Theater in der Provinz

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Theater in der Provinz KĂźnstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm Wolfgang Schneider, Katharina M. SchrĂśck und Silvia Stolz (Hg.)



Theater in der Provinz


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Theater in der Provinz Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm Herausgegeben von Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz Recherchen 146 © 2019 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Gestaltung: Sibyll Wahrig Umschlagabbildung: Meltem Balkaya (www.meltembalkaya.com) Printed in Germany ISBN 978-3-95749-195-4 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-245-6 (ePDF) ISBN 978-3-95749-246-3 (EPUB)


Theater in der Provinz KĂźnstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm

Wolfgang Schneider, Katharina M. SchrĂśck und Silvia Stolz (Hg.)

Recherchen 146


Inhalt

Vorwort -

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IMPULSE ZUR KULTUR IM LÄNDLICHEN RAUM Beate Kegler Künstlerische Vielfalt als Praxis Theaterkultur im ländlichen Raum Thomas Renz Kulturelle Teilhabe als Programm Theaterpolitik für Partizipation Katharina M. Schröck Die Zukunft der Landesbühnen Neue Formate in den Darstellenden Künsten Silvia Stolz Traditionen auf dem Prüfstand Veranstalter und Anbieter im Gastspieltheater -

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REFLEXIONEN ZUM THEATER IN DER PROVINZ Wolfgang Schneider Kartografie und Konzeption der Theaterlandschaft neu denken Ein Plädoyer für die Provinz Julius Heinicke Freiräume für Kooperationen Aufbruchsstimmung im Theater der Provinz Manfred Jahnke Paradigmenwechsel in der Provinz Perspektiven für die Theaterlandschaft Lena Düspohl, Thilo Grawe, Merle Mühlhausen und Antonia Rehfueß Lagerfeuer, Leuchtturm, Silbersee Das Memminger Glossar zum Theater in der Provinz -

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DISKURSE DER AKTEURE ZUM THEATER DER REGION Holger Bergmann Das Theater der Landschaften Betrachtungen eines Phänomens Kraftwerk der Zivilgesellschaft Henning Fülle im Gespräch mit Reinhard Simon und André Nicke von den Uckermärkischen Bühnen Schwedt

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Inhalt

Aus der Provinz agieren 124 Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz im Gespräch mit Stefan Hallmayer und Simone Haug vom Theater Lindenhof in Melchingen. Bearbeitung von Micha Kranixfeld Vom Drehkreuz des Spielplans und vom Draht zum Publikum 133 Sven Scherz-Schade im Gespräch mit Christian Kreppel, Intendant des Theaters der Stadt Schweinfurt und Präsident der INTHEGA, und Werner Müller, Intendant des Stadttheaters Fürth Ilona Sauer LIGNA auf dem Lande 147 Theatrale Kollaborationen in Prozessen der Transformation POSITIONEN DER PRAXIS IN DER THEATER LANDSCHAFT Naemi Zoe Keuler Das Amateurtheater im ländlichen Raum 160 Eine beobachtende Bestandsaufnahme in Baden-Württemberg Friederike Lüdde Wer mit wem? 175 Das Theater Rudolstadt im polygamen Geflecht der Thüringer Bühnen Micha Kranixfeld Dem Abschweifen nachgeben 185 Die künstlerisch-forschende Raumerkundung von Syndikat Gefährliche Liebschaften Michael Grill Publikumspflege im Wandel 196 Theatergemeinden in der Stadt, in der Provinz, am besten überall Sabine Reich Stadt Land Tanz 205 Das Tanzland durchstreift die Provinz Anna Scherer In der Turnhalle knistert die Spannung 215 Unterwegs mit dem Landestheater Dirk Schröter Spießig und provinziell sind immer nur die anderen 226 Tourneetheater als größte Bühne Deutschlands ANHANG



VORWORT -

Deutschlands Theaterlandschaft ist weltweit einmalig. Sie ist vielfältig und heterogen: Sie ist über drei Jahrhunderte historisch gewachsen – und Reformen sind deshalb längst überfällig. Ausgangspunkt aller Überlegungen für kulturpolitische Perspektiven der Darstellenden Künste sollte künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe sein. Künstlerische Vielfalt ist Völkerrecht, vereinbart von Bund und Ländern über eine Forderung der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung von Diversität kultureller Ausdrucksformen. Kulturelle Teilhabe ist Menschenrecht und die Prämisse der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen. Theater in der Provinz ist, das behaupten wir, zudem ein Auftrag der Kulturpolitik. Theater muss für alle da sein! Wo auch immer Menschen leben, haben sie das Recht auf Zugang. Das ist die Basis von Demokratie. Die Theaterlandschaft, das sind die Stadt- und Staatstheater, die Landesbühnen, die freien Theater, die Amateur- und Tourneetheater. Sie sind die fünf Finger einer Hand, die zusammengehören; die Gastspielhäuser, die Veranstalter*innen und die Theatergemeinden sind die Handinnenfläche, welche die Basis bilden für die Distribution von Theater in der Provinz. Aber: „Gesellschaftliche Diskussionen werden von urbanen Zentren dominiert. Doch mit einem defizitären Blick auf ländliche Regionen zu schauen, kann nicht funktionieren.“ Anna Eitzeroth bringt es auf dem Podium unserer Tagung in Memmingen, „Theater in der Provinz“, auf den Punkt. Der Titel ist Programm, wird aber unterschiedlich interpretiert: Unterstreicht er nicht gerade die Kluft zwischen Metropole und Land, zwischen urbanem, pulsierendem Zentrum und der öden, weiten Fläche? Die Begrifflichkeit polarisiert im Vergleich etwa zu „Theater im ländlichen Raum“. Dabei ist Provinz erst einmal völlig wertneutral und könnte auch positiv konnotiert sein. Aber die Auseinandersetzung um die Provinz zeigt, worum es auch zu gehen hat: um eine Standortbestimmung. Genauer: um eine Positionierung der Akteur*innen, welche die Darstellenden Künste in allen Regionen dieses Landes produzieren, anbieten, veranstalten, vermitteln und nicht zuletzt rezipieren. Theater nicht nur für die, nicht lediglich mit der, sondern in der Provinz, also auch aus ihr heraus, mit ihr verwoben? Diese Überlegung soll den Blick

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Vorwort

weiten, weg von der Betrachtung der Kulturszenen im urbanen Raum, hin zu einer Beobachtung und Reflexion der Strukturen im ländlichen Raum. Eingeladen haben wir die Verbände, die Theater der Provinz möglich machen: den Deutschen Bühnenverein, die Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen, den Bund der Theatergemeinden, den Bundesverband Freie Darstellende Künste und den Bund Deutscher Amateurtheater. All diese unterschiedlichen Stimmen der Theaterlandschaft haben etwas zu sagen und sollen zu Wort kommen, um zusammen zu denken, was zusammengehört, um zu dokumentieren, was ist, und zu debattieren, was sein sollte. Auch wenn von einer Landschaft die Rede ist, der die Idee eines Netzwerks immanent ist, wird schnell deutlich: Die einzelnen Theaterschaffenden scheinen einander nicht immer so zu kennen und sich auch nicht so wohl gesonnen zu sein, wie man vielleicht vermuten könnte. Wir setzen auf die Gemeinsamkeiten, denn beim Kampf um Zuwendungen und Legitimation werden schnell Gräben geschaufelt und die Differenzen gepflegt. Bisherige Diskurse um Tendenzen in den Darstellenden Künsten, über Strukturfragen und -veränderungen konzentrieren sich meist auf die Städte, insbesondere auf die dort vorherrschenden Erscheinungsformen von Theater: Stadt- und Staatstheater und zunehmend die freie Szene stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Forschung. Anstoß für die Tagung in Memmingen, diese Veröffentlichung und die Beschäftigung mit dem Theater in der Provinz sind aktuelle Forschungsansätze am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim: eine Betrachtung der Theaterlandschaft in Hinblick auf Landesbühnen und Gastspielhäuser, kulturpolitische Fragestellungen in Bezug auf die Beauftragung, Eigenheiten und Strukturen eben dieser Theaterinstitutionen, die sonst kaum wahrgenommen werden. Aus diesen Analysen ergaben sich Hypothesen und Überlegungen, die nicht nur einzelne Akteur*innen betreffen, sondern sich klar auf die Landschaft der Darstellenden Künste beziehen und verdeutlichen, dass gerade in der Provinz tatsächlich künstlerische Vielfalt gelebt werden kann. Ausgehend von einem kulturpolitischen Leitbild der flächendeckenden Versorgung mit kulturellen Angeboten und einer Ermöglichung kultureller Teilhabe, ist jedoch auch ein kritischer Blick geboten: Wer erreicht tatsächlich wen mit welchen Programmen? Wer bleibt außen vor? Welche Rolle spielen Kulturvermittlung, kreative Komplizenschaften und faire Kooperationen? Gibt es nur ein Nebeneinanderher oder doch einen Moment des Community-Building am theatralen Lagerfeuer? Blenden die kulturellen Leuchttürme die Umgebung, die

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Vorwort

kleinen, vielleicht bescheideneren Formen der Darstellenden Künste aus? Wie kann die gegenseitige Wahrnehmung gestärkt, wo gemeinsam Zukunftspläne geschmiedet werden? Vielleicht ist ein Zusammenwirken aber auch gar nicht nötig, wenig hilfreich und kontraproduktiv für die eigene kreative Arbeit? Gerade das Theater in der Provinz scheint auch durch seine Vielfältigkeit geeignet zu sein, Baustellen aufzuzeigen, welche die gesamte Landschaft der Darstellenden Künste betreffen. Es kann aktuelle Herausforderungen beschreiben und mögliche Zukunftsszenarien aufzeigen. Denn hier treffen alle und alles aufeinander: professionelle Theater und Breitenkultur, Tourneetheater auf Durchreise, freie Theater, die sich im Dorf „einnisten“, Theaterproduktionen, die sich künstlerisch selbst beauftragt haben, und partizipative Ansätze, welche die Aktivitäten der Menschen vor Ort zu Tage fördern und einbinden wollen. Zugleich sind all diese Formate und Handschriften noch mehr als in den urbanen Strukturen abhängig von Ressourcen: nicht nur von Geld, Räumen und Zeit, sondern in besonderem Maße von Vertrauen, Beziehungen, Konstellationen. Doch es geht nicht nur um Bedingungen und Personal. Schnell werden Überlegungen zu Finanzierungsmodellen zu grundlegenden Fragestellungen: Es gibt zwar eine Theaterförderung, aber wie versteht sich diese als Künstler*innenförderung, wo bleibt die Mobilitäts- oder gar die Publikumsförderung? Und wäre es nicht sinnvoll, neben der Angebots- auch die Teilhabeorientierung als förderungswürdig anzuerkennen? Was ist der Impuls für Kooperationen im ländlichen Raum? Steuert die Förderpolitik die inhaltliche Arbeit? Bestimmt der Auftrag der Kulturinstitutionen das Handeln oder können diese die Freiheiten einer öffentlichen Förderung ausnutzen, um auch im Wald und auf dem Deich experimentelle Formate in das Dorfleben zu implementieren? Doch was, wenn das Dorf gar nicht gewillt ist zu einer Zusammenarbeit? Schließlich hat längst nicht jeder Ort auf die städtischen Künstler gewartet? Und muss wirklich immer jeder partizipativ arbeiten oder darf Publikum auch einfach nur Publikum sein? All diese Fragen, Widersprüche und Potentiale bestimmen den Diskurs und sind auch in diesem Band versammelt. Befragt werden nicht nur Anlässe und Begründungen von Kooperationen oder Projektarbeit, sondern genauso werden die Künste kritisch betrachtet: Theater für ein junges Publikum und zeitgenössischer Tanz scheinen immer noch und überall eine Sonderstellung einzunehmen – zu Recht oder lästiges Vorurteil? Welches Theater für welche Menschen, scheint immer noch die grundlegende Frage zu sein. Verbunden mit der grundsätzlichen Auffassung, dass Theater in der Provinz als ein Auftrag

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Vorwort

der Kulturpolitik zu werten ist. Mit einem kulturpolitischen Blick nähern sich die Autor*innen im ersten Teil der Thematik: „Impulse zur Kultur im ländlichen Raum“ geben Einblicke in aktuelle Forschungen und eröffnen die Diskussion um die Begrifflichkeiten. Beate Kegler und Thomas Renz werfen einen Blick auf den ländlichen Raum und das, was da Provinz heißt. Beate Kegler unter dem Blickwinkel der künstlerischen Vielfalt und Thomas Renz unter dem der kulturellen Teilhabe. Wo hört das Urbane auf und fängt das Rurale an? Welche Bedeutung hat die Zuschreibung von Bezeichnungen auf das Selbstverständnis und die Wahrnehmung? Während Katharina M. Schröck die Perspektive und Bedeutung der Landesbühnen befragt, fokussiert Silvia Stolz auf einen der Akteure des Theaters der Provinz und der Distribution: die Gastspielhäuser. Im zweiten Teil bilden Reflexionen zum Theater in der Provinz und zur Tagung in Memmingen den Weg in die Praxis. Wolfgang Schneider diskutiert den Anspruch der demokratischen Teilhabe und plädiert für ein Theater der Provinz, weil es so in den Darstellenden Künsten zu Grenzüberschreitungen kommen müsse. Strukturen von gestern gelte es zu reformieren, öffentliche Förderung dürfe dabei gerne auch auf konzeptionellen Überlegungen basieren, könne sich als Risikoprämie verstehen, um Standortsensibilitäten zu ermöglichen. Julius Heinicke nimmt eine Aufbruchstimmung in der Provinz wahr, deren Basis auch Kooperationen sind. Manfred Jahnke fragt nach der Zukunft des Theaters in der Provinz und Lena Düspohl, Thilo Grawe, Merle Mühlhausen und Antonia Rehfueß legen mit ihrem Glossar zum Theater in der Provinz einen terminologischen Grundstein für den Diskurs. Im dritten Teil widmen sich Akteure des Theaters in der Provinz diskursiv der Thematik. Holger Bergmann wirft einen Blick auf das Phänomen Landschaftstheater und die Form des Jahrmarkttheaters. Henning Fülle spricht mit dem Intendanten der Uckermärkischen Bühnen Reinhard Simon und seinem Nachfolger André Nicke über die Anforderungen und die Veränderungen der Bühne in und um Schwedt. Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz diskutieren mit Stefan Hallmayer und Simone Haug über die Anforderungen eines Regionaltheaters auf der Schwäbischen Alb. Sven Scherz-Schade nähert sich im Interview mit Christian Kreppel, Präsident der INTHEGA, und Werner Müller, dem Intendanten der Fürther Bühne, den Gastspieltheatern und Ilona Sauer spürt den theatralen Kollaborationen der Künstlergruppe LIGNA auf dem Land nach. Die abschließenden Beiträge im vierten Teil geben Einblicke in die tatsächlich gelebte Theaterarbeit und zeigen unterschiedliche Positionen und die Vielfalt in der Provinz. Naemi Zoe Keuler weiß die Potentiale

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Vorwort

von Amateurtheatern zu pointieren, während Friederike Lüdde über das Theater Rudolstadt im Geflecht der Thüringer Bühnen schreibt. Micha Kranixfeld äußert sich zu Erfahrungen des Syndikats Gefährliche Liebschaften in ländlichen Gebieten. Michael Grill bringt die Position und die Herausforderungen der Theatergemeinden näher, Sabine Reich berichtet über das Projekt Tanzland der Bundeskulturstiftung. Anna Scherer schreibt von den Besonderheiten des Lebens und Spielens an der Burghofbühne Dinslaken, insbesondere an den Gastspielorten. Und Dirk Schröter berichtet über seine Erfahrungen mit dem Tourneetheater. Mögen die Diskurse zum Theater in der Provinz zur Reform der Theaterlandschaft beitragen und ein Umdenken sowie einen Umbau in der Kulturpolitik initiieren. Die Darstellenden Künste entwickeln sich im Prozess gesellschaftlicher Transformationen, die Praxis braucht aber perspektivisch auch strukturelle Veränderungen – mit dem Ziel: mehr Theater für mehr Menschen!

Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz März 2019

In dieser Publikation wurde die jeweilige Autorschaft bei den einzelnen Texten dahingehend berücksichtigt, dass bei jedem Artikel der jeweils gewählte Umgang mit den Geschlechterbezeichnungen nicht durch die Herausgeber angepasst wurde; lediglich die Darstellung wurde durch die Verwendung des Gendersternchens vereinheitlicht. Bei manchen Beiträgen wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf eine geschlechterspezifische Differenzierung verzichtet und das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.

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IMPULSE ZUR KULTUR IM LÄNDLICHEN RAUM


Beate Kegler

KÜNSTLERISCHE VIELFALT ALS PRAXIS Theaterkultur im ländlichen Raum -

Gut zwei Stunden unterhielten die bestens präparierten Laien ihre gut gelaunten Zuschauer auf der Freilichtbühne.1 Das Theaterangebot wird vor allem durch Gastspiele getragen, deren Spielorte überwiegend der Bürgersaal des FZB und der Theeshof sind. Im Ort gibt es darüber hinaus die Laienspielgruppe des Verkehrsvereins Schneverdingen e. V., welche beim Festspiel des Heideblütenfestes auf der Höpen-Bühne auftritt.2 Eine Gruppe darstellender KünstlerInnen aus dem Wendland schloss sich 2011 zusammen, um die Region mit bunten, lebendigen und qualitativ hochwertigen Theaterinszenierungen zu bereichern. Gemeinsam gründeten sie daher die Freie Bühne Wendland.3 Diese und ähnliche Zitate machen deutlich: Theaterkultur im ländlichen Raum ist Breitenkultur, Event-, Hoch- und Soziokultur. Die Akteur*innen kommen aus urbanen und ländlichen Räumen, vereinen hochkulturelle Professionalität und breitenkulturelles Expert*innentum. Woran sich die Qualität von Theater im ländlichen Raum bemisst, lässt sich auf den ersten Blick schwer definieren. Die Grenzen von Kunst und Kultur sind fließend. Ebenso unklar bleibt, was unter dem Begriff „ländlicher Raum“ zu verstehen ist. Wo beginnt Provinz und wo endet sie? Gibt es allgemein verbindliche Raumordnungskriterien, die festlegen, wann von ländlichem und wann von urbanem Raum gesprochen wird? Ist es eine Frage der Perspektive oder gar der selbstgewählten Zuordnung nach Fördergebieten, die über die Zugehörigkeit zum ländlichen Raum entscheidet? Gibt es ihn überhaupt – den ländlichen Raum? Und letztlich: Warum kann es relevant sein, sich überhaupt mit künstlerischer Vielfalt und Theaterkultur im ländlichen Raum zu beschäftigen? Nix los in der Provinz? Nix los in der Provinz? war schon vor Jahrzehnten der programmatische wie auch provokative Titel einer Publikation der Bundesvereinigung

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Kulturelle Jugendbildung (BKJ), die damals eine erste Positionsbestimmung der Kulturarbeit in ländlichen Räumen wagte4. … auf dem Land: Für den einen klingt es bäuerisch, hinterwäldlerisch, riecht nach Misthaufen, schlecht gemachtem Komödiantenstadl, Posaunenchor und Nachbarschaftsklatsch, für den anderen ist es eine Alternative zu den Schrecknissen des Großstadtdaseins, der Technikeuphorie, der zerstörenden Wohnsilos, klingt nach gesundem Leben, nach Alternativprojekten. Beide Perspektiven stehen der Realität des Landlebens sehr fern.5 Die Formulierung von Dorothea Kolland könnte auch heute noch ähnlich klingen. Begriffe wie „die Provinz“ oder „das Ländliche“ scheinen nach wie vor emotional aufgeladen zu sein. Der Beiklang einer heimattümelnden Rückständigkeit und Weltfremde lässt sich nicht ignorieren. Gleichzeitig erfährt das Bild vom Ländlichen als Sehnsuchtsidyll naturnaher Ursprünglichkeit eine umfassende Renaissance. Bilder verlassener Geisterdörfer peripherer Regionen zeigen den Niedergang der Dörfer, werden aber gleichzeitig zu Ikonen einer Romantisierung des Verfalls.6 Neue Trends wie das Urban Imkering, Urban Gardening und andere Do-it-yourself-Bewegungen beschwören die Qualitäten nachhaltigen Wirtschaftens nach dem Vorbild der einstigen Selbstversorger*innengemeinschaften. Kulturelle Community-building-Trends wie das Rudelsingen oder gemeinsame Kochvergnügen folgen im Urbanen den jahrhundertealten Erfolgsrezepten dörflicher Gemeinwesensmodelle. Neben diesen Bewegungen erschüttert gleichzeitig die Realität des zunehmenden Rechtspopulismus in ländlichen Räumen. Die nationalistischen Parteien finden gerade in den alternden und schrumpfenden Dörfern im Osten Deutschlands ihre meist männliche Anhängerschaft. Auch die Wahl Trumps, der Brexit sowie die Erfolge der Rechtspopulist*innen in immer mehr europäischen Ländern sind vor allem den Stimmen der Wähler*innen ländlicher Wahlkreise zuzurechnen.7 Allerdings sind gerade in ländlichen Räumen zahlreiche Menschen in Vereinen und Dorfgemeinschaften in vielfältiger Weise für das Gemeinwohl von Zugezogenen und Alteingesessenen engagiert und tragen mit ihren Aktivitäten und einer umfassenden Teilhabeorientierung intensiv zur Gestaltung ländlicher Gesellschaft bei. Den ländlichen Raum gibt es nicht! Als messbare Kriterien von Ländlichkeit gelten Einwohner*innenzahlen und demografische Entwicklungsprognosen, Pendelentfernungen und

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Beate Kegler

infrastrukturelle Gegebenheiten, geografische Lage und Flächennutzung sowie diverse andere Faktoren. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) charakterisiert über neunzig Prozent der Fläche Deutschlands als ländliche Räume und stellt fest, dass in ihnen mehr als die Hälfte aller Einwohner*innen im Bundesgebiet beheimatet ist.8 Der ländliche Raum kann als Zuzugsgebiet im Speckgürtel Hamburgs zum kulturellen Hotspot werden, aber auch das Geisterdorf in der Uckermark sein, dessen Leerstände vom Verfall geprägt sind. Er kann im wirtschaftlich stabilen Emsland geprägt sein von überdurchschnittlicher Geburtenrate und geringer Wanderungsdynamik oder wie in den sächsischen Erzgebirgsdörfern betroffen sein von überdurchschnittlicher Bildungswanderung von jungen Erwachsenen und Frauen im erwerbsfähigen Alter. Die Dynamiken und Entwicklungsprognosen sind so vielfältig wie die geografische Lage und die Geschichte und Geschichten der Zugezogenen, Einheimischen und ehemaligen Bewohner*innen der Dörfer und kleinen Städte. Im Zuge der globalen Transformationsprozesse lassen sich umfassende Veränderungsprozesse insbesondere dort feststellen, wo Strecken von mehr als einer Stunde zu Arbeits- und Bildungsorten zurückzulegen sind. Die Folgen von Bildungs- und Arbeitsabwanderung, Alterung, zunehmender Armut und leeren Gemeindekassen machen deutlich, dass die grundgesetzlich verankerte Aufforderung zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (§ 72 GG, Abs. 2) nicht mehr so leicht zu erfüllen ist. Ein immer schnellerer gesellschaftlicher Wandel und vor allem die Abwanderung von impulsgebenden Gestalter*innen und Expert*innen dörflicher Gemeinschaften stellen diese vor immense Herausforderungen. Urbane Agglomerationen dagegen waren seit jeher auf die individuelle Vielfalt ihrer wechselnden Bewohner*innen ausgerichtet. Kleine Sozialsysteme in ländlichen Räumen weisen dagegen Interaktionsbeziehungen und Gestaltungselemente auf, die auf Kontinuität und Identifikation mit dem Wir der Dorfgemeinschaft aufbauen. Wo die Impulsgeber*innen und Netzwerker*innen altern oder das Dorf verlassen, besteht jedoch nur zu leicht die Gefahr, dass Gestaltungskraft und -willen einer zunehmenden Resignation weichen. Die Demografieforschung empfiehlt gerade in diesen Regionen mit Nachdruck die Förderung und Wiederbelebung des traditionellen Miteinanders auf Gegenseitigkeit, die Stärkung dorfübergreifender regionaler und zeitgemäßer Identifikation sowie die Förderung von Kreativpotenzialen und Gestaltungswillen. Kurzum: Die Zukunft der ländlichen Räume ist inzwischen zum Querschnittthema mit transnationaler Relevanz geworden. Zwischen

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Künstlerische Vielfalt als Praxis

emotionaler Aufladung und wissenschaftlicher Analyse scheint „das Land“ die Gesellschaft im Ganzen zu bewegen. Die ländlichen Räume weisen dabei sehr heterogene Bedingungen und Entwicklungen auf, die in enger Wechselwirkung mit der Bedeutung und Situation von Kunst und Kultur jenseits der urbanen Agglomerationen stehen. Von Leuchttürmen und Tiefenbohrungen Ein abwechslungsreiches Kulturprogramm und vielfältige Möglichkeiten der Freizeitgestaltung machen Hinte lebenswert und sympathisch. Kirchen, Vereine und private Initiativen tragen einen großen Anteil daran. […] Ob Sport oder Musik, ob Schützen- oder Boßelverein – das kulturelle Leben in der Gemeinde wäre ohne ihre Beiträge um vieles ärmer.9 Die Vielfalt kultureller Praxis im Dorf wird gesichert durch zivilgesellschaftliches Engagement. Wie viel künstlerische Vielfalt und Theaterkultur sich dahinter verbirgt, mag ein Blick auf die virtuellen Selbstdarstellungen der ländlichen Gemeinden nicht so leicht offenbaren. Zumeist beschränken sich diese auf die Erwähnung historischer Stätten und das mehr oder weniger rege Vereinswesen. Zuweilen geben Auflistungen von Vereinen weiteren Aufschluss über die Vielfalt, häufig informiert ein Veranstaltungsprogramm über das, was die Gemeinden als Kultur- und Freizeitprogramm für erwähnenswert halten. So lädt im Oktober 2018 die oben zitierte Gemeinde Hinte ein zu Oktoberfest und Rassekaninchenschau, zum Vortrag über Schüßlersalze und zum Plattdeutsch-Abend und kündigt das monatliche Kulturstündchen in der historischen Mühle an. Was sich hinter letzterem verbirgt, bleibt rätselhaft. Der dazugehörige Link führt zu einer virtuellen Baustelle10. Ist die künstlerische Vielfalt auf dem Land so verborgen, dass sie auf den offiziellen Bekanntmachungen nur mit stark erweitertem Kunst- und Kulturbegriff erkennbar wird? Wissen die Website-Gestalter*innen nicht, was sich in ihrer Gemeinde künstlerisch-kulturell ereignet? Aus der Ferne betrachtet, scheint es ein herausforderndes Unternehmen, mehr als die Leuchttürme auf dem Land zu sehen. Es drängt sich angesichts der fehlenden Informationen die Vermutung auf, dass die ländlichen Räume in der künstlerisch-kulturellen Diaspora auf eine funktionierende Umlandversorgung urbaner Akteur*innen angewiesen sind. Kaum vorstellbar, dass die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen

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Beate Kegler

auf dem Land ohne eine kulturelle Dauermedikation urbaner Provenienz herstellbar sein könnte. Aber womöglich lässt sich im Schatten oder am Fuße der kulturellen Leuchttürme eine Vielfalt identifizieren, die sich denjenigen erschließt, die bereit sind, feldforschende Tiefenbohrungen in der Provinz auf sich zu nehmen? Gerade in den letzten Jahren entstanden aus genau solchen feldforschenden Expeditionen in die Breite der Kultur- und Theaterlandschaft erste Publikationen und Studien zum Thema. Das Weißbuch Breitenkultur11 zeigt die Entwicklung, kulturpolitische Bedeutung und Vielfalt der engagementbasierten und gesellschaftsgestaltenden Phänomene. Studien zur Lage der Amateurtheater in Niedersachsen12 sowie zur Situation und kulturpolitischen Bedeutung von Freilichtbühnen in Niedersachsen13 und Nordrhein-Westfalen14 nehmen Akteur*innen der Theaterlandschaft ländlicher Räume gezielt in den Blick. Für den europäischen Raum lassen sich darüber hinaus weitere Positionen, Praxisbeispiele und kulturpolitische Handlungsempfehlungen im Sammelband Vital Village identifizieren15. Untersuchungen zur Rolle von Landesbühnen (Dissertation Katharina Schröck, Universität Hildesheim) und Bespieltheatern (Dissertation Silvia Stolz, Universität Hildesheim) werden weitere Erkenntnisse in den wissenschaftlichen Diskurs einspeisen. Diese und andere Tiefenbohrungen machen es deutlich: Einerseits gibt es die entfernten Dörfer, in denen selbst die Freiwillige Feuerwehr, der Fußballverein und die Kirchengemeinde keine Mitglieder mehr aktivieren können und das gemeinschaftsgestaltende Leben nur noch auf die Begegnungen am Gartenzaun oder der einzigen Bushaltestelle im Ort begrenzt sind16. Allerdings findet sich eine Fülle diverser Kulturausprägungen lokaler, regionaler oder urbaner Akteur*innen, die sich je nach Ausrichtung an ein urbanes, lokales oder nicht näher definiertes Publikum wenden, auf angebotsorientierte Teilhabe ausgerichtet sind oder aber in ihrer gesamten Struktur und ihren Aktivitäten auf zivilgesellschaftliche Partizipation einer Kultur für alle von allen ausgerichtet sind. Theaterkultur in ländlichen Räumen ist so vielfältig wie die ländlichen Räume selbst. Auch wenn die infrastrukturellen Gegebenheiten aus Sicht der Staatstheater zuweilen ein herausforderndes Abenteuer darstellen, scheint dies der Theaterbegeisterung der ländlichen Bevölkerung keinen Abbruch zu tun. Ganz grob mag unterschieden werden in Theateraufführungen, die als konsumierbare Angebote durch professionelle Akteur*innen aufs Land gebracht werden – und denjenigen teilhabeorientierten Theaterformen, die durch breitenkulturelle oder soziokulturelle Akteur*innen aus den ländlichen Räumen selbst entstehen. Dazwischen lässt sich die freie Szene verorten, die ihrerseits sowohl aus urbanen Kon-

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Künstlerische Vielfalt als Praxis

Jahrmarkttheater, Jastorf: Einsame Spitze, im Stillen. Foto: Bert Brüggemann

texten das Land bespielt oder auch den Laborraum Land für sich entdeckt hat, zuweilen abzielt auf ein urbanes Publikum oder die Menschen vor Ort zu erreichen versucht, zuweilen auch hier mit partizipativen Formaten experimentierend. Sonderformen wie beispielsweise die Theatergemeinden, die mit ihren Theaterfahrten Landbewohner*innen sowohl die Anreise als auch die Kulturvermittlung zu urbanen Angeboten offerieren, ergänzen das Spektrum der Akteur*innenlandschaft. Freilichtbühnen als Breitenkultur Die etwa 30 Proben auf ihrer „Lieblingsbühne“ seien von Anfang an von großem Eifer getragen gewesen und dementsprechend erfolgreich verlaufen. […] Eine halbe Stunde vor Premierenbeginn herrschte hinter den Kulissen geselliges Treiben. Da wurde vom duftenden Auflauf gekostet, vom Sekt genippt oder ein Jägermeister gekippt. […] Für viele Horn-Badmeinberger ist die Bühne des Freilichttheaters Anlaufpunkt regelmäßiger Besuche. „Wir kommen jedes Jahr her. Es ist herrlich unkompliziert und die Atmosphäre einfach toll“, findet Melanie Plaß. Sie schätzt die lockere Stimmung im Gegensatz zum klassischen Theater17. Lockere Stimmung im Publikum und geselliges Treiben hinter den Kulissen – so und ähnlich lauten zahlreiche Umschreibungen dessen, was im Amateur- und insbesondere im Freilichttheater im ländlichen

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Beate Kegler

Raum die Attraktivität für Publikum und Mitwirkende gleichermaßen darstellt. Auch jenseits von Auflauf, Sekt und Jägermeister gelingt gerade den Freilichtbühnen das, wovon Kunst- und Kulturakteur*innen seit den Zeiten des Shakespeare’schen Globe Theatres in urbanen Räumen längst nicht mehr zu träumen wagen. Wenn das Publikum zum wiederholten Mal kostümiert und singend das Waldgelände der Freilichtbühne betritt und selbst bei strömendem Regen in die Bühnensongs einstimmt, Jung und Alt vor Begeisterung über die Spielideen und die unübersehbare Spielfreude der Akteur*innen begeistert aufspringen, minutenlangen Applaus spenden und noch lange nach der Aufführung mit den Schauspieler*innen oder anderen ehrenamtlichen Akteur*innen auf der Bühne oder am obligatorischen Bratwurststand stehen, wird die Kunstproduktion gleichzeitig zur kulturellen Lebensweltgestaltung. Anders formuliert: Trotz einer miserablen Wetterlage im Sommer 2017, bei der immerhin fast fünfzig Aufführungen an den Naturbühnen abgesagt oder abgebrochen werden mussten, wurden die rund 1700 Aufführungen an den neunzig Bühnen des Verbands Deutscher Freilichtbühnen (VDF) von durchschnittlich 538 Zuschauenden besucht. Viele davon kommen seit Jahren an „ihre“ Bühne, verstehen sich als Teil der Community und besuchen gern auch mehrere Inszenierungen, teilweise sogar mehrere Aufführungen einer Inszenierung im Jahr. Allein in Niedersachsen engagieren sich vor und hinter den Kulissen rund 2400 Menschen an den dortigen 18 Bühnen – generationsübergreifend, unbezahlt und freiwillig. Fünfzig Prozent der Mitwirkenden sind dabei seit mehr als neun Jahren an der gleichen Bühne aktiv, die meisten davon (78 Prozent) sind regelmäßig und während der Saison wöchentlich an der Bühne, davon gehören 31 Prozent zu denjenigen, die mehr als zehn Stunden pro Woche in der Saison aktiv sind. Immerhin zehn Prozent sind das ganze Jahr über mehrmals pro Woche im Einsatz. Auch wenn es nicht zu leugnen ist, dass auch hier die jungen Erwachsenen die Bühnen verlassen, weil Studienplätze nicht am Wohnort zu finden sind, kann von Nachwuchsmangel keine Rede sein. Mit eigenen Kinder- und Jugendensembles oder generationsübergreifender Theaterarbeit und einem hohen Grad an Verantwortung für die Jugendgruppen gelingt es den Bühnen, Partizipation auf allen Ebenen zu leben und mit ihren rein engagementbasierten Organisationsformen lebendige Orte permanenter Gesellschaftsgestaltung im ländlichen Raum zu sein. Die Stücke, die gespielt werden, sind selten spektakuläre Statements innovativer Kunst. Die Qualität bemisst sich weniger an einer Theaterkunst, die „Fragen stellt, uns selbst dazu bringt, Position zu beziehen“18. Gespielt wird, was gefällt, bekannt und beliebt ist. Erwartungshaltungen

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Künstlerische Vielfalt als Praxis

werden eher erfüllt denn gebrochen. Das Publikum soll im besten Fall mitsingen, Tränen lachen, Teil des gemeinsamen Erlebnisses werden und beschwingt nach Hause zurückkehren. Es geht – wie generell in der Breitenkultur – um das „Wir für uns“, um die Selbstverständigung als Community.19 Auch wenn die Freilichtbühnen die „großen Tanker“ unter den Amateurtheatern sind, können ähnliche Phänomene auch an kleineren Bühnen beobachtet werden. Allein die unglaubliche Anzahl existierender Amateurtheater beeindruckt. Das Spiel auf der Bühne scheint letztlich eines der zentralen Elemente von Breitenkultur zu sein, gibt es doch kaum eine ländliche Gemeinde, in der sich keine entsprechende Gruppierung oder Verein findet. Allein in den 943 Gemeinden Niedersachsens konnten rund 1000 sehr unterschiedliche Amateurtheater identifiziert werden.20 Insgesamt sind 200 Bühnen Mitglied im Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT). Rund 120 000 ehrenamtlich Engagierte wirken an diesen Bühnen aktiv mit. Eine ungeheure Zahl, die umso erstaunlicher zu sein scheint, wenn man bedenkt wie wenig kulturpolitische Aufmerksamkeit und fachliche Wertschätzung diesen Akteur*innen zuteilwird. Es gibt zwar mehr als fünfzig Mal so viele Amateurtheater wie Stadttheater, viele davon sind nicht Mitglied des BDAT, aber von den rund drei Milliarden Euro jährlich, die aus öffentlichen Mitteln in die Theaterlandschaft fließen, erhalten die Amateurtheater noch nicht einmal ein Promille.21 Problematisch wird die fehlende kulturpolitische Förderung dort, wo durch gesellschaftliche Transformationsprozesse wie den demografischen Wandel und den Wandel im Ehrenamt der Nachwuchs fehlt oder die Bereitschaft zu überdurchschnittlichem Engagement, wie sie z. B. in Vorstandstätigkeiten gefordert ist, angesichts hoher Belastung durch Pendlerentfernungen oder gestiegene Ansprüche am Arbeitsplatz nicht mehr geleistet werden kann. Problematisch mag es ebenso sein, dass sich die auch in den ländlichen Räumen heterogener werdende Gesellschaft nicht in dieser Vielfalt in den Akteur*innencommunitys wiederfindet und der Blick über den Dorfrand längst nicht überall gegeben ist. Gastspiele der Hochkultur Bei den Gastspielen zeigt sich neben der künstlerischen Qualität auch die Flexibilität des Theaters Schloss Maßbach – Unterfränkische Landesbühne. Nicht nur die unterschiedlichsten Orte werden bespielt,

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Beate Kegler

von Fulda bis Pfronten, von Aschaffenburg bis Fürth, sondern auch die unterschiedlichsten Spielstätten, von Stadttheatern bis hin zu Mehrzweckhallen und Sälen in Kultur- und Gemeindehäusern.22 Die 23 Landesbühnen in Deutschland haben als öffentlich-rechtliche Theaterbetriebe die kulturpolitische Verpflichtung, nicht nur das eigene Haus, sondern vor allem das jeweilige Umland zu bespielen. Mit diesen dezentralen Konzepten soll ein möglichst flächendeckendes Theaterangebot geschaffen werden, das der mangelnden kulturellen Infrastruktur in ländlichen Räumen entgegenwirkt. Allerdings sind auch die Aufführungen der Landesbühnen auf ein Mindestmaß an räumlicher Ausstattung und Zentralität ausgerichtet. Die Bespieltheater, Mehrzweckhallen und Säle finden sich in der Regel in zentralen Klein- und Mittelstädten im Umland der Stammhäuser. Nicht immer scheinen die urbanen künstlerischen Produktionen das Interesse des ländlichen Publikums zu erreichen und längst nicht überall sind die Bespieltheater und anderen Spielstätten für die Bewohner*innen ländlicher Räume aus peripheren Lagen problemlos zu erreichen. Dass überdurchschnittlich wenige Menschen aus den abgelegenen Dörfern das klassische Angebot der Landesbühnen in den Gastspieltheatern und anderen Veranstaltungsräumen nicht besuchen, ist jedoch nicht allein durch eine unzureichende Mobilitätssituation und weite Wege zu begründen. Die Nicht-Besucher*innenstudie von Thomas Renz23 zeigt deutlich, dass in erster Linie der Bildungsgrad und die Milieuzugehörigkeit über Besuch oder Nicht-Besuch entscheiden. Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung besucht Theater eigentlich nie und zeigt auch kein Interesse an anderen Kunstformen. In dieser Gruppe sind überdurchschnittlich viele formal niedrige Bildungsabschlüsse messbar24. So verwundert es nicht, dass gerade in entlegenen ländlichen Räumen mit hoher Bildungsabwanderung und niedrigem Durchschnittseinkommen damit gerechnet werden muss, dass ein auf das klassische bildungsbürgerliche urbane Publikum ausgerichtetes Theaterangebot das eigentliche Zielpublikum nicht erreicht. Glaubt man der örtlichen Presse, kamen etwa 60 Besucher zur Vorstellung – nach der Pause sollen noch elf im Parkett gesessen haben. Intendant Strieb scheint aber derart erschrocken gewesen zu sein, dass er in einer bundesweit wohl einmaligen Art reagierte: Er versprach den enttäuschten Zuschauern die Erstattung des Eintritts-

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Künstlerische Vielfalt als Praxis

Jahrmarkttheater, Wettenbostel: Jahrmarkt der Einsamkeit (Strohbühne). Foto: Bert Brüggemann

preises. In der Peripherie so Theater machen wie in der Stadt: Das war Anspruch der Landesbühne Niedersachsen Nord. Doch der neue Intendant will schlicht mehr Zuschauer.25 Das Ziel, mit Theaterangeboten mehr Zuschauer*innen zu erreichen, wirft Fragen nach möglichen Veränderungen von Theaterformaten, Vermittlungsstrategien und auch inhaltlichen Schwerpunktsetzungen auf. Vielleicht wäre gar ein Blick in die freie und die Amateurtheaterszene zu wagen, die Soziokultur oder auch die Freilichtbühnen nach Gelingensbedingungen zu beforschen, ja, vielleicht gar in lernenden Kooperationen – wie bereits hier und da erfolgreich erprobt – neue Wege einzuschlagen. Im Projekt TRAFO beispielsweise wagte das Landestheater in Tübingen die Kooperation mit freien Künstler*innen und Kollektiven. In experimentellen Formaten begegneten sie wiederum breitenkulturellen Akteur*innen und suchten gemeinsam mit diesen in partizipativen Ansätzen nach künstlerischen Ausdrucksformen und soziokulturellen Ansätzen dorfbezogene Narrative. Aus der Winterlinger Begegnungsstätte wurde wieder ein Schulhaus und zwar ein ganz besonderes: Neue und alteingesessene Gemeindemitglieder wurden zu Akteur_innen ihrer eigenen Geschichten. Das Publikum wandelte wie eine Schulklasse durch die Räume und begegnete Erzählungen von Flucht, Ankommen und der Suche nach einem neuen Gefühl von Heimat.26

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Beate Kegler

In wieweit diese Formate und Kooperation auch nach der Förderperiode weitergeführt und verstetigt werden können, bleibt fraglich. Theater der Soziokultur Die haben hier nicht auf uns gewartet. Da musste viel Zeit mitbringen, Nachbarn kennenlernen, dableiben, mitarbeiten, Schützenfest und so27. Wo Theatermacher*innen der freien Szene das Land entdecken und als Raumpionier*innen dort aktiv werden, sind sie nicht zwangsläufig diejenigen „Kulturbringer*innen“, auf die das Dorf seit langem gewartet hat. Akteur*innen, die den Schritt gewagt haben, haben sich entweder dafür entschieden, den ländlichen Raum unabhängig von den jeweiligen Dorfgemeinschaften als konkurrenzärmeren Freiraum mit preisgünstigeren Lebenshaltungskosten für ihre Kunst zu nutzen oder aber sich intensiv auf das Experiment Kunst/Kultur im Dorf einzulassen. Die Gelingensbedingungen erfolgreicher kultureller (Theater-)Arbeit in ländlichen Räumen lassen sich an diversen Praxisbeispielen nachvollziehen. Insbesondere die Soziokultur in ländlichen Räumen blickt hier zurück auf rund vierzig Jahre Erfahrung in der partizipativen Kulturarbeit in ländlichen Räumen. Da sind z. B. Vera und Peter Henze auf dem Hof Arbste im norddeutschen Niemandsland, irgendwo bei Bremen. Der historische Backsteinhof ist inzwischen nicht nur Wohnort, sondern auch Dorfkulturzentrum. Mit Kund*innen und Mitarbeiter*innen der örtlichen Tafel, Konfirmand*innen der nahegelegenen Kirchengemeinde, Dorfbewohner*innen sowie den Dorfhonoratior*innen spielen sie seit Jahren Theater. Immer wieder ermutigen und befähigen sie das ungewöhnliche Ensemble, das, was die Menschen vor Ort bewegt, auf die Bühne und auf die Straße zu bringen, um so in die Öffentlichkeit hineinzuwirken.28 Im Nordwesten widmet sich die Ländliche Akademie Krummhörn e. V. (LAK) seit fast vierzig Jahren soziokultureller Arbeit in den 19 Dörfern der ländlichen Gemeinde Krummhörn. Auch wenn sich der demografische Wandel in der strukturschwachen Region inzwischen auf Mitgliederschaft und Programm auswirkt, waren noch bis vor wenigen Jahren rund zehn Prozent der Einwohner*innen der Gebietskörperschaft Mitglieder in der LAK. Ein kontinuierliches Angebot in den Bereichen Handwerk, Musik, bildende Kunst, Zirkus, Theater, Tanz und Plattdeutsch wurde von bis zu 800 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen regelmäßig besucht. Darüber hinaus führte der Verein

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Künstlerische Vielfalt als Praxis

diese Gruppen und andere Akteur*innen aus Breitenkultur, Kirchengemeinden und sonstigen Akteur*innenkonstellationen zu großen Musiktheaterproduktionen zusammen. Ungewöhnliche Orchestrierungen von der Handglocke bis zum Bass-Sound des historischen Lanz-Bulldogs lieferten den Sound für die Theaterwerke, die sich häufig um regionalhistorische Themen mit aktuellem Bezug handelten. Theaterstücke und Orchesterwerke wurden jeweils für die aktuellen Besetzungen geschrieben. Stücke wie das Auswanderermusical Achter de Sünn an – der Weg nach Iowa führte die rund 120 Beteiligten nicht nur zur Beschäftigung mit Flucht- und Auswandererschicksalen und der Frage nach dem Umgang mit alten und neuen „Heimaten“, sondern auch mit einer Gastspielreise bis nach Iowa. Bis heute besteht eine aus dieser Theateraktion entstandene lebendige Gemeindepartnerschaft zwischen der amerikanischen Gastgeber*innengemeinde und der Krummhörn.29 Neben diesen beiden Akteur*innen ließen sich zahlreiche andere Beispiele benennen, in denen partizipative Theaterformate zur Entwicklung ländlicher Räume beitragen und künstlerische Vielfalt mit den Menschen vor Ort entstehen lassen. Die heute etwa 300 soziokulturellen Akteur*innen in Deutschland, die sich auf gesellschaftsgestaltende Formate in ländlichen Räumen fokussiert haben, sind ebenso vielfältig wie die ländlichen Räume und ihre Sozialgemeinschaften. Die Schnittstellen zur Breitenkultur sind unübersehbar, auch wenn längst nicht überall ein befruchtendes Miteinander gelingt. Positive Beispiele finden sich vor allem dort, wo die Soziokultur als Impulsgeberin und Netzwerkerin auftritt und sich einlässt auf ein gegenseitiges Kennenlernen von Beziehungsgeflechten und Narrativen des ländlichen Aktionsraums. Soziokulturelle Arbeit gelingt dort, wo sich ihre Akteur*innen Zeit nehmen und mit Humor und Ausdauer gemeinsam mit der Breitenkultur und den sonstigen gemeinwesengestaltenden Akteur*innen und Akteur*innenkonstellationen ausgehend von lokalen Lebensweltbezügen Neues erproben. Die Stärke und gleichzeitig auch einer der wesentlichen Unterschiede zur Breitenkultur besteht im Blick von außen auf die Dorfgemeinschaft(en) und deren gesellschaftliche Transformationsprozesse. Soziokultur bringt in ihren partizipativen Projekten und teilhabeorientierten Angeboten Menschen dorf-, generationsund gern auch spartenübergreifend zu gemeinsamer Aktivität zusammen. In soziokulturellen Projekten – nicht nur in ländlichen Räumen – begegnen sich so Akteur*innen, die mit unterschiedlichen Ideen und Lebensweltbezügen spielerisch Neues erproben, Gestaltungskraft entwickeln und Selbstwirksamkeit erfahren. Gute Voraussetzungen für die Entwicklung derjenigen ländlichen Räume, denen es genau daran fehlt.

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Beate Kegler

Die hier versammelten Beschreibungen einer ländlichen Akteur*innenlandschaft sind letztlich nur Ausschnitte aus dem, was Theater im ländlichen Raum ist und sein kann. Nicht betrachtet wurden hier beispielsweise die theatralen Elemente von Brauchtums- und jahreszeitlichen Festen, die Schultheater, aber auch die kirchlich organisierten Theatergruppen, die zwischen Anspiel im Gottesdienst, Krippenspiel und Musical vielerorts eine weitere Facette künstlerischer Vielfalt und Theaterkultur in ländlichen Räumen darstellen. Was fehlt, ist auch der Rückblick auf die Entstehung ländlicher Theaterkultur als Element der Breitenkultur. Spannend wäre es zudem, in den Blick zu nehmen, wo unterschiedliche künstlerisch-kulturelle Akteur*innen in Kooperationen teilhabeorientierte Formate erproben, die zu zeitgemäßen Narrativen auf dem Land, Blickwechseln und Impulsen zur Gestaltung von Transformationsprozessen führen. Und es bliebe letztlich auch zu fragen, welche Rolle und Verantwortung der Kulturpolitik im Bezug auf die ländliche Theaterarbeit zukommt und mit welchen Maßnahmen die gesellschaftsgestaltenden Impulsgeber*innen sinnvoll unterstützt und nachhaltig begleitet werden könnten.

1

Enders, Gisela: „Freilichtbühne Daverden. Zum Wiehern komisch“, in: Achimer Kurier, 12. August 2018, online abrufbar: www.weser-kurier.de/region/achimer-kurier_artikel,zum-wiehern-komisch-_arid,1757727.html, Zugriff 28. März 2019.

2

Stadt Schneverdingen: Stadtmarketingkonzept der Stadt Schneverdingen, Schneverdingen 2012, online abrufbar: www.schneverdingen.de/Portaldata/38/Resources/stadtmarketing/dokumente/5_Stadtmarketingkonzept_der_Stadt_Schneverdingen_2012.pdf, S. 40, Zugriff 14. Oktober 2018.

3

Region Wendland: Freie Bühne Wendland, online abrufbar: https://regionwendland.de/sehensw%C3%BCrdigkeit/freie-buehne-wendland, 2018, Zugriff 14. Oktober 2018.

4

Vgl. Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hrsg.): Nix los in der Provinz? Kulturarbeit mit Kindern und Jugendlichen auf dem Lande (= Schriftenreihe der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung, Band 3), Berlin 1981.

5

Kolland, Dorothea, in: ebd., S. 6.

6

Vgl. Brandt, Jan: „Bei uns“, in: Deutsche Bahn AG (Hrsg.): Mobil 10/2018, Hamburg 2018, S. 50–52 und Heferle, Stefan; Hüsler, Eugen E.: Geisterhäuser – verlassene Orte in den Alpen, München 2018.

7

Vgl. Schneider, Wolfgang; Kegler, Beate; Koß, Daniela (Hrsg.): Vital Village. Development of Rural Areas as a Challenge for Cultural Policy. Enwicklung ländlicher Räume als kulturpolitische Herausforderung, Hildesheim 2017, S. 357.

8

Vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL): Willkommen im ländlichen Raum, online abrufbar: www.bmel.de/DE/Laendliche-Raeume/Infografiken/_node.html, 2015, Zugriff 14. Oktober 2018.

9

Gemeinde Hinte: Kultur & Freizeit, online abrufbar: www.hinte.de/kultur-freizeit.html, Zugriff 14. Oktober 2018.

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Künstlerische Vielfalt als Praxis

10

Ebd.

11

Schneider, Wolfgang (Hrsg.): Weißbuch Breitenkultur. Kulturpolitische Kartografie eines gesellschaftlichen Phänomens am Beispiel des Landes Niedersachsen, Hildesheim 2017.

12

Götzky, Doreen; Renz, Thomas: Amateurtheater in Niedersachsen. Eine Studie zu Rahmenbedingungen und Arbeitsweisen von Amateurtheatern, Hildesheim 2014.

13

Kegler, Beate: Freilichttheater in Niedersachsen. Studie zur Lage und kulturpolitischen Bedeutung der Freilichtbühnen als breitenkulturelle Akteure, Hildesheim 2018.

14

Kegler, Beate: Freilichttheater in Nordrhein-Westfalen. Studie zur Lage und kulturpolitischen Bedeutung der Freilichtbühnen als breitenkulturelle Akteure, Hildesheim 2018.

15

Vgl. Endnote 7.

16

Kegler, Beate: „Potenzialanalyse/Strukturanalyse. Kulturpolitik und kulturelle Bildung im ländlichen Raum“, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.): Förderpotenziale für die kulturelle Infrastruktur sowie für kulturelle Aktivitäten in ländlichen Räumen. Eine Bestandsaufnahme, Bonn 2015, S. 38.

17

O. A.: „Wiederbelebung der Lachmuskeln. Freilichtbühne Bellenberg startet mit Komödie in die Spielzeit“, in: Lippe aktuell, online abrufbar: www.lippeaktuell.de/content/artikel.php?a=355898&menu=lok, Zugriff 14. Oktober 2018.

18

Scheytt, Oliver: „Wir brauchen Qualität! Theaterpolitik in öffentlicher Verantwortung“, in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2004, Essen, S. 44–50.

19

Vgl. Endnote 13.

20

Vgl. Endnote 11.

21

Schneider, Wolfgang: Festrede zum 125jährigen Jubiläum des BDAT, Berlin 12. Mai 2017.

22

O. A.: Gastspiele, online abrufbar: www.theater-massbach.de/index.php?nav=1&kat=j, Zugriff 14. Oktober 2018.

23

Vgl. Renz, Thomas: „Nicht-BesucherInnen öffentlich geförderter Kulturveranstaltungen. Der Forschungsstand zur kulturellen Teilhabe in Deutschland“, in: kubi-online. Wissenstransfer für Kulturelle Bildung, online abrufbar: www.kubi-online.de/artikel/nicht-besucherinnen-oeffentlich-gefoerderter-kulturveranstaltungen-forschungsstand-zur, Zugriff 14. Oktober 2018.

24

Renz, Thomas: „Theater in der Provinz – Gastspieltheater als Förderer kultureller Teilhabe in ländlichen Räumen. Kulturelle Bildung online“, in: kubi-online. Wissenstransfer für Kulturelle Bildung, online abrufbar: www.kubi-online.de/artikel/theater-provinzgastspieltheater-foerderer-kultureller-teilhabe-laendlichen-raeumen, Zugriff 14. Oktober 2018.

25

Fischer, Jens: „Ein Theater mit Potenzial“, in: die tageszeitung, 5. Mai 2017.

26

O. A.: Theaterwerkstatt Schwäbische Alb. „Schule der Sehnsüchte“ – Ein Winterlinger Stationentheater, online abrufbar: www.landestheatertuebingen.de/Projekte.html?id=127, Zugriff 14. Oktober 2018.

27

Die Autorin im Gespräch mit zugezogener Akteurin eines Künstlerkollektivs im ländlichen Raum, 2016.

28

Vgl. www.landundkunst.de; vgl. Endnote 7, S. 206f.

29

Vgl. www.lak.de.

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Thomas Renz

KULTURELLE TEILHABE ALS PROGRAMM Theaterpolitik für Partizipation -

Partizipation und Teilhabe sind gegenwärtig nur selten hinterfragte Ziele kulturpolitischer Aktivitäten. Keine Theaterintendantin und kein Museumsdirektor kommen mehr umher, die Bedeutung des Publikums für die eigene Arbeit hervorzuheben. Auch in ländlichen Räumen stellen sich Theatermacher*innen regelmäßig die Frage, wer denn die eigenen Angebote nutzt und wer nicht. Ob es dabei Unterschiede zur Teilhabe in urbanen Räumen gibt, will dieser Text erörtern. Dies mündet in der Diskussion möglicher theaterpolitischer Konsequenzen für mehr kulturelle Teilhabe als Programm. Worüber sprechen wir eigentlich, wenn es um Partizipation und Teilhabe geht? Vor allem da diese Phänomene so bemerkenswerte Legitimationsgründe für die Existenz von Kultureinrichtungen darstellen, soll eine erste Differenzierung hilfreich sein, welche die Vielfalt der Dimensionen von Forderungen nach mehr Partizipation deutlich macht.1 Es lassen sich vier unterschiedliche Gründe für ein Streben nach Teilhabe skizzieren. Legitimatorische Gründe verschaffen einem Phänomen wie beispielsweise einer Kunstsparte oder einer Theaterinszenierung Bedeutung. Dies basiert auf dem Paradigma, dass der Wert einer Entscheidung oder eines Phänomens steigt, wenn mehrere Parteien daran beteiligt sind. Eine solche Argumentation kann auch fundamental für eine Forderung nach kultureller Teilhabe sein. Grundlage ist dabei ein Verständnis von Demokratie, wonach diese ohne Partizipation der Bürger*innen nicht funktioniert. Sind wesentliche Teile von politischen Entscheidungsprozessen systembedingt ausgeschlossen, so wäre das wichtigste Kriterium von Demokratie nicht erfüllt und es würden andere Systeme wie z. B. Oligarchien oder Diktaturen entstehen. Ein demokratisches Gemeinwesen hat also ein Interesse daran, die Strukturen so zu gestalten, dass alle Teilnehmer*innen an systemkonstituierenden Prozessen teilhaben können.2 Auch Hilmar Hoffmann verbindet seine Argumentation in „Kultur für alle“ bereits eng mit diesen Gedanken: Demokratie müsse in allen gesellschaftlichen Subsystemen gelebt werden, sonst könne ein demokratischer Staat nicht funktionieren. Er leitet aus dem demokratischen

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Prinzip ein „Gebot der Gesetzmäßigkeit“ ab, wonach kulturpolitische Handlungen „möglichst jedem Menschen den organisatorischen Zugang zu und die rezeptive Teilhabe an den verschiedenen Erscheinungsformen von Kunst zu ermöglichen“3 haben. Ebenfalls wesentliche Grundlage einer solchen „Neuen Kulturpolitik“ ab den 1970er Jahren sind emanzipatorische Gründe für Teilhabe. Jene basieren auf der Annahme, dass Partizipation zur Emanzipation bestimmter Gruppen oder Milieus beiträgt. Emanzipatorische Gründe für Teilhabe finden sich exemplarisch in der Sozial- oder Arbeitspolitik, beispielsweise in der Existenz von Betriebsräten und dem Betriebsverfassungsrecht, das eine Teilhabe von Mitarbeiter*innen eines Betriebs an Unternehmensentscheidungen regelt. In der Kunstproduktion ist diese Dimension nach eher problematischen Versuchen von mehr Mitbestimmung in der Theaterproduktion in den 1970er Jahren4 gegenwärtig beispielsweise in der Existenz von Bürger*innenbühnen festzumachen. Indem die Bürger*innen Teil von künstlerischen Produktionsprozessen im Stadttheater werden, findet auch eine Emanzipation statt.5 Sehr verbreitet sind zudem ökonomische Gründe für Partizipation. Diese gehen von dem betriebswirtschaftlichen Streben nach einer Steigerung der betrieblichen Effizienz aus. Wenn diese z. B. durch Beteiligung der Mitarbeiter*innen erreicht wird, werden – primär durchaus ideologiefrei – Instrumente und Strategien entwickelt, die auf Partizipation setzen. Am populärsten ist dabei im Personalmanagement das „Management by Objectives“, wonach Mitarbeiter*innenführung über gemeinsam vereinbarte Ziele erfolgt und nicht durch hierarchische Anweisungen.6 Auch im Kulturbetrieb sind solche monetär bedingten Gründe für ein Streben nach Partizipation festzustellen. Ganz banal schon in der notwendigen Eigenfinanzierung von Kultureinrichtungen durch Eintrittsgelder. Schließlich lassen sich auch künstlerische Gründe für die Forderung nach mehr Partizipation benennen. Dabei geht es dann um den Einfluss von Teilhabe auf eine künstlerische Produktion, unabhängig von etwaigen legitimatorischen, emanzipatorischen oder ökonomischen Gründen. Im Theater geht es dann darum, wie sich Partizipation auch im Sinne kollektiver Kreativität auf die Inszenierung oder Aufführung auswirkt. Die Einbeziehung von Laiendarsteller*innen in einer Inszenierung hat eine andere ästhetische Qualität, als wenn diese nur mit professionellen Schauspieler*innen erfolgt. Allerdings sind in dieser Dimension einige Differenzierungen nötig. Die einfachste Form ist Teilhabe in der Theateraufführung durch bloße Anwesenheit. Darüber hinaus haben Besucher*innen klassischer Theatervorstellungen nur bedingte Einflussmöglichkeiten auf die Vorstellung, wie beispielsweise Szenenapplaus,

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Buh-Rufe oder vorzeitiges Verlassen. Zudem sind jene Aktivitäten im bildungsbürgerlich geprägten Rezeptionsverständnis auch stark normiert, was beispielsweise an der Unart deutlich wird, zwischen einzelnen Sätzen im klassischen Konzert nicht zu klatschen. Bereits mehr Einflussmöglichkeiten haben Zuschauer*innen, wenn diese als aktive Co-Produzent*innen in eine Inszenierung eingeplant werden. Und zwar nicht nur theoretisch im kulturwissenschaftlichen Sinn als Interpret*innen des Textes, sondern aktiv als Mitgestalter*innen. Auf Ebene der Aufführung ist das beispielsweise in der Inszenierung von Ferdinand von Schirachs Terror zu beobachten. Hier entscheiden die Zuschauer*innen in der Pause über den Ausgang des Stücks durch Abstimmung. Auf Ebene der Inszenierung wird diese Rolle als Co-Produzent*in z. B. in der Arbeit von Bürger*innenbühnen deutlich. Die intensivste Ausprägung von künstlerischer Teilhabe liegt allerdings in der Entscheidung über den Spielplan bzw. das zu spielende Stück. Die Zuschauer*innen werden dann zu Intendant*innen, Dramaturg*innen oder Regisseur*innen. Selbstverständlich gibt es in der jüngeren Vergangenheit einige Negativbeispiele, wie beispielsweise unter der Verwendung von Social Media Theater an einer partizipativen Spielplangestaltung gescheitert sind.7 Aber es gibt auch wunderbare Positivbeispiele, wie die Einbeziehung der Zuschauer*innen in solche Grundsatzentscheidungen zu künstlerisch sehr spannenden Ergebnissen führen. Die Vermessung von Teilhabe Alle diese vier Dimensionen von Gründen nach mehr Partizipation oder Teilhabe vermischen sich in vielen kulturpolitischen und künstlerischen Diskussionen, sollen aber helfen, eben diese und die jeweiligen Hintergründe differenzierter zu betrachten und zu bewerten. Wenn nun Teilhabe als wesentliches kulturpolitisches Ziel betrachtet wird, stellt sich die Frage, wie diese empirisch gemessen werden kann. Denn wenn beispielsweise öffentliche Förderung von Teilhabebemühungen der Geförderten abhängig gemacht wird, muss diese in ihrem quantitativen Ausmaß und ihrem qualitativen Gehalt definiert sein. Die empirische Messung von Teilhabe ist allerdings nicht unproblematisch und bedarf einer wesentlichen Unterscheidung. Hierfür sollen zwei Begriffe aus der Evaluationsforschung eingeführt werden. Letztere beschäftigt sich mit der Frage, nach welchen Kriterien und Verfahren sozialwissenschaftliche Phänomene gemessen werden können. – Output bezeichnet ein unmittelbar quantitativ messbares Ergebnis einer Maßnahme, z. B. die Anzahl der Besucher*innen einer Inszenierung oder der monetäre Gewinn eines Theaters am Ende der

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Kulturelle Teilhabe als Programm

ATZE Musiktheater, Berlin: Die Hühneroper. Foto: Emil Jörg Metzner

Spielzeit. Allein diese Zahlen sagen jedoch noch nichts über die Qualität der Maßnahme. – Outcome bezeichnet die Wirkung einer Maßnahme bei den Beteiligten, z. B. die Verbesserung der Interpretationsfähigkeit von Schüler*innen nach einem Theaterbesuch.8 Outcome-orientierte Teilhabe strebt demnach eine vielschichtige Beteiligung in möglichst vielen Phasen der künstlerischen Produktion an. Die Beteiligung an sich und deren Qualität stehen im Mittelpunkt eines solchen Interesses. Der Erfolg einer partizipativen Maßnahme wird also nicht an den Teilnehmer*innenzahlen gemessen, sondern daran, was diese bei jeder*m schließlich bewirkt hat. Qualität ist jedoch nicht ohne Weiteres messbar – die empirischen Sozial- und Bildungswissenschaften führen schon seit Jahren einen Streit über Grenzen, Sinn und Unsinn von Qualitätsmessung, der an dieser Stelle nicht rezipiert werden muss.9 Es liegt aber nahe, dass es eher schwieriger ist, das zu messen, was eine Theatervorstellung beim Individuum bewirkt. Output-orientierte Teilhabe strebt hingegen primär nach möglichst vielen messbaren Teilhabenden. Dabei zählt primär die Anwesenheit, wie beispielsweise die kulturpolitische Forderung der ASSITEJ deutlich macht: „Ziel ist es, jedem Kind und jedem Jugendlichen in Deutschland die Möglichkeit zu eröffnen, mindestens zweimal im Jahr ein Kinder- und Jugendtheater zu besuchen.“10 Eine solche Forderung beinhaltet keine Qualifizierung des Besuchs und wäre somit durch den Besuch von Feuerwehrmann Sam und einem kitschig-unreflektierten Weihnachtsmusical erfüllt – auch

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Thomas Renz

wenn dies vermutlich nicht die Intention des Verbands gewesen ist. Output ist jedoch messbar. Man kann die Besucher*innen eines Theaters zählen oder durch eine repräsentative Befragung ermitteln, wie viele Kinder im letzten Jahr im Theater waren. Beide Dimensionen – Outcome und Output – müssen sich zudem nicht unbedingt widersprechen. Allerdings können sie in der Praxis vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller Budgets zum Problem werden. Dann kann es um die Entscheidung gehen, ob ein theaterpädagogisches Projekt intensiv und qualitativ tiefgehend für nur weniger Teilnehmende durchgeführt wird oder ob möglichst viele Personen daran teilnehmen können, auch wenn dies eine Einschränkung von Qualitätsbemühungen nach sich zieht. Partizipation in der Provinz Wenn es nun also in diesem Band darum gehen soll, kulturelle Teilhabe am Theater in der Provinz zu diskutieren, scheint es sinnvoll, vor den Diskussionen über die jeweilige Qualität und damit verbunden den individuellen Outcome, den statistischen Blick einzunehmen. Es geht also um die – augenscheinlich einfache – Frage, wie viele und wer wie oft Theater in der Provinz besucht. Augenscheinlich deshalb, weil die Antwort zwei wesentliche Definitionen benötigt: Provinz und Theater. Was ist Provinz? Die Beantwortung dieser Frage ist Voraussetzung für eine etwaige Messung der dortigen Teilhabe. Provinz ist aber ein vieldeutiger Begriff. Er geistert immer wieder durch politische Debatten oder durchs Feuilleton und wird dabei sowohl positiv („ursprüngliches Landleben“) als auch negativ konnotiert („Provinz als zweite Wahl nach der Stadt“). In der statistischen und somit sozialwissenschaftlichen Forschung wird dieser Begriff allerdings nicht oft verwendet und stellt daher kein definitorisch eindeutig abgegrenztes Merkmal dar. Hilfreicher ist hier der Begriff des ländlichen Raums. Ländliche Räume sind geografische Eigenräume, die nicht im Sog eines Ballungsgebiets liegen. Auch bei punktuellen Austauschprozessen mit Großstädten (z. B. durch Zuzug oder Berufspendler*innen) behalten sie ihre soziale und kulturelle Eigenart und eigene Infrastruktur.11 Für die Betrachtung von Theater in solchen Räumen ist eine Differenzierung zwischen dörflichen Strukturen und Mittelstädten hilfreich und nötig. Dörfer zeichnen sich durch quantitativ kleine Bevölkerungszahlen und wenige kommerzielle oder öffentliche Einrichtungen aus. Pendeln zu Arbeits-, Ausbildungsoder Freizeitstätten ist Alltag, der auch nicht infrage gestellt wird. Der formale Organisationsgrad der Zivilgesellschaft ist eher gering, in der Folge gibt es mehr private und nicht-formelle Initiativen (z. B. unverbindliche Nachbarschaftshilfen). Öffentlichkeit wird daher im dörfli-

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Kulturelle Teilhabe als Programm

chen Kontext weniger über Strukturen und mehr über Personen hergestellt.12 Anders als ein solches dörfliches Umfeld zeigen Mittelstädte in ländlichen Räumen an einigen Stellen ähnliche soziokulturelle und wirtschaftliche Strukturen auf wie Großstädte. Allerdings ist die Anzahl der Theater, Händler*innen oder Gastronom*innen quantitativ weitaus geringer, das qualitative Ausmaß auch wesentlicher homogener. Das lässt sich auch durch soziodemografische Merkmale begründen. Es gibt weniger stark ausgeprägte Milieus als in Großstädten, häufig fehlen – für urbane Kultureinrichtungen relevante – Bezugsgruppen, wie z. B. Studierende. Werden nun Theater in solchen Räumen betrachtet, so fällt auf, dass diese – historisch bedingt – institutionalisiert in der Regel in den Mittelstädten zu finden sind und sowohl von den Mittelstadt- als auch den Dorfbewohner*innen besucht werden. Wie ist es nun um die kulturelle Teilhabe in diesen ländlichen Räumen bestellt? Obgleich die empirische Erforschung der kulturellen Teilhabe in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren auch durch ein verstärktes Interesse von Ministerien, Verwaltungen und Verbänden an statistisch belastbaren Zahlen zugenommen hat13, ist keine empirische Studie bekannt, die explizit, deutschlandweit und repräsentativ das Phänomen der unterschiedlichen kulturellen Teilhabe in urbanen wie ländlichen Räumen untersucht. Es existieren einige hilfreiche lokale Studien, beispielsweise zur kulturellen Teilhabe in Niedersachsen, die auch Aussagen zur unterschiedlichen Theaterbesuchsfrequenz von Stadt- und Landbewohner*innen zulassen.14 Zudem haben Studien zur Breitenkultur15, zum Kinder- und Jugendtheater16, zum Amateurtheater17 oder zu Theater in lokal begrenzten Räumen18 in der Vergangenheit punktuell Phänomene von Theater in ländlichen Räumen beschrieben und analysiert, ohne jedoch empirisch Besucher*innenzahlen zu messen. Aus diesen und über die bekannten empirisch-quantitativen Studien zur kulturellen Teilhabe in Deutschland lassen sich einige allgemeine Aussagen zum Theaterbesuchsverhalten in Bezug auf den Wohnort der Befragten machen. Grundsätzlich ist kulturelle Teilhabe in Deutschland sozial nicht ausgewogen. Ob ein Mensch Theater in Deutschland besucht, ist stark von dessen sozialem Hintergrund und von der Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus abhängig. Ca. zehn Prozent der Bevölkerung besuchen regelmäßig öffentlich geförderte Theater. Dabei handelt es sich überwiegend um formal sehr hoch gebildete Menschen, die dann in der Regel auch einem wirtschaftlich gutsituierten Milieu zuzuschreiben sind. Es gibt geschlechtsspezifische Unterschiede: Frauen haben ein höheres Interesse und zeigen eine größere Teilhabe an Theater. Zudem wird ein Generationeneffekt konstatiert, wonach ältere Generationen

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(nicht nur) an der Kunstform Theater ein höheres Interesse als später geborene aufweisen. Weitere ca. vierzig Prozent der Bevölkerung zählen zu den Gelegenheitsbesucher*innen öffentlicher Kultureinrichtungen. Sie besuchen ab und zu Theater, verfügen über Besuchserfahrungen in der Vergangenheit. Soziodemografisch ähneln sich diese Gelegenheitsmit den Stammbesucher*innen, in Bezug auf den formalen Bildungsabschluss ist dieses Segment allerdings schon heterogener. Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung besucht Theater eigentlich nie. Sie zeigt kein Interesse an dieser und anderen Kunstformen. In dieser Gruppe sind überdurchschnittlich viele formal niedrige Bildungsabschlüsse messbar.19 Nun ist ein vom eigenen Wohnort erreichbares Theater selbstverständlich Voraussetzung für Teilhabe. Mangelnde kulturelle Infrastruktur stellt somit eine wesentliche Barriere dar. Somit ist eine Diskrepanz der Nutzung von Theaterangeboten zwischen ländlichen und urbanen Räumen einfach zu erklären.20 Wenn es kein Theaterangebot in erreichbarer Nähe gibt, kann dieses auch nicht besucht werden. Allerdings wiegt das fehlende Interesse am Theater wesentlich mehr als das nicht so leicht erreichbare Angebot. Oder einfacher ausgedrückt: Die Existenz eines Theaters führt noch lange nicht zur Nutzung. Nach dem Ausbau der öffentlichen Infrastruktur und der Zunahme der Mobilität von Bewohner*innen ländlicher Räume in den 1960er und -70er Jahren wunderten sich Kulturforscher*innen, dass damit nicht automatisch ein Anstieg der Besuchsaktivitäten einherging. Herbert Schwedt machte bereits Ende der 1980er Jahre deutlich, dass die veränderten Rahmenbedingungen in ländlichen Räumen eben nicht zu einer Zunahme von Theaterbesuchen geführt haben. Vielmehr vermutete er, dass „soziokulturelle Schranken offenbar stärker wirksam als räumliche Entfernungen“21 wären. Auch aktuelle Studien zeigen, dass vor allem fehlendes Interesse sowie fehlende Zugänge zu Theater durch die eigene Familie und den Freundeskreis die wesentlichen Gründe für geringes Interesse am Theater sind.22 Ob sich jemand grundsätzlich fürs Theater interessiert, ist also nicht so sehr vom Wohnort in ländlichen oder urbanen Räumen abhängig. Vielmehr zählt das Aufwachsen in bestimmten Milieus, die sich durch vergleichsweise hohe formale Bildungsabschlüsse und damit verbunden in der Regel auch Berufe und Einkommen auszeichnen. Eltern, die sich für eine Auseinandersetzung mit kultureller Bildung ihrer Kinder interessieren, werden beispielsweise auch in ländlichen Räumen Zugänge zu Theater suchen und finden. Gleichzeitig werden Eltern, die selbst keinen Zugang zu Kunst erfahren haben, nicht automatisch zu Theaterfreaks, nur weil sie in eine Großstadt ziehen (sonst wären die urbanen Stadt- und Staatstheater überfüllt).

