „in schwierigerer Lage als am Anfang“. Der Feind „hat ein unbesiegliches Aussehen angenommen“ usw. Der Text fährt fort: Was ist jetzt falsch von dem, was wir gesagt haben Einiges oder alles? Auf wen rechnen wir noch? Sind wir Übriggebliebene, herausgeschleudert Aus dem lebendigen Fluß? Werden wir zurückbleiben Keinen mehr verstehend und von keinem verstanden? Müssen wir Glück haben? So fragst du. Erwarte Keine andere Antwort, als die deine!15 Der Ort der Antwort ist nicht draußen, in keiner Instanz des Wissens, auf die man sich verlassen könnte. Der Ort der Antwort ist dort und nur dort, wo – gefragt wird. Diesen Ton Brechts meint man manchmal in Kafkas Aufzeichnungen herauszuhören:

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Also damit höre auf. Man kann sich nicht schonen, nicht vorausberechnen. Du weißt nichts von dir in der Hinsicht, was besser für dich ist. […] Dich schwinge also auf. Dich bessere, der Beamtenhaftigkeit entlaufe, fange doch an zu sehn, wer du bist, statt zu rechnen, was du werden sollst.16 Ein Pendant zu Brechts Verweigerung der Antwort ist in einem Text zu erblicken, den Kafka mit dem Titel „Ein Kommentar“ versehen hat: Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, daß es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: „Von mir willst du den Weg erfahren?“ „Ja“, sagte ich, „da ich ihn selbst nicht finden kann.“ „Gibs auf, gibs auf“, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.17 Wie man eine Seite umschlägt, so wendet sich der Schutzmann mit einem großen Schwunge ab. Es scheint, er will mit seinem Lachen allein sein, und zwar wohl deshalb, weil dieses Lachen die eigentliche Aussage und einzige Auskunft ist, die zu haben ist. Es ist das Gelächter Batailles darüber, dass der Sinn zerplatzt, wenn man ihn als Wissen, als Auskunft, als Information zu finden hofft. Kafkas Lachen ist ein eigentümlicher Apparat. Odradeks Lachen in „Die Sorge des Hausvaters“ zum Beispiel klingt wie das Rascheln von Blättern, in denen man Blätter von Papier mithört. Von Kafka als Vorleser seiner Texte wissen wir durch Max Brod, dass der Autor dabei manchmal so unbändig lachen musste, dass er vor Lachen, wie Brod schreibt, „weilchenweise nicht weiterlesen konnte“. Und es ist kaum ein Zufall, dass Kafka an Felice schreibt, dass er „höllisch gern“ vorlese, und zugleich bemerkt, es gebe „kein größeres Wohlbehagen für den Körper“ als das Vorlesen. Zugleich „Spaß und Verzweiflung“, notierte Kafka, sei ihm das Schreiben – und wohl auch das Vorlesen: „[…] nur das Schreiben ist hilflos, wohnt nicht in sich selbst, ist Spaß und Verzweiflung“.18 Der Text ist exemplarisch für Kafkas Schreiben insgesamt, in der Buchstäblichkeit der Worte, genauer: des Materials der Sprache etwas wie eine „reine Sprache“ zu verwirklichen, eine Sprache, die weniger im

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Aufbau als im Abbau einer Wirklichkeitsbezeichnung besteht und vielmehr die Sprache als Sprache selbst inszeniert. Indem die Sprache sich hartnäckig immer wieder auf sich selbst bezieht, inszeniert sich bei Kafka die Literatur selbst samt der fundamentalen Zäsur, die sie als ein Abgrund von der Konstitution einer Abbildung, eines Sinns trennt. Die geschilderte Szene erschließt sich nur, wenn man nicht so sehr fragt, um welche Stadt es sich etwa handeln mag, warum ein Polizist dort so sonderbar auf eine doch recht normal scheinende Frage reagiert, sondern wenn man den Textprozess selbst, Lesen oder Schreiben gleichviel, im Sprachmaterial vergegenwärtigt findet. Dann liest man etwa im frühen Morgen einfach den Beginn des Text-Tags, der anfängt in den Bahnen, Wegen, Straßen des Zeichenmaterials, in das es jeden Schreibenden immer schon vor allem eigenen Beginn verschlagen hat wie in eine nur sehr teilweise vertraute, eigentlich immer fremd bleibende Umgebung. Der Etymologie nach bedeutet „leer“: was gelesen werden kann. Noch ist die Bewegung des Schreibens rein wie das leere Blatt Papier. Aber indem die Schrift der Bedeutungsgabe beginnt, ist sie schon verspätet. Immer schon geht die Uhr der parole nach, weil sie den Bedeutungen, die die langue unkontrollierbar vorausgeschickt hat, nur folgen kann. Im Fortgang wird das Bewusstsein der Verwirrung immer klarer, Bedarf nach einer Sicherheit, einem Schutz, einem Schutzmann kommt auf. Aber keine Autorität ist imstande, den Sinn, die richtige Richtung anzuzeigen und festzulegen. Immer wieder kann man diese Beobachtung bestätigen: Der titelgebende Bau ist die Sprache selbst; in In der Strafkolonie wird am Ende ein rätselhaftes Tau erwähnt, das ist der letzte Buchstabe des hebräischen Alphabets; der Riesenmaulwurf in der gleichnamigen Erzählung erweist sich als Auswurf eines Mauls, eine Erscheinung, die im Text ebenso systematisch abgetragen wird usw. Das Schreiben folgt einer Bahn des Entzugs, der Verundeutlichung, Entleerung, ja des Entzugs des in der Sprache Gegebenen. Was bleibt ist die Sprachbewegung selbst. Sie können wir lesen, denn mit dem Gegenstand ist ja keineswegs die Rede von ihm geschwunden. Das Gesetz von Kafkas Schreiben lautet: Entzug der Referenz. Das ist zum Verzweifeln und zum Lachen zugleich. Anders – natürlich – als Brechts Entzug der Aussage. Aber in der Tiefe verwandt. 5

Es steht mit der Relation der Brechtschen Kunst zu der Kafkas ein wenig wie mit der Relation Brecht – Beckett oder Brecht – Celan. Die Brecht-Orthodoxie hat alles dafür getan, den Zusammenhang Brechts mit der sprachkritischen und sprachskeptischen Moderne zu verwi-

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schen, eine Nachbarschaft, die in Wahrheit elementar für jedes Verstehen Brechts ist, das ihn nicht auf einen Thesen dreschenden Doktrinär reduzieren will. Brecht setzte bei der Selbstkritik einer Sprache und Dichtung an, die wohl etwas sagen will, bedeuten will, aber auf den Weg der Einschränkung und Verarmung, gezwungen wird: In meinem Lied ein Reim Käme mir fast vor wie Übermut. In mir streiten sich Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers. Aber nur das zweite Drängt mich zum Schreibtisch.19 Anstelle einer erneuten Analyse des am Ende sinnfreien Kampfes zweier Männer in Im Dickicht der Städte betrachten wir die Spur des Absurden, das in Brechts frühen Stücken und in seiner Prosa aufleuchtet, lediglich anhand einer kleinen Abhandlung zu diesem Stück, über die man lacht, weil sie die Suche nach dem Sinn desavouiert: Es sind zwei Männer auf der Bühne. Der Dicke von ihnen bietet dem Dünnen von ihnen eine Orange an. Der Dünne schlägt das Geschenk höhnisch aus. Man hört ihn sagen, er pfeife auf die Orange, hei! Das Publikum könnte nun sagen: „Ich an der Stelle des Dünnen würde die Orange annehmen“ oder: „Ich würde sie auch ausschlagen“. Es könnte fragen: „Warum nimmt der Dünne die Orange nicht?“ Aber das Publikum sagt in Wirklichkeit nur: „Erstens bietet keiner einem andern ohne Grund eine Orange an, zweitens schlägt keiner ohne Grund eine Orange aus.“ Ich als Autor der Szene würde diese beiden Fragen mit Vergnügen erlauben, wenn ich annehmen könnte, daß das Interesse des Publikums gerade durch diese beiden Rätsel gesteigert wird. Aber das Publikum hat das Interesse bereits völlig verloren, denn es beschäftigt sich jetzt schon nur mehr mit der Frage: „Ist das nicht ganz unwahrscheinlich? Warum zeigt man uns diesen Vorgang?“ Jetzt geht die Szene weiter. Der dicke Mann bietet dem dünnen Mann zum zweitenmal die Orange an (das Publikum könnte sagen: „Er hat keinen Charakter“, aber es sagt: „Das ist noch unwahrscheinlicher“), und der Dünne schlägt sie nicht nur zum zweiten Male aus, sondern er zieht sogar einen Revolver und schießt den dicken Mann tot (das Publikum sagt nicht etwa:

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„Das ist häßlich von dem Dünnen“ oder: „Dieser Dünne hat es in sich“, sondern das Publikum sagt: „Das ist der Gipfel“, und verläßt das Theater).20 Das Absurde blieb bei Brecht nicht auf das frühe Werk beschränkt. In Mahagonny erblickte Adorno die erste surrealistische Oper und über Arturo Ui erklärte Burkhardt Lindner: „Streng stückimmanent genommen, ist es absurdes Theater, das als Aufstieg des Ui inszeniert wird.“21 Beide, Kafka wie Brecht, trauten dem Schutzmann namens Sinn und Antwort nicht über den Weg. Brecht steht mit der Poetik von Aussagen, Lehren, Kommunikation und Alltagsrede nur scheinbar außerhalb der literarischen Moderne, auf den zweiten Blick gehört er dazu. Er wollte nicht bestimmte Gedanken verbreiten, sondern die Denkweise verändern durch das Zertrümmern von Ideologien, zu denen in allererster Linie der Irrtum der Verständlichkeit gehört. Statt raschem Verständnis soll der Zuschauer die Erfahrung der Unbegreiflichkeit machen. 1928 notiert Brecht: „Es ist, wenn der Dramatiker die Figur des Dritten Richard darstellt, nicht seine Aufgabe, uns die Taten dieses Menschen möglichst begreiflich zu machen, sondern sie uns als ganz ungeheuerlich, unmenschlich, fremdartig, ihren Täter als bemerkenswertes, aber fast unzugängliches Tier vorzustellen. Dadurch entsteht der Zuwachs im Zuschauer, denn er erlebt die Reichhaltigkeit und durch sein Verständnis keineswegs erschöpfbare Göttlichkeit der Welt.“22 In einer merkwürdigen Passage des Aufsatzes „Was ist das epische Theater?“ erklärt Benjamin, das epische Theater gebe nicht Zustände wieder, sondern entdecke diese Zustände vielmehr. Das Mittel dieser Entdeckung aber sei die „Unterbrechung von Abläufen“. Kurz zuvor hat Benjamin definiert: „Gesten erhalten wir umso mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen.“23 Insofern ist das, was Benjamin als „das primitivste Beispiel“ einer solchen Unterbrechung von Abläufen anführt, offensichtlich zugleich als eine Definition der Gesten zu verstehen – „eine Familienszene“: Plötzlich tritt da ein Fremder ein. Die Frau war grade im Begriff, ein Kopfkissen zu ballen, um es nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen, um einen Schupo zu holen. In diesem Augenblick erscheint in der Tür der Fremde. „Tableau“, wie man um 1900 zu sagen pflegte. Das heißt: der Fremde stößt jetzt auf den Zustand: zerknülltes Bettzeug, offenes Fenster, verwüstetes Mobiliar. Es gibt aber einen Blick, vor dem auch die gewohnteren Szenen des bürgerlichen Lebens sich nicht viel anders ausnehmen.24

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Kafkas Bruder

Mehr als an Brecht, bei dem es eine solche Szene nicht gibt, dürfte hier so mancher Leser an Kafka denken. Kunst ist: machen, was man nicht kann, liebte Heiner Müller zu sagen. Etwas feiner sagt uns die Theorie, dass die Moderne insgesamt im Zeichen des Nichtgelingens, des Scheiterns steht. Sie beginnt mit dem Kollaps, dem Zusammenbrechen, dem Ungültigwerden aller ordnenden Rahmen und trägt daher das Misslingen gewissermaßen als Ehrentitel an sich. Kafka verstand sich selbst in diesem Sinne als ein Gescheiterter (er wollte bekanntlich alles, was er geschrieben hatte, dem Feuer überantworten). Wie alle Vertreter der Moderne in der Kunst bestritt Kafka den Vorrang des Wissens und der Form der Repräsentation, die kognitiv bestimmt sind, vor der Erfahrung, die stets den Bruch, die Zweideutigkeit und das Unwissen vermittelte. Benjamin schreibt: „Je weiter Kafkas Meisterschaft gedieh, desto öfter verzichtete er darauf, diese Gebärden üblichen Situationen anzupassen, sie zu erklären.“25 Man entsinnt sich der Feststellung des Erzähleraufsatzes: „[…] ist es doch schon die halbe Kunst des Erzählens, die Erzählung von Erklärungen freizuhalten“. Es ist an der Zeit, den Erfinder des epischen, d. h. auch: des erzählenden Theaters als Kafkas Bruder lesen zu lernen.

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Kafka, Franz: Tagebücher, Frankfurt 1997, S. 33. Ebd., S. 403. GBA 10.1, S. 387ff. Müller, Heiner/Raddatz, Frank: Jenseits der Nation, Berlin 1991, S. 54. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften II.2, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1999, S. 418 Benjamin, Walter: Illuminationen, Frankfurt a. M. 1961, S. 250. GBA 17, S. 955. Nikolaus Müller-Schöll hat darauf aufmerksam gemacht. GW 16, S. 690f. Hervorh. v. Verf. Scholem, Gershom: Über einige Begriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1970, S. 108. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften II.3, S. 956. Müller-Schöll, Nikolaus: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“, Frankfurt a. M./ Basel 2002, S. 143. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003, S. 48. BFA 22.1, S. 37f. Ebd., S. 158. GBA 12, S. 47. Kafka: a. a. O., S. 372f. Ebd., S. 87. Ebd., S. 403. GW 9, S. 744. Brecht, Bertolt: „Bühne ohne Kredit“, in: ders.: Schriften zum Theater 1, S. 73f. Burkhardt Lindner nach Gerz, Raimund: „Der Aufstieg des Arturo Ui“, in: BrechtHandbuch, Bd. 5, hrsg. v. Jan Knopf, Stuttgart/Weimar 2001, S. 463. GW 17, S. 30. Benjamin, Walter: Versuche über Brecht, Frankfurt a. M. 1966, S. 9. Ebd., S. 11. Benjamin: Gesammelte Schriften II.2, S. 418.

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ADORNOS BRECHT -

Ein Zufall des Alphabets macht die Namen Adorno, Brecht, Celan zu einem ABC des Nachdenkens über den Stand von Kunst in der Gegenwart. Wir lassen uns von diesem Zufall leiten und reflektieren Adornos Kritik an Brecht auf einem Umweg, nämlich im Spiegel eines kleinen Gedichts von Paul Celan „für“ Brecht. Es lautet: EIN BLATT, baumlos, Für Bertolt Brecht: Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch beinah ein Verbrechen ist, weil es so viel Gesagtes mit einschließt.1 Das „Blatt“ ist Brecht zu-geschrieben, und natürlich handelt es sich um eine „Antwort“, um einen Dialog mit einer berühmten Stelle aus Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!2 In Brechts Gedicht ist oder scheint doch eindeutig, was es „sagen will“. Es bewahrt die Form eines geschriebenen Anrufs und Ausrufs, mit Ausrufungszeichen, an eine größere Öffentlichkeit, ist Adresse an die „Nachgeborenen“, Ansprache, die die Stimme im Schweigen der Schrift aufbewahren will. Brecht färbt aber dadurch zugleich das „Gesagte“, das, was einfach eine „Aussage“ zu sein scheint, in einer Weise, die Beachtung verdient, mit einer kleinen performativen Drehung in einen Ausruf um: Der sozusagen kopfschüttelnd getane Seufzer streift dem Ausgesagten, wenn auch nur um ein Weniges, den Charakter einer planen Setzung ab. Das in der Schrift bewahrte Sprechen wird so mehr Manifestation einer Geste der Klage sein als Affirmation einer bestimmten Weltdarstellung und Bedeutung („finstere Zeiten“). Der Autor setzt, trotz der finsteren Zeiten, auf eine Kommunikation, er glaubt (immerhin) noch an die Möglichkeit der Mitteilung seiner Geste. Am Ende des

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Gedichts steht eine Bitte zwar nicht um Verzeihung, aber doch um „Nachsicht“: Ihr aber, wenn es so weit sein wird Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist Gedenkt unsrer Mit Nachsicht. Nachsicht heißt hier eine Sicht aus der Zukunft „nach“ der Gegenwart des Schreckens. Die Leiden und Schmerzen der Verjagten und Verfolgten – „Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd / Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt / Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung“3 – sollten ausreichen, das kritische Urteil der Nachwelt über die damals Lebenden, Urteilenden, Kämpfenden mindestens zu relativieren. Denn mit einem unnachsichtigen Urteil wird gerechnet. Auch die, die gegen das Unrecht kämpfen, sind in es verstrickt, ihre Züge verzerrt, ihre Stimme heiser, wie das Gedicht es sagt: Dabei wissen wir ja: Auch der Haß gegen die Niedrigkeit Verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht Macht die Stimme heiser. Ach, wir Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit Konnten selber nicht freundlich sein. Immer ist die Rede der Kunst tiefer verwandt mit dem, was sie denunziert, als man meint. Das „Gespräch“, die adressierte Rede der Kunst, ist selbst auch ein Ast an jenen Bäumen, fast ein Verbrechen, den man von diesem Baum brechen könnte – im „fast“ ist noch der Ast des Baums zu hören. Wenn Sprache sich auf Natur bezieht, nicht auf die Schrecken des Politischen, so wird sie fast – aber eben nur: fast – als ein Verbrechen er-fasst. Celans winzige Nuancen in seiner Replik sind vielsagend. In die Dominanz des Themas Zeit bei Brecht schiebt sich bei ihm unmerklich eine Assoziation an den Raum. Aus fast wird beinahe, und die räumliche Vorstellung im Verb „einschließen“ wird durch das hinzugefügte „mit“ aktualisiert. Der Sprache des Gedichts kam die Geschichte, die Perspektive, damit der (Richtungs-)Sinn, abhanden. Das Blatt fiel ab, ist baumlos, das Blatt Papier des Gedichts ist allein, ohne ein Ich, das sich, wie bei

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Adornos Brecht

Brecht, manifestieren könnte oder wollte. Auch auf einen organischen Zusammenhang der Schrift mit ihrer Umwelt ist nicht mehr zu hoffen. Celans Blatt kennt nur die Geste der persönlich überantworteten Gabe „für“, die Geste des Gebens vom Einsamen zum Exilierten – beides durchsichtige Allegorisierungen des Subjekts der Literatur. In Brechts Text wird, der offenkundigen Vereinsamung des sprechenden exilierten Ich zum Trotz, ein allgemeinerer Adressat unterstellt. Auch darum ist Celans Gedicht-Blatt „baumlos“: Es verzichtet radikal – nicht allein auf das Besingen der Natur, sondern auch noch auf den verborgenen Zusammenhang zwischen dem moralisch (beinahe) verwerflichen Gespräch und dem Baum. Das Schweigen, das in jedem Wort mitgehört wird, das nicht dem Schrecken des Massenmords und der Auslöschung des Gedächtnisses gilt, ist ein entscheidend wichtiges Motiv Celans. Dieses Schweigen gibt es bei Brecht auch, es gilt ihm ebenfalls als fast verbrecherisch. Aber es gibt bei ihm auch die Unmöglichkeit, nicht davon zu sprechen. In nuce ist hier der Widerspruch ausgetragen, der Adornos Kritik an Brecht und seine Parteinahme für die hermetische Lyrik motivierte. Ist es aber berechtigt, so darf und muss man fragen, eine Poetik als simplifizierend abzufertigen auch dann, wenn sie jene Direktheiten und Vereinfachungen, derer sie bedarf, ja derer sie sich schuldig macht, um überhaupt sich artikulieren und mitteilen zu können, im Spiel ihrer Zeichen selbst thematisiert? Brecht geht vom Gefühl der Schuld aus, das jede „nur“ poetische Rede, etwa über die Natur, angesichts der objektiven humanitären Katastrophe der Welt auf sich lädt. (Und wenig hat sich an dieser objektiven Schuld aller Kunst geändert, auch wenn heute ungern davon gesprochen wird.) Wenn sich in ihm, wie es in einem anderen Gedicht heißt, die „Begeisterung über den blühenden Apfelbaum“ und das Entsetzen über Hitlers Verbrechen „streiten“4, so drängt ihn doch nur das letztere zum Schreibtisch. Brecht lehnt es ab, das Schreiben in Hermetik zu führen, weil damit zugleich die Literatur sich aus dem Spiel der Politik, mit allem, was an Urteil, Fehlurteil, Schuld und Versagen zu diesem Spiel gehört, heraushielte. Das auch persönlich Problematische des durchdachten und dennoch fragwürdigen politischen Engagements wird nicht verhohlen. Brechts Gedicht hat nämlich noch einen weiteren Horizont, der in den folgenden Zeilen zum Ausdruck kommt: Der dort ruhig über die Straße geht Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde Die in Not sind?

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Adornos Brecht

Dem Ausruf folgt jetzt eine Frage, wobei es sich hier auch um eine – wenngleich verhüllte – Auseinandersetzung Brechts mit dem Problem der eigenen durchaus zweideutigen Position handelt. Er hat sich in jenen Jahren jeder öffentlichen Kritik an Stalin enthalten, weil er meinte, jeder Satz gegen Stalin sei ein Satz für Hitler. Aber das Problem blieb für ihn unerledigt. Brecht wusste, dass er sich so, wie immer unwillentlich, mit Verbrechen solidarisierte. Er schwieg zur Verfolgung und Ermordung seiner Freunde und erntete dafür damals bereits scharfe öffentliche Kritik, die ihn nicht gleichgültig lassen konnte. Und dieser ungelöste Zwiespalt hat sich als Spur in seinen Texten niedergeschlagen. Brecht hielt dafür, Kunst könne und müsse mit dieser inneren Spaltung umgehen. Das mag immer wieder den Anschein hervorrufen, sich mit einem „Sprung“ über Zweifel und Abgründe hinweg in eine „Praxis“ zu stürzen. Es bedeutet aber gerade das Aushalten ihrer Zweideutigkeit, ihrer Schuld. Darum wurde er ein Dichter des „Anderen“, der artikuliert, wie sich ein Nichts, eine Andersheit, eine Fremdheit, ein Mangel, eine Niederlage usw. zeigt, die kein Sieg, keine Fülle, keine Aneignung oder Selbigkeit steuern kann. Es war vor allem Adornos radikale Ablehnung der damals sogenannten engagierten Kunst, die seine Distanz zu Brecht motivierte. Hinzu kam, dass Adorno Brecht nicht nur seine Parteinahme für den Kommunismus vorhielt, sondern auch fälschlich bei ihm ein kritikloses Eintreten für den sogenannten sozialistischen deutschen Staat unterstellte. In diesem Zusammenhang steht der scharfe Satz: „Die politische Unwahrheit befleckt die ästhetische Gestalt“.5 „Gesellschaftliche Kämpfe, Klassenverhältnisse drücken in der Struktur von Kunstwerken sich ab; die politischen Positionen, die Kunstwerke von sich aus beziehen, sind dem gegenüber Epiphänomene, meist zu Lasten der Durchbildung der Kunstwerke und damit am Ende auch ihres gesellschaftlichen Wahrheitsgehalts. Mit Gesinnung ist wenig getan.“6 Adornos Vorwurf an die Adresse Brechts lautet, er habe sich der Kommunikation von Sinn angepasst, statt zu tun, was Kunst allein anstünde: die „Dunkelheit des Absurden […] zu interpretieren, nicht durch Helligkeit des Sinns zu substituieren“.7 Es gelte: „Das Kunstwerk, das den Gehalt von sich aus zu besitzen glaubt, ist durch Rationalismus schlecht naiv: das dürfte die geschichtlich absehbare Grenze Brechts sein.“8 Aber wird man heute noch unbeschwert sich das Verdikt zu eigen machen, das Adorno für jeden Versuch von Kunst, politische Wirkung zu erzielen, parat hat? „Kunstwerke, die durch real höchst fragwürdige politische Eingriffe des Fetischismus sich entäußern wol-

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len, verstricken sich durch unvermeidliche und vergebens angepriesene Simplifizierung regelmäßig in gesellschaftlich falsches Bewusstsein.“9 Nun kann es kaum verwundern, dass ein Theoretiker, für den im Zentrum der Kunst die Idee des Eingedenkens steht, Schwierigkeiten mit einer künstlerischen Praxis haben musste, die wie die Brechts durchdrungen ist vom (auch nietzscheanischen) Gedanken an die produktive Kraft des Vergessens. Und der Philosoph erblickte bekanntlich in letzter Instanz in Beckett, und fast nur in ihm, das winzige Feld, das in der Gegenwart für authentischen künstlerischen Ausdruck zwischen dem Mitmachen beim Betrieb der Kommunikation und dem Verstummen geblieben ist. Umso mehr fällt auf, dass, obgleich fundamentale ästhetische Prinzipien Adornos mit Brechts Werk kollidieren, Adorno immer wieder mit großem Respekt über Brecht sprach. Wo es um das Thema der Widerständigkeit gegenwärtiger Kunst gegenüber dem Geschmack geht, rückt Adorno Brecht und Beckett verblüffend nahe: Die Werke Becketts sind mit Normen des Geschmacks unvereinbar, provozieren und verletzen sie; nicht ein Satz indessen steht bei ihm, der nicht den akkumulierten Geschmack der gesamten neueren Kunst in sich aufgespeichert hätte und seine Substanz durch dessen bestimmte Negation erst empfinge. Brecht, den man in der Diskussion über das zeitgenössische Theater Beckett zu kontrastieren pflegt, war ihm darin keineswegs unähnlich. Ohne Gewaltsamkeit wäre sein Werk als Konsequenz vom Geschmack darzustellen, der so empfindlich war, daß schließlich alles Geschmackvolle ihm auf die Nerven fiel.10 Nicht umsonst spricht Adorno von der „dichterischen Kraft“, der „listigen und unbezähmbaren Intelligenz“ des Autors, nennt ihn gern den „Klugen und Welterfahrenen“ und formuliert: „Brechts Versuche, subjektive Nuancen mit einer auch begrifflich harten Objektivität zu erschlagen, sind Kunstmittel, in seinen besten Arbeiten ein Stilisierungsprinzip, kein fabula docet.“11 Adorno hat durchaus die andere Seite im Brechtschen Schreiben erfasst und zu würdigen gewusst: das „Lehrstück als artistisches Prinzip“ etwa oder die Brechtschen „Protokollsätze“12 als eigene Gestalt des Ausdrucks. „Wer Brecht einzig seiner künstlerischen Meriten wegen würdigt, verfehlt ihn nicht weniger, als wer über seine Bedeutung nach seinen Thesen urteilt.“13 Auch Adorno zufolge ist adäquate Lektüre Brechts

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nur möglich, wenn man die politische Dimension ebenso wenig ausblendet wie die Qualität der artistischen Darstellung. Brecht lehrte wohl nichts, was nicht unabhängig von seinen Stücken, und bündiger in der Theorie, erkannt worden oder den auf ihn geeichten Zuschauern vertraut gewesen wäre. […] Aber die sententiöse Drastik, mit der er dergleichen keineswegs taufrische Einsichten in szenische Gesten übersetzte, verhalf seinen Werken zu ihrem Ton; Didaxe führte ihn zu seinen dramaturgischen Neuerungen, die das zermorschte psychologische und Intrigen-Theater stürzten. In seinen Stücken gewannen die Thesen eine ganz andere Funktion als die, welche sie inhaltlich meinten. Sie wurden konstitutiv, prägten das Drama zu einem Anti-Illusionären, trugen bei zum Zerfall der Einheit des Sinnzusammenhangs. Das macht ihre Qualität aus, nicht das Engagement, aber sie haftet am Engagement, es wird zu ihrem mimetischen Element.14 Brecht sündigte in den Augen Adornos durch drei untereinander in Beziehung stehende Positionen: die kommunikative Dimension der Kunst, die Didaxe und die Emphase des Bewusstseins. Radikale Kunst muss, so Adorno, die Kommunikation verabschieden, die bis ins Mark verdorben ist. Während die Stücke Becketts geschlossen, hermetisch und in sich kreisen, partizipiert Brechts Schreiben an der Ideologie, das Publikum, die Leser, zu beeinflussen. In einer Vorlesung (oder besser: einer Plauderei) mit dem Titel „Brecht und Beckett“ hat Hans Mayer 1995, nur wenige Monate vor Heiner Müllers Tod, betont, dass Beckett Brecht sehr hoch schätzte. „Ich weiß und kann es bezeugen, Beckett hat mit tiefer Hochachtung von Brecht gesprochen. Er hat alles gekannt, was Brecht gearbeitet hat.“15 Selbst wenn der gemeinsame Grund der Parabel, den Mayer erwähnt, die gemeinsame Negation des direkten Einflusses der Kunst auf Gesellschaft, der gemeinsame Dégout für die realistische Illusion, kurz: die gemeinsamen Wurzeln in der Moderne noch nicht genug sein mögen, dass wir sie als Nachbarn betrachten, so gibt es doch eine merkwürdige Nähe zwischen beiden, die noch immer nicht voll verstanden ist. Doch können wir uns heute fragen, ob nicht vom Standpunkt der Theaterpraxis es genau diese drei Sünden sind, die eine Zukunft für neue Performance-Praktiken andeuten im Sinne von Performance Art oder postdramatischen Strategien, die dann keine Alternative mehr beinhalten, sondern einen Raum, der für Brecht ebenso wie für Beckett offen stünde.

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Zugunsten einer radikalen ästhetischen Autonomie gab weder der junge Brecht die Nähe zur Alltagsrede auf noch der späte das politische und geschichtliche Urteil. Es wäre in der geduldigen Auslegung der meisten Werke Brechts, poetischen wie Theatertexten, zu zeigen, dass die von Adorno monierte Simplifizierung nicht die Wahrheit über Brechts Schreiben ist. Der Rückzug der Kunst auf die hermetische und traurige Kontemplation der Schrecken, kann heute ebenso wenig überzeugen wie ein theoretischer Pseudoradikalismus, der jenseits aller konkreten politischen Positionsnahme nur in der Denk- und Sprachform eine – bei Licht besehen: durchschlagend wirkungslose – politische Geste festmachen will. Insofern bleibt Brechts Position aktuell. Er hat in einer frühen Tagebuchnotiz seine Sprachkritik so formuliert: „Die Sprache ist dazu da, um die Taten zu verurteilen. Dies ist ihre einzige Rolle. Aber sie füllt sie nicht einmal aus.“16 Er hat, dem Anschein zum Trotz, auch später diese Kritik nicht aufgegeben. Aber er verlangte, dass der Kampf gegen den urteilenden und identifizierenden Charakter der Sprache in Texten und in einer Sprache geführt wird, die vor diesem Abgrund nicht zurückschaudert und in einer behüteten Sphäre des NichtUrteilens verbleibt. Die Rede der Kunst sollte dennoch Rede an andere, an viele bleiben können. Fast möchte man sagen, dass Brecht damit sich einer „Schlacht“ stellte, die Adorno schon verloren gegeben hat.

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Celan, Paul: Gedichte Bd. I, Frankfurt a. M. 1975, S. 385. Brecht, Bertolt: Gedichte IV, Frankfurt a. M. 1961, S. 143. GBA 12, S. 87. GBA 14, S. 432. Adorno, Theodor W.: Zur Dialektik des Engagements, Frankfurt a. M. 1973, S. 420. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003, S. 344. Ebd., S. 48. Ebd. Ebd., S. 338. Adorno, Theodor W.: „Anmerkungen zum deutschen Musikleben“, in: ders.: Musikalische Schriften IV, Frankfurt a. M. 1984, S. 183. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 54. Ebd., S. 55, 123. Ebd., S. 345. Ebd., S. 366. Mayer, Hans: „Brecht und Beckett. Erfahrungen und Erinnerungen“, in: Drucksache 15, hrsg. v. Berliner Ensemble, Berlin 1995, S. 579. Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954, hrsg. v. Herta Ramthun, Frankfurt a. M. 1975, S. 195.

