Raimund Hoghe: Wenn keiner singt, ist es still. Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019)

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Raimund Hoghe

Wenn keiner singt, ist es still Portraits, Rezensionen und andere Texte



Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still


Wir danken der Kunststiftung NRW für die freundliche Unterstützung dieser Publikation.

Raimund Hoghe Wenn keiner singt, ist es still Porträts, Rezensionen und andere Texte Herausgegeben von der Kunststiftung NRW Dr. Fritz Behrens, Präsident Dr. Ursula Sinnreich, Generalsekretärin Recherchen 150 © Texte und Fotos: Raimund Hoghe © dieser Ausgabe, 2019: Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Fotos: Raimund Hoghe Coverfoto: Rosa-Frank.com Gestaltung: Sibyll Wahrig Printed in Germany ISBN 978-3-95749-233-3 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-258-6 (ePDF) ISBN 978-3-95749-259-3 (EPUB)


Raimund Hoghe

Wenn keiner singt, ist es still Porträts, Rezensionen und andere Texte

Recherchen 150


Inhalt

Vorwort der Kunststiftung NRW

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Vergessen – wie macht man das?

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Begegnungen in einem jüdischen Altenheim

Übergänge

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Anmerkungen zu einigen Bildern in Pina Bauschs Kontakthof

Und die Liebe höret nimmer auf

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Bruchstücke aus dem Leben der Prostituierten Annemarie Slovik, 67

Kontaktversuche

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Pier Paolo Pasolini als Zeichner

Doch immer war’s ein Tanzen ohne Ende

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Notizen zu Sankai Juku

Auf dem Mönchsberg

45

Der Schriftsteller Peter Handke

„’ne einfache Frau bin ich“

53

Die Wartefrau Maria Rüb

Mit nackten Augen

61

Die Lyrikerin Rose Ausländer

„Ja, fürchten dürfen Sie sich nicht“

71

Die Schauspielerin Elisabeth Bergner

Die Toten beginnen zu laufen

79

Kazuo Ohno und andere Butoh-Tänzer in Berlin

„Ich hab’ nie große Rollen gespielt“ Die Sängerin Irmgard Urbschat-Brux, genannt Irmchen

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85


Inhalt

Einfache Geschichten

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Text für Heiner Müller

„Wenn keiner singt, ist es still“

95

Hannelore Kraus und ihr Kampf gegen das höchste Gebäude Europas

Andreas nimmt Abschied vom Leben

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Der aidskranke Andreas M.

Palucca, der Tanz und das Meer

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Die Ausdruckstänzerin und Pädagogin Gret Palucca

„Und weben der Menschheit einen wärmenden Mantel“

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Anmerkungen zu der Arbeit des Fotografen Stefan Moses

Die Bilder. Die Worte. Und Aids.

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Hervé Guiberts Mitleidsprotokoll und sein Film Die Scham oder die Schamlosigkeit

Ein Stern fällt

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Der Sänger Joseph Schmidt

Mehr als ein Leben

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Die Schriftstellerin Anja Lundholm und die Geschichte einer Familie in Deutschland

„So kam ich unter die Deutschen“

146

Bruchstücke und Notizen zu den Asylbildern von Martin Rosswog

Der schmale Weg ist mir zu eng

149

Text über Grenzgänger

Nachwort

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Der Autor

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Textnachweise

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VORWORT DER KUNSTSTIFTUNG NRW -

Der Künstler trägt die Zeit nicht, zwischen zwei Deckel gelegt, bei sich an einer Kette; er richtet sich nach dem Zeiger des Universums, weiß darum immer was die Urkuckucksuhr geschlagen.

(Else Lasker-Schüler, Das Hebräerland, 1937)

In seinem 1999 uraufgeführten Solo Lettere amorose zitiert der 1949 in Wuppertal geborene Raimund Hoghe nicht zum ersten Mal seine geistige Weggefährtin – die 1869 ebenfalls in Wuppertal gebürtige deutsch-jüdische Autorin Else Lasker-Schüler. Lasker-Schüler schrieb 1919 einen Brief an einen Schweizer Freund mit der Bitte, er möge sie doch bei ihrem Visumsgesuch in die Schweiz unterstützen. Die Zeitachse 1869–1919–1949–1999–2019 ist eine von vielen in dem im Mai in Düsseldorf wiederaufgeführten Stück Lettere amorose, die auf eine grundlegende Methode in Hoghes Arbeit als Choreograf und Autor verweist: Raimund Hoghe ist nicht nur ein Meister der sparsamen und in ihrer Verdichtung umso eindringlicher wirkenden Gesten auf der Bühne, sondern auch ein Meister der Verschränkung von Geschichten auf vielen zeitlichen Ebenen. So, wie die Präsenz der vor 150 Jahren geborenen Lasker-Schüler in ihrem vor 100 Jahren verfassten Brief in die Performance hineinruft, entwirft der ‚Autorenjournalist‘ Hoghe seine Interview-basierten Porträts ganz bewusst als Echokammern der Erinnerungen und der Bilder. Sein methodischer Ansatz besteht im Zuhören und Aufzeichnen; Gesagtes wird unkorrigiert und in größtem Respekt gegenüber dem gesprochenen Wort veröffentlicht, sodass die porträtierten Personen in all ihrer situativen Befindlichkeit und in ihrem Eigensinn leuchten können. Ob von hohem oder niedrigem Bildungsstand, berühmt oder am Rande der Gesellschaft, sprachmächtig oder sprachlos, für Raimund Hoghe sind all das unerhebliche Kriterien – ihn interessieren Menschen, ob sogenannte Starschauspieler oder Autoren von Weltrang, Taxifahrer oder Reinigungskräfte. Im Sinne seiner transluziden, existenziellen Interpretation dessen, was Menschsein bedeutet, und aus seiner tiefen Überzeugung, dass jeder

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Vorwort

Mensch ein fragiles Wesen, reich an Geschichten ist, die es wert sind, gehört zu werden, interessiert er sich für sein jeweiliges Gegenüber mit der größtmöglichen Nähe, die ihm sein forschend distanzierter und zugleich der jeweiligen Situation sich öffnender, verstehender Blick erlaubt. Jedes Interview bleibt ein in der Konsequenz der Veröffentlichung ungeschliffener Rohling, eine aus der jeweiligen Lebenssituation seines Gegenübers festgehaltene Momentaufnahme, übersetzt in Sprache und Fotografie. In seinen Bühnenarbeiten schafft Hoghe als Choreograf Erinnerungsräume durch minimalistische und ritualisierte Gesten, Musik und Sprache, die ein symmetrisch angeordnetes Beziehungsnetz in und mit der Architektur des Raumes weben. In seinen Porträts ist er weniger Autor als Medium; er erschließt die Stimmen und Erinnerungsräume anderer, indem er Lebenswege von Menschen und deren Biografien sichtbar macht, die er nicht klassifiziert, sondern mit aller Sorgfalt, Hingabe und Aufmerksamkeit nebeneinander existieren lässt – in all ihren jeweiligen Daseinsverfasstheiten: Künstler mit erfolgreichen Karrieren bzw. solche, die zur Zeit der Veröffentlichung auf den Vorstufen des Erfolgs standen – wie z. B. Rose Ausländer, Elisabeth Bergner, Kazuo Ohno, Heiner Müller oder Peter Handke. Gleichzeitig widmete Hoghe seit seinen journalistischen Anfängen seine Porträts den weniger Erfolgreichen der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft und spürte Menschen auf, die abgekämpft, aber stolz, in ihren Lebensplanungen gescheitert, aber selbstbewusst waren. Bereits in seinen frühen Texten porträtierte er versehrte, von der Gesellschaft abgehängte Menschen am Existenzminimum wie z. B. die Toilettenfrau Maria Rüb und die Prostituierte Annemarie Slovik oder Sterbenskranke wie Andreas M., die Abschied nahmen von einer Welt, die gerade mit HIV infiziert worden war. Das Leid der Welt – so z. B. Flucht, Vertreibung und Existenzvernichtung, gestern wie heute – lässt ihn nicht los und macht ihn zu einem ‚mit-teilenden‘, mitfühlenden Künstler und Archäologen allzu schnell verdrängter Realitäten. Hoghe ist nicht nur Liebhaber, sondern auch im politischen Sinne engagierter Vertreter des sogenannten ‚Queeren‘ – durch seine Zuwendung stärkt er diejenigen, die gesellschaftlich als Wesen außerhalb der Norm eingestuft werden. Seine Protagonistinnen und Protagonisten werden durch seine Aufmerksamkeit zu schönen Menschen; sie fallen nicht durchs Raster der Geschichte, sondern sie erzählen von Abnormität und Abweichung;

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Vorwort

ungeraden, weit verzweigten Lebenslinien; feingliedrigen, porösen, unsicheren, nicht abgesicherten Existenzen. Von ihrem Neuanfang, ihrer Hoffnung und ihrem Abschied vom Leben, ihrer Entblößung, ihrem Abgrund, ihrer Angst und ihren Träumen. Hoghes Erinnerungsarbeit ist auch Trauerarbeit. Und dann plötzlich entsteht ein Witz, eine Situationskomik macht aus Weinen Lachen. Und immer wieder nimmt er sich Zeit; gibt der Empfindsamkeit für Zeit als wertvolles Gut Raum. Seine Echokammern erzeugen eine innere Zeit, die anders vergeht als die äußere Zeit. Und Zärtlichkeit. Um einige seiner Geschichten und Porträts, die seit Mitte der 70er Jahre u. a. für DIE ZEIT und Theater heute entstanden und teilweise vergriffen sind, nicht der Geschichtsvergessenheit anheimfallen zu lassen, hat die Kunststiftung NRW sich freudig entschieden, diese gemeinsam mit dem Verlag Theater der Zeit neu zu verlegen – und dies vor einem weiteren Zeithorizont: In NRW feiern wir in diesem Jahr nicht nur den 150. Geburtstag von Else Lasker-Schüler, sondern auch den 70. Geburtstag von Raimund Hoghe sowie das 30. Jubiläum der Kunststiftung NRW, die mit diesem wunderbaren Künstler seit vielen Jahren fördernd verbunden ist. Seinem Wirken verdanken wir Momente voller unnachahmlicher Poesie, die in seinem Tanz ebenso zum Ausdruck kommt wie in seiner Sprache. Genauigkeit und Emotion, Durchlässigkeit und Entschiedenheit verschränken sich in seinem Denken wie in seinem künstlerischen Tun auf eine Weise, die aus den Brüchen des Lebens eine Schönheit gewinnt, die alles umfasst wie eine Umarmung: das Große im Kleinen, die Ruhe in der Bewegung, die Zeit im Raum. Wir überreichen Raimund Hoghe dieses Buch mit einer kleinen Verbeugung, ähnlich der, wie wir sie aus seinen Aufführungen kennen, und sagen: Merci. Den Leserinnen und Lesern dieser Preziose wünschen wir eine bereichernde und inspirierende Lektüre.

Dr. Fritz Behrens Präsident

Dr. Ursula Sinnreich Generalsekretärin

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VERGESSEN – WIE MACHT MAN DAS? Begegnungen in einem jüdischen Altenheim -

Jüdisches Altenheim, Düsseldorf, Zimmer 136. An den Wänden Bilder, Erinnerungsstücke. Frau Weiss sitzt auf dem Bett und sagt: „Was vorbei ist, ist vorbei.“ Ihre Eltern seien in Auschwitz ermordet worden, aber man müsse unter die Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen, wenn man weiterleben wolle. Sie stellt das sehr bestimmt fest und fragt, ob ich das Sprichwort kenne „Fürs Gewesene gibt der Jude nichts.“ Nein, antworte ich und weiß auch nicht, wie man das macht: vergessen. Land verloren die vertrauten Dinge Kein Wort mehr darüber Unsere Toten intakt wohnen bei uns Wir teilen mit ihnen unsere vergessliche Erde Rose Ausländer, Jahrgang 1901, geboren in Czernowitz, Bukowina, Jüdin, verfolgt von den Nazis, Autorin des Gedichtes Wir teilen, lebt wie Eva Weiss im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf. „Elternheim der Jüdischen Gemeinde“ steht auf dem Briefkopf des Hauses, in dem mehr als achtzig alte Menschen Platz finden, Juden deutscher, polnischer, tschechischer, rumänischer Herkunft und einige Nichtjuden. Im Zusammenleben gäbe es nicht die geringsten Schwierigkeiten, betont Heimleiter Franz Fantl, „sie sitzen nicht separat, wohnen nicht separat – das alles ist eine große Familie.“ Von großer Familie spricht auch Adolf Lilienthal, 84, und davon, dass man „außerordentlich zufrieden und glücklich“ sei. „Ausgezeichnet“ war es ihm auch vor Hitlers Machtergreifung gegangen: in Berlin hatte sich der Kaufmann Lilienthal nach dem Ersten Weltkrieg selbstständig gemacht, zunächst in der Speditions-, später in der Versicherungsbranche gearbeitet – „aber 1933 war für mich als Jude Schluss“. 1936 emigrierte er

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Vergessen – wie macht man das?

mit seiner Frau nach Portugal. „Nach den berühmten Gesetzen kamen wir mit zehn Mark da an.“ Fast vier Jahrzehnte blieb das Ehepaar in der Emigration und konnte sich im Lauf der Jahre eine neue Existenz aufbauen. „Wir lebten gut.“ Doch 1974, „nach der Revolution gingen wir weg“, zurück nach Deutschland. Der damals Achtzigjährige jüdische Emigrant fand „überall offene Türen“, und, wie er sagt, „im Altenheim eine neue Heimat. Wir haben uns wunderbar hier eingelebt.“ Im Nelly-Sachs-Haus zählt das Ehepaar Lilienthal zur relativ kleinen Gruppe der in Deutschland geborenen Heimbewohner. „Sie wissen ja: Die deutschen Juden sind im Wesentlichen ausgerottet. Auch meine gesamte Familie und die Familie meiner Frau sind ermordet worden – mit Kindern und allem. Das soll man nicht vergessen.“ Herr Lilienthal sagt das leise, ohne Hass. Wenig später zeigt er mir seine Briefmarkensammlung und lässt sich bereitwillig fotografieren. Seine Frau zieht sich während der Aufnahmen in die Diele zurück. Sie möchte nicht mit aufs Foto. Herr Lilienthal meint: „Sie hat immer noch so Angst.“ „Jeder hier hat Erlebnisse.“ Ein Satz, der mir oft gesagt wird im jüdischen Altenheim, auf dem Flur von einer 91-jährigen Jüdin, der es früher leicht fiel, über die Vergangenheit zu sprechen, „die Wahrheit zu sagen – aber jetzt kann ich es nicht mehr“, und auch von Ilse und Erich Unger, dem jüdischen Ehepaar, das noch kurz vor Ausbruch des Krieges vor den Nazis nach Chile fliehen konnte, dort einige Jahrzehnte blieb, arbeitete und überlebte. Man sei chilenischer Staatsbürger geworden, aber doch ein Fremder geblieben. „In Chile sagte man: ein Gringo“, erinnert sich der ehemalige Warenhausangestellte Erich Unger. Anfang der siebziger Jahre verließ er Südamerika, aus politischen Gründen. „Wenn Allende nicht gekommen wäre, wären wir geblieben.“ Mit zwei großen Kisten ging das jüdische Ehepaar vor fünf Jahren zurück nach Deutschland. „Jetzt ziehe ich nicht mehr weiter“, erklärt Herr Unger, und „kann nicht klagen: Die Zimmer sind schön, das Essen schmeckt mir auch, Radio, Fernsehen – wir haben alles, was wir brauchen.“ Unsicher, mit mehr offenen Fragen als vor dem Gespräch verabschiede ich mich. An der Wohnungstür holt mich Herr Unger noch einmal zurück. „Ich muss Ihnen noch etwas zeigen.“ Auf einem kleinen Bücherbord stehen Boxerhunde aus Porzellan. „Die habe ich schon in Berlin gehabt“, berichtet Erich Unger und weist nicht ohne Stolz·auf die zerbrechlichen Figuren, die die Flucht vor der Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reiches, Emigration und Rückkehr nach Deutschland ohne äußere Spuren überstanden. Unbeschädigt sind sie über dem Buch Exodus postiert.

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Vergessen – wie macht man das?

Wenn der Tisch nach Brot duftet Erdbeeren der Wein Kristall denk an den Raum aus Rauch Rauch ohne Gestalt Noch nicht abgestreift das Gettokleid sitzen wir um den duftenden Tisch verwundert dass wir hier sitzen Man habe jetzt Zeit, viel zu viel Zeit, meint Hertha B., 77, und erinnert sich in ihrer gutbürgerlich eingerichteten Altenheimwohnung bruchstückhaft an die Vergangenheit. Zu dieser Vergangenheit gehört für die in Düsseldorf geborene Jüdin unter anderem das Konzentrationslager Theresienstadt. Im Februar 1945, unmittelbar nach dem Tod ihres nichtjüdischen Mannes, wurde sie in das KZ gebracht. Die dort erlebten Grausamkeiten: „Das setzt sich aus tausend kleinen Episoden zusammen – da fällt mir immer wieder anderes ein.“ Hertha B. berichtet von Anordnungen, Toiletten mit den Händen zu reinigen, sich vor den Bewachern umzudrehen, spricht von Schüssen, die im KZ auch noch nachts fielen und davon, „dass ein Menschenleben ja nicht viel galt, wir nicht Menschen, sondern Tiere waren“. Und zwischen Fernsehgerät und Wohnzimmerschrank erinnert sie sich an ihre in fremder Sprache gelernte Lagernummer. „Ich habe sie bis heute behalten.“ Die 77-Jährige im kleingemusterten Hemdblusenkleid richtet sich ein wenig im Sessel auf, spricht langsam ein paar tschechische Worte, wiederholt sie: die KZ-Nummer der Jüdin Hertha B. Hertha B. zählt zu den wenigen Überlebenden der Konzentrationslager. Im Sommer 1945, nach der Befreiung des Lagers Theresienstadt durch die Sowjets, war sie wieder im Rheinland. „Aber ein Heim habe ich jetzt nicht mehr gehabt. Ich war die erste Zeit sehr deprimiert und total vereinsamt. Da habe ich oft vor dem Gasherd gestanden und gedacht: Entweder machst du Schluss oder gehst weg.“ Die ausgebildete Klavierlehrerin folgte einer befreundeten Familie nach Kolumbien, arbeitete in ihrem Beruf und als Korrespondentin. „Ich hatte mich gut eingelebt, aber doch immer wieder zurückgesehnt.“ Auf einem kleinen Bananendampfer fuhr die Jüdin wieder nach Deutschland, zurück in das Land, in dem über sechs Millionen Juden getötet wurden, darunter auch

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Vergessen – wie macht man das?

ihre Geschwister. „Zum Schluss kamen vorgedruckte Karten aus dem KZ zurück. ,Abgereist‘ stand da drauf, und ‚Aufenthalt unbekannt‘.“ „Jetzt kommen so viele Erinnerungen hoch“, sagt Hertha B., geht ins Nebenzimmer und kehrt mit einigen Geldscheinen zurück. „Das war das Lagergeld – doch anfangen konnten wir damit nichts. Die Geschäfte von Theresienstadt waren nur für die im Lager stattfindenden Besichtigungen eingerichtet worden. Alles war Schau. Auch der Theatersaal, in dem Komödien aufgeführt werden sollten – aber ich habe da keine Komödie gesehen.“ Sie erzählt das, ohne Hass zu zeigen. Klagen, Anklagen äußert sie nicht. Die 77-Jährige klagt nicht über die Vergangenheit, nicht über die Gegenwart. „Alles ist geregelt, warm ist es auch – was wollen wir mehr?“, fragt die seit 1972 im Altenheim lebende Jüdin. „Selbstverständlich bleiben immer Wünsche offen“, stellt sie leise fest. „Man kommt sich schon sehr überflüssig vor und wird auch einsam – aber das muss man bestehen.“ „Man möchte ja gern allen gerecht werden, aber man möchte auch gern sich selber gerecht werden, seine eigene Stimme hören, keine frommen Wünsche haben, einmal alles verwünschen dürfen. Dieses Glück ist einem selten vergönnt“, schreibt Rose Ausländer, die nach Kriegsende in die USA emigrierte und dort als Sekretärin, Korrespondentin und Dolmetscherin arbeitende Jüdin in einem ihrer kurzen Prosatexte. Abseits nicht nur vom Kulturbetrieb lebt die 1963 in den deutschen Sprachraum zurückgekehrte Dichterin seit einigen Jahren im jüdischen Altenheim. „Ich kann leider keinen Besuch mehr empfangen“, bedauert sie am Telefon – „ich bin schwer krank.“ Der Kontakt mit der Bewohnerin von Zimmer 419 ist nur noch über ihre Bücher möglich, Texte, die Auskunft geben nicht nur über ihre Geschichte, Vergangenheit, Verfolgung, Versuche, zu überleben. „Czernowitz 1941. Nazis besetzten die Stadt, blieben bis zum Frühjahr 1944. Getto, Elend, Todestransporte. In jenen Jahren trafen wir Freunde uns zuweilen heimlich, oft unter Lebensgefahr, um Gedichte zu lesen. Der unerträglichen Realität gegenüber gab es zwei Verhaltensweisen: entweder man gab sich der Verzweiflung preis, oder man übersiedelte in eine andere Wirklichkeit, die geistige. Wir zum Tode verurteilten Juden waren unsagbar trostbedürftig. Und während wir den Tod erwarteten, wohnten manche von uns in Traumworten – unser traumatisches Heim in der Heimatlosigkeit.“ Sie lebe anders als die anderen, wolle nicht wie ein Zug auf einem Abstellgleis sein, auf den Tod warten. „Ich bin ein unerhört heiterer Mensch und schaffe mir überall meine eigene Welt. Ich habe alles, was mein Herz begehrt“, beteuert Eva Weiss, die Tochter eines jüdischen

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Vergessen – wie macht man das?

Bankiers im engen Altenheimzimmer Nummer 136, in dem sie seit einigen Jahren mit ihrem Mann lebt und in dem nur noch kleine Nippesfiguren an die großbürgerliche Umgebung von einst erinnern. „Alles Märchen des vorigen Jahrhunderts“ sind für sie heute die Geschichten aus dieser untergegangenen Welt. Während sie Gebäck aus einer Kommode holt, stellt sie beiläufig fest: „Wir haben nur noch ein Bruchteil von dem Früheren – wir sind eine Stufe tiefer gefallen.“ Doch von Schwierigkeiten will Eva Weiss nichts wissen. „Es gibt nichts Schweres.“ Eva Weiss ist Jüdin und Deutsche. „Ich bin treudeutsch. Ich liebe Deutschland, diese Landschaft, mein deutsches Weihnachten – und ich sehe nicht ein, warum ich das nicht tun soll.“ Wenn sie über die Flucht aus diesem Deutschland, die Emigration nach Guatemala spricht, klingt das dann auch fast wie eine Entschuldigung: „Wir wollten uns ja nicht totmachen lassen.“ Auch im Exil baute sich Eva Weiss wieder ihre Welt auf. „Es ging uns großartig“, berichtet sie, und: „Wir Deutschen waren in Guatemala sehr beliebt.“ Aus gesundheitlichen Gründen musste das Ehepaar Weiss jedoch 1955 Südamerika verlassen. „Ich wäre aber auch so jederzeit zurückgegangen“, erklärt Eva Weiss. Die Vergangenheit war für sie kein Hindernis. „Vorbei ist vorbei – jetzt ist ein neues Leben.“ Die Ausschließlichkeit, mit der seine Frau einen Schlussstrich zu ziehen versucht, teilt Hans Weiss nicht. Eher bedächtig, nachdenklich berichtet der 82-Jährige von seinem Bruder, der heute in Holland lebe und sich geschworen habe, Deutschland nicht mehr zu betreten. Und auch für ihn selbst ist die Vergangenheit noch kein abgeschlossenes Kapitel. „Die Hetze auf die Juden ist ja nicht spurlos vorübergegangen – das ist doch noch in den Köpfen“, gibt er zu bedenken und glaubt: „Das Anderssein stößt immer auf Schwierigkeiten.“ Wir kamen heim ohne Rosen sie blieben im Ausland Unser Garten liegt begraben im Friedhof Es hat sich vieles in vieles verwandelt Wir sind Dornen geworden in fremden Augen

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Vergessen – wie macht man das?

Ein Zimmer, nur sparsam möbliert, nicht vollgestellt mit Stücken der Erinnerung, leerer als die anderen im Haus, reduziert auf wenige Gegenstände. Auf dem Tisch ein Buch. Wer war Hitler wirklich? Großkapital und Faschismus. 1918–1945. Bertha Fränken, 80 Jahre alt, stellt sich der Geschichte. „Man muss aus der Vergangenheit lernen“, fordert die Jüdin, die zu den Verfolgten gehört, die nicht Verfolger wurden. „Ich habe ja die Menschen nicht über einen Kamm geschoren – nicht alle waren Nazis. Es ist Schlimmes passiert, aber“ – so fügt die Kommunistin ohne Pathos hinzu – „ich verzeihe den Menschen.“ Schwer fällt ihr etwas anderes. „Ich habe gedacht, manche würden eine Lehre aus der Vergangenheit ziehen – doch ich sehe immer wieder, dass die Leute aus der Vergangenheit nicht die richtigen Lehren gezogen haben.“ Als einzige Gesprächspartnerin stellt Bertha Fränken immer wieder Fragen, geht von der Vergangenheit zur Gegenwart, befragt den Fotografen und mich, Angehörige der Nachkriegsgeneration. Wie unser Leben aussieht und wo wir stehen, was wir tun würden und ob wir nicht auch Angst hätten angesichts von Realitäten wie der Neutronenbombe. „Ich habe mich retten können, aber wenn jetzt etwas vorkommt – wenn wir jetzt einen neuen Faschismus hätten, dann würde kein Unterschied mehr gemacht zwischen Juden und Christen – heute wären wir alle in einem Boot.“ Sie denke oft darüber nach, mache sich Gedanken – „um die Jugend, nicht um mich. Ich habe mein Leben gelebt“, sagt Bertha Fränken, sagt das trotz Verfolgung, von der sie auch im französischen Exil nicht verschont blieb. „Als die Deutschen Frankreich besetzten, wurden wir wieder verfolgt, mussten uns verstecken und illegal leben – man war auf Solidarität und Hilfe von Verwandten aus dem Ausland angewiesen, um zu überleben – das hat viel Mühe und Not gekostet“, erinnert sie sich und will doch nicht nur von der Vergangenheit sprechen, wehrt sich gegen Resignation und Mutlosigkeit. „Man muss an die Zukunft denken“, fordert die Achtzigjährige, und: „Es ist nicht zu verzagen.“

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ÜBERGÄNGE Anmerkungen zu einigen Bildern in Pina Bauschs Kontakthof -

Liebe, Zärtlichkeit, Kindheit, Angst, Trauer, Sehnsucht, Träume und der Wunsch, geliebt zu werden – Themen, die Pina Bausch in ihren Stücken immer wieder aufgreift. Stichworte zu einem nicht nur die Grenzen von Ballett, Schauspiel und Musiktheater überschreitenden Theater, das sich eindeutiger Erklärung entzieht, verschiedene Sichtweisen einer Sache ermöglicht. Lässt man sich auf die mehrdeutigen Bilder, Situationen, Szenen ein, findet man sich nach einiger Zeit auch in Widersprüchen wieder. Je häufiger man Pina Bauschs Stücke sieht, desto klarer und zugleich unerklärlicher werden sie einem. Sommer 1981, ein Gastspiel. Kontakthof in Venedig. Zum ersten Mal sehe ich das 1978 entstandene Stück durch den Sucher eines VerfolgerScheinwerfers. Einzelne Figuren wirken wie in einem Fadenkreuz. Der Lichtkegel hebt sie heraus, isoliert sie von den anderen. Zu sehen sind nur Ausschnitte – wie auch die Beschreibungsversuche der Arbeiten Pina Bauschs ausschnitthaft bleiben. Dem Wunsch, über Bilder, Geschichten, Situationen in diesen Stücken zu sprechen, steht immer wieder das Gefühl gegenüber, sie mit Worten nicht erreichen zu können, nur zu reduzieren und die auf der Bühne realisierte Parallelität verschiedener Realitäten ohnehin nur sehr begrenzt vermitteln zu können. Die Weite und Geschlossenheit des Kontakthof-Raumes etwa, die Schlager aus den dreißiger Jahren und die gar nicht fernen Gefühle, das lichte Gelb, Rosa, Türkis, Grün, Blau, Violett der Cocktailkleider, das pomadisierte, glatte Haar der Männer und die sperrigen Beziehungen, die unbeholfenen und oft verletzenden Bemühungen und Versuche von Zärtlichkeit in dem von Rolf Borzik entworfenen Raum, der groß ist und hell und hoch, zwei Türen hat und ein Fenster an der Seite, ein Klavier, eine von einem grauen Vorhang verdeckte Kinoleinwand und entlang der Wände zwei Dutzend Stühle, auf denen Frauen in glänzenden Cocktailkleidern und Männer in dunklen Anzügen sitzen. Eine Frau steht auf. Geht an die Rampe. Zeigt sich von vorn, von hinten, von der Seite. Zieht den Bauch ein. Zeigt ihre Zähne, Hände, Füße. Zeigt sich von hinten. Geht zurück. Vom Tonband ein alter Schlager: „Frühling und Sonnenschein, soll für mich deine Liebe sein.“ Drei Frauen kommen nach vorn. Zeigen sich wie die Frau vor ihnen. Ein Mann kommt. Zeigt sich. Die anderen Männer und Frauen folgen. Die ganze Gruppe

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Übergänge

zeigt Stirn, Zähne, Hände, Füße, Vorder-, Rück-, Seitenansicht. Der Verfolger ist auf eine der Frauen gerichtet. Sie steht im Scheinwerferkegel und lächelt. „Guten Abend, ich bin aus Paris.“ Geht zurück an ihren alten Platz, langsamer als die anderen. Dreht sich noch einmal um, sieht über die Schulter ins Publikum. Der Scheinwerfer wird weggezogen. Die Gruppe formiert sich zu einer Reihe. Zwanzig Männer und Frauen stehen nebeneinander, hintereinander. Musik: Der Dritte Mann. Mit emotionslosem Gesicht, in der Taille einknickendem Körper kommen sie nach vorn. Bleiben an der Rampe stehen. Eine der Frauen ist im Scheinwerferkegel. Lacht. Schüttelt den Kopf mit dem langen Haar. Lacht immer angestrengter. Fällt wie ein Brett um. Einer summt das Lied vom Dritten Mann. Die Gruppe geht langsam zurück. Der Verfolger wird von der am Boden liegenden Frau genommen. Irgendwann steht sie auf und geht weg. Später kehrt sie zurück. Geht mit einem Stuhl an die Rampe. Steigt auf ihn. Sagt: „Ich stehe am Ende vom Klavier und drohe zu fallen. Aber bevor ich das mache, schreie ich, damit niemand es verpasst.“ Sie schreit. Alle kommen in den Raum. Setzen sich auf ihre Plätze. Die Frau steht im Scheinwerferlicht. Die anderen sehen zu. „Dann krieche ich unter das Klavier und gucke raus, vorwurfsvoll, und tue, als ob ich ganz allein sein will, aber eigentlich möchte ich, dass jemand hinkommt.“ Sie steht auf und greift zu einem dünnen Schal. „Dann nehme ich meinen Schal und versuche, mich zu erwürgen, in der Hoffnung, dass jemand kommen wird, bevor ich tot bin.“ Musik. Mit ausholendem Schritt kommen die Tänzer nach vorn. Der Verfolger ist ausgeschaltet. Hinten, in einer Ecke des Raumes, bereitet sich eine Frau auf ihren Auftritt vor. Wechselt die Kleider. Ein Mann lässt sich schwere Eisengewichte auf die Brust fallen. Ein anderer schlägt den Klavierdeckel auf seine Finger. Eine Frau stellt vier Stühle auf, läuft um sie herum und stößt sie mit der Hüfte um. Eine im rosa Cocktailkleid rafft ihren Rock, springt die Wände hoch und wird mit Beifall belohnt – Vorführungen im Saal des Kontakthofs, in dem Pina Bausch einmal mehr auf eines der in ihren Arbeiten zentralen Themen zurückkommt: „Geliebtwerdenwollen – was wir alles tun, damit uns jemand gern hat.“ Die Kontakthof-Frauen, die sich in enge schmerzende Kleider und Schuhe zwängen; die Blaubart-Männer, die sich in Bodybuilding-Posen üben und vor den Frauen ihre Männlichkeit demonstrieren; die Arien-Figuren, die Kunststücke vorführen, Fertigkeiten und Dressuren – unternehmen sie diese Anstrengung, um geliebt zu werden, müssen es tun, damit man sie mag? „Was ist das, wenn man etwas tut? Zum Beispiel im Zirkus. Dass da oben jemand auf dem Trapez rumspaziert. Warum machen sie das? Damit die Leute unten Angst haben?

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Übergänge

Angst um sie?“, fragt Pina Bausch und verhehlt doch nicht, dass sie das bewundert: den Mut, die Konsequenz, die Beherrschung, „die man als Artist braucht. Da geht’s doch um mehr als bei uns. Wenn da mal was schiefgeht, verknacksen die sich doch nicht nur den Fuß.“ Sie würde gern mal ein Jahr zum Zirkus gehen, gestand sie einmal in einem Gespräch – „aber vielleicht denke ich da auch etwas hinein, was gar nicht ist.“ Ein weit auseinander sitzendes Paar. Ein Mann und eine Frau setzen sich an die beiden entgegengesetzten Seiten der Rampe. Lächeln zaghaft zum fernen Partner. Legen verschämt einzelne Kleidungsstücke ab. Werfen ihrem Gegenüber scheue Blicke zu. Ziehen sich vorsichtig voreinander aus und geben sich, wie man so sagt, Blößen. Kommen einander näher. Die äußere Distanz bleibt bestehen. Später werden sie sich wieder gegenüberstehen. Einander männliche und weibliche Klischeehaltungen, Positionen, Stellungen vorführen. Sich, wie es heißt, anmachen. Worte zurufen. Knee, shoulder, arm, foot, neck, stomach, back. Erst leise, dann immer lauter und heftiger – bis Knie, Schulter, Arme, Füße, Nacken wie unter Peitschenhieben zurückzucken. Nach dem Schlagabtausch finden sich die Männer und Frauen wieder zu Paaren zusammen. Suchen erneut Berührungen, Zärtlichkeit. Die wie ein Mosaik zusammengesetzten Stücke der Regisseurin, Autorin, Choreografin Pina Bausch: nicht bestimmt von einer durchgehenden Handlung, sondern von Ausschnitten, Bruchstücken, Realitätspartikeln, die sich häufig überlagern, ineinander übergehen, verlieren und an anderer Stelle wieder auftauchen. Scheinbar Entgegengesetztes ergänzt sich: Komik und Trauer, Schlager aus den dreißiger Jahren und klassische Musik, laute und leise Momente, lichte und dunkle Bilder. Geschichten entwickeln, erweitern, verändern sich und werden oft zu etwas ganz anderem als ursprünglich gedacht wurde. „Ich habe das so gewollt“, sagt Pina Bausch einmal über die Entstehung einer Szene und korrigiert gleich: „Was heißt gewollt – das ist entstanden irgendwie.“ Ihre Stücke sind keine theoretisch entworfenen. Die Arbeit an ihnen ist ein Suchen und Umkreisen von etwas, das zwar bestimmt ist, aber unausgesprochen bleibt und mit größter Behutsamkeit behandelt wird. „Es gibt irgendwo einen Ausgangspunkt. Und wo das dann hingeht, das entwickelt sich in den Proben. Es ist nicht zufällig. Es ist aber auch nicht wie geplant. Es kommt einfach, durch uns alle zusammen. Mit der Zusammensetzung der Gruppe hat vieles zu tun, was wir erlebt haben oder was jemand probieren sollte.“ Der Ausgangspunkt verändert sich während der Proben, wächst, zieht Kreise, weitet sich aus, wird frag-würdig – wie der Ausgangspunkt Zärtlichkeit in Kontakthof. ,,Zärtlichkeit. Was

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Übergänge

ist das? Was macht man da? Wo geht das hin? Und wie weit geht Zärtlichkeit überhaupt? Wann ist es keine mehr? Oder ist es dann immer noch eine?“ Kontakthof-Übungen: Versuche in Zärtlichkeit, Suche nach Zärtlichkeit. Eine alte Platte. „Zieh mich an dich, wir wollen Tango tanzen“. Charmant lächelnde Paare stehen sich gegenüber und berühren einander. Ein Mann nimmt die Hand einer Frau und biegt ihre Finger nach hinten. Eine Frau nähert sich einem Mann und beißt ihn ins Ohr. Mann/Frau zwickt den Partner unter den Armen, zieht ihm den Stuhl weg und geht Arm in Arm mit ihm ab. Später werden die Berührungen fortgesetzt. Zärtliche Gesten werden zu Schlägen. Die Übergänge sind fließend. Erst nach der Grenzüberschreitung stellt man verwundert fest, dass aus den Gesten der Annährung etwas anderes geworden ist. In dem unsicheren Gelände, in dem sich die Menschen in Pina Bauschs Stücken bewegen, suchen sie nicht selten mit sogenannten objektiven Mitteln Sicherheit zu gewinnen. Da werden dann Einrichtungsgegenstände registriert und sorgfältig in ein Buch eingetragen, Entfernungen, Abstände zwischen den Paaren gemessen, als gäbe das Aufschluss über die Nähe zwischen Menschen; oder: „Blonde Claire, schenk’ mir heut’ die Ehre“. Eine Frau geht mit wiegenden Hüften über die Bühne. Ein Mann im grauen Anzug folgt ihr mit Stuhl und Notenpult. Versucht, sie zu berühren. Guckt immer wieder auf die losen Blätter, die vom Notenständer fallen – als sei dort zu erfahren, wie man einander berühren könnte. Ohne Erfolg. Das Objekt seiner Sehnsucht entweicht ihm. Sich zugeben. Mit Verletzungen und Verletzbarkeit, Stärken, Schwächen, Widersprüchen und Komplexen, Wünschen und Ängsten, seinen Träumen und seiner Realität. In einer Kontakthof-Szene lässt Pina Bausch ihre Tänzer/Schauspieler/Co-Autoren zu gängiger Zirkusmusik einzeln die Bühne überqueren. Verfolgt von einem Scheinwerfer bleiben sie in der Mitte stehen. Verdecken, verziehen, verändern, was ihnen nicht gefällt am eigenen Körper. Eine zu große Nase. Eine zu hohe oder zu niedrige Stirn. Flache Schultern. Dicke Backen. Zu große Füße. Zu kleine Augen. Doch so persönlich die Vorführung der eigenen Komplexe auch ist: Die Form, in der Pina Bausch sie auf die Bühne bringt, führt über das bloß Persönliche und Private hinaus, verhindert platte Selbstdarstellung und Selbstentblößung. ,,Es kommt nicht darauf an, dass jemand nur seine Gefühle auskotzt“, sagt Pina Bausch einmal in einem Gespräch, und: ,,Die Form ist schon etwas sehr Wichtiges für mich.“ Pina Bauschs Stücke zeigen Ausschnitte, die sich auf vorhandene Realität beziehen und Teile daraus beleuchten, vergrößern, erkennen

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Übergänge

lassen. Etwas von diesem Prinzip spiegelt sich auch in einer KontakthofSzene. Die Männer und Frauen bilden an der Rampe eine geschlossene Reihe. Sitzen frontal zum Zuschauerraum. Parallel zueinander sprechen sie über die Liebe. Jeder in seiner eigenen Sprache. Englisch, deutsch, holländisch, spanisch, französisch, polnisch, italienisch, dänisch, tschechisch. Ein Mann mit Mikrofon geht zu ihnen und blendet sich ein in ihre (Selbst-)Gespräche, in triviale Liebes- und Lebensgeschichten, die auch dann noch weitergehen, wenn er sich längst wieder ausgeblendet hat und die einzeln herausgegriffenen Tänzer nicht mehr vom Scheinwerfer angestrahlt sind. Pina Bausch: „Ein Stück wie Kontakthof könnte man die ganze Nacht durchspielen.“ Am Ende wird noch einmal eine Frau berührt. Sie steht im Scheinwerferlicht da wie eine Puppe. Männer kommen zu ihr und bedecken ihren Körper mit Berührungen. „Frühling und Sonnenschein, soll für dich meine Liebe sein“. Hände streichen über Haare, Auge, Stirn, Mund, Nase, Ohren, Hals, Arme, Beine, Brust, Bauch, Rücken – bis die Frau zusammensinkt unter dem, was man(n) unter Zärtlichkeit versteht und eine neue Musik einsetzt: „Du bist nicht die Erste, Du musst schon verzeih’n“. Von der Seite kommt eine Frau im engen Cocktailkleid. Der Verfolger wird von der anderen weggezogen und auf sie gerichtet. Die Männer drehen sich um und gehen ihr nach. Ein Kreis entsteht, in den sich nach und nach auch die anderen Frauen einfügen – ein Kreis, in dem kleine Gesten einmal mehr aufmerksam machen auf den großen Wunsch, geliebt zu werden.