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Kulturelle Teilhabe als Programm

Angebot und Nachfrage Auch wenn die Nachfrage nach Theater sich gar nicht so sehr zwischen ländlichen und urbanen Räumen unterscheidet, ist das Angebot (öffentlich-geförderter) Theater sehr stark vom „Faktor Stadt“ abhängig. Historisch bedingt, befinden sich institutionalisierte Theater in (großen) Städten. Erst waren es die höfischen Bühnen, später die bürgerlichen Einrichtungen, an denen sich Theater in Deutschland entwickelt hat und die den künstlerisch wie kulturpolitischen Theaterdiskurs bis heute dominieren.23 Dies ist zwar ein Stück weit als schwer veränderbare kulturpolitische Tatsache anzusehen, schafft aber immense Probleme in der Frage nach Teilhabegerechtigkeit auf der Angebotsseite zwischen urbanen und ländlichen Räumen. Eine Studie von Susanne Keuchel zur kulturellen Infrastruktur in Südniedersachsen hat beispielsweise empirisch belegt, dass in dieser ländlich geprägten Region südlich vom Harz nur zwölf Prozent aller Kultureinrichtungen nicht im Ballungsraum um das (einigermaßen) urbane Göttingen liegen.24 Die Studie Zur Lage des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland macht dann auch am Beispiel von Kindern und Jugendlichen empirisch deutlich, dass die Chance für diese Zielgruppe mit professionellem und altersadäquatem Theater in Berührung zu kommen, mit dem Wohnort in einer Großstadt um ein Vielfaches größer ist.25 Auch wenn hier nur ein Teilbereich des Publikums untersucht wurde, können die Erkenntnisse hilfreich für Diskussionen um theaterpolitische Herausforderungen in der Provinz sein. In dieser empirisch-quantitativen Studie wurden 238 Kinder- und Jugendtheater zu Organisation, Finanzierung und Produktion befragt. Dabei wurde eine Typologie entwickelt, welche die Heterogenität der Kinder- und Jugendtheaterlandschaft in Deutschland deutlich macht. Dazu zählen Abteilungen von Stadt- und Staatstheatern, eigenständige Kinder- und Jugendtheater, freie Theater ohne eigene Spielstätte sowie Gastspielorte. In Bezug auf die Ortsgröße dieser Theater fallen bemerkenswerte Unterschiede auf: Deutlich wird, dass das institutionalisierte professionelle Kinderund Jugendtheater in Kleinstädten und kleineren Mittelstädten – und somit überwiegend in ländlichen Räumen – von Gastspielveranstaltern gepflegt wird.26 Letztere stellen somit eine Grundversorgung mit professionellem Theater abseits urbaner Zentren sicher. Allerdings wird die Ungleichheit des Angebots auch in dieser Studie deutlich. In Großstädten gibt es wesentlich mehr professionelle Kinder- und Jugendtheater als in ländlichen

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Thomas Renz

Räumen. Für die Diskussionen über Theater in der Provinz scheint daher eine Differenzierung der Angebotsseite nötig. Demnach sind es unterschiedliche Akteur*innen, die Theater in ländlichen Räumen anbieten: – Von den 140 Stadt- und Staatstheatern mit eigenem Ensemble, welche im Deutschen Bühnenverein organisiert sind, befinden sich lediglich 24 in Städten mit weniger als 50 000 Einwohnern. Hierzu zählen auch die Landesbühnen mit ihrem expliziten kulturpolitischen Auftrag, Theater in nicht urbanen Zentren zu gewährleisten. Häufig sind das Drei-Sparten-Häuser (z. B. TfN Hildesheim, Landestheater Detmold), welche sich in Theaterästhetik, Inszenierungen und Programmen von anderen Stadt- und Staatstheatern nicht unterscheiden. – Auch die verbandlich nicht so stark organisierten Privattheater liegen historisch gewachsen eindeutig und überwiegend in größeren Städten (z. B. Berlin, Hamburg, München). – In der Interessensgemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen (INTHEGA e. V.) sind 400 Städte im deutschsprachigen Raum organisiert, die regelmäßig und institutionalisiert professionelles Theater als Veranstalter anbieten, jedoch über kein eigenes Ensemble verfügen. Auch diese Struktur ist historisch gewachsen, die Namen der Städte bilden ein Potpourri der deutschen Provinz: Papenburg, Peine, Pirmasens, Pirna, Plochingen usw. – Freie Theater – wie sie sich vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt haben – sind statistisch betrachtet ein urbanes Phänomen. Allerdings gibt es vereinzelt künstlerisch wie partizipatorisch sehr interessante Projekte in ländlichen Räumen. – Zahlenmäßig ein Phänomen des ländlichen Raums sind schließlich die Amateurtheater. Mit ehrenamtlicher Organisation und Laiendarsteller*innen funktionieren diese innerhalb recht kleiner Einzugsgebiete oft hervorragend.27 – Schließlich gibt es bisher weder wissenschaftlich noch anderweitig systematisch betrachtete privatwirtschaftliche Akteure wie beispielsweise Gaststätten, die regelmäßig Theater in ländlichen Räumen veranstalten. Theaterpolitik statt Kulturpessimismus Es liegt nahe, dass die genannten Theatertypen starke Unterschiede in Organisation, künstlerischer Produktion und Publikum aufweisen. Entsprechend gibt es auch nicht den einen Schlüssel, wie Kulturpolitik mehr Partizipation in der Provinz fördern kann. Vielmehr müssen indi-

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Kulturelle Teilhabe als Programm

Bühne Cipolla, Bremen: Mario und der Zauberer. Foto: Marianne Menke

viduelle Bedarfe ermittelt und Förderprogramme danach ausgerichtet werden, ohne zu sehr an einem klassischen Top-Down-Prinzip der Förderpolitik hängen zu bleiben. Beispielsweise hat die Amateurtheaterstudie empirisch bewiesen, dass zahlreiche kleinere Amateurtheater gar keine großen finanziellen Sorgen haben, es ihnen aber häufig an Stücken mit Frauenrollen fehlt – da der männliche Nachwuchs fehlt. Oder es wurde beim Projekt Tanzland der Kulturstiftung des Bundes deutlich, dass die organisatorischen Bedürfnisse der zu fördernden Gastspielorte anders als erwartet waren und entsprechend mussten die Förderrichtlinien modifiziert werden. Allerdings zeigen die Diskussionen um mögliche Theaterpolitik für ländliche Räume auch die besondere Rolle von Kulturpolitik als Querschnittsaufgabe: Einige wesentliche Herausforderungen von Theatern in ländlichen Räumen sind allein durch Theaterpolitik gar nicht lösbar. Dann geht es um grundsätzliche Probleme wie beispielsweise vermehrter Wegzug und Bevölkerungsschwund oder weniger Freizeit von Jugendlichen aufgrund von Ganztagsangeboten. Solche schweren Brocken, die allerdings in ländlichen Regionen an der Tagesordnung von Kulturschaffenden sind, können nicht allein durch ein einmaliges Förderprojekt eines Theaters gelöst werden. Problematisch ist hierbei aber eine fehlende Abstimmung unterschiedlicher Ressorts. Beim Dauerthema „ländlicher Raum“ mischen mehrere Ministerien mit – ohne dass sowohl auf Landes- wie Bundesebene eine systematische Koordination dieser Aktivitäten ersichtlich wäre.

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Thomas Renz

Sowohl für Theater in urbanen wie auch in ländlichen Räumen liegt die größte Herausforderung jedoch in der Veränderung der Rezeptionsbedingungen. Theater ist nicht mehr Leitmedium der Gesellschaft und ein Publikum wächst im bisher bekannten Ausmaß nicht mehr automatisch nach. Es wird zunehmend Normalität, dass Haushalte aller Milieus ohne Zeitung auskommen, dass im Wohnzimmer kein Bücherregal mehr steht, stattdessen eine PlayStation. Über solche Entwicklungen kann man kulturpessimistisch lamentieren, für Theater bedeutet das aber, dass diese langfristig ihre Programme an ein sich radikal verändertes Rezeptionsverhalten anpassen müssen – oder nur noch ausschließlich durch Subventionen und unabhängig von einer möglichen Nachfrage existieren können. Jene Theater, die an einem klassischen Kanon ihres Repertoires festhalten, der sich durch ständige Wiederholung und nur sehr kleine Diskursräume etabliert, werden langfristig auf ein schwindendes Publikum treffen. Wer nur auf Oper und Ballett, auf Tschechow und Shakespeare setzt, wird langfristig die Schere zu den Rezeptionsvoraussetzungen des Großteils der Bevölkerung erweitern und irgendwann nur noch Theater für pensionierte Studienrät*innen machen – aber auch diese werden sich eines Tages lieber Breakdance und Poetry Slams anschauen, denn der Generationeneffekt lässt grüßen. Wer hingegen Teilhabe zum Programm macht, wird das eigene künstlerische Angebot auch an den sich veränderten Rezeptionsbedingungen ausrichten. Es scheint so, dass Theater in ländlichen Räumen in dieser Hinsicht schon einen wesentlichen Schritt voraus sind. Aufgrund überschaubarerer Handlungsräume und – damit verbunden – geringerer Nachfrage richten viele Theater in ländlichen Räumen ihr Programm auch am Publikum aus, ohne sich aber dabei ästhetisch oder inhaltlich anzubiedern. Da spielen auch ökonomische Gründe eine Rolle, denn ohne die Ticketeinnahmen könnten beispielsweise Gastspielorte mit oft vergleichsweise sehr hohen Eigenfinanzierungsquoten gar nicht existieren. Im Amateurtheater stellt das Stück und das gespielte Genre zudem überhaupt die Existenzgrundlage dar. Wenn Darsteller*innen das Stück nicht gefällt, bleiben sie langfristig weg. Auch Stadt- und Staatstheater in urbanen Räumen können von ihren Partnern in ländlichen Räumen durchaus lernen. Allerdings hindert ein wesentliches Phänomen einen gleichberechtigten Austausch zwischen (Stadt- und Staats-, aber auch freien) Theatern in urbanen Räumen auf der einen und (Amateur- oder Gastspiel-)Theatern in ländlichen Räumen auf der anderen Seite. Der Diskurs darüber, was gutes Theater ist, ist ausschließlich urban geprägt! Theater in der Stadt bzw. im Stadt- oder Staatstheater ist demnach in künstlerischer Qualität immer das Maß aller Dinge. Theater in ländlichen Räumen sei

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Kulturelle Teilhabe als Programm

hingegen ästhetisch, sozial und politisch defizitär. Hier übernimmt der Theaterdiskurs und häufig auch die Theaterpolitik eine äußerst problematische Position der Raumordnungspolitik, für die der ländliche Raum „ein ständiges Sorgenkind der Städtegesellschaft“ darstellt28. Eine solche urbane Brille geht davon aus, dass provinzielles Theater immer versuchen sollte, den Anschluss an künstlerische Diskurse der Großstadt zu finden. Und das kann auch durchaus in Förderprogrammen münden, die wohlmeinend solche Defizite abbauen. Gutes Theater ist demnach nur das, was in den Stadt- und Staatstheatern, vereinzelt noch im freien Theater gemacht wird. Und das ist nun mal ein recht elitärer Stücke- oder Themenkanon für ein elitäres Bildungsmilieu. Dass Theater in ländlichen Räumen eine eigene Existenzberechtigung, mit eigenen ästhetischen Dimensionen und bewussten Entscheidungen für Komödie und Boulevard haben, wird hierbei ignoriert. Vielmehr folgt lieber eine äußerst leidige Qualitätsdebatte, ohne zu klären, um welchen Qualitätsanspruch es überhaupt geht. Der größte Gewinn für eine teilhabeorientierte Theaterpolitik in der Provinz wäre mehr Respekt und Akzeptanz der künstlerischen Leistungen aller unterschiedlichen Akteur*innen. Wenn Wertigkeit von Theater in ländlichen Räumen aus urbaner Sicht gleichberechtigt wäre, wenn Theater der Zeit selbstverständlich und dennoch kritisch über den Einakter in der Kartoffelscheune berichtet, wenn nachtkritik.de ohne Ironie die Inszenierungsstrategie eines René Heinersdorff mit gleicher Energie wie die eines Frank Castorf diskutiert, wenn das Stadttheater mit seiner intelligenten Komödie auch in den kleineren Orten des Landkreises spielt, das örtliche Amateurtheater von dort hingegen wie selbstverständlich im Spielplan des Stadttheaters auftaucht und wenn das OhnsorgTheater auch mal von einem Staatstheater gebucht wird, dann wäre theaterpolitisch Einiges gewonnen. 1

Partizipation und Teilhabe werden in diesem Text synonym verwendet. Eine begriffliche Differenzierung findet sich u. a. in: Renz, Thomas: Nicht-Besucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development, Bielefeld 2016, S. 35ff.

2

Ebd.

3

Hoffmann, Hilmar: Kultur für alle. Perspektiven u. Modelle, Frankfurt a. M. 1981, S. 46.

4

Vgl. o. A.: „Geschichte“, online abrufbar: www.schauspielfrankfurt.de/dashaus/geschichte, Zugriff 14. Oktober 2018.

5

Vgl. Kurzenberger, Hajo; Tscholl, Miriam (Hg.): Die Bürgerbühne. Das Dresdner Modell, Berlin 2014.

6

Vgl. Drucker, Peter Ferdinand: The practice of management, New York 1954.

7

Renz, Thomas: „Finger weg von Facebook? Zu Risiken und Nebenwirkungen sozialer Medien im Kulturbetrieb“, in: Schneider, Wolfgang: Kultur. Politik. Diskurs. Aus Lehre und Forschung des Instituts für Kulturpolitik, Hildesheim 2012, S. 53–58.

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Thomas Renz

8

Vgl. Hennefeld, Vera: „Zielvereinbarungen und Evaluation als Instrumente zur strategischen Steuerung der Mittlerorganisationen in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik“, in: Hennefeld; Stockmann: Evaluation in Kultur und Kulturpolitik, Münster 2013, S. 131–61.

9

Vgl. Abfalter, Dagmaer: Das Unmessbare messen? Die Konstruktion von Erfolg im Musiktheater, Wiesbaden 2010.

10

O. A.: „Portrait“, in: www.assitej.de/ueber-uns, Zugriff: 25. Juni 2018.

11

Vgl. Böhnisch, Lothar; Funk, Heide: Jugend im Abseits? Zur Lebenslage Jugendlicher im ländlichen Raum, München 1989.

12

Vgl. Götzky, Doreen: Kulturpolitik in ländlichen Räumen. Eine Untersuchung von Akteuren, Strategien und Diskursen am Beispiel des Landes Niedersachsen, Hildesheim 2013, online abrufbar: https://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/170, Zugriff: 25. Juni 2018.

13

Vgl. Glogner-Pilz, Patrick; Föhl, Patrick S. (Hrsg.): Handbuch Kulturpublikum. Forschungsfragen und -befunde, Wiesbaden 2016.

14

Vgl. Keuchel, Susanne; Graff, Federik: Kulturforschung in Südniedersachsen, Sankt Augustin: Eigenverlag 2011.

15

Vgl. Schneider, Wolfgang (Hrsg.): Weißbuch Breitenkultur. Kulturpolitische Kartografie eines gesellschaftlichen Phänomens am Beispiel des Landes Niedersachsen (= Hildesheimer Universitätsschriften Band 27), Hildesheim 2014.

16

Vgl. Renz, Thomas: Zur Lage des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland, online verfügbar: www.assitej.de/fileadmin/assitej/_neuewebseite/publikationen/FALSCH2017_Assitej_Thomas_Renz_Studie_Zur_Lage_des_ Kinder-_und_Jugendtheaters_online.pdf, Zugriff: 25. Juni 2018.

17

Vgl. Götzky, Doreen; Renz, Thomas: „Amateurtheater als Breitenkultur. Eine quantitative Erhebung in Niedersachsen“, in: Schneider, Wolfgang (Hrsg.): Weißbuch Breitenkultur. Kulturpolitische Kartografie eines gesellschaftlichen Phänomens am Beispiel des Landes Niedersachsen (= Hildesheimer Universitätsschriften Band 27), Hildesheim 2014, S. 113–122.

18

Vgl. Küspert, Jasmin; Becker, Hans: „Theater im ländlichen Raum Frankens“, in: Mitteilungen der Fränkischen Geographischen Gesellschaft Bd. 50/51, 2003/04, S. 249–271.

19

Vgl. Renz, Thomas: Nicht-Besucherforschung.

20

Vgl. Europäische Kommission: Eurobarometer Spezial. Werte die europäischen Kultur – 2007. Eurobarometer Spezial 278 / Welle 67.1 – TNS Opinion & Social. O. O.

21

Schwedt, Herbert: „Kulturleben und Kulturträger im Dorf“, in: Henkel, Gerhard (Hrsg.): Kultur auf dem Lande. Vorträge und Ergebnisse des 6. Dorfsymposiums in Bleiwäsche vom 16.-17. Mai 1988, Paderborn 1988, S. 31–41, hier S. 38.

22

Vgl. Mandel, Birgit; Institut für Kulturpolitik: Kulturimage und kulturelle Partizipation in Deutschland. Ergebnisse einer Untersuchungsreihe des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, Hildesheim 2006.

23

Brauneck, Manfred: Die Deutschen und ihr Theater: Kleine Geschichte der „moralischen Anstalt“ – oder: Ist das Theater überfordert?, Bielefeld 2018.

24

Vgl. Keuchel; Graf: Kulturforschung in Südniedersachsen.

25

Vgl. Renz, Thomas: Zur Lage des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland.

26

Ebd., S. 9.

27

Vgl. Götzky; Renz: „Amateurtheater als Breitenkultur“.

28

Henkel, Gerhard: „Ländlicher Raum“, in: Lexikon der Geographie, online abrufbar: www.spektrum.de/lexikon/geographie/laendlicher-raum/4553, Zugriff: 12. Oktober 2018.

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Katharina M. Schröck

DIE ZUKUNFT DER LANDESBÜHNEN Neue Formate in den Darstellenden Künsten -

Darstellende Kunst als Kanzel oder als Lagerfeuer? Theatererlebnisse als exklusives Event oder Teil des Alltags? Theaterkunst als Ausdrucksform weniger oder Teilhabeangebot für viele? Diese Gegensatzpaare bestimmten die Diskussionen der Memminger Tagung, sind Teil des Diskurses über Reformbestrebungen innerhalb des deutschen Theatersystems. Sich innerhalb dieser Spannungsfelder zu positionieren, wird von den Künstler*innen, Akteur*innen, Institutionen der Darstellenden Künste eingefordert, denn letztendlich stehen hinter diesen großen Fragen die Grundsatzfragen von Theaterarbeit: Für wen mache ich wie mit wem und wo welches Theater, was sind meine Möglichkeiten und Verantwortungen? Während jede*r Akteur*in der Darstellenden Kunst gleich welchen Genres diese Entscheidungen für sich selbst zu treffen und gegenüber seinen Auftraggeber*innen, Träger*innen und Finanziers zu begründen hat, scheinen die Landesbühnen als besonderes, institutionalisiertes Konstrukt ihnen in richtungsweisender Hinsicht mehrfach und widersprüchlich ausgesetzt: Als Stadttheater mit Reiseauftrag haben sie ein heterogenes Publikum mit Darstellender Kunst zu versorgen, müssen dafür mit Improvisationstalent auf widrige Bedingungen reagieren, den Herausforderungen des Gastspielmarkts trotzen, dabei natürlich auch dem Anspruch qualitätsvoller zeitgemäßer Darstellender Kunst gerecht werden und Teilhabe in der Fläche ermöglichen, ohne jedoch zeitlich oder räumlich vor Ort verankert sein zu können. Zulieferer des Gastspielmarkts Die Landesbühnen, öffentlich getragene Theaterinstitutionen, den Stadt- und Staatstheatern zumindest im allgemeinen Verständnis gleichgestellt,1 sind ein besonderes kulturpolitisches Phänomen: Im Sinne des politischen Grundverständnisses, allen Menschen vergleichbare Lebensverhältnisse und somit auch im wörtlichen Sinne eine flächendeckende kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, sollen die Landesbühnen Darstellende Kunst in Städten und in der Fläche anbieten. Meist wird ihre Beauftragung ergänzt durch den Zusatz, professionelle Theaterauffüh-

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Katharina M. Schröck

rungen dort anzubieten, wo es an solchen mangelt. Allein mit dieser Beschreibung zeigt sich, dass die Situation der Landesbühnen keine einfache ist: Denn welche Angebote der Darstellenden Kunst mögen als ausreichend gelten und bei welchen ist eine Erweiterung durch die Arbeit der Landesbühnen notwendig – und wer mag dies feststellen und entscheiden? Augenfällig ist zudem, dass die künstlerische Arbeit der Landesbühnen sich im Gastspielbereich auf die Bereitstellung von Produktionen beschränkt, die möglichst für viele Theaterbühnen kompatibel sein sollten: Inszenierungen werden erarbeitet und dann in kleinerer oder größerer Abhängigkeit vom Gastspielmarkt auf eben diesem zum Verkauf angeboten und beworben, wobei die Reihenfolge nicht unbedingt dieser Logik folgt, denn nur zu oft wird eine Produktion bereits lange vor Probenbeginn verkauft, bevor überhaupt eine erste inszenatorische Idee zu ahnen wäre. Die Mechanismen des Markts und die Bedingungen der Gastspieltätigkeiten prägen die Arbeit der Landesbühnen: Die Gastspielreisen an sich sind anstrengend und mühsam; die Partnerschaft zu den Abnehmer*innen, den Gastspielveranstalter*innen, ist eine existenzielle, die in beidseitiger Richtung über Wohl und Weh zu bestimmen vermag. Man könnte vermuten, die Rollen sind eindeutig: Landesbühnen als Lieferantinnen, Gastspielorte als Kundinnen – so eine Formulierung würde keine*r der Akteur*innen wählen, wie auch die Positionsbeschreibungen in Memmingen verdeutlichen, denn schließlich geht es auch in diesem Bereich der Darstellenden Künste um Beziehungspflege, Vertrauen und gemeinsames künstlerisches Verständnis. Die Landesbühnen sind nicht nur Reisetheater, sie sollen gleichzeitig die Funktion eines Stadttheaters erfüllen: Es wird erwartet, dass sie stehendes Ensembletheater für ihren Stammsitz sind, mit allem, was dazugehört, allerdings mit dem Zwang, nicht überwiegend in ihrer eigenen Stadt, sondern darüber hinaus auch in anderen Orten Theaterveranstaltungen durchzuführen. Ein Stadttheater light also, mit dem notwendigen Know-how und der Ausstattung, professionell und effektiv Gastspiele durchführen zu können? Eine solch rudimentäre Beschreibung von Landesbühne wird weder der Heterogenität ihrer Strukturen gerecht noch scheint sie in der Realität haltbar zu sein: Eine bloß statistische Auswertung der Veranstaltungszahlen zeigt auf, dass die meisten Landesbühnen nicht überwiegend unterwegs, sondern mehrheitlich in der eigenen (künstlerischen und räumlichen) Heimat ihre Aufführungen zeigen. Also muss mehr dran sein an der Idee Landesbühne – ein kulturpolitisches Instrument zur Teilhabe, eine Struktur, die Theater für alle ermöglichen soll. Die Landesbühnen selbst scheinen sich mit der ihnen

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Die Zukunft der Landesbühnen

Württembergische Landesbühne Esslingen: Der Trafikant. Foto: Patrick Pfeiffer

zugeschriebenen Rolle eines Grundversorgers zu identifizieren, aber dass es weder um ein bloßes Erfüllen erwarteter Vorstellungszahlen noch um die Erfüllung einer Alibifunktion eines günstigen Stadttheaters geht, das machen sie während der Memminger Tagung in Gesprächen2 und Texten deutlich: Ja, sie haben den Auftrag zu reisen, aber nein, sie seien mehr als einfache Dienstleisterinnen, Bereitstellerinnen von Produktionen und Lieferantinnen von Theaterkunst. Akteure in der Provinz Die Beauftragung, reisendes Theater zu sein, ist einendes Element der etwas mehr als zwanzig Theater in Deutschland, die laut dem Deutschen Bühnenverein zu der Gruppe der Landesbühnen gehören; doch darüber hinaus überwiegt die Ungleichheit in Größe, Struktur, künstlerischer Position und Selbstverständnis. So bezeichnen sich die einzelnen Bühnen in ganz unterschiedlicher Weise als Stadttheater mit Reiseverpflichtung oder als Theater, das Wurzeln schlagen will; sie verstehen sich als Kulturvermittlerinnen, als Ermöglicherinnen von Theatererlebnissen und Ergänzerinnen vorhandener Angebote und als Dienstleisterinnen der Theaterlandschaft. Obwohl die Region und der ländliche Raum eine wichtige Rolle für die Theaterarbeit der Landesbühnen spielen, bezeichnet sich keine der Landesbühnen des Deutschen Bühnenvereins als „Regionaltheater“ oder gar als „Theater für die Provinz“. Diese Wortklauberei mag kleinlich sein, offenbart jedoch das zugrunde liegende Verständnis von Landesbühne und zeigt die struktu-

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rellen Bedingungen der Theaterarbeit: Darstellende Kunst wird in der Stadt, auf der dortigen Bühne, produziert und das Ergebnis von dort aus verteilt und in andere Orte gebracht. Landesbühnen sind es nicht nur gewohnt, auf Wanderschaft zu sein, sondern haben gerade darin eine große Expertise, sie werden daher gerne als mobil und flexibel charakterisiert: Mobilität versteht sich hier als Fähigkeit, Produktionen so zu denken und zu konzipieren, dass sie nicht nur in einen Lkw passen, sondern auch schnell auf- und abgebaut werden können – und das auch noch möglichst ressourcenschonend. Gemeint ist die Flexibilität, während der Abstecher auf die dortigen Gegebenheiten reagieren zu können – je nachdem, wie sich der Veranstaltungsort gestaltet, muss hier und da im wörtlichen Sinne die Inszenierung etwas beschnitten werden, wenn das Bühnenbild nicht auf die Bühne passt, die Lichtstimmung nicht zu realisieren ist oder der Boden die Stepptanzeinlage schier unmöglich macht. Als wären dies nicht schon genug Herausforderungen, kommt als erschwerender Faktor für die Landesbühnen ihre Hybridität hinzu: Stadttheater zu sein, einerseits, im Dienste der Gastspieltätigkeit zu arbeiten, andererseits. Kann man als Diener zweier Herren denn überhaupt beiden Ansprüchen gerecht werden? Oder liegt es in der Natur der Dinge, dass immer ein Bereich bevorzugt wird, weil es sonst weder aushaltbar noch tragbar ist, und erklärt sich so die Schwerpunktsetzung auf den Stammsitz? Die erzwungene Schizophrenie der Landesbühnen führt sie in einen Spagat, der nur schwer zu halten scheint. Zugleich entsteht aus dem Dasein als Zwitterwesen eben die Arbeitsweise, die logisch und nachvollziehbar ist, wenn man die vorhandene Infrastruktur berücksichtigt, doch mit der sich zugleich eine bestimmte Rollenzuschreibung verbindet, die auch als überheblich wahrgenommen werden kann: Durch die Landesbühnen bekommt das ländliche Volk die Möglichkeit, an der städtischen Kunst teilzuhaben. Auch solch eine arrogante Haltung würde keine*r der Akteur*innen in der Arbeit der Landesbühnen und der Gastspielhäuser vermuten, geschweige denn wagen, sie so zu bezeichnen. Was leistet also Landesbühne, wenn nicht eine moderne Form des Kulturimperialismus?3 Eine Teilhabe am Kunstdiskurs kann eine Funktion sein, welche die Landesbühnen übernehmen, genauso wie sie und alle Theater als Bildungsinstitution oder Ort des Diskurses fungieren können. Welche Rolle sich ein Theater zuschreibt, hängt auch vom Kontext ab: In einer Stadt mit mehreren Institutionen können sich einzelne spezialisieren: als Hort experimenteller zeitgenössischer Formate, als Einrichtungen der Weiterbildung oder als Plattform für den Nachwuchs. Nischen für

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Die Zukunft der Landesbühnen

Kunst und Publikum können sich bilden. Im ländlichen Raum sind diese Funktionszuschreibungen ebenso möglich, doch alleine durch die geringere Dichte an Kulturinstitutionen scheint dort eine vergleichbare Spezialisierung weniger möglich. Insbesondere in der Provinz kann Theater auch die Rolle eines Dorfplatzes übernehmen, Anlass sein, zusammenzukommen und sich auszutauschen. Jörg Gade verwendet hierfür den Begriff „öffentliches Gesellschaftsritual Theaterbesuch“ – ein Terminus, der bereits das größte Problem beinhaltet: ein Ritual, auch wenn es öffentlich sein mag, hat immer eine exkludierende Wirkung, nur ein bestimmter Personenkreis findet oder bekommt Zugang; genauso ist es auch beim Theater. Durch die professionellen Darstellenden Künste wird nur ein Bruchteil aller Menschen erreicht, nur einige wenige sind tatsächlich als regelmäßige Nutzer und damit als Teilhabende zu bezeichnen.4 Die Frage nach Teilhabe-Ermöglichung ist essenziell für das Konstrukt Landesbühnen; Kay Metzger bezeichnete die Landesbühnen gar als „Kulturvermittler der besonderen Art“5, denn durch ihren Auftrag, auch den ländlichen Raum mit Theaterkunst zu versorgen, durch ihre Tätigkeit, Theater zu den Menschen zu bringen, scheinen zumindest infrastrukturelle Barrieren überwunden. Doch reicht diese Dienstleistung aus, sich als Vermittler zu bezeichnen? Die Landesbühnen bewegen sich nicht nur im Spannungsfeld zwischen eigenem künstlerischen Anspruch und den Rahmenbedingungen der Reisetätigkeit, sondern müssen sich selbst positionieren innerhalb ihres Auftrags und dem Verständnis von Theater und Teilhabe. Theater für die Region, mit der Region, in der Region? Theateraufführungen anzubieten, ist sicherlich ein erster Schritt, um Teilhabe am kulturellen Leben zu ermöglichen, doch darüber hinaus bietet partizipative Theaterarbeit Möglichkeiten, die Darstellenden Künste für die Menschen (wieder) relevant werden zu lassen. Partizipation als Maßgabe für die eigene Tätigkeit kann auch in der Arbeit der Landesbühnen in vielfältiger Form wiedergefunden werden: vermittelnde Angebote, die eine Teilnahme am Diskurs ermöglichen sowie bildend wirken sollen, ebenso solche, die eigene Kreativität fördern und die Teilnehmer*innen animieren, selbst tätig zu werden. Es lässt sich bei all diesen Formaten jedoch wieder eine Schwerpunktsetzung auf den Stammsitz feststellen – was nachvollziehbar ist, denn dort sind nicht nur Raum und Personal vorhanden, sondern auch nur vor Ort ist eine kontinuierliche und intensive Auseinandersetzung mit den Bewohner*innen der Stadt und ihren Themen möglich. Zudem scheint der Auftrag die Landesbühnen in diesem Felde zu binden: Distribution ist gefordert,

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Landesbühne Niedersachsen Nord, Wilhelmshaven: Richard III. Bin durch Sümpfe gewatet, menschliche oder nicht (DSE). Foto: Volker Beinhorn

nicht die Produktion in der Provinz; professionelle Arbeit der Maßstab, nicht die Zusammenarbeit mit Amateur*innen. Doch nimmt man den Gedanken einer identitätsstiftenden Funktion von Theater, einer Teilhabe ermöglichenden und befördernden Theaterarbeit ernst, wäre eine konsequente Schlussfolgerung, sich von dem bringenden Gestus einer reinen distributiven Arbeit abzuwenden und sich Formaten der dezentralen Produktion zuzuwenden: Landesbühne nicht darauf zu reduzieren, Lieferantin von Theaterkunst zu sein, die vielleicht auch ab und an den Beipackzettel in Form von Einführungsveranstaltungen und Nachgesprächen mitbringt, sondern sie neu zu denken als regionale Akteurin: eine Wandererin, der es nicht darum geht, auf dem Wege etwas abzuliefern, sondern etwas aufzuspüren, das gerade für diesen einen Ort bedeutsam ist, der Identität ermöglicht und Relevanz (wieder) herstellt. Die eigenen Geschichten zu vergegenwärtigen, neu zu betrachten, infrage zu stellen, dabei die regionale und lokale Identität zu beschreiben und Formulierungen für sie zu finden. Ein solcher Schritt würde die Grundkonstruktion aufheben: Nicht nur Vorgefertigtes vorbeibringen, sondern Etwas neu entstehen lassen und somit nicht ein Theater für die Region, sondern ein Theater der Region zu werden. Sich dieser neuen Mission zu widmen und Landesbühnentheater neu zu denken, scheint kaum möglich bei Betrachtung der Strukturen. Nur bedingt können es sich die Landesbühnen leisten, ihren Auftrag neu zu deuten. Alle Projekte, die auch in diesem Buch als

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Die Zukunft der Landesbühnen

wegweisend beschrieben werden, die Modellcharakter haben könnten für Theater in der Provinz, gelten nach wie vor als Zusatz, als ein Extra, das nicht als eigentliche Kernaufgabe von öffentlich finanzierten Theaterinstitutionen angesehen wird. Dabei sind es gerade diese außergewöhnlichen Vorhaben, die eine Zukunftsfähigkeit von Theater austesten und die – im Falle der Landesbühnen – die größten Hindernisse aufzubrechen suchen. Entscheidend sind die Ressourcen, also Finanzen, Infrastruktur und Personal, sie bestimmen die künstlerische Arbeit jedes Theaters; für die Landesbühnen kommt erschwerend eine zusätzliche große Abhängigkeit von den Faktoren Zeit und Präsenz hinzu. Landesbühnentheater ist charakterisiert von einer Langfristigkeit der Planung; der Gastspielmarkt hat einen eigenen Kalender, der kurzfristige Projekte, das Reagieren auf aktuelle Anlässe sehr erschwert. Zugleich ist die Landesbühne in den Gastspielorten oft auf Durchreise, ein punktuelles Erlebnis, ein einzelner Punkt in einem vielfältigen Programm – intensiver Kontakt mit dem Publikum, mit den Menschen vor Ort, ist kaum möglich. Hinsichtlich dieser Faktoren zeigt sich der wesentliche Unterschied zwischen Stammsitzarbeit und Gastspieltätigkeit: Dort, wo Landesbühne Stadttheater sein kann und soll, sind ortsspezifische Projekte, kleinere Formate mit aktuellen Themen möglich, genau wie partizipatorische Angebote längerer Dauer, die über einen Workshop oder einen Projekttag hinausgehen. Doch die Provinz kommt in all diesen Fällen fast immer zu kurz, Ausnahmen sind nur möglich, wenn feste Vereinbarungen oder enge Partnerschaften bestehen. Dass einige der Landesbühnen selbst diese Diskrepanz aufbrechen wollen, wird deutlich durch das Bemühen, nicht als reisendes Theater verstanden zu werden, sondern als Theater, das Wurzeln schlägt.6 Wenn Theater wirklich in der Region anwachsen will, dann sollte es das Potenzial nutzen, das auf dem Dorfplatz liegt und nur gefunden werden muss. Narrative aufzuspüren, ist entscheidend für die künstlerische Arbeit in der Provinz, mit der Provinz, das Schließen von Komplizenschaften unerlässlich, so umschreibt es Micha Kranixfeld in Memmingen. Oft gibt es in den Orten nicht nur Geschichten, die darauf warten, entdeckt zu werden, sondern auch zahlreiche Akteure, mit denen Kooperationen möglich wären, und Menschen, die dafür brennen, selbst Theater zu machen. Den Auftrag der Landesbühne infrage zu stellen, weg von dem Grundsatz, Vorhandenes zu vermitteln, hin zu dem Versuch, Gemeinsames zu schaffen, hätte nicht nur viele Hindernisse zu überwinden und würde Konsequenzen nach sich ziehen, sondern müsste verbunden sein mit einem Neudenken von Theater und Teilhabe: Daraus resultierend,

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könnten die Abgrenzungen zwischen professioneller Kunst und partizipatorischer Arbeit sich aufweichen und eine Neubewertung von qualitativer Beurteilung angestoßen werden. Zudem wäre ein solcher Weg auch nur zu begehen, wenn Fragen nach Verantwortlichkeiten innerhalb der Theaterlandschaft und der Kulturpolitik neu diskutiert würden. Partizipation als permanentes Patchwork-Projekt So lange Projekte und Programme mit Einbezug nicht-professioneller Akteure abgetan werden als nicht-künstlerische Arbeit mit therapeutischer oder sozialpädagogischer Absicht, kann eine grundsätzliche Neuorientierung nicht erfolgreich sein. Die Idee, Menschen außerhalb des professionellen Theaterbetriebs in die Theaterarbeit einzubeziehen, ist nicht neu, vor allem das Kinder- und Jugendtheater ist hier Vorreiter, auch was die Diskussion um Qualität angeht, die durch solche Überlegungen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden darf. Theater mit jungem Publikum hat sich als eigenständige Kunstform etabliert, doch es geht nicht einfach darum, Nicht-Professionelle auf die Bühne zu stellen und mit ihnen „gut“ zu arbeiten. Auch die Entwicklung von Stücken nah an der Lebenswelt ist dem Kinder- und Jugendtheater immanent – eine Begrifflichkeit, die auch schon abgenutzt erscheint, aber nicht minder genauso zu verstehen ist: Stückentwicklungen an Hand von Themen, die präsent sind; Feedback durch Einbindung des Publikums in die Probenprozesse, verankert sein im Alltag, sei es wenigstens durch die Präsenz in den Bildungseinrichtungen. Einige der im Kinder- und Jugendtheater erprobten Methoden könnten durchaus Impulse geben für die Theaterarbeit mit Erwachsenen, insbesondere, wenn sie als Türöffner verstanden werden und zur Teilhabe ermutigen. Der Diskurs um eine Reform des Theaters in Deutschland, um Ansätze der Zukunft von Theater in den Metropolen und in der Provinz dreht sich letztendlich um die Bestimmung der Kernaufgaben von Theater und im Fall der öffentlich getragenen Institutionen um deren eigentliche und grundsätzliche Zielsetzung und Legitimation. Theater muss und soll unterschiedliche Funktionen bedienen und immer mehr Aufgaben für die Gesellschaft übernehmen, es soll nicht nur Darstellende Kunst produzieren, sondern Leistungen erbringen im Sinne von Integration, kultureller Bildung, Wissensvermittlung und Freizeitgestaltung. Eine Reaktion auf die sich ändernde Gesellschaft und der Neubetrachtung des Sinns von öffentlich getragenem Theater – nachvollziehbar und sinnvoll, doch solange sich die zur Verfügung gestellten Ressourcen nicht ebenfalls diesen Aufgaben anpassen, wird die Hauptverantwortung immer wieder auf die reine Kunstproduktion reduziert. Die Frei-

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heit der Kunst und die Ermöglichung dieser sollen hier nicht infrage gestellt werden. Doch wie kann man von Institutionen all diese zusätzlichen Aufgaben erwarten, wenn diese immer nur als Sonderprojekte angesehen werden? Zeitlich begrenzt, selten wiederholbar und quasi immer abhängig von Drittmitteln. Neue Formate, welche die Strukturen der Theaterlandschaft aufzubrechen suchen, werden von den Landesbühnen in ganz Deutschland erprobt, meist in Projektform, die ein Experimentieren ermöglichen, doch durch die eine Verstetigung oder eine grundsätzliche Veränderung nicht möglich ist. Wenn das Landestheater Tübingen mit TRAFO7 die Möglichkeit bekommt, den ländlichen Raum neu zu entdecken, bricht dies die zeitliche Abwesenheit auf und ermöglicht zumindest für die Projektdauer Kontinuität; wenn das Theater für Niedersachsen zum Stadtjubiläum mit dem Open-Air-Spektakel Im Namen der Rose ganz Hildesheim mobilisiert, entsteht ein neuer lokaler Bezug, der relevant sein könnte für Menschen, die sonst nicht zum Abo-Publikum gehören. Wenn ein solches Projekt aber nicht nur in der Stadt, sondern auch in der Provinz möglich wäre? Die Landesbühnen Sachsen sind hier beispielhaft: Produziert wird nicht nur in Radebeul, sondern auch in Partnerstädten, lokale Geschichte(n) werden aufgegriffen und umgesetzt – im besten Falle so, dass sie immer noch gastspielfähig sind. Nicht jede Kunst ist transportabel, nicht alle Inszenierungen können überall und vor jedem Publikum gleich funktionieren, die Landesbühnen arbeiten mit diesem Paradox und versuchen, es zu lösen, auch wenn sie daran zu scheitern drohen: So beruht beispielsweise die Form der Bürgerbühne, auf der Idee, in einer Stadt verankert zu sein, das Theater zu öffnen für die Bürgerinnen und Bürger und dadurch neue Stimmen und Positionen in das Theater zu holen; diese Lokalität scheint der Idee von Wanderschaft konträr gegenüberzustehen. Die größte Herausforderung ist – neben den Anstrengungen der Wanderschaft und der Balance zwischen Erwartungen und Anforderungen von Stadt und Land – die große klaffende Distanz zwischen Landesbühne und Publikum. Direkter Kontakt – und somit auch die Möglichkeit für partizipatorische Zusammenarbeit – ist kaum möglich, nur im direkten Umfeld des Stammsitzes; immer ist eine Stelle zwischengeschaltet: der*die lokale Veranstalter*in als Mittelpunkt. Nur zu leicht lässt sich die Verantwortung gegenseitig zuschieben: Vermittlung der Angebote als Aufgabe der Produzent*innen oder als Aufgabe der Gastspielorte? Eine reisende Theaterpädagogik als Lösung? Nur im Ansatz, denn wenn auch diese nur punktuell in den Veranstaltungsstätten anwesend sein kann, dann kann sich auch dadurch keine längerfristige

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Zusammenarbeit ergeben. Eine feste Vermittlungsstelle in den Gastspielhäusern? Möglich, wenn die Ressourcen es hergeben und der Bedarf tatsächlich vorhanden ist. Entscheidend ist bei all diesen Überlegungen eine sensible Wahrnehmung und Beachtung aller Akteur*innen innerhalb der Theaterlandschaft, um Synergien zu ermöglichen, Konkurrenz zu vermeiden und gemeinsam auf Spurensuche für neue Formate zu gehen. Alleine eine kulturpolitisch-theoretische Neukonzeptionierung verspricht noch keinen Erfolg. Ob und wo neue Formate ausprobiert und verstetigt werden können, ist auch abhängig von einem gegenseitigen Vertrauen, das aufzubauen Zeit benötigt. Eine solche Arbeitsweise setzt Anerkennung, Wahrnehmung und Rücksichtnahme voraus. Gerade die bereits bestehenden Strukturen nicht-professioneller Kulturarbeit dürfen nicht vorschnell abgetan werden. Das Amateurtheater in der Provinz braucht keinen Erlöser in Form von professionellem Theater mit hehren Absichten, die Menschen vor Ort zu bereichern, wie Naemi Zoe Keuler es in den Memminger Gesprächen klarstellte, sondern es sucht Partner*innen, mit denen man nicht nur auf der Bühne, sondern auch in der Kneipe gesellschaftliche Teilhabe neu verhandeln kann. Ein Neudenken des Auftrags der Landesbühnen könnte ein Ansatz für eine Reform der Theaterlandschaft sein: nicht mehr die Konzentration auf die Distribution, sondern ein neuer Fokus auf Produktion mit regionalem Bezug, mal hier, mal dort, ein Theater auf der Walz, das bleibt und geht; ein regionales Theater mit Verankerung vor Ort. Natürlich, so kann man einwerfen, ist dies schier unmöglich: Die Infrastruktur fehlt; die Gleichberechtigung ginge verloren, wenn nicht mehr alle Orte im Spielgebiet das gleiche Angebot erhielten, weil bei einer solchen neuen Arbeitsweise vielleicht nicht jedes künstlerische Ergebnis transportabel wäre. Nicht zuletzt wäre es in finanzieller Hinsicht alles andere als einfach. Dem sei widersprochen: Die Landesbühnen sind nicht alleine in der Landschaft der Darstellenden Künste. Gemeinsam mit den Theatern vor Ort, den Gastspielhäusern und Bespieltheatern, den freien Theatern und Amateurtheatern und nicht zuletzt dem Publikum selbst, könnten zukunftsfähige, neue Formate in kooperativer Zusammenarbeit erfunden und gefunden werden – dass alle gewillt sind, darüber nachzudenken, zeigte die Tagung in Memmingen, die viele der Akteur*innen zusammenbrachte. Die Theaterlandschaft kann längst nicht mehr in einzelnen Mosaiksteinchen beschrieben werden, sondern sollte als Patchwork verstanden werden. Ein neuer Ansatz braucht Vertrauen, eine klare Verantwortungszuschreibung und eine neue Idee von Landesbühne, die eben nicht von oben herab, sondern von der Mitte heraus verstanden wird.

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Bei Weitem nicht gleichgestellt sind sie in der öffentlichen Wahrnehmung, sei es in Debatten, im akademischen Kontext oder in der wissenschaftlichen Betrachtung, ein Zustand, dem auch die Autorin durch ihre Forschung entgegenwirken will.

2

Dieser Artikel basiert auf den Forschungen der Autorin im Rahmen ihrer Doktorarbeit, für die neun Experteninterviews mit Intendanten exemplarisch ausgewählter Landesbühnen geführt wurden.

3

Diese Formulierung verwendete Thorsten Weckherlin während der Memminger Tagung; es gehe darum, mit neuen Formaten und Projekten dem Kulturimperialismus der Landesbühnen ein Ende zu bereiten.

4

Siehe dazu die entsprechenden Beiträge von Thomas Renz und Beate Kegler in diesem Buch.

5

Deutscher Bühnenverein/Landesbühnengruppe (Hrsg.): Die Landesbühnen im Deutschen Bühnenverein, Detmold 2012, S. 12.

6

Ein Bild, das Manuel Schöbel im Gespräch als Beschreibung der Landesbühnen Sachsen verwendete.

7

„TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel“ ist ein Förderprogramm der Kulturstiftung des Bundes, welches Kulturinstitutionen im ländlichen Raum unterstützt, siehe dazu www.trafo-programm.de (Zugriff am 24. März 2019)

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Silvia Stolz

TRADITIONEN AUF DEM PRÜFSTAND Veranstalter und Anbieter im Gastspieltheater1 -

Es kriselt. In der Gesellschaft. In der deutschen Theaterlandschaft nahezu immer. Die Parteien der Mitte verlieren ihre Mehrheiten, die AfD zieht in sämtliche Parlamente ein, der Populismus durchdringt inzwischen weite Teile der Bevölkerung und Politik. Dann ist die Rede von den „Abgehängten“ und wenn von ihnen die Rede ist, dann schwingt immer ein Thema mit: gleiche Lebensbedingungen. Im Vereinigungsvertrag von 1990 hat sich die Bundesrepublik Deutschland zum Ziel gesetzt, gleiche Lebensbedingungen für jedermann flächendeckend herzustellen. Das Ziel gilt als verfehlt und die prognostizierte Entwicklung der Bevölkerung macht klar, dass es sich nicht verwirklichen lassen wird. Nun muss man unterscheiden: Fühlen sich die „Abgehängten“ nur subjektiv vernachlässigt oder gibt es eine objektiv messbare Ungleichheit? Was kulturelle Teilhabe auf Ebene der Theater betrifft, so ist die Ungleichheit signifikant, eklatant. Dieses Land verfügt über eine reiche, sogar die dichteste Theaterlandschaft der Welt, die der Deutsche Bühnenverein durch die UNESCO zum Kulturerbe erheben lassen will. Freilich geht es dabei nicht nur um Theater als spezielle Kunstform, sondern um die Erhaltung der Anzahl der öffentlichen Institutionen im Land (mit Ensemble und Repertoire). Kulturpolitisch wird im demokratischen Sinn um eben diese gleichen Lebensbedingungen zu streiten sein. Kulturelle Teilhabe auf theatraler Ebene würde bedeuten, dass jedem Bürger die Teilhabe am Theaterangebot möglich ist. Nun ist nicht automatisch gesagt, dass dann auch ein jeder am Theaterleben teilnehmen würde. Und doch darf als Grundvoraussetzung der Teilhabe die Erreichbarkeit eines Theaterangebots in direkter oder nicht allzu weiter Entfernung angesehen werden. Rund zwei Drittel der öffentlichen Ensembletheater sind in Großstädten angesiedelt. Hier lebt ein Drittel der Bevölkerung. Die Mehrspartentheater liegen nahezu allesamt in den großen Metropolen. Etwa 57 Prozent der Deutschen leben allerdings in ländlichen Räumen. Je kleiner die Gemeinde, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sich ein Ensembletheater vor Ort befindet. Es existiert ein starkes Stadt-Land-, zudem ein West-Ost-Gefälle und in der Zwischenzeit, wenn auch weniger stark ausgeprägt, ein Süd-Nord-Gefälle. Ja, es

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ist in den Großstädten möglich, aus einer Vielzahl und Vielfalt von Theateraufführungen auszuwählen, und es ist in den Mittelstädten möglich, direkt an Theaterkunst zu partizipieren. Doch der „Rest“? Der befindet sich entweder im Einzugsgebiet, muss hochgradig mobil sein, kann nicht ins Theater oder hat Glück und findet diese spezielle Theaterinstitution vor Ort vor, die flächendeckend kaum einer kennt: das Gastspieltheater. Nun gibt es nicht nur eine Ungleichheit, was die Verteilung übers Land betrifft, sondern auch innerhalb der öffentlichen Theaterinstitutionen. Diese Ungleichheit zieht sich durch alle Bereiche: Arbeitsbedingungen und Bezuschussung, Ansehen im Feuilleton und Aufmerksamkeit in der Politik. Dabei versuchen die Theater nicht die Differenzen zu überbrücken, um gemeinsam Energien und Synergien im Kampf um ihre Bedeutung und Legitimation zu erzielen, nein, es scheint, als stünden sie in ständiger Konkurrenz: Kampf ums Publikum, Kampf ums Geld, Kampf um Deutungshoheiten, Kampf um Monopolstellungen. Das selten ausgesprochene, aber oft gedachte Ranking unter „Theaterleuten“ ist klar: Kunst, das machen vor allem die Staats- und Stadttheater, im Landestheater muss man aufgrund der Gastspiele schon Abstriche machen, im privaten Tourneetheater sowieso. In der freien Szene kann nur arbeiten, wer es im institutionalisierten Betrieb nicht geschafft hat – und Amateurtheater? Ja, schwierig. Dass es auch andere Perspektiven gibt, beispielsweise die Flucht aus der krisenhaften institutionalisierten Theaterform, wird zumeist ignoriert. Während der Tagung in Memmingen ist sie oft greifbar, die Spannung der Theaterinstitutionen untereinander, das Belauern und vorsichtige Betasten und das Beharren derjenigen, welche die Kunsthoheit für sich in Anspruch nehmen. So war es denn tatsächlich auch und besonders die Leistung und der Erfolg der Tagung, die unterschiedlichen Theaterverbände Deutschlands zusammenzubringen und überhaupt in ein kommunikatives Momentum zu überführen. Und die Gastspieltheater, die Theater, die ohne ein eigenes Ensemble vorzuhalten, Theater vor Ort, in der Hauptsache in Form von Gastspielen anbieten? Wo stehen sie? So richtig weiß das keiner. Die Tagung in Memmingen zeigte auch, dass noch nicht einmal die Begrifflichkeit eine eindeutige ist. Bespieltheater? Oder doch Gastspieltheater? Eher Gastspielhaus? Eigentlich sind sie doch Kulturzentren, weil dort nicht „nur“ Theater stattfindet. Aus Landestheatersicht ist immer wieder vom kurzlebigen „Abstecher“ die Rede, darauf reagieren die gastgebenden Theater meist allergisch. Eine Einheitlichkeit in der Auswahl des Terminus gibt es nicht. Allein die Unklarheit in der Bezeichnung zeigt, wie wenig

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dieser Theaterbereich im Diskurs berücksichtigt wird, wie wenig Klarheit über die eigene Rolle herrscht und wie heterogen die Gastspieltheaterlandschaft tatsächlich ist. Im Feuilleton schlagen sich Gastspieltheater fast ausschließlich regional nieder und auch in der Forschung sind sie stark vernachlässigt. Lediglich ein repräsentatives, wissenschaftliches Werk gibt es. Es stammt von Claudia Borowy2 und ist über zwanzig Jahre alt. Auch Zahlenmaterial ist nur rudimentär vorhanden. Dies hat die INTHEGA (Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen e. V.) einst (bis ca. 2008) selbst erhoben.3 Eine Statistik vergleichbar der Theaterstatistik des Bühnenvereins existiert nicht. Gastspieltheater als kulturpolitische Akteure Insgesamt gibt es ca. 500 unterschiedliche Gemeinden, in denen von etwas mehr Veranstaltern die Kunstform Theater angeboten wird. Etwa 350 dieser Veranstalter sind Mitglied bei der INTHEGA. Weitet man die Kunstform Theater auf Darstellende Künste aus, die etwa auch den Bereich Kleinkunst abdecken, und zieht auch Orte hinzu, die ausschließlich ein konzertantes Angebot vorhalten, so ist von insgesamt ca. 600 Gemeinden und ca. 400 Mitgliedern, die unter dem Dach der INTHEGA zusammengeschlossen sind, auszugehen. Von Seiten der INTHEGA wird eine zu geringe Wahrnehmung stets beklagt.4 Dieser Betrachtung muss zugestimmt werden, denn die Gastspieltheater stellen sicher, dass rund ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands überhaupt an einem Theaterangebot partizipieren kann. Ausgehend von der erreichten Bevölkerungszahl, müsste dem Gastspieltheaterbereich auch ein Drittel an Aufmerksamkeit der unterschiedlichen Akteure (Politik, Presse, Kunst) zukommen. 72,4 Prozent der Gastspieltheater sind in Gemeinden der Größenordnung 10 000 bis 50 000 Einwohner vorzufinden. Die absolute Minderheit (4,2 Prozent) befindet sich in Großstädten ab 100 000 Einwohnern. Während es in Städten ab 100 000 die Ensembletheater sind, die einen Theaterbesuch ermöglichen, sind es in Gemeinden bis 100 000 die Gastspieltheater, ihre Veranstalter und die gastspielenden Ensembles und Künstler, die durch das Mittel der Distribution eine Partizipation offerieren. Unzweifelhaft ist, dass die Gastspieltheater wesentlicher „Förderer kultureller Teilhabe und Ermöglicher kultureller Teilhabe“5 in der sogenannten Provinz, aber auch darüber hinaus sind. Gezeigt wird alles von allem Die deutsche Theaterlandschaft ist vielfältig, die Gastspieltheaterlandschaft ist vielfältiger, um nicht zu sagen: heterogen. Gastspieltheater gibt es in Aalen bis Zweibrücken. Gespielt wird in Stadttheatern, Kulturzen-

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tren, Kurhäusern, Bürgerhäusern, Stadthallen, Schulaulen und Pfarrheimen. Geleitet werden sie je nach Präferenz der Stadt von Menschen mit Kultur-, Theater-, Verwaltungs- oder betriebswirtschaftlichem Hintergrund. Die inhaltlichen Experten mit Theater- oder Kulturausbildung sind nicht die Mehrheit, stehen aber in der Regel den großen Gastspieltheatern vor. Die Gastspieltheater sind organisiert als GmbH, Regiebetrieb, Kulturamt oder e. V. In Gastspieltheatern werden vornehmlich Gastspiele aufgeführt. Natürlich können auch Eigenproduktionen stattfinden. Die Gastspieltheater unterscheidet vom Ensembletheater vor allem die personelle Infrastruktur. Anders als am Ensembletheater fehlen hier das künstlerische Personal und der Teil des technischen Personals, der für die Herstellung der Bühnenbilder verantwortlich ist. Kurzum: Gastspieltheater verfügen nicht über handwerkliche Werkstätten. Das zweite hauptsächliche Unterscheidungsmerkmal ist das nicht vorhandene Repertoire- (oder auch En-Suite-)Spielsystem. In der Regel findet ein Gastspiel nach dem anderen ohne Wiederholung statt. Der strukturelle Vergleich zum Festival, nur auf dauerhafte und nicht endenwollende Art und Weise, liegt nahe. Was dem Angebot des Gastspieltheaters im Vergleich zum Festival allerdings fehlt, ist die Konzentration auf ein bestimmtes Thema, Genre, künstlerisches Format oder die Werkschau „der Besten“. Gastspieltheater zeigen alles von allem. Es gibt Gastspieltheater, in denen nur vier Aufführungen pro Jahr gezeigt werden, und dann gibt es die großen Häuser, in denen 500 Veranstaltungen stattfinden. Auch das Veranstaltungsangebot kann sehr vielfältig sein. Während die einen „nur“ Theater bzw. Kultur im engen Begriff, nämlich Kunst, zeigen, findet bei den anderen nur hin und wieder Theater statt und die Masse der Veranstaltungen sind Messen, Kongresse, Tagungen oder gesellschaftliche Events. Während die einen über einen Theatersaal mit ansteigenden Reihen verfügen, veranstalten die anderen in Mehrzweckhallen mit aufgebauter Bühne. Während die einen hauptsächlich vermieten und nicht der eigentliche Herr ihres Angebots sind, gestalten die anderen einen kompletten Spielplan, in dem für Vermietungen schon allein aus terminlichen (aber auch künstlerischen) Gründen kein Platz ist. Während die einen höchst professionell arbeiten, kann an anderen Orten auf nahezu allen Ebenen viel dazugelernt werden. Das ist schwarz und weiß – und dann gibt es noch alle Farben dazwischen. Von Veranstaltungen und vom Vermieten Die Kunstform Theater wird in Gastspieltheatern durch ein breites Feld von Gastspielenden distribuiert. Hier gastiert alles, was die Theaterlandschaft in Deutschland und darüber hinaus zu bieten hat:

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STADEUM Kultur- und Tagungszentrum, Stade. Foto: Martin Elsen

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Tourneetheater: Sie sind Privattheater ohne feste Produktionsstätte. Geprobt wird in temporär angemieteten Proberäumen. Sie sind, wie der Name schon sagt, ständig auf Tournee. Es kommt vor, dass Tourneetheater das ganze Programm einer Stadt stellen. (z. B. Konzertdirektion Landgraf, a.gon Theater) Privattheater: Sie verfügen über eine feste Produktionsstätte, in der Aufführungen stattfinden, und gehen zusätzlich auf Tournee oder geben einzelne Gastspiele. (z. B. Komödie am Kurfürstendamm, Hamburger Kammerspiele) Landesbühnen: Sie sind öffentliche Theater, die den kulturpolitischen Auftrag haben, Theater nicht nur an ihrem Sitzort vorzuhalten, sondern in die Fläche zu bringen und eine Region mit einem Theaterangebot zu versorgen. Dadurch und durch ihre Mobilität unterscheiden sie sich in der Hauptsache von Stadt- und Staatstheatern. (z. B. Landestheater Detmold, Westfälisches Landestheater Castrop-Rauxel) Freie Theater: Sie sind Theater, die zumeist ohne eigene Spielstätte und ohne festes Ensemble in der Regel kleinere Aufführungen produzieren. (z. B. theater 3 hasen oben, Theater Fata Morgana) Agenturen: Sie vermitteln beispielsweise einzelne Künstler, Produktionen und auch internationale Angebote. (z. B. Konzertdirektion Claudius Schutte, THEATER- ORGANISATIONS-BÜRO Berlin t.o.b.) Eigenproduktionen der Gastspieltheater Stadt- und Staatstheater


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Die Gastspieltheater sind die einzigen Institutionen dieses Landes, in denen die unterschiedlich organisierten Theater Deutschlands zusammenkommen, allerdings nicht gleichzeitig. Sie suchen zeitlich versetzt die gleiche Spielstätte auf und präsentieren sich dem gleichen Publikum vor Ort. So vernetzt die Landschaft aus Gastspieltheatern nicht nur die Orte mit Theatergastspielen miteinander, sondern auch die unterschiedlichsten Theatererscheinungen in Deutschland. Neben den oben genannten Theatereinrichtungen sind auch regionale Amateurtheatergruppen in den Gastspieltheatern präsent. Diese werden jedoch zumeist nicht von den Veranstaltern engagiert. Sie sind damit nicht fester Bestandteil des hauseigenen Theaterangebots, sondern ihnen wird die Veranstaltungsstätte, oftmals gegen eine geringere Miete, zum Auftritt zur Verfügung gestellt. Daneben gibt es noch eine Gruppe von Veranstaltern, die vornehmlich populäre Shows (z. B. Best-of-Musicals, Irish Dance und Coverbands in verschiedensten Variationen etc.) produzieren. Sie werden vom regionalen Gastspielveranstalter nicht engagiert, sondern mieten sich selbst ein. Oft liegt dem Vertrag auch eine Teilung der Einnahmen zugrunde. Streng genommen, ihre Produktionsform betrachtend, gehören sie zu den Tourneetheatern, allerdings mit einem rein kommerziellen Angebot und damit möglichst geringen Produktionskosten. Für den Zuschauer der Gastspieltheater ist an vielen Orten durch die Darstellung und Gestaltung der Marketingbroschüren nicht klar, was eine Eigenveranstaltung und was eine Vermietung ist. Nur bei der Eigenveranstaltung kann auf Qualität, Inhalt und Form Einfluss genommen werden. Die meisten Gastspielhäuser sind aber finanziell von Vermietungen abhängig. Sie müssen vermieten und letztlich sicherstellen, dass auch der Mieter auf seine Einnahmen kommt. Aus künstlerischer und kulturpolitischer Sicht kann eine rein einnahmeorientierte Fremdvermietung nicht gewünscht sein. Diese Vermietungen nehmen aber aufgrund von Etatkürzungen drastisch zu, bis hin zur ausschließlichen Komplettvermietung. Stattdessen müsste über eine Erhöhung der Förderungen nachgedacht werden, um die Programme der Gastspieltheater flächendeckend zu qualifizieren. Unter den oben genannten Anbietern von Theatergastspielen, spielen die öffentlichen Stadt- und Staatstheater nur eine untergeordnete Rolle. Zwar gibt es einzelne Gastspiele, beispielsweise des Pfalztheaters Kaiserslautern oder des Deutschen Theaters Göttingen, doch sie sind in der Minderheit. In den vergangenen Jahren wurde erwartet, dass diese zunehmen würden, da die Ensembletheater dadurch ihre Einnahmen und Besucherzahlen steigern könnten, doch es zeigte sich, wie immobil, teuer und schwerfällig die großen Apparate sind. Ein weiteres Hindernis

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sind die unterschiedlichen Planungszyklen: Während die Theater ihren Spielplan des Folgejahrs in der Spielzeit davor planen, beginnen Gastspieltheater mit der Planung deutlich (ca. zwei Jahre) früher. Mobilitätsfragen des Angebots auf Seiten der Staats- und Stadttheater wären zu diskutieren. Wie können hier mehr Gastspiele ermöglicht werden? Auch Eigenproduktionen kommt beim Blick auf die Aufführungszahlen eine geringe Gewichtung zu. Sie machen einen kleinen Teil des Angebots aus, auch wenn ihnen grundsätzlich eine hohe Bedeutung zukommt: Nur durch sie ist es dem Gastspieltheater möglich, eine regionale Anbindung zu schaffen, individuelle kulturpolitische Ziele zu verfolgen, regionale Themen zu verarbeiten, über kleinere Projekte Partizipation zu fördern und eine Identifikation zu stiften, wie sie sonst nur ein Ensemble ermöglicht. Den Gastspieltheatern fällt es in der Regel schwer, ein eigenes künstlerisches Profil zu schärfen, einen eigenen Spielplan zu entwerfen, denn sie alle bedienen sich aus dem gleichen Angebot. Gelegentlich kursiert der Vorwurf: „Überall das Gleiche.“ Teile von Gastspieltheatern versuchen über die dauerhafte Zusammenarbeit mit einzelnen Theatern, Identifikation und Kontinuität zu schaffen. Dies gelingt jedoch nur gelegentlich. Dass es wenige Eigenproduktionen gibt, liegt vor allem an den hohen Produktionskosten, den beschränkt möglichen Aufführungszahlen und dem Mangel an künstlerischem Personal im Haus. Hier gilt es weiterzudenken, wie Gastspieltheatern ein regionaler Bezug durch die Ermöglichung von Eigenproduktionen, Koproduktionen oder andere Anbieter ermöglicht werden kann. Es lohnt sich ferner, einen Blick auf die Räumlichkeiten der Gastspieltheater zu werfen: Wie können Gastspieltheater als Produktionsstätten genutzt werden? Wie können leere Räume an Leben gewinnen? Hier könnte die freie Szene eine Rolle spielen, die wiederum oft auf der Suche nach Spielorten ist. Schon jetzt spielt sie eine wichtige Rolle für die Gastspieltheater, die kontinuierlich zugenommen hat. Während die freien Theater im Spielplan für Erwachsene kaum vorkommen, sind sie im Bereich Kinder- und Jugendtheater die tragende Säule. Einerseits sind sie günstig und flexibel, andererseits fällt ihnen der Umgang mit dem in den Gastspieltheatern konventionellen Guckkastenraum nicht leicht. Da ihr Anspruch oft die Innovation und das Experimentieren mit Theaterformen ist, tun sich Gastspieltheater schwer, sie auch im Abendspielplan zu berücksichtigen. Erschwerend kommt bei der freien Szene die schiere Unüberschaubarkeit und Heterogenität an Theatern und Produktionen hinzu und, dass die INTHEGA auf dem Theatermarkt nur wenige von ihnen berücksichtigt.

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Kunstanspruch oder Publikumsgeschmack? Wichtigstes Standbein der öffentlichen Theater für die Gastspieltheater sind die Landesbühnen. Sie müssen einen Spagat erfüllen zwischen dem Sitzort, dort sind sie Stadttheater, und den Gastspielen. Obwohl sie eine Doppelfunktion innehaben, sind sie die unter den öffentlichen Ensembletheatern, welche die geringsten Fördersummen erhalten. So sind sie abhängig von den Buchungen und dem Verkauf von Vorstellungen. Längst reisen sie nicht mehr nur in ihre Region, sondern nehmen für Gastspiele weite Anreisen in Kauf. Während das Ensemble unterwegs ist, kann zu Hause meist nicht gespielt werden oder nur eine kleine Produktion. Die Mobilität macht weitere Kompromisse nötig: Das Bühnenbild muss variabel sein. Zumeist wird die Gastspieltätigkeit als künstlerisch einschränkend wahrgenommen. Was Kunst ist oder was das Publikum „braucht“, wird an Landestheatern und an Gastspieltheatern oft deutlich unterschiedlich gesehen. So entwirft dann die Dramaturgie des Landestheaters einen Spielplan der Positionen enthält, von denen man sich Buchungen von den Gastspieltheatern erhofft. Während Stadttheater neben der Kunstorientierung und der vielzitierten gesellschaftlichen Relevanz auch ihr Publikum vor Ort im Blick haben müssen, müssen die Landestheater zudem die Gastspielveranstalter und wiederum deren Publikum im Blick haben. Eine erfüllbare Aufgabe? Aufgrund der Reisetätigkeit, den geringen Fördersummen und den damit geringeren Gagen sind dort oft junge Schauspieler, junge Regisseure und auch junge Intendanten tätig (nicht selten auf der ersten Intendanzposition). Sie brennen für die Kunst und die Selbstverwirklichung und weniger für das Publikum und die Gastspiele. Dies ist oft eine Diskrepanz zu den Gastspielveranstaltern. Hinzu kommt, dass die Landesbühnen oft Produktionen verkaufen und noch gar nicht wissen, wer der Regisseur sein wird und in welche Richtung die Inszenierung gehen wird. Etwa zwanzig Prozent der Aufführungen an Gastspieltheatern werden von öffentlichen Landestheatern gespielt. Die Landesbühnen haben den Auftrag, die Region mit Theater zu versorgen. Tatsache ist, dass die Landestheater mehr Gastspiele spielen könnten, aber sie wären quantitativ nicht in der Lage, alle Gastspiele an den Gastspielhäusern zu erbringen. Es lässt sich folglich festhalten, dass die öffentliche Förderung die Gastspieltheater betreffend nicht genügt, um ein ausreichendes öffentliches Angebot bereitzustellen. Hier kommen die Tourneetheater und Privattheater ins Spiel. Sie bestreiten die Spielpläne der Gastspieltheater noch mehrheitlich. Das heißt dort, wo man sich es leisten kann, denn ihre Produktionen sind in der Regel teurer als die der freien Thea-

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ter oder auch der Landesbühnen. Diesen privaten Theatern fließen indirekt, über die Kommune des Gastspieltheaters, öffentliche Fördersummen (Subventionen, wenn man so will) zu. Das muss nichts Schlechtes sein, denn es gibt Produktionen hoher Qualität und mit Inhalten, die kulturpolitisch wertvoll sind und an öffentlichen Theatern genauso laufen (könnten). Aber es gibt auch schlechte Produktionen, die semiprofessionellen Aufführungen, die inhaltlichen Leichtgewichte, die unseriösen Angebote, die bis an die rechtlichen Grenzen und darüber hinaus reichen – und die dann doch von Gastspielveranstaltern engagiert werden. Nicht nur die Gastspieltheater sind heterogen, die Gastspielveranstalter sind es auch. Letztlich fehlt es an einer kulturpolitischen Kontrollinstanz, einem Zertifikat, einer Förderung besonders wertvoller Aufführungen. Richtungsweisend kann hier das Kultursekretariat NRW sein, das sich auf Landesebene dafür einsetzt, kommunale Kulturarbeit zu qualifizieren, beispielsweise durch die Förderung einzelner Produktionen. Der Markt ist unüberschaubar geworden, die Angebote differenzieren sich immer mehr aus. Die professionellen Tourneetheater und Privattheater mit Gastspielangebot leisten einen unermesslichen Beitrag für die Gastspieltheaterbranche. Sie stellen sicher, dass es qualitative Produktionen unterschiedlicher Genres gibt, die für die Tournee produziert worden sind, für die Anforderungen und für das Publikum der Gastspieltheater. Sie sind die einzigen, die nur oder in der Hauptsache die Gastspiele im Blick haben. Da sie jedoch auf Einnahmen angewiesen sind, gestalten sie mehrheitlich Produktionen, die auf Nachfrage beim Publikum stoßen sollen, die sich dadurch wiederum gut bei den Gastspielkunden verkaufen lassen. An problematische, relevante Inhalte trauen sie sich selten, im Schauspiel dominiert die Komödie, im musikalischen Bereich sind es Musicals oder musikalische Shows. Beim Verkauf hilft die Besetzung mit Prominenten, auch wenn diese oft das Theaterhandwerk (TV-Stars) nicht allzu gut verstehen. Hinzu kommt eine weitere Entwicklung: Ein Teil der renommierten Tourneetheater findet sich in einem Alterungsprozess. Kempf Theatergastspiele und Das Ensemble haben bereits den Betrieb eingestellt. Die Konzertdirektion Landgraf hat die Anzahl der Eigenproduktionen zurückgefahren. Die Tätigkeit der Tourneetheater erschwert auch, dass die Tourneen, die Anzahl der verkauften Aufführungen pro Produktion immer kürzer werden. Das hat zweierlei Gründe: Zum einen drängen immer mehr Anbieter, auch kleine Privattheater und die freien Theater, auf den Markt, zum anderen gibt es Gastspieltheater, die aufgrund von Kürzungen kein Theaterangebot mehr gestalten können, die dann nur noch vermieten oder die

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Familie Flöz, Berlin: Teatro Delusio. Foto: Simona Boccedi

zumindest ihre Aufführungszahl minimieren. Können weniger Vorstellungen verkauft werden, bleibt den Tourneetheatern nur, kostengünstiger zu produzieren. Ein unguter Kreislauf entwickelt sich: weniger gute Produktionen, weniger Nachfrage beim Gastspieltheater, weniger Einnahmen. Eine Förderung von Tourneetheater, ein gefördertes Tourneetheater oder eine flächendeckende Gastspielförderung existieren nicht. Tatsächlich ginge es auch um mehr als die Förderung einzelner Gastspiele: die Möglichkeit am Ort zu bleiben, etwas zu entwickeln und erst dann weiterzuziehen. Gesellschaftliche Relevanz und kulturpolitischer Auftrag Probleme des Gastspieltheatermarkts sind vielfältig: Da ist die Förderung zweifelhafter Privattheater und Agenturen auf Umwegen durch die Kommunen. Da ist die Herausforderung der Gastspieltheater (meist ohne Eigenproduktionen), einen individuellen auf den Ort zugeschnittenen Spielplan zu entwerfen. Zudem ist ein theaternahes, vermittelndes, pädagogisches Angebot (z. B. Einführungen, Publikumsgespräche, Spielclubs), das an den Ensembletheatern boomt, in den Gastspieltheatern mit dünner Personaldecke kaum möglich. Die zeitliche Vorausplanung, die deutlich früher als am Theater stattfindet, lässt ferner eine brisante Aktualität kaum zu. Während kein Ensembletheater mehr daran vorbeikommt, seine Legitimation auch mit gesellschaftlicher Relevanz und kulturpolitischem Auftrag zu bekräftigen, muss die Frage erlaubt sein, wie viel Bezug zu den Belangen der Gesellschaft ohne konkreten

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Gegenwarts- und Regionalbezug möglich ist? Eine oftmals unterschätzte Qualität und Besonderheit der Gastspieltheater ist die kulturelle Vielfalt. Häufig übertreffen sie das mögliche Angebot eines großen Mehrspartentheaters. In Gastspieltheatern sind alle Theatergenres und jede Form der Darstellenden Künste möglich. Es lässt sich feststellen, dass die Aufführungszahlen von Opern, Operetten und philharmonischen Konzerten zurückgehen. Dies hat mit einem Rückgang der Besucherzahlen zu tun und damit, dass sich viele Gastspieltheater Gastspiele in dieser Größendimension nicht (mehr) leisten können. Auch das Genre Tanz ist davon betroffen, obwohl hier grundsätzlich kein Besucherrückgang zu vermelden ist. Die Bundeskulturstiftung hat mit dem Programm Tanzland an einzelnen Orten Abhilfe durch zeitlich begrenzte Kooperationen geschaffen. Programme wie diese, auch für andere Genres, sind stark ausbaufähig, sollen die genannten Genres der breiten Bevölkerung zugänglich bleiben oder gemacht werden. Die zunehmende Monopolisierung der kostenintensiven Genres auf die Metropolen ist absehbar. Insgesamt ist festzustellen, dass der Inhalt der Spielpläne sich in jüngster Vergangenheit immer weiter verschoben hat von den klassischen Genres hin zur Populärkultur. Die Masse des Schauspielangebots stellten schon immer Komödien dar, aber die Zunahme der Schauspiele mit Musik, des Kleinkunst- und Comedy-Angebots und das neue Genre Crossover im herausgegebenen Spielplanjournal der INTHEGA deuten auf eine zunehmende Publikumsorientierung hin. Die Konzentration auf die reine Nachfrage birgt ein hohes Risiko. Alles, was eine hohe Nachfrage mit sich bringt, lässt sich unter Umständen irgendwann auch durch Vermietungen kostengünstiger bewerkstelligen. Das Gastspieltheater riskiert seinen zu fördernden Charakter. Eine weitere Schwierigkeit der Branche ist ohnehin die Kommerzialisierung der Kunst. Veranstalter der Gastspieltheater buchen und kaufen Produktionen. Sie tun dies u. a. auf einem von der INTHEGA veranstalteten Theatermarkt, auf dem Theaterproduktionen, die es oft noch gar nicht gibt, vermarktet werden. Alles ist auf den Verkauf hin ausgerichtet. Wohin führt die Konkurrenz der Gastspielanbieter, hier weniger die Konkurrenz um die Kunsthoheit denn um die Einnahmen? Sie führt beispielsweise zu dem zeitlichen Druck, dass immer früher gebucht werden soll, und sie führt dazu, immer günstiger produzieren zu wollen. Innovation und Mut zum Risiko sind nahezu nicht existent. Eine Anbindung an das aktuelle Zeitgeschehen ist nahezu unmöglich. Selten wird von Spielplangestaltung, Theaterkunst oder kulturpolitischen Zielen geredet, vielmehr vom „Einkauf“, „Buchen“ und dem

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„Termin“. Es fehlt unter den Gastspielveranstaltern an dramaturgischer Expertise der Spielplangestaltung, auch sonst fehlt es an vielen Häusern, vornehmlich an den kleinen, an Expertise beispielsweise im Bereich Inszenierungen, Marketing, Pädagogik. Wie auch könnten Häuser dieser Art mit geringem Personal, Fachleute auf jedem Gebiet bereithalten? Wie sollten Ämter, die für Jugend, Soziales und Kultur (inklusive Gastspieltheater) zuständig sind, alles zeitgleich optimal erfüllen? Und: Es fehlt an Kulturpolitik. Neben den Schlagwörtern „Grundversorgung“ und „kulturelle Bildung“ (mit Bezug nur auf Kinder und Jugendliche) herrscht eine weitgehende Ideen- und Konzeptlosigkeit. Wo wenige Wertkriterien und Ziele existieren, kann es nur um Einnahmen und Besucherzahlen gehen. Um kulturelle Teilhabe zu ermöglichen und die kulturelle Vielfalt auf dem Land zu erhalten und zu fördern, ist ein Umdenken erforderlich. Die Theaterlandschaft muss als Ganzes mit all ihren Akteuren gesehen, wahrgenommen und gefördert werden. Die Inseln müssen mit Netzen überbrückt werden. Es braucht mehr Kulturpolitik für die Fläche.