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„SIE WERDEN LACHEN: ES MUSS SYSTEMATISCH VORGEGANGEN WERDEN“ – BLOCH UND BRECHT -

Sucht man in den Texten, Arbeitsjournalen und Briefen Brechts nach Spuren seiner Beziehung zu Ernst Bloch und seinem Werk, so ist man erstaunt, wie selten der Name Bloch Erwähnung findet. Immerhin haben beide – Brecht freilich, ohne seine Thesen zu publizieren – in der Debatte über Expressionismus und Realismus ähnliche Positionen vertreten, als sie Fragment, Zerfall und Ungeschlossenheit gegen Georg Lukács, Alfred Kurella und andere als legitime Formmomente moderner Literatur verteidigten; ganz abgesehen von den biographischen Fakten, dem gemeinsamen Marxismus, dem politischen und kulturellen Antifaschismus, von Exil und DDR-Erfahrung hat Bloch nicht wenig zum Verständnis der Brechtschen Verfremdungspraxis und -theorie beigetragen, hat früh vielen die Augen geöffnet für die besondere Qualität Brechtscher Gesänge durch seine zündende Interpretation des Lieds der Jenny aus der Dreigroschenoper, hat sich schon 1930 aufschlussreich zu Mahagonny geäußert. Bloch dechiffrierte Brecht mit einer einprägsamen Formel als „Leninist der Schaubühne“, freilich mit mangelndem Sinn für die abgründige ästhetische Problematik der Lehrstücke. Umgekehrt erscheint Bloch dagegen in Brechts Schriften kaum, figuriert höchstens als einer der Tuis in den USA-Notizen oder als Empfänger eines Geburtstagsbriefs später in der DDR, als Brecht zweifellos in ihm einen Verbündeten im Kampf gegen bürokratische Bevormundung sah. In diesem Zusammenhang dürfte auch stehen, wenn Brecht sich 1955 bei Peter Huchel für das Sonderheft der Zeitschrift Sinn und Form bedankt und neben wenigen anderen Namen auch Bloch erwähnt mit dem Wunsch, von dessen Erläuterungen zu Hegel „auch noch mehr“ in der Zeitschrift zu lesen.1 In einem anderen Brief nennt er ihn als einen von mehreren Professoren, die Leipzig zu einer „guten Universität“ machten.2 All das ergibt kein rechtes Bild. Umso schwerer wiegt ein höchst aufschlussreicher Brief Brechts an Ernst Bloch vom Juli 1935, der sich auf „Erbschaft dieser Zeit“ bezieht und bislang nicht recht beachtet wurde; vielleicht, weil er seine überaus strenge Kritik in einer sehr lockeren Sprache vorträgt.3 Vielleicht aber auch hat man sich überhaupt zu sehr daran gewöhnt, Bloch und Brecht (nach Bedarf ergänzt durch einen Teil-Benjamin) vor allem als gegenseitige Kronzeugen für ein grundsätzlich identisches Verständnis linksavantgardistischer Kunsttheorie in An-

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„Sie werden lachen: es muß systematisch vorgegangen werden“ – Bloch und Brecht

spruch zu nehmen. Der Verfasser von „Geist der Utopie“ stand seit den frühen 1920er Jahren in einem (später freilich recht problematischen) engen Verhältnis zu Benjamin; Brecht, Bloch und Benjamin spielten eine bedeutende Rolle bei der geistigen Formierung der Neuen Linken; der gemeinsame biographische Einschnitt des Faschismus kommt hinzu. So ist die Forschung zu leicht geneigt, über dem politisch-humanistischen Einklang die Gegensätze der Positionen – auch zwischen Brecht und Bloch – zu übergehen: ein Thema, auf das Brechts Brief aus dem Jahr 1935 ein Schlaglicht wirft. Ende Mai 1935 war Brecht von seiner Reise in die UdSSR zurückgekehrt, im April war sein Essay „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ erschienen. Walter Benjamin, zu dem Brechts Kontakt um diese Zeit besonders eng war (Gershom Scholem hat immer wieder Benjamins Abhängigkeit von Brecht in dieser Zeit beklagt), schätzte die Schrift ganz besonders: „Die ‚Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit‘ haben die Trockenheit und daher die unbegrenzte Konservierbarkeit durchaus klassischer Schriften. Sie sind in einer Prosa geschrieben, die es im Deutschen noch nicht gegeben hat.“4 Ihn wie Brecht interessierte um diese Zeit vor allem das zugleich politische und kunstphilosophische Problem eines eingreifenden Denkens. Vom 21. bis zum 25. Juni 1935 fand dann in Paris der Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur statt, auf dem Brecht und Benjamin sich trafen und zweifellos auch über Blochs gerade erschienenes Buch Erbschaft der Zeit gesprochen haben; schon im Januar 1935 hatte Benjamin bei Brecht brieflich angefragt, ob er Blochs Buch kenne, er sei darin „behandelt“5. Soweit der Zusammenhang. Auch Bloch hatte an der Pariser Tagung teilgenommen. Brechts witziger (und, wie sich zeigen wird, sehr polemischer) Brief nimmt zunächst auf ein kurzes und offenbar unterbrochenes Treffen zwischen beiden während des Schriftstellerkongresses Bezug. Brecht entschuldigt sich für seine „Flatterhaftigkeit in Paris“ und eröffnet sein Schreiben mit einer Bemerkung über „unser Colloquium interruptum“. Mit ähnlich sarkastischer Schärfe wie Benjamin in mehreren Äußerungen macht er sich über den Schriftstellerkongress lustig, über das „Röhren der großen Geister“ und leitet von der Beobachtung, es sei nicht leicht, überhaupt vernünftig miteinander zu reden, „wenn um jeden Preis die Kultur gerettet werden soll“ (die Verteidigung der Kultur war ja das Motto des Pariser Treffens gewesen), direkt zu Blochs Buch über mit der auffallenden Formel: „Ihre Eulenspiegeleien eines großen Herren“ – auffallend, weil sie direkt anschließt an Benjamins überaus scharfe Kurzkritik in einem Brief an Alfred Cohn vom 6. Februar, wo ebendieser Vergleich

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„Sie werden lachen: es muß systematisch vorgegangen werden“ – Bloch und Brecht

mit einem „großen Herrn“ formuliert wird: „Das neue Buch von Bloch, das ich Dir geschickt habe, wirst du bekommen haben. Ich wäre Dir dankbar, wenn du mich etwas darüber hören ließest. Die undankbare, äußerst schwierige Aufgabe, ihm darüber zu schreiben, habe ich mit vielen Kunstgriffen wieder hinausgeschoben, werde sie nun aber nicht mehr lange umgehen können. Der schwere Vorwurf, den ich dem Buch mache (wenn auch nicht dem Verfasser machen werde) ist, daß es den Umständen, unter denen es erscheint, in gar keiner Weise entspricht, sondern so deplaziert auftritt wie ein großer Herr, der zunächst, zur Inspektion einer vom Erdbeben verwüsteten Gegend eingetroffen, nichts Eiligeres zu tun hätte als von seinen Dienern die mitgebrachten – übrigens teils schon etwas vermotteten – Perserteppiche ausbreiten, die die – teils schon etwas verschossenen – Brokat- und Damastgewänder sich umlegen lassen.“6 Zwar gesteht Brecht mit dem Eulenspiegel-Vergleich Bloch ein größeres Maß an plebejischem Engagement zu: Bloch versteht es, mit raffinierten Täuschungs- und Überrumpelungsmanövern der herrschenden Kultur die gegen sie gerichteten utopischen Obertöne abzulauschen, das Bürgertum auf diese unerwartete und im Haushalt der Kultur Verwirrung stiftende Weise zu beerben. Indessen bleibt es auch in seinem Verständnis das Vorgehen eines großen Herrn, der vornehm unbetroffen in den Kulturschätzen herumliest, seinen Scharfsinn, seine stilistische Brillanz, sein Wissen ausbreitet wie der Benjaminsche Seigneur seine Perserteppiche, ohne nach der Funktion zu fragen, die all das im antifaschistischen Kampf haben könnte. Benjamin wirft denn auch Bloch vor, auf das Erdbeben des Faschismus in seinem Buch nicht mit einer entsprechenden Orientierung der Gedanken zu antworten: „Selbstverständlich hat Bloch ausgezeichnete Intentionen und erhebliche Einsichten. Aber er versteht es nicht, sie denkend ins Werk zu setzen. Seine übertriebenen Ansprüche hindern ihn daran. In solcher Lage – in einem Elendsgebiet – bleibt einem großen Herrn nichts übrig als seine Perserteppiche als Bettdecken wegzugeben und seine Brokatstoffe zu Mänteln zu verschneiden und seine Prachtgefäße einschmelzen zu lassen.“7 Die politisch-aktuelle Umschmelzung, Funktionsänderung und Nutzbarmachung von Einsichten und Absichten, die Benjamin hier, die von Brecht später übernommene Wendung vom „großen Herrn“ noch einmal aufgreifend, verlangt, aber nicht ausführt, wird Brechts Brief an Bloch in einer nur auf den ersten Blick spaßigen Attacke zur Forderung umgewendet, der Philosoph dürfte sich nicht literarisch-verspielt geben, sondern habe seine politisch-theoretische Aufgabe genau auf dem Feld der systematischen Philosophie. Indigniert reagiert der Marxist Brecht

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auf das, was er das „regelwidrige Benehmen“ Blochs als Philosoph nennt und was sich sogleich als das Fehlen der gebotenen Trockenheit und philosophischen systematischen Strenge zu erkennen gibt. Deuten muss man Brechts Vorwurf wohl so, dass Bloch ins „Dichtergewand“ geschlüpft ist, obwohl ihm das Kleid des Philosophen anstünde: Ich verlange keinen Bratenrock, wenigstens nicht unbedingt, d. h. warum eigentlich nicht einen Bratenrock verlangen? Auch beim Philosophieren nämlich, mein Herr, da kann ich keine Ausnahme machen, wohin käme ich da, muß der Arsch am Hosenboden bleiben. Es gibt da solche gewisse Grundregeln, und wenn der Mast auch bricht. Sie werden lachen: es muß systematisch vorgegangen werden.8 Mit seiner bewussten stilistischen Schnoddrigkeit und Unbeholfenheit deutet Brecht auf den wunden Punkt: das seiner Ansicht nach gegebene Zuviel an „Dichtung“, an womöglich selbstgefälligem Demonstrieren der sprachlichen und kulturellen Verfügung (das Benjamin ganz ebenso moniert hatte) in Erbschaft dieser Zeit. Bloch als allzu gut ausgestatteter Erbe mit kultureller conspicuous consumption? Jedenfalls fährt der Brief mit dem Gedanken fort, dass bei Weltuntergängen (Benjamins Erdbeben) die Nachlassverwalter (eine respektlose Umformulierung des Blochschen Erbschafts-Gedankens, zumal wenn man bedenkt, dass Brecht Lukács und seine Parteianhänger in seinen Notizen zur Realismusdebatte als dekretierende Erbverwaltung kennzeichnet) fleißig, korrekt und ins Einzelne gehend das bürgerliche Denken zu destruieren hätten – nicht im großen poetischen Schwung. Anders lässt sich der folgende Passus kaum auffassen: Die maßgebenden Leute begehen ihre letzten Fälschungen, alles bereitet sich auf den entscheidenden Mißgriff vor, und Sie ziehen den Bratenrock aus, sind Sie besoffen, Herr? […] Glauben Sie mir, der allertrockenste Ton ist der richtige: Keine Langeweile vorgeschützt!9 Kein Zweifel, dass in dieser formalen, stilistischen Kritik der gleiche politische Vorwurf erhoben wird, den Benjamin Blochs Buch (nicht dem Verfasser) vorhielt. (Zugleich hört man noch die langjährige Auseinandersetzung des neusachlich und marxistisch-leninistisch geprägten Brecht mit dem Expressionismus heraus, dem Blochs Stil verpflichtet ist.) Brecht will die „schönen Sachen“, die er durchaus in Erbschaft die-

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„Sie werden lachen: es muß systematisch vorgegangen werden“ – Bloch und Brecht

ser Zeit gefunden hat und anerkennt, „sozusagen nicht mehr an einem solch lockeren Ort antreffen“: nicht als Literatur, will das sagen, sondern als Teil einer wissenschaftlichen Kritik. Dass all dies „nicht nur Spaß“ sei, hätte Brecht nicht eigens hinzufügen müssen. Denn im zweiten Teil des Briefs gebraucht er nicht nur den Begriff des abendländischen Berufsdenkens ohne kritischen Unterton, sondern beklagt das „erstaunliche Taedium philosophiae […], von dem auch Ihr Buch Zeugnis ablegt, ja, auch Ihr Buch.“ Er schlägt Bloch eine Abhandlung über das Absacken der großen Philosophie vor und redet förmlich auf ihn ein: „Aber Sie müssen das Buch, dieses Buch unter allen Umständen im akademisch-philosophischen Jargon schreiben, ja, in diesem Gaunerwelsch. Sie verstehen: in wissenschaftlichem Ton.“ Bloch dürfte die Schärfe der Kritik nicht entgangen sein. Indem Brecht mit dem Eulenspielgel-Vergleich einsetzt, bestreitet er von Anfang an den philosophischen Anspruch auf Objektivität für die Analysen von Erbschaft dieser Zeit. Wie Eulenspiegel bekanntlich gleich allen subversiven Witzbolden und Störenfrieden mit Doppelsinn der Worte und Spekulation auf die Dummheit der anderen rettend-witzig Hilfen gegen Unterdrückung aufspürt und bösartig am Bestehenden rüttelt, so droht der fragmentarischen Spurensuche nach positiver Erbschaft die Gefahr, bloß funkelndes Blendwerk zu bleiben. Brechts Zweifel am Gestus des Blochschen Buchs erweist sich als einer an dessen philosophischer Konsistenz. Indem Brecht Systematik, ja Wissenschaftlichkeit einfordert im Ton, deckt er zugleich eine gewisse Ortlosigkeit des Blochschen Denkens auf und klagt ein Philosophieren ein, das sich als Eingriff und Intervention auf bestimmten diskursiven Feldern ausweist – gerade weil Gauner auf diesem Gebiet so viel zu sagen haben. Und eine auf die Ethik – wohlgemerkt: wie bei Benjamins Kritik die Ethik des Textes, nicht der Person – gemünzte Kritik ist die Formel vom großen Herrn obendrein. Bloch antwortete am 16. Dezember 1935 mit einer aufschlussreichen Retourkutsche, indem er die Legitimität des eigenen Denkstils mit der von ihm umgekehrt durchaus konzedierten Berechtigung einer theoretisch werdenden Dichtung à la Brecht begründet: Es halten sich Spaß und Ernst in Ihren freundschaftlichen Zeilen ununterscheidbar die Waage. Unterscheidender antworte ich: Wenn ein bedeutender Dichter sich heutzutage aus guten Gründen „literarisiert“ oder „theoretisiert“, vielleicht hat es dann auch seinen überlegten Sinn, wenn umgekehrt Philosophen den Bratenrock ausziehen […].10

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„Sie werden lachen: es muß systematisch vorgegangen werden“ – Bloch und Brecht

Die hier in lockerer Form aufgeworfene Kontroverse über die politischhistorischen Bedingungen des philosophischen Diskurses überhaupt haben keine fassbare Fortsetzung gefunden, es blieb ein „colloquium interruptum“. Nicht nur die Tatsache, dass Brecht und Benjamin sich an diesem Punkt so nahe wie selten in ihrer Argumentation finden, Brecht sogar eine ursprünglich Benjaminsche Wendung übernommen und sich angeeignet hat, machen Brechts Brief vom Juli 1935 zu einem aufschlussreichen Bloch-Kommentar. Er bietet auch neue Aspekte zur Diskussion der Beziehung zwischen ästhetischem und philosophischem Diskurs, die zu entfalten nicht mehr die Aufgabe dieses Hinweises ist.

1985/2016

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Brecht, Bertolt: Briefe, hrsg. v. Günter Glaeser, Frankfurt a. M. 1981, S. 614. 2 Ebd., S. 723. 3 Ebd., S. 255ff. 4 Benjamin, Walter: Briefe, Bd. 2, hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt a. M. 1966, S. 658. 5 Ebd., S. 642. 6 Ebd., S. 648f. 7 Ebd., S. 649. 8 Brecht: Briefe, S. 614. 9 Ebd. 10 Brecht: a. a. O., Anmerkungsband, S. 966.

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CHRONIKEN: UNHEROISCHE DOKUMENTE -

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Schon beim flüchtigen Durchblättern der „Chroniken“ stellt der Leser fest, dass sie in keiner Hinsicht einlösen, was der Titel der Lektion erwarten lässt. Ihre Haltung ist der Idee, die sich mit dem Wort Chronik verbindet, diametral entgegengesetzt. Es weckt die Erwartung, dass von konkreten Personen mit Namen und Taten berichtet wird. Bei Brecht kommen aber die Namen eher den Orten zu (Fort Donald, Hathourywald), nennen nur den Chef (des Cortez Leute), sind kollektive Allerweltsnamen (George, Jonny), werden zerlegt (Marie A. – Maria) oder sind offenbar allegorische, „sprechende“ Namen wie Hanna Cash. (Benjamin hat einmal vermerkt, dass der sprechende Name eigentlich eine Flucht vor dem Namen bedeute.) Die Helden bleiben im Grunde namenlos. Nur auf den ersten Blick erscheint das auftretende Personal konkret. Auf den zweiten fällt Abstraktion ins Auge: Durchschnittlichkeit, Anonymität, Kollektiv. Wenn sich der christliche Leser der Chronik an der Transzendenz orientieren soll, so führen ihn Brechts „Chroniken“ in „fremde Erdteile“. Ist diese Exotik und Ferne von der alltäglichen Erfahrung eine Parodie der „Transzendenz“? Dann verstünde man besser den Sinn jenes „Fluidums des Unwirklichen“1, das an diesen Gedichten haftet. Gelten Brechts „Chroniken“ laut „Anleitung“ für die Zeiten der Naturgewalten („Schneefälle, Erdbeben, Bankerotte“), so antworten die hier erzählten, sehr verschiedenen, aber sehr normalen, Katastrophen der „großen Katastrophe“ des Weltbrands und des Weltgerichts, an denen die Geschichte der alten Chronik ausgerichtet war. Im Rahmen der die religiöse Erbauung parodierenden Hauspostille verweist die Chronik auf die heilsgeschichtlich inspirierte mittelalterliche Geschichtsschreibung.2 Diese will das Geschehene dem Gedächtnis erhalten. Denn weil und insofern weltliche Ereignisse Bezug zum Heilsgeschehen haben, kommt ihnen, den an sich vor Gott Nichtigen, unverlierbarer Wert zu. Mittelalterliche Chroniken gehen gelegentlich in Verbindung mit der heilsgeschichtlichen Dimension von der Augustinischen Doppelung der Welt in Gottesstaat und Weltstaat aus, deren Kampf die Geschichte manifestiert. Die Unwerte des Weltstaats heißen für den christlichen Chronisten: mutatio rerum, mutabilitas, varietas. Das sind aber nicht die am wenigsten treffenden Namen für das, was Brecht, nicht nur in der Lektion „Chroniken“, gerade als Wert des Daseins artikuliert. Er führt den Leser

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gerade auf die Lust und die Freiheit, die mit der Abwesenheit der Transzendenz gegeben sind: Lust an Wandelbarkeit und Erneuerung. Wenn sich der Chronist liebevoll auf die Zeit der Welt einlässt, so nur, weil die Ereignisse sich dem Gläubigen als allegorisch auf den Heilsplan bezogen auslegen.3 Sie lohnen es, bewahrt zu werden – von den Namen der Könige, die schon die Spalten der alttestamentarischen Chroniken füllen, über die Ereignisse einer politischen Epoche, die im Kontext des Kampfs zwischen Gottesstaat und Weltstaat gesehen wird, bis hin zu den unscheinbarsten Ereignissen um ein Kloster, dessen Geschichte der mittelalterliche Chronist erzählt. Die Chronik stiftet Sinn, indem sie bis zum jüngsten Tag Geschehenes für das Gedächtnis festhält. Sie hebt die Zeit auf, indem sie sie in den Rahmen der göttlichen Vorsehung einstellt. Gerade das Gegenteil trifft aber auf Brechts lyrische Erzählungen zu. Nur dem christlichen Blick des Gläubigen offenbart sich im Irdischen das belehrende Gotteswort4, der Autor Brecht vertraut ihm nicht. Die Exempel der „Chroniken“ lehren vielmehr, dass es keine Exempel gibt, nichts, „woran man sich halten kann“, wie es Mahagonny formulieren wird. Die sterblichen Menschen werden von der christlichen Chronik in die göttliche Ewigkeit eingebracht, bei Brecht dagegen vergehen und verundeutlichen sich die Helden rasch. Der Brechtsche Chronist konstatiert nur, dass und wie sie verschwinden und vor allem: vergessen werden. Ihr Gesicht vergeht („Ballade von den Abenteurern“), sie versinken immer tiefer auf fast nicht mehr existenten Schaluppen („Ballade auf vielen Schiffen“), ihre Körper werden eins mit Nässe und Erde und bringen als faulender Leichnam bereits Phosphorlicht hervor („Vom Tod im Wald“). Pioniere, die Eisenbahnschienen legten, sterben, und nur die Natur singt ihr Lied weiter, während die Menschen in den Zügen, die über ihr Grab hinwegsausen, sie vergessen („Das Lied von der Eisenbahntruppe von Fort Donald“). Untergang heißt so viel wie allmähliche Ununterscheidbarkeit des Individuums vom umgebenden Naturraum. Die Soldateska in der „Ballade von des Cortez Leuten“ wird verschlungen vom Dickicht. Konturen, Gesicht und Gewicht verschwinden, Umrisse lösen sich auf in die körperlose Bewegung des Winds. Der Tod der Seeräuber stellt sich so dar, dass sie am Ende in Rauch und Wolken verwandelt sind, die der Wind „in die Arme“ nimmt.5 Eine traditionelle Chronik ist auch ein Dokument. Zwar sind die „Chroniken“ sämtlich schon sehr früh entstanden (1917 bis 1920), aber die Hauspostille hat Brecht im selben Jahre 1927 veröffentlicht, als er auch die vielzitierte Formel prägte: „Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten“.6 Nur sind die „Chroniken“ der Hauspostille kei-

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neswegs als Dokumente zu betrachten. Und bei Brechts missverständlicher Formel ist keinesfalls an ein Dokument historischer Wirklichkeit zu denken. Der Satz ist im Kontext zu verstehen. Brecht schreibt in einem Bericht über vierhundert Lyriker, viele „rein“ lyrische Produkte des Im- und Expressionismus würden sehr überschätzt. Warum? Sie entfernen sich einfach zu weit von der Geste der Mitteilung eines Gedankens oder einer auch für Fremde vorteilhaften Empfindung. Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten. In ihnen ist die Sprechweise des Verfassers enthalten, eines wichtigen Menschen.7 Also das Dokument dokumentiert eine Sprechweise, keine Sachverhalte! Die Bemerkung über das Mitteilen von Gedanken und Empfindungen ist ebenfalls leicht misszuverstehen. Brecht fordert von Lyrik nicht, Mitteilung von Gedanken zu sein. Er fordert, sie dürfe sich nicht zu weit von der Geste der Mitteilung entfernen. Er formuliert damit eine theoretische Konzeption, die Schreiben als Abweichung von der Alltagssprache bei gleichzeitig erhaltener Nähe zu ihrer Geste bestimmt. Für die These, Brecht fordere von Lyrik den „Gebrauchswert“, ein Dokument historisch-gesellschaftlicher Realität zu sein, ist die Äußerung nicht in Anspruch zu nehmen. Der Hintersinn der Anleitung besteht darin, dass sich Ankündigung und Einlösung nicht entsprechen: Die Anleitung lässt erwarten, dass man die Exempel „kühner Männer und Frauen“ deswegen in schwerer Zeit zur Hand nehmen soll, weil man hier ermutigende Schilderungen glücklich bestandener Abenteuer und siegreich beendeter Kämpfe vorgeführt bekommt. Diese Erwartung enttäuschen die „Chroniken“ vollständig. Aus ihnen lernt der Leser, was er angesichts der „rohen Naturgewalten“ schon befürchtet haben dürfte: nämlich dass er dem Untergang geweiht ist. Im Gegensatz zu den anderen Lektionen soll laut „Anleitung“ der Leser die „Chroniken“ durchblättern: Die dritte Lektion (Chroniken) durchblättere man in den Zeiten der rohen Naturgewalten. In den Zeiten der rohen Naturgewalten (Regengüsse, Schneefälle, Bankerotte usw.) halte man sich an die Abenteuer kühner Männer und Frauen in fremden Erdteilen; solche eben bieten die Chroniken, welche so einfach gehalten sind, daß sie auch für Volksschullesebücher in Betracht kommen.8 Zum einen soll das Wort „durchblättern“ wohl auf eine Suche verweisen. Für die jeweilige Lebenslage soll man wie der pietistische Leser der

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erbaulichen Postillen nach einem passenden Exempel suchen, um in widrigen Lebenslagen Halt zu gewinnen. Allein, der Leser der christlichen Chronik soll sich im geschichtlichen Beispiel belehren und stärken, das Vorbild erkennen und so zum Wohl der eigenen Seele lernen. Die Betonung des Vergehens in Brechts „Chroniken“ negiert aber gerade die Möglichkeit solcher Exempel. Mit der Abwesenheit aller Transzendenz konfrontiert, wird ihr Leser eher den Schluss ziehen, dass aus Geschichte nicht gelernt wird. Dafür spricht auch der Umstand, dass gleichsam als Resümee, am Ende der „Chroniken“ „Die Ballade von dem Soldaten“ platziert ist.9 Während die erste Ballade der „Chroniken“ von Mördern spricht, „denen viel Leides geschah“, weil sie nicht im Schoß der Mütter geblieben sind, handelt die letzte von dem Soldaten, der umkommt, weil er nicht auf den Rat hörte, daheim zu bleiben. Vielleicht hat man in den ersteren das Bild der letzteren zu erkennen: In die exotische Welt der Lektion schreibt sich die Erfahrung des Weltkriegs ein, das Bild der Soldaten, die in „fremden Erdteilen“ herumziehen mussten und in Massen starben. Jedenfalls geht es immer um Unbelehrbare: Der Soldat beantwortet die Forderung des „Weibs“ nach Mäßigung und Stillhalten und ihre Warnung vor Schießgewehr und Spießmesser mit Lachen und Übermut. Das Subjekt bleibt nicht am stillen Herd, es muss sich ins Treiben stürzen, obwohl es um den möglichen Tod weiß. Am Ende steht Erfahrung, Trauer, Reue. Aber der Leser der „Chroniken“ weiß, dass dennoch das Ich sich unerachtet der Behütung durch das Weib, die Mutter, die Natur, die Weisheit, das Alter immer wieder in den gefährlichen Kampf seiner Lebenszeit stürzen und in Selbstüberhebung der Übermacht des Eises zu trotzen versuchen wird. Der Widerspruch des unklugen Tatendrangs zur besonnenen Weisheit endet nicht mit der Lehre des alten Weibs. Vielmehr gehört die Unklugheit ebenso sehr zum Leben wie die Weisheit. Das Exempel lehrt keinen Ausweg, sondern nur die Erkenntnis dieser Spaltung. Nichts anderes aber wird auch der Brecht des Theaters zu lehren haben. 2

Betrachten wir die 1917 geschriebene „Ballade von den Abenteurern“, welche die Lektion eröffnet: 1 Von Sonne krank und ganz von Regen zerfressen Geraubten Lorbeer im zerrauften Haar Hat er seine ganze Jugend, nur nicht ihre Träume vergessen Lange das Dach, nie den Himmel, der drüber war.

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2 O ihr, die ihr aus Himmel und Hölle vertrieben Ihr Mörder, denen viel Leides geschah Warum seid ihr nicht im Schoß eurer Mütter geblieben Wo es stille war und man schlief und man war da? 3 Er aber sucht noch in absinthenen Meeren Wenn ihn schon seine Mutter vergißt Grinsend und fluchend und zuweilen nicht ohne Zähren Immer das Land, wo es besser zu leben ist. 4 Schlendernd durch Höllen und gepeitscht durch Paradiese Still und grinsend vergehenden Gesichts Träumt er gelegentlich von einer kleinen Wiese Mit blauem Himmel drüber und sonst nichts.10 Der Text verbindet drei Themen zu einer für die „Chroniken“ bezeichnenden Konstellation: die vagabundierende, umgetriebene Existenz; die in einer Serie von Konnotationen und Anspielungen artikulierte Selbstreferenz, der Bezug des poetischen Textes auf seine Poetizität; und ein drittes, für Brechts Schreiben nicht nur in den „Chroniken“ aufschlussreiches Motiv – das Vergessen. Anscheinend hat der Abenteurer nichts gefunden, was er schön finden könnte. Umso bedeutsamer ist der Umstand, dass er „seine ganze Jugend“ vergessen hat. Sie kann also in keiner positiv bestimmbaren Weise das Ziel seiner Wünsche sein, sondern selbst allenfalls ein neues Anderswo, ein unmögliches, weil vergangenes, zu dem es den Vagabunden hinzieht. Die Art der Orte zählt in diesem Gedicht nicht. Was anderen als Hölle erscheinen mag, sind für den Abenteurer Länder, durch die er schlendert. Was anderen als Paradies gilt, wird ihm Tortur. In der Menge der anderen Mörder, die in der Hölle wohnen dürften, ist er willkommen. Hier kann er flanieren. In den Paradiesen, in der Gesellschaft der „guten Menschen“ dagegen erwartet ihn die Peitsche. Es gab eine Zeit (oder einen Ort), mit dem sich der Komplex Jugend/Mutter/ Schoß/Stille/Schlaf/Dach/emphatisches Dasein verbindet: „[…] und man war da“. Der Himmel dagegen manifestiert die leuchtende Kraft einer stets ungreifbaren Variabilität und unvorhersehbaren Neuerung. Dass er das Einzige ist, was nicht verloren werden kann, das erklärt seine Verbindung mit den Träumen, dem Wunsch. Er ist Zeichen

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des Unverlierbaren, weil er die Erfahrung des Verlustes und des Mangels selbst ist: Sehnsucht. Das geschilderte Leben ist unaufhörliche Bewegung, deren emotionale Qualität der Text in der Schwebe hält. Einerseits ruft sie bisweilen „Zähren“ herbei, Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit, andererseits ist sie von einer anscheinend unenttäuschbaren Hoffnung getragen, doch noch das Land zu finden, „wo es besser zu leben ist“. Dies „bessere Leben“ ist sowohl die Rückkehr in die Geborgenheit des Mutterschoßes als auch auch das Land, wo es besser ist zu leben, als ungeboren im Mutterschoß zu bleiben. Die Suche ist, allen „Zähren“ zum Trotz, mehr wert als embryonale Geborgenheit. Im Paradies, das wusste schon Hegel, halten es nur Gott und die Tiere aus. Der Wunsch zielt auf Bewegung ohne Fixierung unter einem Dach, will weder Dauer noch Individuation. Man hat kein bestimmtes, sondern nur ein ver-gehendes Gesicht, das – in Bewegung – sich ständig ändert. Leben als fortdauerndes Vergehen = Sterben. Zugleich bedeutet „vergehenden Gesichts“ natürlich auch, dass den Abenteurern in diesem Rausch überhaupt das (Hören und) „Sehen vergeht“, der Gesichtssinn aussetzt. Auch, wo das Leiden an der ständigen Bewegung und unaufhörlichen Suche formuliert wird, bleibt der Text mehrdeutig. So liest man mit: zu weilen nicht ohne Zähren. Trauer entsteht, wo immer ein Halt, ein Verweilen geschieht. Der Traum ist jedoch nur negativ und paradox auszudrücken. Die Ruhe der kleinen Wiese, das Bleibende, ist nur als gelegentlich (wenn man einmal liegt) zu erträumen: gelegentlich Ich. Allein in solch passagerer Weise wird die Wiese Gegenstand des Traums vom Paradiese, zwei Worte, die der Text nicht ohne Grund reimt. Übergehen in anderes, anderswohin gelangen: Der Wechsel selbst ist das Ziel der Suche und die Wirklichkeit des Lebens zugleich. Der Übergang selbst ist „nichts“ und doch benennt er das „Abenteuern“. Als Übergang und Schwebe markiert sich Wirklichkeit: nicht als Gegensatz oder Abfolge, sondern als Ineinander bis hin zur Identität von Utopie und Wirklichkeit. So aber, als Paradox, ist sie nur in einer Sprache fassbar, die Ambiguität, Paradox und Verlust selbst in sich aufnimmt und der im Bezeichnen enthaltenen Tendenz zur Fixierung widerstrebt, der Sprache der Literatur. Letztlich bleibt die im Text gestellte Frage an die Abenteurer nach dem „Warum“, wie es zu ihrem Wanderdasein kam, eine so lockere Fügung von Elementen, dass weder sie noch die Antwort im Text fixierbar ist: Sind sie aus Himmel und Hölle vertrieben, weil in ihre Jugend kein Weg zurückführt? Ist „Himmel und Hölle“ eine Hyperbel für „jeden Ort“? Was vertrieb sie? Eigene Lust auf das Abenteuer? Wurden sie, die Mörder, verfolgt? Immer wieder legt der Text ein Netz möglicher Bedeutungen

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aus, in dem ihm die Projektionen des Lesers verfangen sollen. Nur im Text, in der Konstituierung einer sprachlichen Realität des Übergangs, ist die Antwort enthalten. Die Gestalt der Utopie ist sein Spiel der Übergänge selbst, nicht die in ihm gemalte Exotik. Himmel und Höllen, weite Landschaft, absinthene Meere – der Exotismus dieser Räume ist die Exotik der Phantasie. Deutlich ist die Anknüpfung an Motive Kiplings, Baudelaires und Rimbauds. Der „Lorbeer“ lässt an den Dichterlorbeer denken, die kompensatorischen Träume von Weite und Abenteuer finden sich bei Baudelaire und zum Beispiel in Rimbauds „Les poètes de sept ans“. Von Baudelaire ließen sich Einzelheiten zitieren, wie die Formulierung vom „Esprit“ als „vieux maraudeur“. Offenkundig bezieht die Suche „in absinthenen Meeren“ Brechts Ballade auf die Trunkenheit des „Bateau Ivre“, das Brecht öfter bearbeitet und zitiert hat. Auffällig übrigens, dass er „Meere“ und „Mutter“ hier so eng aufeinander bezieht, als habe er den für Rimbauds Gedicht wichtigen Doppelsinn von „Mer“ und „mère“ vor Augen. Überdies weist die Ballade mit dem betont bescheidenen Traum von der „kleinen Wiese“ eine Parallele zum „Bateau Ivre“ auf, das dem überbordenden Spiel der Sprache am Ende ebenfalls die bescheiden-resignierte Rückkehr in die Enge Europas kontrastiert. Die Kunstlandschaft der „Chroniken“ setzt sich aus Verweisen auf die poetische Tradition zusammen und rauft mit ihnen. Auch der Autor Brecht oder sein Text hat „geraubten Lorbeer im zerrauften Haar“. Kurzum: Die Abenteurer sind nicht das Produkt pubertärer Phantasien, sondern Inbild einer Schreibweise, die gelesen sein will. Veränderlichkeit, Transformation in bloße Stimme, Vergessen, Undeutlichkeit des vergehenden Gesichts – diese Züge prägen das Textsubjekt, wie es in der Kunstlandschaft der „Chroniken“ erscheint. Regen, Meer, Winde und Dickicht erscheinen als Feld, in dem das Subjekt stirbt, untergeht, verschwindet, aber zugleich in der winzigen Spanne zwischen Dasein und gänzlichem Verschwinden singt, schreit oder spricht. In dieser Schwebe, diesem Übergang, tritt das Subjekt in den Texten auf. Sein Dasein fasst sich zusammen in dem Moment, da es nurmehr Sprache zu sein scheint, Laut, der schon verklingt. Die Pioniere, Abenteurer oder Soldaten wagen angesichts einer übermächtigen Natur, die sie früher oder später verschlingt, immer von Neuem ihr Leben und verteidigen es mit ebenso viel Zähigkeit, wie sie mit Ruhe ihren Tod hinnehmen. Sie schwinden dahin, ertrinken oder werden vom Dickicht verschlungen. Aber eine Wendung findet sich immer wieder: Die Stimme erhebt sich im Verschwinden gegen das Verschwinden. Schon im frühen „Lied von der Eisenbahntruppe von Fort Donald“ hoffen die Männer, das Singen könnte sie vor dem Einschlafen bewahren.

