Dazwischengehen! Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik

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Armen Avanessian Augusto Corrieri Philipp Furtenbach Jochen Gimmel Simone Hain Thomas Heise Claudia Hummel Isabell Lorey Uwe Lübbermann Martin Schick Berthold Schneider Gabriele Stötzer Joshua Wicke Doreen Yuguchi Lena Ziese

978-3-95749-436-8 www.theaterderzeit.de

Regina Guhl, Dorothea Hilliger und Mirko Winkel (Hg.)

Dazwischengehen!

Mit Beiträgen von

Dazwischengehen! Neue Entwürfe für Kunst, ­Pädagogik und Politik

Recherchen 166

Was kann Kunst in der Gesellschaft bewirken? Wie wollen wir künftig leben, arbeiten und lernen? Und wie können künstlerische und soziale Praxen, Philosophie und wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem Perspektivwechsel bei der Beantwortung dieser Fragen führen? Die unter dem Titel Dazwischengehen! versammelten Praktiker*innen und Denker*innen aus verschiedenen sozialen Feldern und Institutionen machen in ihren Beiträgen Vorschläge für abweichende Methoden und Vorgehensweisen, für die Neubewertung von Haltungen und für das Lernen mithilfe künstlerischer Praxis. Dieser wohnt das Experiment, die modellhafte Erforschung und Erprobung von Verfahren und Strukturen inne. Künstlerische Praxis hat mithin das Potential, verändernd auf unser Zusammenleben einzuwirken. Sie trägt zudem einen wichtigen Teil dazu bei, die Komplexität unserer Demokratie zu erhalten und fortzudenken.


Vorwort

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Dazwischengehen!


Dazwischengehen! Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik Herausgegeben von Regina Guhl, Dorothea Hilliger und Mirko Winkel Recherchen 166 © 2023 by Autorinnen und Autoren Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Silke Pohl sowie Madeleine LaRue (für den englischen Beitrag S. 37) Gestaltung: Tabea Feuerstein Grafische Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio Printed in Germany ISBN 978-3-95749-436-8 (Paperback) ISBN 978-3-95749-437-3 (ePDF) ISBN 978-3-95749-474-0 (EPUB)


Recherchen 166

Dazwischengehen! Neue Entwürfe für Kunst, ­Pädagogik und Politik Herausgegeben von Regina Guhl, Dorothea Hilliger und Mirko Winkel



Inhalt

Vorwort 9 Einleitung 11

Ortswechsel Martin Schick Rausgehen ist Einsteigen 21 Erweiterung der künstlerischen Arbeit hin zu partizipativem Kulturmanagement. Wie macht man vorgegebene Strukturen zum Ausgangs- und Mittelpunkt der eigenen Arbeit? Doreen Yuguchi In unmittelbaren Kontakt treten – Interaktionen am 26 Lebensrand Transfer von Performance-Kunst hin zu therapeutisch ausgerichteter Arbeit im Gefängnis. Was verbindet die Arbeitsfelder? Berthold Schneider Wechsel/Wirkung 33 Experiment Chefsesseltausch zwischen Kunst- und Wissenschaftsinstitutionen. Wie verlief eine außergewöhnliche Begegnung zwischen Oper und Klimaforschung? Augusto Corrieri, Joshua Wicke Something might escape the plan 37 A dialogue on post-theatre and background dramaturgies Reflexionen zu Gegenwart und Zukunft von Theater-Kunst, ausgehend vom Erlebnis der Leere. Was passiert im Theater, wenn nichts passiert?

Zeitsprünge Isabell Lorey Das Kommune in der präsentischen Demokratie 53 Radikal-inklusive soziale Praxen als Grundlage für Kämpfe um mehr Demokratisierung. Welche Bedeutung hat die Aktualisierung vergangener politscher Bewegungen?

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Inhalt

Armen Avanessian Politische Zukunftsschule Schule als ein Ort der Begegnung aller Generationen mit der Zukunft. Wie sieht eine Institution aus, in der wir uns auf zukünftige Herausforderungen vorbereiten?

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Claudia Hummel Von marxistisch informierter Spielzeugkritik zur 75 ­Katastrophenwerkstatt Entwurf einer konkreten Umsetzung von Avanessians Zukunftsschule, ausgehend von pädagogischen Experimenten der siebziger Jahre. Die »Katastrophenwerkstatt« als partizipatives Schulprojekt? Simone Hain Die neue künstlerische Hochschule 83 Man muss das Rad nicht neu erfinden, solange historisch noch nicht alles eingelöst oder auch nur verstanden ist … Die Zukunftskonzepte der Bauhaus-Schule, betrachtet als stille Reserve und erneuerbare Ressource für die Gegenwart. Was müsste man davon neu auf die Agenda setzen? Jochen Gimmel Feindliche Übernahme – durch sich selbst? 92 Entgrenzung der Arbeit – Utopie der Selbstverwirklichung Eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Arbeit, Nichtarbeit und Muße. Welches sind die Erkenntnisse aus einer radikalen Arbeitskritik?

Praxisformen Lena Ziese Die Neuen Auftraggeber 109 Bürger*innen vergeben an Kunstschaffende Aufträge zur (Er-)Findung von Antworten auf drängende Fragen ihres Lebensumfeldes. Welche Entwicklung nimmt das Pilotprojekt?

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Inhalt

Philipp Furtenbach Über eine andere Art des gemeinsamen Aufenthalts 117 Die Interventionen eines Kollektivs, das an abseitigen Orten besondere Situationen der Begegnung schafft. Wie sehen Methoden für ein anderes soziales Miteinander aus? Gabriele Stötzer Einen ungeraden Weg finden 126 Bericht einer Künstlerin aus der DDR, die als Anhängerin des Sozialismus zur Systemkritikerin wurde und ihre Kunst im Untergrund fortsetzte. Welche politische Kraft entwickelt das Beharren? Thomas Heise Alle Brücken abbrechen – in die Dorfkneipe gehen – 137 Bier trinken – abwarten Über die Arbeit eines Dokumentarfilmers als besondere Form der Annäherung an seine Protagonist*innen. Welche Einsichten sind aus einem radikalen Sich-Aussetzen zu gewinnen? Uwe Lübbermann Das Premium-Getränkekollektiv 146 Ein Ergebnis, das viel klüger ist, als du es alleine jemals hättest hinkriegen können Die Entwicklung eines von Kooperation und Konsensdemokratie geprägten Unternehmens. Welche Wege können Wirtschaftsmodelle zur Bewältigung gesellschaftlicher Krisen bieten?

Biografien 157

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Vorwort

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Vorwort Im Zentrum dieser Publikation steht die Frage, welche Inspiration, welche Kraft, welche Ideen und welche Praxisformen aus der Kunst heraus für das soziale Handeln unserer Gesellschaft und ihrer Institutionen bedeutsam werden können. Seit 2018 führen die Herausgeber*innen auf der Suche nach Antworten einen Dialog mit ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteur*innen, die sich in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Pädagogik und in der Wirtschaft verorten lassen – und sie haben zwischen diesen Personen einen regen Austausch angezettelt. Vom Geist dieser Begegnungen, der sich rund um vier Arbeitskonferenzen entwickelt hat, ist die vorliegende Publikation getragen. Die zahlreich geführten Dialoge waren stets geprägt von der Suche nach Beispielen für die Relevanz künstlerischer Praxen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Die Menge der gefundenen Antworten, Vorschläge und weiterführenden Fragen war und ist für uns Herausgeber*innen eindrücklich und bemerkenswert. Das Dazwischengehen! ist vielerorts keine von außen herangetragene, revolutionär anmutende Handlungsaufforderung, sondern erprobte Praxis. So sind hier Beispiele versammelt, in denen das Dazwischengehen! ganz selbstverständlich geschieht – vor allem da, wo das soziale Miteinander ausschließlich nach Kriterien der Zwecklogik, nach individuellem Gewinn- oder Machtstreben organisiert wird; da, wo es schlichtweg in einem uninspirierten und uninspirierenden Alltagstrott zu ersticken droht, oder da, wo demokratische Grundsätze missachtet und Gleichheitsgrundsätze außer Kraft gesetzt werden. Akteur*innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Arbeitsfeldern haben hierzu beispielhafte, von der Norm abweichende Haltungen und Spezialkenntnisse entwickelt und eigensinnige Wege erprobt; sie haben in der künstlerischen, unternehmerischen oder pädagogischen Praxis Erfahrungen gewonnen, die im Hinblick darauf befragt werden, inwieweit sie übersetzbar in andere Praxen sind und so zu einer Inspiration für soziales Handeln in der Gesellschaft insgesamt werden können. Diese Publikation ist jedoch mehr als eine Sammlung besonderer Praxis­beispiele; sie bietet mehr und anderes als die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir in Zukunft leben und arbeiten, wie wir miteinander umgehen wollen. Sie stellt auch eine Einladung an die Leser*innen dar, für den je eigenen Bereich neue

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Vorwort

Entwürfe, neue Praxisformen zu entwickeln und darin Impulse des Buches aufzunehmen. Hierüber würden wir als Herausgeber*innen gerne in einen w ­ eiterführenden Dialog treten. Wir selbst bewegen uns zwischen ­ verschiedenen Praxisfeldern. So steht Regina Guhl als Dramaturgin und Professorin für Dramaturgie am Studiengang ­ ­Schauspiel der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover für die Felder Theater, Pädagogik und Internationalisierung. Dorothea ­Hilliger bewegt sich zwischen Kunst, Wissenschaft, Pädagogik und Institutionenentwicklung. Sie ist Professorin für Performative Künste und Bildung sowie ehemalige Interimspräsidentin der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Mirko Winkel arbeitet zwischen den Feldern Kunst, Wissenschaft und gesellschaftliche Transformation. Er ist Künstler sowie Kurator und koordiniert ein transdisziplinäres Labor am Geographischen Institut der Universität Bern. Ein Dank geht an all unsere Gesprächspartner*innen, die unser ­ enken bereichert haben. Der Lektorin Silke Pohl danken wir für die D sorgfältige Durchsicht der Manuskripte. Weiterer Dank geht an die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, die der zugrunde ­liegenden Tagungsreihe einen Ort geboten hat, und an das Staats­ theater Braunschweig als Veranstaltungsort der letzten Konferenz. Das Ministerium für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen und die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig haben mit großzügiger finanzieller Unterstützung den dialogischen Austausch ermöglicht. Ein Dank auch hierfür! Regina Guhl, Dorothea Hilliger, Mirko Winkel dazwischengehen@mail.gmx

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Einleitung

Einleitung In einer demokratischen Gesellschaft ist die Kunst in all ihren Spiel­ arten und Ausformungen ein zentraler Ort für Dialog und Kritik, für Begegnung, Erfindung und Verwandlung, für Erkenntnis und das Entwickeln von Fragen, für die Erforschung und Neuentdeckung von scheinbar Bekanntem. All dies findet täglich statt in der Arbeit von Künstler*innen, in den unterschiedlichen Medien der Kunst und in vielen der ihr gewidmeten Institutionen. Angesichts aktueller Krisen ist die Diskussion um die Relevanz der Kunst und der Praxis von Kunstschaffenden neu entfacht. Die vorlie­ gende Publikation hat es sich zur Aufgabe gemacht, deren besonderen Stellenwert anhand vielfältiger Beispiele und Argumentationslinien herauszuarbeiten. Denn Kunst stellt neben anderen Feldern wie ­Politik oder Ökonomie einen ganz eigenen Praxisraum der sozialen Welt dar, der das Potential hat, unserem Sein und Handeln Sinn und Bedeutung zu verleihen und Wege des sozialen Miteinanders zu erkunden.1 Über das Faktische hinaus schafft Kunst eine sinnhafte Organisation von Wirklichkeit, in deren Zusammenhang soziale Gebilde und demokratisch orientiertes Verhalten erst möglich werden. Das Praktizieren von Kunst in einer funktionierenden Demokratie geht über die Reflexion gesellschaftlicher Prozesse weit hinaus, was ihr gerade heute, da die Demokratie selbst beständigen Herausforderungen ausgesetzt ist, eine besondere Relevanz verleiht. Tragischerweise und in pervertierter Form lässt sich die Bedeutung von Kunst dieser Tage wieder an den offenbar gezielten Zerstörungen und Plünderungen von Theatern und Museen in der Ukraine durch russisches Militär ablesen. Im Ausmaß der Erschütterung selbstverständlich nicht mit den Schäden durch Krieg zu vergleichen, haben die Künste auch in der Coronakrise massive Einschränkungen und dauerhaft wirksame Verluste hinnehmen müssen – trotz aller Be­teuerungen ihrer Relevanz und trotz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen. Doch die an Institutionen gebundene und durch sie legitimierte Kunst ist nur ein Teil der künstlerischen Praxen. Kunst und Kultur sterben nicht im Krieg und nicht in der Pandemie, auch wenn ihre Institutionen zerstört oder heruntergespart werden. Sie orientieren sich um und finden, oftmals unter überaus schwierigen Bedingungen, neue Wege der Wirksamkeit.

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Einleitung

Angesichts verschiedenartiger Bedrohung, aber auch, um das Potential der Künste im Allgemeinen wie im Detail ermessen zu können, müssen wir als demokratisch verfasste Gesellschaft den spezifischen Beitrag von Kunstschaffenden ernst nehmen und mit allem, was wir haben, sichtbar machen, um so seine Wirksamkeit zu erhöhen. D ­ ieses Buch will hierzu beitragen, indem es die Bedeutung künstlerischer Prozesse an verschiedenen Beispielen ausbuchstabiert. Die Anlage ist eine multiperspektivische. Sie stellt Biografie­ linien und ungewöhnliche Solidargemeinschaften ebenso vor wie alternative Organisationsformen in Kunst, Bildung, Wissenschaft und Gesellschaft. Im ersten Teil mit dem Titel Ortswechsel werden Handlungsräume und Institutionen in den Blick genommen, wo Perspektivwechsel und Umnutzungen erprobt wurden. So beschreibt es Martin Schick in seinem Text Rausgehen ist Einsteigen (S. 21) als grundlegendes Prinzip seiner Arbeit, immer wieder neue Kontexte aufzusuchen oder sie gar selbst aufzubauen. Ursprünglich aus dem Schauspiel kommend, begleitet er heute institutionelle Transformationsprojekte als performative Praxis. Er hat somit die Rolle des Künstlers auf Kunst und Kultur schaffende Strukturen ausgeweitet und erläutert, wie er Umstände zum Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Arbeiten macht. Doreen Yuguchis berufliche Praxis ist ebenfalls von einem mehrfachen Wechsel der Rahmenbedingungen gekennzeichnet. In ihrem Text In unmittelbaren Kontakt treten – Interaktionen am Lebensrand (S. 26) schildert sie den Transfer von der bildenden Kunst mit Schwerpunkt Performance hin zu einer neuen, therapeutisch ausgerichteten Ausbildung und Arbeit. Zwischenstationen auf dem Weg waren künstlerische Arbeiten im Gefängnis- und im Hospizkontext. Im Zentrum des Beitrags steht die Frage nach Bezügen zwischen diesen sehr unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Berthold Schneider berichtet in Wechsel/Wirkung (S. 33) davon, wie er als Intendant der Oper Wuppertal sein Chefbüro mit Uwe Schneidewind, dem Präsidenten des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, tauschte – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Als routinierte Leitungsmenschen suchten beide einen Perspektivwechsel auf ihre eigene Arbeitspraxis und setzten sich den täglichen Abläufen der jeweils anderen Institution aus.