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UND DIE LIEBE HÖRET NIMMER AUF Bruchstücke aus dem Leben der Prostituierten Annemarie Slovik, 67 -

„Und da bin ich so lang gegangen und da kam einer und fragte: ‚Was machst du hier?‘ Da hab’ ich gesagt: ‚Anschaffen.‘ Und das blieb dann das Leben. Ich hab’ verdient, was ich wollte. Wenn man jung ist, braucht man nicht schön zu sein. Ich hab’ verdient und verdient – und dann bleibt man dabei. So, jetzt nehme ich mir noch zwei Tabletten.“ Wenig später liegen fünf Pillen in ihrer Hand: in einem Rosa, das noch leuchtender ist als das Hellblau ihrer Bluse. Als ich ihr ein Glas Wasser holen will, lehnt sie ab: „Die gehen auch mit Bier runter.“ Die Tabletten, erklärt sie mir, seien eigentlich gegen Schmerzen, die einen nachts nicht schlafen lassen, aber sie werde von ihnen wach. „Ja, wie könnte ich ohne Tabletten das überhaupt aushalten? Ich muss mich aufputschen, damit ich diese Menschen als Menschen anerkennen kann und – sonst würde ich denken, es wären Tiere“, sagte sie in Cornelia Schlingmanns Dokumentarfilm Was denken Sie von mir?, in dem ich sie neben vier anderen Prostituierten zum ersten Mal sah: Annemarie Slovik, 67, seit mehr als fünfzig Jahren auf dem Straßenstrich. „Ich habe Liebe gesucht, vielleicht, und aus Liebe ist Strich geworden. Aber ich wusste nicht, dass das so schwer ist.“ Wenn heute einer käme und ihr von Liebe sprechen würde: „Sag ich: Ich liebe nur Geld.“ Anna-Maria steht im Ausweis von Annemarie Slovik, geboren am 24. Dezember 1913 in einem Dorf in Polen. Ob es sie störe, dass man heute nur Annemarie als ihre Vornamen kenne, frage ich sie. Nein, erwidert sie, denn Anna-Maria sei etwas anders. Als Anna-Maria kam Annemarie Slovik Ende der zwanziger Jahre nach Deutschland. Da war sie vierzehn und verliebt in einen, der vorgab, ein Brückenbauingenieur zu sein. „Es hat mir wohl gefallen, wie er mich –. Heute könnt’ ich mich gar nicht mehr erinnern, wie schön das war. Als wir im Bett waren, muss es schön gewesen sein – sonst wäre ich ja nicht nach Düsseldorf gekommen.“ Zuhause, in Ellguth, habe sie nur noch an ihn denken können. „Mein Vater wollte unbedingt aus mir was machen. Er war Pferdehändler und ich sollte einmal einen reichen Jungen heiraten, der die Koppeln hatte – er brauchte die Koppeln für seine Pferde. Doch ich sagte: ‚Den heirate ich nie.‘ Mein Gedanke war immer: Düsseldorf.“ Schließlich sei sie von zuhause abgehauen, habe sich in einen Zug gesetzt und sei dem Brückenbauingenieur nachgereist. „Weder vom Vater noch von der

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Mutter oder sonst jemand wollte ich mich erziehen lassen. Ich wollte frei leben – wie ein Vogel. Deswegen bin ich hierhergekommen.“ Angekommen am Ort ihrer Jungmädchenträume erfährt sie, dass ihr Brückenbauingenieur ein Zuhälter ist und die Adresse, die er ihr gab, die eines Bordells. „Ich wusste da noch gar nicht, was Zuhälterei ist. Ich wusste auch nicht, was das ist: eine Dirne oder so was. Und dann wurde ich aufgeklärt.“ „Weil ich noch so jung war“, wird sie im Bordell erst einmal als Bedienung eingesetzt. Den Brückenbauingenieur solle sie vergessen und sich nichts draus machen, wenn ihr mal einer der Gäste auf den Hintern klopfe, erhält sie als Ratschläge mit auf den Weg. „Und da hab’ ich die größte Kuppelfrau aller Zeiten kennengelernt, die hatte einen Puff und ein Herz aus Gold. Die konnte nie gut sehen, sie war halb erblindet und hat immer Zigarren geraucht, und da sagte sie: ‚Komm mal her, ich muss dich einmal befühlen.‘ Am Gesicht hat sie gefühlt, was sie für ein Typ sind. Und da hat sie zu mir gesagt: ‚Du bleibst bei mir. Aus dir wird noch mal was. Aber eins sage ich dir: Du gehörst nicht ins Haus – du gehörst auf die Straße. Da liegt das Geld, nicht im Puff. Im Puff gehen sie alle unter. Aber du schaffst es einmal. Du wirst das Rennen machen. Und so wie du das gewinnst, so wirst du es verlieren.‘ Und ich hatte es geschafft und durch einen Liebeskummer mit einem Kriminalbeamten war ich so unglücklich und bin wieder vor die Hunde gegangen.“ Als wir im Auto sitzen und zum Gespräch in die Wohnung Cornelia Schlingmanns fahren, stellt Annemarie Slovik fest: „Ich will nicht reich werden, sondern überleben – das ist ein großer Unterschied.“ Seinerzeit, „wo ich noch so jung war“, da habe sie jeden Preis bekommen, den sie wollte. „Ich war die eleganteste Frau. Ich bin nur mit Hüten gelaufen und Handschuhen und alles – musste alles zusammen passen“, erinnert die 67-Jährige ihre große Zeit. „Ich hab’ die Kö aufgebaut an der Westseite, ich hab’ die Charlottenstraße aufgemacht – wo die Annemarie hinging, sind die anderen nachgegangen. Heute gehen alle in den Puff. Die haben alle Angst.“ Sie selbst bleibt auf der Straße. „Ich wär’ für ’n Bordell zu alt.“ Aber dass für sie auch auf der Straße kein Vermögen mehr zu verdienen sei, „ist ja auch klar. Ich bin nun mal nicht mehr jung. Ich muss mich durchkämpfen durch die jungen Frauen. Und diese heimlichen Dirnen versauen die Preise. Die gehen für 20, 30 Mark mit und ich bin alt und – sehen Sie, aber ich würde nie mit einem Mann gehen für 20 oder 30 Mark, niemals. Ich verlange 50 Mark im Wagen und 100 Mark auf dem Zimmer. Und wenn einer sagt: ‚So viel habe ich nicht bei mir‘, dann sag’ ich: ‚Wie viel hast du bei dir?‘ Dann sagt er: ‚70 Mark‘. Sag’ ich: ‚Das genügt mir auch. Die 20 Mark bringst du mir mal wieder.‘“

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Wenn Annemarie Slovik einmal mit einem Freier aufs Zimmer geht, dann immer in eine anonyme Absteige. „Mein Zimmer bleibt sauber. Bildung hab’ ich immer gehabt. Wohnen muss ich ganz solide und nett, muss meine Ruhe haben – und die ganze Welt gehört mir.“ Ihre Kunden hält sie fern dieser Welt; meist bleibt sie mit ihnen ohnehin im Auto. „Ich lieb’ die Schnelle. Ich hab’ keine Zeit. Bei mir muss es schnell gehen. Ich zieh’ mich nie aus. Eine Dirne bleibt angezogen. Ich kann mir doch nicht die Hose runterziehen – wenn mal jemand kommt. Nein, ich mache nur auf ‚Französisch‘. Pariser drauf und fertig.“ Die große Liebe. „Er war bei der Polizei und ich war auf dem Strich.“ Als Kunden lernt sie ihn kennen. „Wie alt kann kann ich gewesen sein? Ich glaube 20, es kann auch 22 gewesen sein. Aber ich war eine Dame.“ „Verliebt? Ich war so verliebt in diesen Mann – wissen Sie, er hat mir gefallen. Er war lieb und nett und ich mochte ihn, ich hab’ ihn wirklich gern gehabt. Es war überhaupt meine erste Liebe. Und auf einmal fand ich ihn schön und – ich war verliebt. Ich habe ihn geliebt. Ich wusste doch nicht, dass er so schlecht ist, dass er nur meine Kohlen wollte. Für ihn hab’ ich doch angeschafft, nicht für mich. Es hat mir nichts ausgemacht, aber innerlich hab’ ich gelitten. Wissen Sie, das ist so entwürdigend, wenn immer einer ankommt: ‚Was hast du heute verdient?‘ ‚Du, ich brauch’ einen neuen Mantel.‘ Und wenn er sagte: ‚Jetzt gehen wir aus‘ – bezahlen musste ich immer. Gottseidank, dass er tot ist – aber seitdem bin ich allein. Wenn noch einmal einer sagt, ‚Ich liebe dich‘, werde ich hysterisch – die lieben doch nur mein Geld. Aber seinerzeit war es die große Liebe.“ Zahlen, Daten, Punkte, an denen man sich festhalten könnte – Versuche, das Leben der Annemarie Slovik in einen entsprechend abgesteckten überschaubaren biografischen Rahmen zu pressen, sind zum Scheitern verurteilt. Im Gespräch springt sie oft unvermittelt über Jahrzehnte, konfrontiert einen mit verschiedenen Wahrheiten und Widersprüchen, gibt manchmal ausweichende Antworten, die aber dann doch sehr viel genauer und weitreichender sind als sogenannte exakte Angaben. Wenn sie zum Beispiel auf die Frage, wie lange sie mit ihrem Zuhälter zusammen gewesen sei, antwortet: „Den D. hab’ ich mein ganzes Leben lang gekannt“, klingt das auch wie eine Liebeserklärung. Und dass sie ihn geliebt hat, verbirgt sie an keiner Stelle: „Natürlich – ich bin doch deswegen ewig allein geblieben. Seither mochte ich keinen mehr. Ich habe an seine Worte geglaubt. Aber heute dürfte ich den nicht mehr sehen. Er hat mich ruiniert. Ich hab’ ihm alles gegeben, was ich konnte. Ich hab’ aus ihm einen Gentleman gemacht. Ich war eine Dame, und er war mir zu primitiv angezogen.“ Sie legte vor: zunächst für Anzüge,

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Mäntel, Schuhe. Später wollte er „immer mehr, immer mehr Geld – bis ich sauer war. Und ich hab’s mir nicht gefallen lassen.“ Doch: „Ich würde ihn heute wieder nehmen, wenn ich wüsste, dass er noch leben würde. Ich würde mich schön machen, mich hinstellen als Schönheitskönigin mit ’nem anderen Kopp. Ich würde ihn holen und noch bis 80 Jahren auf den Strich gehen; ich würde so viel Geld anschaffen, ich würde sogar stehlen gehen für diesen Mann, so geliebt habe ich ihn: Und was hat er getan: mich nur betrogen und bestohlen.“ „Aus uns wird’s was“, habe er zu Anfang immer gesagt, von Heirat auch gesprochen. „Aber er wollte mein Geld und das andere war Lüge.“ Am Ende zeigt sie ihn wegen Zuhälterei an. „Ich wollte mich rächen“, sagt sie einmal und nennt als Grund, dass er sie verlassen und mit einer anderen Frau betrogen habe; ein andermal spricht sie nur vom Geld, das er ihr nahm. Was bleibt: „Meine ganze Liebe war kaputt und mein Herz tat mir weh. Und wenn ein Herz weh tut, ist man zu was fähig. Heute bedaure ich das, was ich getan habe.“ Aufgrund ihrer Anzeige wird Herr D. aus dem Polizeidienst entlassen – „jeder andere wäre in die Kiste gekommen“. Annemarie Slovik geht weiter auf den Strich. Ihre große Liebe habe sie nie wieder gesehen. „Ich wollte ihn dann nicht mehr. Aber das Herz tat bis jetzt, bis heute noch weh – und da war ich noch so jung und da war ich noch so schön und da war ich –.“ „Annemarie, hau ab“, „Verschwinde“, „Mach, dass du wegkommst“, „Verpiss dich“ – Sätze, die Annemarie Slovik immer wieder zitiert, Sätze, die der 67-Jährigen von Polizisten zugerufen werden, wenn sie sie auf der Straße sehen. „Ich komme mir dann immer so primitiv vor und denke: Annemarie, was haben wir bloß für einen Staat, dass die jungen Leute zu einer alten Frau sagen: ‚Annemarie, hau ab.‘ Die sollten sich schämen, zu sagen: ‚Verschwinde‘. Die wissen doch gar nicht, wo ich hin will. Die noch von der alten Zunft sind, die sind in Ordnung, aber die jungen –. Wie kommen die dazu, zu mir immer ‚Du‘ zu sagen, in meinem Alter. Ich wohne anständig, ich habe keinen Zuhälter und gar nichts, ich bin ein Einzelgänger – aber beleidigen lass ich mich nicht. Ich bin doch in einem freien Land, da lasse ich mir doch nicht von denen bestimmen, wann ich nach Hause gehe und wo ich lang gehe.“ Annemarie Slovik und die Polizei: „Einsteigen – aussteigen. Das war das Verhältnis zur Polizei. Sie mag mich nicht und ich mag sie nicht. Sie haben mein Leben ruiniert, das ganze Geld und alles was ich hatte, ist kaputt gegangen wegen einem –. Ich habe sie gehasst, weil mich einer betrogen hat und ausgekocht hat.“ Einmal, als sie das wieder sagt: „Ich mag sie nicht“, wirkt ihr Gesicht sehr traurig. „Und meine Zeit wäre heute noch groß, wenn die Polizei mich nicht so hassen würde.“ Immer

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sei sie es, die in den Streifenwagen einsteigen müsse. „Die jungen Frauen stehen da und mich nehmen sie mit. Obwohl sie mich kennen, sagen sie immer noch: ‚Einsteigen. Ausweis.‘ Ich glaube, die nehmen mich noch mit 70 mit – nur aus Wut, dass ich einmal gegen die Kriminalpolizei war.“ Nicht immer endet das Einsteigen mit dem Aussteigen: vor einem Jahr musste Annemarie Slovik wieder im Sperrgebiet einsteigen und kam vor Gericht. Sechs Wochen zur Bewährung, lautete das Urteil. Wann sie denn endlich aufhören würde, hätten sie die Polizisten einmal gefragt. „Erst wenn ihr schon lange unter der Erde liegt“, habe sie geantwortet. „So lange wie ich Geld verdiene, höre ich nicht auf. Aber ich verlange kein Geld. ‚Die Annemarie, die braucht kein Geld verlangen‘, würden ihre Freier sagen – die wissen, was ich ihnen wert bin.“ Die Freier seien nett, sagt sie, aber sie hätten Angst. Angst, „dass ein Polizeibeamter mich wieder rausholt aus dem Wagen und einsperrt.“ Angst auch, dass die Ehefrau etwas merken würde. „Erzähl’ ihr von mir, sag’ ihr meinen Namen“, würde sie die Ängstlichen ermutigen. „Deine Frau weiß doch sowieso: wenn sie in Urlaub fährt, gehst du fremd. Und sie wollen lieber, dass ihr mit uns geht – das ist nicht so schlimm, wenn ihr mit uns geht. Das ist keine Liebe, das ist nur Geldsache. Da sagt er: ‚Da hast du auch wieder recht.‘“ Wenn da von Liebe gesprochen werde, könne sie nur lachen. „Aus Liebe tut keiner mehr was. Liebe, weißt du, was das für mich ist? Das ist nur bares Geld.“ Die meisten, die zu ihr kämen, seien Stammkunden, verheiratet und jung. „Mich nehmen nur die Jungen mit. Komisch, dass ich nie einen alten Freier habe. Nur die jungen Strubbel nehmen mich mit – weil ich ganz frei raus bin. Ich nehme kein Blatt vor den Mund, ich bin frei raus. Sie nehmen mich alle nur wegen meinem Humor, nicht wegen meiner Machart. Ich mache nämlich gar nichts gut. Ich mache nur eins gut: Wenn ein Gast verlangt, und ich merk’ das sofort, wenn er unglücklich ist, sag’ ich: ‚Du bist sehr unglücklich, nicht? Weil du zu viel fremdgehst, hast du Streit mit deiner Frau.‘ Die kommen zu mir, um zu lachen. Die wollen nicht immer nur ‚das‘ machen. Die sagen: ‚Annemarie, ich bin unglücklich heut’. Ich will ’n bisschen lachen. Ich hab’ Kummer.‘“ Erst nach einer Pause und dem Hinweis, dass doch wohl nicht alle Kunden Kummer hätten und nur lachen wollten, erklärt sie: „Sie haben immer Kummer – aber zum Schluss wollen sie doch das gewisse Etwas. ‚Ja‘, sag’ ich, ‚nun bezahl’ deinen Kummer.‘ Und dann zahlen sie. 50 Mark im Wagen und 100 Mark auf dem Zimmer.“ Immer wieder tauchen einzelne Worte, Sätze, Gedanken auf. Der Satz zum Beispiel vom Geld, das auf der Straße liegt, die Aufforderung „Annemarie, verschwinde“ oder die Vokabel „mitnehmen“. Mitgenom-

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men wird immer nur sie: mal von der Polizei, mal von einem Kunden. Während sie vom Mitnehmen spricht, fallen mir auch alltägliche Redewendungen, Schlagerzeilen, Schlagworte ein. „Mitnahmepreis“, „Du siehst so mitgenommen aus“, „Das nimmt mich mit“, „Nimm uns mit Kapitän, auf die Reise, nimm uns mit in die weite, weite Welt! Wohin geht, Kapitän, deine Reise? Bis zum Südpol, da langt unser Geld!“ „Was wär’ die Welt doch schön, wenn der Schmier nicht gewesen wär’“, würde sie manchmal denken und träumen: „Ich könnte auf den Bahamas sein – wenn dieser Mann nicht gewesen wäre.“ „Ich liebe das Leben“, sagt sie und kämpft ums Überleben – wie damals im Krieg. „Während des Kriegs hab’ ich nur aufgepasst, dass ich nicht sterbe. Ich wollte nicht sterben. Ich hab’ an meinem Leben gehangen – obwohl es nichts wert war. Ich hab’ immer zum Heiligen Antonius gesagt – ich bin nicht fromm, aber wenn ich um was bitte, geht es in Erfüllung – ich will nicht sterben. Und wenn ich auf die Straße heute noch gehe, dann bitte ich den Heiligen Antonius: ‚Heiliger Antonius, hilf mir, dass ich Geld verdien‘ – und er hat mir geholfen – sonst könnte ich ja nicht im Hotel Miete bezahlen, in meinem Alter.“ Amtliche Personenbeschreibung: Annemarie Slovik, Größe: 162 Zentimeter, Augenfarbe: blau, Gesichtsform: oval, Hautfarbe: weiß, Haarfarbe: blond, besonderes Kennzeichen: Muttermal an der linken Wange, Nase: normal – „aber gucken Sie selbst: das stimmt doch gar nicht. Meine Nase ist doch nicht normal.“ Annemarie Slovik unternimmt, 67 Jahre alt, keine Anstrengungen mehr, herrschenden Normen zu entsprechen. Immer nachdrücklicher und kraftvoller besteht sie darauf, anders zu sein. Die bürgerlichen Lebensträume sollen nicht länger ihre Träume sein. Familienleben und Kinder: „Nein, Kinder hätte ich nicht gern gehabt“, antwortet sie auf meine entsprechende Frage – und fügt wenig später hinzu: „Ich hätte nicht so gern, dass meine Kinder einmal wissen, was ich einmal getan habe. Nebenbei: Hemmungen hab’ ich keine.“ Und das Familienleben sei ihr auch vergangen – „wenn mich schon ein Kriminalbeamter so betrügt. Ich bin ein Einzelgänger – was soll ich mit einer Familie? Ich mag keine Zuhälter, aber ich mag auch kein Familienleben“. Nur einmal hat sie es versucht: als sie mit ihrer großen Liebe, dem beamteten Herrn D. zusammenlebte und einige seiner Kollegen zu sich einlud – „da haben wir Bowle gemacht und alles, nicht.“ Vorbei. Eine eigene Wohnung hat Annemarie Slovik schon lange nicht mehr. Seit Jahren lebt sie in einem Hotel. „Ich bin ein Tourist“, stellt sie einmal fest und berichtet, dass sie im Krieg nie in einen Bunker gegangen sei. „Wenn der Christbaum runterkam, dann hab’ ich den Mantel über den Kopf gezogen und hab’ mich auf die Straße gelegt –

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und deswegen lebe ich noch, im Bunker wäre ich tot gewesen. Ich hasse überhaupt alles, was so – aus Stahl und Eisen – alles bricht – ich muss immer einen Ausweg finden.“ Im Treppenhaus, nach dem Gespräch, auf dem Weg zurück in ihr Hotel, sagt Annemarie Slovik: „Ich komme mit allen zurecht, die anders sind – nur mit den Soliden komme ich nicht zurecht.“ Die sie solide nennt, haben ihr Leben zerstört. Der Kriminalbeamte, der ihr Zuhälter wurde, und die solide Frau, mit der er sie betrog, die Polizisten, die immer „Du“ zu ihr sagen, und die solide lebenden Freier, die sie für 50 Mark mitnehmen – gegen deren Solidität setzt sie jetzt ihr „unsolides Leben“. Als sie im Fernsehen kürzlich einen Ausschnitt aus dem mehrfach ausgezeichneten Prostituierten-Film sah, fand sie: „Ich kam mir da vor wie ein solides Herzchen. Aber ich bin weder ein Herzchen noch solide.“ Und auch zu ängstlich sei sie sich in dem Film vorgekommen. „Sie müssen mich so bringen, dass ich gar keine Angst habe. Ich habe keine Angst. Ich zitter’ nur, wenn ich frier’.“ „Und schreiben Sie das: dass ich nur mit Homosexuellen verkehre und nur in Schwulenkneipen gehe.“ Sie dürfe in alle Schwulenlokale – „weil sie wissen, dass ich echt bin. Die mögen mich, weil ich ein Mensch bin, der das Leben versteht. Für die war ich immer eine Dame. Aber ich bin nicht lesbisch – doch wenn ich’s wär’, tät ich’s auch. Ich akzeptier’ die Homosexuellen, weil es doch die Nettesten sind, die eben das leben –. Die Echten, die mag ich.“ Echt sind Wilma, der eigentlich Wolfgang heißt und eine Pension für Stundengäste hat, und Lola, der bei Wilma arbeitet und Ausländer liebt. „Sie sind nicht link und nicht schlecht. Sie sind echt. Und wenn sie einen im Bett haben wollen, zahlen sie.“ Das sei nun einmal so. „Schwule werden immer bekappt.“ Zum Beispiel Wilma. „Mit dem dicken Bauch, den er hat, muss er schon zahlen. Der sucht immer die Liebe. Aber kein Strichjunge geht ohne Geld mit.“ Das wisse auch Lola. „Lola zahlt auch – und Lola ist weiß Gott in Ordnung.“ Mit Lola und Wilma sei sie oft zusammen. Oft gehe sie schon nachmittags zu Lola in die Kneipe. Aber wenn das Wetter schön sei, müsse sie auch mal raus: „Einmal muss man ja auch den Himmel sehen.“ Nicht selten sitze sie mit Wilma bis drei Uhr nachts auf der Straße vor Wilmas Pension. „Da: sitzen wir nett zusammen und schimpfen uns aus. Sonst ist das Leben ja eintönig, wenn es keinen Streit gibt. Theater gehört zum Leben.“ Doch wenn die Polizei oder ein Spitzel vorbeikommmt, weiß Annemarie Slovik, auf welcher Seite sie steht. Einem „Verbindungsoffizier“ rief sie einmal zu: „Du hältst mit der Polizei und ich halte mit Wilma.“ Wilma, berichtet sie, sei genau wie sie ein Einzelgänger und immer wieder von falschen Freunden abgekocht worden. Seit Kurzem

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habe er eine Katze. „Für die tut er alles. Die ist ihm zugelaufen. Man hat sie ausgesetzt, weil sie schwanger ist. Die ist wie ein Mensch. Die rennt hinter einem her, jault um einen –.“ „Annemarie, warum hab’ ich kein Glück in der Liebe?“, würde Wilma sie immer wieder fragen. Ihre Antwort zitiert Annemarie Slovik beiläufig: „Wir sind dafür verurteilt, dass wir immer bezahlen müssen.“ „Wenn man link ist, hat man immer eine Chance“, hätte ihr neulich wieder einmal einer gesagt. „Aber dann will ich keine Chance“, erwiderte sie. „Es kann einer sein, wie er will, aber link – das ist doch das Letzte.“ Schon als sie mit 14 nach Düsseldorf kam und frei sein wollte wie ein Vogel, habe die Kuppelmutter gemeint: „‚Du bist immer so offen, du sagst alles, was du denkst –.‘ Da sag’ ich: ‚Aber das muss man doch.‘“ Sie lüge nicht und wenn einer frage, was sie früher getan habe, „sag’ ich: Ich bin auf den Strich gegangen. So sieht die Welt nun mal aus. Mein ganzes Leben war eine Hurerei.“ Doch wenn ihr das einer so direkt sage, dass er gern mal mit ihr ins Bett steigen würde, „mag ich das nicht“. Noch immer sucht sie auch etwas zu verteidigen: ihre Würde, ihren Stolz, ihre Unschuld. Die Prostituierte Annemarie Slovik, 67: noch immer auch Anna-Maria Slovik, geboren am Heiligen Abend des Jahres 1913.

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KONTAKTVERSUCHE Pier Paolo Pasolini als Zeichner -

Ganz klein, ganz unten auf dem großen Papierbogen der Druckerei, knapp über dem Rand: Kontakt, ein Wort, das später von einer Maschine abgeschnitten werden wird, bedeutungslos ist, unauffällig, übersehbar – und doch bleibe ich immer wieder an diesem Kontakt-Zeichen hängen, wenn ich die Zeichnungen Pier Paolo Pasolinis sehe. „Das Schreien der lautlosen Stille“ – „Auf der Spitze des Schwertes leben“ – „Liebeshungrig“ – „Das Massaker an mir beobachte ich mit der Gelassenheit eines Wissenschaftlers“ – „Sich vom Leben gefangen nehmen lassen“ – „Scheinbar empfinde ich Hass, in Wirklichkeit schreibe ich Verse voll aufrichtiger Liebe“ – „Jenseits aller Dunkelheit“ – „Dieses ungeheure Maß an verzweifelter Zärtlichkeit“ – „Der stumme Frühling“ – Worte, Sätze, Bruchstücke aus Texten Pasolinis, die ich kurz nach der ersten Begegnung mit seinen Zeichnungen notiere, zeichnerischen Arbeiten, die so einfach und direkt wirken und es einem so schwermachen, einfach und direkt über sie zu sprechen, unverstellt und rückhaltlos wie Pasolini zu sagen: „Ich will nicht einsam sein.“ 1947, eine Zeichnung mit Tinte auf vergilbtem und fleckigem Papier. Zwei Jungen, vielleicht 12 oder 13 Jahre alt, barfüßig nebeneinander stehend wie für ein Erinnerungsfoto. Selbstbewusst und selbstverständlich legt der eine seinen rechten Arm um die Schulter des Freundes, der dasteht mit gesenkten Lidern, scheuem Lächeln, hängenden Armen, ängstlich erstarrt in der Umarmung – eine Situation, die man nicht nur aus der Kindheit kennt, von gesuchten und dann zufällig genannten, getarnten Berührungen, vorsichtigen Annäherungsversuchen, flüchtigen Zärtlichkeiten. Ein paar Tage nachdem ich die Zeichnung zum ersten Mal sah, erfahre ich einmal mehr die (Männer-)Angst vor weniger versteckten Berührungen, Annäherungen, Zärtlichkeiten: Ein Freund verabschiedet sich, erwachsen geworden und männlich, mit festem und ausdauerndem Händedruck, der weh tut nicht nur weil er an den Händen schmerzt und nach erreichter Nähe wieder die normale Distanz herzustellen sucht, Entfernung. „Ich hätte ihn in den Arm genommen und wäre ein bisschen zärtlich gewesen, wenn er gewollt hätte“, erinnert ein 53-jähriger Nichtsesshafter seinen gescheiterten Annäherungsversuch an einen 16-Jährigen, der ihn für ein Jahr ins Gefängnis brachte.

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Kontaktversuche

Die Menschen in Pasolinis Zeichnungen: fast immer Einzelne, Vereinzelte, nicht selten Wartende. „Sie warten, ich weiß nicht worauf.“ Auch wenn sie beschäftigt sind, kann das nicht über Leere und unerfüllte Sehnsucht hinwegtäuschen. Der Zeichenblock auf den Knien, das Notizheft, die Ziehharmonika oder die Gitarre in den Händen bleiben merkwürdig fremd und fern, Ersatzstücke, die kein Ersatz sind für fehlende Menschen, ungelebtes Leben. Pasolinis Figuren spüren das. Heben den Kopf und sehen zum Betrachter. Verbergen ihre Traurigkeit nicht, nicht ihren Hunger nach Erfahrungen, nach Kontakten, Nähe. „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen“, schreibt Ödön von Horváth in einem seiner Stücke. Eine der wenigen von Pasolini gezeichneten Menschenansammlungen bleibt abstrakt: eine verschwommene Partygesellschaft, aus einem Turm von einem Jungen beobachtet. Mit den weit geöffneten Augen eines Kindes, erschreckt und zugleich angezogen, sieht er auf die unter ihm liegende Partygesellschaft. Pasolini zeigt die beiden unterschiedlichen Positionen auf einem Blatt, doch getrennt voneinander: die Gruppe in der einen Ecke, in der anderen der Beobachter, der draußen steht – eine Situation, die dem Partybesucher Pasolini nicht unvertraut ist. „Kühl wie eine Statue schaue ich den Leuten zu, wie sie lynchen.“ Haltungen. Allein. Aufrecht. Stolz. Dabei immer ein wenig entrückt, unberührbar und voller Sehnsucht nach Berührungen, nach einem Leben ohne die bekannten (Schutz-)Mauern. 1943, als er 21 Jahre alt ist, zeichnet Pasolini einen Jungen im Konfirmandenalter. Ungelenk und zugeknöpft, in einem Anzug, der ihm nicht mehr passt, zu eng geworden ist und sich spannt nicht nur um die Brust, steht der Heranwachsende dem Betrachter gegenüber. Weiß mit den Armen nicht wohin und hält sie eng am Körper. Auch das ist eines der Bilder, die nicht allein an Fotos aus der Kindheit erinnern, an Situationen, in denen man dasteht und fotografiert werden soll, sich ausgeliefert fühlt und Angst hat vor dem Bild, das von einem entstehen und entlarven, bloßlegen, verletzen, Wunden sichtbar machen könnte. Pasolini lässt diese Angst bei vielen der von ihm Porträtierten erkennen. Zeigt ihre Wunden – ohne sie einmal mehr zu verletzen. Lässt ihnen ihre Würde, ihre Unberührbarkeit, ihr Geheimnis. Sichtbar wird in den kleinformatigen Blättern auch das: die mögliche Größe der sogenannten kleinen Leute. Den „Körper in den Kampf werfen“. Sich einlassen. Zum Beispiel auf Menschen. Versuchen, im Fremden auch etwas von sich zu finden. Nicht wenige Porträts Pasolinis werden zu Selbstporträts. Einmal zeichnet er ein kleines Mädchen in zerfetztem Kleid. An den Rand der Skizze

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notiert er vier Zeilen eines Tanzliedes, das er in friaulischem Dialekt schrieb. „O Glisiuta tal to grin / quanciu muars c’a an preat! / Sincsent ains che nu i savin / di vei capatit e amat.“ / „Mädchen, weiß und rosa, / mit diesem Fetzchen eines Kleidchens / gleicht dein trauriges Gesicht / meinem Schicksal.“ Selbstporträts. Selbstuntersuchungen. Selbstbefragungen. Keine Selbstentblößungen. Distanziert. Mit schnellen, heftigen Strichen aufs Papier gebracht. Kühl. Wie unter dem Seziermesser. Die Forderung, dass man ehrlich sein müsse, auch wenn man kalt erscheine, ehrlich, selbst wenn man grausam sei: Pasolini stellt sie nicht zuletzt an sich selbst. Erfüllt sie unter anderem in den vier Selbstporträts von 1965. Unerbittlich und schonungslos werden vier verschiedene Gesichter ins Blickfeld gerückt. Eines ist in dunklem Blau gezeichnet: mit wenigen kräftigen Strichen, hart, kantig, nach außen hermetisch abgeschlossen, scheinbar emotionslos, wie eingefroren. Ein anderes wirkt sanft, gütig, verletzbar, deutet ein zaghaftes Lächeln an. Die stellenweise verwischten Konturen eines alten Mannes, gezeichnet von den Spuren gelebten Lebens, ausgezehrt, resigniert, zeigt ein drittes Porträt. Im selben Jahr entstand aber auch dieses Selbstbildnis des 43-Jährigen: das eines dekadenten Dandy, mit einer zartviolett eingefassten Brille und kurzen, schwarzen Bartstoppeln im immer noch schönen und klaren Gesicht. Etwas bleibt in den sehr verschiedenen Gesichtern jedoch immer gleich: die Augen, die einen durch die Brille sehr direkt ansehen, kritisch, melancholisch, fragend, prüfend, offen – ohne ihr Geheimnis preiszugeben. So lässt sich Pasolini auch nach den Selbstporträts nicht in ein bestimmtes Bild pressen. Nicht einordnen. Nicht seiner Widersprüchlichkeit berauben. Gezeigt werden nur Ausschnitte – nicht nur im übertragenen Sinn. In den Selbstbildnissen geht es um den Kopf, nicht um den Körper – der wird auf diesen Blättern ausgespart. Wie Pasolini ja auch seine Sexualität offen, doch abseits seines sonstigen Lebens lebte: draußen, vor den Toren der Städte, in der Dunkelheit, anonym, mit immer wieder anderen und doch gleichen ragazzi di vita, dunkelgelockten Jungen aus dem Proletariat, die für ein paar hundert Lire ihren Körper gaben, ihre Ursprünglichkeit und diesen bestimmten Zug um den Mund, dieses besondere Lächeln, das für Pasolini zur Spiegelung der „heiligen Sicherheit der Unsicheren“ werden konnte. Sich aussetzen. Erfahrungen machen. Verbindungen herstellen. Spuren hinterlassen. Zum Beispiel auf und mit dem Papier. Zeitweise geht Pasolini ganz weg von üblichen Farben und arbeitet ausschließlich mit so ungewöhnlichen Zeichenmaterialien wie Kräutermixturen, Blütenblättern, Kaffeesatz oder Wein. Tränkt das Papier damit. Presst es zu-

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sammen. Beobachtet, wie es sich verändert, zusammenzieht, wellt, unvorhergesehene Muster hervorbringt. Wieder und wieder setzt er das Papier den unterschiedlichsten Prozessen und Erfahrungen aus, untersucht die Folgen, die Spuren der Bearbeitung – als wolle er bei diesen Versuchen auch herausfinden, was ein Mensch alles aushalten kann ohne zu zerbrechen. Wie gefährdet der Gegenstand der Untersuchung ist: auch darauf deuten die Materialexperimente, die das Papier an einigen Stellen aufreißen, verletzen, zerstören. Die Zeichnungen von Pier Paolo Pasolini: oft ebenso zerbrechlich und gefährdet wie die kleine Muschel, die er auf eines seiner Blätter klebte. Maria Callas. „Doch an des anderen Stelle / ist fu ̈ r mich eine Leere im Kosmos / eine Leere im Kosmos / und von dort her singst du.“ Vor und während der Dreharbeiten zu seiner Medea-Verfilmung entwirft Pasolini eine Reihe von Callas-Porträts, oft mehrere auf einem Blatt. Realisiert sie nicht allein mit dem Zeichenstift. Greift zu verschiedenen Materialien, mit denen er das Papier bearbeitet und Spuren auf dem gezeichneten Gesicht hinterlässt. Das königliche Profil, die stolze Haltung und Unberührbarkeit der von ihm gezeichneten Frau konfrontiert er mit Resten alltäglicher Essenzen, Kaffeesatz, Blütenstaub, die das Papier angreifen, irgendwann ausbleichen, sich auflösen, nicht mehr sichtbar sein werden – wie später die ins Meer geworfene Asche der Callas. Eines der großen Callas-Porträts zeichnet Pasolini mit weißem Kalk, entwirft das Bild einer makellosen Schönheit, unantastbar und – vergänglich. Der weiße Kalk ist kaum sichtbar auf dem weißen Papier und droht zu verschwinden. Etwas festhalten wollen: Pasolini macht auch die Vergeblichkeit solcher Bemühungen deutlich. Am Tisch, nach dem Essen, im Beisein von Freunden – viele Zeichnungen Pasolinis entstanden beiläufig, auf kleinen Zetteln, transparenter Folie, nur selten auf säuberlich abgetrenntem Zeichenpapier. Die Ränder der benutzten Blätter sind oft ungleichmäßig, zerfranst, voller Zacken. Nicht wenige stehen in Verbindung mit Texten – ohne dass immer gleich festzustellen wäre, was vorher war: das Wort oder das Bild. „Oh Großmütterchen, dein silbernes Haar / wird noch lange Jahre, im Schatten / deines alten Hauses, für uns glänzen. / Du aber, selig unter den Toten des Herrn / höre nicht auf, mit deinen Augen auf mich zu schauen“, ist auf der Rückseite eines Blattes zu lesen, auf dem Pasolini seine Großmutter zeichnet, ihren Kopf, ihr von einem Tuch gehaltenes Kinn, ihr in sich ruhendes Gesicht auf dem Totenbett. Wie bei diesem Porträt benutzte Pasolini häufig beide Seiten von Papier oder Leinwand. Da gibt es dann auf der einen Seite eine menschenleere Landschaft und auf der anderen die Zeichnung einer Einzelfigur, stoßen verschlossene Häuser

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Kontaktversuche

und in sich abgeschlossene Menschen zusammen, werden Verbindungen und Wandlungen sichtbar. Er habe, sagte Pier Paolo Pasolini einmal, die Reinheit gesucht und sich gerächt mit Dreck. Der alte Stich eines Schlachtfeldes, ein Foto vom Wilden Kaiser, bunte Bilder für einen Tourismusprospekt mit immer nur lächelnden, unternehmungslustigen und nie allein stehenden Menschen – auf dem noch unbeschnittenen Kontaktbogen der Druckerei treffen sie zufällig mit den Zeichnungen Pier Paolo Pasolinis zusammen, zeichnerischen Arbeiten, die auch Gegenbilder sind zu normierten Lebensbildern und von der Sehnsucht nach einem anderen Leben als dem der Konsumgesellschaft unserer Zeit sprechen: „ein Leben, das anderen Zeiten gehört“. Für Pasolini blieb es Utopie. „Ich werde am Ende ankommen, ohne / in meinem Leben die wesentliche Prüfung / abgelegt zu haben, die Erfahrung / / die die Menschen verbindet und ihnen eine / so zärtlich definitive Vorstellung von / Brüderlichkeit wenigstens in den Liebesakten gibt! / / Wie ein Blinder: dem im Tod etwas / entgangen ist, eine Sache, die mit / dem Leben selber zusammenhängt.“

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DOCH IMMER WAR’S EIN TANZEN OHNE ENDE Notizen zu Sankai Juku -

Hinter einem roten Kreis ein Mann in farbloser Uniform, dessen Körper zum monotonen Takt eines Metronoms gleichmäßig schwingt und plötzlich wie ein Brett zu Boden fällt; ein stolzer Pfau in den Armen eines kalkweißen Mannes mit rasiertem Schädel; vier weißgeschminkte Tänzer, die sich in merkwürdigem Tanz wiegen und langsam ihre Hüllen fallen lassen – Bilder aus einer Vorstellung von Sankai Jukus Kinkan Shonen, denen ich in Werner Schroeters 1980 über das Festival von Nancy gedrehtem Film Generalprobe zum ersten Mal begegne. Ein Jahr später sehe ich die Mitte der siebziger Jahre von dem Tänzer und Choreografen Ushio Amagatsu gegründete japanische Theatergruppe in Avignon. In einem alten Kirchenraum zeigen Amagutsu und seine vier Tänzer ihre neue Produktion Bakki, die wieder sehr reich ist an ebenso fremden wie vertrauten Bildern. Bilder, die unübersehbar in einem anderen Kulturkreis entstanden und doch nicht bloß exotisch wirken, die fern und zugleich nah sind, sich mit Worten schwer festhalten lassen. Der 33-jährige Amagatsu in einem Interview: „Der Tanz ist eine viel direktere und reichere Sprache, die sehr viel weiter geht als das Wort und ausdrücken kann, was man sonst nicht sagen kann.“ Nach einem Gespräch über seine Arbeit fordert er mich auf: „Please write about your feelings“ – das sei immer das Beste. Aus dem Hintergrund der Bühne kommt mit kleinen Schritten ein Mann nach vorn, groß wie ein Zwerg, mit dem alterslosen Gesicht eines Kindgreises. Wie er sich zu lauter Dudelsackmusik langsam und schwerfällig der Rampe nähert, erinnert er an das empfindsame Nilpferd in Pina Bauschs Arien, das sich ebenso vorsichtig einer Frau näherte und, ausgelacht von ihr, wieder ins Bühnendunkel zurückbewegte. Ushio Amagatsus kleiner Mensch lacht selbst. Steht an der Rampe und lacht ein Lachen, von dem man nicht weiß, ob es nicht ein Weinen ist, das sich hinter einem Lachen zu verbergen, zu schützen sucht. Mit diesem Lachen, das stumm ist und als sehr laut im Gedächtnis zurückbleibt, geht er zurück und entdeckt den aufs Glas gemalten Kreis. Nähert sich ihm und stößt an die Scheibe. Hält inne. Geht weiter und lacht weiter. Steht vor einer Stufe und versucht, die für ihn kaum überwindbare Barriere zu überwinden. Unternimmt immer neue

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Doch immer war’s ein Tanzen ohne Ende

Ansätze. Schafft es – und erlebt schon wenig später die neue Höhe als Abgrund. Hebt die Arme wie Flügel und stürzt. Bleibt wie ein Embryo eingerollt auf der Seite liegen. Bewegt sich vorsichtig. Entdeckt sich, eine Hand, ein Bein, seinen Körper, der sich aus der Kleidung schält und wächst, groß wird, normal. Aus seinem Lachen ist ein Weinen geworden. Wie über einen Verlust weinend steht er da, steht da als Frau im bodenlangen schwarzen Abendkleid und tanzt. Tanzt und tanzt, als könne er nicht mehr aufhören und suche jemanden, der ihm helfen könne, diesen Tanz zu beenden. „Please stop dancing“, sagt Amagatsu einmal nach einer Vorstellung. In einem Gedicht heißt es: „Doch immer war’s ein Tanzen ohne Ende.“ „Dieses ungeheure Maß an verzweifelter Zärtlichkeit“. Einander suchen, einander bekämpfen. Zwei Männer gehen nebeneinander. Überqueren Seite an Seite die Bühne. Nähern sich allmählich dem Kreis auf Glas. Entfernen sich voneinander. Beiläufig bewegt sich ein Pfau zwischen ihnen. Getrennt voneinander nehmen sie im Zeitlupentempo Haltungen ein, Posen. Erst angestrengt, später immer genüsslicher, lockender. Aus den Lautsprecherboxen ertönen sanfte Miles-DavisKlänge. Ein zweites Paar kommt. Begegnungen entstehen. Es kommt zu Berührungen, die an Zärtlichkeit denken lassen, sehr vorsichtig sind und behutsam. Doch aus der Vorstellung von Zärtlichkeit wird ein Kampf, Ringkampf und Geschlechtsakt. Die Bewegungen werden immer schneller und heftiger, die fast nackten Körper zu Boden geworfen – bis zur Niederlage, zum Sieg und einem letzten Kuss. Ushio Amagatsus Stücke sind voll solcher Verwandlungen, Verbindungen, Veränderungen, reich an fließenden Übergängen zwischen Zärtlichkeit und Gewalt, Schönheit und Schmerz, Liebe und Tod. Seine Arbeiten, sagt Amagatsu, seien mindestens zwei Seiten einer Sache – so auch in seinem Stück Bakki. In einer Szene steht er hinter einer Glasscheibe und tanzt. Die Bewegungen sind wieder sehr reduziert und zart. Das weiße Gesicht des Tänzers ist lange Zeit nur im Profil zu sehen. Erst spät wird auch die lange verborgene Seite sichtbar – eine entstellte und verletzte. Der Moment, in dem er die Wunde zeigt: für mich einer der schönsten und erschreckendsten (Theater-)Momente der letzten Jahre. „Mit nichts entblößt man sich so wie mit Masken. Nackt, um zu entschlüpfen“, so Jean Genet, neben Lautréamont, de Sade, Visconti, Mahler und Duchamp einer der europäischen Wahlverwandten des „Butoh“, jener Richtung des japanischen Theaters, die in den 1960er Jahren entstand und bis heute eine Herausforderung im japanischen Kulturleben geblieben ist, sich erheblich vom traditionellen Theater unterscheidet und doch nicht zuletzt auf der Suche nach der verlorenen Basis des Tra-

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ditionellen ist. „Kabuki oder No ist heute so simpel und technisch, aber in der Vergangenheit war es ganz anders, viel komplizierter – da ging es nicht nur um Technik. Wir müssen wieder an den Ursprung denken, an das Innere, aus dem das Kabuki- oder No-Theater entstand. Es geht nicht darum, nur die Technik des Traditionellen zu gebrauchen, wir müssen etwas anderes finden – auch wenn es schwierig ist. Aber ich denke, es ist möglich“, meint Ushio Amagatsu. „Wir müssen versuchen, mit diesem Leben zu leben.“ Ausgangspunkt seiner Arbeiten sind nicht zuletzt Erfahrungen von heute. Vorbereitung für die meist in nur anderthalb Monaten realisierten Stücke sei das eigene Leben. „Ich glaube, es ist wichtig, dass wir nicht nur zusammen arbeiten, sondern auch zusammen leben. Dadurch weiß ich viel mehr über die anderen Tänzer“, sagt Amagatsu, der neben dem mittlerweile legendären Kazuo Ohno zu den wichtigsten Vertretern des Butoh zählt. Wie schwer die von Ohno und Tatsumi Hijikata eingeleitete Butoh-Bewegung einzuordnen und festzulegen ist, ließ sich beim diesjährigen Theaterfestival in München nachvollziehen, wo neben Sankai Juku, Min Tanaka und Eiko & Koma auch der 76-jährige Ohno zu sehen war, mit Stücken, die in ihrer grenzenlosen Sehnsucht und ihrem großen radikalen Pathos aus einer anderen Welt zu kommen schienen und deutlich machten, dass Butoh mehr ist, als nur eine Theatervorstellung zu spielen – „es ist Leben und ich muss dabei mich, meinen Körper verstehen und finden“. Doch mit Worten könne er Butoh nur schwer definieren, bekennt Ushio Amagatsu. „Ich kann meine Antwort nicht sagen, nur tanzen.“ Und wenn er sie wüsste, „dann würde ich vielleicht aufhören zu tanzen“. Parlez-moi d’amour. Sankai Juku spricht in seinen Stücken auch und immer wieder von der Sehnsucht und der Schwierigkeit zu lieben. Zum Beispiel in Kinkan Shonen, dem „erinnernden Traum eines geschorenen Knaben“, zum Beispiel in der Eitelkeit der Natur überschriebenen Geschichte eines Mannes und eines Pfaus. Der Mann hält den Pfau in seinen Armen, scheint mit ihm zu tanzen, presst sich an ihn, bewegt sich zärtlich mit ihm und hält seinen Hals und seinen Körper fest umschlossen. Geht mit ihm vorsichtig auf den Kreis zu. Steht mit ihm hinter dem roten Rund wie vor einem Spiegel, stolz und erschreckt, voller Sehnsucht und Trauer. Entfernt sich. Lässt den Körper und dann auch den Hals des Pfaus los. Lässt ihn frei und fliegen – und hält ihn doch immer noch in den Armen. In Bakki bewegen sich zwei Kreise unmerklich aufeinander zu. Bilder von erlesener Schönheit konstatierten Kritiker nach dem ersten Auftritt von Sankai Juku in Deutschland. Doch die Bilder der

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Schönheit sind nicht ungebrochen, die makellosen Körper verwundet. Der Mann mit dem Pfau hat eine kraterähnliche Wunde am Kopf, schmale rote Spuren verlaufen an Beinen und Ohren, die maskierten Gesichter der Tänzer, die zum „Ritus höchster Feierlichkeit in der Mitte der Stadt“ zusammenkommen, wirken wie offene Wunden, zerschossen, zerstört. Als ich später mit einem Freund darüber spreche, überrascht ihn meine Reaktion: Für ihn seien es nur angelegte Masken gewesen, weder erschreckend noch grauenhaft. Mit ihnen tanzen sie. Tasten blind nach dem Raum, nach dem anderen. „Wenn sie meine Hand auslassen, ist es, als wären wir tausend Meilen voneinander entfernt“, sagte einmal eine Taubblinde, die nur über ihre Hände Kontakt zur Außenwelt haben kann. Die Tänzer halten ihre Hände, als würden sie etwas sehr Kostbares und Zerbrechliches forttragen und beschützen. Und was wie ein Totentanz begann, wird zu einer Feier des Lebens. Die zerstörten Gesichter sind nicht mehr zu sehen. Mit dem Rücken zum Publikum tanzen die Männer sich wiegend und entblößend aus dem Raum. Hinter einem roten Kreis ein Mann in farbloser Uniform, dessen Körper zum monotonen Takt eines Metronoms gleichmäßig schwingt und plötzlich wie ein Brett zu Boden fällt: Wenn er in diesem ersten Bild von Kinkan Shonen plötzlich stürzt, ist das auch ein Sturz zurück in die Kindheit. Zusammengekauert liegt er dann da und entdeckt die Welt wie ein Kind. Entdeckt das Sehen, das Hören, das Tasten, das Riechen, das Schmecken. Nimmt auf wie nur ein Kind aufnehmen kann. Wirft sich wieder und wieder die auf dem Boden liegenden Reiskörner und Sand in den Mund, spuckt sie aus und wirft sie sich wieder in den Mund – mit einer Ausdauer und Unbeirrbarkeit, einer Lust und einer Verzweiflung, die an Charlie Chaplins Tramps erinnert. Ein andermal fasziniert mich vor allem das Gehen der Figuren. Vorsichtig setzen sie einen Fuß vor den anderen – als könne jeder Schritt in den Abgrund führen, ins Unbekannte, Vergessene. Für einen Moment denke ich, dieses Gehen zeige eine Möglichkeit zu leben – immer wieder so, als sei es das erste Mal. „Das direkte Gefühl ist wichtig“, meint Ushio Amagutsu zu seinen Aufführungen, die er eher als Zeremonien denn als Ballette sieht. „Ich denke immer an eine Zeremonie, wo Leute für zwei Stunden zusammenkommen und dann wieder in ihr Leben zurückgehen. Es sind nur zwei Stunden und nur fünf Leute spielen, aber es ist dieselbe Zeit und derselbe Raum – und in dieser Zeit entsteht vielleicht eine Veränderung.“ Wenn er in seinen Stücken von Liebe und Gewalt, Geburt und Tod, den Stürzen aus dem Kindheitstraum und schmerzhaftem Erwachsenwerden

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spricht, macht er Lust auch auf Veränderungen. Mut zu direkter Erfahrung und Utopie. Sankai Jukus Arbeiten geben eine Vorstellung davon, dass alles ganz anders sein könnte.