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Der Artikel basiert auf den Forschungen der Autorin im Rahmen ihrer Doktorarbeit, für die zwanzig Experteninterviews mit Leitern von Gastspieltheatern, Kommunalpolitikern und gastspielenden Theatern geführt wurden.

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Borowy, Claudia: Kommerzielles Tourneetheater in ensemblelosen Gemeinden: Rahmenbedingungen, Struktur- und Funktionsprinzipien eines Produktions- und Distributionsmodells innerhalb des deutschen Theatersystems; Ergebnisse einer empirischen Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 1998.

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Die Daten hat seinerzeit Dieter Hadamczik erhoben, der an vielen Stellen in den Veröffentlichungen der INTHEGA darauf hinweist, wie schwierig es ist, aus den vielen und sehr unterschiedlichen Institutionen Daten zu erhalten.

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Kreppel, Christian; Tuchmann, Bernward: „Auch Metropolis war einst Provinz“, in: KM – Das Magazin von Kultur Management Network Nr. 31, Mai 2018, S. 29–33.

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Renz, Thomas: „Theater in der Provinz – Gastspieltheater als Förderer kultureller Teilhabe in ländlichen Räumen“, www.kubi-online.de/artikel/theater-provinz-gastspieltheater-foerderer-kultureller-teilhabe-laendlichen-raeumen (Zugriff am 20. Oktober 2018).

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REFLEXIONEN ZUM THEATER IN DER PROVINZ


Wolfgang Schneider

KARTOGRAFIE UND KONZEPTION DER THEATERLANDSCHAFT NEU DENKEN 1

Ein Plädoyer für die Provinz -

Es war im Frühjahr 2018, als das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim zusammen mit dem Landestheater Schwaben in Memmingen zur Auseinandersetzung eingeladen hatte. Es ging um „Theater in der Provinz“, um kulturelle Landarbeit, aber auch um künstlerische Kooperationen jenseits der Metropolen. Diskutiert wurde über strukturelle Defizite in den Dörfern, über demografische Entwicklungen in den Regionen, über eine Theaterlandschaft, die – zumindest, was die öffentliche Förderung betrifft – in den großen Städten zu lokalisieren ist. Was liegt also näher, als sich mit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu beschäftigen? Wenn denn die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen ein Völkerrecht ist, was heißt das dann für deren Schutz und Förderung in ruralen Räumen? Und wenn Teilnahme und Teilhabe in der Kultur für alle möglich sein sollen, was braucht es für eine Theaterentwicklungsplanung, die die gesamte Bevölkerung, wo auch immer sie lebt, berücksichtigt? Sven Scherz-Schade: Um vorab Missverständnisse zu klären: Ab wann beginnt denn nach kulturwissenschaftlichen Maßstäben die Provinz? Wie klein muss eine Kommune mit Spielort sein, damit sie für Sie im Rahmen der Debatte ums Theater in der Provinz als Untersuchungsgegenstand relevant wird? Wolfgang Schneider: Im antiken Rom ging es darum, territoriale Einheiten außerhalb der italienischen Gebiete zu definieren. Davon stammt der Begriff „Provinz“ ab und er ist damit im Grunde wertfrei. Tatsächlich ist bei uns aber heute der Begriff eher negativ konnotiert. Man schreibt der Provinz jenseits der Metropolen im schlimmsten Fall das Hinterwäldlerische zu, das von Kulturarmut geprägt ist. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es keine Definition, wie viele Einwohner eine Kommune haben muss, um als Provinz zu gelten. So etwas zu definieren, hielte ich auch für verfehlt, weil es bei dem Begriff um Abgrenzung von den Metropolen geht. Auch größere Städte, die lediglich neben einer noch größeren Metropole lie-

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gen, werden mitunter als „Provinz“ betitelt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber eine Statistik: Siebzig Prozent der Bevölkerung lebt in Deutschland außerhalb der großen Städte. Das ist ein Hinweis darauf, dass alle Untersuchungen, die sich um die Provinz richten, keine marginalen oder nebensächlichen Angelegenheiten sind. Es geht dabei um den Großteil der Bevölkerung in Deutschland. Deshalb pflegen wir am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim die Provinz auch seit Jahren als Untersuchungsgegenstand. In unserem Weißbuch Breitenkultur versuchen wir, die Kultur im ländlichen Raum noch zusätzlich als eine Kultur zu definieren, bei der es auch um kulturelle Traditionen, ehrenamtliches Engagement und künstlerische Praxis im Sinne eines breiten Kulturbegriffs geht. Wenn wir versuchen, den Terminus „Provinz“ neu zu definieren, dann rücken wir die Aufmerksamkeit auf diejenigen Kommunen in Deutschland, die kulturpolitisch gefährdet sind, wo eine bestimmte kulturelle Daseinsvorsorge nicht mehr gewährleistet ist, und zwar aus Gründen des demografischen Wandels oder aufgrund von Haushaltskonsolidierungen. Schuld hat oftmals auch generell eine zu enge Fokussierung von Kulturpolitik auf die großen Städte. Neunzig Prozent der öffentlichen Mittel in der Kulturförderung – aus Bund, Ländern und Kommunen, was ca. zehn Milliarden Euro sind – gehen in die großen Städte und davon sind neunzig Prozent wiederum durch die großen Kultureinrichtungen wie Museen, Theater und Oper gebunden. Die Tagung in der Provinz über das Theater in der Provinz brachte erstmals diejenigen zusammen, die zusammengehören, wenn die kulturpolitische Aufgabe angegangen werden soll, die Theaterlandschaft kartografisch neu zu denken. Dabei war der Deutsche Bühnenverein mit seinen Stadt- und Staatstheatern, besonders gefragt waren die Landesbühnen, zu deren Auftrag es gehört, auch die Fläche mit Theater zu versorgen. Angereist waren Repräsentanten der freien Darstellenden Künste; sie sind mobil und inszenieren auch an improvisierten Orten, die weniger mit den klassischen Theaterbauten zu tun haben. Dass auch der Bund der Amateurtheater Deutschlands vertreten war, hat sich als besonders inspirierend erwiesen. Amateurtheater sind nah dran und mittendrin, ihr Theaterprogramm wird nicht nur für ein Publikum gemacht, ihr künstlerisches Wirken wird durch die Beteiligung der Bevölkerung getragen. Ein wichtiger Partner ist zudem die INTHEGA, die an mehr als 500 Standorten in der Republik Bürgerhäuser mit Gastspielen versorgt. Auch die Tourneetheater als private Anbieter von Schauspielen und

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Musicals reden mit, wenn es um die Distribution geht, ebenso wie die Theatergemeinden. Wie steht es um den Bekanntheitsgrad dieses Theaters in der Fläche? International ist Deutschland für seine enorme Theaterdichte bekannt und hoch angesehen. Wissen die Deutschen selbst denn auch, was sie an ihren „Provinztheatern“ haben? Die hohe Dichte an Stadt- und Staatstheatern, an freien Theatern und auch an Amateurtheatern, die wir in Deutschland haben, ist durchaus bekannt. Die Frage ist nur: Wird es auch genutzt? Weiterhin erscheint es wichtig, ob die Entwicklung in der Theaterlandschaft parallel zur Transformation der Gesellschaft verläuft: Wie steht es um die Standortsensibilität in Sachen Globalisierung und Medialisierung? Im Moment bewirbt sich Deutschland beispielsweise mit seiner einzigartigen Theater- und Orchesterlandschaft um einen Platz auf der UNESCO-Liste des immateriellen Weltkulturerbes. Daran gab es Kritik wie Zustimmung. Die einen fürchten durch solch einen UNESCO-Welterberang die Musealisierung der Institution Theater. Die anderen sehen darin die Chance, die Relevanz des Theaters deutlich zu machen, weil unsere Theaterlandschaft dann internationale Anerkennung erfährt, verbunden mit der Hoffnung, dass Theaterkultur auch zukünftig öffentlich gefördert wird. Das ist der gesellschaftliche Versuch, das Theater in Deutschland entsprechend zu positionieren. Aber – und das wäre meine Kritik: Diese Forderung geht allzu leichtfertig über das Theater in der Provinz hinweg, obwohl es ein integraler Bestandteil dieser Theaterlandschaft ist. Diese Zusammenhänge wollen wir gerne erforschen. Das Theater in der Provinz ist relevant und existiert auch in vielen Initiativen. Aber es steht nicht unbedingt auf der Agenda der Kulturpolitik. Ähnlich wie beim Mobilfunknetz (anno 2018) haben wir auch beim Theater in der Fläche unschöne Lücken. Längst nicht alle Kommunen „leisten“ sich einen Spielort. Wobei: Wer wirklich ins Theater will, wird auch im abgeschiedenen ländlichen Raum immer irgendwas finden, das ihn irgendwie in Sachen Bühnenkunst versorgt. Hat man denn aus kulturwissenschaftlicher Sicht eine normative Vorstellung, wie viel Theater sein muss, um von ausreichender Versorgung zu sprechen? Danke für das Bild vom Mobilfunknetz. Allerdings finde ich, dass wir Menschen derzeit unseren Blick täglich und stundenweise sehr eingeschränkt haben auf iPhone und die kleinen Bildschirme. Ich

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Kartografie und Konzeption der Theaterlandschaft neu denken

Theater Lindenhof, Melchingen: Ein Dorf im Widerstand. Foto: Richard Becker

plädiere da eher für eine Horizonterweiterung im Sinne des Theaters. Es wäre besser, wenn wir den Blick stärker auf das fokussieren, was uns das Theater erzählen will. Wenn unser Land die Lücken im Mobilfunknetz schließen will, dann müsste parallel eine Bewegung initiiert werden, die andere „Lücken“ schließt und eine Schulung des Sehens, Hörens und Fühlens einfordert. Dafür sollte man dann durchaus den Begriff der Agrarwirtschaft übernehmen und es bitte schön flächendeckend angehen. Nochmal die Statistik: Mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung nimmt nicht die Angebote wahr, die in unseren Kulturinstitutionen durch öffentliche Kulturförderung bereitgestellt werden. Das ist doch ein Skandal! Die Theaterlandschaft verzichtet auf mehr als die Hälfte ihres Publikums. Als normative Vorstellung gibt es z. B. bei der ASSITEJ, dem Netzwerk für Kinder- und Jugendtheater, folgendes: Kinder und Jugendliche sollten zwei Mal im Jahr die Gelegenheit haben, ein Theater zu besuchen. Das wird in unserem reichen Land nicht annähernd erreicht. Wir wissen aber, dass Kinder aus privilegierten Familien weitaus öfter Theaterveranstaltungen besuchen, sodass sich das Bild einer wirklich dramatischen Situation ergibt. Solche Berechnungen sind der Versuch, über die Quantität etwas in Gang zu setzen, das dann insbesondere künstlerische Qualität zur Folge haben sollte. „Theater in der Provinz“, der Begriff ist weder geschützt noch bisher definiert. Es gibt nicht das Theater und es gibt nicht die Provinz, soweit

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die Banalitäten. Komplexer wird es, wenn vom Konkreten aus der Praxis die Kulturpolitik für das Ganze gedacht werden will. Denn zu klären ist in der Tat, wer ist wer und was braucht es, um Theater auf dem Land und in kleineren Städten möglich zu machen. Nicht besonders überraschend war deshalb, dass auf drei Aspekte immer wieder fokussiert wurde: die Idee vom theatralen Projekt, die Idee vom Kooperieren als Format und die Idee einer publikumsorientierten Theaterarbeit. Ausgangspunkt aller Überlegungen zu dieser Tagung war die Tatsache: Theater ist für alle da! Wo auch immer Menschen leben, sie haben einen Anspruch auf Theater, auf Zugang und Partizipation. Kritik am bestehenden System ist eine permanente kulturpolitische Debatte, die auch in Memmingen immer wieder aufkam. Von den Parallelwelten war die Rede, in denen Stadttheater und freie Theater agieren, und davon, dass dem Amateurtheater neben dem professionellen und dem freien Theater noch immer kein fester, geschweige denn ein gleichberechtigter Platz in der Theaterpolitik zugestanden wird. Allzu oft gehe es um die Immobilien des institutionalisierten Theaters und viel weniger um das künstlerische Personal oder gar um die kulturelle Vermittlung. Im Untertitel bescheinigt der hier vorliegende Band dem Theater in der Provinz die viel beschworene künstlerische Vielfalt. Was hat es damit auf sich? Sind die Spielpläne in der Provinz tatsächlich so vielfältig? Es geht weniger konkret um Spielpläne als vielmehr um das Verständnis von Theater und die Theaterpraxis, die breiter aufgestellt ist als das, was man klassischerweise etwa bei der Guckkastenbühne im strengen Verhältnis mit Schauspiel hier oben und Publikum dort unten hat. Unser Bezugsrahmen in Hinblick auf Vielfalt war und ist die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt von 2005. Sie ist geradezu ein segenreiches Völkerrecht und hat insbesondere in Europa einen großen kulturpolitischen Wert, um Vielfalt zu erhalten und zu ermöglichen oder um überhaupt den Fokus der Gesellschaft auf die Unterschiede zu lenken. Die Vielfalt der Menschen, der Kulturen, der Ausdrucksformen – all das begegnet uns immer wieder im Theater der Provinz. Hierzu zählen neben Theaterspiel auch Festivitäten, Aktionen und Traditionen, die gepflegt werden. Theater der Provinz bedeutet auch, wenn sich z. B. ein Dorf unterm Maibaum inszeniert. Oder wenn bei der Feuerwehrkapelle gesungen und getanzt wird. Oder wenn in den christlichen Kirchen über Theatrales biblische Geschichten erzählt werden, was durchaus auch künstlerische Qualität haben kann. Es gibt freie Theater, die insbesondere

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im ländlichen Raum mit der Bevölkerung Theater machen. Es gibt vielfältige Formen von Theateraufführungen in Dorfgemeinschaftshäusern, die zwar von außen bestückt werden, aber eine gewichtige Rolle etwa in der jeweiligen Schule spielen oder z. B. begleitet werden von der Volkshochschule oder von Vereinen. Insgesamt ist es oftmals weit mehr als das, was wir in den Städten vorfinden. In den Metropolen gibt es eventuell nur den einen klassischen Ort, nämlich die Theaterinstitution, wo Theater gespielt wird. Unsere Erkenntnis aus der Forschung könnte vielleicht helfen, den Theaterbegriff wieder etwas breiter zu definieren, und ihn aus seiner engen und starren Bedeutung der letzten 200 Jahre herausholen. Wie sieht es mit der kulturellen Teilhabe aus? Um welche gesellschaftlichen Milieus kümmert sich das Theater gut und erfolgreich und welche Besucher bleiben (noch) aus? Kulturelle Teilhabe hat beim Theater der Provinz einen anderen Stellenwert. Das sehen wir ganz gut an wissenschaftlichen Studien, die Beate Kegler für das Hildesheimer Institut betreut. Sie befassen sich mit dem Freilichttheater in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus. Man hat es hier ganz offensichtlich auch mit einem klassischen Theatersystem zu tun, das sich in Bühnen- und Zuschauerraum teilt. Darüber hinaus ist es aber ein Sommerspektakel, das grundsätzlich gut funktioniert, auch bei Regenwetter. Der Grund dafür ist: Es bedient stark das Bedürfnis einer breiten Bevölkerungsgruppe. Ich sage bewusst „bedienen“, was noch eher der Teilnahme als der Teilhabe entspricht. Aber durchaus wird bei diesem Sommerspektakel auch gefeiert, sodass den Besuchern auch Teilhabe zukommt. Die Amateurtheaterstudie von Thomas Renz und Doreen Götzky, die beide auch in Hildesheim am Weißbuch mitgearbeitet haben, macht deutlich, dass Amateurtheater ein teilhabeorientiertes Theater ist. Dort trifft sich tatsächlich die Bevölkerung und das nicht nur auf der Bühne und nicht nur bei der Vorstellung, sondern auch bei allem, was drum herum passiert. Man hat es hier mit großen Dimensionen zu tun. Allein in Niedersachsen existieren tausend Amateurtheatergruppen. Das geht weit in die Fläche. Kein Stadt- oder Staatstheater könnte Vergleichbares leisten. Auch in den Memminger Debatten wurde über das Publikum gesprochen, auch im Plural über Publika, sprich Zielgruppen. Ein teilnehmender Intendant benannte es scherzhaft die „Publikümmer“, um deutlich zu machen, dass man sich um das entsprechende Publikum kümmern muss. Auf unserer

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Tagung wurde klar, dass insbesondere die Amateurtheater und freien Theater den Begriff „Publikum“ nicht verwenden, wenn es darum geht, diejenigen Menschen anzusprechen, die Zielgruppe sind. In diesem Zusammenhang sprechen die Amateurtheater und freien Theater dann von Bevölkerung. Es wird dann etwa gesagt, dass man mit Menschen in der Gemeinde gearbeitet hat, die dieses oder jenes Theaterinteresse zeigen. Dieser Blickwinkel macht den großen Unterschied aus. Man spricht nicht mehr von Kenn- und Auslastungszahlen des Publikums und man denkt nicht mehr in den Kategorien des Audience Development. Stattdessen lässt man sich auf die unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Interessen in der Bevölkerung ein, was gerade unter dem Aspekt des kulturellen Wandels wesentlich ist und unter dem Aspekt, Menschen mitzunehmen, die aufgrund von Bildung und Einkommen nicht selbstverständlich ins Theater kommen. Bleibt noch die Frage nach dem Publikum. Auch in Memmingen gab es nicht die Antwort; schon allein deshalb nicht, weil sich an diesem Begriff die Geister scheiden. Sibylle Broll-Pape, Intendantin am E.T.A.Hoffmann-Theater Bamberg, weiß sehr genau, wer das ist. Publikumsforschung sei kein Hexenwerk und die Bindung des Publikums gehe über Ästhetik und Inhalt. Ganz anders sieht das Jens-Erwin Siemssen, künstlerischer Leiter von Das letzte Kleinod aus der norddeutschen Tiefebene. „Unser Haus ist auf Rädern und kann Leute an Alltagsorten erreichen.“ Er, der mit seinem Theater in einem Zug unterwegs ist, vermeidet überhaupt, von Publikum zu sprechen. Das verbindet ihn mit Naemi Zoe Keuler, Geschäftsführerin des Landesverbandes der Amateurtheater in Baden-Württemberg. Sie behauptet selbstbewusst: Wir sind das Volk! „Bottom-up, das ist unsere Methode!“ Das Amateurtheater unterscheide sich deshalb gerne vom professionellen Theater. Es gehe um die Arbeit mit Menschen „und zwar nicht nur durch kulturpolitische Vorgaben wie Inklusion oder Interkultur“. Welcher Stellenwert kommt der großen und wichtigen Gruppe der Kinder und Jugendlichen zu? Erreicht das Theater in der Provinz diese Zielgruppe? Als langjähriger Vorsitzender der ASSITEJ, dem Netzwerk Kinderund Jugendtheater, habe ich immer gesagt, dass sich der Verein irgendwann selbst überflüssig machen kann, wenn es gelingt, Kinder- und Jugendtheater als integralen Bestandteil in der Theaterlandschaft zu etablieren. Es hat sich zwar in den letzten 25 Jahren quan-

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titativ und qualitativ viel entwickelt, aber es ist noch lange nicht so, dass alle Kinder und Jugendlicher am Theater teilhaben. Und immer noch ist Kinder- und Jugendtheater an manchen Spielorten ein Appendix oder das fünfte Rad am Wagen und ist nicht so gut ausgestattet wie das Theater für Erwachsene. Das Theater in der Provinz ist eng mit der Gastspiel- und Tourneetheaterszene verwoben. Kann da die Theaterlandschaft insgesamt etwas lernen und sich zum Nachmachen abgucken? Vor allen Dingen konzeptionelle Überlegungen, was Theater sein kann, wären hier zu nennen. In der Provinz könnte Theater weg von der Angebotsorientierung, hin zur Ermöglichung von Teilhabe durchgespielt werden. Das würde aber auch bedeuten, dass sich Kulturpolitik an dieser Stelle nicht nur weiterhin auf die Produktionsförderung verlässt. Sie sollte sich insbesondere auch um die Distributions- und Rezeptionsförderung kümmern. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob eine Produktion abgespielt ist, wenn sie in einer Stadt acht Mal auf der Bühne zu sehen war. Das heißt: Hat sich damit die Investition mit öffentlichen Mitteln ausgezahlt oder kann man diese Produktion auch noch übers Land schicken? Bei diesen Überlegungen streift man auch die Frage, wo die Zukunft der Landesbühnen zu sehen ist. Und es geht auch darum, zu klären, wie sich die Gastspieltheater als kommunale Kulturzentren verändern, was Innenarchitektur und Außendarstellung, was Traditionen der Tourneetheater und Innovationen durch freie Räume für freie Theater, was Theaterpädagogik und Bürgerbühne betrifft. Ich erwarte, dass die Zukunft des Theaters auch in den Bürgerhäusern und Kulturzentren der Kommunen liegt, weil dort die Teilhabeermöglichung jenseits der klassischen Produktionen aktiv gestaltet werden kann. Gastspielförderung ist das eine. Aber Spielförderung ist das andere. Es gibt auch in kleineren Städten hier und da Angebote, wo Bürgerchöre ein Programm machen, das durchaus ein großes Theaterereignis sein kann. Es werden freie Theatergruppen an Bürgerhäusern engagiert, um eine Produktion mit der Bevölkerung zu realisieren. Eventuell kommen bei Arbeiten eines theaterpädagogischen Zentrums Produktionen heraus, die stärker partizipatorischen Charakter haben, als dass am Ende „große Kunst“ steht. Unsere Überlegungen führen uns immer wieder auf solche Veränderungen zu, die unserer Meinung nach notwendig sind, wenn unsere Theaterlandschaft nicht nur auf der UNESCO-Liste enden will.

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Das heißt, es bräuchte eine regelrechte Graswurzelbewegung von ganz unten. Was kann dabei die Kulturpolitik fördern? Mitunter schaffen es ja selbst die Kommunen nicht, ihre Mehrzweckhallen kulturell gut und ausgewogen zu bespielen … Aber wir haben mehrere gute Beispiele gefunden. Etwa die Programme der Bundeskulturstiftung, die unter dem Titel TRAFO einige Projekte beisteuern. Kritisch kann man da anmerken, dass dies alles überschaubar und noch recht wenig ist. Aber es sind bei TRAFO ja auch Modellprojekte, in denen es um den Wandel der Gesellschaft im ländlichen Raum und um deren kulturelle Begleitung geht. Hierin liegt auch eine neue Rolle der Landesbühnen begründet. Wir haben übers Land verteilt 25 davon. Mehr als die Hälfte davon haben den Auftrag, ihre Produktionen außerhalb ihrer Sitzstadt zu spielen. Das allein ist manchmal schon schwierig zu realisieren und wird nicht von allen eingehalten. Manche touren – als Kompromiss – mit Ein-Personen-Stücken oder Lesungen in den ländlichen Raum. Was uns gut gefällt, sind solche Projekte, die sich auf das Land oder auf eine bestimmte Kommune einlassen und dort etwas entstehen lassen, das dann durchaus auf der großen Bühne Bestand hat. Das ist eine Form von Theaterprojektarbeit, die auch das kollektive Entstehen wieder besser ermöglicht. Es wird in diesen Arbeiten selbstverständlich auch eine Autorin, einen Theaterpädagogen, eine Regisseurin, einen Dramaturgen geben, aber sie werden sich eher als Gruppe verstehen, um die besonderen, für das Land relevanten Themen zu bearbeiten. Wir haben auf der Schwäbischen Alb Beispiele kennenlernen dürfen, die von der Württembergischen Landesbühne Tübingen initiiert wurden. Das könnten Prototypen sein, um zukünftig kulturpolitisch Theaterentwicklung zu betreiben. Und zudem sage ich als Kulturpolitikforscher: Das Instrument „Kulturentwicklungsplanung“ hat sich in der Kulturpolitik als äußerst hilfreich erwiesen, um kommunale Kulturkonzepte zu entwickeln. Warum aber gibt es nicht mehr Theaterentwicklungsplanungen für die Region? Man könnte dabei tatsächlich mal von unten, von der Bevölkerung aus planen. Es ist ein Umdenken notwendig. Das zeigen uns die erfolgreichen Tendenzen in der Praxis, die sich zwischen Landesbühnen, freien Theatern und Amateurtheatern ergeben. Vom „Verschwinden“ handelt ein Projekt, das Micha Kranixfeld, Susanne Schuster und Felix Worpenberg im Auftrag des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern in Tübingen (LTT) mit Mitteln der Initiative TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel der Kulturstiftung des

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Hof-Theater Tromm/Trommer Sommer, Auf der Tromm: Hölzerlips – eine Räuberballade. Foto: Peter Hahn

Bundes auf der Schwäbischen Alb verwirklicht haben. Im Mittelpunkt ein Dorf, die Gemeinde Engstingen, ein kleiner Haufen Häuser, umgeben von Feldern und Wald. In seiner Mitte eine Kirche und ein Gasthof; die Sparkasse wurde geschlossen, die Jugend wandert ab. Nix los? Von wegen! Die drei Hildesheimer Alumni mischten sich für Monate ein in die Gemeinschaft und fanden Gesprächspartner. Die Dörfler wurden Mitforschende über Lebensrealitäten auf dem Land, über die Perspektiven für das Ländliche, mit dem Wissen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Es gab ein Musikvideo für eine lokale Band, die Figurentheateraufführungen mit dem Titel Stadt kommt nicht in Frage auf der Basis von Interviews mit Jugendlichen und der SMS-Walk #ciao amore über Motive des Fortgehens und Dableibens als inszenierte Ortserkundung. Für die finale Aktion mit einer Zeitkapsel riefen die Theatermachenden auf, Dinge oder Erinnerungen aus Engstingen zu sammeln, die in 25 Jahren nicht mehr da sein würden. „Dieses Projekt eröffnete so ein Gespräch darüber, was an Engstingen vom Verschwinden bedroht ist und deshalb sammelnswert ist“, schreiben die Künstler des Syndikats Gefährliche Liebschaften in der Dokumentation „Albkulturen“ des LTT. Das Projekt ist mit der Förderung abgeschlossen; fragt sich, ob sich etwas strukturell bewegt hat. Mehr Freiräume für Kooperationen und Kombinationen wären wünschenswert – ein erstes Credo der Tagung. Größter Hemmschuh für das Theater in der Provinz sind oftmals mangelnde Finanzen. Insbesondere die kulturelle Unterfinanzierung in vielen nord- und ostdeutschen Kommunen ist ein Problem. Auch wenn die Situationen in den Bundesländern stark voneinander

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abweichen: Erwarten uns kultur- und kulturfinanzpolitisch zukünftig bessere oder schlechtere Zeiten? Ich bin doch kein Prophet! Ich hoffe aber doch sehr, dass wir als Gesellschaft so stark sind, zu erkennen, was für uns in Zukunft das Bessere ist. Und dieses Bessere wäre nicht nur das eben benannte Umdenken, sondern auch ein Umbau der Theaterlandschaft, der in Hinblick auf die Finanzierung auch mit einer Umverteilung verbunden sein wird. Dabei wird uns auch die Frage begleiten, ob die Theaterfinanzierung von allen weiterhin getragen wird. Es kann in diesem Zusammenhang zu schwierigen Torpedierungen kommen, wie sie z. B. beim Kulturverständnis der AfD zu befürchten sind. Oder ich erinnere an die Situation in Bonn, wo auch schon mal Vereinsfunktionäre dazu aufgerufen hatten, zugunsten der Sportförderung gegen die Kulturausgaben zu votieren. Soweit würde ich es nicht kommen lassen. Es gilt, jetzt schon die Weichen zu stellen. Und wir haben im Rahmen unseres Forschungsprojekts „Theater in der Provinz“ aufgezeigt, dass es Ansätze gibt. Katharina M. Schröck hat sich in ihrem Forschungsprojekt mit der Zukunft der Landesbühnen beschäftigt und Silvia Stolz mit den Strukturen des Gastspieltheaters. Beide haben im Ergebnis interessante Erkenntnisse generiert. Da wäre das Theater Lindenhof in Melchingen, wo sich, salopp formuliert, Alt-68er in einen Gasthof im Dorf eingekauft haben. Mittlerweile haben sie große, landesweite Anerkennung gefunden. Die Spielstätte wurde jetzt mit öffentlichen Mitteln saniert. Sie haben sich einerseits gut verortet. Andererseits haben sie Themen und Stoffe generiert und Geschichten erzählt, die vielleicht in der Stadt verloren gegangen sind. Bei Premieren steht der Porsche aus Stuttgart genauso vor der Tür wie das Klappfahrrad der Landbevölkerung. Ein anderes Beispiel sind die Bürgerhäuser in Südhessen, wo nicht nur die üblichen Programme gemacht werden. Es wird auch koproduziert, man ist Mitinitiator eines Festivals der Spielstätten, nimmt Teil am Programm Starke Stücke und bietet übers ganze Jahr ein qualifiziertes Angebot speziell im Kinder- und Jugendtheater an. Das ist die bunte Mischung, wie ein Bürgerhaus zukünftig operieren kann. Und noch ein drittes Modell-Projekt sei erwähnt: Das Hof-Theater auf der Tromm, mitten im schönen Odenwald. Gespielt wird vor und in der umgebauten Scheune von Theaterprinzipal Jürgen Flügge und Kulturmanagerin Angelika Borchert „auf hohem Niveau“, nämlich 577 Meter über Normal Null, sowie auf Marktplätzen der Region. Zu sehen gibt es Gastspiele mit Kindertheater und von

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Kabarettisten, Kleinkunst mit Musik und umgekehrt, einmal im Jahr ein Wochenende lang ein Festival, aber auch Volkstheater in Eigenproduktion als „Sommerspiele Überwald“, auch mit lokalen Akteuren. Insofern habe ich als Kulturwissenschaftler Hoffnungen: Es wird versucht, von den öffentlichen Finanzmitteln der Öffentlichkeit etwas zurückzugeben. Wir reflektieren Fehlentwicklungen in der Theaterlandschaft und beobachten diejenige Kulturpolitik kritisch, die sich sozusagen der normativen Kraft des Faktischen der Institutionen aussetzt. Kritisch sind wir gegenüber einer Kulturpolitik, die sich von bestehenden Machtstrukturen immer wieder selbst perpetuieren lässt, anstatt auf neue Initiativen zu setzen, die ein Theater von unten ermöglichen. Letzteres erweitert den Theaterbegriff wie auch die Theaterpraxis. In der Provinz liegt hier eine große Chance und deshalb ist für uns Theater in der Provinz durchaus positiv konnotiert. Die Positionierung der Praxis von Theaterarbeit hat in Memmingen gezeigt, dass sich die Akteure nicht unversöhnlich gegenüberstehen; dass es aber, wenn Theater der Provinz gewollt ist, zu Grenzüberschreitungen kommen muss. Vom „Kerngeschäft“ Kunst zu schwadronieren oder alleine nur mit der kulturellen Bildung zu klappern, das sind die falschen Antipoden. Strukturen von gestern gilt es zu reformieren, öffentliche Förderung darf dabei gerne auch auf konzeptionellen Überlegungen basieren, kann sich als Risikoprämie verstehen, um Standortsensibilitäten zu ermöglichen. Theater in der Provinz ist kein Kampfbegriff gegen etwas. Die Tagung hat gezeigt, wie die Darstellenden Künste bei aller künstlerischen Vielfalt und für die Breite der Bevölkerung die Theaterlandschaft bereichern könnte.

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Der Text basiert auf einem von Sven Scherz-Schade geführten Interview im INTHEGA Kultur-Journal I/2019 und verwendet zudem einen Beitrag aus den Kulturpolitischen Mitteilungen Nr. 163, IV/2019.

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FREIRÄUME FÜR KOOPERATIONEN Aufbruchsstimmung im Theater der Provinz1 -

Das Landestheater Tübingen ist sich seines Auftrags, in die tiefe Provinz hineinzuwirken, durchaus bewusst und gründete mit dem Theater Lindenhof in Melchingen die Theaterwerkstatt Schwäbische Alb. 2017 beauftragte es mithilfe von Geldern des Programms der Bundeskulturstiftung TRAFO (Modelle für Kultur im Wandel) Micha Kranixfeld, Susanne Schuster und Felix Worpenberg mit der künstlerischen Raumforschung Im Verschwinden erscheint es.2 Gemeinsam mit den Bewohner*innen des Dorfs Engstingen befragten die drei Künstler den Strukturwandel im ländlichen Raum. Sie führten Gespräche, recherchierten und sammelten Gegenstände der Bevölkerung vor Ort, die für die nächsten 25 Jahre in einer Schatzkiste, der Zeitkapsel, im Kirchturm verschlossen sind und erst 2042 der Bevölkerung wieder präsentiert werden. Wer das Projekt in den sozialen Medien verfolgte, konnte sich diverser performativer Szenen erfreuen, welche die ländliche Landschaft meist in ein anderes Licht verrückten. Die Aktion kulminierte – so lässt es zumindest die Außenperspektive vermuten – des Öfteren in einem Event zwischen Dorffest und Kunstereignis. Ein Spannungsfeld, das derlei Aktionen insbesondere in der Provinz einen gewissen Reiz verleiht: Es spricht sich wohl schnell herum, dass diese jungen Künstler*innen vom Theater der dreißig Kilometer entfernten Stadt Tübingen engagiert sind, sie wirken vielleicht – im künstlerischen Sinne – exotisch, doch aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum etablierten Theater sind sie irgendwie Teil der eigenen Kultur. Im Verschwinden erscheint es gibt dem Theater eine längst vergessene Funktion innerhalb des Alltäglichen zurück, die Verknüpfung von Ritual und Kunst, in diesem Fall Dorffest und künstlerischer Aktion. Die Ergebnisse der ländlichen Recherche, eine weitere künstlerische Verarbeitung und Inszenierung, hätten mit Sicherheit auch ein Publikum in Tübingen interessiert, doch die Werkstatt bleibt auf der Alb und das Theater im Städtchen, gegenseitige Austausch- und Kooperationsprozesse von Stadt und Land, Theaterarbeiten in der Provinz und Inszenierungen im Landestheater sind hier scheinbar nicht gefragt. Dabei liegt die große Stärke in der wechselseitigen Beziehung zwischen Stadt

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und Landkreis und ihren ganz unterschiedlichen, doch räumlich zueinander gehörenden Stilen. Die Künstler*innengruppe ist 2018 zurück in der Region: mit Workshops für Schüler*innen und Jugendliche, sozialgesellschaftliche Folgeprojekte sind jederzeit erwünscht, immerhin.3 Das E.T.A.-Hoffmann-Theater in Bamberg vollzog ebenfalls einen Schachzug in Richtung Aufbruch, indem es Sibylle Broll-Pape zur Intendantin ernannte, der als Gründerin des prinz regent theaters in Bochum die Arbeitsweisen der freien Theaterszene mehr als bekannt sind. Der unmittelbare Bezug des freien Theaters zur Gesellschaft scheint auch in Broll-Papes Herangehensweise in Bamberg Früchte zu tragen. So suchte sie vor Amtsantritt nach relevanten Themen in der katholischen Studierendenstadt und zog fragend durch die Gassen. Ein vielfältiger Spielplan, rege Teilnahme von Studierenden und Senior*innen gleichermaßen belohnen dieses Interesse an lokaler Relevanz, doch auch hier zögert man, noch mehr in Kulturpädagog*innen oder in regionale Feldforschung nach Themenstoffen zu investieren. Vielmehr irritierte die Intendantin die Bemerkung einer theateraffinen Bambergerin vor Beginn ihrer Amtszeit: Das Münchner Theater sei besser, aber das Bamberger gehöre eben zu ihnen. Das will sie ändern: gutes Theater mit lokaler Relevanz. Ein Widerspruch? Regionalität als Qualität? In beiden Beispielen tritt eine entscheidende Ambivalenz der Theaterlandschaft, von der ein Großteil in der Provinz liegt, zutage: Landes-, Stadt- und Staatstheater haben einen künstlerischen Anspruch, der regionale Gebundenheit oftmals – so der Eindruck – nicht verträgt. Auch wenn die Frage, woran sich künstlerische Qualität messen lässt, bekanntlich nicht allgemein beantwortet werden kann, lässt sich eine bestimmte Tendenz ausmachen: Zum einen obliegt die Entscheidungshoheit über Darstellungsweisen immer noch wenigen Schauspielschulen. Das fördert nicht unbedingt künstlerische Vielfalt und gibt tendenziell immer noch einen bestimmten Gestus vor. Zum anderen wird dies durch die – innerhalb der einschlägigen Szene – hohe Bedeutung des Berliner Theatertreffens verstärkt. Hier entscheidet eine Truppe aus sieben Mitgliedern darüber, welche Produktionen aus der Provinz und anderswoher dem weltstädtischen Berliner Publikum zugemutet werden können. Mit Blick auf die gekürten Inszenierungen der letzten Jahre kann durchaus behauptet werden, dass regionale Besonderheiten und Bezüge meist zugunsten der Suche nach einer Ästhetik, die deutschlandweit beeindrucken kann, in den Hintergrund rücken, was durchaus verständlich ist. Für den Ritterschlag, eingeladen zu werden, nimmt der

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ehrgeizige Theaterschaffende einiges in Kauf: Sie oder er sorgt sich weniger um die Themen der Region als um diese überregionale Anerkennung. Zu Recht oder zu Unrecht, das kann diskutiert werden, doch fordert diesen Zustand das nationale Intendantenkarussell nicht regelrecht ein? Wieso sollte ein Theaterleiter, der im Alpenvorland jahrelang Berge bestiegen hat, auf einmal von einem Dampfer auf See an der Küste angeheuert werden? Ist es nicht beide Male besser, als Pilot durch Kunsthimmel über die Theaterlandschaft mit ihren regionalen Eigenheiten hinwegzujagen? Oder wäre das nicht gerade spannend, auf dem Boden der Provinz vom Bock zum Gärtner gemacht zu werden – oder andersherum? Doch auch wenn sich eine Intendantin oder ein Regisseur für die Region einsetzt, mit Gruppen der freien Szene und Institutionen in der Region kooperiert, eventuell daraus sogar eine große Produktion entstehen soll, stellt sich ein weiteres theaterspezifisches Hindernis in den Weg. Die Organisationsstrukturen und Abläufe der jeweiligen Akteur*innen und die Erwartungshaltungen, die an sie gestellt werden, unterscheiden sich mitunter immens. Eingefahrene Regularien der festen Häuser stehen oftmals konträr gegenüber einer gewissen Gestaltungsfreiheit, die Vertreter*innen der freien Szene und bisweilen auch der Amateurtheater und Theaterpädagogik in ihrem Tun genießen. Letztere halten oftmals nicht nur den direkten Kontakt zur Region, sondern sind in ihrer Arbeit nicht ganz so stark dem kritischen Auge der Öffentlichkeit ausgesetzt, werden aber mitunter von diesem auch kaum beachtet. Festangestellte Regisseur*innen und Intendanten sind dagegen in den öffentlichen Medien fest etablierte Größen, genießen Haus- und Entscheidungsrechte, stehen jedoch unter enormem Erfolgsdruck. Der große Betrieb will nicht nur organisiert, sondern zumindest größtenteils ausgelastet sein. Die Vertreter*innen der freien Szene leiden zwar oft unter prekären Rahmenbedingungen, sind dagegen aber relativ flexibel in ihrem Tun. Sie werden an innovativen, zeitlich begrenzten Projekten gemessen, die auch mal scheitern können. Und die Theatervermittler*innen in den Regionen? Sie können, wenn sie im Genuss einer Förderung sind, erst einmal in Ruhe die Lage sondieren, Gespräche führen und reflektierend ermitteln, was gebraucht wird. Allerdings kommen sie selten in die Gunst langfristiger Finanzierungssicherheit. Provinz als Projekt! Dabei wäre eine Kombination aus all diesen verschiedenen Vor- und Nachteilen vielleicht ein Schlüssel zum zukünftigen Erfolg von Theater in der Provinz und anderswo. Sicherlich, Theater ist Kunst und keine

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Freiräume für Kooperationen

Landestheater Württemberg-Hohenzollern, Tübingen: Der Schatz von Upflamör (Theaterwerkstatt Schwäbische Alb). Foto: David Klumpp

Anstalt des alleinigen Frönens gesellschaftlich-regionaler Relevanz. Was aber, wenn sich in der Recherche im Umfeld Ideen, Erfahrungen, Schätze finden, welche – auf der Bühne inszeniert – zu ästhetischer Qualität verwandelt werden, nicht nur dort, wo sie geborgen und entdeckt wurden? Was wäre, wenn den Kulturvermittlern auf einmal ein großes Medienecho folgt und Kunstkritik auch dieses Terrain betritt? Vielleicht hält das Alltägliche der Provinz neue Trends und Methoden jenseits des Magazins Landlust bereit, für die sich eine aufwendige kunstaffine Recherche durchaus lohnen würde. Hier können Dramaturgie, Kulturvermittlung, Regie, Öffentlichkeitsarbeit, Kultur- und Kunstmedien, Feuilletons in Radio und Zeitung eng miteinander kooperieren: Nicht nur jedem Kind ein Instrument, sondern jeder Provinz ein künstlerisches Großprojekt. Dies fordert jedoch auch ein Umdenken innerhalb der Kunstinstitutionen ein. Gängige kulturpolitische Rahmenbedingungen fördern in erster Linie eine hierarchische und festgefahrene Verteilung an Zuständigkeiten künstlerischer und gesellschaftlicher Art zwischen Theater, freier Szene, Amateurtheater, Vermittlung, Stadt und Provinz. Was wäre, wenn zugunsten von Kooperationen in der Region das Regelwerk auf den Kopf gestellt wird, also freie Gruppen über längere Zeiträume gebunden werden, Intendant*innen auch mal scheitern dürfen, wenn sie in der Gestaltung des Spielplans die nähere Umgebung fokussieren und Theater nicht nur nach Auslastungszahlen, sondern nach Freiraum für

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Landestheater Württemberg-Hohenzollern: Der Schatz von Upflamör (Theaterwerkstatt Schwäbische Alb). Foto: David Klumpp

Kooperationen und Kombinationen evaluiert werden? Diversität und Regionalität würde dies fördern und vielleicht so manche neue Theaterbesucher*innen nachhaltig locken und binden. Strukturwandel braucht Zeit und wird nicht immer gleich für alle sichtbar Früchte tragen. Die Förderung und Anerkennung regionaler Kooperationen zwischen diversen künstlerischen und sozialen Räumen wäre jedoch ein ernstzunehmendes Zeichen einer landesweiten Aufbruchstimmung aus der Provinz.

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Eine stark gekürzte Version des Artikels ist als Tagungsbericht unter dem Titel: „Unter Ochsen und Bullen: Theater in der Provinz. Eine Tagung in Memmingen“, in: Theater heute 6/2018, S. 67, erschienen.

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Vgl. http://lernende-kulturregion.de/projekte/im-verschwinden-erscheint-es/; https://issuu.com/michakranixfeld/docs/dokumentation_zeitkapsel_engstingen (Zugriff am 7. Oktober 2018).

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Informationen zum Folgeprojekt: http://gefaehrliche-liebschaften.de/?p=1131 (Zugriff am 9. Oktober 2018).

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Manfred Jahnke

PARADIGMENWECHSEL IN DER PROVINZ Perspektiven für die Theaterlandschaft -

Perspektiven für das Theater in der Provinz? Das ist doch Striese mit seiner Schmiere? Ein Vagabundenleben, von Ort zu Ort ziehend, sich bei den Honoratioren beliebt machen müssend, kurz: die Bretter, die Pfosten, die sind aufgeschlagen – das Spiel, das sich ganz auf die Reaktionen des Publikums einlässt, kann beginnen. Beste Unterhaltung. Da konnte es schon sein, dass mit einer Tragödie begonnen wurde und man schnell zu einer Posse umschaltete, wenn das Desinteresse des Publikums zu lautstark sich formulierte. 19. Jahrhundert? Was aber ist mit Bruscon im Wirtshaus Schwarzer Hirsch zu Utzbach, der vom „Rad der Geschichte“ erzählen möchte? Im 20. Jahrhundert? Das Leiden der Künstler*innen an der Provinz präformiert ein wichtiges Topos in der Literatur, nur verständlich auf der Folie des Verstehens und Nicht-Verstehens oder von Enge und Weltläufigkeit. Aber so, wie längst schon „Provinz“ sich in „ländliche Räume“ transformierte, so verlieren Klischees mit der Zeit ihre Bedeutung, zumal „Provinz“ eher einen biedermeierlichen Mentalitätszustand der Enge und Miefigkeit beschreibt, durchaus ein Phänomen, das nicht nur im Ruralen verortet werden kann, sondern dort sogar eher weniger. Das Problem ist ein anderes: Die dünne Besiedelung erschwert kulturelle Produktion ungemein. Dabei konkurrieren Landesbühnen, Tourneetheater, freie Theatergruppen und Amateurtheater mit Unterhaltung und Kunst, manchmal auch nur mit Zerstreuung, um die Gunst eines Publikums, das in seinen Wünschen und Ansprüchen ernstgenommen sein will. Landesbühnen reisen mit einem „Kulturauftrag“, sie sollen Kultur auf das Land bringen. Das funktionierte, solange Kultur und Bildung noch eine Einheit bildeten, kulturelles Erbe wichtiger Bestandteil bürgerlicher Identität war. Aber in dem Maße, wie Bildung sich formalisierte und historisches Bewusstsein schwand, wurde unangenehm deutlich, dass sich hinter diesem „Kultur bringen“ ein kolonialer Anspruch zeigt. Man bringt das Licht nur dorthin, wo es dunkel ist. Wenn Menschen aber das Gefühl haben, es wird ihnen etwas aufgedrängt, was sie aus ihrer Lebenserfahrung gar nicht notwendig „brauchen“, dann können sie wahrscheinlich auch gar nicht so besonders viel damit anfangen.

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Manfred Jahnke

Ein Paradigmenwechsel hat sich vollzogen, der auch dem Begriff des „ländlichen Raums“ geschuldet ist, der zunächst als „Wirtschaftsraum“ definiert ist, zumeist mit einer losen Besiedlung, die zu den Arbeitsplätzen, Behörden, Schulen etc. durch eine schwierige bzw. unzureichende Mobilitätsstruktur ausgezeichnet ist. Schon längst haben sich auch in ländlichen Räumen andere Kommunikationsstrukturen neben den traditionellen (Vereine etc.) durchgesetzt, wird die demokratische Teilhabe an der Kultur mit neuen Augen betrachtet. Dabei fehlt allerdings in ländlichen Räumen, wie eine Studie des Landesverbands Freie Tanzund Theaterschaffende Baden-Württemberg festgestellt hat, zumeist von Seiten der Verwaltung und der Politik nicht nur eine mangelnde kulturpolitische Initiative, sondern auch der Wille zu einer Finanzierung von kulturellen Aktivitäten. Das zeigt sich auch darin, dass oftmals in den Gemeinden keine Zuständigkeit für Kultur verteilt ist, sondern Kulturvereine und ähnliche Initiativen diese Aufgabe übernehmen. Schon hierin kommt ein starkes Engagement zum Tragen. Bibliotheken, Kunstkneipen und ähnliche Institutionen übernehmen im ländlichen Raum entsprechende Aufgaben. Mit ihrer regionalen Gebundenheit und dem persönlichen Kontakt stellen diese eine gewichtige Vermittlungsagentur dar. Freie Gruppen und Amateurtheater, die vor Ort verankert sind, partizipieren an dieser regionalen Gebundenheit, zumal sie als Teil der kommunalen Gesellschaft begriffen werden. Modelle für Kultur im Wandel Landestheater hingegen kommen angereist. Sie sind zwar in die Region eingebunden, aber es fehlt schlicht an der personellen Ausstattung, auch noch an den verschiedenen Spielorten über die Aufführung hinausgehende Aktivitäten, insbesondere partizipativer Art, durchzuführen. Das gelingt partiell im Kindertheaterbereich, wo Kindergärten und Grundschulen oft als Gastgeber fungieren. Schon im Jugendtheaterbereich – das beschreibt die oben genannte Studie aus Baden-Württemberg – gelingt das nicht, weil die weiterführenden Schulen dafür keine Etats mehr zur Verfügung stellen. Noch schwieriger wird es im Erwachsenenbereich, wo nicht einmal die Landestheater – und noch weniger die Tourneetheater – entsprechende partizipative Angebote über klassische Formen wie Gesprächskreise nach einer Aufführung etc. hinaus entwickeln. Wirkliche „Teilhabe“ findet so nicht statt – und das in einer Zeit, da das Theater nicht mehr als Selbstläufer funktioniert, sondern mit einer Reihe von innovativen Vermittlungsstrategien sein Publikum ansprechen muss, um wahrgenommen zu werden. Nicht zufällig moniert der Intendant des Landestheaters Tübingen, Thorsten Weck-

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herlin, auf der Tagung in Memmingen, dass das Theater seine Relevanz verloren habe. Aber was ist denn mit „Relevanz“ gemeint? Der Anspruch auf das Theater als Ort der existenziellen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Welt? Nicht zufällig taucht in diesem Zusammenhang regelmäßig die Betonung der Kunsthaftigkeit von Theater auf. Theater arbeitet in seiner Narration mit spezifisch künstlerischen Mitteln, um so einen Ausdruck zu finden dafür, wie Menschen interagieren mit allen zugehörigen Konflikten, Widersprüchen und Utopien. Aber wie lässt sich mit diesem Kunstbeharren in einer Zeit umgehen, in der das Theater selbst im Wandel ist, immer mehr seine repräsentativen Formen aufgibt und sich dafür an performativen Transformationen abarbeitet? Die Grenzen zwischen künstlerischen und soziokulturellen Aktivitäten verschwimmen mehr und mehr. Deutlich ist das an einer Theaterpädagogik abzulesen, die einerseits ihre kulturvermittelnden Aufgaben erfüllt, andererseits in der Spielpraxis darauf hinarbeitet, künstlerische Formen zu integrieren. Theater wird so als ein Laboratorium sozialer Fantasie begriffen, in dem alte und junge Menschen selbstbestimmt einen eigenen individuellen Ausdruck finden und zugleich an sozialer Kompetenz hinzugewinnen. Insofern könnte theaterpädagogisches Arbeiten, wie es sich z. B. in den „Stop teaching!“-Konzepten niederschlägt, zum Modell für Theaterperspektiven in der Provinz werden. Eine der größten Schwierigkeiten scheint neben der mangelhaften Mobilität des öffentlichen Nahverkehrs die Förderung der Motivation zu sein, an kulturellen Projekten zu partizipieren. Wenn sich im urbanen Raum die Möglichkeiten zu einer demokratischen Teilhabe durch verschiedenartige Institutionen sehr ausdifferenziert vergegenwärtigen, so reduziert sich deren Zahl auf dem Land beträchtlich. Das Angebot, das in der Stadt eine Wahl unter verschiedenen Alternativen zulässt, fokussiert sich in kleinen Orten abseits der Verdichtungsräume oft auf nur einen Anbieter. Umso gewichtiger erscheint die Kooperation mit vor Ort befindlichen Schulen, Dorfbibliotheken, Ablegern von Volkshochschulen, Vereinen und Amateurtheatern. Zumindest in Süddeutschland sind diese stark in den Dörfern vertreten. Deren Aufführungen gehören zu den gesellschaftlichen Höhepunkten im Jahresablauf eines Orts. Gerade weil diese Bühnen sich oft absolut regional, bis hin zum lokalen Dialekt meist als Verein institutionalisiert haben, ist ihre Bedeutung, was direkte Kommunikationsstrukturen betrifft, nicht zu unterschätzen. Das Amateurtheater hat sich zudem in verschiedenen Formen institutionalisiert und ausdifferenziert, z. B. nach Größe, Etat, Wille zur Professionalisierung oder Nachwuchsförderung, kurz: Es ist als Bündnispartner nicht zu unterschätzen.

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Perspektiven für Theater in der Provinz (Tagung): Henning Fülle, Jens-Erwin Siemssen, Kathrin Mädler, Christian Kreppel, Iris von Zastrow. Foto: Claudia Herzog-Kaiser

Eine Bestandsaufnahme des „Relevanz“-Verlusts des professionellen Theaters in seinen traditionellen Strukturen kann also nicht an einer mangelnden Vernetzung vor Ort vorbeigehen: Je mehr lokale Institutionen teilnehmen, umso größer ist die Chance, durch direkte Kommunikation ein größeres potenzielles Publikum anzusprechen. Es gilt dabei nicht nur, dadurch die klassischen Zugangsbarrieren aufzubrechen, sondern ebenso, neue künstlerische Formen zu entwickeln, die aktiv das Publikum einbeziehen. Das bedeutet zunächst einmal, dass die Institutionen selbst prüfen, ob ihr Angebot noch mit den Bedürfnissen vor Ort kompatibel sind, ob das bisherige Programm mit neuen Formaten ergänzt werden muss oder ob es ganz anderer Innovationen bedarf. Eine derartige Evaluierung muss zwangsläufig nach Modellen schauen, wie in anderen Kommunen und Regionen Kultur organisiert und kommuniziert wird. Gerade diese Evaluierung ist auch einer der Schwerpunkte des TRAFO-Programms der Kulturstiftung des Bundes, die „Modelle für Kultur im Wandel“ fördert, eingebunden in die Frage nach der Zukunft ländlicher Räume. Es gilt, Konzepte einer Transformation bestehender Kultureinrichtungen zu entwickeln, die deren veränderten Rolle reflektieren. Entscheidende Fragestellungen sind dabei u. a., wie sich Institutionen neu erfinden können oder welche Möglichkeiten in einer Vernetzung von Kultur, Politik und Verwaltung entstehen. Fünf Modellregionen wurden gefördert, darunter die „Lernende Kulturre-

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Perspektiven für Theater in der Provinz (Tagung): Bernward Tuchmann, Werner Müller, Olaf Strieb, Anna Eitzeroth, Ulrike Seybold. Foto: Claudia Herzog-Kaiser

gion Schwäbische Alb“. Aus der Perspektive der Region soll ein attraktives Kulturangebot geschaffen werden, das Projekte vorsieht, wie z. B., dass das LTT Tübingen zusammen mit einer freien Gruppe in die Fläche geht, um in einer kleinen Gemeinde in einer Art Zukunftswerkstatt herauszufinden, was den Menschen dort so wichtig ist, um es für die Zukunft aufzuheben. Dabei verlief der Anlauf schleppend, bis sich der Feuerwehrhauptmann des Orts für das Projekt einsetzte und damit alle anderen Dorfbewohner mitriss: eine gelungene direkte Kommunikation und zugleich ein Exempel dafür, wie hier beide Seiten voneinander lernen – Macher*innen und Publikum. Wege ins Theater Das ist nur ein Beispiel von vielen. Im Bereich der Bildenden Kunst geht es u. a. darum, das Vertraute neu durch eine Art von Verfremdungsprozess wahrzunehmen. Nicht die klassische Bildbetrachtung steht dabei im Vordergrund, sondern die aktive Veränderung der Umwelt. Da kann es auch schon einmal vorkommen, dass ein so geschaffenes Kunstwerk in der freien Natur zerstört wird. Oder, um noch ein Beispiel aus dem Theaterbereich zu nennen, da geht das Theater Lindenhof, das als „Regionaltheater“ eine finanzielle Förderung erhält, in Wohnzimmer, um nach den Sorgen der Menschen vor Ort zu fragen und diese dann wieder in Theaterhandlungen umzusetzen. Auch in dieser Interaktion gilt die Strategie, Zuschauer*innen ernstzunehmen, ihnen zuzuhören. Mit den

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Mitteln der Kunst werden dann die Geschichten szenisch umgesetzt. Die „Autor*innen“ können so am künstlerischen Prozess teilhaben, in diesen Einblick nehmen und lernen, Theater als etwas wahrzunehmen, das mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hat. Neugierde, Offenheit, Transparenz und Geduld sind für ein solches Laboratorium die wichtigsten Voraussetzungen, um das Vertrauen der Menschen zu erlangen. Ein wesentlicher Vorteil des TRAFO-Programms ist, dass es eine Bestandsaufnahme vor Ort ermöglicht und die verschiedenen Akteure zusammenbringt, sodass zumindest eine informelle Vernetzung entstehen kann als eine wichtige Voraussetzung für die Bündelung aller kulturellen Aktivitäten in einem ländlichen Raum. Hierzu zählt auch, dass Politik und Verwaltung mit ins Boot geholt werden, um gemeinsam nach neuen Strukturen und Strategien der Vermittlung zu suchen. Das funktioniert erst einmal durch eine Anschubfinanzierung von Seiten der Bundeskulturstiftung. Diese fordert zwar Nachhaltigkeit ein, aber, wie in der Vergangenheit andere Projekte gezeigt haben, ist eine Weiterführung durch andere staatliche Geldgeber nur ausnahmsweise gegeben. Denn eines dürfte klar sein: dass Institutionen wie das LTT Tübingen oder das Stadttheater Aalen aus eigener Kraft ihre Aktivitäten auf der Schwäbischen Alb nicht fortsetzen können, dazu ist sowohl die Finanzals auch die Personaldecke viel zu dünn, auch wenn in beiden Häusern die Einsicht vorherrscht, wie wichtig es ist, in der freien Fläche präsent zu sein. Zukunftsträchtig ist das TRAFO-Modell allemal. Zumindest bringt es in den geförderten Regionen viele Menschen unter dem Begriff der „Lernenden Kulturregion“ zusammen oder wie es Samo Darian, der Programmleiter von TRAFO, formuliert: Die Formel der „Lernenden Kultur“ ist einfach. Sie denkt aus der Perspektive der Region, sie nimmt die Region mit ihren Themen und Kulturangeboten in den Blick. Und sie schafft Zusammenhänge, in denen Akteure vom Land und aus der Stadt, Regionalmanager*innen und Künstler*innen, Politik, Kultur und Verwaltung neugierig miteinander agieren und voneinander lernen wollen.1 Ein anderes Beispiel für kulturelle Förderung im ländlichen Raum ist das Programm „Wege ins Theater“ im Rahmen von „Kultur macht stark“. Hier sollen sich drei Institutionen aus den Bereichen Theater, Schulen, Freizeiteinrichtungen oder Organisationen der Jugendhilfe zusammentun. Gefördert werden außerschulische Projekte für Kinder und Jugendliche, die aus finanziellen, sozialen oder bildungsbezogenen Risikolagen kommen. Das Angebot ist dreistufig. Es gibt die „Theater-

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Entdecker*innen“, die an das Theater herangeführt werden, die „Theater-Spieler*innen“, die sich selbst in theatralen Formen erproben, und schließlich die „Theater-Macher*innen“, in der die beiden ersteren Angebote zusammengeführt werden. Als klassisches Projekt der Kulturvermittlung wird hier mit theaterpädagogischen Methoden für theaterferne Publikumsgruppen „Theater“ sowohl als Anschauung als auch als eigene Praxis vermittelt, um auf die Potenziale hinzuweisen, die in diesem Medium möglich sind. Wenn dieses von der ASSITEJ organisierte Programm auch nicht spezifisch für den ländlichen Raum entwickelt worden ist, greift es hier aber ebenfalls, weil Schulen und Theater Hand in Hand arbeiten. So können auch junge Menschen, die sonst keine Chance haben, ein Theater zu besuchen, erreicht werden und zugleich die Möglichkeit gewinnen, über eigene Spielerfahrungen zu erkunden, wie bereichernd das Theater sein kann – als sinnstiftende Auseinandersetzung mit der Welt. Wenn es diesem Programm also gelingt, möglichst viele junge Menschen in den Bann zu ziehen, dann muss es zur Folge haben, dass viele junge Menschen diese Kultur für sich in der Region einfordern. Beide Projekte – TRAFO und „Wege ins Theater“ – haben zum Ziel, Menschen von der Wichtigkeit der Kultur zu überzeugen, sie zu einem festen Bestandteil des Lebens zu machen. Darin vermittelt sich die Einsicht, dass zum Wesen einer demokratischen Gesellschaft auch und gerade Kultur gehört, die für ein gemeinschaftliches Denken unersetzlich ist. Gegenseitige Akzeptanz, das Begreifen, wie schön es ist, wenn gemeinsam etwas entsteht, oder Verantwortung für das, was man tut, zu übernehmen, alles das sind Kompetenzen, die das Theater spielerisch vermittelt. Und mehr noch ist es ein Ort, an dem Utopien entwickelt werden können, sich eigene Identität herausbilden oder darüber, was in der Gesellschaft stattfindet, nachgedacht werden kann. Dennoch bleibt festzuhalten, dass durch ein Projekt wie „Wege ins Theater“ Menschen erst einmal überhaupt auf Theater neugierig gemacht werden, was eine genuin theaterpädagogische Aufgabe ist, während TRAFO schon vorhandene künstlerische Aktivitäten aufzuspüren und zu bündeln versucht. Dabei wirkt dieses Programm initiierend, aber weniger in einem theaterpädagogischen als kulturpolitischen Sinn. Theaterkunst als Soziokultur Nicht notwendig muss nun daraus ein Gegensatz von Theaterkunst und Soziokultur entspringen, wie er in den Diskussionen oft vorschnell konstruiert wird. Beide arbeiten sich zu, ergänzen sich und, was manchmal vergessen wird, auch die Kunstvermittlung ist eine Kunst, die mit ihren

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spezifischen Mitteln Menschen von deren Notwendigkeit zu überzeugen versucht. Nicht zufällig stehen theaterpädagogische Aktionen im Zentrum der beiden hier skizzierten Programme, weil sie über ihre eigentliche Funktion hinaus auch noch zur Agentur wird, die zwischen den Theatern und dem potenziellen Publikum in der Region vermittelt. Denn, wie schon angedeutet, verlassen sich die Theater zu sehr auf ihre Kernaufgabe, Aufführungen zu produzieren, die – abgesehen davon, dass sie sich oft nicht mit der Lebenswirklichkeit ihrer Publika auseinandersetzen – möglichst oft, wie es so schön heißt, Orte „bespielen“, also die Publika eher als Passiva, denn als aktive Akteure betrachten. Zumeist überlässt man die Organisation dann Leuten vor Ort, sodass auch keine Forschung stattfindet, welche besonderen Tätigkeiten denn die einzelne Kommune erfordert. Zumeist sind außerhalb der Sitzorte Landestheater über die Aufführungen hinaus – selbst wenn regionale Stoffe zur Profilierung aufgegriffen werden – mit Ausnahme der Schulen in den „Bespielgemeinden“ wenig präsent. Zwangsläufig wird sich hier etwas ändern müssen – und es ändert sich ja auch, nur nicht die hierarchischen Strukturen des Theaters, die es schwerfällig machen und verhindern, dass es schnell reagieren kann. Sicher braucht es darüber hinaus eine Aufstockung der Etats, um in der freien Fläche agieren zu können. Und es braucht eine Vernetzung mit den Menschen vor Ort, die selbst künstlerisch tätig sind, mit Theaterund Kunstvereinen, Volkshochschulen und Amateurtheatern. Die Tagung in Memmingen war dazu ein erster Schritt, hier haben sich die verschiedenen Organisationen präsentieren können, hat man etwas über das gewaltige Potenzial erfahren, das im ländlichen Raum nur darauf wartet, auch wahrgenommen zu werden. Vernetzung ist angesagt. In der Begegnung werden sich alle Teilnehmer*innen verändern – damit das Theater weiter seine gesellschaftliche Verantwortung einlösen kann.

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LAGERFEUER, LEUCHTTURM, SILBERSEE Das Memminger Glossar zum Theater in der Provinz -

Amateurtheater, das „Wir müssen kein Audience Development machen […]. Das Amateurtheater hat eine andere Ästhetik als das professionelle Theater, und zwar bewusst.“ Naemi Zoe Keuler, Landesverband Amateurtheater BadenWürttemberg Das Amateurtheater kämpft nicht mit Desinteresse seitens der Bevölkerung, eher um Fördergelder, die nicht selbstverständlich in diese Theaterform fließen. Eine große Stärke des Amateurtheaters ist das Ehrenamt, das vieles möglich macht. Zum Beispiel das internationale Theaterfestival in Donzdorf, zu dem sich 16 Ensembles aus 14 Nationen versammeln. Zu Beginn des Podiums „Wie geht die Kunst der Kooperation und was sind Herausforderungen?“ wird deutlich, dass Naemi Zoe Keuler diese Kunstform gegen Vorurteile verteidigt und Argumente bereithält dafür, warum Amateurtheater sich nicht in eine verstaubte Schublade stecken lässt, sondern eine aktive Szene ist, die Gemeinschaften stärkt. LD

Freie Theater, die „Das freie Theater ist genau da stark, wo anderes fehlt.“ Ulrike Seybold, Landesverband Freie Darstellende Künste Die strukturellen Unterschiede zwischen dem institutionellen und dem freien Theater sind bekannt, obwohl sie in letzter Zeit gerade im städtischen Raum zu verwischen beginnen. Ob nun die „Freien“ so viel Freiheit haben, dass sie ständig innovative Theaterformate oder Methoden entwickeln können, oder ob sie manchmal dazu gezwungen sind, weil die Ressourcen nichts anderes hergeben, bleibt offen. Der Kontakt zum Publikum scheint grundsätzlich unmittelbarer zu sein. Auf der Tagung empfinden viele Teilnehmer*innen die → Kooperation zwischen freien Theaterschaffenden und Institutionen als künstlerisch produktiv. Wer

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allerdings freie Theater als Sozialarbeit versteht, verkennt die Chancen, die eine diverse Theaterszene abseits der Institutionen darstellt. MM

Herausforderungen, die Es lässt sich festhalten, dass das Theater der Provinz vor ähnlichen Herausforderungen steht wie die Theater der Metropolen: Es gilt, das Publikum wieder ins Theater zu locken. „Gibt es ein Publikum? Gibt es das Publikum? Gibt es Publika? Gibt es das Nicht-Publikum?“ Wolfgang Schneider, Universität Hildesheim Folgende Aufgaben sind als Herausforderungen zu verstehen: – Die Suche nach neuen Vermittlungsformaten (→ Vermittlung), die nicht nur additiv neben dem künstlerischen Produkt existieren, sondern auch integral gedacht werden können. – Nachhaltige → Kooperationen zwischen den verschiedenen Kulturakteuren des ländlichen Raums, um Perspektiven und Expertisen zusammenzubringen und in der Fläche zu wirken. – Eine Kulturpolitik, die Räume und Rahmenbedingungen für Projekte und Experimente fördert und ermöglicht. – Ein Hinterfragen des Programms der Spielstätten. – Eine Erweiterung des Kunstbegriffs (→ Kunst), der neue Formen der → kulturellen Teilhabe zulässt. „Die Belohnung ist ein Mehr an Publikum – das ein anderes Verhältnis zum Theater bekommt.“ Reinhard Simon, Uckermärkische Bühnen Schwedt AR

Kommerz, der „Wir sind bedroht von einer kommerziellen Tendenz.“ Michael Grill, Theatergemeinde München Wenn darüber gesprochen wird, dass wieder mehr Menschen ins Theater geholt werden sollen (→ Silbersee, → Herausforderungen), scheint es fast so, als ob der Verkauf eines Produkts angestrebt wird. Tatsächlich veranlassen weniger Fördergelder und größere Schwierigkeiten, diese zu legitimieren, mehr Interesse an kommerziellen Formaten. Das MusicalProgramm in Schwedt scheint mit einer Ästhetik, die aus dem kommerziellen Theater kommt, Publikumszuspruch zu erhalten.