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Einleitung

In Something might escape the plan. A dialogue on post-theatre and background dramaturgies (S. 37) reflektieren der Dramaturg Joshua Wicke und der Künstler, Forscher und Schriftsteller Augusto Corrieri die Leere des entleerten Theaterraumes, den Zustand des Aussetzens und der Nicht-Aktivität. Für ihr gemeinsames Nachdenken wählten sie die klassische Form des Briefwechsels. Im dritten Teil des Buches folgen die Herausgeber*innen unter dem Stichwort Praxisformen den Biografien von Menschen, die, ausgehend von ihrem künstlerisch geprägten Denken und Handeln, Wege und Methoden gesellschaftlich wirksamer Intervention gefunden haben. Den Auftakt bildet der Text Die Neuen Auftraggeber (S. 109) von Lena Ziese. Das Konzept der Neuen Auftraggeber wurde von dem Belgier François Hers 1990 entwickelt und ist in Frankreich und Belgien fest etablierter Bestandteil staatlicher Kunstförderung. Bürger*innen vergeben an Künstler*innen Aufträge, die mit ihrem konkreten Lebensumfeld zu tun haben und auf dort drängende Fragen Antworten geben können. Seit 2017 beteiligt sich Deutschland mit Pilotprojekten an dem inzwischen internationalen Netzwerk. Lena Ziese beleuchtet den Beginn des Projektes in Brandenburg, wo sie ihre vielfältigen Erfahrungen als Künstlerin, Kuratorin und Lehrende für Freie Kunst und Kunstpädagogik eingebracht hat. Der Künstler Philipp Furtenbach spricht Über eine andere Art des gemeinsamen Aufenthalts (S. 117). Die Interventionen des Kollektivs AO& sind darauf ausgelegt, an abseitigen Orten besondere Situationen der Begegnung zu schaffen. Furtenbach erzählt von Arbeiten, die in bestimmten Landschaften, in Bergdörfern, in Restaurants und in Hotels neue Methoden der Kommunikation testen. Sie zielen insbesondere darauf ab, bestehende Konventionen in sozialer Praxis und Kunst aufzubrechen. Gabriele Stötzer berichtet von ihrem Weg in der DDR, auf dem sie als Anhängerin des Sozialismus zur Systemkritikerin wurde. Nicht genehmigte künstlerische Aktionen führten zu ihrer Inhaftierung und beendeten zwangsweise ihr Kunstpädagogikstudium. Sie arbeitete fortan im Untergrund als Performancekünstlerin. Mit Aktivismus vertraut, stellte sie sich 1989 gemeinsam mit anderen Frauen der Staatssicherheit entgegen, um Akten von Dissident*innen vor der Vernichtung zu bewahren. Der vorliegende Text Einen ungeraden Weg finden (S. 126) basiert auf einem Gespräch mit der Künstlerin.

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Einleitung

Der Regisseur, Autor und Filmemacher Thomas Heise äußert sich über seine Arbeit als Dokumentarfilmer. Er beschreibt die besondere Form der Annäherung an seine Protagonist*innen, die er in ihrem jeweiligen Umfeld aufsucht: in einer Dorfkneipe, einem Jugendzentrum, welches zum Treffpunkt von Neonazis wurde, oder in einem Gefängnis. Unter dem Titel Alle Brücken abbrechen – in die Dorfkneipe gehen – Bier trinken – abwarten (S. 137) beschreibt Heise sein Arbeitsprinzip. Er bleibt am jeweiligen Ort so lange, bis sich eine Annäherung ergibt. Die Besonderheit seiner Arbeit besteht in der Unvoreingenommenheit, mit der er seinen Protagonist*innen begegnet. Der Teil Praxisformen findet seinen Abschluss mit dem Text von Uwe Lübbermann. Unter dem Titel Das Premium-Getränkekollektiv. Ein Ergebnis, das viel klüger ist, als du es alleine jemals hättest hinkriegen können (S. 146) beschreibt er die Entwicklung eines von ihm gegründeten konsensdemokratischen Getränkeunternehmens, in dem er als zentraler Moderator mitwirkt. Er legt besonderen Fokus auf die ­Chancen und Herausforderungen, die mit Entscheidungsprozessen einhergehen, und erläutert, wie gesellschaftliche Krisen wie eine Pandemie auf solche alternativen Wirtschaftsmodelle wirken. Zwischen dem ersten und dem dritten Teil findet der wissenschaftliche Blick seinen Platz, der nach Relevanz und Tragfähigkeit neuer Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik fragt. In diesem Teil unter der Überschrift Zeitsprünge erfolgt auch die historische Reflexion von Praxisformen, die sich durch ihr unbedingtes Beharren auf der Kraft demokratischer Verhandlungsformen auszeichneten und in ihrer künstlerischen Ausprägung Experiment und Modell gleichermaßen werden konnten. So bezieht sich die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey auf Das Kommune in der präsentischen Demokratie (S. 53). Lorey spürt deren Ursprüngen in der Pariser Kommune von 1871 nach und bezieht sich zudem auf die munizipalistischen Praxen in Spanien, die im Kontext der Besetzungs- und Demokratiebewegungen von 2011 entstanden sind. In der Befragung radikal inklusiver sozialer Praxen, etwa des Festes und der Gastfreundschaft sowie vielfältiger Formen horizontaler Versammlung, formuliert sie eine queer-feministische Kritik an einer möglichen Vereinnahmung. Armen Avanessian begründet in seinem Text Politische Zukunftsschule (S. 70) die Notwendigkeit einer Schule als Ort der Begegnung mit der Zukunft, nicht nur für die heranwachsende Generation. Dafür darf

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Einleitung

das gesellschaftliche Wissen über die Zukunft, welches auf Basis technischer Entwicklungen und durch sie generierter Algorithmen vorhanden ist, nicht monopolistisch aufgestellten Unternehmen überlassen werden. In einer demokratischen Gesellschaft kann die Schule nach Avanessian zu einem Ort werden, an dem sich alle Generationen, aus der Zukunft lernend, auf diese vorbereiten. Claudia Hummels Interesse gilt der Kunst im Kontext von Schule. In ihrem Text Von marxistisch informierter Spielzeugkritik zur Katastrophenwerkstatt (S. 75) rekapituliert sie künstlerische Handlungsräume während der »pädagogischen Euphorie ab den 1970er Jahren«. Sie antwortet mit den von ihr selbst initiierten Reenactments künstlerisch-­ partizipatorischer Projekte auf den Vorschlag des ­Philosophen Armen Avanessian, Schule und Bildung aus der Zukunft heraus zu denken. Als Architekturhistorikerin arbeitet Simone Hain seit 30 Jahren an der Vergegenwärtigung von Vergangenheiten, dabei oftmals an Gegenständen, die in Verruf geraten sind. Die Zukunftskonzepte der Vergangenheit, hier das des Bauhauses für Die neue künstlerische Hochschule (S. 83), versteht sie als Energiequelle, stille Reserve und erneuerbare Ressource für die Gegenwart. Statt die Vergangenheit zu kritisieren, legt sie den Fokus auf die Fragen: Was ist uneingelöst? Worin waren die Konzepte unserer Zeit voraus? Warum hat sich etwas nicht durchsetzen können? Und welches Uneingelöste muss man neu auf die Agenda setzen? Der Philosoph Jochen Gimmel ist Mußeforscher. In seinem Text Feindliche Übernahme – durch sich selbst? Entgrenzung der Arbeit – ­Utopie der Selbstverwirklichung (S. 92) entwickelt er eine radikale Arbeitskritik und setzt das Tätigsein ins Verhältnis zu Spiel und ­Erotik. Hierfür durchleuchtet er die Arbeitsbegriffe von Karl Marx, Hannah Arendt, Charles Fourier und Herbert Marcuse. Die sehr unterschiedlichen Beiträge des Buches, die jeweils einen eigenen Gedankenkosmos und Handlungsraum eröffnen und entsprechend für sich stehen können, eint der kritische Blick auf strukturelle Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch und die Leugnung politischer wie gesellschaftlicher Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten. In ihrem Verständnis von sozialer Wirklichkeit richten sich sämtliche Texte gegen die von Margaret Thatcher ausgerufene

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Einleitung

neoliberale Formel: »There is no such thing as society, only individual men and women and their families.«2 Das Buch stellt nicht nur theoretisch ein solcherart verkürztes Gesellschaftsbild in Frage, ­ ­welches vorgibt, individuelle Freiheit zu ermöglichen, in Wahrheit aber die Subjekte größtmöglicher ökonomischer Ausbeutung aussetzt, sondern es zeigt zugleich existierende Praxisformen auf, die, zum Teil spielerisch, zum Teil unter enormem persönlichen Einsatz wie auch Risiko soziale Verhältnisse jenseits von Entsolidarisierung, Ignoranz oder Unterdrückung produzieren. Je nachdem, ob die Autor*­innen eher theoretische oder historische Kontexte aufsuchen oder ihre künstlerische oder anderweitige Praxis vorstellen, unterscheiden sich die Beiträge in ihrer Textform und in ihrem S ­ prachgestus. Bezüglich der Wirksamkeit subjektiver oder auch kollektiv eingebundener Praxisformen folgen die Herausgeber*innen dem Verständnis der Praxistheorie, welche das subjektive Veränderungspotential in einen unauflöslichen Zusammenhang mit der jeweiligen historisch-­ gesellschaftlichen Situation stellt. Die Praxistheorie geht weder von einem Determinismus subjektiv möglicher Praxisformen durch gesellschaftlich-ökonomische Verhältnisse aus, noch interpretiert sie das Soziale als Produkt individueller Handlungsakte. Vielmehr kreuzen sich im Subjekt verschiedene soziale Felder, etwa das der Familie, das der Ökonomie, das der Kunst und so weiter. Das Subjekt stellt somit einen Knotenpunkt zwischen verschiedenen sozialen Feldern dar, die sich in den jeweils dominanten Praxisformen erheblich unterscheiden. Aus der Verknüpfung von Praxisformen im Subjekt ergibt sich die Möglichkeit von Feldüberschreitungen und damit das Potential für Abweichung und Veränderung. Das Veränderungspotential liegt aber auch in der Struktur sozialer Praxis selbst begründet, indem diese zwischen Routine und Tradition einerseits sowie Unterbrechung und einer gewissen Unbestimmtheit andererseits changiert. Damit »bewegt sich die Praxis zwischen einer relativen ›Geschlossenheit‹ der Wiederholung und einer relativen ›Offenheit‹ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs«3. Den in der Struktur sozialer Praxis wie auch im Subjekt als Bündel unterschiedlicher, feldüberschreitender Praxisformen liegenden Veränderungspotentialen sozialer Wirklichkeit geht diese Publikation in all ihren Bestandteilen nach. Der detaillierte Blick auf diese Praxisfor-

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Einleitung

men führt uns die Entwicklung von Haltungen, Förderwerkzeugen, Spielregeln, Werten, neuen Arbeitsbegriffen und ein sich wandelndes Selbstverständnis von Kunst, Pädagogik, Politik und Zivilgesellschaft vor Augen. Im Weiterdenken lassen sich Antworten auf folgende ­Fragen finden: • In welcher Form wollen wir im einundzwanzigsten­ ­Jahrhundert leben und arbeiten? • Worin bestehen die Arbeitsprinzipien, die Ethik, die Umgangsformen der Zukunft? • Welche Relevanz wird der Kunst in ihren unterschiedlichen Spielarten und den Kunstschaffenden noch/nun ­beigemessen? • Welche Rahmungen werden für ihre Arbeit entwickelt, welche Zusammenarbeiten auch über Feldgrenzen hinweg ermöglicht? • Welche Institutionen braucht es in der Zukunft, und wie ­setzen diese sich zusammen? • Welche Regeln geben wir uns selbst, und wie setzen wir sie um und durch? In diesem Sinne ist das Buch auch eine Einladung dazu, aus der Zukunft heraus zu denken, wie der Philosoph Armen Avanessian aus­­­­­ führt, und sich der »grundsätzlichen demokratiepolitischen Herausfor­ derung einer Toleranz«4 zu stellen, »gegenüber nicht nur der eigenen, sondern der Zukunft anderer und zukünftiger Generationen«5. Die Herausgeber*innen

1 Vgl. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, 2. Aufl., Stuttgart 2012, S. 51 ff. 2 Thatcher, Margaret: »Interview for Woman’s Own« (»No Such Thing as Society«), in: Margaret Thatcher Foundation (Hrsg.): Speeches, Interviews and Other ­Statements, London 1987. 3 Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praxis«, in: ­Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, H. 4 (2003), S. 294. 4 Siehe Avanessian, Armen: Politische Zukunftsschule, S. 70 in diesem Buch. 5 Ebd.

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Ortswechsel

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Martin Schick

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Rausgehen ist Einsteigen

Martin Schick

Rausgehen ist Einsteigen Von mir selbst sage ich, dass ich eigentlich kein Künstler bin, sondern Kunstarbeiter. Meine Arbeit besteht darin, mich für eine Situation oder ein Thema weitgehend zur Verfügung zu stellen, mich kritisch in die Situation einzubringen, meine Position quasi aufs Spiel zu setzen, je nachdem, wie es der Kontext fordert; eher im Sinne einer Dienstleistung oder eines Aktivismus als aus einem inneren künstlerischen Verlangen heraus. So sind es oft tatsächlich die Umstände, welche meine Arbeiten gestalten.1 Kunst im Spannungsfeld zwischen Dienstleistung und Aktivismus wird zum Instrument mit der Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Deshalb scheint es mir wichtig, dass die Impulse proaktiv von der Kunst ausgehen; die Künstler*innen also hinausgehen in andere gesellschaftliche Bereiche. Aber inwiefern sind wir überhaupt bereit, tatsächlich auszusteigen, rauszugehen, uns hinauszulehnen, wenn es eigentlich gerade ganz o.k. läuft in der Kunstszene? Wie groß ist unsere Bereitschaft, aus dem warmen Bad auszusteigen, das wir uns – weitgehend auf Kosten anderer – eingelassen haben? Wenn etwas im Kunstkontext gut funktioniert, ist das ein Grund, weiterzumachen? Oder ist es erst recht ein Grund, auszusteigen? Soll Kunst funktionieren? Oder gibt es Dinge, die konsequent gegen die Wand gefahren werden müssen, um überhaupt neu gedacht und aufgebaut werden zu können? Die Materie erklärt sich, wenn im Foyer der Prosecco fließt

Im internationalen Kontext stellt die Schweiz in Sachen Förderung sicher ein Idealbild dar, birgt aber auch Gefahren, Kritik und eventuell viel schlechtes Gewissen. Ein solches Luxusproblem will ich kurz erläutern. Nachdem ich im Theater eine kapitalismuskritische Arbeit realisiert hatte, kam eine Anfrage, ob ich eine dreijährige Partnerschaft mit der Fondation Nestlé eingehen möchte: 9.000 Euro pro Jahr wurden angeboten, um mich vom Produktionsdruck zu befreien. Ich wollte das aufgrund der problematischen Herkunft der Finanzen ablehnen. Nachdem ich jedoch in meinen Künstlerkreisen um Rat gefragt hatte, war mir klar: besser kritisch dieses Feld betreten als es einer unkritischen Person überlassen. Die Konsequenz war eine ­Performance mit dem Titel Halfbreadtechnique, die sich mit diesem

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Martin Schick

Konflikt auseinandersetzt und dieses Geld zurück auf die Bühne brachte: eine Art Rückzahlung in Form eines theatralen Vorgangs. In Halfbreadtechnique spiele ich die Rolle des Gutmenschen. Nach dem Vorbild der Kampagne The Giving Pledge gebe ich alles, was ich auf der Bühne zur Verfügung habe – inklusive meiner Gage – zur Hälfte her: an Künstler*innen in Not, an das Publikum und so weiter. Es kommt zum Vergleich mit dem heiligen Sankt Martin, der die Hälfte seines Mantels abgibt, dabei aber ausblendet, dass der Akt ihm selbst zugutekommt. Wieso wurde Sankt Martin heiliggesprochen, doch der Bettler blieb Bettler? Wieso hat Sankt Martin nur seinen halben Mantel gegeben, aber nicht auch sein halbes Pferd? Wie viel muss ich hergeben, um tatsächlich als guter Mensch davonzukommen? Alles? Mehr als das Stipendium an sich interessierte mich die Tatsache, diese Verfänglichkeiten zu betreten: Ich schmeiß mich in die Problematik rein und muss da irgendwie wieder rauskommen, auch mal mit Schrammen. An dieser Stelle geht die Abgrenzung von Leben und Theater flöten. Performance wird eher eine Herausforderung, ein Escape-Room, eine Selbsterfahrung, ein Experiment. In der Performance wird die geteilte Hälfte wieder und wieder halbiert, sei es von der Gage, der Spielfläche, dem T-Shirt bis zum Kaugummi, dem Hotelzimmer und dem Drink im Foyer, bis nichts mehr bleibt, außer Schulden. Aber auch die werden wiederum geteilt. Die Selbstkritik wird zur Schlinge, die sich immer weiter zuzieht und der Konflikt wird ad absurdum geführt, um mehr über ihn zu erfahren. Nicht alles klärt sich. Vieles bleibt eine Vermutung, eine Provokation, aber es erklärt sich vielleicht dann umso eher hinterher im Foyer, bei einem (halben) Glas Prosecco. Überhaupt mag ich das Foyer am liebsten im Theater. Es ist auf die Außenwelt gerichtet und dennoch interner Verhandlungsort. Der ­Prosecco-Umtrunk wird rituell zur Bestätigung dessen, was man sich an Meinung, Praxis und Institution zusammengebaut hat: systemkonform, auch wenn es auf der Bühne grade noch kritisch war; ein Ort des Übergangs und auch des Widerspruchs.