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AUF DEM MÖNCHSBERG Der Schriftsteller Peter Handke -

Der Tisch ist gedeckt, zwischen Haustür und altem Ziehbrunnen im Garten, auf dem Mönchsberg, hoch über Salzburg. Vor dem Haus stehe eine Zypresse, so dass man es schon von weitem erkenne, hatte er am Telefon erklärt. Doch zwischen den andern Bäumen übersehen wir sie und fahren vorbei. Der Taxifahrer fährt weiter zum nächsten Haus, wendet dann und entdeckt einen Mann am Straßenrand. „Sie werden schon erwartet.“ Er habe das Motorengeräusch gehört, sagt Peter Handke und öffnet das Tor zum Haus. Wir gehen durch den großen Garten. Handke ist barfuß. Auf einer Stufe liegt eine Maus. „Die Katzen haben wieder zugeschlagen.“ Am Tisch schenkt Handke Tee in die bereitgestellten Tassen. Fünf Bleistifte liegen verstreut auf dem Tischtuch. Sein neues, in diesem Herbst erschienenes Buch trägt den Titel Die Geschichte des Bleistifts. An einer Stelle des fortlaufenden Journals schreibt er: „Meine Flucht – wenn es eine ist – ist eine Flucht hin zum Geheimnis.“ Seine Tochter mache mit der Schule einen Tagesausflug, da habe er gedacht, dass wir uns auch bei ihm treffen könnten, erklärt Peter Handke und schlägt vor, später vielleicht noch ein wenig spazieren zu gehen. In den letzten zwei Jahren habe er, von Übersetzungsarbeiten abgesehen, keine richtige Schreibtischarbeit mehr gemacht und sehr viel draußen „im Gehen und Stehenbleiben“ aufgeschrieben. Früher, sagt er, sei er auch nicht so gern gelaufen. „Im Internat mussten wir am Sonntag immer in Rudeln herumwandern – da konnte man noch nicht einmal in den wenigen Freistunden allein sein. Da musste man zu Fünfzig durch die Landschaft gehen und durfte sich nicht einmal vereinzeln, dass man zum Beispiel hinten etwas nachging. Man musste, wie man so sagt, immer zusammenbleiben – da war mir das Gehen auch zuwider. In der Regel mag ich auch nicht das sogenannte Wandern, wenn das so zünftig vonstattengeht und man so richtig gekleidet ist und vor lauter Natur die Natur nicht mehr sieht.“ Er wolle beides zusammensehen: „Zivilisation und Natur, Geschichte und Natur. Ich gehe gern in den Stadträndern, wo man alles spürt – im Französischen gibt es einen Ausdruck dafür, terrain vague – da spürt man Wildnis und was sein könne.“ Langsame Heimkehr – Titel einer 1979 erschienenen Erzählung und Beginn einer vierbändigen Werkgruppe, die über Die Lehre der SainteVictoire und die Kindergeschichte zu dem dramatischen Gedicht Über

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Auf dem Mönchsberg

die Dörfer führte und zusammenfällt mit der Rückkehr des 1942 in Kärnten geborenen Schriftstellers in den deutschen Sprachraum. Nachdem er mit seiner heute 13-jährigen Tochter Amina mehrere Jahre in Frankreich gelebt hatte, zog Handke vor drei Jahren auf den Mönchsberg. Als einziges Zeichen der Stadt höre man auf dem Berg oft nur die Sirenen, sagt Peter Handke einmal im Gespräch. Ob er oft hinuntergehe, frage ich ihn. Eigentlich täglich, antwortet er. „Das wäre ja auch absurd, die Stadt zu meiden. Ich erlebe da zwar immer eine Niederlage, weil ich mich nach zehn Minuten umzingelt fühle oder meinerseits Hass empfinde auf alles. Manchmal komme ich auch ungeschoren davon, aber meist hab ich nach zehn Minuten keinen Blick mehr, sehe nichts mehr, werde genauso instinktlos wie die andern – kaum bin ich im Gewimmel drin, wird mir der Blick gelöscht. Aber ich will mich da doch aussetzen, gehe durch das Geschiebe in der Getreidegasse und denke, da muss doch was Schönes sein – meist, wenn ich einen Schnaps getrunken habe, geht es ganz gut.“ Er könne natürlich auch einen Umweg machen, aber das tue er nur selten. „Ich lass mich da nicht kleinkriegen durch die Unwirklichkeit – man muss da einfach durchblicken.“ Die Einheimischen kommen ihm im touristischen Salzburg oft wie die Verbannten der Stadt vor. „Die drücken sich davor, in die innere Stadt zu gehen, die schimpfen in sich hinein und murmeln ihre Verwünschungen.“ Die Touristen seien dagegen wie Usurpatoren. Wenn auf dem Mönchsberg ein Kind mit dem Rad fahre, würde gleich einer fragen: „‚Was will das Kind hier radeln?‘ Die führen sich auf, als gehöre die Stadt ihnen. Die kommen auch mit sehr merkwürdigen Farben und sprechen, wie sie zu Hause nie sprechen würden – als ob alle schlimmen Schleusen geöffnet wären. Die offensichtliche Schönheit scheint die Leute gar nicht zu erziehen – die ist so plakativ, dass sie nicht genau hinschauen“, beobachtet Handke und korrigiert den Ausdruck erziehen. „Das klingt so moralisierend. Mit ‚erziehen‘ meine ich, ein bisschen verlangsamen.“ Die Franzosen könnten das, sagt er und erinnert an Spaziergänge im Park von Versailles und wie ruhig das da sei. „Die gehen da ganz vorsichtig und zierlich – das kann man in Salzburg nicht sagen. Hier ist auch kein Gegenstand und keine Örtlichkeit, die Halt gebieten. Sogar die Priester in der Kirche sind oft eben nicht streng, nicht aufmerksam, sondern den Touristen zugewendet, servil. Sie werden ganz stolz, wenn ein Sänger in ihrer Kirche ein Konzert gibt und halten am Mittag die Glocken an und sagen, ‚Wir sind leider und Gott sei Dank ausverkauft‘ – und erteilen den Segen. Aber das ist ja alles nicht so wichtig“, meint Peter Handke und versucht, meine Kurzschrift zu entziffern. Er entdeckt die Kürzel für „mein“ und „ich“.

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Auf dem Mönchsberg

Er habe in der Schule auch Stenografie gelernt, berichtet Handke, sei aber nie über 150 Silben hinausgekommen. Heute stenografiere er nur dann, wenn der Platz im Notizbuch einmal zu klein werde. Er würde auch keine Schnellschrift brauchen, sondern eher „eine Langschrift, eine Verlängerungsschrift – oder wie soll man das nennen, dass ein Buchstabe mehr Zeit braucht. Im Moment mache ich Buchstaben für Buchstaben, dass es fast schon pedantisch aussieht. Ich male manchmal die Schrift, damit die Begeisterung nicht durchgeht – aber manchmal geht es doch durch mit mir.“ Vor sechs- oder siebenhundert Jahren wäre er vielleicht so etwas wie ein Büchermaler geworden, „der ein Buch ganz langsam abgeschrieben hätte“. Während er das sagt, sucht er im engbeschriebenen Notizbuch nach stenografierten Stellen – „ich möchte doch einmal finden, wo Kurzschrift ist“. Er findet sie nicht und legt das Buch auf den Ziehbrunnen. Die Sonne scheint durch die Bäume. Hinter einem Bücherstapel liegt eine Plastiktüte mit „Einheitserde“. Von der Stadt her ertönt Glockengeläut. „Es ist Mittag.“ Wir gehen in ein Ausflugslokal mit Fernsicht. Peter Handke ist bekannt. Der Geschäftsführer bemüht sich um einen Tisch am Fenster, entfernt ein „Reserviert“-Schild und bietet uns einen Platz in der Mitte an. Eine Querleiste durchschneidet in Augenhöhe das Postkartenmotiv. Peter Handke registriert meine Unsicherheit und schlägt vor, in den höher gelegenen hinteren Teil des Restaurants zu gehen. „Hier ist es auch geschützter.“ Ob ich mich ekeln würde, wenn er Fleisch esse, fragt Handke, nachdem ich gesagt habe, nur etwas Vegetarisches essen zu wollen. Nein, sage ich. Am Nebentisch nimmt ein älteres Ehepaar Platz. Der Mann hat Kehlkopfkrebs. Wenn er mit der Frau spricht, hält er ein Mikrofon an die in den Hals geschnittene Öffnung. Meist verständigen sie sich ohne Worte. „Er wollte die Kraft eines Gesunden und die Würde (und Vorsicht) eines Kranken“, notierte Handke in seiner Geschichte des Bleistifts. Ich denke an das am Tag zuvor im Café gesehene Kind, das angesichts einer Frau im Rollstuhl jubelnd ausrief: „Ein Thron, ein Thron.“ Eine Hochzeitsgesellschaft betritt das Lokal. Die Braut wirkt mürrisch, der Bräutigam fällt durch einen ausladenden Schnurrbart auf. Die Gäste bewegen sich, als sei ihre festliche Garderobe nur geliehen. Peter Handke vermutet, das sei keine richtige Hochzeitsgesellschaft, das seien Schauspieler. Als sie in der Nähe einer kleinen Bühne zusammenstehen, sehen sie aus wie Modelle für ein Katalogfoto. Der Geschäftsführer sagt, sie kämen wohl aus Ungarn. Sie beobachtend scheint Peter Handke alle Poren zu öffnen und wirkt ganz offen – als sei da keine Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt. Nach einer Weile stellt er fest: „Statisten –

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nicht wie Schauspieler sehen sie aus, sondern wie Statisten.“ Er sagt das ohne Triumph. Die laut und bunt in Salzburg einfallenden Touristen hatte er, der in kleinbürgerlichen Verhältnissen großgeworden ist, auch so gesehen: „Viele haben sich das ja zusammengekratzt.“ Er müsse noch einmal in die Stadt und etwas für die Katzen kaufen, entschuldigt sich Handke nach dem Essen und erklärt mir das Versteck, in das er den Haustürschlüssel gelegt hat. Es klingt kompliziert und ist einfach zu entdecken. Ich lasse den Schlüssel in seinem Versteck und bleibe draußen. Neben der Haustür lehnt ein bunter Kinderschirm, auf der anderen Seite stehen zwei helle Herrenschuhe nebeneinander. Vom Garten führt eine Wendeltreppe auf einen zum Haus gehörenden Turm mit Terrasse. Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, heißt eine Sammlung älterer Handke-Arbeiten. Beim Durchblättern des umfangreichen Archivmaterials überrascht mich am Ende nur noch die Ausdauer, mit der immer wieder das Bild vom weltabgewandten Elfenbeinturmbewohner Handke entworfen wird, der Kritikern seit über fünfzehn Jahren reichlich Angriffsflächen bietet – heute, mit seinen an religiösen Momenten reichen neuen Arbeiten mehr denn je. Überraschen konnten ihn die oft sehr lauten und aufgeregten Reaktionen auf seine äußerst leisen und ruhigen Sätze nicht. Das werde keiner lesen, habe er immer gedacht und hatte das Gefühl, „dass das eine Sprache ist, die den meisten eigentlich lächerlich sein muss – das war mir nicht gleichgültig“. Doch in Sicherheit wollte er sich nicht bringen. „Wir sind viel zu verhätschelt“, meint er und findet es absolut schamlos, bei einem Schriftsteller zu merken, „der hat ein Publikum und der ist in Sicherheit – das darf nicht sein.“ Die gern zitierte Handke-Gemeinde ist für ihn dann „auch nur so eine kümmerliche Legende. Ich kann kein Publikum vergegenwärtigen – unsereiner hat keine Gemeinde.“ Bei jedem Buch habe er das Gefühl, sich die Leute neu heranholen zu müssen. „Wir, heutzutage, können uns an keine Erwartung mehr halten und müssen mit jeder neuen Arbeit einen neuen Tunnel, einen neuen Ort finden, die neue Mitte finden, die es nicht mehr gibt – und wehe, wenn es die nicht mehr gibt.“ Nach der überwiegend heftig verrissenen Premiere seines jüngsten Stücks hatte er in der „Tagesschau“ erklärt, er werde nicht aufhören, im Menschen das Göttliche zu suchen. Zurückgekehrt aus der Stadt überrascht mich Peter Handke auf dem Aussichtsturm. Er sei nur selten hier oben, sagt er, „man kommt sich hier so entrückt vor“. Wir gehen hinunter in den Garten. Handke bereitet den Tee. Einmal, nachdem er wieder eingeschenkt hat, erinnert er sich an Bilder aus japanischen Filmen. „In den Filmen von Mizoguchi sieht man immer, wie schön die Tee einschenken – die verkörpern ein-

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fach die Haltung.“ Er denke da immer zu spät dran, meint er und fährt dann fort: „Die sind vollkommene Schauspieler und doch nicht theatralisch. Die haben’s erreicht, dass sie ganz und gar durchlässig sind. Wenn Trauer ist, zeigen sie das nicht, sondern werden ganz einfach durchlässig, und wenn Freude ist, strahlen sie nur – und beides ist zu verwechseln.“ Und manchmal, wenn man sie sitzen sehe, scheine es, als würden sie ganz schwer – „aber man weiß ja, wie das geht“. Nach kurzer Pause korrigiert er sich wieder: „Mystisch ist ja auch kein Geheimnis – ist ja auch was ganz Alltägliches.“ Wir setzen uns ins Haus. Die Sonne scheint durchs Fenster. Das Geräusch des Bleistifts auf dem Papier kommt mir noch immer sehr laut vor. Auf dem Fenstersims steht ein verhülltes Mikroskop. „Das ist Ihr Spiel – spielen Sie es“, hatte mich Peter Handke zu Anfang zu ermuntern versucht und auch von seiner Befangenheit gesprochen, der Angst und Scheu vor Interviewsätzen, von denen man sagen kann, „der ist jetzt pointiert und der kann jetzt stehen. Wenn ein Satz pointiert ist, denkt man, der taugt nichts. Da ist es mir lieber, ich habe etwas schlecht gesagt.“ Später, als wir über Lesungen und andere öffentliche Auftritte sprechen, stellt er fest: „Am schlimmsten wird es, wenn man glaubt, andere von sich überzeugen zu müssen.“ Heute will er nur noch vor sich selber lebendig sein und notiert: „Zu oft habe ich mein Leben, meine Lebendigkeit anderen beweisen wollen, und bin dadurch erst recht leblos geworden.“ „Gehen – innehalten – gehen: Ideale Seinsweise“, heißt es in der Geschichte des Bleistifts. Es sei noch nie so ruhig gewesen wie während der Arbeit an den letzten vier Büchern, berichtet Handke. „Vor dem Schreiben hier im Haus bin ich immer eine Stunde lang ganz langsam auf- und abgegangen. Das hat mich eigentlich auf die Hauptsätze gebracht. Immer stehen geblieben und betrachtet – und keiner dieser Sätze hat sich mit Absicht gebildet. Es gibt da einen Ausdruck von Ludwig Hohl, ‚Die Richtung des Geistes ist das nebenhinaus‘ – ich habe gar nicht weggehört von dem, was draußen war – das andere hat sich nebenhinaus gebildet“, erklärt Peter Handke und sagt: „Ich hab’ einen ganz großen Glauben, nicht an das Unbewusste, sondern an das, was sich unwillkürlich bildet – dass man mit jedem Hin- und Hergehen immer wacher wird und immer weniger. So sind die Stirnsätze entstanden – eigentlich ganz tonlos und ohne den Gedanken, dass irgendetwas mit Botschaft zu tun hat. Das waren die stillsten Sätze, wo sich das tiefste Innere mit dem Äußeren verbindet.“ Während draußen die Sonne untergeht, stellt Peter Handke fest: „Die Kälte kommt ins Haus.“ Ob ich friere, fragt er. Nein, erwidere ich. Sehr leise und wie für sich sagt er im Verlauf des Gesprächs: „Was man

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als den Erdkreis gesehen hat, da gibt’s ja keine Sprache für und keine Formel.“ Der Versuch sei nur, Parallelen zu finden – „was das strahlend macht und in der Alltäglichkeit sichtbar macht“. Wenn einer die Sache nicht gesehen habe, halte er die entsprechenden Beschreibungen für Lyrik, obwohl es eigentlich nur Sachbeschreibungen seien. „Es war schon in der Kindheit“, erinnert Handke und erklärt: „Wie der Baum oder der Wald jetzt tost, oder wie man das nennt, und wie der Regen jetzt rinnt oder wie der Schnee fällt, das ist für mich immer noch die höchste Erzählung. Ich möchte kein Gedicht über Regen und Schnee schreiben, sondern eine Erzählung darüber, eine große gewaltige Erzählung – ohne dass Zeus vorkommt.“ Das sei auch der Ansatz gewesen für das, „was Langsame Heimkehr heißt. Langsame Heimkehr ist ja eine Erzählung vom Werden und Entziehen – dass der Raum ganz groß wird und dann wieder verschwindet. Indem man das festhalten will, diesen weitesten elementarsten Raum, entschwindet das oder ist in Gefahr, zu entschwinden“, berichtet er und glaubt doch, dass eine Erzählung davon möglich sein muss. „Das muss doch gehen, dass alles zusammengehört. Eins gibt das andere – wie der Regen den Schnee, der Schnee den Fluss, der Fluss die gehenden Menschen. Und ich dachte, das geht ohne Krieg, dass man den Frieden ausbreitet und der Leser denkt, so ist die Welt und so soll sie sein.“ Das schwebe ihm immer noch vor, sagt Peter Handke und hat „einfach nur Lust, Schöpfer zu sein – das kommt immer wieder. Das ist eine Riesenfreude und schon im nächsten Moment weiß ich nicht weiter. Aber ich habe das Spiel nun einmal angefangen. Es ist ein schwermütiges Spiel, das schwermütigste überhaupt – und zwischendurch sehr leichtsinnig – und das ist der Lohn.“ Nach kurzem Abstand bestätigt er: „Lohn kann man sagen. Lohn, dass man wie der Odysseus niemand ist, aber so, dass man alles sieht und selber nicht gesehen wird, so in dem Sinn.“ Seinen Redeschwall bemerkend, verlangsamt Handke und bricht ab: „Das ist es ja auch nicht.“ Hinter ihm, an einer der weißen Wände, hängt ein größeres Bild, auf dem ein Engel einem Kind den Weg über einen schmalen Flusssteg weist. Aufbruch. Peter Handke trägt die Stühle ins Haus. Zieht sich Jacke und Schuhe an. Schließt die Tür zum Haus. Die Tochter ist noch immer nicht vom Tagesausflug zurück. „Ein langer Ausflug.“ Wir gehen vom Mönchsberg zur Stadt. Die Geschäfte schließen. Die Passanten sind eilig. „Zehn Minuten und ich bin schon wieder schwindlig.“ Die Busse mit den Tagestouristen fahren zurück. Es ist dunkel geworden. Der Mond ist beinahe rund. Auf dem Bahnhof, vor der Grenzkontrolle, verabschieden wir uns. „10 700 Meter“ gibt zwei Stunden später der Pilot

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als Flughöhe durch. Die Stewardess serviert Tee und legt auf Wunsch noch eine Zitronenscheibe in den Plastikbecher. Ich denke an Pina Bausch, die nach einer Reise durch Südamerika sagte: „Alles, was toll war, hab’ ich sowieso nicht fotografiert.“

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„’NE EINFACHE FRAU BIN ICH“ Die Wartefrau Maria Rüb -

Einmal habe sie sich zu Weihnachten ein langes Kleid gewünscht. „Kauf dir das am besten selbst“, habe ihr Mann gemeint. Aber sie habe es dann doch nicht getan, und als ihr Mann am Heiligen Morgen fragte, was sie am Abend anziehen wolle, habe sie wie in den vergangenen Jahren ihren langen schwarzen Rock tragen wollen und die Silberlurexbluse mit den Fächerärmeln, „wo ich immer so schön die Gläser mit umwerfen kann. Und als die Bescherung losgeht, hängt am Wohnzimmerschrank ein wunderschönes langes, blaues Abendkleid mit spitzem Ausschnitt und langen Ärmeln – so ganz zeitlos geschnitten.“ Nur ein Stück zu lang sei es ihr gewesen und am Ausschnitt ein bisschen nackt. „‚Da musst du dir oben eine Blume kaufen‘, hat mein Mann gesagt – und dann bin ich herumgelaufen.“ Denn die Ansteckblumen seien entweder zu teuer gewesen oder in der Farbe nicht passend – „da musste ’ne weiße dran“. Schließlich habe sie auch eine gefunden, in einem Blumengeschäft, eine aus Seide für die Vase. „Die war weiß und kostete nur 1,75.“ Die Blüten habe sie vorsichtig auseinandergepflückt und mit dem Faden leicht drangenäht ans Kleid – „da sah das gleich ganz anders aus“. Anziehen könne sie ihr Langes Blaues jedoch nur selten. „Wenn Hochzeiten sind oder am Heiligen Abend, wenn wir zur Schwiegermutter gehen – da sind wir alle in lang. Und dann zieh ich es Karneval an. Da tun wir uns schön anmalen und kleben uns glitzernde Sterne ins Gesicht und in die Haare und – dann machen wir Aufnahmen.“ Es schellt. Maria Rüb, 52, Wartefrau in einer Bahnhofstoilette in Wuppertal, steht auf und geht zur Tür. „Guten Tag.“ „Guten Tag“, höre ich durch die angelehnte Tür. Die Fenster des zwischen den Toiletten liegenden Aufenthaltsraumes sind mit gelblicher Farbe zugemalt; vor den undurchsichtigen Glasscheiben zieht ein silbernes Band die weißen Gardinen zur Seite. Maria Rüb kehrt zurück und legt zwanzig Pfennig in eine Zigarrenkiste. „Im vierten Jahr“ arbeitet sie jetzt in der von der Stadt an eine Privatfirma vermieteten Toilette. „Vorher war ich ein Jahr lang arbeitslos und hab gestempelt. Ich hab immer an Arbeit gedacht, aber nur Absagen gekriegt. Überall hieß es: ‚Zu alt, zu alt‘ oder ‚Wir suchen keine‘. Auch das Arbeitsamt hatte keine Arbeit, und dann hab ich eine Freundin angerufen, und die hat mir die Nummer von der Firma gegeben und ich konnte gleich anfangen mit einem Stundenlohn von 6,60

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„’ne einfache Frau bin ich“

Mark.“ Seitdem ist sie in der ein paar Meter unter der Erde gelegenen Bahnhofstoilette Wartefrau: eine Woche von 7 bis 13.30 Uhr, in der andern von 13.30 bis 20 Uhr, alle zwei Wochen sonntags von 13 bis 20 Uhr. „Ich hab’ jetzt siebenhundert Mark im Monat“, berichtet Maria Rüb – „aber ich kleb’ wenigstens für die Rente. Ich hab’ meine ganzen Unterlagen zusammen, und so lange wie ich gesund bin, will ich arbeiten. Ich will nicht aufhören, bis ich 63 bin. Und dann muss ich mal gucken, wie viel Rente es dann gibt. Ich will sehen, dass ich eine gute Rente hab’, dass ich dann versorgt bin und nicht vom Sozialamt leben muss – das wär’ für mich ein Horror.“ „Ich hab’ ja immer gearbeitet“, sagt Maria Rüb. Sie sagt das so, dass darin kein klagender Ton ist, nur Selbstverständlichkeit. 1944, als sie noch keine 14 ist und „sehr zierlich“, macht sie gleich nach der Schule ihr Pflichtjahr, „in einem Lebensmittelgeschäft. Da hab’ ich den Laden sauber gemacht, Lebensmittelmarken aufgeklebt, auf die Kinder der Leute aufgepasst. Und dann hab’ ich noch in den Fabriken gearbeitet und später bin ich zur Gastronomie übergewechselt und hab’ bedient.“ Ins neueröffnete „Bierhaus Schmidt“ sei sie mit einem Trick gekommen. „Ich hab’ einfach gesagt, ich hätt’ schon mal gekellnert – wenn ich gesagt hätte, ich hab’ immer nur in der Fabrik an der Maschine gearbeitet, hätten die mich ja nicht genommen.“ Bei ihrem ersten Gast sei sie dann ganz aufgeregt gewesen und habe einen roten Kopf bekommen, doch das habe sich schnell gelegt „und ich bin da geblieben“. Später wechselt sie noch in ein Speiserestaurant, „wo viele Geschäftsleute waren“, und in ein großes Café. „Da haben die Kolleginnen zu Anfang immer über mich gelacht und gemeint, ,Du hast aber Mut, hier anzufangen‘; weil – ich konnte nur zwei Teller auf einer Hand halten und die hatten immer vier drauf. Und nachher“, fügt Maria Rüb nicht ohne Stolz hinzu, „hab’ ich das auch gekonnt.“ Was sie früher habe werden wollen, frage ich sie einmal. „Ich dachte immer, man könnte irgendwo hinschreiben und dann beim Film mitmachen. Aber so einfach ist das ja nicht. Man muss ja auch Talent haben, und ich bin keine Schauspielerin – ’ne einfache Frau bin ich.“ Sie sei nur immer gern ins Kino gegangen, erinnert sich Maria Rüb. „Einmal gab mir mein Vater eine Lebensmittelmarke, mit der ich Brot kaufen sollte. Ich geh’ da die Berliner Straße lang und komm’ am Odin vorbei und – da hab’ ich mir draußen die ganzen Bilder angeguckt. Heute hängen da ja nur Plakate, aber früher war alles voll Bilder – und ich war so begeistert davon und geh’ rein und guck’ mir den Weißen Traum an und hab’ kein Geld mehr, kein Brot und nix. Zu Hause hab’ ich dann meinen weißen Traum gekriegt – ein paar Ohrfeigen.“

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Das Geräusch von zwei Paar Damenschuhen, die Steintreppen zum Klo hinuntergehend, hallt in den Raum. Eine selbstsichere jugendliche Frauenstimme sagt: „Das stinkt ja schon zwei Meilen gegen den Wind.“ Maria Rüb steht auf, öffnet die Tür und sagt „Guten Tag“, kehrt zurück, legt zweimal zwei Groschen in die Tabakkiste. Ich frage sie nach ihren Aufgaben als Wartefrau. „Punkt eins: Ich muss dafür sorgen, dass hier alles sauber ist. Dann muss ich die Türen öffnen und 20 Pfennig kassieren und abliefern – und da führ’ ich auch Buch drüber.“ Für 1,50 Mark lässt sie auch ein Bad ein. Die Möglichkeit, neben den Toiletten zu baden, würden Deutsche wie Ausländer nutzen. „Es gibt welche, die kommen ständig – ich hab’ viele Stammgäste“, berichtet Maria Rüb, und: „Die mich kennen, die nennen mich Frau Maria.“ Frau Maria ist sie auch für die Stadtstreicher, die oft vor dem Eingang zur Herrentoilette stehen. „Die können ja nicht einfach irgendwo in ein Lokal gehen – die sind ja so verlassen. Die trinken dann hier draußen ihr Bier und sind friedlich – die sind ja auch froh, dass ich nicht die Polizei hol’. Und wenn ich denen sag’, dass sie ihren Dreck selbst wegräumen müssen, sagen sie: ‚Ja, Frau Maria, machen wir.‘“ „Wissen Sie“, erklärt sie mir später, „ich sag’ immer: Hinter mir ist keine Putzfrau. Putzfrau bin ich selbst.“ „Man hat ja immer so Jugendträume“, stellt Maria Rüb einmal fest und erinnert sich an ihren: „Ich wollte gern einen Förster heiraten und im Wald wohnen. Und mein Mann wollte gern Bauer werden und dachte, reiten ist was Schönes – er dachte, er könnte immer durch die Gegend reiten.“ Als sie ihn kennenlernt, ist er „der Tarzan von Langerfeld. Ich wusste, dass das der Willi war – wir kannten uns schon immer. Er sah gut aus und, mit dem Förster das hatte ja nicht geklappt, und da hatte ich mir dann gesagt, ich möchte einen Mann, der gut aussieht – und mein Mann sieht bildschön aus. Den musst du haben, hab’ ich gedacht – und was keine geschafft hat, hab’ ich geschafft.“ Früher sei er Dreher und wie sie in der Gastronomie tätig gewesen, aber dann habe er es in den Beinen bekommen und sich auf Pförtner umstellen müssen. Seit letztem Herbst sei er nun Wachmann in einer Fabrik für Feuerwerkskörper. Bei einem Stundenlohn von 7,03 Mark arbeite er sechs Tage in der Woche, „von abends um sieben bis morgens um sieben. Den seh’ ich heute ’ne halbe Stunde und dann ist Schluss.“ „Wir sind, das kann man schon sagen, durch dick und dünn gegangen, wir beide, mein Mann und ich“, erklärt Maria Rüb nach 25 Ehejahren. Die Hochzeit fand zur Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders statt. Für sie gab es dieses Wunder nicht. „Wir kriegten hier keine Wohnung. Wir hatten zwar eine rote Karte, aber die war wertlos. Und da

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wollten wir in die Ostzone gehen, um da zu heiraten und eine Wohnung zu bekommen. Wir dachten, wenn die alle rüberkommen von drüben, muss es da ja leer sein.“ Nach Lageraufenthalt und Notquartieren kehren sie jedoch nach ein paar Wochen enttäuscht in den Westen zurück. „Wir wurden noch an die Grenze gebracht und dann saßen wir da auf der Landstraße auf unseren Koffern. Von den ersten fünfzig Pfennig Westgeld hatten wir uns Zigaretten gekauft, und wie wir so dasitzen und rauchen, sagt mein Mann: ‚Es heißt, man muss einen Sack Salz zusammen essen, ehe man sich richtig kennt. Aber ich glaube, wir haben schon drei zusammen gegessen.‘ Und da hab’ ich mich so gefreut, dass er das gesagt hat, dass ich das nie und nie vergesse. Das sind Worte, die einen stolz machen, ja –.“ Maria Rüb hält inne. Ein Moment der Stille entsteht. Ich sehe auf den grünen Teppichbodenrest unter dem Tisch. Maria Rübs Schwägerin, die zu einem kurzen Besuch vorbeigekommen ist, sagt nach einiger Zeit: „Was das für einen Roman gäbe, so ein Leben.“ Hinter ihr, auf einer Ablage vor den gekachelten Wänden, stapeln sich Frau mit Herz und Frau im Spiegel, Regenbogenpresse und Fernsehzeitschriften. Der Alltag. „Ich mach’ meine Arbeit. Um halb sechs muss ich raus. Wir kriegen den General-Anzeiger und den hole ich mir rein und lese den, mache Frühstück und das Kind zur Schule.“ Die Claudia sei ihr bestes Stück. „Die ist ein ganz liebes Kind. Die ist nicht frech und sehr verständnisvoll für ihre zehn Jahre. Auch sozial ist sie gut, sagt die Lehrerin.“ Noch mit 42 habe sie Claudia gekriegt. Als sie damals zum Arzt ging, habe sie gedacht, sie sei in den Wechseljahren. „Und als der sagte, ich wäre schwanger, hab’ ich gelacht und gemeint: ‚Sie machen aber Witze, Herr Doktor‘ – und da war ich schon im fünften Monat und wusste das gar nicht.“ Wie nach der Geburt ihrer ersten Tochter in den fünfziger Jahren arbeitet sie auch nach der Geburt Claudias weiter. Zuletzt, vor ihrer Anstellung als Wartefrau und Arbeitslosigkeit, ist sie in der Küchenausgabe einer Tanzbar beschäftigt. „Da hatte ich viele Chancen, Stars zu erwischen – Autogramme. Roberto Blanco, Ireen Sheer, Mary Roos – die waren alle da.“ Sie selbst arbeitet in der Diskothek oft bis zum frühen Morgen und manchmal auch an ihren freien Tagen – bis sie eine Erkältung hat, sich längere Zeit nicht gut fühlt und zum Arzt geht. Das ist ein Freitag. Am darauffolgenden Montag liegt sie im Krankenhaus. „Totaloperation. Einen Monat war ich dann im Krankenhaus und einen Monat noch zu Hause krankgeschrieben – dass man dann die Kündigung kriegt, ist auch klar.“ Die Klingel an der Tür zur Herrentoilette wird gedrückt. Maria Rüb steht auf und öffnet. „Frau Maria, nun schlagen Sie mich nur nicht“,

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höre ich eine verschwommene Männerstimme sagen, und notiere: „Nein, ich schlag’ nicht. Ich bin ein liebes Mädchen. Aber nicht wieder Sachen ins Klo werfen oder hier stehen lassen. Ordnung ist das halbe Leben.“ Das sei einer von denen gewesen, die oft vor der Tür stehen, berichtet sie später, setzt sich wieder an den Tisch und erzählt von ihrer Freundin. „Ich hab eine echte Freundin: das Lieschen. Die ist jetzt 60 und seit 13 Jahren Wartefrau in der ‚Blue Note‘. Mit der kann man über alles sprechen. Wir telefonieren, sie besucht mich hier und ich besuche sie, wenn ich Zeit hab’. Das Lieschen – das ist eine ganz wunderbare Frau.“ Als junges Mädchen, erinnert sich Maria Rüb, sei sie samstags immer tanzen gegangen. „Samstags war immer der Tag, wo wir tanzen gingen – das hab’ ich leidenschaftlich gern getan.“ Mit einer Freundin sei sie meist in ein Lokal nach Langerfeld gegangen, einem an ihre Geburtsstadt Schwelm angrenzenden Stadtteil Wuppertals. „Da war keine Kapelle, nur eine Musikbox mit Schallplatten – und da war auch der Willi. Wir hatten immer so Taftkleider an mit Tüllüberwurf, die waren dreiviertellang und ganz weit. Ich hatte eins in Blau und meine Freundin eins in Rosé und dazu die passenden Sandaletten. Und einmal, wir sitzen da und der Kreis um uns wird immer größer, setzt sich einer mit seinem Stuhl auf mein Kleid und als ich aufstehen will, reiß’ ich mir ein Loch rein.“ Heute gehe sie nur noch selten tanzen. „Höchstens mal Karneval – das ist dann auch ’n Samstag.“ Zu mehr fehle ihr die Zeit. „Neulich wollte ich mich auch dem Karneval anschließen und in einen Verein gehen, aber ich kann das nicht mit dem Beruf vereinbaren – Arbeit geht ja vor.“ Doch Claudia sei seit einem Jahr im Verein und habe auch die Uniform. An das Kostüm als Funkenmariechen war sie schon vorher gekommen, eher zufällig. „Sie wollte eigentlich als Prinzessin gehen. Und wie wir in der Stadt sind und vor einem Schaufenster stehen, sagt sie: ‚Du guckst überall, nur nicht nach der Krone‘ – in einer Ecke hatte ich nämlich so eine Puppe von einem Funkenmariechen gesehen. Und dann hab’ ich ihr so ein rotes Kleid gekauft und weiße Strümpfe und Stiefel musste sie sowieso haben, dann hab’ ich die in Weiß geholt. Und die sah so schön drin aus – da hab’ ich gleich ein Pixy-Foto machen lassen.“ Eine Frau im violetten Regenmantel kommt in die Bahnhofstoilette, nimmt dort ein Bad und macht sich zurecht, geht als Diva heraus und träumt vor dem leeren Glaspavillon überm Klo von Hollywood-Glamour und großen Posen, Liebesdialogen und Tanzhaltungen – Szenen aus dem Kurzspielfilm Sydney an der Wupper – Dreamtime, den die Kölner Filmemacherin Bettina Woernle mit der Australierin Meryl Tankard und Maria Rüb als Wartefrau drehte. Ob ich schon einmal in Australien gewesen sei, fragt sie mich. Ja, sage ich und erzähle beinahe entschuldi-

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gend von der Weite, dem blauen Himmel, der Sonne, den Palmen und dem Meer. Sie sei noch nie im Ausland gewesen, stellt Maria Rüb beiläufig fest und korrigiert sich: „Doch, einmal, in Holland, auf einem Schiff. Da haben wir eine Butterfahrt gemacht. Morgens sind wir losgefahren und abends waren wir wieder zu Hause.“ „Der Duft der großen weiten Welt.“ Maria Rüb zündet sich eine Stuyvesant an. In der vor ihr liegenden Freizeit-Revue beginnt der „neue Roman einer großen Liebe: Der Prinz und die Ballerina.“ Jeden Morgen gucke sie in die Zeitung und sehe für ihren Mann die Stellenanzeigen durch. „Aber da steht immer: ‚Junger Mann, 25 bis 30‘ – ein Jahr drüber ist schon zu alt, und der ist schon 49. Und wenn ich ihm das dann immer vorles’, sagt er schon: ‚Kannst du mir nicht mal was anderes sagen?‘ Und ich würd’ ja auch gern – wenn was anderes drinstehen würde.“ Doch es sei immer das Gleiche und das Leben sei traurig und doch nur ’n Kampf. „Da haben’s die besser, die tot sind – die müssen nicht mehr kämpfen. Wissen Sie, ich interessier’ mich dafür – in den Zeitungen sind doch oft solche Artikel über Leute, die schon mal tot waren und die man zurückgeholt hat, und die haben immer so eine schöne leise Musik gehört. Da denk’ ich manchmal dran und stell’ mir das vor, immer mit dieser schönen Musik und –. Ach, ich dachte, du schläfst“, unterbricht Maria Rüb und sieht zur Tochter, die sich in eine Ecke gelegt und in einem Bilderblatt ein Preisausschreiben entdeckt hat. „Hier kann man was von E. T. kriegen, ganz umsonst, man muss nur hinschreiben.“ „Dein Schein kommt in die Lostrommel“, erklärt Maria Rüb, „wie beim Großen Preis. Und wenn du Glück hast, dann kannst du vielleicht was gewinnen. Vielleicht ’nen Trostpreis.“

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MIT NACKTEN AUGEN Die Lyrikerin Rose Ausländer -

In der im Dezember 1982 erschienenen Taschenbuchausgabe ihrer Gedichtbände Mutterland und Einverständnis wird ihr Leben und Werk bereits abgeschlossen. Die poetische Kraft der Dichterin Rose Ausländer sei versiegt, das Werk vollendet, stellt ihr Biograf Helmut Braun darin fest, und notiert: „Erfreut, aber passiv, nimmt sie die weitere Verbreitung ihres Werkes, die Anerkennung der Kritik und die Zuneigung der Leser zur Kenntnis. Sie, die ausschließlich für und von ihrer Poesie lebte, ist zu poetischer Äußerung nun nicht mehr fähig.“ Anfang Juni, ein Anruf. Warum ich sie so lange nicht mehr besucht habe, fragt Rose Ausländer mit einer Stimme, die noch immer kraftvoll und fordernd ist. Ich hätte gedacht, dass sie keinen Besuch mehr empfangen könne, erkläre ich. Nein, erwidert die 82-Jährige, ich solle zu ihr kommen, am Abend zwischen halb sieben und viertel vor sieben. Jüdisches Altenheim, 4. Stock, Pflegestation. Gegenüber dem Fahrstuhl hängt ein älteres Bild der Dichterin. Am Ende des Gangs: das Zimmer, das Rose Ausländer seit ein paar Jahren nicht mehr verlassen hat. Das Geschirr vom Abendessen wird aus den Zimmern geholt. Die Fernsehapparate laufen. Eine Krankenschwester öffnet die Tür zum Zimmer 419. Rose Ausländer sitzt in ihrem Bett, mit ausgebreiteten Armen, aufrecht. Den Rosenzweig hätte ich nicht mitbringen sollen, sagt sie, und dass ich mich setzen solle. Nach einiger Zeit fragt die Lyrikerin: „Soll ich Ihnen Gedichte vorlesen? Ich weiß nicht, ob ich sie Gedichte nennen darf, es sind ganz kurze Sachen.“ Titel habe sie für diese Arbeiten nicht, erklärt sie, dreht sich zur Seite und greift nach einem kleinen farbigen Block auf dem Rollwagen neben dem Bett, schlägt ihn auf und nimmt ein Vergrößerungsglas zur Hand. Ich sehe auf mein Notizbuch, Rose Ausländer diktiert: Ich bin ein Baum und atme mein flüsterndes Laub Vom Himmel kommt ein Engel

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und küsst meine Wurzeln Eine Pause entsteht. Rose Ausländer sieht durch das Vergrößerungsglas auf ihren Block. Blättert ihn durch. Liest für sich. „Ich suche – entschuldigen Sie.“ Von nebenan tönen die Werbeansagen des Vorabendprogramms ins Zimmer. „Tun Sie das Beste für Ihre Wäsche.“ Rose Ausländer sucht weiter und erklärt: „Da herrscht ein großes Durcheinander bei mir.“ Einen Moment später liest sie: Erbarme dich Herr meiner Leere Schenk mir das Wort das eine Welt erschafft In einem der wenigen autobiografischen Prosatexte der Lyrikerin heißt es: „Schreiben war Leben. Überleben.“ Die Aussage bezieht sich auf die Jahre 1941/44, in denen Nazis ihre Heimatstadt Czernowitz besetzt hielten und die Jüdin im Ghetto zu überleben suchte. „In jenen Jahren trafen wir Freunde uns zuweilen heimlich, oft unter Lebensgefahr, um Gedichte zu lesen. Der unerträglichen Realität gegenüber gab es zwei Verhaltensweisen: entweder man gab sich der Verzweiflung preis, oder man übersiedelte in eine andere Wirklichkeit, die geistige. Wir zum Tode verurteilten Juden waren unsagbar trostbedürftig. Und während wir den Tod erwarteten, wohnten manche von uns in Traumworten – unser traumatisches Heim in der Heimatlosigkeit.“ Ein Lied erfinden heißt geboren werden und tapfer singen von Geburt zu Geburt Wie damals kämpft Rose Ausländer auch jetzt, vierzig Jahre später, noch immer mit Worten ums Leben – ans Bett gefesselt und doch ungebrochen. „Bleib / deinem Wort / treu // Es wird / dich nicht / verlassen“,

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versichert sie in einem ihrer neuen Gedichte. Beim Vorlesen der noch unveröffentlichten kurzen Texte unterbricht sie an einigen Stellen und korrigiert noch ein einzelnes Wort. „Die Schönheit anschauen“, diktiert sie einmal und verbessert gleich: „Nein. Streichen Sie das. Schreiben Sie: Der Schönheit ins Auge schauen.“ An anderer Stelle mache ich beim Entziffern einer Stenogrammnotiz einen Fehler und lese „Aus dem Lichtquell / eines großen Augenblicks // Gedichte schaffen“ – das Wort schaffen sei falsch, berichtigt Rose Ausländer, sucht das richtige Wort zu erinnern und sagt es schließlich sehr bestimmt: schöpfen. Aus dem Lichtquell eines großen Augenblicks Gedichte schöpfen Das Erz spüren das im Herzen pocht Die meisten dieser Gedichte habe sie in zwei Nächten geschrieben, berichtet die Lyrikerin. „Ich arbeite immer in der Nacht, ich kann tagsüber nicht schreiben.“ Und wie immer seien die Verse zu ihr gekommen, nicht umgekehrt. „Ich komme nicht zu den Gedichten, die Gedichte kommen zu mir.“ Erzwingen könne sie das nicht – „ich kann jetzt vielleicht ein Jahr warten, bis wieder etwas kommt“, sagt Rose Ausländer, die Worte nicht erzwingen kann – und am Ende doch immer wieder findet. Im Himmel wo die Welten blühn hab ich mein Wort entdeckt Es sagt Ja und Nein „Warum schreibe ich?“ Die selbstgestellte Frage beantwortete sie vor Jahren in einem Text unter anderem so: „Weil Wörter mir diktieren: schreib uns. Sie wollen verbunden sein, Verbündete. Wort mit Wort mit Wort. Eine Wortphalanx für, die andere gegen mich. Ins Papierfeld einrücken wollen sie, da soll der Kampf ausgefochten werden. Ich verhalte

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mich oft skeptisch, will mich ihrer Diktatur nicht unterwerfen, werfe sie in den Wind. Sind sie stärker als er, kommen sie zu mir zurück, rütteln und quälen mich, bis ich nachgebe. So, jetzt lasst mich in Frieden. Aber Wörter sind keine fügsamen Figuren, mit denen man nach Belieben verfahren kann. Hart sind sie, auch die zartesten. Wir sehen uns an, wir lieben uns. Meine Bäume, meine Sterne, meine Brüder …“ Im Märchenland blüht die Poesie Ich suche sie am Traumpfad der mich führt Sie sei ein schweigsamer Mensch, stellt Rose Ausländer einmal fest. Über ihr Leben spricht sie nur selten. Man solle über ihre Gedichte sprechen, nicht über ihr Leben, erklärt sie und gibt mir eine kurze Zeitungsnotiz mit Lebensdaten und ihrer Bibliografie, die rund zwanzig Titel aufführt. Sie habe ein schlechtes Gedächtnis, meint sie, besonders Namen, Titel und Zahlen habe sie sich nie merken können. Schlüssel zu ihrem schon jetzt von Legenden umrankten Leben bleiben ihre Gedichte. Im seidigen Maigrün einer Frühlingsnacht bin ich geboren erzählte mir meine Mutter Der Frühling ist mein liebstes Alphabet Während sie diese Zeilen diktiert, hält sie für einen Moment inne. „Sie wissen ja, dass ich im Mai geboren bin.“ Ich nicke und erinnere biografische Angaben: Rose Ausländer, am 11. Mai 1901 als Rosalie Scherzer in Czernowitz/Bukowina geboren, studiert Literaturwissenschaft und Philosophie, wandert 1921 mit ihrem Studienfreund Ignaz Ausländer in die USA aus. Arbeitet dort unter anderem als Bankangestellte, Sekretärin, Redakteurin. Lässt sich 1930 nach siebenjähriger Ehe von Ignaz