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Einer sagte: singt „Johnny über der See“. Ja, das hält uns vielleicht auf, sagten sie Und sie sangen von Johnny über der See. […] Die Männer von Fort Donald – hohé! Werden jetzt wachen und singen, bis sie ersoffen sind.11 Ohne Hoffnung auf Rettung erhebt sich die Stimme, wenn es ans Sterben geht. Als solle die Stimme der Natur (Sturm und Regen) übertönt werden, singen sich auch die Seeräuber in den Tod: Und ganz zuletzt in höchsten Masten. War es, weil Sturm so gar laut schrie Als ob sie, die zur Hölle rasten Noch einmal sangen, laut wie nie12 Der auf Literatur und Sprache bezogene Charakter dieser Texte, deren Landschaft die der poetischen Phantasie ist, bestätigt sich in den „Chroniken“ immer wieder. Der Untergang der Cortez-Leute – um die mit surreal scheinender Schnelligkeit das Dickicht um sie herum zuwächst – wird im Gedicht verknüpft mit dem Rausch. Dann wird das Gewachsene auf eine Weise beschrieben, die leise immer wieder durchsichtig wird auf die Beschreibung poetischer Erzeugnisse. Das Dickicht sind „armdicke Äste“. Höher als mannshoch, sehr verwirrt, mit Blattwerk Und kleinen Blüten süßlichen Geruchs. Es ist sehr schwül schon unter ihrem Dach Das sich zu dichten scheint13 Die Männer werden vom Dickicht gefressen. In der letzten Phase sind sie unsichtbar füreinander und haben sich ganz in Stimme transformiert: Erst gegen Morgen war das Zeug so dick. Daß sie sich nimmer sahen, bis sie starben. Den nächsten Tag stieg Singen aus dem Wald. Dumpf und verhallt. Sie sangen sich wohl zu. Nachts ward es stiller […] Langsam fraß der Wald In leichtem Wind, bei guter Sonne, still Die Wiesen in den nächsten Wochen auf.14

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Keine bloße Analogie, sondern ein in den selbstreflektierten Gedichten verankertes Strukturprinzip ist benannt, wenn wir sagen: Wie des Cortez Leute im verwirrten, verschlungenen Astwerk des Dickichts verschwinden und unsichtbar schon werden, wenn man die Stimme noch hört, so geht das Subjekt im Geflecht des Gedichts unter, transformiert sich in Sprache und gewinnt ein anderes Dasein. Es weist weder deutliche Präsenz, Erinnerung oder Verinnerlichung auf, noch ist es nichts. Zwischen beiden „besteht“ es (sein Dasein) nur vergehend und vergessend. Die Szenerie der „Chroniken“ ist lesbar als die Landschaft des Textes selbst. Die Stimme ist der Name für ein Dasein im Text, das keine festen Umrisse kennt und zugleich doch fähig ist, eine Beziehung zum Rezipienten einzugehen. Aus der folgenden Aufzeichnung Brechts geht hervor, dass Stimme und Undeutlichkeit, in Verbindung mit dem Thema des „vergehenden Gesichts“, auch in seinen theaterästhetischen Überlegungen eine Rolle spielten. Shakespeares Antonius und Kleopatra, notiert er, sei ein Stück, „das mich sogar ergriff“, und bemerkt dann über die Träger der Handlung: Sie haben kein Gesicht, sie haben nur Stimme, sie reden nicht immer, sie antworten nur, sie haben die Handlung nicht wie eine Gummihaut, sondern wie ein weites faltiges Gewand um sich. […] Das Medium zwischen Zuschauer und Bühne ist: die Sehnsucht zu sehen. Je deutlicher eine Gestalt in den Einzelheiten, desto geringer die Verbindung mit dem Sehenden. Ich liebe dieses Stück und seine Menschen.15 Das bei Brecht omnipräsente Bild des „vergehenden Gesichts“‘ tritt hier in den Rahmen der theaterästhetischen Reflexion. Ganz im Gegensatz zu der gängigen Auffassung, das undeutliche, vergehende Gesicht zeige nur Flucht ins Massenindividuum, Automatenkult und Kontaktlosigkeit an, hebt Brecht an der Undeutlichkeit gerade die Kraft hervor, eine Verbindung zu stiften. Das literarische Produzieren verlangt demzufolge auch oder gerade im Theater eine gewisse Undeutlichkeit. Die Verbindung zwischen Werk und Rezipient verlangt geradezu die Abwesenheit fester Konturen. Der Text formuliert und erzeugt Sehnsucht „zwischen Zuschauer und Bühne“, indem er nicht festlegt, keine Präsenz schildert, sondern indem er Verankerung, Dauer, Fixierung möglichst meidet. Indem er und sein Subjekt sich als übergehend, zwischen Bedeutungen changierend, Erinnerung verweigernd, darstellen, können die Gestalten erst jene notwendige Undeutlichkeit – eine Undeutbarkeit, Unüber-

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sichtlichkeit – erzielen, die es braucht, damit der Text dem Leser ermöglicht, die „Sehnsucht zu sehen“. Er vermag die „Sehnsucht“ – nach dem, was gerade nicht da ist – zu erblicken, also das Begehren, das die Menschen verbindet und trennt zugleich. Und er ist fähig, die eigene „Sehsucht“, die Sehnsucht zu erkennen, sich ihr also nicht einfach zu überlassen. Weit ist es nicht von diesem „Ergriffensein“ Brechts 1920 zu der für das Verhältnis der Zuschauer zum Theaterspiel entscheidenden Formel ein knappes Jahrzehnt später: Nicht nahekommen sollen sich Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollen sie sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selbst entfernen. Sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist.16 Die Figuren dieser Kunstlandschaft stehen nicht einfach unter dem freien Himmel der leeren, (und darum erfüllbaren) Zeit ihrer vergesslichen Subjektivität. Sie finden sich vor einer Natur, die den Einzelnen mit der gleichen unbeteiligten Gewalt mordet, wie in den späteren Stücken Brechts die Geschichte. Bewahren sich die Menschen Lust und Freiheit im Raum dieser Natur, so stehen sie doch dem Sterben unversöhnt gegenüber. Mit aller Kraft, ohne heldenhafte Pose, beißen sie sich im Leben fest. Das verzehrende Dickicht, der reißende Fluss, bleiben als fremde Gewalt dem Ich gegenüber erhalten, das im Moment des Todes wieder zur „Kreatur“ wird, die nichts als leben will und die schöne Vergänglichkeit des Winds als betäubenden Sturm erfährt, der erbarmungslos die eigene Stimme übertönt: Und ein Mann starb im Hathourywald Wo der Mississippi brauste. Starb wie ein Tier in Wurzeln eingekrallt Schaute hoch in die Wipfel, wo über dem Wald Sturm seit Tagen ohne Aufhörn sauste.17 Dieser Sturm übertönt die Stimme des Sterbenden. Die anderen, die Lebenden, stellen daher auch fest, „daß er stiller werde“. Im Tod gelten alle Regeln, auch die des Vergessenen und des Gleichmuts, nicht. […] der Wald war laut um ihn und sie Und sie sahn: ihn sich am Baume halten Und sie hörten: wie er ihnen schrie. […]

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Du benimmst dich schäbig wie ein Tier! Sei ein Gentleman, kein Elendshaufen! Ja, was ist denn das mit dir? Und er sah sie an, kaputt vor Gier: Leben will ich! Essen! Faul sein! Schnaufen! Und im Wind fortreiten so wie ihr!18 Einerseits sind die Lebenden dem Toten gegenüber „Voll von Ekel noch und kalt von Haß“, weil er den Tod nicht annehmen wollte. Andererseits kann der Sterbende nur lachen, wenn er aufgefordert wird, gentlemanlike, mit Gleichmut, den Tod hinzunehmen. Wenn der Körper seinen Wunsch nach Leben und Dauer einklagt, findet sich das Individuum in einer zerreißenden Konfrontation mit der Kälte, der Gewalt der Natur und dem Tod. Diese unvermittelte Konfrontation beherrscht die Hauspostille. Die Vorstellungen vom Eingehen in die Natur sind immer wieder deutlich gekennzeichnet als bewusste Fiktionen, poetische Bilder der überwundenen Spaltung. Doch die Erfahrung, die in Gedichten wie „Vom Tod im Wald“ ausgesprochen ist, erlaubt es nicht, bei Brecht von einer Naturideologie zu sprechen, die tatsächlich an eine Vereinigung von Mensch und Natur, an ihre Verschmelzung glaubte. So wenig für den Marxisten Brecht die Einsicht in den Prozess der Geschichte, die Erkenntnis der richtigen politischen Haltung bedeutete, dass die Geschichte dem Subjekt verwandt wird, so wenig bedeuten die Naturbilder der Hauspostille, dass Mensch und Natur in einer wie immer gemeinten Harmonie existierten. Wo solche Vorstellungen in den Texten vorkommen, werden sie als Fiktion kenntlich gemacht. Brecht hält schon hier eine fundamentale Spaltung offen: Das Bewusstsein des Todes in einer kalten Natur ist das kalte Licht, in dessen Schein das Textsubjekt seine Veranstaltung eines Daseins im Vergehen durchführt.

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Vgl. Marsch, Edgar: Brecht-Kommentar zum lyrischen Werk, München 1974, S. 131. Vgl. zur mittelalterlichen Geschichtsschreibung u. a. Grundmann, Herbert: Geschichtschreibung im Mittelalter, Göttingen 1965; Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart/Berlin/Köln 1973. Vgl. Löwith, a. a. o., S. 168ff. Vgl. ebd., S. 168f. Eine Sonderstellung nimmt in dieser todes- und untergangssüchtigen Männergesellschaft die „Ballade von der Hanna Cash“ ein, eine Art Kontrapunkt zur Welt dieser Lektion. GW 8, S. 55. Ebd.

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Ebd., S. 170f. Vgl. Lyon, James K.: Bertolt Brecht und Rudyard Kipling, Frankfurt a. M. 1976, S. 50ff. Dort finden sich viele weitere Bezugnahmen Brechts auf Kipling, die viele Texte neu zu verstehen erlauben. Diese zu deuten, überlässt Lyon allerdings dem Leser. Er beschränkt sich im Wesentlichen auf den Nachweis der Beziehung, ohne die Funktion, die sie für Brechts Texte hat, genauer zu bestimmen. Die Aufgabe, die so gestellt ist, hätte vor allem zu klären, wie Brecht in Kiplings Balladen allererst eine poetologische Selbstreflexion hineinträgt und das Zitierte damit verändert. GBA 11, S. 78. GW 8, S. 13. Ebd., S. 228. Ebd., S. 223. Ebd. Brecht: Tagebücher, S. 25f. BFA 21, S. 280. Brecht, Bertolt: Bertolt Brechts Hauspostille, Berlin/Frankfurt a. M. 1963, S. 79. Ebd.

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Man hat nicht genügend hervorgehoben, dass wohl für keinen Lyriker das Vergessen in so insistenter Weise das innerste Motiv seines Schreibens war wie für Brecht. Die Omnipräsenz des Themas ist gelegentlich konstatiert, nicht aber in seinem Ausdruckswert verstanden worden: Es zeugt von der Tiefe der Verankerung und der Radikalität der Idee von Prozessualität in Brechts Schreiben. Brecht formuliert einen bedeutsamen Gegensatz zu der von ihm gelegentlich zitierten Schreibweise Baudelaires, der in „Spleen“ programmatisch schreiben konnte: „J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans“ (Ich habe mehr Erinnerungen, als wäre ich tausend Jahre alt). Brecht hält dem entgegen, dass die eigentliche auszusprechende Erfahrung gar nicht in erster Linie die Last der allzu vielen Erinnerungen ist – sei diese Last schön oder bedrückend –, sondern ihr Fehlen und Vergehen: das Vergessen. In den frühen Gedichten tauchen die ersten stringenten Formulierungen dieses Motivs auf, das den Dichter wie kaum ein anderes sein Leben lang beherrscht hat. Zeit wird als Vergessen und Vergessenwerden begriffen, das historisch Fixierte wird durchsichtig auf einen Raum des Wechsels ohne Halt, in dem es keine festen Konturen gibt. Brechts wechselnder und leerer Himmel gleicht dem auf manchen Bildern René Magrittes. Auf einem, Die Zukunft der Standbilder, sieht man die undeutlichen Züge einer Maske Napoleons, die auf einen hellblauen, leeren Himmel mit weißen Wolken hin durchsichtig wird: In das Historische trägt sich die Unbeständigkeit der wehenden Himmelswolken ein, um zu besagen, dass es um die Zukunft der anmaßenden Standbilder schlecht bestellt ist. In einer Äußerung von Silvester 1928 zählt Brecht unter die revolutionärsten Eigenschaften Berlins auch sein „schlechtes Gedächtnis“: Es gibt einen Grund, warum man Berlin anderen Städten vorziehen kann: weil es sich ständig verändert. Was heute schlecht ist, kann morgen gebessert werden. Meine Freunde und ich wünschen dieser großen und lebendigen Stadt, daß ihre Intelligenz, ihre Tapferkeit und ihr schlechtes Gedächtnis, also ihre revolutionärsten Eigenschaften, gesund bleiben.1 Vergessen schafft Raum für das Neue und alles Neue ist besser als alles Alte:

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Woher weiß ich, Genosse Daß […] die nie gesehenen Konstruktionen Die aus dem Straßenbild herausfallen und Deren Zweck ich nicht kenne Mir so sehr einleuchten? Weil ich weiß: Alles Neue Ist besser als alles Alte. Und am Ende liest man: Dieses oberflächliche neuerungssüchtige Gesindel Das seine Stiefel nicht zu Ende trägt Seine Bücher nicht ausliest Seine Gedanken wieder vergißt Das ist die natürliche Hoffnung der Welt. Und wenn sie es nicht ist So ist alles Neue Besser als alles Alte.2 Brecht selbst scheint, glaubt man seinen Tagebüchern und Aufzeichnungen, das eigene „schlechte Gedächtnis“ oft beschäftigt zu haben. So notiert er 1930: Oft wundere ich mich selber, daß mein Gedächtnis so schwach ist. Alle meine Angelegenheiten, auch die gefährlichsten, vergesse ich umgehend. Selbst die Geliebte meiner Jugend, der ich sehr zugetan war und die mir wegen einer merkwürdigen Gleichgültigkeit meinerseits entglitt, kommt mir heute in der Erinnerung vor wie die Gestalt in einem Buche, das ich gelesen habe.3 Aber wenn Brecht an anderer Stelle auch das Alter fürchtet, weil er dann ganz ohne Erinnerungen sein könnte, so bleibt seine Bewunderung für die gedächtnisstarken „Geistesriesen“ doch tief ironisch: Ich glaube nicht, daß ich jemals eine so ausgewachsene Philosophie haben kann wie Goethe oder Hebbel, die die Gedächtnisse von Trambahnschaffnern gehabt haben müssen, was ihre Ideen betrifft. Ich vergesse meine Anschauungen immer wieder, kann mich nicht entschließen sie auswendig zu lernen. Auch Städte, Abenteuer, Ge-

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sichter versinken in den Falten meines Gehirns schneller, als Gras lebt. Was werde ich tun, wenn ich alt sein werde, wie kümmerlich werde ich dahinleben mit meiner dezimierten Vergangenheit und zusammen mit meinen ramponierten Ideen, die nichts mehr sein werden als arrogante Krüppel.4 Dem Schrecken, der aus den letzten Worten spricht, begegnet die Textpraxis Brechts auf ihre Weise. Sie sucht nicht wie Proust, mit dem an diesem Punkt ein fruchtbarer Vergleich möglich wäre, in einer „Reterritorialisierung“ die eigene Vergangenheit zu rekonstruieren. Sie wählt vielmehr den Weg, die Realität des Vergessenen, seine Macht, immer wieder zum Thema zu machen. Um leben und sterben zu können, bedarf es einer radikalen Vergesslichkeit, die den Moment nicht vollständig mit Bewusstsein durchdringt. Partiell bewusstlos nimmt das Ich seine Daseinsform hin. Von einem Zimmer, das ich vier Monate hatte Wußte ich nicht, daß das Fenster nach hinten hinausging (was ich doch liebe) Weil ich so sehr für das Vorläufige bin und an mich nicht recht glaube.5 Vielleicht ist es diese „Abwesenheit“, die im Bewusstsein die für Erfahrung notwendige Lücke lässt: Muss Wahrnehmung wie die hier beschriebene nicht ein Muster von Absencen formen, bei dem eine Chronik das Vorgefallene nicht treffen, sondern allererst nachträglich zu konstruieren hätte? Diese Kraft bedeutet nicht zuletzt, dass die Lücken im Kontinuum der Vergangenheit die Chance zu einer (ästhetischen) Produktion bieten. Gerade die Undeutlichkeit des verblassenden Eindrucks von früher, das halb und ganz Vergessene, stellen Erfahrungen dar, die nicht reproduziert werden können und insofern nicht „verfügbar“ sind, die aber einen Aufforderungscharakter besitzen wie die „halbzerfallenen Bauwerke“, von denen die Rede war. Brecht notierte 1940: In einer Weise geht es mir besser als vielen andren, besonders was Erinnerungen betrifft; denn mein Gehirn ordnet es mit den Kunstgriffen der Ästhetik, so daß ich schönere und bedeutendere Bilder sehe als die meisten andern. Freilich scheint dafür mein Gedächtnis schlechter als das vieler, die ich kenne.6 Deutlich verbindet sich hier private Erfahrung mit der poetischen Theorie. Das Geschehen wird nicht passiv registriert, sondern ist Resultat

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einer Fiktion, Geschichte, private und öffentliche, wird weniger erinnert als vielmehr stets neu erfunden, in einer ästhetischen Anordnung erst mit einer Gestalt versehen. Das Erinnern zielt gar nicht auf getreue Reproduktion, sondern auf eine Neukonstruktion. Schlechtes Gedächtnis ist auch die Formel für eine Produktivität ästhetischer Art. Brecht betont in manchen Texten, dass es die Lücken und Risse im Kontinuum der Vergangenheit sind, die unwiderstehlich zur Neuproduktion auffordern: Die halbzerfallenen Bauwerke Haben wieder das Aussehen von noch nicht vollendeten Groß geplanten: ihre schönen Maße Sind schon zu ahnen; sie bedürfen aber Noch unseres Verständnisses. Andererseits Haben sie schon gedient, ja, sind schon überwunden. Dies alles Beglückt mich.7 Hier wird deutlich, dass die undeutlichen Umrisse des Vergangenen die Gedanken des Betrachters auf Plan und Zukunft lenken, so als harrten sie gerade wegen ihres Zerfalls einer Vollendung.8 Faszination geht von der Ruine aus. Nicht als Einbruch von Naturgeschichte in die des Menschen wie im 17. oder als Verschmelzung von Natur und Kultur wie am Ende des 18. Jahrhunderts, sondern als „beglückende“ Erfahrung des Möglichen, das noch nicht zu Ende gedacht, noch nicht fertig und damit abgeschlossen wurde. Brecht hebt am „Halbzerfallenen“ das „Überwundene“ hervor: Das vergangene Unvollständige wird zur Chiffre des Gegenwärtigen als selbst zu überwindendem Zustand. „Bewußtsein“, an diesen „fundamentalen Satz von Freud“ hat Walter Benjamin angeknüpft, um seinen Begriff der Erfahrung zu formulieren, „entstehe an der Stelle einer Gedächtnisspur“. 9 Was in diesem Satz für die Ebene des Bewusstseins ausgesprochen ist, das wird in Brechts Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“, einem locus classicus fürs Vergessen zur poetischen Figur: Erfahrung besteht nicht im Festhalten, in der Fixierung eines identischen Moments, sondern in der Erfahrung seines Vergehens. Die erste Strophe singt von einer Liebesszene. An jenem Tag im blauen Mond September Still unter einem jungen Pflaumenbaum Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe In meinem Arm wie einen holden Traum.

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Das Ich weiß zudem noch von einer Wolke über den Liebenden im Himmel zu berichten – „sie war sehr weiß und ungeheuer oben / Und als ich aufsah war sie nimmer da.“ Die zweite und mittlere Strophe entscheidet über das Verständnis des Ganzen, denn hier ist angezeigt, wie das Vergessen in der Gegenwart sich darstellt: Seit jenem Tag sind viele, viele Monde Geschwommen still hinunter und vorbei Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen Und fragst du mich, was mit der Liebe sei? So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern. Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer Ich weiß nur mehr: Ich küsste es dereinst. Keine Erinnerung wird geschildert, sondern der Verlust durchs Vergessen vorgeführt. Auf diese Weise löst der Text das Paradox auf, vom Vergessenen zu sprechen. Sistierung und Fixierung der Erfahrung werden nicht unterdrückt. Markiert das Vergessen den Prozess permanenter Neuproduktion und Umwandlung, so stemmt sich die fixierende Schrift dagegen, die das Gewonnene, den Erfahrungsschatz, festhält und aufbewahrt. Aber der Text setzt die Erfahrung in Sprache um, dass die Erinnerung nicht stattfindet. Als Negativität funktioniert er. Er artikuliert den Verlust selbst, spricht vom Vergessen und dieses Sprechen, das Gedicht selbst, tritt an die Stelle reproduzierender Erinnerung. So bringt das Gespräch in der Mittelstrophe das Verhältnis zwischen Text und Leser selbst zum Ausdruck. Fragt der Leser zudringlich, „was mit der Liebe sei“, so erhält er vom Text nur eine Antwort, die die Unmöglichkeit einer Antwort vorführt. Einem imaginären aufdringlichen Frager antwortet das Gedicht mit Verweigerung, um zuletzt mit der Affirmation dessen, woran das Ich sich immer erinnern wird, ironisch zu schließen: Und auch den Kuss ich hätt ihn längst vergessen Wenn nicht die Wolke dagewesen wär Die weiß ich noch und werd ich immer wissen Sie war sehr weiß und kamvon oben her. Der Grund dafür ist: Sie „[…] blühte nur Minuten / Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.“ Schöne hat treffend bemerkt, dass hier ein Nicht-erinnern-Wollen „mitzuschwingen scheint“.10 Aber diese Beobachtung ist zu verschärfen und damit zugleich erst für das Verständnis

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nutzbar zu machen. In der Tat weigert sich nämlich das Ich, eine Frage zu beantworten. Die Passage ist objektiv auch ein Konditional: Wenn du mich jetzt fragen solltest, dann sage ich dir, dass ich mich nicht erinnern kann. Die identifizierende Frage wird abgewehrt, die mit ihrer Anforderung an das Erinnern im Grunde auf das Vergessen des Vergessens zielt. Zugleich aber lässt der Text undeutlich, ob das Ich überhaupt die Wahrheit sagt. Es wird leicht übersehen, dass es nur behauptet, sich nicht zu erinnern, bzw. ankündigt, es werde im Fall einer Frage nach „der Liebe“ sagen, es könne sich nicht erinnern. Vielleicht also schiebt es das Vergessen nur vor. Vielleicht weiß es mehr, als es sagt. Vielleicht kann es sich wirklich nicht erinnern. Allemal wird die Darstellung und Identifizierung der „Liebe“, des „Gesichts“, verweigert. Der Leser wird, einmal auf diese Offenheit gestoßen, nach Indizien fahnden, wie es sich wirklich verhält. Aber der Text gibt ihm letztlich so wenig eine klare Antwort wie das Ich dem Du. In Ezra Pounds „La Fraisne“ (1909) kommt ein ähnliches Motiv vor, und es gibt verblüffende Ähnlichkeiten zwischen beiden Texten, auch Momente, die an das Gedicht „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“ erinnern. Dennoch führt vor allem die Beobachtung des Unterschieds weiter: Bei Pound ist auch vom Vergessen einer Frau die Rede, doch gibt es dafür einen Grund („I think she hurt me once“). Bei Brecht dagegen handelt es sich um das Vergessen an sich. Kein Leiden an Gedächtnisschwund wird dargestellt, ebenso wenig aber die Weigerung, eine schmerzhafte Erinnerung zu haben. Die Weigerung bezieht sich vielmehr auf den Anspruch der Fixierung einer Erfahrung. Vergessen – oder die Behauptung des Vergessens – stellt für das Ich einen Schutz dar. Es weicht dem durch die Frage gesetzten An-Spruch auf Erinnerung aus. Warum aber kann der Text dennoch „Erinnerung an die Marie A.“ heißen? Das Ich hat vermutlich vergessen. Es erinnert sich nicht an die Marie A. Es erinnert aber an das Vergessen, und damit an das Vergessene, auch wenn dieses undeutlich bleiben muss. So, nämlich transitiv, ist das Wort „Erinnerung“ im Titel zu verstehen. Das Gedicht erinnert den Leser an „seine“ Marie A. und ist insofern „Erinnerung an die Marie A.“ Vielleicht auch darum ist sie die anonyme Marie A. statt Maria: Bild einer Erfahrung, die alle machen. Indem die schwindende Wolke das letzte Wort behält, die immer behalten wird, weil allein die nicht bewahrbare Vergänglichkeit ein wahres Aliud setzen kann zum ewigen Einerlei dessen, was an Arbeit und Familie bleibt („Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer / Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind“), scheint der Text das Kunststück fertig zu bringen, die Verlusterfahrung des Vergessens als Apotheose der Flüchtigkeit zu artikulieren.

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Auch in der „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“11 ist das Aufeinandertreffen von weisem Vergessen und sistierender Erinnerung auf andere Weise Thema. Die Lehre des „Lehrers“ besteht in der Erkenntnis, Daß das weiche Wasser in Bewegung Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt. Bewegung, die Erstarrung und Zeit überwindet, leben und lehren zu können, setzt gerade das Vergessenkönnen voraus, das der alte Lehrer denn auch tief in sich trägt. Er packt zu Beginn, weil es ihn nach „Ruh“ drängt, seine Sachen – „Wenig, doch es wurde dies und das“ – und „Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es / Als er ins Gebirg den Weg einschlug“. Vergessen ist die Bedingung der Weisheit. Aber diese Weisheit hätte nie Gestalt gewonnen, wenn ihr Träger nicht vom Zöllner einmal kurz aufgehalten worden wäre. („Gut, ein kleiner Aufenthalt.“) Nur wenn die Grundbedingung des Vergessens gelegentlich kurz durchbrechen wird, kann das Buch entstehen. Das Vergessen, die Lehre des Weisen, muss sich der Konfrontation mit dem Wunsch nach Fixierung aussetzen. Anders wäre die Lehre vom Vergessen nicht zu behalten und könnte nicht erneut vergessen werden. Dem korrespondiert aber, dass der Einzelne sich der Anforderung und dem Anspruch, sich zu erinnern, auch widersetzen muss. Nicht immer wird er dem Anspruch der „Zöllner“ willfahren. Nie sich zu tief mit der Zeit einlassen, Vergessen und Vergessenwerden als Lebensregel zu akzeptieren – das ist die Lehre der Gedichte, die Brecht im geplanten Lesebuch für Städtebewohner versammeln wollte. Eindringlich erscheint in „Gedicht Nr. 7“ die ebenso steinkalte wie höfliche Stimme, die einem, der offenbar verjagt wird, und nicht weiß, wohin, erklärt: „Wenn Sie noch etwas sagen wollen, dann / Sagen Sie es mir, ich vergesse es.“ Am Anfang des Lesebuchs sollte der Text „Verwisch die Spuren“ stehen, in dem die Aufforderung erteilt wird, keine Spuren zu hinterlassen und durch Verweigerung jeder Unterschrift, jedes Bilds, dafür zu sorgen, dass man nicht in Erinnerung und nicht identifizierbar bleibt. Verschwinden und Vergessenwerden, so könnte man diese Beschreibung des Lebens in den Städten als einer „Krypto-Emigration“ umreißen. Ähnlich resümiert das Lesebuchgedicht Nr. drei das Verbot, eine Spur zu hinterlassen: „Du darfst nicht gewesen sein“. Die Erfahrung der Vergesslichkeit (Gleichgültigkeit, Verlust, Leere auf der einen Seite, Befreiung, Sorglosigkeit, Lust am Neuen auf der an-

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deren) bleibt zwiespältig, wird aber in den meisten Texten Brechts zur positiven Seite hin aufgelöst. Das schlechte Gedächtnis ermöglicht eine Freiheit, die auch bedrohlich ist. Die Lust an der Vergessenheit, der Freiheit von Verantwortung und Aufsicht, bringt die Angst vor der Vergessenheit nicht zum Verschwinden. Einmal schreibt Brecht: „Denn es ist angenehmer, eine möglichst große Anzahl von möglichst klugen […] Menschen schweißtriefend damit beschäftigt zu sehen, einen auszurotten, als von sich selbst vergessen das unwichtigste Erlebnis von vier Wänden oder die peinliche Angelegenheit eines Gossensteines zu werden.“ Wenn der Dankchoral jubelt: „Es kommt nicht auf euch an“, weil der Himmel mit seinem schlechten Gedächtnis den Menschen schon vergaß, so antwortet dem das Gedicht „Von den Sündern in der Hölle“. Doch keiner sieht sie stehen Durch die die Winde wehn. Durch die die Sonne scheint hindurch Die kann man nicht mehr sehn. […] Dann kommt George Pflanzelt Ein unglückseliger Mann Der hatte die Idee gehabt Es käme nicht auf ihn an. Nicht nur die Toten sind hier gemeint, sondern die höllische Seite der Art von Subjektivität, die sich in Brechts Dichtung artikuliert. Doch entscheidend bleibt dies: Das Vergessen gibt die Kraft zu immer neuem Aufbruch. Es geht um Trennung und Ablösung. Weil die Trennung schwer zu ertragen ist, bedarf das Subjekt der Vergesslichkeit, um seine Produktivität entfalten zu können. Das Vergessen ermöglicht das Neue. So hat Brecht den Zusammenhang in „Lob der Vergeßlichkeit“ gesehen: Gut ist die Vergeßlichkeit! Wie sollte sonst Der Sohn von der Mutter gehen, die ihn gesäugt hat? Die ihm die Kraft der Glieder verlieh und Die ihn zurückhält, sie zu erproben.12 Am Ende dieses Textes heißt es: Die Schwäche des Gedächtnisses verleiht Den Menschen Stärke.13

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Benötigt wird sie, weil dem Leiden gegenüber die Fähigkeit zu vergessen die einzige Garantie dafür ist, dass der Mensch sich immer wieder erhebt, das Unerprobte und unmöglich Scheinende immer von Neuem versucht: Wie erhöbe sich ohne das Vergessen der Spurenverwischenden Nacht der Mensch am Morgen? Wie sollte der sechsmal zu Boden Geschlagene Zum siebenten Mal aufstehen Umzupflügen den steinigen Boden, anzufliegen Den gefährlichen Himmel?14 Postuliert wird eine Fähigkeit des Immer-von-vorn-Beginnens: „Alles wandelt sich. Neu beginnen / Kannst du mit dem letzten Atemzug“.15 Nur wenn jeder Atemzug als ein kleiner Tod, das Leben als Sterben begriffen wird, gewinnt die paradoxe Zuspitzung dieser Zeilen einen Sinn. Das Produktive des Vergessens ist in der Lebenszeit des Einzelnen eine Möglichkeit, Lebendigkeit und Gegenwart zu ermöglichen. Unverkennbar bewegt sich Brecht hier in Gedankenbahnen, die vor ihm besonders Nietzsche verfolgte. Seine Kenntnis von dessen Denken war genauer als man angenommen hat, vor allem jedoch stimmen beide gerade in der Betonung einer produktiven Kraft des Vergessens überein. So heißt es bei Nietzsche: Vergeßlichkeit ist keine bloße vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, daß was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte ihn „Einverseelung“ nennen) ebensowenig ins Bewußtsein tritt, als der ganze tausendfältige Prozeß, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte „Einverleibung“ abspielt. […] ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewußtseins damit wieder Platz wird für Neues […] das ist der Nutzen der, wie gesagt, aktiven Vergeßlichkeit, einer Türwärterin gleichsam, einer Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung, der Ruhe, der Etikette: womit sofort abzusehen ist, inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne Vergeßlichkeit.16 Wenn Brecht dem Ideal des Bewahrens und des Dauerns provozierend die rückhaltlose Offenbarung des Vergessens entgegensetzt, dann

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spricht sich darin ein ähnliches Verhältnis zum Vergangenen aus wie bei Nietzsche, wenn er vor einem übermächtigen historischen Sinn warnt: Bei dem kleinsten aber und bei dem größten Glücke ist es immer eins, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessen können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. […] Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde […].17 Das hat Brecht sich gemerkt.