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Rausgehen ist Einsteigen

Die Situation umdrehen

Die formelle Struktur war oft der Anfang meiner Arbeit. Für das Stück X MINUTES gab es eine Anfrage einer Netzwerkveranstaltung, wo ich meine Arbeit verkaufen durfte. Gemeinsam mit weiteren ­Kolleg*­innen haben wir in einem Auktionsverfahren minutenweise ein neues Stück verkauft. Mit jedem Verkauf wurde das Stück länger und zu einer wachsenden Schuld, die es im Anschluss zu begleichen galt. Die Kurator*innen kauften die Katze im Sack. Dies war ein weiterer Versuch, die Situation auf den Punkt zu bringen, mit der bestehenden Logik zu spielen. Das Beispiel ist aber auch wieder limitiert auf die künstlerische Arbeitswelt, und mit dieser Begrenzung hat es zu tun, dass ich mich jetzt um weitere gesellschaftliche Kontexte kümmere, in denen spielerische, kritische und artistische Momente möglich sind. Ein Glas nehmen, ohne zu wissen, dass man später daraus trinkt

Ich will nicht immer wissen, wie es ausgeht, und ecke damit oft an. Irgendwie scheint das ein Schaden aus einer Lebensphase im klassischeren Theaterbereich zu sein, wo alles eingeübt ist und dann etwa so gezeigt wird: »Hey, schaut mal, was wir vorbereitet haben!« Stattdessen habe ich Lust, mich an Orte zu begeben, an denen ich mich nicht auskenne. Dort versuche ich gerne, irgendwie klarzukommen. Wie also nehme ich dieses Glas in die Hand, ohne zu wissen, dass ich später auch daraus trinken werde? Mein Interesse, den Job als ­Kulturmanager für einen Innovationsbetrieb, bei dem Kultur ganz ­hinten steht, anzunehmen, bestand darin, mich aus dem Theater­ bereich herauszubewegen und mich einer anderen (weniger bekannten) Situation zu stellen. Aus der Perspektive der Kunst ist das ein klares ­Downsizing, aber wieso nicht erst mal ein- oder umsteigen und dann erst schauen, wie du es hinbiegst? Inzwischen wurde das ­Quartier, in dem ich arbeite, in seiner Mischform von Wirtschaft und Kultur längst zum Politikum; es wird verhandelt von rechts nach links. Indem es porös und fragil wird, kann daraus etwas Neues entstehen. Ich bleibe, solange ich kann

Dieses Quartier ist ein Wirtschaftsunternehmen, das sich zusätzlich einen Kulturbeauftragten leistet und sich so bei der Stadt starkmacht. Innerhalb des Betriebs gehen die Meinungen oft diametral auseinander. Jetzt gibt es Kultur, aber wie weit kann sie gehen, wenn sie der Wirtschaftslogik trotzt?

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Martin Schick

Was ist und kann Kunst dort, wo sie nicht zu Hause und für sich selbst und ihr Publikum da ist? Die Arbeit in diesem Betrieb ist eine Form des Spiels, in dem die Regeln laufend mitgeschrieben und angepasst werden. Meine Beteiligung besteht unter anderem darin zu stören – und nicht allzu schnell aufzugeben. Aussitzen. Aushalten. Ich frage mich nämlich, wie sich ein Wurzelsystem aufbauen lässt, das so schnell nicht weggeht, fast unsichtbar den Boden mitbeackert und unterirdisch Vernetzungen schafft. Somit würde das Kulturmanagement kein Begleitprogramm gestalten, sondern eine Grundlage bilden für das Leben vor Ort. Diese Strategien bauen auf Überlegungen zur Permakultur auf. Inzwischen gibt es ein komplexes Biotop mit verschiedensten Projekten, die ich ganz unterschiedlich begleite. Autonomie ist sehr wichtig in diesem Verfahren, und so suche ich auch immer wieder Leute, die meine Rolle als Gärtner übernehmen, indem sie zum Beispiel als Manager für einen Tag einsteigen, etwa bei dem Projekt Manager for a Day. Da können andere einfach meinen Job einen Tag lang machen und dabei meinen Lohn verdienen. Die neue Person schiebt dann eines dieser Projekte einfach ein bisschen weiter, je nachdem, was die Person kann oder woran sie interessiert ist. Realitäten ins Theater hineinholen

Mit der Anstellung im Betrieb kuriere ich meine Künstlerkrankheit der letzten zehn Jahre: immer unterwegs sein, aber nirgends so richtig beteiligt. Die Felder, die man füllen darf und soll, sind schon aufgezeichnet. Das Publikum ist hyperinternational, es ist aber auch hyperschnell wieder weg; der Austausch ist kurz. Die Produktionszeiten sind reduziert, und dennoch muss das Material neu sein, um dabeibleiben zu dürfen. Stattdessen bin ich dauernd auf Tournee und es bleibt kaum Zeit für Neues; es gibt auch keine Zeit für neue Realitäten, neue Zusammenhänge, neue Geschichten. Und dann war da auch das Fliegen, das so ziemlich aus der Mode kam. Und ja, dann könnte ich noch ein Stück produzieren, das anderswo gespielt wird von anderen Menschen, ohne dass ich hinfliegen muss. Dieser letzte Versuch einer Konfrontation mit der Problematik auf der Bühne hieß Solutions und war eher uninteressant; nicht zuletzt, weil man selbst gar nicht dabei ist und nichts erlebt, gar keinen Austausch mehr pflegt und das Interesse verliert. So wurde das Bleiben vor Ort immer mehr zum neuen Verlangen: lokal agieren, ohne in einer engen Denke zu verkommen. 24


Rausgehen ist Einsteigen

Wenn ich das alles beschreibe, klingt es so, als wäre die Kunstszene in meinen Augen weltfremd. Aber das meine ich gar nicht. Nur geht es meines Erachtens zu oft darum, neue oder fremde Realitäten in die Kunstwelt hereinzuholen, um sie innerhalb des Apparates zu verwerten. Der Gang von Kunstschaffenden in andere Bereiche der Gesellschaft, raus aus den Institutionen und hinein in andere Berufsfelder, soll also nicht nur andere Realitäten ins Theater holen, sondern auch den Wirkungskreis von Kunstschaffenden erweitern. Im Moment wirkt das eher negativ in Künstlerbiografien; so, als hätten es diese Künstler*innen nicht geschafft, von der Kunst zu leben. Aber vielleicht könnte das Rausgehen auch zunehmend als Vorteil oder gar Erfolg gewertet werden? Steigt ein, geht raus!

1 Der gebürtige Schweizer Martin Schick ist Kulturmanager des Innovations­ quartiers bluefactory in Fribourg/Schweiz, wie auch Co-Initiant einer Fachstelle für Partizipation der Genossenschaft Kalkbreite Zürich.

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Doreen Yuguchi

Doreen Yuguchi

In unmittelbaren Kontakt treten – Interaktionen am Lebensrand Bereits in meiner künstlerischen Arbeit war Interaktion für mich immer wichtig. Ich habe Formen der Interaktion in Performances untersucht und bin an einen Punkt gekommen, an dem ich das Artifizielle darin nicht mehr mochte, das Kreieren von Dringlichkeit. In dem Moment habe ich entschieden, mich Bereichen zuzuwenden, vor denen ich Angst hatte. Ich bin in die Hospizarbeit gegangen, an den Lebensrand, wo das Agieren sehr eingeschränkt ist. Dort habe ich versucht, etwas zu lernen und etwas von dem anzuwenden, was ich in der Kunst interessant fand: unmittelbaren Kontakt. Das Wissen, dass ich bei jemandem bin, der sterben wird, führte zu einer Distanzierung von der Kunst, die aber seltsamerweise bewirkte, dass ich näher an das herangekommen bin, was ich innerhalb der Kunst interessant fand: ebendiesen unmittelbaren Kontakt, geteilte Situationen, das Im-Hier-und-Jetzt-Sein, das Jetzt-hier-­etwasverhandeln-Wollen und -Müssen. Darin liegen sowohl eine Begrenzung als auch eine Form der Selbstermächtigung: in diesem extremen Moment etwas zu wagen; miteinander in Kontakt zu kommen. Im Anschluss an diese Erfahrung habe ich wieder künstlerisch gearbeitet. Ich bin ins Gefängnis gegangen und habe eine Arbeit mit einem jugendlichen Straftäter begonnen.

Freiheit in der Begrenzung suchen – künstlerische Arbeit im Gefängnis

Das Interesse daran, diesen Schritt zu gehen, ist entstanden, als ich mir eine theatrale Arbeit von Studierenden angesehen habe, die sie in einem Jugendgefängnis gemacht hatten. Dadurch habe ich einen Häftling kennengelernt, der im Gefängnis begonnen hat, Klavier zu spielen. Nach einem Jahr Üben in der Zelle hat er das Rondo alla Turca von Mozart gespielt. Dieses bekannte Stück ist unglaublich schnell und hat viele Wiederholungen, durch die der Häftling in seinem Spiel in einen Loop kam, aus dem er nicht wieder herausfand. Er spielte und spielte und wiederholte immer dieselbe Stelle. Mich hat es kaum auf dem Stuhl gehalten. Ich spiele noch nicht einmal Triangel, aber in dem Moment war ich so sauer und dachte: »So kann es doch nicht weitergehen. Warum kriegst du das jetzt nicht hin?«

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Ich hatte also eine wahnsinnige Aggression und wollte, dass er da irgendwie rauskommt. Dieses Moment hat mich interessiert, weil ich es auf seine gesamte Situation in diesem Gefängnis projiziert habe: Er sollte sich irgendwie rehabilitieren, da rauskommen. Und warum, verdammt, macht er das nicht? Das hat mich gereizt. Ich bin zu ihm hingegangen, wie er dasaß, sehr massiv, und habe zu ihm gesagt: »Ich bin bildende Künstlerin.« – »Was sind Sie?« – »­Bildende Künstlerin. Ich würde gerne mit Ihnen arbeiten.« Ich war total aufgeregt. Er sagte: »Was wollen Sie denn machen?« – »Ich habe keine Ahnung, ich weiß es nicht.« Daraufhin hat er mir die Hand gegeben und gesagt: »Gut.« Es hat sehr lange gedauert, bis ich die Genehmigung für eine Zusammenarbeit hatte. Von da an bin ich regelmäßig ins Gefängnis gefahren. Am Anfang haben wir uns im Rahmen der wenigen Besuchstermine getroffen, die den Häftlingen zur Verfügung stehen. Da haben wir beschlossen, tatsächlich miteinander zu arbeiten, woraus einige Veröffentlichungen entstanden sind. Die Arbeitsweise war folgende: Wir haben im Gefängnis zusammen etwas entwickelt und ich habe es dann rausgebracht in Ausstellungsräume. Dabei war von großem Interesse für mich: Wie sind in der Haft die Lebensbedingungen? Welche Begrenzungen gibt es? In der freien künstlerischen Arbeit hat man das Problem, alles machen zu können. Man muss es irgendwie zuspitzen und eine ganz dringliche Form, ein ganz dringliches Thema dafür finden. Im Gefängnis war der Rahmen extrem eng. Darin musste man eine ganz große Freiheit finden, oder man musste versuchen, sich da herauszuarbeiten. In einer Ausstellung außerhalb des Gefängnisses stand dann das elektronische Klavier des Häftlings im auf den Boden gezeichneten Grundriss seiner Zelle, mit Zeichen für Bett, Stuhl, Tisch. Das Klavier spielte seine Aufzeichnung von Mozarts Stück. Die Eigenwilligkeit seines Spiels und die Selbstkorrekturen werden in eine Partitur übersetzt. Die konnte man mitnehmen und vielleicht spielen. In seiner Zelle gab es dann auf den Boden gezeichnet den Grundriss seines ­Klaviers. Das haben die Ausstellungsbesucher*innen nicht gesehen, aber er, die Mitinsassen und Vollzugsbediensteten, wussten, sein ­Klavier, das ist grad draußen. Die Problematik bestand darin, dass ich die Künstlerin war, die ihre Medien beherrscht, und ich immer etwas von ihm wollte. Sein ­Interesse bestand darin, Zeit zu verbringen mit jemandem, der von

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­ raußen kommt, der eine andere Lebensrealität hat und der einfach d interessiert ist an seiner Realität. Der Gefängniskontext hat mich interessiert, doch mit diesem künstlerischen Wollen hat es für mich nicht funktioniert.

Einen anderen Weg wählen – therapeutisch handeln

Hinzu kam meine eigene Lebensrealität. Ich hatte zu dem Zeitpunkt mehrere Lehraufträge an Kunsthochschulen, aber mit der Finanzierung hat es nicht so richtig geklappt. Mein Leben war prekär. Da dachte ich: »Ich brauche jetzt noch etwas, das mich interessiert und das ich außerhalb der Kunst machen kann. Wie kann ich weiter in einem Gefängnis arbeiten, ohne dort Kunst machen zu müssen?« So bin ich zur Therapie gekommen und habe eine Therapieform gewählt, die mir wiederum sinnvoll erschien aus dem heraus, was ich vorher gemacht hatte: in der Interaktion, im Kontakt sein. Ich habe also die Ergotherapie gewählt, weil sie sehr stark auf Handlung abzielt und auf Handlungsfähigkeit oder Befähigung, auch unter eingeschränkten Bedingungen subjektiv sinnvolles Handeln wieder zu erleben und zu ermöglichen. Dieses Studium habe ich durchgezogen, bin in die forensische Psychiatrie gegangen und habe dort mit den Patient*­innen therapeutisch gearbeitet. Forensische Psychiatrien sind wie Gefängnisse mit Krankenhausstruktur, ein geschlossener, für die Außenwelt geschützter Rahmen. Forensische Patient*innen haben eine psychische Erkrankung und sind im Gefängnis, weil sie eine Straftat begangen haben im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung. Sie haben das Recht auf eine äquivalente Behandlung intramural, im Gefängnis. Die forensische Psychiatrie entspricht somit einerseits dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung, andererseits aber auch dem Wunsch, eine Rehabilitation möglich zu machen, sowohl im psychiatrischen Bereich als auch in Bezug auf die Straftat, eine soziale Rehabilitation, also Resozialisierung. Im Rahmen dieser Arbeit habe ich verschiedene Aufträge, zunächst gegenüber der Gesellschaft: Ich soll Straftäter*innen mit einer psychischen Erkrankung dazu befähigen, außerhalb der Gefängnismauern ein Leben zu führen, das im höchstmöglichen Maße sozialverträglich ist. Sie sollen also keine weiteren Straftaten begehen. Gegenüber den Patient*innen, die möglicherweise ganz andere Interessen haben,

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habe ich natürlich auch Aufträge: Sie möchten vielleicht ebenfalls gesunden und irgendwie heil durch die Institution hindurch. Doch die Krankheitseinsicht ist manchmal nicht allzu hoch. In der Therapie erlebe ich oftmals, dass die Patient*innen auch einfach in einen erfolgreichen Kontakt gehen wollen. Und das versuche ich. Wenn das gelingt, ist ganz viel getan – so glaube ich inzwischen.