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Ausländer scheiden. Kehrt 1931 nach Czernowitz zurück, um die kranke Mutter zu pflegen. 1939 erscheint ihr erster Gedichtband, Der Regenbogen, der als Buch einer Jüdin in Deutschland nicht mehr zur Kenntnis genommen wird. Während des Krieges lernt die Verfolgte Paul Celan kennen, mit dem sie auch später immer wieder zusammentrifft. 1946 übersiedelt die Lyrikerin zum zweiten Mal in die USA. Bleibt bis 1964 in New York, wo sie unter anderem mehr als zehn Jahre bei einer Speditionsfirma arbeitet und Gedichte in deutscher und englischer Sprache publiziert. Lebt seit 1965 in Düsseldorf, zunächst in Pensionen, seit 1970 im jüdischen Altenheim. In den letzten Jahren zahlreiche Preise, Auszeichnungen, Würdigungen; seit 1981 Veröffentlichungen im S. Fischer Verlag. Der Lyriker und Übersetzer Alfred Margul-Sperber stellte 1946 fest: „Ich kenne in der Dichtung der Gegenwart kein schlagenderes Beispiel zur Erhärtung des alten Satzes, dass alles Erhabene und Schöne einfacher Art sei, als das Werk Rose Ausländers.“ Ich spüre den klaren Zug deiner Gegenwart Du bist ein Genie gehst voller Andacht deinen strengen Weg „Angeblich bin ich eine berühmte Frau“, bemerkt Rose Ausländer nicht ohne Skepsis, spricht von den Briefen, die sie bekommt, und den Lesern, die sie besuchen wollen. Doch so sehr sie sich in der Isolation ihres Zimmers manchmal nach Menschen sehnt, wehrt sie Besuchswünsche ihrer Bewunderer doch meist ab. „Die Leute denken, ich werde dasitzen und Weisheiten sagen.“ Aber das tue sie nicht, sagt sie, will solche Erwartungen nicht erfüllen und verweigert auch in ihren späten Gedichten besinnliche Altersweisheiten, Beschwichtigungen, Tröstungen. Ich verzichte auf den Glanz Er hat mich nicht getröstet als du von mir gingst

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Ob sie noch weiterlesen solle, fragt Rose Ausländer. Ja, antwortete ich und werfe ein, dass ich manchmal nicht wisse, wo eine neue Zeile im Gedicht beginne. Das solle ich nur nach meinem Gefühl machen, meint sie und diktiert mir weiter ihre Gedichte: kostbare Miniaturen, bestechend in ihrer Einfachheit, Klarheit und Knappheit, weder moralisierend noch abgeklärt, sondern noch immer voller Lebenshunger, Offenheit, Wunden. „Meine Ahnen waren unbescholten / Ich habe den Tau ihrer Tränen geerbt“, schreibt die Lyrikerin, sieht die Blindheit der Welt noch immer „mit nackten Augen“ und spürt auch noch im Alter „die große Fremdheit in der eigenen Haut“ – ohne aufzugeben, zu resignieren, zu kapitulieren. 82 Jahre alt, hält sie fest an ihren Träumen, Wünschen, Erwartungen. Immer warte ich auf Wunder die kommen müssen wenn sich Musik erfüllt zur Zeit der nackten Blüte Nein, noch hat Rose Ausländer nicht abgeschlossen. Sie, die seit Jahren mit der Krankheit, dem Schmerz, dem Tod lebt, kämpft: auch gegen alle medizinischen Prognosen, Wahrscheinlichkeiten, Realität – ohne die alltägliche Härte zu verbergen. „Es ist ein Unglück, ans Bett gefesselt zu sein“, stellt sie fest, berichtet von den Nächten, in denen sie keinen Schlaf findet, und weiß seit langem: „An der Hüfte rührt der Tod mich an“. Sie sagt das ohne Pathos und Wehleidigkeit, eher beiläufig und selbstverständlich, richtet sich auf in ihrem Bett und liest: Ich habe dich geliebt bis ins letzte Jahrhundert sagt das Maiglöckchen und gibt mir sein Gift Ich sterbe nicht

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Ob ich wisse, dass Maiglöckchen giftig seien, fragt Rose Ausländer. Nein, auch das habe ich nicht gewusst. Sie sieht wieder auf ihren Block und sucht mit dem Vergrößerungsglas in der Hand. „Ein neues Gedicht: Lass mich nicht allein / du bist mein Traumgefährte – Traumgefährte, haben Sie das?“ „Ja.“ Rose Ausländer fährt fort: „Auf dem Weg ins offene Leid“. Das letzte Wort wiederholt sie und buchstabiert: „Leid. L-e-i-d.“ Für einen Moment ist es sehr still. Vergiss mich nicht ich bin dein ewiger Freund Gib mir die Hand so halte ich das Leben Der Tod habe sich auf sie eingestellt, aber sie habe sich noch nicht auf ihn eingestellt, erklärte Rose Ausländer bei einem Besuch vor zwei Jahren. Ihre Neugier und Lust auf die Welt, das Leben, Menschen erinnert an die eines Kindes. Und an ein Kind erinnert sie manchmal auch dann, wenn sie in ihrem Bett liegt und den Kopf wiegt, zugleich sehr alt und sehr jung erscheint, müde und hellwach. Als ich sie frage, ob ich sie noch fotografieren dürfe, sagt sie sofort Ja und spielt mit der Kamera, lächelt wie ein junges Mädchen ins Objektiv und erklärt nachher: „Frauen sind eitel.“ Sie sei es auch jetzt noch, bekennt die 82-Jährige, und alt zu sein, sei nicht schön. Die Erfahrung, dass „die Kraft meiner vielen Jahre“ wächst, ändert daran nichts. In Sicherheit bringt sie sich mit dieser Kraft ohnehin nicht: sie hält sich verwundbar und verteidigt ihre Ansprüche und Sehnsucht. Lass mich dir entgegenblühn Schönheit Es heißt blühn und sterben „Diese Blume ist augenschön“, beginnt Rose Ausländer eines ihrer neuen Gedichte. Einer der Blumensträuße neben dem Bett steht ein wenig abseits von den anderen in einer weißen Vase. Blumen des Bru-

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ders. Eine Woche seien sie alt und noch immer frisch, stellt sie mit Blick auf die Nelken neben sich fest, und erzählt von dem in New York lebenden jüngeren Bruder Max, der sie wie in den vergangenen Jahren auch in diesem Sommer wieder für sechs Wochen besuchte. „Ich vermisse ihn“, bekennt sie zwei Tage nach seiner Abreise. Wie kein anderer habe er sich um sie gekümmert, ihr vorgelesen am Abend und in der Hitze des Tags Luft zugefächelt, berichtet sie und sagt ganz einfach: „Er fehlt mir sehr.“ Komm einen Atemzug näher ans Licht Schwester Sei kühn und unnahbar „Das ist alles“, erklärt Rose Ausländer nach dem letzten Gedicht, das sie mir diktiert, lehnt sich gegen die Kissen und schaut aus dem Fenster. Mein Atem heißt jetzt nannte sie eines ihrer letzten Bücher. Ich sehe auf das Bett, in dem sie liegt und seit Jahren lebt und schreibt. Dabei fällt mir auf, dass es nicht mehr wie früher in einer Ecke an der Wand steht, sondern frei im Raum, offen nach den Seiten. Die Gedichte solle ich keinem zeigen, sagt Rose Ausländer nach einer Weile. „Die sind nur für Sie und Ihren Artikel.“ Ob und wann sie in einem Buch veröffentlicht würden, wisse sie nicht. Im Herbst erscheine erst einmal in der Pfaffenweiler Presse ein bibliophiler Band mit anderen neuen Gedichten und im Frühjahr eine Gesamtausgabe bei Fischer. Ob sie den in den letzten Wochen geschriebenen Gedichten noch Titel geben wolle? Das könne sie nicht sagen. „Wenn der Titel noch zu mir kommt, gebe ich ihnen einen – aber die sind so zu mir gekommen, ohne.“ Ohne Titel kam auch eines, das Rose Ausländer irgendwann in der Mitte las: Die Erde gibt mir ein geheimes Zeichen und sagt ade Ich antworte auf Wiedersehen

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„JA, FÜRCHTEN DÜRFEN SIE SICH NICHT“ Die Schauspielerin Elisabeth Bergner -

14 Uhr, London, Eaton Square, eine Reihe weißer Bürgerhäuser. Pünktlich stehe ich vor Elisabeth Bergners Tür. Eine Haushälterin öffnet. Vom Korridor ein Seitenblick in den Salon, der an die Räume von alten Kinostars in Hollywoodfilmen erinnert, mit einem dunklen Flügel und Blumen, getrockneten und frischen. Frau Bergner werde gleich kommen, erklärt die Haushälterin, ich solle mich nur setzen. Ich bleibe stehen und sehe mich in einem Meer von Büchern, die aus Regalen quellen, sich auf dem Boden stapeln und auf Möbelstücken liegen; entdecke Zeitgenossen und Vertraute der Legendären: die Garbo auf einer Fotopostkarte, Albert Einstein auf dem berühmten Bild mit ausgestreckter Zunge. Elisabeth Bergner kommt, zart und leicht und scheinbar schwerelos, öffnet die Arme und sagt: „Ich bin misstrauisch gegen Leute, die pünktlich sind.“ Wir setzen uns. Durch eines der hohen Fenster fällt seitlich Licht auf die Alterslose. „Ich hoffe, wir haben die gleichen Hosen an“, meint sie, vergleicht das Grau der Stoffe und lächelt wie ein Komplize. Ob ich sie fotografieren dürfe? Ja, sagt sie, vielleicht mit dem Handke-Buch, das ich ihr mitgebracht habe – „dann machen wir ein Foto und schicken es ihm“. Nach einem Dutzend Aufnahmen unterbricht sie. „Davon haben Sie jetzt genug.“ Zwei, drei Aufnahmen am Fenster folgen, dann sieht sie sich suchend um nach einem neuen Motiv und findet schließlich eines: den Eleonore-Duse-Preis, den sie im letzten Jahr in Italien erhielt. Wir nehmen das Duse-Porträt vom Boden und stellen es zwischen Sofalehne und eine Zeichnung von Cézanne. Ich fotografiere, Elisabeth Bergner korrigiert. „Das hat nur Sinn, wenn ich die Duse auch angucke“, erklärt sie und nimmt die von ihr gewünschte Haltung ein. Auch als Schauspielerin war es meist sie, die Regie führte. „Ich glaube, dass ich das von Anfang an, weder im Theater noch im Film, erlebt habe, dass jemand zu mir gesagt hat, also jetzt machst du das oder das. Man hat gesagt: Heute spielen wir diese oder jene Szene, wie stellst du dir das vor?“, berichtete sie einmal in einem Interview. „Es wetterleuchtet von Zukunft um diese Elisabeth“, schrieb Alfred Polgar 1919 über die 22-jährige Bergner, die schon bald zum Mythos werden sollte, mit Schauspielern und Regisseuren wie Max Reinhardt, Alexander Moissi, Conrad Veidt, Werner Krauss, Albert Bassermann

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und Heinrich George zusammenarbeitete und Theatergeschichte machte. Angebote, zurückzukehren zur Bühne, lehnte sie in den letzten Jahren stets ab. „Ich will nicht mehr – und jetzt müssten Sie mich fragen, warum?“ Das hätte ich auch vorgehabt, pariere ich und notiere: „Das hat keinen äußeren oder inneren Grund. Ich kann das nicht mehr, auf der Bühne stehen und mich verbeugen, Applaus entgegennehmen und danken. Der Geschmack ändert sich“, meint sie, und dass man ja auch nicht sein Leben lang die gleiche Schokolade möge. Nein, es habe nichts damit zu tun, dass es schwer sei. „Es ist mir nur nicht mehr so selbstverständlich wie es mir war, als ich gespielt habe, eine Rolle gespielt habe nach der anderen. Die so lange Pause, die ich gemacht habe, die halte ich für verantwortlich dafür.“ Während ich ihre Antworten in mein Notizbuch stenografiere, unterbricht Elisabeth Bergner von Zeit zu Zeit. Das sei ja schrecklich, dass ich ständig mitschreibe. Ob ich mir denn nicht ein einziges Wort merken könne? Doch, erwidere ich, aber dass ich ihre Sätze gern wörtlich wiedergeben würde. Dann hätte ich ein Tonband mitbringen sollen, erklärt sie und lässt meine Abneigung gegen solche Geräte nicht gelten. Sie habe ihre ganzen Erinnerungen in ein Tonband gesprochen. „Ich habe es nie gelesen. Ich habe es diktiert das Buch und nie wieder gesehen.“ Ob es dann später noch bearbeitet worden sei, frage ich. „Nein. Das hätte ich nie erlaubt – dann hätte ich es ja noch einmal lesen müssen.“ Und Lust, ihre 1978 unter dem Titel Bewundert viel und viel gescholten veröffentlichten Erinnerungen noch einmal zu lesen, habe sie nicht. „Ich könnte ja, ich habe ja eine Kopie – aber ich will nicht.“ Auch ihre Filme habe sie sich ja nie angesehen. „Aus einer inneren Ablehnung, sich selber zu begegnen, nehme ich an.“ Die Begegnung mit den Probeaufnahmen zu ihrem ersten großen Film, Nju, den sie 1924 mit ihrem späteren Mann Paul Czinner drehte, hat sie nie vergessen. „Ich schielte, ich wackelte, mein Mund reichte von Ohr zu Ohr, meine Zähne waren gelb, nein, nicht gelb, braun! Meine Augendeckel klapperten auf und zu wie bei einer Gliederpuppe, nur viel schneller, meine Arme bewegten sich wie Dreschflegel, es war das Ende.“ Was sie als junge Schauspielerin interessiert habe, wurde sie einmal in einer Fernsehsendung gefragt und hatte geantwortet: „Mich hat die Bergner interessiert.“ „Das ist nicht wahr. Mich hat nur die Bergner interessiert – das hab’ ich nie gesagt“, widerspricht sie. „Ich hab’ das große, große Glück gehabt in meinem Leben, dass ich die größten Zeitgenossen getroffen habe, und die haben mich gewiss gewaltig interessiert – sehr viel mehr als die Bergner. Und die Bergner sagt heute noch, dass das ihre größte Auszeichnung war.“

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„Und zu Ihnen habe ich kein Vertrauen“, bemerkt sie nach einer Pause und sieht mich an. Auch meine Fragen gefallen ihr nicht. „Sie könnten originelle Fragen stellen. Sie fragen mich nicht die richtigen Fragen. Die Fragen müssen mich auch interessieren.“ Dass ich ihr ja gerade erst fünf Minuten gegenübersitze, versuche ich zu erklären, etwas mehr Zeit brauche und es sehr schwer finde, jemanden zu befragen, zu dem Albert Einstein gesagt habe: „Ihre Fragen sind viel schöner als meine Antworten.“ Einen Augenblick lang ist es still. Elisabeth Bergner erinnert sich. Einmal habe sie sich bei Einstein bedanken wollen, und er habe gesagt: „Ich habe zu danken. Sie zwingen mich zum Nachdenken“, berichtet die 86-Jährige zärtlich, lächelt mit dem Stolz eines Kindes und wird für einen Moment wieder zum jungen Mädchen, von dem in der Begegnung mit Einstein alles abfällt, „was ich bisher für bewundernsoder erstrebenswert gehalten hatte – Genie, Talent, Intelligenz, Erfolg, Erfolg, bravo, bravo …“ „Ja, fürchten dürfen Sie sich nicht“, hatte er bei einer ihrer Begegnungen gesagt. Ob sie sich heute nicht mehr fürchte, frage ich sie. „Fürchten gehört zu uns, nehme ich an. Heute fürchte ich mich vielleicht vor – vor einer Maus – aber da habe ich mich ja schon immer vor gefürchtet“, bekennt sie und erzählt, wie sie einmal eine Maus in einem Badezimmer entdeckte. Den Hinweis, dass ich eher an andere Äußerungen von Furcht gedacht habe, überhört sie. „Ja, fürchten dürfen Sie sich nicht. Ich erinnere mich jetzt sogar, in welchem Zusammenhang er das gesagt hat – aber ich mag’s nicht sagen.“ „Lasst mich den Löwen auch spielen“, war einer der später verworfenen Titel für ihre Memoiren, in denen sie immer wieder von einem Buch spricht: Wissenschaft und Gesundheit – mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, der Gründerin der Christlichen Wissenschaft. Mehrmals hatte sie es geschenkt bekommen und mehr oder weniger entrüstet zur Seite gelegt. Jetzt lebt sie seit mehr als vierzig Jahren mit ihm – „und denken Sie, es wird mir nicht langweilig“. Ja, sie sei wach geworden durch dieses Buch – „wach, das stimmt. Vielleicht hat es mich aufgeweckt zu anderem Denken. Ich hatte ja nie gedacht, dass eine Religion eine Wissenschaft ist. Ich hab’ immer nur geglaubt, dass das ein Glauben ist.“ Es ist still geworden. Elisabeth Bergner sitzt aufrecht da und wirkt vollkommen ruhig. Nach einer Weile sagt sie: „Wir tragen alle Fragen in uns, ungelöste, unbeantwortete Fragen, und wissen das gar nicht, und wenn man plötzlich einem Buch begegnet, das einem so viele Fragen beantworten kann, dann ist man sehr erstaunt und gefesselt.“ Es läutet. Elisabeth Bergner ruft in den Flur: „Das war der Teufel, lass ihn nicht rein.“ „Nein, der wird nicht reingelassen“, versichert die

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Haushälterin und kommt mit der Zeitung. „Gib’s mir, den Teufel.“ Elisabeth Bergner nimmt die Abendausgabe des Standard und liest eine Überschrift von Seite 1, „Snow in London on Thursday?“, legt das Blatt zur Seite und greift noch einmal zu Peter Handkes Der Chinese des Schmerzes, blättert darin und stößt auf das Wort Tarock. „Das ist ein Kartenspiel – da fällt mir ein, was der Richard Strauss gesagt hat über mich. Da war ich 18 und im Engagement in Zürich, da haben wir uns getroffen – das heißt, ich hatte die Ehre, ihn zu treffen, und da hat er gesagt: ‚Ein gescheites Mädel, schad’, dass sie nicht Skat spielt.‘ Und bis heute kann ich’s nicht, Skat spielen. Damals war ich 18, aber ich sag’ Ihnen etwas, wichtig in unserem Leben, für mich zu sprechen – nein, unmöglich.“ Elisabeth Bergner winkt ab, deutet auf meine Stenogrammnotizen und wendet den Kopf entsetzt zur Seite. Es sei einfach unmöglich, zuzuhören und gleichzeitig zu schreiben. Ich lege den Bleistift zur Seite und höre ihr zu, wie sie erzählt, dass nicht die äußeren Ereignisse entscheidend seien für ein Leben, nicht das, was man selbst für wichtig oder unwichtig halte – bis sie feststellt: „Ich hab’ mehr Vertrauen zu Ihnen, wenn Sie mitschreiben. Schreiben Sie das bitte hin: Was in uns bleibt, als Eindruck über einen Menschen, was in uns geblieben ist, ist nicht, ob er einen roten oder schwarzen Schlips anhatte.“ „‚Ja, fürchten dürfen Sie sich nicht‘, hat er gesagt. Endlich weiß ich, warum Einstein das gesagt hat. Er hatte mich in einer bestimmten Rolle sehr gemocht in Berlin, und als wir uns in New York wiedersahen, da wollte er, dass ich das in Amerika spiele – Strindbergs Fräulein Julie. Ich fürchtete mich davor, und da hat er das gesagt. Und dann hab’ ich die Rolle gespielt – und ich hatte recht. Es war kein Erfolg. Die Amerikaner sahen mich so als ein Wesen aus Honig, das nur aus Honig besteht. ‚Nein, das hätten wir nie von der Bergner erwartet, so eine schlimme Person‘ hieß es, und dann haben sie mich abgelehnt als Fräulein Julie.“ Allerdings nur in Boston. In New York habe sie dann doch großen Erfolg gehabt. „Er hat gesagt, ich müsse es spielen. Ja, fürchten dürfen Sie sich nicht – das ist mir geblieben.“ Schweigen. „Ich war ihm sehr sympathisch, glaube ich, das ist alles“, fährt sie später fort, sehr leise und mit einer Einfachheit, die keinen Platz mehr lässt für Koketterie und Eitelkeit. „Alles kommt aus einer – Versenktheit“, schrieb Alfred Kerr über das Bühnenwunder Bergner. Einstein sei immer dagewesen, wenn sie in Amerika gespielt habe, erinnert Elisabeth Bergner, und: „Jetzt weiß ich auch, wo wir uns zum ersten Mal getroffen haben: bei Theodor Wolff, auf einem Empfang in Berlin.“ Ja, Berlin liebe sie sehr. „Ich gehöre zu Berlin, Berlin gehört zu

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mir. Berlin ist die wichtigste Stadt in meinem Leben.“ Hier feierte sie in den zwanziger Jahren Triumphe: als Königin Christine und Fräulein Julie, Shaws Heilige Johanna und O’Neills Nina im Seltsamen Zwischenspiel, als Rosalinde in Wie es euch gefällt und Viola in Was ihr wollt und und und – bis immer mehr Braunhemden nicht nur im Theater sitzen und sie erfährt, dass die neuen Herren sie nicht mehr wollen. Elisabeth Bergner ist Jüdin. Ende 1932 verlässt sie Deutschland und geht nach London, engagiert sich in Emigrantenkreisen und unterstützt Widerstandsaktionen gegen das NS-Regime. Als sie nach dem Krieg wieder nach Deutschland kommt und hier, wie zuvor in Israel, unter anderem mit einem Bibelprogramm gastiert, trifft sie auch jene Kollegen wieder, die zu den Mitläufern des Dritten Reichs gehörten. Ob sie da nicht manchmal Hass empfunden habe? „Hass kenne ich nicht, Gott sei Dank. Ich kenne Abscheu, Verachtung, aber Hass, glaube ich, kenne ich nicht. Man könnte sagen, Hitler –ich habe ihn verachtet, ich fand ihn lächerlich, eher als hassenswert“, berichtet sie und erinnert ein Kinderbild, „da sehe ich aus wie Hitler. Ich habe nie ein Bild von mir irgendwo hier stehen, nur dieses eine.“ Entschlossen steht sie auf und holt es. „Das müssen Sie fotografieren.“ Nachdem ich es getan habe, fragt sie: „Geben Sie es zu oder nicht?“ – „Was?“ – „Dass das Hitler gleicht.“ – „Ja“, bekenne ich angesichts des Kindes mit den großen Augen und dem entschlossenen Blick. „Das ist doch Hitler – hätte ich nie geglaubt, dass ich das bin“, erklärt Elisabeth Bergner verwundert, legt die Fotografie beiseite und stellt fest: „Ich habe Ihnen wirklich alles erzählt, was es zu sagen gibt – Sie können da ja schon Fortsetzungen von machen. Und schreiben Sie das: Bitte machen Sie anständigen Gebrauch von dem ganzen Zeug, das ich Ihnen da erzählte – und gehen Sie jetzt endlich nach Hause.“ „Woher die Kraft / der unverwelkten Kindheit / im zerbrechlichen Geschöpf?“, fragte Berthold Viertel in einem der Bergner gewidmeten Gedicht. Heute beobachtet die Vielbewunderte an sich „eine zunehmende Scheu vor öffentlichem Auftreten. Warum und wieso weiß ich nicht.“ Die Vermutung, dass es vielleicht an einer distanzierteren Haltung gegenüber öffentlicher Anerkennung und Applaus liegen könnte, weist sie zurück. „Nein, das verlange ich – aber ich muss es verdienen, um es zu verlangen. Und ich bekomme es immer weiter. Aus meiner Korrespondenz sehe ich das und bin erstaunt, wie treu Anhänger sein können, die man gar nicht kennt. Das ist etwas, was einen sehr dankbar macht –. Ich wünsche und bete nur, dass ich es verdiene oder verdient habe oder verdienen könnte.“ Sie hält inne. Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Man muss ein inneres Gefühl haben, dass man den Erfolg ver-

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dient hat, um ihn zu genießen.“ Sie selbst weiß, „dass ich immer alles gegeben habe, was ich hatte.“ Nju, Fräulein Else, Ariane, Der träumende Mund, Katharina die Große, Escape me never – einige der Bergner-Filme, die zum Teil Welterfolge wurden. Auch in den letzten Jahren stand sie wieder häufiger vor der Kamera. Zumeist in eher belanglosen Filmen und Rollen, von denen sie sagt, dass sie wenig mit ihr und ihrem Leben zu tun haben. Als sie beispielsweise 1982 in Ottokar Runzes Feine Gesellschaft – beschränkte Haftung eine bibelfeste Stadtstreicherin zu spielen hatte, war das „wirklich etwas, wo der Runze schlecht beraten war mit mir. Ich wusste das von Anfang an, aber er wollte mich unbedingt.“ Bei dem Pfingstausflug vier Jahre vorher war es dagegen ein Satz auf der ersten Drehbuchseite, der sie zusagen ließ. „So eine hässliche alte Hexe hätte ich nie geheiratet“, habe da gestanden – „und dass das einer zu mir hat sagen müssen, das hat mich amüsiert und mir gefallen. Da wollte ich den Film machen – bevor ich den Text gelesen hatte.“ Was sie noch immer aus einem Satz machen kann, erlebe ich wenige Tage später in einer Folge der vorabendlichen Rummelplatzgeschichten im Fernsehen. „Komm, schieß mir eine Rose“, bittet sie in einer Szene ihren jungen Rummelplatzbegleiter und zaubert mit diesem einen Satz eine Welt mit allen Möglichkeiten – gleich dem geliebten Hauslehrer Moreno, der der kleinen Elisabeth aus Drohobycz in Galizien einst zurief: „Du brauchst doch keinen Ball zum Ballspielen! Komm, ich werf dir die Sonne, fang auf!“ „Ich habe das Gefühl, ich habe das alles, was ich brauche“, erklärt die Bergner und weist auf ihre große Bibliothek, „die lange nicht erschöpft ist. Ich lese mehr als je und lieber als jemals zuvor, und ich habe eine sehr große Liebe, die mich erfüllt, und das ist die Musik.“ Leerlauf kenne sie nicht und keine Leere. Und die Menschen, mit denen sie ihren Weg ging und die, wie ihr 1972 gestorbener Mann, nicht mehr leben – „die lassen keine Leere zurück, solche Menschen. Solche Menschen lassen keine Leere zurück – wo man Gott dankt, dass man sie getroffen hat.“ Nein, auch wehmütig sei sie nicht. „Gott sei Dank, das kenne ich nicht. Eine wehmütige Erinnerung denken, kenne ich nicht. Nicht einmal an Menschen kann ich eine wehmütige Erinnerung haben, nur eine dankbare, dass ich sie getroffen habe.“ Das Telefon klingelt. „Die Journalistin, die in Berlin mit Ihnen gesprochen hat.“ Elisabeth Bergner geht in den Flur, die Haushälterin bringt ein Glas Apfelsaft. Ich frage sie nach ihrem Namen. „Ich bin so unwichtig. Ich stehe ihr nur zur Seite, so gut ich kann. Ich bin Berlinerin und kenne sie von meiner Jugend an – ich meine, nicht wir beide. Ich

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kenne sie seit dem Geiger von Florenz – durch ihre Kunst sind wir zusammengekommen.“ Sie bemerkt das übers Sofa gestellte Duse-Porträt und findet, dass es dort gut stehe; betrachtet die Duse und spricht von der Bergner. „Jede ist auf ihre eigene Art unvergleichlich.“ Elisabeth Bergner kommt zurück. Ich berichte, dass der Haushälterin der neue Platz für das Duse-Bildnis gefalle. „Wenn es dir gefällt, dann stell’ es sofort zurück. Nimm es da weg, sofort.“ Die Haushälterin lässt es stehen. „Wir kennen uns so lange, dass ich so mit ihr reden kann“, erklärt Elisabeth Bergner das Spiel und sieht mich vorwurfsvoll lächelnd an: „Jetzt müssen Sie aber wirklich gehen.“ Ich suche meine Sachen zusammen, sie legt ihre rechte Hand auf meine Schulter, „Alles Gute.“ Ich gehe in den Korridor und hole meinen Mantel. Elisabeth Bergner kommt noch einmal an mir vorbei, tippt mir leicht auf die Schulter und verschwindet in einem der hinteren Zimmer, lautlos, ihr Geheimnis bewahrend. „Es gibt doch Dinge, über die man nicht schreiben oder reden soll“, hatte sie im Gespräch gesagt. Ich ziehe die Tür hinter mir zu. Die Luft draußen ist klar und kalt. Am nächsten Tag soll es schneien. Fragen fallen mir ein.

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DIE TOTEN BEGINNEN ZU LAUFEN Kazuo Ohno und andere Butoh-Tänzer in Berlin -

Die Vorstellung ist zu Ende, der Achtzigjährige steht auf der leeren Bühne, verbeugt sich, nimmt einen Strauß Blumen entgegen und macht noch einmal deutlich, dass das Ende nicht das Ende sein muss: Kazuo Ohno tanzt weiter – gleich einem Schmetterling, „der mit verletztem Flügel bereit ist zu fallen, und doch nicht müde wird, wieder und wieder aufzuflattern“. „Etwas Großes ereignete sich ganz still“, „Die Toten beginnen zu laufen“, „Geburt, Leben, Tod, Liebe und Leid, alles war in einem großen Gefühl vereint“ – Sätze aus einem Text von Kazuo Ohno, bezogen auf das Stück The Dead Sea – Wiener Walzer und Gespenster, mit dem er in Berlin den Abschluss und Höhepunkt einer vom Künstlerhaus Bethanien veranstalteten Gastspielreihe japanischer Butoh-Tänzer bildete und einen Eindruck davon gab, was Butoh sein kann: zum Beispiel eine Möglichkeit, vom Tod zu sprechen und das Leben zu feiern. Butoh. Der vielzitierte Mann von der Straße, diesmal aus Tokio, definiert den Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre entwickelten „stampfenden Tanz“ des japanischen Undergrounds so: „1. Alle Bewegungen und Tänze, deren Ursprung unbekannt sind, ist Butoh. 2. Butoh ist, was weder Regeln noch Tabus kennt. 3. Wenn ein Einzelner ‚nein‘ sagt und die anderen ‚ja‘, dann handelt es sich um Butoh.“ Zu entdecken sind diese und andere Definitionen in einem von Michael Haerdter und Sumie Kawai herausgegebenen Buch, das anlässlich der Gastspiele im Berliner Alexander Verlag erschienen ist: Die Rebellion des Körpers – Butoh – Ein Tanz aus Japan – gewidmet Tatsumi Hijikata, dem 1986 gestorbenen Wegbereiter des Butoh. 1985, in seinem letzten öffentlichen Vortrag, sprach Hijikata immer wieder über seine Kindheit. „Die Beobachtung der Kinder und wie sie mit dem eigenen Körper umgehen, hat meinen Butoh stark beeinflusst“, stellte der 57-jährige Tänzer und Choreograf beim ersten Butoh-Festival in Tokio fest und erinnerte nicht zuletzt an den kindlichen Umgang mit Gegenständen, die tot genannt werden. „Ich habe einmal eine Schöpfkelle heimlich mit ins Feld genommen und dort zurückgelassen, weil sie mir in ihrer dunklen Küche leid tat – ich wollte ihr das Land zeigen. Die Glieder und Teile seines Körpers wie eigenständige Gegenstände oder Werkzeuge zu empfinden, und, umgekehrt, die Dinge zu lieben wie seinen eigenen Körper: hier liegt ein großes Geheimnis für den Ursprung des Butoh.“

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Kazuo Ohno, ein Symbol und eine Legende des Butoh. Auf der Bühne der Akademie der Künste: ein alter Mann mit weißgeschminktem Gesicht, der Kind sein kann und Greis, Mann und Frau, Priester und Clown, ein Zauberer, der von Verzweiflung spricht und Freude, Hoffnung und Angst, Sehnsucht und Trauer. Ganz selbstverständlich sind östliche und westliche Kultur miteinander verbunden, Vergangenheit und Gegenwart, Kunst und Leben. Die Übergänge sind fließend: Naturgeräusche gehen in Musik über, geistliche Lieder in Wiener-WalzerKlänge, zu denen Kazuo Ohno in The Dead Sea seinen Walzer tanzt: mit einem leichten Heben der Schulter, einem Lächeln, einer kleinen Handbewegung, einer Drehung des Kopfes oder einfach im Gehen, das einen Kreis entstehen lässt und auf der leeren Bühne eine Welt. „Sein Glaube an das Leben und an den menschlichen Ausdruck ist so stark, dass er nichts braucht als sich selbst mit Augen im Kopf und Händen am Arm und Füßen am Leib, um den flüchtigen Momenten seines Auftritts endgültig Schönheit zu verleihen“, schrieb Werner Schroeter nach seiner ersten Begegnung mit Kazuo Ohno, 1980, beim Theaterfestival in Nancy. Ohno trat dort auch mit dem in Berlin wieder aufgeführten Stück Admiring La Argentina auf, Schroeter drehte seinen Theaterund Liebesfilm Generalprobe, in dem der Japaner eine der zentralen Figuren wurde – begleitet von einer anderen Legende, der Callas. „Sehnsüchtig lauscht er der Stimme von Maria Callas, die dieselbe Gabe hatte, die Zeit anzuhalten, von der Angst zu erlösen.“ Leben und überleben. Einmal, als sein Gesicht vom Schmerz erzählt, wendet Kazuo Ohno es kurz ab – und sieht einen Augenblick später wieder nach vorn, mit einem scheuen Lächeln. Oder: Langsam sinkt er zu Boden, liegt wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken und richtet sich dann doch wieder auf, um weiterzugehen – mit einer Anmut, die bei ihm auch zu erkennen ist als etwas, das sehr viel mit Mut zu tun haben kann. Wie ein Seiltänzer bewegt sich der Achtzigjährige auf dem ebenen Bühnenboden und lässt selbst die Abgänge am Ende der einzelnen Szenen noch als Abenteuer erscheinen: leicht und ohne Sentimentalität verlässt er die Bühne und kehrt bald in einem neuen Kostüm zurück, mit einer Blume im Haar, schwarzer Perücke oder buntem Hütchen, mal im Kleid, mal im Anzug oder auch mit kurzer Hose, umgehängter Tasche und angehefteter Puppe am langen Umhang, in dem er wie ein Wanderer aussieht – zwischen den verschiedenen Welten, den verschiedenen Leben. „Ich habe gelernt, ein- und auszuatmen und bin an einem bestimmten Ort groß geworden, unmöglich, dieses ganz persönliche Erlebnis lehren oder lernen zu wollen“, stellte Tatsumi Hijikata einmal fest.

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Rezepte, Programme, Antworten sind von den Butoh-Tänzern nicht zu erwarten. „Wenn ich tanze, dann handelt es sich nicht darum, Antwort zu geben auf frühere Fragen. Vielmehr will ich die Fragen selbst in Erscheinung treten lassen“, erklärt der vierzigjährige Min Tanaka, der mit seinem Soloprogramm Himmelsform die Gastspielreihe in Berlin eröffnete, und: „Ohne Unterlass in seinem Tanz Fragen zu stellen: das nennt man Improvisation. Ich meine, dass dieser Wunsch in meinem Tanz zum Ausdruck kommt.“ Wie Hijikata will auch er sich nicht auf die Bühne stellen und auf die Leute warten, „um ihnen ein vorbereitetes Stück vorzuführen. Er hat immer in Beziehung zum Ort seines Tanzes gearbeitet, zu einer bestimmten, einmaligen, niemals identischen Gegebenheit. Und dieser Ort, die Leute dort stellten den Stoff dar, dem er im Tanz Ausdruck gab.“ Tanakas Ausgangspunkt in Berlin: das Künstlerhaus Bethanien, das ehemalige Krankenhaus in Kreuzberg. Dem Butoh-Tänzer, der in Flüssen tanzte und auf dem Dach eines Wolkenkratzers in Manhattan, in der Pariser Wohnung von Michel Foucault und unter Wasserfällen, in Wüsten und Gärten, gelang hier einmal mehr die eindrucksvolle Verbindung von eigenem Körper und fremden Raum. Die Studio-Bühne verlässt der in erdfarbene Kleider und die dunkle Perücke einer Frau gehüllte Tänzer schon bald, bewegt sich wie ein apokalyptischer Reiter zwischen dem Publikum, legt seine Kostüme wie Häute ab und zieht die Zuschauer in den Flur, wo er in die verschlossenen Fenster steigt und Gedanken weckt an die Geschichte der Patienten, die hier in Morgenmänteln über die Flure gingen. Und während die Fotografen unermüdlich klicken, tanzt Tanaka weiter, die Treppe hinunter in die Eingangshalle und schließlich nach draußen – dampfend liegt der nackte Körper auf den Steinstufen, schiebt sich langsam nach unten und richtet sich auf: in der hereinbrechenden Dunkelheit läuft Min Tanaka über den Rasen und bleibt an einem hohen Baum stehen, steht ganz still da, atmet ein und aus, nackt, mit dem Rücken zum Baum. Die Hüllen sind abgelegt, ein kurzes Nicken mit dem Kopf: die Vorstellung ist zu Ende. Tanaka geht, sich verbeugend über die Wiese, einer kommt und legt ihm einen Mantel über. „Mit nichts entblößt man sich so wie mit Masken. Nackt, um zu entschlüpfen“, notierte Jean Genet, einer der europäischen Wahlverwandten des Butoh. Butoh-Aufführungen: immer auch Auseinandersetzungen mit Masken, Maskeraden, Außen- und Innenräumen. „Ich glaube“, sagt Kazuo Ohno, „dass der Lebenslauf des Menschen sich mit dem des Universums deckt. Butoh bedeutet für mich, das Kostüm des Universums anzulegen. Eine Kleidung anzulegen für den Körper und gleichzei-

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tig für die Seele: Sie ist das Kostüm des Butoh.‘‘ Als sei es ganz einfach, legt er sich das Kostüm an, steht vor der weißen Leinwand und macht sich mit seinem Körper auf die Reise, tanzt noch einmal zu den alten Walzern und zieht Kreise, in Erstaunen versetzend und selbst oft wie ein Kind erstaunt, wenn er plötzlich ganz weit weg getanzt ist – ein alter Mann, sehr nah dem Ungeborenen in Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum. Eine ältere Frau, die überlebt hat, träumt von einem Baum und will ein Lebenszeichen gegen den Tod setzen, sammelt Geld und lässt eine Kastanie vor das Krankenhaus pflanzen, in dem Aidskranke behandelt werden. Auch an Menschen wie Wanda, die Berliner Kneipenbesitzerin, die wie eine Braut aussieht, als sie, weiß gekleidet mit leuchtend blauem Haar, neben dem in die Erde gepflanzten Baum steht, erinnert Kazuo Ohno, wenn er auf der Bühne steht und von der Beharrlichkeit spricht, wieder und wieder aufzuflattern. „Der Augenblick äußerster Müdigkeit, wenn eine extreme Anstrengung den Körper wieder aufrichtet: Das ist der wahre Ursprung des Butoh. Tod und Wiedergeburt. Das Glück, trotz des hohen Alters in Gang zu bleiben wie ein Oldtimer. Die Toten beginnen zu laufen.“ Vor ein paar Jahren, beim Münchner Theaterfestival, nach einer Probe im Zirkuszelt, sah ich ihn auf einer Wiese vor dem Zelt zum ersten Mal: einen alten Mann, weiß geschminkt, mit blauen Augenlidern und nacktem Oberkörper, umgeben von Kindern, für die er schließlich noch einmal tanzte. In einem Gedicht heißt es: „Doch immer war’s ein Tanzen ohne Ende.“

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„ICH HAB’ NIE GROSSE ROLLEN GESPIELT“ Die Sängerin Irmgard Urbschat-Brux, genannt Irmchen -

In den rot ausgeschlagenen Schaukästen hängen die Bilder der Stars, Gruppenaufnahmen und Farbporträts von Coccinelle und Dolly Doll, Melina M. und Irmchen. Gegenüber brennt eine Wohnung, Feuerwehrwagen versperren die Straße. „Das Berliner Gasthaus-Ensemble präsentiert seine neue Cabaret-Revue Ein Abend hier im Gasthaus. Täglich um 21.00, 23.00 und 1.00.“ 20.30 Uhr: Die Tische sind gedeckt. Charlotte, die alte Pianistin, sitzt in schwarzem Lurexpullover und einer um die Beine geschlagenen karierten Wolldecke am Klavier und spielt wie jeden Abend die alten Lieder – „So stell’ ich mir die Liebe vor“. An der Bar sitzen Frauen in Hemdblusenkleidern und Männer mit frisch geföhnten Haaren; junge Pärchen in Sweatshirts und Jeans sehen stumm vor sich hin. Charlotte spielt: „Die ganze Welt ist himmelblau“. Eine Reisegruppe steigt aus dem Bus und füllt das Lokal. Die Kellner nehmen die Bestellungen entgegen. Vom Band ertönt Orchestermusik für den ersten Ensemble-Auftritt: „Ein Abend hier im Gasthaus fängt mit Champagner an.“ Die Kellner servieren Suppen. Der Conférencier erzählt vom Niedergang der großen Varietés: „Heute gibt’s in Westberlin nur noch Stripteaselokale.“ Während weiter serviert wird, singt er das Lied vom Ladenmädel aus der Leipziger Straße, das immer dastand, „zwischen Seiden und Spitzen versteckt“. Charlotte trinkt Kaffee aus einer Thermoskanne und isst ein mitgebrachtes Butterbrot. Zwischen zwei Gängen wird „die Königin des Chansons“ angekündigt: „Irmchen – mit einem Chanson, das um 1919 entstanden ist: ‚Berlin, Berlin, ich kenne dich nicht wieder‘.“ Ja, sie sei waschechte Berlinerin, erklärt Irmgard Urbschat-Brux, genannt Irmchen, und dass sie jetzt im achtzigsten Jahr sei. „Das können sie ruhig schreiben. 1908 bin ich geboren.“ Über ihre Kindheit spricht sie dagegen nur zögernd. „Ich bin bei den Großeltern aufgewachsen“, bekennt sie in einem Café auf dem Kurfürstendamm. Ihre Mutter sei erst 18 und unverheiratet gewesen, als sie zur Welt kam, habe am Kuchenbuffet gearbeitet und sie ins Waisenhaus geben müssen. Zwei Jahre war sie im Heim, dann holten die Großeltern sie zu sich. „Ganz einfache, biedere Bürger“ seien das gewesen; Magistratsangestellter der Großvater, Hausfrau die Großmutter. Sie selbst wurde nach der Schule Verkäuferin in einem exklusiven Modesalon. „Angefangen hab’ ich bei

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Marbach, danach war ich bei Kuhnen.“ Schwarze Seidenkleider mit weißen Spitzenmanschetten habe man da als Verkäuferin getragen, erinnert sich die 79-Jährige und dass selbst Damen aus Paris hier ihre Kleider gekauft hätten. Einmal muss sie einen Pelzmantel in eines der großen Berliner Filmateliers bringen. Da ist sie 17 und gleicht der Heldin eines zeitgenössischen Trivialromans. In einer Studioecke wartet sie auf den Star Lya de Putti, erlebt den Rausschmiss einer reich geschmückten Kleindarstellerin, die eine Verkäuferin spielen will, und wird von dem wütenden Regisseur entdeckt, der sie in der nächsten Szene gleich einsetzt: als Verkäuferin eines Modesalons. „Unsere Filmschauspielerin“ habe man sie danach immer genannt. Zwei Jahre arbeitet sie noch als Verkäuferin in der Haute Couture, dann geht sie als Telefonistin zu einer Versicherung und wagt nach drei Jahren den Sprung ins Filmgeschäft, das für sie nie das ganz große Geschäft wurde. „Ich hab’ nie große Rollen gespielt“, stellt sie nach gut zwanzig Filmen sachlich fest. „Es war keine große Sprechrolle dabei. Meist hatte ich nichts zu sagen. Aber es waren doch nette Rollen, wo man einen sieht – sieht, was man macht.“ Zu sehen war sie unter anderem als zumeist namenlose Verkäuferin, Putzfrau oder Mädchen vom Rummelplatz. Sie habe Edelkomparserie gemacht, aber auch kleine Rollen gehabt unter Gründgens’ Regie, mit Werner Krauss und Jenny Jugo gespielt, mit Gustav Fröhlich, Gitta Alpar, Lilian Harvey und Willy Fritsch. „Und als ich dann mit den Schauspielern zusammen war, haben die mich zum Singen gebracht.“ Eines Abends ist sie mit Willy Fritsch in „Johnny’s Nightclub“, steigt in Sektlaune auf die Bühne, singt ein Lied und wird, der Trivialroman geht weiter, sofort vom Barbesitzer engagiert. Was sie damals gesungen habe? „‚Zwei Märchenaugen wie die Sterne so …‘ – das kennt jeder.“ Auf einer Fotopostkarte aus dieser Zeit hält sie den Kopf ein wenig schräg, sieht verträumt auf einen fernen Punkt und hat an ihrem Kleid zwei Ärmel wie Flügel. Unter den Zuhörern der jungen Chansonsängerin ist einmal auch ein Herr von der Oper Unter den Linden. „Sie haben ein wunderbares Material“, habe er gesagt und ihr angeboten, sie zu unterrichten. „So habe ich Oper studiert und Operette. Ob das die Mimi war oder die Butterfly oder die Tosca – ich habe es gesungen. Aber ich hab’ nie Oper gespielt.“ Das erste Jahr habe Professor Rembt mit ihr immer nur Tonleiter geübt oder sie mit drei Adressbüchern auf dem Bauch und nach unten hängendem Kopf singen lassen. Lohn der Anstrengung: „Mir sagen heute die Leute noch: wenn ich nicht so einen strengen Lehrer gehabt hätte, könnte ich gar nicht mehr singen.“ Sechs Jahre dauerte der Gesangsunterricht bei dem Professor. „Und auf einmal war es aus. Er

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war Jude. Er wurde abgeholt. Ende der Durchsage.“ Wann das war? „Ziemlich früh. Das muss gewesen sein – 1936.“ Sie selbst geht wenig später in die Schweiz und tritt unter anderem in einem Varietétheater in Basel und in Zürich im „Odeon“ auf. Nach einem Jahr kehrt sie zurück nach Deutschland. „Mir haben sie eigentlich nie etwas getan“, sagt sie über ihr Leben im Dritten Reich. „Und dass wir danach Trümmer wegräumen mussten – das haben wir alle machen müssen, Trümmer wegräumen. Das einzige furchtbare Erlebnis war die Kristallnacht. Da haben sie die Bilder von uns aus den Schaukästen gerissen und auf der Straße zertrampelt.“ Ja, und der Besitzer der „UhuBar“, in der sie nach ihrem Schweiz-Gastspiel auftrat, habe eines Tages verschwinden müssen. „Er war auch Jude und die beiden Töchter aus seiner Ehe mit einer Nichtjüdin haben dann weitergemacht.“ Und während sie erzählt, wird sie einen Moment wehmütig. „Was hatten wir alles für Gäste in der ‚Uhu-Bar‘ – alle leben sie nicht mehr“, stellt sie fest und erinnert sich an Damen und Herren von Adel, an Prinzen und Grafen, Filmstars und Politiker. Manchmal habe auch die Gestapo im Publikum gesessen. „Die wussten genau, was jüdische Komponisten gemacht hatten – das mussten wir dann streichen.“ 1942 werden auch die Auftritte von Irmchen und ihren Kollegen gestrichen. „Es wurde dann alles geschlossen im Laufe des Krieges“, erklärt sie im Café an der Gedächtniskirche, in dem sie mir im schwarzen Nachmittagskleid gegenübersitzt: mit leuchtend rot lackierten Fingernägeln, blauem Lidschatten, weißen Ohrringen, goldenem Armband und violett-blauem Schal. Eine Frau, 79 Jahre alt, alleinstehend, kaum größer als 1,50 Meter, genannt Irmchen. „Irmchen – das haben die Gäste aus mir gemacht, schon vor dem Krieg“, erklärt sie, angesprochen auf den Namen, unter dem sie auftritt. „Ich heiße Irmgard und habe einen Doppelnamen: Urbschat-Brux. Urbschat hieß meine Mutter und Brux ist der Name des Herrn, der mich hergestellt hat und später nach Amerika gegangen ist.“ Seinen Namen habe sie sich zugelegt, weil einmal ein Textdichter einen Reim habe machen wollen, in dem ihr Name vorkommen sollte, und zu Urbschat sei ihm nichts eingefallen. Brux sei da viel einfacher gewesen, meint sie, und bemerkt: „Nur bei den Behörden bin ich Urbschat.“ „Ein Abend hier im Gasthaus“, zweiter Teil. Charlotte spielt: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt.“ Dolly Doll singt: „Was heißt hier Mann, was heißt hier Frau.“ Ein paar männliche Gäste gucken verstohlen auf die Brüste von Coccinelle, die „noch unter General de Gaulle“ gemustert worden sein soll und eine Showkarriere in Paris hinter sich hat. Ein älterer Herr mit weißen Haaren und rot geschminkten Lippen steppt. Die Reisegruppe ist wieder in den Bus gestiegen. Melina M.