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„Keine Angst vor dem Populären.“ Thomas Renz, Peiner Kulturring Die Formate der freien Akteur*innen zeigen eine andere Herangehensweise: Theater muss Begegnungen schaffen, um gesellschaftliche Relevanz zu erreichen. Dafür braucht es die Bürger*innen nicht als zahlende Zuschauer, sondern als teilhabende Akteure. LD

Kooperation, die „Kooperationen verändern die Einrichtung und die Produktionen.“ Sabine Reich, Tanzland Berlin Auf der Tagung werden zwei grundlegende Typen der Kooperation sichtbar: die, die für Theater zur Existenzsicherung aufgrund von Einsparungen bei der Förderung nötig ist, und die Projektkooperation, die nach neuen, innovativen oder wirksamen Formaten und Strukturen sucht. Die erste findet dabei vor allem statt, um Zustände zu halten und Strukturen zu wahren, etwa indem von mehreren Häusern eine Sparte „geteilt“ wird. Die zweite Art der Kooperation soll vor allem ein ausgemachtes Relevanzproblem bewältigen, indem sie neue Publika erreicht. Voraussetzung für erfolgreiche Kooperationen scheint nicht ein bloßes Teilen von Ressourcen und das Gefühl zu sein, Kooperation sei von der Kulturpolitik erwünscht, sondern ein gegenseitiges Interesse und die Bereitschaft, eigene künstlerische und strukturelle Standpunkte zu verändern. Fraglich bleibt, wie das in Kooperationsprojekten erprobte „Neue“ in Anbetracht der gegenwärtigen Fördersituation in bestehenden Strukturen verankert werden kann bzw. wie Ergebnisse der Kooperationen verstetigt werden können. MM

Kulturelle Teilhabe, die „Kulturelle Teilhabe ist ein Menschenrecht – Theater in der Provinz ein kulturpolitischer Auftrag.“ Wolfgang Schneider, Universität Hildesheim Um diesem Anspruch gerecht zu werden, dürfe das Theater nicht unter sich bleiben – es brauche mehr Begegnung und noch mehr Austausch, fordert Beate Kegler in ihrem Impulsvortrag. Oft fällt das Zauberwort → Vermittlung, die eigene Arbeit und deren Strukturen werden jedoch nicht hinterfragt. Theaterpädagogik und Vermittlung im Sinne eines transformativen Diskurses und damit als Möglichkeit, seine eigenen Institutionen (neu) zu erfinden, wie es Micha Kranixfeld skizziert, kom-

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men hier viel zu kurz. Dabei käme das „Theater in der → Provinz nicht darum herum, sich an dem Programm Teilhabe zu orientieren“, so Thomas Renz. Und weiter: „Allein über die Eintrittspreise oder über die Kommunikation lösen wir das Problem der Teilhabe nicht – man muss irgendwann über das Programm reden!“ Bei der Diskussion um Teilhabe müsste eine Einbeziehung neuer Bevölkerungskreise sowohl in einer sozialen als auch in einer ästhetischen Dimension gedacht werden – ein Programmheft oder Nachgespräch hilft da, wo bestimmte Menschen ohnehin nicht beteiligt sind, auch nicht weiter. Es müssen andere Wege gefunden werden, um Publika anzusprechen. Der Schlüssel dafür sei der persönliche Kontakt auf Augenhöhe und „vielleicht ist der Sportplatz ja der Schlüssel zur kulturellen Teilhabe“, so Thomas Renz. Im Sinne einer kulturellen Teilhabe muss das Theater sich jedenfalls raus aus seinem institutionellen Kontext und rein in sein jeweiliges soziales und politisches Umfeld bewegen. Um diese Transformation in Gang zu setzen, müssen „wir aus diesem Abgrenzungsdenken heraus, das heißt, dass Soziokultur auf keinen Fall Kunst sei“, wie Anna Eitzeroth zusammenfasst. TG

Kulturpolitischer Auftrag, der Der Auftrag lautet „Vielfalt und Teilhabe“, so Michael Grill. Um dem Auftrag gerecht zu werden, ist es „wichtig, mit allen zusammen zu denken“, regt Ulrike Seybold an (→ Kooperation). Für dieses gemeinsame Denken seien „Fachverbände durchaus in der Lage, die Vermittlerposition einzunehmen“, erinnert sich Naemi Zoe Keuler. „Es ist eine kluge kulturpolitische Entscheidung, die Baustellen der deutschen Theaterlandschaft mit Programmen zu bearbeiten – aber wie kann dabei eine Struktur jenseits des Projekts entstehen?“ Wolfgang Schneider, Universität Hildesheim Dafür brauche es weiter (und mehr) Räume für Experimente und Projekte, deren Rahmenbedingungen diese ermöglichen, mahnt Ulrike Seybold. Und notwendig sei → Nachhaltigkeit, denn „es braucht Strukturen, die sich vor Ort dauerhaft verankern können“, so Seybold weiter. Dafür seien zentrale Organe unerlässlich. Diese könnten sich nicht aus der Verantwortung und den kommunalen Herausforderungen heraushalten, sondern müssten als Korrektiv wirken und auch mal Machtworte sprechen. Herauszuheben seien die Programme der Bundeskulturstiftung, da sie eine Möglichkeit seien, „um kulturpolitisch kenntlich und

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Perspektiven für Theater in der Provinz (Tagung): Thomas Renz, Micha Kranixfeld, Michael Grill, Sibylle Broll-Pape, Anna Scherer. Foto: Claudia Herzog-Kaiser

sichtbar zu machen, was künstlerisch möglich wäre“, bemerkt Anna Eitzeroth. Doch leider sei die Aufmerksamkeit für das, was im Theater in der Provinz passiert, in der Tat sehr unterschiedlich. Der wichtigste kulturpolitische Auftrag ist daher: Genauer hinschauen! TG

Kunst, die Wer redet von welcher Kunst? Festzustellen ist, dass Unterschiede zwischen „den Künsten“ auch in Beziehung zum Publikum festgemacht werden. „Wenn wir mehr Partizipation machen, sinkt dann der Wert von Kunst?“ Thomas Renz, Peiner Kulturring „Was heißt Partizipation? Was ist das überhaupt?“, „Es geht bei mir nur um die Kunst“ Sibylle Broll-Pape, E.T.A.-Hoffmann-Theater Bamberg „Unterhaltung ist die höchste Kunst“ Iris von Zastrow, a.gon Theater „Wir brauchen noch mehr Begegnung, wir brauchen noch mehr Austausch.“ Beate Kegler, Universität Hildesheim Damit wird auf der Tagung kein Konsens gefunden, der Basis für eine Auseinandersetzung mit den Besonderheiten von Kunst im ländlichen

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Raum wäre. Beate Kegler spricht in ihrem Impulsvortrag von künstlerischer Vielfalt im ländlichen Raum. Diese Vielfalt ist in Memmingen erstmals versammelt. Der Diskurs darüber, was Kunst genau sein soll, scheint jedoch immer noch nicht abgeschlossen. LD

Lagerfeuer, das „Wenn wir vom Theater reden, meinen wir alle etwas anderes“, ruft Wolfgang Schneider in Erinnerung (→ Kunst). Angesichts des „Relevanzproblems“, das Thorsten Weckherlin diagnostiziert, muss der gesellschaftliche Konsens darüber, was Theater heutzutage sein soll, ohnehin neu verhandelt werden. Denn Theater ist „nicht mehr der alleinige Ort, wo sich die Gesellschaft einer Stadt selbstvergewissert“, so Thomas Renz. Es ist also Zeit für neue Entwürfe – ohnehin müsse laut Intendantin Kathrin Mädler Theater seinen Auftrag dauerhaft erneuern. Auf der Tagung werden einige Entwürfe dafür, was Theater sein kann und soll, zusammengetragen. Für Jens-Erwin Siemssen ist Theater „ein gemütliches Lagerfeuer“. Für Ulrike Seybold vom Landesverband Freier Theater muss mit dem geworben werden, „was wir am besten können: zuhören und Geschichten erzählen“. Und für Anna Eitzeroth „müssen Theater wieder als Ort der gesellschaftlichen Aushandlung und des gesellschaftlichen Austausches“ etabliert werden. Ein eingängiges Bild – trotzdem bleibt die Frage, wer da gemeinsam am Lagerfeuer sitzt, wer wen wie dazu einlädt, wessen Geschichten dort erzählt werden, wer an dem Austausch beteiligt ist und an welchen Orten es stattfindet. Aber auch, wo es ausbleibt, wo es droht auszugehen und womit es von wem befeuert werden kann. TG

Leuchtturm, der „Es braucht viel Nähe, wenn man wirklich langfristig etwas bewirken möchte.“ Beate Kegler, Universität Hildesheim Theater im ländlichen Raum kann weder die schnelle Selbstverwirklichung von Künstler*innen sein noch die barmherzige Gabe aus der Stadt. Theater im ländlichen Raum braucht dieselbe Beständigkeit wie Theater in Metropolen – nur dass diese infrastrukturell und fördertechnisch schwieriger herzustellen ist. Erfolgreiche Beispiele zeigen, dass die Beständigkeit oft an einzelnen Akteur*innen hängt, die aus Überzeugung und als Privatpersonen agieren und keine Institutionen im Rücken haben. → Kooperation ist eine Möglichkeit, um beispielsweise institu-

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tionelle Theater und freie, einzelne Akteure im Rahmen von Projekten in Austausch miteinander zu bringen, Leuchtturmprojekte zu schaffen und von den Ergebnissen des gemeinsamen Experiments zu profitieren. Um ökonomische Nachhaltigkeit bei den Akteur*innen und soziale Nachhaltigkeit zwischen Akteur*innen und Publikum zu gewährleisten, muss etwa von der Kulturpolitik noch ermöglicht werden, dass diese Ergebnisse auch als Struktur festgemacht werden können. MM

Professionalität, die „Publikum auf der Bühne ist nicht der genuine Auftrag meines Theaters“, verteidigt sich Intendantin Sibylle Boll-Pape. Dabei könnte die Arbeit am Nicht-Perfekten zu einer kritischen Befragung von Rolle und Selbstverständnis der Institution führen und Theateramateure könnten mit ihrer andersgearteten Professionalität ihrerseits das Theater bereichern (→ Kunst). „Die Arbeit am Nicht-Perfekten verunsichert, indem sie konventionelle, an der Perfektion ausgerichtete Bewertungskriterien infrage stellt, ignoriert oder lustvoll gegen sie verstößt“, beschreibt beispielsweise Theaterwissenschaftler Jens Roselt. Professionalität offenbart sich in dieser Hinsicht ohnehin als eine spröde Kategorie – die etwas abschätzige Markierung des „Nicht-Professionellen“ funktioniert nur aus der Perspektive eines vermeintlich professionellen Theaterbetriebs, der sich durch diese Markierung selbst zu profilieren versucht und dabei dennoch ins Wanken gerät. Denn unklar bleibt oft, welche Struktur hier eigentlich als „professionell“ bezeichnet werden soll – technische Ausstattung, Infrastrukturen, Honorare, Arbeitsbedingungen, Arbeitsweise oder Ausbildungsstatus? Was es braucht, ist nicht nur die Anerkennung der polyphonen Formen des Theaters, sondern auch die gegenseitige Wertschätzung (→ Vielfalt, → Kooperation). Wenn die Frage danach gestellt wird, welche Geschichten im Theater erzählt werden (→ Lagerfeuer) und ob Theater sich in seinem gesellschaftlichen Umfeld bewegen muss (→ Kulturelle Teilhabe), dann ist die Arbeit mit Publikum auf der Bühne eine politische Strategie, die nicht unterschätzt werden sollte. TG

Provinz, die „Wir verstehen uns nicht als Provinz.“ Mit diesen Worten eröffnete der Memminger Bürgermeister Manfred Schilder die Tagung. „Keiner will Provinz sein“, kommentiert Michael Grill ein wenig später. Der Begriff scheint im Diskurs mit allerlei Vorurteilen belegt zu sein. Thomas Renz

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Perspektiven für Theater in der Provinz (Tagung): Thomas Schwarzer, Reinhard Simon, Naemi Keuler, Friederike Lüdde, Thorsten Weckherlin, Franziska Weber. Foto: Claudia Herzog-Kaiser

konstatiert in seinem Impulsvortrag folgerichtig: „Den ländlichen Raum gibt es nicht.“ Weiterhin müssten wir differenzieren zwischen dörflichen und mittelstädtischen Strukturen. Denn „es sind verschiedene Strukturen, die wir meinen, wenn wir über Theater in der Provinz sprechen“. Wenn aber die gesellschaftlichen Diskussionen von urbanen Zentren dominiert werden, bestehe die Gefahr, dass die ländlichen Räume kulturell abgehängt werden. „[M]it einem defizitären Blick auf ländliche Regionen zu schauen, kann nicht funktionieren“, so Anna Eitzeroth. Viele Vorurteile sind dabei nicht haltbar – allein die Beschreibung „strukturschwach“ ist letztlich ungenau – immerhin befinden sich zwei Drittel der → Amateurtheater im ländlichen Raum – mit hohen Besucherzahlen und starker ehrenamtlicher Beteiligung. Was es braucht, ist eine entsprechende Haltung, die vor detailgenauer Recherche der jeweiligen Struktur und nachhaltiger Arbeit vor Ort nicht zurückschreckt. TG Räuberteller, der Zur Vermittlungsarbeit (→ Vermittlung) der Landesbühnen als Theater in der Provinz gehört es, „Kompensationsmodelle“ zu entwerfen – in Memmingen werden durch einen komfortablen Fahrservice für das Abonnementpublikum auf entsprechenden Busrouten Mobilitätsdefizite kompensiert – in Dinslaken wird mit dem Räuberteller für den Veranstalter des Abendspielplans das Kinder- und Jugendtheaterprogramm attraktiver gemacht. Ähnlich wie im Restaurant – wo das Kind mit lee-

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rem Teller sich an den Speisen der Eltern bedienen darf – wird hier zur Buchung eines Stücks für Erwachsene ein Kinderstück gratis dazugegeben, um Anreize für ein gemischteres Familienprogramm zu schaffen. Andernorts – beispielsweise an Privattheatern – gibt es entsprechende breitenwirksamere Produktionen (manchmal auch explizit als „Komödien“ benannt), die andere (oft als „experimentell“ bezeichnete) Produktionen der Spielzeit auszugleichen bzw. mitzufinanzieren versuchen. Die Kompensationsmodelle weisen aber auch darauf hin, dass es scheinbar doch verschiedengeartete Strukturschwächen gibt, die in der Diskussion um die Begrifflichkeit → Provinz vehement abgelehnt werden. Es gilt also ebensolche Schwächen zu identifizieren und mit entsprechenden, spezifischen Angeboten zu kompensieren. TG

Silbersee, der „Theater ist nicht mehr der alleinige Ort, wo sich die Gesellschaft einer Stadt selbstvergewissert.“ Thomas Renz, Peiner Kulturring Dies ist keine neue Erkenntnis. Die Menge der verbliebenen Zuschauenden wird liebevoll und auch sehr zynisch der „Silbersee“ genannt. Gemeint ist die Generation älterer Damen und Herren mit ergrautem Haar, die noch immer treu die Zuschauerreihen füllen. Die jüngere Generation rückt nicht nach und bleibt dem klassischen Theater fern. Es ist ein Problem, das sich nicht nur auf den Bühnen der Metropolen zeigt, sondern vor allem im ländlichen Raum ( → Herausforderungen). Wenn Theater einst der Ort gewesen ist, an dem die Gesellschaft einer Stadt sich selbst vergewissert, so kann diese Selbstvergewisserung zweierlei bedeuten. Selbstvergewisserung, die Bestätigung des eigenen Selbstbilds, weist zuerst auf den eigenen Stand innerhalb einer Gesellschaft hin. Der Besuch des Theaters, das Theaterabonnement fungieren hier als „Distinktionsmerkmal“ – wie es Pierre Bourdieu formuliert hat – einer gesellschaftlichen Klasse, die es sich leisten kann. Das Theater wird zu einem Ort des Sehens und Gesehen-Werdens. Diesen Aspekt der Selbstvergewisserung gilt es heute zu überprüfen. Zum einen stellt sich die Frage, ob der Theaterbesuch als „Statussymbol“ innerhalb einer jüngeren Generation nicht längst durch andere abgelöst wurde. Zum anderen ist das Recht auf kulturelle Teilhabe ein Menschenrecht, das jedem*r zumindest finanziell ermöglicht werden sollte ( → Kulturpolitischer Auftrag). Des Weiteren weist die Vergewisserung des Selbst im Theater auf einen Abgleich der auf der Bühne gezeigten Bilder mit dem eigenen Weltbild hin. Hier stellt sich die Frage, ob die auf der Bühne

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verhandelten Inhalte, sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrer Form, noch zeitgemäß sind. „Wir haben ein Relevanzproblem“, bringt es Thorsten Weckherlin, Intendant des Theaters Tübingen, auf den Punkt, wobei es auch hier zu Gegenstimmen kommt. Viele Theater suchen die Lösung in Vermittlungsformaten, doch „allein über die Preise oder über die Kommunikation lösen wir das Problem der Teilhabe nicht – man muss irgendwann auch über das Programm reden“, stellt Thomas Renz fest. Doch nicht nur die Inhalte müssen angepasst werden, auch in der Form scheinen Veränderungen nötig. Die freien Theatergruppen Das letzte Kleinod und Syndikat Gefährliche Liebschaften haben sich beispielsweise bereits auf die Suche begeben. Beide Künstlerkollektive setzen auf Partizipation. Es wird vom gemeinsamen Sitzen am → Lagerfeuer gesprochen, persönlichen Kontakt und Mundpropaganda. Die Grenzen zwischen Zuschauer*innen und Akteur*innen lösen sich auf und es gilt mit jedem Projekt herauszufinden, mit wem man es eigentlich zu tun hat und welche Motivation er oder sie hat teilzuhaben. Und somit stellt sich uns zuletzt die Frage, die vielleicht am Anfang hätte stehen sollen: Über wen sprechen wir eigentlich, wenn wir Publikum sagen? AR

Vermittlung, die Sobald die Frage der Publikumsgenerierung im Raum steht, ist der Ruf nach Vermittlung nicht weit. Es brauche eine Vermittlung der im Theater verhandelten Inhalte. Eine Aufgabe, die oft den Theaterpädagog*innen zugeschoben wird. Herkömmliche Formate dieser Vermittlung bilden Nachgespräche, Einführungen oder die Programmheftgestaltung. Vermittlungsarbeit wird hier zu einem Zusatz zum künstlerischen Produkt. „Vermittlung ist nicht unbedingt Teil der Kunst, aber man kann nicht ohne sie.“ Michael Grill, Theatergemeinde München Dies ist eine breit vertretene Position auf den Podien. Dem gegenüber steht die Forderung, Vermittlung nicht nur additiv, sondern integral zu denken. Es wird kritisiert, dass durch die Vermittlungsarbeit Verantwortlichkeiten nur weitergeschoben werden, anstatt über ein neues Konzept einer integrierten Vermittlung in jeder praktischen Arbeit nachzudenken. „Theaterpädagogik und Vermittlung sind kein Extra, kein Plus zu Institutionen, sondern eine Möglichkeit, Institutionskritik zu üben und sich

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seine eigene Institution zu erfinden.“ Micha Kranixfeld, Syndikat Gefährliche Liebschaften Wie also lässt sich das Verhältnis von → Kunst und Vermittlung neu denken? Eine Antwort, die sich innerhalb der Tagung herausgebildet hat, könnte eine „Einladung auf Augenhöhe“ sein, wie es Anna Scherer formuliert. Dazu gehört vielleicht auch die Überarbeitung des Programms. Denn neben aller Vermittlung bleibt das Theater selbst eine vermittelnde Kunst. Und was bedeutet es eigentlich, wenn sich das Theater selbst vermitteln muss? AR

Vielfalt, die „Wir müssen mal schauen, was da von oben drückt, statt uns untereinander auszuspielen.“ Naemi Zoe Keuler, Landesverband Amateurtheater Baden-Württemberg Die Frage nach Diversität innerhalb der Zielgruppen von Theatern ist schon lange im Diskurs angekommen. Der kulturpolitische Auftrag ruft danach, allen Menschen den Zugang zu Kunst und Theater zu ermöglichen (→ Kulturpolitischer Auftrag). „Zugang ermöglichen“ wird unterschiedlich interpretiert. Bei den einen ist es die offene Tür zur hohen Kunst, bei den anderen ein Vermittlungsprogramm, das Bearbeiten von relevanten Stoffen oder mehr oder weniger glücklich umgesetzte Bestrebungen nach Repräsentation in der eigenen Belegschaft. Das Selbstverständnis der Anwesenden rangiert von „Akteur*in der Zivilgesellschaft“ bis hin zu „Anbieter*in von künstlerischen Stimuli“. Vielfalt ist aber auch die Bandbreite der deutschen Theaterlandschaft. Als Problem wird eine, durch finanziellen Druck hervorgerufene, Verwischung von Grenzen zwischen Sparten und Organisationsstrukturen und Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen Institutionen und Akteur*innen wahrgenommen. Um dem entgegenzuwirken, lohnt es sich, weiter im Dialog zu bleiben. MM

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DISKURSE DER AKTEURE ZUM THEATER DER REGION


Holger Bergmann

DAS THEATER DER LANDSCHAFTEN Betrachtungen eines Phänomens -

Dreckige Straßen, schräge Klänge, getaggte Eingänge, hippe Getränke und junge Gesichter mit nerdigen Brillen, so das Bild der urbanen Performing-Arts-Szene. In den Straßen von Hamburg, Berlin, Frankfurt am Main, Düsseldorf oder München wird auf dem Weg zum Theaterabend schon klar: Das hier muss Art sein. Die diverse Schar der Künstler*innen, des Publikums oder der Aktiven kommt aber zur Hälfte aus anderen Gegenden, aus Kleinstädten, Dörfern oder – noch schlimmer – kleineren Großstädten. Kein Wunder, dass ein lapidares „Einfach ein wenig provinziell“ immer noch die böseste Kommentierung eines doch nicht ganz zur Art aufgestiegenen „Sprach-, Bewegungs-, Theaterraum-, Soundund Visuell-Experiments“ – gerade in jenen Metropolräumen – ist. So undifferenziert eine Verwerfung als provinziell daherkommen mag, zeigt sie doch sehr deutlich: Das Provinzielle wohnt nicht im ländlichen Raum. Es hat dort keinesfalls ein festes Abo. Es zeigt sich in den Städten, egal, wie hoch die Einwohnerzahl in der Statistik ist, und es zeigt sich auch in der dörflichen Umgebung. Aber zeigt sich auch das andere in den ländlichen bis kleinstädtischen Strukturen – eine avancierte, relevante und bemerkenswerte Theater-, Tanz-, Musiktheateroder Performanceaufführung? Der Fonds Darstellende Künste steht mit seinem Kuratorium immer wieder vor der Aufgabe, bemerkenswerte und bedeutende Projektanträge und die damit einhergehenden Optionen auf Realisierung einer Theateraufführung, Performance oder eines Tanzabends zu benennen. Da der Fonds bundesweit fördert, kommen Anträge nicht nur aus den Metropolen, sondern auch regelmäßig aus den ländlichen Räumen. Nun soll es im Weiteren nicht um Auswahlverfahren und Abgleiche von Kriterien gehen, sondern um die nähere Betrachtung von sehr unterschiedlich realisierten Projekten, die durch den Fonds Darstellende Künste in den letzten Jahren häufiger gefördert wurden und die eines eint: Sie entwickeln freie Darstellende Künste in der Provinz. Die Namen der Spielorte lauten Schiffdorf, Altenmedingen oder Michelbach an der Lücke. In all diesen Orten mit einer ländlichen Bevölkerungs- und Infrastruktur gab es in den letzten Jahren, gefördert

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durch den Fonds Darstellende Künste, höchst unterschiedliches Theater zu sehen bzw. ist eine Theaterarbeit genau dort entstanden. Die Besonderheiten der dörflichen Landschaften schärften ästhetisch und inhaltlich die künstlerischen Arbeiten vom Jahrmarkttheater, deren Produktionsort sich im Seminarhaus Bostelwiebeck befindet, von der Theatergruppe Das letzte Kleinod, das mit seinem ozeanblauen Theaterzug die norddeutsche Küstenlandschaft bespielt oder Herbordt/ Mohren, die ihre performative Annäherung an das Thema Theater im hohenlohischen Michelbach an der Lücke realisierten. Theater als Liaison zwischen Performance und Provinz Die Arbeit Das Theater von Herbordt/Mohren, die im Rahmen der Konzeptionsförderung des Fonds und in Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Produktionsort Theater Rampe entstand, stellt sich die Frage: Was wäre, wenn ein ganzes Dorf inszeniert würde? Was, wenn die Struktur des Theaters sich in einem Dorf nicht nur widerspiegeln, sondern sich durch diese fiktive Annahme mit dem Alltag des Dorfs verbinden würde? Wenn durch die örtliche und dörfliche Sichtbarkeit ein tieferliegendes Verständnis für den sonst etwas abstrakten Begriff „Theater“ aufgezeigt und mit Leben gefüllt werden könnte? Melanie Mohren und Bernhard Herbordt aktivierten hierfür die Leerstände des Dorfs um den zentralen Marktplatz herum und verbanden diese Orte zu einem Parcours aus theatralen Installationen. Bewohner*innen und Besucher*innen werden zum Teil einer Performance, die das gesamte Dorf in Szene setzt. Verwandlungen und Kommentare rücken das Leben des Dorfs in seiner jetzigen Struktur genauso wie Geschichten seiner Vergangenheit und die Ahnungen von Zukünftigem in die leerstehenden Räume, Häuser, Dachböden und Ladenlokale des kleinen Orts an der Lücke. „Michelbach hat seinen Auftritt zwischen Realität und Fiktion, Kunst und Alltag“, schrieben die Stuttgarter Nachrichten am 27. Oktober 2015. Die Hohenloher Nachrichten sprachen davon, dass „die Michelbacher diese Aufführung in ihr Herz [ge]schlossen“ hätten. Was für eine Liaison zwischen der konzeptionellen Performance, der Gießener Schule und dem Alltag in der Provinz. Eine Landpartie, die es in inhaltlicher und ästhetischer Hinsicht nicht so häufig zu erleben gibt, die aber zum Arbeitsansatz in den performativen Künsten passt. Denn sicherlich ist hier kein Theater zu beschauen, das einen Abstecher in die Provinz macht, um sich mit der Tristesse zu reiben und den eigenen Leidensprozess zu erhöhen. Herbordt/Mohren gelingt ein Ausloten dessen, was man mit Theater machen kann. Mit der Setzung einer spielerischen

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Das letzte Kleinod, Schiffdorf: Wilhelm*ina. Foto: Jens-Erwin Siemssen

Fiktion für Besucher*innen wie Akteur*innen verschiebt sich das Spiel auf der Bühne in die Ebene zwischen Realität und Kunst. Dabei hat die Teilnahme am Geschehen nichts mit dem üblichen Mitmachtheater zu tun. Anstatt etwa die Verstellung auszustellen und hierzu etwas noch aufzufordern, setzten die Künstler*innen auf das Entstehen neuer Beziehungen innerhalb des fiktionalen Musters Das Theater. Voraussetzung hierfür ist die Lernbereitschaft des Künstlerpaars, das seine Projekte immer genau so anlegt, dass es den häufig belehrenden Gestus der Kunst in einen des gegenseitigen Lernens verändert. Die zeitliche Dimension einer solchen Arbeit ist nicht die einer üblichen Produktionszeit mit einem Umfang von etwa zwei Monaten, sondern zwischen den Künstler*innen und Bewohner*innen von Michelbach an der Lücke entstand ein Austausch und Wissenstransfer über zwei Jahre hinweg. Solche prozesshaften Entwicklungen sind nur mit längerfristigen Förderungen wie der dreijährigen Konzeptionsförderung des Fonds Darstellende Künste möglich und mit mutigen Produktionshäusern wie dem Theater Rampe, einer ländlichen Bevölkerung, die sich engagiert und offen zeigt, sowie Künstler wie Herbordt/Mohren, die nicht auf die vermeintlichen Versprechen der Metropolen setzen, um große Kunst zu erzeugen. Die Stuttgarter Zeitung schreibt in einem Fazit am 3. Dezember 2015: Wer hätte das gedacht? Da bricht man von Stuttgart ins hohenlohische Michelbach auf, und fünf Stunden später steht man auf einem

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Dorfplatz und spielt ein Instrument in einem Orchester, übrigens freiwillig und mit Vergnügen. Eine ländliche Großinstallation, denn Michelbach ist tatsächlich kulturell belebt worden, und das nicht nur durch die Theaterleute, sondern auch durch das Engagement der Bewohner, von denen 72 namentlich im Programmheft genannt werden. […] Die Dorfgemeinschaft erfährt den theatralischen Eingriff in ihre Struktur als belebend. Die Inszenierung erweist sich auf den unterschiedlichen Ebenen als unterhaltsam, ja oft faszinierend. Natürlich, um die Ausgangsfrage zu reflektieren, gelang Herbordt/ Mohren in der tiefsten Provinz in Michelbach an der Lücke zeitgenössische Darstellende Kunst. Das freie Produktionshaus Theater Rampe in Stuttgart diente als städtischer Ausgangspunkt, aber im besten Sinne einer intermediären Kommunikation, die Besucher*innen, Künstler*innen und Bewohner*innen miteinander verband und in künstlerischen Austausch brachte. Das Vorhaben zeigt exemplarisch auf, wie sich zeitgenössische Performance und ländlicher Raum bestmöglich gegenseitig inhaltlich, strukturell wie künstlerisch verstärken. Erst in dieser gemeinsamen Wirkung wird das Geschehen als Kunstwerk im Sinne einer sozialen Anordnung, einer Performanz des Alltags, die Sehgewohnheiten und Wahrnehmungsmuster in Frage stellt und alltägliche Strukturen spielerisch wie temporär transformiert, sichtbar und das als eine Kunst, die jenseits der Metropolen im ländlichen Raum entsteht und wirkt. Theater als mobiler Begegnungsraum Eine beeindruckende Wirkung entfaltet schon allein die Spielstätte des Theaters Das letzte Kleinod, das seinen Sitz im niedersächsischen Örtchen Schiffdorf hat. Allerdings ist ihre Bühne in vielen Orten zu Hause, da sie dem Netz der Deutschen Bahn folgt. Die Spielstätte ist ein bis zu zehn Wagons umfassender Zug, die nicht nur als offene oder geschlossene Spielorte dienen, sondern auch Übernachtungsmöglichkeiten, ein Restaurant und natürlich Transportmittel für Technik und Bühne bieten. Seit 2012 fördert der Fonds immer wieder einzelne bemerkenswerte Vorhaben dieser Bühne, die als frei produzierendes Theater so etwas wie die Idealform einer Landesbühne neuen Typs darstellt. Neben der bundesweiten Aufmerksamkeit durch die Förderung von Projekten durch den Fonds erhielt Das letzte Kleinod 2016 den hochdotierten Theaterpreis des Bundes. Am historischen Bahnhof von Geestenseth sind die Eisenbahnwagen des Theaters stationiert. Der 130 Meter lange Zug wurde aufwendig saniert und hat die Zulassung, um auf dem öffentlichen Schienennetz

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bewegt zu werden. In vier Schlafwagen können derzeit insgesamt bis zu 17 Mitwirkende in Einzelkabinen wohnen, in jedem Wagon gibt es Duschen und Toiletten. Ein Speisewagen hat bis zu 32 Sitzplätze und in einer modernen Großküche können 120 Personen am Tag versorgt werden. Im Zug gibt es außerdem ein Theaterstudio, ein Büro, Werkstätten und einen Güterwagon für Theatertechnik. Mit dem ozeanblauen Zug führt die Künstlergruppe Theaterprojekte auf und entlang der Schienenwege durch. An der Bahnlinie von Bremerhaven nach Buxtehude liegt der Bahnhof Geestenseth. In der denkmalgeschützten Bahnhofsanlage von 1899 befindet sich die Produktionsstätte des Theaters Das letzte Kleinod. Im Stellwerk, in den Warteräumen, im Güterschuppen und in den eigenen Wagons entstehen die Inszenierungen, bevor sie im In- und Ausland aufgeführt werden. So auch die Produktion Wir haben die Angst gefressen, die 2017 unter der Regie und in Autorschaft des Theaterleiters Jens-Erwin Siemssen entstand. In einer Zeit, in der aus dem Kriegsgebiet in Syrien die Zivilbevölkerung versucht den Schrecken des Kriegs durch Flucht nach Europa zu entkommen, finden in den Dörfern der niedersächsischen Landstriche zahlreiche Syrer*innen in einer der temporären Asylunterkünfte eine Zuflucht. Doch was wissen die Dorfbewohner*innen über die neuen Nachbarn? Über die Geschichte, den Alltag und den Konflikt Syriens? Diesen Fragen ist das Das letzte Kleinod gemeinsam mit Geflüchteten und Schauspieler*innen in einem Theaterstück über den Krieg in Syrien nachgegangen. Sie entwerfen einen Plot aus dem Alltagsleben vor der Flucht und den Eindrücken der Geflüchteten: Hassan hatte seinem Großvater jeden Sommer im Olivenhain geholfen. Fatma erinnert sich an ihre Hochzeit, bei der Männer und Frauen in getrennten Sälen feierten. Mohammed sah den ersten Bombenabwurf vom Balkon aus. Die Jugendlichen, die ihre Erinnerungen an die Zeit vor und während des Kriegs in Syrien in der Theatergeschichte teilten, leben heute in Niedersachsen. Auch das ist Teil der Handlung, ebenso der Alltag in der deutschen Schule und die Versuche, hier Fuß zu fassen. Erinnerungen und Sehnsucht nach der glücklichen Zeit in Syrien wechseln mit den Spuren von Folter und Gewalt, welche die jungen Menschen manchmal schon im Alter von 14 Jahren erfahren mussten. Im Stück berichtet ein syrischer Jugendlicher über einen Anschlag: „Mein Kopf. Meine Ohren. Ich konnte nicht atmen. Nicht mal sprechen. Das war das erste Mal, dass ich sowas gesehen habe. Diese Bilder. Bin einfach gegangen, bis nach Hause.“ Die Künstlergruppe Das letzte Kleinod realisierte mit exilierten syrischen Künstler*innen und jungen Migrant*innen ein dokumenta-

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risches Theater auf Schienen. Wir haben die Angst gefressen ging als temporäre interkulturelle Begegnungsstätte auf die Reise durch den Landkreis Cuxhaven und in den Stadtrand von Hannover. In vier Güterwagons entstanden Bühnenräume, in denen Biografien von Kriegsflüchtlingen als begehbare Theatervorstellung zu erleben waren. Über das Theatererlebnis hinaus bilden die Aufführungen einen Anlass zum Gespräch und zur Auseinandersetzung mit Fragen der Grenzpolitik und der Mechanismen von Ausgrenzung in alten oder neuen Heimaten. So lädt die Künstler*innengruppe nach jeder Vorstellung in den Speisewagen zu Chai und Baklava und die Mitwirkenden, Abdin, Faisal, Hevin, Ibrahim, Jumaa, Lazgin, Lina, Mohamed, Mohammad, Muwafaq, Omid, Oria, Rias, Salem, Sandra, Yasser, Zaher, Rizgar und Sally, erzählen von den Proben, Erfahrungen mit dem Stück an anderen Orten. So schaffen sie zahlreiche Begegnungen und eröffnen durch das Schauspiel einen realen Einblick in das Zusammenleben in Niedersachsen. Eine engagierte und großartige Arbeit, die in einer Reihe von zahlreichen Arbeiten der Gruppe steht, die historische oder aktuelle Spuren, Themen und Ereignisse des Lokalen mit den umfassenderen Fragen verbinden und neben dem Begegnungsraum des Schauspiels mit dem Zug die direkte Kommunikation suchen. Eine Theaterkunst, die sich und andere in Bewegung setzt, im wahrsten Sinne des Wortes. Theater als Erzählung von Gemeinschaft Das Seminar- und Theaterhaus Bostelwiebeck in Altenmedingen ist der spektakuläre Sitz eines weiteren Theaters im ländlichen Raum; dort ist das Ensemble des Jahrmarkttheaters beheimatet. Auf der Website sendet das Team um den Regisseur Thomas Matschoß folgende Begrüßung vorweg: Ein Mensch spielt – ein Mensch schaut zu. Das ist die kürzeste Definition, was Theater ausmacht. Bei uns spielen ein paar mehr und auch von Ihnen kommen zu unserer großen Freude sehr viele zum Zuschauen. Aber eins steht – zumindest nach dieser Definition – fest: Theater gibt es nicht allein. Zwei ist das Mindeste. Theater ist immer Begegnung, ja: Theater ist immer eine Form von Gemeinschaft. Das gilt für uns Theatermachende beim Ausdenken, beim Planen und Proben und natürlich auch für uns alle – Theatermachende wie Zuschauende während der Aufführung. Man kann allein musizieren, man kann allein malen, schreiben, fotografieren, Fernsehgucken, aber Theater?

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Das Theater auf dem Bauernhof, zwischen Weiden und Feldwegen, dessen voll renovierte Scheune, Ställe, Dielen und Böden ansprechende Seminar-, Probe- und auch Aufführungsorte sind, ist im besten Sinn ein echtes Off-Theater. Offline vom Repertoirebetrieb der Staats- und Stadttheater. Viele der Ensemblemitglieder haben ihre Schauspielerfahrungen dort gesammelt und pendeln oder pendelten zwischen Gastrolle, temporärem Ensemblemitglied und diesem gemeinschaftlichen OffTheater auf dem Bauernhof hin und her. Die Theatergötter hier verschreiben sich der Erzählung mit großer Lust an dem gemeinschaftlichen Erleben und gehen so auf den Spuren der performativen Formate die Wege eines neuen Erzähltheaters zwischen Ackergrube, Heuboden und Lagerfeuer. Die 2016 für den George Tabori Preis des Fonds Darstellende Künste nominierte Bühne schafft mit ihren Stücken Ereignisse in der Provinz und strahlt damit darüber hinaus. Sicherlich mag man figurenbezogenes Schauspiel und Erzähltheater auch in der Metropole finden und möglicherweise mag gerade dann der Gedanke an die Provinz aufkommen. Wenn aber die Bewohner*innen eines ganzen Landstrichs in Altenmendingen zusammenkommen, um sich gemeinsam in der Verzweigungsdramaturgie des Heimat Abend oder der History of Lagerfeuer wieder zu verstreuen und die Besucher*innen unterschiedliche Erzählstränge am Gatter der Weide oder am flachen Teich, durch den gerade fünf Musikanten waten, lauschen, dann stellt sich ein Verständnis dafür ein, wie die Herausforderung, Theater im ländlichen Raum in neuen Formaten und mit schauspielerischer Kunst und Lust, gemeistert werden kann. Der Fonds Darstellende Künste hat einige dieser Arbeiten mit ermöglicht, denn das bundesweit Bemerkenswerte ist nicht an die Sichtbarkeit der Metropolräume geknüpft, es entsteht in Michelbach an der Lücke, wo sich performative Künste und Dorfalltag verbinden. Genauso zeigt es sich im ozeanblauen Zug, der den Erfahrungsraum Theater unmittelbar zu Menschen trägt oder um und im Hof von Bostelwiebeck, die zentrale Punkte für eine Erzählung von Gemeinschaft entwickelt haben in dem Wissen um die Einsamkeit von theatralen Erzählungen. Drei sehr unterschiedliche Beispiele für ein Theater in der Provinz, das frei produziert wird und sich den Herausforderungen um Finanzierung und Aufmerksamkeit immer wieder neu stellen muss. Kulturpolitik in Kommunen, Ländern und Bund wird weiterhin einen Beitrag dazu leisten, dass die Darstellende Kunst die Dörfer, die Kleinstädte und die Landstriche erreicht, und dafür Sorge tragen, dass diese Bostelwiebecks, Michelbachs, Schiffdorfs neben den Produktionsorten der bekannten Gruppen und Städte einen festen Platz in einer vielfältigen und reichhaltigen

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Das letzte Kleinod, Schiffdorf: Probe im Ozeanblauen Zug. Foto: Jens-Erwin Siemssen

Theaterlandschaft in der Bundesrepublik haben. Was bei der ersten Betrachtung der dörflichen Welt so wirkt, als würde hier die Gegenwart stillstehen, ist beim Blick auf die bedeutsamen Theaterakteure aus und in der Provinz möglicherweise nur eine wundersame Verlängerung des Moments.

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KRAFTWERK DER ZIVILGESELLSCHAFT Henning Fülle im Gespräch mit Reinhard Simon und André Nicke von den Uckermärkischen Bühnen Schwedt -

Eine Stadt am äußersten östlichen Rand der Republik an der OderGrenze, die von ihrem historischen Bezugspunkt – der Großstadt Stettin, heute Szczecin in Polen – seit dem Zweiten Weltkrieg abgeschnitten ist. Der nächste Autobahnanschluss ist mehr als dreißig Kilometer entfernt, die Regionalbahn, die die Stadt auch mit Berlin verbindet, endet hier. Bis 1788 war sie Residenzstadt der Markgrafen von BrandenburgSchwedt, einer Nebenlinie der Hohenzollern, und gehörte zu Brandenburg-Preußen. Die Geschichte der Stadt und der uckermärkischen Region ist von der Aufklärung und religiösen Toleranz der märkischen Kurfürsten im 17. und 18. Jahrhundert geprägt: Die Ansiedlung von hugenottischen Glaubensflüchtlingen und die Etablierung des Tabakanbaus bildeten eine gewichtige Traditionslinie, auf die sich der scheidende Intendant Simon und sein Nachfolger Nicke explizit beziehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Randlage an der Oder-Neiße-Grenze im Zuge der Industriepolitik der DDR gewissermaßen „kompensiert“: Aus der Retorte wird ein bedeutsames Zentrum der Grundstoffindustrie, das Petrolchemische Kombinat (PCK) aus dem Boden gestampft. Bis auf über 50 000 wuchs damit explosionsartig die Zahl der Einwohner, die nach dem Krieg bei etwa 6000 gelegen hatte. Der massenhaften Ansiedlung von Industriearbeitern folgte der Ausbau der kulturellen Infrastruktur einigermaßen erratisch: Anfang der 1970er Jahre wurde mit der Projektierung jenes Kulturhauses auf der nach der Sprengung der Schlossruine verbliebenen Brache begonnen, das heute die Uckermärkischen Bühnen (ubs) beherbergt. Wie in anderen neuen Industriezentren auch setzten die örtlichen Autoritäten dieses Projekt gegen die Absichten der zentralen Staatsführung durch, die sich in jenen Jahren auf die Errichtung des Berliner Palastes der Republik konzentrierte. 1972 also quasi als „Schwarzbau“ begonnen1, wurde der Komplex im Oktober 1978 eingeweiht: ein großer Saal mit knapp 800 Plätzen, ein Kleines Haus für bis zu 140 Besucher sowie ein umfangreiches Raumprogramm für das in der DDR gepflegte „Zirkelwesen“ der Volkskultur und -bildung2. In dieses Haus wurde mit der Eröffnung das bis dahin in Prenzlau bestehende Ensemble als Theater der Stadt Schwedt verpflanzt – was zu

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einem stetigen und lähmenden Konfliktfeld zwischen der Kulturhausmannschaft und dem im Intimen Theater ansässigen Theaterensemble führte, das als eigene Organisationseinheit und mit dem Anspruch und Auftrag eines Stadttheaters betrieben wurde. Erst nach dem Ende der DDR wurden diese „Doppelherrschaft“ und die damit verbundenen heftigen Konkurrenzkämpfe um Aufmerksamkeit und finanzielle sowie technische Ressourcen nach hartnäckiger Überzeugungsarbeit durch Reinhard Simon überwunden, der sich in der Wendezeit mit dem Konzept der Vereinigung der beiden Häuser zu den Uckermärkischen Bühnen durchsetzen konnte.3 Simon, in Rostock ausgebildet, der das Haus in den 1980er Jahren als Schauspieler kennengelernt hatte, wurde zunächst – noch von der SEDBezirksleitung, wie er berichtet4 – die Leitung des Theaters angeboten. Aber er setzte sich schon beim Runden Tisch der Übergangszeit für die Fusion des Theaters mit dem Kulturhaus ein. Diese wurde dann am 18. Oktober 1990 von der seit dem Frühsommer 1990 bestehenden neuen Stadtverwaltung – am 6. Mai 1990 hatten in der Noch-DDR Kommunalwahlen stattgefunden – beschlossen. Im Gespräch mit ihm und seinem designierten Nachfolger, André Nicke, der seit 2013 Schauspieldirektor des Hauses ist, wird rasch deutlich, dass aus der Selbstbeauftragung zur Verknüpfung der historischen und kulturellen Traditionslinien mit der Annahme der spezifischen gesellschaftspolitischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen der Stadt und der Region eine Konzeption entstanden ist, für die die Abwertung als „provinziell“ nur als ein denkfaules Missverständnis zu betrachten ist. Ja zur Provinz! Henning Fülle: Wie mutet das für Sie an, als „Theater in der Provinz“ angesprochen zu werden? Reinhard Simon: Das ist vollkommen richtig so. Es kommt ja immer darauf an, von welcher Seite man das sieht. Provinz wird häufig abwertend gebraucht, „ganz weit draußen“. Stimmt auch: Das sind Randgebiete und zwar Randgebiete mit ihren Besonderheiten. Wir selbst leben in einer stark industriell geprägten Region mit dem ehemaligen Petrolchemischen Kombinat (PCK), das bestimmt, ob in Berlin ein Flugzeug abhebt, weil hier das gesamte Flugbenzin hergestellt wird, das in Berlin gebraucht wird. Deshalb existieren wir überhaupt als Theater, wegen dieser industriellen Prägung mit dem PCK und zwei Papierfabriken. Daneben ist die Gegend hier – die Uckermark – sehr stark ländlich geprägt, kuppige Endmoräne, viel Landschaft, wenig Leute und deshalb

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Henning Fülle im Gespräch mit Reinhard Simon und André Nicke

Uckermärkische Bühnen Schwedt. Foto: Henning Fülle

sind wir, die wir hier leben und arbeiten, darauf angewiesen, von außen Leute ranzuschaffen. Das betrifft nicht nur uns, im Sinne von Theaterzuschauern, sondern das gesamte Fachkräftepotenzial. Wenn man sich für die Provinz entscheidet, muss man mit der Provinz leben. Wenn man sich darauf einlässt und die Leute versteht und mit ihnen arbeitet – wir arbeiten mit ganz vielen, die hier wohnen und leben –, dann macht Provinz Spaß. Was heißt das konkret? RS: Wir haben ein brachliegendes Kulturhaus und ein brachliegendes Theater genommen und daraus die Uckermärkischen Bühnen gemacht, wo ja schon im Namen das Bekenntnis zur Provinz steckt. Es war eine klare Entscheidung, hier für die Provinz etwas zu tun – es gab ja noch nicht einmal den Landkreis Uckermark –, indem wir die Uckermark in unseren Namen mit aufnehmen. Und wer ist „wir“? RS: Das ist mein Team gewesen. Dabei war der Start ganz schwierig, z. B. Schauspieler aus der DDR zu bekommen. Denn die wollten alle in den Westen. Wir sind dann in die (West-)Berliner Hochschule der Künste gegangen und haben mit denjenigen, die nicht in den Westen sind, das erste deutsche pari-pari (Ost-West-)Ensemble aufgebaut, ohne dass

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dahinter eine richtige Absicht bestand. Das hat erstmal viele Reibereien gegeben, weil die Worte im Osten und Westen nicht das gleiche bedeuten. Das haben wir zwei Jahre lang gelernt und dann trennte sich die Spreu vom Weizen. So entstand eine neue Truppe. Dann sind wir weitergegangen, über die Uckermark hinaus, Polen kam dazu, und wir haben angefangen, uns hier einzunisten. Die Leute vor Ort haben wir gefragt: Was haben wir gemeinsam? Da sind wir sehr schnell auf die Musik gekommen als Grenze und Barrieren überschreitendes Element. Woher kommt das Motiv dafür? RS: Meine Haltung hat etwas damit zu tun, dass ich diese Arbeit als Familienbetrieb betrachte, was wir auch so aufrechterhalten haben. Über alle Querelen hinweg. Es ist ein Haus, an dem man sich grundsätzlich wohlfühlen kann – natürlich auch streiten kann –, aber immer als Familie. Man muss sich auch um die Sorgen außerhalb des Berufs kümmern, unbedingt auch eine Kantine haben, am besten eine Raucherkantine … Also Kommunikationsfreude und Menschen zusammenführen – das ist mein Motiv gewesen. Sie haben gar nicht vom Theater und der Kunst gesprochen. RS: Das ist natürlich mein Mittel. Eher ein Medium? RS: Ja, ich würde es eher als Medium sehen. Ich liebe das Ensemble und bin auch Verfechter des Stadttheaters, das hier aber auch die Aufgabe hat, mit Laien zusammenzuarbeiten, semi-professionellen Leuten, die wir seit vielen Jahren unterstützen. Wir haben hier seit 25 Jahren Schultheater. Das hat klein angefangen; inzwischen ist es ein Riesenunternehmen geworden und reicht bis nach Berlin, Polen … Will man in der Provinz Theater machen, braucht man viele Leute und dazu gehören nicht nur Professionelle. Letzten Endes haben wir sowas wie Bürgertheater. Sie haben also eine Bürgerbühne am Haus? Ist das eine eigene Sparte? RS: Nein, die sind sehr selbstständig, haben einen Verein gegründet und wir haben einen Vertrag mit diesem Verein, in dem wir uns verpflichten, sie zu unterstützen, regiemäßig, textbuchmäßig usw. Eine gewisse Selbstständigkeit sollte erhalten bleiben und ich mache schon Unterschiede zwischen professioneller Kunst und Hobby von Laiendarstellern. (André Nicke kommt dazu.)

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Versorgung der Region Sie haben mal gesagt, Stettin ist Ihnen näher als die Landeshauptstadt Potsdam. Hat sich das auch darin ausgedrückt, dass die ubs bei dem vom Land initiierten Zusammenschluss zwischen Potsdam, Brandenburg, Cottbus und Frankfurt/Oder zum Brandenburgischen Theaterverbund nicht dabei waren, nicht einmal als fünftes Rad am Wagen? RS: Der Verbund war ja damals nur für Theater und Orchester, die „abgewickelt“ werden sollten. Unabhängig davon haben wir in Frankfurt gespielt, auch noch ein halbes Jahr später mit Restgeldern, im Verbund waren wir jedoch nicht. Jetzt sind wir dabei mit Bedingungen, die wir erkämpft haben. Mit der Funktion als Landestheater? RS: Landestheater ist noch eine andere Schiene. Das betreiben wir seit vier Jahren gemeinsam mit Senftenberg und wir konnten jetzt die Politik davon überzeugen, diese Landestheateraufgaben an uns zu übertragen. Dass wir das angestrebt haben, haben viele nicht verstanden, sondern haben gefragt: „Warum wollt ihr da jetzt rumfahren, warum wollt ihr euch das aufhalsen?“ Ich sehe das völlig anders! Wir sind auch im letzten Mai mit Freuden in den Verband der Landesbühnen eingetreten und haben auch gleich gesagt: „Wir richten die nächsten Landestheatertage aus.“ Wir sind da also gleich mit vollen Segeln reingerasselt, das aber auch ganz bewusst. Wir machen ja sowieso Abstecher und wenn man die besser disponieren kann, das finanziell geregelt wird und man Verträge mit Städten abschließt, wo man mit Sicherheit fünf Mal im Jahr spielen kann, dann können wir viel besser planen. Mit den Städten sind wir schon ganz schön weit gekommen, aber das dauert noch drei, vier Jahre, bis Strukturen aufgebaut sind, die in den alten Bundesländern ja eigentlich selbstverständlich sind. Das ist der Hintergrund: politisches Bewusstsein von der Bedeutung eines Landestheaters als kulturelle Landesaufgabe. André Nicke: Wir sind ja in einer demografisch schwierigen Region. Die Einwohnerdichte ist die geringste in Deutschland; und dann sind wir noch – jedenfalls sprachlich – abgeschnitten vom Hinterland, das ist ja Polen. Da muss man einfach überlegen, was man macht, um das Publikum auch auf der polnischen Seite zu erreichen. Mussten Sie da Druck ausüben auf die Landespolitik? RS: Druck ist da vielleicht zu freundlich ausgedrückt: Gekämpft haben wir!

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Grenzüberschreitende Vernetzung Bekommen Sie eine finanzielle Beteiligung aus Polen? RS: Es sind EU-Fördermittel, die ausgeschüttet werden, in diesem Fall speziell für die deutsch-polnische Grenzregion. Auf polnischer Seite ist es in unserem Fall die Pomerania. Wir haben vor etlichen Jahren die Idee gehabt und die Partner gewonnen. Wir sind dann der Lead-Partner geworden. Um uns kompatibel für Gastspiele zu machen, haben wir eine anständige Summe bekommen – und bekommen sie immer noch, um unsere Theatermaschinerien auszubauen. Es geht dabei um eine Gesamtsumme von 2,6 Millionen Euro, die unter den Netzwerk-Partnern aufgeteilt wird. AN: Mit der Hoffnung, dass man, wenn man Gastspiele austauscht, nicht immer mit den Vierzig-Tonnern vorfahren, sondern einfach nur einen Stick mitbringen muss. Wenn die Häuser das gleiche Lichtpult haben, die gleiche Tontechnik, ist das möglich. Wie sind Sie hierhergekommen, Herr Nicke? Und jetzt sagen Sie mir nicht, Sie stammen von hier, sind hier geboren und aufgewachsen, Uckermärker mit Fleisch und Blut. AN: Nein, aber trotzdem fühle ich mich als Teil der Community dieser Stadt. Die Stadt ist ja auch bunt zusammengewürfelt wegen ihrer Industriegeschichte. Und als Sachse fühle ich mich hier schon ganz gut verstanden und aufgehoben. Sie sind Schauspieler? AN: Ja, ausgebildet von 1987 bis 1991 an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Mehrere Jahre war ich Leiter des Stadttheaters Köpenick in Berlin. Nach Schwedt komme ich, weil man hier Theater machen kann! Vor dem Hintergrund, dass wir Landestheater werden, war es wiederum gut, dass ich davor vier Jahre in Detmold am Landestheater war, die größte Abstecherbühne in der Bundesrepublik, und ich die Strukturen richtig kennenlernen und durchschauen durfte – und musste. Mein Weg ist es jetzt Verhältnisse zu erreichen, dass die Schauspieler sich nicht zwischen Kühlschrank und Waschmaschine umziehen müssen. Das ist also ein echter Kulturauftrag, in seinem kompletten Umfang. AN: Das ist wirklich Dienstleistung in der Fläche vor Ort. Zugangsermöglichung für Kunst verschiedener Couleur und wir arbeiten ja nicht nur in Richtung Schauspiel! Das Haus hat sich unter Simons Leitung sehr musikalisch entwickelt, bis hin zur Aufführung ganzer Musicals.

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Perspektivisch denke ich für meine Intendanz darüber nach, dass wir, da wir jetzt zwei Landestheater haben, in Schwedt eine regelrechte zweite Sparte entwickeln könnten: Musiktheater für die ganzen Mittelzentren, die wir bespielen. Das bringt mich zur Frage nach Ihrem Auftrag. RS: Das sagt einem ja keiner. Wir sind schon der kulturelle Mittelpunkt hier in dieser Stadt, in dieser Region. Ein Ort der Begegnung, ein Ort der Auseinandersetzung, ein Ort des Vergnügens und auch ein politischer Ort, an dem Fragen des Alltags geklärt werden, die nicht nur was mit Theater zu tun haben. Wie machen Sie das? RS: Wir haben einigen Einfluss durch das, was wir anbieten, z. B. über diese ganze Schultheaterecke. Wir finden, dass Theater eine ganz wichtige Kommunikationsform ist, die unbedingt in die Schulen gehört. Man kann Konflikte viel besser lösen, wenn man Theater kennt und kann. Das ist was ganz Entscheidendes: spielerische Konfliktlösung. Deshalb haben wir auch einen Erziehungsauftrag. Deswegen diese ganzen Kontakte zu den Schulen, ein weit verzweigtes Netz, nicht nur in der Uckermark. Da haben wir beispielsweise eine Theaterpädagogin und jetzt, wo wir Landestheater werden, eine weitere. Also Gespräche, Kontakte zu Lehrern, Kontakte zu Gruppierungen, vom Seniorenheim bis hin zu Tourismusvereinen, wo wir überall Mitglied sind. Überall, wo Menschen eine Gruppe bilden, haben wir unseren Fuß mit drin. Es gibt nichts, worin wir uns nicht einmischen. Ein Netzknoten der Zivilgesellschaft in der Region? RS: Könnte man so sagen. Wenn wir uns vorstellen, hier wäre jetzt Chemnitz – bieten Sie sich da an? Nach dem Motto: „Wir müssen reden!“? RS: Ja. In der ersten Phase dieser ganzen Flüchtlings-Chaos-Zeit haben wir Angebote gemacht, z. B. junge Leute als Laiendarsteller im Kindermärchen mitwirken lassen. Wir sind in verschiedenen Gruppierungen tätig, wo es um konkrete Unterstützung geht bei den elementaren Bedürfnissen, Essen, Kleidung. Unsere Schneiderei wird jemanden ausbilden, der aus Afghanistan kommt. Das ist vielleicht ziemlich kleinteilig, aber unsere Mitarbeiter wirken da als Multiplikatoren.

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Uckermärkische Bühnen Schwedt: Tamara. Foto: Udo Krause

Ziel: Zivilisation AN: Das ist eine Möglichkeit. Es gibt ja auch ganz viele unterschiedliche Verständnisse, was Kunst soll und speziell Theater. Ich selbst setze da ganz auf die Langzeitwirkung. Friedrich Schorlemmer wurde mal gefragt: „Was ist dem Menschen näher, Faschismus oder Sozialismus?“ Und wie aus der Pistole geschossen, hat er gesagt: „Faschismus!“ Das hat mich erschüttert. Das heißt: An der Zivilisation müssen wir noch immer wieder arbeiten. Den Firnis der Zivilisation in jeder Generation neu auftragen. Da setzt für mich Theater an. Als ästhetische Alphabetisierung. RS: Ich versuche das mal zu ergänzen und fange bei den Kindern an, mit dem Weihnachtsmärchen. Da sind wir einzigartig: Wir machen seit 15 Jahren unser Weihnachtsmärchen zweisprachig. Wir haben zum selben Zeitpunkt deutsche und polnische Figuren und eine „Zaubersprache“, das ist ein Erzähler, der eine Übersetzungsfunktion innehat. Inzwischen kommen jedes Jahr etwa 6000 polnische Kinder von etwa 16 000 Kindern insgesamt. Dazu noch die Eltern und Erzieher aus Polen. Ich habe der Industrie angeboten: „Passt auf, setzt doch da mal an. Wir haben doch Fachkräftemangel. Geht doch in die Kindergärten, kommt doch hierher, schon vom Kindergartenalter an, bis in die ersten Klassen, macht euch da sympathisch. Denn ihr werdet diese Lehrlinge brauchen. Ihr braucht polnische Jugendliche als Nachwuchs.“ Das ist aber ein lan-

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ger Prozess. Im Moment hat das keiner noch so richtig aufgegriffen, aber wir arbeiten ganz zäh daran, dass sie das verstehen. AN: Und wir kämpfen hier noch mehr um unser Publikum. Da kommt man dann auf die Idee, sich Verbündete zu suchen. Das aktuelle Klassenzimmerstück machen wir deutsch-polnisch, damit es nicht nur an deutsche Schulen geht. Wir haben in unserem Ensemble drei Darsteller, die entweder muttersprachlich Polnisch oder beide Sprachen akzentfrei sprechen. Im kommenden Jahr werden wir mit den Stadtwerken zusammenarbeiten, um gemeinsam über die Zukunft nachzudenken. Was ist möglich in Sachen grüner Energie? Damit erschließen wir auch unsere Ressourcen im Sinne von Sponsoring, damit ich mal eine andere Ausstattung auf Reisen schicken kann. Die Frage habe ich die ganze Zeit auf der Zunge: Welche Rolle spielt dabei die Literatur, der Kanon des Theaters? RS (ironisch): Machen wir überhaupt noch Theater? AN: Was ist Kunst, was zählen wir alles dazu? Wir haben beide einen sehr ähnlichen Begriff von Theater und von Handwerk. Wo sich unsere Generationen vielleicht ein bisschen trennen, sind die ästhetischen Entwürfe, die da vorkommen dürfen. Und das sollte ja auch so sein. Das Angebot muss sich auch modifizieren. Man muss sich anders darstellen für die unterschiedlichen Zielgruppen. Für die Nachwachsenden, für die Zugezogenen, die es in den anderen Stadtgesellschaften zu aktivieren gilt, in den Mittelzentren, von denen ich vorhin sprach. Immer wieder Aufbauarbeit AN: Wir, die Theaterleute, entwickeln uns ja in unserer täglichen Arbeit immer weiter. Aber beim Zuschauer fangen wir, wenn er neu kommt, immer wieder von vorne an. Es ist immer wieder Aufbauarbeit. Und den überfordern wir total, wenn wir ihn mit unserem Verständnis, bei dem wir jetzt stehen, konfrontieren würden. Sowas gönnen wir uns vielleicht ein- oder zweimal pro Spielzeit. Und da gilt der schöne Satz von Benno Besson: „der hohe Preis bringt hohen Gewinn, freilich jenseits des Profits: Leben lernt man im Theater“. Den müsste man hier draußen ranschreiben. Als wir in Memmingen waren, haben wir am Abend Theater gesehen, da ging es um eine Anstalt der Euthanasie in der Region während der Nazizeit; politische Regionalgeschichte, die dort in einem eher performativen als dramatischen Text aufgegriffen wurde. Spielen solche Themen wie das PCK oder das Militärgefängnis Schwedt eine Rolle für den Spielplan?

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RS: Ja, das ist ja logisch. Wir haben das Bewusstsein geweckt, dass wir als Stadt so ein Kainsmal vor uns hertragen: Schwedt ist stinkende Chemie, der Militärknast und dann kommt lange nix. Einöde, keine Menschen. Dann haben wir uns selber mit diesem Knast beschäftigt, haben Opfer und Täter zusammengebracht, haben hier Lesungen gemacht, Begegnungen, und sind selbst im Knast gewesen. Inzwischen ist es soweit – das war ein unbeliebtes Thema für die Stadt, nicht besonders werbewirksam –, dass es eine Gedenkstätte gibt. Wir haben also den Anstoß gegeben und haben uns dann sachte zurückgezogen. Das machen wir übrigens relativ oft: Anstoß geben – z. B. zur Hugenotteneinwanderung. Warum heißt unser Park Hugenotten-Park? Das hat etwas damit zu tun, dass mit dem Edikt des Großen Kurfürsten vor 368 Jahren Hugenotten angesiedelt wurden. Deshalb haben wir diesen Park hier „Europäischen Hugenotten-Park“ genannt – wegen der Ansiedlung von Glaubensflüchtlingen und der Notwendigkeit, Fachkräfte herzuholen. Das ist also schon ein ganz altes Thema bei uns, gegen das es auch Widerstand gegeben hat. Das ist so einer unserer politischen Aufträge. AN: Und wir wissen daher auch, dass so eine Integration hundert Jahre dauern kann. Auch das muss man wieder deutlich machen. Es gab ja auch ein Hoftheater in Schwedt. Und es gab in Deutschland fünf Trauerfeiern zum Tode Lessings – eine davon war in Schwedt. Soviel zur Provinz hier. Das sind die Traditionslinien, in die wir uns natürlich auch gerne mal stellen. RS: Aber wir überprüfen unsere Programmatik auch immer wieder, um sie kompatibel mit den Schulen zu machen. Wir würden nichts machen in dieser Hinsicht, bei dem wir nicht wüssten, der Lehrer steht dahinter. Der Schüler kauft sich doch nicht die Karte und wenn er das nicht im Unterricht hat, geht er nicht ins Theater. Das ist eine Art leichter bürgerlicher Zwang. Beim Märchen hat der Erziehungsprozess schon Früchte getragen: Wir verkaufen unsere Märchenkarten zu einem Stichtag an die Schulen und dann gehen an einem Tag 12 000 Karten über den Ladentisch. Insgesamt kommen wir auf 16 000. Das sind 22 Vorstellungen à 800 und paar zerquetschte Plätze – und das muss man erstmal schaffen! Das ist unser Kernstück der Entwicklung für Kinder- und Jugendarbeit. AN: Nächstes Jahr machen wir Theater im und Theater aus dem sozialen Raum, z. B. mit der Bürgerstiftung Barnim, zu der das Kanal-Theater in Eberswalde gehört. Das ist ein Doppelpass-Projekt (von der Bundeskulturstiftung gefördert). Dabei geht es darum, dass beide Seiten voneinander lernen. Und das merken wir jetzt schon: Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen, was vielleicht ein Stadttheater alles im Über-

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Henning Fülle im Gespräch mit Reinhard Simon und André Nicke

maß hätte. Wir sagen dann: „Lernt mal kennen, wie wir mit den Ressourcen haushalten müssen.“ Trotzdem ist es spannend, sich darauf einzulassen, auch auf den ästhetischen Entwurf, der uns erstmal staunen lässt. RS: Das war jetzt auch mit dem Theater am Rand so. Dort herrschen völlig andere Strukturen. Das ist ein Annäherungsprozess, der auch nicht ganz reibungslos verläuft. Aber Theater ist sowieso Reibung. AN: Mit Staunen und Lernen. Kunstanspruch und Unterhaltungsangebot Noch eine Frage zum Spielplan: Kunst und Unterhaltung. Wie verhält sich das bei Ihnen? AN: Das Ideal wäre doch, „werteorientiertes“ und „erfolgsorientiertes“ Programm unter einen Hut zu kriegen. Trotzdem haben wir ein paar Zahlen, die wir erfüllen wollen und müssen. Also schielt man natürlich auch in den Bereich der Unterhaltung. Wieso „schielt“ man da? Ist das vielleicht doch ein ganz klares Hinschauen? AN: Stimmt, die Scham ist da fehl am Platz. RS: Ich finde, die Frage ist ein bisschen komplexer, weil das negativ besetzt ist. Aber wenn uns das Thema passt, dann nehmen wir uns das, auch wenn es für uns erstmal nicht passgerecht ist. Darf ich das kurz festhalten: Das Thema ist wichtiger als die Literatur? RS: Das kann man so sagen. Dabei kann aber auch gute Literatur vorkommen. Es gibt zu vielen Themen gute Texte … RS: Die sind aber nicht in jedem Fall theatergeeignet oder für die Region geeignet. Unterhaltung gegen Ernsthaftigkeit zu stellen, ist für mich nicht fassbar. Ich kenne ja diese Diskussionen, ich habe ja nicht umsonst Theaterwissenschaft studiert. Aber ich finde, alles darf Unterhaltung sein! Wenn es allerdings nur um der Unterhaltung willen ist, dann ist es falsch. Man muss mit der Unterhaltung etwas mehr meinen. Es ist die Aufgabe des Theaters, die Leute zu unterhalten mit Dingen, die das Leben betreffen. AN: Und jetzt holen wir gerade Cindy Reller her, der AschenputtelStoff in der Version des Hamburger Schmidt Theaters als Schlagermusical. RS: Ja, was ist das? Das ist einfach ein modernes Märchen. AN: Aber als Parodie, das ist für mich Kunst. Wenn es nur der triviale Schlager wäre – aber in dem Moment, wo ich es parodiere, geht es durch

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Kraftwerk der Zivilgesellschaft

einen Filter durch und wird trotzdem im höchsten Maße unterhaltend. Wenn jemand verändert rausgeht, ist es vielleicht schon Kunst. Deswegen sind wir ja auch so breit aufgestellt. Wir sind ja ein Haus mit drei Säulen: neben Theater auch Kulturhaus und Veranstaltungsort. RS: Wir sind ja auch Messeveranstalter. Die Ausbildungsmesse haben wir hier seit 15 Jahren. Da sind wir wieder Begegnungsstätte, ein völlig anderer Bereich. Schüler, die sich informieren, und die Betriebe, die sich interessant machen, damit sie die Schüler als Lehrlinge hier behalten, damit sie nicht weggehen. Da sind wir auch ein Mittelpunkt. Und dann gibt es seit vielen Jahren eine deutsch-polnische Messe, die nennt sich INKONTAKT, eine Wirtschaftsmesse. Das hat die Unternehmensvereinigung viele Jahre gemacht und die Stadt wollte das beibehalten und hat uns gefragt, ob wir die ausrichten. Dafür haben wir auch eine Abteilung bei uns im Theater, die es sonst in gar keinem Theater gibt, unser Veranstaltungsmanagement. Die haben mit der Vermietung und dem Einkauf zu tun und auch mit Messen. Dadurch, dass wir das alles managen, hat es auch immer was mit uns zu tun. Auf diesem Weg verbindet sich der Messegedanke mit dem, was wir als Künstler können. Provinz? Es mag das Zusammentreffen der örtlichen Gegebenheiten sein und erscheint damit fast auch wie ein spätes Gelingen der besten kulturpolitischen Visionen des untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaates, das so vielleicht wegen der absurden Lage am äußersten Rand der Republik möglich wurde: das bestehende Kulturhaus nach dem Konzept der Kulturpolitik der DDR und das Stadttheater mit Ensemble und Repertoire im selben Haus auf historischem Grund, die der Intendant in den Wirren der Wendezeit entschlossen zusammengeführt und entwickelt hat. Was daraus entstanden ist, ist ein Theater als Ort der Begegnung, als Forum für die Menschen der Stadt und die Region und als Ort der Kunst, der Erbauung und der Selbstvergewisserung. Dieses Gelingen zeigt, dass das Verhältnis von „Metropole“, zu „Provinz“, der von ersterer beispielgebend vorgemacht wird, was „Kultur“ zu sein habe, ein Verhältnis von gestern ist.

1

Bruck, Birgit: Ein Theaterwunder in der Provinz oder Im Osten geht die Sonne auf. 25 Jahre Uckermärkische Bühnen Schwedt, Schwedt/Oder 2015, S. 15f.

2

Hain, Simone; Schroedter, Michael; Stroux, Stephan: Die Salons der Sozialisten. Kulturhäuser in der DDR, Berlin 1996.

3

Vgl. Bruck, S. 22f.

4

Ebd., S. 23.

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AUS DER PROVINZ AGIEREN Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz im Gespräch mit Stefan Hallmayer und Simone Haug vom Theater Lindenhof in Melchingen. Bearbeitung von Micha Kranixfeld -

Einmal im Jahr wird Melchingen, ein Dorf auf der Schwäbischen Alb mit knapp eintausend Einwohner*innen, zu „Klein-Berlin“. Dann erklärt der gleichnamige Narrenverein den Ausnahmezustand und Hexen, Bären und Teufel ziehen durch die Straßen. Außerhalb der Saison ist der Vergleich mit der Hauptstadt nicht so offensichtlich. Zur kulturellen Szene Melchingens gehören Kirchenchor, Blaskapelle, Gartenbauverein – und seit 1981 das Theater Lindenhof. Das mehrfach preisgekrönte Theater erhält für seine engagierte Kulturarbeit mittlerweile bundesweit Aufmerksamkeit. Zum Gespräch mit Intendant Stefan Hallmayer und PR-Chefin Simone Haug betritt man eine Baustelle: Nach vielen Jahrzehnten des langsamen Wachsens erlebt das Theater einen ordentlichen Investitionsschub. Zum ersten Mal seit über dreißig Jahren wird es ein Foyer für das Publikum geben, das seine Pausen fortan nicht mehr im Kalten verbringen muss. Und auch für die Künstler*innen wird es angenehmer: Ihr Weg auf die Bühne führt nicht mehr wie bislang bei Wind und Wetter über eine Außentreppe von der Garderobe auf die Bühne. Dem Theater ist anzumerken, dass es vom improvisierten Ort zur festen Größe geworden ist. Wieso unbedingt Theater auf dem Land? Warum kauft man ein Gasthaus auf der Schwäbischen Alb und macht eine Scheune zum Theaterraum? Stefan Hallmayer: Unser Theater wurde in einer Zeit gegründet, in der auch die meisten soziokulturellen Zentren entstanden sind. Wir sahen im Theater eine Möglichkeit, uns von unseren Eltern und von allem, was für uns vorgesehen war, wir aber nicht wollten, abzugrenzen. Unsere Besonderheit ist, dass wir das Dörfliche kennen. Die meisten von uns sind in dieser Gegend aufgewachsen und wir produzieren noch immer hier. Wir haben immer aus der Provinz heraus agiert und sind dann in die Städte gegangen, um auch dort unsere Sichtweise vom Menschsein und von der Welt zu erzählen. Damals hatten wir schon in Reutlingen und Tübingen gespielt und suchten ein Zuhause. Der Landgasthof in Melchingen stand zum Verkauf

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und einer von uns hatte zufällig Geld. Damit bekam unsere Sehnsucht einen Ort und gleichzeitig hatten wir von da an das Ding an der Backe. In der ersten Zeit brauchte die Gruppe immer ein bis zwei Jahre zur Premiere, da alle Mitglieder ihren Lebensunterhalt durch andere Tätigkeiten sichern mussten. Ihr Publikum kam damals nicht vom Land, sondern aus der Stadt. Die Zuschauer*innen pilgerten aus Tübingen, Reutlingen oder Stuttgart nach Melchingen, um das kritisch-poetische Volkstheater zu erleben. Das änderte sich erst 13 Jahre später, als die erste Komödie auf den Spielplan kam – sehr zum Missfallen mancher Enthusiast*innen der ersten Stunde. Doch der breitere Spielplan sorgte dafür, dass auch die regionale Bevölkerung das Theater für sich entdeckte und so erste Erfahrungen mit seiner Arbeitsweise sammelte. Volkstheater Simone Haug: Was mich schon immer für den Lindenhof begeistert hat, ist, dass man hier Geschichten auftut, die in den Orten schlummern. Bei jedem neuen Stück tut sich so ein Prozess auf. Wenn man aus der Region kommt, ist es eine Freude zu sehen, wie diese Geschichten mit ihren Ecken und Kanten erspielt werden. In diesem Sinn ist es eine ganz kulturwissenschaftliche Arbeit mit viel Recherche und vielen Interviews. Die Stuttgarter Zeitung hat uns mal als „Volkstheater im besten Sinn“ beschrieben. Und tatsächlich würden wir mit diesem Begriff hausieren gehen. Volkstheater ist das, was wir machen, aber der Begriff wird oft falsch verstanden. StH: Wir wollen nicht Experten fürs Land sein oder Theater nur für Schwaben machen. Wir sind ein Theater für alle. Da gehört ein lustiger Abend im Dialekt wie Spätzle mit Soß genauso dazu wie der Kohlhaas in der kleistschen Sprache. Wir wollen Theater zum Anlass nehmen, um über wesentliche Dinge des Zusammenlebens, der Demokratie, der Menschlichkeit nachzudenken: Wie wollen wir leben? Wie wollen wir Vergangenheit begreifen und Zukunft gestalten? Ein Beispiel: In Stetten am kalten Markt sollten wir für das Stadtjubiläum ein Stück entwickeln. Gewünscht war eine Adelshochzeit, aber als wir begannen, uns mit der lokalen Geschichte zu beschäftigen, entdeckten wir etwas völlig anderes, nämlich, dass sich auch in diesem kleinen Flecken in den Schicksalen der Bevölkerung und der Soldaten die Weltgeschichte abbildet. In Stetten war während des Nationalsozialismus das erste Schutzhaftlager, hier wurde

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Herausgeber im Gespräch mit Stefan Hallmayer und Simone Haug

Theater Lindenhof, Melchingen: Theatersommer. Foto: Ulrich Rippmann

auch eine indische SS-Legion ausgebildet. Auch heute ist der Ort noch ein großer Ausbildungsort für militärische Gruppen. Die Proben begannen, aber als der Bürgermeister unser Stück las, wollte er es nicht mehr: Stetten kam ihm zu schlecht dabei weg. Die Spieler aus dem Ort aber – es waren 270 Menschen dabei – wollten weitermachen. Erst kurz vor der Premiere kam der Bürgermeister, setzte sich dazu und sagte: „Was hier passiert, das hat meine Politik in zwanzig Jahren nicht geschafft.“ Und es wurde ein Riesenerfolg. Stetten ist heute nicht mehr „Stetten am kalten Arsch“, wie man Stetten am kalten Markt auch nennt, sondern Stetten ist da, wo die so tolles Theater machen. Nach der Premiere hat der Bürgermeister mit uns eine Kooperation vereinbart. Seitdem machen wir alle vier Jahre auf dem Marktplatz Theater und graben eine neue Geschichte aus dem Fundus der Ortsgeschichte aus. Die Projekte mit Lai*innen sind nur ein Teil der Arbeit: Das Ensemble erarbeitet jährlich zwischen vier und sechs Neuproduktionen und macht zudem theaterpädagogische Angebote. Damit erreicht das Theater Lindenhof etwa 20 000 Zuschauer*innen in Melchingen und zwischen 20 000 und 30 000 Zuschauer*innen auf Gastspielreisen. SH: Die Gruppe der Theaterbesucher auf dem Land zu erweitern, sie zu motivieren, gerade zu uns zu kommen, die wir kritisches Theater machen, ist nicht einfach. Aber die Bürgertheaterprojekte

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Aus der Provinz agieren

bieten eine besondere Möglichkeit der Identifikation. Die Menschen, die einmal mitgespielt haben, kommen immer wieder und die wären vorher nicht ins Theater gekommen – und zwar egal in welches, Stadttheater oder Theater auf dem Land. Wir haben es geschafft in einer Gegend, in der der Weg in ein Theater immer weit ist, sie für das Medium Theater an sich zu öffnen und zu begeistern. StH: Wir sind auf dem Land, wo es nicht für selbstverständlich gehalten wird, dass Menschen künstlerisch tätig sein sollten. Dass Kunst nicht nur kostet, sondern einen wertvollen Beitrag zur gesellschaftlichen Veränderung beitragen kann, wird hier nicht gleich gesehen. Aber die Hingabe, die entsteht, wenn Menschen in ihrem eigenen Ort Theater machen, ist überwältigend. Wenn 270 Menschen durch ein Theaterprojekt gemeinsam einen Teil ihrer eigenen Geschichte erzählen, mit den tausenden von Absprachen, z. B. der Verbindlichkeit der Proben- und Spieltermine, liegt allein darin schon ein Mehrwert. Sie fühlen sich verantwortlich und werden zu Gastgebern für das Publikum aus anderen Orten. Sie gestalten kulturelles Leben in ihrer Gemeinde mit einer Strahlkraft nach außen. Das stärkt. Wie macht ihr die Beziehung zwischen Menschen, die Theater professionell machen, und denen, die als Laien beginnen, in solchen Produktionen fruchtbar? Wie funktioniert der Transfer zwischen den Rollen als Theatermacher und Kulturpädagoge? SH: Diese Arbeit fordert uns alle heraus, weil man voneinander lernt: Ich denke gerade an ein Projekt mit Geflüchteten. Die Teilnehmer brachten alle Theatererfahrung mit, aber aus einem Land, wo Theater etwas ganz anderes bedeutet. Das hat der Schauspieler, der da dabei war, als sehr bereichernd empfunden. StH: Ich begreife Regie immer als etwas, von dem ich mir erhoffe, dass durch die gemeinsame Arbeit am Ende mehr herauskommt, als ich alleine auf dem Schirm habe – ob ich nun mit Menschen mit Assistenzbedarf arbeite, mit Geflüchteten oder mit professionellen Schauspielern. Meine Rolle bedeutet, dass, wenn ein Ansatz scheitert, ich mir für den nächsten Tag etwas Neues ausdenke, das ich in den Ring werfen kann, das dann vielleicht zur Lösung und Entwicklung der Szene führt. Ich finde diese Arbeit sehr bereichernd, weil sie die eigene Flexibilität extrem herausfordert. Manchmal muss man sich dafür viel Zeit lassen und ein Jahr Entwicklungszeit geben, statt es in zwei Monaten fertigzumachen. Wir spielen die Geschichten, die wir für richtig halten, und wir spielen sie mit den Partnern, die wir für richtig halten.