1978/2016

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GW 20, S. 34. GW 8, S. 314–316. Brecht, Bertolt: Tagebücher, hrsg. v. Herta Ramthun, Frankfurt a. M. 1975, S. 213. Ebd., S. 131. GW 8, S. 278. Ebd., S. 228. Ebd., S. 386. Benjamins Buch über das deutsche Trauerspiel sagt letztlich etwas Ähnliches: „Der gewaltige Entwurf dieser Form ist zu Ende zu denken; von der Idee des deutschen Trauerspiels kann einzig unter dieser Bedingung gehandelt werden. Weil aus den Trümmern großer Bauten die Idee von ihrem Bauplan eindrucksvoller spricht als aus geringen noch so wohl erhaltenen, hat das deutsche Trauerspiel des Barock den Anspruch auf Deutung. Im Geiste der Allegorie ist es als Trümmer, als Bruchstück konzipiert von Anfang an.“ Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a. M. 1963, S. 268. Vgl. Baudelaire, Charles: Œuvres complétes, Paris 1968, S. 90. Schöne, Albrecht: „Bertolt Brecht“, in: Die deutsche Lyrik von der Spätromantik bis zur Gegenwart, Bd. II, hrsg. v. Benno von Wiese, Düsseldorf 1959, S. 490. Vgl. GW 9, S. 268. Ebd., S. 628f. Ebd., S. 629. Ebd. GW 10, S. 888. Nietzsche, Friedrich: Werke in 3 Bänden, Bd. II, München 1966, S. 799. Ebd., Bd. I, S. 212f.

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DAS SCHWIMMGEDICHT -

„Wer nur schwimmen will im Sommer, für den fließt das Wasser nicht.“ (Brecht)

Vom Schwimmen in Seen und Flüssen

1 Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben Nur in dem Laub der großen Bäume sausen Muß man in Flüssen liegen oder Teichen Wie die Gewächse, worin Hechte hausen. Der Leib wird leicht im Wasser. Wenn der Arm Leicht aus dem Wasser in den Himmel fällt Wiegt ihn der kleine Wind vergessen Weil er ihn wohl für braunes Astwerk hält. 2 Der Himmel bietet mittags große Stille. Man macht die Augen zu, wenn Schwalben kommen. Der Schlamm ist warm. Wenn kühle Blasen quellen Weiß man: ein Fisch ist jetzt durch uns geschwommen. Mein Leib, die Schenkel und der stille Arm Wir liegen still im Wasser, ganz geeint Nur wenn die kühlen Fische durch uns schwimmen Fühl ich, daß Sonne überm Tümpel scheint. 3 Wenn man am Abend von dem langen Liegen Sehr faul wird, so, daß alle Glieder beißen Muß man das alles, ohne Rücksicht, klatschend In blaue Flüsse schmeißen, die sehr reißen. Am besten ist’s, man hält’s bis Abend aus. Weil dann der bleiche Haifischhimmel kommt Bös und gefräßig über Fluß und Sträuchern Und alle Dinge sind, wie’s ihnen frommt.

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4 Natürlich muß man auf dem Rücken liegen So wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen. Man muß nicht schwimmen, nein, nur so tun, als Gehöre man einfach zu Schottermassen. Man soll den Himmel anschaun und so tun Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt. Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut Wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt.1 1

Am meisten wohl von allen Gedichten der Hauspostille kreist dieser Text in sich selbst. Schlingpflanzenartig in sich verwoben, stellt er ein leichtes, fließendes Gewebe dar, eine Textur, die den Leser einlädt, wie Brechts Schiff sich zu verhalten, das im Meer der Sprache untergeht und erläutert: Seit ich wußte, ohne mich zu wehren Daß ich untergehen soll in diesen Meeren Ließ ich mich den Wassern ohne Groll.2 Allerdings ist dieser Einladung nicht leicht nachzukommen, denn dieses „Schwimmgedicht“ bietet nirgends und zugleich fast überall Ankerplätze für die Deutung an. Die schlechten Zeiten, sagte Brecht gern, erkennt man daran, dass es nicht etwa zu wenige Ratschläge gibt, sondern zu viele. Wenn an einem Text allein im Rahmen eines Seminars ein Dutzend nicht vollkommen unernsthafte Auslegungen probiert werden können, dann wird diese Erfahrung von vielen zunächst nicht als lustvoll, sondern als bedrohlich erlebt. Die Irritation durch die Vielzahl der Assoziationen kann jedoch auch als notwendiges Element erlebt werden, in dem die eigene Produktivität des Lesens in Fluss kommt. Die folgende Lektüre versucht, von der Erfahrung mit dem Prozess des kollektiven Lesens eine Vorstellung zu vermitteln, den ein Seminar von Helmut Lethen im Sommer 1976 zu praktizieren und zu reflektieren suchte.3 Zunächst scheint es sich um einen Erlebnisbericht des Autors Brecht zu handeln, der in der Augsburger Zeit so manche warmen Sommerabende und Nächte mit Freunden und Freundinnen im Grünen, am Lech, zubrachte. Jugendfreunde berichten, dass gerade der Sommer 1919 ganz im Zeichen solcher Ausflüge stand. Ebenso liegt die Versuchung nahe, diese Berichte so selektiv zu lesen, dass man in den Texten deren „Erinnerungen“ wiedererkennt. Wenn dann Arnolt Bronnen oder Hanns Otto Münsterer solche Bemerkungen machen, dass sich mit

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ihnen ein Zugang zur Thematik des Gedichts eröffnen lässt, greift der Interpret dankbar zu. Auch die Tagebücher werden gern in diesem Sinn genutzt. Wie auch sonst der Autor Brecht kaum je unverstellt sich zeigt, bedürfen jedoch diese Tagebücher, nicht anders als die Gedichte selbst, allererst der Interpretation. Sie stellen die höchst artifizielle, bewusste Selbststilisierung eines Autors dar, der schon in seinen jungen Jahren damit rechnete, berühmt (und zitiert) zu werden. Nun scheint allerdings gerade das Gedicht „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“ so sehr privates Erleben zu schildern, dass die Versuchung hier besonders groß ist, es als Erlebnisschilderung zu lesen.4 Das Problem besteht darin, dass vielen Zeugnissen von Zeitgenossen zufolge Brecht für die Freuden des Badens keineswegs so aufgeschlossen war, wie man nach diesem Text erwarten sollte. „Brecht war nicht sportlich im heutigen Sinn“, hört man.5 Er hat anscheinend das Schwimmen in Seen und Flüssen mehr betrachtet und kommentiert als mitgemacht. Wasserscheu zählte er zu seinen „Achillesfersen“.6 Bei den gemeinsamen Ausflügen der Augsburger Freunde, den homoerotischen Erlebnissen, zum Beispiel mit Münsterer, hört man mehr vom nackten Im-Gras-Liegen als vom Schwimmen.7 Lotte Lenya, die sich an einen Aufenthalt an der Riviera 1928 erinnert, bemerkt trocken: „Ich kann mich nicht erinnern, Brecht je ganz untergetaucht gesehen zu haben. Er muß ein wenig wasserscheu gewesen sein.“8 Über den Brecht der Nachkriegszeit gibt es ähnliche Berichte (zum Beispiel von Max Frisch), und was man über die Ausflüge in die DDRKünstlerkolonie Ahrenshoop in Erfahrung bringt, stimmt mit all dem überein.9 Was immer also der motivierende Anteil von Augsburger Freizeit gewesen sein mag: Erklären können solche Verweise den Text nicht. Es handelt sich nicht um die Formulierung eines „realen“ Erlebens. Das Naturerlebnis wird mit kühler Lehrergeste als „Exerzitium“ vorgeführt, und schon die Sprache des Exerzitienmeisters weist darauf hin, dass von einer Ideologie der Naturverschmelzung, einem anti-rationalistischen Kult der Ur- und Erdgefühle, dem Pathos imaginärer Allverbundenheit hier schlechterdings nicht gesprochen werden kann. Hymnus, Rausch, Allverbrüderung, wie sie bei Whitman oder Heym in je verschiedener Weise vorkommen, entfallen. Die Aufmerksamkeit sollte sich darauf richten, wie gebrochen der Text sich zu seinem Phantasiematerial verhält. Dann fällt zum Beispiel das „Als ob“ auf: Man muß nicht schwimmen, nein, nur so tun, als Gehöre man einfach zu Schottermassen. Man soll den Himmel anschaun und so tun Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt.

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Das Gedicht stellt nicht, wie die erste Lektüre denken machen kann, eine unio mystica mit der Natur dar, sondern ironisiert in der Geste des „Als ob“, die syntaktisch auch noch das nur scheinbar eindeutige Dementi des bloß Fiktiven – „und es stimmt“ – umfasst. Dennoch wird der fiktive Charakter dieses Schwimmens erst am Ende ganz deutlich. Der Stoffgehalt überwiegt zunächst, und gerade der Stoff, aus dem dieser Traum gemacht ist, lässt die Assoziationen und Erinnerungen der Leser reichlich sprießen. Verschiedene „Angebote“, den Text zu verstehen, durchdringen sich bei den Rezipienten, und daher ist das Folgende weniger ein Erfahrungsbericht als vielmehr die Verknüpfung zwischen bestimmten Erfahrungen mit dem „Lesen“ von Studenten und der Darstellung objektiv vorhandener „Schichten“ des Textes. „Soziologisches“ Lesen besteht am stärksten auf der Unklarheit des Gedichts: Es bleibe undurchsichtig, hieß es, ob nicht ein Rückzug in die Natur gepredigt wird. Gerade angesichts der heftigen gesellschaftlichen Kämpfe der Jahre nach der Revolution wäre dies aber eine reaktionäre und unverantwortliche Haltung. Ob die naturpoetische Flucht, die literarische Fiktion einer Einheit des Menschen mit der Natur, fernab von der bösen Gesellschaft, ironisiert werde, bleibe immerhin undeutlich. Unklarheit, Unentschiedenheit, Rückzug in die Idylle – das waren Stichworte für die politisch von diesem Text enttäuschten Studierenden, Stichworte, die im Jahre 1976 nur einmal mehr die Zugehörigkeit des Autors Brecht zur Klasse des Kleinbürgertums bewiesen. Brecht kann sich offenbar zu keiner klaren Haltung aufraffen. Das Gedicht bezieht sich, aller Ironie zum Trotz, auf einen anarchischen Zustand der Verbindung mit der Natur. Die soziale Wirklichkeit, also Revolution und die Kämpfe der Nachkriegszeit, gehen es nichts an. Anarchismus, Nihilismus, Zynismus, apolitische Gleichgültigkeit ist aber nichts anderes als das, was man vom Kleinbürgertum zu erwarten hat, sagt doch schon Marx übers Schwanken und die Unklarheit des Kleinbürgers: Der Kleinbürger ist wie der Geschichtsschreiber Raumer zusammengesetzt aus einerseits und andrerseits. So in seinen ökonomischen Interessen, und daher in seiner Politik, seinen religiösen, wissenschaftlichen und künstlerischen Anschauungen. So in seiner Moral, so in everything. Er ist der lebendige Widerspruch.10 Gegen diese Kritik wandten sich solche Seminarteilnehmer, die auch Gedichte akzeptieren wollten, in denen man tatsächlich nichts über die Revolutionszeit erfährt, nicht die Parteinahme zu den großen Kämpfen ihrer Zeit findet, die die politisch Engagierten unbedingt verlangten. Diese Se-

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minarteilnehmer stellten den vorher zugrunde gelegten Begriff von Wirklichkeit selbst in Frage. Gehört zu ihr nicht auch das Individuum, das sich, jedenfalls zu bestimmten Zeiten, wenn vielleicht die Stürme der Geschichte „nur in dem Laub der großen Bäume sausen“, in sich selbst zurückzieht? Die Apologie des Privaten im Jahre 1976, die sich anders als noch wenige Jahre zuvor, bei vielen Studenten fand, war sicherlich kein Zufall, markiert doch solches Lesen derer, die sich enttäuscht von den dogmatisierten marxistischen Ansätzen abwenden, auch eine notwendige Wiederentdeckung des eigenen Selbst im politischen Engagement. Lässt man sich nun auf den Text als „private“ Äußerung, als das Sprachspiel zunächst dieses einen, schwer deutbaren Subjekts ein, dann können an ihm zentrale Probleme der Interpretation diskutiert werden. Gerade die Mehrdeutigkeit des Textes, des Subjekts in ihm, wirft die Frage danach auf, wie mit divergierenden Auslegungsstrategien umzugehen ist. Bei diesem Text waren es vor allem die Psychoanalytiker und die Theologen, die sich gegenseitig die Fanggründe streitig machten. Nicht zu schlichten bleibt diese Divergenz zumal, wenn die Deutung bei einer mehr oder weniger allegorisch operierenden Auslegung des Thematischen verharrt. In das Fahrwasser einer theologischen, besser anti-theologischen Problematik leitet der Text bereits durch seine Einordnung in die „Exerzitien“, die den Gedanken an Mystik, geistliche Übungen und Jesuitenorden wachruft. Der Gestus des Gedichts folgt der Rede eines klassischen Exerzitienmeisters, der offenbar über Erfahrung mit dem geschilderten Tun oder besser Nicht-Tun verfügt und diese Erfahrung in Ratschläge an den Leser, gleichsam den jesuitischen Zögling, abgibt. Für „theologisches“ Lesen ist „der liebe Gott“ am Ende naturgemäß ausschlaggebend. Dass seine Erscheinung betont nebenbei erfolgt, er als „gemütlicher Kumpan“ dargestellt wird, stellt eine antireligiöse Spitze dar. Antiasketisch wird der Transzendenz trotzig das Versinken im warmen Schlamm sündigen Genießens konfrontiert. Gott selbst wird auf die Erde (in die Flüsse) heruntergeholt. „Der liebe Gott“ heißt er darum auch, es ist der Gott für kleine Kinder, an den nur sie glauben. Im Text taucht mehrfach ein Fisch auf. Wenn das Subjekt sich blasphemisch Gott gleichstellt („wie der liebe Gott tut“), so benutzt es auch, nicht weniger blasphemisch, ein ehrwürdiges religiöses Symbol, den Jesus-Fisch, um mit seiner Hilfe die physische Wärme der Sonne, des Schlamms besser fühlen zu können11: „Nur wenn die kühlen Fische durch uns schwimmen / Fühl ich, daß Sonne überm Tümpel scheint“ und „Der Schlamm ist warm. Wenn kühle Blasen quellen / Weiß man: ein Fisch ist jetzt durch uns geschwommen“.

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Gerade im Kontext dieser anti-theologischen Fragestellung ist der Gedanke an den Urschlamm, aus dem die Welt entsteht, nicht abzuweisen. Der ganze Text geht so weit zurück, dass er an einer Art Nullpunkt des Daseins anzulangen scheint. Der Schöpfer des Himmels und der Erde schwimmt selbst in seinen Flüssen, er kreiert hier nichts. Eher noch schafft das Subjekt. Hört man den eben zitierten Zeilen ein wenig nach, dann wird deutlich, dass an beiden Stellen die Formel „durch uns“ zweideutig sein kann: Das Subjekt, dieses merkwürdige „Wir“, bringt selbst die Fische zum Schwimmen. Durch es – durch seine Anwesenheit, auf seine Veranlassung hin – schwimmen sie. Auch hier kehrt wieder, dass das Subjekt sich an die Stelle Gottes setzt. Es lassen sich noch andere Indizien auftun. Sie zeigen an, dass die religiöse, theologische Lesart der Kohärenz nicht ermangelt. Sie vermag eine Schicht des Textes zu deuten. Vor allem die Psychoanalytiker sind indessen mit den Aussagen nicht zufrieden, die so zu gewinnen sind. Wer den sinnlichen Charakter des Textes wahrnimmt, ist nicht abzuspeisen mit einer Lektüre, die den Text ausschließlich negativ, als Kritik an asketischen Idealen, an Christentum und Gottesglauben bestimmt. Ist nicht der größte Teil des Gedichts beherrscht von sexuell konnotierten Phantasien und Wunschbildern? Als schwierig erweist es sich allerdings, sich über den genauen Inhalt der Phantasie(n) schlüssig zu werden. Da ist zunächst der offenkundig narzisstische Selbstgenuss. Das Subjekt scheint nur mit sich und dem Wasser zu verkehren, wie sich Narziss in der Quelle zu Donakon spiegelt. Die allerdings war dem Mythos zufolge noch nie, „selbst von den fallenden Zweigen der Bäume, die sie beschatteten, gestört worden“12, während hier immerhin „der kleine Wind“ den Arm für „braunes Astwerk hält“: […] Wenn der Arm Leicht aus dem Wasser in den Himmel fällt Wiegt ihn der kleine Wind vergessen Weil er ihn wohl für braunes Astwerk hält. Diese Passage zeigt, wie sich bei Brecht die auch aus dem Narziss-Mythos gespeiste Verbindung von Subjekt und Wasser verändert. Das Subjekt im Text ist nicht mit einem Spiegel konfrontiert, sondern selbst dieser Spiegel (die Wasseroberfläche) und in seinem Atemzug in Wasser und Himmel eingetaucht. Wenn der Arm, vom Auftrieb des Wassers an die Oberfläche getrieben, „fällt“, dann eben, weil der Auftrieb wie sonst die Schwerkraft wirkt. So ist die Richtung der Schwerkraft verkehrt und daher das Steigen ein Fallen. Zugleich transformiert sich im narzisstischen Selbstgenuss die

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Körperlichkeit. Narziss spiegelt sich nicht mehr im Wasser – er ist unmittelbar Wasser, sein Körper dort, wo Narziss sich spiegelte. Der Text kann so Physis und Bild, körperliche und intellektuelle Erfahrung verschmelzen, ohne sie doch deshalb explizit zu identifizieren. Wenn in den ersten Strophen die Imagination eines Refugiums entsteht, von dem die Welt ausgeschlossen ist, und in dem der Genuss herrscht; wenn in der vierten Strophe die narzisstische Besetzung des Selbst durch den Vergleich mit Gott bestätigt ist, so weist die Strophe drei demgegenüber noch einen anderen Charakter auf: Man wird „faul“, die „Glieder beißen“ und daraufhin „Muß man das alles, ohne Rücksicht, klatschend / In blaue Flüsse schmeißen, die sehr reißen“. Hier wird eine offenbar schmerzhafte Erfahrung artikuliert, und dies mit einer Lust an der Heftigkeit, die von Psychoanalytikern leicht als masochistisch zu klassifizieren war. Die aggressive Phonetik, die betonte Grobheit in „schmeißen“ und „ohne Rücksicht“ sowie die analerotische Komponente tragen zu diesem Eindruck bei. Vor allem aber spricht für die Deutung als masochistisches Lustbild, dass förmlich die Glieder dem Haifischhimmel zum Fraß vorgeworfen werden, dieser als „bös“ und „gefräßig“ geschildert wird und es dennoch heißt: „Am besten ist’s, man hält’s bis Abends aus. / Weil dann der bleiche Haifischhimmel kommt“. Leiden wird also geradezu herbeigesehnt? So kann diese Strophe verstanden werden. Dabei fällt allerdings die Bedingung und Voraussetzung dieses Leidens unter den Tisch: „Wenn man am Abend von dem langen Liegen / Sehr faul wird, so daß alle Glieder beißen“. Hier ist das Beißen gerade vor dem Auftauchen des Haifischhimmels da. In diesem Fall aber kommt der, obwohl „bös“, als Erlösung, und dies im buchstäblichen Sinn: Er löst die vom langen Liegen erstarrten, trägen, bewegungsunfähigen Glieder; er spiegelt nur die Aktion des Subjekts wider, „das alles“ in die Flüsse zu werfen, die „reißen“, wie Raubtiere oder Raubfische. Das masochistische Verschlungenwerden gehört als Korrektur offenbar zum stillen Selbstgenuss dazu, denn die Wonne droht in Empfindungslosigkeit zu führen. Der Aktion unterm Haifischhimmel ist es zu verdanken, wenn das Subjekt gerade nicht in Empfindungslosigkeit vernichtet wird. Am Ende der Strophe zwei heißt es: „Nur wenn die kühlen Fische durch uns schwimmen / Fühl ich, daß Sonne überm Tümpel scheint.“ Hier sind die Fische das, was das Fühlen ermöglicht. Aber vor allem fällt auf, dass es fast kein Gefühl mehr gibt. Ein Schock wird benötigt, hier die Kühle, die das Gefühl der Sonnenwärme ermöglicht, ein Schock, wie er in Strophe drei auch eintritt, wenn sich Wärme in Kälte, faul in blau, Ruhe in Fluss verwandelt.

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Andere Assoziationen mischen sich in den Streit der Lesarten. Die Atmosphäre der Geborgenheit weist auf eine Regression in die frühzeitliche Symbiose von Mutter und Kind. „Ganz geeint“ und doch in Körperteile aufgelöst „im Wasser“, fühlt sich das Subjekt „geeint“ auch mit dem mütterlichen warmen Körper in trennungsloser Symbiose. Nicht auszuschließen ist eine Mutterleibsphantasie: Bei Brecht ist das Wasser das Geburtswasser, das Subjekt schwimmt darin wie ein noch undifferenziertes Embryo, für das es noch kein Oben und Unten gibt, das nur „Wiegen“ kennt und noch keinen Kontakt zur Welt hat. Deutlich ist diese Phantasie in der Schlussstrophe: „Man soll den Himmel anschaun und so tun / Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt.“ Tragen hieße dann austragen, das Gedicht hätte zu seinem Thema den embryonalen Zustand. Gerade die Indizien für die Mutterleibsphantasie wurden aber von anderen auf Sexualität, weder narzisstische noch masochistische, weder regressive noch sadistische, sondern Sexualität im geläufigsten Sinn, bezogen. Ein Weib trägt das Subjekt, d. h., es wird eine sexuelle Vereinigung geschildert oder doch die Gefühle, die damit verknüpft sind. Der schon untergetauchte Fisch kommt hier wieder an die Oberfläche. Da er stumm ist, kann er sich gegen Auslegungen nicht gut wehren, und so fungiert er jetzt nicht als Jesus oder als Embryo, sondern als Penissymbol. In der psychoanalytischen Literatur ist diese Symbolik gut beglaubigt. Wie Fisch und Wasser, so vereinigen sich „man“ und „Weib“. Die eigenartigen Bilder des Gedichts, die eine Öffnung der Körpergrenzen andeuten, finden in der erotischen Lesart eine recht eindeutige symbolische Auflösung. Durchdrungensein, Durchschwommenwerden, das Auseinander und die Vereinigung der Glieder – das alles schildert metaphorisch die Gefühle in der erotischen Vereinigung. Die sexuellen Deutungen sind damit aber keineswegs schon erschöpft. Das Subjekt des Textes scheint einerseits männlich zu sein, andererseits gibt es sich deutlich als Frau: gibt sich passiv hin, lässt sich treiben, liegt auf dem Rücken, wartet auf einen eher männlich wirkenden Haifisch. Männliches und Weibliches fließen ineinander. Dieser Umstand verweist den Leser wiederum auf die Homoerotik. Es wurde denn auch von Seminarteilnehmern neben der Evidenz des Gedichts besonders auf Brechts Biographie verwiesen. Eine Tagebuchnotiz aus der Entstehungszeit des Textes lautet: Na[chmittags] mit Cas in Possenhofen. Es ist besser mit einem Freund als mit einem Mädchen. Wir liegen im Wasser (20 ° R) und im Wald und dann im Boot, und da schwimmen wir noch einmal, wie es schon Nacht ist. Liegt man auf dem Rücken, dann gehen die Sterne

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mit, oben, und die Flut läuft durch einen durch. Nachts fällt man ins Bett wie eine reife Frucht: mit Wollust.13 Strophe vier wäre demnach als Beschreibung einer homosexuellen Vereinigung zu lesen: Natürlich muß man auf dem Rücken liegen So wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen. […] Man soll den Himmel anschaun und so tun Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt. Es sind noch andere Deutungen zu erwähnen, die sich ebenfalls dadurch auszeichnen, dass sie konsequent einen Gedanken oder thematischen Zusammenhang privilegieren. So entzündet sich an der Charakterisierung des Gedichts durch Brecht als „geistige Übung“ die Idee, an dem nur scheinbar bloß Körperliches schildernden Text das Philosophische aufzudecken. Ist nicht zu beobachten, dass die Körperlichkeit so sehr in Leichtigkeit aufgeht, dass sie fast nicht mehr vorhanden scheint, das Physische als Allegorie eines Bewusstseinsvorgangs verstanden werden könnte? Vor allem das intime Verhältnis des Subjekts zu der es umgebenden Materie stellt eine Art Abbild der Subjekt-Objekt-Beziehung dar. Das Gedicht setzt den Himmel mit jeglicher Transzendenz gleich, das Wasser mit der Materie schlechthin. Zunächst ist die Materie, in der sich das Subjekt distanzlos aufhält, verderblich. Es muss erst ein solcher Prozess der Verbindung mit der Natur erfolgen, in dem das Subjekt sich als sinnlich erfährt, zugleich aber auch als „Ich“. Am Ende der zweiten Strophe wäre dieser Prozess erfolgt: Aus dem „man“ und der zerteilten Pluralität entsteht das „Ich“. Dieser Natur wird in der dritten Strophe der Metaphysik (Himmel) konfrontiert, die als gefährlich geschildert ist (Haifischhimmel). Erst wenn das Subjekt schließlich in der Strophe vier in den Flüssen, das bedeutet jetzt: mit der Schubkraft der Materie und auf ihren Kraftlinien, agiert, verhält es sich richtig. Nunmehr hat es sich in solcher Weise mit der Materie verbunden und verbündet, dass es dabei eine Identität zu behaupten vermag. Es sind in dem Seminar von 1976 nicht weniger als ein knappes Dutzend Auslegungen aufgetaucht, wenn wir offenkundig unzureichende Lesarten wie „Sportgedicht“ (Werner Ross) und „Anleitung zum autogenen Training“ hinzuziehen: autobiographischer Bericht über das Schwimmen im Lech, Gedicht gegen Naturpoesie, Gedicht gegen religiöse Askese, antimetaphysisches Gedicht, heterosexuelle Phantasie, ho-

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mosexuelle Phantasie, Mutterleibsphantasie, nihilistisch-anarchisches Rückzugsgedicht, poetisch umgesetzte materialistische Erkenntnistheorie. Die freie Bahn für die Assoziationen hat eine Reihe recht offenkundig falscher oder zu einseitiger Lektüren hervorgebracht, trotz der wachsenden Ungeduld vieler Seminarteilnehmer aber auch den Sinn für die Polysemie des Textes geschärft. Der Text „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“ stellt einen extremen Fall solcher Polysemie dar. Die objektiv im Text vorhandenen Wort- und Beziehungsfelder lassen die meisten der vorgetragenen Deutungen als mehr oder weniger plausibel erscheinen – die Assoziationen sind in der Mehrzahl nicht schier aus der Luft gegriffen, sondern entzünden sich an tatsächlichen Gegebenheiten des Gedichts –, ohne dass der Text jedoch in irgendeinem Fall als eine klare Bestätigung einer Lesart erschien. Der Grund dafür liegt in der Natur dessen, was Freud das freie Strömen der Assoziation nennt und zugleich in der Konstitution des literarischen Textes selbst. Ein Textelement bringt seine Konnotationen, die ihm im System der Sprache gleichsam „angewachsen“ sind, in das Bedeutungsfeld des Textes mit ein. Im normalen Alltagsgebrauch wird die Vieldeutigkeit und Ambiguität des Zeichens weitgehend untergetaucht. Nur ein so fest wie möglich umgrenzter Teil der Bedeutungsvaleurs geht in den Sprachfluss ein. Man soll sich hier nicht verschwommen ausdrücken. Geleistet wird diese Reduktion nicht zuletzt durch die Beziehung des Gesagten auf die Intention des Sprechers und die Klarheit der Sprechsituation, den Kontext. Von ihm hat die Sprechakttheorie demonstriert, dass er allein es ist, der den Sinn einer sprachlichen Äußerung zu bestimmen erlaubt. Unsicherheit über die Bedeutung von Zeichen wird durch die Sprechsituation, durch Betonung, die Wortwahl tendenziell ausgeräumt. Umgekehrt gilt, dass im literarischen Text das Zeichen tendenziell sämtliche seiner möglichen Bedeutungen enthält. „J’ai voulu dire ce que ça dit, littéralement et dans tous les sens“, antwortete Arthur Rimbaud auf die Frage seiner Mutter nach der Bedeutung des von ihm geschriebenen Textes.14 Man kann sagen, dass der literarische Text, der linguistisch eine parole ist, eine Dynamik aufweist, in die langue zurückzukehren. Wenn das Gedicht „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“ diese Bewegung in extremer Weise vollzieht, dann pointiert es damit nur eine Qualität, die vor allem die Poesie der Moderne aufweist. Das Lesen gleicht darum dem Ablauf im Text: Man dürfte zunächst untertauchen, sich seinem Treiben überlassen und immer wieder bemerken, dass man nicht auf Grund kommt. Die irgendwann schmerzlich gefühlte Leere und Bewegungslosigkeit, die im mimetischen Angleichen an das Gedicht entsteht, drängt dann auf etwas Neues.