Einen gemeinsamen Moment entwickeln – arbeiten an einem Ort der Krise

Zunächst einmal war ich aber in mehrfacher Hinsicht am Ort einer Krise: All mein Wollen und Wünschen und das, was ich mir in meinem Studium so schön zurechtgelegt hatte, hat überhaupt nicht funktioniert. Ich traf auf Menschen, die in verschiedenen Bereichen total gescheitert waren: im bürgerlichen Leben gescheitert, durch die Inhaftierung als Ganoven gescheitert. Obwohl, Ganoven trifft es nicht. Es ging um Vergewaltigung, Mord, Totschlag, Drogen – Verbrechen im großen Stil. Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten sind in der forensischen Psychiatrie sehr verbreitet. Ich habe auch mit Menschen zu tun, die schon bei dem Versuch gescheitert sind, sich zu suizidieren. Es geht also immer um extreme Krisen. Und ich komme frisch dorthin und denke, ich kann ihnen helfen und sie in ihrer Sozialisation ­unterstützen. Diese Unterstützung funktionierte erst, nachdem ich verstanden hatte, wie die Leute ihr Spiel spielen; wie sie versuchen, dort ihre Rollen aufrechtzuerhalten. Ich wollte das aufbrechen und ­öffnen, indem ich mich selbst radikal öffne. Das bedeutet aber einen Bruch mit dem, wie die therapeutische Arbeit stattfindet, weil die Therapeut­ *in doch zumindest vermittelt, eine Ahnung davon zu haben, wie der Therapieprozess gehen könnte. Ich wusste es oftmals nicht, und das ist im Kontakt auch rausgekommen. Meinerseits war natürlich ein gewisses Handwerkszeug da. Zum Beispiel wusste ich, wie ich so provozieren kann, dass jemand an seine Grenze geführt wird, dass jemand kollabiert, dass jemand im Tun ­feststellt, dass sein Selbstbild nicht der Realität entspricht, dass der Mensch mit Persönlichkeitsstörung, der sich für ganz großartig hält, im handwerklichen Tun feststellt, dass er ganz basale Sachen nicht hinkriegt und darüber, extrem verzweifelt, an einen Punkt geführt wird, der etwas öffnet.

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Ich glaube, dass die therapeutische Arbeit in dem Moment funktioniert hat, in dem ich es geschafft habe, ansatzweise eine Situation herzustellen, in der wir beide, der Patient1 und ich, in gewisser Weise nackig, roh, waren und versucht haben, gemeinsam etwas herzustellen; einen gemeinsamen Moment zu entwickeln, der eine Öffnung bringt. Und diese Öffnung hat es manchen Patient*innen ermöglicht, sich weiterzuentwickeln oder so etwas wie Interesse oder Perspektive zu erkennen. Dazu gehört auch ein Nichtwissen im Aufeinander-Zugehen wie bei dem Kontakt mit dem Klavierspieler im Gefängnis, wo ich zuerst gar nicht wusste, was für eine Form wir finden können, die wirkt. Diese Erfahrung war hilfreich für mich, auch in der therapeutischen Arbeit. Aber unter Kolleg*innen wurde dieses Vorgehen extrem kritisiert, weil es als distanzlos oder als zu offen angesehen wird. Das kann ich in gewisser Weise nachvollziehen, aber ich habe keine andere Wahl, weil es für mich nur in dieser Ehrlichkeit des Kontaktes geht; nur, wenn ich mich selbst auch ins Spiel bringe. Ich weiß, dass das in diesem Rahmen auch fragwürdig ist, weil man extrem gefährdet ist – ich gefährdet bin. Ich muss natürlich sehr genau schauen, denn ich habe Verantwortung auch den anderen Patienten gegenüber. Es darf keine Gefährdung der anderen entstehen. Sich zu entschuldigen, ist etwas, das in diesem Kontext eigentlich nicht vorkommt, glaubte ich damals. Aber es ist einfach passiert, dass ich etwas getan habe, beispielsweise jemanden provoziert habe, und im Nachhinein gedacht habe: »Das war wirklich bescheuert.« ­Beispielsweise hatte ich einen an Schizophrenie erkrankten Patienten, der einen dummen Witz gemacht hat. Und ich habe gesagt: »Sie haben wohl einen Clown gefrühstückt.« So etwas kann man jemandem, der paranoid ist und der Überzeugung ist, ein anderes Wesen besetze ihn, einfach nicht sagen. Das tat mir total leid. Therapeutisch gesehen hätte man das jetzt irgendwie stark umspielen müssen. Ich konnte jedoch nicht anders und habe gesagt: »Das tut mir leid. Das war eine totale Entgleisung. Das hätte so nicht sein sollen. Was können wir jetzt machen?« Sich zu entschuldigen, auch sich selbst als fragwürdig, begrenzt, nicht wissend zu zeigen, war extrem erfolgreich. Mit dem Patienten konnte ich danach auf ganz neue Art umgehen und arbeiten.

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Einmal musste ich mir wegen einer sehr ernsthaften Erkrankung einer Freundin kurzfristig Urlaub nehmen. In diesem Bereich, wo Beziehungen fragil sind und die Erwartung an die Therapeutin hoch ist, wo eine Therapiestunde schon eine Art Ausbruch sein kann oder zumindest eine Abwechslung, ist es ganz problematisch, wenn man einfach so von heute auf morgen in den Urlaub fährt. Ich habe mich also gefragt, wie ich das machen kann. Eigentlich wird man im therapeutischen Kontext nicht so privat, aber ich habe die Patienten zusammengerufen und versucht, ihnen meine Situation zu erklären: »Das ist eine nahe Freundin. Sie liegt im Sterben und ich möchte sie aus dem Krankenhaus holen. Ich muss da hin. Wie können wir damit umgehen?« In dieser Situation kam ein Gespräch darüber auf, dass viele der Patienten ihre familiären Rollen nicht erfüllen können. Auch sie haben Angehörige, denen es nicht gut geht. Da werden Kinder geboren, und sie können bei der Geburt nicht dabei sein. Da sterben Verwandte, und sie können nicht oder nur mit Hand-Fuß-Fesseln zur Beerdigung gehen, was sie dann natürlich nicht machen wollen. Es ergab sich also ein sehr produktives Gespräch mit den Patienten über diese Rollenzwänge und die Unmöglichkeit, soziale Rollen so einzunehmen, wie sie sich das wünschen. Ich habe damals auch in die Runde gefragt, ob jemand in der Zwischenzeit einen Blumentopf, der mir persönlich sehr viel bedeutet und der zu Hause vertrocknen würde, pflegen könnte. Da haben sich plötzlich alle gemeldet. So haben wir beschlossen, dass ihn jeder für einen festgelegten Zeitraum zu sich ins Zimmer nimmt und gießt. Als ich dann zurückgekommen bin von meiner Reise, sah ich schon von der Pforte aus hinter den Gittern eines Haftraumfensters meine gut gepflegte Blume blühen. Sie haben sie wahrscheinlich dorthin gestellt, um mich zu begrüßen. Ich hätte natürlich auch ohne dieses Gespräch gehen können. Aber ich glaube, es war hilfreich und hat zudem modellhaft gezeigt, dass man Dinge verhandeln kann und versuchen kann, sich persönlich herauszuschälen – auch in Angst. Denn ich hatte furchtbare Angst um diese Freundin. Das war therapeutisch wirkungsvoll. Es geht nicht darum, dort sämtliche eigene Probleme auszudiskutieren. Aber ich treffe an diesem Ort mit Menschen zusammen, die ihre private Geschichte bestimmt schon fünf verschiedenen Instanzen erzählt haben: Richter*innen und Therapeut*innen, Gutachter*innen und so weiter und so fort. Sie müssen sich immer wieder anhören, was

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sie falsch gemacht haben und wie ihre Geschichte eingeschätzt und bewertet wird. Da finde ich es nur fair, wenn ich, insofern es zur aktuellen Situation passt und zu dem, was wir gerade miteinander verhandeln, auch Dinge durchblicken lasse; und vor allem durchblicken lasse, wenn ich nicht weiterweiß. Denn das ist etwas, was wir zusammen ausprobieren können: Wir haben jetzt keine Ahnung, wie es weitergeht, wir halten das aber erst mal aus und gucken, ob sich Stück für Stück etwas entwickeln lässt; oder ob auf einmal eine Idee aufkommt, die man verfolgen kann. Was meine persönliche Öffnung angeht, hat sich die Arbeit in der Forensik für mich stark verändert, da ich nicht mehr nur für mich alleine verantwortlich bin, sondern ein Kind habe. Ich bin gespannt, ob und in welcher Form ich zurückkehren kann. Eine Grenze ist da gesetzt, wo es sicherheitsrelevant wird. Ein »Ich weiß, wo du wohnst« würde mir jetzt doch viel mehr Angst machen als früher.

1 Die hier beschriebene Erfahrung bezieht sich auf ausschließlich männliche Patienten.

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Wechsel/Wirkung

Berthold Schneider

Wechsel/Wirkung1 Die Idee entstand im Oktober 2018. Damals präsentierte Uwe Schneide­wind, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, bei uns im Wuppertaler Opernhaus sein Zukunftskunst-Buch Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Darin geht es um die Frage, wie man gesellschaftliche Transformationsprozesse durch neue Verbindungen von Kultur, Politik, Wirtschaft und Technologie in Gang setzen kann. Am Ende der dazugehörigen heißen Podiumsdiskussion stellte jemand die Frage: »Und? Was macht ihr jetzt konkret zusammen?« Ich habe Uwe Schneidewind daraufhin gefragt, ob er für einen Monat mit mir das Büro tauschen würde. Nach kurzem Zögern hat er spontan eingewilligt. Gemeint war: Ich sitze in seinem Büro in seiner Funktion, er in meinem Büro in meiner Funktion – also jeweils in einer Funktion, für die wir nicht qualifiziert sind. Hinzugezogen haben wir dann sehr schnell den Philosophen Christian Grüny und den Künstler Daniel Hoernemann, die uns während des Prozesses immer wieder auf den Füßen standen mit Fragen wie: »Warum macht ihr das? Was bedeutet dieser oder jener Schritt für eure Institution?« Der Fokus dieses unter dem Titel Wechsel/Wirkung realisierten Projektes lag für uns nicht darauf, die Inhalte der anderen Institutionen zu reflektieren. Stattdessen waren andere Ebenen für uns wesentlich: Auf der persönlichen war es unser Interesse, etwas über unsere Führungstechniken zu lernen – die Art, wie wir agieren, weil wir natürlich gewohnt sind, bestimmte Sachen so oder so zu gestalten, und in dieser Hinsicht auch nicht in Frage gestellt werden; jedenfalls selten fundamental. Dazu wollten wir in ein Umfeld gehen, das wir nicht kennen, in dem wir uns irgendwie bewegen müssen, irgendwie reagieren, irgendwie überleben müssen; und zwar nicht nur so am Rand, sondern richtig in den Eingeweiden. Hinzu kam die Ebene der Institutionen. Da gab es unterschiedliche Ansätze. Uwe sagte: »Wenn wir über Zukunftskunst reden, wäre es natürlich super, wir hätten jemanden in unserer Institution, dessen Kerngeschäft es ist, wirkungsmächtig zu sein.« Das passte hervorragend, denn in der Oper versuchen wir ja immer, die größtmögliche Geste zu erwischen, Inhalte und Emotionen in maximale Dimensionen zu heben und über die Grenzen des Theaters hinauszuwirken. Wir können Bilder generieren, die sehr eindrücklich und nachhaltig sind.

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Berthold Schneider

Das gelingt Wissenschaftlern eher weniger, außer derzeit gemeinsam mit der Bewegung Fridays for Future. Die Erwartung war also, dass jemand mit künstlerischen Ansätzen in den Wissenschaftsbetrieb schaut. Meine Fragestellung für die Oper wiederum war anders. Wir sind ein extrem effizienter Betrieb, haben schlanke Abläufe, können wahnsinnig schnell auf Dinge reagieren, tun das auch und fahren in einem hohen Tempo. Aber als Institution haben wir eigentlich keine Reflexionsräume. Ich dachte also: »Wir müssen mal in die Speichen greifen, das Rad ein wenig bremsen, damit es sich langsamer dreht und wir gezwungen sind, darüber zu reflektieren, warum wir das tun, was wir tun, und dann auch noch so effizient.« Mein Gedanke war, dass Kolleg*innen, die mit einem Problem zu Uwe Schneidewind kommen, erst einmal ganz weit zurückgehen müssen, um ihm begreiflich zu machen, was überhaupt das Problem ist. Ob er dann zu einer Lösung beitragen kann, ist fraglich. Aber die Kolleg*innen wären gezwungen, alles zu rekapitulieren: »Was hat zu dem Problem beigetragen? Wie sind wir in diese Situation gekommen? Warum ist das jetzt so, wie es ist?« Im Wuppertal Institut ist es mir ganz anders gegangen, weil die Kolleg*innen dort erst mal nichts von mir wollten. Dort arbeitet man komplett anders. Sie haben nicht die nächste Premiere vor sich, sondern sie haben parallel 50 Projekte laufen und zwar völlig autonom. Die Leitung brauchen sie für die großen Vorgaben und Perspektiven: »Wo geht’s in fünf Jahren hin? Wie wird das Institut nach außen vertreten und wie laufen die Finanzen?« Ich hatte mir ein Projekt mitgenommen, eine Veranstaltung zum Thema Arbeit, die wir anlässlich des 200sten Geburtstags von Friedrich Engels machen wollten. Als Grundlage habe ich mit den Kolleg*­ innen des Instituts ein Kapitel aus dem Buch Der Kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry gelesen und darüber gesprochen. Darin besucht der Prinz den kleinsten Planeten, auf dem es nur einen Bewohner gibt, den Laternenanzünder, der morgens die Laterne ausmacht und abends wieder an. Der kleine Prinz fragt, wie es ihm so gehe, und er sagt: »Es ist grauenhaft. Ich habe die Laterne schon immer morgens aus- und abends angemacht, aber inzwischen hat sich die Rotation des Planeten so erhöht, dass ich in einer Minute die Lampe anmachen muss und in der nächsten Minute wieder aus.« Im Institut gibt es keinen dezidierten Forschungsbereich Arbeit. Aber das Thema schwingt natürlich immer mit. Wenn sie vorschlagen, das Kohlekraftwerk XY früher stillzulegen, dann hängen daran so und