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Herausgeber im Gespräch mit Stefan Hallmayer und Simone Haug

Theater Ihr steckt ja gerade in einem großen Umbau. Spiegelt sich das auch auf der strukturellen Ebene? Verändert sich neben den Räumen auch das Theater selbst? StH: Der Lindenhof ist ein permanentes Transformationsprojekt – personell, strukturell, räumlich. Ich habe nicht als Intendant angefangen, ich habe als Aktivist angefangen – als Utopist, als Träumer. Zunächst habe ich nur gespielt, später dann auch inszeniert. Formal waren wir erst eine Initiative, später ein Verein, dann waren wir zwei Vereine, jetzt sind wir eine Stiftung. In den Anfängen spielten wir nur im ehemaligen Tanzsaal der Linde, dann bauten wir unsere Scheune aus. Heute spielen wir im Wald, auf Flüssen, in Industriebrachen, im Zug, in Gaststätten und im Wohnzimmer. Räume erschließen, Formate entwickeln, Kooperationen gestalten ist unsere Leidenschaft. Ein gewisses Missverhältnis zu Ungunsten der Kunst zwischen Kunst, Bauen und Organisation, das früher extrem war, begleitet uns immer noch. SH: Der Lindenhof war schon immer ein Ort, an dem sich Leute einbringen können. Es ist kein festgefahrener Betrieb. Es ist immer noch ein Gemeinschaftsgefühl da. Wir sind etwas über zwanzig Mitarbeiter und wir alle arbeiten sehr eng zusammen. Das ist anders als im Stadttheater. StH: Dafür haben wir immer gekämpft. Die Nähe zu allen, die mitwirken, diese flachen Hierarchien sind eine große Qualität unserer Geschichte. Aber die Ungewissheit der Finanzierung gehört auch dazu. Wir sind ein freies Theater und formal eben „nur“ ein Privattheater. Wenn der aktuelle Bau eine halbe Million mehr kostet, ist da keine öffentliche Hand, die das Problem löst. Es ist gut, so Theater zu machen. Aber dass dieses Theater mit seinen 25 Mitarbeitern in einer 936-Seelen-Gemeinde inzwischen in der baden-württembergischen Förderlandschaft verankert ist, ist auch richtig. Das Theater Lindenhof hat über die Jahre ein Fördermodell entwickelt, das Abbild seiner regionalen Beziehungen und seiner besonderen Geschichte ist. Als Regionaltheater erhält es für jeden Euro kommunaler Förderung zwei Euro aus Landesmitteln. Bei der kommunalen Förderung werden jedoch nicht nur die Mittel der Sitzgemeinde Bur ladingen oder des Landkreises berücksichtigt, sondern alle Partnerschaftsverträge, die das Theater mit Kommunen in der Region eingeht.

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Aus der Provinz agieren

SH: Wir haben fast 25 Theaterpartnerschaften, kleine Gemeinden, größere Städte, alles dabei. Sie sichern uns einen festen Betrag pro Jahr zu und dafür bekommen sie von uns Theater. Wenn es mal passiert, dass wir in einer Stadt ein Jahr nicht spielen – die Stadthallen sind ja oft gut ausgebucht –, dann sammelt sich Geld an und eine große Produktion von uns kann zum Gastspiel kommen. Und falls sich wirklich viel Geld angespart hat, entwickeln wir ein eigenes Stück für die Stadt. Aus den unterschiedlichen Verträgen und der Geschichte ihres Zustandekommens lässt sich viel ablesen über das Beziehungsgeflecht, das das Theater Lindenhof etabliert hat, um seinen Fortbestand zu sichern. Viele Partnerschaften gehen auf eine jahrelange, auch persönliche Auseinandersetzung der Theatermacher*innen mit bestimmten Orten zurück. StH: In Mössingen gibt es die Gebäude der ehemaligen denkmalgeschützten Textildruckfirma Pausa, eine Industriebrache, ein Kulturgut von europaweiter Bedeutung wegen seiner Verbindungen zum Bauhaus. Ich bin in dieser Region aufgewachsen und habe dort selbst Stoffe gekauft, aber nicht gewusst, wie bedeutend dieses Erbe ist. Ich fand den Ort einfach toll und habe den Bürgermeister überzeugt, in der Brache Theater zu machen. Da war nur Staub und Dreck und niemand hat daran geglaubt, dass man da spielen kann. Etablierte Theater würden das, glaube ich, nicht machen. Die Techniker würden da nicht reingehen, die Schauspieler würden sich da nicht umziehen. Aber wir haben saubergemacht und da im Sommer 2017 das erste Mal gespielt. Und dann wieder und wieder und wir haben investiert. Heute haben wir eine Kooperation mit der Stadt, die uns jedes Jahr eine fixe Summe gibt. Mit unseren Projekten haben wir Kulturpolitik in Bewegung versetzt. Aktuell haben wir mit und für die Stadt einen Antrag zum Bauhausjubiläum ausgearbeitet. Der hat bewirkt, dass die Bundeskulturstiftung der Stadt eine Förderzusage in erheblichem Umfang gemacht hat. Die Zusage wiederum hat bewirkt, dass der Gemeinderat ebenfalls nochmals zusätzlich fördert – was kulturpolitisch eine Sensation ist. Darin spiegelt sich wider, dass wir oft die Bedingungen, um Theater überhaupt machen zu können, selber schaffen, indem wir Räume erschließen, politische Verantwortliche überzeugen und Perspektiven aufzeigen. Das zu tun, dürfen wir nicht müde werden. Wir sind froh, dass wir in der Pausa spielen können, und wir sind auch stolz darauf, dass wir den Menschen aus der Region dieses Erbe näher-

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Herausgeber im Gespräch mit Stefan Hallmayer und Simone Haug

bringen können. Da ist noch lange nicht alles aufgearbeitet und wir sind froh, dass wir solche Geschichten, am Ort ihres Geschehens, einem architektonisch hoch aufregenden Raum, erzählen dürfen. Im Grunde genommen, ist das Melchinger Theater ein Konstrukt der Selbstermächtigung. Sie bespielen das Prinzip Landesbühne, ohne dass es einen Landesauftrag dafür gibt. Es geht aber nicht nur um Strukturen, sondern um ein Theaterverständnis. Provinztheater Auf eurer Internetseite steht, ihr macht Theater in der Provinz, aber ihr macht kein Provinztheater. Warum distanziert ihr euch von diesem Begriff? StH: Der Begriff ist besetzt: provinziell, randständig, rückständig. Und das wird ja hier noch gedoppelt durch das Schwäbische. Wenn man die Dialekte in den Vorabendserien durchgeht, ist es oft der Schwabe, der dümmlich ist. Dabei ist diese schwäbische „Provinz“ unglaublich aktiv. In jedem Kaff sitzt hier ein globaler Player. Und es gibt in jedem Dorf Weltgeschichte zu erzählen. Nochmal Stetten: Dort gab es eine SS-Division mit Indern, die, weil Indien von den Briten besetzt war, an der Seite der Nazis gegen Marokko gekämpft haben, die wiederum von den Franzosen vorgeschickt wurden. Ähnlich kuriose Geschichten spielten sich überall auf dem Land ab. Um solche Geschichten zu sehen, kommen die Leute aus Stuttgart zu uns. Hier auf der Alb ist alles viel kruder und vielschichtiger, als es das Fernsehen vermittelt. Der eine Ort prosperiert, der andere verliert seine Bevölkerung. Das ist nicht so eindimensional. In diesem Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, zwischen dem Nächsten und dem Fernsten, zwischen Heimat und Welt, bewegt sich unser Theater. Ich will gar nicht sagen, dass wir schon alles richtig machen, aber unsere Lust ist eben die Suche nach regionalen Geschichten und es stellt sich oft heraus, dass sich im Mikrokosmos sehr gut aufzeigen lässt, in welcher Welt wir leben. Ich finde es lohnend, aus der Provinz heraus zu agieren und sie nicht nur zu bespielen. Von peripheren Räumen, Rückzugsorten, von Nischen und vom Land auszugehen, bietet auch große Chancen. Und ich glaube auch, dass sich manche Problematiken des demografischen Wandels gerade durch die großen Veränderungsprozesse, die wir heute durch die Digitalisierung erleben, schnell wieder wandeln werden.

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Aus der Provinz agieren

Theater Lindenhof, Melchingen. Foto: Lutz Schelhorn

Wenn man Berichte über die Arbeit des Theater Lindenhof liest, findet man darin oft Erstaunen. Darüber, dass es in der Provinz kritisches Theater geben kann, vor allem aber Erstaunen darüber, dass der Lindenhof Geschichten erzählt, die auch Stadtbewohner*innen neue Perspektiven auf sich selbst ermöglichen. Dieses Erstaunen – wenn auch positiv gemeint – entlarvt die darin enthaltenen Vorurteile über das Ländliche. Dabei ist Melchingen im Bereich Theater eben kein „Klein-Berlin“, keine Miniversion urbanen Kunstschaffens, sondern entwickelt ganz eigene Modelle für Finanzierung, Selbstorganisation und Stückentwicklung, von denen man auch in Berlin lernen sollte. Das Team des Theaters denkt derweil bereits über die nächsten Herausforderungen nach. StH: Wir sind Künstler und in erster Linie erstellen wir Theaterproduktionen. Wir sind aber auch Veranstalter mit eigenem Haus samt Infrastruktur. Was heißt es eigentlich, dass wir ein Theatergebäude in einem Dorf, das nicht mal tausend Einwohner hat, besitzen? Schon in einer Stadt wie Reutlingen mit über 100 000 Einwohnern haben sie die Soziokultur, Chöre, Orchester, und ihr Theater – für jedes ein eigenes Haus. Dieses Konzept lässt sich auf unser Dorf nicht übertragen. Hier bei uns muss unter unserem Theaterdach so viel wie möglich an Begegnung und „Grundversorgung“ stattfinden. Auch über die Theaterarbeit hinaus. SH: Im Rahmen des TRAFO-Projekts der Kulturstiftung des Bundes haben wir 2017 in unser Kartenbüro eine Tourismusinformation

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Herausgeber im Gespräch mit Stefan Hallmayer und Simone Haug

integriert, weil unser Haus einfach gut gelegen ist. Es kommen viele Wochenendbesucher und Fahrradtouristen vorbei, die in unserer Gaststätte Rast machen. StH: Im Rahmen dieses Projekts konnten wir auch einen Friseur überzeugen, unser Partner zu werden. Weil wir gemerkt haben, dass wir die Garderobe ja tagsüber nicht brauchen, kann man sich jeden Dienstag hier die Haare schneiden lassen. Es gibt also wieder einen Friseur im Dorf. Und man kriegt bei uns an der Theaterkasse neuerdings auch den gelben Sack. Unser Theater wird so zur zentralen Anlaufstelle für Besucher, Dorfbewohner und Touristen. Euer Theater war nie als Modell gedacht, sondern hat sich über viele Jahrzehnte aus euren Erfahrungen entwickelt. Aber vieles, was ihr beschreibt, könnte an anderen Orten zu neuen Lösungen inspirieren. Wir haben eine sehr ausgiebig öffentlich geförderte Theaterlandschaft und da darf es auch mal ein paar neue Formen geben. Was würdet ihr empfehlen? StH: Ich glaube, dass die Chancen von Dezentralität und Vielfalt grundsätzlich unterschätzt werden. Auch eine Bewegung wie das Bauhaus kam nicht aus Berlin oder Hamburg, sondern aus Weimar und Dessau. Vielfalt und Dezentralität sollte sich auch in der Förderlandschaft spiegeln. Grundsätzlich sollte künstlerisches Wirken Bezug zur Landschaft und zu den Menschen haben und dafür braucht es spezifische Ansätze mit Lokalbezug. Aber wer hat den Auftrag, sich um das Land zu kümmern? Bei den Landesbühnen geht es um die sogenannte Bespielung der Fläche. Das ist kein moderner Kulturbegriff. Trotzdem: Die Wanderbühne ist nach wie vor aus meiner Sicht ein gutes Konzept mit Zukunftsperspektive. Aber ist die „Bespielung“ ausreichend? Die Gesellschaft, nicht nur die Kunst, verbaut sich eine Chance, wenn sie nicht fördert, was in den Nischen, in der Peripherie und auf dem Land gedacht und entwickelt wird. Hier schlummern viele Schätze – Geschichten, Stoffe, Schicksale, Figuren –, die man heben sollte. Auch sie können einen Beitrag zur Gestaltung einer demokratischen, humanen und solidarischen Gesellschaft der Vielfalt beitragen. Zu glauben, man müsste da kulturell nachbessern und aufklären, ist zu kurz gegriffen. Unsere Arbeit ist ein Beweis dafür, dass die Geschichten vom Land fürs Theater taugen. Und dass die Welt nicht erzählt ist, wenn man nur Geschichten aus Stuttgart oder Hamburg hört.

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VOM DREHKREUZ DES SPIELPLANS UND VOM DRAHT ZUM PUBLIKUM Sven Scherz-Schade im Gespräch mit Christian Kreppel, Intendant des Theaters der Stadt Schweinfurt und Präsident der INTHEGA, und Werner Müller, Intendant des Stadttheaters Fürth -

Auch die Theater in der Provinz brauchen eine kulturpolitische Lobby, um ihre Interessen nach außen und in der Politik deutlich zu machen. Vor allem aber müssen sie untereinander zusammenkommen. Das ist keine Selbstverständlichkeit und hat kulturgeschichtlich einige Zeit gebraucht. 1980 gründete sich die INTHEGA, die Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen. Ihre Mitglieder sind „Theaterspielorte in der Fläche“ in den deutschsprachigen Ländern Deutschland, Schweiz, Österreich und den Benelux-Staaten. Christian Kreppel ist seit 2013 INTHEGA-Präsident. Er leitet das Theater der Stadt Schweinfurt und ist Präsident der INTHEGA. Sven Scherz-Schade: Herr Kreppel, das Theater der Stadt Schweinfurt hat 1966 seinen Spielbetrieb aufgenommen und ist seitdem ein erfolgreiches Gastspieltheater. Es gab kommunal nie ernsthafte Kürzungen, die an den Bestand gegangen wären. Von außen scheint Schweinfurt wie eine kulturpolitisch heile Welt. Ist es tatsächlich so? Christian Kreppel: Das ist es. Mit Augenzwinkern gesagt: Kultur und Geld schließen sich nicht aus. Die Stadt Schweinfurt hat bei 54 000 Einwohnern aktuell 65 000 Arbeitsplätze, sodass hier viele Leute tagtäglich einpendeln. Von der Wirtschaftskraft sind wir deutschlandweit nach München und Ingolstadt auf Platz drei. Schweinfurt kam und kommt viele Jahre lang in den Genuss guter Gewerbesteuereinnahmen. Dass fünf bis sechs Prozent des städtischen Gesamtetats für Kultur ausgegeben wird, ist ein Geschenk und dieser Beitrag für die Kultur ist bei allen im Stadtrat vertretenen Fraktionen völlig unstrittig. Die Schweinfurter Kommunalpolitik scheint von der Wichtigkeit des „Theaters für die Provinz“ überzeugt zu sein. Welche Argumente überzeugen die Politik am ehesten? Zunächst einmal ist unsere kommunale Theaterpolitik von großer Kontinuität geprägt, was ein Glücksfall ist. Ich habe hier 2006 angefangen. Vor mir gab es seit Bestehen des Hauses 1966 lediglich zwei Vorgänger.

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Sven Scherz-Schade im Gespräch mit Christian Kreppel und Werner Müller

In all den Jahren war der Stellenwert des Theaters für die Kommune immer klar. Es wurde als großes Vollhaus mit 2500 Quadratmetern gebaut, um ganz bewusst der Arbeiterschaft auch anspruchsvolles Sprechtheater anzubieten. Das war der ideologisch-kulturpolitische Ansatz, der sich heute zwar auf alle sozialen Milieus ausgeweitet hat, aber im Kern immer noch besteht: Das Theater wurde damals hervorragend angenommen, sodass die Abos sofort ausgebucht waren. Bis heute ist unsere Abo-Struktur noch fast identisch. Es hat sich bis heute die kommunalpolitische Überzeugung gehalten, dass Kultur unverzichtbar ist. Die politische Spitze unserer Stadt, z. B. der Oberbürgermeister, geht viel ins Theater. Viele Politikerinnen und Politiker haben auch Abos bei uns. Das zeigt die selbstverständliche Verbundenheit zum Haus. Seit zwei Jahren sind Sie auch Kulturamtsleiter in Schweinfurt, haben also einen Blick auf das gesamte kommunale Kulturgeschehen und deren Finanzierung. Auch wenn ein objektives Urteil nun sehr schwer fällt: Wie gut oder schlecht steht das Theater denn im Vergleich zu den anderen Kulturbereichen wie Bibliotheken, Museen, Musikschulen da? Wir haben einen starken Museumsanteil: Da ist das Museum Georg Schäfer, das je zur Hälfte von einer Stiftung und von der Stadt getragen wird. Hinzu kommt unsere Kunsthalle und das Museum Otto Schäfer. Auch das Theater steht gut und stark da. Wir sind jetzt in der 52. Saison und haben die gleichen Abo-Zahlen wie in den 1960er Jahren. Wirklich schwächer steht keine Kultursparte da. Wir haben ein florierendes Stadtarchiv, eine Stadtbücherei, eine große Musikschule und Volkshochschule. Auch die freie Kultur ist sehr aktiv. Sie wird von der Stadt gefördert. Und wir sind ganz konkret in den Planungen für ein Kulturforum im Herzen der Stadt, wo historische Bausubstanz mit Neuem verbunden wird, um den Rahmen für das Stadtmuseum und einen niederschwelligen Veranstaltungsraum für alle zu bieten. Und welches Bild ergibt sich, wenn Sie Ihr Haus in Schweinfurt nach außen vergleichen, etwa mit den Spielstätten in neuen wie alten Bundesländern, die die INTHEGA vertritt? Die INTHEGA hat aktuell knapp 400 Mitglieder, unter denen eine wahnsinnig große Heterogenität herrscht. Es gibt etwa ein Dutzend Häuser in der Größenordnung wie Schweinfurt oder Fürth. Dann gibt es ca. fünfzig mittelgroße Häuser und schließlich ganz viele kleine Einrichtungen, dazu zählen Volkshochschulen, Vereine, die Aula in einer Schule oder aber die große Mehrzweckhalle, die vom französischen Käsemarkt bis zur Oper alles macht. So heterogen die INTHEGA-Mit-

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Vom Drehkreuz des Spielfilms und vom Draht zum Publikum

Theatermarkt der INTHEGA, Stadthalle Bielefeld. Foto: Günter E. Bergmann

glieder sind, so verschieden sind oft auch deren konkrete Herausforderungen. Ein Problem aber, das uns alle umtreibt, ist die Zukunft des Ehrenamts. Es wird immer schwieriger, moderne Menschen dafür zu ermuntern, sich langfristig ehrenamtlich zu engagieren. Wir haben zahlreiche Mitglieder, die das deutlich trifft. Da gibt es etwa wunderbar funktionierende kleine Theater in der Provinz, die beständig und gut laufen, weil da jemand sitzt, die oder der das Theater auf Vereinsebene betreibt. Geht diese Person, an der alles hängt, in „ehrenamtliche Rente“, dann ist es wahnsinnig schwer, jemanden zu finden, der das weiter pflegt. Die Spannbreite des Theaters in der Provinz ist groß. Es gibt z. B. uns in Schweinfurt, die wir ein Programm anbieten mit jährlich 175 Vorstellungen aller Genres bis hin zu fremdsprachigem Theater, Puppenspieltagen usw., das mit der Arbeit eines Drei-Sparten-Hauses vergleichbar ist. Es gibt aber auch die Kleinen, die im Jahr vielleicht acht bis zehn Vorstellungen spielen, damit aber auch 350 Abonnenten oder mehr haben, was für eine Kleinstadt – man muss ja die Verhältnismäßigkeit beachten – ein sehr großer Erfolg ist. Sicher gibt es immer die finanziellen Zwänge. Aber ich kenne viele Unternehmungen, die einfach und hervorragend funktionieren. Und die Häuser sind voll. Welche wichtigsten Interessen oder auch Probleme treiben die INTHEGA-Häuser der Provinz gegenwärtig um? Drehkreuz der INTHEGA-Bemühungen ist immer wieder der Spielplan. Wobei wir uns freilich auch über konkrete Themen austauschen

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Sven Scherz-Schade im Gespräch mit Christian Kreppel und Werner Müller

wie Serviceleistungen, Verwaltungsprobleme, Brandschutzbestimmungen, Sanierungsstau … Von zehn Häusern sind acht sanierungsbedürftig, aber nur zwei wissen es. So hat es uns Wesko Rohde, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft (DTHG), erläutert. Es gibt viele weitere Themen wie Datenschutzverordnung, GEMAGebühren usw. Was aber alle verbindet, ist der Spielplan und die Frage, warum die Menschen ins Theater gehen und nach welchen Theaterinhalten sie sich sehnen. Deshalb bieten wir auch den inhaltlichen Austausch, um unsere Mitglieder zu informieren. Wir veranstalten den jährlichen INTHEGA-Theatermarkt. Auch die Neuberin, unseren Theaterpreis, vergeben wir an Theaterproduktionen, um gezielt Aufmerksamkeit auf die Stücke und ihren Inhalt zu lenken. Die Erwartungen an die Theater sind in den letzten Jahren immens gestiegen. Sie sollen sich um kulturelle Teilhabe möglichst aller kümmern: Kinder- und Jugendtheater anbieten, mit ihrer Preisgestaltung sozial niemanden ausgrenzen, Migranten ans Haus holen, sie nicht nur passiv als Publikum, sondern auch aktiv als Akteure via Workshops einbeziehen. Wo sind dem Theater der Provinz da Grenzen gesetzt? Um dem Publikumsschwund beim Schauspiel entgegenzuwirken, werden an den Ensembletheatern die Produktionen immer mehr hochgefahren. Es wird auf Teufel komm raus produziert! Viel unterschiedliches Angebot soll die vermeintliche Besucherlücke wettmachen. Da können wir Gastspielhäuser nicht mithalten. Wir sind personell geringer ausgestattet. Zum Vergleich hat man beim Drei-Sparten-Haus in Würzburg am Mainfranken-Theater mit Orchester, Schauspiel und Ballett etwa 250 fest angestellte Mitarbeiter. Bei uns gibt es zwölf Festangestellte und insgesamt mit denen, die nicht übers Jahr durchbezahlt werden, kommen wir auf 45 Mitarbeiter. Die Möglichkeiten sind allein wegen der Personalkapazitäten begrenzt. Wenn dann an die Gastspielhäuser die Forderung kommt, jetzt auch noch Theaterpädagogik zu machen, auch noch die Leute von der Straße zu holen, um eine Bürgerbühne zu entwickeln, muss man wohl Abstriche machen. Das kann nicht alles funktionieren. Auch wir haben theaterpädagogische Angebote, machen Vor- und Nachbesprechungen, laden zu Workshops ein. Aber es geht immer nur in einem relativ begrenzten Ausmaß. Erteilt die INTHEGA auch Ratschläge an ihre Mitglieder? Das Wichtigste ist, den richtigen Spielplan zu machen. Wie auch immer der aussehen mag. Darüber gibt es keine Lehrbücher. Auch wichtig ist es, einen Draht zum Publikum zu finden, auszubauen und zu halten.

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Vom Drehkreuz des Spielfilms und vom Draht zum Publikum

Das Drittwichtigste ist, ein Standing in der Stadt zu haben, offen zu sein und mit allen möglichen Partnern ins Gespräch zu kommen und sie einzubinden: Kindergärten, Schulen, Volkshochschulen, Service-Clubs, Vereine, Banken und, wenn man Ballett machen will, die Tanzschulen. Je mehr Partner, desto besser das Standing. Dann werden – wenn es wirklich mal wieder zu Krisen kommen sollte – etwaige Kürzungen viel schwieriger durchzusetzen sein, weil das dann eine „Lobby“ auf den Plan ruft. Die Spielpläne der Bespieltheater sind im letzten Jahrzehnt in sehr kurzer Zeit sehr viel bunter und vielseitiger geworden. Nach der großen Comedy-Welle tauchten immer mehr neue Formate auf wie Live-Hörspiele, Biografie-Revuen, Shows mit Erlebnisschwerpunkten wie beispielsweise Schokoladenverköstigung oder Sandmalerei. Wird hier das klassische Theater verdrängt? Das klassische Musiktheater, also Oper und insbesondere Operette, funktioniert an vielen Häusern schwer oder nicht mehr. Das hat mit den Kosten zu tun, weil Orchester, Chor, Solisten, großes Bühnenbild eben aufwendig und teuer sind. Musical hingegen geht fast immer. In Schweinfurt können wir Gastensembles aus Hof, Meiningen oder Würzburg einladen, die am Abend nach der Veranstaltung wieder nach Hause fahren können, ohne dass ich Hotelkosten mitfinanzieren muss. Diesen Vorteil haben viele andere Häuser nicht. Mein Appell ist aber dennoch: Spielt die Basisgenres wie Oper und Operette trotzdem weiter. Wenn das große Musiktheater nicht gelingt, kann man vielleicht eine Operngala oder andere kleinere Formate anbieten. So ist immerhin das Genre vertreten. Das Thema darf nicht ausgelassen werden, damit die Menschen in der jeweiligen Gemeinde davon etwas abbekommen. Wenn man das kontinuierlich aufrechterhält, kann es auch gelingen, Publikumskreise aufzubauen. Die Schulkontakte sind dabei wichtig, auch zu den Volkshochschulen. So etwas stützt. Wenn man z. B. nur auf Comedy setzt, wird eine Spielplangestaltung beliebig. Das kann man ein paar Jahre so machen, aber irgendwann läuft sich das tot. Dafür gibt es viele Beispiele. Noch eine andere Tendenz hat sich in den letzten Jahren deutlich gezeigt: Es stehen immer mehr Anbietern von Gastspielen immer weniger Kulturmittel der öffentlichen Hand gegenüber. Ist das nicht Warnung an die Theaterhäuser der Provinz, vehement zusätzliche Drittmittel einzuholen? Da besteht noch Bedarf und jedes Haus hat auch seine ganz eigenen Möglichkeiten. Hier fehlen oft auch die Informationen. Bei Sponsoring

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Sven Scherz-Schade im Gespräch mit Christian Kreppel und Werner Müller

Theater der Stadt Schweinfurt. Foto: Anand Anders

muss es auch nicht immer ein direkter Geldfluss sein. Es kann sich z. B. auch um Werbeleistungen drehen, die im Austausch passieren und eine Mehrwertsituation erzeugen. Wir haben beispielsweise seit Ewigkeiten die Sparkasse als Partner, die bei uns zwei Veranstaltungen im Jahr unterstützt, eine im Foyer und eine im großen Saal. Sie hilft hier, wenn ich ein Defizit habe, und gleicht aus. Aber mitunter besteht kein Defizit und sie war lediglich als Sicherheit im Hintergrund. Sponsoring muss nicht nur heißen, Geld mitzunehmen, wobei das freilich auch angenehm ist. Die bereits genannte Heterogenität ist typisch für die INTHEGA. Grenzt die INTHEGA sich bewusst von Amateurbühnen ab? Nein. So wie wir mit anderen Verbänden auf Augenhöhe reden – ob Deutscher Bühnenverein oder Deutsche Theatertechnische Gesellschaft – , so sind wir auch mit den Vertretern des Amateurtheaters in Kontakt. Für die Häuser in der Provinz ist es eine grundsätzliche Entscheidung, ob sie Amateurtheater, semiprofessionelles oder professionelles Theater anbieten wollen. Ich würde niemals sagen, dass Amateurtheater schlechter ist. Da gibt es tolle, spannende und stimmige Produktionen. Unseren INTHEGA-Theatermarkt allerdings könnten wir nicht mehr für diesen Bereich öffnen, weil wir jetzt bereits am Limit sind. Der Theatermarkt ist drei Wochen nach Bekanntgabe der Stände ausverkauft. Seit Jahren stehen wir vor der Frage, ob wir z. B. auch die Konzertanbieter und die freien Theatergruppen mit auf den Markt lassen sollen. Dagegen stemmen wir uns bewusst, weil es sonst nochmals unübersichtlicher

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werden würde, und besinnen uns dabei auf unseren originären Auftrag als Theaterorganisation. Wir setzen stattdessen auf unsere Datenbank, die für Anbieter und Abnehmer abrufbar ist. Wie lässt sich eigentlich die schwache Stellung des Theaters für die Provinz in den neuen Bundesländern erklären? Gefühlt herrscht an vielen Orten noch immer Frustration. Man sieht das an Dessau, Halle, Leipzig. Obwohl in Dessau fantastische Produktionen gelaufen sind, hat das Haus ums Überleben gekämpft. Dabei gibt es selbstverständlich auch in Ostdeutschland sehr schöne Bühnen wie in Gotha z. B. Ein Problem in der Fläche ist: Wenn die kommunale Kultur keine Mittel hat, kann man die Bühne oder das Haus zwar vermieten. Aber einen eigenen Spielplan aufzubauen, ist dann schwierig. Dann landet man beim Vermietungsgeschäft. Es gibt Unternehmungen, die sind stolz, dass sie einmal im Jahr Schauspiel machen. Wir sind im Verband engagiert, da zu helfen. Unterdessen gibt es auch in den westdeutschen Bundesländern eine große Kluft in den kommunalen Haushalten, etwa zwischen den reicheren Regionen im Süden mit Hessen, Baden-Württemberg, Bayern und den ärmeren im Norden. In Nordrhein-Westfalen sind zahlreiche Kommunen extrem verschuldet, was sich auch auf die kommunalen Kulturhaushalte auswirkt. Von wem erhofft sich die INTHEGA hier Besserung? Was unser verbandspolitisches eigenes Tun angeht, setzen wir immer erst dann an, wenn es schlecht läuft. Das muss ich zugeben. Generell haben wir ja keine Handhabe, in kommunale Abläufe einzugreifen. Wir können immer nur bitten und argumentieren und bewusst machen. Wenn ein Theaterbetrieb einen Halt in einer Gemeinde hat, fällt das leichter. Daran arbeiten wir auch kulturpolitisch. Wir sind im Austausch mit dem Deutschen Städtetag, dem Deutschen Bühnenverein und bauen sukzessive den Kontakt zu den Ministerien in den Ländern und auch zur Staatsministerin der Bundesregierung für Kultur und Medien auf. Wir haben das Glück, die Tanzland-Kooperation erreicht zu haben, bei der jetzt 22 Städte mitmachen. Mit Geldern der Bundeskulturstiftung werden hier Tanzpartnerschaften an den Häusern gefördert. Wir stehen auch mit der GEMA intensiv in Kontakt, um Verbesserungen bei Bezahlung und Abwicklung zu erörtern. Hier die Fäden in die Kulturpolitik zu spinnen, ist keine abgehobene Verbandstätigkeit. Im Gegenteil: Es geht dabei um jedes einzelne Mitglied und jede kleinste Aktivität ist wertvoll. Man muss Theater in der Provinz erlebt haben, um das zu verinnerlichen: Man geht in eine Turnhalle, die mit 600 Menschen voll

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Sven Scherz-Schade im Gespräch mit Christian Kreppel und Werner Müller

besetzt ist. Die Akustik ist schwierig, ebenso die Einrichtung der Bühnentechnik. Man fragt sich: Hier soll jetzt ein Gerhart-HauptmannStück gespielt werden? Dann geht es los, die Leute sitzen mucksmäuschenstill drinnen und es wird ein Riesenerfolg. Das ist fantastisch! Mut fürs künstlerische Experiment Zwischen Frauenkirche und Rathaus inmitten der Altstadt steht das Stadttheater Fürth. Der neobarocke Schmuckbau, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut wurde, zeugt von der beständigen Theatergeschichte Fürths. Heute strahlt das Haus weit in seine Region hinein. Das Publikum kommt aus dem Fürther Raum, aber auch aus den Landkreisen Nürnberg im Süden und Erlangen im Norden. 1990 wurde Werner Müller Intendant des Stadttheaters Fürth. Er leitet das Haus bis heute erfolgreich. Müller kennt aus eigener Berufserfahrung auch die Arbeit an den großen Staatstheatern, war 1980 bis 1985 als Regie- und Dramaturgieassistent am Staatstheater am Gärtnerplatz und für das Bayerische Staatsschauspiel München tätig. In seinem Haus in der „Provinz Fürth“ hat Müller den Betrieb über Jahre stetig ausgebaut und den Gastspielbetrieb durch Eigenproduktionen und Koproduktionen erweitert. Herr Müller, schaut man in die Theatergeschichte des Stadttheaters Fürth und glaubt man der Formulierung, die man auf Ihrer Website findet, dann ist das Fürther Stadttheater nach über hundert Jahren „lebendiger denn je“. Was macht das Haus denn – im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten – so lebendig? Werner Müller: Ich will freilich nicht in Abrede stellen, dass es früher auch lebendig gewesen sei. Aber die Historie der letzten zwanzig Jahre zeigt, dass es immer lebendiger geworden ist. Das Stadttheater Fürth wurde in den 1970er Jahren selbstständig, nachdem es lange eine „Theaterehe“ zwischen Nürnberg und Fürth gegeben hatte. Fortan war es zunächst als reines Gastspieltheater auf sich gestellt, bis wir ab Mitte der 1990er Jahre mit eigenen Produktionen und Koproduktionen angefangen haben. Das wurde eine kontinuierliche und sehr organische Entwicklung. Wir haben die Infrastruktur dafür hergestellt, hauseigenes Personal dafür beschäftigt, neue Werkstätten gebaut, einen Probebühnenkomplex, ein Magazin etc. 2008 haben wir das Brückenbau-Projekt unter künstlerischer Leitung von Jutta Czurda etabliert, bei dem wir in festen Blöcken mit nicht-professionellen Darstellern arbeiten. Daraus können Bürgerbühnen-Projekte entstehen, die auch ansonsten Bestandteil unseres Spielplans sind. 2015 haben wir nach über siebzig Jahren wieder ein eigenes, echtes Ensemble eingerichtet. Ein „lebendiger denn

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je“ sieht man inhaltlich aber auch in unserem Spielplan: Wir haben uns kontinuierlich der Realisierung neuer Musicals verschrieben, entweder durch Auftragswerke oder durch entsprechende Produktionen als deutschsprachige oder deutsche Erstaufführungen. Das ist ein Profil unseres Theaters. In den Koproduktionen arbeiten wir viel mit Ensembles der freien Szene zusammen, auch mit der freien Kinder- und Jugendtheaterszene Nürnberg. Im Gastspielbereich sticht unsere Tanztheaterreihe hervor. Die Aufführungsserien umfassen fünf Vorstellungen nationaler und internationaler Ensembles. Sie alleine werden von ca. 2500 Abonnenten gebucht. Wir sind mit diesem Tanzangebot ein starker Standort im süddeutschen Raum. Fürth ist in Mittelfranken mit 125 000 Einwohnern eine kreisfreie Großstadt und kann wahrlich nicht als Provinz bezeichnet werden. Ärgern Sie sich über den Begriff, wenn er trotzdem, in Theaterkritiken z. B., auf Ihr Haus verwendet wird? Der Begriff „Provinz“ ist nicht negativ und ich habe damit überhaupt kein Problem. Die Theaterlandschaft Deutschlands wird nicht nur in den Metropolen geprägt, sondern auch in den mittelgroßen und kleineren Städten im ländlichen Raum. Für den Flächenstaat Bayern gilt das umso mehr. Dass beispielsweise die Tagespresse und die Medien den Premieren, die in der Provinz stattfinden, weniger Aufmerksamkeit schenken, ist bedauerlich. Der Wille zur Kulturberichterstattung hat hier in den letzten Jahren sehr abgenommen. Da erfährt die Provinz einen niedrigeren Stellenwert. Dieses Problem liegt aber bei den Medien. Das Stadttheater Fürth liegt selbst zwar nicht im ländlichen Raum, hat aber bezüglich seines Publikums ein großes Einzugsgebiet, das durchaus weit in die Region strahlt. Haben Sie hierzu Zahlen und Daten, wo das Publikum herkommt? Als Datenquelle nutzen wir die Angaben unserer knapp 7000 Abonnenten und der ca. 2100 Mitglieder unseres Theaterfördervereins Fürth. Ungefähr fünfzig Prozent unserer Zuschauer kommen aus Stadt und Land Fürth, etwa dreißig Prozent kommen aus Stadt und Land Nürnberg und zehn Prozent aus Erlangen und Umgebung und der Rest von außerhalb der Region. Mit dem Erstarken der sogenannten Speckgürtel sind die Publikumszuwächse aus den Landkreisen in den letzten Jahrzehnten deutlich größer gewesen als die Zuwächse aus den eigentlichen Stadtgebieten. Seit 1990 sind Sie Intendant in Fürth und Sie haben das Haus bzw. seine Arbeitsweise ganz entscheidend geprägt mit dem sogenannten Drei-Stu-

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Sven Scherz-Schade im Gespräch mit Christian Kreppel und Werner Müller

fen-Modell. Es gibt, erstens, in Fürth Eigenproduktionen, es gibt, zweitens, Kooperationen mit anderen Theatern und, drittens, Gastspiele nationaler und internationaler Ensembles. Warum war dieses Modell notwendig? Das Drei-Stufen-Modell – der Begriff stammt nicht von uns, wir haben ihn aber gern übernommen – entstand im Zuge unserer Profilbildung, als wir mit eigenen Produktionen begannen und dies kontinuierlich ausbauten. Wir sind im Moment bei zehn bis zwölf Eigenproduktionen pro Spielzeit. Eigen- und Koproduktionen machen etwa sechzig Prozent unseres Spielbetriebs aus, die restlichen vierzig Prozent sind Gastspiele. Ein wesentlicher Impuls meiner Arbeit war, dem Haus ein eigenes künstlerisches Profil zu geben. Mit Eigenproduktionen wird man sehr gut wahrgenommen, während man als reines Gastspieltheater nur wenige Chancen hat, künstlerisch eigenständige Position zu gewinnen. Wobei sich unser Drei-Stufen-Modell nicht nur aus Marketinggründen entwickelt hat. Es bietet auch künstlerisch die größtmögliche Bandbreite. Insbesondere die dritte Stufe in dem Modell, also dass das Fürther Stadttheater Spielort für Gastspiele ist, macht Sie zu einem starken Mitglied in der INTHEGA, der Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen. Seit wann und warum besteht hier Ihre Mitgliedschaft? Fürth war als Gründungsmitglied von Anfang an, ab 1980, dabei und ich habe alles von meinem Vorgänger Kraft-Alexander zu Hohenlohe-Oehringen übernommen. Die Zusammenarbeit besteht schon sehr lang und läuft sehr gut. Was kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen innerhalb Deutschlands anbelangt, ist gerade in den letzten Jahren deutlich geworden, dass es einen größtmöglichen Zusammenschluss von Institutionen braucht. Wenn die alle an den gleichen Zielen arbeiten, kann man etwas bewirken. An der Interessengemeinschaft ist elementar wichtig, dass wir alle als Mitglieder mit den gleichen Phänomenen und Problemen zu tun haben. Man kann sich austauschen und dann auch gemeinschaftlich in der politischen Öffentlichkeit auftreten, um entsprechend gehört zu werden. Innerhalb der INTHEGA gibt es verschiedene Arbeitskreise, die sich den verschiedenen Branchen der Gastspielszene widmen, also Musical, Kinder- und Jugendtheater, Crossover usw. Sie leiten dort den „Arbeitskreis Musiktheater und Tanz“. Erhalten Sie dort Rückmeldung, wie es anderen Theaterhäusern der Provinz gegenwärtig ergeht? Als eines der wenigen Häuser in Deutschland sind wir Mitglied in beiden Verbänden, also im Deutschen Bühnenverein wie in der INTHEGA. Bei den jeweiligen Jahreshauptversammlungen wird deut-

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Stadttheater Fürth: Next do Normal (Dernière). Foto: Thomas Langer

lich, dass wir größtenteils vor den wirklich gleichen Aufgaben stehen. Die Rückmeldung kommt häufig, dass man die kulturpolitische Wahrnehmung in den Kommunen, in Stadt- und Gemeinderäten und in den Ausschüssen bedauert. Viele Kollegen fühlen sich allein gelassen mit dem, was sie da tun. Die Wertschätzung ist zu gering und damit geht oft auch eine schlechte Finanzlage einher. Unser Publikum wird älter. Das ist grundsätzlich sehr schön, aber es ist Aufgabe der Theater, für junges, nachwachsendes Publikum zu sorgen. Rückmeldung gibt es deshalb auch viel über den Bereich Bildung und Theaterpädagogik, wo als „neuere“ Herausforderung die Digitalisierung steht. Wie weit sich Theater in dieser Entwicklung in Bezug auf Arbeitsmarkt, Publikum etc. mitgestaltend einbringen sollen, wird viel diskutiert. Bei gesellschaftlichen Debatten wie Genderfragen oder unlängst #MeToo ist es auch wichtig, dass wir eine entsprechende Haltung einnehmen, die nach innen wie außen propagiert werden muss. Das gilt auch für die politische Haltung z. B. gegenüber Rechtsextremismus. Auch in Bezug auf Spielplangestaltung gibt es Rückmeldungen, wobei hier immer eine Wechselwirkung zu tragen kommt mit dem, was die Gastspielbühnen, Tourneetheater oder auch die produzierenden Landesbühnen anbieten können bzw. wollen. Da ist bemerkbar, dass in vielen Bereichen der Mut etwas abhandengekommen ist, neuere oder gar experimentellere Stücke zu realisieren. Die Gastspielhäuser sind hier als Abnehmer sehr abhängig von dem, was die produzierenden Anbieter im Portfolio haben. Es gibt darüber hinaus freilich auch die vorsichtige Haltung der Kulturver-

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antwortlichen, die bestimmte Stücke nicht riskieren wollen aus Sorge, dass das Publikum ausbleibt. Das ist manchmal bedauerlich. Denn auch im kleineren Rahmen in der Provinz – dort vielleicht sogar umso mehr – sollte man bei der Spielplangestaltung eine künstlerische Handschrift und eine Linie einhalten. Das vermisse ich manchmal, sowohl im Angebot als auch im Mut der Abnehmer. Es heißt, dass das künstlerische Experiment bei den kleineren Bühnen in kleineren Städten keine Chance habe, dass wilde Theaterversuche mit neuer Bühnenästhetik nach Berlin oder Hamburg gehörten, aber nicht in die Fläche verteilt an die Stadttheater. Teilen Sie die Ansicht? Da darf man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. In den Metropolen, wo es etwa mehrere Opernhäuser und mehrere große Bühnen mit womöglich extra profilierten Theaterstudios für Experimentelles gibt, hat man eine ganz andere Diversität. In den Städten der Provinz hat man in der Regel einen einzigen Spielort und der kann sich nicht alles leisten. Aber vereinzelt finde ich bei den Landesbühnen und auch bei der jüngeren Generation von Kulturverantwortlichen der INTHEGA-Mitglieder durchaus auch den Mut fürs künstlerische Experiment. Gibt es etwas anderes, das die „Großen“ von der Provinz lernen könnte? Und nochmals umgekehrt: Darf oder soll sich das Theater in der Provinz an den großen Staatstheatern messen? Aus meiner beruflichen Erfahrung kann ich sagen, dass ich mich nicht an anderen Theatern der Metropolen orientiert oder gemessen habe. Dafür ist der Fall des Stadttheaters Fürth zu singulär gewesen. Auch hier sind die Vergleiche schwierig. Was an dem einen Haus gut läuft, kann an einem anderen Haus unter den dort herrschenden Bedingungen schlecht laufen, auch unabhängig von der Größe der jeweiligen Stadt. Sie sind in Ihrer Karriere ja u. a. groß geworden als Dramaturg und Disponent bei der Konzertdirektion Landgraf. Haben Sie dort das Gastspieltheater von Seite der Reisenden kennengelernt? Ich selbst bin nicht mit den Ensembles gereist. Ich war aber im Bereich der Disposition viel in Deutschland unterwegs. Wir haben eine ganze Reihe von Theatern betreut, wo wir auch die Spielplangestaltung begleitet haben. Das war sehr interessant, in die Produktionen selbst war ich nicht eingebunden. Wie sieht es mit den Kooperationen des Fürther Stadttheaters aus?

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In erster Linie arbeiten wir mit Ensembles der freien Szene zusammen. Wir wollen hier möglichst innovative Produktionen umsetzen, also Uraufführungen. Mir liegt vor allem daran, dass diese Kooperationen vom Geist her eine gemeinsame Arbeit sind. Von der Projektierung des Stücks bis zu den jeweiligen Besetzungen soll ein gemeinsamer Prozess stattfinden, sodass man inhaltlich von einer wirklichen Koproduktion sprechen kann. Es gab und gibt bei uns auch immer wieder Produktionen, die wir mit nationalen und internationalen Ensembles zusammen machen. Das ist schön. Aber eine Erkenntnis ist hier: Koproduktionen kosten nicht unbedingt weniger. Der planerische Aufwand kann relativ hoch sein. Das Fürther Stadttheater hat mehrere Bühnen bzw. Spielorte: Großes Haus, Kulturforum, Nachtschwärmer-Foyer und je nachdem Probebühne, Werkstätten etc. Ist diese Vielseitigkeit von Vorteil? Wir haben ein großes Haus mit 700 Plätzen, repräsentativ mit viel Gold und Plüsch. Das ist wunderbar, aber natürlich nicht für alle Produktionsformen geeignet. Das Kulturforum, das wir jetzt seit zehn Jahren bespielen, ist das Gegenteil davon. Hier gibt es keine Guckkastenbühne und der Zuschauerraum entsteht bei jeder Produktion neu. Mit lediglich siebzig Plätzen ist das Nachtschwärmer-Foyer ein kleinerer Platz für musikalisch-literarische Veranstaltungen. In der Regel als Late-NightVeranstaltung ab 22 Uhr. Das Publikum weiß, dass es unterschiedliche Spielorte gibt. Da hat sich eine eigene Klientel entwickelt. Naturgemäß hat das Große Haus auch die großen Besucherzahlen. Für bestimmte literarische Veranstaltungen z. B. wäre es aber auch unsinnig, das Große Haus zu öffnen. Kulturelle Teilhabe ist eines der ganz großen Anliegen aller Bühnen. In Fürth machen Sie mit eigener Sparte das KULT (Kinder- und Jugendtheater), Sie haben die Flüchtlingsinitiativen „Refugees welcome!“ am Haus. Würden Sie gerne noch mehr machen? Für wen, welches Publikum gilt der Anspruch der Teilhabe? Alles, was wir als kulturelle Teilhabe angehen, muss immer unter Wahrnehmung und Berücksichtigung der Ressourcen unseres Hauses stattfinden. Ich bin durchaus ein Freund einer gewissen Überforderung im künstlerischen Bereich. Aber es muss dosiert geschehen, sonst überfordert man auf Dauer Mitarbeiter, vielleicht auch das Publikum. Wir sind als Stadttheater Fürth mit dem Partizipationsgedanken gut aufgestellt. Unser Brückenbau-Projekt besteht jetzt seit zehn Jahren. Das war ein früher Einstieg in bürgernahe Theaterformen. Wir haben unsere theater-

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Stadttheater Fürth: Liliom. Foto: Thomas Langer

pädagogische Arbeit ausgebaut und das Kinder- und Jugendtheaterensemble etabliert. Das war eine gute Voraussetzung, um dann gezielt Organisationen anzusprechen, die sich um unbegleitete Flüchtlinge gekümmert haben. Es gibt jetzt seit mehreren Jahren etliche Projekte und auch von uns immer wieder Impulse, entsprechende Gruppen einzuladen, entweder um Vorstellungen zu besuchen oder auch in Zusammenarbeit mit unserem Ensemble Stücke zu erarbeiten. Das passiert in ganz vielen Initiativen, auch in den Theaterjugendclubs. Wir haben hier ein Junges Ensemble, das semiprofessionell arbeitet. Da gibt es vom Kids Club für die ganz Kleinen bis zu den Älteren eine Möglichkeit, am Theater mitzumachen. Und das steht allen offen. Es geht ja gerade darum, dass das Miteinander gelingt und selbstverständlich sein soll und muss.

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LIGNA AUF DEM LANDE Theatrale Kollaborationen in Prozessen der Transformation -

Junge: Ich bin ein Haus und stehe leer. Das ist schade! Sprecher: Ich eröffne einen unbekannten Raum. Ich lade zu neuen Besetzungen ein. Ich weiß nicht, wem ich gehöre. Ich weiß nicht, wem ich gehöre. Gehöre ich der Leere, die in mir wohnt? Gehöre ich den blinden Fenstern? Gehöre ich dem Staub, der sich auf meine Böden gelegt hat? Gehöre ich der Heizung, die nicht mehr ganz so gut funktioniert? Gehöre ich denen, die mich anschauen? Gehöre ich denen, die mich besetzen? Gehöre ich Ihnen?1 Einst machte Peter von Orb als Räuber mit seiner Räuberbande in den tiefen Spessartwäldern von sich reden. Er wurde gefürchtet, von den einfachen Leuten jedoch geachtet: Denn Peter von Orb bediente sich am Eigentum der Reichen und schenkte es den Armen. Ein Kopfgeld wurde auf ihn ausgesetzt, aber stets entwischte er der Obrigkeit. Eines Tages gelang es, den gefürchteten Räuber zu fassen. Er aber hatte einen Begleiter, den treuen und von ihm gezähmten Fuchs. Dieser scharrte unter dem Turm eine Röhre und verhalf seinem Herrn zur Flucht. Der Räuber wurde nie mehr gesehen. Der Fuchs aber wurde gefasst, erschlagen und unter einem Fuchsstein begraben. Der Fuchsstein ist heute noch ein beliebtes Ausflugsziel. Die Sage hat sich in das Gedächtnis der Bad Orber Bewohner eingegraben und lebt in den Geschichten der Region weiter. Sie inspirierte die Künstlergruppe LIGNA zu zwei künstlerischen Arbeiten: Wirtshaus im Spessart und Radio Orb. Für Radio Orb wählten sie einen Fuchs, der ein Radio im Maul hält, als Erkennungszeichen. Bekannt ist die Künstlergruppe LIGNA in der Theaterlandschaft vor allem durch ihre Hörperformances und Radioballette. LIGNA entwickelte „solistische Audiowalks zur Ensemblekunst weiter und transformierte Orte der Stadt oder des Theaters in Räume der Kollaboration“.2 Weniger bekannt

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ist, dass die Medienkünstler Ole Frahm, Michael Hüners und Thorsten Michaelsen im Rahmen der temporären FLUX-Residenzen ihre Arbeiten auch in ländliche Räume hinein erweitern und dort auch mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.3 Ansätze zeitgenössischer Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen im ländlichen Raum sind rar. Daher bildet die Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen als Mitforschenden einen Schwerpunkt in den FLUX-Residenzprojekten, die stets auf den jeweiligen Ort und die Region Bezug nehmen und so in die Residenzorte hineinwirken. Eine wechselseitige Anerkennung von gastierenden Künstler*innen und Bewohner*innen der Residenzorte ist eine der wesentlichen Voraussetzungen. Gerade in ländlichen Räumen braucht es neue Formen der Beteiligung und dritte Orte, aus denen sich „Kultur aus Kommunikation“ entwickeln kann. Wie ein Projekt als ein kollektiver Anker für kulturelle Lai*innen und Künstler*innen plus Politik initiiert werden kann und wie aus Konsument*innen von Kultur Mitgestalter*innen werden können, erprobte das Künstlerkollektiv LIGNA in der Spessart Gemeinde Bad Orb.4 Theater in der Provinz braucht Grenzüberschreitungen in vielfacher Hinsicht, schreibt Wolfgang Schneider.5 Als „Grenzgänger zwischen urbaner Intervention und einer künstlerischen Inszenierung des Alltäglichen“6 lud LIGNA die Bewohner*innen ein, selbst zu Akteur*innen zu werden sowohl im öffentlichen Raum wie auch in den temporär genutzten Leerständen, wo sie an Formen der öffentlichen Geselligkeit anknüpften. Theatrale Aktivierungen des Kollektiven wurden um 1900 in Hellerau realisiert, sie finden sich in den Bewegungschören von Laban auf Monte Verità sowie in den Lehrstücken Brechts. An diese Traditionen knüpft LIGNA an. „Das Publikum wird zu Handelnden“ „Unsere Stücke lassen sich als Modelle verstehen, die das Publikum als temporäre Gemeinschaften begreift, die politischen Charakter haben können. Die Stücke fragen das Publikum nach widerständigen Handlungsmöglichkeiten, es wird zu Handelnden.“7 Bad Orb: Der Leerstand spricht 2016 etablierte die Künstlergruppe in einem Leerstand das „Wirtshaus im Spessart“ als Kommunikations- und Veranstaltungsraum und als Räuberhöhle der Kinder. Zu dieser Zeit gab es in der Hauptstraße zahlreiche leerstehende Häuser, Geschäfte und Cafés. Bad Orb ist eine

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LIGNA auf dem Lande

Kommune, in der auch wohlhabendere Zugezogene leben, aber vor allem viele Pendler täglich nach Frankfurt zur Arbeit fahren. Bad Orb ist aber vor allem eine Kommune im Umbruch, die sich von einem Kurort zu einer Wellness-Oase entwickelt und inzwischen wieder einen Anstieg der Besucher*innen und Einwohner*innen verzeichnet. Im Herbst 2016 startete die Gemeinde Orb unter Bürgerbeteiligung die Entwicklung eines neuen Stadtleitbildes. Mehr als 600 Einwohner*innen folgten der ersten Einladung des Bürgermeisters. Zeitgleich sammelte LIGNA meist in informellen Gesprächen Informationen, Geschichten und Einschätzungen der Bewohner*innen zum Leben in ihrer Kleinstadt.8 Einst stellten die Spessarträuber die Frage nach Glück und Gerechtigkeit. LIGNA stellte die Frage nach den Eigentumsverhältnissen und fragte mit Blick auf die vielen leerstehenden Häuser, Cafés und Restaurants nach der Lebensqualität in der Gemeinde. Kommen Sie zu mir. Sprechen Sie mit mir. Ich lade Sie ein, Ihre Stimme hörbar zu machen. Kommen Sie zu mir – in den leeren Laden Hauptstraße 41. Erzählen Sie bitte gerne: Was ist Ihre Vorstellung von Ihrer Stadt? Was soll mit mir passieren? Wem gehöre ich? Wem gehört die Stadt? Kommen Sie in LIGNAS „Wirtshaus im Spessart“.9 Ole Frahm beschreibt die Arbeit im Rückblick wie folgt: Gerade weil unsere Initiative temporär war, stellte sie die Differenz zwischen einem leeren (toten) und einen besetzten (lebendigen) Raum heraus […]. Vieles lässt sich bei einer solchen Arbeit nicht adäquat dokumentieren: Das Schaufenster war mit seiner Auslage und der Videoprojektion eine ständige Schnittstelle; das ausgehängte Flugblatt, die Plakate wurde oft gelesen; die Freundlichkeit der Nachbarn in den umliegenden Geschäften und Häusern, die praktische und ideelle Unterstützung, die wir erfahren haben; das zahlreiche, ehrliche Interesse, aber auch die oft wortlose, aber durchaus spürbare Ablehnung. […] Der Konflikt der Stadt, in den wir geraten sind, lässt sich mit der Debatte um die Frage in Verbindung bringen, wie sie sich am besten erneuern ließe. Es scheint einige zu geben, die jeder Veränderung skeptisch gegenüber stehen, bei der im Durchschnittsalter ältesten Kommune Hessens nicht sonderlich verwunderlich. Und dann gibt es welche, die meinen, „dass etwas passie-

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ren muss“. Aber was? Und wer nimmt daran teil? Für wen wird die Stadt verändert? Wie lässt sich dieser Prozess – jenseits der staatlichen Vorgaben – gestalten?10 „Der Leerstand spricht“ Das Thema der zahlreichen Leerstände in Bad Orb war für die Bewohner*innen diskussionswürdig und inspirierte das Künstlerkollektiv zu der Arbeit: Der Leerstand spricht. LIGNA etablierte in der Fußgängerzone einen akustischen Raum, indem sie vor allen leerstehenden Häusern und Geschäften Radios positionierten, die als „Häuser“ sprachen. So wurden in Bad Orb Rechtsordnung und Eigentumsverhältnisse anhand der zahlreichen Leerstände verhandelt. Die Menschen in der Fußgängerzone wurden unweigerlich durch die Intervention mit den Leerständen konfrontiert. „In dem kollektiven Audiowalk geht es darum, vergangene Herausforderungen der Rechtsordnung, wie durch die Räuberbanden, zu erinnern – und darüber nachzudenken, welche anderen Rechtsordnungen und welche nicht auf Normierung beruhenden Produktionen von Subjektivität vorstellbar oder wünschenswert wären.“11 Akustische Medien waren in unterschiedlichster Weise Bestandteil von Wirtshaus im Spessart. In dem Audiowalk Der perfekte Plan regte das Künstlerkollektiv zur Erforschung des Alltags in der Bad Orber Fußgängerzone an. Kinder und Erwachsene waren eingeladen, verschiedene Arten des Gehens auszuprobieren, die Teilnehmenden erhielten die Spielanweisungen über Kopfhörer. Teilnehmende und Passant*innen wurden bei dieser Expedition im Kleinstadtraum zu Akteur*innen, die sich die Straße teilten, den Normalzustand unterbrachen und die Atmosphäre des Ortes veränderten. Der öffentliche Raum wird zu einem „zentralen Ort der Zivilgesellschaft, an dem Geschichten, Gegenwart und Zukunft sichtbar und erlebbar gemacht und verhandelt werden“.12 „In unseren Arbeiten nehmen wir diese Theatralisierung des Zuschauers auf: Nichts findet ohne ihn statt. Die Zuschauer werden nicht nur einbezogen, sondern sind aufeinander bezogen – und auf das, was sie hören, die Stimmen, denen gegenüber sie in jeder ihrer Handlungen kaum neutral bleiben können, alleine, weil diese sie zu bestimmten Haltungen auffordern.“13

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LIGNA, Bad Orb: Ein Wirtshaus im Spessart. Foto: Konrad Merz

Generationenübergreifend gelang es ihnen, temporäre Öffentlichkeiten herzustellen, wo es zuvor keine gab. In ihrem Kinderprojekt streiften die als Räuber und Gendarmen adressierten Kinder mit Sendern und Empfängern durch die Gemeinde. Dieser Räuberteller der besonderen Art14 schuf Kinderöffentlichkeit im Rahmen der künstlerischen Gesamtkonzeption der Medienkünstler. Kinderöffentlichkeit beginnt mit der Freisetzung körperlicher Bewegung, schrieb einst Oskar Negt. Die Interventionen der Kinder griffen in gesetzte Raumordnungen der Kleinstadt ein, machten die Kinder auf den Straßen und Plätzen sichtbar. Ein Kinderspiel, das Körperpraktiken in den Mittelpunkt stellt, ist das „Räuberund Gendarmspiel“, das die Medienkünstler Ole Frahm, Torsten Michaelsen und Michael Hüners für ihre performative Arbeit mit Kindern im Grundschulalter auswählten. Im Spiel vollziehen die Kinder Handlungen und nutzen dabei Gesten, von denen sie glauben, dass sie einen Räuber kennzeichnen. Die „Rotte“, die Kindergruppe, das Kollektiv, ein inzwischen im öffentlichen Raum selten gewordener Anblick, erobert die Turnhalle, überquert den Schulhof, rennt durch die Gassen und die Fußgängerzone, verständigt sich mit Sendern und Empfängern, durchstreift das Kurparkgelände und hinterlässt Zeichen: Räuberzeichen und Spuren. Die Verfolger, die „Gendarme“, machen sich auf den Weg, suchen und fangen schließlich die Räuber an einem geheimen Ort. Dabei „umschafft“ die Kindergruppe das Gelände. Sie stellt nahezu beiläufig während des Spiels Ordnungen und Regeln infrage und stellt zugleich neue Ordnungen her, indem sie die Wege der Erwachsenen durchkreuzt

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und in die von ihnen gesetzten Raumordnungen interveniert.15 Im Jugendprojekt – einer virtuellen Realityarbeit – legte LIGNA kurze Filme über ein Objekt aus dem Stadtraum. Wird dieses Objekt nun mit der Kamera des Handys abgefilmt, öffnet sich ein Fenster in eine verborgene, für das bloße Auge unsichtbare Welt. Damit wollte das Künstlerkollektiv vor allem die Spannung zwischen dem Sichtbaren (wie der Stadt) und dem Unsichtbaren (dem Imaginären) aufdecken16 und so Veränderungsprozesse einleiten. Störungen des Normalzustands Bei einem kürzeren Zwischenstopp 2017 arbeitete LIGNA mit den Kindern weiter: Spielreportagen zu Carrera-Bahn-Rennen wurden ausprobiert und ein Kettcar-Rennen im öffentlichen Raum veranstaltet. 2018 kehrte LIGNA dann wieder im Rahmen der FLUX Künstlerresidenz nach Bad Orb zurück, diesmal in ein leerstehendes Spielwarengeschäft. Nun standen die Türen offen, die Unterstützung der Gemeinde war sichtbar, Kontaktpersonen wurden vorgestellt und Netzwerke, die beim ersten Mal entstanden waren, konnten weiterentwickelt werden. Das Studio diente als Knotenpunkt für verschiedene Aktivitäten. Zum einen konnten die Bewohner*innen ähnlich wie bei der ersten Künstlerresidenz vorbeikommen, ein Gläschen trinken und plaudern oder die Carrera-Bahn ausprobieren. Aber das Spielwarengeschäft war eben keine Kneipe, sondern Radio Orb stellte vor allem die Radioproduktion in den Mittelpunkt. Auch diesmal arbeitete LIGNA an der Herstellung temporärer Öffentlichkeiten, die auf „Störungen des Normalzustands“ und der Verbindung von Radio und öffentlichem Raum basierten. Auch diesmal wollten sie den Bewohnern Spiel- und Möglichkeitsräume für kollektives Verhalten in ihrer Kleinstadt eröffnen, die nicht auf eine „harmonisierte Form von Gemeinschaft“17 abzielen, sondern mit kollektivem Verhalten in unterschiedlichen Versuchsanordnungen experimentieren. Kinder und Jugendliche, Vereine und Initiativen waren in Bad Orb eingeladen, sich über das Radio Gehör zu verschaffen. Interessierte Kinder wie Erwachsene wurden in Workshops mit der Radioproduktion bekannt gemacht, dies auch mit dem bislang noch nicht verwirklichten Ziel den temporären Radiosender an die Bewohner*innen zu übergeben. Es entstanden im ehemaligen Spielzeugwarenladen als drittem Ort Gesprächsräume für diejenigen, die sich austauschen und in der Gemeinde gehört werden wollten, wie z. B. Musiker, die normalerweise für Kurgäste spielen, junge Leute, die ihre Gedichte vortrugen, Musik machten oder auch Texte lasen oder einfach nur auf der Suche nach Austausch waren. Für die Orber Musikbox

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LIGNA auf dem Lande

konnte man bei einer Studionummer anrufen und „Musik für die Kurstadt ohne Kur spielen oder neue musikalische Kuren“ erfinden. Ein Carrera-Bahn-Rennen für alle Generationen, das live übertragen und im Stil einer Sportreportage kommentiert wurde, stellte Öffentlichkeit für die Teilnehmenden und die Zuhörenden her. Aber auch die Debatten über die Zukunft der Kleinstadt, ihre Entwicklung und ihren Zustand waren Teil des Radioprogramms, das einen Abend einem Gespräch über das Stadtleitbild widmete. Gekommen waren der Bürgermeister, Projekt-Paten, Jugendliche und die Stammgäste von Radio Orb. Dankbar sind die Bewohner dem Bürgermeister dafür, dass er die Diskussion über die Stärken und auch die Schwächen der Kommune initiierte. Wie Geschichte und Geschichten von Bad Orb über Fotografien hervorgeholt und Spuren und Atmosphären und Widersprüchlichkeiten des Kurorts im ländlichen Raum sichtbar werden und „etwas von der Zeit gerettet wird, in der man nie wieder sein wird“,18 verdeutlichte der Bilderabend im Studio. Da fährt ein Bauer mit seinem Pferdewagen noch Anfang der 1990er Jahre durch den Ort, da sieht man die Einwohner bei der Heuernte und beim Aufladen auf den Heuwagen. An der Haltung der Fotografierten erkennt man, welcher sozialen Schicht sie angehören und ob es sich um Kurgäste oder um Einwohner*innen handelt. Auch das Sozialgefüge des Orts und die Kindheiten in dieser Kleinstadt werden anhand der Bilder sichtbar. Bis zum heutigen Tag müssen die Bad Orber Kinder und Jugendlichen Rücksicht auf die Kurgäste nehmen, in den 1970er und -80er Jahren mussten sie Mittagsschlaf halten, damit die Kurgäste, die privat untergebracht waren, nicht gestört wurden. Bis zum heutigen Tag hat dies Auswirkungen auf das Leben in Bad Orb. Es gibt in der Gemeinde keine Räume für junge Leute, die sie nach ihren Bedürfnissen gestalten können, keine Verkehrsanbindungen an die Nachbargemeinden nach 22 Uhr und die Sperrstunde beginnt aus Rücksichtnahme auf die Kurgäste früher als in den umliegenden Dörfern und Gemeinden. Ergebnis der Leitbildentwicklung ist übrigens u. a. die Planung eines Jugendhauses und eines Mehrgenerationenhauses, die Verbesserung der Verkehrsanbindungen und ein besseres Leerstandsmanagement. Eingebunden in die Leitbildentwicklungen waren auch die Integrationsbeauftragte, der Leiter der Kinderinitiative Bad Orb, die Jugendlichen, die ein Jugendhaus gründen wollen und viele andere. Kinderbeteiligung wurde übrigens bei der Leitbildentwicklung vergessen, umso wichtiger wurden die Kinderöffentlichkeiten im Rahmen der künstlerischen Gesamtkonzeption von LIGNA.

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Ilona Sauer

Partizipation stellt die Frage der Macht Spiele und Spielelemente waren wesentliche Anknüpfungspunkte für die generationalen Begegnungen im Studio von Radio Orb“und den Interventionen im Stadtraum. Sowohl bei den Spielen als auch bei den Aktionen im öffentlichen Raum knüpft LIGNA an die Tradition der Situationistischen Internationale an, die das Spiel zum Mittelpunkt ihrer künstlerischen Aktivitäten machte und vor allem als „Gegenentwurf zur Knechtschaft des Arbeitszwanges, sich ökonomisch in einer Konkurrenzgesellschaft erhalten zu müssen“,19 wertschätzte. Spiel ist durch Zweckfreiheit und Regelhaftigkeit, Spannung und Unsicherheit gleichermaßen gekennzeichnet. Der Zufall wurde ins Spiel gebracht, indem der Ort aufgesucht wird, auf dem der Wurfpfeil auf dem Stadtplan, der als Dartboard diente, landete. Anschließend gingen Gruppen mit Radios durch die Stadt und berichteten von den Orten. Wer den Ort erkannte, lief mit seinem Radio dorthin – dann gab es ein Feedback. So wurden die Geheimnisse von Bad Orb von den Kindern durch einen Pfeilwurf entdeckt, der in ein Uhrengeschäft, zu den Kanalarbeitern und anderen bis dahin unbekannten Orten führte. Das Orber Memory, ein Radiospiel für die ganze Familie, fand gleichzeitig im Studio von Radio Orb und auf den Straßen statt und verlangte neben einem guten Orientierungsvermögen und Ortskenntnis ein waches Ohr und schnelle Füße. Das Bad Orber Memory wurde während der „24 Stunden von Bad Orb“, dem Radio-Tag, gespielt. Beim gemeinsamen Memory-Spiel von Kindern und Erwachsenen mussten Orte in Bad Orb erkannt und die zusammengehörigen Pärchen beim Aufdecken gefunden werden. In der von LIGNA gespielten Variante werden die Veränderungen an den Orten und Leerstände der letzten zwei Jahre sichtbar: Nicht immer sind beide Karten gleich: Mancherorts steht an der Stelle jetzt ein neues Haus oder gar kein Haus mehr, manches wurde durch Renovierung verschönert, aber viele Leerstände sind im gleichen Zustand wie zwei Jahre zuvor. Anschließend traten Teams gegeneinander an und stritten darum, Bad Orber Memory-Könige zu werden. Die Teilnehmer lauschten den Beschreibungen aus dem Radio und wer zuerst wusste, um welchen Ort es sich handelte und diesen ausfindig machte, hatte gute Chancen, einen Punkt zu sammeln auf den verwinkelten Straßen des Erfolgs. Sie bekamen über Radio die Bilder auf den Memory-Karten beschrieben: Auch hier sind wie bei den anderen Performances von LIGNA das Gehen, das „Umherschweifen“ und die „Zerstreuung“ zentrale Praktiken, um die Stadt zu erkunden. Bereits die Situationisten wandten sich gegen die Normierung, Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen

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LIGNA, Bad Orb: Radio Orb. Foto: Konrad Merz

Raums und setzten „Formen der unkontrollierten Abschweifung (dérive)“20 entgegen. Gehend wird subversiv der Heimatort von seinen Bewohnern neu erschlossen. „Nicht durch distanzierte Betrachtung, sondern durch das Betreten der ausgewählten Gebiete, durch das offenbar ziellose, aber dennoch methodische Umherschweifen und Erkunden eines Erfahrungsraums“ werden in der psychografischen Herangehensweise Erkenntnisse über einen Ort gewonnen.21 LIGNA geht es in den Projekten immer auch um die Rückeroberung und Umgestaltung des öffentlichen Terrains. Dieses Umherschweifen oder die Technik des dérive, wie die Situationisten es nannten, „kann deshalb als utopisch aufgeladener Entwurf einer neuen Kultur des Wahrnehmens und Handelns betrachtet werden“.22 LIGNA verschränkte in den Residenzprojekten in Bad Orb die künstlerischen Arbeiten mit den politischen Entwicklungen der Gemeinde und machte sich für eine aktivierende Gemeindeentwicklung stark. „Partizipation stellt die Frage der Macht. Sie problematisiert, inwieweit und zu welchem Zweck Beteiligung erwünscht, eingefordert, zugelassen, gefördert oder praktiziert wird“.23 Eine besondere Qualität der Arbeiten von LIGNA in Bad Orb ist die Transformation einer urbanen künstlerischen Praxis auf den ländlich-kleinstädtischen Raum. Transformation ist hier als intensive und wertschätzende Auseinandersetzung mit dem Ort und seinen Bewohner*innen zu beobachten, die eine Veränderung der Bedingungen vor Ort durch die künstle-

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Ilona Sauer

rische Intervention anstoßen will. Dass dies mit längerem Atem gelingen kann, zeigte sich bei der zweiten Residenz von LIGNA in Bad Orb. 1

Frahm, Ole: „LIGNAs Wirtshaus im Spessart“, www.theaterundschule.net (letzter Zugriff am: 15. Januar 2019).