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tanzt auf dem Tisch. Das Telefon klingelt. Die Show geht auch nach Mitternacht noch weiter. Irmchen wartet auf ihren Auftritt. „Du bist wieder dran.“ Der Conférencier reicht ihr das Mikrofon. Irmchen steht im glitzernden Kleid auf der Bühne, sucht sich zwischen den leerer gewordenen Tischen ihren Weg und singt: „Ich brauch’ Zigaretten, ich brauch’ rotes Licht, ich brauch’ im Kamin starke Glut“, singt von „Heinrich, dem Achten“ und vom alten Berlin, singt mit ihrer vom Leben gezeichneten Stimme von der Liebe: „Du bist nicht der Erste, du musst schon verzeih’n, aber mein Letzter, der könntest du sein.“ Im Gespräch betont sie: „Ein Chanson muss man verkaufen, das kommt nicht mit einem Mal. Ich spiele sie – das kann man nicht einfach so runtersingen.“ Seit zwei Jahren überlege sie, aufzuhören, aber ihre Chefs würden immer sagen, „Die wird hundert und bis neunzig singt sie bei uns“, erklärt die bald Achtzigjährige, die an drei, manchmal auch vier Abenden in der Woche im Berliner Gasthaus auftritt. Um acht gehe ich aus dem Haus, um halb neun muss ich im Laden sein. Dann schminke ich mich und ziehe mich an und um kurz nach neun beginnt das Programm.“ Morgens um vier, halb fünf fahre sie dann wieder nach Hause, zurück in ihr Ein-Raum-Appartement im 14. Stock eines Hochhauses am Tiergarten, in dem sie seit dreißig Jahren wohnt. Kontakt zu den Mitbewohnern habe sie kaum. Die jüngeren Leute seien weggezogen, seit die Appartements vor acht Jahren in Eigentumswohnungen umgewandelt worden seien, und nur eine ältere Frau im 17. Stock kenne sie etwas näher. „Das ist das einzig Traurige an so einem Hochhaus: Sie sind völlig allein.“ „Wie war die alte Zeit so voll Glückseligkeit“, singt Irmchen auf der Gasthausbühne. Im Gespräch will sie nicht sentimental werden. Dass vom Glanz des alten Berlin nur wenig geblieben, der Kurfürstendamm längst keine Prachtstraße mehr ist und ihr gar nicht mehr gefällt: „Wir können’s nicht ändern“, stellt sie fest und sagt: „Man kann ja heute auch Grün mit Rot tragen und früher hätte man gesagt, das kann man nicht zusammen tragen.“ Alles verändere sich eben. Sie weist auf ihr Gesicht: „Was ist aus mir geworden? Früher hab’ ich auch anders ausgesehen. ‚Lass dich endlich liften‘, sagen viele.“ Doch während um sie herum immer mehr Häuser und Gesichter hinter neuen Fassaden das eigene Gesicht verlieren, hat sie solcher Verjüngung widerstehen können. „Die Leute wissen doch, dass ich alt bin. Wozu noch liften für die paar Jahre? Und wenn, muss es sehr gut gemacht sein.“ Und so schlimm sei das mit den Falten bei ihr ja auch gar nicht. „Das Ulkige ist: auf Bildern ist es nicht zu sehen.“ Nur wenn man sie von oben herab fotografiere, seien die Tränensäcke zu sehen. „Das ist klar, dass dann die Dinger dick werden“, konstatiert sie und holt aus ihrer Tasche ein paar Fotos, auf denen

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keine Spuren zu sehen sind, Bilder aus dem Cabaret und aus ihrer Jugend, aus den zwanziger und dreißiger Jahren. 1942, 34 Jahre alt, geht Irmgard Urbschat-Brux als Chansonette an die Front. „Es wurde uns anheimgestellt: entweder Rüstungsindustrie oder Fronttheater. Ich hab’ mich gleich für die Front gemeldet, weil: Ich hab’ mir gesagt, ob mir die Bomben in Frankreich oder Berlin auf den Kopf fallen, ist gleich.“ Ihr erster Einsatz: „Elf Monate Russland. Krim. Kaukasus. Immer der 6. Armee hinterher – immer hinter der HKL, der Hauptkampflinie.“ Angst habe sie damals nicht gehabt. „Komisch, wenn man drin ist, hat man gar keine Angst“, bemerkt sie und erzählt, dass sie während des Beschusses einmal mit ganz hohen Absätzen durch den Schützengraben zum Bunker gelaufen sei. Was sie in Russland gesungen habe? „‚Die lustigen Weiber von Windsor‘, ‚Eines Tages sehen wir ein Streifchen Rauch im Osten‘ aus der ‚Butterfly‘ und ‚Auf der Wolga fährt die Olga‘ – das hab’ ich mit einer Kollegin gesungen. Wir haben uns immer sehr hübsch angezogen und auch richtige Stücke gespielt, Parodien.“ Stimme hätten sie nach einigen Monaten Fronteinsatz allerdings nicht mehr gehabt und in Briefen auch keinen Namen. „Wir hatten nur eine Feldpostnummer. Namen durften wir ja nicht schreiben.“ Ob sie ihre Nummer noch wisse? „Nein“, sagt sie und ich denke an die Bewohnerin eines jüdischen Altenheims, die mir einmal im gemusterten Hemdblusenkleid gegenübersaß und auf Tschechisch ein paar Zahlen nannte, die sie nicht vergessen konnte: ihre Nummer aus Theresienstadt. Elf Monate lang singen Irmchen und ihre Kolleginnen für deutsche Soldaten in Russland, dann bekommen sie einen Monat Heimaturlaub, studieren ein neues Programm ein und erhalten neue „hübsche Kostüme“. „Dann zum Balkan und wieder zurück und weiter nach Frankreich, in die Normandie. Das schlimmste Erlebnis war nachher die Invasion am 6. Juni. Wir hatten gerade auf einem Château gesungen und dann sind die gelandet. Dann fingen auch die Flugzeuge an. Der Himmel war blutrot. Dann kam einer auf unser Zimmer und sagte: ‚Raus.‘“ Sie seien dann nach Paris gebracht worden und hätten erst später erfahren, dass sie über Minenfelder gefahren seien. „Die Nacht war wirklich am schlimmsten. Unterwegs, da lagen Stahlhelme, nur mit dem Kopf dran.“ Anschließend habe sie noch eine Lazaretttournee durch Mecklenburg und Pommern gemacht, sehr viel Elend gesehen und für die Verletzten gesungen. „‚Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen‘ – das war für die Soldaten ganz groß.“ Als sie nach Berlin zurückkehrt und keine Truppen mehr zu betreuen sind, habe sie noch „bei Brillen Söhnges gearbeitet und Brillen ausgeteilt“. Doch gleich nach Kriegsende kann sie wieder mit den alten Liedern auftreten. „In Berlin war der Krieg am 4. oder 6. Mai zu Ende und am 10. Mai hab’ ich schon wieder

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in der Joachimsthaler Straße gesungen.“ Ihre Auftritte vor Soldaten der Besatzungsmächte hätten immer nachmittags stattgefunden. „Abends durfte ja keiner auf die Straße. Bei Einbruch der Dunkelheit mussten sie ja wieder zu Hause sein.“ Auf ihrem Weg in die „Greifi-Bar“ habe sie auch immer am Zoo-Bunker vorbeigehen müssen. „Es fuhr noch keine Straßenbahn, es fuhr noch keine S-Bahn – überall lagen noch Leichen.“ 1946 singt Irmchen wieder in der neu eröffneten „Uhu-Bar“. „Sie war in den letzten Tagen des Krieges ausgebombt. Sonst hätten wir sofort wieder anfangen können. Elf Jahre hab’ ich da gesungen.“ Danach tritt sie acht Jahre im „Don Juan“ auf, singt in der Bar eines großen Hotels, macht dann „Altenbetreuung vom Senat aus“ und steigt schließlich aus. „Zwei Jahre hab’ ich gar nichts gemacht – außer bei Bekannten, im privaten Kreis.“ Bei einer dieser Feiern wird sie 1978 von zwei Herren gehört, die ein Gasthaus mit Cabaretprogramm eröffnen wollen. „August ’79 haben wir aufgemacht. Ich bin seit dem ersten Tag da, zusammen mit Dolly Doll und Charlotte.“ Später sei noch Christina dazu gekommen, die eigentlich Jacob heißt und als Christina eine rote Perücke trägt und Zarah-Leander-Lieder singt. Auftritte mit Grenzgängern wie Christina irritieren die 79-Jährige nicht. Schon als junges Mädchen habe sie mit Schwulen zusammengearbeitet und ihre erste Chefin sei lesbisch gewesen – „obwohl sie verheiratet war und zwei Kinder hatte. Für mich hat das gar nichts zu sagen. Das interessiert mich alles gar nicht. Bei mir soll jeder nach seiner Fasson selig werden“, erklärt sie, und: „Mich haben sie schon die Mutter der 175er genannt – die mögen mich auch alle.“ „Ein Abend …“, zwei Stunden nach Mitternacht. Charlotte sitzt wieder mit Wolldecke am Klavier und spielt die Schicksalsmelodie aus Doktor Schiwago. Nur noch ein Ecktisch und ein paar Barhocker sind besetzt. Neue Gäste scheinen nicht zu kommen. „Weißt du wohin?“ Der Junge an der Bar wischt die Theke. Der dritte Teil der Show fällt aus. Irmchen kommt aus der Garderobe und trägt noch eines ihrer glitzernden Kostüme. Dass die dritte Show nicht mehr stattfindet, ist ihr an diesem Abend recht. Sie fühle sich nicht besonders, sei erkältet und deshalb froh, etwas früher ins Bett zu kommen. Die Kellner beginnen mit der Abrechnung. Melina M. ist wieder Mann in grauem Jackett und sitzt mit seinem kleinen Hund an der Bar. Dolly Doll bleibt im Kleid und geht in roter Jacke aus dem Gasthaus. Coccinelle trägt Pelz und wird abgeholt. Die Kellner trocknen Gläser ab. Charlotte spielt: „Strangers in the night“. Der Brand im Haus gegenüber ist gelöscht, die Straße leer. „‚Ich bin eine Frau, die weiß, was sie will‘ – das wäre auch ein schöner Titel für den Artikel“, überlegt Irmchen. An einer Stelle der Operettenmelodie singt sie: „Ich sag’ Ihnen alles, was ich von mir weiß.“

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EINFACHE GESCHICHTEN Text für Heiner Müller -

Eine Frau steht ganz hinten im Raum, mit dem Rücken zur Wand, und wartet, dass sie allein ist. Als der Letzte die Tür hinter sich geschlossen hat, schreit sie ihre Geschichte nach vorn, in den dunklen Zuschauerraum. „In Italien hatte ich einen Hahn. Der ging immer in andere Gärten, und meine Mutter musste ihn töten. Am Abend, als sie ihn gekocht hatte, sagte sie, dass es mein Hahn war, und wenn ich nicht wollte, müsste ich ihn nicht essen. Aber ich wollte alles essen. Ich wollte ihn ganz für mich alleine.“ Die Frau läuft in der Diagonale zur Tür, reißt sie auf und zieht einen Mann in den leeren Raum. Sie stellt sich vor ihn und schreit ihm ihre Geschichte entgegen: „In Italien hatte ich einen Hahn. Der ging immer in andere Gärten, und meine Mutter musste ihn töten. Am Abend, als sie ihn gekocht hatte, sagte sie, dass es mein Hahn war, und wenn ich nicht wollte, müsste ich ihn nicht essen. Aber ich wollte alles essen. Ich wollte ihn ganz für mich alleine.“ Die von Heiner Müller in seinem Text Für Pina Bausch zitierte Geschichte: ein Moment aus ihrem Stück Bandoneon, eine Kindheitserinnerung von Beatrice Libonati. In einer der Vorstellungen treffe ich B. K. Tragelehn und Libgart Schwarz. In Bochum proben sie gerade Quartett. Als Merteuil sagt Libgart Schwarz sehr früh, noch vor Beginn des Kampfs, noch vor dem ersten Auftritt des Gegenspielers, einen ganz einfachen Satz: „Ich bin ganz kalt“, und lehnt sich an den Heizkörper, als wollte sie ihn streicheln. Ein einfacher Satz, eine einfache Geschichte und einer dieser Momente, wo plötzlich einer sichtbar wird wie auf dem Seziertisch. Die Täuschungsmanöver, die Fluchtversuche, die Versteckspiele, die Worte helfen nicht mehr. Die eine Feststellung hat sich festgesetzt: „Ich bin ganz kalt“ – oder: der Wunsch, etwas zu fühlen, etwas zu spüren von sich. „Ich breche mein versiegeltes Fleisch auf.“ Flüchtige Begegnungen. Bei einer Theaterpremiere. In einem Restaurant in Kreuzberg. Bei einem „Theater der Welt“-Fest in Köln, zu dem auch Heiner Müller gekommen war. „Und da weiß man nicht, was man sagen soll …“ Das Festzelt galt als nostalgische Rarität aus Belgien und Treffpunkt, war überfüllt und erlaubte Distanz. Im Festivalprogramm gab es einen Puppenspieler aus New York, der nie vor mehr als 18 Zuschauern spielen wollte. Das Werktheater Amsterdam erzählte in Waldeslust von der Begegnung sonnenhungriger Urlauber mit einer

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Gruppe Behinderter. Im Programmheft war ein deutscher Richterspruch aus dem Jahre 1980 zu lesen: „Dass es Leid auf der Welt gibt, ist nicht zu ändern; aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will.“ Ein Passauer Reiseunternehmer empfiehlt „Südafrika-Reisen: Jetzt ist unser Geld in Südafrika viel mehr wert. Von den Rassenunruhen merken Urlauber nichts. Buchen Sie jetzt und nutzen Sie unsere Werbefahrten zum Sonderpreis.“ Eines der Stücke von Heiner Müller hat den Titel Die Schlacht. In Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar schreibt er: „Der Dichter singt sein Lied behält Humor / Humor des Fleischers oder der Verzweiflung … / In der Epoche des Tourismus Mord / Ist Gnade Sehen heißt die Bilder töten.“ Bildbeschreibung. In zweitausend Metern Höhe, über den Wolken, in einem Dorf in den Schweizer Alpen, treffe ich David Bennent 1981 zum ersten Mal. AUF DEN ERSTEN BLICK wirkt der 14-Jährige sehr viel kleiner, als ich gedacht hatte. Unsicherheiten. Begegnungsfloskeln. Auf den Bergen liegt Schnee. Von Zeit zu Zeit EIN BLICK VON DER SEITE. SEINE AUGEN sind weit geöffnet, nehmen auf, verwandeln. DER AKT DES SEHENS. Dann, wie so oft: AUS DEN AUGEN VERLOREN. Sechs Jahre später: EIN WIEDERSEHEN in Paris. David Bennent, sehr viel größer geworden, als ich gedacht hatte, sitzt auf der Bühne des Odéon und spricht Heiner Müllers Bildbeschreibung. „sichtbar zwischen Blick und Blick“. Ich freue mich, ihn zu SEHEN. Alles scheint einfach und möglich. „die Wunde blutet nicht mehr, die Wiederholung trifft ins Leere, wo die Furcht keinen Platz hat“. Über die Kunst von David Bennent und Libgart Schwarz würde ich gern schreiben können, über die Verwandlung, die Liebe. Berlin. Theatertreffen. Hallesches Ufer. Robert Wilsons Inszenierung der Hamletmaschine. „Enormous room. Ophelia. Ihr Herz ist eine Uhr.“ „Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Kind ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten.“ Einige Tage später lese ich im Lokalteil einer Düsseldorfer Tageszeitung eine kurze Meldung auf Seite 2: „Aus Liebeskummer hat sich gestern Vormittag ein 29-jähriger Mann in seiner Wohnung am Schwarzen Weg mit einem Messer das Geschlechtsteil abgeschnitten. Die Polizei, von Hausbewohnern alarmiert, fand den Verletzten stark blutend vor, der anschließend zur Behandlung in die Universitätsklinik gebracht wurde. Anschließend suchten mehrere Polizeibeamte innerhalb der Wohnung und in der näheren Umgebung nach dem abgetrennten Körperglied. Die Suche verlief jedoch ergebnislos.“

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Dialog. Zwei Taschenbuchausgaben mit Stücken von Heiner Müller. Ein Freund bringt sie mir aus der DDR mit. Ich lese sie in Düsseldorf. Scham angesichts der Fassaden. „Glasaugenblicke leuchten aus dem Dunkel“. Auf Kleidern blühen Blumen. „Blut ist im Schuh“. Im Ohr einer Blonden baumelt einsam ein einzelner Ohrring. „Doktor Schiwago weint / um seine Wölfe“. Im Straßencafé sitzen die Jungen, die werden wollen wie die Alten. „FREMD IM EIGENEN KÖRPER“. Einer mit glänzendem schwarzen Haar erklärt, dass er am liebsten jede Woche zum Friseur gehen würde. Er habe es so gern, wenn jemand seinen Kopf berühre, ihm in die Haare fasse. „Nehmen Sie ihre Hand nicht weg. Nicht dass ich für Sie etwas empfände. Es ist meine Haut die sich erinnert.“ Unter der Erde, in einem der neuen U-Bahnhöfe aus poliertem Stahl, Marmor und Plastik, lese ich Heiner Müllers Texte wie in Notwehr. „ALLES GESEHN“. Eine unsichtbare Stimme warnt über Lautsprecher spielende Kinder. Es sei verboten, im Bahnhof zu spielen. „Reiben wir unsre Felle aneinander.“ Auch im Sommer ist es kalt unter der Erde. „Als Kinder haben wir Versteck gespielt.“ Eine Italienerin sagt: „Es ist so schön, wenn die Sonne manchmal rauskommt in Deutschland.“ Die großen Buchstaben für die einfachen Worte. DIE SONNE. IN EWIGKEIT. HIMMEL. SONNE.

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„WENN KEINER SINGT, IST ES STILL“ Hannelore Kraus und ihr Kampf gegen das höchste Gebäude Europas -

Das ZDF präsentierte sie letzte Woche in der Unterhaltungssendung Na siehste als „die Frau, die drei Millionen Mark für eine Unterschrift bekommen könnte“. Dass sie diese Unterschrift nicht leisten will, „das bringt die Leute bis zur Raserei“, beobachtete Hannelore Kraus. „‚Warum nimmt die das Geld nicht?‘ fragen selbst Leute, die eigentlich eine bestimmte Vorstellungskraft haben. Die begreifen den Punkt nicht. Wir sind so auf die persönliche Interessenlage abgefahren, aufs Materielle, dass wir uns eine andere Haltung gar nicht mehr vorstellen können. Da sind wir zu eng, sehr zu eng. Wir müssen umdenken. Wir sind an einer absoluten Wende. Da ich zufällig in der Situation bin, dass ich nein sagen kann, muss ich das tun.“ Nein sagt Hannelore Kraus zu einem „Leitbild für die neue europäische Hochhausgeneration“, dem 268 Meter hohen Campanile, der „als neues, herausragendes Wahrzeichen der Stadt“ und höchstes Hochhaus Europas an der Südseite des Frankfurter Hauptbahnhofs entstehen soll. „Losgelöst von den herkömmlichen Normen des Hochhausbaues, beispielhaft für eine Bautechnologie des 20. Jahrhunderts, im Inneren und Äußeren internationale Maßstäbe setzend, eröffnet der Campanile neue Dimensionen in Architektur, Gebäudetechnologie und Nutzungskonzeption von Hochbauten“, schwärmten die Bauherren auf glänzendem Kunstdruckpapier. Anders als ihre Nachbarn ließ sich Hannelore Kraus von den Visionen der Herren nicht beeindrucken. Daran konnten auch die immer höheren Summen nichts ändern, die ihr für die nachbarrechtliche Zustimmung zum Prestigeobjekt geboten wurden. Und ohne die Unterschrift der 49-jährigen Hausbesitzerin ist ein Baubeginn vorerst nicht möglich, denn: Ihr Haus würde im Schatten des Campanile stehen. Doch geht es Hannelore Kraus nicht allein um das Stück Himmel, das ihr der Wolkenkratzer verstellen würde. Mit dem Campanile und seinen bis ins 66. Stockwerk reichenden Skyline-Büros, diversen Restaurants, Läden, Health Club und Luxushotel sieht sie unter anderem ungelöste Verkehrs- und Umweltbelastungen auf das alte Stadtviertel zukommen und seine soziale Struktur gefährdet. 75 Prozent der Gutleutbewohner seien Ausländer. Das Argument, „das Ganze werde nur

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gebaut, um unser Viertel aufzuwerten“, findet sie zynisch: „Das hat mit unserem Viertel nichts zu tun.“ „Nur keinen Streit vermeiden“, habe ihr Bruder früher immer gesagt. Die Kompromisslosigkeit, mit der sie jetzt gegen „dieses Potenzsymbol“ Hochhaus kämpft, sei für viele irritierend. „Nun war ich immer sehr selbstständig, unabhängig“, stellt Hannelore Kraus fest. „Ich kann mich verhalten wie ich will – ich bin von keinem abhängig. Das ist sicher nicht häufig, dass Leute in dieser Lage sind, aber ich bin es.“ Entsprechend unkonventionell verlief das Leben der Tochter aus gutbürgerlichem Hause. 1939 im Gutleutviertel geboren, arbeitete sie nach dem Abitur zunächst einige Jahre als Buchhalterin und studierte dann Soziologie. Nebenher hat sie noch im Hauptbahnhof gearbeitet. „Gegenüber Gleis 16 habe ich fünf Jahre lang Zeitungen verkauft. Das war eine irre Erfahrung – Trinkgeld von Bettlern und solche Sachen“, erinnert sie sich lächelnd und unterbricht sich: „Das ist eine andere Geschichte.“ Neben dem Soziologiestudium, das sie bei Theodor W. Adorno mit Diplom abschloss, besuchte sie noch die Akademie für Welthandel und bereiste fast alle Ostblockstaaten. Promoviert habe sie dann in Heidelberg in politischen Wissenschaften. Thema: „Die Vorstellungen des amerikanischen Kongresses über die Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg“. Mit einem Stipendium geht sie nach Washington und New York und beschließt, im Ausland zu bleiben und zu arbeiten. Hannelore Kraus bewirbt sich bei verschiedenen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen und wird sofort genommen für Afrika. „Dann war ich fünf Jahre in Nigeria und an der Elfenbeinküste – in der berühmten technischen Entwicklungshilfe.“ Ende der siebziger Jahre, bedingt durch die Krankheit ihrer Eltern, kehrte sie zurück nach Deutschland. „Meine Eltern sind dann gestorben, und ich hatte das Haus und das Hinterhaus in der Gutleutstraße.“ Vor sechs Jahren eröffnete sie dort eine kleine Pension. Als ich sie Anfang des Jahres zum ersten Mal traf, war sie mir als Pensionswirtin mit Grundsätzen aufgefallen. Auf Gäste, die nicht ohne Fernsehgerät auskommen könnten, verzichte sie gern, hatte sie beim Frühstück erklärt und die an japanische Einfachheit erinnernde Einrichtung der Zimmer unter anderem mit dem Hinweis begründet, dass Frankfurt so viele verschiedene Eindrücke zu bieten habe, dass sie nicht auch noch die Zimmer mit Tapetenmustern und bunten Bildern füllen müsse. Sie überlasse es lieber den Gästen, sich eine eigene Atmosphäre zu schaffen. Das Faszinierende an der Pension seien für sie die Leute. „82 verschiedene Nationen hab’ ich da schon gehabt. Ich habe immer eine

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ziemliche Mischung, auch altersmäßig.“ So wohnten nepalesische Pfadfinder und sowjetische Akademiemitglieder ebenso bei ihr wie Schauspieler, Sänger und amerikanische Touristen. „Ich brauch’ die Abwechslung“, sagt Hannelore Kraus und hat sie auch bei ihren Mietern. Ihre Pension liegt über einer Beratungsstelle für ausländische Flüchtlinge und einem Kulturzentrum für Vietnamesen, im Vorderhaus hat sie unter anderem an eine Galerie und eine Anwaltskanzlei vermietet, und in ihrem unter Denkmalschutz stehenden dritten Haus finden neben alten Bewohnern und Ausländern auch noch ein Fischhändler und das Stadtteilbüro „Gutleut“ Platz, die Prostituiertenselbsthilfe „Huren wehren sich gemeinsam“ und eine ökumenische Anlaufstelle für Asiatinnen, die mit Deutschen verheiratet sind – „darunter Frauen, die per Katalog ausgesucht und nach Deutschland geschickt wurden“. Dass sie in zentraler Lage nicht gewinnbringender vermiete, sei für manche ihrer Bekannten unverständlich. „Die meinen: ‚Warum gibst du das nicht McDonald’s und ziehst woanders hin?‘“ Aber sie besteht auf Vielfalt, „weil die das Leben trifft“. Am Abend vor ihrem Na siehsteAuftritt, als sie mich ein Stück durchs Viertel führt und vorbeikommt am Geschäft eines 87-jährigen Friseurs, meint sie: „Eine tolle Ecke – die lassen wir uns nicht einfach kaputtmachen.“ Am allgemeinen Ausverkauf will sie sich nicht beteiligen. Dass sie deshalb auch schon mal als „schrullige Alte“ diffamiert wird, beeindruckt die 49-Jährige nicht. „Ich bin bei einigen nicht sehr beliebt. Aber das ist kein Punkt. Das sollte einen nicht weiter kratzen“, bemerkt sie und stellt fest: „Ich bin nicht an der Verhinderung des Fortschritts von Frankfurt interessiert. Ich bin begeisterte Frankfurterin. Ich will einfach eine neue Planung, bei der die Interessen der Bürger, der Umwelt berücksichtigt werden. Was mich aufregt: die grundsätzliche Korruptheit, die als Kavalierssache behandelt wird. Das ist ein Kardinalproblem, an dem wir kranken.“ Ihr Zorn richte sich auch nicht gegen die Investoren und Spekulanten. „Die machen ihren Job. Wo ich was gegen habe: die Politiker, die ihren Job nicht machen. Die sind anzugreifen. Was die in Bonn machen, das entzieht sich mir, aber hier an der Basis kann ich schon was sagen – und das muss ich auch. Wir haben die Demokratie und müssen jeden Tag dafür kämpfen.“ Sie tut es vehement. „Wenn ich einmal zornig werde …“, erklärt sie und hebt die Faust. In Rainer Werner Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod sagt Roma B.: „Wenn keiner singt, ist es still.“ Obwohl sie durch ihren Kampf gegen den Campanile Schlagzeilen machte, zahlreiche Interviews gab und mehrere Fernsehauftritte absolvierte, bei denen sie zum ersten Mal Puder auf ihre Wangen tupfen ließ,

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will sich die prominent gewordene Hochhausgegnerin nicht vereinnahmen lassen. „Ich bin in keiner Partei. Ich habe keine Anhänger.“ Früher habe man sie oft für eine katholische Lehrerin gehalten – „aber weder noch“. Um was es ihr geht: „Bestimmte Dinge, die ich für wichtig halte, die möchte ich weiterreichen. Ich hab’ weder Gelüste nach Macht noch den Wunsch, dass jemand auf mich achtet. Wenn aber eine Sache zu verteidigen ist und ich weiß, dass ich sie verteidigen kann, dann muss ich das auch tun. Dann muss ich da schon Stellung nehmen.“ Dass ihre Gegner versuchen, sie als „einsame Irre“, „profilsüchtig“ oder „Einzelgängerin“ hinzustellen, nimmt sie gelassen. „Ich hab’ den absoluten Rückhalt meiner Familie. Meine Geschwister stehen voll hinter mir und würden das genauso machen wie ich.“ Dass die auch in Bürgerinitiativen aktive Hausbesitzerin nicht unbedingt zur Kameraderie neigt, ist eine andere Sache. Eine bestimmte Distanz ist ihr wichtig. Mögen sich im Frankfurter Initiativenplenum alle anderen duzen: „Ich bin per Sie. Ich bin Frau Kraus, und damit hat es sich. Ich kann mit Leuten völlig solidarisch sein, ohne dass ich mich mit ihnen duze.“ Auch wenn sie von sich sagt: „Ich bin kein charismatischer Typ, dem die Leute nachlaufen“ – die bewundernden Telefonanrufe und Briefe nehmen zu. „Ich wünsche Ihnen Kraft und Glück“, schreibt eine Frau aus dem Ruhrgebiet, eine andere lobt „Ihr beispielhaftes Verhalten“. Verschiedene Initiativgruppen erklären sich solidarisch. „Frau Kraus hat die volle Unterstützung der Bewohner der umliegenden Stadtteile, die wie Frau Kraus Frankfurt als Wohnort erhalten wollen“, versicherte letzte Woche die Vorsitzende der Initiativgruppe „Westend“ in einem Leserbrief. Dass vor allem Frauen sie unterstützen und ihr Mut machen, wundert Hannelore Kraus nicht. „Frauen sind couragierter als Männer – das ist ja bekannt.“ „Wie es ausgeht, weiß man nicht“, meint Hannelore Kraus zum Kampf um den Campanile, dessen Baubeginn sie schon seit März verhindert hat. „Wenn man eine Sache ungebrochen verfolgt, hat man gewisse Chancen“, glaubt sie und lässt keinen Zweifel daran, dass der Kampf sich für sie schon gelohnt hat – auch ohne die ihr angebotenen Millionen. „Dass man mal Nein gesagt hat – das reicht schon als Grund, gelebt zu haben.“ In ihrem Sommerstück schreibt Christa Wolf: „Ein irres Gefühl, sagte Peter, wenn du wirklich kapierst, dir kann keiner was. Du bist, wenn du bloß willst, dein eigener Herr. Nur deine Gier ist es, die dich ankettet.“

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ANDREAS NIMMT ABSCHIED VOM LEBEN Der aidskranke Andreas M. -

Dezember 1985. Ein Abschied. Andreas sagt: „Ich denk’ einfach: Ich schaff’s. Fertig.“ Wenig später, nach einem gerade überstandenen neuen Krankheitsschub, fliegt der 22-Jährige nach Amerika, zu einem Freund nach New York. „New York war kalt.“ Er erfüllt sich einen Traum. Mit einem Leihwagen fährt der Aidskranke, dem die Ärzte nur noch wenige Wochen Leben gaben, quer durch die USA. Ziel: Kalifornien, San Francisco. Die Rechnung der Mietwagenfirma ist das letzte Lebenszeichen von Andreas, das in Deutschland ankommt. Herbst 1990. Ein Anruf. Ob ich mich noch an ihn erinnere? Andreas. Er sei zurück aus Amerika. Während er vom Leben in San Francisco und Los Angeles erzählt, vom Überleben spricht und vom Sterben, mache ich mir Notizen. „Ich war gelähmt. Ich konnte nicht mehr sprechen. War eine Woche im Koma. ‚Der hat noch ein, zwei Wochen‘, hat man gemeint.“ Gelebt habe er unter anderem in einem der Hospize für Aidskranke. Die Mitbewohner im 2-Bett-Zimmer wechselten häufig. „Wenn einer verstorben war, kam der Nächste – und immer der Gedanke: Das könnte ich sein.“ Dass er gegen alle Prognosen überlebte – auch darüber würde er gern mit mir sprechen und sagen: „Hey, ihr andern, es ist möglich.“ Zurückgekommen nach Deutschland sei er aus Heimweh. „Ich hab’ halt immer noch Sehnsucht nach meinen Eltern.“ Doch die würden ihn, den schwulen Sohn, noch immer nicht sehen wollen – wie vor fünf Jahren, als ich das erste Mal über ihn schrieb und er gesagt hatte: „Seit ich krank bin, hab’ ich Heimweh, dahin zurückzukommen, wo ich herkomme.“ Ludwigsburg, 500 Kilometer entfernt vom Wohnort der Eltern. Ein trüber Novembertag. Draußen friert man. Das Zimmer ist warm. Andreas trägt nur T-Shirt und Schlafanzughose. Mit dickem Schal und Winterjacke begrüße ich ihn. Meine Hände sind kalt. Er habe Tee gekocht, sagt Andreas und legt sich auf sein Bett. In Reichweite hängt ein Notrufgerät. Eine Kerze brennt. Eine dunkelrote Rose ist fast verblüht. Neben Andreas liegt ein Teddybär. Er nennt ihn Jasper. Manchmal mache er Rollenspiele mit ihm, berichtet er später. Dann schreie er ihn auch mal an: „Warum nimmst du mir gerade den Atem?“ Beschimpfe ihn, „dass es mir so schlecht geht.“ Während des Gesprächs nimmt er das Plüschtier oft einfach in den Arm. „Ich brauch’ ihn zum

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Knuddeln.“ Auch abends, wenn er nicht einschlafen könne, nehme er ihn und versuche, sich in den Schlaf zu singen. Mit dem Teddy im Arm singe er dann einfache Kinderlieder. „Schlaf, Kindchen, schlaf …“ Als er krank und arbeitslos wurde, war er 21. Jetzt ist er 27. „Unanständig alt“, bemerkt er lächelnd. Oft fühle er sich wie ein Rentner, der zurückblicke auf sein Leben. „Ich hab’ so viele Leute kennengelernt – und jeder ist anders gestorben. Manche haben noch zwei, drei Tage hintereinander gekämpft, und andere sind einfach eingeschlafen. Das waren fast alles junge Leute, zwischen 19 und 40 die meisten – nur ein oder zwei, die älter waren. Es waren so viele, die gestorben sind. So viele. Ich hab’ bestimmt dreißig Leute sterben sehen in den vier Jahren.“ Von einem erzählt er am nächsten Tag: Michael. Der sei erst 22 gewesen und unübersehbar gezeichnet vom Kaposi-Sarkom. Sein ganzer Körper sei blau gewesen vom Hautkrebs und sein Gesicht ganz geschwollen. „Der ging trotzdem einkaufen und zeigte sich. Der hat sich nicht versteckt.“ Andreas versucht, seine Tränen zurückzuhalten. „Das war ein ganz lieber Junge. Den hat man einfach umarmen müssen.“ Nach einer Pause sagt er: „Ich hätte so gern noch ein paar Jahre. Ich hätte so gern das Jahr 2000 noch erlebt.“ 1986, in seinem ersten Jahr in Amerika, habe er noch „richtig gelebt. Es war keine große Flamme, aber ich hab’ gelebt.“ Im Rahmen einer Langzeitstudie über die Auswirkungen von Azidothymitin (AZT) wurde auch an ihm das Präparat getestet, das vielen Aidskranken ein Stück Hoffnung brachte. Er, der in Deutschland nur noch an Krücken hatte gehen können, fühlte sich wieder fit, engagierte sich in Selbsthilfegruppen und machte Öffentlichkeitsarbeit, betreute andere Aidskranke. „Ich hab’ sogar halbtags gearbeitet. Aber so ab ’87 ging es nur noch bergab.“ Epileptische Anfälle traten auf, Lähmungen. „Ich war dann ein halbes Jahr ans Bett gefesselt, konnte mich nicht bewegen und auch nicht sprechen.“ Doch mit einer Körper- und Sprechtherapie gingen die Lähmungserscheinungen zurück. Gemerkt habe er damals auch das: „Ich kann angeschlagen sein, aber ich kann mich auch wieder aufrichten.“ Ein Psychotherapeut habe ihm einmal gesagt: „Die Krankheit macht nur ein Drittel aus. Ein Drittel bin ich selbst und ein Drittel die Umwelt.“ Als er das gehört habe, habe er sich zuerst gewehrt. „Ich glaube, das muss man erst erfahren.“ Licht hinter der Dunkelheit zeigt das Signet von Shanti, einer der größten Organisationen für Aidskranke in Kalifornien. „Drüben war alles ehrenamtlich und toll organisiert. Ohne die Leute wär’ ich tot.“ Selbsthilfegruppen wie Being alive oder Shanti hätten die verschiedensten Hilfen angeboten und dazu noch jede Woche Veranstaltungen orga-

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nisiert. Gemeinsam sei man ins Theater oder Konzert gegangen. Und bei Schwulendemonstrationen hätten sie ihn ganz vorne im Rollstuhl gefahren. „Was auch ganz toll war: Die Workshops von Elisabeth KüblerRoss und Louise Hay. Die war Psychotherapeutin und hat nur noch mit Krebskranken und Aidskranken gearbeitet. Da gab es Veranstaltungen mit sechshundert Leuten. Wir haben auf dem Boden von einer Turnhalle gelegen und uns umarmt.“ Und eine Geburtstagsfeier mit Flitter und Flatter hätten sie drüben für ihn gemacht. „Das vergess’ ich auch nie.“ In einem Gedicht schrieb er damals: „I try to catch the rainbow.“ „Hab’ viel gelernt“, stellt der ehemalige Großhandelskaufmann fest. „Es ist kein Lernen wie in der Schule, sondern wie ein Baby, das keine Arme und Beine hat, und aus der Notwendigkeit heraus, dass ich keine Perspektive hab’ wie meine Geschwister. Es ist eine ganz eigenartige Form von Lernen, aber auch eine tolle. Und ich bin froh, dass ich noch so wach bin. Ich kann noch mein Augenlicht und mein Gehirn benutzen.“ Dass er auf einem Auge nur noch verschwommen sieht, sagt er erst später, in einem Nebensatz. Und die Schmerzen: „sind schon bald Gewöhnung. Was hart ist: Dass ich meine Hände nicht mehr gebrauchen kann, nicht mehr schreiben kann.“ Briefe muss er diktieren. Und Gedichte, in denen er früher seine Ängste, seine Einsamkeit und Sehnsucht ausdrücken konnte, hat er schon lange nicht mehr geschrieben. Mit einem Diktiergerät, das ich ihm mitbringe, unternimmt er einen neuen Versuch. Auf dem eingelegten ersten Band sagt er: „Halt mich fest, ich falle.“ Andreas legt eine Hand auf seine Brust. Sie schmerzt. Ein Mundpilz hat sich bis auf die Bronchien ausgedehnt. Das Schlucken tut weh. Essen könne er kaum noch. Ein neues Medikament, das er ein paar Tage später bekommt, wird das Schlucken wieder erleichtern. Doch es hat Nebenwirkungen. Starke Kreislaufbeschwerden treten auf, die Beine schmerzen. Andreas kennt solche Wechselwirkungen. Von den Medikamenten gegen die epileptischen Anfälle seien ihm die Zähne ausgefallen. Seine Ärztin in Ludwigsburg verschreibe auch nur noch, was notwendig sei. „Vor ein paar Monaten hab’ ich noch doppelt so viel Tabletten nehmen müssen wie jetzt.“ Und wirksamer als eine Kopfschmerztablette sei die Nähe eines Menschen. Das gelte bis zum Schluss. „Zum Sterben brauch’ ich keine Medizin, sondern liebe Leute um mich.“ An anderer Stelle sagt er: „Es gibt Medikamente für alles, aber damit betäube ich ja nur, was ist. Ich hab’ doch ein Recht, wach zu sein. Man kann doch nicht einfach den Vorhang vorziehen und sagen: Jetzt seien Sie mal ruhig.“ „Ich wünschte, ich könnte meine Mutter noch einmal in den Arm nehmen.“ Andreas wiederholt den Satz in jedem Gespräch. „Ich

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wünschte mir so sehr: Einmal nur Mutti sehen – für eine halbe Stunde. Das ist so eine Sehnsucht von mir. Aber wie es aussieht, geht das wohl nicht. Rational ist mir schon klar, warum es nicht geht, aber vom Gefühl her –.“ Der Vater verbiete ihr, ihn zu sehen. Es sei halt einiges vorgefallen, als er Drogen genommen habe und nach einem Selbstmordversuch weggezogen sei aus ihrem Dorf. „Doch mit Drogen oder Alkohol hab’ ich nie mehr Probleme gehabt.“ Und er habe auch dafür gesorgt, dass seine Eltern keine Schulden von ihm übernehmen müssten. Auch seine Beerdigung sei abgesprochen. „Ich werde in Ludwigsburg eingeäschert.“ Dann müsse nur noch die Urne beigesetzt werden. Nur einmal noch würde er seine Mutter in den Arm nehmen wollen. Sie sehen. „Jetzt bin ich noch wach, da hätten wir beide was davon. Da kann man reden über Sachen, die vorgefallen sind. Den ganzen Ärger vergessen. Abschied nehmen. Es ist doch alles verziehen. Gott war mir nie böse. Und wenn Gott mir nicht mehr böse ist, können vielleicht meine Eltern lernen, einzulenken. Aber kein Anruf. Kein Brief. Keine Karte.“ Am letzten Septemberwochenende sei er mit Renate und Andy vom Aidsbüro des Roten Kreuzes noch über tausend Kilometer gefahren, um seine Mutter zu sehen. In einer Autobahnraststätte wollte sie ihn schließlich treffen. Doch dann habe sie nicht kommen können. „Eine Freundin von ihr war gestorben.“ In der Raststätte traf er statt der Mutter seine Geschwister. Nach einer halben Stunde trennte man sich wieder. „Es war nur Anstrengung und Enttäuschung. Ich war wieder erschlagen.“ Manche, sagt Andreas, würden ihn nicht verstehen. „Warum kümmerst du dich um die Sachen, die so weh tun?“, würden sie fragen. Seine Antwort: „Ich kann nicht anders.“ Er überlegt: „Es wär’ wunderbar gewesen, wenn meine Mutter mir zur Freundin geworden wär’ in den letzten Jahren. Aber es scheint nicht mehr zu funktionieren.“ Trotzdem gebe er nicht auf, rufe sie an – auch wenn kein Rückruf kommt. Von bedingungsloser Liebe spricht er und sagt: „Ich spekulier’ ja immer … Ich bin ja noch nicht fertig mit dem Leben. Ich hab’ ja auch noch was zu geben.“ „Ich hab’ keine tolle Wohnung, kein Geld, aber ich hab’ immer Leute gefunden, die mir geholfen haben“, stellt Andreas in seiner EinZimmer-Sozialwohnung fest. Den Kassettenrecorder habe ihm ein Zivildienstleistender geliehen. Das Fernsehgerät und der Videorecorder sind von Gary, der im September starb. Von ihm sei auch die Lederjacke, die er trage, und die Matratze, auf der er liege. „Sonst ist alles vom Sozialamt.“ Und ohne das im Rahmen des Modellprojekts „Ambulante Hilfen für Menschen mit HIV und Aids“ eingerichtete Aidsbüro „wäre ich im

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Pflegeheim. Ohne die Zivis könnte ich dieses Haus nicht verlassen, nicht einkaufen, nichts. Jeden Morgen kommt jemand und bringt mir Tabletten. Manchmal kochen wir auch zusammen.“ Vormittags mache er oft auch Telefondienst im Aidsbüro, „um nicht einsam zu sein – sonst sehe ich ja keinen Menschen“. Den Thomas, den würde er gern noch einmal treffen. „Das wär’ toll.“ Doch Thomas, der sich vor fünf Jahren in Stuttgart um ihn kümmerte, lebt jetzt im Rheinland, und erst vor wenigen Tagen konnte er dessen neue Adresse herausfinden. Andreas steht auf. „Ich hab’ ihm auch was mitgebracht.“ Er holt einen Bildband über San Francisco. Da sei auch das Haus drin abgebildet, in dem er gelebt habe. „Das möchte ich Thomas schenken.“ Die meisten seiner Freunde in Amerika seien am Ende weggestorben, und viele Helfer hätten nach jahrelangem Einsatz ein Burn-out gehabt und sich zurückgezogen, berichtet Andreas. „Dass ich einmal wieder nach Deutschland komme, hätte ich nie geglaubt.“ Die Zeit nach seiner Rückkehr vor einem Jahr sei hart gewesen. Mit einer Lungenentzündung lag er in diesem Sommer drei Monate im Krankenhaus, vorher war er in der Psychiatrie. „Ich war völlig realitätslos und hab’ eine Psychose bekommen.“ Als er seine Wohnung verwüstete, sich in den Garten legte und mit Erde bedeckte, erfolgte die Einweisung in die Klinik. An seiner Einsamkeit änderten Psychopharmaka und Antidepressiva nichts. Und gängige Fluchtwege sind ihm auch heute noch abgeschnitten. Videokassetten kann sich der Vereinsamte so wenig leisten wie längere Telefongespräche. Und der Kontakt zu den rund 25 anderen vom Aidsbüro betreuten Infizierten ist beschränkt. Die meisten seien ExJunkies und „blind vor Angst“. Die Trauer und die Gewalt von der Krankheit Aids, die schaffe er nur, „weil ich darauf vertraue, dass Gott etwas Schöneres geschaffen hat. Da, wo ich hingeh’, hab’ ich keine Schmerzen mehr. Ich hab’ so viele tote Gesichter gesehen, und bei vielen war da diese Überraschung – dass sie aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Wo ich hingehe, das wird schöner sein als das Leben mit Schmerz und Einsamkeit“, erklärt der Aidskranke und sagt: „Das ist eine so gewaltige Sache diese Krankheit, so eine Gewalt.“ Doch es habe keinen Sinn, sich dagegen zu wehren. „Wenn ich Gewalt gegen Gewalt setze, schwächt das nur. Ich kann nicht sagen: Du bist mein Feind. Die Krankheit gehört zu mir wie ein Arm. Das ist untrennbar. So paradox oder schlimm wie es ist. Es ist mein Körper. Ich muss nicht nur mit ihm leben, ich will auch.“ Am nächsten Tag gehen wir italienisch essen. Andreas genießt den Cappuccino. Von den Tortellini schafft er nur vier oder fünf. Das Schlu-

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cken schmerzt. „Mach’ mir keinen Kummer“, habe seine Mutter früher immer gesagt. „Aber da ist kein Kummer mehr, nur Abschiednehmen.“ Er macht eine Pause. „Dieser Abschied, das kommt jeden Tag. Am Ende des Weges fallen die Blätter. Da ist keine Hektik mehr und kein Kampf, kein reißender Strom – mit der Abenddämmerung geht auch der Freund.“ Andreas sieht durchs Fenster. „Je weicher das Licht, desto schöner wird auch der Abschied.“ Jetzt, im Herbst, mit den gefärbten Blättern, sei draußen eine ganz weiche Stimmung. „Die Herbstblätter fallen lautlos, und jeden Morgen sind es weniger.“ Er sieht mich an: „Fünf Jahre sind eine lange Zeit.“ Vor einem Jahr sei er noch am Strand gewesen, im Rollstuhl, in Kalifornien. Während er sich daran erinnert, hellt sich sein Gesicht auf. Andreas strahlt. „Diese Weite. Es war so viel Luft da zum Atmen. Man konnte stundenlang gegen den Wind angehen und Luft holen.“ Am folgenden Tag, in seinem Bett liegend, sagt er: „Ich bin Andreas, und Andreas nimmt Abschied vom Leben.“ Vielleicht erlebe er noch den kommenden Winter, das nächste Frühjahr. „Da mach’ ich mir keine Illusionen. Aber selbst in den letzten Monaten kann man noch etwas weitergeben – auch wenn alles aussieht, als wär’ es im Eimer“, stellt der 27-Jährige fest und sagt: „Ich will mich aufs Sterben vorbereiten. Ich kann nicht mehr. Die Luft, die ich jetzt noch hab’ zum Atmen, die brauch’ ich, um die Zigarette zu genießen oder das Wetter, wenn die Sonne scheint. Für die große Problemwelt fehlt mir der Atem.“ In den vergangenen Wochen habe er oft einfach über die Felder geguckt und ganz ruhig geatmet. „Ein Atemzug nach dem andern.“ Er versuche halt, im Einklang mit der Krankheit, mit der Natur zu leben. „Das macht es auch leichter, die Schmerzen zu ertragen. Ich muss das annehmen wie ich jetzt bin. Kämpfen kann ich mir nicht mehr leisten. Wenn ich Atemnot habe, muss ich versuchen, ganz ruhig zu bleiben und nicht zu husten. Wenn ich viel Ruhe habe und mich keinem Stress aussetze, geht es.“ Trotzdem: „Das Abschiednehmen von dieser Welt tut schon ganz schön weh.“ „Wenn ich könnte, was ich wollte, würde ich nur rauslaufen und laut schreien, die Köpfe der Leute aneinanderschlagen“, sagte der Aidskranke vor fünf Jahren. Vergangenheit. „Ich bin doch sehr sanft geworden“, bemerkt er heute. Das Letzte, was er jetzt noch zu lernen habe, sei das Sterben. Das wolle er zu Hause, „in diesem Krankenbett. Das ist zwar nicht das Zuhause von meinen Eltern, aber das, was ich mir geschaffen habe. Man braucht nicht zum Sterben ins Krankenhaus. Wo bleibt da meine Würde? Da wird man schon komisch angeguckt, wenn man ’nen Teddy mitnimmt. Und keine Maschine ersetzt die Worte von

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’nem Seelsorger oder einem guten Freund oder Musik.“ Er habe auch schon Vorkehrungen getroffen, dass, wenn er sterbe, „die Musik gespielt wird, die ich mag, und nicht eine, die ich nicht hören will.“ Und bei seiner Beerdigung solle Amazing grace gespielt werden. „‚Once I was blind but now I see‘ – das haben wir drüben auch immer gesungen“, erinnert er sich und sagt: „Der ganze Todesablauf gehört einfach zum Leben dazu. Der ganze Schmerz, das ganze Abschiednehmen kann man lernen.“ Er habe es halt in Amerika gelernt. „Es war ein langer Weg, Raimund.“ Abschied. Andreas richtet sich auf in seinem Bett. Eine Umarmung. Unter dem T-Shirt sind seine Knochen zu spüren. Die Haut scheint ganz dünn. Als ich seinen Nacken und seine bloßen Arme berühre, bin ich irritiert: seine Haut fühlt sich ganz rein an, frisch wie die eines Babys. Am nächsten Tag, am Telefon, berichte ich ihm von meiner Empfindung. Er sagt, er glaube zu verstehen, was ich meine. Die ganzen Schmerzen und der Stress der letzten Jahre seien durch den Körper gegangen. „Das ist jetzt raus.“ Als wir uns verabschiedeten, stand auf dem Tisch eine neue Rose.