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Wechsel/Wirkung

so viele Arbeitsplätze. Egal, was sie anpacken, es geht immer auch um Arbeit. So habe ich mit dem Thema bei vielen einen Nerv getroffen und erfahren, wie sie selber arbeiten und wie sie Arbeit sehen. Ich konnte das als Input für das Festival nehmen und auch einzelne Wissenschaftler*innen integrieren. Umgekehrt waren die Mitarbeiter*innen sehr offen und haben mich in bestimmte Sitzungen und Entscheidungsgremien geholt, um zu erfahren, was der Mensch von der Kunst dazu zu sagen hat. Natürlich haben sie mich nicht gefragt: »Wie soll der Stellenplan 2023 aussehen?« Aber die Frage stand im Raum. Ich habe dann meinerseits immer nur Fragen gestellt; auch damit kann man ja Prozesse anstoßen, wie ich dort gelernt habe. Zudem haben diese Fragen dazu geführt, dass das Institut in Bezug auf Fridays for Future jene Neutralität aufgegeben hat, die es sonst gegenüber politischen Akteuren wahrt. Was mir im Institut besonders auffiel, war der niedrige Energie­ level der Sitzungen. Vergleichbares habe ich im Theater noch nie erlebt. Die Kolleg*innen im Institut erzählen sich gegenseitig, woran sie arbeiten; sie informieren, aber sie kritisieren nicht. Da gibt es keine Kultur des gemeinsamen Hinterfragens, aus der heraus dann Energie entstehen könnte. Das war für mich ziemlich schockierend – auch wenn ich natürlich bisweilen Schwierigkeiten hatte, den eigentlichen Inhalten zu folgen. Uwe Schneidewind wiederum wünscht sich tendenziell mehr Dynamik und fand das umgekehrt am Theater ziemlich beeindruckend. Bei uns sind die Sitzungen so, dass wir versuchen, virulente Konflikte aufbrechen zu lassen, um sie nicht weiter mitzuschleifen. Das heißt, man spitzt zu, versucht, das Ding explodieren zu lassen, einzufangen und auszutragen. Das ist im wissenschaftlichen Bereich wohl anders. Ich habe in den drei Wochen überhaupt nichts Konfliktartiges mitgekriegt. Dabei sind das ja auch keine Heiligen. Uwe Schneidewind war beeindruckt von der Ereignisdichte, die bei uns in der Oper herrscht, von der direkten Art der Auseinandersetzung und dieser Dynamik in den Sitzungen. Überdies war er interessiert daran, was er strukturell mitnehmen kann von dieser unglaublichen Konzentration, mit der 200 Leute auf eine Premiere hinarbeiten; und dann die ganze Frage des Marketings, also wie wir unsere Inhalte kommunizieren. Das hat ebenfalls mit dem Energielevel zu tun. Jedenfalls: Durch den Ämtertausch sind die Institutionen nicht untergegangen. Ich habe anschließend im Theater in Gesprächen mit den Mitarbeiter*innen versucht zu formulieren, was wir in dieser Zeit erlebt haben. Das war extrem unterschiedlich. Aber fast alle haben gesagt, dass sie so einen Tausch auch selber machen würden und an

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Selbstbewusstsein gewonnen hätten, weil sie gemerkt hätten, dass sie das alles auch ohne mich hinkriegen. Das habe ich dann auch zu spüren bekommen. Da war Bewegung in den Köpfen entstanden – auch durchaus kritische. Auf einer weiteren Ebene zielte das Projekt auf die Stadtgesellschaft ab. Es gab die von uns erwartete große mediale Resonanz und eine Menge Gespräche in der Stadt. Das schönste Feedback kam von einem führenden Wuppertaler CDU-Politiker: »Wir haben in der Fraktion diskutiert, ob einer von uns auch so einen Tausch machen sollte – mit jemandem von der SPD.« Das fand ich einfach großartig. Nach dem Projekt war ich eine ganze Zeit lang komplett verunsichert, wirklich irritiert: »Was mache ich? Wie geht das?« Uwe ­Schneidewind beschrieb das Gleiche. Ich könnte im Nachklang nicht sagen, was ich jetzt im Detail anders mache. Aber man kann Unruhe stiften und dadurch Bewegung erzeugen. Ich glaube, das ist das Wichtigste, was wir gelernt haben.

1 Vom 28. Februar bis zum 20. März 2019 tauschten der Intendant der Oper Wuppertal Berthold Schneider und der Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, Uwe Schneidewind, ihre Chefbüros. Der vorliegende Text basiert auf einer öffentlichen Gesprächssituation, in der Berthold Schneider von dieser ungewöhnlichen Begegnung von Oper und Nachhaltigkeitswissenschaft berichtete.

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Something might escape the plan

Augusto Corrieri, Joshua Wicke

Something might escape the plan A dialogue on post-theatre and background ­dramaturgies1

27 August 2020 Dear Joshua, I propose we try a letter-writing format. It’s a little old-fashioned; perhaps this suits a discussion around the theatre and the social. I would have written earlier, but I’ve been delayed by (you guessed it) the Covid pandemic, which has so many repercussions and «after-­ effects«, small and big, in every part of life and society. Impossible to quarantine the social consequences of the pandemic. The idea that we can press »stop« on our activities, and then »restart«, is absurd: it is in itself a mark of psychic suffering, and no doubt there is more to come. When we spoke on the phone a few weeks ago, a couple of things struck me. Firstly, you described the theatre as a constrained space, in terms of bodily rules and behaviours. I guess this is where design, architecture, and the dramaturgy of the audience all intersect: normative rules and conventions are inscribed in curtains, in balconies, in red velvet seats, as well as in temporalities of silence and applause. Going to the theatre means, partly, to agree to submit to this architecture of space and time, this dramaturgy of perception. In the past I have been struck by so many works or artistic formats which sought to move past or even trash these rigid theatrical systems, but often reproduced them in other ways. The fact of there not being any physical curtains, for instance, doesn’t mean their principle of hiding and revealing isn’t operative. The fact of there not being any fixed seating doesn’t mean the audience will somehow be liberated to spectate in an unfixed way. In short, we can leave the theatre, but the theatre doesn’t necessarily leave us.

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Augusto Corrieri, Joshua Wicke

Cuvilliéstheater München. Foto: Wilfried Hösl

I have always been interested in performance work that actually uses the theatre’s spatial and temporal conventions to its own advantage. The historic example that easily comes to mind is John Cage’s 4'33", in which pianist David Tudor sat at the piano for that duration, not playing a single note. The reason the piece »worked« (if it did) was that it was framed by, or »held within«, a conventional auditorium: a space dedicated to focused listening. A piece like 4'33" needs the rigid functionality of a theatre: it confirms the primary role of the auditorium, as a space of listening: listening, in the case of Cage’s piece, to whatever sounds are occurring – someone moving, coughing, a door shutting, a siren going by. Moving from hearing to seeing: the word »theatre« comes from the Greek theatron, the place of seeing. We go to the theatre to see people, to see the show, and to see the building. More recently I have been drawn to theatres as places in their own right. Echoing Cage’s invitation, I have approached theatres in states of emptiness, when »nothing is happening«, in an attempt to understand other life forms, species, other material entities (animate or inanimate), other temporalities at work in theatre spaces. The scene of a suspended sociality, I guess you could call it, in favour of allowing a background dramaturgy to emerge more clearly. I sometimes wonder if this is a little dispiriting. It’s as if I approach theatres as vacant or unused spaces, as ruins. Post-theatre. The apocalypse has already happened, and now

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Something might escape the plan

the task is to invent ways of inhabiting these inherited theatre spaces: the strange legacy of the théâtre à l’italienne. What are these large rooms for? Should we leave them vacant, rotting away? Should these spaces be maintained, to further explore what forms of sociality they might still allow? Which brings me to the second thing you mentioned in our phone conversation, and that I want to ask you about. You said that during the recent closure of the theatre you work in, as a dramaturg, there was this migration to Zoom, and the work of production and administration took centre stage. The sociality that normally underpins the functioning of a theatre was dramatically altered: no more corridor gossip or hanging out after a show. Just Zoom meetings. So I’m curious about the theatre as an institutional place of professional production, without the possibility of bumping into people, the rhythms of socialising, casual chats with colleagues, disagreements, etc. For instance, what role does gossip take in maintaining an institution such as a theatre? Yours, Augusto

29 August 2020 Dear Augusto, Thank you – I’m glad you took the initiative to get things going. My bad conscience was starting to haunt me, so I’m very grateful you took this first step. Also let me just briefly say that I like your proposal to exchange letters, even though it is a little strange to be writing in a shared Google doc: because, right now, you could actually see what I’m writing as I write it. That is, if you were online – which you’re not, since I can see there is no Augusto icon in the right corner of the doc. This past week most of the meetings – and there were a lot – revolved around (you guessed it) how to do theatre with a hazardous virus around. However, the maintenance of the theatre now is different

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than during lockdown: »the current situation« seems to be more ­integrated into the social practices, the routines, protocols, and rituals that, together with other things – the building, the legal entity, the different relations it entertains – make up the institution. There’s a new entity co-creating the theatre by affecting its internal procedures and its environment equally: the virus. I guess the virus could be considered a part of the so-called major dramaturgy, that idea of Marianne van Kerkhoeven’s that you quoted in your contribution for a book on

Korridor im Schauspielhaus Zürich. Foto: Joshua Wicke

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The Practice of Dramaturgy; this was the first text I ever read of yours2, 3. The virus may be tiny, but it’s part of this »major dramaturgy« – a dramaturgy that circles around the production, the theatre, the city, in ever expanding orbits, affecting the »inside« in various ways. I think that, in most cases, an uncontrolled appearance of that major dramaturgy within a show is perceived as disruptive. Like a somewhat unwelcome guest, disturbing the focus on the artwork, adding something to the mix that is not approved by the authors’ will. I guess I would like to think of 4'33" as an example of how to shift the frame so that, let’s say, an uncontrollable dramaturgy becomes the center – in that case the different sounds of a performance space – making graspable the material reality, or background, on which all shows are built. With that in mind I’m wondering about the »social« in theatre: what is the social actually made of? Is it an assembly, a gathering of people, or is it, in fact, more of an assemblage, an entanglement of different entities, both human and nonhuman? During lockdown we had to cancel all our shows; it wasn’t even possible to set foot in the building. In that period, though, I was struck by the fact that there was still work happening: the work of maintaining the theatre. Though this maintenance was rather particular: it felt like the theatre had been reduced to its structure – its administrative order, its organigram, without any actual bodies or material moving around the stage or through the buildings. Was that theatre that we were doing during long Zoom meetings, ­circling around problems that were coming up in other Zoom meetings, to deal with ever-changing knowledge about the situation that we were actually in? I want to take the subtitle of your book In Place of a Show: What Happens Inside Theatres When Nothing is Happening and twist it a bit: the question that arose for me was: »What happens ­outside of theatres when nothing is happening?«4 To me it felt like theatre was maintaining itself as an institution only by discussing itself as a topic. In systems theory, there’s the idea that systems that work in isolation from an external context actually create their own problems to process. Being stuck in that feedback loop felt more alienating than ever – as though structures were cannibalising themselves, magnifying and enhancing the hierarchies that are usually softened by social contact: bumping into each other outside of the institutional protocols,

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­ ossiping in the corridor, »private« gestures in meetings, a short g breeze of irony passing over someone’s mouth. In that locked-down situation, our work was a kind of empty planning, potentially infinite because of the absence of the usual limits and contingencies, the absence of corporeal, material processes, things that are not quite in order, that somewhat resist control. Paradoxically, in a situation that was so unplannable, what emerged was a bureaucratic, almost brutal fantasy of undisturbed planning, of idealised structure without ­anything in its way. I am thinking that, even in non-exceptional times, a tendency to »police material« (also a term you used in the dramaturgy chapter) is always present in theatre. But it’s not always brutal. For example, the policing of aerosols that might carry a deadly virus is a matter of care. But sometimes practices of material control also stifle the background noise or the major dramaturgy that shows up inside the theatre, the co-presence of bodily humans and other living and non-living materials, whose creaking and squeaking, movements, coughing, rumbling tummies, slamming doors also co-create a show – as in 4'33". What is happening now? I write this sitting in the shade of a birch tree, just next to the zucchini and fennel, in the courtyard of one of the ­theatre venues. When we spoke on the phone I was also wandering around this garden, which was planted here during lockdown and is now sprawling. This building used to be a shipyard. Then it was abandoned for some time and hosted illegal raves before it was eventually converted into a theatre. Before they could open it for the public, they had to dig huge holes into the ground and remove the toxic soil, which had been contaminated by the ship-building process. That’s why we have super-­ spacious workshops underground, on top of which I’m now sitting in the theatre garden, which is organised in boxes that are also remainders of logistical capitalism – on the sides I can see the logo of the Swiss train company and some codes I cannot decipher. It was quite a project to realise this garden – amongst the 300 employees of Schau­ spielhaus Zürich, nobody is paid to take care of plants. But there are a lot of people who bring in remarkable expertise about plants and gardening, even if it’s not professional or reflected in the organigram. Now there’s a gardening group that looks after it.

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Gartentheater im Schauspielhaus Zürich. Foto: Joshua Wicke

I am thinking now of theatre, its managed planning and designs of social models... and of this garden, as a space of random encounter, as assembly and assemblage. It is a social situation that is not designed to serve the needs of production, that maybe is not designed or planned at all, but rather emerging, growing. Maybe a certain kind of theatre has to come to an end in order to make space for emerging social models. Much like in Brecht’s Lehrstück theory – where there are no spectators, only participants who analyse and experiment with different ways of relating to one another (and I’d add: to the material surroundings)... or in a ritual... or in an art strike. I hope this is not too messy and that you can relate to some of my thoughts. I’m curious what you think. Warmly, Joshua

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Augusto Corrieri, Joshua Wicke

8 September 2020 Dear Joshua, Thank you. My thoughts are quite scattered, so I’ll order them with numbers, to create the impression of clarity. Number 1. I was struck by the idea of the virus, as you write, as a new entity co-creating the theatre by affecting its internal procedures and its environment. It suggests collaborating with the invisible, composing the social with intangible/potential entities. Allowing something unseen to affect your everyday planning and behaviour. We cannot truly know if or when the virus is here, with us, but we act as if it is: we plan and live as if this undesired guest was taking a seat of honour at the theatre with us. We need, in a sense, to believe this unwelcome guest is here, in order to truly adjust our behaviour, which is an oddly »theatrical« operation. I remember in France and elsewhere the virus was labelled an invisible enemy by the government. A kind of filmic cliché or expression: the invisible enemy, sleeping with the enemy, the enemy within. There’s certainly a fear that plays on the borders between inside/outside, the indoor/outdoor: the body itself as a kind of room that needs to be sealed, to not let anything harmful in, or out. The careful policing of borders and entry points (the nose, the eyes, the mouth), and the policing of what’s already inside, as though it too might need ­excluding. But the flipside of this bio-political regime is the renewed acknowledgment of just how porous these borders really are. What I mean, quite simply, is that when we, for example, smell a particular food, or a flower, we are in fact ingesting particles of that food or flower. And so the atmosphere we inhabit is more like an ocean in which our bodies are immersed. The virus reminds us that we are creatures always engaged in exchanges of fluids, particles, bacteria. The »social« is also this exchange with the invisible, always. Undetected migrations, flows. Always rubbing together, always touching (touch being what makes the word con-tagion, with touch). And so, to make another connection: there is always background dramaturgy, all the time – no matter how much, for example, we fuck up the planet and pour concrete and plastic everywhere. I look down at the pavement and see a group of ants carrying away a lollipop stick.