2

Pressemitteilung zur Verleihung des George Tabori Preises 2017. www.fondsdaku.de/wp-content/uploads/2017/05/PM_GewinnerGeorgeTaboriPreis2017_FondsDarstellende-Kuenste_Mai.pdf (Zugriff am 15. Januar 2019).

3

Infos zu den FLUX Residenzprojekten unter www.theaterundschule.net. Finanziert werden die temporären Residenzprojekte aus Mitteln des Kulturkoffers Hessen.

4

„Neue Communities und Netzwerke könnten in diesen regionalen Kulturlandschaften geschaffen werden, in denen aus Konsument*innen von Kultur Mitgestalter*innen von lebendigen Netzwerken werden, die sich nicht nur auf kulturelle Aktivitäten beschränken, sondern den Bereich der Daseinsfürsorge einbeziehen.“ Vgl. Föhl, Patrick S.; Gernot, Wolfram: „Transformation und Community Building“, in: Kulturpolitische Mitteilungen 152/1, 2016, S. 30–33.

5

Schneider, Wolfgang: „Künstlerische Vielfalt für die Breite der Bevölkerung. Ein Plädoyer für Theater in der Provinz“, in: Kulturpolitische Mitteilungen 163/IV, S. 67.

6

Primavesi, Patrick: „Emanzipation im Theater“, in: Liebert, Wolf Andreas; Westphal, Kristin (Hrsg.): Performance der Selbstermächtigung, S. 83.

7

Frahm, Ole; Michaelsen, Thorsten (LIGNA): „Pädagogium“, in: Wetphal, Kristin; Bogerts, Teresa; Uhl, Mareike; Sauer, Ilona (Hrsg.): Zwischen Kunst und Bildung, S. 263.

8

Stadtverwaltung Bad Orb: Bad Orb im Spessart. Stadtleitbild. S. 39. Mit einem Vorwort des Bürgermeisters Roland Weiß, der die Entwicklung des Stadtleitbildes auf den Weg brachte. Mehr als 170 Orber Bürger*innen haben sich bei der Entwicklung des Leitbildes engagiert.

9

Frahm, Ole: FLUX Künstlerresidenz „LIGNAs Wirtshaus im Spessart“, o. J., o. S., www.theaterundschule.net. (Zugriff am: 15. Januar 2019).

10

Ebd.

11

Ebd.

12

Jeschonnek, Günter (Hrsg.): Darstellende Künste im öffentlichen Raum, Berlin 2017, S. 208.

13

Frahm, Ole; Michaelsen, Thorsten (LIGNA): „Pädagogium“, in: Westphal, Kristin; Bogerts, Teresa; Uhl, Mareike; Sauer, Ilona (Hrsg.): Zwischen Kunst und Bildung, Oberhausen 2018, S. 279.

14

Schneider, Wolfgang: „Künstlerische Vielfalt für die Breite der Bevölkerung. Ein Plädoyer für Theater in der Provinz“, in: Kulturpolitische Mitteilungen 163/IV 2018, S. 66.

15

Vgl. Sauer, Ilona: „Kinderspiele in performativen Settings“, in: Engel, Birgit; Peskoller, Helga; Westphal, Kristin; Böhme, Katja; Kosica. Simone (Hrsg.): räumen – Raumwissen in Natur, Kunst, Architektur und Bildung, Weinheim 2018, S. 170–183.

16

Frahm, Ole in der Dokumentation: FLUX Künstlerresidenz „LIGNAs Wirtshaus im Spessart“, o. J., o. S.

17

Primavesi, Patrick: LIGNA (2011): Freies Radio und öffentlicher Raum, in: LIGNA an Alle. S.16.

18

Ernaux, Annie: Die Jahre, Berlin 2017, Umschlagtext.

19

The most dangerous game (2018), S.436.

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LIGNA auf dem Lande

20

Primavesi, Patrick (2011): Freies Radio und öffentlicher Raum. In: LIGNA an Alle. S. 11.

21

Fischer; Ralph (2011): Walking Artists. Über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten. S.107.

22

Ebd., S. 117.

23

Heyden, Matias, zit. nach Berger, Hilde (2017): Und jetzt bitte alle Intervention. In: Jeschonnek, Günter (Hrsg.): Darstellende Künste im öffentlichen Raum. S. 382.

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POSITIONEN DER PRAXIS IN DER THEATERLANDSCHAFT


Naemi Zoe Keuler

DAS AMATEURTHEATER IM LÄNDLICHEN RAUM Eine beobachtende Bestandsaufnahme in Baden-Württemberg -

Die (Wieder-)Entdeckung des ländlichen Raums als Möglichkeit der Kulturentwicklung, der Vielfalt, der Romantik und der Bildung hat aktuell, u. a. dank europäischer Fördermittel, Bundes- und Landesprogrammen, Konjunktur. Neben einer Sensibilisierung für Themen im ländlichen Raum, wie beispielsweise für den demografischen Wandel, rücken auch Siedlungs-, Raum-, Digitalisierungs-, Bildungs- und Kulturentwicklungspläne immer weiter in den Vordergrund. Baden-Württemberg gehört streng genommen nicht zu den „Verlierer-Regionen“ in diesem Bereich, insbesondere im gesamteuropäischen Vergleich. Das hat seine Ursache sicherlich in den 68 Prozent der Wirtschaftskraft im Bundesland, die im ländlichen Raum generiert wird. Eine große Stärke, welche die Chance gibt, die Menschen dezentral anzusiedeln. Und dennoch darf u. a. nicht übersehen werden, dass sich beispielsweise im Jahr 2040 der Altenquotient im Land umdreht: Ruheständler werden in der Mehrheit sein. Laut des Demografiebeauftragten des Landes, Thaddäus Kunzmann, wird sich dieser Wandel viel früher im ländlichen Raum bemerkbar machen. Und trotz aktuell gut angesiedelter Wirtschaft geht die Problematik der ruralen Räume in Deutschland auch nicht spurlos an den hiesigen Gemeinden vorbei. Wenn die Unternehmen auf dem Land ihren Bedarf an Fachkräften nicht mehr decken können, ziehen sie dorthin, wo sie Arbeitskräfte bekommen. Damit wiederum ziehen noch weniger junge Menschen in das Gebiet oder sie ziehen weg. Das ist ein Teufelskreis: Damit bricht nach und nach auch die Nahversorgung weg. Zurück bleiben die Älteren, die in ihren Häusern gefangen sind schon allein deshalb, weil sie dafür keine Käufer mehr finden.1 Sicherlich ist der Infrastrukturwandel in Baden-Württemberg dank einer langjährigen Investitionsstrategie evident, die bereits Ende der 1960er Jahre begonnen hat, zeitgleich mit umfassenden Gebiets- und Landkreisreformen zwischen 1968 und 1973, die 2006 noch einmal vertieft wurden.

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In den 1980 Jahren stand beispielsweise die präventive und nachhaltige Wirkung der Kulturförderung unter dem Begriff der sog. ‚Umwegrentabilität‘ im Vordergrund. In den 90iger [sic!] Jahren begann eine Debatte über die wirtschaftlichen Wirkungen von Kultur- und Kreativwirtschaft, die bis heute andauert. Seit einigen Jahren steht die kulturelle Bildung und ihre Bedeutung für Kreativitätsund Persönlichkeitsbildung sowie soziale Teilhabe im Fokus.2 Amateurtheater als Standortfaktor Die Entwicklung dieser unterschiedlichen Kultur- und Förderpolitik könnte gut an der strukturellen Entwicklung, der räumlichen Verteilung und gesellschaftlichen Aufgabe des Amateurtheaters sichtbar gemacht werden. Die Organisation des Amateurtheaters in Baden-Württemberg ist, außer einem überschaubaren Schulförderbereich der Kooperation zwischen Schule und Verein, dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Referat 55, zugeordnet. Der Verband wurde 2012 vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport umressortiert, damit die Basiskultur in demselben Ministerium angesiedelt ist wie die professionellen Kunst- und Kulturbetriebe und die Soziokultur. Die Verwaltung ist über vier Jahrzehnte bereits damit betraut, Verbände und Institutionen mit einer Verwaltungsübertragung zu den umgangssprachlich „beliehenen“ Initiativen zu machen. Das Resultat ist ein breit ausgebautes Netzwerk an basiskulturellen Vereinen im ganzen Land, sei es im Theater, in der Musik, der Heimatpflege oder den Museen, den Kunstschulen, den Bildungsträgern der freien Jugendbildung, die auch interdisziplinär arbeiten und vernetzt sind. Die Stärkung der sogenannten weichen Standortfaktoren wurde damit schon früh und nachhaltig gefördert. Definition der weichen Standortfaktoren: – Schwer messbare Werte bzw. Faktoren – Keine objektive, sondern eine subjektive Bewertung – Beispiele: alles, was für die Anwerbung hoch qualifizierter Mitarbeiter entscheidend sein könnte, z. B. Kulturangebote, Freizeitmöglichkeiten und Bildungsangebote. Die Bedeutung der weichen Standortfaktoren nimmt immer mehr zu, da im mitteleuropäischen Raum fast alle wichtigen harten Standortfaktoren gleichermaßen vertreten sind. Eine wissenschaftliche Studie zu Wirtschaftsund Standortfaktoren von Amateurtheatern hat es bislang noch nicht gegeben. Der Landesverband Amateurtheater Baden-Württemberg e. V. (LABW) hat jedoch begonnen, Statistiken zu diesem Thema zu führen. Im Landeshaushalt Baden-Württembergs sind durchschnittlich für den LABW 818 000 Euro jährlich eingestellt. Davon werden in etwa

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650 000 Euro flächendeckend sowohl in Bau und Investitionen als auch in Projektförderungen unterschiedlicher Kategorien sowie ca. 110 lokale Bildungsmaßnahmen verteilt. Hinzu kommen Vernetzungs- und Mobilitätsprogramme des LABW, Fortbildungsmaßnahmen und diverse kulturpolitische Aktionen. Die jährlich rund zwölf Theaterfestivals, sowohl regionale als auch internationale, bilden dabei den Vernetzungsschwerpunkt. Seit 2013 berät und fördert eine professionell besetzte Geschäftsstelle in Stuttgart das Ehrenamt, mittlerweile mit 2,8 hauptamtlichen Stellen sowie zwei Bundesfreiwilligen. In gemeinsamer Arbeit mit einem ehrenamtlichen Vorstand (geschäftsführendes Präsidium) und einem fachbereichbezogenen Präsidium, einem ehrenamtlichen künstlerischen Beirat und diversen themenbezogenen Arbeitskreisen decken rund 48 Engagierte die Fläche des Bundeslandes ab. Der Verband zog ebenfalls 2013 von Neckartailfingen, einem Ort im sogenannten Randbereich eines Verdichtungsraums, in die Hauptstadt, u. a. mit Blick auf die verbesserte Infrastruktur und wegen der kulturpolitischen Faktoren. Amateurtheater mit Infrastruktur Der LABW ist ein Traditionsverband mit mehreren Zusammenschlüssen und Veränderungen in seiner Geschichte. Gegründet wurde der Verband ursprünglich 1920 als „Gau Württemberg“ durch den Zusammenschluss von Spielgemeinden sowohl im ländlichen Raum als auch in der Hauptstadt. 1951 wurde er zum „Baden-Württembergischen Landesverband für Volksschauspiel“ und 1972 schlossen sich die Schwaben und Badener zum heutigen „Landesverband Amateurtheater Baden-Württemberg e. V.“ zusammen. 1973 trat der „Arbeitskreis Puppenspiel“ und die „LAG für das Darstellende Spiel, Freiburger Spielwerkstatt“ bei. Seitdem wächst der Verband kontinuierlich. Schon früh, bereits 1972, förderte das Land die internationalen Spielbegegnungen – erstaunlicherweise waren gerade diese internationalen Kontakte die ersten Subventionen, die das Amateurtheater auf Landesebene erhielt. Einige Jahre später folgten Investitionsförderungen für die Freilicht- und Naturtheater. 1989 erschien das Amateurtheater erstmals in der Kunstkonzeption des Landes BadenWürttemberg. Neun Jahre später, 1998, kam es dann zur „Befugnis zur Wahrnehmung der Verwaltungsaufgaben“, der Verwaltungsübertragung der finanziellen Mittel des Landes für das Amateurtheater. Im Januar 2019 zählen zu seinen 635 Mitgliedsbühnen etwa 134 selbstständig betriebene Häuser und Freilichtgelände, die autark durch das Amateurtheater bespielt und betrieben werden. Die meisten dieser „Theaterhäuser“ sind ab Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er

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Das Amateurtheater im ländlichen Raum

Jahre entstanden oder deutlich gewachsen, kongruent zu der benannten Verwaltungsreform. Gleichzeitig finden sich gerade unter den Freilichtbühnen Betriebe mit einer Geschichte, die über oder um rund hundert Jahre zurückreicht, beispielsweise die Freilichtbühne Mannheim (gegründet 1913), das Naturtheater Waldbühne Sigmaringendorf (gegründet 1847), das Naturtheater Heidenheim (gegründet 1919), das Naturtheater Reutlingen (gegründet als Arbeiterbildungsverein 1863, als Dramatischer Club 1912), die Festspiele Breisach (gegründet 1924) oder die Freilichtbühne Ötigheim (gegründet 1905). Die Freilichtspiele Ötigheim sind Deutschlands größte Freilichtbühne. Die älteste Innenraumbühne in Deutschland ist ebenfalls Mitglied im LABW: Der „DRAM – Dramatischer Verein Biberach – Bürgerliche Komödiengesellschaft von 1686 e. V.“. Sie hat einen nachgewiesenen Spielbetrieb von 333 Jahren und gilt als ältestes Amateurtheater Deutschlands. Hinzu kommen Theatergruppen, die an den Landes- und Regionaltheatern sowie an den soziokulturellen Häusern angeschlossen sind, die über eine eigene Infrastruktur verfügen. Daneben finden sich freie Spielgruppen und Vereine in Schulen, Mehrgenerationenhäusern, Sportstätten, Kirchen, Einrichtungen der Behindertenhilfe, Flüchtlingsunterkünften und ähnlichem. Über achtzig Prozent der Amateurtheater in Baden-Württemberg, die beim LABW Fördermittel beantragen, betreiben, laut der Statistik 2016 bis 2018 (ca. 160 Bühnen jährlich mit durchschnittlich 290 Anträgen), neben einer klassischen Theatergruppe noch einen weiteren Bereich der kulturellen Bildung, sei es Kinder- und Jugendtheater, Seniorentheater oder Projekte, die der Interkultur, Integration oder Inklusion zuzuordnen sind – oder ausschließlich diesen. Bislang hat es noch keine wissenschaftliche, empirische oder theoretische Untersuchung im Amateurtheater in Baden-Württemberg gegeben. Aussagen zum Stand der Dinge beziehen sich auf die Erfahrungswerte ehrenamtlich Aktiver des Landesverbandes Amateurtheater Baden-Württemberg sowie der hauptamtlichen Mitarbeitenden. Die ehrenamtlichen Präsidiumsmitglieder sowie Mitglieder des künstlerischen Beirats besuchen persönlich seit jeher, aber statistisch nachgewiesen seit 2011, jährlich zwischen 130 und 170 Vorstellungen von (Mitglieds-)Bühnen in Baden-Württemberg. Statistische Werte erhält der Landesverband durch die jährliche Erhebung während der Zuschussvergabe. Dort werden seit 2015 Angaben über Zuschaueraufkommen, Geschlecht, Alter, Herkunft wie auch Mitarbeitende, Ehrenamtliche sowie Tätigkeiten in der kulturellen Bildung ausgewertet. Viele der Mitgliedsbühnen befinden sich außerhalb der Ballungszentren, im tatsächlichen ruralen Raum. Der LABW schätzt, dass sich im Land rund 2600

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Kleine Bühne Borgfeld: Ein Schlüssel für zwei. Foto: Anna Bärend

Amateurtheater befinden dürften, davon sind aber nur knapp zwanzig Prozent Mitglied im Verband. Die Erhebung der Statistik zeigt, dass den rund 635 Mitgliedsbühnen rund 40 000 Spieler*innen und Ehrenamtliche angeschlossen sind. Zudem werden allein durch die Mitgliedsbühnen ca. 3.2 Mio. Zuschauer*innen jährlich erreicht. Weiterhin werden jährlich rund 26 Millionen Euro Ausgaben im Amateurtheater getätigt – meist auf lokaler und regionaler Ebene. Amateurtheater ist kulturelle Bildung Anders als im umgangssprachlichen Gebrauch ist der „ländliche Raum“ im politischen Verständnis genau definiert. Die Grundlage bildet der Landesentwicklungsplan 2025, der das Land Baden-Württemberg in vier Raumkategorien einteilt: „Verdichtungsräume“ und „Randzonen um die Verdichtungsräume“, „Ländlicher Raum im engeren Sinne“ sowie „Verdichtungsbereiche im Ländlichen Raum“. Diese Bestandsaufnahme bezieht sich vornehmlich auf die beiden letztgenannten Kategorien, die, des besseren Verständnisses wegen, einfach „ländlicher Raum“ genannt werden. Die Kategorien „Verdichtungsräume“ und „Randzonen um die Verdichtungsräume“ werden unter dem Begriff „Verdichtungsraum“ subsummiert. Rund siebzig Prozent der Landesfläche Baden-Württembergs gehören zum ländlichen Raum. Hier leben 34 Prozent der Bevölkerung in 655 Gemeinden. Der ländliche Raum ist keinesfalls einheitlich strukturiert. Er ist land-

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Das Amateurtheater im ländlichen Raum

schaftlich vielfältig und weist wirtschaftlich und gesellschaftlich große regionale Unterschiede auf. Das Amateurtheater in Baden-Württemberg ist flächendeckend auf diese vier Raumkategorien verteilt, wobei etwa die Hälfte aller Bühnen im urbanen Raum der großen Städte (mit mehr als 100 000 Ein wohner*innen) und in den Ballungszentren zu finden sind: Stuttgart, Heidelberg, Heilbronn, Mannheim, Karlsruhe, Konstanz, Freiburg, Ulm und Reutlingen, sowie in mittleren Städten mit Einwohner*innenzahlen zwischen 25 000 und 100 000, beispielsweise Tübingen, Lörrach, Rastatt, Offenburg, Friedrichshafen, Esslingen, Göppingen, Heidenheim, Breisach. Letztere fallen in der Regel auch in die räumlichen Bereiche „Verdichtungsräume“, weil mehrere Städtchen beieinanderliegen (beispielweise Tübingen und Reutlingen oder der Bodenseekreis), oder unter „Verdichtungsbereiche im ländlichen Raum“ (beispielweise Heidenheim a. d. Brenz). Auch die Festivals sind u. a. sehr erfolgreich im „Verdichtungsbereich im ländlichen Raum“ tätig, beispielsweise die Internationalen Theatertage Donzdorf, die im dreijährigen Turnus seit 35 Jahren stattfinden und u. a. eines der ersten internationalen Theaterfestivals in Deutschland überhaupt waren. Auch die Kraichgauer Theatertage, ein lokales Festival der nordbadischen Region, finden in wechselnden Gemeinden der Region statt. Friedrichshafen am Bodensee richtet im jährlichen Turnus eines der größten europäischen Amateurtheaterfestivals aus: die Theatertage am See und JUST SEE, die angeschlossenen Jugend- und Schultheatertage. Bei den Fördermittel beantragenden Bühnen sind aktuell zwischen 380 und 420 Mitarbeiter*innen freiberuflich tätig, die Anzahl variiert jährlich. Zwischen 120 und 130 Mitarbeitende sind festangestellt, davon etwas mehr als die Hälfte auf Minijob-Basis. Rund achtzig Prozent der beantragenden Bühnen geben an, dass ihr Schwerpunkt kulturelle Bildung ist. In den Debatten und Veröffentlichungen rund um das Thema „Infrastruktur ländlicher Raum“ begegnen dem LABW stereotype Vorstellungen und Thesen rund um das Amateurtheater. Einer der wiederkehrenden Aussagen, die vom LABW dokumentiert wurden, ist, dass der Zuschauer im ländlichen Raum in seinem Kunstverständnis gefördert werden muss, weil es antiquiert und traditionell geprägt ist. Nach unserer Ansicht ist davon auszugehen, dass die Prägung, das Sehverhalten und die künstlerischen Neigungen von Zuschauern wie auch Teilnehmenden stark lokal und regional geprägt sind. In Dörfern und Gemeinden, in denen es eine verankerte Kunst- und Kulturszene gibt, die u. a. seit mehreren Generationen besteht, finden sich häufiger kulturaffine, nicht selten der bildenden Kunst wie auch Erinnerungskultur zugetane

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Einwohner*innen. Die Beobachtung stimmt, dass nicht selten durch Zuzug oder Rückkehr einer*s Künstler*in oder Kollektivs, beispielsweise aus familiären Gründen oder nach dem Studium, das Kunst- und Kulturleben und die Entwicklung der Region geprägt wird. Dabei ist es vor allem das direkte Wissen und der Enthusiasmus einer Person, die sich auf eine ganze Dorfgemeinschaft auswirkt. Die Kunst des Amateurtheaters Den meisten ländlichen Amateurtheatern gemeinsam scheint, dass die Akteur*innen in einer Theatergruppe auch in den lokalen Musikvereinen oder Chören aktiv sind – wo vorhanden, in traditionellen Tanzgruppen, Trachten- oder Karnevalsvereinen, sowie in den Kirchengemeinden. Sie prägen die literarischen Veranstaltungen in der Region und engagieren sich bürgerschaftlich. Somit wird die Beobachtung gemacht, dass bürgerschaftlich Aktive im Amateurtheater in der Regel auch mindestens einem zweiten lokalen Verein angehören und sich dort engagieren. Demnach ist davon auszugehen, dass die Überschneidung von Menschen in verschiedenen Vereinen und Initiativen sich auch auf die Bevorzugung bestimmter Muster in Kunst- und Kulturformen auswirkt. Dazu passend ist die Hypothese, „Kunst existiere nicht auf dem Land“. Diese Aussage ist völlig unzutreffend. Hingegen ist real, dass die Vielfalt und Nachfrage lokal beschränkt ist. Je weniger Einwohner eine Region, eine Gemeinde, ein Dorf hat, desto weniger spezifisch ist die Nachfrage nach spezielleren Angeboten. Weniger Zuschauer für besondere Kunstformen sind das Resultat. Doch Kunst existiert auf dem Land wie in der Stadt, sofern man Kunst mit den folgenden Schlagworten belegt: „Provokation, gesellschaftliche Strahlkraft, Subjektivität, Erklärung von Kunst durch Rezipienten“. Durch die geringere Anzahl an Teilnehmenden ist die Auswahl hingegen beschränkt, weil die Nachfrage die Entwicklung und Produktion bestimmt. Dieser Mangel an Beschränkung führt zwangsläufig zu einem speziellen, regional geprägten Sehverhalten. Beim Amateurtheater tritt noch hinzu, dass die Partizipation sich auf die Lebensrealitäten der Beteiligten bezieht. Somit haben nicht selten soziografische Aspekte einen Einfluss auf die Produktion: Aktuelle Themen wie Genderfragen (Gleichberechtigung, Homo- und Transsexualität), religiöse Diskurse, Inter- und Transkultur u. a. sind aufgrund eines geringeren Aufkommens von „Betroffenen“ in ländlichen Räumen ebenso anders bewertbar als in der Stadt. Es bedürfte einer vergleichenden Studie, die die sozialen Interessengebiete, die Ethnologie und gruppenpsychologische Aspekte mit basiskulturellen Strömungen erfasst, um eine Hypothese wie „Kunst existiert nicht

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Das Amateurtheater im ländlichen Raum

auf dem Land“ oder „Das Kunstverständnis auf dem Land ist antiquiert“ aufstellen zu können. Eine andere Beobachtung kann hingegen wie folgt beschrieben werden: Wer ein erhöhtes Interesse an besonderen Kunstformen hat, z. B. an Oper, Tanztheater, Figurentheater oder aber modernen, politischen Theaterinszenierungen, fährt häufig in den nächsten größeren Verdichtungsraum, gleich nach Stuttgart oder sogar in europäische Metropolen wie London (Musical) oder Florenz (Oper). Auch machen nicht wenige Vereine traditionelle Ausfahrten, besuchen Festivals oder auch Inszenierungen von Landesbühnen oder dem Staatstheater. Eine weitere Annahme ist, dass die Amateurtheaterarbeit überwiegend unprofessionell und ehrenamtlich durchgeführt oder entwickelt wird. Mittlerweile scheint dies nicht mehr die Regel zu sein. Wie die Statistik des LABW zeigt, sind professionelle Künstler*innen im ländlichen Raum sehr mobil unterwegs. Es gibt die unterschiedlichsten Modelle des Arbeitens. Oft haben große Betriebe wie Freilichttheater freiberufliche, professionelle Regisseur*innen, Bühnenbilder*innen, Maskenbildner*innen und Techniker*innen. Zudem ist die Auswahl davon abhängig, wie in den vergangenen Jahrzehnten modernisiert wurde. Im Bereich der Jugendarbeit übernehmen theaterpädagogische Fachkräfte in der Regel die Rolle, sie qualifizieren sich berufsbegleitend weiter oder kommen selbst aus einer regionalen Theatergruppe. Meistens werden professionelle Künstler*innen als Freelancer*innen für eine Produktion beschäftigt. Regisseur*innen oder Theaterpädagog*innen bleiben meistens über mindestens drei Spielzeiten an einem Ensemble. Theaterensembles, die ausschließlich im Bereich der kulturellen Bildung arbeiten (Jugendensembles, Senior*innen- und Generationentheater, Inklusionsund Integrationstheater) engagieren fast immer Theaterpädagog*innen. Gruppen, die in den vergangenen fünf Jahren gegründet wurden, sind entweder aus einer Projektarbeit von freiberuflichen Theaterschaffenden oder auf Wunsch einer Institution (z. B. Kunstschule, Kirche, Volkshochschule, Senior*innenstift, Jugendhaus, Schule) entstanden. Kongruent zu dieser Professionalisierung verzeichnet der Landesverband Amateurtheater durchschnittlich rund 20 bis 25 Austritte pro Jahr (bei steigender Mitgliederzahl trotz dieser Austritte). Bei fast allen Gruppen werden der Austritt aufgrund von „Nachwuchsmangel in der Führungsposition“ und die somit einhergehende Auflösung des Vereins angegeben. Bei rund einem Viertel dieser Auflösungen ist der Vorsitzende verstorben. Diese Vereine, die überwiegend einen langjährig aktiven, männlichen Vorsitz haben, mit häufig über 25 Jahren Funktion, waren vorwiegend im ländlichen Raum tätig. Steigend ist aktuell die

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Anzahl der Vereine, die über eine Professionalisierung im Management nachdenken oder bereits in der Umstrukturierung sind. Insbesondere ab einem Haushaltsbudget von ca. 50 000 Euro im Jahr scheint die Organisation nicht mehr ausschließlich ehrenamtlich übernommen werden zu wollen. Neben dem Aufwand wird als zweite Begründung der „Nichtübernahme von Ämtern“ oder „Aufgabe dessen“ die hohen bürokratischen Hürden bei Veranstaltungen genannt, beispielsweise Brandschutz, Lebensmittelverordnung, Haftungsrisiken, Daten- und Versicherungsschutz. Die Einhaltung der Richtlinien und Gesetze führt zum Rückzug der Ehrenamtlichen aus der Verantwortung. Amateurtheater kann alles und auch Hochdeutsch Eine weitere stereotype Annahme zum Amateurtheater ist, dass Theater auf dem Land sowie Amateurtheater mit Mundarttheater gleichzusetzen sei. Diese Annahme ist, wie oben bereits ersichtlich, nicht korrekt. Richtigerweise kann festgestellt werden, dass Amateurtheater sich auf Menschen bezieht, die neben ihrem Beruf Theater spielen. Um als Amateurtheater vom LABW anerkannt zu werden, müssen fünfzig Prozent der Spieler*innen auf der Bühne einen schauspielfremden Beruf ausüben. Richtig ist auch, dass Theater auf dem Land häufig regional durch einen Dialekt geprägt wird. Doch in den Bereichen der kulturellen Bildungsgruppen, beispielsweise Kinder- und Jugend-, Senioren- und Inklusionstheater wird hochdeutsch gespielt. Zunehmend sind auch die interund transkulturellen Projektarbeiten. Die Freilichtbühnen spielen fast alle in hochdeutscher Sprache und trainieren ihre Akteur*innen in Weiterbildungen auf eine korrekte Aussprache und Bühnensprache, ebenfalls die Puppen- und Figurentheater. Korrekt ist, dass im ländlichen Raum die Sparte der unterhaltenden Theaterstücke, Boulevard, Komödien sowie das darstellende Spiel innerhalb einer Guckkastenbühne mit großzügigen Bühnenbauten, viel Liebe zum Detail von Kostüm- und Bühnenbild sowie Dekoration bevorzugt wird – unter der Berücksichtigung der bereits oben erwähnten soziografischen Aspekte. Hingegen betrachten sich die eigentlichen Mundarttheater in der Regel als spezielle Kunstsparte. Man „schwätzt nicht nur einfach so, wie man schwätzt“, sondern pflegt und untersucht die Sprache und deren Möglichkeiten auf der Bühne. Die Anerkennung auf der deutschen UNESCO-Liste als immaterielles Kulturerbe trägt dazu bei, dass sich Mundartbühnen für ihre eigene Arbeit sensibilisieren. Ein Arbeitskreis Mundarttheater bietet regelmäßig Fachtage und Fortbildungen an, beispielsweise zu modernen Möglichkeiten des Stationentheaters als Theater im öffentlichen Raum, zeitgenössisches Volkstheater, Regieformen.

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Das Amateurtheater im ländlichen Raum

Aktionstheater Donzdorf: Spurlos verschwunden. Foto: Nadja Kiesewetter

Aus der Sensibilisierung heraus entsteht zunehmend ein eigenes Selbstbewusstsein, zu dem auch professionelle Theater wie das Theater Lindenhof Melchingen als Regionaltheater, Landesbühnen sowie freischaffende Künstler*innen und sehr bekannte Übersetzer*innen, Autor*innenpreise, das deutsche Mundarttheaterfestival Wurzelwerk des Bundes Deutscher Amateurtheater (BDAT) sowie der Staatspreis LAMATHEA (Landesamateurtheaterpreis Baden-Württemberg) mit seiner Preiskategorie „Mundarttheater“ beitragen. Die Bewegung der sogenannten Dorftheater ist eines der Resultate – seit Jahrzehnten in verschiedenen Regionen des Landes bereits praktiziert, beispielsweise in Stetten am kalten Markt oder in Oberriexingen. Hier vermischt sich die Kunstform des Mundarttheaters mit dem des Volkstheaters. Aber erst durch die Bewegung der sogenannten Bürger*innenbühnen über die großen Theaterhäuser in Deutschland wird der Fokus auf diese ganz eigene Kunstform gelenkt – als wären die „Bürger*innen“ als Protagonist*innen in den letzten Jahren ganz neu entdeckt worden und hätten sie nie zuvor Theater gespielt. Amateurtheater als kulturmanageriale Herausforderung Die Amateurtheater sind oft stark in ihrer Gemeinde verankert. Sie tragen sich wirtschaftlich selbst und werden selten – außer in baulichen Belangen – durch die Kommune gefördert. Gerade diese wirtschaftli-

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chen Erfolge, die mitunter sechsstellige Budgets betragen und keine öffentlichen oder privatrechtlichen Mittel beantragen, hemmen hingegen das fast ausschließlich ehrenamtliche Team vor Ort, Inszenierungsgewohnheiten aufzugeben. Der Erfolg – ausverkaufte Vorstellungen, positiver Zuspruch der Gemeinde, enorm gute kulturpolitische Vernetzung bis auf Bundesebene – legitimiert ihre Wirkungsweise. Interessanterweise ist man mancherorts der Idee aufgeschlossen, anderes Theater oder Kleinkunst von außen einzukaufen und in der Gemeindehalle oder einer Spielstätte auftreten zu lassen. Lediglich die Organisation solcher Veranstaltungen trauen sich die Ehrenamtlichen zu, die sich nicht selten an ihrer persönlichen Engagementgrenze fühlen. Das eigene Umsetzen wird als „Das können wir nicht“ oder „Das wollen unsere Fans von uns nicht sehen“ unterbunden. Dadurch wird ein Diskurs über die Kunst der eigenen Theatergruppe vor Ort überhaupt nicht angeregt oder in Erwägung gezogen. Das führt zu der Fehlannahme, dass die Partizipation im Amateurtheater ausschließlich auf kulturelle Bildung abzielt – ob im Mundarttheater, im klassischen Amateurtheater oder auf der tatsächlichen kulturellen Bildungsebene. Angemessener wäre die Annahme, dass Partizipation im Amateurtheater immer mit kultureller Bildung im Sinne von lebenslangem Lernen zu verstehen sein kann, dass es gleichzeitig das höchste Anliegen der meisten Bühnen ist, am Ende ein künstlerisches Produkt zu präsentieren. Dabei spielen soziokulturelle, gesellschaftliche und politische Aspekte eine Rolle. Auch provokante Produktionen werden inszeniert. Im Anliegen findet sich kein Unterschied zur freien professionellen Szene und zum Stadttheater. Die Produktion folgt jedoch aufgrund von Rahmenbedingungen (z. B. finanzielle Einschränkungen, fehlende Ausbildung der Akteur*innen) einer anderen Ästhetik. Diese ist häufiger werkgetreu, weil man es als „Respekt gegenüber den Autor*innen“ versteht, dessen „Kunst“ nicht anzutasten. Dies ist auch einer der Gründe, dass die Ästhetik des Amateurtheaters insbesondere in ländlichen Räumen variant zu der des professionellen Theaters in den Städten und Metropolen ist. In Gegenden, in denen regelmäßig professionelle freie Bühnen oder Landes- und Regionaltheater spielen, finden sich u. a. auch Amateurtheater, die deren Ästhetik partiell stärker folgen. Hier wird viel öfter der „Rotstift“ an ein Werk gesetzt, mit einem Stück experimentiert, alte Stoffe aufgearbeitet und modern umgesetzt oder Politisches und Digitales eingepflegt. Es kann über das Amateurtheater in Baden-Württemberg also festgehalten werden, dass es im Gegensatz zum professionellen Theater im ländlichen Raum keinen ernstzunehmenden Zuschauer*innenschwund

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Das Amateurtheater im ländlichen Raum

gibt. Natürlich müssen Betriebe über 700 Zuschauer*innenplätze wie alle anderen großen Spielbetriebe einen hohen Werbeaufwand betreiben – dieser ist gleichzusetzen mit dem der professionellen Theaterhäuser. Zudem werden diese Häuser nicht ausreichend öffentlich gefördert. Das „finanzielle Risiko“ eines Vereins wirkt sich auf die Ästhetik und Wahl der künstlerischen Mittel und Auswahl des Spielplans aus: Eher wird ein sicherer Titel für die Saison gewählt als ein zeitgenössisches Drama, dass niemand kennt. Experimente in der Regie sind verhalten, um die Zuschauer*innen nicht zu verschrecken – zumindest bei den Hauptstücken. Beispielsweise entwickelt sich die Tendenz, dass die Freilichttheater oder großen Häuser kleinere Nebenproduktionen in der jeweiligen Nebensaison fahren, oftmals angeregt durch den Spielwunsch der Spielschar. Hier finden sich sehr wohl zeitgenössische Autor*innen, digitale Experimente und kreative Performances auf den Spielplänen, zunehmend auch selbst erarbeitete Stoffe und Themen. Hingegen ist in den Theatergruppen bis 200 Zuschauer*innenplätzen im ländlichen Raum ein enorm hoher Zuspruch zu verzeichnen. Diese Bühnen sind gut vernetzt, wie oben beschrieben. Auch auf politischer Ebene ist dies zu beobachten: Die lokale, regionale (Kultur-)Politik sowie die Vertreter in Berlin sind bei Premieren und Jubiläen oder der jährlichen Mitgliederversammlung zugegen. Nicht selten spielen Gemeinde- und Landräte in Theaterstücken mit oder sind im Vorstand der Bühne aktiv. Amateurtheater sind Vernetzungsbetriebe im Dorf. Man nutzt die „Nachbarschaft“, um Bühnenbauten, Technik, Kostüme o. ä. zu fertigen. Somit ist die persönliche Bindung zum Publikum groß – wo man sich engagiert, da sorgt man auch für Zuspruch anderer. Die Nachbar*innen, die Familie, Freund*innen, die Schule – alle müssen mitkommen, wenn gespielt wird. Zudem sind es nicht zuletzt ganze dörfliche Familienclans, die bereits in der zweiten oder dritten Generation spielen. Zur Premiere kommen die Dorf-VIPs: Land- und Gemeinderät*innen, die Vertreter*innen der Kirche, der Feuerwehr, die Schulleitung(en) usw., man sitzt gemeinsam in einem Saal und im besten Fall sogar am selben Tisch. Diese „Sitzordnung“ folgt einem lobbyistischen Protokoll, das die Personen im gesellschaftlichen Dorfgefüge zeigt. Diese Wertschätzungshaltung kann nicht künstlich erzeugt werden. Sie hat eine Tradition, die gewachsen ist oder aus sich selbst herauswachsen kann. Es trägt nicht unwesentlich bei zur Stellung des Theatervereins innerhalb der Vereine eines Dorfs und seiner Akzeptanz. Projektarbeiten, die aus Förderprogrammen heraus in ein Dorf getragen werden, können selten diese „Tradition“ verstehen oder ihr Rechnung tragen.

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Die Gastkünstler*innen bemerken diese Haltungen häufig nicht einmal, im schlimmsten Fall werden diese sogar bewusst abgelehnt. Amateurtheater als Kreativpotential Trägt durch all diese Faktoren und Annahmen das Amateurtheater zur Infrastruktur einer Region bei? Ganz offensichtlich. Als Teil von Kultur und Kunst trägt es essentiell zum Wohlbefinden und der Identifikation mit Heimat bei. Landflucht ist als Teil des demografischen Wandels eines der Hauptprobleme im ruralen Raum. Zudem ist die Ansiedlung von Industrien und Gewerbe schlicht und ergreifend unabdingbar. Produzierendes Gewerbe wird heute nicht mehr in Deutschland angesiedelt. Hingegen ist Deutschland ein Markt für die Kreativwirtschaft: Die Programme der EU und des Bundes fördern die Patententwicklung, Forschung und das Verhalten von Start-ups. Die Ansiedlung von Firmen im ländlichen Raum ist nur attraktiv, wenn Mitarbeitende und Führungskräfte ein angenehmes, nicht defizitäres Umfeld für sich selbst und ihre Familien vorfinden. Laut EU sind Kinder und Jugendliche aus dem ländlichen Raum grundsätzlich als bildungsbenachteiligt eingestuft und somit stehen ihnen dieselben Fördermittel zur Verfügung wie „Brennpunktbezirken“ im urbanen Raum. Die Basiskultur kann, bei Unterstützung der Ressourcenerweiterung, ein starker Partner der kulturellen Nahversorgung sein. Zudem werden finanzielle Mittel in die regionale Infrastruktur investiert. Das Amateurtheater wird zunehmend zu einem Arbeitgeber, könnte sich bei einer Professionalisierung auf der Managementebene auch im Tourismuswesen und der Kreativwirtschaft deutlich stärker positionieren. Laut Vergabestatistik des LABW werden bei einem Einsatz von unter einer Million Euro durch das Land Baden-Württemberg eine Wirtschaftskraft von 26 Millionen Euro verzeichnet, wobei die Arbeitsstunden von Ehrenamtlichen nicht berücksichtigt sind. Eine wirtschaftsmathematische und wirtschaftswissenschaftliche Beleuchtung des Business Impacts des Amateurtheaters und der Basiskultur, beispielsweise der Chöre und der Orchester, der Blechbläserensembles, Tanzvereine und Trachtengruppen sowie der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen im ländlichen Raum könnte eine enorme Wirtschaftlichkeit und Rentabilität innerhalb der Infrastruktur aufzeigen. Gut zwei Drittel der in der Studie der von der Kulturpolitischen Gesellschaft vorgestellten Programme sind in erster Linie der Entwicklung von Städten, Gemeinden und Regionen gewidmet. Da die Förderung meistens aufgrund integrierter Entwicklungsstrategien vergeben wird,

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die per se mehrere Politikfelder einbeziehen, decken diese ein breites thematisches Spektrum ab und verfolgen weitgesteckte Ziele, wie die Förderung von Wirtschaft und Beschäftigung, die Sicherung der Daseinsvorsorge und die Verbesserung der Lebensqualität. Andere Förderprogramme wenden sich konkreten Handlungsfeldern zu wie Tourismus, Berufsperspektiven von Frauen, soziale Infrastruktur, Teilhabegerechtigkeit, Generationendialog, Demokratiebewusstsein, Kampf gegen Rassismus und Ausgrenzung sowie Armutsbekämpfung. Darunter benennen einige Programme Kultur explizit als Fördergegenstand. Viele tun dies nicht, sind aber dennoch für den Kulturbereich relevant: Beispielsweise ist in die Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen die Kreativbranche eingeschlossen, selbst wenn sie nicht explizit genannt wird. Die Förderung der touristischen Infrastruktur schließt in der Regel Museen, Kulturrouten o. ä. kulturtouristische Aktivitäten ein. Und – um ein weiteres Beispiel zu nennen – die Förderung von Engagement für eine offene Gesellschaft ohne Rassismus und Diskriminierung könnte einem Jugendtheater- oder Filmprojekt zugutekommen, ohne dass dies in den Förderrichtlinien vorgesehen sein muss.3 Für all diese Bereiche lässt sich Amateurtheater in Baden-Württemberg mit Best-practice-Beispielen finden. Eine Empfehlung des Landesverbands Amateurtheater Baden-Württemberg muss deshalb lauten, dass die Unterstützung von wissenschaftlichen Studien zum Amateurtheater auf die kulturpolitische Agenda gehört! Die Beobachtungen der vergangenen Jahre und die Betrachtung der Entwicklung seit den 1970er Jahren lässt darauf schließen, dass das Amateurtheater zur realen Unterstützung der Infrastruktur im ländlichen Raum beiträgt. Zudem bieten die Amateurtheater Plattformen der Vernetzung vor Ort wie auch überregional bis hin zu internationalen Austauschbegegnungen und Programmen der Demokratieentwicklung. Längst sind sie Akteure der sozialen Zivilgesellschaft, arbeiten in Bereichen der frühkindlichen Bildung bis hin zu Seniorenresidenzen, verfolgen Strategien der kulturellen Bildung, sind Kooperationspartner von Schulen, arbeiten interdisziplinär mit Museen, Kunstschulen, Kirchen, Sportvereinen, Migrantenvereinen und mehr. Das Amateurtheater hat sich modernisiert – dank einer vorhandenen Förderung durch das Land Baden-Württemberg ist es aus seiner reinen Freizeitgestaltung und einem Hobby zur Non-Profit-Organisation geworden und verdingt sich als Arbeitgeber, als Kulturversorger, als Tourismusstandort, als Demokratievermittler und vieles mehr. Es ist nur

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eine Frage der Zeit und der personellen Ressourcen, um diesen Schritt sichtbarer in Politik, Verwaltung und der Kulturlandschaft werden zu lassen.

Kunzmann, Thaddäus im Interview mit Carola Fuchs: „‚Auf dem Land droht ein Teufelskreis‘“, in: Stuttgarter Zeitung, 2. April 2018. Deutscher Städtetag: Positionspapier beschlossen vom Hauptausschuss in seiner 208. Sitzung am 7. November 2013 in Berlin. 3

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Wingert, Christine: „Förderung für kulturelle Aktivitäten und Infrastrukturen in ländlichen Räumen: Programme, Akteure und mögliche Synergien“, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 151, 2015, S. 35f.


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WER MIT WEM? Das Theater Rudolstadt im polygamen Geflecht der Thüringer Bühnen -

Es ist fast wie im richtigen Leben: Sie verbinden sich, trennen sich und versuchen es erneut miteinander – die Thüringer Bühnen und Orchester. Während die einen in der Vergangenheit Theaterehen eingingen, sogenannte Fusionen, ließen sich andere eher auf kurzzeitige partnerschaftliche Beziehungen ein, auf Kooperationen. Fakt ist: In den letzten Jahrzehnten waren kulturpolitische Kuppler am Werk, denn fast alle Theater in Thüringen haben sich in irgendeiner Weise zum schöpferischen Fremdgehen verleiten lassen, wenn auch nicht immer freiwillig. Um zu erkennen, dass neue Kontakte die Produktivität eher bereichern als belasten, dass es von Vorteil ist, den Anforderungen der heutigen Zeit gemeinschaftlich gegenüber zu stehen. Denn nur so lässt sich im kleinen Freistaat die große Anzahl der Theater sinnvoll finanzieren – und den Zuschauern ein vielfältiges, reiches Angebot sichern. Doch in welcher Form sind derartige Kooperationen eigentlich sinnvoll? Im kleinstädtischen Thüringen stünde ohne die Kooperationen zwischen den Häusern das kulturelle Angebot vor allem für die weniger urbanen Räume auf dem Spiel. Bei rund zwei Millionen Einwohnern gibt es acht staatlich geförderte Bühnen, die durch unterschiedlichste Zusammenarbeit meist mehrere Sparten – Musiktheater, Schauspiel, Ballett und Konzert – anbieten. Waren diese Kooperationen anfangs zunächst aus der Not geboren, um an kleineren Theatern die Vielfalt der Spielpläne aufrechterhalten zu können, haben sie sich zunehmend etabliert. Auch die großen Häuser wie Weimar und Erfurt stemmen gemeinsam Produktionen oder tauschen sie untereinander aus. Sogar Bühnen unterschiedlicher Größe (wie jüngst das Nationaltheater Weimar und das Landestheater Eisenach durch die Schauspiel-Tanz-Kooperation On the edge, die im Mai 2018 Premiere feierte) haben Geschmack daran gefunden. Man unterstützt sich gegenseitig, egal ob aus Not oder Überzeugung, erkennt das künstlerische, öffentlichkeitswirksame und wirtschaftliche Potential, das diese Zusammenarbeit birgt. Die gemeinsamen Produktionen werden an den beteiligten Häusern herumgereicht, ermöglichen so Programmvielfalt und sie bleiben darüber hinaus finan-

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ziell überschaubar. So muss sich das Publikum nicht selbst auf den Weg machen. Zudem erreicht es aus allen Ecken Thüringens einen Theaterstandort in weniger als einer Stunde. Ein Luxus, den es nur in wenigen Bundesländern gibt. Woanders müssen die Bühnen weite Touren absolvieren, um ihre Zuschauer zu erreichen. Eine derartig typische Landesbühne sucht man im Freistaat vergebens. Neustrukturierung der Theaterlandschaft Das gesamte Beziehungsgeflecht der Häuser ist seit der Wende mehrfach neu geordnet worden. Auch die neuen Schulterschlüsse entstanden nur teilweise aus dem eigenen Bedürfnis der Theater heraus und wurden zuletzt im Zusammenhang mit den neuen Finanzierungsverträgen des Freistaates Thüringen ab 2017 empfohlen. Bei diesen sollten engere Kooperationen, wie sie Minister Benjamin-Immanuel Hoff, Chef der Staatskanzlei, in dem Papier Perspektive 20251 vorschlug, einen finanziellen Ausgleich erhalten. „Städte, Landkreise und Theater, die sich seinen Struktur-Vorhaben anschließen, sollten belohnt werden, insbesondere mit längeren Vertragslaufzeiten“, kommentiert nachtkritik.de das Papier.2 Um Gemeinsamkeiten herauszufinden und sie auf positive Synergieeffekte hin abzuklopfen, setzte sich Minister Hoff zuvor mit den Thüringer Intendanten und Geschäftsführern der Theater in mehreren Treffen zusammen. Erstmals sollten sich die Beteiligten mit eigenen Vorschlägen einbringen können, diese gemeinsam diskutieren und nicht ausschließlich von Seiten der Politik vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Auch hier gab es, nicht zum ersten Mal, Ideen zu Fusionen (Erfurt-Weimar beispielsweise) und effizienterem und gerechterem Mitteleinsatz (das Theater Rudolstadt arbeitet beispielsweise derzeit zwanzig bis 25 Prozent unter Tarif). Das Ansinnen eines gemeinsamen Entwurfs zur Neuordnung war es, durch Kooperationen und Fusionen in gegenseitigem Einvernehmen (!) mit den Theaterleitern zwar Stellen abzubauen, doch dafür alle Mitarbeiter nach Tarif bezahlen zu können, also eine gerechtere Mittelverteilung zu erreichen.3 Nachdem die Pläne einem kleinen Journalisten-Kreis im Rahmen eines Hintergrundgesprächs vorgestellt wurden, sickerten vertrauliche Details an die Öffentlichkeit4 durch und gegen das engere Zusammengehen von Erfurt und Weimar – ein Hauptbestandteil des Entwurfs – regte sich daraufhin großer Widerstand bei Belegschaft und Publikum. Denn obwohl jede Kooperation unter den Häusern zwar zunächst eine künstlerisch größere Vielfalt und mehr finanziellen Spielraum ermöglichen kann, geht sie mit Verzicht einher: auf Personal, auf Planungshoheit und vor allem

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auf einen Teil der eigenen Produktion vor Ort, für die man im Austausch Inszenierungen der Kooperationspartner zeigt. Als Ergebnis der Verhandlungen präsentierte die Landesregierung nach einigem Zurückrudern und Modifizieren aufgrund der heftigen Reaktionen in der Öffentlichkeit zu Beginn der Spielzeit 2017/18 keine umgestaltete Theaterlandschaft, dafür ein kompliziertes Kooperationsgeflecht, das nur auf dem Papier übersichtlich wirkt: Das Theater Erfurt erhält Schauspiel aus Weimar, Aushilfsmusiker aus Gotha und Ballett aus den längst fusionierten Häusern Gera/Altenburg. Nordhausen gastiert mit Ballett und Musiktheater in Rudolstadt und darf seinen Spielplan um dessen Schauspielproduktionen bereichern. Eisenach tauscht Oper gegen Ballett mit dem Südthüringischen Staatstheater Meiningen und mit dem Theater Rudolstadt Schauspiel gegen Kinder- und Jugendtheater. Für Konzerte braucht Eisenach das gemeinsame Orchester aus Gotha. Auch die Jenaer Philharmonie und das Geraer Orchester kooperieren neuerdings stärker miteinander. Das Theater Rudolstadt kam also um eine neuerliche Fusion herum, ließ sich dafür aber nach kleinen finanziellen Zugeständnissen auf ein Dreiecksverhältnis mit dem Theater Nordhausen und dem Landestheater Eisenach ein, das man getrost einen flotten Fünfer nennen könnte, denn auch das Staatstheater Meiningen und die Thüringen Philharmonie Gotha mischen am Rande mit.5 Eine kleine Fusions- und Kooperationsgeschichte Doch zurück zum Anfang. Nach dem Zweiten Weltkrieg als Drei-Sparten-Theater in der Kleinstadt mit ihren damals circa 30 000 Bewohnern wieder auferstanden, beginnt auch in Rudolstadt rund vierzig Jahre später mit der Wende, wie an so vielen ostdeutschen Bühnen, ein neues Kapitel. Zunächst führte man 1992 die Rudolstädter Landeskapelle, eines der ältesten deutschen Orchester (Gründung 1635), und das Staatliche Sinfonieorchester der Nachbarstadt Saalfeld unter dem damaligen Intendanten Peter P. Pachl mit dem Theater Rudolstadt unter dem Dach als Thüringer Landestheater und Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt GmbH zusammen. Mitte der 1990er Jahre wurde geheiratet: mit der Eisenacher Stadttheater GmbH. Und wie das so ist bei einst zwei Haushalten – man braucht nicht alles doppelt. Rudolstadt verzichtete auf Ballett und Musiktheater, Schauspiel und Orchester blieben. Die Ehe war nicht glücklich, Eisenach liebäugelte mit Meiningen – 2003 kam die Trennung. Bei der Partnersuche stießen die Verantwortlichen auf das Theater Nordhausen, rund 150 Kilometer nördlich von Rudolstadt.

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Seitdem kooperieren die beiden eigenständigen Häuser ähnlicher Größe miteinander.6 Die Thüringer Landestheater und Thüringer Symphoniker SaalfeldRudolstadt GmbH, die das Landestheater nur im Namen, nicht aber in der Organisationsstruktur trägt, vielmehr unter seinem Intendanten Steffen Mensching (seit der Spielzeit 2008/09) schlicht als Theater Rudolstadt agiert und als solches hauptsächlich am Standort spielt und nicht von Stadt zu Stadt reist, hat 155 Mitarbeiter, davon 16 Schauspieler und 43 Orchestermusiker. Der Jahresetat betrug im Jahr 2017 insgesamt 6,7 Millionen Euro, davon kamen 2,5 Millionen Euro Zuschuss vom Land Thüringen und 4,2 Millionen Euro von kommunalen Trägern. An seinen beiden Standorten bespielt es regelmäßig sechs Hauptbühnen sowie mehrere temporäre Spielorte. In Rudolstadt gehören zu den festen Bühnen derzeit die Interimsspielstätte Theater im Stadthaus mit 260 Sitzplätzen (das Große Haus befindet sich in der Sanierung, finanziert durch das kulturelle Hilfsprogramm „Hochwasser 2013“) sowie der Schminkkasten, das theater tumult (Kinder- und Jugendtheater) und für das Sommertheater die Heidecksburg mit 600 Sitzplätzen, in Saalfeld der Meininger Hof mit 372 Sitzplätzen und die örtliche Musikschule. Diese Fülle an Spielstätten ergab sich aus den begrenzten räumlichen Möglichkeiten am Haupthaus und erfordert einen vergleichsweise hohen Einsatz von technischem Personal. Das Rudolstädter Schauspielensemble bespielt Nordhausen mit vier Stücken pro Spielzeit (inklusive Weihnachtsmärchen), die sich der dortige Intendant aus dem Repertoire und den aktuellen Premieren auswählt, und das Theater Nordhausen, dessen Intendant seit der Spielzeit 2016/17 Daniel Klajner ist, zeigt in Rudolstadt (bzw. Saalfeld) zwei Musiktheaterinszenierungen und ein Ballett, ebenfalls ausgesucht aus dem vorhandenen Repertoire bzw. den Premieren. Wie im Großen so im Kleinen – es gilt, auch mit wenigen Inszenierungen möglichst unterschiedliche Publikumswünsche anzusprechen. So fällt die Auswahl zumeist auf eine Komödie bzw. Operette, ein Werk aus dem klassischen Bildungskanon bzw. auf ein „ernstes“ Werk. Während die Intendanten einen gewissen Einfluss auf die Stückauswahl haben, sind die Austauschproduktionen in der Umsetzung (Regie, Bühnen- und Kostümbild) nur begrenzt auf das Bespieltheater zugeschnitten. Diese Umsetzung ist zuerst auf das eigene Haus abgestimmt, erst in zweiter Linie auf das Partnertheater. Aufgrund leicht abweichender Bühnenmaße und unterschiedlicher technischer Voraussetzungen müssen für die Inszenierungen teils Bühnenteile auseinandergenommen und anders zusammengebaut werden, müssen sich Schauspieler, Sänger und Tänzer ihre Auf-

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Theater Rudolstadt und Theater Nordhausen: Salome. Foto: Peter Scholz

tritte neu organisieren. Während der Nutzung der Interimsspielstätte im Meininger Hof Saalfeld verzichtet das Musiktheater zudem auf den Einsatz der Nordhäuser Balletttruppe. Eine Übertragung auf die Partnerbühne ähnelt also häufig einer Neuinszenierung, was der künstlerischen Qualität glücklicherweise nicht zwangsläufig einen Abbruch tut. Dieser Kompromiss ist für das Publikum – da es die Originalinszenierung meist nicht kennt – nicht unmittelbar spür- oder erfahrbar. Partnerschaft auf Augenhöhe Die Kooperation der beiden Bühnen Rudolstadt und Nordhausen ist lange erprobt. Die Abläufe funktionieren seit Jahren weitestgehend reibungslos, nicht zuletzt, weil alle Mitarbeiter den Nutzen dieser (Zweck-)Beziehung erkennen, aufeinander eingespielt sind und sich gegenseitig schätzen. Zudem bleibt es vor allem für die Künstler reizvoll, nicht nur das heimische, sondern auch das fremdere Publikum zu erobern oder auf anderen Bühnen aufzutreten. Dennoch: Selbst dieses feste Gefüge ist nur möglich, wenn sich beide Partner auf Augenhöhe begegnen und nicht auf eigene Vorteile bedacht sind. Kleinste Missstimmungen können letztendlich die Kooperation infrage stellen, weil sie immer ein fragiles Gebilde bleibt. Der technische und organisatorische Aufwand ist hoch. Es werden Produktionen der großen Bühne ausgetauscht. Nordhausen zeigt in Rudolstadt bzw. Saalfeld zwanzig Aufführungen, andersherum sind es 16 zuzüglich 15 Vorstellungen des Weihnachtsmärchens. Während hinter den Kulissen die Abläufe eingespielt sind, gibt es auch nach 15 Jahren nach wie vor Unterschiede in der Wahrnehmung der Produktionen durch das Publikum beider Städte. Das Rudolstädter Schauspiel hat es schwer in der musikverliebten Stadt

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Nordhausen, unabhängig vom Programm. Die Zuschauerzahlen schwanken nur wenig. Wenn das Nordhäuser Sängerensemble oder die Tänzer im Gegenzug, begleitet von den Thüringer Symphonikern, vor das Rudolstädter bzw. Saalfelder Publikum tritt, ließen sich die Zuschauerzahlen der letzten Jahre kontinuierlich (abhängig vom Programm) steigern. Der Heimspielcharakter scheint hier ein klarer Vorteil, denn das Nordhäuser Musiktheater wird durch die Mitwirkung des heimischen Orchesters nicht als Fremdkörper empfunden. Mit Beginn der Spielzeit 2017/18 wurde nun im Zuge der Perspektive 2025 – das Theater Rudolstadt zeigte sich willig und erhielt ein Budgetplus von 450 000 Euro – die Zusammenarbeit mit dem Landestheater Eisenach als zweiter fester Kooperationspartner aufgenommen. Und solange die Eisenacher Bühne mit dem Südthüringischen Staatstheater liiert war – mittlerweile wurde die Eigenständigkeit Eisenachs durch die Ernennung des Ballettdirektors zum künstlerischen Leiter gestärkt –, hatten auch die Meininger ein Stück weit bei allen gemeinsamen Vorhaben mitzusprechen. Strukturell gab das Theater Rudolstadt die Sparte Kinder- und Jugendtheater an das Junge Schauspiel Eisenach ab, das nun zusammen mit der Ballettsparte unter einem Dach vereint ist. Seit der Spielzeit 2017/18 reiste das Ensemble des Jungen Theaters Eisenach mit vier Inszenierungen und insgesamt 37 Vorstellungen für junges Publikum nach Rudolstadt. Im Gegenzug kamen die Rudolstädter mit 25 Vorstellungen an das Landestheater Eisenach, zeigten dort die aufwendigen Inszenierungen Die Bibel, die spartenübergreifende Produktion Faust_Eins sogar mit dem eigenen Orchester, die Komödie Der Vorname und den Heinz-Erhardt-Abend Danke für das Geräusch! Und wurden mit offenen Armen empfangen. Die Zuschauerzahlen stiegen in der ersten gemeinsamen Spielzeit 2017/18 um zwanzig Prozent. Was ist hier anders als in Nordhausen? Die Bühne ist räumlich und akustisch „schauspielfreundlicher“ und so den Rudolstädter Maßen ähnlicher. Das kommt wiederum dem Schauspielensemble zugute, das sich dort sofort wohlfühlte. Obwohl der Start erfolgreich war, beim Publikum und hinter den Kulissen, bleiben Finanzierungsdefizite offensichtlich. Die 450 000 Euro Zuschuss reichen kaum aus, um neben den neuen Aufgaben den heimischen Spielbetrieb in vollem Umfang aufrechtzuerhalten. Da die Mitarbeiter des Theaters Rudolstadt bis zu 25 Prozent unter Tarif arbeiten, musste der Obolus für die Zusammenarbeit mit Eisenach zu großen Teilen in die (geringfügige) Angleichung von Mitarbeitergehältern an den Tarif fließen. Doch während bei Stückbesetzungen ein gewisser Spielraum bleibt, indem z. B. weniger aufwändig besetzte Inszenierun-

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gen ausgewählt werden, können sich Technikmannschaften nicht splitten. Die zwei vorhandenen Rudolstädter Technikteams müssten sich auf mindestens drei heimische und zwei auswärtige Spielstätten verteilen, möchte man alle gleichzeitig bespielen, wonach das Publikum durchaus verlangt (die Auslastung der heimischen Spielstätten liegt konstant bei über achtzig Prozent). Nicht zuletzt ist es eine Frage der Finanzierung der Häuser und eine politische Entscheidung – wie die öffentlichen Mittel auf Städte, Landkreise und das Land verteilt werden, trifft eine Aussage über den dem jeweiligen Theater erteilten Auftrag. Das Theater Rudolstadt und die Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt werden zu großen Teilen durch die beiden Städte und den Landkreis Saalfeld-Rudolstadt finanziert. Das Angebot in Rudolstadt und Saalfeld sollte aus diesem Grund nicht unter den angestiegenen auswärtigen Verpflichtungen leiden müssen – ein Anspruch, den das Theater Rudolstadt an sich selbst stellt, der aber nur schwer zu erfüllen ist. Gibt es also auch ein Zuviel an Kooperation? Jeder, der mit Partnern zusammenarbeitet – egal ob dies andere Theaterhäuser sind oder Institutionen, Vereine vor Ort –, weiß, dass es ein großes Mehr an Kommunikation, an Absprachen erfordert, Kräfte woanders bindet, Abhängigkeiten produziert, womit man an die Grenze des Leistbaren stoßen kann. Auch weil zu viele Parameter Einfluss nehmen, ob eine Vorstellung zustande kommen kann oder nicht. Seien es der heimische Proben- und Aufführungsbetrieb, Sperrtermine von Mitwirkenden, Abo-Termine, der Rhythmus von Aufführungen einer Inszenierung etc. Wenn in Eisenach beispielsweise Faust_Eins gezeigt wird, sind in Rudolstadt/Saalfeld weder Konzerte noch Schauspiel auf der großen Bühne möglich. Je mehr Partner mitmischen, umso komplexer wird die Planung. Und Theater sind an sich schon äußerst feingliedrig arbeitende Kunstbetriebe. Nicht umsonst reisen klassische Landesbühnen – von denen in Thüringen keine dazu zählt – von Ort zu Ort, ohne sich auf zu viele Parallelgeschichten einlassen zu müssen. Sie haben einen anderen Kulturauftrag, ihr Programm in die Breite zu streuen, weil die Theaterdichte vielleicht geringer ist als in Thüringen. Nur gemeinsam sind wir stark Doch trotz der Schwierigkeiten, die sich in naher Zukunft möglicherweise nach und nach einspielen, bleiben diese beiden Kooperationen für das Theater Rudolstadt ein Pfund, mit dem es wuchern kann. Für Publikum und Theaterbelegschaft ist es bereichernd, unterschiedliche Denkweisen und künstlerische Handschriften kennenzulernen. Und nicht nur das: Die Theater gehen die Kooperationen ein, weil sie dadurch gewin-

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Theater Rudolstadt. Foto: Harald Wenzel-Orf

nen – an Stabilität, Finanzierungssicherheit, Publikum, Reichweite usw. Für sich genommen, wäre jedes Haus nicht lange lebensfähig. Denn wer will schon in einer 25 000-Seelen-Gemeinde ausschließlich Schauspiel und Konzert angeboten bekommen? Man würde auf Dauer bei dieser Einseitigkeit nicht genügend Publikum finden. Würden sich kleinere Häuser nicht zusammentun und über eine Erweiterung ihres Wirkungsraums nachdenken, beschnitten sie sich in ihren Möglichkeiten. Ein Ausloten der Möglichkeiten findet zudem noch auf einem anderen Weg statt. Auch das Theater Rudolstadt verfügt über ein Netz weiterer Kooperationspartner, mit denen aus freien Stücken regelmäßig Projekte bzw. Inszenierungen oder Konzerte angestoßen werden. Mit den Musikschulen der Region findet alljährlich die Zukunftsmusik statt, bei der Musikschüler und Laien nicht nur zusammen mit den Thüringer Symphonikern Saalfeld-Rudolstadt musizieren, sondern einige auch solistisch vor das Orchester treten – ein Projekt, das in den letzten 18 Jahren hunderte junge Menschen für das Orchester als Zuhörer gewinnen und für klassische Orchestermusik begeistern konnte. Weitere feste Partner sind etwa die Musikhochschule Mainz, das Lyric Opera Studio Weimar, der TheaterSpielLaden Rudolstadt, die Seniorentheatergruppe Die Entfalter, die Stadtbibliothek, die örtliche Kunstwerkstatt, das Schillerhaus, aber auch die beiden freien Puppenspieler Susanne Olbrich (TheaterFusion) und Peter Lutz sowie letztendlich auch das RudolstadtFestival, bei dem die Thüringer Symphoniker mit Folkgrößen aus aller Welt gemeinsame Programme erarbeiten und Schauspieler aus dem fes-

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ten Ensemble bei Sonderformaten mitwirken. Diese Partner sind teils Profis, teils Hobby-Akteure. Mal geht es um beiderseitigen Nutzen, mal um Erfahrungsaustausch, mal um große Kunst, mal ums gemeinsame Erleben. Das gemeinsame Kooperationsprojekt der Schillerstädte Thüringens – Meiningen, Weimar, Jena und Rudolstadt – mit den Theatern und Jugendlichen, das 2019 zum wiederholten Mal stattfinden sollte, scheiterte nicht zuletzt durch die mit der Verbundenheit der Häuser untereinander immer komplizierter werdende Planung und musste abgesagt werden. Ist das Potential an Kooperationen ausgereizt? Letztendlich gehört die Frage, wann Theater gutes Theater ist und welche Voraussetzungen es seitens der Kulturpolitik dafür braucht, auf die permanente Agenda in der Theaterlandschaft. Fakt ist: Die wirtschaftliche Optimierung (auch in Bezug auf die Zuschauerzahlen) darf nicht derart ausgereizt werden, dass sie künstlerische Kreativität einschränkt und ihr Umfeld beeinträchtigt. Kunst muss „verschwenderisch“ sein dürfen und nicht nur ökonomischen Kriterien gehorchen. Das Für und Wider der Kooperationsstrukturen in Thüringen ist benannt worden. In ihnen steckt Potential, das zwar wirtschaftlich, aber selten künstlerisch ausgeschöpft wird. Grund dafür ist vor allem der enge finanzielle Rahmen. Deshalb: Falls Aufführungen schlicht herumgeschickt, an andere Orte verpflanzt, ganze Ensembles zum Dienstleister degradiert werden und es nur um Erfüllung von irgendwelchen Plänen, Abo-Systemen oder gar um die Aufrechterhaltung eines Spielbetriebs geht und das Eigentliche, der kreative künstlerische Prozess, die Theaterkunst und ihr Publikum, in den Hintergrund rückt, gehören Kooperationen auf den Prüfstand. Oder anders gesagt: Wenn man durch Kooperationen den Einsatz von Inszenierungen und Künstlern effektiver gestalten kann, muss gewährleistet sein, dass die einzelnen Häuser auch personell und finanziell solide aufgestellt sind, um diesen Mehraufwand zu verkraften. Wenn man will, dass die Theater (um im Bild zu bleiben: freier) auf mehreren Hochzeiten tanzen, müssen sie fit genug sein, um ihren häuslichen Pflichten weiterhin nachzukommen, ihre Selbstbestimmung zu bewahren, den eigenen Ansprüchen und dem eigenen Publikum weiter gerecht zu werden. Kooperationskultur darf nicht mit dem Prinzip „Masse statt Klasse“ verwechselt werden. Halbherziges Theater hat keine Zukunft. Doch wie lässt sich das künstlerische Potential, das in diesem einmaligen Kooperationsgeflecht der staatlich finanzierten Thüringer Häuser steckt, besser nutzen? Vielleicht indem die Theaterleiter, wie schon 2015 geschehen, wieder gemeinsam an einen runden Tisch gebeten werden, um diesmal nicht über die wirtschaftliche Seite wie im

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Vorfeld der neuen Theaterfinanzierung, sondern über das künstlerische Miteinander und die verschiedenen künstlerischen Zielstellungen der einzelnen Häuser als Basis für mögliche Kooperationen ins Gespräch zu kommen. Und diese spontanen „Liebschaften“ gehören vom Land stärker gefördert als die festgezurrten Verbindungen. In diesem Sinne: Hoffen wir auf kreative und faire Theater-Affären und deren kulturpolitische Unterstützung.

1

Hoff, Benjamin-Immanuel: Perspektive 2025 – Sicherung und Fortentwicklung der Thüringer Theaterlandschaft, Arbeitspapier der Staatskanzlei des Freistaates Thüringen, www.thueringen.de/mam/th1/tsk/arbeitspapier_zur___perspektive_2025_.pdf.

2

Adrians, Frauke: „Der Minister und seine Gedankenspielkameraden“, in: nachtkritik.de, www.nachtkritik.de/index.php?Itemid=84&catid=101&id=11527:in-der-thueringer-theaterstruktur-debatte-wird-paktiert-protestiert-relativiert-undzurueckgerudert&option=com_content&view=article (Zugriff am 12. Oktober 2018).

3

Bernhard, Henry: „Thüringen strukturiert Orchester und Theater um“, in: Deutschlandfunk Kultur, www.deutschlandfunkkultur.de/reformplaene-der-landesregierung-thueringen-strukturiert.1013.de.html?dram:article_id=336051 (Zugriff am 12. Oktober 2018).

4

Hirsch, Wolfgang: „Schließung, Fusion, Kündigung: Hoff krempelt Theaterland Thüringen um“, in: Thüringische Landeszeitung, 20. August 2015.

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Nach Auflösung der Fusion beginnt das Theater Eisenach eine enge Zusammenarbeit mit dem Südthüringischen Staatstheater Meiningen, dessen Intendant Ansgar Haag übernimmt 2008 auch die Leitung des Hauses. Weitere Sparmaßnahmen, wie die Abwicklung der Oper, folgen. In dieser Struktur besteht es bis zum Ende der Spielzeit 2016/17, als die neue Kooperation mit Rudolstadt beginnt.

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Im Zuge der Kooperation wurde 2004 die Schauspielsparte des Theaters Nordhausen aufgelöst. Es verblieben unter einem Dach das Musiktheater, Ballett und das Loh-Orchester Sondershausen.

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Micha Kranixfeld

DEM ABSCHWEIFEN NACHGEBEN Die künstlerisch-forschende Raumerkundung von Syndikat Gefährliche Liebschaften -

Paradiese! Ausschweifende Gärten. Versteckte Terrassen. Großzügig restaurierte Höfe. Oldtimer-Sammlungen in ehemaligen Ställen. Zum Horizont reichende Weiden. An Platz scheint es nicht zu mangeln in Seefeld, einem Dorf östlich des Jadebusens. Doch was heute als stabiler Boden erscheint, war bis zum 17. Jahrhundert von Sturmfluten bedrohtes Marschland. Unter Führung der Oldenburger Grafen wurden Deiche gebaut und Böden entwässert. Bis heute garantieren diese zwei Technologien die stabilen Lebensbedingungen vor Ort. Nur manchmal wird einem die Fragilität der Landschaft körperlich bewusst: Zu Besuch bei einem ehemaligen Wirt, der uns seine noch gut erhaltene Gaststube zeigen will, werden wir plötzlich zur Vorsicht angehalten. Mitten im Gang befindet sich eine Stufe – der Neubau, der hier an den alten Gasthof anschließt, ist über die Jahrzehnte um gut zwanzig Zentimeter abgesunken. Irgendwann wird ihn sich der Boden wieder einverleibt haben. Die intensiven Beziehungen, die Menschen mit den urbanen oder ruralen Landschaften eingehen, in denen sie siedeln, und die sozialen Gemeinschaften, die sich daraus ableiten, stehen immer wieder im Fokus unserer Künstler*innengruppe Syndikat Gefährliche Liebschaften. Anlässlich des dreißigsten Jubiläums des Kulturzentrums Seefelder Mühle waren wir eingeladen, eine ortsspezifische Arbeit zu entwickeln, in die möglichst viele Einwohner*innen eingebunden sein sollten. Unser im Kontext der Hildesheimer Kulturwissenschaft gegründetes Syndikat inszeniert regelmäßig irritierende Begegnungsräume im Übergang von Kunst, Gesellschaft und Politik. Diese Eingriffe in alltägliche Räume dienen der Wissensproduktion. Es sind öffentliche Anlaufstellen; Orte für charismatische Persönlichkeiten und dubiose Wissensträger*innen – von der kriminellen Volkshochschule bis zur Manufaktur für Verhüllungsbedarf. Wir überprüfen, inwiefern unsere für urbane Kontexte entwickelten Strategien in ländlichen Räumen anwendbar sind. Für uns schließt sich damit auch biografisch ein Kreis, sind doch alle Mitglieder des Syndikats außerhalb von Großstädten aufgewachsen.