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In einem aggressiven Akt wird versucht, sich dem Sog des passiven Getragenseins, der immer wieder woanders hinführt, zu entziehen und dem Text doch einen Sinn zu entreißen, ihm eine bestimmte Richtung zu verleihen, eine Interpretation, eine Auslegung. Ob der Fisch ins Netz geht, ist jedoch ungewiss. Die bekannten Deutungen, die sich in der Forschung finden, ermutigen nicht dazu, auf diesem Weg weiterzugehen. Worauf es ankäme, wäre ein Verfahren, mit diesen Deutungen selbst zu spielen und sie im Prozess des Textes als immer wieder aufgelöste kenntlich zu machen. Wie das stille Angleichen an den Teich über die gerichtete Bewegung des reißenden Flusses in ein Treibenlassen mündet, so will vielleicht der Text am Ende dazu ermutigen, in ihm einfach, „ganz ohne großen Umtrieb“, zu – schwimmen? Im Seminar breitete sich jedoch der Wunsch aus, dass eine Deutung, die in eine Richtung weisen sollte, dekretiert werde. Gab es nirgends festen Boden unter den Füßen? War das Gedicht daran schuld, dass alles zerfloss? Oder die Lektüre? Hatte man sich zu nahe an den Text herangewagt? In dieser Lage schien es angebracht, von der vieldeutigen Bildwelt des Gedichts den Blick weg auf die formale Struktur zu wenden. Hier, an seiner Oberfläche, erschließt es sich womöglich wenigstens vorläufig. Vielleicht löst sich hier die verwirrende „Logik seines Produziertseins“. 2

Das „Schwimmgedicht“ gehört in die zweite Abteilung der Hauspostille. „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“ und „Vom Klettern in Bäumen“ sind die Gedichte, die am direktesten der Kennzeichnung im Titel als „Exerzitien“ (geistige Übungen) entsprechen. Zunächst handelt es sich um einen Bezug auf die Exercitia spiritualia. Dass in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ein verbreitetes Interesse an Ignatius von Loyola und an der Geschichte der Jesuiten bestand, an der strengen Ordnung und Organisation ihres Ordens, findet seine Erklärung leicht in der durchgreifenden geistigen Verunsicherung, die, schon vor 1914 einsetzend, seit dem Ersten Weltkrieg die Intellektuellen erfasst hatte. Übersetzungen und Kommentare der Schriften des spanischen Heiligen konnte auch der junge Brecht kennen, der sich auch später, zum Beispiel im Zusammenhang mit den Lehrstücken, mit ihnen befasst hat. Viele Züge des „Schwimmgedichts“ lassen sich in Analogie zu den Exerzitien des Loyola aus dem Jahre 1548 bringen.15 So wählt Brecht für seine Übung einen einsamen, abgeschiedenen und ungewohnten Ort – das fordert auch Ignatius für die Exerzitien. Wie der Zögling des Exerzitienmeisters, so ist Brechts „Übender“ offenbar mit sich, einem winzigen

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Stück Umgebung und mit Gott allein. Die Übungen des Ignatius umfassen vier Wochen, Brechts Exerzitium gliedert sich in vier Strophen. Die Haltung einer gewissen Gebetspädagogik entspricht Brechts Anweisungen. Ziel der Übungen ist in beiden Fällen, eine bestimmte Erfahrung zu machen. Man könnte nun meinen, einen deutlichen Gegensatz dort zu finden, wo Ignatius eine „mystische“ innerliche, Brecht aber eine mindestens dem Anscheine nach vollständig im Körperlichen aufgehende Erfahrung anstrebt. Jedoch hebt die Literatur über Ignatius stets hervor, dass bei ihm im Unterschied zur unio mystica der klassischen Mystiker keine Verschmelzung mit Gott in irrationaler Einheit das Ziel ist, sondern eine Reinigung des Verstands. Brechts Übersetzung „geistige“ Übungen statt „geistliche“ Übungen wäre demnach nicht unkorrekt: Die vollständige Kontrolle der Physis, das Abtöten allen Begehrens außer dem nach Gott mündet bei Ignatius nicht in die mystische Vereinigung, sondern in die totale Aufgabe der eigenen Identität und der eigenen Wünsche. Bedingungslose Unterwerfung und „Einverständnis“ mit dem Willen der Kirche soll erreicht werden. Eine intellektuelle Erfahrung also, ein rationalistisches Moment von Kontrolle, das auch Brechts Exerzitium prägt. Die erwähnte Gliederung der Exerzitien in vier Wochen findet im Gedicht eine weitere Analogie: die Teilung in der Mitte. Bei Ignatius wie bei Brecht ergibt sich nach der Hälfte des Exerzitiums ein tiefer Einschnitt. Man trifft nach seelischer Reinigung und Vorbereitung am Ende der zweiten Woche eine Wahl, eine wichtige Lebensangelegenheit betreffend. Die innere Vergegenwärtigung der Reise Christi an den Jordanfluss und die Taufe dort begleitet diesen Vorgang. Die Exerzitien, von einem durchweg symmetrischen Aufbau gekennzeichnet, teilen sich in ein Vor-der-Wahl und ein Nach-der-Wahl.16 Die dritte Woche steht bei Ignatius im Zeichen von Gewalt und Tod, nämlich des Nachvollzugs der Leidensgeschichte und des Todes Christi. An der entsprechenden Stelle erscheinen in Brechts Text Gewalt und Schmerz. Kontemplation von Auferstehung und Himmelfahrt, die selige innere Klarheit als Ergebnis des Exerzitiums in der vierten Woche, entsprechen der beruhigten Fahrt, mit der das Subjekt in Strophe vier „den Himmel anschaun“ und sich treiben lassen soll. Eine streng methodische Regelung der kleinsten Verrichtungen des täglichen Lebens geht bei Ignatius so weit, dass bis auf die Minute der tägliche Rhythmus, die Gebetszeiten, Bußübungen und Meditationen vorgeschrieben sind. Ort (er soll ruhig sein), Lichtverhältnisse (es soll nicht zu viel davon geben) und sogar das Blicken (der Blick soll verhalten sein) sind vorgedacht. Die minutiöse Beschreibung der Körperhaltungen, die Konzentration auf methodische Beschäftigung der

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Sinnesorgane, selbst die Technik des Ausgleichs durch contra agere, dies alles lässt sich in Brechts Text analog wiederfinden. Die symmetrische Struktur der Exerzitien prägt den Aufbau des Gedichts, wirkt nicht nur in der Tiefe, sondern durch die Sprache des Exerzitienmeisters, der den Leser als Zögling anspricht, auch an der Oberfläche, im sprachlichen Gestus. Das Gedicht, das keine festen Konturen zu kennen scheint, erbaut ein Sprachfeld mit erborgten Ordnungselementen. Der Sprachprozess dieses Gedichts scheint also von einer fundamentalen Paradoxie gekennzeichnet: einerseits Verflüssigung und Auflösung, andererseits übermäßig strenge Disziplin. Das Gedicht ist insgesamt überaus sorgfältig ausbalanciert, seine Ladung gleichmäßig verteilt. Die Strophen eins und zwei stehen ganz im Zeichen der Seen, während es in den Strophen drei und vier um die Flüsse geht. Der Text ist ein konstruiertes Treiben und Treibenlassen. Sein manifester Gehalt zeichnet ein leichtes, schwereloses Dasein, ein Traumbild und Verfließen und Vergehen. Dieser Traum wird – wir haben darauf hingewiesen – auch durch den scheinbar furchteinflößenden Haifischhimmel nicht verunstaltet. Vielmehr liegt es in der Ökonomie des Ganzen, dass in der Mitte des Gedichts zwischen Strophe zwei und drei ein gewisses Zuviel an Ruhe durch ein gewisses Übermaß an Heftigkeit (contra agere) kompensiert wird. Im Wort „faul“ ist dieser Übergang selber erkennbar: Faulenzen wird Verfaulen, sodass, wie man sagt, „etwas passieren muß“. Strenge Symmetrie prägt das ganze Gedicht. Es weist eine gerade Anzahl von Strophen auf, jede Strophe eine gerade Anzahl von Zeilen. Die Teilung nach Seen und Flüssen in der Mitte erkennt man an den jeweils vorherrschenden Vokabeln exakt wieder: Liegen, Wiegen, Hausen, Stille, insgesamt Ruhe und Passivität im ersten Teil, Klatschen, Reißen, Beißen, Schmeißen, Kommen, aktive Bewegung also, in der Strophe drei und die Bewegung des Treibens in der letzten Strophe. 1

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Seen

3

4

Flüsse

Dieser Struktur überlagert sich jedoch eine zweite. Durch die auffallend betonten Tageszeiten Mittag und Abend sowie durch andere Bezüge werden die Mittelstrophen zwei und drei zusammengebunden. Die Außenstrophen enthalten allgemeine Angaben (Sommer, so wie gewöhnlich), während der Inhalt der Strophen zwei und drei durch die Abfolge der Tageszeiten bestimmt wird. In Strophe vier gibt es zwar den Abend auch, jedoch nur in einem Vergleich: „Wie der liebe Gott […] wenn er

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am Abend“, sodass die unmittelbare Bedeutung der Tageszeit die beiden Mittelstrophen betrifft. Das auffallendste Wortfeld der zweiten Strophe ist „Stille“: „Der Himmel bietet mittags große Stille.“ Es wird das Subjekt mit Stille versorgt: Gestillt könnte man sagen, als wenn ihm die Brust geboten würde. Eine Speisung, ein Trinken wird konnotiert, eine beruhigte Vereinigung, die Wärme des Stillens an der Mutterbrust. Dagegen kommt es assoziativ in Strophe drei (am Abend – während die „Stillzeit“ an die Tagesmitte gebunden war) zu einer Umkehrung: nach der Speisung die Assoziation ans Verspeistwerden. Dem „Haifischhimmel“ werden die Glieder („das alles“) einzeln zum Fraß vorgeworfen. Nicht mehr wird das Subjekt gefüttert, es wird selbst verschlungen. „Bös und gefräßig über Fluß und Sträuchern“ kommt der Haifischhimmel. Die Verbindung von Abend und „gefräßigem“ Himmel kommt auch sonst bei Brecht vor: „Wir haben Zigarren geraucht, wenn die dunklen braunen Abende uns angefressen haben“.17 Bei der Interpretation dieses Hais sollte nicht vergessen werden, dass der Abend – im Bild – als Dunkelheit das Licht „frißt“. Aus dem Zusammenhalt der Mittelstrophen ergibt sich wiederum eine symmetrische Gliederung des Textes: 1

2

3

4

Es wird deutlich, dass die Doppelung und Opposition den Text als eine Reihe von Spiegelungen erscheinen lässt. Wie die Strophen zwei und drei eine gegenseitige Umkehrung und seitenverkehrte Spiegelung darstellen, so spiegeln sich durchweg im Text Oben und Unten, stellt er eine spiegelähnliche formale Symmetrie her. Reimordnung (männlich/weiblich) und Satzbau teilen ebenso wie inhaltliche Momente jede der Strophen noch einmal genau in der Mitte. Die obere Strophenhälfte enthält allgemein eine Anweisung, die untere Strophenhälfte einen Kommentar oder Erfahrungsbericht. Wenn einmal die Anweisung in die zweite Hälfte hineinragt (Strophe vier), erscheint sie zu einem „soll“ gemildert. (So sehr ist das ganze Gebilde von der Verdoppelung geprägt, dass diese sogar bis in die Buchstaben vorgetrieben ist: Eine auffällige Menge von Doppelkonsonanten weist das Gedicht auf, wobei, der liquiden Thematik angemessen, Liquida und Nasale dominieren.) Man kann die Skizze der Gliederung des Textes nunmehr vervollständigen:

1

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3

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Die Strukturanalyse liefert wichtige Elemente der Interpretation: Verdopplung, Spiegelung, Oppositionen. Sie führt weiterhin zu der Frage, welche Einzelmomente dieser Struktur des Ganzen entsprechen. Man findet sie in erstaunlicher Anzahl. Auf inhaltlicher, aber auch phonetischer Ebene ist der Text durchzogen von spiegelnden Korrespondenzen, die Oben und Unten, Himmel und Wasser, Trockenes und Feuchtes teils identisch setzen, teils kontrastieren. Einige Beispiele: Oben finden sich „die Winde“, unten „der kleine Wind“, oben das „Laub“, unten die „Gewächse“, oben die großen „Bäume“, unten das braune „Astwerk“. Die Spiegelung geht noch weiter: Die ganze Bewegung des Durchdringens, Durchsausens und Durchschwimmens ist genau spiegelgleich: „Laub der Bäume, in denen Winde sausen“ und „Gewächse, worin Hechte hausen“. Die Spiegelungen prägen vor allem den ersten Teil des Gedichts. Der zweite Teil bringt sie in Fluss, sie bleiben jedoch ständig präsent. In der Strophe zwei findet sich die auffällige Spiegelung des Substantivs „Stille“ oben im Himmel mit der wiederholten adjektivischen Form „still“. Schon vorher war in den Paaren sausen – hausen und bleichen – Teichen phonetische Korrespondenz zu hören. Die Wärme der Sonne und die des Schlamms, die Bewegung in der Stille (Schwalben – Blasen) vervollständigen die Entsprechungen. Nennen wir abschließend noch den Hecht, der als Raubfisch ja eine Art Verkleinerung des ominösen Haifischs darstellt. 3

Die Spiegelung in der Bewegung von oben nach unten ist, wie die Beispiele zeigen, durchweg eine vom Großen ins Kleine. Die großen Stürme oben wandeln sich in das sanfte Wiegen des kleinen Winds, das Dramatische wird verwandelt in Geborgenheit. Nicht das Wilde, sondern das stille Wiegen und die Leichtigkeit sind das Ziel der Lust, die sich nur zu bestimmten Zeiten, zur Belebung, in Heftigkeit wandelt. Eine Strategie der Verkleinerung exponiert der Text, und das gibt dem Motiv des „kleinen Winds“ im Gegensatz zu den (großen) Winden seine besondere Bedeutung. Brecht ist auf dieses Thema, seine persönliche Utopie des Kleinen, immer wieder zurückgekommen: die Reduktion des Subjekts auf seine „kleinste Größe“, die Unangreifbarkeit des Kleinen, das mit dem Biegsamen und Flüssigen assoziiert ist, auch auf die erotische Seite des Motivs. „Das Lied vom kleinen Wind“ im Schweyk beginnt so: Eil, Liebster, zu mir, teurer Gast Wie ich kein’ teurern find Doch wenn du mich im Arme hast

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Dann sei nicht zu geschwind. Nimm’s von den Pflaumen im Herbste Wo reif zum Pflücken sind Und haben Furcht vorm mächtigen Sturm Und Lust aufn kleinen Wind. So’n kleiner Wind, du spürst ihn kaum ’s ist wie ein sanftes Wiegen. Die Pflaumen wolln ja so vom Baum Wolln auf m Boden liegen.18 Im Stück leitet Frau Kopecka dieses Lied mit einer Bemerkung über Zeit und Eile ein: „Die Schnellsten sind nicht immer die Besten. Es muß die richtige Mischung sein zwischen Geschwindigkeit und Zeitlassen.“19 Nimmt man diese Szene aus dem Schweyk zu Hilfe, dann scheint es, als wollte das „Schwimmgedicht“ wie dieses Lied die Utopie eines richtigen Verhaltens zur Zeit besingen, eine ideale „Mischung“, die sowohl der leeren Zeit entkommt, die nur stillsteht, als auch der Zeit, die nur alles mit sich fortreißt, dem Vergehen zu. Die poetische Realisierung dieses Wunschbilds ist möglich als ein Spiel in der Sprache, in der Phantasie, in der sich Bewegung und Stillstand, Flüsse und Seen vereinen können. Der Vergleich des Gedichts mit dem späteren Lied weist aber auch zurück auf die Frage nach der besonderen Stellung der Strophe vier, die jetzt noch einmal zu betrachten ist. Sie hebt sich von den vorhergegangenen dadurch ab, dass eine Reihe neuer Elemente Eingang finden, zunächst „der liebe Gott“ und die „Schottermassen“. Beide sind nicht nur lautlich ineinander gespiegelt (Gott – Schotter), sondern auch semantisch folgen sie wiederum der Logik von Oben und Unten. Sie stehen über (Gott) bzw. unter (Schotter) der organischen Lebendigkeit, die das Gedicht sonst exponiert, repräsentieren zwei analoge Weisen der Zeitlosigkeit: die vor dem Leben, die tote Materie, und die über dem Leben, Ewigkeit. Zudem wird mit Schotter, anders als die bisher genannten Naturelemente, nicht nur auf die von Wasser verursachte Rundung des Schottergerölls, sondern auch auf Arbeit und Technik verwiesen, auf das Schottergeröll für Schienen- und Straßenbau. Mehr noch als diese Elemente macht jedoch ein anderes die besondere, abgeschiedene Position der Strophe im Ganzen aus: „Man muß nicht schwimmen, nein, nur so tun als / Gehöre man einfach zu Schottermassen“ und: „[…] so tun / Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt.“ Hier geschieht eine erstaunliche Wendung: An die Stelle des vom Leser bisher unterstellten Themas Schwimmen tritt ein ganz anderes: die

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Aktivität der Fiktion. Dieses Fingieren, das als ein „so tun als ob“ durchaus bewusste Täuschung und/oder Selbsttäuschung einschließt, tritt so emphatisch wie exakt an die Stelle des Schwimmens. Gerade von der Verneinung her – „Man muß nicht schwimmen, nein, […]“ – fällt Licht auf den Umstand, dass im ganzen Text das Wort Schwimmen nicht ein einziges Mal auf den Schwimmer bezogen wird! „Man“ soll – zum Beispiel – liegen, fallen, sich wiegen lassen, die Augen schließen, geeint liegen, faul werden … alles, nur nicht: schwimmen! Das tun die anderen, die Fische und der liebe Gott. Es sind dies aber alles Verhaltensweisen, Bewegungen, Tätigkeiten, die sehr wohl auch ohne Bezug auf das Schwimmen vorstellbar sind. Hier werden sie im Konnotationsfeld des Schwimmens hervorgebracht. Indem die letzte Strophe fast aufdringlich das „Als ob“20 betont, löst der Text, sofern er Bilder des Schwimmens malt, seinen Abbildcharakter auf und sagt am Ende, dass es um die Aktivität des Fingierens selbst geht, für die „Schwimmen“ zunächst nur als das Wort Schwimmen als Metapher und Spiegel dient. Der Text kreist in sich selbst. Lust an der Fiktion und Fiktion der Lust – in diesem Feld ist er angesiedelt. Die Darstellung einer Welt aus einer Serie von Spiegelungen mündet in die Thematik der Vorspiegelung. Im Spiegelbild des Schwimmens zeigt und zeugt der Text seinen eigenen Prozess. Wenn freilich der reflexive Charakter des Gedichts hervorgehoben wird, der in der einen oder anderen Weise den meisten von Brechts Gedichten eignet, dann sind damit die im ersten Teil entwickelten Lesarten nicht entwertet. Im Gegenteil: Indem der Text sein eigenes Thema des körperlichen Schwimmens in der Bewegung des Sprachmaterials selbst untergehen lässt, weist er auf die Begründung eben der verschiedenen Lektüremöglichkeiten. Für sie ist der Text durchlässig, für sie kann er zum Spiegel werden, gerade weil er sich ein-lässt in das Treiben der sprachlichen Zeichen, das tendenziell unabschließbar und bis zu einem gewissen Grade prinzipiell unkontrollierbar ist und damit immer wieder andere Assoziationsbereiche öffnet. Solange die Fixierung eines „Sinns“ revozierbar, instabil, spielerisch bleibt, ist sie für die Lektüre nicht nur nützlich, sondern sogar unverzichtbar. Denn was heißt Lesen, wenn nicht der Prozess selbst, in dem die Fixierungen, die Haltepunkte im Strom der Zeichen, errichtet und wieder abgebaut werden? In der Ausmündung des Textes in die Fiktion findet ein Paradox seine vorläufige Aufklärung: Der Text produziert gleichzeitig eine verschwimmende Bildwelt aus Regression, Ich-Auflösung, Zersetzung und haltloser Bewegung, ist aber zugleich von strengster Logik, Kontrolle und prüfendem Blick bestimmt. Ein beherrschtes, erwachsenes Subjekt mit pedantischer Rationalität verliert sich an infantile Wunschbilder,

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schreibt die ordentliche Schönschrift eines genau durchdachten Systems – ins Wasser. Aber diese Wunschwelt, von deren Besonderheiten noch zu handeln sein wird, ist nur vorhanden als textuelle (Vor-)Spiegelung. Meint der Text nun Realität oder nicht? Die Antwort: „Man soll den Himmel anschaun und so tun / Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt.“ Das kann man doppelt verstehen. Lesen wir zwei unabhängige Sätze, dann ist die Fiktion identisch mit der Wirklichkeit. Liest man dagegen „und es stimmt“ als syntaktisch noch abhängig von „so tun als ob“, dann wird nur so getan, als sei die Fiktion wirklich. Der Text entscheidet auch hier nicht. Er will dazu verführen, in sein Wasser einzutauchen, ohne sich ängstlich versichert zu haben, wie tief es ist. „Die Hauspostille ist für den Gebrauch des Lesers bestimmt. Sie soll nicht sinnlos hineingefressen werden.“21 Das Lesen wird zur Übung, Lektüre zur Lektion. Wenn Metapher bedeutet: Hin- und Hertragen, dann ist das Schwimmen die textuelle Bewegung selbst, die sich zwischen den Bedeutungen, Bezügen, Strudeln, Über- und Unterströmungen der Worte abspielt. Eine andere Version dieses Spiels hat Peter Szondi an Paul Celans „Engführung“ demonstriert, die mit den Worten beginnt: VERBRACHT ins Gelände mit der untrüglichen Spur: Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß mit den Schatten der Halme: Lies nicht mehr – schau! Schau nicht mehr – geh!22 Die Verbindung einer Landschaft, die zugleich als Text erscheint, mit der Anweisung an den Leser macht Celans Text mit dem „Schwimmgedicht“ vergleichbar: Das Exerzitium für den Leser ist – das Lesen. Für die Anweisungen Celans gilt wie für die Brechts, dass sie gesprochen (geschrieben) werden aus einer Landschaft, die nicht Gegenstand des Gelesenen, sondern das Gelesene selbst ist. Daher dienen auch die Weisungen, die der Dichter gibt – sich selbst? dem Leser? wohl beiden –, anders als in einer bestimmten Gattung von Poesie nicht als Einleitung. Vernehmbar und befolgbar sind diese Imperative erst, wenn man ins Text-Gelände verbracht ist.23

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Die Fiktion schafft die eigenständige Realität des Gedichts. Der Text ist mit dem Erschaffen einer Welt zu vergleichen. Damit fällt neues Licht auf den sonderbaren Schwimmkumpan am Ende des Gedichts, den „lieben Gott“. Hat man in den vorausgegangenen Zeilen der vierten Strophe im „So tun, als ob“ das Hauptthema erkannt, dann springt eine Parallele und Spiegelung ins Auge, die „man“ mit Gott verbindet: „Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut / Wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt.“ In der Tat könnte man die Weltschöpfung als eine Art Fiktion betrachten. Es ist außerdem im christlichen Mythos das Wunder schlechthin, dass Gott sich, „geboren von der Jungfrau Maria“ in die Welt, also aus der ewigen Stille in den Strom der endlichen Zeit, herabließ und Menschengestalt annahm. Könnte man nicht sagen, dass Gott so tat, als ob ihn ein Weib trug …? Der Vergleich von göttlicher Schöpfung und poetischer Erfindung ist ein relativ junger Topos, seit dem 18. Jahrhundert geläufig und besonders an Goethe und den Sturm und Drang geknüpft: Gott der Weltschöpfer, die schaffende Natur und der Künstler, der für Kant das „Sprachrohr der Natur“ ist – in allen wirkt dieselbe Kraft. Undramatisch wirkt Brechts Gott, der in seinen Flüssen schwimmt am Abend, um zu ruhen (und der damit einen Schlusstopos auch des Kunstwerks zitiert, das seit der Antike häufig mit dem Hinweis auf den Abend beschlossen wird.) Dieser „liebe Gott“ ist ein Abziehbild, nur mit Wasserfarben hergemalt des dramatischen Olympiers, dem Goethes Prometheus zuruft „Bedecke deinen Himmel, Zeus, / Mit Wolkendunst“. Dieser Wasser- und Flussgott scheint demnach auch das Resultat davon zu sein, dass Brecht dem Doppelsinn des Wortes Schöpfen genauer nachgehorcht hat: Brechts „Schöpfer“ und Brechts eigene Produktion verschwimmen ineinander. Im Wortbereich Wasser-Schöpfen verbindet sich Schwimmen, Produktion des Textes und Schöpfung. Den alten Topos nimmt der Autor Brecht nicht mehr ganz ernst, aber als Element der Reflexion des Textes auf sich selbst ist er gut genug. Das Paradox von Kontrolle und Selbstverlust, das in diesem Gedicht zu konstatieren ist, kehrt in manchen Texten wieder, in denen Brecht Schwimmen und Schreiben explizit verglichen hat. So heißt es in dem Gedicht „Unsre Erde zerfällt“: „Er prüft jedes Wort wie ein schwarzes Gewässer / Ob es seicht und warm genug ist für ihn.“24 Die Textproduktion ist kein Untergehen ohne Bewusstsein, sondern verbindet Eintauchen und prüfende Kontrolle. Darum kann Brecht in der „Ballade auf vielen Schiffen“ unterscheiden: „Er hat eine Lust in sich: zu versaufen / Und er hat eine Lust: nicht unterzugehn.“25

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Es ließe sich zeigen, dass auch in dieser Ballade „der letzte Verführer“, der da von Schiff zu Schiff steigt, wiederum kontaminiert ist mit dem dichtenden Subjekt, das sich für seine Fahrten auf dem Meer der Sprache immer neuer Sprachen (Schiffe) bedient, die ihrerseits sich immer weniger vom umgebenden Wasser noch unterscheiden lassen. Vom „letzten Verführer“26 in diesem Gedicht heißt es: Er schöpft seinen Mittagsfisch aus der See Er liegt in der Sonne und badet am Abend In des Schiffsrumpfs Wasser reinlich seinen Zeh. Kein Zweifel, dass er eine gewisse Ähnlichkeit mit Brechts gemütlichem Flussgott aufweist, der erschöpft, ohne viel Aufhebens, ruht, wie Gott nach getaner Schöpfung. Vielleicht wird man es weniger gewagt finden, Brechts Exerzitium in dieser Weise als auf die poetische Kreation bezogen zu denken, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein kleiner Text von Goethe eine ähnliche Mischung aus Distanz und Eintauchen ins feuchte Element für die poetische Produktion postuliert: Aber uns ist wonnereich In den Euphrat greifen, Und im flüss’gen Element Hin und wieder schweifen.27 Der Text heißt „Lied und Gebilde“. 4

Es muss nunmehr die Frage aufgeworfen werden, wie das Subjekt beschaffen ist, das sich in dieser Textlandschaft artikuliert, das eine solche textuelle Praxis des Ineinanderschreibens und des kontrollierten Zerfließens tragen kann.28 Wie sieht die hier geschaffene Welt aus? Auf diese Frage ist die Antwort: Das Gedicht inszeniert eine „Flußlandschaft kindlicher Lüste“ (Genia Schulz), in welcher sich artikulieren kann, was Freud mit dem Begriff des „Polymorph-Perversen“ bezeichnet. Das Subjekt, das sich selbst als „man“ und „wir“ vervielfältigt, hat keine stabile Einheit aufzuweisen. Es ist so durchlässig und flüssig, dass es unmöglich wird, Außen und Innen scharf zu sondern, denn der Körper verschwimmt mit Algen und Wasserpflanzen: wie die Gewächse, worin Hechte hausen.

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Gewächs und Gewässer zugleich, löst sich der Körper auf in einen Raum, in welchem das Subjekt und seine Umgebung, Innen und Außen nicht als Unterschied existieren. An anderen Stellen wird „man“ von Fischen durchschwommen: „Der Schlamm ist warm. Wenn kühle Blasen quellen / Weiß man: ein Fisch ist jetzt durch uns geschwommen“ Fische schwimmen aber durch Wasser, mit dem der Körper so identifiziert wird. Die Zersetzung und Durchlässigkeit der körperlichen Einheit wird so weit getrieben, dass in Strophe drei die Glieder als vom Leib ablösbar, buchstäblich als einzelne Objekte oder Abjekte29 behandelt werden: zum Wegwerfen. Diese Abtrennung wird schon in Strophe zwei präfiguriert, wenn der Körper wie aus seinen Einzelteilen zusammengesetzt erscheint: „Mein Leib, die Schenkel und der stille Arm / Wir liegen still im Wasser, ganz geeint“. So weitgehende Verselbstständigung von Gliedern gemahnt nicht von ungefähr an das von Melanie Klein postulierte Phantasma des „zerstückelten Körpers“. Hängen jedoch Ich-Identität und die Errichtung des einheitlichen Körperschemas eng zusammen, so inszeniert der Text eine Regression. Sie geht hinter die ödipal organisierte Triebstruktur zurück in den Raum der Partialtriebe. Sie geht sogar noch hinter die von Freud postulierte anale und orale Phase zurück auf den Bereich jener Phantasien, die mit dem intra-uterinen Dasein verknüpft sind. Der Körper wird mit den Gewächsen verglichen. Sie sind das, was wächst, indem es in einem Wasser liegt – der Embryo. Indessen lässt der Text auch hier kein fixes System, keine metaphorisch beherrschte Repräsentation zu. Mehrere Lesarten sind möglich. Man kann den Lauf des Gedichts so verstehen, dass in der ersten Strophe das intra-uterine Dasein und in der zweiten der „Mittag des Lebens“ vorgeführt wird. Für das Leben wird der für Brecht nicht untypische Vorschlag gemacht, es möglichst „still“, passiv, mitzumachen. Mit einem bei Brecht ebenso geläufigen Motiv wäre dann die Strophe drei zu erklären: Wenn man vom Leben satt ist (wie etwa Baal), dann soll man, wie Brechts François Villon, sich auch noch das Sterben schmecken lassen. Der Abend bedeutet den Tod, und Strophe vier führt, nach dem Sterben, in einer Art Himmelfahrt ins Ewige, zu Gott, in die Natur, damit aber zugleich wieder zurück in den Anfang, in den Schoß der Schöpfung. Nichts spricht jedoch dagegen, die beiden ersten Strophen als Schilderung vor der Geburt, vor dem Leben, vor dem Fluss der Zeit zu verstehen, wo in der Wärme des Mutterleibs eine Geborgenheit vorgestellt wird, wie sie auch im Spiel ist, wenn die „Ballade von den Abenteurern“ die Frage stellt: „Warum seid ihr nicht im Schoß eurer Mütter geblieben / Wo es stille war und man schlief und man war da.“30

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In dieser Optik wäre dann der Sprung oder Wurf in Strophe drei die Geburt, der Eintritt in das kalte Leben, in den Lebensstrom. Die Existenz wird gesetzt: „und alle Dinge sind“ (wie’s ihnen frommt). Das Leben ist bös und gefräßig, daher hält man es in ihm nur aus, wenn man, wie es Strophe vier schildert, so tut, als sei man noch nicht geboren. Auf diese Weise wäre der Rückzug aus der bedrohlichen Lebendigkeit zugleich die Möglichkeit, eine Gottähnlichkeit zu erreichen. Diese Lesart würde bedeuten, dass der Text als Programm formulierte, was Peter von Matt über das Motiv des „Kälteschocks“ bei Brecht ausgeführt hat: die Weigerung, die Geburt zu statuieren, und die poetische, spielerische „Refötalisierung“ als Konsequenz aus dieser Weigerung.31 Wichtig in diesem Zusammenhang dürfte die Bemerkung sein, dass ähnliche thematische Wendungen bei George, Hofmannsthal, Rilke und anderen zeitgenössischen Dichtern vorkommen, dort aber andere Bedeutungen haben. Rückschlüsse auf die psychische Disposition der Autoren aus solchen thematischen Elementen zu ziehen, dürfte im besten Fall müßig sein. Die Bedeutung regressiver, perverser, infantiler Momente im Text ist eine andere als die Bedeutung derselben Motive im realen Phantasieleben ihrer Verfasser. Der Text ist eine Praxis. Er hantiert und manipuliert mit seinem Material, und soweit regressive Strukturen in ihm artikuliert werden, haben sie in der je spezifischen Problematik dieses Werks, dieses Textes, dieser Motivwelt ihre Begründung. (So notierte Adorno bei den „gemäßigten Schülern Baudelaires“, George und Hofmannsthal, als gemeinsames Merkmal: „Unnatur soll die vom Primat der Zeugung entstellte Vielheit des Triebs wiederherstellen, unverantwortliches Spiel den verderblichen Ernst dessen überkommen was man bloß ist.“32 So kehrt mit großer Insistenz das Thema des Kleinen, in dem die Analogie zu Brechts Modell der Verkleinerung sichtbar genug ist, im Werk Rilkes wieder. Wie ein Vorbild für „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“ könnten zum Beispiel manche Passagen aus der dritten und achten Duineser Elegie klingen, wenn Brecht die 1919 noch nicht veröffentlichten Texte, gekannt haben könnte.33 Aber bei Rilke gibt es einen völlig anderen Motivzusammenhang, eine andere poetische Position, in der etwa der Ernst der Elegie in ein anderes Verhältnis zum Bild der Regression tritt. Ähnlich steht es mit Texten wie Benns „O wenn wir unsre Ururahnen wären …“34 Die Regression geht in Brechts Text sehr weit. Einerseits findet man eine Art Rückzug und Lust, die von einem tiefen Einverständnis mit dem Dasein geprägt ist, um einen zentral bedeutsamen späteren Begriff aus Brechts Werk zu verwenden. Nichts ist verfehlter als unter Hinweis auf den „Haifischhimmel“ aus diesem Gedicht ein Inferno von Sexualängsten herauszulesen. Auch wenn die Welt ein fauliger Teich ist: Sie

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lohnt es, an ihr festzuhalten, man kann ihr Genuss abgewinnen. In „Karl Hollmanns Sang“ denkt jemand „Rauchend den gelben Tabak / Am Flußkies bei ruhigem Wetter“ an einen gestorbenen Freund, Jack, und es heißt mit einem kräftigen Schuss Weltverachtung: Na, schließlich ist es auch gleich Es ist keiner auf Kissen gebettet Die Welt ist ein stinkender Teich Siehst du, Jack, und du bist gerettet. Gegen Ende wird aber dieser „Trost“ relativiert, wenn das Bild wieder aufgenommen wird: „Ja, der Teich, Jack, der ist immerhin / Zwischendrin auch ziemlich warm oft!“35 Während hier Genuss und Tod, Ablehnung der „stinkenden“ Welt und Wonne über ihre zeitweilige Wärme nebeneinander stehen, werden sie im „Schwimmgedicht“ verschmolzen. Indem das Subjekt sich körperlich und psychisch zersetzt, indem es „faul“ wird, nähert es sich dem Tod – mit abgebrochenem, totem „Astwerk“ zu verwechseln, mit Gliedmaßen anorganischem Schotter, während das Subjekt nach der Technik „toter Mann“ zu schwimmen scheint. Zudem ist mit Worten wie „bleichen“, „Teichen“, „leicht“ das Wort „Leiche“ ständig herbeizitiert. So wie der Text mit seinem Wortmaterial die Worte „Liebe“ und „Trieb“ umspielt, ohne sie je zu nennen, so ist ihm auch das Wort „Leiche“ einbeschrieben. Dem widerspricht das bisher Gesagte nicht. „Die Identität von Leichnam und Fötus ist die wichtigste der frühen lyrischen Hieroglyphen Brechts.“36 Diese Erkenntnis Peter von Matts bewährt sich hier. Wenn in diesen Gewässern nun Fische schwimmen und zugleich das Bild einer Regression gemalt wird, dann gewinnt der Klang des Worts „Leichen“ noch eine andere Note. Die wässrige Regression ist ja zugleich, wie demonstriert wurde, an die Entstehung von Leben (Mutter, Kind, Embryo) gebunden. Daher zitiert das Klangfeld „Teichen“, „bleichen“, „leicht“ im Zusammenhang mit Fisch und Hecht außer den Leichen auch das „laichen“ herbei. Geschlechtliche Regression und Tod spielen aber einer berühmten Schrift des Jahres 1920 zufolge auch beim Laichen eine Rolle. „Ein Trieb“ wird von Jenseits des Lustprinzips im Zusammenhang mit der Lehre vom Todestrieb definiert als „ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes“.37 Und Freud fährt fort: Diese Auffassung des Triebes klinge befremdlich, denn wir haben uns daran gewöhnt, im Triebe das zur Veränderung und Entwicklung

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drängende Moment zu sehen, und sollen nun das gerade Gegenteil in ihm erkennen, den Ausdruck der konservativen Natur des Lebenden. Andererseits fallen uns sehr bald jene Beispiele aus dem Tierleben ein, welche die historische Bedingtheit der Triebe zu bestätigen scheinen. Wenn gewisse Fische um die Laichzeit beschwerliche Wanderungen unternehmen, um den Laich in bestimmten Gewässern, weit entfernt von ihren sonstigen Aufenthalten, abzulegen, so haben sie nach der Deutung vieler Biologen nur die frühen Wohnstätten ihrer Art aufgesucht, die sie im Lauf der Zeit gegen andere vertauscht hatten.38 Liebe, Tod, Trieb, Sprache und Spiel verschwimmen ineinander, Laich und Leiche verbinden sich. Laich selbst geht jedoch zurück auf spätmhd. Leich, das Liebesspiel, Tonstück, Melodie und Gesang bedeutet. Auch auf diesem weiten Umweg über den Klang der Worte kehrt der Text wieder in sich zurück, ein Umweg, bei dem das Text-Subjekt sich als bestimmt von einer spezifischen Instabilität und Durchlässigkeit gezeigt hat, sein Eros als prä-ödipale Pluralität der Partialtriebe. Es handelt sich um ein Subjekt, das seine Einheit und Identität partial aufs Spiel zu setzen und in einen Prozess sprachlicher Auflösung zu investieren vermag. Identität, die ihre Basis in den ödipalen Identifikationen hat, erscheint als stets erneuter und nie abgeschlossener Prozess. Wenn sie, punktuell, erreicht ist, wird sie erneut in Fluss gebracht. In „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“ ist das wörtlich zu nehmen: Hier taucht kein identisches Subjekt auf, weswegen auch der Text das Ich bis auf eine signifikante Ausnahme nicht kennt: man, wir, uns bezeichnen das Bewusstsein, welches hier spricht und sich auch nur einer körperlichen Einheit nicht versichert. Aber an einer Stelle erscheint das „Ich“, am Ende der zweiten Strophe: Wir liegen still im Wasser, ganz geeint Nur wenn die kühlen Fische durch uns schwimmen Fühl ich, daß Sonne überm Tümpel scheint. 3 Wenn man am Abend von dem langen Liegen Sehr faul wird, so, daß alle Glieder beißen […] Muß man das alles […] In blaue Flüsse schmeißen, die sehr reißen. Identität des Ich ist nicht Ergebnis oder Anfang. Sie wird flüchtig konstituiert. Gerade in der Mitte des Gedichts glitzert sie kurz auf, um so-