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PALUCCA, DER TANZ UND DAS MEER Die Ausdruckstänzerin und Pädagogin Gret Palucca -

Was wird mit dem Tanz? Gret Palucca stellt die Frage nicht nur einmal, sondern drei- oder viermal, und an verschiedenen Stellen des Gesprächs. Und immer, wenn sie danach fragt, klingt ihre Frage wie: „Was wird mit dem Leben?“ Die geplante Unterrichtsstunde, die sie an diesem Vormittag in ihrer Schule geben wollte, fällt aus. Ihre Haushälterin sei krank, und da könne sie nicht aus dem Haus. Auch das verabredete Gespräch möchte sie jetzt am liebsten absagen. „Ich fühl’ mich nicht gut.“ In der Nacht habe sie überhaupt nicht geschlafen. Die Nachrichten und Bilder vom Golfkrieg seien ihr nicht aus dem Kopf gegangen. „Ich bin seit diesem Krieg innerlich so unglücklich“, bemerkt sie in ihrem Haus in Dresden und fragt: „Wo führt das alles hin – der Tanz?“ Wenn man sie sehe, schrieb ein Kritiker in den zwanziger Jahren über die schon damals Legendäre, „sagt man nicht: wie herrlich ist die Palucca, sondern: wie herrlich ist das Leben“. Als ich sie jetzt auf diese Kraft anspreche, meint sie nur: „Das liegt doch wahrscheinlich im Menschen.“ Nach einer Weile fügt sie hinzu: „Das ist nicht so leicht. Man muss ja mit den ganzen Dingen fertig werden – auch mit der sogenannten Wende. Das ist ja auch nicht: heute so, morgen so. Das ist alles nicht so einfach.“ Sie sieht mich an: „Ich müsste ausführlich mit Ihnen sprechen.“ Nur heute sei das leider nicht möglich. „Was machen wir denn nur?“ Tanzen. Was Tanz für sie gewesen sei, frage ich sie. „Tanzen – das hat eben zu mir gehört. Das ist für mich so selbstverständlich gewesen. Ich hab’ mich immer bewegen wollen, und ich hab’ auch immer tanzen wollen. Aber dass das irgendetwas Besonderes ist, das hab’ ich nicht so empfunden. Ich hatte Glück, dass ich zu Mary Wigman kommen konnte. Wenn man zu einem Meister kommen kann, zu dem man restlos ja sagen kann als junger Mensch –.“ Sie lässt den Satz offen und sagt dann: „Das ist ein ganz natürlicher Weg gewesen.“ Als Kind habe sie Rollschuhläuferin werden wollen, hat die 1902 in München geborene Tochter eines Apothekers einmal erzählt. Die 89Jährige lächelt, als ich sie daran erinnere. „Rollschuhläuferin, ja, ich bin Rollschuh gelaufen. Und man wollte zum Zirkus – wie viele Kinder.“ Nach einer Pause fährt sie fort: „Meine Eltern sind nach Amerika, als ich

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sechs war. Ich hatte noch einen Bruder, der ist dann leider verunglückt. Wir haben dann in San Francisco gelebt – da war das auch mit dem Rollschuhlaufen. Ich bin auch in Amerika zur Schule gegangen.“ Doch schon nach anderthalb Jahren kehrte die Familie zurück nach Europa. „Wir sind dann gleich nach Dresden, weil das eine internationale Stadt war. Ich muss zurückdenken –.“ Gret Palucca unterbricht. Fast verwundert bemerkt sie: „Hach, so lang lebe ich schon.“ In Dresden habe sie auch ihren ersten Ballettunterricht bekommen, 1914, an der Staatsoper „bei Heinrich Kröller“. Sie buchstabiert seinen Namen. „K-r-ö-l-l-e-r. Das war ein sehr guter Tänzer und Ballettmeister.“ Doch die vorgegebenen Haltungen und Positionen des klassischen Balletts entsprechen der eigenwilligen Palucca nicht. „Das hat mir irgendwie nicht gelegen. Ich wollte meine eigenen Ideen und Phantasien zeigen, und das ging nicht bei dem strengen klassischen Training. Dann hab’ ich auch keinen Unterricht mehr bekommen, weil das keinen Sinn hatte. Und dann sah ich zum ersten Mal Mary Wigman und war begeistert.“ Über diese Begegnung schrieb sie schon vor Jahren: „Es ist sehr schwer, der heutigen Generation klarzumachen, was für uns damals Mary Wigmans erstes Auftreten bedeutete. Es war so etwas unerhört Neues, etwas so Elementares, dass mir sofort klar wurde: Entweder kann ich bei ihr tanzen, oder ich lerne es nie! Hier war der neue Tanz, der meinem Ideal entsprach.“ Als die Ausdruckstänzerin 1919 eine Schule in Dresden eröffnet, wird die 17-jährige Palucca eine ihrer ersten Schülerinnen und Mitglied ihrer Tanzgruppe. Mit ihr geht sie auf Tournee, ist im Rahmen der Gruppe und mit Solotänzen zu sehen und macht sich schließlich 1924, gerade 22 Jahre alt, selbstständig. „Ich war glücklich bei der Wigman, froh, dass ich endlich die richtige Meisterin gefunden hatte. Aber“, erklärte sie einmal in einem Interview, „an einem bestimmten Punkt spürte ich eben genau, dass ich nun meinen eigenen Weg gehen musste.“ Das tat sie. Konsequent und mit großem Erfolg. Publikum und Kritik feierten sie gleichermaßen. „Die Palucca ist in jedem Tanz echt und hell und herrlich in ihrer kraftvollen Lebensbejahung. Sie hat eine unbeschreiblich reine Anmut, eine wundervoll hohe Heiterkeit und einen erschütternden Ernst“, schwärmte ein zeitgenössischer Kritiker. Und ein amerikanischer Beobachter fand: „Ihre Technik ist ungeheuer und wird niemals zum Selbstzweck. Sie ist nie eine Virtuosin, obwohl sie eine sein könnte. Da ist ein Charme des Verhaltens, eine lyrische Erhebung, die dem Schwergewicht der teutonischen Atmosphäre einen Sprung versetzt“ – was dann im Nazideutschland als „artfremd“ und „entartet“ galt. Bei der Urauffüh-

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rung ihres Films Serenata erzwangen randalierende SA-Männer 1933 in Berlin die Absetzung des Films; ab 1939 durfte die Tänzerin mit den griechisch-ungarischen Vorfahren nicht mehr in staatlichen oder städtischen Einrichtungen auftreten. Zwar gab es noch Auftritte der international gefeierten Solistin, doch durften die in Deutschland nicht mehr lobend erwähnt werden. 1939 wurde von den Nazis auch die Schule geschlossen, die die 23jährige Palucca 1925 in Dresden aufgemacht hatte. „Ich hab’ von mir aus keine Schule machen wollen, aber es haben sich von allein junge Menschen gemeldet. Und da hab’ ich eben angefangen, zu unterrichten – und das ist so allmählich die Schule geworden“, berichtet sie und sagt: „Ich hänge an der Schule und hab’ mir große Mühe gegeben, sie richtig zu führen. Es ist ja alles nicht so leicht gewesen – die ganzen Zeiten, die schwer waren, die Nazizeit – ich hab’ das ja alles nicht mitgemacht.“ Gleich nach dem Krieg, in dem sie bei den Bombardements auf Dresden bis auf zwei ausgelagerte Kisten allen Besitz verlor, tanzte und lehrte sie wieder. „Ich hab’ Karteikarten an die Bäume geheftet, dass ich wieder unterrichte. Ich hab’ mit zehn Schülern angefangen am 1. Juli ’45 – meine Güte, ich leb’ ja schon viel zu lange“, sagt sie lachend und ihre Augen blitzen und gucken fragend nach Widerspruch. Warum sie schon 1950 aufgehört habe, zu tanzen? „Ich wollte unter keinen Umständen zu den Menschen gehören, die zu lange etwas ausführen. Schon als junger Mensch habe ich gesagt: Zu einer bestimmten Zeit höre ich auf“, antwortet sie und fügt dann hinzu: „Ich hatte das Glück, dass ich genauso gern tanze wie unterrichte. Das war ein sehr schöner Übergang von der Tänzerin zur Pädagogin – als Tänzerin soll man doch nicht zu lange tanzen.“ Sie lächelt. „Der Körper ist unsere Sprache und ich wollte nicht …“ Sie überlegt und räumt dann ein: „Ich hab’ vielleicht ein bisschen zu früh aufgehört. Das war vielleicht ein Tick, dass ich nicht so lange tanzen wollte.“ Alle Möglichkeiten des Tanzes hatte sie „erleben, ausleben, austanzen“ wollen und „bis an die Grenze vorstoßen und mich des unendlichen Umfangs und der unendlichen Tiefe vergewissern, die im Tanz beschlossen liegen“. Aufmerksam verfolgt wurde ihr Vorstoß zu den Grundlagen des Tanzes nicht zuletzt von bildenden Künstlern. Die Bauhaus-Meister sahen in der Palucca eine Schwester. „Wir sprechen von Gestaltung, von Gesetzmäßigkeiten der Gestaltung – wir versuchen eine neue Ästhetik zu formulieren – und noch fehlen uns die elementaren Grundlagen der Gestaltung selbst. Sie werden aber langsam erobert. Auf dem Gebiet des Tanzes ist Palucca bisher die einzige, die das zu realisieren anfängt, was von vielen oft und oft als Forderung aufgestellt wurde.

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Sie ist die klarste unter den heutigen Tänzerinnen“, schrieb László Moholy-Nagy und entdeckte in ihrem Tanz „das neu gefundene Gesetz der Bewegung, exakteste Gefüge von immer raumlebendiger Spannung. Palucca verdichtet den Raum, sie gliedert ihn: der Raum dehnt sich, sinkt und schwebt – fluktuierend in allen Richtungen. Und sie wächst, spannt, lockert, multipliziert sich. Der Raum ist ihr immer gegenwärtig, ohne dass sie sich zentral herausstellt.“ „Dass diese Künstlerin sehr wichtig ist“, war auch für Paul Klee keine Frage. Nach einem Tanzabend der Palucca in Weimar, zu dem nahezu alle Lehrer und Schüler des Bauhauses gekommen waren, berichtete er: „Gerade der Umstand, dass alles Allzuindividuelle, Zufällige überwunden und ins Typische gesteigert war, brachte ihr das sonst nicht immer einstimmige Lob unserer damaligen Weimarer Gesellschaft.“ Mit Klee und seiner Familie war die Palucca später eng befreundet – wie auch mit Kandinsky, der 1926 einen Text und vier Zeichnungen zu ihrer Arbeit veröffentlichte. „Paluccas Tanz ist vielseitig und kann von verschiedenen Standpunkten beleuchtet werden“, notierte er in der Zeitschrift Das Kunstwerk. „Was ich aber hier unterstreichen möchte, ist der selten genaue Aufbau nicht bloß des Tanzes in der zeitlichen Entwicklung, sondern in erster Linie der exakte Aufbau einzelner Momente, die durch Momentaufnahmen fixiert werden.“ Die von Charlotte Rudolph fotografierten Momentaufnahmen der tanzenden Palucca nahm Kandinsky schließlich als Ausgangspunkt für seine analytischen Zeichnungen und schuf mit ihnen eine eindrucksvolle Hommage an die damals 24-jährige Tänzerin. „Ich hab’ viel Glück gehabt“, stellt die 89-Jährige rückblickend fest. „Für mich ist sehr schön gewesen, dass ich so viel Kontakt zur bildenden Kunst und Architektur hatte. Ich mochte immer gern, dass es nicht so einseitig ist. Ich hab’ viel gelernt dadurch. Ich gebe mir auch große Mühe in der Schule, dass die Schüler nicht nur ans Tanzen denken, sondern sich weiterbilden in jeder Beziehung. Die jungen Leute, die ich heute unterrichte, sind zehn, elf Jahre – wenn die genügend geistige Nahrung kriegen, merke ich, dass die unheimlich gut darauf reagieren.“ Neulich habe ihr zum Beispiel eine Schülerin eine Kunstpostkarte mit einem Porträt von Franz Schubert gebracht, „weil sie wusste, dass ich unter den Romantikern Schubert am meisten schätze. Das sind solche Sachen, die ich mir gern erhalten will“, erklärt sie sanft und berichtet nicht ohne Stolz: „Die malen auch, wenn ich mit ihnen über Farbe spreche. Ich bin da ja auch ein Laie, aber ein bisschen verstehe ich doch.“ In den zwanziger Jahren habe sie Kandinsky einmal Zeichnungen ihrer Schüler geschickt. „Da sind sie so Raumwege gegangen und haben

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sich überlegt, wie sie in Farbe eine Diagonale ausdrücken würden. ‚Das ist fabelhaft, wie natürlich und selbstverständlich und wie richtig das ist‘, hat mir Kandinsky geschrieben – und ich mach’ das jetzt wieder mit den Kindern. Ich möchte, dass sie sich auch mit bildender Kunst beschäftigen, ein bisschen mehr Allgemeinbildung bekommen. Ich halte das für so wichtig, dass, wenn sie später rausgehen aus unserer Schule, dass sie auch als Persönlichkeit etwas zu unserer Kultur dazutun und nicht nur tanzen, tanzen.“ Palucca wendet sich an Max, ihren Hund, der die ganze Zeit neben ihr gesessen hat. „Nun sag’ du doch mal was – wie Frauchen ist, was Frauchen macht.“ Sie sieht hoch und lacht wie ertappt. „Ich bin ein Tiermensch.“ Ihr Gesichtsausdruck verdüstert sich. Sie erinnert sich wieder an den im verseuchten Golf schwimmenden Wasservogel. „Ich hab’ fortwährend dieses Tier gesehen im Öl. Es hat mich fertiggemacht – diese verklebten Flügel. Ich verstehe das nicht, dass sie das Öl ins Meer schütten. Es macht mich vollkommen fertig, dass Menschen – dass so etwas möglich ist, dass man mit solchen Mitteln arbeitet in der heutigen Zeit. Ich kann mich da nicht nur mit meiner Person beschäftigen – das nimmt mich auch mit.“ Zwischendurch sagt sie leise: „Nicht so viel reden, lieber handeln.“ Gret Palucca streichelt ihren Hund und lächelt. „Dass ich auf einen Mops gekommen bin …“ Früher habe sie immer große Hunde gehabt wie die ungarischen Hirtenhunde. Der Mops sei jetzt ihr elfter Hund. „Sie können nicht ohne Tier sein“, habe ein Tierarzt ihr einmal gesagt. „Das gibt’s ja, angeborene Tierliebe. Auch ein bösartiger Hund tut mir nichts“, erklärt sie und meint: „Ich hätte Tierpfleger werden müssen.“ Sie sieht mich an. Was sie für mich tun könne? Ob ich etwas trinken möchte? Sie geht in die Küche und bereitet Tee. „Es ist so schwer, immer die richtigen Dinge zu sagen“, stellt sie bei ihrer Rückkehr fest. „Ich weiß nicht, was ich erzählen soll. Ich will mich ja auch nicht immer wiederholen. Ich bin nämlich kein Mensch, der viel spricht. Ich bin froh, dass dieses Buch rausgekommen ist damals.“ Sie weist auf einen Ausstellungskatalog auf einem ihrer Bücherborde. Künstler um Palucca war der Titel der Ausstellung, die anlässlich ihres 85. Geburtstages in Dresden gezeigt wurde; im Katalog dazu hatte sie ausführlich erzählt von ihren Begegnungen mit Kandinsky und Klee, Dix und Moholy-Nagy, Feininger und Jawlensky, Gropius und Mies van der Rohe, Ernst Ludwig Kirchner, der sie malte, und El Lissitzky, der wie viele andere Künstler längere Zeit Gast in ihrem Haus war. Dass sie den schwer lungenkranken Lissitzky bei sich aufnahm, habe ihren Mann, Friedrich Bienert, damals sehr aufgeregt. „Er hatte Angst vor

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Ansteckung.“ Die von 1924 bis 1930 mit dem Sohn der legendären Kunstsammlerin Ida Bienert verheiratete Palucca war da weniger ängstlich. „Ich habe gesagt, dass mir die Krankheit egal ist, wenn es um einen Maler geht, der mich interessiert.“ Auch von zwei sehr besonderen Bildern in zwei sehr besonderen Räumen hatte sie 1987 im Interview mit den Dresdner Ausstellungsmachern gesprochen: von einer Arbeit Mondrians und einem Aquarell von Paul Klee, „an dem ich sehr, sehr hing. Das passte genau in mein Zimmer in der Bürgerwiese, ein merkwürdig hellblaues Zimmer. Die Farbe hatte Kandinsky angegeben und auch kontrolliert. Wenn Menschen, die ein bisschen sensibel waren, zu mir kamen, sagten sie immer: ‚Wie können Sie bloß darin leben, das ist so wahnsinnig klar, da kann man sich überhaupt nicht verstecken.‘“ Doch sie wollte sich ja nicht verstecken und suchte die Klarheit – die sie auch bei Mondrian realisiert fand. Im Übungsraum ihrer Wohnung, in einem schneeweißen Saal, über einem schwarzen Flügel, hing ab Mitte der zwanziger Jahre seine Komposition I mit Blau und Gelb. „Das war eine Zeit, in der ich gern so getanzt hätte, wie Mondrian gemalt hat.“ Nicht zuletzt seine Präzision faszinierte sie. „Das Bild war für mich von Anfang an ein Kunstwerk. Ich fand es sehr klar und die Proportionen besonders schön.“ Danach habe sie keine Bilder mehr aufgehängt. „Wenn ich nicht ein Bild habe, das Mondrian entspricht – ich würde auch einen Klee aufhängen –, dann bin ich nicht interessiert.“ Die Palucca sieht sich um in ihrem einfach eingerichteten schmucklosen Büroraum. „In meinen früheren Saal passte der Mondrian. Aber wie soll ich denn hier …? Da hänge ich lieber nichts auf als irgendeinen Druck.“ Doch kürzlich habe sie von den Eltern einer Schülerin einen sehr schönen Kalender mit Impressionisten bekommen, über den sie sich sehr gefreut habe – wie sie sich auch heute noch über Kunstpostkarten freuen kann, die sie seit ihrer Kindheit mit großer Begeisterung sammelt. „Wenn ich abends im Bett lag, bin ich oft aufgestanden und an meine Karten gegangen und habe mir eine herausgezogen und sie betrachtet. In dieser Form habe ich bildende Kunst kennengelernt. Dann habe ich im Lexikon nachgelesen, das hat mich unheimlich gereizt.“ Die Auseinandersetzung mit bildender Kunst oder Musik sei für sie anregender, „als wenn ich mich irgendwie mit Tanz beschäftige. Das ist ganz eigenartig – das hab’ ich immer gehabt“, stellt die Palucca fest und sagt ganz unpathetisch: „Musik ist für mich lebensnotwendig. Ob klassische oder moderne oder zeitgenössische Musik, das spielt keine Rolle. Musik ist für mich in jeder Beziehung – brauch’ ich einfach zum Leben.“

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Doch nicht nach jeder Musik würde sie tanzen. So würde sie von ihren Schülern nie verlangen, nach der Musik von Bach zu tanzen. „Haydn vielleicht, aber schon mit Mozart ist das schwierig. Wie wollen sie das als Tänzer noch vervollkommnen? Das ist doch nicht so einfach. Ich weiß noch ganz genau, dass mir einmal der Paul Klee gesagt hat: Das dürften wir nie machen – Bach tanzen. Das ist so vollendet, dass wir nichts dazu tun können“, sagt sie und weiß: „Es wird ja heute viel Bach getanzt – ja, die Zeiten haben sich geändert.“ Das Tempo, mit dem sich jetzt manches in der ehemaligen DDR zu verändern scheint, macht sie nachdenklich. „Wir sind natürlich glücklich, dass wir diese fürchterliche Zeit vorüber haben. Aber ich verstehe nicht, wenn ein Mensch eine Überzeugung hatte, dass er sich plötzlich ändert – das braucht doch Zeit.“ Auch wenn es nun vorwärts gehe: „Das ist nicht von heute auf morgen zu machen. Lebensmittel und was es jetzt alles gibt – das ist ja nicht alles.“ Geschichte hinterlässt Spuren – auch in den Körpern. Gret Palucca sieht das auch bei ihren Schülern. „Es macht sich natürlich die ganze schwere Zeit bei den jungen Leuten bemerkbar, dass sie die ganzen Jahre, vierzig Jahre unter einem Zwang gearbeitet haben – das muss man alles wieder lösen, dass sie freier werden. Ich möchte, dass sie von sich aus schöpferisch sind. Ich merke auch, dass sie das wollen und dass das geht – sie müssen einfach die Nahrung bekommen“, erklärt die Pädagogin, aus deren Schule unter anderem die Regisseurin Ruth Berghaus, der Choreograf Tom Schilling und die Tänzerin Arila Siegert hervorgingen. Lange Zeit war die Palucca die Einzige, die in der DDR modernen Tanz unterrichtete. Dass ihre Ideen vom Neuen Künstlerischen Tanz nicht unbedingt den Vorstellungen linientreuer Parteifunktionäre entsprachen, konnte sie schon 1950 feststellen: Wegen Missachtung der Massenerziehung und Massenarbeit wurde sie von der SED offiziell gerügt. Doch die Mitbegründerin der Akademie der Künste der DDR ließ sich nicht einschüchtern. Zur braven Propagandistin eines deutschen Nationaltanzes nach sozialistischem Einheitsparteimuster eignete sich die Ausdruckstänzerin nicht. 1952 legte sie wegen administrativer Eingriffe der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten die Leitung ihrer 1949 verstaatlichten Schule nieder. Und als 1953 zum Richtfest für den Neubau des im Krieg zerstörten Schulgebäudes eingeladen wurde, stand der Name Palucca nicht auf der Liste der Eingeladenen – obwohl sich befreundete Kollegen wie Brecht, Helene Weigel und Paul Dessau für sie eingesetzt hatten. Erst als Kulturminister Johannes R. Becher sie 1954 wieder zur künstlerischen Leiterin der Schule berief, konnte die später mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen bedachte

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Palucca weiterarbeiten. Funktionäre merkten zwar immer mal wieder an, dass ihre Tänzer „nicht genügend im sozialistischen Sinne erzogen“ würden, doch das stand sie durch. „Hab’ ich ganz gut durchgehalten“, meint sie rückblickend. Warum sie in Dresden geblieben sei, werde sie oft gefragt. Ihre Antwort: „Ich hab’ immer sehr an Dresden gehangen.“ Und: „Ich hab’ immer gesagt: Warum gehen die vielen Menschen weg? Die müssten doch eigentlich helfen, dass es hier weitergeht.“ In der neuen Situation hoffe sie, dass es jetzt auch weitergehe mit ihrer Schule. „Ich denke immer, dass man in Dresden eine Spezialschule machen könnte – dass da nicht nur trainiert wird, dass ein bisschen mehr auch künstlerisch gearbeitet wird, dass ein bisschen was passiert. Das müsste man allmählich fertigbringen – aber es ist sehr, sehr schwer. Es fehlt uns natürlich auch an Menschen. Wir müssten auch an der Schule mehr Gäste haben, mehr Pädagogen. Aber das wichtigste für die Schule ist jetzt, dass wir einen neuen künstlerischen Leiter finden.“ Ob er alles verändern wolle oder fortführen wolle, was bisher erarbeitet wurde, finde sie nicht entscheidend: „Da darf man nicht kleinlich sein.“ Angesprochen auf ihre Offenheit, sagt die 89-Jährige sehr bestimmt: „Das muss man sein. Die Hauptsache ist, dass es gut ist. Wir müssten nur die Persönlichkeit finden. Aber das ist unheimlich schwer“, bemerkt sie und fragt: „Wie kommt es denn, dass es so schwer ist, eine Persönlichkeit zu finden? Was ist das nur mit dem Tanz?“ „Bewegt euch. Tanz müsst ihr leben, erleben. Da muss etwas in euch vorgehen“, rief die Palucca kürzlich ihren jüngsten Schülern im Unterricht zu. Sie versuche, so zu arbeiten, dass ihr moderner Unterricht dem Anfang der fünfziger Jahre in den Lehrplan aufgenommenen klassischen Tanz nicht schade. „Das muss in einer guten Weise zusammengehen. Das muss sich ergänzen. Man darf nicht gegeneinander arbeiten.“ So ist auch ihre Suche nach neuen Bewegungen nicht unbedingt eine Kampfansage an das klassische Ballett gewesen. „Ich hab’ ja nicht gesagt: Ich bin modern und will mit klassisch nichts zu tun haben. Der klassische Tanz wird einfach gebraucht. Aber der muss sich auch weiterentwickeln. Der kann nicht mehr sein wie vor dreißig Jahren – es geht ja alles weiter in der Welt.“ An anderer Stelle sagt sie noch: „Der klassische Tanz, der muss doch technisch einfach sehr gut sein – sonst ist es schrecklich.“ Um sich ausdrücken zu können als Tänzer, sind Disziplin, Konzentration und Präzision für sie selbstverständlich. „Der Körper muss sprechen. Tanz ist nun einmal – die Sprache ist halt der Körper. Im Grunde müssen sie immer in Form sein, weil ihr Körper ihr Instrument ist. Die müssen ihren Körper von oben bis unten beherrschen. Da können sie

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auf der anderen Seite nicht viel anderes machen – aber wir brauchen heute Persönlichkeiten“, erklärt sie und es klingt fast beschwörend. „Den Schülern sag’ ich immer wieder: Ihr müsst eure Augen und Ohren offenhalten. Die haben ein achtjähriges Studium, arbeiten von früh bis abends – aber die müssen auch mal raus in die Natur.“ Die als Tänzerin so sprunggewaltige Palucca tat das ihr Leben lang. „Wir sind überall hingegangen“, erinnert sie sich und lächelt wieder ihr mädchenhaftes Lächeln. Die Wigman habe ihr immer gesagt: „Du kannst machen, was du willst, aber früh um acht stehst du ordentlich da und arbeitest.“ Im Gegensatz zu früher lebe sie ja heute sehr zurückgezogen, bemerkt die Palucca und wirkt doch in keinem Moment, als habe sie sich zur Ruhe gesetzt. „Ich mag ja alles nicht, was konventionell ist“, sagt sie einmal und sieht dabei aus, als sei sie noch immer zu jedem Abenteuer bereit. Und wenn sie vom geliebten Meer spricht, ist es ganz nah. Im Februar sei sie oft auf Sylt, und im Sommer müsse ich sie einmal an der Ostsee besuchen, da sei sie immer auf Hiddensee. Das sei ihre zweite Heimat. „Ich bin ein Mensch fürs Meer“, erklärt sie und das Zimmer wird weit und ihre Augen strahlen – bis sie sich wieder an die Kriegsbilder vom verseuchten Meer erinnert. Da käme sie nicht gegen an. „Was sagt meine Freundin immer: ‚Du musst dich nicht so kümmern.‘ Aber wie kann man das? Es geht ja alles kaputt.“ „Was kann ich Ihnen denn nur mitgeben?“, fragt die Palucca und sieht sich unruhig um. Ich denke an einen ihrer Bewunderer aus den zwanziger Jahren, der damals über die Tänzerin schrieb: „Es scheint so, als gäbe sie alles her, was sie geben kann, und gewissermaßen tut sie das auch, und doch ist sie ganz sichtbar voller Zurückhaltung, sie ist für mein Empfinden ein innerlich außerordentlich reicher Mensch und leidet daran, das zu unterschätzen, was sie ganz einfach naturgegeben ist, oder was sie ohne alle sichtbare Bemühung geben kann.“ Das Einfache, sagte sie einmal, sei das Schwerste.

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„UND WEBEN DER MENSCHHEIT EINEN WÄRMENDEN MANTEL“ Anmerkungen zu der Arbeit des Fotografen Stefan Moses -

Stefan Moses liebt Menschen. Seine Fotos spiegeln diese Liebe, seine Lust auf Menschen, die Bereitschaft, sie anzusehen und anzunehmen, in ihnen etwas von sich zu entdecken und Klarheit zu gewinnen auch über die eigene Geschichte – vorzustoßen schließlich in einen Bereich, in dem die Grenzen aufgehoben sind. Wie für ein Kind kann auch für ihn ein Ausschnitt eine Welt bedeuten, ein Mensch eine Welt sein und helfen, Fragen zu beantworten. Wer sind wir? Zwei Arme, zwei Beine und ein Kopf? Eine Begegnung. Der Wunsch und die Angst, erkannt zu werden. Zum Beispiel: „Hier der Mensch, der sich dagegen wehrt, erkannt zu werden, weil er glaubt, dass etwas von ihm sichtbar gemacht wird, was er nicht preisgeben will. Dort der Fotograf, der diese Preisgabe fordert. Warum? Er sucht Erkenntnis und Wirklichkeit. Hinter dem Schein sucht er das Wesen“, notiert Stefan Moses 1963. Damals breitete er zum ersten Mal das graue Tuch aus, auf das er Menschen stellte, denen er bei seinen Reisen durch Westdeutschland begegnete: Arbeiter in Bochum, Essen und Remscheid; eine Bauernfamilie in Saulgau; Porzellanverkäuferinnen in München; ein altes Hochzeitspaar, Straßenbahnschaffnerinnen und einen Losverkäufer in Köln; Straßenfeger, Pfannenputzer und eine Caféhausserviererin in Berlin; einen Begräbnisbeamten 1. Klasse in Hamburg und Krabbenfischer in Travemünde; ein Mannequin in Düsseldorf und einen Rentner in Dachau – namenlose Deutsche, die keine Geschichte machten und deren Gesichter und Haltungen doch Geschichte spiegeln konnten, weil da einer war, der sie aufnahm, wie sie noch keiner aufgenommen hatte: auf einem einfachen Filztuch, sechs Meter breit, fünf Meter hoch, lose gespannt, ein Tuch, das die Umgebung der Personen verhüllte und etwas anderes sichtbar werden ließ – das Verborgene, das Stefan Moses sucht. „Er sucht immer“, sagt seine Frau – „und er findet immer.“ Moses holt Verborgenes auf verschiedene Weise hervor, spielerisch oft und nicht ohne Humor, ironisch, doch nie verletzend. Intellektuelle konfrontierte er mit einem fahrbaren Spiegel und forderte sie auf, sich in ihm zu fotografieren. Prominente Hundebesitzer nahm er mit ihren Hunden auf und schuf so aufschlussreiche Doppelporträts, in denen

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irritierende Korrespondenzen zwischen Herr und Hund zu erkennen waren. Auch Mittel der Verfremdung sind ihm nicht fremd. Seriös gekleidete Politiker ließ er vor seiner Kamera mit einer Hantel aus Holz agieren, und Künstler bat er, mit Materialien aus ihrer unmittelbaren Umgebung spontan eine Maske herzustellen und sich damit fotografieren zu lassen. In den so von ihm geschaffenen Situationen und Bildern wird Bekanntes verdeckt und bisher nicht Gesehenes sichtbar. „Die Wahrheit zu sehen müssen wir vertragen können, vor allem aber sollen wir sie unseren Mitmenschen und der Nachwelt überliefern, sei es günstig oder ungünstig für uns“, formulierte August Sander 1927 anlässlich einer Ausstellung seiner Menschen des 20. Jahrhunderts im Kölnischen Kunstverein. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts führt Stefan Moses August Sanders Ansatz fort. „Ich möchte den Faden nicht abreißen lassen“, sagt er. Und wie bei August Sander sind auch seine Projekte langfristig angelegt, geht es nicht um das spektakuläre Einzelbild, sondern um die Folge, die Reihung, die Sequenz, die Verbindung der Bilder, die eine Geschichte erzählt, die über die Einzelgeschichte hinausgeht – was nicht bedeutet, dass in den Einzelbildern mit den einzelnen Figuren nicht auch die ganze Geschichte enthalten wäre. Dem Fotografen Stefan Moses geht es um den offenen Dialog mit Menschen. Seine Bilder sind Spuren dieses Dialogs. Zum Beispiel die seit Mitte der sechziger Jahre immer weiter vervollständigte Folge Die großen alten Deutschen, in der er Wissenschaftler und Philosophen, Künstler und Politiker porträtierte. Auch diese Zeitzeugen fotografierte er nicht in ihrer bekannten Umgebung, sondern ging mit ihnen in den Wald und nahm sie vor Bäumen auf: Bruno Bettelheim und Gret Palucca. Golo Mann und Annette Kolb. Käthe Kruse mit einer Puppe im Arm und Herbert Wehner auf dem Stamm eines gefällten Baumes. Konrad Lorenz zwischen den wild wachsenden Pflanzen seines Parks und Oskar Maria Graf, der wie ein Baum auf dem Waldboden steht. Bei einer Ausstellung seiner Menschen-Wald-Bilder zitierte Moses den Schriftsteller und Physiker Georg Christoph Lichtenberg: „Wir sind alle Blätter an einem Baum, keins dem anderen ähnlich, das eine symmetrisch, das andere nicht, und doch gleich wichtig im Ganzen. Jeder Baum hat einen bestimmten Charakter und ist eine Gestalt voll Leben und Bedeutung.“ Deutschland. Seit den sechziger Jahren kreist Stefan Moses immer wieder um dieses Thema. Fotografierte deutsche Künstler und Intellektuelle, arme Deutsche und reiche Deutsche, deutsche Vereine und deutsche Schulen, wie die Deutschen wohnen und wie sie Feste feiern, und schließlich Porträts der Deutschen, die er auf ein dreißig Quadratmeter

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„Und weben der Menschheit einen wärmenden Mantel“

großes Filztuch stellte – in den sechziger Jahren im Westen Deutschlands, Anfang der neunziger Jahre im Osten. Schon lange habe er diese Arbeit fortführen wollen, sagt Stefan Moses. Doch seine Anträge, Deutsche in der DDR zu fotografieren, wurden immer wieder abgelehnt. Erst nach dem Fall der Mauer konnte auch er sein Deutschen-Bild erweitern, den Kreis schließen. „Damit die Gemeinsamkeiten sichtbar werden“, habe er, wie in den sechziger Jahren, noch einmal mit dem grauen Tuch gearbeitet. Und wie damals durch die BRD fuhr er jetzt mit diesem magischen Stück Stoff durch die DDR, in Großstädte und in die Provinz, zu unbekannten Deutschen und, anders als in den sechziger Jahren, auch zu prominenten, konfrontierte sie mit seinem Tuch, das sich nun auf manchen Bildern fast aufzulösen scheint, „nur noch Zitat ist“, kaum noch verhüllt. Sichtbar bleiben das Wohnzimmer mit dem Vogelkäfig, die Straßenecke mit der Eckkneipe und den heruntergelassenen Jalousien, das ehemalige Stasi-Gebäude in Leipzig und manchmal ein Stück Wald – sichtbar wie die Gefühle der Menschen, ihre Irritationen, Brüche, Unsicherheiten. „Gefühle des Endes und des Anfangs zugleich: eine leise Trauer und eine halblaute Freude“, so Wolfgang Thierse über seine Gefühle zum 3. Oktober 1990, Gefühle nicht nur eines Tages. Als 1980 Stefan Moses’ Buch Deutsche – Porträts der sechziger Jahre erschien, schrieb ein Kritiker: „Die Gesichter der Deutschen der frühen sechziger Jahre – die sind unwiederholbar.“ Die 1990/91 aufgenommenen Fotos widerlegen das. Verbindungen werden sichtbar, die zeitliche und räumliche Grenzen überwinden. Stefan Moses: „Bei all diesen neu entstandenen ‚Deutschenporträts‘ fällt mir auf, wie nah die Gesichter und Bewegungen den Menschen aus den frühen Sechzigern sind, die ich damals im ‚Westen‘ besuchte.“ Nachzuvollziehen ist seine Entdeckung nicht zuletzt bei den Porträts der sogenannten einfachen Leute, in den Gesichtern und Haltungen der Frauen und Männer aus Berlin und Rostock, Cottbus und Weimar, in denen sich Enttäuschungen und Sehnsüchte, Lebenskraft und Verletzungen, Humor und Melancholie spiegeln – und nicht selten auch eine Nähe zwischen Menschen, die auf den Betrachter aus dem Westen schon fast exotisch wirkt und wie aus einer anderen Zeit. Moses zeigt, dass sie möglich ist. „Menschen müssen einander verstehen, müssen aufeinander zugehen“, notiert er in einem Brief. In einem Text von Heiner Müller heißt es: „Reiben wir unsre Felle aneinander.“ „Nur wer ohne Furcht lebt, ist frei. Aber ich kenne keinen Menschen, der nicht irgendeine Tür verschließt“, sagt eine von Stefan Moses fotografierte Fischfachverarbeiterin aus Warnemünde. Moses’ Porträts erinnern mich auch an die Protokolle von Maxie Wander, ihre Gesprä-

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che mit Frauen in der DDR, die in den siebziger Jahren unter dem Titel Guten Morgen, du Schöne herauskamen. Wie Moses konnte auch Maxie Wander durch ihre Zuwendung Menschen öffnen – zum Beispiel die Serviererin Ruth B., 22, ledig, ein Kind, die damals fragte: „Welche Gesellschaft bauen wir eigentlich auf? Man hat doch einen Traum. Die Menschen werden geboren und haben einen Traum. Ich träume: Die Menschen werden wie Menschen miteinander umgehen, es wird keinen Egoismus mehr geben, keinen Neid und kein Misstrauen. Eine Gemeinschaft von Freunden. Naja, jemand wird doch dann da sein, der ja zu mir sagt.“ Auf den Fotografien von Stefan Moses sind Menschen wie Ruth B. zu entdecken – auch wenn sie andere Namen tragen. Aber Moses zeigt, dass es sie gibt – wie die Schauspielern Steffie Spira, die 81-Jährige, die am 4. November 1989, bei der großen Künstlerdemonstration auf dem Alexanderplatz, eine kurze Rede hielt und an Brechts Lob der Dialektik erinnerte: „‚So, wie es ist, bleibt es nicht. Wer lebt, sage nie: niemals! Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein? Und aus Niemals wird: Heute noch!‘ Ich wünsche für meine Urenkel, dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde und dass keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen.“ Die Frage nach einem Motto für ihr Leben beantwortete die Schauspielerin einmal mit einem Zitat aus Lysistrata: „‚Und weben der Menschheit einen wärmenden Mantel.‘ Ich glaube, dazu sind wir alle da.“ Die Bilder von Stefan Moses: für mich Teil dieses Mantels, der wärmt in kalten Zeiten. Auf einem dieser Bilder steht eine alte Frau da mit weit geöffneten Armen. In ihrem Sommerstück schrieb Christa Wolf: „Wir müßten anders leben. Ganz anders.“

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DIE BILDER. DIE WORTE. UND AIDS. Hervé Guiberts Mitleidsprotokoll und sein Film Die Scham oder die Schamlosigkeit -

Hervé Guiberts Protocole compassionel ist kein „Mitleidsprotokoll“. Das klingt nicht nur anders, sondern reduziert den Roman auch auf etwas, was er so nicht ist. Wenn Guibert in seiner Passionsgeschichte vom Leiden erzählt, von der Leidenschaft und den Gefühlen eines an Aids erkrankten Mannes von Mitte dreißig, dann sucht er kein Mitleid. Beim Blick in den Spiegel sieht er einen skelettierten Leib und kann doch nicht behaupten, „dass ich Mitleid empfand für diesen Typen, es kommt auf den Tag an, manchmal scheint es mir, er wird es schaffen, denn schließlich sind Leute aus Auschwitz zurückgekommen, andere Male ist es klar, dass er verurteilt ist, unterwegs zum Grab, unausweichlich“. Und als wisse der Verlag, wie wenig überzeugend der deutsche Titel für die komplexe Geschichte ist, setzt er ihn nur kleingedruckt auf den Umschlag. Größer und deutlicher erscheint darunter der Name des Autors: Hervé Guibert, 1955 geboren, Romancier, Fotograf und Fotokritiker, in den achtziger Jahren an der Immunschwäche Aids erkrankt und am 27. Dezember 1991, zwei Wochen nach einem Selbstmordversuch, nahe Paris gestorben. Mit seinem dreizehnten Buch, Der Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat, war Hervé Guibert im vergangenen Jahr auch hierzulande bekannt geworden. Der Versuch einer literarischen Selbstenthüllung, der in Frankreich einen Skandal auslöste und die Debatte über Aids neu entfachte, schien seine letzte Arbeit. „Das Labyrinth meines Buchs schlägt zusammen über mir“, hieß es im letzten kurzen Absatz des im März 1989 abgeschlossenen Romans. „Meine Muskeln sind zergangen. Ich habe endlich meine Kinderbeine und meine Kinderarme wieder.“ In den darauf folgenden anderthalb Jahren verschlechtert sich sein Zustand weiter. Sein Gewicht beträgt nur noch 52 Kilo. Guibert fühlt sich am Ende. Erst als er über einen Freund an das noch in der Erprobung befindliche und schwer zu erhaltende Medikament DDI gelangt, geht es ihm wieder besser. Er kann wieder arbeiten. Die ursprünglich für einen an Aids gestorbenen Tänzer be stimmten DDI-Dosen geben ihm neue Kraft. Das DDI des toten Tänzers schreibe sein Buch, notiert er. In nur sieben Wochen entsteht das Mitleidsprotokoll.