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In Seefeld begannen wir damit, das Kulturzentrum zu bitten, uns zu empfehlen, welche Menschen wir kennenlernen sollten. Unsere so gewonnenen Kontakte betreiben den lokalen Strandimbiss, leiten die Freiwillige Feuerwehr oder den Fanfarenzug, haben eine Senior*innenWG gegründet, bringen die Essensspenden der Tafel per Auto in den ländlichen Raum, rechnen für Sonderforschungsbereiche Millionen ab, betreiben Landwirtschaft, sind im Gemeinderat oder haben das Dorfleben der letzten Jahrzehnte in gut sortierten Fotoalben abgelegt. Wir baten sie um eine Einladung zum Kaffee und ließen uns erzählen: Welche Praktiken des Feierns und Jubilierens gibt es hier? Wie sagst du „Danke“? Was kann man an Seefeld feiern? Und was hält das Dorf am Leben? Die Antworten waren vielfältig und führten in die verschiedensten Felder. Doch ein Wort, das immer wieder ganz selbstverständlich benutzt wurde, blieb bei uns hängen: Bälle. Als Turnerball, Ernteball, Klotschießerball, Feuerwehrball, Jägerball oder Holzschuhball gehörten sie früher zum festen Bestandteil dörflicher Versammlung in den Wintermonaten. Manche der Bälle feiert man heute nicht mehr, andere werden immer größer. Einer der Gründe dafür ist, dass sich das Tanzen spätestens mit der Verbreitung der Discos stark verändert hat – weg vom Paartanz, hin zum solitären Zucken. Dennoch sind die Bälle weiterhin wichtig: Wir waren erstaunt, mit welcher Begeisterung und Selbstverständlichkeit in Festzelten und Mehrzwecksälen Menschen in unserem Alter das ganze Repertoire der Standardtänze abriefen. Für uns stellte sich die Frage, ob sich anhand der Bälle verstehen ließe, wie sich die dörflichen Gemeinschaften der Wesermarsch verändert haben. Ein informelles Festkomitee Es begann als Witz, weil manche aus unserem Syndikat nie einen Tanzkurs besucht haben, aber dann wurde es schnell zum festen Entschluss: Wir veranstalten einen Ball. Wir begriffen uns als Lernende, welche die exemplarische Vergemeinschaftungskultur der Bälle nur im Tun begreifen konnten. Unsere Kontakte wurden zum informellen Festkomitee, das unsere Vorbereitungen durch anekdotisches Erinnern lenkte. Im Lauf der Zeit bekamen wir unzählige Episoden berichtet: vom ersten Ballkleid und dem Ärger, wenn jemand genau das gleiche trug. Von dem Moment, als das Licht gedimmt wurde und alle enger zusammenrückten. Von zwei Bällen gleichzeitig während des Schützenfests. Von den prüfenden Blicken der Älteren, wer da mit wem gut zusammenpasste. Von Theaterstücken, Sportvorführungen und Siegerehrungen. Von sehr viel Schnaps, Koteletts und Buletten. Vom Geschmack der Spiegeleier früh am Morgen.

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Was uns als Theatermacher*innen besonders faszinierte, war das Vorprogramm. Zu Ostern z. B. das große Vorturnen an Barren, Reck und am Pferd mitten im Festsaal und drum herum saßen die Gäste in feinen Kleidern an ihren Tischen. Es brauchte viel Anlauf, also lief man schon im Vorsaal los, um genug Schwung zu bekommen. Hinterher wechselte man schnell die Turn- gegen die Ballkleider und kehrte in den Saal zurück. Was braucht ein Ball? Eine Tombola! Eine Sektbar! Eine Rauferei?! Was muss unbedingt dabei sein? Und wo beginnt die Romantisierung? Übertüncht man den harten Alltag in der Landwirtschaft, wenn man nur von der lustigen Ausnahme, den Bällen, spricht? Vergisst man die schwierige Situation von Frauen, wenn man zu oft von tollen Petticoats und Damenwahl erzählt? Hat jemand an familiäre Kontrolle gedacht, wenn die Alten und Jungen zusammen feiern? Immer wieder formulierte unser Festkomitee auch Warnungen und Bedenken, die uns zum einen Rückschlüsse auf die sozialen Beziehungen vor Ort ermöglichten, zum anderen aber auch anhielten, nicht ins Nostalgische zu verfallen, sondern konsequent nach Möglichkeiten zu suchen, eigene Rhythmen und ästhetische Überformungen für unseren Ball zu suchen. Denn die alten Bälle waren auch Ausdruck der alten sozialen Ordnung: Frauen hatten sich züchtig zu kleiden und auf die Aufforderung der Männer zu warten. Mitglieder von Bauernfamilien gingen nicht zu den Bällen der Arbeiter*innen. Am Beispiel des Balls ließ sich mit unseren Gastgeber*innen diskutieren, was sich in den Dörfern verändert hat. Wie haben sich die Vereine, einst Garant für dörflichen Zusammenhalt, entwickelt? Unter welchen Bedingungen findet heute Vergemeinschaftung statt? Welche räumlichen Effekte produziert eine regionalisierte Lebensweise, die sich aufs Auto (statt wie vor gerade einmal sechzig Jahren aufs Fahrrad) stützt? Und was bedeutet es ganz konkret für Seefeld, wenn sich die Art des gemeinschaftlichen Zusammenkommens verändert? Die Stadt rückt aus dem Fokus Die Organisation eines Balls mag sympathisch und etwas harmlos klingen, aber sie erwies sich als Feld für kritische Erkenntnisse über das Leben in ländlichen Gegenden. Dazu bedarf es etwas Anlaufs: Die Besonderheit kleiner sozialer Systeme, wie sie Dörfer sein können, „besteht darin, dass sie vor allem auf Personen ausgerichtet ist und sich dadurch von funktional ausgerichteten Spezialsystemen“ unterscheiden.1 Nachbarschaft und Freundschaft sind deshalb entscheidende Kategorien für Gestaltungsprozesse in ländlich geprägten Gebieten, weil es durch den

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Bedeutungsverlust der Landwirtschaft kaum Beziehungen gibt, die noch „auf hierarchisierten ökonomischen Abhängigkeiten beruhen“.2 Vielmehr erstrecken sich diese Abhängigkeiten heute mehr denn je auf große (auch globale) Territorien, die zu vielfältigen Mobilitätsmustern führen: Die Vorstellungen vom rein sesshaften Dorf entsprechen nicht der Lebenswirklichkeit. Menschen sind aufgebrochen, haben neue Lebenswege gesucht, manche sind zurückgekehrt. Andere sind ein Leben im gleichen Dorf geblieben, haben über Generationen an einem Haus gewirkt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie irgendwann vor der – mehr oder weniger freiwilligen und bewussten – Entscheidung vom Gehen oder Bleiben standen.3 Ein Dorf wie Seefeld besteht aus Zugezogenen, Pendler*innen, Tourist*innen, Rückkehrer*innen, Tagungsgästen, solchen, die jedes Wochenende die Familie besuchen, und jenen, die alle paar Monate von ihrer Familie an ihrem neuen Wohnort besucht werden. Das Dorf konstituiert sich aus einer ganzen Reihe von Mobilitätsbeziehungen, die freiwillig oder unfreiwillig eingegangen werden. Das ist so, weil ländliche Regionen genauso stark in die globalen Wanderungsbewegungen von Wissen, Waren und Menschen eingebunden sind wie ihr scheinbarer Gegenpart, die Städte. „To conceive of rural areas intrinsically as spaces of repulsion is not only a reductive thought but also erroneous.“4 Hier setzt auch meine Kritik des Provinzbegriffs an: Das lateinische Lehnwort markiert alles Außerstädtische als „Herrschaftsbereich“5. Das Ländliche ist in dieser Sichtweise ein Raum, der erobert und kontrolliert werden muss, und kein Raum, der bereits integral für das Funktionieren des Systems ist.6 Diesem Verständnis liegt ein Missverständnis zugrunde, denn „the city arose as a node in a wider system of urbanization that was dependent upon both the economic and social functions of the city and the countryside“.7 Die Stadt ist nicht das Zentrum, von dem aus man sich das Umland erschließt, sondern es ist das Umland, das die Stadt hervorgebracht hat8 – ein Verhältnis, in dem die heutige kulturelle Hegemonie des Urbanen als äußerst ironisch gelten muss. Zudem ist die unwiderstehliche Anziehungskraft, mit der sich Metropolen weltweit gern selbst beschreiben, nicht unbedingt auf das attraktive Lebensumfeld dort zurückzuführen: Die Massen, die in die urbanen Ballungsgebiete drängen, kommen […] nicht, weil sie den „Lifestyle“ mögen – sondern weil ihnen auf dem Land alle Arbeitsmöglichkeiten, alle Schulen, Postämter, Busse, Bars,

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Landestheater Württemberg-Hohenzollern, Engstingen: Dorffest. (Theaterwerkstatt Schwäbische Alb). Foto: Kerstin Grübmeyer

Bäcker und Bahnen wegrationalisiert worden sind. […] Diejenigen, die jeden Morgen aus den Hochhausvororten von Paris oder Mumbai, São Paulo oder Bukarest in die Fabrik oder das Bürohochhaus pendeln müssen, finden die Stadt vor allem eins: laut, erschöpfend, hässlich. Sie kommen, weil sie ökonomisch keine andere Wahl haben – und sie kommen in apokalyptischen Mengen, weil Arbeit immer noch in arbeitsintensiven Fabriken und Bürovierteln konzentriert wird.9 Dass unsere Gesellschaft überhaupt so stark zwischen Stadt und Land unterscheidet, hängt mit einer Ikonografie des Ländlichen zusammen, die unser Bewusstsein seit dem 19. Jahrhundert prägt. Damals entstand ein Verständnis ländlicher Räume, das sie als Gegensatz zum städtischen Raum definierte. Von den schnell wachsenden Städten zu Beginn der Industrialisierung überfordert, imaginierte man sich das Ländliche als Sehnsuchtsort der Tradition und Einfachheit.10 Solche Imaginationen haben konkrete räumliche Effekte: Manche Stadtbewohner*innen bauen ihre Höfe in der Umgebung von Seefeld zu Palästen um, die kein historisches Vorbild haben, aber Sehnsüchte nach Ländlichkeit erfüllen können. Die Seefelder Mühle wurde nach schweren Sturmschäden in den 1970er Jahren nur gerettet, weil Zugezogene aus der Stadt die Initiative ergriffen, sie zum Kulturdenkmal erklärten und mit Leben füllten. Dass Sehnsüchte auch zur Belastung werden können, zeigt der Fall der Landwirtschaft: Zu Recht werden heute Alternativen zur industrialisierten

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Landwirtschaft gefordert, doch die damit einhergehende Kritik an den Landwirt*innen greift zu kurz. Vergessen wird nämlich, dass der Beginn des Systems mit dem Aufstieg der industrialisierten Städte zusammenhängt. Der Druck auf die Landwirtschaft, Lebensmittel zu extrem niedrigen Preisen zu produzieren, sicherte den Industriellen die Möglichkeit, ihre Arbeiter*innen weiterhin zu geringen Löhnen zu beschäftigen.11 Wenn Stadtbewohner*innen bei Besuchen auf dem Land heute entsetzt sind, dass sie statt kleiner Metzgereien riesige Schlachtfabriken vorfinden, müssen sie sich dieser Geschichte bewusst sein. Es ist folglich notwendig, ländliche Räume nicht mehr als Gegensatz zu urbanisierten Gebieten zu verstehen, sondern danach zu suchen, wie sich verschiedene globale Phänomene in unterschiedliche Orte unterschiedlich einschreiben. At a time of globalisation, spaces are dealing with constant reconfiguration, one of its main expressions being the intensification of movement that simultaneously affects both rural and urban places. […] This process relies on close interdependence between rural and urban areas, resulting in the metamorphosis rather than the disappearance of rural areas.12 In einer sich immer weiter vernetzenden Welt sind eben nicht nur die Städte, sondern auch die Dörfer einer ständigen Neuordnung unterworfen. Aus unserer heutigen Perspektive können wir sehen, dass das schon immer dazugehörte: Allein wenn man nur auf die Geschichte der Tanzkultur schaut, findet man z. B. fahrende Musiker*innen, die von Ort zu Ort reisten und zum Tanz aufspielten. Viele Gegenden und sogar einzelne Dörfer hatten damals ihre eigenen Tänze, die von den Musiker*innen mitgenommen und so verbreitet wurden.13 Neue Schrittfolgen verschmolzen mit alten und neue Tänze entstanden. Sie wurden auch in den Städten bekannt, vermischten sich mit den bürgerlichen Varianten von höfischer Tanzkultur und flossen wieder zurück aufs Land. Und so ist es immer noch. In Seefeld haben wir Menschen mit Leidenschaft für Tango, Charleston oder südafrikanische Tänze getroffen. Und wenn wir unseren Ball mit einer kollektiven Zumba-Runde eröffneten, dann verdanken wir das einem Mix aus Aerobic und lateinamerikanischen Tänzen, der in Kolumbien erfunden wurde. Ein neuer Ball für unsere Zeit Damit wird deutlich, dass es so etwas wie einen traditionellen Ball nie gegeben hat. Die Gegenwart schleicht sich in jede Ecke, wie wir bei unseren Ausflügen zu Reit- und Feuerwehrbällen in anderen Orten fest-

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stellen konnten: Durch die Musik, die Materialien, die Selbstverständlichkeiten, die Smartphones und auch die Witze zeigen sich die Bälle als Produkt ihrer Zeit und damit als veränderbar. Wenn sie etwas mit ihren historischen Vorgängern gemeinsam haben, dann den Wunsch nach Vergemeinschaftung. Denn Tanzen stiftet Gemeinschaft auf Zeit. Mal mit anderen Vereinsmitgliedern, mal mit anderen Helene-Fischer-Fans. Mit Menschen, deren Sprache wir nicht kennen oder deren Weltbild wir nicht teilen. Jede Gesellschaft erfindet dafür ihre eigenen Formen – auch deshalb, weil in jeder Gesellschaft Gemeinschaft anders funktioniert. Im europäischen Westen wurde man über viele Jahrhunderte in seinen Stand geboren. Die Gemeinschaft war die Gemeinschaft des Dorfs und alle hatten ihren schicksalhaften Platz darin. Mit der Industrialisierung veränderte sich die soziale Zusammensetzung der gesamten Gesellschaft und Gemeinschaft musste neu organisiert werden. Die Verbreitung des Vereinswesens im 19. Jahrhundert war darauf bereits eine Antwort: Mit der Modernisierung und Differenzierung der Sozialstruktur, dem Einzug der bürgerlichen Kultur, dem Zerfall der nachbarschaftlichen Beziehungen und der Entstehung eines gesonderten Freizeitbereiches war auch im ländlichen Raum der Grundstock für das Entstehen von Vereinen gelegt. […] Die wenig formalisierte Dorfkultur wurde durch eine zweckrationale bürgerliche Kultur der Vereine allmählich überlagert.14 Das Vereinswesen war eine neue Form der Vergemeinschaftung – nicht mehr als Schicksal, sondern als Wahlmöglichkeit. Auch wenn die Reitvereine eher reichen Landbesitzer*innen vorbehalten blieben, so konnte man sonst recht frei wählen, ob man Teil der Schütz*innen oder der Turner*innen wurde, ob man zur Feuerwehr ging oder zum Fanfarenzug. Identität wurde wählbar. Gemeinsame Aktivitäten wie die Organisation von Bällen stabilisierten den Zusammenhalt. Heute haben sich die Ansprüche jedoch verändert: Die Vergemeinschaftungssehnsucht des postmodernistischen Existenzbastlers ist […] eine ziemlich spezielle: Sie besteht wesentlich darin, solche anderen zu finden, die mit seinen je aktuellen Neigungen und Interessen wenigstens zeitweilig hinlänglich kompatibel sind.15 Die angestrebten Gemeinschaften sollen möglichst temporär und freiwillig organisiert sein. Sie sollen nicht mit den sonst üblichen Bindungen

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einhergehen, sondern alle Mitglieder immer wieder „zur Teilnahme verführen“16. Auch unser Ball war so ein zeitlich begrenztes Format der Zusammenkunft – und um dabei zu sein, nahmen manche deutlich größere Strecken in Kauf, als es früher üblich (und möglich) war. Die Menschen leben heute in weitläufigeren Zusammenhängen. Ihre Suche nach Gemeinschaft lässt sie nicht nur auf die nächstgelegenen Dörfer blicken, sondern in die gesamte Region, auch über die Landkreisgrenzen hinaus. Für das Verständnis lokaler Vergemeinschaftungsdynamiken, das zeigt nicht nur unser Aufenthalt in Seefeld, ist eine intensive Beobachtung der Raumbeziehungen unerlässlich. Dabei reicht es nicht aus, die aktuellen Gegebenheiten unter die Lupe zu nehmen, denn vielfach erübrigen sich scheinbar offensichtliche Lösungen beim Blick in die Historie der lokalen Beziehungen von Mensch und Landschaft. Es ist erstaunlich, wie viel Zeit Veränderungsprozesse brauchen. Auf der Schwäbischen Alb gelten längst überwunden geglaubte konfessionelle Grenzen zwischen einzelnen Gebieten bis heute als Begründung für problematische Beziehungen zwischen manchen Dörfern. In der Wesermarsch erklärt man sich die unterschiedlichen Gemütslagen zwischen den Landstrichen durch die einstmals vom Weserdelta hervorgerufene Archipelsituation. Und überall in Deutschland sind bis heute die kulturellen und sozialen Folgen der kommunalen Gebietsreformen spürbar. Es ist dieser Überschuss an Wissen, der in unserer künstlerischen Praxis am Ende immer wieder unsere Entscheidungsprozesse beeinflusst, auch wenn die Dinge scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Man muss das Abschweifen zulassen, um später zum Kern der Sache vordringen zu können. Zum Beispiel muss man die Geschichte der Seefelder Mühle, das fehlende lokale Vertrauen in die Zugezogenen, den Alltag der industrialisierten Landwirtschaft und die alten Konflikte der Bio-Bewegung kennen, um zu verstehen, warum es klug ist, nicht den schönsten Ort auszuwählen, der sich für so einen Ball anbietet, sondern das etwas in die Jahre gekommene, aber mit viel Energie instandgehaltene Dorfgemeinschaftshaus. Man muss wissen, dass das Dorfgemeinschaftshaus nur der Rest eines stolzen Hotels ist, in dem man sich früher nach dem Training traf und Ideen fürs Dorf spann. Man muss nachfragen, wie es dazu kam, dass die Gaststätten verschwanden, und lernt, dass ihr Verschwinden mit dem Bau des Atomkraftwerks zusammenfiel 17, weil dadurch in den 1970er Jahren so viel Geld in die Gemeinde floss, dass alle Vereine neue Vereinsheime bauen konnten, die besser ausgestattet waren als die Gaststätten und wesentlich günstigere Preise boten. Man muss aufmerken, wenn manche damit das heutige Nebeneinander der einzelnen Vereine begründen, das sich also

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Syndikat Gefährliche Liebschaften, Seefelder Mühle, Stadland: Winterball. Foto: Nele Tast

letztlich aus fehlenden Kontaktpunkten ergibt, weil alle in ihren Vereinsheimen sitzen. Man muss all das aufsaugen, weil man als Letzte*r in ein soziales Feld eingetreten ist – ein Außenseiter*innenstatus, den man für Interventionen nutzen kann, aber nur, wenn man die Traditionslinien kennt. Das Nebeneinander aushalten Irgendwann, da ist der Winterball schon ein paar Stunden in voller Fahrt, steht ein Musiker der Band Evelyn Kryger, die wir statt der üblichen Top-40-Bands aus der Region gebucht haben, neben uns und sagt in einer Mischung aus Begeisterung und Panik: „Was geht hier eigentlich ab?“ Denn das ist es, was abgeht: Seine Band spielt Folkversionen bekannter Schlager. Der Moderator fährt den ganzen Abend auf einem elektrischen Hoverboard durch den Raum. In der Bar wird der Sekt nur gegen die Erfüllung von Task Performances ausgegeben. Der Fanfarenzug spielt in krasser Lautstärke den Soundtrack zu wiederentdeckten Filmen, die die Landjugend in den 1950er und 1970er Jahren über Seefeld drehte. Folkloretänze werden zu Britney Spears und Michael Jackson getanzt. Der Chor singt den Schneewalzer. Die Theatergruppe simuliert eine Schlägerei. Eine Tombola löst Ekstase aus. Die Freiwillige Feuerwehr simuliert eine Fettexplosion. Rapper aus Bremen treten auf. Und früh am Morgen gibt es Spiegeleier für alle, die bis zum Ende durchgehalten haben. Den ganzen Abend über schien der Winterball immer kurz davor, gründlich schiefzugehen, weil so viele Ebenen so

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unkommentiert und unvermittelt aufeinander prasselten. Aber in Wahrheit zog er gerade daraus seine Energie. Unser Glück bestand darin, dass unser informelles Festkomitee irgendwann einen stillen Vertrag mit uns schloss: Lasst es uns ausprobieren, sagten sie sich und zogen ihre Leute mit. Und so erlebte die Gastrochefin der Mühle ihren ersten Ball, obwohl sie die Bälle an sich als Feministin zu Recht deutlich kritisiert. Die Zumbagruppe begegnete der Nervosität mit Vorglühen in der benachbarten Turnhalle, die Feuerwehr sperrte kurzfristig die Hauptstraße, ohne das anzumelden, und der Fanfarenzug harrte trotz großer Verzögerungen tapfer im Versteck aus, um die Überraschung nicht zu verderben. Der Seefelder Winterball war keine Inszenierung, die man in einem Regiebuch hätte aufschreiben können, vielmehr zeigte er sich als das Abbild der sozialen Beziehungen, die wir über die Residenzzeit aufgebaut hatten. Aus all den Unterschieden, die uns ausmachen, wurde an diesem Abend eine Vielheit, deren Widersprüche nicht aufgelöst sein mussten, um gemeinsam handeln zu können. Ein Ort für innovative Antworten auf globale Herausforderungen Wenn es denn eine Essenz des Winterballs geben könnte, lautet unsere so: Wir wurden nach Seefeld eingeladen und haben zugehört. Wir veranstalteten aus dem Erlebten einen Ball und luden dazu ein. Wir ließen uns auf unbekannte Gemeinschaften ein, lernten, welchen Regeln sie folgen, und spielten mit diesen. Denn das Gemeinsame überdauert gerade dann, wenn die Gemeinschaft darum herum immer wieder um neue Mitglieder erweitert wird. Um Mitglieder, die das Gemeinsame wertschätzen und mit Eigenem bereichern. Da, wo man durch einen neuen Blick anders auf sich selbst blicken kann, beginnt auch die Zukunft eines Dorfs sich neu zu entfalten. Als Künstler*innen begreifen wir es als unsere Aufgabe, an der Manipulation von Bildern zu arbeiten – an sichtbaren genauso wie gedanklichen Bildern. Der ländliche Raum existiert nicht, sehr wohl aber ein politisches Bild des ländlichen Raums, das durch visuelle Klischees vermittelt wird. Künstler*innen müssen die Distinktionsmechanismen im Verhältnis von Stadt und Land wahrnehmen und produktiv hinterfragen. Stadt und Land sind keine Gegensätze, sondern bilden Knotenpunkte in einem gemeinsamen System. Alle relevanten gesellschaftlichen Entwicklungen lassen sich deshalb auf dem Land genauso ablesen wie in den Städten. Es ist ein großes Versäumnis, dass das Land bislang zu selten als Ort für innovative Antworten auf unsere Herausforderungen begriffen wurde.

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Für diese Arbeit braucht es starke und erfahrene Partner*innen vor Ort, die weitertragen, was ein temporäres künstlerisches Projekt ausgelöst hat. Für uns ist nicht verständlich, warum ein so erfolgreicher Ort wie die Seefelder Mühle immer noch Jahr für Jahr um seine Weiterfinanzierung bangen muss. Eine zukunftsweisende Kulturpolitik für ländliche Räume kann dann gelingen, wenn sie sich von Sondertöpfen verabschiedet und in Personalstellen und Infrastruktur investiert, wenn sie Breitenkultur und Ehrenamt als ihre Handlungsfelder erkennt und sich für Verkehrsnetze und Breitbandausbau mit zuständig fühlt. Denn Kultur ist ein Haltefaktor – aber auch die Kulturschaffenden wollen gehalten werden.

1

Beetz, Stephan: Dörfer in Bewegung. Ein Jahrhundert sozialer Wandel und räumliche Mobilität in einer ostdeutschen ländlichen Region, Hamburg 2004, S. 151.

2

Ebd.

3

Ebd., S. 253.

4

Hedberg, Charlotta; Carmo, Renato Miguel do (Hrsg.): Translocal Ruralism. Mobility and Connectivity in European Rural Spaces, Dordrecht 2012, S. 5.

5

Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 2011, S. 728.

6

Thomas, Alexander R.; Lowe, Brian M.; Fulkerson, Gregory M.; Smith, Polly J.: Critical Rural Theory. Structure, Space, Culture, Lexington 2011, S. 64.

7

Ebd.

8

Ebd., S. 179.

9

Maak, Niklas: „Das Land“, in: Frankfurter Allgemeine Quarterly 8 2018, S. 88.

10

Thomas et al.: Critical Rural Theory, S. 51.

11

Ebd.

12

Hedberg; Carmo: Translocal ruralism, S. 2.

13

Krafeld, Franz Josef: Wir tanzen nicht nach eurer Pfeife. Zur Sozialgeschichte von Volkstanz und Volkstanzpflege in Deutschland, Bremen 1985, S. 50f.

14

Fliege, Thomas: Bauernfamilien zwischen Tradition und Moderne. Eine Ethnographie bäuerlicher Lebensstile, Frankfurt a. M. 1998, S. 372f.

15

Hitzler, Ronald; Pfadenhauer, Michaela: „Posttraditionale Vergemeinschaftung. Eine ‚Antwort‘ auf die allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung“, in: Hitzler et al. (Hrsg.): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen, Wiesbaden 2009, S. 376.

16

Ebd.

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Die sogenannte Provinz erschien als idealer Ort für die neue Atomtechnologie: Abseits der Ballungsräume schien die Bedrohungslage geringer. Zudem konnte man darauf setzen, dass es sich kleine Gemeinden aufgrund ihrer finanziellen Situation schwer leisten können, die Ansiedlung von Unternehmen abzulehnen.

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PUBLIKUMSPFLEGE IM WANDEL 1

Theatergemeinden in der Stadt, in der Provinz, am besten überall -

Wir Theatergemeinden müssen – außerhalb unserer noch vorhandenen Wirkungskreise – offenbar erst wieder neu verstanden werden. Schließlich sind Publikumsorganisationen ein seltsames Ding, sozusagen: Sie sitzen zwischen allen Stühlen, sie sind Vereine und doch Dienstleister, sie sind gemeinnützig und wirtschaften trotzdem (oder deswegen?) mit öffentlichem Gut. „Was für ein Theater machen Sie eigentlich?“ – das werde ich immer wieder mal gefragt. Von Kulturfreund*innen in München, die sich mit Kultur eigentlich auskennen sollten, und von Politiker*innen in Berlin, die eigentlich über wichtige Verbände und Vereine Bescheid wissen müssten. Die Frage geht von einer falschen Annahme aus. Denn, nein, Theater im eigentlichen Wortsinn machen die Theatergemeinden normalerweise nicht. Wir vermitteln Theater. Aber auch Musik, Film, Brauchtum, Kunst und noch viel mehr. Wir bringen die Kultur, so wie sie entsteht, gefördert wird, produziert wird, mit denjenigen zusammen, die sie erreichen will: mit dem Publikum. Wir helfen den Menschen, die gerne zur Kultur möchten, die sozusagen Publikum werden möchten, aber durch Schwellenangst, Sprachbarrieren, Geldmangel oder Lustlosigkeit davon abgehalten werden. Wir machen Lust auf Kultur, wir bieten Service, Informationen und Rabatte, wir geben Wissen weiter, wir vermitteln Inhalte – zu besonders günstigen Preisen. Und das machen wir im Rahmen des ehrenamtlichen, gemeinnützigen Vereins. Nicht ohne Stolz halten wir uns für ein Paradebeispiel der Kulturvermittlung: demokratischen Grundwerten und dem Gedanken der Volksbildung verpflichtet, uneigennützig, überparteilich und nachhaltig. Doch der Reihe nach: Was machen diese Theatergemeinden konkret? Die Antwort ist so einfach nicht. Theatergemeinden sind Kulturvereine, die theoretisch in jeder deutschen Stadt, aber natürlich auch auf dem Land entstehen können. Es braucht dafür lediglich einige kulturinteressierte Bürger*innen, die einen Verein gründen wollen, und Kultureinrichtungen, die zur Kooperation bereit sind. In der Vereinssatzung ist in aller Regel festgelegt, dass die Vereine die Volksbildung, insbesondere Erwachsenenbildung, fördern und befördern müssen, denn nur so dienen sie der Allgemeinheit. Dafür werden sie vom Staat begünstigt. Sie

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dürfen zu günstigeren Preisen als im allgemeinen Verkauf Tickets für Kulturveranstaltungen erwerben und verkaufen. Und das selbst dann, wenn diese aus dem Bereich der öffentlichen Kultur stammen, also von Bühnen und Orchestern, die mit Steuermitteln finanziert werden. Der Gewinn, den die Vereine dabei erzielen, muss dann wieder komplett im Sinne der Satzung, also für die Kultur- und Bildungsarbeit verwendet werden. Das ist es, was Theatergemeinden von kommerziellen Ticketverwertern und Rabattanbietern unterscheidet, die in großer Zahl vor allem in Internet entstanden sind: Den Theatergemeinden geht es um Inhalt und Kultur – nicht ums Geld. Theatergemeinden schreiben Kulturgeschichte Der Bund der Theatergemeinden ist die Dachorganisation dieser Vereine in Deutschland. Er wurde 1951 gegründet und vertritt heute 23 Theatergemeinden mit insgesamt rund 82 000 Mitgliedern, an die rund 1,1 Millionen Eintrittskarten pro Spielzeit abgegeben werden. Der frühere Präsident dieses Bundes, Dr. Rudolf Reuter, sagte bei der Gründung: „Der Mensch von heute braucht Gestalt im Chaos, klar erkennbare Male der Orientierung. Er braucht Muße, braucht zweckfreie Hingabe an Welt und Geist – braucht Literatur und Theater.“ So weihevoll sprach man damals! Aber wenn man genau hinschaut: Ist das nicht auch heute brandaktuell? Ist es nicht entscheidender denn je für die Zukunft der Demokratie, dass eine ausreichend große Zahl von Bürger*innen Orientierung und Halt findet durch Bildung und Kultur? Eine rhetorische Frage. Die Idee von Kulturgemeinden in Vereinsform ist um einiges älter als der nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergegründete Dachverband. Ursprünglich kommt der Gedanke aus der Bildungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Er entstammt der gleichen kulturhistorischen Wurzel, aus der z. B. Volkshochschulen und öffentliche Bibliotheken erwuchsen sowie überhaupt die öffentliche Kultur selbst. Also Theater und Orchester, die nicht mehr nur für Herrschende und einige Auserwählte zugänglich sind, sondern für alle! Das ganze Volk, alle sollten Kultur genießen und für sich nutzen können. Für einen Großteil der heutigen Bevölkerung ist es fast unvorstellbar, dass das Ende des vorvergangenen Jahrhunderts noch keinesfalls selbstverständlich war. Die Kultur und das breite Publikum mussten erst zusammenkommen dürfen. Und die Theatergemeinden gingen in diesem allgemeinen Demokratisierungsprozess noch einen Schritt weiter: Sie wollten, dass dem Volk nicht nur die Teilnahme an der Kultur erlaubt wird, sondern dass ihm Kultur gezielt und aktiv nähergebracht wird, damit Geist, Liberalität und Demokratie wachsen und gedeihen.

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Ich erinnere noch einmal daran, dass der Oberbegriff für Theatergemeinde „Publikumsorganisation“ lautet. Somit gibt es noch weitere, ähnliche Vereine, die aber andere Namen tragen. Dabei sind insbesondere zu nennen die „Volksbühnen“ mit ihrer Dachorganisation Bund Deutscher Volksbühnen. So wurde 1890 in Berlin die erste Freie Volksbühne gegründet, um vor allem Arbeiter*innen Theaterbesuche zu ermöglichen. Als Vorläufer gilt die Freie Bühne in Berlin von 1889, gegründet von Autoren und Theaterkritikern. Sogar im Münchner Umfeld des Schriftstellers Thomas Mann findet sich im Jahr 1907 ein Hinweis, dass die Männer „in der Theater-Verein-Sitzung“ seien. Man kann nur vermuten, dass es sich hierbei um eine frühe Art von Publikumsorganisation handelt, schließlich war Thomas Mann später, in den 1920er Jahren, Ehrenmitglied der Volksbühne München. Aber aus diesen Zeiten erklärt sich auch ein Unterschied, der zwischen Theatergemeinden und Volksbühnen bis weit in die Nachkriegszeit hinein wichtig war, der heute aber bei den meisten Vereinen für ihre Arbeit keine Rolle mehr spielt: die konfessionelle oder politische Überzeugung. Theatergemeinden waren die kulturelle Heimat für christliches, zumeist katholisch geprägtes Bürgertum, die Volksbühnen für sozialdemokratisch oder sozialistisch orientierte Arbeiterschaft. Diese unterschiedlichen Prägungen kann man heute noch an der Verteilung der Vereine auf der Deutschlandkarte ablesen: Im katholischen Süden und entlang der Rheinschiene im Westen dominieren eher die Theatergemeinden, im Rest eher die Volksbühnen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Publikumsorganisationen aufgelöst bzw. gleichgeschaltet – Vereine für Bildung und Kultur waren den Nazis ein Dorn im Auge. Nach dem Krieg begann für die wiedergegründeten Vereine und Verbände eine goldene Zeit: Die Menschen waren hungrig nach Kultur – die Vereine übernahmen große Teile des Ticketgeschäfts und wuchsen teilweise zu regelrechten Massenorganisationen heran. Die Münchner Theatergemeinde beispielsweise organisierte das Kulturleben von bis zu 60 000 Menschen, zeitweilig wurde sogar ein Aufnahmestopp verhängt, weil man nicht mehr genug Tickets hatte, um die Nachfrage zu befriedigen. Besonders große Theatergemeinden entstanden außerdem in den Metropolregionen Berlin und Köln-Bonn, später auch in Hamburg. Aber auch mittelgroße und kleine in der sprichwörtlichen, gefühlten oder auch nur behaupteten „Provinz“, von Trier bis Ingolstadt und von Dinkelsbühl bis Münster. Dieser Blick auf die Geschichte macht deutlich: Es gibt so viele Auffassungen, was eine Theatergemeinde ist oder zu sein hat, wie es Theatergemeinden gibt: Jede ist an ihrem Ort individuell und im Rahmen der

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Publikumspflege im Wandel

Theatergemeinde München (Theater und Inklusion). Foto: Martin Jost

jeweiligen Möglichkeiten gewachsen und gereift, jeweils angepasst an die Kulturlandschaft in ihrem Umfeld. Und die ist im Ruhrgebiet schon auf den ersten Blick gänzlich anders als in Ludwigshafen und dort wieder anders als in Berlin oder in Cottbus. Theatergemeinden organisieren sich deshalb niemals nach einem vorgegebenen Standardmodell, sondern spiegeln immer auch ihre Stadt und deren Kulturgeschichte wider. Kulturelle Bildung und umfangreicher Service Heute ist durch das Internet auch für die Theatergemeinden die Welt eine andere geworden. Niemand braucht mehr einen Verein, nur um eine Eintrittskarte zu erwerben. Die Spielstätten unterhalten eigene Apparate zum Ticketverkauf, so gut wie alles ist online buchbar. Hier müssen die Theatergemeinden natürlich mithalten. Zusätzlich konzentrieren sich die Vereine – neben dem natürlich auch weiterhin wichtigen Rabatt beim Eintrittspreis – wieder verstärkt auf ihren ursprünglichen Zweck: Bildung, Vermittlung von Kulturinhalten sowie ein besonders umfangreicher Service. Was heißt das in der Praxis? Dass man dem Publikum besondere Angebote macht, die – meistens – nur im gemeinnützigen Kontext erstellt werden können. Das können übergreifende Jahres- und Monatsvorschauen sein, die Kuration von Abo-Reihen, Kulturaufrufen, Werkeinführungen und Diskussionsveranstaltungen, persönliche Beratung, die Förderung von integrativen Projekten und Initiativen und vieles mehr. Ein paar Beispiele: Die Theatergemeinde Bonn organisiert Theaterfahrten für kleinere Umlandgemeinden zu den

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Bühnen der Stadt, in anderen Städten gibt es Hilfe für Senior*innen oder sogar Single-Treffs und Angebote zum Erleben von Kultur in Gemeinschaft. Die Theatergemeinde metropole ruhr bietet Kinderbetreuung während der Vorstellungen an, die Theatergemeinden Berlin und Köln verleihen Preise für Künstler*innen, die Theatergemeinde Hamburg bietet exklusiven Zugang zur Elbphilharmonie, die Theatergemeinde Ingolstadt kämpft öffentlich für die Sanierung „ihres“ Stadttheaters, die Theatergemeinde München lud zur Kulturdebatte mit den Kandidat*innen für das Oberbürgermeister*innenamt im Kommunalwahlkampf. So werden Theatergemeinden wieder wahrgenommen und profilieren sich als moderne Plattformen für Kulturleben und -diskurs. Bei der Frage, an welche Altersgruppe man sich richten will, gibt es unterschiedliche Antworten. In aller Regel sind Erwachsene im Alter von mehr als dreißig Jahren die Hauptzielgruppe der Theatergemeinden. Das hat auch damit zu tun, dass Jugendliche und Studierende in vielen Städten mittlerweile so sehr preisgünstig in die Veranstaltungen kommen können, dass die Theatergemeinden mit ihren Rabatten nicht mithalten können. Gleichwohl gibt es vielerorts Jugendgruppen (Bonn), Schultheaterwochen und Schultheaterfestivals (Mönchengladbach) oder spezielle Familien-Abos (Hamburg, München). Denn Nachwuchspflege ist immer sinnvoll – sie richtet sich nach den örtlichen Möglichkeiten. So kann man seit einigen Jahren einen regelrechten neuen Aufbruch bei den Theatergemeinden beobachten, die sich den Herausforderungen der neuen Zeit stellen. Sie haben erkannt, dass man sich offensiv darstellen muss, um sich in der Fülle der Angebote des Kulturlebens und seiner Vermarktung behaupten zu können. So wie in Deutschland das Ehrenamt seit einigen Jahren wieder positiv neu bewertet wird, so wird auch der kulturellen die notwendige Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Theatergemeinden beweisen sich auch mehr denn je als gemeinnützige, am Inhalt und nicht am Gewinn orientierte Kulturinstitutionen und finden damit neues Interesse. Das hat auch der aus 29 Bundeskulturverbänden bestehende Rat für darstellende Kunst und Tanz im Deutschen Kulturrat erkannt, der Ende 2016 eine Resolution zur Stärkung von Publikumsorganisationen in der deutschen Kulturlandschaft auf den Weg brachte. In dieser heißt es u. a.: Sie sind dem Gemeinwohl verpflichtet und vermitteln zwischen Kulturinstitutionen und Publikum. Sie bieten zahlreiche Zusatz- und Begleitangebote an, um einerseits für die Bühnen Publikum heranzubilden und zu verstetigen, und um andererseits für die Nutzer von kulturellen Angeboten Service und Komfort zu steigern.

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Publikumspflege im Wandel

Der Rat kommt zu dem Ergebnis: Publikumsorganisationen fördern somit die Kultur und erfüllen einen kulturellen Bildungsauftrag. Ihre Rolle ist umso wichtiger, je mehr kulturelle Einrichtungen und Anbieter Sparzwängen und Verwertungsdiktaten unterworfen sind. Auf diese Weise erneuern die Theatergemeinden Stück für Stück die Begründung für ihre Existenz. Und erreichen wieder eine noch stärkere Rolle im Blickfeld des Publikums. Denn die Frage „Warum gibt es uns eigentlich und was ist unsere wirkliche Aufgabe?“ muss sich heute alle Akteur*innen in der Kultur, aber auch in der kulturellen Bildung stellen. Die Theatergemeinden haben auf diese Fragen neue Antworten. Sie sind: ein traditionsreiches Modell mit neuem Leben. Dabei spielen die Publikumsorganisationen in der deutschen Theaterlandschaft weiterhin die eingangs erwähnte Sonderrolle: Sie sind kultureller Akteur und kultureller Rezipient zugleich bzw. sie sind Bestandteil beider Sphären. Sie entsprechen in fast idealer Weise der Forderung nach künstlerischer Vielfalt und haben kulturelle Teilhabe nicht nur im Programm, sondern in rechtlich verbindlicher Weise als Auftrag in ihren Satzungen stehen. Und sie können auch jetzt, nachdem vor ca. 25 Jahren ein bis heute nicht endgültig gestoppter Schrumpfungsprozess einsetzte, überall dort neu etabliert werden, wo man sie haben möchte und so ausstattet, dass sie wirtschaftlich arbeiten können und Engagement sich entfalten kann. Ein guter Begleiter im Kulturleben Publikumsorganisationen bleiben zugegebenermaßen überwiegend ein Thema für die Städte mit ihren Stadttheatern – aber eben nicht nur! Sie wirken auch in der Provinz, in den ländlichen Raum hinein. Entweder unmittelbar am Ort der Kultur oder um den Austausch zwischen den regionalen Sphären herzustellen. Um zwei weitere Beispiele für letzteres zu nennen: Von Münster aus bringt die örtliche Theatergemeinde Publikum nicht nur ins Theater, sondern auch nach Essen und Gelsenkirchen, mit organisierten Touren und entsprechender Begleitung. Die TheaterGemeinde Hamburg plant aktuell, für ihre Mitglieder den Beitrag für den öffentlichen Nahverkehr für jede einzelne Kulturkarte zu übernehmen – das soll auch sozial Benachteiligten helfen, einen Schritt Richtung Kultur zu machen. In München unterhält die Theatergemeinde neben der Geschäftsstelle in der Innenstadt mehr als vierzig ehrenamtliche Außenstellen von Burghausen bis Weilheim und von Landshut bis

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Theatergemeinde München (Tagesfahrt nach Regensburg). Foto: TheaGe München

Tegernsee, um „die Provinz“ auf diese Weise buchstäblich in die Stadt zu holen. Das Beispiel der Münchner Außenstellen zeigt allerdings auch, wie sich Aufgaben und Funktionen wandeln, mit durchaus bedenklichen Folgen für die Zukunft der in Jahrzehnten gewachsenen Netzwerke: In den Nachkriegsjahren stellten die Außenstellen für die Umlandbewohner*innen ein fast alternativloses Angebot dar, um überhaupt Teilhabe an Kultur zu erlangen. Individuelle Mobilität war noch nicht selbstverständlich und das kulturelle Angebot auf dem Land dünn bis nicht vorhanden. Heute gibt es kaum noch ein wirkliches Transportproblem vom Land in die Stadt und zurück und die Umlandgemeinden haben zudem mit eigenen Stadthallen und Kulturzentren Angebote aufgebaut, die einem Teil des Publikums den Weg in die Stadt überflüssig erscheinen lassen. Ob sich ein solches System wie das der Münchner Außenstellen auch in den nächsten Jahren noch trägt und rentiert? Das Fragezeichen wird noch länger stehen bleiben. Aber warum sollte man nicht auch hier ergebnisoffen ausprobieren, was vom künftigen Publikum tatsächlich weiterhin gewünscht oder benötigt wird? Die Theatergemeinden machen Angebote – die Nutzer*innen auf allen Seiten müssen einfach nur zugreifen. „Bedroht“ werden die Publikumsorganisationen insbesondere von zwei Seiten. Da ist zum einen das Vergessenwerden. Wenn es nicht gelingen sollte, ins Bewusstsein des breiten Publikums die Botschaft

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zurückzubringen, dass der gemeinnützige Verein ein guter, treuer, lustmachender Begleiter im Kulturleben sein kann, dann wird es eng. Dann werden die Vereine mit ihren noch vorhandenen Mitgliedern langsam aussterben. Und da ist zum anderen die aktive Bedrohung durch kommerzielle Akteure, die im Ticketmarkt nur einen Markt und keinen Teil des Kulturguts sehen. Schon heute ist festzustellen, dass viele Marketingabteilungen und Verwaltungen von Kultureinrichtungen die Publikumsorganisationen in einen Topf mit Reiseveranstaltern, Touristikunternehmen oder Rabatt-Resterampen aus dem Internet werfen. In einigen Städten wie Berlin versuchen sogar Unternehmen, sich wie eine Theatergemeinde aussehen zu lassen und dabei aber ohne Gemeinnützigkeit nur in die eigene Tasche zu wirtschaften – zum Schaden der vorhandenen Vereine. Ein Netz von großen, kommerziellen Ticketverwertern – oft gar noch hofiert und gefördert von den Kommunen – spannt sich mittlerweile über das ganze Land. Sie sehen Theatergemeinden und Volksbühnen nur noch als lästige Konkurrenz, deren noch vorhandene Marktanteile sie sich gerne einverleiben würden – und entsprechend aggressiv arbeiten sie in diese Richtung. Viele Kommunen und Verwaltungen werfen sich ohne Not den Kommerzunternehmen an den Hals, weil sie vielleicht tatsächlich keine Alternative sehen – oder weil sie schlicht nicht mehr wissen, dass auch dieser Teil der Arbeit für die Kultur sich am Gemeinwohl orientieren könnte! Auch wegen dieser drängenden Themen beabsichtigen die Theatergemeinden und die Volksbühnen, sich auf der Ebene der Dachverbände wieder enger zusammenzuschließen. Denn interne Konkurrenz hilft niemandem und die Ziele Volksbildung und Kulturförderung haben wir schon immer gemeinsam. Theatergemeinden brauchen einigermaßen feste Strukturen, um arbeiten zu können. Diese sind nicht immer, aber meist auch im Kontext von Landes- oder Gastspieltheatern vorhanden. Diese Bühnen, die im ländlichen Raum meist einen guten Teil der kulturellen Grundversorgung übernehmen, werden nur selten von Publikumsorganisationen begleitet – weil es diese dort nicht mehr gibt oder sie sich dort noch nie etablieren konnten. Was spricht dagegen, dass man an diesen Zuständen etwas ändert, z. B. ganz direkt durch Anstöße von den Theatermacher*innen selbst? Findet sich nicht in jedem Stammpublikum jemand, der schon mal überlegt hat, ein ehrenamtliches Engagement zu beginnen, dabei aber nur noch nicht wusste, dass es so etwas wie Theatergemeinden überhaupt gibt? Warum nicht konkret einen Aufruf neben das Gastspielplakat hängen „Wer hilft uns bei der Gründung eines Vereins für unser Theater“? Warum nicht Gemeinderäte oder

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Kulturdezernenten ansprechen, ob nicht eine kleine Publikumsorganisation auf Vereinsbasis gegründet werden könnte? Es wären sinnvolle Vorstöße in Richtung von mehr Vielfalt und Teilhabe, da bin ich mir ganz sicher.

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Dieser Text basiert in Teilen auf einer Einführung zum Thema Theatergemeinden bei der Memminger Tagung im April 2018 sowie auf einem Beitrag zum Dossier „Kulturelle Erwachsenenbildung“ des Deutschen Kulturrats, der im Juli 2018 online veröffentlicht wurde. Grill, Michael: Theatergemeinden. Ein traditionsreiches Modell mit ganz neuem Leben. www.kulturrat.de/themen/kulturelle-bildung/kulturelle-erwachsenenbildung/ theatergemeinden (Zugriff am 28. November 2018).


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STADT LAND TANZ Das Tanzland durchstreift die Provinz -

Der Fonds Tanzland, gestartet 2017, initiiert von der Kulturstiftung des Bundes, getragen durch den Dachverband Tanz Deutschland, fördert Kooperationen zwischen Tanzensembles und Gastspielbühnen in kleinen und mittleren Städten. Vor allem in Städten und Gemeinden, in denen zeitgenössischer Tanz bisher wenig oder gar nicht angeboten wird, sollen die Gastspielhäuser der INTHEGA (Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen e. V.) ermutigt werden, neue Erfahrungen in der Programmplanung, Vermittlung und Durchführung von Gastspielen zeitgenössischer Tanzensembles zu machen. Soweit die Fördergrundsätze des Programms: Der Tanz verlässt die Metropolen und geht ins Land. Wo ist das Land? „Die Zukunft der Welt wird auf dem Land entschieden.“ (2017) „Die Stadt ist alles was wir haben.“ (1987) Zwischen diesen zwei Zitaten von Rem Koolhaas liegen dreißig Jahre oder ein Jahrhundert, die Post-Moderne des 20. und der Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Ästhetische, räumliche und ökonomische Strategien konzentrierten sich in den vergangenen Jahrzehnten auf die urbanen Räume, auf Metropolen und Megacitys. Dieser Trend ändert sich momentan: Der ländliche Raum und die kleineren Städte rücken wieder in den Blick. Die Gründe sind vielfältig, in jedem Fall sind sie berechtigt, betrachtet man, wo die Menschen in Deutschland leben: Siebzig Prozent leben in Städten mit weniger als 100 000 Einwohnern, 15 Prozent in Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern und 27 Prozent in Gemeinden mit 5000 bis 20 000 Einwohnern. (Quelle: zeit.de) Die Mehrheit der Menschen in Deutschland leben nicht in Großstädten – und damit leben sie

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steptext dance project e. V. und Kulturverein Winsen: Out of joint. Foto: Marianne Menke

fern des kulturellen Angebotes. Glaubt man den Berichten, entfernen viele sich von Politik und gesellschaftlicher Teilhabe. Misstrauen wächst gegenüber dem urbanen Metropolen-Milieu, kulturelle Szenen bringen sich in Stellung. Ländliche Regionen werden immer schon als defizitär beschrieben. Sie sind und haben von allem weniger: weniger Kultur, weniger Kunst, weniger Geld, weniger Menschen, weniger Schulen, weniger Ärzt*innen. Landflucht, „Shrinking cities“ – das sind die Stichworte, wenn über diese Regionen gesprochen wird. Auf dem Land und in den Kleinstädten leben die, die es nicht in die Stadt geschafft haben. An denen das Leben vorbeigezogen scheint. „Exterritorial zur Bildung“ stehe der, dem die „Emanzipation von der Provinz“ missglücke, so schrieb Theodor W. Adorno in den 1960er Jahren. Und heute? Wird in der Provinz die AfD gewählt und in der Großstadt Diversität gelebt? Was wissen wir überhaupt von dem Land jenseits der großen Städte? Wir wissen wenig darüber, was „das Land“ eigentlich ist, denn die Kulisse romantischer Bauernhäuser und Dörfer entspricht schon lange nicht mehr jenem verdichteten Gebiet, das sich den herkömmlichen Dichotomien von Stadt und Land gründlich entzieht. Laut Koolhaas entstehen zurzeit die größten Gebäude nicht in den Metropolen, sondern auf dem Land und sie werden nicht für Menschen, sondern für Roboter und Maschinen gebaut. Doch was wissen wir über die Menschen in kleinen Städten und Dörfern? Über ihre Interessen und Vorlieben? Gehen sie ins Theater, ins Kino oder nirgendwohin? Mögen sie

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Volkstanz oder Hiphop oder am liebsten ihre Ruhe? Sind sie wirklich so anders als urbane Metropolenbewohner*innen? Die, die es wissen, sind die Leiter*innen der sogenannten Bespieltheater, die in der INTHEGA organisiert sind. Fast 400 dieser Gastspielbühnen gibt es in ganz Deutschland. Sie werden geleitet von Intendant*innen oder Kulturamtsleiter*innen, verfügen über 100 oder 800 Sitzplätze, sie sind gut ausgestattete große Bühnen und Theater oder aber sie bieten Programm in Stadthallen, Schulaulen, Schlossgärten und Gemeindesälen. In jedem Fall sind sie diejenigen, die Menschen in mittleren Städten und kleinen Gemeinden mit Kultur versorgen. Auf ihren Bühnen spielen Tourneetheater, Comedians, lokale Vereine und internationale Ensembles. Hier treffen globale Trends und Ästhetiken auf regionale Akteur*innen, Traditionen auf Experimente: Zeitgenössische Kunst wechselt sich ab mit Folklore, Volkstanz und Feierlichkeiten. Ein Mix, wie er diverser und vielschichtiger kaum sein könnte. Tanzland in Waldkraiburg Waldkraiburg ist eine kleine Stadt, 23 000 Einwohner*innen im südlichen Oberbayern, eine „Vertriebenenstadt“, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Eine Stadt, in der es einen Tanzsportverein, die Bespielbühne „Haus der Kultur“ und das Museum gibt, das die Gründungsgeschichte der Stadt ebenso stolz erzählt, wie es auf seinen berühmtesten Bürger, Peter Maffay, verweist. Eine Stadt, eine Stunde vor München gelegen, in der sich niemand daran stört, nennt man sie Provinz. Im Oktober 2017 startete das Ballett Pforzheim unter der Leitung von Ballettdirektor Guido Markowitz die ersten Tanzland-Veranstaltungen und Workshops in Waldkraiburg. Für die Aufführung des Requiems von Mozart plante er einen Waldkraiburger Chor und ein Orchester einzuladen, die Vorstellungen mit seinem Ensemble auf die Bühne bringen. Doch es gab keinen Chor und kein Orchester in der Stadt – wohl aber musikalische und engagierte Bürger*innen, die die Gelegenheit nutzten, beides zu gründen. Von April bis Juli probten sie regelmäßig und im Juli 2018 brachten ein Waldkraiburger Orchester und Chor das Requiem von Mozart gemeinsam mit dem Ballett Pforzheim auf die Bühne. 500 Zuschauer*innen gaben standing ovations – sie applaudiertem dem Ensemble, aber vor allem sich und ihrer Stadt. Niemals hätten sie das gedacht, aber – so sagten sie – Waldkraiburg ist doch eine Kulturstadt. Eine Tanzstadt. „Das Schönste, das ich je erlebt habe“, sagt eine Choristin. „Dass wir das geschafft haben!“

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Tanzland in Hamm „Das schaffen wir nie“, meinten die meisten Leiter*innen der INTHEGA-Bühnen, als ihnen im März 2017 das Programm Tanzland vorgestellt wurde. Mit dem Fonds werden die Verbindung zwischen einer INTHEGA-Bühne und einem Tanzensemble für mindestens zwei Spielzeiten gefördert, erwartet werden in diesem Zeitraum mehrere Gastspiele und Vermittlungsangebote vor Ort, „so dass Produktionen des zeitgenössischen Tanzes Teil des Kulturangebots in der Kommune werden“ und sich ein „anhaltendes Publikumsinteresse“ entwickeln kann. Langfristige und nachhaltige Kooperationen zwischen einer Bühne und einem Ensemble sind das Ziel und so war Partnervermittlung angesagt, als Tanzland die Akteur*innen zur ersten Gastspielwerkstatt nach Hamm einlud. Doch die Partner blieben skeptisch – denn wie lässt sich eine lang eingespielte Gastspielpraxis ändern? Und warum? Wie können die Programmmacher*innen der INTHEGA-Bühnen ihre langfristigen Planungen kurzfristig auf die Anforderungen des neuen Förderprogramms umstellen? Die Eingriffe in die Disposition und in die Programmierung der Bühnen sind größer als erwartet. Und trotz der Förderung, die pro Projekt bis zu 120 000 Euro betragen kann, gibt es finanzielle Hürden. Der geförderte Eigenanteil von zwanzig Prozent verlangt von den Häusern viel, noch mehr jedoch die Tatsache, dass die Bühnen die potenziellen Einnahmen von der beantragten Fördersumme abziehen müssen: gefördert wird, was fehlt, Einnahmen an der Kasse müssen ins Projekt fließen und für die Kosten der Gastspielkooperation eingesetzt werden. Diese Bedingung rührt an das Selbstverständnis der Bespielbühnen, denn sie verstehen sich ebenso als kulturelle Leuchttürme der Regionen wie auch als kommerziell erfolgreiche Betriebe, die den Geschmack des Publikums treffen und damit den gastierenden Künstler*innen volle Häuser bieten. Die schwarzen Zahlen durch Ticketeinnahmen sind wesentliche Pfeiler ihrer Budgets und Planungen, auf die sie nur schwer verzichten können. Warum also sollen sie sich auf Tanzland einlassen? Auf den ersten Blick werden Einschränkungen sichtbar und ihre Planungen nicht einfacher. Können sie ihre Bürgermeister*innen und Stadträt*innen von dem Projekt überhaupt überzeugen? Was bringt ihnen das Programm? Doch nicht nur auf Seiten der Bühnen gibt es Bedenken, auch Ensembles stoßen an ihre Grenzen. Die sechzig festen Ensembles an Stadt- und Staatstheatern sind eingebunden in eng getaktete Spielpläne, oft gedrängt zwischen Musical und Weihnachtsmärchen. Zu wenig eigene Spielräume und fehlende Mitsprache beklagen viele Ballettdirek-

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tor*innen, der Tanz an den Bühnen ist zu wenig sichtbar und zu wenig als eigenständige künstlerische Sparte erkennbar. Wenn sie eine langfristige Gastspielkooperation eingehen möchten, müssen sie sich mit Intendant*innen und Betriebsbüro einigen, die die Abstecher nur dann begrüßen, wenn sie neben dem Aufwand und den vielen Extra-Arbeitsstunden Einnahmen ins Haus bringen. Einnahmen, die jedes Stadt- und Staatstheater in immer höheren Umfang nachweisen muss. Tanzland, ein Programm, das Ensembles und Bespielbühnen Gastspiele erleichtern will und finanzielle Förderung verspricht, stößt an die Grenzen der Betriebe. Betriebe, die durch die Einsparungen der letzten Jahrzehnte im technischen und administrativen Bereich so geschrumpft wurden, dass zusätzliche Gastspiele mit den vorhandenen Belegschaften kaum zu leisten sind. Betriebe, die aufgerieben werden durch kommunale Strukturen, die ihre Stadttheater und Bespielbühnen einerseits fördern, aber andererseits durch strikte Vorgaben wie Auslastungszahlen und Kartenerlöse ihnen die künstlerischen und programmatischen Spielräume absprechen, zu denen eine Förderung durch die öffentliche Hand sie verpflichtet. Der Spielraum ist eng – so begrenzt wie die Bühne in Hamm, auf der zur Eröffnung der Gastspielwerkstatt das Publikum Platz nimmt und 13 feste und freie Ensembles in jeweils drei Minuten Ausschnitte ihrer Arbeiten zeigen. Die Tänzer*innen bewegen sich zwischen den Zuschauer*innen und es gelingt ihnen, mit diesen kurzen Showcases Nähe und Intensität herzustellen. Nähe, die Partnerschaften stiftet, Begegnung und Austausch zwischen Bühnen und Ensembles ermöglicht. Die eigenständigen choreografischen Handschriften der Ensembles überzeugen in ihrer Vielfalt und Qualität. Nun müssen gemeinsam Grenzen überwunden werden um den Tanz ins Land zu bringen. In der ersten Antragsrunde wurden zwölf Projekte bewilligt, in der zweiten Runde acht weitere. Tanzland in Arnsberg Ein großes Interesse für den Tanz lässt sich im Hochsauerlandkreis feststellen – zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Landes NordrheinWestfalen. Hier findet Tanz nahezu ausschließlich in Sportvereinen und Volkstanzgruppen statt, die damit zwar wichtige Zugänge zum Tanz bieten und wesentlich sind für die Tanzszene, doch zeitgenössischer Tanz ist in der Region kaum zu sehen. Mit der sicheren Überzeugung, dass die Menschen in Arnsberg Lust haben auf zeitgenössischen Tanz, und mit der eigenen Überzeugung, dass Kulturarbeit auch Risiken eingehen muss, hat Kerstin Minkel, Kulturamtsleiterin in Arnsberg, ihr Tanz-

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land-Projekt gestartet. Sie hat sich für das Kölner Michael Douglas Kollektiv entscheiden, eine freie Gruppe, die mit wechselnden Choreograf*innen Versuchsanordnungen zu Körper und Raum entwickelt. Im Antrag haben sie einen Plan vorgestellt, der mehrere Gastspiele und Workshops in Arnsberg vorsieht, doch ein Wasserschaden im Theater Arnsberg macht die Bühne unbespielbar. Und die Gastspiele müssen verschoben werden und das Michael Douglas Kollektiv startet in der Turnhalle einer Schule mit einem eigenwilligen Format, das sie mit Dana Caspersen entwickelt haben: The Exchange. Es ist Choreografie, Gespräch, Partizipation und Vorstellung in einem: Niemand ist Zuschauer*in, alle beteiligen sich. Viel verlangt von den Arnsberger*innen, die zum ersten Mal das Kollektiv treffen. Doch kein Problem: Alle sind dabei. Bereit und neugierig. Die Zuschauer*innen werden in vier Gruppen aufgeteilt, jede Gruppe wird in eine Ecke des Raumes positioniert und die Performer*innen geben ihnen Aufgaben. Dabei werden weitere Paare gebildet, die ein bestimmtes Thema besprechen und dabei diagonal den Raum durchqueren. Gleichzeitig versammelt sich eine andere Gruppe jeweils zu viert im Kreis in der Mitte des Raums und zeigt durch vorgegebene Gesten ihre Interpretation zu projizierten Thesen. Eine weitere Gruppe lauscht per Kopfhörer einer Geschichte. Die Gruppen wechseln auf ein Zeichen. 25 Personen aus Arnsberg beteiligen sich an The Exchange: Schülerinnen und Rentnerinnen, ein junger Mann aus Syrien, Lehrer und Studierende. Ein diverses Publikum: divers in Alter, Herkunft und Biografie. Gemeinsam lassen sie sich auf das Experiment ein und setzen sich in großer Ruhe und Konzentration mit Fragen zu Krieg und Gewalt, Angst und Körper auseinander. Spannend finden sie es, sagen sie nachher. Viel Neues haben sie erlebt. Die Rentnerin hat ihre Erinnerungen an den Krieg in Deutschland mit den Erlebnissen des jungen Mannes aus Syrien geteilt. Eine besondere Erfahrung. Eine Erfahrung, die Grenzen erweitert: Grenzen für das Publikum, das es plötzlich gar nicht mehr gibt, weil niemand zuschaut, sondern alle Akteur*innen des choreografischen Moments sind. Grenzen zwischen Produktion und Vermittlung, die miteinander verschmelzen, weil interkulturelle Reflexion und physisches Erleben sich gleichzeitig entwickeln. Aber auch Grenzen zwischen Stadt und Land, denn die Menschen in Arnsberg beteiligen sich so offen und neugierig an dieser Arbeit wie die Menschen in Köln. Geld verdienen kann mit diesem Gastspielformat niemand, aber mit den Menschen in Arnsberg diese Erfahrungen zu teilen, das lohnt sich allemal.

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Tanzland – Fonds für Gastspielkooperationen. Foto: Eva Radünzel-Kitamura

Tanzland in Bremerhaven Langfristige Arbeit für den Tanz lohnt sich, sagt auch Dorothee Starke, Kulturamtsleiterin in Bremerhaven. Ihre Tanzland-Kooperation mit der cie. toula limnaios aus Berlin kann auf ein starkes lokales Netzwerk zurückgreifen. Seit 18 Jahren schon leitet Claudia Hanfgarn tapst – das tanzpädagogische Projekt SchulTanz in Bremerhaven und leistet mit ihren regelmäßigen Workshops und Schulkooperationen wesentliche Arbeit für den Tanz. Tanz, das ist wie eine süße Erdbeere, das macht einfach Freude – darüber sind sich die Teilnehmer*innen in ihrem Tanzprojekt alle einig, egal, ob sie zehn Jahre alt sind oder 76. Die Tänzer*innen des generationsübergreifenden Stücks unter ihrer Leitung teilen sich an diesem Abend die Bühne im Fischereihafen mit dem Ensemble cie. toula limnaios, das in einer öffentliche Probe Einblicke gibt in ihr Gastspiel tempus fugit am nächsten Tag. Begeistert gefeiert werden beide Ensembles, die Profis aus Berlin wie auch das Projekt der Bürger*innen aus Bremerhaven. Hier verbinden sich lokale Strukturen mit den Gästen aus der Hauptstadt: Beide profitieren von den Synergien und der Förderung. Die Choreografin Toula Limnaios betont, wie wichtig für ihre international tourende Compagnie mit eigener Spielstätte in Berlin die regelmäßigen Gastspiele in Bremerhaven sind. Hier findet die Gruppe ein offenes, neugieriges Publikum und kann ihre Repertoireproduktionen regelmäßig zeigen. Eine Besonderheit in der freien Szene, denn das

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Repertoire der Gruppen kann viel zu selten gespielt werden, oftmals erleben die Stücke nicht mehr als fünf bis acht Vorstellungen. Gefördert werden die Produktionen und Premieren in den Produktionshäusern der freien Szene, doch Vorstellungen danach sind selten. Um nicht ständig neue Projekte zur Premiere bringen zu müssen, ist es wichtig für die Gruppen, Spielorte und Publikum für das Repertoire auch außerhalb der Tanzmetropolen zu finden. In Bremerhaven gibt es ein Publikum für den Tanz, weil lokale Akteur*innen nachhaltig arbeiten können und durch das Kulturamt der Stadt unterstützt werden. Zusammen mit der internationalen Compagnie entwickeln sie ein Angebot, das den Tanzhorizont erweitert, sich aber an lokalen Netzwerken und Bedürfnissen orientiert. Diese Verbindung zwischen globaler, internationaler Ästhetik sowie lokalen Netzwerken und Vereinen ist ein besonderes Kennzeichen der Tanzland-Projekte. Nicht nur in Bremerhaven, auch in Fürstenfeldbruck und in Düren, Hameln und Wolfsburg bilden lokale Partner die zentrale Basis für die Ensembles und ihre Projekte. In Fürstenfeldbruck führt die Partnerschaft mit tanzmainz zu einer Belebung des lokalen Tanzfestivals und bezieht Tanzschulen und Initiativen mit ein. Die Compagnie Irene K. zeigt in Düren Tanz auf den Pflastersteinen, in Hameln entwickelt Gregor Zöllig mit dem Tanztheater Braunschweig langfristige Community-Dance-Projekte und in Wolfsburg entstehen mit der JanPuschCompany Produktionen mit lokalen Vereinen, die den großen Events der Autostadt lokale künstlerische Entwürfe entgegensetzen. In Waldkraiburg sollen nach den Tanzland-Vorstellungen der Chor und das Orchester verstetigt werden. All diese Formate zeigen, wie sich Ensembles mit ihrem Publikum verbinden können. Dabei weisen sie weit über die Provinz hinaus, denn es geht hier um beispielhafte Verbindungen zwischen den Bühnen, in Stadt- oder Dorfgesellschaft, die überall gebraucht werden. In kleineren und mittleren Städten lassen sich diese Verbindungen und Netzwerke sogar oft leichter finden und aktivieren als in Metropolen, die unübersichtlicher und dezentraler organisiert sind. Wichtig dabei sind zwei Aspekte: Jede Stadt und jede Gemeinde muss und kann ihr eigenes lokales Profil für den Tanz entwickeln, jede Stadt hat andere Geschichten und andere Vereine, andere Netzwerke und eine andere Tanzgeschichte. Es gibt Folklore und Volkstanz ebenso wie Hiphop und Modern Dance, es gibt Vereine und Bürger*inneninitiativen. Diese lokalen Besonderheiten gilt es herauszuarbeiten und zu aktivieren. In den Tanzland-Projekten treffen lokale Akteur*innen auf die Gastensembles und damit auf externe Partner, sodass ein fruchtbarer Dialog zwischen Innen und

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Außen entstehen kann. Dabei ist der Impuls von außen, den die Gastensembles geben, zentral, darf aber nicht als Metropolenkulturimport verstanden werden. Damit der Dialog gelingt, muss es um langfristigen, dauer- und ernsthaften Austausch gehen und damit um faire Kooperationen. Tanzland in Essen Verbindungen schaffen statt Vermittlung verordnen, ist der Tenor in der Arbeitsgruppe „Stadt Land Publikum“. Der Dachverband Tanz Deutschland hat mit den beiden Förderprogrammen Tanzland und Tanzpakt zur Tagung über die „Zukunft des Tanzes“ eingeladen, die begleitend zur Verleihung des Deutschen Tanzpreises in Essen stattfindet. In der Arbeitsgruppe tauschen sich fünf Tanzland-Projekte mit Akteur*innen aus den Bereichen Tanzförderung und -vermittlung aus und beschreiben ihre Erfahrungen mit dem Publikum in der Provinz. Gebraucht wird Zeit und benötigt werden Verbindungen – das sind die zentralen Anforderungen, um ein Publikum zu gewinnen. Ein Publikum, das sich durch Digitalisierung und Globalisierung immer weniger unterscheidet, das Zugänge hat zu Informationen und Diskursen, das gewohnt ist, Unterhaltung zu konsumieren. Daher geht es weniger um die Vermittlung von Inhalten und Tanzgeschichte, sondern um eine Änderung der Rezeption: Das Publikum in der Provinz hat immer weniger Möglichkeiten, Kunst intensiv und kritisch live zu erleben. Oder anders gesagt: Tanz braucht – wie jede zeitgenössische Kunst – Zeit für Bindungen, denn es braucht Zeit und Ausdauer, um eine Verbindung zum Publikum aufzubauen. Eine Verbindung, die über den Kauf eines Tickets und eine kurze Einführung beim Sekt hinausgeht. Kein Klick und kein Like, kein Konsum, sondern Dialog, Austausch, manchmal auch Verwirrung, Überforderung, die herausfordert, Unverständnis, das zu Interesse wird, Fragen und Auseinandersetzungen, all das bedeutet es, Publikum zu sein und ein Publikum ernstzunehmen. Es bedarf nachhaltiger Publikumsarbeit, die sich nicht allein an die Menschen jenseits der Metropolen richten darf. Bühnenkünste wie der zeitgenössische Tanz brauchen langfristige Prozesse mit dem Publikum, damit ein gemeinsamer Resonanzraum entsteht, in dem Tanz und Gesellschaft sich bewegen. Dann und nur dann kann die immer wieder geforderte Relevanz des zeitgenössischen Tanzes und der darstellenden Kunst sich einlösen, denn dann werden Erfahrungen für Künstler*innen und ihre Betrachter*innen gleichermaßen möglich, sodass beide gemeinsam zu Produzent*innen und Akteur*innen des choreografischen Moments werden.

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Genau das ist die Bedingung für das Gelingen von Bühnenkunst. Eine Qualität, die nicht nur in der Provinz in Vergessenheit gerät. Eine Qualität, die Programmmacher*innen und Förder*innen in Stadt und Land, wenn sie Nachhaltigkeit und Relevanz fordern, berücksichtigen sollten. Es braucht Zeit, Ausdauer und Vertrauen. Gastspielensembles müssen wiederkommen, sie brauchen, als tourendes Ensemble wie auch an ihren Standorten Zeit, um lokale Bündnisse einzugehen und ihren künstlerischen Weg zu finden. Dazu bedarf es stabiler Strukturen und langfristiger Förderung. Ein Stichwort, das auf der Tagung in Essen häufiger zu hören war: Vertrauen. Vertrauen ist nötig in Tanzensembles, die sich nicht mit jeder neuen Produktion unter Beweis stellen sollten, Vertrauen aber auch in das Publikum – gerade in mittleren und kleinen Städten –, das nicht unterschätzt werden darf. Die Menschen in Winsen und Düren, in Offenburg und Staßfurt, in Herford und Eschborn wissen sehr genau, was sie wollen. Sie sind im Schützen-, Kunst- oder Sportverein ebenso aktiv wie im Tanzworkshop. Zeitgenössische Ästhetik und Experimente stehen nicht im Gegensatz zu traditionellen und lokalen Formen – im Gegenteil: Sie bilden kreative Allianzen. Wenn wir uns die Differenzen nicht einreden lassen, sondern Diversität zulassen, auch die zwischen Groß- und Kleinstadt, finden sich viele Anknüpfungspunkte. Dabei müssen wir neu lernen und herausfinden, wo und wie wir leben, wo es Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt, denn an die Folklore einer idyllischen Dorf- und Kleinstadtkulisse glauben ohnehin nur noch romantische Metropolenbewohner*innen. Diejenigen, die in den kleinen und mittleren Städten leben und arbeiten, wissen sehr genau, dass die alten Gegensätze nicht mehr wirklich sind. Von denen wollen uns Populist*innen überzeugen, die die Kulissen des Alten in Stellung bringen. Wir sind aufgerufen, Verbindungen herzustellen. Die TanzlandEnsembles, die zu festen Größen einer lokalen Kultur werden können, bilden genau diese Verbindungen, die wir in Zukunft brauchen.