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gleich wieder in den Fluss geworfen zu werden. Die Einheit des Ichs ist eine Grenzscheide, aus welcher der Text Lust schöpft, indem er sie übertritt. Wenn aber Identität letztlich ödipal strukturiert ist, so sagt der Text damit, dass er seine Lust gerade aus der Durchbrechung der „Ordnung“ (der Sprache, der Geschlechter) zieht. Die Einordnung in das soziosymbolische System, die verknüpft ist mit der Fixierung der sexuellen Identität, gelingt nie ganz. Die Lust, die es im frühen Raum der MutterKind-Dyade gab, verschafft sich Ausdruck. Die ihr immanente geschichtliche Unbestimmtheit durchzieht den Text. Eine schöne Formel von Julia Kristeva für das Subjekt des Textes im Allgemeinen bringt, was hier gemeint ist, auf den Begriff: „Das Subjekt der poetischen Sprache ist in gewisser Weise ein Mann, der sich als Frau weiß, aber es nicht sein will.“39 Brechts Text wird ausgetragen von einem Sprachsubjekt, das sich als weiblich, als männlich und als Kind gibt und sich zudem als Schöpfer in Analogie zum „Gott-Vater“ bringt. Die so produzierte Reaktivierung der prä-ödipalen Partialtriebe ermöglicht eine Pluralisierung des Subjekts. Indem es sich als eine Flusslandschaft kindlicher Wünsche inszeniert, versucht es, dem moralischen, sozialen, psychischen Postulat der Identität entgegenzuarbeiten. Der Verfasser von Me-ti. Buch der Wendungen hat die Frage nach der richtigen, genießenden Lage des Subjekts nicht vergessen, sowenig wie die nach seiner Zeit, obwohl er von der politischen Lage, von der historischen Zeit ausging: Sich im Gleichgewicht halten, sich anpassen ohne sich aufzugeben: das kann ein Zweck des Philosophierens sein. Wie ein Wasser sich stille hält, damit es vollkommen den Himmel spiegelt, Wolken und überhängende Zweige, auch bewegte Vögelschwärme; wie ein Kreisel sich im Rollen hält, damit er schweben kann, gleichmäßig und seine Farben schön mischend – so kann ein Mensch seine Lage suchen, in der er die Welt spiegelt, sich ihr zeigt und mit ihr auskommt. Wie klar spiegelt sich die Wolke im Wasser? Wann am klarsten? Woher kommt der Zweig, dessen Ursprung sich nicht spiegelt? Was macht der Wind aus über, was der Schlamm unter dem Wasser? Das sind Fragen, die da entstehen. Wo findet der Kreisel Raum, wann am meisten? Welche Schnelligkeit ist die beste? Wie laufen die anderen Kreisel? Das sind da philosophische Fragen.40

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GBA 11, S. 72f. GBA 11, S. 47. Vgl. zu einer knappen Darstellung der Praxis des „kollektiven Lesens“ Lehmann, HansThies/Lethen, Helmut: „Verworfenes Denken“, in: Brecht-Jahrbuch 1980, Frankfurt a. M. 1981, S. 1–18. Marianne Kesting zum Beispiel vermutet, „daß dieses Einssein mit dem Wasser zu den persönlichen Erlebnissen des jungen Brecht gehört haben muß“. Zit. nach: Ross, Werner: „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen. Lebensgefühl zwischen Rousseau und Brecht“, in: Arcadia 3, 1968, S. 262. Zit. nach: Pietzcker, Carl: Die Lyrik des jungen Brecht, Frankfurt a. M. 1974, S. 249. Völker, Klaus: Bertolt Brecht. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1976, S. 115. Ebd., S. 42. Zit. nach Pietzcker, a. a. O., S. 249. Soden, Kristine von: Ahrenshoop, Berlin o. J., S. 89ff. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Über Kunst und Literatur, Bd. 1, S. 436. Das griechische Wort für Fisch ichthys lässt sich als aus den Initialen der Worte Iēsoũs Christòs Theoũ Hyiòs Sōtér: Jesus Christus Gottes Sohn Retter zusammengesetzt denken. Der Fisch diente in der Zeit der Christenverfolgung als geheimes Erkennungszeichen der Gemeinde. Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie, Bd. 1, Hamburg 1964, S. 260. Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954, hrsg. v. Herta Ramthun, Frankfurt a. M. 1975, S. 20. Die Äußerung Rimbauds wird berichtet von seiner Schwester Isabelle Rimbaud in dem Artikel „Rimbaud mystiqe“. Vgl.: http://agora.qc.ca/documents/arthur_rimbaud-rimbaud_mystique_par_isabelle_rimbaud [Juni 2016]. Vgl. u. a. den Artikel „Exerzitien“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3, Freiburg 1959, S. 1298ff. Vgl. Barthes, Roland: Sade Fourier Loyola, Paris 1971, S. 53. Barthes betont besonders die „binäre“ Struktur der Exerzitien. BFA 13, S. 128; BFA 11, S. 34. BFA 7, S. 200. Ebd. Der Zusammenhang von bewusster Fiktion, einem Vorspiegeln, dass man an etwas glaube, dessen Irrealität man weiß, mit dem „Als-Ob“ mag daran erinnern, dass zu Brechts Zeit Die Philosophie des Als Ob von Hans Vaihinger sehr populär war. GBA 11, S. 39. Celan, Paul: Sprachgitter, Frankfurt a. M. 1959, S. 57. Szondi, Peter: Celan-Studien, Frankfurt a. M. 1972, S. 51. BFA 13, S. 172. GBA 11, S. 80. Zu der angedeuteten Verbindung Dichter – Verführer sei angemerkt, dass Brecht das Schlusskapitel der Hauspostille, „Gegen Verführung“, so deutbar machte, dass man den Titel auch als „Gegen-Verführung“ lesen kann. Mit allen Mitteln der theologischen Rhetorik soll die Liebe zum physischen Dasein gepredigt werden. Goethe, Johann Wolfgang: Gedichte in 2 Bänden, Bd. 2, hrsg. v. Erich Trunz, Hamburg 1964, S. 16. Pietzckers wichtiges Buch Die Lyrik des jungen Brecht wird in seiner Bedeutung gemindert durch das grundsätzliche Problem, dass er eine Beziehung zwischen Autor und Text annimmt, die, aller Differenzierung des Textsubjekts zum Trotz, den Text als Ausdruck von Phantasien des Autors behandelt. Vgl. Kristeva, Julia: Pouvoirs de l’horreur, Paris 1980. GBA 11, S. 78. Matt, Peter von: „Brecht und der Kälteschock“, in: Die neue Rundschau, Nr. 87/4, 1977, S. 622. Adorno, Theodor W.: Prismen, Frankfurt a. M. 1976, S. 282. Zum Vergleich sei daran erinnert, welche Rolle die eigene Vergangenheit im Werk Prousts spielt. Von ihm hat Walter Benjamin gemeint, seine „elementare Aufgabe“ sei es gewesen, „Von der eigenen Kindheit Bericht zu geben“. (ders.: Illuminationen, Frankfurt a. M. 1961, S. 205). Das freilich tut Brecht nicht. Sein Text produziert eine andere Erfahrung, das Verschwimmen des Ichs in körperliche und intellektuelle Pluralität. Wenn man von Prousts Unterfangen behaupten kann, dass es auf eine „Reterritorialisierung“ des Vergangenen abzielt, so konzentriert sich das Brechts mit einer radikalen Wendung auf die diskontinuierliche Punktualität des Jetzt, dem die Momente der Erinnerung entgleiten. „Es ist, wenn man Bergson glauben will, die Vergegenwärtigung der durée, die dem Menschen die Obsession der Zeit von der Seele nimmt. Proust hält es mit diesem Glauben und hat aus ihm die Exerzitien hervorgebildet, mit denen er lebenslang darauf aus gewesen ist, Verflossenes, gesättigt mit allen Reminis-

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zenzen, die während seines Verweilens im unbewußten in seine Poren gedrungen waren, ans Licht zu heben.“ (Ebd. S. 227.) Für Brecht werden alle Momente des Regressiven zum Mittel, dem Zwang gerade zur Ausziehung einer Linie der Kontinuität, der Biographie, zu entgehen und ihm eine Erfahrung zu kontrastieren, in der das Ich nicht das Verflossene, sondern sein Jetzt, aber als durchwandert von den Impulsen des Infantilen, zur Darstellung zu bringen sucht. Vgl. z. B. in der 3. Duineser Elegie: „[…] Vor dir / hat ers geliebt, denn, da du ihn trugst schon, / war es im Wasser gelöst, das den Keimenden leicht macht. […]“, oder in der 8. Elegie: „[…] Hier ist alles Abstand, / und dort wars Atem. Nach der ersten Heimat / ist ihm die zweite zwitterig und windig. / O Seligkeit der kleinen Kreatur, / die immer bleibt im Schoße, der sie austrug“. (Rilke, Rainer Maria: Gesammelte Gedichte, Frankfurt a. M. 1962, S. 451, 471.) Benn, Gottfried: Gesammelte Werke 1, Wiesbaden 1960, S. 25. GW 8, S. 60. Matt: a. a. O., S. 621. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Bd. XIII, S. 38. Ebd. „Le sujet du langage poétique est en quelque sorte un homme qui se sait femme mais ne veut pas l’être, et qui par ce second retournement, reprend une posture disons phallique qui le maintient dans le langage.“ (Kristeva, Julia: La révolution du langage poétique, Paris 1974, S. 600, übers. v. Verf.) GW 12, S. 421f.

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SEXUALITÄT: EIN „FURCHTZENTRUM“ -

Dieser Vortrag wird sich nicht der biographischen Seite des Themas Sexualität bei Brecht widmen. Es gibt darüber inzwischen eine erhebliche Literatur, auch Filme (u. a. von Jutta Brückner), doch hege ich eine Abneigung gegen den Effekt der Medienkultur, dass auch in dieser Debatte das Interesse an der Persönlichkeit sich in einer zerstörerischen Weise nicht nur vor das Werk, sondern sogar an dessen Stelle setzt. Warum aber sollte sich unser Interesse überhaupt darauf richten, ja warum sollte es uns überhaupt etwas angehen, ob ein gewisser Augsburger namens Brecht etwas mehr oder etwas weniger male-chauvinistisch gewesen ist, im persönlichen Umgang mit Frauen und Männern mehr oder weniger anständig, ob er in einer Geldgesellschaft auf Geld aus war, ob er Bekanntschaften unter Gesetze der Opportunität stellte usw.? Es interessiert uns einzig und allein, weil es diese Texte gibt, die von ungezählten Lesern und Zuschauern, Männern und Frauen, als so interessant empfunden wurden, dass der Name Brecht einen oberen Platz in der Geschichte des Welttheaters und der Weltliteratur einnimmt. Am Ende des Galilei liest Virginia ihrem Vater Galilei aus dem Montaigne und er kommentiert die Sätze kurz, aber dann liest sie: „Der Mensch ist ein Schatten, wer will über ihn urteilen, wenn die Sonne untergegangen ist.“ Galilei schweigt. Um nur ein ganz schlichtes und fundamentales Problem der biographischen Interpretation zu erwähnen: Wenn sich Themen, Motive und Haltungen in einem Werk finden – stellen sie eine Widerspiegelung des Lebens des Autors dar oder eine Kompensation? Muss man nicht davon ausgehen, dass in einem Werk jedes Wort in einem niemals zu wissenden Maßverhältnis aus beidem, Phantasie und Realitätsbild, sich zusammenfindet? Selbst wenn die Werke (was nicht der Fall ist) in sich oder untereinander einheitlich wären, bliebe es so gut wie unmöglich, aus ihnen Rückschlüsse auf das Leben, geschweige denn auf die ethische Qualität des Verhaltens eines Autors abzuleiten. Die sogenannten Fakten des Lebens selbst aber sind gewöhnlich erst recht zu vieldeutig, um aus ihnen Deutungen des Werkes abzuleiten. Wie ungewiss sind selbst unsere Kenntnisse über Menschen, die wir persönlich lange kennen, wie oft erleben wir da die erstaunlichsten Überraschungen. (Und wer würde sagen, er kenne sich selbst?)

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Es führt also weder ein klarer Weg vom Leben zur Bedeutung der Werke noch von jenen zu diesem. In solcher Lage scheint es die bessere Wahl, sich – ungeachtet der dankbar angenommenen Hilfe der guten Biographik – auf die Werke zu konzentrieren. Sollte sich nicht in den Werken selbst ein komplexer und diskontinuierlicher ästhetischer Raum eröffnen, dessen besondere Qualität gerade darin besteht, die trügerischen Gewissheiten und Simplizitäten des ideologischen und ideologiekritischen, des im umfassenden Sinne prädikativen Diskurses, der immer schon weiß, zu unterwandern? Ein weiterer Grund, von Sexualität als einem Werkmotiv zu sprechen und nicht der biographischen Forschung ein neues Stück hinzuzufügen, besteht in der Forschungslage selbst. Was das Gesamtbild betrifft, so hat Sabine Kebir, wie ich meine, das Wesentliche, nämlich eine von einer geschärften Wahrnehmung für die subtileren und weniger subtilen Formen des Male-Chauvinismus ausgehende Brecht-kritische, aber mit Augenmaß vorgehende Darstellung des Themas geleistet. Dagegen bedürfte es großangelegter methodischer und theoretischer Umwege, um die teilweise knalligen Attacken etwa von Sarah Bryant-Bertail, Sarah Lennox oder Sue-Ellen Case differenziert zu würdigen, die als eine spezifisch amerikanische Spielart des feministischen Diskurses zu betrachten sind. Schlimmer steht es mit dem abschreckenden Fall John Fuegi, dessen BrechtBuch auch bei großzügigsten Kriterien nicht mehr auf dem Terrain ernsthafter wissenschaftlicher Diskussion angesiedelt ist, sondern alle Peinlichkeiten und Lächerlichkeiten versammelt, die einer moralisierenden Biographik drohen. Von drastischen Fehlern über vordergründigste Textmissverständnisse bis zu einer zwanghaft repetierten Rhetorik der Insinuation werden hier alle Kriterien intellektueller Redlichkeit so sehr unterboten, dass man keine Zeit darauf verschwenden mag, sich damit zu befassen. Stattdessen schließen wir uns der folgenden Feststellung an: „[…] die immer noch im Schwang befindlichen privaten Einwände gegen Brechts Person und Lebensführung haben etwas unsäglich Subalternes; wer sie hervorzerrt, bekommt klebrige Hände.“ Zu diskutieren hätte man allenfalls den „Sozialcharakter“, „das, worin die Privatperson Exponent und Schauplatz gesellschaftlicher Tendenzen war“, aber nicht „den einzelnen in seiner psychologischen Zufälligkeit, über den so viele immer noch sich einbilden, zu Gericht sitzen zu dürfen. Was immer gegen ihn vorgebracht wird, ohne zu vermitteln zwischen der in ihm konzentrierten künstlerischen Produktivkraft und der Gesellschaft, ist pure Spießbürgerei, nahe der verächtlichen Gattung der Romanbiographie“.1 Man wird es herausgehört haben: Das war ein Zitat von Theodor W. Adorno und es wurde nur der Name Brechts für Wagner eingesetzt.

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Sexualität: ein „Furchtzentrum“

In den Notizen zum Fatzer, an dem Brecht von 1926 bis 1931, also in der vielleicht produktivsten Phase seines Lebens arbeitete, spricht er vom „Furchtzentrum“ des Stücks2. Es geht in diesem Fragment gebliebenen Lehrstück Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer um die innere Zersetzung eines kleinen Kollektivs, bestehend aus vier Deserteuren am Ende des Ersten Weltkriegs, durch den Egoismus des Fatzer, der zugleich der findigste von ihnen ist. Im Zentrum des Furchtzentrum steht die Sexualität: „Es spaltet sie der Sexus“. „Fatzer befriedigt“, wie es heißt, „seinen natürlichen Egoismus“ und verführt die Frau eines anderen. Sexuelle Rivalität wird zu einem entscheidenden Faktor der inneren Spaltung. Sexualität als Problem lag nun keineswegs in der Logik des politischen Hauptthemas des Stückentwurfs, wird jedoch von Brecht mit auffallendem Nachdruck eingeführt. Der Grund dafür dürfte aber der Umstand sein, dass er Sexualität als ein unumgängliches Problem jenes ästhetisch-politischen Diskurses erkannt hatte, den er in diesen Jahren zu entwickeln suchte. Er hatte offenbar die Einsicht gewonnen, dass es nicht zuletzt die Sexualität und genauer die Rivalität im Sexuellen, die Eifersucht sei, die der Bildung jedes Kollektivs einen kaum zu überwindenden Widerstand entgegensetzt. Der Sex beim Egoisten Johann Fatzer wird als sein „natürlicher Egoismus“3 vorgestellt, also als Kern des Egoismus überhaupt. Zugleich wird das wesentliche Moment des Kollektivs, die Rationalität qua Mehrheitsbeschluss, wie sie für den demokratischen Zentralismus der Kommunistischen Partei Gültigkeit besaß, geradezu parodistisch behandelt. Über Fatzers Hinrichtung soll mehrheitlich entschieden werden: „nämlich nur weil wir mehr sind, nämlich zwei oder drei“ – Verkehrung des politischen Prinzips ins Absurde und Lachhafte. Fatzer ist in mehr als einer Hinsicht ein Schlüsseltext Brechts: Es geht um die Frage eines möglichen Subjekts des politischen Handelns und seine Sexualität. Brecht beschäftigte sich intensiv mit Engels Theorien zur Entstehung der Familie. Er widerspricht Engels unzweideutig, wo es um die Rolle der Eifersucht geht. Brecht nämlich betrachtet die Eifersucht nicht als etwas, das überwunden wird, sondern als eine „elementar materialistische Empfindung“, die er sogar für den „Drehpunkt“ der dialektischen und historischen Entwicklung hält. Das ist im „revolutionären“ Diskurs alles andere als selbstverständlich, und es bringt Brecht an einen Punkt, an dem der Sexus zu einem entscheidenden „Block“ für ihn wird. Das hat also wenig mit privater Psychologie zu tun, sondern mit einem Problem im Inneren seines politisch-literarischen Diskurses, der wiederum von der politisch-künstlerischen Problematik der späten 1920er und frühen 1930er Jahre nicht ablösbar ist. Es

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ging in einer Situation radikaler politischer Gefahr darum, wenn nicht Lösungen, so wenigstens eine klare Wahrnehmung der Gefahren und Aporien sozialer Ordnungsmodelle künstlerisch zu ermöglichen. Brechts Werk stellte sich diesem Anspruch. Sein Grundthema ist die Frage nach einem politischen Kollektivsubjekt – Gruppe, Klasse, Staat, auch der Einzelne als kleinstes Kollektiv des Di-viduums –, das Rousseaus Vision einer Vermittlung des Einzelnen mit der volonté générale leisten könnte. Sexualität und zumal sexuelle Rivalität spalten jedoch das Kollektiv, spalten den Einzelnen von sich ab, bedeuten auch nicht etwa Harmonie, sondern letztlich unaufhebbare Fremdheit zwischen den Geschlechtern, Bruch in allen Versuchen, die Gesellschaft als ein nicht im Krieg mit sich selbst liegendes Ganzes zu denken. An der Sexualität droht das ganze politische Projekt des kommunistischen Kollektivs zu scheitern. Darum erscheint sie als – „Furchtzentrum“. Ihm musste Brecht sich stellen, der wusste, dass der Schrecken für das Erkennen notwendig ist. Sehen wir nach dem Erscheinen des Themas bei Brecht und machen ein paar grobe Linien deutlich. Da ist zunächst das Thema des Komischen, ja der Groteske. Brecht notiert mehrfach, dass das Geschlechtliche unzweifelhaft in den Bezirk des Komischen gehöre. Er grenzt das sexuelle Begehren umstandslos aus dem Bereich des politischen Ernstes aus. Während andere, die Surrealisten etwa oder später neomarxistische Denker wie Herbert Marcuse, dem Eros den Charakter einer radikalen, womöglich tragischen oder „heiligen“, in sich selbst revolutionären Macht zuschrieben, scheint es das auf den ersten und auch auf den zweiten Blick bei Brecht nicht zu geben. Hier herrscht vielmehr eine Einstellung, die die von der Psychoanalyse thematisierte Struktur des Begehrens übersehen und übergehen will und sich etwa in der blague niederschlägt, es sei das eigentliche Verdienst von Freud, bei der herrschenden Klasse eine Seele entdeckt zu haben. In den 1920er Jahren erklärt Brecht im Gespräch mit dem Soziologen Sternberg, Liebe sei kein Thema für ein Stück mehr, Romeo und Julia nicht mehr möglich. Das Begehren ist ein Nicht-Thema. Zweifellos ist diese Seite bei Brecht mit der marxistischen Tradition in Zusammenhang zu bringen, in die er sich stellen will. Eine, vielleicht die entscheidende Lücke in der Theorie des Kapitals ist es ja, dass Marx das unmessbare und vermessene Begehren übergeht und den Menschen nur über das Bedürfnis definiert. Der menschliche „Trieb“ ist aber eine wesentlich symbolische Struktur, weswegen es sich mit Recht eingebürgert hat, lieber vom Begehren, vom Wunsch, von désir zu sprechen, um das naturalistische Missverständnis zu vermeiden, das der Begriff Trieb nahelegt. Brecht erweckt aber in zahlreichen Texten den Eindruck, dass er den Sexus als wesentlich nur

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physiologisches Bedürfnis auffasst. Dieses allerdings sieht er bei den Geschlechtern gleichermaßen ausgeprägt. Die Begierde der Frau erscheint in Fatzer ebenso als Gefahrenmoment für das Kollektiv wie männlicher Sexualhunger oder der aufs Sexuelle bezogene „Besitzkomplex“. „Gefahren für die vier: 1) Die Frau, wenn ungestillt […]“4. Brecht notiert mehrfach Überlegungen mit der Tendenz, man müsse „die Vorstellung: das Geschlecht sei absolut“ bekämpfen, weil es ein Irrtum sei anzunehmen, „das Bewußtsein des Mannes [werde] bestimmt durch sein Mannsein, nicht durch sein gesellschaftliches (sondern sein geschlechtliches) Sein“5. Im Fatzer taucht diese Tendenz auf, wo Fatzer die Frau des Kaumann verführen will und erklärt: „[…] solche Umarmung aus Gelegenheit, körperlichem Drang, Lust, den Arm in eine Achselhöhl zu schieben, wär wenig bedeutend; eben nur, daß eben der Arm läg in der Achselhöhl. Sie lacht wieder.“6 Im gleichen Zusammenhang heißt es über Selbstbefriedigung: „[…] ’s ist natürlich, ich sag’s offen: ich tu’s mitunter, ich weiß, auch du, ’s ist natürlich und rasch vorbei, nur fast zum Lachen […].“ Allzu deutlich ist, wie eine Entmächtigung und Reduktion des Eros auf Natur die Gefahr, die er für die politische Praxis darstellen könnte, abwehren soll. Die Genealogie von Brechts Verbannung des Sexuellen in den Bereich des letztlich Belanglosen und der Komödie geht mindestens auf Hegel zurück. Zu bedenken ist jedoch auch, dass ein derart reduktives Bild des Sexuellen auch als das Resultat einer Verdrängung oder Verleugnung seitens des Autors gelesen werden kann. Tatsächlich hat die psychoanalytisch orientierte Forschung denn auch in Brechts Texten ein ganzes Panoptikum sexueller Obsessionen diagnostiziert: die latente – oder gar nicht so latente – Homosexualität, Sexualangst und Masochismus, Phantasmen der vagina dentata, die Erniedrigung des Liebeslebens durch die Spaltung des Frauenbilds in Hure und Heilige, Mädchen und Mutter usw. Der Übergang von analytischen zu moralisierenden Beschreibungen ist auch hier oft fließend. Wo solche Analysen zu Aussagen über die männlich, phallisch organisierte Bildwelt und Diskursivität der Gesellschaft gelangen, haben sie ihren Wert. Wo die Behauptung auftritt, das Unbewusste des empirischen Autors zu entdecken, handelt es sich selbst um ein Phantasma der Kontrolle und Einsicht und provoziert die Überlegung, dass bei ambivalenten und vieldeutigen Textgegebenheiten eine massive Interpretation meist mehr über die Projektionen der Leser als über das Werk erkennen lässt. Auch was das spezielle Thema des spezifisch männlichen oder weiblichen Blicks betrifft, so scheint es nicht weit zu führen, etwa Gertrude Stein, Virginia Woolf oder die Fleißer als spezifisch weiblich, Brecht als typisch männlich zu charakterisieren.

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Eher ist mit Julia Kristeva und anderen davon auszugehen, dass das künstlerische Subjekt sich immer schon in einer sexuell ambivalenten Position findet, eher „Frau“ als „Mann“ ist und daher in einer psychosexuellen und ästhetischen Bewegung begriffen, die Kristeva auf die Definition bringt, der literarische Autor sei ein „Mann, der sich als Frau weiß und es nicht sein will“. Es wäre nun ganz unerklärlich, warum Sexualität, wenn sie wirklich in Brechts Vorstellung nichts anderes wäre und bedeutete als bloß dieses physiologische Bedürfnis, zu einem „Furchtzentrum“ seines Werks werden konnte. Es muss da noch etwas anderes geben. Tatsächlich wird auf der anderen Seite aus Fatzer sogar ein „Sex-Stück“ und finden sich zahlreiche Entwürfe und Notizen, die das Thema ganz anders erscheinen lassen. Das erste Moment der sexuellen Gefahr ist dort zu erkennen, wo sexuelle Lust als eine Tendenz, sich passiv ein- und anzufügen, erscheint. Diese Neigung kann die Massen an der Aktion der Revolte hindern und verführt sie zum Gehorsam: „[…] eingeteilt zu werden ist ihnen gleiche Lust als / Für Weiber gevögelt werden“. Hier vereint sich ein wesentliches Motiv der Moderne mit sexistischer Reduktion. Einerseits die Einsicht in den prinzipiell „masochistischen“ Charakter der Lust, die die Ich-Funktionen der Selbsterhaltung schwächt. So wird es möglich, dass „die neue Kunst und Lust am Gleichtakt“ missbraucht wird, zum Beispiel für kriegerische Zwecke – das ist der Zusammenhang des Zitats.7 Die Pointe besteht darin, dass jenes maschinelle Moment der Lust am Gleichtakt für das Kollektiv (übrigens auch für das Theaterspiel) einerseits grundlegend und konstitutiv ist, es andererseits mit Auflösung bedroht. Deswegen soll nun das plump Sexistische der Formel nicht übergangen werden. Das Negative an der Lust wird als Lust der „Weiber“ phantasiert und abgewehrt. Dennoch spricht der Text hier von den Männern, die als „gleiche Lust“ willenlose Unterordnung erleben. Das Furchtzentrum der Sexualität ist also die Lust an Passivität, Selbst-Auflösung und Preisgabe des eigenen Willens, die politisch vieldeutig bleibt. Der „Massemensch“ ist missbrauchbar wie Galy Gay, der nicht nein sagen kann. Aber zugleich führt für Brecht kein Weg um die Einsicht herum, dass der neue Massemensch der kommunistischen Utopie sich auch nicht auf ein Selbst als aktive, autonome, auf der eigenen Freiheit bestehende Totalität kaprizieren darf. Seine Kraft resultiert vielmehr daraus, dass er nicht auf sich besteht. Anders gesagt: Rückhaltlose Verausgabung, wie sie in diesen Jahren Georges Bataille als Kern der Lust dachte, ist Bedingung für ein anderes – in einem gewissen Sinne „kommunistisches“ – Menschsein, wird aber zugleich als Schwäche, bedrohliche Leidenschaft, verächtliche Triebhaftigkeit an der Frau festgemacht

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und denunziert. Was daran männliche Projektion und Abwehr ist, unbewusste oder halbbewusste Misogynie oder Wunschphantasie, ob womöglich etwas Richtiges an der These ist, dass die soziale Konstruktion des Geschlechts Schwäche und Stärke der Hingabe beim weiblichen Geschlecht sozial prämiert und dadurch verstärkt oder ob es sich um eine als solche kenntliche poetische Metaphorisierung handelt und ob diese Aspekte überhaupt ganz voneinander abzutrennen sind, wären eine Reihe von Fragen, denen anhand von Textanalysen, sozialpsychologisch und historisch geduldig nachzugehen wäre. Rasche Patentantworten jedenfalls gibt es da nicht. Man kann in den Texten Brechts ebenso wie zum Beispiel bei Georg Büchner oder Franz Kafka, Heiner Müller oder Peter Weiss starke Züge des Masochismus auffinden. Statt einer Reduktion auf die private Psychologie der Autoren wäre das in der Ökonomie des Schreibens oder der theatralen Ästhetik selbst zu begründen. So könnte es sein, dass das Sexuelle in seiner Gewalt und Gefahr gar nicht anders als durch Formen, die gemeinhin als Perversion gelten, zu gestalten ist und keineswegs „Ausdruck“ einer Verfassung des Autors sein muss. Dagegen ist es möglich darzulegen, dass Brecht etwa in Mahagonny tatsächlich eine komplexe analytische Schilderung der Wirklichkeit des Begehrens und der Lust als radikaler Selbstverausgabung geschrieben hat, die zwar mit einer Kritik der Warenverhältnisse verschmolzen ist, in der letzteren aber nicht ihre wesentliche Bedeutung hat. Sexualität ist als eine ebenso destruktive wie selbstdestruktive Energie geschildert, die den notwendigen anarchischen Impuls liefert, ohne die es keine soziale Veränderung geben könnte und die zugleich doch von den Verhältnissen diszipliniert wird. Der Ausruf „O Jungens, ich will doch gar kein Mensch sein“ von Paul Ackermann antwortet der Identitätslosigkeit des Packers Galy Gay. Hier ist der Schrecken denn auch sogleich wieder präsent: „Was ist der Taifun an Schrecken gegen den Menschen wenn er seinen Spaß will.“ Sexualität als Furchtzentrum heißt auch dies, dass die undomestizierte Lust, das Begehren, ununterscheidbar von Lust an Zerstörung und Selbstzerstörung ist und daher in keiner politischen Neuordnung zu integrieren sein wird. Jeder Leser der Lyrik Brechts weiß, dass die Lust an Passivität, Selbstverlust, Selbstzersetzung ihm alles andere als fremd war. Sie spielt in seiner frühen Lyrik überall mit, wobei Schwimmen, Sich-Verlieren, sexuelle Vereinigung und Tod kaum voneinander zu unterscheiden sind. Hier wird unübersehbar, dass Sexualität als ein Begehren nach Passivität die zugleich bedrohliche und unumgängliche condition des Menschen ist, die Brecht als Faktor von ausschlaggebender Bedeutung in seine Thematik des politischen Subjekts einbringen musste.