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Something might escape the plan

Vlatka Horvath. This Here and That There. Installation im Haus der Kulturen der Welt Berlin 2007. Fotos: Hugo Glendinning

The cosmos is literally going on at my feet, regardless of our actions. So no matter how much we shut the room up, there are still sounds happening. This was, after all, Cage’s big discovery, when he visited a completely sealed room, also known as an anechoic chamber: he could hear the sound of his blood, the electricity of his nervous system. Always things happening, inside/outside/in-between/moving through. The cosmos vibrates and re-makes itself, every moment, in the stalest and shittiest environments we can imagine. Number 2. I’m thinking of a work by the British-Croatian artist Vlatka Horvat entitled This Here and That There, in which chairs are slowly assembled in different configurations, suggesting social events to come, or which have just occurred. It’s a reminder that the arrangement of chairs at the theatre, of whatever kind, is of course never neutral or »given« or natural; it has a history and an ongoing politics. The way the virus has instantly cut into that arrangement is interesting: suddenly chairs must be taken out, left empty (as though »reserved« for an invisible guest), and the whole arrangement of chairs, inasmuch as it reflects society, needs to be redesigned. Number 3. I laughed at the comment you made, at the start of your letter, about your nervousness in writing in the Google doc, »live«, so that, if I were online, I could potentially »see you« writing. It’s perhaps

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an obvious point I make here: your comment reminded me of a kind of digital panopticon, what Byung-Chul Han calls the society of transparency, or Deleuze the societies of control. It is a society in which we transparently give ourselves to work, of our own free will, with creative energy and self-motivation. This model differs from the earlier regime of power, broadly formulated by Foucault under the banner of »­discipline«, clearly authoritarian, imposed from above and internalised. In this new model we are not, in a sense, constrained or submitted to a system: we freely and willingly set out to express ourselves, and that’s why it is so successful. There are these two models of societal ordering: the disciplinary Foucaultian model, and the more current control society described so well, I think, by Han. I certainly identify the theatre auditorium with the first disciplinary model, but of course all the offices of production conform to the society of transparency. And so there is perhaps an interesting temporal schism at »the theatre«: different paradigms of power, inhabiting the same building. Best, Augusto

11 September 2020

Hi Augusto, A list! On the way to something clearer, as you say. Number 1. You are certainly right: there is always movement, development, growth, and decay happening. The background dramaturgy is always an essential part of what’s happening in theatres – even if it’s not obscured, or excluded in the practice of producing and in the aesthetic experience. During lockdown I had a beautiful interview with the artist and writer Johanna Hedva – which I never managed to publish, because in the blink of an eye things went back to their usual busy-ness. In that interview, without ever mentioning the Covid crisis, we talked a lot about pessimism. There’s something terribly soothing in the idea that the cosmos will go on, even without humankind playing a role in it. A kind of dark ongoingness. In a play I accompanied last season there’s this one line: »Die Natur kennt keine Katastrophen« (»Nature knows no catastrophes«).5

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Something might escape the plan

I guess we might consider the possibility that a vaccine will never be found and that the virus will take (away) the seats forever, and we might learn to live and do theatre together with the viruses, bacteria, mice, the burning forests, the islands of plastic, and so forth – and integrate them into our understanding of the actions and events that make up the theatre. In my view, that’s one of the crucial question of the moment: how do we let those sometimes intangible, sometimes heavily material, vast and vague entities or assemblages take the stage? And still, even though the major dramaturgy has always already made it in those sealed places you write about, sneaked through the seams and tiny cracks and openings, carried in by the »police« them­ selves, there’s a great effort made to exclude it again. The sealing of theatre spaces functions to keep the flows and movements of ma­­ terial under control. Theatre in that sense also enacts a rather technical or techno-capitalist notion of material: in bad planning, in logistics, as shown in Black studies especially by Fred Moten and Stefano Harney, material is rendered as movable, unable to resist, inex­ haustible. The replenishment and maintenance of bodies and other materials, and the creation of relation, is conceived as a problem unrelated to the in­stitution, a private problem or the Other’s problem, even though the institution depends on its reproduction and surplus. That maybe resembles what Moten and Harney describe in The Undercommons, or Silvia Federici in Caliban and the Witch – some kind of excluded inside or included outside that’s the denied foundation of production, and also politics in a racialised, patriarchal, extractive capitalism. 6, 7 Number 2. I did not know Vlatka Horvat’s work. It’s beautiful and made me think of a couple of things: not all of the arrangements are theatrical in the sense that they propose an order of gazes. If we sat in a long line of chairs, one behind the other, I’d imagine that the focus wouldn’t be visual: it would be more about whispering into the ear of the person sitting in front of you, and maybe only seeing the back of their head. Some arrangements do not invite sitting at all, but rather leaving the upright position – which is so connected to civilisation and human exceptionalism – and lying down, maybe sometimes even in the water, maybe making you temporarily lose your ability to see and hear. That reminds me of something you wrote in your first letter about a »dramaturgy of perception« that one submits to when entering a theatre. I think of Ana Vujanović’s »landscape dramaturgy«, where she explores performance work that invites more dispersed

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attention and synaesthetic modes of perception and thus different kinds of spacing and pacing. 8 Number 3. A schism is certainly at play here. Working as I do in an institution that has only recently adopted contemporary management models, I’d add that it is not necessarily a schism between »art« and administration. You could also apply the idea of the »theatre within us« to the employees and bosses working backstage – still, most of us were socialised in a hardcore authoritarian system called Stadttheater, and it’s hard work to shake it off. So in my experience at the moment, there are different modes of management and production at play. And there are artists and groups that, over the last two decades, have deliberately embarked on an »exodus« from institutions, as Hardt and Negri might have called it, developing instead collaborative production models and practices of instituting.9 That work is now being re-integrated, and it affects the institution in different ways. The line between long-needed democratic reforms of a fucked-up system and the neoliberal liquidation of a stable institution is sometimes hard to draw, especially when collaboration, freedom, and creativity are means of production and the path to enhanced productivity in the art field. Any expanded sense of the social is likely to be rendered an exploitable and inexhaustible resource. But even within that abstract entity »the institution«, in that excluded or included exterior made of vibrant matter, random encounters, proliferating plants, gossip, casual gestures in meetings, something might escape the plan.

Minneapolis, 2020. Foto: Aren Aizura

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Something might escape the plan

Finally, I think of a picture that started circulating on social media during lockdown, when the protests against racist police violence erupted in Minnesota, triggered by the murder of George Floyd: it showed a fucked-up tiled wall in an apparently abandoned place, maybe a subway station, with a message scrawled in graffiti: »Another end of the world is possible«. I think back to the pessimism I started this letter with. I wonder how our conversation would change if we assumed that we are in fact witnessing the end of theatre, as the admonishers of cultural politics currently see it. What if instead of saying that another theatre is possible, we say, another end of theatre is possible? What end would we choose? What would we like to grow on those future ruins? How would we like to emerge from it? Warmly, Joshua

1 Der Künstler Augusto Corrieri und der Dramaturg Joshua Wicke setzten einen Gedankenaustausch fort, der 2019 mit Corrieris Essay »The emptiness of the empty theatres« (https://www.schauspielhaus.ch/de/journal/18274/lockdown-­ theatre-3-the-emptiness-of-the-empty-theatres) begann. 2 Van Kerkhoven, Marianne: »The Theatre is in the City and the City is in the World and Its Walls are of Skin«, in: Etcetera, October 1994. »It seems to me that there is such a thing as a major and a minor dramaturgy, and although my preference is mainly for the minor, which means those things that can be grasped on a human scale, I would here like to talk about the major dramaturgy. Because it is necessary. Because I think that today it is extremely necessary. We could define the minor dramaturgy as that zone, that structural circle, which lies in and around a production. But a production comes alive through its interaction, through its audience, and through what is going on outside its own orbit. And around the production lies the theatre and around the theatre lies the city and around the city, as far as we can see, lies the whole world and even the sky and all its stars. The walls that link all these circles to­­ gether are made of skin, they have pores, they breathe.« 3 Corrieri, Augusto: »The Rock, the Butterfly, the Moon and the Cloud: Notes on Dramaturgy in an Ecological Age«, in: Georgelou, Konstantina/Protopapa, Efrosini/­Theodoridou, Danae (Hrsg.): The Practise of Dramaturgy. Working on Actions in Performance, Amsterdam 2017. 4 Corrieri, Augusto: In Place of a Show. What Happens Inside Theatres When Nothing is Happening?, London 2017. 5 Frisch, Max: Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin 1979, S. 103. 6 Moten, Fred/Harney, Stefano: The Undercommons. Fugitive Planning and Black Study, New York 2013, S. 87. 7 Federici, Silvia: Caliban and the Witch. Women, the Body and Primitive Accumulation, New York 2004, S. 61. 8 Vujanović, Ana: »Zusammen mäandern. Neue Tendenzen in der Landschaftsdramaturgie«, in: Umathum, Sandra/Denk, Jan (Hrsg.): Postdramaturgien, Berlin 2020. 9 Hardt, Michael/Negri, Antonio: Commonwealth, Cambridge 2009, S. 150.

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Zeitsprünge

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Das Kommune in der präsentischen Demokratie

Isabell Lorey

Das Kommune in der präsentischen Demokratie Für ein alternatives Praktizieren von Demokratie sind Praxen des Kommunen unabdingbar. Wir müssen solche Praxen nicht völlig neu erfinden und sie modellhaft in die Zukunft projizieren. Bleiben wir in der Gegenwart und aktualisieren Praxen aus der Vergangenheit. In Demokratie im Präsens1 geht es um die Konzeption einer politischen Gegenwart, mit der die liberale, auf Repräsentation basierende Begrenzung von Demokratie aufgebrochen und Demokratie neu gedacht werden kann. Um eine solche präsentische Demokratie zu entfalten, ist immer wieder eine Aktualisierung von historischen Praxen der Kommune erforderlich, die aus sozialen und politischen Kämpfen entstanden sind. Ich möchte die/das Kommune nicht von der Zukunft her denken, nicht von der Antizipation einer sogenannten Enkeltauglichkeit, sondern durch die Aktualisierung vergangener Praxen. Zwei Praxen der Kommune konnten 2021 ein rundes Jubiläum feiern: die Pariser Commune von 1871 und die munizipalistischen Praxen, die in Spanien aus den Besetzungs- und Demokratiebewegungen von 2011 entstanden sind. Kommune in diesem Sinn ist keine Gemeinschaft, die über Zugehörigkeit gedacht wird, und auch keine Rückzugsenklave. Kommune ist nicht (aus-)schließend, sie entsteht vielmehr aus repräsentationskritischen Praxen radikaler Inklusion. Es ist interessant, sich der Kommune über das Fest und die Gastfreundschaft zu nähern; darüber, was sich nicht einpassen lässt in die Logik eines ›Volkes‹ oder einer schließenden, begrenzten Gemeinschaft. Republikanisches Fest

Jean-Jacques Rousseau hat nicht nur den Gesellschaftsvertrag und damit eine bürgerliche Demokratie des männlichen ›Volkes‹ konzipiert, sondern auch erhellend über das Fest in der Kommune der Stadt geschrieben. Anders als bei seiner Konzeption eines souveränen vereinheitlichen ›Volkes‹ nimmt er beim Fest eine relative Heterogenität wahr, die Gastfreundschaft zulässt. Die Einzelnen sind wechselseitig verbunden und voneinander abhängig, woraus Sozialitäten entstehen, die nicht mehr einfach feminisiert werden. Es ist nicht das ›Volk‹, das ein Fest feiert, sondern vielmehr seine komplementäre Figur: die ­Multitude, die Rousseau aus der auf das ›Volk‹ beschränkten Sphäre des Politischen aus- und in die des Sozialen einschließt.

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Rousseaus Sexismus ist vielfach besprochen, sein vehementes Eintreten für eine heteronormative und hierarchische Geschlechterordnung, die Frauen aus dem Politischen ausschließt, umfassend diskutiert. Absehend von seinem bürgerlichen Maskulinismus interessiert mich, wie sich Rousseau in seiner repräsentationskritischen Perspektive das Zusammenkommen der Multitude als republikanisches Fest vorstellt, denn das finde ich inspirierend für eine queer-feministische Form von Demokratie. Rousseau befasst sich ausführlich damit, wie sich das kommunale Zusammenleben gestaltet, wenn der ›Volks‹-Souverän, also die bürgerlichen Männer, nicht versammelt ist. In seiner Betonung der Versammlung lehnt Rousseau nicht nur die Repräsentation des Souveräns ab, sondern auch die theatrale Bühne. Eine freie Gesellschaft will er sich nicht im Zuschauer*innenraum des Theaters vorstellen. In seinem 1758 erschienenen Essay Brief an d’Alembert über das Schauspiel spricht er sich explizit gegen ein Theater in seiner Heimatstadt Genf aus. Das Theater ist ihm ein obskurer Ort ästhetischer Repräsentation, in dem »eine kleine Zahl von Leuten in einer dunklen Höhle trübselig eingesperrt ist, furchtsam und unbewegt in Schweigen und Untätigkeit verharrend [...]«2. Die Darbietung auf der Bühne kann Angst einflößend sein, im Dunkeln, ohne dass das Publikum die Möglichkeit hätte, sich zu bewegen oder seine Stimme zu erheben. Es ist dazu verdammt, untätig auf den Sitzen auszuharren. Gegen diese theatrale Domestizierung und Unbeweglichkeit setzt Rousseau das Versammeln der Vielen im Freien, um gemeinsam ein Fest zu feiern. Ohne Bühne einer Institution wie die des Theaters werden die Zusammenkommenden selbst zu Akteur*innen in der Bewegung, zu einer Art Theater, das in seiner Wahrnehmung allerdings nichts zeigt, nichts aufführt. Die Weise, wie Rousseau das Fest gegen die Repräsentation stellt, durchbricht die Dichotomie zwischen Präsenz und Repräsentation. Wenn er statt der (Für-)Sprecher*innen auf der Bühne die Geschäftigkeit des Alltags hervorhebt, hat er keine Gegenwärtigkeit, keine Präsenz im Sinn; er setzt nicht Vermittlung gegen Anwesenheit, sondern Herstellung gegen Darstellung. Es geht ihm in vielfacher Weise um Bewegung und Austausch, um das Herstellen und Gewahrwerden von Verbindungen in der Gegenwart. Begeistert von Genf schreibt er: »Alles ist beschäftigt und in Bewegung.«3 Es ist der Alltag in Bewegung, den Rousseau herausstreicht, Bewegungen im Jetzt. Er rückt die Bewegungen der Stadt, diese verbundene Heterogenität, in den Vordergrund – was er in seiner Konzeption des Politischen nicht wagt.