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Weitere Arbeiten folgen: L’homme au chapeau rouge, der dritte Band seiner Aids-Trilogie, außerdem der kurze Roman Mon valet et moi und ein Cytomegalovirus überschriebenes Tagebuch eines Klinikaufenthalts. Schließlich dreht der Aidskranke auch noch im Auftrag einer Fernsehproduzentin seinen ersten Videofilm, der einen Monat nach seinem Tod im französischen Fernsehen gezeigt wird: La pudeur ou l’impudeur – Die Scham oder die Schamlosigkeit, ein knapp einstündiger Film, dessen Ausstrahlung auch aufgrund von Bedenken des nationalen Rates für Aids immer wieder verschoben worden war. Mit verschiedenen Äußerungen hatte Guibert schließlich auch einige Mitglieder von Hilfsorganisationen empfindlich getroffen. „Aids wurde zum gesellschaftlichen Lebenszweck etlicher Leute, zu ihrer Hoffnung auf Ansehen und öffentliche Anerkennung“, behauptete er in seiner Geschichte vom Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Er sei böse, böse wie ein Kind, sagt einer von Guiberts Freunden im Mitleidsprotokoll und meint: „Du kennst ja wohl deine Bücher, oder?“ Doch das scheinbar mit großer Distanz und Kälte geschriebene Werk ist vielschichtiger, als dass es sich so einfach auf einen Begriff bringen ließe. So ist auch in den stellenweise bösartig klingenden Beschreibungen noch „das Lied von der Güte“ zu entdecken. „Ich glaube nicht“, schreibt dann auch Guibert, „dass meine Bücher böse sind. Wohl spüre ich, dass sie unter anderem von Wahrheit und Lüge durchzogen sind, von Verrat, von diesem Thema der Bosheit, doch würde ich nicht sagen, sie seien grundlegend böse. Ich kann mir kein gutes Werk vorstellen, das böse wäre. Das berühmte Gefühl des Sade’schen Zartgefühls. Mir scheint, was ich hervorgebracht habe, ist ein barbarisches und zartfühlendes Werk.“ Dass er von sich und seinem Werk überzeugt ist, verbirgt Guibert nicht. Immer habe er gewusst, dass er ein großer Schriftsteller sein würde, und „dass ich eines Tages einen großen Erfolg mit einem meiner Bücher erleben und dass dieses Buch alle anderen bekannt machen würde“, schreibt er im Mitleidsprotokoll und zeigt sich mit seinen Eitelkeiten und Widersprüchen, weist wiederholt auf die Reaktionen berührter Leser seines vorangegangenen Romans und macht es seinen Kritikern leicht, ihm „Narzissmus als Methode“ vorzuwerfen. Angesichts solcher Vorwürfe hatte ihn einmal ein Freund so zu beruhigen versucht: „Was wollen Sie denn, Hervé, die sind alle wahnsinnig vor Eifersucht; Sie sind schön, Sie sind jung und zu allem Überfluss haben Sie auch noch Talent.“ Hervé Guibert ist zugleich Autor und Figur. Radikal geht er von sich aus. Entblößt sich bis auf die Haut. Enthüllt das Selbst – schamlos und

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voller Scham. Mit Wörtern und Bildern. Der verletzte, verwundete, von der Krankheit gezeichnete Körper wird beschrieben und gezeigt. Guibert, der es immer abgelehnt hatte, sich nackt fotografieren zu lassen, steht nun nackt da, „nackt in den Händen des Masseurs und die Kamera läuft. Die Nacktheit ist zu etwas anderem geworden, sie ist asexuell, das Geschlechtsteil hat von nun an keine andere Wertigkeit mehr als ein Finger oder das Haar.“ Nichts ist mehr, was es war. Die Zunge und die Unterseite der Zunge, „was geküsst hat und was vom Geschlecht von Männern und Jungen erfreut worden ist“, wird jetzt von einer Ärztin mit dem Leuchtstab inspiziert. Und wie ein Arzt betrachtet auch Guibert seinen Körper. „Heute würde ich gern an einem Seziertisch arbeiten“, stellt er fest und erinnert sich an den Wunsch seines Vaters, der ihn Medizin studieren lassen wollte. Durch die Krankheit, deren Auswirkungen er minutiös beschreibt, kommt es ihm nun so vor, als würde er den Medizinberuf erlernen und ausüben zugleich. „In der Literatur liebe ich die medizinischen Berichte, die, in denen die Krankheit ins Spiel kommt, über alles: Tschechows Erzählungen, in denen es um seine Kunst als Arzt und die Beziehungen zu manchen seiner Patienten geht, die ihm erlauben, merkwürdige Schicksale zu schildern.“ Die Schicksale und Geschichten, die Begegnungen und Beziehungen der Menschen, von denen Hervé Guibert im Mitleidsprotokoll erzählt, sind fast ausnahmslos bestimmt und verändert worden durch die Krankheit, deren Namen er oft nur schwer aussprechen kann. „Wie viel Mühe ich wieder habe, das Wort auszusprechen“, notiert er in dem autobiografischen Protokoll, dessen Bedeutung nicht allein in der schonungslosen Auseinandersetzung mit Aids liegt. Wie schon der vorangegangene Band hebt das Protokoll sich entschieden ab von der üblichen Betroffenheitsliteratur und den literarisch eher belanglosen Szene-Publikationen zum Thema. Es ist Krankengeschichte und Liebesroman, Abenteuer- und Reiseerzählung, Forschungsbericht und Pamphlet. Es ist auch mehr als nur eine Fortsetzung von dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Zwar ist die äußere Struktur vergleichbar, gliedert Guibert seinen Roman wieder in einzelne, nicht unbedingt aufeinander bezogene Abschnitte unterschiedlicher Länge, doch sind trotzdem deutliche Veränderungen zu bemerken: Sehr viel freier geht der Autor nun mit seinem Thema um, löst sich von ihm, reagiert weniger aggressiv und gelangt stellenweise zu einer unvermuteten Leichtigkeit. „Ich habe diesen Bericht begonnen, der, mag er auch düster sein, mir eine gewisse Fröhlichkeit zu haben schien, die von der Dynamik des Schreibens herrührt“, notiert er schon auf einer der ersten Seiten, erzählt vom sterbenden Körper und feiert das Leben. „Ich bin glücklich“,

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bekennt er. „Ja, ich muss es wirklich eingestehen, und ich glaube, dies ist das gemeinsame Schicksal aller auf den Tod Erkrankten, mag es auch jämmerlich und lachhaft sein, nachdem ich so sehr vom Tod geträumt habe, verspüre ich nun eine schreckliche Lust zu leben.“ Von dem Erstaunen und dem Schmerz, der Wut und der Traurigkeit eines Mannes von 35 Jahren, in den der Körper eines Greises eingepflanzt wurde, erzähle das Mitleidsprotokoll, stellte Hervé Guibert einmal fest. Aids habe ihn eine Zeitreise vollführen lassen, „wie in den Märchen, die ich als Kind las. Durch den Zustand meines Körpers, der abgezehrt und geschwächt ist wie der eines Greises, habe ich mich, ohne dass die Welt um mich herum sich so schnell bewegt hätte, ins Jahr 2050 geschnellt. 1990 bin ich fünfundneunzig Jahre alt, dabei bin ich 1955 geboren.“ Detailliert beschreibt er den täglichen Kampf mit dem vor seiner Zeit alt gewordenen Körper, die Mühe, die es den Gebrechlichen kostet, aus einer Badewanne aufzustehen, sich anzuziehen, einen Autobus zu besteigen. Und wenn er auf der Straße jungen Männern begegnet, registriert er zwar noch immer „ästhetische Empfindungen, oder erotische, doch die Eventualität von Sexualität scheint mir entweder unmöglich oder unerträglich.“ Er habe mittlerweile Angst vor der Sexualität, befinde sich erotisch in einer Art anhaltendem Koma, notiert der 35Jährige und stellt fest: „Das Skelett, zu dem ich geworden bin, hat offensichtlich nicht den Mut, sich an den jungen Männern zu wärmen, und es ist darauf kein bisschen stolz.“ Auch zu seinen langjährigen Freunden hat er keine körperlichen Beziehungen mehr. Berührungen sind nur noch Erinnerungen. „Ich kannte seinen Körper auswendig. Er hatte sich dem Inneren meiner Finger eingeprägt, ich brauchte es nicht mehr wirklich zu tun.“ Immer wieder geht es Hervé Guibert um Nähe und Distanz, Sehnsucht und Verletzungen, Zärtlichkeit und Gewalt, Liebe. Auf nur zwei Seiten erzählt er eine der schönsten und brutalsten Geschichten seines Romans: die Begegnung mit Djanlouka, einem Dorfjungen auf Elba, den er schon als Kind begehrt hatte und der ihn nun auf seinem roten Motorrad besucht. „Sein Wiederauftauchen hatte etwas Bedrohliches an sich, und etwas unsagbar Zärtliches.“ Djanlouka will den Kranken nackt sehen, „das Schauspiel meines Skeletts“, und mit ihm schlafen. Der Akt erinnert an Szenen aus dem Film L’homme blessé, dessen Drehbuch Hervé Guibert zusammen mit Patrice Chéreau verfasst hatte. Jetzt, im Mitleidsprotokoll, schreibt er: „Er stellte mich hin, trocken, und lehnte meinen Körper an den Rand der Zisterne. Es tat mir weh, keinerlei Genuss, ich war verwirrt. Djanlouka war schnell fertig mit sei-

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ner Besorgung.“ Der Akt ist zu Ende. „Er hatte getan, was er zu tun hatte, und ich wusste, er würde nicht wieder darauf zurückkommen.“ In solchen Passagen, in denen er unspektakulär ungeheuerliche Geschichten erzählt, erweist sich Guibert als Meister der Verknappung, der die großen Gefühle nicht aussparen muss, weil sie peinlich wirken könnten – dieser Gefahr erliegt er an keiner Stelle. Schwächen werden eher in einigen Wiederholungen und einzelnen koketten Spielchen sichtbar, in den Hinweisen auf sein erlesenes Umfeld. Auch gewinnen manche Figuren keine Kontur und bleiben blass – in erster Linie jene, die schon in dem Roman vom Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat vorkamen, und deren Geschichte nun als bekannt vorausgesetzt wird. Für den Leser, der Jules und Berthe, David, Stéphane, Dr. Chandi und andere dem Erzähler nahestehende Personen noch nicht kennt, dürfte es schwer sein, sich zurechtzufinden und Interesse aufzubringen für die Fortsetzung ihrer Geschichte. Sich selbst gegenüber sei er der Voyeur, der Dokumentarist, schreibt Guibert im Mitleidsprotokoll. Sein Blick scheint dabei mitleidslos, schont weder sich noch andere. Im Hospital sieht er auf dem Flur Patienten, die ihm wie junge Leichen vorkommen, „mit Glutaugen, wie auf Plakaten von Horrorfilmen, in denen die Toten aus ihren Gräbern steigen und schwankend ein paar Schritte tun. Mir scheint, ihnen geht es schlechter als mir, aber vielleicht lebt ein derartiger Narzissmus noch in dem übelst zugerichteten Menschen fort, dass er immer nur dazu imstande ist, die Verwüstung der anderen zu bemerken.“ Doch Guibert sieht nicht nur die Verwüstung. Bei aller Direktheit bleibt er differenziert. Liebevoll und nicht ohne Humor porträtiert er einzelne Figuren seines Romans. Zum Beispiel den „Tunesier“, einen Heiler, den er in Casablanca aufsucht, und den er sich vorgestellt hatte als einen sehr alten, ganz faltendurchfurchten Mann mit zarten und zerknitterten Händen. Doch die Klischeevorstellung erfüllt sich nicht. „Die Tür öffnet sich: er ist Operettensänger. Luis Mariano, Georges Guétary, Rudy Hirigoyen in ihrer Glanzzeit. Ein großer vierschrötiger Mann, ganz in Weiß gekleidet.“ Neu tritt auch eine andere Figur in Guibers Welt: Claudette Dumouchel, eine in einem Pariser Hospital arbeitende junge Ärztin. Zwischen ihr und dem Erzähler entwickelt sich im Verlauf der immer wieder durchgeführten Untersuchungen eine seltsame Beziehung, schroff und verständnisvoll, fremd und vertraut. „Eine Beziehung, die vielleicht etwas mit Liebe zu tun hat, wer weiß.“ Um Liebe geht es auch in seiner Beziehung zu Suzanne, der 95-jährigen Tante, die der 35-jährige Aidskranke nun als Gleichaltrige erlebt. „Wir sind fast gleich in unseren Körpern und in unseren Gedanken“,

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stellt er fest, beschreibt das immer noch zarte und erotische Fleisch der Greisin und streichelt sie nicht nur mit Worten. „Wir sind zwei sterbende Kranke, die noch ein wenig Wollust auf Erden suchen, bevor wir uns in der Hölle wiederbegegnen. Suzanne sagt zu mir: ‚Eine Hand tut so wohl. So wohl, dass ich mich gar nicht erinnern kann, was ich hatte, bevor ich diese Hand da hatte.‘“ Wie Suzanne hört auch Guibert keine Musik mehr, und auch die Lektüre interessiert ihn nicht mehr. „Ich sehe lieber den Vögeln zu, die vorüberstürzen wie vom Wind losgerissenes Laub.“ Am 13. August 1990 beendet Hervé Guibert sein Buch. „Die Zahl 13 bringt Glück. Aus meinen Analysen ist eine deutliche Besserung zu erkennen, Claudette lächelt (ob sie mich belügt?). Ich habe begonnen, einen Film zu drehen. Meinen ersten Film.“ Themen, Motive, Figuren des Romans tauchen im Bild wieder auf. Die Ärztin Claudette Dumouchel. Suzanne und ihre 85-jährige Schwester Louise, mit denen Guibert über Aids spricht und den körperlichen Verfall, den Tod und die Möglichkeit eines Suizids, für den er seit Langem zwei Digitalis-Fläschchen bereithält. Die von ihm aufgestellte Videokamera zeigt den aidskranken Schriftsteller in seiner Wohnung und in der Klinik. Zwischen Büchern und Medikamenten. Auf der Toilette und im Bad. Im roten Samtsessel und auf dem Operationstisch. Bei der Gymnastik und unter den Händen des Masseurs. Beim Schattenboxen und an der Schreibmaschine. Die Einstellungen sind fast immer statisch. Die Bewegungen gehen von den Menschen aus. Zu sehen sind alltägliche Situationen, „nichts Besonderes“: Ein junger Mann, der sich kaum bewegen kann, und dem schon das Anziehen einer Jacke sichtbar Schmerzen bereitet, die begrenzte Welt eines Kranken, der am Telefon mit nicht sichtbaren Freunden spricht. „Die Wörter sind schön, die Wörter sind stimmig, die Wörter sind sieghaft“, schreibt Guibert. Und wie die Wörter setzt er immer wieder auch einzelne Filmbilder gegen die Krankheit. Der Todkranke tanzt. Reist nach Elba. Das Licht wird heller. Die Farben leuchten. Der Blick des Bildersammlers fällt auf die einfachen Dinge. Eine Bank. Ein Apfel. Ein Korb mit Früchten. Ein Schmetterling im Fenster. Ein Bild an der Wand. Ein gedeckter Tisch. Ein Bett. Menschen kommen in diesen Stillleben nicht vor. Die Welt des Aidskranken scheint entvölkert. Einmal liegen zwei Teddybären auf seinem Bett und umarmen sich, nehmen Liebeshaltungen ein und erinnern an eine lange zurückliegende Zeit.

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EIN STERN FÄLLT Der Sänger Joseph Schmidt -

Zürich, Unterer Friesenberg, Israelitischer Friedhof, Grab Nr. 2331. Ein Blumengesteck mit roter Kerze leuchtet. Der Grabstein ist schwarz. „Ein Stern fällt …“ ist auf dem Stein zu lesen und: „Joseph Schmidt Kammersänger 1904–1942“. Dazwischen der Davidstern. Das Grab, heißt es, sei eines der meistbesuchten auf dem Friedhof. „Ein Stern fällt vom Himmel, ein funkelnder Stern, bringt wie eine Botschaft von fern uns das große Glück. Ein Stern fällt …“ Nur wenige Kilometer entfernt, in Rüti bei Zürich, hat Alfred Fassbind das „Joseph-Schmidt-Archiv“ eingerichtet. Der 44-Jährige Biograf und Nachlassverwalter des Sängers öffnet die Tür zu einem Zimmer im Souterrain des Hauses und sagt: „Da lebt Joseph Schmidt.“ Zu sehen sind Spuren einer Legende: Platten und Fotos, gestapelt und in Alben archiviert, Programmzettel und Briefe, amtliche und persönliche Dokumente, ein zerschlissener Toilettenkoffer des vor den Nazis durch halb Europa geflohenen Tenors, ein Schrank aus dem Schweizer Gasthofzimmer, in dem der 38-Jährige starb, und ein blau-weißes Taschentuch des einst Weltberühmten. Während er es ausbreitet und zu dem Toilettenkoffer und den Bildern legt, hält Alfred Fassbind kurz inne: „Schon traurig, was von so einem Mann übrigbleibt.“ Auf dem Videoband, das er mir später zeigt, singt Joseph Schmidt vor mehr als 100 000 Besuchern eines Open-air-Konzertes in Holland und wirkt dabei so entspannt und natürlich, als singe er für ein paar Freunde einen seiner populären Schlager – „Nur wer die Sehnsucht kennt …“ Berlin, 9. Mai 1933. Eine glanzvolle Premiere im Ufa-Palast: „Ein Lied geht um die Welt“. 3000 Zuschauer feiern begeistert den Hauptdarsteller des Films, Joseph Schmidt. Der 29-Jährige hat den Höhepunkt seiner Karriere in Deutschland erreicht. Unter denen, die dem am 4. März 1904 in Davideny in der Bukowina geborenen und in Czernowitz aufgewachsenen Sänger an diesem Premierenabend applaudieren, ist auch Joseph Goebbels. Er liebe Joseph Schmidt, heißt es, und dass er den Juden zum Ehrenarier ernennen wolle. Doch dazu kommt es nicht. Am Abend des folgenden Tages brennen nicht nur in Berlin die Bücher. „Was wir wollen (und erreichen werden!), sieht wahrlich anders aus“, schreibt der Völkische Beobachter nach der Filmpremiere und weist auf die kommende Zeit: „Das Lied, das heute durch Deutschland klingt, hat

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anderen Rhythmus, hat schärferen Marschtritt, hat aufpeitschendere Melodien, kommt aus ehrlicherem Herzen als das, was wir in dem Film hörten. Der Marschtritt eines Millionenvolkes hat nichts mit dem zu tun, was uns ein Volksfremder vortäuschen will! Möge dieses Lied um die Welt gehen, es wird übertönt werden vom Lied der nationalen Revolution. Der Gleichschritt der Millionen Braunhemden wird mit seinem Lied ‚Die Straße frei den braunen Bataillonen‘ erkennen lassen, welche Töne in Deutschland angeschlagen werden müssen!“ „Land, so wunderbar“ hatte Joseph Schmidt 1929 bei seinem vielbeachteten Debüt im Berliner Rundfunk gesungen. „Die Popularität des Rundfunks hat gestern einen Sieg davongetragen“, meldete die Vossische Zeitung, und: „Den Radiohörern war es vorbehalten, das Debüt eines Tenors zu erleben, dessen ungewöhnlicher Stimmglanz, dessen besonderes Timbre sofort aufhorchen ließen.“ Knapp vier Jahre später, am 20. Februar 1933, findet Schmidts letzter Auftritt in einem deutschen Sender statt. Und noch Ende 1933 sucht der nun nicht mehr erwünschte Sänger Zuflucht in Österreich. Die Meldebestätigung der Polizeidirektion in Wien verzeichnet den 20. Dezember 1933 als Einreisedatum und das „Grand Hotel“ als Aufenthaltsort des prominenten Film- und Plattenstars, der von Wien aus in allen Teilen Europas gastiert und 1934 auch mehrere Konzerte in Palästina gibt. Auf dem amtlichen Meldezettel stehen als An- oder Abreiseorte unter anderem Prag, Amsterdam, Lodz, Bern und London, wo Joseph Schmidt englische Versionen seiner Erfolgsfilme dreht und mit „My Song Goes Round the World“ und „A Star Fell From Heaven“ auch international Erfolg hat. Der letzte deutschsprachige Film des Tenors hat 1936 in Wien Premiere: Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben … Seine Filmpartner sind überwiegend Emigranten wie er. Doch strahlend wie immer singt der aus Deutschland Vertriebene, dass er mit keinem tauschen wolle, „wer’s auch ist und wer’s auch immer sei. Heut’ will ich mich berauschen, morgen ist’s vielleicht vorbei. Heut’ ist der schönste Tag …“ Ein anderes Lied in diesem Film hat den Titel „Wenn nicht die Hoffnung wär’“. Doch die Braunhemden rücken weiter vor. Im März 1938, wenige Tage vor dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland, flüchtet Joseph Schmidt aus Wien. Der Meldezettel registriert den 7. März 1938 als Ausreisedatum. Reiseziel: „Unbekannt“. Gehetzte Menschen war der Titel eines 1932 entstandenen Films, in dem neben einer „Dame ohne Unterleib“ und einer „Frau mit dem Vollbart“ auch Joseph Schmidt als „Der unsichtbare Tenor“ auf dem Programmzettel auftauchte. Nach 1933 wird der Film von den Nazis „gereinigt“, und statt des jüdischen Sängers ist fortan nur noch ein Orchester

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mit italienischen Weisen zu hören. Auch im Archiv des Rundfunks werden Spuren des populären Tenors gelöscht. Und Zeitungslesern, die sich noch immer positiv über den Verfemten äußern, wird in sogenannten Briefkastenrubriken mitgeteilt: „Wir können Ihnen nicht beipflichten, dass Joseph Schmidt der beliebteste Tenor der Jetztzeit wäre und die ganze Welt seine Stimme für gottbegnadet hielte. Wie wir über die Stimme des Herrn Schmidt denken, haben wir unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Der beliebteste Tenor der Welt ist jetzt Benjamino Gigli.“ Der hatte schon 1935 zugunsten der „Winterhilfe“ gesungen, wofür er den persönlichen Dank Hitlers entgegennehmen konnte. Joseph Schmidt zählte dagegen zu den Künstlern, die 1937 in der Ausstellung Entartete Kunst diffamiert wurden. In der berüchtigten Schau waren neben seinem Foto alberne Schlagertitel zu lesen, die er nie gesungen hatte. Kommentar der Ausstellungsmacher: „Zu den damaligen Rundfunklieblingen zählte neben dem Schauspieler Fritz Kortner auch der Tenor Joseph Schmidt, der seine Zuhörer mit blödsinnigen Schlagern zu unterhalten versuchte.“ „Kein zweiter war so weit entfernt vom sentimental-tümelnden Zugang, mit dem die Spieloper und Operette verhunzt worden ist. Schmidt singt mit leidender Inbrunst – und in seinen größten Momenten mit einer todberührten Stimme“, schreibt Jürgen Kesting in seinem Standardwerk Die großen Sänger, in dem mancher Kollege des Tenors herbe Kritik einstecken muss. „Es gibt – selten, ganz selten – Stimmen mit einem Unterton von Trauer, mit einem wahrhaft tragischen Klang. Es ist der Klang, der in die Tiefe des Herzens dringt und weniger ästhetisch erlebt als erlitten wird. Carusos Stimme war erfüllt von diesem ‚schluchzenden Leid‘, in Joseph Schmidts Stimme war diese Träne …“ Selbst in einem Schlager oder einer Canzone wie „O sole mio“ vermochte Joseph Schmidt etwas von dieser Trauer zu vermitteln – ohne ins Pathetische abzurutschen. Joseph Schmidts Stimme galt nicht zuletzt als „gottbegnadete Mikrofonstimme“, wie eine Fachzeitschrift schon 1930 feststellte. „Die Stimme ist vorzüglich geschult, klingt weich und hat trotzdem eine seltene Kraft. In der Mittellage ist sie voll und abgerundet – strahlend in den Höhen. Die Atemtechnik ist vollkommen. Wenn man Schmidts Platten spielt, so hat man nicht nur das Bild eines stimmlich selten begabten Sängers vor sich, sondern auch eines Künstlers von Kultur.“ Er selbst verstand sich auch als „Priester der Kunst“ und glaubte: „Mensch und Künstler müssen untrennbar sein; denn wer kein Mensch ist, kann auch kein Künstler sein. Wer kein Herz hat, kann auch keine seelenvolle Stimme haben.“ Und vor dem Mikrofon, das die Großaufnahme des

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Gesanges ermögliche und die feinsten Schwingungen verdeutliche und verstärke, „habe ich immer das Gefühl: Ich singe es jedem einzelnen Hörer ins Ohr, obwohl ich mir ununterbrochen bewusst bin, dass es eine Millionenmenge ist, die mir zuhört“. Den Säuberungsaktionen der Nationalsozialisten fielen etliche Aufnahmen von Joseph Schmidt zum Opfer, unter ihnen auch einige der vor 1933 entstandenen Konzertmitschnitte des Rundfunks, bei denen Joseph Schmidt unter bedeutenden Dirigenten wie Bruno Walter gesungen hatte. „Diese Tondokumente hätten den Sänger Joseph Schmidt wohl vor Fehleinschätzungen späterer Generationen zu bewahren vermocht. Sie könnten zusätzlich beweisen, dass er weit mehr als ein Interpret strahlender Filmschlager war“, schreibt Alfred Fassbind in seiner 1992 zum 50. Todestag des Sängers veröffentlichten Biografie, in der er etliche Legenden zerstört und neue Einblicke in Leben und Werk des Tenors gibt. Im Rahmen seiner Forschungsarbeit konnte er auch einige Aufnahmen wiederentdecken, die jahrzehntelang verschollen waren – darunter die religiösen Gesänge von Joseph Schmidt, die für Fassbind „den wahren Höhepunkt seiner umfangreichen Diskografie“ darstellen und mittlerweile als CD vorliegen. „Besonders die in hebräischer und aramäischer Sprache gesungenen Titel erwecken Verständnis für jene, die schon in Schmidts Czernowitzer Zeit bedauerten, dass er sich ‚leider‘ auch weltlicher Musik zuwende.“ Schon früh war der aus einer strenggläubigen Familie kommende Tenor schließlich als Tempelsänger aufgefallen und hatte in der Synagoge von Czernowitz gesungen – in jenem Czernowitz, das zu Beginn des Jahrhunderts noch zur Donaumonarchie gehörte und nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien fiel, eine Stadt, aus der auch Dichter wie Paul Celan und Rose Ausländer kamen. „Altjüdisches Volksgut, chassidische Legenden lagen in der Luft, man atmete sie ein“, erinnerte sich die 1901 in Czernowitz geborene Lyrikerin später in einem Prosatext. In einem ihrer Gedichte heißt es: „Die Heimat versank / unter stürzender Brücke.“ 1938. Nach seinem fluchtartigen Aufbruch aus Österreich wird Belgien zur nächsten Station von Joseph Schmidts Fluchtweg durch Europa. Er lässt sich in Brüssel nieder und kann sich einen Traum erfüllen: 1939 steht der 1,54 Meter große Sänger in Brüssel zum ersten Mal in einer Operninszenierung auf der Bühne, in Puccinis „La Bohème“. Der Auftritt wird zwiespältig aufgenommen. Das Publikum feiert ihn, Kritiker bemängeln, dass der Sänger zu klein sei, seine Erscheinung zur Karikatur neige und er in seinem Samtmantel „eher wie ein Teddybär und nicht wie der Dichter Rudolf“ aussehe. Wie Joseph Schmidt auf solche Verletzungen reagierte, ist nicht überliefert.

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Schauspieler habe er werden wollen, hat Joseph Schmidt wiederholt erklärt. Doch er habe eingesehen, „dass mein Kindertraum, Schauspieler zu werden, niemals Erfüllung finden kann, da mir nun einmal die gewissen zwanzig Zentimeter mehr versagt geblieben sind – allerdings helfen mir meine Erfolge als Sänger, um über diesen Schmerz, der mich einmal unglücklich zu machen drohte, hinwegzukommen“. Später, in seinen Filmen, ließ man ihn über nicht sichtbare erhöhte Laufstege laufen oder stellte ihn auf Podeste. Als er 1937 zum ersten Mal in der Carnegie Hall in New York sang, kündigte ihn die Presse als „The tiny man with the great voice“ an. Die äußere Erscheinung von Joseph Schmidt bot immer wieder Stoff für Spekulationen und Klischees. Er sei ein Zwerg, hieß es, von Narben entstellt und so hässlich, dass er eine Larve tragen müsse. Zur Legende gehört auch das Bild vom einsamen und von Trauer umwehten Sänger – ein Bild, das so nicht stimmt. Joseph Schmidt sei fröhlich gewesen, sagt Alfred Fassbind, und auch in Filmausschnitten wirkt er keineswegs nur wie eine tragische Gestalt, sondert vermittelt eher eine Lust am komödiantischen Spiel – und sehr viel Charme. Eine seiner Verehrerinnen meinte dann auch später: „Joseph konnte seinen Charme aufdrehen wie eine Festbeleuchtung, und niemand vermochte sich seiner Ausstrahlung zu entziehen.“ Die Amouren des Verehrten waren nicht unkompliziert – waren es doch häufig verheiratete Frauen, zu denen sich Joseph Schmidt hingezogen fühlte „Was soll ich tun – ich liebe Ihre Frau“, gestand er einem Ehemann. Und auch die Mutter seines 1935 geborenen Sohnes Otto war noch mit einem anderen verheiratet, als das Kind zur Welt kam. Später soll zwar eine Eheschließung „nach jüdischem Ritus“ stattgefunden haben, doch wurde diese Ehe nie anerkannt, da einige Angaben auf der Heiratsurkunde offensichtlich falsch waren und die Unterschrift des Rabbiners fehlte. Joseph Schmidt habe sich auch immer als unverheiratet eingetragen, berichtet sein Biograf. Am Ende scheint die leidenschaftliche Beziehung auch merklich abgekühlt. In Briefen an Freunde bezeichne Joseph Schmidt die Mutter seines heute in Belgien lebenden Sohnes nur als „jene“. Ungetrübt scheint nur eine Beziehung: die zu seiner Mutter. Joseph Schmidt bezog sich immer wieder auf sie und nannte sie mehr als einmal „meine beste Freundin“. Immer wieder auch besuchte er sie in Czernowitz oder holte sie zu seinen Konzerten. Die enge Verbindung zu ihr könnte auch einer der Gründe sein, warum Joseph Schmidt bereits vorliegende Konzertverträge für Gastspiele in Amerika in den Jahren 1939/40 nicht unterzeichnete. Er habe die in Rumänien festsitzende

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Mutter nicht zuru ̈ cklassen wollen, glaubt Fassbind. Außerdem habe Schmidt sich sehr mit Europa verbunden gefu ̈ hlt und mo ̈ glicherweise an seinem Erfolg in Amerika gezweifelt. Bis heute unklar ist auch, was aus dem Vermögen von Joseph Schmidt wurde und wo die Konten waren, auf welche die Einnahmen des Sängers eingezahlt wurden. So soll er allein für einen Dreiminutenauftritt in Amerika 10 000 Dollar erhalten haben und damit einer der höchstbezahlten Stars gewesen sein. Doch an dieses Geld kam er später nicht mehr heran, so dass er schließlich gezwungen war, sich bei guten und weniger guten Freunden Geld leihen zu müssen, um überleben zu können. „Wenn du jung bist, gehört dir die Welt“ hatte Joseph Schmidt in einem seiner Erfolgsfilme gesungen. Am Ende seines Lebens klafften die Versprechungen der Lieder und die Realität immer weiter auseinander. Nach der Besetzung Belgiens war Joseph Schmidt 1940 wieder auf der Flucht. Vorläufiges Ziel: Frankreich. Im November 1940 wird die Einreise des 36-Jährigen von der Polizeipräfektur in Lyon bestätigt. Doch der Kreis wird enger. Die deutschen Truppen rücken weiter vor. Joseph Schmidt flieht in den noch unbesetzten Süden. Eine Ausreise nach Südamerika scheitert. Im Mai 1942 hat der Tenor seinen letzten öffentlichen Auftritt: In der Oper von Avignon singt er drei französische Arien. Joseph Schmidts Versuche, von Südfrankreich aus in die neutrale Schweiz einreisen zu können, schlagen fehl. Das Boot war voll. Am 8. Oktober 1942 gelangt er schließlich illegal über die Grenze. Der Flüchtling ist fast mittellos und kommt in einer kleinen Pension in Zürich unter. Freunde versuchen, eine Auftrittserlaubnis für den Sänger zu bekommen. Sie wird abgelehnt „Aus grundsätzlichen Erwägungen können wir den in der Schweiz aufgenommenen Flüchtlingen weder gestatten, irgendwelche Erwerbstätigkeiten auszuüben, noch ohne Entgelt zu arbeiten oder sonstwie in der Öffentlichkeit aufzutreten. Wenn wir bei Joseph Schmidt eine Ausnahme machen würden, würde das, weil er in Flüchtlingskreisen sehr bekannt ist, weitere und weitergehende Begehren und Gesuche hervorrufen.“ Bei einem Pfandleiher versetzt Joseph Schmidt das letzte Wertstück: eine goldene Taschenuhr, die er 1932 als beliebtester Rundfunkstar in Berlin erhalten hatte. Von den Behörden wird Joseph Schmidt in das Internierungslager Girenbad bei Zürich eingewiesen. Bereits kurz nach seiner Ankunft erkrankt der Sänger. Mit einer Halsentzündung kommt er in eine Klinik nach Zürich. Seine Hinweise auf Schmerzen in der Brust werden nicht beachtet. „Man hält mich für einen Simulanten“, klagt Schmidt und wird nach dem Abklingen der Entzündung wieder ins Lager zurückgeschickt. Am 15. Oktober trifft er dort wieder ein. Am Morgen des folgenden

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Ein Stern fällt

Tages geht er in den nahe gelegenen Gasthof „Waldegg“, in dem die Internierten etwas Warmes zu trinken bekommen. Die Wirtin überlässt Joseph Schmidt ein Sofa, auf dem er sich ausruhen kann. Der Erschöpfte legt sich hin und stirbt. Die Neue Zürcher Zeitung notiert unter der Rubrik „Kleine Meldungen“: ,,Am Montag ist in einem schweizerischen Internierungslager der durch den Film Ein Lied geht um die Welt bekannt gewordene Tenor Joseph Schmidt, der vor einigen Jahren auch als Konzertsänger in der Tonhalle auftrat, gestorben.“ Die Eintragung im amtlichen Sterberegister lautet: „Montag 16. November 1942, Schmidt, Joseph – 38 Jahre, 8 Monate, 12 Tage, staatenlos.“ „Ein Stern fällt vom Himmel, da leuchtet die Welt, wunderbar und magisch erhellt, einen Augenblick …“ Im Gasthaus Waldegg wird Karten gespielt. Im Innern erinnert nichts an den Sänger, der hier starb. Nur eine Gedenktafel an der Fassade weist noch auf ihn. ,,In diesem Hause starb am 16. November 1942, 38 Jahre alt, einer der berühmtesten und beglückendsten Sänger der Welt JOSEPH SCHMIDT als Flüchtling und unschuldiges Opfer einer gnadenlosen Zeit. Dankbare Freunde.“ Alfred Fassbind sagt: „Immer wenn diese Stimme kam – da sprang irgendetwas über, was man nicht erklären kann.“ „Ein Stern fällt vom Himmel …“

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MEHR ALS EIN LEBEN Die Schriftstellerin Anja Lundholm und die Geschichte einer Familie in Deutschland -

Wenn man ein Thema auch nur antippe, dann erzähle sie, sagt Anja Lundholm gleich nach der Begrüßung. „Ich bin voller Geschichten.“ Dass manches in ihrer Lebensgeschichte nach Kolportage klingt, weiß sie. „Das klingt ja wirklich wie eine Räuberpistole“, stellt sie einmal fest. Ein andermal scheint ihr ihr Leben „fast schon ein Hintertreppenroman. Aber das ist nun einmal mein Leben gewesen. Ich kann’s nicht ändern.“ Anja Lundholm hat mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben, in denen sie Spuren ihres Lebens und deutscher Geschichte nachgegangen ist. Das wohl wichtigste erschien 1988: Das Höllentor, Anja Lundholms Bericht über das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, das sie als eine von wenigen überlebte. Bei der Auflösung des Lagers im April 1945, bereits auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung, hatte sie bei einem Bombenangriff fliehen und sich auf einer Landstraße in den Strom anderer Flüchtlinge einreihen können. Der Weg zurück ins Leben sei lang gewesen. „Ich konnte mich nicht hineinleben in die hiesige Welt. Ich war immer noch Häftling – und bin auch heute noch nicht heraus.“ Sie wolle verstehen, sagt Anja Lundholm, verstehen, was Menschen bewege. „Ich war immer wahnsinnig interessiert an Psychologie. Mit neun wollte ich Psychiaterin werden. Ich hatte immer einen ungeheuren Drang, Menschen zu durchleuchten. Was ist der Mensch? Was steckt an Potenzial im Menschen? Was hat sie so gemacht?“ Was bringt zum Beispiel einen SS-Mann in Ravensbrück dazu, scheinbar liebevoll mit einem Dreijährigen zu spielen und ihn Sekunden später mit dem Kopf gegen eine Mauer zu schleudern? Und was geht in einer jungen KZ-Aufseherin vor, die ein am Boden liegendes jüdisches Mädchen zu Tode prügelt? „Warum tun Sie das?“, fragte Anja Lundholm die etwa 18-jährige Aufseherin. Mit hellblauen Augen habe die sie angesehen, und in ihrem Blick sei kein Hass, keine Wut, keine Verachtung gewesen – nur ein Anflug von Erstaunen. „Das ist doch kein Kind“, habe sie schließlich gemeint, und ob sie denn nie den Stürmer gelesen habe? Da stehe doch auch, dass das nur Satansbrut sei. „Es waren Menschen, gute und schlechte, beeinflussbare, weniger beeinflussbare. Wir haben die menschliche Natur in all ihren Varianten gesehen – und das nimmt die letzten Illusionen“, erklärt Anja Lundholm

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in ihrer Wohnung im Frankfurter Ostend, die wie eine Höhle wirkt. „Wir wissen einfach: Der Mensch ist zu allem fähig. Und er ist beeinflussbar, lenkbar.“ Das mache natürlich Angst. Auch für die Zukunft. „Eine immense Angst.“ Anja Lundholms Geschichte ist auch eine Geschichte des Widerstands. Gestern und heute. Als „Spätfolge aller Krankheiten, die wir im Lager hatten“, leidet sie an multipler Sklerose. Bei schonender Lebensweise hätten ihr die diagnostizierenden Ärzte noch ein Jahr gegeben – „das war vor neun Jahren“. Damals habe man sie auch in den Rollstuhl setzen wollen. Aber das habe sie nicht akzeptieren wollen, habe sich herausfallen lassen und sei auf allen vieren durch ihre Wohnung gekrochen. „Und, schauen Sie: Ich kann wieder laufen.“ Dass es ihr schwerfällt und sie ständig unter Schmerzen leidet, ist eine andere Geschichte, über die sie erst später und beiläufig spricht. Anzusehen sind ihr die Verletzungen und Verwundungen jedenfalls nicht. Auch Freunden zeigt sie sich nur perfekt zurechtgemacht, mit wohlfrisiertem Haar, leichtem Make-up und geschminkten Lippen. Die Schönheit, sagt sie, sei das Einzige, was ihr geblieben sei. „Und dafür, dass ich im 76. Jahr bin, sehe ich doch noch ganz gut aus.“ Dieser Kampf um Schönheit, um Eleganz und Würde, ist auch in ihren Büchern zu finden. Lebensstoff und Schreibstoff sind bei ihr schließlich untrennbar verwoben, wie die Schriftstellerin Eva Demski im Nachwort zum Höllentor feststellte. Dabei sei Anja Lundholm jemand, der die ihm geschehene Geschichte nicht als Autobiografie nehme, „sondern als Exemplum für seine Zeit“. Wie die Farben eines Malkastens benutze und mische sie das Erlebte, „ohne Anklage und ohne moralische Zuweisungen und Verurteilungen, sondern wie die Abfolge historisch und menschlich folgerichtiger Monströsitäten. Sie kommt in allen ihren Büchern vor – jene Monströsität des Alltags, die ganz folgerichtig und mit tödlicher Logik in die Monströsität des tausendjährigen Reiches mündet.“ Ein Kinderfoto aus den zwanziger Jahren zeigt Anja Lundholm auf einem Koffer sitzend, vor einem Zug, auf dem Kopf einen Hut des Vaters. Für sie ist die spätere Deportation auf diesem Bild schon vorweggenommen – wie auch das Leben im Lager nicht ihre erste Höllenerfahrung gewesen sei. „Angefangen hat es schon in der Kindheit.“ Das Zuhause der 1918 in Düsseldorf geborenen und in Krefeld aufgewachsenen Apothekerstochter befand sich in großbürgerlichem Rahmen. Es herrschten Geordnete Verhältnisse, wie es im Titel eines ihrer Romane heißt. Die Ordnung bestimmte der Vater und auch die Regeln. Nach genau festgelegtem Ritual verlief unter anderem das Mittagessen. Mutter und Tochter hatten hinter den Stühlen zu stehen, wenn der Herr des

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Hauses um Punkt 13 Uhr erschien. „Nachdem er sich gesetzt hatte, durften auch wir uns setzen“, erinnert sie sich. Ein „teutsches Mädchen“ habe sie werden sollen. „Ich bin richtig ‚arisch‘ erzogen worden. Aber das ging schief.“ Der Vater reagierte mit Prügeln. „Ich bekam mächtig viel Prügel.“ Andere Berührungen waren verpönt. „Das Kind durfte nie berührt werden. ‚Feine Leute berühren sich nicht‘, hieß es.“ Die Mutter sei anders gewesen. „Meine Eltern waren sehr entgegengesetzte Menschen. Größere Gegensätze konnte es nicht geben.“ Als 17Jährige hatte ihre aus einer äußerst wohlhabenden jüdischen Familie in Frankfurt kommende Mutter den Bauernsohn geheiratet. Er sollte etwas Besseres werden und bekam vom Schwiegervater noch während des Studiums eine Apotheke in Krefeld geschenkt. Für ihre Mutter sei er „ein nordischer Gott“ gewesen – groß, blond, stattlich. „Er war sehr männlich, und das Männliche bewunderte sie über alles. Sie war ihm sehr ergeben. Was er tat, war gut. Sie liebte ihn halt und bewunderte ihn unendlich.“ Anja Lundholm holt ein Foto ihrer Mutter: das Bild einer zarten und zerbrechlich wirkenden Frau, die zerbrach und sich 1938 das Leben nahm. Natürlich sei sie zu der Zeit sehr depressiv gewesen. Sie, die evangelisch erzogen worden sei und von jüdischer Religion nicht die leiseste Ahnung gehabt habe, sei erst durch Hitler zur Jüdin geworden. Wenn der Ehemann Empfänge gab, saß die jüdische Ehefrau jetzt eingeschlossen im Musiksalon. Als die Tochter sie nach einem ersten Selbstmordversuch fragte, warum sie das getan habe, antwortete sie: „Dein Vater hat so gelitten, weil er die Fahne nicht raushängen konnte. Er hat doch eine Jüdin im Haus, dein armer Vater – diese Schande.“ Um seinetwillen sei sie gestorben, meint Anja Lundholm und ist sicher, dass sie das Gift vom Vater erhalten habe. „Meine Mutter betrat in diesen Jahren die Apotheke ja nie – das durfte sie auch gar nicht.“ Auch die Schwester der Mutter habe sich mit seiner Hilfe das Leben genommen. Als sie ihn für die Flucht aus Deutschland um 300 Mark gebeten habe, habe er abgelehnt und ihr zwei Kapseln Zyankali geschickt. „Für den Fall, dass sie einmal gar nicht weiterwisse.“ Als sie wenig später von der Gestapo abgeholt werden sollte, nahm sie die Kapseln. Ein ehrenwerter Bürger ist der Titel eines gerade wieder veröffentlichten Romans von Anja Lundholm, der in den siebziger Jahren unter dem Titel Der Grüne herauskam. Erzählt wird die Geschichte eines opportunistischen Aufsteigers, ihres Vaters. Lange Zeit, bis kurz vor seinem Tod, habe sie ihn nicht sehen wollen, wie er war. Als er 1961 starb, fand sie in einer Kassette zwei Dokumente: Eines habe ihn als schwer geschädigtes „Opfer des Nationalsozialismus“ ausgewiesen, das andere war sein Mitgliedsausweis der SS, der er seit 1934 als zahlendes Mitglied