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Bevor jedoch von diesem Punkt aus die „Gegenrechnung“ aufgemacht wird, die die Figur der Selbstverausgabung zur anfangs skizzierten Reduktion des Sexuellen auf das Physiologische in Gegensatz bringt, empfiehlt es sich, durch einen kurzen Rundblick wenigstens einige Auslegungen der Sexualität im Werk Brechts in Erinnerung zu rufen. In den dramaturgischen Konstellationen seiner Dramen dominiert – vor allem anfangs ist das offensichtlich – die politische und psychologische Rivalität, erotisch aufgeladen, zwischen Männern (Im Dickicht der Städte, Eduard II.). Einerseits ist die Frau ausgeschlossen bzw. spielt nur die Rolle des Einsatzes. Sie wird getauscht, ebenso werden die Liebesgefühle selbst ins Kalkül der Kräfte gezogen. Die Schwäche des Liebenden ist ein Trumpf für den Gegner. Andererseits scheitert in Brechts Dramaturgie der Versuch, durch den Kampf Mann gegen Mann festzustellen, wer der „bessere“ Mann sei, vollkommen. Das Hegelsche Modell der Dialektik von Herr und Knecht, der Kampf um Anerkennung führt zu nichts, wirkliche Feindschaft erweist sich als unerreichbare Utopie. In späteren Werken dreht sich alles um den Mann, der sich gegen das Kollektiv stellt (Die Maßnahme, Fatzer, Badener Lehrstück). Dann gibt es die Stücke mit bedeutenden Frauenrollen: Heilige Johanna, Die Mutter, Mutter Courage, Kaukasischer Kreidekreis, Der gute Mensch von Sezuan. Es sind im Wesentlichen Mütter. Und schließlich gibt es jene Stücke, in denen Lust in einem allgemeineren, Sex im engeren Sinn die Hauptsache darstellen (Dreigroschenoper und Mahagonny). Auffällig ist, dass das klassische Dreieck Vater, Mutter, Kind nirgends wirklich entsteht. Bei Mutter Courage gibt es keinen Vater ihrer Kinder, dafür zum Beispiel den Koch, mit dem sie etwas flirtet. Galilei hat eine Tochter Virginia – aber wo ist die Mutter? Stattdessen finden wir Frau Sarti, bei der Galilei wohnt. Sie wiederum hat einen Sohn, der wie ein symbolischer Sohn Galileis, seines geistigen Vaters, erscheint, aber von einem leiblichen Vater ist nicht die Rede. Im Kaukasischen Kreidekreis gibt es das Kind, die uneigentliche, aber bessere Mutter, den toten realen Vater, Tarnungsväter und Adoption. Stets ist die Besetzung der Punkte des Urdreiecks lückenhaft oder verschoben. Brecht thematisiert niemals oder umgeht gleichsam die Erinnerung an die Urszene der Zeugung mit der Folge des familialen Dreiecks. Stattdessen werden stets ein oder zwei dieser Positionen stellvertretend, symbolisch von anderen Personen ausgefüllt. Es gibt keinen Naturalismus, sondern Stellvertretung und symbolische Ersetzung: Nicht die Mutter ist entscheidend, sondern die Mütterliche. Die dramaturgischen Konstruktionen der Stücke haben offenbar die Tendenz, den Moment der Zeugung des Lebens selbst gleichsam zu ir-

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realisieren und undenkbar zu machen. Es wäre verlockend, im Einzelnen zu untersuchen, inwiefern hier immer das Modell der heiligen Familie hereinspielt. Vor allem aber ist die Zeugung des Lebens jener Punkt im Brechtschen Denken, an dem die beiden Motive seines Schreibens: das Pathos des Bruchs, der Tabula rasa, des Endes der Vergangenheit mit ihrer Last von Verpflichtung und Schuldigkeit auf der einen Seite und das ebenso ausgeprägte Motiv der Kontinuität, der generation von Leben, der Kette der Geschlechter auf der anderen sich nicht mehr zusammendenken lassen. Schwangerschaft und Geburt sind deshalb ein Moment des abgründigen Schreckens: Entweder leitet ihre Verleugnung hin zur Konsequenz des Bruchs – „eine Welt ohne Mütter“ wird Heiner Müller in der Hamletmaschine schreiben – mit der Gefahr, alle Fruchtbarkeit zu negieren. Oder die fruchtbare Kette der Geschlechter und Generationen, die Kette der Geburten und der Mütter behält die Oberhand, deren lebensbestimmende Gewalt wiederum die Denkbarkeit der radikalen Unterbrechung, der Zäsur der Revolution negiert. Diese offene Aporie ist mit dem Gang zu den Huren zusammen zu sehen. Denn ein zweites, das bekannteste Bild des Sexuellen bei Brecht sind natürlich die allgegenwärtigen Huren und Bordelle. Hier ist Obacht angezeigt. Brechts Huren haben nichts von der dämonisch-revoltierenden Aura, die ihnen etwa bei Baudelaire eignet. Sie sind nicht Träger eines höheren oder tieferen Wissens, sind aber umgekehrt erst recht nicht realistisch gezeichnet, sondern allegorische und zeichenhafte Gestaltungen für den Verrat an der Liebe, den die Gesellschaft in sich trägt – Verrat, der sie sogar begründet, weil nur er die „Sachlichkeit“ der Tauschverhältnisse begründen kann. Darum, nicht einfach als Inkarnation der Ware, sondern als Verkörperung der im Verkehr der Prostitution virulenten Verkehrung von Affekt in Tausch können sie Figur des bürgerlichen Subjekts sein. An diesem decken sie die Abgründe auf, die von Ideologie unsichtbar gemacht wurden – bis hin zur Lust eben am unpersönlichen Tausch-Verhältnis der Körper im Medium von Affektgesten. Sie zeigen etwas, und es wäre, einmal mehr, methodisch mehr als fragwürdig, die Beschreibung umstandslos als einen Wunschzettel des Autors Brecht zu lesen. So wie der Dreißigjährige Krieg für die Gegenwart, China oder Chicago für Berlin stehen können, die surrealen Szenerien von Mann ist Mann und Mahagonny Zeichen für eine andere Realität sind, so steht auch die käufliche Liebe ein für eine komplexe Realität und gesellschaftliche Struktur menschlicher Kommunikation unter Bedingungen der Warengesellschaft. So wie Liebe, Körper gegen Geld zu tauschen sind, so sind die Träger des gesellschaftlichen Ganzen gerade aufgrund einer gewissen Auswechselbarkeit imstande, sich zu vereinen.

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Die genannten Beispiele genügen, um zu konstatieren, dass es kein simplistisches Bild der sexuellen Beziehung zwischen Männern und Frauen bei Brecht gibt, sondern eine Vielzahl von Perspektiven, die man nur um den Preis der Verfälschung auf eine einzige Sicht reduzieren kann. In dieser Vielfalt spielen gewiss Sexismus, phallokratische Züge, traditionelle Männerpsychologie und „Männerphantasien“ eine Rolle. Die Lektüre darf aber diese Momente nicht von den anderen isolieren, sondern hat ihre innere Dynamik zu bedenken. Als Gegengewicht zur physiologischen Reduktion ist die Thematik der Verausgabung im Sinne Batailles bei Brecht zu konstatieren. Hinzu kommt eine Dimension, die man barock nennen möchte. Eine ungemeine Intensität gewinnt bei Brecht immer wieder die Beschwörung der Kürze des Lebens – „[…] schlürft es in vollen Zügen / Es wird euch nicht genügen / Wenn ihr es lassen müßt“. Es lässt sich nicht übersehen, dass wir es hier mit demselben Materialismus zu tun haben, der wohl für die oft banale Reduktion des Eros auf Physiologie verantwortlich ist, aber auch zu einer, paradox formuliert: spirituellen Steigerung des Materiellen führt. Sexuelle Lust als das Nonplusultra der Hingabe ans Vergehen, der kleine Tod als die permanente Herausforderung des großen. Es bleibt dabei, dass die Bilder der Lust aus einem Blick des Mannes auf die Frau mit allen Verzeichnungen und latenten Unterdrückungsmechanismen resultieren. Aber sie gehen darin nicht auf. Das Autorsubjekt B. B. ist nicht einfach das Ego eines Manns, sondern, wie schon bemerkt, eine „Vielheit“ aus Impulsen, Ideen, Einflüssen, männlichen und weiblichen Zügen. Die Furcht, die Sex, Geburt und Tod im Menschen auslösen, wird in vielen Texten Brechts als politische, erotische und ethische Grunderfahrung formuliert: „Fürchte Dich! Sinke doch! Auf dem Grunde erwartet dich die Lehre …“ Diese Forderung nach einer SelbstWahrnehmung als vorläufig, wandelbar, zum Selbstverlust bereit, konvergiert in vieler Hinsicht mit dem, was neuere, auch feministische Theorie als Politik, Gesellschaft und Erotik einer Nicht-Identität zur Forderung erhoben hat. Im Kontext des Fatzer-Fragments stehen Sätze, die jedenfalls geeignet sind, Brechts Wahrnehmung des Sexuellen als keineswegs bloß harmlose Ergänzung der Liste physiologischer Bedürfnisse des Menschen zu belegen. Es geht um das „Lehren“ der geschlechtlichen Liebe, und Brecht schreibt: Unrichtig handeln, die dem Lernenden das Geschlechtliche als natürlich hinstellen, als sauber, harmlos und verständlich. Recht aber haben, die es ihm als unnatürlich beweisen, also als schmutzig, gefährlich und unverständlich. […] Aber nicht um den Lernenden von

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der Liebe abzuhalten, soll man ihm die Liebe so schmutzig oder unnatürlich schildern, sondern allein um ihm die Wahrheit zu sagen. Nicht um ihm Abscheu zu erregen, sondern um ihm Schrecken zu lehren.8 „Wichtig zu lernen vor allem ist der Schrecken“ könnte eine Abwandlung des berühmten Satzes „Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis“ im Jasager lauten. Die Furcht gilt, so ist aus dem Zusammenhang abzulesen, zum einen der erschreckenden Verantwortung, die derjenige auf sich nimmt, der Leben zeugt: „Warum aber ist das Geschlechtliche unnatürlich? Viele sagen, daß es wohl grauenhaft sei, Leben zu erzeugen, und nur durch eine schlimme Lust werde der Mensch verlockt, solches zu begehen.“ Brecht bedient sich hier wörtlich bestimmter Passagen bei Augustinus, deren Sinn er verändert, ohne sich grundsätzlich davon zu distanzieren. Die Funktion des Schreckens ist hier zweifellos, wie Judith Wilke schreibt, „sich gegen eine Domestizierung des Triebhaften zu wenden“.9 Erinnert sei auch daran, dass Brecht seine Begeisterung für Sport dadurch präzisierte, dass Sport natürlich nicht etwa gesund sei, sondern genau dort beginne, wo er nicht mehr gesund, sondern gefährlich werde und der Gesundheit schade. Eine Brechtsche, aus altbarocken und christlich-bayrischen Stimmungen genährte Version nietzscheanischer permanenter Selbstvernichtung schält sich hier heraus. Sexualität konfrontiert mit Tod und Schrecken. Alles – nur nicht harmlos ist das Sexuelle hier. Und genau an dieser Stelle tritt eine merkwürdige Wendung des Dichters Brecht vom Schreckhaften des Kindermachens zum schreckgeborenen Zeichenmachen auf: „Darum ist die beste Art, ihm das Geschlechtliche zu lehren, so, wie es die Knaben unter sich machen: sie reden lachend und erhitzt vom Geschlechtlichen.“ Die Komödie, das Lachen ist mit einer körperlichen Reaktion, der Erhitzung, vereint, die das Lachen neu sehen lässt: als (Bataillesche) Reaktion auf den Schrecken, wo es nicht mehr um Sinn geht, sondern um Verausgabung und Verbrennen, brennende Schamröte und Verlangen, die das Ich, das Subjekt zerreißen. Die Scham muss erlebt und überwunden werden – wie das Tabu. Brecht teilte die Ansicht Batailles, dass das Verbot zum Eros gehört, ihn geradezu definiert. Das Sexuelle ist das Verbotene. Doch das Verbot muss übertreten werden: „Habe keine Furcht und schäme dich nicht. Das Menschliche muß erlaubt sein […]“, heißt es in Fatzer über das sexuelle Verlangen der Frau, deren Mann im Krieg vier Jahre fortblieb. Der zitierte Text über das Lehren des Geschlechtlichen fährt nun fort: „[…] sie reden lachend und erhitzt vom Geschlechtlichen und zeichnen große und schmutzige Sym-

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bole auf die Wände der Häuser, die jenen gleichen, die von den Religionen der weisesten aller Rassen benützt werden.“ Man kann es kaum vermeiden, in der „Lehre“ natürlich ein Deckbild für Brechts eigene Praxis zu erblicken. Jedenfalls wird sie zum Herstellen rätselhafter und obszöner Zeichen, die weniger bezeichnen, als dass sie das Sexuelle als Trieb des Zeichenmachens externalisieren in Symbolen, die groß und schmutzig sind. Etwas davon bleibt in der Praxis des Schreibens erhalten, das überall mit Worten die anderen zu berühren sucht. Brecht hat immer wieder der Gedanke beschäftigt, dass Worte sexuelle Lust herbeiführen können. Das Schreiben selbst ist eine Art von sexueller Lust – die „Lust am Text“, von der Roland Barthes spricht – und nicht erst dort, wo der Text inhaltlich vom Sex handelt. Im Prozess der Sprache werden Schreiben und Sprechen ein Berühren: „Und auch dadurch ist diese Art der Belehrung gut, weil sie unter solchen vor sich geht, die sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Händen berühren können.“10

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Adorno, Theodor W.: „Wagners Aktualität“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 16, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1978, S. 545. 2 Brecht, Bertolt: Stücke 10: Stückfragmente und Stückprojekte, Teil 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 428. 3 Ebd., S. 431. 4 Ebd., S. 467. 5 Ebd., S. 539f. 6 Ebd., S. 472. 7 Ebd., S. 473. 8 Ebd., S. 527. 9 Wilke, Judith: Brechts „Fatzer“-Fragment. Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar, Bielefeld 1998, S. 199. 10 Brechts Modell der Lehrstücke, hrsg. v. Reiner Steinweg u. Jürgen Hofmann, Frankfurt a. M. 1976, S. 43.

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In Jean Baudrillards Der symbolische Tausch und der Tod findet sich nicht nur ein Hinweis auf, sondern ein wörtliches Zitat aus Brechts Gedicht „Vom ertrunkenen Mädchen“.1 Es steht im Zusammenhang mit seiner Kritik an einer Idee des Todes als biologischem und punktuellem Ereignis und Horizont, an die ich erinnern will, weil sie Brechts Diskurs zu erhellen vermag. Baudrillard argumentiert: „Die Irreversibiliät des biologischen Todes, sein objektiver und punktueller Charakter, ist ein Produkt der modernen Wissenschaft. […] Der Tod ist kein Fristablauf, der Tod ist eine Nuance des Lebens – oder das Leben ist eine Nuance des Todes.“2 Metaphysik und Biologie seien in Hinblick auf den Tod nur scheinbar entgegengesetzt, in Wahrheit in Kontinuität, sofern beide eine Illusion des Subjekts nähren, das gleichsam in ein Leben eingeschlossen ist, dem der Tod fehlt, das dafür aber durch den Tod in absurder Weise endet. Ein anderes Denken wäre erforderlich, und dieses würde „sagen, daß ganze Teile von ‚uns selbst‘ (von unserem Körper, unseren Gegenständen und unserer Sprache) von Anbeginn des Lebens dem Tod verfallen sind. […] Einige gelangen dadurch dahin, sich selbst nach und nach zu vergessen – so wie Gott in Brechts Ballade das ertrunkene junge Mädchen vergißt, das den Fluß hinuntertreibt“3: Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar. Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas.4 Baudrillard zitiert diese letzte Zeile des Gedichts nicht mehr, die Brechts Motiv des Mit-Seins mit vielen in einer Art chorischem Todesgesang von A-Lauten figuriert. Seine Sehweise kommt aber der Brechts dennoch nahe, lenkt er doch die Aufmerksamkeit auf die entscheidende Dimension des symbolischen Todes. Im Symbolischen „existiert der Tod als Nichts auch nicht mehr“5, so wenig wie bei den geschlechtslosen Einzellern der Biologie. Stattdessen ist er Teil des Lebens. Mitten in dem Leben sind wir vom Tod nicht nur umfangen, sondern durchdrungen, haben und leben ihn in uns. Die gedankliche Fixierung und Reduktion auf den „biologischen Tod“ als Endpunkt ist nur möglich, weil und sofern Leben und Tod im Konzept des Subjekts radikal getrennt werden. Für das moderne Denken gilt:

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Wegen seiner Identität bedarf das Subjekt eines Mythos’ über sein Ende, wie es auch einen Mythos über seinen Ursprung braucht. In Wirklichkeit ist das Subjekt niemals in der Weise vorhanden wie ein Gesicht, die Hände oder Haare, und mit Sicherheit ist es immer bereits woanders, da es von einer unsinnigen Aufteilung und von einem durch den Tod angetriebenen endlosen Zyklus ergriffen ist. Dieser überall im Leben vorhandene Tod soll gebannt und an einem bestimmten Punkt und Ort in der Zeit lokalisiert werden: dem Körper.6 2

Im epischen Theater geht es um den delokalisierten und dedramatisierten Tod. Den Tod auf den faszinierten Schrecken über die Grenze einschränken wollte Brecht nicht. Wenn Heiner Müller schreiben konnte: „Was zählt, ist das Beispiel. Der Tod bedeutet nichts“7, so ist dies ganz in Brechts Sinn. In einem berühmten Abschnitt der Phänomenologie des Geistes über den Tod durch den Terror der Revolution erläutert Hegel, wie die abstrakte Staatsmaschine hier und die „diskrete absolute harte Sprödigkeit und eigensinnige Punktualität des wirklichen Selbstbewußtseins“ dort, der politische Schrecken und die absolute Freiheit sich, reduziert auf „abstrakte Extreme“, gegenübertreten und in dieser radikalen Entgegensetzung kein Raum der Vermittlung und Verknüpfung bleibt, weil beide „keinen Teil in die Mitte schicken können, wodurch sie sich verknüpften.“ Hegel fährt fort: Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen innern Umfang und Erfüllung hat, denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbsts; er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers.8 Auch ohne den revolutionären Terror steht die Gesellschaft im Zeichen einer Fetischisierung des Bios und bringt den Tod, wo sie ihn nicht ganz verdrängt, um seine Bedeutung, reduziert auf den Ablauf einer Frist. Ist aber – in einer Zeit des allgemeinen Bewusstseins über den anonymen Massentod als herrschende Regel der Weltwirklichkeit – der dramatische, der „dramatisierte“ Tod mehr und mehr als Ideologie erkannt, die eher zynisch wirkt, und reflektiert zudem der „platteste Tod“ eine ebenfalls kaum haltbare Form des Umgangs mit dem Tod, so bleibt die Frage nach seiner Darstellung aktuell. Betrachten wir in diesem Licht einige der Gesten, mit denen Brecht Tod und Sterben umschreibt und um-schreibt.

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Die frühe Lyrik mit ihrem Gestus eines geradezu metaphysischen Materialismus nennt immer wieder Sterben, Sich-Auflösen, Vergängnis, Fäulnis der Wasserleichen, Zersetzung und Aaswerden der Körper. Kaum einer hat so sehr wie Brecht die Empfindung für die Kürze des Lebens zur Sprache gebracht. („Es wird euch nicht genügen, wenn ihr es lassen müßt.“)9 Der Tod ist hier durchaus der „feindliche Horizont“, von dem Baudrillard spricht, macht aber mit dem Leben zugleich auch der scharf gespürten Vereinzelung des Lebewesens ein Ende. Als Naturelement ein Feind, gegen den sich der Körper in animalischem Seinwollen erbittert zur Wehr setzt, bedeutet er zugleich Eingehen und Rückkehr in die Natur, nicht ohne eine Art nietzscheanischen Trost im Vergehen. Die bekannte Zeile „Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben“ heißt: Lobet den Tod. Des Cortez’ Leute werden allmählich zu körperlos-unsichtbaren Stimmen im Dickicht, das sie überwächst.10 Und die den physischen Leib in sich aufnehmende Natur wird nachträglich lesbar als Präfiguration des Theatertodes im und durch das Kollektiv, der ebenfalls vom Sterbenden, der eigens „unsichtbar“ sein soll (der Jasager, der junge Genosse), nurmehr die Stimme hören lässt. Eine geradezu neo-barocke Versenkung in das Vergehen der Körper, der Lust, der Schönheit zieht sich durch diese Texte. Indem der Boden des Lebens überall von Todesadern durchzogen ist, hört der Tod auf, als punktuelles Ereignis das Leben zu entwerten. Es obsiegt ein sonderbares Einverstandensein: frühe Version dessen, was – politisch gewendet – Einverständnis heißen wird mit den Wegen der Natur, die dem menschlichen Körper ganz wie dem Tier das Todesende überall schon eingeschrieben hat: Lobet das Gras und die Tiere, die neben euch leben und sterben! Sehet wir ihr Lebet das Gras und das Tier Und es muß auch mit euch sterben.11 Und: Laßt euch nicht verführen Zu Frohn und Ausgezehr! Was kann euch Angst noch rühren? Ihr sterbt mit allen Tieren Und es kommt nichts nachher.12

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Dieses Einverstandensein ist ein Hauptelement von Brechts lebenslangem Versuch, in seinem Diskurs eine Verwandlung des Todes aus einer passiv hinzunehmenden in eine aktiv zu tuende Wirklichkeit zu bewirken. Immer wieder geht es darum, dem Tod den Charakter einer Handlung – nicht etwa den des Endes und der Grenze aller Handlung – zuzuschreiben. „Sterbt euren Tod …“13 Das Verbum „sterben“ wird hier paradox transitiv, das Telos „Tod“ grammatisch zu seinem Objekt. Als Gegenstand einer aktiven Bearbeitung wird der Tod entmächtigt. Daran bewährt sich, was man auch sonst als Brechts Geste einer Entgrenzung der Aktiv-Form, als sein Pathos des Tuns, des Eingreifens, der Aktivierung kennt. „Neu beginnen kannst du mit dem letzten Atemzug.“14 Mit Recht bezeichnete Benjamin Brecht als den „Spezialisten des Von-VornAnfangens“. Dieses Von-vorn-Anfangen ist nichts anderes als jener fortwährend erneuerte Tod im Leben, von dem die Rede war. Indessen wird davon zu sprechen sein, dass natürlich dieser „Spezialist“ auf Probleme stößt: Der von vorn beginnen will, bekommt es mit einer Kontinuität zu tun, die ihn verfolgt. Der das Sterben als Aktivum denkt, kommt um den Block des erlittenen biologischen Todes nicht einfach herum, den er in einen symbolischen und somit in eine Nuance des Lebens verwandeln will. Der Dichter und Theaterautor kann sich nicht mit einer theoretischen Setzung wie der philosophischen oder kulturkritischen Baudrillards begnügen, sondern hat die eigene Setzung schreibend gerade aufs Spiel zu setzen. Die Figuration des Todes als Aktivum wird also immer wieder heimgesucht worden sein von einer letzten Passivität und Passion, die Figuration auch noch des Todes als „vorläufig“ heimgesucht vom Bild definitiver Endgültigkeit. Gerade das jedoch macht die Arbeit an der Dedramatisierung des Todes notwendig. 3

Dass und wie Brecht die Grenze allen Tuns, den Tod, in Tun umzuwandeln sucht, konkretisiert sich in Wendungen, in denen der Tod als eine Produktion erscheint. „Sterbt euren Tod – wie ihr gearbeitet habt eure Arbeit.“15 Die Aktivierung ist hier genauer: eine Produktivität. Auch die Liebe nannte Brecht eine Produktion – der Liebende erdenkt und schafft zum Beispiel, was den Geliebten erfreuen könnte.16 Sofern diese sonderbare Aktivierung des Todes durch seine Fassung als Produktion über das einzelmenschliche Subjekt hinausreicht, erfährt der Tod bei Brecht eine Pluralisierung und Kollektivierung. Der Tod fällt in den Plural; Sterben ist das, was am gründlichsten die Ideologie des individuellen Subjekts und – mit Heiner Müller zu sprechen – den „Irrtum des Individualismus“ dementiert. So sah es Brecht, als er in der Zeit der Lehrstücke den

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Satz notierte „individuum nur unsterblich möglich / stirbt es, so hat es höchste eisenbahn sich zu entindividu-[alisieren].“17 Man könnte sagen, ein Individuum-Sein kann es nur geben für einen Gott unter Göttern. Das moderne Individuum basiert daher auf der Verdrängung und Verleugnung seiner Endlichkeit. Baudrillard hat betont, dass der Gedanke der „Unsterblichkeit der Seele während des ganzen Christentums als gleichmachender Mythos“ wirkt, „als Demokratie im Jenseits gegenüber der weltlichen Ungleichheit vor dem Tode“.18 Diejenige Unsterblichkeit, die Menschen denken und vorstellen können, ist das Überleben über den biologischen Tod hinaus im Eingedenken der anderen, gesellschaftlich betrachtet: im Ruhm. Sie aber kann im Grunde keinem zukommen außer wenigen auserwählten Individuen, den Heroen, die so zum Inbegriff von Singularität werden. Wären alle unsterblich (berühmt), so verlöre der Gedanke seinen Sinn, der gerade in der Distinktion besteht. So ist das Individuum in der Tat „nur unsterblich möglich“ und muss der Tod als Dementi der Unsterblichkeit für das Individuum zum absoluten Schrecken werden. So sieht es Brecht in den grandiosen Lehrstücktexten, in denen gefordert wird ein Sterben als Aufgeben – auch in diesem Verb bemerkt man die Geste der Aktivierung noch des Passiven schlechthin, des Aufgebens, Ablassens, Nichttuns. Das Thema des Ruhms tritt hervor: „Ich wurde nicht genug gerühmt“ – das ist nichts anderes als die Formel des Individuums schlechthin, das sich aus ebendiesem Grund verzweifelt gegen den Tod, das Vergessen wehren muss, weil es das Sich-selbst-Vergessen, von dem Baudrillard im Zusammenhang mit dem Brechtgedicht spricht, nicht erreichen konnte. Brecht hat besonders in den Lehrstücken fast kein anderes Thema verfolgt als die Risse und Unvereinbarkeiten ebenso wie das Aufeinanderverwiesensein der einzelnen Stimme und der Stimme des Kollektivs, der Gemeinschaft, der Gruppe. So erscheint bei ihm der Chor wieder als Parallelfigur zum Einzelnen, als Kontrollinstanz, als Ort, an dem sich die Stimme des Subjekts im Doppelsinn aufhebt. Diese Lehrstücke sind zugleich angelegt in einem höchst traditionell und zumal barock anmutenden Gestus als eine „Sterbelehre“ – das ist Brechts eigene Formulierung. Vertieft ist diese Sicht, wenn es in den Kommentartexten heißt: Welcher von uns stirbt, was gibt der auf? Der gibt doch nicht nur seinen Tisch oder sein Bett auf! Wer von uns stirbt, der weiß auch, ich gebe auf, was da vorhanden ist, mehr als ich habe, schenke ich weg. Wer von uns stirbt, der gibt die Straße auf, die er kennt, und auch, die er nicht kennt. Die Reichtümer, die er hat, und auch, die er nicht hat. Die Armut selbst. Seine eigene Hand.19

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Es handelt sich aber bei Brecht, obwohl manches wie zum Beinspiel die Formel von der „kleinsten Größe“ diese Interpretation nahelegen könnte, auch nicht einfach um eine neue Form der Diminuierung des Ich (der nur Trauer antworten kann), sondern um ein Drittes. Der Tod wird zu einer Version von Anagnorisis im epischen Theater. Im Sinne der dramatischen Struktur ist tragische Anagnorisis die Einsicht des Subjekts in die Grenze, auch und gerade Einsicht in die Grenze der Einsicht. Es erkennt das Subjekt, dass es weniger ist, als es sein will und sein wollen muss, dass es über seine Lage nicht verfügt. In der Brechtschen Anagnorisis des Todes erfasst ganz im Gegenteil das Subjekt spätestens sterbend, dass das Individuum unendlich viel mehr ist als es selbst. Das Sterben stellt ihm mithin die Aufgabe, mehr wegzugeben, als sein ist. Der Tod ist hier radikale Weggabe, Aufgabe des Subjekts, aber es geschieht gerade im Tod seine Erweiterung. Der Tod im Lehrstück erweitert das Subjekt durch die Einsicht in seine gleichsam horizontale Verwiesenheit auf die anderen. Es steigert seine Gesellschaftlichkeit, jedoch nicht als heroische Emphase (Opfer), sondern als Erfahrung einer es unendlich erweiternden gesellschaftlichen Verknüpftheit. Diese Brechtsche Erweiterung stellt das genaue Gegenstück zur antiken Steigerung des heroischen Subjekts dar. Der Held der antiken Tragödie scheitert, erfährt jedoch im Scheitern eine Steigerung, die gleichsam die Hybris noch einmal zum Leuchten bringt, ihr Recht bestehen lässt. Der Chor spiegelt das zugleich Verderbliche und Erhöhende des Einswerdens mit dem Gott sinnlich in Tanz und Stimme, die das einzelmenschliche Subjekt übersteigende Energie augenfällig vorführt. Der antike Held suchte in der vertikalen Verwiesenheit auf die Götter, mit denen er rivalisiert, im Tod eine äußerste Steigerung, die mit Ruhm belohnt, zugleich aber mit der Isolation des Helden erkauft war, der zum Opfer wird. (In der Barocktragödie findet man nicht eine solche Steigerung, sondern was man eine Diminuatio, eine Verkleinerung des Subjekts nennen kann.) 4

Der Tod blieb bei Brecht ein Dauerthema, nicht nur im Theater. Man entsinnt sich des Selbstmords des Arbeitslosen in Kuhle Wampe, dessen Darstellung ganz in der sozialen Dimension aufgeht, die noch in der letzten Geste, die wertvolle Armbanduhr vor dem Sturz aus dem Fenster abzulegen für die Familie, das Punktuelle des Todes überblendet. Das Ereignis wird zu einem Vorkommnis, das durch die Momente des Mechanischen, die Akzentuierung des „sozialen Todes“ und den Blick in die Zukunft den dramatischen Moment überdeckt. In einem der stärksten Texte Brechts über den Tod, dem Bericht vom Tod des Pawel Wlas-

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sow in der Mutter20, fällt ebenfalls der Akzent auf die Zukunft. Vor seiner Erschießung hat Pawel die Vision von den Massen, die die Revolution machen werden – „jenem Heer, das immer gewachsen war / Und noch wuchs“. Dennoch war Brecht zu sehr „Dramatiker“, um von der Theatralität des individuelles Opfer ganz abzusehen. Die Zeile „Und er, der es begriff, begriff es auch nicht“ birgt den Zwiespalt und das Zwielicht, in dem sich die Repräsentation des Todes bewegt. Allerdings schien Brecht diese Zeile im Sinne der Agitation kontraproduktiv, sodass er sie für die Aufführung wegließ. Die Brechtsche Idee der gesellschaftlichen Erweiterung des Subjekts, die „spätestens“ beim Sterben zur Aufgabe wird, findet ihre, wenn man so will: persönliche, Ergänzung in einem späten Text in einer Wendung, die Heiner Müller sehr beeindruckt hat. Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité Aufwachte gegen Morgen zu Und die Amsel hörte, wußte ich Es besser. Schon seit geraumer Zeit Hatte ich keine Todesfurcht mehr. Da ja nichts Mir je fehlen kann, vorausgesetzt Ich selber fehle. Jetzt Gelang es mir, mich zu freuen Alles Amselgesanges nach mir auch.21 Eine doppelte Aktivierung. Allein das „Wissen“, das die Todesfurcht hier gedanklich überwindet („seit geraumer Zeit“, wo die Zeit schon Raum wird), genügt noch nicht. „Jetzt“, beim Hören des Vogelgesangs am Morgen, entsteht in einer mehr als rationalen Anagnorisis ein „besseres“ Wissen, eine aus und über sich hinaustretende, ekstatische Freude an jener Wirklichkeit, in der das Ich nicht (mehr) vorkommt. Hier kommt eine nietzscheanische Bejahung zum Tragen, die über Selbst-Erhaltung und bloßen Trost hinausweist, indem sie Selbst-Erweiterung auch in der Zeit ist. Ebenso stark wie Brechts Intention, keine ideologische Tröstung zuzulassen und gleichsam in seinem ganzen Werk ein verallgemeinertes carpe diem zu formulieren, ist die Absicht, ohne Wenn und Aber über das Individuum hinauszudenken, dessen verbissene Selbst-Erhaltung zu bekämpfen zugunsten fortwährend erneuerter Gesten der Selbst-Aufgabe. Eine weitere Figur, der die Aufgabe zukommt, schwebend über dem Abgrund des Paradoxen, sich der Denkbarkeit und Undenkbarkeit solchen symbolischen Todes anzunähern, der also nicht der Tod des einen

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Subjekts in seinem einen Körper ist, hat Brecht in der paradoxen Formel von der Reduktion auf die „kleinste Größe“ gefunden, in der ebenfalls ein Nichtsein im Sein antizipiert wird. Wieder eine andere ist das „Sinken“. Hier ist das Subjekt im Dazwischen von Sein und Nichtsein fassbar nur in der Weise des Falls, in einem Auf-den-Grund-Gehen, einem Sturz ins Tal oder in die Kalkgrube, einem Flugzeugabsturz. Im FatzerFragment wird das autonome Subjekt aufgefordert: „Halte dich fest und sinke! Fürchte dich! Sinke doch! Auf dem Grunde erwartet dich die Lehre.“ In dieser Verfassung oder diesem Seinsmodus hat das Subjekt seinen „Posten verlassen“22, die Position, das positiv Bestimmte verlassen, kommt aber nicht etwa an einem neuen positiven Bestimmungsort an. Es sinkt nur auf ihn zu. Der Grund, auf den es fällt oder sinkt, ist der Ort, an dem die Lehre – man kann hier sicher auch „Leere“ schreiben – das angesprochene Du „erwartet“. Das Individuum ist, was der Fall ist. Sofern Brecht das Individuum als „Dividuum“ auffasste, weil es fortwährend sich teilt und zerfällt, kann man in dieser Seinsweise des Falls, des Sinkens, des Vergehens, des Vergessenwerdens seine eigentlich zu gewinnende Daseinsform erblicken. Zugleich aber wird diese in ihrem Schmerz und in ihrer Lust der Verwandlung auf dem Theater darstellbar nur durch den Block, den der Tod des Individuums diesem Fluss entgegensetzt: Du bist aus dem Fluß gefallen, Mensch. Du bist nicht im Fluß gewesen, Mensch. Du bist zu groß, du bist zu reich. Du bist zu eigentümlich. Darum kannst du nicht sterben. DER GELERNTE CHOR Aber Wer nicht sterben kann Stirbt auch […]23 „Du bist aus dem Fluß gefallen, Mensch“24: Das ist in der Tat nichts Geringeres als die Definition des Ichs im epischen Theater. Es hat eine unendliche Arbeit am Flusswerden, am Fließen zu leisten. Genau in der Artikulation dieser Schwierigkeit und nicht etwa in der Verkündigung einer Lehre von der Unterordnung des Einzelnen unters Kollektiv setzt die Arbeit von Brechts Lehrstücken und allgemeiner seines Theaters an. Daraus gewinnt es seine Kraft, die ihm geraubt wird durch alle Versuche es als Medium einer politischen Botschaft zu nutzen. Dieses Theater ist konzipiert als der Ort, an dem gerade in der immer neu „versuchten“ Auseinandersetzung mit dem Block, der das Fließen verhindert, jene un-