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In Genf beobachtet Rousseau, dass sich die Stadtbewohner*­ innen in unterschiedlichen Zusammenhängen regelmäßig versammeln und austauschen. Diese Auseinandersetzungen sind republikanische Aktivitäten, die in sogenannten Zirkeln, vielleicht auch schon Clubs, stattfinden; eine Versammlungspraxis, die nicht allein Männern vorbehalten ist. Auch Frauen haben ihre wiederholten Zusammenkünfte.4 Solche in den Alltag integrierten verbindenden Versammlungen versteht Rousseau als wiederholte »Nachahmungen«, die »zu freien Menschen passen«5. Das Bühnenspiel im Schauspielhaus dagegen stellt für ihn eine Art von geistiger Zerstreuung dar, die republikanische Aktivitäten des Versammelns untergräbt und Nachahmungen lediglich als Spektakel zeigt.6 In der Republik braucht es öffentliche Zusammenkünfte, die entstehen, wenn sich die Vielen »oft […] versammeln und untereinander die sanften Bande des Vergnügens und der Freude […] knüpfen«7; wenn sie viele öffentliche, offene Feste feiern. »[...] [S]orgt dafür«, so Rousseau, »dass ein jeder sich im anderen erkennt und liebt, dass alle besser miteinander verbunden sind«8. Die Feiernden brennen darauf, ihre Freude »mitzuteilen und auszutauschen. Wen immer er [der Genfer] gerade trifft, lädt er ein. [...] Aus vielen Gesellschaften wird eine einzige, alles wird allen gemeinsam.«9 Es ist ein Schauspiel, das das Gemeinsame herstellt, eine offene, verbindende, gastfreundliche Sozialität, zu der Beliebige eingeladen werden; eine, die Differenz und Heterogenität im Entfalten des Gemeinsamen aufnimmt und zulässt. Beim republikanischen Fest Rousseaus ist es die Multitude im Überfluss des Gemeinsamen, die sich versammelt und sich bewegt. Wortführer*innen und Vermittler*innen sind nicht notwendig. Rousseau will in aller Öffentlichkeit die Plätze besetzt wissen, den Austausch und die sozialen Verbindungen feiern: Versammelt die Vielen und ihr werdet ein Fest haben – so ließe sich seine Devise zuspitzen.10 Würde er auch in seiner politischen Schrift über Feste schreiben und die Bildung des Gemeinsamen als politische Akte wahrnehmen, müsste er von der Multitude reden, die sich auf den Plätzen versammelt, sich austauscht und ihre Verbundenheit feiert, nicht vom ›Volk‹ der Bürgermänner. Gastfreundschaft der kommenden Demokratie

Offene Versammlungen wie die des Festes implizieren ein gewisses Verständnis von Gastfreundschaft, von einem gemeinsamen Zusammenleben und damit vom Kommunen. Jacques Derrida hat, wenn er sich positiv auf Demokratie bezogen hat, von einer »kommenden Demokratie« gesprochen.11 55


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Bedeutet dieses Kommende, dass diese Demokratie eine Zukunft hat und sich erst dann verwirklicht? Oder verweist das Kommende viel eher auf die Gegenwart, auf das Jetzt? Wie hängt das Kommende mit Gastfreundschaft zusammen, mit offenen Grenzen? Und wie müssen wir die Gegenwart begreifen, damit das Kommende, das, was kommt, was ankommt, einen Platz hat? Anders als die repräsentative, liberale Demokratie verschiebt die kommende Demokratie nichts in die Zukunft. Wenn Derrida im Französischen von démocratie à venir spricht, rückt er von dem Wort avenir ab, französisch für Zukunft. Ganz explizit stellt er stattdessen à venir (kommend) in die Nähe von devenir (werden).12 À venir meint ein Kommen, das nicht künftig ist, sondern im Kommen bleibt – eine Bewegung oder Dynamik, die wiederkehrend in der Gegenwart stattfindet. Das Kommende dauert an, es ist ein Werden, weder teleologisch noch kontinuierlich, weder gradlinig noch antizipatorisch. Derridas Figur des Kommenden meint nicht die Zukunft, sondern eher eine ausgedehnte, unvorhersehbare Gegenwart, die andauert und im Werden bleibt. Diese Gegenwart ist ohne identitäre Präsenz und sie ist keine unmittelbare Gegenwärtigkeit.13 Ein erster Reflex ist es oft, dass damit alles, was wir als Utopie, als Zukünftigkeit zu bezeichnen gewohnt sind, verloren zu gehen scheint. Als ob alles nur in der Zukunft besser werden könnte und die Gegenwart nicht veränderbar, das Anfangen im Jetzt nicht möglich wäre. Immer wieder wird gefragt: Wie weit soll Demokratie gehen? Wie viele dürfen (dazu-)kommen? Wie viele dürfen ankommen? Wem wird Gastfreundschaft zuteil? Die eingegrenzte Demokratie, die sich autoimmunisierend auf die Konstruktion eines ›Volkes‹ oder einer Gemeinschaft zurückzieht, kann keine offene Gastfreundschaft anbieten, denn sie konstituiert sich zuerst als Hausherr*in. Erst nachdem sie nur Gleiche nach Herkunft und Geburt für zugehörig erklärt und alle Ungleichen in unterschiedlicher Weise verwiesen hat – markiert, hierarchisiert, ausgeschlossen –, kann sie sich unter bestimmten Umständen Gastfreundschaft vorstellen. Die Ausgrenzung ist primär, Gastfreundschaft als (Wieder-)Aufnahme sekundär. Es ist eine begrenzte und bedingte Gastfreundschaft, die nicht berücksichtigt, dass die als anders und fremd Positionierten auch dem demos und damit dem Kommunen selbst angehören (können).14 Dagegen hält die entgrenzte, die kommende Demokratie nichts von bedingter Gastfreundschaft, die auf Ausgrenzung basiert. Entgrenzte Demokratie bricht mit der Konstruktion einer imaginierten

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Homogenität ebenso wie mit jener von Ursprungs- und Herkunftsorten. Stattdessen markiert die kommende Demokratie »eine ›ursprüngliche‹ Heterogenität […], die stets schon hereingebrochen ist«15, und die mit dem, was kommt, hereinbrechen kann, um die Demokratie zu öffnen. Das Kommende des à venir legt großen Wert auf die Ankunft, auf eine Ankunft, die unvorhersehbar, unberechenbar, kontingent ist, auf das unvorhersehbare Ereignis, auf das Kommen der beliebigen anderen, die man nicht kommen sieht, auf das, was kommt, ohne dass es sichtbar wäre.16 Eine Gastfreundschaft, die sich dem Unvorhersehbaren, der Unbestimmtheit, dem immer prekären Kommenden in der Gegenwart stellt, ist ohne Bedingung, ohne Gegenleistung. Sie ist für Derrida »absolute Gastfreundschaft«. Eine solche Gastfreundschaft basiert nicht auf einem geschützten und schützenden Zuhause oder einer Gemeinschaft. In der absoluten Gastfreundschaft verändert sich auch der Ort des Zuhauses unentwegt, ist in strengem Sinne heim(at)los, im Werden, unterwegs – nicht zuletzt aufgrund der unvorhersehbaren und anhaltenden Wiederkehr des Kommenden. Die Unterscheidung zwischen Wirt und Gast löst sich auf. Über Derrida hinaus möchte ich betonen, dass diese radikale Gastfreundschaft gerade deshalb sozial ist, weil sie die Tausch- und Schuldenökonomie des munus, der Abgabe innerhalb einer Gemeinschaft, einer communitas, aussetzt und kein Darlehen verlangt, keinen Kredit gibt, der zurückgezahlt werden muss.17 Wer auch immer kommt, wird eingeladen, ist willkommen. Diese Praxis radikaler Inklusion18 setzt die Logik der munera als Bedingung der Zugehörigkeit zu einer communitas aus, indem sie exzessiv gibt, eine unbedingte soziale Gabe der Gastfreundschaft: Diese Aufgeschlossenheit, mit beliebigen anderen zusammenzukommen, das gegenseitige Vergnügen, die radikale Heterogenität zu genießen, kann auch als eine Art Fest verstanden werden. Verbundenheit und Kooperation werden nicht durch die Idee eines ›Volkes‹ abgeschlossen und eingegrenzt, sondern prekär in der unkalkulierbaren Gegenwart in Bewegung gehalten; sie bleiben im Kommen. Die radikale Gastfreundschaft geht von einer Sozialität aus, die nicht die Autonomie und Selbstbezogenheit primär setzt. Sie entspricht einer Haltung, die als soziale Praxis über das Ereignis der Ankunft oder des Festes hinausgeht. Die soziale Praxis bleibt dem anderen radikal zugewandt. Es ist immer möglich, dazuzukommen, das _Mit_ zu erweitern.19 Das stets mögliche festliche Vergnügen besteht darin, miteinander zu reden, zu essen und zu leben, kurz: in

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der »unleugbare[n] Erfahrung der Andersheit des anderen, des Heterogenen, Singulären, Nichtselben, Verschiedenen, der Asymmetrie und Heteronomie«20. Im Unterschied zum Rousseauschen Fest ist die radikale Gastfreundschaft als Haltung und soziale Praxis kein wiederholtes Ereignis, sondern eine Lebensform: Handeln ohne Aufschub, dringend, gerade ohne einer Norm oder einer Regel zu folgen, ohne zu wissen, »welcher Weg einzuschlagen ist«21. Die kommende Demokratie bleibt im Kommen und lässt sich als eine permanente, soziale Revolution verstehen. Pariser Commune

Vor etwas mehr als 150 Jahren betonte Marx in seinem Text Bürgerkrieg in Frankreich, den er inmitten der Pariser Commune schreibt, jene neue schöpferische Selbstregierung, »die die moderne Staatsmacht bricht«22. In der Aktualität klar erkennbar, war diese »Revolution gegen den Staat«23 allerdings nicht nachhaltig. Die politischen Verhältnisse wurden nicht dauerhaft zum Tanzen gebracht, sondern im Mai 1871 in der Blutwoche durch die französische Armee brutal zerschlagen. Doch die Pariser Commune ist nicht einfach eine gescheiterte Revolution.24 In der Commune lassen sich viele Konstellationen aufspüren, die wiedererkannt und deren Energien erneut freigesetzt werden können. In welcher Weise eine solche Aktualisierung geschehen kann, hängt allerdings entscheidend von der Interpretation der Geschehnisse ab, die als Pariser Commune bezeichnet werden. Es gehen viele widerständige Praxen verloren, wenn die Commune einfach als Aufstand verstanden wird, als einziger großer Bruch.25 Auch ist es wenig sinnvoll, ein auslösendes Ereignis, einen Ursprung oder einen Gründungsmoment festlegen zu wollen.26 Darstellungen zeitgenössischer Chronist*innen zufolge waren es die Frauen, die am 18. März 1871 den Anfang machten. Früh unterwegs, um Nahrungsmittel zu organisieren, waren sie es, die Alarm schlugen und die Verteidigung der Kanonen der Nationalgarde ermöglichten.27 Aber auch solche Gründungsnarrative reißen die Ereignisse des 18. März aus einem vielfältigen und zu diesem Moment schon länger fortdauernden Prozess heraus, in dem dieser Tag nur eine kontingente Verdichtung von Praxen und Ereignissen war. Es gab keinen spontanen einzigen Anfang. Inmitten der bürgerlichen Herrschaft entfalteten sich am Ende der 1860er Jahre wiederkehrende, immer wieder erneut zusammengesetzte und zum Teil aufeinander aufbauende Praktiken des Wider-

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stands. Entscheidend dafür war nicht zuletzt die Durchsetzung der Presse- und Versammlungsfreiheit von 1868: Hundert Jahre nach Rousseau entstand eine ganze Bewegung von unzähligen Versammlungen und Klubs.28 In vielen Zusammenkünften wurden immer wieder auch der Ausschluss der Frauen aus der Politik und ihre Diskriminierung im Alltag als Frauenfrage diskutiert. Patriarchale Geschlechterverhältnisse wurden in Frage gestellt, Möglichkeiten von Ehescheidungen und stattdessen freier Vereinigung waren ebenso Gegenstand der Diskussion wie Bildung, Prostitution und die Reorganisation von Frauenarbeit.29 Bereits 1869 wurden immer mehr Versammlungen aufgelöst, 1870 das Versammlungsrecht sogar für vier Monate ausgesetzt, doch anschließend waren die Versammlungssäle schnell wieder gefüllt. Immer häufiger waren auf munizipaler Ebene Forderungen nach lokaler Autonomie und Selbstregierung zu vernehmen. Auch der Ruf nach einer Commune wurde immer lauter. Im Spätsommer 1870 kam es in ganz Frankreich zu aufständischen Situationen: In einigen Städten wurden zu der Zeit bereits Kommunen ausgerufen, die oft blutig niedergeschlagen wurden.30 Die Liberalisierung des Versammlungsverbots erleichterte das Organisieren von Streiks, deren Anzahl wie die Anzahl der daran Beteiligten massiv anstieg.31 An vielen Orten transformierten sich Klub-­ Versammlungen in gesellschaftsverändernde Zusammenkünfte und produzierten das »kollektive Verständnis [...] einer urbanen Öffentlichkeit«32, die sich vor allem in neuen sozialen Zusammenhängen in den Quartieren als wechselseitige Sorge äußerte. Probleme der sozialen Reproduktion und des Alltags wie Miet- und Nahrungspreise waren die Themen, die in den Versammlungen besprochen wurden. Aus Sorgebeziehungen, die im urbanen Nahbereich neu gestaltet wurden, entstanden während der Commune auch die Volxküchen. Die in den 1860er Jahren sich ausbreitenden neuen pädagogischen Praktiken, mit denen vor allem Frauengruppen das Erziehungssystem dem ­Klerus zu entreißen und die Bildungssituation von Frauen zu verbessern suchten, brachte viele junge Lehrerinnen aus der Provinz nach Paris; einige wurden wie Louise Michel zu wichtigen Akteurinnen der Commune.33 Als im September 1870 die Zensur der Presse eingestellt wurde, konnte eine Phase des exzessiven Experimentierens mit allen möglichen Medien beginnen: Unzählige Zeitungen entstanden, in den Städten hingen viele politische Plakate und Anschläge, häufig waren Karikaturen und politische Wandmalereien zu sehen. Jede Wendung und

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jede Position fanden große und sehr schnelle Verbreitung, auch unter den Vielen, die nicht lesen und nicht schreiben konnten.34 Die Pariser Commune war nicht das Telos eines proletarischen Kampfes; am 18. März 1871 brachen kein Bürgerkrieg und kein Aufstand aus. Vielmehr lässt sich von heterogenen Praxen, Kämpfen und Bewegungen in einer ausgedehnten, diskontinuierlichen und vielfältigen Gegenwart sprechen. Es ist ein Experimentieren und ein wiederkehrendes Beginnen von sozialen und politischen Organisationsformen in einer nicht einheitlichen Gegenwart. Keine Abgeordneten als Repräsentanten und keine Fürsprechenden für Interessengruppen wurden eingesetzt, die einen vom Sozialen abgetrennten Bereich des Politischen sicherstellten. Die Versammlungen und Komitees schickten Delegierte in die Gremien der Commune, die ein imperatives Mandat hatten, direkt verantwortlich und jederzeit absetzbar waren sowie einen durchschnittlichen Lohn erhielten. Das Oszillieren zwischen Vertretenden und Vertretenen sollte gewährleistet werden. In Marx’ Worten: »Die Kommune – das ist die Rücknahme der Staatsgewalt durch die Gesellschaft als ihre eigne lebendige Macht«35; eine neue gesellschaftliche Form der Selbstregierung, die in den zentralen Komitees allerdings nur männlich besetzt war und damit entsprechend begrenzt. Die neue Form der kommunalen Selbstregierung zeigte sich keineswegs einfach in den neuen Praktiken von Räten und abhängigen Mandaten, es ging, wie Benjamin betont hat, um »die Herstellung einer neuen Gesellschaft«36. Vor allem in den Sozialitäten des Alltags der Commune gelang es, neue Netzwerke und Kommunikationssysteme, neue Sorgebeziehungen zu erfinden, die in erster Linie Frauen gestalteten. Während der Blockade von Paris durch die preußischen Truppen organisierten sie Heiz- und Nahrungsmittel, während die Männer die Befestigungsanlagen sicherten. Die Frauen revolutionierten die soziale Reproduktion vor allem in den Bereichen Bildung, Versorgung von Kleinkindern und Arbeitsverhältnisse der Frauen, die nicht zuletzt durch höhere Löhne verbessert werden konnten.37 Soziale Leistungen wie Kinderbetreuung oder die freie und säkulare öffentliche Erziehungspflicht waren Errungenschaften der Commune, die später zum Teil von der Dritten Republik aufgegriffen wurden.38 Aufgrund ihres Ausschlusses aus den repräsentativen Formen bürgerlicher Politik erfanden die Frauen in den Kämpfen der Commune spezifische Arten des Widerstands und neue Organisationsformen. Sie hatten entscheidenden Anteil an den unzähligen Kooperativen und Nachbarschaftsgruppen, die sich auch aus ökonomischen Notwendig-