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Anna Scherer

IN DER TURNHALLE KNISTERT DIE SPANNUNG Unterwegs mit dem Landestheater -

Um 7.45 Uhr ist Abfahrt. Den Sprinter haben wir bereits am Vortag geladen, also muss nur noch das Kostüm eingepackt werden und wir können losfahren. Heute ist unsere Bundesfreiwilligendienstleistende mit dabei. Damit sind wir mit unserer Schauspielerin zu dritt. Wir fahren zu einer Grundschule, die etwa 45 Minuten entfernt an einem Dorfrand liegt. Eine Stunde vor Vorstellungsbeginn kommen wir an, den halbstündigen Staupuffer haben wir heute gebraucht. Vor Ort kann uns das Sekretariat nicht weiterhelfen, aber der Hausmeister weiß Bescheid. Er bringt uns in eine kleine, leere Turnhalle. Er bietet an, als Bestuhlung Turnmatten auszulegen. Nach einer kurzen Diskussion kann ich ihn davon überzeugen, Sprungklötze zur Verfügung zu stellen. Zusammen mit den Turnhallenbänken sollten damit alle Kinder einen Platz finden. Ich weiß zwar nicht, wie viele es tatsächlich sein werden, da aber von zwei Klassen die Rede war, gehe ich von maximal sechzig Kindern plus vier Lehrer*innen aus. Wir bauen die Sitzreihen auf, danach ist unser Bühnenbild dran. Das besteht aufgrund ausreichender Erfahrung zu großen Teilen aus aufblasbaren Gegenständen. Einzig unsere technische Ausrüstung, bestehend aus mobiler Tonanlage, Boxen und einer randvollen Kabelkiste für alle Fälle, lässt sich nur mühsam die Treppen zur Halle hochschleppen. Während wir zu zweit aufbauen, bereitet sich unsere Schauspielerin in ihrer Garderobe vor. Die präsentiert sich heute als das Gerätelager der Turnhalle. Damit sind wir zufrieden, es gibt Licht, die Schüler*innen haben von ihrem Schulhof aus keine Einsicht und es handelt sich auch nicht um die Lehrer*innentoilette. Noch mehr freuen wir uns, als uns die Sekretärin Kaffee bringt. Das ist eher selten. Unseren „Survivalkoffer“ mit Wasserkocher, Tee, Heizstrahler und anderen hilfreichen Utensilien können wir also im Auto lassen. Als das letzte Kabel verklebt ist, kommen auch schon die Schulklassen. Schnell versteckt sich die Schauspielerin im Bühnenbild, dann stürmen die insgesamt 43 Kinder herein. Ich mache eine kurze Einführung, lerne die Kinder kennen, bereite sie inhaltlich und praktisch auf das Stück vor. Auf meine Frage, wer schon einmal ein Theaterstück gesehen habe,

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Anna Scherer

melden sich zwei Kinder. Dann geht es los. Es gibt keinen Vorhang, weder wird der Raum dunkel noch gehen Scheinwerfer an, aber die Spannung knistert. Es ist knapp fünf Jahre her, dass mir Mirko Schombert, der zu diesem Zeitpunkt der Leiter des Kinder- und Jugendtheaters und Theaterpädagoge am Staatstheater Mainz und dort mein Chef war, berichtete, dass er als Intendant an die Burghofbühne Dinslaken gehen würde. Als er die Mainzer Dramaturgin Nadja Blank und mich fragte, ob wir ihn begleiten und mit ihm gemeinsam das künstlerische Leitungsteam bilden wollten, hatten wir alle ausschließlich Erfahrungen an Stadt- und Staatstheatern gemacht und wussten nicht, was uns an einem Landestheater erwarten würde. Weder konnten wir einschätzen, was der Wechsel von einem Haus mit über 300 festangestellten Mitarbeiter*innen an eines mit 26 bedeuten würde, noch kannten wir die Abläufe eines Theaters, das nahezu ausschließlich im Gastspielbetrieb läuft. Die Burghofbühne Dinslaken ist das kleinste der vier Landestheater in Nordrhein-Westfalen und hat bis auf eine kleine Studiobühne für die Kindergartenstücke mit dreißig Zuschauer*innenplätzen keine eigene Spielstätte. Was ich erwartet habe Da wir aufgrund des frühzeitigen Verkaufs unseren Spielplan bereits zwei Jahre im Vorfeld festlegen müssen, stand die erste Spielzeit unter unserer Leitung bereits durch unsere Vorgänger fest, den Spielplan für das Folgejahr planten wir aber noch während unserer Beschäftigung in Mainz. Bei dessen Gestaltung gingen wir von einem Publikum aus, das aller Wahrscheinlichkeit nach älteren Semesters wäre, in seinem ästhetischen Geschmack eher konservativ eingestellt sein würde und sich einen Spielplan wünschen könnte, der vor allem leichte Unterhaltung und große Klassiker böte. Moderne Stoffe hielten wir für riskant. Schließlich waren wir auch schon beim Theatermarkt der INTHEGA, einer Veranstaltung, bei der die Landes- und Tourneetheater an Messeständen den Vertreter*innen der Gastspieltheater ihre Stücke anpreisen, die diesen Eindruck verschärfte. Ich erinnere mich jedoch noch gut an Diskussionen darüber, inwiefern man sich mit seinem Publikum weiterentwickeln und neue Wege beschreiten könne und ob man, falls dies nicht der Fall sein sollte, nicht lieber versuchen könne, ein neues, offeneres Publikum für sich zu gewinnen. So entschieden wir uns dafür, einen Spielplan mit vielen bekannten Stoffen zu gestalten, in der Auswahl der Regisseur*innen und in der Herangehensweise jedoch eine zeitgenössische Ästhetik zu präferieren. Für das Kinder- und Jugendtheater hatte ich ähnliche Erwartungen. In der Auswahl der Stücke achteten wir auch hier zum großen Teil auf

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bekannte Titel. Als großen Konkurrenten sah ich die umliegenden Stadttheater wie beispielsweise in Oberhausen. In Bezug auf die Veranstalter*innen war ich mir sicher, dass man sie von der Qualität und Kreativität auch zeitgenössischer Inszenierungen überzeugen kann, sobald sich zeigen würde, dass diese neue Publikumsschichten ins Theater ziehen. Was die Spielstätten betrifft, wusste ich, dass wir im Kinderund Jugendtheater auch in Kindergärten und Schulaulen spielen würden. Trotzdem ging ich hier und erst recht im Abendspielplan davon aus, dass wir es in erster Linie mit kleineren und größeren Bespieltheatern oder vergleichbar ausgestatteten Stadthallen zu tun haben würden. Für mich stand fest, dass wir die Rahmenbedingungen für die jeweiligen Inszenierungen festlegen und entsprechend verkaufen können. Soweit zu meinen Vermutungen und Meinungen, wie ich sie im Vorfeld hatte. Vieles davon stellte sich als richtig heraus, noch mehr als falsch und das meiste hatte ich erst gar nicht bedacht. Was uns tatsächlich erwartete So viel sei vorweg gesagt: Es gibt sie, die Bespieltheater, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Mit Garderoben, Pförtnern, großen Bühnen und noch größeren Zuschauer*innensälen. Sie bilden einen eher kleinen Anteil, aber es gibt sie auch. Es gibt auch Stadthallen, die modern sind, eine gute Akustik und eine akzeptable technische Ausstattung bieten. Aber es gibt mindestens genauso viele Mehrzweckhallen, in denen in der Dekoration vom letzten Karnevalsfest gespielt wird, oder Schulaulen, in denen es keine Garderoben gibt, sondern Klassenräume, die mit Stellwänden in je einen Bereich für Damen und für Herren eingeteilt werden. Es gab schon Orte, an denen unsere mit Kunstblut verschmierten Schauspieler*innen sich in Ermangelung einer Dusche in einer mitgebrachten Campingdusche abwuschen, um in die nächste Szene zu können, während unser Intendant eimerweise warmes Wasser nachschleppte oder mit Farbe beschmierte Schauspielerinnen im Bademantel über den Schulhof laufen mussten, weil dort die nächste Dusche in der Sporthalle wartete. Das ist das Spektrum, in dem sich die infrastrukturellen Unterschiede des Theaters in der Provinz bewegen. Das Kinder- und Jugendtheater trifft dies oft noch härter. Hier spielen wir dasselbe Stück einmal in einem vollausgestatteten Bühnenraum mit 14 Metern Breite und acht Metern Tiefe, verschiedenen Lichtstimmungen und achtzig Kindern, die mit auf der Bühne sitzen, mal vor zwölf Kindern auf einer Grundschulbühne mit Maßen von fünf mal drei Metern in einem hellen Raum, vor dessen Fenstern andere Kinder ihre Pause genießen.

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Burghofbühne Dinslaken. Foto: Nadja Blank

Das verlangt ein extrem starkes Nervenkostüm und führt auch immer wieder zu Frustration und ungläubigem Kopfschütteln. Doch es bewirkt zudem eine enorme Flexibilität bei allen Mitarbeiter*innen. Durch unterschiedliche Größen, Beleuchtungsmöglichkeiten, Weglängen, Auf- und Abgänge, Treppenanordnungen etc. können kaum Routinen entstehen – durch die sich immer verändernden Umstände bleibt man wach und immer aufmerksam. Das ist eine besondere Qualität, die an und bei allen Beteiligten geschätzt wird. Ich erinnere mich noch genau an die drei für mich schockierendsten Aussagen, die wir in unserer Vorbereitungszeit in Bezug auf unser Publikum hörten. Erstens: Themen wie Tod oder Krankheit sollten lieber vermieden werden, da das Publikum so alt ist, dass es sich damit zu sehr identifiziert und es sie deprimiert. Zweitens: Dem Publikum ist es wichtiger, dass die Kostüme sauber und gut gebügelt sind, als das, was inhaltlich auf der Bühne passiert. Drittens: Inszenierung und auch das Bühnenbild dürfen bis zu einem gewissen Grad auch „modern“ sein. Dieser Grad ende jedoch, wo man beispielsweise eine leere Bühne statt eines „schönen“ Bühnenbilds finden würde. Diese Aussagen stimmen. Und sie stimmen absolut nicht. Wenn man etwas über das Publikum der Landestheater sagen kann, dann dass es nicht „das“ Publikum gibt. Sicherlich lässt sich festhalten, dass, wie an den meisten anderen Theatern auch, die Zuschauer*innen oft über fünfzig sind. Es stimmt vielleicht auch, dass ein großer Teil in Bezug auf bestimmte ästhetische oder stilistische Mittel andere Sehgewohnheiten

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und entsprechend andere Erwartungen hat als beispielsweise das Publikum der Berliner Volksbühne und doch wage ich zu bezweifeln, dass sich das Publikum grundsätzlich von dem eines kleinen bis mittelgroßen Stadttheaters unterscheidet. Was wir über Veranstalter*innen und Lehrer*innen wissen sollten Es besteht allerdings eine besondere Schwierigkeit, die auch meine Hoffnung, man könne mit dem Publikum gemeinsam neue Wege beschreiten und sich zusammen verändern, leider trübte: Jedes Landestheater für sich macht nur einen kleinen Bestandteil des gesamten Spielplans eines Gastspielorts aus. Das Publikum kann sich somit gar nicht an bestimmte Ästhetiken oder künstlerische Handschriften eines spezifischen Theaters gewöhnen. Ebenso wenig können wir uns an das Publikum und seine Vorstellungen und Wünsche anpassen. Pro Spielzeit spielen wir in der Regel maximal zweimal an einem Ort, manchmal auch jahrelang überhaupt nicht. Die Möglichkeit zusammenzuwachsen existiert nicht. Auch in unserer Spielplangestaltung geht es nicht darum zu bedenken, eine möglichst ausgewogene Auswahl verschiedener Stücke für ein Publikum zu bieten, sondern eine möglichst ausgewogene Auswahl an Stücken für Veranstalter*innen, die sich das für sie passende Stück auswählen können. Wir bleiben somit in der Prägung des Publikums immer nur passiv. Dies kann dazu führen, dass eine zeitgenössische Inszenierung wie unser 1984 an einem Ort frenetisch gefeiert wird, an einem anderen Ort hingegen empörte Zuschauer*innen laut fluchend den Raum verlassen. Mit einiger Erfahrung können wir zwar einschätzen, welche unserer Stücke dem Geschmack der Zuschauer*innen eines bestimmten Orts entsprechen, wohin wir beispielsweise unsere Stücke der Gegenwartsdramatik wie Kollaps oder Die Welt ist groß und Rettung lauert überall verkaufen, und uns bei den Veranstalter*innen aufgrund unserer ambitionierten Inszenierungen einen Ruf erarbeiten. Einen Einfluss auf die Sehgewohnheiten des Publikums haben wir jedoch nicht. Diese Tatsache trifft auch das Kinder- und Jugendtheater. Wo am Stadt- und Staatstheater das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes mitwächst, haben die Veranstalter*innen kaum Möglichkeiten, über Lehrer*innen dauerhafte Kooperationen zu schaffen. Meistens gibt es nur eine oder im besten Fall zwei bis drei Vorstellungstermine, die dann allerdings direkt aufeinander folgen. Abgesehen davon, dass diese Termine in den Lehr- und Terminplan der Schulen passen müssen, haben Lehrer*innen keine Möglichkeiten, sich im Vorfeld ein Bild von den Vorstellungen zu machen. Es gibt kaum Angebote, die Lehrer*innen an ein Haus binden könnten, wie sie die meisten Theater mit festen Spiel-

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stätten anbieten. Ein Beispiel dafür sind öffentliche Proben vor Ort, die die Lehrer*innen besuchen könnten, oder Patenklassen, die eine Produktion begleiten. Auch sind Theaterführungen an Bespieltheatern und erst recht in Stadthallen für Schulklassen meist eher unspektakulär. Auch kann ein Stück oder dessen Qualität nicht anhand von Kritiken oder Empfehlungen der Mundpropaganda über mehrere Vorstellungen hinweg Interesse wecken. Jedes Stück hat nur eine Chance und muss bereits im Vorfeld durch Titel oder Thema so ansprechen, dass es das Publikum anzieht. Unsere Sorge und die Behauptung, das Publikum hätte in der Provinz grundsätzlich kein Interesse an ambitionierten und zeitgenössischen Stoffen und Ästhetiken, stellten sich jedoch glücklicherweise in dieser Allgemeinheit als falsch heraus. Viel häufiger erleben wir den Verkaufsdruck der Veranstalter*innen als Hemmnis der Experimentierfreude. Die Sorge, das Haus nicht vollzukriegen oder ihr Publikum zu verärgern, führt immer wieder dazu, dass Veranstalter*innen den vermeintlich sichereren Weg wählen. Oft hören wir Sätze wie: „Ich würde mir ja auch mehr zeitgenössische Stoffe wünschen, aber mein Publikum besucht nur Komödien“. Oder „Mich stören keine nackten Menschen auf der Bühne, aber das können wir nicht zeigen, weil sonst unser Publikum geschlossen den Saal verlässt.“ Wir mussten mit der Zeit lernen, dass diese Einschätzungen nicht immer korrekt sind. Während wir noch bei unserer Faust-Inszenierung den besorgten Veranstalter*innen anboten, dass unser Intendant bei jeder Vorstellung eine Einführung machen könne, um zu erklären, warum es für diese Inszenierung gut und wichtig ist, dass Gretchen in einer Szene barbusig auftritt, stand für uns zwei Jahre später außer Frage, dass Mrs. Robinson in Die Reifeprüfung nackt auftreten muss. Es kam dann zwar vor, dass eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn Veranstalter*innen auf uns zukamen und anregten, wir sollten Mrs. Robinson doch lieber Unterwäsche anziehen, um das Publikum nicht zu vertreiben. Mrs. Robinson aber blieb nackt, das Publikum blieb auf den Plätzen und spendete zum Schluss langen Beifall. Oft haben wir das Gefühl, die Veranstalter*innen unterschätzen ihr Publikum, und wir würden uns mehr Mut und Risikobereitschaft wünschen. Auch ist es für uns immer wieder ernüchternd, wenn die Frage nach den Stückpreisen, der Besetzungsgröße oder dem „schönen Bühnenbild“ entscheidender sind als inhaltliche Fragen, Aktualität der Themen oder Virtuosität der Regie. Oft genug waren wir in der Situation, dass ein entscheidendes Kriterium für die Stückauswahl war, ob man in die Inszenierung eine von uns nicht geplante Pause einbauen kann,

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damit die Gastronomie ihren Sekt verkaufen kann. Gleichzeitig handelt es sich dabei wohl um einen der von mir am stärksten unterschätzten Punkte: der Druck, den die Veranstalter*innen haben. Die finanziellen Zwänge und die Sachzwänge sind so enorm, dass es keinen Puffer für Risiken gibt. So wie wir auf unsere Stückverkäufe, so sind sie auf ihre Besucher*innenzahlen angewiesen und müssen auch oft genug tatsächlich entgegen ihrer eigenen künstlerischen Präferenz entscheiden. Umso bemerkenswerter und erfreulicher ist es, dass es durchaus Veranstalter*innen gibt, die sich dem entgegenstellen und auch mit größerer Experimentierfreude Säle füllen. Zumindest erlauben sich viele einen heterogenen Spielplan, der neben großen Teilen an leichter Unterhaltung, die jedoch meist von den privaten Tourneetheatern abgedeckt wird, auch künstlerisch forderndere Stücke beinhaltet. Als Landestheater empfinden wir es als unsere Aufgabe, sowohl auf der Ebene des Stoffs als auch in der Ästhetik und Formsprache einen ambitionierten und zeitgenössischen Gegenpol zur leichten und leicht verkäuflichen Unterhaltung zu liefern. Was zwischen Problemstück und Märchenproduktion so alles möglich ist Das Kinder- und Jugendtheater bietet hier, mit Ausnahme der großen Märchenproduktion, eine besondere Ausnahme. Denn trotz der zuvor beschriebenen Problematik, dass es das Theater gerade bei einem jugendlichen Publikum schwer hat, profitiert vor allem das Kindertheater davon, dass hier die Stücke in erster Linie aufgrund ihres Zielgruppenalters gekauft werden. Dieser an sich unerfreuliche Fakt bedeutet für uns eine enorme Freiheit. Hier können wir Uraufführungen auf den Spielplan setzen und unbekannte Autor*innen spielen. Habe ich noch bei unserem ersten eigenen Spielplan auch bei der kleinsten Produktion auf die Bekanntheit der Titel geachtet, haben wir in den Folgejahren in den verschiedensten Formaten Vorstellungen zur Uraufführung und deutschen Erstaufführung bringen können. Auch im Jugendstück, das es aus bereits beschriebenen Gründen im Verkauf am schwersten hat, können wir eine zwar schleichende, aber erkennbare Tendenz beobachten, die sich weg von den pädagogisch perfekt weiterzuverarbeitenden „Problemstücken zu Problemthemen“ bewegt. Selbstverständlich werden wir auch weiterhin von Schulen eingeladen, die für ihre Projektwoche zum Thema Drogenmissbrauch das passende Stück suchen – und das ist auch gut so, sind wir doch überzeugt davon, wie wunderbar aufwühlend und aufrüttelnd ein solches Stück diese Themen im besten Falle bearbeiten kann. Doch wir freuen uns auch immer wieder, wenn Stücke gebucht

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werden, die nicht mehr sein müssen und wollen als Kunst. Ohne Lehrplanauftrag und dabei doch so prägend. Bei unserer großen Märchenproduktion handelt es sich in der Regel um einen der zeitgenössischen Kinderbuchklassiker. Sie ist inszeniert für die große Bühne, meist mit Musik und immer auch freilichttauglich, also auch hier ohne Verdunklungsmöglichkeiten und entsprechend ohne Lichteffekte, auf die man nicht notfalls auch verzichten könnte. Anders als bei unseren kleineren Positionen stellen wir hier tatsächlich einen sofortigen Buchungsrückgang fest, handelt es sich nicht um bekannte Titel. Die Konkurrenz ist in diesem Bereich riesig, nicht wie befürchtet durch die umliegenden Stadttheater, sondern durch die großen und kleinen privaten Tourneetheater. Wie für jedes andere Theater auch, das Märchenproduktionen anbietet, bildet diese Position eine wichtige Einnahmequelle. Allerdings müssen unsere Stücke auch hier die Hürde der Einkäufer*innen überwinden. Wir sind uns der Gefahr bewusst, dass sie möglicherweise unsere Stücke nicht buchen, weil sie fürchten, dass die Lehrer*innen und Erzieher*innen die Stücke mit ihren Gruppen nicht besuchen, weil sie fürchten, dass die Eltern nicht mit den Stücktiteln einverstanden sind, weil sie fürchten, dass Stücke, die sie selbst nicht kennen, für ihre Kinder ungeeignet sein könnten. Und wie bereits beschrieben, hätten die potenziellen unbekannten Stücke auch keine Chance, von sich reden zu machen und doch Neugierige anzulocken. Wir spielen also bekannte Stücke für die große Bühne und da auch hier der Begriff große Bühne relativ ist, spielen wir mal vor 2000 und mal vor 200 Kindern. Und wir inszenieren unsere Märchen bunt und aufregend, schrill und wild und trotzdem oder genau deshalb so, dass sie das junge Publikum ernstnehmen und es begeistern wollen. Auch der Arbeitsalltag an einem Landestheater bietet besondere Herausforderungen. Der Tourneebetrieb fordert Künstler*innen und Techniker*innen gleichermaßen. Auch wenn wir auf die Einhaltung der Ruhezeiten achten und darüber hinaus die Fahrtzeiten als Arbeitszeiten rechnen (wozu man selbst als Landestheater nicht verpflichtet ist), sind stundenlange Anfahrten vor Vorstellungen, frühe Abfahrtszeiten und späte Ankunftszeiten ebenso wie Nächte in Hotels energieraubend. Dazu kommen zerklüftete Spieltermine, die dazu führen, dass man manche Stücke nur drei Mal auf ein ganzes Jahr verteilt spielt und minimale Probenzeiten, die von Abstechern und Wiederaufnahmeproben zerrissen werden. Inhaltlich ist die Notwendigkeit, Spielpläne bereits zwei Jahre im Vorfeld festzulegen und Stücke zu verkaufen, von denen wir noch überhaupt nicht wissen, wie sie werden, eine Herausforderung. Oft stehen

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Burghofbühne Dinslaken. Foto: Nadja Blank

noch nicht einmal die Bühnen- und Kostümbildner*innen fest, wenn wir bereits am Telefon gefragt werden, ob die Ausstattung denn schön – also historisch – sei (auch wenn unsere Kund*innen inzwischen wissen, dass sie bei uns nie historisch sind). Auch die Besetzungsgröße spielt eine große Rolle und muss somit schon feststehen, bevor Regie und Dramaturgie ein Konzept entwickeln, geschweige denn eine Strichfassung erstellen konnten. Und weil die Veranstalter*innen ebenfalls früh in die Werbung gehen müssen, werden von uns Vorabfotos und Plakate gefordert, wenn wir noch nicht einmal wissen, wer die Hauptrolle spielen wird. Warum mutiges und bewegendes Theater? Wichtig ist für mich der kulturpolitische Auftrag, der bei unserer Arbeit jeden Tag spürbar und präsent ist: Die Landestheater bieten jenen Kommunen ein künstlerisch hochwertiges Theaterprogramm, die kein eigenes Stadt- oder Staatstheater haben. Wir haben im Laufe der Jahre viele Regisseur*innen und Schauspieler*innen, Ausstatter*innen etc., die ansonsten an großen Bühnen Deutschlands arbeiten, für unser Landestheater gewinnen können. Für alle sind die Bedingungen eine Herausforderung, aber der künstlerische Anspruch, die Kreativität und die Umsetzung sind dieselben wie an jedem anderen Haus. Und so gelingt es uns im besten Fall auch in der kleinsten Stadthalle und vor einem Publikum, das ansonsten kein solch umfangreiches kulturelles Angebot wie in Großstädten wahrnehmen kann und daher eventuell kaum

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Zugang zum Theater hat, berührendes, bewegendes, mutiges und ambitioniertes Theater zu zeigen. Und wir erleben in den meisten Fällen ein Publikum, das dies auch sehr zu schätzen weiß. Ebenso wie Künstler*innen, die immer wieder gerne bei uns arbeiten. Letzteres liegt auch an einem weiteren Aspekt, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann: die Chancen eines kleinen Betriebs. Mit unseren 26 festangestellten Mitarbeiter*innen und knapp vierzig Gästen erleben wir dies in unserem gesamten Arbeitsalltag, aber auch die größeren Landestheater müssen spätestens auf Gastspielen im kleinen Team arbeiten. Obwohl wir Werkstätten, verschiedene Abteilungen und unterschiedliche Tätigkeitsfelder haben, ist die Zusammenarbeit natürlicherweise deutlich intensiver und stärker aufeinander bezogen, als sie es in einem riesigen Mehrspartenhaus sein könnte, bei dem die einzelnen Mitarbeiter*innen immer nur einen Teil der Kolleg*innen überhaupt kennen und mit einem noch geringeren Teil aktiv zusammenarbeiten. Der berühmte Strang, an dem alle gemeinsam ziehen, zeigt sich bei uns in jedem einzelnen Stück und erst recht auf Abstechern. Probleme können nicht von Abteilung zu Abteilung weitergereicht werden, sondern müssen gemeinsam gelöst werden. Kein Bereich läuft autark, sondern alle sind eng miteinander verwoben. Gerade der Tourneebetrieb, bei dem wenige Menschen jeden Tag und über lange Zeiträume auf engstem Raum zusammenarbeiten und leben, kann nur dann erfolgreich und vor allem für alle zufriedenstellend laufen, wenn man ein Team bildet, bei dem jede*r jede*n unterstützt und respektiert. Für uns hat sich beispielsweise das feste Ritual der „Kommunikationskippe“ als extrem gewinnbringend erwiesen. Dieses verläuft so, dass sich nach der Vorstellung alle Beteiligten unseres Hauses vor dem Gebäude treffen und in entspannter Runde eine Zigarettenlänge lang über die Vorstellung sprechen und über Momente, in denen es gegebenenfalls Schwierigkeiten gab. Es geht dabei weniger um eine Kritikrunde als vielmehr um einen Austausch, bei dem eine Schauspielerin darum bitten kann, dass ein Techniker beim nächsten Mal die Monitore etwas lauter stellt oder eine Technikerin darum, dass ein Schauspieler sein Kostüm nicht in ihrem Arbeitsweg ablegt, ohne dass sich Frust aufstaut und Missverständnisse entstehen. An einem großen Haus wäre dies schon aufgrund der Anzahl der involvierten Kolleg*innen undenkbar. Mein Bereich im Kinder- und Jugendtheater schließlich bietet mir neben den beschriebenen Freiräumen der kreativen und künstlerischen Vielseitigkeit, die Möglichkeit, so nah und unmittelbar mit dem jungen Publikum in Kontakt zu kommen, wie ich es am Staatstheater niemals gekonnt hätte. Unsere kleineren Produktionen haben eine Zu-

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schauer*innenbegrenzung von maximal achtzig Personen. Das heißt, dass ich in der Regel jeden einzelnen Gast kennenlerne. Bin ich in einer Schule oder einem Kindergarten, erlebe ich sie in einem geschützten und ihnen bekannten Rahmen. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Kind bei einer Vorstellung im Kindergarten Angst bekommen und geweint hätte, was in den für sie unbekannten Theaterräumen relativ regelmäßig geschieht. Ihr persönlicher Lern- und Lebensraum Schule verwandelt sich plötzlich für sie und lässt sie in ihm eine neue und prägende Erfahrung machen. Dabei nehmen sie meiner Erfahrung nach den Märchenwald oder die Fabelwelt in Das Kleine Ich bin Ich, die in ihrem Musiksaal an der Stelle entstehen, wo sie zuvor noch Noten gelernt haben, genauso an wie in einem vollausgestatteten Theatersaal. Etwa die Hälfte unsere Produktionen sind Kinder- und Jugendtheaterstücke. Dieser Aspekt und die enge Zusammenarbeit mit allen Kolleg*innen führen darüber hinaus zu einer enormen Wertschätzung dieser oft als zweitrangig betrachteten Sparte. War beispielsweise einem Großteil der Kolleg*innen in Mainz vermutlich nicht einmal bewusst, dass einzelne Schauspieler*innen mit einem Klassenzimmerstück unterwegs waren, weiß in Dinslaken jede*r, welche enorme künstlerische, kreative und körperliche Leistung unser*e Schauspieler*in selbst in der kleinsten Produktion bringt. Der Unterschied, den das für die Arbeitsqualität und -atmosphäre macht, ist gigantisch. Die Vorstellung läuft. Gerade hat währenddessen der Schulgong geläutet. Die Absprache war eine andere. Ich ärgere mich kurz, aber unsere Schauspielerin integriert den Gong sofort in ihr Spiel. Das gelingt ihr genauso mühelos, wie die Kinder wieder spielerisch zu ihren Plätzen zurückzubringen, nachdem es sie beim Einsatz von Seifenblasen nach vorne auf die Spielfläche gerissen hat. Sie ist geübt darin, dass Unerwartete zu erwarten. Sie kann jeden Raum zur Theaterbühne machen. Dann ist die Vorstellung vorbei. Ich spreche mit den Kindern, lasse mir berichten, was sie erlebt haben. Auch unsere Schauspielerin kommt dazu und beantwortet ihre Fragen. Die Kinder dürfen die Instrumente ausprobieren, die im Stück verwendet wurden und einen unserer Tricks aussuchen, den ich ihnen verraten soll. Der Rest bleibt Bühnenzauber. Dann bauen wir unser Bühnenbild wieder ab, laden es in den Bus und geben die Turnhalle wieder zum Turnen frei. Ich kenne die Buchungen und weiß, dass wir im nächsten Jahr wiederkommen. Dann werden alle Hände hochgehen, wenn ich frage, wer schon einmal ein Theaterstück gesehen hat.

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SPIESSIG UND PROVINZIELL SIND IMMER NUR DIE ANDEREN Tourneetheater als größte Bühne Deutschlands -

Das größte Theater in Deutschland steht nicht in Hamburg, München oder in Berlin. Es hat nicht einmal ein eigenes Haus, geschweige denn kennt man seinen Namen. Es ist – um mit Thomas Bernhard zu sprechen – naturgemäß: ort-los. Dabei ist es jeden Abend auf vielen Bühnen gleichzeitig zuhause: das Tourneetheater. Während man bei großen Bühnen sofort ans Deutsche Theater oder das Berliner Ensemble denkt, an die Volksbühne, das Schillertheater; ans Thalia, das Schauspielhaus in Hamburg, den Pfauen oder gar an die Burg, kennen weit weniger Menschen Namen wie Landgraf, Kempf, Nordtour, a.gon, Thespiskarren usw. Selten erscheinen sie auf dem Plakat: Die Produktion steht im Vordergrund, nicht der Produzent. Falsche Bescheidenheit, möchte man meinen. Die deutschsprachigen Tourneetheater arbeiten grenzüberschreitend. Sie bilden zusammengenommen das größte deutschsprachige Theater überhaupt. Es bedient – in seiner außergewöhnlichen Vielseitigkeit – nicht das Schauspiel allein: Tanz-, Performance-, und Crossover-Produktionen; Opern, Operetten und Musicals gehören ebenso zum reichhaltigen Angebot. Es ist ein Viel-Sparten-Haus auf Rädern. Eine einzigartige Institution in unserer vielschichtigen Kulturlandschaft. Ein vollgepackter Wanderzirkus, der – wie Spötter meinen – diesen Namen verdiente. Tatsächlich müssen diejenigen, die hier einsteigen und mitfahren wollen, viele Begabungen im Gepäck haben. Vielseitigkeit und Universalität hinter wie auf der Bühne sind ebenso gefragt wie soziale Kompetenz, Belastbarkeit und gute Nerven. Vielleicht hat es deshalb gegen so viele hartnäckige Vorurteile zu kämpfen: zu kleinkariert, zu kommerziell, zu provinziell, heißt es oft. Dabei muss es – weit mehr als die öffentlich geförderten Stadt- und Staatstheater – an seine Wirtschaftlichkeit denken: „Kunst geht nach Brot“. Wer mit Kunst Geld verdienen muss, fährt am besten mit Goethe: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; / Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ Schon im Faust sorgte diese Haltung für Uneinigkeit:

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Ziemlich oft gibt es Zank im Theater. Manchmal artet dieser Zank auch in Handgreiflichkeiten aus. Doch wer seinen Widersacher wirklich kränken will, der brüllt nicht und der prügelt nicht, der spricht ein kleines Wort gelassen aus: er nennt ihn „provinziell“. Denn provinziell zu sein, Provinztheater zu machen, gilt an deutschen Schauspielbühnen noch immer als die größte Schande. Wobei die Vokabel „provinziell“ eine genauso bequeme Allzweckwaffe ist wie die Vokabel „spießig“. Wer das Schimpf-Wort benutzt, meint einen jedenfalls nicht: sich selber. Spießig und provinziell sind immer nur die anderen.1 An diesen Worten hat sich seit den 1980er Jahren wenig geändert. Theater in der Provinz hat ein „Geschmäckle“, einen Beigeschmack. Ich selbst komme aus Hamburg und bin seit Kindheit an ein großstädtisches Kulturangebot gewöhnt. Nun, vierzig Jahre später, wohne ich im Südschwarzwald; „right in the middle of nowhere“. Etwa eine Stunde im Umkreis von allen kulturell relevanten Orten entfernt. Also in der Provinz?! Könnte man meinen. Was aber heißt kulturell relevant? Selbst hier auf dem Dorf gab und gibt es schon immer Theater: Die Landfrauen spielen, die Dorfjugend, die Freiwillige Feuerwehr. Zur Weihnachtszeit, Fasnet und neuerdings im Sommer, Open Air, unter Beteiligung der gesamten Dorfgemeinschaft. Eine höchst aktive Gemeinde. Was heißt da eigentlich Provinz? Provinz ist nur da, wo Theater nicht ist Man könnte behaupten, diese dörflichen Aktivitäten kompensierten die fehlende Möglichkeit, Theater zu erleben. Das stimmt nicht. Es sind unabhängige Erscheinungsformen: Noch findet der kulturelle „Austausch“ statt; besser: die Belieferung der Fläche mit „großstädtischer Kulturproduktion“; umgekehrt erscheint dörfliches Theater höchstens als Komödianten-Stadel im Fernsehen. Tourneetheater ist das Bindeglied zwischen urbanen Stadt- und Staatstheatern und den lokalen Eigenproduktionen in der Provinz. Es hält die vielen kleinen Stadthallen, Gemeindehäuser und Mehrzweckhallen am Leben, die sonst höchstens noch dem Vereinsleben dienlich wären. Schon dreißig Autominuten von meinem Standort entfernt, wird so regelmäßig Theater angeboten. Überhaupt ist man hier von Spielorten umgeben: das Kurhaus in Titisee, die Stadthallen in Waldshut und Singen oder das Theater am Ring in Villingen-Schwenningen sind gut erreichbar, ebenso einige Spielorte in der grenznahen Nordschweiz – Olten, Winterthur, Frauenfeld oder Schaffhausen. Überall dort wird dem „Provinzler“ regelmäßig Großstädtisches geboten.

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Man könnte einwenden, dass eine Fahrt von bis zu einer Stunde oder mehr nicht zumutbar ist. Im Vergleich sind die Wege aber nicht viel weiter als innerhalb der Stadt. Auch in Hamburg, Berlin oder München braucht man von Tür zu Tür doch meistens eine gute halbe bis dreiviertel Stunde – und wäre damit sogar noch gut bedient. Ein individuelles „Rahmenprogramm“ wie essen gehen davor oder andere „Anschlussveranstaltungen“ danach (wie Party, Disco oder Bar) wären auch hier möglich, wäre da nicht das generelle Problem der Erreichbarkeit: Der ÖPNV lässt in der Provinz zu wünschen übrig. Ohne PKW oder organisierte Fahrgemeinschaften, Busfahrten von Besucherverbänden etc. bleiben die Menschen in der Provinz von der Teilhabe an kulturellen Veranstaltungen ausgeschlossen. In dieser Hinsicht wäre bei den zuständigen Kultur- und Kommunalpolitikern deutlicher Bedarf anzumelden: Kultur braucht verkehrstechnische Anbindung. Das Tourneetheater ermöglicht es zwar in der Provinz am Theater-Erleben dieses Landes teilhaben zu können; was es aber nicht leisten kann, ist auch noch seine Erreichbarkeit zu garantieren. Hier müssten lokale Veranstalter bessere Angebote machen. Nicht nur die Anzahl der angebotenen Veranstaltungen verringert sich, auch die generelle Anbindung umliegender kleinerer Ortschaften und Landstriche an die lokalen Spielstätten bleibt gleichbleibend schlecht. Da stellt sich die Frage nach der Henne und dem Ei: Bleibt das Publikum aus, weil weniger Programm geboten wird, oder kann nur deswegen weniger Programm angeboten werden, weil keiner (mehr) hinkommt?! Gerade für das junge und ältere Publikum, Zuschauer, die entweder noch nicht oder nicht mehr selbst fahren können oder dürfen, wären Kulturbusse oder Sammeltaxis an Theatertagen sinnvoll. Das könnte auch Teil eines Besucher-Abos sein, sodass man auf beiden Seiten – sowohl für die Anbindung als auch für die Auslastung – eine bessere Planungssicherheit hätte. Das ist kommunal eine Frage des Gelds, in Zeiten von Mitfahrerbänken aber auch eine Frage der internen Kommunikation. Herausforderung Mehrzweckhalle Ein gern erhobener Vorwurf an das Theater auf Rädern lautet, es sei weder in seiner Quantität noch in der Qualität gleichwertig mit dem, was auf städtischen Bühnen, in den festen Häusern, geboten werden könne. Aber woran liegt das? Zum einen sind viele Kommunen in Anbetracht klammer Kassen gar nicht in der Lage ein vielfältiges und anspruchsvolles Unterhaltungsangebot zu machen. Entweder viel „Kraut und Rüben“ oder wenig Teures mit Anspruch. Das zwingt Kul-

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turbeauftragte zu schmerzlichem Spagat. Zum anderen lassen sich eingekaufte Produktionen vor Ort dann auch nicht in der Qualität umsetzen, wie sie ursprünglich erarbeitet worden sind. Viele Spielstätten sind Teil des Problems: Ihre divergierenden technischen Ausstattungen und Standards genügen entweder nicht den Anforderungen einer gut gearbeiteten Produktion oder sie können nur sehr unterschiedliche Aufführungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Eine Mehrzweckhalle, die vor allem als Turnhalle genutzt wird, entspricht in ihren technischen Anforderungen natürlich eher den sportlichen Bedürfnissen einer Gemeinde. Das stellt die Bühnentechnik vor größere Herausforderungen als ein Saal, der überwiegend für kulturelle Veranstaltungen genutzt wird und vielleicht allenfalls einen Bühnenvorhang vermissen lässt. In einem festen Haus hat man sein etabliertes Ensemble und das kennt seine Bühne und seinen Zuschauerraum: Man muss ihn nicht jeden Abend neu erobern, neu definieren oder erst einmal so umgestalten, dass man ihn als einen theatralen Raum überhaupt erfahrbar machen kann. Auf Tour sind diese Räume immer anders: Jeden Abend müssen Team und Ensemble sie aufs Neue bezwingen. Das kostet Kraft. Nicht nur der Schauspieler muss sich allabendlich auf eine andere Akustik, andere Bühnenmaße und Distanzen einstellen, auch das Begleitteam ist gefordert: Gibt es Garderoben und reichen die Plätze aus? Wie weit sind sie von der Bühne entfernt? Gibt es eine Mithöranlage, eine Rufanlage? Wo kann die Waschmaschine hin? (Denn die fährt selbstverständlich auf dem LKW mit; nicht jedes Haus kann sowas anbieten.) Wo lässt sich eine Maske einrichten, kurz: Wo steht später die Kaffeemaschine? Alles muss wandelbar sein, vor wie hinter der Bühne. Das Bühnenbild, die Spielweise und die Beleuchtung müssen flexibel und schnell anpassbar sein. Es gibt verschiedene Kulissenmaße für verschiedene Bühnengrößen. Da werden Versatzstücke nötig, wenn die Bühne zu breit ist. Es ist ein andauernder Balanceakt zwischen Improvisation einerseits und Präzision andererseits. Das kann sehr frustrierend sein, mit der Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit umzugehen, auch wenn es – naturgemäß – kreative Potentiale freisetzen kann. Die Kunst bleibt auch mal auf der Strecke Tourneeleben bedeutet über Wochen stundenlange Busfahrten, weite Strecken kreuz und quer durch die Republik: heute Schopfheim, morgen Aurich. Ein Leben auf Raststätten. Selten geregelte, wenn überhaupt warme Mahlzeiten. Döner macht schöner. Und die Ruhezeiten im Tourbus sind so erholsam dann auch nicht. Ein Wanderleben, das vor allem in den nassen und kalten Jahreszeiten, der Hauptreisezeit fahrender

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Konzertdirektion Landgraf, Titisee-Neustadt: Foto: Ines Reinhard

Künstler, an die Substanz geht, umso mehr, wenn das Hotel wegen einer Messe nicht gleich am Spielort gebucht werden konnte, man nach der Vorstellung, dem anschließenden Aufräumen und Abschminken auch noch eine Stunde zu fahren hat, bevor man für wenige Stunden ins Bett kommt. Und während sich die Schauspieler vorne noch verbeugen, beginnt die Mannschaft hinten bereits mit dem Abbau. Schließlich sollte die Kulisse möglichst als erstes und in jedem Fall noch vor dem Ensemble am nächsten Spielort eintreffen: Sie muss also so schnell wie möglich wieder auf den Lkw, um zumindest schon mal einen Teil der Strecke hinter sich zu bringen. Denn am nächsten Morgen geht der ganze Zauber ja schon wieder von vorne los. Und wer weiß, welche Hallenbedingungen den armen Techniker dann wieder erwarten? Im Theaterbus entwickelt jeder seine eigene Routine, seine kleinen Rituale. Es braucht eine gewisse Kondition für dieses Arbeitsleben und die bringt nicht jeder Kollege von Haus aus mit. Da muss man lernen, sich an die Gegebenheiten anzupassen, oder die Kunst bleibt eben auch mal auf der Strecke. Allerdings kann auch der beste Bühnentechniker in einem zu kleinen Bühnenraum keine Wände versetzen. Da heißt es: Was nicht passt, wird passend gemacht; in der Praxis: weggelassen. Wenn man vor der Wahl steht, lieber den Schauspieler oder die Kulisse auf die Bühne zu bringen, werden sich hoffentlich noch alle lieber für den Schauspieler entscheiden. Und am Ende des Tages heißt es: „Der Lappen muss hoch!“ Eine gebuchte Vorstellung darf nicht ausfallen. Koste es, was es wolle. Wird nicht gespielt, entfällt die Gage. Die ist ohnehin knapp kalkuliert und der Künstler ist darauf angewiesen, vor allem, wenn er während der

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Tour keine anderen Angebote wie Sprecherrollen, Drehtage oder ähnliches wahrnehmen kann. Weiterspielen im Krankheitsfalle, damit die Kollegen nicht ihre Einkünfte verlieren, ist ein heikles Thema. Umbesetzungen sind zeit- und kostenintensiv. Eine Tour ist eng getaktet. Da ist es schwierig, mehrere Tage zu unterbrechen. Man darf über solchen Einsatz geteilter Meinung sein, aber wer versichert denn bitte zu bezahlbaren Konditionen ein Tourneetheater gegen einen Vorstellungsausfall? Dazu kommen äußere Umstände, denn auch das Wetter kann dem Thespiskarren mal einen Strich durch die Rechnung machen, wenn ein Tourbus im Schneesturm stecken bleibt oder ein Wassereinbruch eine Bühne unbespielbar macht. Das sind bedrohliche Ereignisse, die ja finanziell irgendwie aufgefangen werden müssen. Wie sang Reinhard Mey so schön: „Wem Gott die rechte Gunst erweisen will, den schickt er einfach auf Tournee …“ Natürlich lassen sich nicht alle Aufführungsräume auf einen einheitlichen Standard bringen und glücklicherweise werden in die Jahre gekommene Spielstätten hin und wieder auch saniert, wenn sich eine Weiternutzung als sinnvoll oder zumindest wünschenswert erwiesen hat. Leider ist das nicht überall so. Auch im Bauwesen sind viele Kommunen mit hohen Kosten belastet. Neuer bezahlbarer Wohnraum erscheint kurzfristig oft nötiger als ein neuer Theatersaal. Der muss dann eben warten, manchmal so lang, bis schließlich der Brandschutz die Türen endgültig verschließt. Dann ist es vorbei mit der Kunst und guter Rat noch teurer, als es eine rechtzeitige Sanierung möglicherweise gewesen wäre. Dabei sollte gerade den kleineren Spielstätten in den nächsten Jahren eine wichtige Aufgabe zukommen: integratives Theater. Was sich in den Großstädten schon etabliert: Projekte, bei denen sich Menschen mit und ohne Migrationshintergrund austauschen, voneinander erzählen und sich begegnen können. Solche Projekte auf Tournee zu schicken, ist finanziell riskant. Das Stammpublikum könnte wegbleiben. Zusätzliches Begleitpersonal ist kostenintensiv und die Logistik für Publikumsgespräche und Unterrichtsbesuche vor Ort stellt jedes Tourneetheater vor eine ungeheure Aufgabe. Gerade hier aber wären eine bessere Vernetzung von Bildungseinrichtungen und Kulturanbietern sowie eine von Kultursubventionen unabhängige Förderung überaus wünschenswert. Gesellschaftliche Bedeutung von Theaterveranstaltungen Eins sollte man bei aller Mühsal des Geschäfts nicht außer Acht lassen: Was rar ist, bleibt besonders. Oft ist das Publikum gerade dort am dankbarsten, wo die (Aufführungs-)Verhältnisse am schwierigsten sind. Ein

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Theaterabend bedeutet vielerorts noch immer mehr, als sich nur ein Stück Kultur zu gönnen: Man sieht sich, man trifft sich, man begegnet sich im Rahmen einer solchen Veranstaltung anders als auf der Straße oder im Geschäft. Das Theater dient hier als öffentlicher Raum und der eigenen Repräsentation. Was das gutbürgerliche Schauspielhaus früher einmal war, das leistet die Stadthalle oder das gut geführte Kurhaus für die ländliche Bevölkerung noch immer. Trotzdem gilt der Zuschauer dort als schwieriger. Er sei weniger leicht für neue Formen des Theaters zu begeistern. Ist das nicht eine zu großstädtische Sichtweise? Schließlich gehen die Tourneetheater gerade dorthin, wo ansonsten eher nichts stattfinden würde. Vor allem junge Familien leben heute im ländlichen Raum, während junge, solitäre Erwachsene sich ebenso wie die deutlich Älteren für die urbanen Lebensräume entscheiden. Mobilität und Vielfalt sind zentrale Zauberworte. Umso mehr gesellschaftliche Bedeutung kommt der „provinziellen“ Veranstaltung zu: Oft gibt es vor der Aufführung eine inhaltliche Einführung; Unternehmen, die etwas auf sich halten, bieten das längst mit an. Zwar fehlt für einen begleitenden Reisedramaturgen, der jeden Abend in 15 bis zwanzig Minuten das Stück erklärte, das Geld. Aber es findet sich immer ein dankbarer Kollege aus dem Ensemble, der sich so einen kleinen Obolus verdient und dem es oft auch besonders Spaß macht, seinem Publikum schon einmal vorab zu begegnen. Wo ein Theaterbesuch nicht zur Routine gehört, kommen viele vermeintlich weltmännische Theaterentwicklungen weniger bis gar nicht an oder sie sind hier nur als Gerücht, meistens bei den ehemaligen Studienräten, bekannt. Aber ist ein kritisches Publikum, das einen gewissen Anspruch verfolgt, eine unverhältnismäßige Herausforderung? Das kann auch als Korrektiv verstanden werden: als Vergleichsmaßstab zum kunstverwöhnten, abgestumpften, weil übersatten Publikum der Großstädte. Die Vermittlung braucht vielleicht mehr Zeit oder etwas mehr Hingabe. Aber die Publikumsgespräche werden angenommen und gehören für das Stammpublikum meist ebenso zum Ritual wie das Pausengespräch bei Sekt und Salzbrezel. Und ja, es treffen sich mitunter wie in der guten alten Zeit noch der Apotheker und der Pfarrer und der Lehrer. Aber es sind längst keine elitären Veranstaltungen mehr. Die Besucherstruktur ist hier am Ende keine andere als in den größeren Städten auch. Die Bevölkerungsdichte nimmt auf dem Land merklich zu und damit der Bedarf an Kultur, Kunst und Unterhaltung. 57 Prozent der Deutschen wohnen in nichtstädtischen Gebieten. Darüber hinaus lebt man auch längst nicht mehr hinterm Mond, seitdem das Internet trotz anhaltender Verzögerungen

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beim Breitbandausbau auch noch hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen genutzt werden kann. Man weiß sehr wohl, was in der großen weiten Welt vor sich geht, was woanders geboten wird und was es zu schauen und zu erleben gäbe, begäbe man sich denn dorthin, wo man eben nicht hin will oder schlicht nicht hinkommt. Man möchte teilhaben: Mit Beginn einer neuen Spielzeit stehen auch in deutschen Provinzspielstätten blond gesträhnte Damen mit Fönfrisur und graumelierte Herren in Karosakkos in Eingangsbereichen herum, die sich am Theatertag vornehm als Foyer gebärden. Man nippt an Sekt-OrangeMischungen und diskutiert über die drohende Schließung des örtlichen Freibads. „Lehrerabo“ nennt die Branche gern dieses Publikum, das sich zwischen Eckernförde und Singen kaum unterscheidet. Vom Artensterben der Abonnentenringe Das Publikum in der Provinz: Ist es tatsächlich rückständiger und schwerer zu erreichen als das angeblich so aufgeklärte und weltoffene Publikum unserer Großstädte? Oder sind diese Menschen einfach nur weniger abgestumpft, empfindsamer? Eine gewisse kaltschnäuzige Arroganz lässt sich nicht abstreiten: Denn von Künstlern aus den sogenannten großen Häusern, von Politikern und Kritikern werden die Wandertruppen meistens kaum bis gar nicht wahrgenommen. Auch bei der Verleihung des FAUST-Theaterpreises wurde noch nie ein Tourneetheater aufgerufen. Wenn städtische Theaterhäuser geschlossen oder Ensembles aufgelöst werden, gibt es vehemente Proteste von allen Seiten, offline wie online; dazu Solidaritätsbekundungen von befreundeten wie verfeindeten Theatern, während gleichzeitig die Rechtfertigungsreden von Politikern durch den medialen Blätterwald geblasen und aufgebauscht werden. Wenn aber in einem Jahr zehn Abonnentenringe in Kleinstädten aufgelöst werden, registriert das maximal die Lokalpresse. Dabei ist dieser Vorgang so dramatisch wie das Artensterben im Amazonasgebiet – auch dort sieht man den Wald offenbar vor lauter Bäumen nicht. Das gleiche gilt für die Kultur auf Rädern. Was einmal weg ist, ist schwerlich wiederzubekommen. Da stellt sich die Frage, ob es dem provinziellen Publikum überhaupt bewusst ist, dass es, wenn von „Strukturierungsmaßnahmen im ländlichen Raum“ die Rede ist, dabei um ihre Theater und Spielstätten geht. Dass immer weniger Städte Theateraufführungen buchen? Dass viele Menschen immer weitere Wege zurücklegen müssen für etwas so gründlich Unterschätztes wie kulturelle Teilhabe? Welche Produktionen sich am Ende einer Spielzeit im harten Überlebenskampf durchsetzen, entscheidet sich auf dem brancheneigenen

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Theatermarkt der Schaustellergilde: der INTHEGA, der Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen. Bei ihren regelmäßigen Tagungen werden nicht nur Preise für die erfolgreichsten Produktionen ausgelobt, es wird auch wie auf einem Basar alles zu Markte getragen, was von Stepptanz über Zauberkünstler bis Sprechtheater angeboten werden kann. Doch dieser Markt wird nicht von Künstlern organisiert. Es sind Kaufleute und es geht ums Geld: Tourneetheater sind privatwirtschaftliche Unternehmen. Sie bieten ihre Waren an und die Städte zahlen dafür. Die Anbieter bekommen ihr Geld, selbst wenn die Vorstellungen später nicht ausverkauft sind. So werden sie indirekt subventioniert. Wenn eine Inszenierung floppt, tragen sie allerdings auch das unternehmerische Risiko. Ein enttäuschter Kulturamtsleiter kauft dann im schlimmsten Fall beim nächsten Mal bei einer anderen Firma. Da kann langjähriges Vertrauen schnell verloren gehen. Der Markt ist hart umkämpft. Große Anbieter brauchen großen Umsatz, um ein Unternehmen halten zu können; denn die Kosten für Mensch und Material, Spritpreise und Hotels, steigen permanent. Eine nennenswerte Konkurrenz in diesem Milieu sind vor allem die Landesbühnen, denn sie werden komplett gefördert. Doch wen man nicht besiegen kann, den sollte man sich vielleicht öffentlich zum Freunde machen: Je innovativer diese Bühnen arbeiten, desto neugieriger werden am Ende auch die Kulturbeauftragten in der Fläche. Man will schließlich teilhaben: Die Nachfrage beeinflusst auch hier das Angebot. Schwierige, weil künstlerisch anspruchsvolle oder thematisch eher ernste Produktionen bleiben dabei immer riskant. Eine Auszeichnung durch die INTHEGA kann zwar helfen, eine Produktion nach vorne zu bringen, doch wo Gelder fehlen, entsteht eine Kultur der Ängstlichkeit. In Krisenzeiten werden leichte Kost und anspruchslosere Unterhaltung gewünscht. Mittelmaß bietet Sicherheit. Gefällige Well-made-Plays garantieren volle Häuser und volle Kassen. Ein Tourneetheater muss etwa sechzig Aufführungen einer Inszenierung verkaufen, damit sie sich rechnet. Allerdings müssen Kulturämter auch rechtfertigen, wofür sie ihr weniges Geld ausgegeben haben: Da kann ein vertrauliches Gespräch auf einer INTHEGA-Tagung Feuerschutz bieten. Denn erfahrene Kollegen geben die besten Empfehlungen. Wer ist zuverlässig und was hat sich bewährt? Gleichzeitig können Anbieter auf Neues aufmerksam machen – und wer zufrieden war, kauft wieder. Zwischen Unterhaltungsangebot und Bildungsauftrag Eine beständige Kosten-Nutzen-Relation schwebt als ewiges Damoklesschwert über allem Handel und Wandel der Branche. Die Sorge um

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a.gon Theater, München: Das Boot. Foto: Marina Maisel

die Theaterlandschaft im Ganzen bestimmt auch hier das Geschäft weit mehr als das künstlerische Schaffen an sich: Die „harten Zeiten“ sind ein Dauerzustand und der Überlebenskampf manifestiert sich im beständigen Ringen mit den klammen Kommunen um das wenige Geld, das die Kulturetats bieten. Unterhaltsam soll das Produkt sein, aber nicht anspruchslos, den Bildungsauftrag erfüllen, aber nicht intellektuell trocken rüberkommen, die Jugend erreichen, aber die Abonnenten nicht verschrecken – und am Ende soll für alle was dabei sein, aber bitte nicht zu teuer. Immerhin die älteren Besucher wissen Qualität noch zu schätzen, gerade in der Provinz, wo noch nicht alles so kurz- und schnelllebig ist wie in der großen Stadt. Hier hat man noch Ansprüche an das Produkt, mag das der Regisseur aus Berlin auch noch so spießig und altmodisch finden. Die Welt des Tourneetheaters ist den Veränderungen der Zeit und der Gesellschaft genauso unterworfen, wie die städtischen Theater auch. Das Theater, wie man es früher kannte, spielt für viele Menschen keine Rolle mehr. Die Krise der Theater ist eine allgemeine. Die Theater in der Fläche bleiben vom kulturellen Wandel nicht verschont. Aber vielleicht müssen sie andere Antworten finden als die städtischen Bühnen? Welche Funktion hat das Theater in der Zukunft in der Fläche? Ein Weiter-So kann es auch hier nicht geben. Trotzdem klammern sich gerade die Großen an die guten alten Zeiten. Man ist in die Jahre gekommen und will sich nicht ändern. Dagegen stehen neue, junge Truppen, die vom Ballast der Vergangenheit frei sind. Sie reagieren direkt und unmittelbar auf die

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Bedürfnisse eines sich erneuernden Publikums: Open-Air-Produktionen erfreuen sich wachsender Beliebtheit, Comedy steht (noch) hoch im Kurs und füllt ganze Stadien. Da kommen Zuschauer von weither und verlassen wie von selbst ihre Komfortzone. Der Eventcharakter steht mehr denn je im Vordergrund. Das widerspricht – naturgemäß – der Selbstdefinition des alternden Tourneetheaters. Tournee und Event sind wie Liebe und Ehe: Liebe braucht Feiertage, Ehe braucht Alltag. Aber das alte Erfolgsrezept, Stars und Klassiker in langen Tourneen über Land zu schicken, zieht kaum noch. Heute sind es vielleicht eher die kleinen, schnellen und wendigen Unterhaltungsboote, die bald die tieferen Gewässer für sich entdecken werden. Sie sind mit neuem Schwung und Elan unterwegs und sie entwickeln neue Konzepte – auch in Hinblick auf den Stil ihrer internen Betriebsführung. Damit machen sie den alternden Kreuzfahrtschiffen des patriarchalen Tourneetheaters nicht nur die Seerechte in den Spielplänen streitig. Sie gewinnen auf diese Weise vielleicht auch als zukünftige Arbeitgeber an Attraktivität, um neue kreative Kräfte an sich zu binden und sich so von innen heraus zu erneuern. Henrichs, Benjamin: „Theater in der Provinz“, in: Die Zeit 17/1980.

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ANHANG


Autor*innen

Holger Bergmann ist Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste. Er war Gründungsmitglied und von 2002 bis 2014 Künstlerischer Leiter des Theaterhauses Ringlokschuppen Ruhr, entwickelte als Kurator Stadtraumprojekte für die Ruhrtriennale, Urbane Künste Ruhr und war 2016 Künstlerischer Leiter des NRW-Theaterfestivals Favoriten in Dortmund. Lena Düspohl ist Studentin der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Universität Hildesheim. Sie ist Teil des theaterpädagogischen Kollektivs Probe:Bühne Hildesheim, das gemeinsam Workshops entwickelt. Henning Fülle ist Dramaturg und Dozent und hat über die Bedeutung des freien Theaters für die deutsche Theaterlandschaft promoviert. Er lehrt und forscht an der Universität Hildesheim, speziell zur Entwicklung eines Archivs des freien Theaters und zur Entwicklungsgeschichte der Theaterlandschaft der DDR. Thilo Grawe studiert Inszenierung der Künste und der Medien an der Universität Hildesheim. Er beschäftigt sich mit forschender Theaterpädagogik sowie kollektiven Erzählimprovisationen und ist Vorstandsmitglied des Theaterhaus Hildesheim e. V. und als Performer, Theaterpädagoge und Kulturmanager tätig. Michael Grill ist Beauftragter des Vorstands des Bundes der Theatergemeinden e. V. und Geschäftsführer der Theatergemeinde München. Zuvor arbeitete der Diplom-Journalist für die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Münchner Abendzeitung sowie u. a. als stellvertretender Presseleiter im Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst und der Bayerischen Schlösserverwaltung. Julius Heinicke ist Kultur- und Theaterwissenschaftler und an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg tätig. Er promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin über Theater in Zimbabwe. In Lehre und Forschung beschäftigt er sich mit Theatre and Arts in Education und internationaler Kulturpolitik in Europa und Afrika.

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Manfred Jahnke ist freiberuflicher Theaterwissenschaftler, Kritiker und Dramaturg mit Lehraufträgen an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart und am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zahlreiche Beiträge, insbesondere zum Kinder- und Jugendtheater, sind in Fachbüchern und -zeitschriften erschienen. Beate Kegler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Sie lehrt, forscht und publiziert zur partizipativen Kulturarbeit, kulturellen Bildung und künstlerischen Vielfalt und promovierte mit einer Dissertation zur Soziokultur in ländlichen Räumen. Naemie Zoe Keuler engagierte sich seit 2006 für den Landesverband Amateurtheater Baden-Württemberg e. V., seit 2013 ist sie ehrenamtliche Präsidentin und seit 2016 Geschäftsführerin. Nach Tätigkeiten als freie Regisseurin gehörte sie von 2007 bis 2016 zum Team des Soziokulturellen Zentrums Kulturkabinetts e. V in Stuttgart. Micha Kranixfeld ist freier Kulturschaffender und Dramaturg, studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und Urban Design an der HafenCity Universität Hamburg. Mit Syndikat Gefährliche Liebschaften inszeniert er Begegnungsräume zur Produktion von Wissen und Bildern über das Leben in ländlichen Regionen. Friederike Lüdde war zunächst als Regieassistentin am Deutschen Nationaltheater Weimar engagiert, bevor sie das Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Universität Hildesheim mit einem Diplom abschloss. Seit der Spielzeit 2008/09 ist sie Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Rudolstadt. Merle Mühlhausen studiert Inszenierung der Künste und Medien an der Universität Hildesheim. Sie ist Teil des theaterpädagogischen Kollektivs Probe:Bühne Hildesheim und leitete 2018 gemeinsam mit Jasmin Keller und Thilo Grawe das Theaterhaus Hildesheim. Antonia Rehfueß studiert Szenische Künste an der Universität Hildesheim. Sie arbeitet im künstlerischen Betriebsbüro des Theaterhauses Hildesheim und leitet theaterpädagogische Projekte am Freien Theater Tempus fugit in Lörrach.

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Autor*innen und Gesprächspartner*innen

Sabine Reich leitete von 2017 bis 2019 den Fonds Tanzland und war zuvor geschäftsführende Dramaturgin am Schauspielhaus Bochum, wo sie u. a. Stadtprojekte und Interventionen verantwortete. Aktuell betreut sie ein deutsch-namibisches Kunstfestival. Thomas Renz ist Kulturmanager und Kulturwissenschaftler. Er forscht zum Publikum und zur Organisation von Kultureinrichtungen und war von 2010 bis 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Seit 2017 ist er künstlerischer Leiter des Stadttheaters Peiner Festsäle und kaufmännischer Geschäftsführer beim Kulturring Peine. Ilona Sauer ist Kulturvermittlerin und Projektleiterin von FLUX. Theater in Hessen unterwegs. Theater für Schulen. Anna Scherer studierte Theaterwissenschaft und Pädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, war Musiktheaterpädagogin am Staatstheater Mainz und ist seit 2014 Leiterin des Kinder- und Jugendtheaters und Theaterpädagogin an der Burghofbühne Dinslaken. Sven Scherz-Schade arbeitet in Karlsruhe als freier Journalist mit dem Schwerpunkt Kultur, Kulturpolitik und Gesellschaft. Regelmäßig schreibt er für die Tagespresse sowie für das Fachmagazin Das Orchester. Seit 2016 ist er leitender Redakteur des Kultur–Journals der INTHEGA, das u. a. die Aktivitäten der Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen vorstellt. Wolfgang Schneider ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, Inhaber des UNESCO-Chair in Cultural Policy for the Arts in Development und Herausgeber zahlreicher Publikationen wie z. B. Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste, Weißbuch Breitenkultur. Kulturpolitische Kartografie eines gesellschaftlichen Phänomens am Beispiel des Landes Niedersachsen. Katharina M. Schröck ist Absolventin des Diplomstudiengangs Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis der Universität Hildesheim sowie Promovendin am dortigen Institut für Kulturpolitik. Seit 2011 arbeitet sie im Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main und ist dort seit 2016 Leiterin des Fachbereichs Darstellende Kunst und Kulturelle Bildung.

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Autor*innen und Gesprächspartner*innen

Dirk Schröter promovierte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg über die Literatur der Wendezeit 1989 und der Wiedervereinigung. Er war zehn Jahre lang in verschiedenen Aufgabenbereichen tätig für das Tourneetheater Euro-Studio Konzertdirektion Landgraf. Heute ist er freier Dramaturg, Regisseur und Dozent an der Freiburger Schauspielschule im E-Werk. Silvia Stolz ist Absolventin des Diplomstudiengangs Dramaturgie der Bayerischen Theaterakademie August Everding und der Ludwig-Maximilans-Universität München. Sie promoviert am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim über Gastspieltheater und ihre Rolle in der deutschen Theaterlandschaft. Sie ist Geschäftsführerin und Intendantin des Kultur- und Tagungszentrums STADEUM in Stade.

Gesprächspartner*innen

Stefan Hallmayer gründete 1981 das Theater Lindenhof Melchingen. Nach zahlreichen Theaterprojekten im In- und Ausland absolvierte er seine Schauspielausbildung, u. a. bei Yoshi Oida, Zygmunt Molik, Pino Capitani, und eine Ausbildung zum Clown bei Avner Eisenberg und Johannes Galli. Seit den 1990er Jahren ist er wieder Ensemblemitglied und Regisseur am Theater Lindenhof, seit 1999 in der Geschäftsleitung und seit 2010 Intendant des Hauses. Simone Haug studierte Kulturpädagogik an der Universität Hildesheim mit den Schwerpunkten Literatur, Kunst und Theater. Nach einem Studium der Empirischen Kulturwissenschaft, Rhetorik und Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen war sie bis 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am dortigen Institut für Wissensmedien mit dem Schwerpunkt Digitalen Medien. Seit 2016 ist sie Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Lindenhof in Melchingen. Christian Kreppel ist seit 2006 Leiter des Theaters Schweinfurt. Vorab war er 16 Jahre Chefdisponent bei der Konzertdirektion Euro-Studio Landgraf, seit 2016 leitet er zusätzlich das Kulturamt der Stadt Schweinfurt. Im Jahr 2013 wurde Christian Kreppel von den Mitgliedern der INTHEGA zu ihrem Präsidenten gewählt.

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Autor*innen und Gesprächspartner*innen

André Nicke wurde an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch ausgebildet und war viele Jahre als Schauspieler, Regisseur und Leitungsmitglied an verschiedenen Bühnen in Berlin und in der Provinz beschäftigt. Seit 2017 ist er Schauspieldirektor der Uckermärkischen Bühnen Schwedt/Oder und wird deren Leitung zur Spielzeit 2019/20 übernehmen. Reinhard Simon hat in Rostock die Ausbildung als Schauspieler absolviert und in Leipzig Theaterwissenschaft studiert. Seit 1990 ist er Intendant der Uckermärkischen Bühnen in Schwedt/Oder und hat diese grenzüberschreitend auch zu einem in Polen verankerten Regionaltheater entwickelt und gemeinsam mit dem Theater Senftenberg die Umwandlung zur staatlich geförderten Landesbühne erkämpft. Werner Müller ist Theaterregisseur und leitet seit 1990 als Intendant das Stadttheater Fürth. Nach dem Studium der Germanistik, Theater- und Kommunikationswissenschaften in München führten ihn berufliche Stationen in den 1980er Jahren ans Staatstheater am Gärtnerplatz und ans Bayerische Staatsschauspiel als Regie- und Dramaturgieassistent. Zudem inszenierte Müller am Fränkischen Theater Schloss Maßbach. Ab 1988 arbeitete er als Dramaturg und Disponent bei der Konzertdirektion Landgraf.

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RECHERCHEN 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 140 Thomas Wieck . Regie: Herbert König 139 Florian Evers . Theater der Selektion 137 Jost Hermand . Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers Brecht-Studien 135 Flucht und Szene Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 133 Clemens Risi . Oper in performance 132 Helmar Schramm . Das verschüttete Schweigen 131 Vorstellung Europa – Performing Europe Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 130 Günther Heeg . Das Transkulturelle Theater 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 128 Torben Ibs . Umbrüche und Aufbrüche 127 Günter Jeschonnek. Darstellende Künste im öffentlichen Raum 126 Christoph Nix . Theater_Macht_Politik 125 Henning Fülle . Freies Theater 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig 123 Hans-Thies Lehmann . Brecht lesen 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft Leipziger Vorlesungen 116 Kathrin Röggla . Die falsche Frage Vorlesungen über Dramatik 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 113 Die Zukunft der Oper zwischen Hermeneutik und Performativität 112 Parallele Leben . Ein Dokumentartheaterprojekt 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit Dokumentarisches Theater 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 108 Horst Hawemann . Leben üben – Improvisationen und Notate 107 Roland Schimmelpfennig . Ja und Nein Vorlesungen über Dramatik 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit 105 Wie? Wofür? Wie weiter? Ausbildung für das Theater von morgen


RECHERCHEN 104 Theater im arabischen Sprachraum 103 Ernst Schumacher . Tagebücher 1992 – 2011 102 Lorenz Aggermann . Der offene Mund 101 Rainer Simon . Labor oder Fließband? 100 Rimini Protokoll . ABCD 99

Dirk Baecker . Wozu Theater?

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Das Melodram . Ein Medienbastard

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Magic Fonds – Berichte über die magische Kraft des Kapitals

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Heiner Goebbels . Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater

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Wolfgang Engler . Verspielt Essays und Gespräche

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Adolf Dresen . Der Einzelne und das Ganze Dokumentation

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Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm

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Macht Ohnmacht Zufall Essays

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B. K. Tragelehn . Der fröhliche Sisyphos

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Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters Essays

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Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch

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Die Kunst der Bühne – Positionen des zeitgenössischen Theaters Essays

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Woodstock of Political Thinking . Zwischen Kunst und Wissenschaft Essays

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Falk Richter . TRUST Inszenierungsdokumentation

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Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Diskussionen

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Frank Raddatz . Der Demetriusplan Essay

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Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute Aufsätze

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per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Essays

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Reality Strikes Back II – Tod der Repräsentation Aufsätze und Diskussionen

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Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Aufsätze

66

Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur Brecht-Tage 2008

65

Sabine Kebir . „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht

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Theater in Japan Aufsätze

63

Vasco Boenisch . Krise der Kritik?

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Anja Klöck . Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler?

61

Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Essays

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Elisabeth Schweeger . Täuschung ist kein Spiel mehr Aufsätze

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Helene Varopoulou . Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater

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Kleist oder die Ordnung der Welt

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Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Essay und Gespräch

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de


RECHERCHEN 55

Martin Maurach . Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 – 1945

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Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Essays

52

Angst vor der Zerstörung Tagungsbericht

49

Joachim Fiebach . Inszenierte Wirklichkeit

48

Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Vorträge und Diskussion

46

Sabine Schouten . Sinnliches Spüren

42

Sire, das war ich – Zu Heiner Müllers Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Werkbuch

41

Friedrich Dieckmann . Bilder aus Bayreuth Essays

40

Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Aufsätze

39

Stefanie Carp . Berlin – Zürich – Hamburg Essays

37

Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Tagungsdokumentation

36

Politik der Vorstellung . Theater und Theorie

32

Theater in Polen . 1990 – 2005 Aufsätze

31

Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Vorträge und Diskussionen

30

VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze

28

Carl Hegemann . Plädoyer für die unglückliche Liebe Aufsätze

27

Johannes Odenthal . Tanz Körper Politik Aufsätze

26

Gabriele Brandstetter . BILD-SPRUNG Aufsätze

23

Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Vorträge und Diskussionen

22

Falk Richter – Das System Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“

19

Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk

15

Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Aufsätze

14

Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR

13

Manifeste europäischen Theaters Theatertexte von Grotowski bis Schleef

12

Hans-Thies Lehmann . Das Politische Schreiben Essays

11

Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Vorträge und Diskussionen

10

Friedrich Dieckmann . Die Freiheit ein Augenblick Aufsätze

9

Gerz . Berliner Ermittlung Inszenierungsbericht

8

Jost Hermand . Brecht-Aufsätze

7

Martin Linzer . „Ich war immer ein Opportunist…“ Gespräche

6

Zersammelt – Die inoffizielle Literaturszene der DDR Vorträge und Diskussionen

4

Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Vorträge und Diskussionen

3

Adolf Dresen . Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Aufsätze

1

Maßnehmen . Zu Brechts Stück „Die Maßnahme“ Vorträge und Diskussionen



INTHEGA (Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen e. V.) Die INTHEGA vertritt rund 400 Städte und Gemeinden im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz), welche Abnehmer von Theatergastspielen sind, jedoch nicht ein eigenes Mehrspartenhaus mit festem Ensemble unterhalten. Dies gilt insbesondere für die Klein- und Mittelzentren mit Spielstätten unterschiedlicher Art – Theater, Stadthallen, Kulturhäuser oder Kongresszentren. Der Verband verfolgt in seiner heterogenen Struktur das Ziel, die Arbeit der Veranstalter von Gastspielproduktionen zu unterstützen und somit qualitativ ansprechende Kulturveranstaltungen auch jenseits von Großstädten zu ermöglichen. Großer Wert wird dabei auf ein vielfältiges Service-Angebot gelegt, u.a. mit der jährlichen INTHEGA-Jahrestagung im Frühjahr, dem jährlichen INTHEGA-Theatermarkt im Herbst sowie der INTHEGADatenbank, welche eine detaillierte Übersicht zu den Gastspielangeboten, Städten und Gemeinden sowie Technik-Firmen bietet. Gleichzeitig steht die INTHEGA auch den Anbietern von Gastspielangeboten (Tourneetheater, Landesbühnen, Gastspieldirektionen, freie Bühnen) als kompetenter Ansprechpartner zur Verfügung und bietet ihnen regelmäßig die Plattform, ihre Gastspielangebote vorzustellen. Elementares Ziel der INTHEGA ist es, die Bedeutung der Gastspielbranche für die föderale Theaterkultur zu betonen. Gastspielhäuser machen einen wesentlichen Bestandteil der Theaterlandschaft aus und stellen eine unverzichtbare Größe im Kulturangebot dar. Das Engagement der Verantwortlichen in den Kommunen der Mitglieder trägt dafür Sorge, dass rund 15 Millionen Menschen auch jenseits der Zentren ein direkter Zugang zum Theater ermöglicht wird.

INTHEGA e.V. geschaeftsstelle@inthega.de www.inthega.de


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BFDK Bundeskongress 2020 16. - 19. Januar 2020 | Berlin | HAU Hebbel am Ufer s


www.landestheater-schwaben.de facebook.com/landestheater-schwaben


BUND DER

THEATERGEMEINDEN E. V. IHR KOMPETENTER KULTURPARTNER VOR ORT IN 22 DEUTSCHEN STÄDTEN Berlin Bochum Bonn Cottbus Darmstadt Dinkelsbühl Düsseldorf Essen Frankfurt Hamburg Ingolstadt Karlsruhe Koblenz Köln Ludwigshafen Mainz Mönchengladbach München Münster Oberhausen Trier Wiesbaden „WIR SIND GEMEINNÜTZIG. WIR FÖRDERN DIE KULTUR. UND WIR FÖRDERN DAS PUBLIKUM.“





Wenn vom Theater die Rede ist, geht es meist um den urbanen Raum. Aber auch vorm Deich, auf dem Land und zwischen den Metropolen spielt sich Dramatisches ab – von Menschen für Menschen, in Bürgerhäusern und auf Dachböden, in Kirchengemeinden und auf Marktplätzen. Das Theater in der Fläche ist Spielort von Landesbühnen und Tourneetheatern sowie freien Ensembles und Amateurtheatern. Die Publikation wirft einen konzentrierten Blick auf den ländlichen Raum in unserer Theaterlandschaft, lässt die Theatermachenden zu Wort kommen und fragt nach den Aufgaben, aber auch den Herausforderungen und Potenzialen. Wie gestalten Theateranbieter und Theaterveranstalter das Programm? Wie erreichen Landesbühnen und Gastspieltheater ein Publikum? Welche Projekte ermöglichen kulturelle Vielfalt und künstlerische Teilhabe? Welche Theaterpolitik braucht das Land?

ISBN 978-3-95749-195-4

www.theaterderzeit.de


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