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endliche Aufgabe (im doppelten Sinn) des Subjekts zeigbar wird. Allein der Block des Widerstands, den das besinnungslose Jetzt des Lebenwollens darstellt – etwa beim jungen Genossen in der Maßnahme – verleiht der Verflüssigung und dem Tod als Motiv des Lebens Gewicht. Das Theater Brechts hat in diesem Sinne nichts zu verkünden als den Bruch (mit) der Verkündigung. 5

Was im Licht der Frage nach dem Tod am epischen Theater als eines seiner tiefsten Motive hervortritt, ist demnach die Dedramatisierung des Todes. Ist der Tod als symbolischer eine Nuance, eine Tatsache, ein Moment des Lebens, manifest in einer von Metamorphosen und Vergessen skandierten Dauer, so kommt diese Bestimmung dem epischen Theater zu. Darin löst sich die dramatis persona auf, und die Frage taucht auf, ob unter solchen Bedingungen Theater überhaupt noch Protagonisten braucht oder auch nur haben kann. Denn soviel ist klar: An das Theater als dramatisches ist der Tod als Grenze und Punkt, Dementi, Schrecken und Verzweiflung auf das Engste gebunden. Das Drama setzt qua Formprinzip wesentlich ein Subjekt und eine Idee des Todes voraus, die Brecht künstlerisch gerade überwinden will. Dramatisch im engeren Sinne ist der Tod als die schmerzhafte Grenze, die dem Leben seine Möglichkeit, seine Verwirklichung nimmt und zugleich als Todesrausch, als Todeslust und Opferlust dem Leben durch den Todes-Moment Sinn und Form verleiht. Der dramatische Tod besiegelt eine Absurdität, einen Weltlauf, der über das Individuum hinwegrollt, beglaubigt jedoch zugleich dessen Selbst-Identität und hyperbolische Selbst-Steigerung noch und gerade im Tod. Der dramatisierte Tod, der dramatische Tod im Theater ist wohl das Zeichen der Vergeblichkeit und des Schmerzes, des Unerfüllten und Unlebbaren. Doch er ist tröstlicher Sinnspender, weil er zum Anlass erhabener oder bewundernswerter oder der Trauer und des Mitleids würdiger Selbst-Affirmation des dramatischen Subjekts wird. Von der barocken Poetik der admiration über die Poetik des Mitleids, des Erhabenen und des Trauerspiels könnte man an diesem Leitfaden die Geschichte des dramatischen Todes von der Renaissance bis in die Moderne schreiben. Selbstmord und Tod im Kampf, Ermordung und Opfer sind die dem Drama gemäßen Todesformen. Brechts Aktivierung des Todes distanziert sich von diesen dramatischen Gestaltungen, in denen der Tod eine letzte Passivität, ein Erleiden, eine radikale Unmöglichkeit des Seins, im Grunde stets ein Opfer manifest macht. Das epische Theater antwortet auf diesen dramatischen Tod, den Tod als Drama mit dem Einverständnis und den zahlreichen Gesten der Dedramatisierung. Dra-

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maturgisch könnte man formulieren: Die Dedramatisierung des Todes bedeutet, dass aus der Peripetie des Dramas eine auf Dauer und Wiederholung gestellte Peripetie wird. Durch Verfremdung taucht der Tod in der Fremde und Fremdheit des Lebensverlaufs auf, nicht im dramatischen Moment, in Peripetie, Entscheidung, Ausgangs- oder Zielpunkt, in dem das Bewusstsein im Grunde immer nur sich in sich selbst vertieft, ohne sich der Fremdheit und Verfremdung zu konfrontieren, die der Tod ist. Wesentlich für das Theater ist aber nicht nur die Dramaturgie, sondern der Schauspieler als „Menschendarsteller“. Hier ist klar, dass die dramatische Repräsentation des Todes durch den dramatischen Schauspieler an sich die allerverwegenste Verfremdung einschließt. Denn spätestens hier hebt sich die behauptete Theaterillusion völlig hinweg. Die Diskrepanz zwischen lebendigem Spieler, der gleich zum Applaus wieder an die Rampe tritt, und dem von ihm repräsentierten Toten tritt hier unverdrängbar vor Augen. Das macht den Hauch des Lächerlichen an großer Theatertragödie aus. Brechts Abkehr von Drama schließt die Abkehr von jener Illusion der Todesdarstellung ein, an der Verfremdung schon keinen Gegenstand mehr hätte. Glenn Arbery25 hat an der Schlussszene von King Lear schön herausgearbeitet, worum es in diesem dramatischen Spiel geht, und das von ihm Beobachtete ist gültig für das dramatische Theater insgesamt. (Ohnehin möchte man Shakespeare als den emblematischen Theaterdichter schlechthin des dramatischen Todes bezeichnen.) Lear, wieder zu einer Art Vernunft geheilt, beugt sich da über seine tote Tochter Cordelia, die nun nichts mehr sagen wird, nachdem ihr Nichts-Sagen zu Beginn die Tragödie in Gang setzte. Lear aber steigert sich in den Versuch hinein, noch Leben in seiner geliebten Tochter zu finden, ruft immer wieder: „Look!“ Man wird aufgerufen, das Leben in ihr zu erblicken, er hält sogar einen Spiegel, an ihren Mund („und wenn ihr Hauch die Fläche trübt und streift / dann lebt sie“), dann eine Feder: „Die Feder regte sich, sie lebt“ – bis er endlich die Wahrheit des Todes einsehen muss – „Thou’lt come no more, / Never, never, never, never, never“26). Sicherlich ist dies eine der schmerzhaftesten Theatertod-Szenen der Dramengeschichte. Was aber ihre szenische Pointe ausmacht – und dies trifft den Kern des dramatischen Todes: Die Feder bewegt sich wirklich, der Spiegel trübt sich wirklich, die haltlose federleichte Flüchtigkeit und die Trübung, die das Leben zeigen, sind real. Die tote Cordelia in Lears Armen wird von einem lebenden Schauspieler gemimt. Nur ist eben das Leben in Cordelia dessen Leben, nicht das Cordelias. Aber welcher Art war dieses Leben für den Zuschauer? Arbery merkt mit Recht an: „Yet the very awareness that the audience

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has of the scene being played enforces rather than undercuts the sense of tragedy. […] life plays this absolute death and impels it to appear.“27 Von hier aus wäre die Szene als ein Emblem des dramatisch theatralisierten Todes und die Notwendigkeit seines „Todes“ in der Moderne des Theaters zu erörtern. Ohne dieser Frage hier näher nachzugehen, kann man sagen: In der Darstellung des Todes wird das Paradox der theatralen Repräsentation unübersehbar. Der auf der Bühne vorgeführte, dargestellte Tod schlägt in eine phantasmagorische Vorstellung im Zuschauer um, die den Tod zum Spektakel verflüchtigt, während sie als „tiefe“ Einfühlung erfahren wird. Indem Verfremdung diese Einfühlung stört, spricht sie nur die Wahrheit über sie aus, verlegt den Zugang zum Bühnenzaubergarten – nicht um den „großen Tod“ zu relativieren, sondern in dem Versuch, sich in ihn einzudenken: Ein-verständnis statt Ein-fühlung. Sofern es sich um eine Ästhetik handelt, in der die Verlötung von Körper, Subjekt, Person aufgehoben wird, ist das Subjekt des Brechtschen Theaters eher mit Gilles Deleuze als mit Hegel zu beschreiben. Es besteht aus Konnexionen, Fluchtlinien, wechselnden agencements. Schlagend dafür ist erneut das Badener Lehrstück: Indem man ihn anruft, entsteht er. Wenn man ihn verändert, gibt es ihn. Wer ihn braucht, der kennt ihn.28 Hier wird das Subjekt als Grenzwert situiert. Es hat sein Sein so sehr durch die anderen, das Kollektiv, die Rede, die an es gerichtet wird; es ist so radikal konstituiert durch die anderen, dass es bei seinem Tod nicht um den physisch-biologischen Exitus, sondern nur um einen symbolischen Tod gehen kann, wie ihn das Theater zu figurieren vermag. Gegenstand der Identifizierung ist nicht der Held als Einzelwesen, Gegenstand der denkenden Identifikation ist der Diskurs des Spiels oder des Stücks insgesamt, das Geflecht, die Textur der Äußerungen, das die dramatis personae verbindet und trennt, sie im fortdauernden va-et-vient zwischen Ich und gesellschaftlicher Praxis erfasst. Gewiss hat Brecht Figuren geschaffen, die sich dieser Definition entziehen – sie begründen Heiner Müllers Kritik, Brecht habe sich kein „Theater ohne Protagonisten“ vorstellen können (wie es Müller seinerseits zu entwickeln suchte). Es ist jedoch bei näherem Zusehen nicht leicht, die Frage nach der Berechtigung von Müllers Kritik klar zu beantworten. Sie kann hier nur gestellt werden. Die Untersuchung müsste genau fixieren, wo jeweils die Grenzen verlaufen zwischen dem Theater der Protagonisten und einem Theater der Haltungen und „Figuren“,

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zwischen einem Theater der Fabel, das am Ende dramatis personae und ihren möglichen Tod benötigt, und einem Theater des Gestus, in dem der Tod im mehrfachen Sinne vergangen ist.29 Wenn das Subjekt nicht und nichts mehr ist, außerhalb einer Vernetzung, die heute ungeahnte, auch elektronische Dimensionen annimmt, so ist sein Tod wie seine Subjektivität kaum mehr an einen Körper gebunden. Absehbar der Zeitpunkt, an dem Experimente, wie sie in unserer Zeit Künstler wie Stelarc vollziehen, die Identität und Situiertheit von Gefühlen, Regungen, Innervationen in einem individuellen Körper überhaupt aufheben, indem diese elektronisch von einem in einen anderen Körper transmittierbar werden. Ganz andere Wege, das Subjekt und den Tod zu denken, den es – aber wie und wo überhaupt – erleidet, müssen gefunden werden. Und zwar in Brechts Spur.

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Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, S. 252. Ebd., S. 251. Ebd., S. 252. GBA 11, S. 109. Baudrillard: a. a. O., S. 252. Ebd. Müller, Heiner: Mauser, Berlin 1978, S. 63. Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1986, S. 418f. GBA 11, S. 116. Ebd., S. 84f. Ebd., S. 72. Ebd., S. 142. GBA 3, S. 23–36. GBA 15, S. 117. Ebd. Eine eigene „ideologiekritische“ Betrachtung, die hier nicht angestrebt ist, hätte den naheliegenden Verdacht zu erörtern, ob nicht Brecht – und inwieweit – seinerseits der bürgerlichen wie marxistischen Fetischisierung der Produktion und Arbeit verfällt, die die radikalste Tötung des Lebens, seine Verwandlung in tote Arbeit, Profit, Geld bewirkt. Das bleibe hier dahingestellt. Steinweg, Reiner: Brechts Modell der Lehrstücke, Frankfurt a. M. 1976, S. 58. Baudrillard: a. a. O., S. 202 GW 2, S. 601 GBA 3, S. 375. GBA 15, S. 300. GBA 10.1, S. 512. GBA 3, S. 42f. Ebd., S. 44. Arbery, Glenn: „King Lear and the Space of Ritual“, in: ders. (Hg.): The Tragic Abyss, Dallas 2003, S. 227–248, bes. 243ff. Vgl. Shakespeare, William: King Lear, 5. Akt, 3. Szene. Arbery: a. a. O., S. 244f. GBA 3, S. 42f. Vgl. zur Unterscheidung eines Theaters der Fabel und eines Theaters des Gestus bei Brecht auch den Beitrag „Fabel-Haft“ im vorliegenden Buch.

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Wie komme ich, ein Mann aus Augsburg mit vielfachen Gaben, die Welt zu sehn und darzustellen, auf diese Märkte, Cafés und Amüsierbuden, und unter solche Menschen? Vierzig Jahre und mein Werk ist der Abgesang des Jahrtausends. Ich habe die Liebe zu den Untergehenden und die Lust an ihrem Untergang. Es gibt wenige, die untergehen können, die mit Haut und Haaren aus den Fugen gehen, mit zerschmetterten Händen hinauskriechen. Die Mehrzahl verreckt in Vereinen. Stirbt wie eine Ratte, hört einfach auf. Bleibt eine Ratte, funktioniert nur immer. Ich mache / Keinen Krieg mehr, sondern ich gehe / Jetzt heim gradewegs, ich scheiße / Auf die Ordnung der Welt, ich bin / Verloren. Unsere Klassiker haben ihre Werke nicht dazu geschrieben, daß der Betrieb des Augsburger Stadttheaters fortgeführt werden kann. Ich bin Stückeschreiber. Eigentlich wäre ich gern Tischler geworden, aber damit verdient man natürlich zu wenig. Aber dann in die Literatur eintretend, kam ich über eine ziemlich nihilistische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft nicht hinaus. Durch die Ungunst der Zeit / Und durch das Festhalten an Idealen / Bin ich mit meiner Kunst in die Klemme geraten. Ich habe mich schwer an die Städte gewöhnt. Ich hatte kein Geld und zog immerzu um. Als ich später etwas Geld hatte, wollte ich alles kaufen. Der erste Bedarfsgegenstand, den ich kaufte, war eine Axt. Um sie als Axt zu gebrauchen, hätte man sie schleifen lassen müssen. Ich benutzte sie also zum Einschlagen von Nägeln, und dazu war sie zu groß. Wie man merkt, kaufte ich auch Nägel. Langsam, jedoch unaufhaltsam, wurde das Problem der Städte lösbar. Schweig! / Was, meinst du, ändert sich leichter / Ein Stein oder deine Ansicht darüber? Ich bin immer gleich gewesen. Ebenso kalt wie der Wind ist die Lehre ihm zu entgehen. Er prüft jedes Wort wie ein schwarzes Gewässer / Ob es seicht und warm genug ist für ihn. Die Sprache ist dazu da, um die Taten zu verurteilen. Dies ist ihre einzige Rolle. Aber sie füllt sie nicht einmal aus. Welcher von uns stirbt, was gibt der auf? Der gibt doch nicht nur seinen Tisch oder sein Bett auf! Wer von uns stirbt, der weiß auch, ich gebe auf, was da vorhanden ist, mehr als ich habe, schenke ich weg. Wer von uns stirbt, der gibt die Straße auf, die er kennt, und auch, die er nicht kennt. Die Reichtümer, die er hat, und auch, die er nicht hat. Die Armut selbst. Seine eigene Hand. Ich sah ein großes Herbstblatt, das der Wind / Die Straße lang trieb, und ich dachte: Schwierig / Den künftigen Weg des Blattes auszurechnen! Wer nur schwimmen will im Sommer, für den

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fließt das Wasser nicht. Sich im Gleichgewicht halten, sich anpassen ohne sich aufzugeben: das kann ein Zweck des Philosophierens sein. Wie ein Wasser sich stille hält, damit es vollkommen den Himmel spiegelt, Wolken und überhängende Zweige, auch bewegte Vogelschwärme; wie ein Kreisel sich im Rollen hält, damit er schweben kann, gleichmäßig und seine Farben schön mischend – so kann ein Mensch seine Lage suchen, in der er die Welt spiegelt, sich ihr zeigt und mit ihr auskommt. Wie klar spiegelt sich die Wolke im Wasser? Wann am klarsten? Woher kommt der Zweig, dessen Ursprung sich nicht spiegelt? Was macht der Wind aus über, was der Schlamm unter dem Wasser? Das sind Fragen, die da entstehen. Wo findet der Kreisel Raum, wann am meisten? Welche Schnelligkeit ist die beste? Wie laufen die andern Kreisel? Das sind da philosophische Fragen. Ich glaube nicht, daß ich jemals eine so ausgewachsene Philosophie haben kann wie Goethe oder Hebbel, die die Gedächtnisse von Trambahnschaffnern gehabt haben müssen, was ihre Ideen betrifft. Ich vergesse meine Anschauungen immer wieder, kann mich nicht entschließen sie auswendig zu lernen. Rechnet! / Rechnet mit Fatzers Zehngroschen-Ausdauer / Und Fatzers täglichem Einfall! / Schätzt ab meinen Abgrund / Setzt für Unvorhergesehenes fünf / Behaltet von allem, was an mir ist / Nur das Nützliche. / Der Rest ist Fatzer. Meine Liebe zur Klarheit kommt von meiner so unklaren Denkart. Ich wurde ein wenig doktrinär, weil ich dringend Belehrung brauchte. Beauftragt von den Morgigen, war ich / Einverstanden mit morgen. / Aber / Auf den Zuschauenden habe ich keinen Zwang ausgeübt. / Er war nicht ich, ich war nicht er. Oft wundere ich mich selber, daß mein Gedächtnis so schwach ist. Alle meine Angelegenheiten, auch die gefährlichsten, vergesse ich umgehend. Selbst die Geliebte meiner Jugend, der ich sehr zugetan war und die mir wegen einer merkwürdigen Gleichgültigkeit meinerseits entglitt, kommt mir heute in der Erinnerung vor wie die Gestalt in einem Buche, das ich gelesen habe. Man muß loskommen von der großen Geste des Hinschmeißens einer Idee, des „Nochnicht-Fertigen“, und sollte hinkommen zu dem Hinschmeißen des Kunstwerkes, der gestalteten Idee, der größeren Geste des „Mehr-als-Fertigen“. Schon wieder abbröckelnd, schon wieder verblassend, hingehend, lieblich ausweichend, leicht gefügt, nicht sorgfältigst gesammelt, gepreßt, erschwitzt, versichert! Saßen jemals etwa sechs Troglodyten auf einem Ast und fragten: „Wo bleibt das Kunstwerk?“ Eher doch war es einer von ihnen, der eines Tages sagte: „Hier ist es“, und sich Zuschauer suchte. Was wir aber den Alten vorwerfen, ist, daß ihnen ihre Arbeit nicht genug Spaß macht. Wobei gleich gesagt werden muß, daß Spaß am Erfolg nicht Spaß an der Arbeit und Späßchen überhaupt nicht Spaß ist. Alt ist zum Beispiel auch

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einer, der Spaß und Ernst als Gegensätze empfindet. Es wird immer so sein, daß die jungen Leute, denen Theaterspielen Spaß macht, damit anfangen, die letzten Dinge darstellen zu wollen und lieber auf der Bühne sterben als ein Glas Wasser über die Bühne tragen wollen. Laß es dir sagen: du bist / Das fünfte Rad / Denke nicht, ich, der ich’s dir sage / Bin ein Schurke / Greife nicht nach dem Beil, sondern greife / Nach einem Glas Wasser. Aber damals blieben alle / In Mahagonnys Pokerdrinksaloon / Sie verloren in jedem Falle / Doch sie hatten was davon. Wenn sie noch etwas sagen wollen, dann / Sagen Sie es mir, ich vergesse es. DIE VIER AGITATOREN Bei der Kürze der Zeit fanden wir keinen Ausweg. / Wie das Tier dem Tiere hilft / wünschten auch wir uns, ihm zu helfen, der / mit uns gekämpft für unsere Sache. / Fünf Minuten im Angesicht der Verfolger / dachten wir nach über / eine bessere Möglichkeit. / Auch ihr denkt jetzt nach über / eine bessere Möglichkeit. Pause. DER VIERTE AGITATOR der zuletzt den jungen Genossen dargestellt hat: Also beschlossen wir: jetzt / abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper. / Furchtbar ist es, zu töten. / DER KONTROLLCHOR So war es kein Urteil? DIE VIER AGITATOREN sehr laut: Nein! Eine Maßnahme! Ich habe immer, wenn ich Leute sah, die vor Schmerz oder Kummer die Hände rangen oder Anklagen ausstießen, gedacht, daß diese den Ernst ihrer Situation gar nicht in seiner ganzen Tiefe erfaßten. Denn sie vergaßen vollständig, daß nichts half, es war ihnen noch nicht klar, daß sie von Gott nicht nur verlassen oder gekränkt waren, sondern daß es überhaupt keinen Gott gab und daß ein Mann, der, allein auf einer Insel, Aufruhr macht, wahnsinnig sein muß. Ihn aber führten seinesgleichen zur Wand jetzt / Und er, der es begriff, begriff es auch nicht. Wenn der Sinn für Literatur in einem Menschen sich erschöpft, ist er verloren; denn ein Gebildeter interessiert sich angesichts aller menschlichen Ereignisse immer nur für ihre literarische Aufmachung, ihren Stil, ihre Ethik, die Geschliffenheit ihrer Pointe oder die Brutalität ihres Raffinements. Ein Mann mit einer Theorie ist verloren. Er muß mehrere haben, vier, viele! Er muß sie sich in die Taschen stopfen wie Zeitungen, immer die neuesten, es lebt sich gut zwischen ihnen, man haust angenehm zwischen den Theorien. Dieses oberflächliche und neuerungssüchtige Gesindel / Das seine Stiefel nicht zu Ende trägt / Seine Bücher nicht ausliest / Seine Gedanken wieder vergißt / Das ist die natürliche Hoffnung der Welt. / Und wenn sie es nicht ist / So ist alles Neue / Besser als alles Alte. In mir wächst ein Gefühlchen gegen die Zweiteilung (stark – schwach; groß – klein; glücklich – unglücklich; ideal – nicht ideal). Es ist doch nur, weil die Leute nicht mehr als zwei Dinge denken können. Mehr geht nicht in ein Spatzengehirn. Aber das Gesündeste ist doch einfach: lavie-

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ren. Da ist kein Fluß mehr. So / Soll dieser Fatzer auch kein besserer oder schlechterer Fatzer / Sein, sondern es soll / K e i n Fatzer mehr sein / Damit auch dieser Erd ein Zeichen ist / Errichtet in Kümmerlichkeit, drum statt eines Steins / Von riesigem Umfang nur ein Loch geworden / Aber doch ein Zeugnis dafür, daß auch / In finsterer Zeit schwarz schwarz war und weiß weiß. Fast alle bürgerlichen Institutionen, fast die ganze Moral, beinahe die gesamte christliche Legende gründen sich auf die Angst des Menschen, allein zu sein, und ziehen seine Aufmerksamkeit von seiner unsäglichen Verlassenheit auf dem Planeten, seiner winzigen Bedeutung und kaum wahrnehmbaren Verwurzelung ab. Die Tragödie basiert auf bürgerlichen Tugenden, zieht daraus ihre Kraft und geht ein mit ihnen. Es hat keinen Sinn, einen Heiligen zu räuchern, ohne an irgendwelche Götter zu glauben. DER LEITER DES PARTEIHAUSES gibt ihnen Masken, sie setzen sie auf. Dann seid ihr von dieser Stunde an nicht mehr Niemand, sondern von dieser Stunde an und wahrscheinlich bis zu eurem Verschwinden unbekannte Arbeiter, Kämpfer, Chinesen, geboren von chinesischen Müttern gelber Haut, sprechend in Schlaf und Fieber chinesisch. Was ich nicht gern gesteh: grade ich / Verachte solche, die im Unglück sind. Es gibt welche, die gut leiden können. Ich kann besser klagen, oder ich bilde es mir wenigstens ein. Die Klage muß von denen erhoben werden, die am wenigsten leiden. Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten. In ihnen ist die Sprechweise des Verfassers enthalten, eines wichtigen Menschen. ANDREA außerstande zu gehen: Hinsichtlich Ihrer Einschätzung des Verfassers, von dem wir sprachen, weiß ich Ihnen keine Antwort. Aber ich kann mir nicht denken, daß Ihre mörderische Analyse das letzte Wort sein wird. GALILEI Besten Dank, Herr. Er fängt an zu essen. VIRGINIA Andrea hinausgeleitend: Wir haben Besucher aus der Vergangenheit nicht gern. Sie regen ihn auf. Andrea geht. Virginia kommt zurück. GALILEI Hast du eine Ahnung, wer die Gänse geschickt haben kann? VIRGINIA Nicht Andrea. GALILEI Vielleicht nicht. Wie ist die Nacht? VIRGINIA am Fenster: Hell.

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NACHWEIS -

Publikationsnachweis „Schlaglichter auf den anderen Brecht“, erstmals erschienen in: Marc Silberman (Hg.): The other Brecht I, Madison 1992, S. 1–14. „Text und Erfahrung“, erstmals erschienen in: Hans-Thies Lehmann: Subjekt und Sprachprozesse in Bertolt Brechts Hauspostille (1927), Berlin 1978, S. 161–193. „Der Schrei der Hilflosen“, erstmals erschienen in: Hans-Thies Lehmann: Subjekt und Sprachprozesse in Bertolt Brechts Hauspostille (1927), Berlin 1978, S. 40–69. „Das Subjekt der Hauspostille“, erstmals erschienen in: Hans-Thies Lehmann: Subjekt und Sprachprozesse in Bertolt Brechts Hauspostille (1927), Berlin 1978, S. 194–226. „Das Neue und der Genuss – Mahagonnygesänge“, erstmals erschienen in: Hans-Thies Lehmann: Subjekt und Sprachprozesse in Bertolt Brechts Hauspostille (1927), Berlin 1978, S. 138–160. „Fabel-Haft“, erstmals erschienen in: Virginia Cisotti/Paul Kroker (Hrsg.): Poesia e politica Bertolt Brecht a 100 anni dalla nascita, Mailand 1999, S. 13–26. „Die Rücknahme der Maßgabe“, erstmals erschienen in: Franz Norbert Mennemeier/Erika Fischer-Lichte (Hg.): Drama und Theater der europäischen Avantgarde, Tübingen/Basel 1994, S. 103–120. „Versuch über Fatzer“, erstmals erschienen in: Hans-Thies Lehmann: Das Politische Schreiben, Berlin 2002, S. 296–306. „Adornos Brecht“, erstmals erschienen in: Marcus Quent/Eckardt Lindner (Hg.): Das Versprechen der Kunst. Aktuelle Zugänge zu Adornos ästhetischer Theorie, Berlin/Wien 2014, S. 199–202. „‚Sie werden lachen: es muß systematisch vorgegangen werden‘ – Bloch und Brecht“, erstmals erschienen in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text+Kritik. Sonderband Ernst Bloch, München 1985. „Chroniken: unheroische Dokumente“, erstmals erschienen in: Hans-Thies Lehmann: Subjekt und Sprachprozesse in Bertolt Brechts Hauspostille (1927), Berlin 1978, S. 106–137. „Das vergessene Vergessen“, erstmals erschienen in: Hans-Thies Lehmann: Subjekt und Sprachprozesse in Bertolt Brechts Hauspostille (1927), Berlin 1978, S. 106–137. „Das Schwimmgedicht“, erstmals erschienen in: Hans-Thies Lehmann/Helmut Lethen (Hg.): Text und kollektives Lesen. Bertolt Brechts „Hauspostille“, Stuttgart 1978, S. 146–172. „Sexualität: ein ‚Furchtzentrum‘“, erstmals erschienen in: Hans-Thies Lehmann: Das Politische Schreiben, Berlin 2002, S. 284–295. „Den Tod sterben“, erstmals erschienen in: Jürgen Hillesheim (Hg.): Brecht and Death, Madison 2007, S. 176–187. „Brechtblock“, erstmals erschienen in: The Drama Review, 43.3, 1999, S. 50–52.

Rechtenachweis Textauszüge aus: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag.

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Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 1–30, Frankfurt a. M. 1988–2000. Bertolt Brecht: Große Berliner Ausgabe. Bd. 1–30, Berlin 1988–2000. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 1–20, Frankfurt a. M. 1967f.


Foto privat

KURZBIOGRAFIE -

Hans-Thies Lehmann, Professor für Theaterwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (emeritiert); Präsident der Internationalen Brecht Gesellschaft; Vorstandsmitglied der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft; Editorial Board der Zeitschrift Performance Research; 1982–87 Mitarbeit am Aufbau und Lehrtätigkeit am Studiengang Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-LiebigUniversität Gießen; Aufbau des Studiengangs Dramaturgie der GoetheUniversität Frankfurt am Main; zahlreiche internationale Lehrtätigkeiten. Publikationen (Auswahl): Theater und Mythos (1991); Postdramatisches Theater (in 25 Sprachen übersetzt) (1999); Das Politische Schreiben (2002); Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2004, Mit-Hg.); Theater in Japan (2006, Mit-Hg.); Tragödie und dramatisches Theater (2013). Zahlreiche Publikationen zu Brecht, zum Gegenwartstheater und zur Theorie und Ästhetik des Theaters.

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Darstellende Künste im öffentlichen Raum Christoph Nix . Theater_Macht_Politik Henning Fülle . Freies Theater Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig Hans-Thies Lehmann . Brecht lesen Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 Momentaufnahme Theaterwissenschaft Leipziger Vorlesungen Kathrin Röggla . Die falsche Frage Vorlesungen über Dramatik Auftreten . Wege auf die Bühne FIEBACH . Theater. Wissen. Machen Die Zukunft der Oper zwischen Hermeneutik und Performativität Parallele Leben . Ein Dokumentartheaterprojekt Dokument, Fälschung, Wirklichkeit Dokumentarisches Theater Reenacting History: Theater & Geschichte Horst Hawemann . Leben üben – Improvisationen und Notate Roland Schimmelpfennig . Ja und Nein Vorlesungen über Dramatik Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit Wie? Wofür? Wie weiter? Ausbildung für das Theater von morgen Theater im arabischen Sprachraum Ernst Schumacher . Tagebücher 1992 – 2011 Lorenz Aggermann . Der offene Mund Rainer Simon . Labor oder Fließband? Rimini Protokoll . ABCD Dirk Baecker . Wozu Theater? Das Melodram . Ein Medienbastard Magic Fonds – Berichte über die magische Kraft des Kapitals Heiner Goebbels . Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater Wolfgang Engler . Verspielt Essays und Gespräche Ästhetik versus Authentizität? Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung Adolf Dresen . Der Einzelne und das Ganze Dokumentation Performing Politics . Politisch Kunst machen nach dem 20. Jh. Vorträge Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm Einfachheit & Lust & Freiheit Essays Hold it! . Zur Pose zwischen Bild und Performance Essays Populärkultur im Gegenwartstheater Essays Macht Ohnmacht Zufall Essays Wolf-Dieter Ernst . Der affektive Schauspieler B. K. Tragelehn . Der fröhliche Sisyphos Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters Essays Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch Die Kunst der Bühne – Positionen des zeitgenössischen Theaters Essays Woodstock of Political Thinking . Zwischen Kunst und Wissenschaft Essays Falk Richter . TRUST Inszenierungsdokumentation Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Diskussionen Frank Raddatz . Der Demetriusplan Essay Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute Aufsätze per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Essays


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Reality Strikes Back II – Tod der Repräsentation Aufsätze und Diskussionen Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Aufsätze Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur Brecht-Tage 2008 Sabine Kebir . „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht Theater in Japan Aufsätze Vasco Boenisch . Krise der Kritik? Anja Klöck . Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Essays Elisabeth Schweeger . Täuschung ist kein Spiel mehr Aufsätze Helene Varopoulou . Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater Kleist oder die Ordnung der Welt Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Essay und Gespräch Martin Maurach . Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 – 1945 Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Essays Angst vor der Zerstörung Tagungsbericht Joachim Fiebach . Inszenierte Wirklichkeit Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Vorträge und Diskussion Sabine Schouten . Sinnliches Spüren Thomas Flierl . Berlin: Perspektiven durch Kultur Aufsätze Benjamin Wihstutz . Theater der Einbildung Sire, das war ich – Zu Heiner Müllers Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Werkbuch Friedrich Dieckmann . Bilder aus Bayreuth Essays Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Aufsätze Stefanie Carp . Berlin – Zürich – Hamburg Essays Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Tagungsdokumentation Politik der Vorstellung . Theater und Theorie B. K. Tragelehn . Roter Stern in den Wolken Theater in Polen . 1990 – 2005 Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Vorträge und Diskussionen VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze Carl Hegemann . Plädoyer für die unglückliche Liebe Aufsätze Johannes Odenthal . Tanz Körper Politik Aufsätze Gabriele Brandstetter . BILD-SPRUNG Aufsätze Die Lücke im System . Zu Heiner Müllers Stück Philoktet Werkbuch Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Vorträge und Diskussionen Falk Richter – Das System Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“ Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Aufsätze Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Manifeste europäischen Theaters Theatertexte von Grotowski bis Schleef Hans-Thies Lehmann . Das Politische Schreiben Essays Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Vorträge und Diskussionen Friedrich Dieckmann . Die Freiheit ein Augenblick Aufsätze Gerz . Berliner Ermittlung Inszenierungsbericht Jost Hermand . Brecht-Aufsätze Martin Linzer . „Ich war immer ein Opportunist…“ Gespräche Zersammelt – Die inoffizielle Literaturszene der DDR Vorträge und Diskussionen Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Vorträge und Diskussionen Adolf Dresen . Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Aufsätze Maßnehmen . Zu Brechts Stück „Die Maßnahme“ Vorträge und Diskussionen

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Der bedeutende Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann hat sich jahrzehntelang mit Bertolt Brecht beschäftigt. Der Theaterautor und Theaterdenker steht im Zentrum der hier versammelten Essays. Sie wollen immer noch virulente Vorurteile über Brecht revidieren und einen „anderen“ Brecht jenseits der politischen, literarischen und theaterästhetischen Klischees sichtbarer werden lassen. Neben der Praxis und Theorie des epischen Theaters werden die sogenannten Lehrstücke, zumal ihr Potential für das Theater der Zukunft erörtert. Ausführlich wird die Lyrik einbezogen, die oft ein neues Licht auf die Theatertexte wirft. Weitere Untersuchungen gelten den Verbindungslinien des Werks zu Autoren wie Beckett, Celan, Adorno, Benjamin und Althusser, zentralen Motiven Brechts wie Tod, Vergessen und Verausgabung sowie Brecht dem Bearbeiter und der Brechtrezeption.

ISBN 978-3-95749-079-7

www.theaterderzeit.de


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