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angehört hatte. Der Familie habe er davon nichts gesagt. Was er immer sehr deutlich zeigte: seinen Hass. „Sein Hass war fürchterlich.“ Noch auf dem Sterbebett habe er ihr das Pflichtteil entzogen. „Was ist das für ein Mensch gewesen? Ich weiß es nicht“, bekennt sie und sagt: „Ich habe wirklich unheimlich kämpfen müssen, um nicht in Hass zu verfallen und in Entsetzen. Er ist der große Schatten in meinem Leben.“ In der ihm eigenen Art hatte er ihr auch den Tod der Mutter mitgeteilt. „Deine Mutter soeben verschieden. Komme nicht. Ich arrangiere alles. Vater.“ Am 7. Dezember 1938 habe sie dieses Telegramm in Berlin erhalten. Zwei Jahre zuvor war die höhere Tochter in die Hauptstadt geschickt worden, um an der Staatlichen Hochschule für Musik Klavier und Schauspiel zu studieren. Doch das Studium dauerte nicht sehr lange. „Der Film kam auf mich zu, und die Ufa holte mich. Ich fing natürlich als Statistin an, mit kleinen Rollen.“ In Berlin habe sie auch an den ersten kleinen Zusammenkünften oppositioneller Studenten teilgenommen. Man habe kleine Zettel verteilt, in der Öffentlichkeit Hitler-Witze erzählt – „das galt schon als Widerstand“. Nach dem Tod der Mutter will sie, die als Halbarier und Mischling ersten Grades gilt, nur noch raus. „Als meine Mutter tot war, da brach etwas in mir auf. Raus hier aus Deutschland – irgendwohin, wo ich agieren kann.“ Doch erst 1941 gelingt ihr die Flucht aus Hitler-Deutschland – wie in einem Film und mit einem Film. In Helmut Käutners Auf Wiedersehn, Franziska hatte sie eine kleine Rolle gespielt, und als der Streifen zu den Filmfestspielen von Venedig eingeladen wurde, beantragte sie mit Käutners Hilfe einen Pass für die Reise dorthin. Der Plan gelingt. Anja Lundholm fährt nach Venedig und von da aus „gleich weiter nach Rom. Es ließ sich zu der Zeit wunderbar untertauchen in Rom – die Deutschen galten ja noch als Freunde.“ Als einen der ersten habe sie in Rom einen Österreicher kennengelernt, „der in der Widerstandsgruppe Pierre Lambert war“. Bald ist auch sie Mitglied der Gruppe und hilft, Pässe von Verfolgten auszubessern, Bilder in Ausweisen zu wechseln, „Leute aus den gefährdeten Zonen rauszuschleusen“. In Italien kann sie auch wieder filmen. Sie steht in der Cinecittà vor der Kamera und verdient etwas Geld. Doch ihr Leben im Untergrund wird gefährlicher. 1943, nach dem Sturz Mussolinis, verschärft sich die Situation. „Die Deutschen kamen zurück als Feinde. Kappler wurde Polizeichef von Rom. Wir verloren den Anführer unserer Gruppe.“ Wie er wird auch der holländische Widerstandskämpfer, mit dem sie in Rom zusammenlebt, erschossen. Und Anja Lundholm kämpft nicht nur für sich ums Überleben. „In Rom wurde meine Tochter Diana geboren.“

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Sie ruft ihren Vater an und bittet ihn um Geld aus ihrem Erbteil. „Drei Tage später kam die Gestapo und verhaftete mich. Er hat mich angezeigt und dafür gesorgt, dass ich ins KZ kam.“ Dass sie wieder herauskommen könnte, habe er nicht erwartet. Er habe schon ihre Todesanzeige aufgegeben und ihr Erbteil an sich genommen. Und wie in ihren Büchern, in denen sie das Ungeheuerliche oft mit scheinbarer Leichtigkeit erzählt, streut Anja Lundholm auch im Gespräch immer wieder Formulierungen ein, die Distanz schaffen und von einem neutralen Beobachter kommen könnten. „Das ist eine böse Geschichte – schauerlich“, sagt sie. Manchmal auch versucht sie ein Lachen. „Lachen hilft beim Überleben.“ Nach ihrer Verhaftung und Gestapohaft in Rom sei sie mit dem Zug nach Innsbruck gebracht worden. „Wir waren natürlich in den Viehwagen.“ Der Weg der zum Tode Verurteilten durch mehrere Gefängnisse beginnt. „Es hieß immer wieder Endstation.“ 1944 kommt sie als Politische ins Konzentrationslager Ravensbrück. Sieben Monate wird sie in diesem Lager sein. Eine unter Zehntausenden. Bei ihren Arbeitseinsätzen kommen die Gefangenen auch durch bewohnte Orte. Und während sie auf die Fenster mit den Gardinen sieht, fragt sich Anja Lundholm, ob die Bewohner „der Brandgeruch nicht stört, der vom Lager her den Ort durchzieht und sich durch die Fensterritzen in ihre Wohnungen drängt? Schmorende Knochen riechen anders als brennendes Holz. Fragt sich hier wirklich niemand, welchen Ursprung dieser Rauch hat, der ihre Häuserwände schwärzt?“ Als Anja Lundholm aus dem KZ kommt, ist sie 27 und ein Skelett. „Zwischen den Bögen der Rippen hing, Papierfetzen gleich, die gedörrte Haut. Herausragende Wirbel des Rückgrats hielten lose Verbindung miteinander mittels Muskelsträngen, die sich mit anatomischer Genauigkeit unter dem knittrigen Hautgewebe abzeichneten“, notiert sie in ihrem Roman Die äußerste Grenze, in dem sie ihren Weg zurück ins Leben beschreibt. Im Gespräch sagt sie: „Ich war wie Kaspar Hauser. Ich wusste nicht mehr, wer ich war, was ich war.“ Eingereiht in den Flüchtlingstreck Richtung Westen, schläft sie unter freiem Himmel und in Scheunen, durchläuft diverse Sammel- und Auffanglager und wird schließlich auf einen Transporter verfrachtet, der sie in Brüssel absetzt. Orientierungslos steht sie auf der Straße und trifft eine Frau, die ihr als Engel erscheint: eine Wiener Prostituierte, die sie bei sich aufnimmt. Als die sie nach ihrem Namen fragt, kann sie noch immer keine Antwort geben. „Einen Namen hatte ich wohl gehabt, aber der fiel mir nicht ein. Was sehr präsent war: was ich gerade erlebt hatte.“ So kann sie sich noch an eine Anrede aus dem KZ erinnern: „Du da“ habe man gerufen, wenn

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man etwas von ihr gewollt habe. „Du da“, antwortet sie dann auch der Prostituierten auf die Frage nach ihrem Namen. In Brüssel schlägt sich die fortan „Duda“ genannte Fremde unter anderem als Barpianistin durch und lernt einen schwedischen Stahlkaufmann kennen, einen Herrn Lundholm. „Er hat es fertiggebracht, mich zum Reden zu bringen – was ich vorher nie getan hatte.“ Als sie von der Fremdenpolizei festgenommen wird, weil sie nur unvollständige Papiere hat und auch nicht abgeschoben werden kann („Ich hatte einen Staatenlosen-Pass, da kannst du nicht mit abgeschoben werden – wohin auch?“), schickt er ihr eine Flugkarte. Sie heiraten, leben in London und Stockholm und trennen sich wieder. „Fünf Jahre dauerte die Ehe, die letzten zwei gingen schon nicht mehr – das war schon zu lang mit ihm.“ Er habe sich auch nicht sehr von ihrem Vater unterschieden. „Zu Anfang hat er mich schon sehr geliebt – nur ich hab’ ihn nicht geliebt. Er wollte was von mir, aber ich wollte nichts von ihm. Und das ging auf die Dauer sehr schief.“ Nach den Jahren von Verfolgung und KZ habe sie auch keine Einengung mehr ertragen. „Ein Häftling braucht nur eins: Er muss frei sein, nicht gefangen in einer Ehe.“ Das Scheitern der Ehe ist für Anja Lundholm verbunden mit dem Verlust ihrer Tochter und ihres später geborenen Sohnes. 1953 war sie mit ihnen nach Frankfurt gezogen, in die Heimatstadt ihrer Mutter. Im spießig-engen Deutschland der fünfziger Jahre fällt es nicht schwer, der allein mit ihren Kindern lebenden attraktiven Frau unmoralischen Lebenswandel vorzuwerfen. Die Tochter kommt zum angesehenen Großvater, der Sohn wird in Schweden von der Geliebten des Vaters adoptiert. Erst Jahre später sieht Anja Lundholm ihre erwachsenen Kinder wieder. Die Distanz zum rauschgiftsüchtig gewordenen Sohn kann sie da nicht mehr überwinden. Zur Tochter habe sie jedoch eine enge Beziehung gehabt. „Nicht mehr wie Mutter und Tochter, das ging nicht, aber wir sind sehr gute Freunde geworden“ – bis die Tochter nach einer Krebsbehandlung stirbt. „Das ist das Einzige, wo ich nicht drüber geschrieben habe – so grausig ist diese Geschichte.“ Dass sie einmal Schriftstellerin werden würde, hätte sie nie gedacht, sagt Anja Lundholm. „Ich hatte nie die Idee, etwas schreiben zu wollen.“ Nach ihrer Scheidung hatte sie unter anderem als Empfangsdame in einem Frankfurter Hotel und als Übersetzerin gearbeitet. Erst Ende der sechziger Jahre habe sie eines Nachts begonnen, „wie eine Wahnsinnige zu schreiben“. So entsteht ihr Roman Morgengrauen, dem bis heute vierzehn weitere Titel folgten, von denen die meisten vergriffen sind. Und während sie hierzulande allzu schnell in die Schublade „Unterhaltungsschriftstellerin“ gesteckt und unter Wert gehandelt wurde, erhielt

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sie mit ihren auch ins Englische und Schwedische übersetzten Büchern im Ausland sehr viel mehr Anerkennung. So wurde beispielsweise ihr Roman Der Grüne in Schweden mit einem hohen Literaturpreis ausgezeichnet. In Deutschland löste erst Anja Lundholms 75. Geburtstag im vergangenen Jahr einige Ehrungen aus: Sie las in der Frankfurter Paulskirche, ein Dokumentarfilm mit ihr wurde gezeigt, und „In Würdigung des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur“ wurde ihr 1993 auch eine Medaille verliehen. Die liegt jetzt in einer roten Schatulle in ihrer Wohnung. „Geschenkt, geschenkt“, meint sie, und: „Brimborium. Man hat mich zum Bettler gemacht.“ Denn die sogenannte Wiedergutmachung, die sie erhalte, „die reicht natürlich hinten und vorne nicht. Ich habe kein Geld. Ich bin pleitissimo.“ So sei sie auf das Sozialamt angewiesen. Manchmal würden ihr zwar Leser etwas Geld schicken, aber ansonsten müsse sie für jede Anschaffung zum Amt und dort immer wieder betteln. Dass sie das trifft, verbirgt sie nicht. „Das ist fürchterlich.“ Ihre Haltung verliert sie dabei jedoch nicht. „Hör auf mit dem Selbstmitleid“, habe ihr schon nach den Jahren im KZ jemand gesagt – „und es hat unendlich geholfen“. Und auch für Feindbilder hat sie keinen Platz: „Feindbilder kann man immer kreieren. Wir kommen von einem Feindbild ins andere – offensichtlich scheint der Mensch nicht lange ohne sein zu können.“ Dagegen wehrt sie sich. „Ich will einfach versuchen, diese ewige Spirale zu stoppen. Das heißt nicht: Vergeben und vergessen. Man kann versuchen zu verstehen.“ „Wie viel kann ein Mensch aushalten?“ habe einmal jemand in einem Bericht über ihr Leben gefragt. Anja Lundholm sagt: „Es reicht.“ Nichts könne sie mehr gruseln. „Nachts sehe ich mir manchmal Gruselfilme an, um zu sehen, ob mich noch etwas gruseln kann.“ Aber da sei nichts.

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„SO KAM ICH UNTER DIE DEUTSCHEN“ Bruchstücke und Notizen zu den Asylbildern von Martin Rosswog -

„Die Wahrheit zu sehen müssen wir vertragen können, vor allem aber sollen wir sie unsern Mitmenschen und der Nachwelt überliefern, sei es günstig oder ungünstig für uns“, schrieb August Sander 1927 anlässlich einer Ausstellung seiner Menschen des 20. Jahrhunderts. Die Menschen, die Martin Rosswog am Ende dieses Jahrhunderts fotografiert hat, sind auf der Flucht vor Terror, Unterdrückung, Gewalt, Not. Menschen aus Afrika und Asien, Ost- und Südeuropa. Frauen, Männer und Kinder. Verfolgte und Gefolterte, die in Deutschland Schutz suchen, Asyl. „So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten – wie anders ging es mir!“, Friedrich Hölderlin, Hyperion. Martin Rosswog lebt in Lindlar. Hier, im Oberbergischen, hat er Anfang der neunziger Jahre Asylsuchende fotografiert und die Umgebung, in der sie auf ein neues Leben oder die Abschiebung in das alte Leben warten. Seine Fotos dokumentieren den Alltag deutscher Asylund Flüchtlingsgeschichte, zeigen die Menschen und die ihnen in der Fremde zugewiesenen Räume. „Die Unterbringung und Betreuung von ausländischen Flüchtlingen soll im Regelfall in Übergangsheimen oder in sonstigen hierfür geeigneten Einrichtungen erfolgen. Die Gemeinden haben geeignete Übergangsheime im erforderlichen Umfang zu errichten und zu unterhalten“, heißt es in Paragraf 4 des Flüchtlingsaufnahmegesetzes. Als „geeignet“ gelten ehemalige Militäranlagen, Schulen, Turnhallen, leerstehende Fabriken oder Gaststätten, Leichtbauhäuser und Container. Aufgestellte Blechspinde dienen als Trennwände. Zellen werden zu Lebensräumen. Menschen versuchen, sich zu behaupten. Martin Rosswogs Fotos zeigen auch das. Ein Garten wird angelegt. Aufkleber mit Blumenmotiven werden an die Hauswand geklebt. Ein Kissen, ein Tuch, eine Puppe erinnern an etwas Fernes, Verlorenes.

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Was war, ist nicht mehr. Menschen haben auch ihr Alter verloren. Die Alten wirken manchmal wie verschüchterte Kinder, und einige der Kinder scheinen schon vor ihrer Zeit alt geworden. Blicke erzählen von Verletzungen, Trauer, Angst. Kaspar Hauser: „Ja, mir kommt es vor, dass mein Erscheinen auf dieser Welt ein harter Sturz gewesen ist.“ Ein aus Algerien geflohener Mann sitzt in einem Zimmer in Deutschland und hält die Hände vor sein Gesicht. Er habe unerkannt bleiben wollen, berichtet Martin Rosswog, und dass der Mann später wieder abgeschoben worden sei in das Land, aus dem er geflohen war. Bei der Ankunft in einem Übergangsheim erhalten Flüchtlinge eine „Grundausstattung für die Erfordernisse des alltäglichen Lebens“. Die Anzahl der übergebenen Gegenstände ist festgelegt: Kochtöpfe, Geschirr (1 tiefer Teller, 1 flacher Teller, 1 Tasse, 1 Untertasse, 1 Frühstücksteller, 1 Salatschüssel, 1 Gemüseschüssel), Besteck (1 Löffel, 1 Messer, 1 Gabel, 1 Kaffeelöffel, Suppenkelle, Kochlöffel, 1 Dosenöffner, 1 Flaschenöffner), 1 Garnitur Bettwäsche (Bettlaken, Kopfkissenbezug, 1 Bettdeckenbezug), 1 Kopfkissen, 1 Bettdecke, 1 Garnitur Handtücher mit Waschlappen, 1–2 Geschirrtücher, Seife, Haarwaschmittel, Putzeimer, Putzlappen, Reinigungsmittel. Alltägliche Gegenstände und Zeichen werden Teil der Asylgeschichte. Die Fotos von Martin Rosswog lenken den Blick des Betrachters darauf. Zum Beispiel auf die in einigen Räumen angebrachten Schilder, die auf Fluchtwege weisen. Wohin sie führen, ist nicht sichtbar. Aufgestellte Fernsehgeräte zeigen kein Bild. Sinkende Asylbewerberzahlen werden wie Erfolgsmeldungen verkündet. Ein Rechtsanwalt sagt: „Wenn die Familie tot ist und das Heimatdorf zerstört, gilt das nicht als politische Verfolgung.“ Bei einer Trauerfeier für einen jungen Nigerianer sprechen die Geistlichen von den vielen unbekannten Asylsuchenden, die abgeschoben werden „in eine ungewisse, vielfach lebensbedrohliche Zukunft“. Ein von Ausweisung bedrohter ghanaischer Pfarrer knüpfte aus zwei Handtüchern eine Schlinge und erhängte sich am Fenstergitter einer Asylunterkunft in Süddeutschland. Ein in Abschiebehaft sitzender Chinese strangulierte sich mit zusammengeknoteten Socken. Im Schlussbericht des Kommissariats für Todesermittlungen wird zum Suizid eines 28-jährigen Asylbewerbers festgestellt: „Abschiedszeilen wurden nicht gefunden. Das Motiv dürfte in der drohenden Abschiebung zu suchen sein.“ Auf den Fotos von Martin Rosswog sind immer wieder auch Umarmungen zu sehen. Ein Mann legt den Arm um seine schwangere Frau.

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„So kam ich unter die Deutschen“

Eine Mutter hält ihr Kind im Arm. Einzelne rücken zusammen. Manchmal wirken die Gesten der Nähe auch wie Versuche, sich zu schützen in einer fremden Umgebung, die nicht selten Feindesland wird. In einer rheinischen Tageszeitung klagt ein Leser, dass in NordrheinWestfalen „die Einheimischen unfreiwillig mit mehr als 180 Nationen zusammenleben müssen“. Er wolle in seiner Umgebung keine fremden Sprachen mehr hören, erklärt der Deutsche, denn: „Auch Deutsche sagen am liebsten in ihrer Muttersprache den Nachbarn ‚Guten Morgen‘.“ Ein junger Mann mit kurzgeschorenen Haaren geht durch die UBahn, setzt sich über zwei Sitze und verschränkt die Arme über der Brust. Auf seine schwarze Bomberjacke hat er einen leuchtenden Sticker genäht, auf dem Deutschland in den Grenzen des Dritten Reichs zu sehen ist. „Deutschland den Deutschen“ ist auf dem Aufnäher zu lesen und „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Ein Fremder sagt: „Kaum tauchst du auf, kriegen sie Gesichter aus Stein.“ Als ein junger Afrikaner in einem Bus in Düsseldorf misshandelt und zusammengeschlagen wird, sehen die übrigen Fahrgäste schweigend zu. Die Bewohnerin eines jüdischen Altenheims sagt: „Ich habe gedacht, man würde eine Lehre aus der Vergangenheit ziehen – doch ich sehe immer wieder, dass die Leute aus der Vergangenheit nicht die richtigen Lehren gezogen haben.“

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DER SCHMALE WEG IST MIR ZU ENG Text über Grenzgänger -

Grenzgänger. Zum Beispiel Yaguine Koita und Fodé Tounkara, 14 und 15 Jahre alt, geboren in Guinea, im Sommer 1999 umgekommen bei ihrem Versuch, als blinde Passagiere im Fahrwerk eines Flugzeugs nach Europa zu gelangen. Bei sich hatten die beiden Jungen aus Conakry einen handgeschriebenen Brief an „Exzellenzen, geehrte Damen und Herren, Verantwortliche von Europa“. „Es ist Ihre Solidarität und Ihre Liebenswürdigkeit, die wir erflehen hier in Afrika. Helfen Sie uns! Unser Leid in Afrika ist unermesslich groß, wir haben viele Probleme und Mängel. Was die Probleme betrifft, so haben wir Krieg, Krankheiten, mangelnde Nahrung usw.“, schreiben sie in dem Brief und entschuldigen sich, „dass wir es wagen, Ihnen diesen Brief zu schreiben, Ihnen, den großen Persönlichkeiten, denen sehr viel Respekt gebührt. Und vergessen Sie nicht, dass Sie es sind, an die wir uns wenden müssen.“ Sie tun es, „weil wir in Afrika zu sehr leiden und weil wir Sie brauchen, um gegen die Armut zu kämpfen und um den Krieg in Afrika zu beenden. Auch wollen wir studieren und bitten Sie, uns dabei zu helfen, damit wir in Afrika so werden wie Sie.“ Als eine belgische Zeitung zwei Tage nach dem Tod von Yaguine Koita und Fodé Tounkara den Brief im August 1999 veröffentlichte, probte ich in Brüssel an meinem Solo Lettere amorose. In dem Stück wollte ich nicht nur mit Monteverdis Lettere amorose arbeiten, sondern auch Briefe lesen – Briefe von in Deutschland lebenden Türken an die Familie, den Brief meines Vaters an meine Mutter, in dem er ihr mitteilt, dass er eine andere Frau geheiratet habe, und einen Brief von Else LaskerSchüler, in dem die Dichterin um Exil in der Schweiz bittet. „Aus der unabsehbaren Trübe möchten viele Menschen in die Schweiz kommen, und dass die Tanzsucht ausbrach und in Berlin und Umgebung epidemisch zunimmt, gerade im lahmgelegtesten Land, ist weiter nichts anderes als die natürliche Sehnsucht, eigener Bangigkeit zu entkommen – Flucht (ohne Visum). Denn selbst der Mond über der Hauptstadt von Deutschland ist nicht mehr der alleinige wohlbeleibte, alte Herr; zusammengeschrumpft, gallenerkrankt murrt er grießtrübe über ein Land, dessen Herz blutgenagelt an der Verzweiflung hängt.“ In Lettere amorose stand der Brief der von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertriebenen Grenzgängerin Else Lasker-Schüler neben

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dem Schreiben von Yaguine Koita und Fodé Tounkara. Jetzt, 17 Jahre später, liest sich der Brief der im Fahrwerk des Flugzeugs erfrorenen afrikanischen Jungen, als sei er heute geschrieben. Deshalb habe ich ihn in diesem Sommer wieder auf der Bühne gelesen, in dem für den Tänzer Emmanuel Eggermont entwickelten Solo Musiques et mots pour Emmanuel. Auch ein Requisit aus einem anderen Stück taucht hier wieder auf: ein kleines Holzboot aus Another Dream (2000), in dem es um die 60er Jahre ging und Erinnerungen an eine Zeit des Aufbruchs: „Ich erinnere mich an den Marsch von 200 000 Bürgerrechtlern auf Washington und die Rede von Martin Luther King – I have a dream.“ Einen Tag vor seiner Ermordung sagte er: „Wie jeder möchte ich gern ein langes Leben leben.“ Cass Elliot von The Mamas & the Papas sang: „The good times are coming.“ Grenzgänger. Zum Beispiel Kazuo Ohno, ein Symbol und eine Legende des Butoh. 1982, beim Münchner Theaterfestival, nach einer Probe im Zirkuszelt, sah ich ihn auf einer Wiese vor dem Zelt zum ersten Mal: ein damals 76 Jahre alter Tänzer, weiß geschminkt, mit blauen Augenlidern und nacktem Oberkörper, umgeben von Kindern, für die er draußen noch einmal tanzte. In einem Gedicht heißt es: „Doch immer war’s ein Tanzen ohne Ende.“ Auf der Bühne sah ich Kazuo Ohno auch in den folgenden Jahren immer wieder: ein Mann, der auch mit 80 und 90 Jahren weiter tanzt und Kind sein kann und Greis, Mann und Frau, Priester und Clown, ein Zauberer, der von Verzweiflung spricht und Freude, Hoffnung und Angst, Sehnsucht und Trauer. Ganz selbstverständlich sind östliche und westliche Kultur miteinander verbunden, Vergangenheit und Gegenwart, Kunst und Leben. Grenzen sind aufgehoben, Übergänge fließend: Naturgeräusche gehen in Musik über, geistliche Lieder in Wiener-Walzer-Klänge, zu denen Kazuo Ohno in The Dead Sea seinen Walzer tanzt: mit einem leichten Heben der Schulter, einem Lächeln, einer kleinen Handbewegung, einer Drehung des Kopfes oder einfach im Gehen, das einen Kreis entstehen lässt und auf der leeren Bühne eine Welt. Ein Passant in Tokio definierte Butoh einmal so: „Wenn ein Einzelner ,Nein‘ sagt und die anderen sagen ,Ja‘, dann handelt es sich um Butoh.“ Entstanden ist der Tanz nach Hiroshima. Die Erinnerung an die Katastrophe ist präsent in den Aufführungen. Einmal, als sein Gesicht vom Schmerz erzählt, wendet Kazuo Ohno es kurz ab – und sieht einen Augenblick später wieder nach vorn, mit einem scheuen Lächeln. Oder: Langsam sinkt er zu Boden, liegt wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken und richtet sich dann doch wieder auf, um weiterzugehen – mit einer Anmut, die bei ihm auch als etwas erkennbar ist, das sehr viel mit Mut

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zu tun haben kann. Wie ein Seiltänzer bewegt sich der über Achtzigjährige auf dem ebenen Bühnenboden und lässt selbst die Abgänge am Ende der einzelnen Szenen noch als Abenteuer erscheinen: Leicht und ohne Sentimentalität verlässt er die Bühne und kehrt bald in einem neuen Kostüm zurück, mit einer Blume im Haar, schwarzer Perücke oder buntem Hütchen, mal im Kleid, mal im Anzug oder auch mit kurzer Hose, umgehängter Tasche und angehefteter Puppe am langen Umhang, in dem er wie ein Wanderer aussieht – zwischen den verschiedenen Welten, den verschiedenen Leben. „Ich glaube“, sagt Kazuo Ohno, „dass der Lebenslauf des Menschen sich mit dem des Universums deckt. Butoh bedeutet für mich, das Kostüm des Universums anzulegen. Eine Kleidung anzulegen für den Körper und gleichzeitig für die Seele: Sie ist das Kostüm des Butoh.“ Als sei es ganz einfach, legt er sich das Kostüm an, steht vor der weißen Leinwand und macht sich mit seinem Körper auf die Reise, tanzt noch einmal zu den alten Walzern und zieht Kreise: in Erstaunen versetzend und selbst oft wie ein Kind erstaunt, wenn er plötzlich ganz weit weg getanzt ist – ein alter Mann, sehr nah dem Ungeborenen in Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum. Grenzgänger. Zum Beispiel Pier Paolo Pasolini. Filmregisseur, Dichter, Publizist und Zeichner. Als ich 1981 seine Zeichnungen zum ersten Mal sehe und darüber schreibe, notiere ich auch einige Worte, Sätze, Bruchstücke aus Pasolinis Texten: „Das Schreien der lautlosen Stille“ – „Auf der Spitze des Schwertes leben“ – „Liebeshungrig“ – „Das Massaker an mir beobachte ich mit der Gelassenheit eines Wissenschaftlers“ – „Sich vom Leben gefangen nehmen lassen“ – „Scheinbar empfinde ich Hass, in Wirklichkeit schreibe ich Verse voll aufrichtiger Liebe“ – „Jenseits aller Dunkelheit“ – „Dieses ungeheure Maß an verzweifelter Zärtlichkeit“. Eine Zeile setzt sich fest nicht nur im Kopf und wird später zum Anstoß, den eigenen Körper auf der Bühne zu zeigen: „Den Körper in den Kampf werfen.“ „Den Körper in den Kampf werfen“. Sich einlassen. Zum Beispiel auf Menschen. Versuchen, im Fremden auch etwas von sich zu finden. Nicht wenige Porträts Pasolinis werden zu Selbstporträts. Einmal zeichnet er ein kleines Mädchen in zerfetztem Kleid. An den Rand der Skizze notiert er vier Zeilen eines Tanzliedes, das er in friaulischem Dialekt schrieb. „O Glisiuta tal to grin / quanciu muars c’a an preat! / Sincsent ains che nu i savin / di vei capatit e amat.“ („Mädchen, weiß und rosa, / mit diesem Fetzchen eines Kleidchens / gleicht dein trauriges Gesicht / meinem Schicksal.“) 1947 entsteht eine Zeichnung mit Tinte auf vergilbtem und fleckigem Papier. Zwei Jungen, vielleicht 12 oder 13 Jahre alt, barfüßig nebenei-

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nander stehend wie für ein Erinnerungsfoto. Selbstbewusst und selbstverständlich legt der eine seinen rechten Arm um die Schulter des Freundes, der dasteht mit gesenkten Lidern, scheuem Lächeln, hängenden Armen, ängstlich erstarrt in der Umarmung. Jetzt, als ich die Zeichnung wieder sehe, denke ich auch an Yaguine Koita und Fodé Tounkara und daran, wie man sie fand im Rumpf des in Brüssel gelandeten Flugzeugs: nebeneinander liegend, der eine auf dem Bauch, der andere auf dem Rücken, mit Plastiksandalen an den Füßen und in der Hand des einen Jungen der Brief, der zum Testament wurde, mit der Hand auf die Brust gelegt, in die Nähe des Herzens. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben verbindet die Grenzgänger, über die ich in diesem Text schreibe. Pasolini spricht von der Sehnsucht nach einem anderen Leben als dem der Konsumgesellschaft seiner Zeit: „ein Leben, das anderen Zeiten gehört“. Für ihn blieb es Utopie. „Ich werde am Ende ankommen, ohne / in meinem Leben die wesentliche Prüfung / abgelegt zu haben, die Erfahrung / / die die Menschen verbindet und ihnen eine / so zärtlich definitive Vorstellung von / Brüderlichkeit wenigstens in den Liebesakten gibt! / / Wie ein Blinder: dem im Tod etwas / entgangen ist, eine Sache, die mit / dem Leben selber zusammenhängt.“ „Man ist der Ort des Kampfes – ständig“, sagt die Grenzgängerin Zazie de Paris. Sängerin. Schauspielerin. Tänzerin. Als Kind jüdischer Eltern in Paris geboren. Mit acht Beginn der Ballettausbildung an der Pariser Oper. Zwölf Jahre klassischer Tänzer. Zwei Jahre bei Maurice Béjart, vier Jahre im „Alcazar“ in Paris – sehr viel mehr Zahlen mag Zazie de Paris mir 1989 beim Interview nicht nennen. Auch über ihre Geschlechtsumwandlung mag sie nicht mehr diskutieren. „,Diese wunderbare Frau war mal ein Mann‘ – das finde ich nicht interessant.“ Später sagt sie noch: „Ich bin keine Kunstfigur. Ich bin keine künstliche Frau. Ich bin ein Mensch. Wenn jemand fragt: ,Warum bist du zur Frau geworden?‘, sage ich: ,Warum hast du blaue Augen?‘ – das kann man auch nicht entscheiden. Ich bin Frau, weil ich mich so fühle, und weil ich so bin.“ Den Kampf, als Frau anerkannt zu werden, hat sie für sich entschieden. Die Schwierigkeiten, Demütigungen, Verletzungen auf dem Weg dorthin sind nicht vergessen. „Du kannst wie die tollste Frau sein, aber wenn im Pass etwas anderes steht, zählt das nicht – wie bei den Juden. Da hat auch nicht gezählt, was für Menschen sie waren. In den Papieren stand Jude – also musst du weg.“ Von sich selbst weiß sie: „Ich wär’ nicht mehr Lamm. Ich würde zurückschlagen. Ich würde mich wehren. Ich weiß von meiner Familie, dass sie sich nicht gewehrt hat – und man hat sie in die Züge gebracht.“

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Der schmale Weg ist mir zu eng

„Meine Stärke ist, dass ich mich niemals total geschlagen gebe. Ich werde immer kämpfen. In meinem Körper ist das drin, im Geist auch“, sagt Zazie de Paris und kommt dann doch noch einmal auf die Jahre zu sprechen, in denen sie zur Frau wurde. „Diese Spannungen, dieser hormonelle Konflikt – das ist ein Kampf im Körper.“ Von einem Überlebenskampf will sie nicht mehr sprechen. „Überleben ist mir nicht wichtig, das ist nicht genug. Es geht darum, zu leben.“ Und auch wenn sie anderen Mut geben will: von Mut will sie nicht reden – „eigentlich gehört kein Mut dazu, wenn man das so in sich hat. Das ist kein Lob wert. Ich bin’s. Genau wie eine Frau ein Kind kriegt – das ist keine heroische Tat.“ Grenzgänger machen das, was sie machen müssen. Sie haben einen Traum, und den wollen sie leben. Es ist ihr Traum, und der lässt sie nicht nur geografische Grenzen überschreiten. Und es gilt, was Friederike Fliedner, Leiterin des ersten Diakonissen-Mutterhauses in Kaiserswerth, Anfang des 19. Jahrhunderts als junges Mädchen in ihr Tagebuch schrieb: „Der schmale Weg ist mir zu eng.“

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NACHWORT -

„Ich habe gedacht, man würde eine Lehre aus der Vergangenheit ziehen – doch ich sehe immer wieder, dass die Leute aus der Vergangenheit nicht die richtigen Lehren gezogen haben“, sagt 1979 eine Bewohnerin des jüdischen Altenheims in Düsseldorf. 1998 zitiere ich ihren Satz noch einmal, in meinem Text über die Asylbilder des Fotografen Martin Rosswog, So kam ich unter die Deutschen. Deutsche Geschichte spiegelt sich in vielen Geschichten dieses Buches – zum Beispiel in der des Sängers Joseph Schmidt, der von den Nazis verfolgt wurde und in einem Internierungslager in der Schweiz starb, in der Biografie und den Gedichten der Lyrikerin Rose Ausländer oder in den Lebensgeschichten und Sätzen der Bewohner des jüdischen Altenheims – „Wir wollten uns ja nicht totmachen lassen“. Dieser und andere Sätze von Überlebenden des Holocaust lassen mich 2019 auch an die denken, die heute auf der Flucht sind vor Verfolgung, Folter, Tod. Wiederholungen. Einzelne Sätze, Textabschnitte, Erinnerungen tauchen in diesem Buch an verschiedenen Stellen und immer wieder auf – zum Beispiel Passagen aus dem Text über Pier Paolo Pasolini, Kontaktversuche, oder meine Erinnerungen an den japanischen Butoh-Tänzer Kazuo Ohno, den ich 1982 zum ersten Mal sah und der noch mit über 90 Jahren auf der Bühne stand und tanzte. Beide machen mir bis heute auf sehr verschiedene Art Mut. Pasolinis Satz „Den Körper in den Kampf werfen“ war Anstoß, auf die Bühne zu gehen, und Kazuo Ohno zeigte mir, dass es auch im Alter keine Begrenzungen geben muss – auch nicht auf der Bühne. Dieses Buch erzählt auch von Verbindungen. Zum Beispiel zwischen meinen Texten und meinen Arbeiten für die Bühne. „Meinwärts“, eine Zeile aus einem Gedicht von Else Lasker-Schüler, war 1994 Titel meines ersten Solostücks, in dem ausschließlich Aufnahmen von Joseph Schmidt zu hören waren, über den ich im selben Jahr auch geschrieben hatte. Verbindungslinien lassen sich auch zwischen einigen der in diesem Buch Porträtierten ziehen. Heiner Müller traf ich Anfang der 80er Jahre in Aufführungen von Pina Bausch, deren Dramaturg ich zu dieser Zeit war. Als sie 1981 mit Kontakthof in Avignon gastierte, sah ich zum ersten Mal die japanische Butoh-Gruppe Sankai Juku, über die ich wenig später die Arbeit von Kazuo Ohno entdeckte. Bei einem seiner Deutschland-Gast-

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spiele kam Kazuo Ohno auch nach Dresden, weil er dort Gret Palucca treffen wollte. Doch sie war krank und musste das Treffen absagen. Gret Palucca lernte ich über den Fotografen Stefan Moses kennen. Beide leben heute nicht mehr und auch andere der Porträtierten sind in den vergangenen Jahren gestorben: Rose Ausländer und Kazuo Ohno, Hervé Guibert, Anja Lundholm, der aidskranke Andreas M. und Pina Bausch, Annemarie Slovik. Elisabeth Bergner, Heiner Müller und Irmgard Urbschat-Brux, genannt Irmchen. Sie alle haben Spuren hinterlassen – auch in meinem Leben. Ich danke der Kunststiftung NRW, dass sie diese Publikation möglich gemacht hat – ein kleiner Mosaikstein auf dem Weg gegen das Vergessen und Anstoß, Stellung zu beziehen, denn: „Wenn keiner singt, ist es still.“ Raimund Hoghe Juli 2019

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Raimund Hoghe mit Gret Palucca im Stück Pas de Deux (2011). Foto: Rosa-Frank.com

Raimund Hoghe, geboren in Wuppertal, machte sich früh einen Namen mit Porträts von Außenseitern und Prominenten, die überwiegend in Die Zeit und in mehreren Büchern erschienen. 1980 bis 1989 arbeitete er als Dramaturg für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, über das er auch zwei Bücher schrieb. Seit 1989 entwickelt er eigene Theaterarbeiten für Tänzer und Schauspieler aus Frankreich, Italien, Belgien, Schweden, Spanien, Portugal, Irland, Kanada, Japan, Südkorea, Brasilien, Algerien und aus dem Kongo. 1992 begann seine Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Luca Giacomo Schulte, der bis heute sein künstlerischer Mitarbeiter ist. 1994 realisierte Raimund Hoghe das erste Solo für sich, Meinwärts. Neben seiner Theaterarbeit arbeitete Hoghe häufig auch für das Fernsehen und realisierte zuletzt für ARTE den Film Die Jugend ist im Kopf über die französische Theaterleiterin MarieThérèse Allier (2016). Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt, mit seinen Stücken gastierte er in verschiedenen Ländern Europas, in Nord- und Südamerika, Asien und Australien. Er lebt in Düsseldorf.

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TEXTNACHWEISE Vergessen – wie macht man das?

Einfache Geschichten

DIE ZEIT 16. März 1979

EXPLOSION OF A MEMORY

Übergänge

Ein Arbeitsbuch,

KUNSTFORUM International Nr. 47,

Edition Hentrich Berlin, 1988

HEINER MÜLLER DDR.

Dezember 1981/Januar 1982 „Wenn keiner singt, ist es still“ Und die Liebe höret nimmer auf

DIE ZEIT 25. August 1989

DIE ZEIT 15. Januar 1982 Andreas nimmt Abschied vom Leben Kontaktversuche

DIE ZEIT 7. Dezember 1990

Pier Paolo Pasolini – Zeichnungen und Gemälde,

Palucca, der Tanz und das Meer

Verlag Balance Rief S. A. Basel,

DIE ZEIT 31. Mai 1991

Februar 1982 „Und weben der Menschheit Doch immer war’s ein Tanzen

einen wärmenden Mantel“

ohne Ende

Abschied und Anfang,

Theater heute September 1982

Ostdeutsche Porträts 1989 – 1990 von Stefan Moses, Deutsches Histori-

Auf dem Mönchsberg

sches Museum, Edition Cantz, 1991

DIE ZEIT 29. Oktober 1982 Die Bilder. Die Worte. Und Aids „’ne einfache Frau bin ich“

DIE ZEIT 1. Mai 1992

DIE ZEIT 25. März 1983 Ein Stern fällt Mit nackten Augen

DIE ZEIT 4. März 1994

DIE ZEIT 20. Juli 1983 Mehr als ein Leben „Ja, fürchten dürfen Sie sich nicht“

DIE ZEIT 3. Juni 1994

DIE ZEIT 16. März 1984 „So kam ich unter die Deutschen“ Die Toten beginnen zu laufen

Martin Rosswog – Asylbilder,

DIE ZEIT 13. Juni 1986

DuMont Buchverlag Köln, 1996

„Ich hab’ nie große Rollen gespielt“

Der schmale Weg ist mir zu eng

DIE ZEIT 5. Juni 1987

Jahrbuch tanz 2016

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RECHERCHEN 147 Res publica Europa 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 144 Gold / L’Or 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 140 Thomas Wieck . Regie: Herbert König 139 Florian Evers . Theater der Selektion 137 Jost Hermand . Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers Brecht-Studien 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 135 Flucht und Szene Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 133 Clemens Risi . Oper in performance 132 Helmar Schramm . Das verschüttete Schweigen 131 Vorstellung Europa – Performing Europe 130 Günther Heeg . Das Transkulturelle Theater 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 128 Torben Ibs . Umbrüche und Aufbrüche 127 Günter Jeschonnek. Darstellende Künste im öffentlichen Raum 126 Christoph Nix . Theater_Macht_Politik 125 Henning Fülle . Freies Theater 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig 123 Hans-Thies Lehmann . Brecht lesen 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft Leipziger Vorlesungen 116 Kathrin Röggla . Die falsche Frage Vorlesungen über Dramatik 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 113 Die Zukunft der Oper zwischen Hermeneutik und Performativität 112 Parallele Leben . Ein Dokumentartheaterprojekt 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit Dokumentarisches Theater 109 Reenacting History: Theater & Geschichte


RECHERCHEN 108 Horst Hawemann . Leben üben – Improvisationen und Notate 107 Roland Schimmelpfennig . Ja und Nein Vorlesungen über Dramatik 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit 105 Wie? Wofür? Wie weiter? Ausbildung für das Theater von morgen 104 Theater im arabischen Sprachraum 103 Ernst Schumacher . Tagebücher 1992 – 2011 102 Lorenz Aggermann . Der offene Mund 101 Rainer Simon . Labor oder Fließband? 100 Rimini Protokoll . ABCD 99

Dirk Baecker . Wozu Theater?

98

Das Melodram . Ein Medienbastard

97

Magic Fonds – Berichte über die magische Kraft des Kapitals

96

Heiner Goebbels . Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater

95

Wolfgang Engler . Verspielt Essays und Gespräche

93

Adolf Dresen . Der Einzelne und das Ganze Dokumentation

91

Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm

87

Macht Ohnmacht Zufall Essays

84

B. K. Tragelehn . Der fröhliche Sisyphos

83

Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters Essays

82

Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch

81

Die Kunst der Bühne – Positionen des zeitgenössischen Theaters Essays

79

Woodstock of Political Thinking . Zwischen Kunst und Wissenschaft Essays

76

Falk Richter . TRUST Inszenierungsdokumentation

75

Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Diskussionen

74

Frank Raddatz . Der Demetriusplan Essay

72

Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute Aufsätze

71

per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Essays

70

Reality Strikes Back II – Tod der Repräsentation Aufsätze und Diskussionen

67

Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Aufsätze

66

Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur Brecht-Tage 2008

65

Sabine Kebir . „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht

64

Theater in Japan Aufsätze

63

Vasco Boenisch . Krise der Kritik?

62

Anja Klöck . Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler?

61

Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Essays

60

Elisabeth Schweeger . Täuschung ist kein Spiel mehr Aufsätze

58

Helene Varopoulou . Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater

57

Kleist oder die Ordnung der Welt

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de


RECHERCHEN 56

Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller

55

Martin Maurach . Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 – 1945

54

Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Essays

52

Angst vor der Zerstörung Tagungsbericht

49

Joachim Fiebach . Inszenierte Wirklichkeit

48

Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Vorträge und Diskussion

46

Sabine Schouten . Sinnliches Spüren

42

Sire, das war ich – Zu Heiner Müllers Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Werkbuch

41

Friedrich Dieckmann . Bilder aus Bayreuth Essays

40

Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Aufsätze

39

Stefanie Carp . Berlin – Zürich – Hamburg Essays

37

Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Tagungsdokumentation

36

Politik der Vorstellung . Theater und Theorie

32

Theater in Polen . 1990 – 2005 Aufsätze

31

Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Vorträge und Diskussionen

30

VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze

28

Carl Hegemann . Plädoyer für die unglückliche Liebe Aufsätze

27

Johannes Odenthal . Tanz Körper Politik Aufsätze

26

Gabriele Brandstetter . BILD-SPRUNG Aufsätze

23

Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Vorträge und Diskussionen

22

Falk Richter – Das System Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“

19

Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk

15

Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Aufsätze

14

Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR

13

Manifeste europäischen Theaters Theatertexte von Grotowski bis Schleef

12

Hans-Thies Lehmann . Das Politische Schreiben Essays

11

Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Vorträge und Diskussionen

10

Friedrich Dieckmann . Die Freiheit ein Augenblick Aufsätze

9

Gerz . Berliner Ermittlung Inszenierungsbericht

8

Jost Hermand . Brecht-Aufsätze

7

Martin Linzer . „Ich war immer ein Opportunist…“ Gespräche

6

Zersammelt – Die inoffizielle Literaturszene der DDR Vorträge und Diskussionen

4

Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Vorträge und Diskussionen

3

Adolf Dresen . Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Aufsätze

1

Maßnehmen . Zu Brechts Stück „Die Maßnahme“ Vorträge und Diskussionen

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de



„Wenn keiner singt, ist es still“, sagt Roma B. in Rainer Werner Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod. Raimund Hoghe zitiert diesen Satz in seinem Porträt einer Frankfurter Hausbesitzerin, die in den achtziger Jahren gegen den Bau von Europas höchstem Hochhaus in ihrer Nachbarschaft kämpfte. Die ihr von Banken angebotenen Abfindungen in Millionenhöhe schlug sie aus und sagte Nein zur Zerstörung ihres Viertels. Der Satz von Roma B. könnte aber auch über anderen Texten stehen, die Raimund Hoghe für dieses Buch zusammengestellt hat. Sie erzählen von Menschen, die Haltung zeigen und den eigenen Weg gehen, zum Beispiel dem von den Nazis verfolgten Tenor Joseph Schmidt, den Autoren Pier Paolo Pasolini und Hervé Guibert, dem Butoh-Tänzer Kazuo Ohno, Gret Palucca oder Pina Bausch, über die er zuerst schrieb und deren Dramaturg er dann in den achtziger Jahren war. Und ob prominenter Künstler oder unbekannte Toilettenfrau in Wuppertal: immer geht es Raimund Hoghe um Würde und Respekt.

ISBN 978-3-95749-233-3

www.theaterderzeit.de


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