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keiten heraus bildeten, mitsamt den Volxküchen und Ambulanzen für die Verwundeten. Neue Sozialitäten entstanden aus wechselseitiger Sorge in den Kämpfen der politischen Gegenwart. Auch aufgrund des Ausschlusses aus maskulinistischen Repräsentationsstrukturen, die bis in die Arbeiterbewegung reichten, standen die Frauen eher für die mikropolitischen Praxen der Revolution: Die Mehrzahl bezog keine politisch-dogmatischen Positionen, war dezentral organisiert in Nachbarschafts- und Wachsamkeitskomitees und informellen Frauengruppen.39 Sie waren oft die Kontaktstelle zwischen dem Rat der Commune und den dort nicht unmittelbar Repräsentierten. Benjamins Vorstellung der Commune als Herstellerin einer neuen Gesellschaft ist auch zentral für die wiederkehrende Interpretation der Commune als »ein langes Fest«40, das sich vom 18. März 1870 an ausdehnte.41 Doch das nimmt der Commune die politische Dimension. Auch Rousseau hat das republikanische Fest nur im Sozialen angesiedelt. In der Commune hingegen tanzten die Verhältnisse aufgrund der vielfältigen Experimente der sozialen Organisationsformen, aufgrund der konstituierenden Macht der Multitude, aufgrund neuer Weisen des Instituierens und Organisierens in einer anderen sozialen Ordnung. Selbstregierung war nicht mehr jene des souveränen maskulinistischen ›Volkes‹ (gegen ein monarchisches Oberhaupt), sondern jene der sozialen Multitude in ihrer zeitlichen und räumlichen Heterogenität, die das Zusammenleben als wechselseitige Sorge neu gestaltete. Spanische Demokratiebewegungen

Vor etwas mehr als zehn Jahren ist in Spanien eine Besetzungs- und Demokratiebewegung entstanden, die das Kommune auf politischer wie sozialer Ebene neu gestaltet hat. Einer der politisch-ökonomischen Hintergründe dieser Bewegung war die Finanzkrise von 2008, die in Europa vor allem die strukturell schwächeren Ökonomien der südeuropäischen Länder traf. Prekarisierung und Verschuldung nahmen massiv zu, der Arbeitsmarkt wurde umstrukturiert, soziale Rechte wurden abgebaut, die Arbeitslosigkeit, vor allem von Jugendlichen, stieg extrem an, Löhne und Sozialleistungen brachen drastisch ein, die Gesundheitsversorgung wurde prekärer, die Wohnungsnot nahm zu; immer mehr Menschen verloren ihre Wohnungen in immer aggressiveren Formen von Wohnungsräumung durch Banken und staatliche Verwaltung. Eine solche Form des Regierens war in dieser verdichteten Brutalität neu in der Europäischen Union und wurde vor allem in Griechenland noch härter als in Spanien durchexerziert.42

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Diese Zeit der grundlegenden Umstrukturierung politischer Ökonomien in Europa war nicht nur eine Zeit der autoritären Sparpolitiken und des erstarkten autoritären Populismus, sie war in Südeuropa auch prägend für linke gesellschaftsverändernde Subjektvierungsweisen und soziale Praxen auf kommunaler wie transnationaler Ebene. Anfang 2011 trat eine Gruppe mit dem Namen ¡Democracia Real Ya! in Erscheinung, deren zentraler Slogan war: »Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine.« Die Suche nach realer Demokratie im Hier und Jetzt sollte der Fokus der neuen Platzbesetzungsbewegung werden, nicht nur in Spanien. Diese Bewegungen experimentierten mit vielfältigen Formen horizontaler Versammlung, ohne Horizontalität als Ursprung oder Dogma festzuschreiben. Sie lehnten politische Repräsentation nicht rigoros ab, sondern versuchten, in der Zerstreuung das politische System mit repräsentationskritischen Plattformen von unten aufzubrechen und eine neue soziale Politik für alle zu gestalten. Sie fingen wiederkehrend auf der kommunalen Ebene an, in den Nachbarschaften, im urbanen Raum. Im Mai 2011, inmitten langer Krisen repräsentativer Demokratie, begannen die Platzbesetzer*innen in mehr als sechzig spanischen Städten alternative Formen von Demokratie bereits in der Organisierung und Instituierung der Plätze zu praktizieren. Die heterogenen Vielen, die sich versammelten, wählten keine Anführer*innen, sie richteten sich in Camps und Zeltstädten ein und organisierten in Windeseile mit der Unterstützung von Freund*innen und Nachbar*innen eine funktionierende Infrastruktur auf dem zentralen öffentlichen Platz: temporäre Behausungen, provisorische Gärten, Infostände, Volxküchen, Bibliotheken und improvisierte Computer-Netzwerke. Die 15M-Bewegung (benannt nach der ersten großen Demonstration am 15. Mai 2011) erstreckte sich dezentral auf ganz Spanien; kein einheitliches Manifest wurde verfasst, sondern viele lokale Manifeste, beschlossen in den asambleas der jeweiligen Städte. Es waren Bewegungen, die nicht aus dem Nichts kamen; Praxen, die eine Bresche schlagen für die Verkettung gescheiterter, abgebrochener und erfolgreicher revolutionärer Praxen aus der Vergangenheit: die Räte und die soziale Revolution der Pariser Commune; die Identitätskritiken und Problematisierungen der sozialen Reproduktion und der Sorge aus den feministischen und queeren Bewegungen seit den 1970er Jahren; die Strategien der Zapatistas aus den 1990er Jahren; das Instrument der Horizontalität aus der argentinischen Revolution von 2001; Praktiken der globalisierungskritischen Bewegungen sowie der EuroMayDay-Bewegungen der Prekären.43

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2009 entstand die Plattform der von Hypotheken Betroffenen PAH. Diese selbstorganisierte Plattform wuchs ab 2011 im Kontext der Besetzungsbewegung zur größten spanischen Bewegung seit dem Franco-Regime an. Die Plattform verhandelt mit Banken und Behörden, um Räumungen aufzuhalten oder aktivistisch zu verhindern, um die Rolle der Banken anzugreifen und auch die rechtliche Lage zu verändern. Die wichtigste Praxis der PAH besteht allerdings darin, zwischen den von Räumung Betroffenen einen Prozess des Austauschs, der gegenseitigen Ermächtigung und Sorge zu ermöglichen und das individualisierte Leid aufzubrechen, in das Hunderttausende in Spanien durch die Krise getrieben wurden. Um der ökonomischen, sozialen und psychopathologischen Individualisierung der Kriseneffekte entgegenzuwirken, wird in den Versammlungen und Aktionen der Plattform die Sorge geteilt, um die Selbstbeschuldigung in der Verschuldung, die Angst vor Räumung und Verlust von Räumen des Wohnens und Zusammenlebens zu überwinden. Anders als die PAH lösten sich im Jahr 2011 die vielen Platzbesetzungen zwar nach einem Monat, manchmal nach dreien, auf, aber sie verschwanden damit nicht einfach. Sie nahmen neue Formen an. Die Versammlungen wurden dezentral. Vom 20. Juni bis zum 23. Juli 2011 fand vier Wochen lang aus acht Richtungen der Marcha Popular Indignada nach Madrid statt. Beim Gehen und Radfahren durch die ländlichen Gebiete Spaniens sollte die Demokratiebewegung weitergetragen werden. In vielen Kommunen wurde mit Versammlungen begonnen, an denen die Leute über ihre sozialen, politischen und ökonomischen Probleme und ihre Vorschläge für Veränderungen sprechen konnten. Angekommen in Madrid, wurden alle Aspekte in einer großen gemeinsamen Versammlung zusammengetragen und – entgegen der sonst repräsentationskritischen Position – einige Tage später in einer Dokumentation dem Abgeordnetenkongress übergeben, allerdings ohne Resonanz.45 In den Städten, in denen die zentralen Plätze besetzt worden waren, breiteten sich die Versammlungen auf die verschiedenen Viertel aus. Unter dem Slogan und Hashtag #tomalasplazas (nimm die Plätze ein) wurden Tausende von Versammlungen in den Stadtteilen etabliert, die die jeweiligen Nachbarschaften stärker berücksichtigten, aber auch in ihrer Größe übersichtlicher waren. Neben dieser räumlichen Zerstreuung bildeten sich erneut Verdichtungen in verschiedenen sozialen Feldern heraus: Unter dem Begriff der Mareas (Gezeiten) formierten sich 2012 Zusammenhänge, die in diversen Bereichen von Bildung über Recht und Gesundheit bis zur Arbeit konkrete Konzepte, 44

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Forderungen, Beratungen und Aktionen entwickelten. Vor allem in den Bereichen gesundheitliche Sorge und Schule waren diese nach sozialen Sektoren gebildeten Formationen sehr erfolgreich.46 Im Frühsommer 2014 begann der Wahlzyklus. Nach dem Überraschungserfolg der neu gegründeten Partei Podemos bei den Europawahlen begann im Hinblick auf die Kommunalwahlen 2015 die ­Ausarbeitung un/möglicher Strategien. Es entstanden die munizipalistischen Projekte der verschiedenen Ganemos-Plattformen (Wir gewinnen), zunächst in Barcelona, dann in immer mehr Städten und Kommunen. Sie formierten sich nicht wie Podemos als Partei, sondern explizit als sozialpolitische Bewegungen, die die Praktiken der PAH, der 15M-Bewegung, aber auch jene aus den Mareas und den besetzten Sozialzentren in die Rathäuser tragen wollten. Diese Bürger*­innenPlattformen verstanden sich als Confluencias, die das Zusammen­ fließen heterogener Ströme betonten. Doch ohne Allianzen mit Parteien hatten sie wenig Chancen zu gewinnen. In vielen Kommunen schlossen sich die Ganemos-Plattformen mit Podemos und den Gruppierungen der Anti-Capitalistas zusammen, wie etwa im Bündnis Ahora Madrid (Jetzt Madrid) oder En Comú in Barcelona.47 Im Mai 2015 gelang das, was kaum vorauszusehen war: In Madrid und Barcelona wurden die Bündnisse stärkste Kraft und zwei Frauen übernahmen das Amt der Bürgermeisterin. Mit dem Einzug in die Rathäuser entstanden neue Organisationsformen der Konfluenzen, die sich als Räume verstanden, in denen Bürger*innen, Leute aus den sozialen Bewegungen sowie aus verschiedenen Initiativen zusammenarbeiteten.48 Ein neuer Zyklus war entstanden, der Zyklus der munizipalistischen Bewegung. Aus der Perspektive von Ganemos sollten nicht die etablierten politischen Institutionen durchlaufen werden. Das Ziel der Konfluenzen war es vielmehr, die Institutionen durch die Praktiken aus den Bewegungen zu transformieren. Wahllisten wurden beispielsweise in offenen Versammlungen erstellt. Von Beginn an wurde versucht, die Logik von Politik als Geschäft von einigen wenigen Repräsentant*­ innen aufzubrechen. Alle sollten sich beteiligen können, um die gesellschaftlichen Angelegenheiten in einer Weise gemeinsam zu regeln, die der wechselseitigen sozialen Verbundenheit und Abhängigkeit voneinander im urbanen Raum Rechnung trägt. Anders als die »sehr schwache soziale Bindung«49, die normalerweise eine Stimmabgabe bei einer Wahl von Repräsentant*innen bedeutet, waren die Konfluenzen aufgrund der großen Diversität der Beteiligten stark sozial verankert, was mit Hilfe von sozialen Netzwerken die Verbrei-

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tung von Informationen enorm erhöhte.50 Die integrativen Entscheidungsstrukturen in offenen Versammlungen waren nicht weniger wirksam als dirigistische Praktiken. Doch sie stießen auf erhebliche Schwierigkeiten innerhalb des etablierten politischen Systems. Vor allem aber akzeptierten die etablierten politischen Parteien die Entscheidungen aus den Stadtteilversammlungen nicht, weil sie ihnen als nicht gewählten Organen die Legitimität absprachen. Die heterogenen Vielen, die sich um die gemeinsamen Angelegenheiten kümmerten, galten den mittels Parteien gewählten Repräsentant*innen nicht als politische Akteur*­innen.51 Im Unterschied zu diesem repräsentationistischen Politikverständnis hatten die Ganemos-Plattformen den Anspruch, dass Politik die »gerechte Verwaltung der kollektiven Probleme«52 (wie Arbeit, Wohnen, Gesundheitsversorgung, Bildung, Infrastruktur, Umwelt) wieder aufnimmt, die sich vor allem seit der Finanzkrise verschärft hatten, und diese nicht untätig aussitzt, wie es den bisherigen kommunalen Regierungen vorgeworfen wurde. Im Zuge von europäischen Spardiktaten bis in die kommunale Ebene hinein und der damit einhergehenden Verpflichtung zum Schuldenabbau stieß die Umsetzung alternativer Politiken auch deshalb auf massive budgetäre Beschränkungen. Eine der größten Herausforderungen bestand allerdings darin, in den neuen instituierenden Praxen der Selbstfortschreibung des Instituierten zu entgehen. Einer institutionellen »Konformität zu widerstehen, ist harte Arbeit, es bedeutet heterodoxe Wege zu finden, um Machtbeziehungen zu besetzen und zu verkörpern. Diese Verkörperung ist die vielleicht härteste soziale und psycho-somatische Arbeit.«53 An all diesen verschiedenen Herausforderungen und Blockaden, mit denen die neuen in die Rathäuser getragenen politischen und sozialen Praxen konfrontiert waren, wird nur am offensichtlichsten, dass es eines wiederkehrenden Experimentierens in einem andauernden konstituierenden Prozess bedarf, um auch den Staatsapparat, die Verwaltung, die Bürokratie und damit die Institutionalisierung des Zusammenlebens und darin lebbare Subjektivierungen neu zu erfinden. Die sich ablösenden oder koexistierenden Zyklen waren getragen von dem Wunsch, eine demokratische Rebellion loszutreten, die im Lokalen, in der Nähe, der Nachbarschaft, der Kommune beginnt und dort eine Stadt schafft, die für jede*n ein Leben in Würde ermöglicht, in der nachhaltig und gerecht agiert wird.54 In der Aktualisierung vergangener Praxen wurde auf kommunaler Ebene ausprobiert, was landes- und europaweit und darüber hinaus ausgebreitet werden soll.55 Die identitäts- und repräsentationskritische Haltung ist eine

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j­etztzeitige politische Praxis der Bewegungen der Prekären in Anbetracht der Defizite repräsentativer Demokratie und der zunehmenden Unmöglichkeit traditioneller Organisierungsweisen in Arbeitsverhältnissen. Mit der Normalisierung von Prekarisierung haben Parteien und Gewerkschaften ihre vorherrschende Form der Organisation verloren. Die heterogenen Prekären sind nicht identitätslogisch zu vereinheitlichen oder zu organisieren. Es braucht aufgrund der Heterogenität der sozioökonomischen Existenzweisen notwendig Aushandlungsprozesse und Entscheidungsstrukturen, die die Mannigfaltigkeit der Positionen kanalisieren, andere Formen des Schutzes vor Unsicherheit, andere Ökonomien und affektive wechselseitige Verbundenheit, die versuchen, bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzubrechen. Die unmögliche und in die Zukunft verschobene Partizipation aller in der Logik liberaler Demokratie wenden die Bewegungen, wie sie in Spanien entstanden sind, zu einem neuen demokratischen Verständnis von Teilhabe als radikale Inklusion. Diese radikale Inklusion bedeutet auch, dass immer mehr gesellschaftliche Bereiche durch offene Versammlungen gestaltet werden, durch möglichst egalitäre Weisen der Teilhabe, um gemeinsame Angelegenheiten in den Kommunen oder in Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen wie in den Mareas selbst zu organisieren und Privatisierungen, auch von gemeinsamen Gütern wie Wasser, abzuwenden. Eine andere Form der Demokratie ist keine Top-down-Frage, ­sondern sie entsteht in und aus den Subjektivierungen, in und aus den mikropolitischen Poren des Alltags und ermöglicht neue Sozialitäten des Gemeinsamen, für die beständig Formen des politischen Agierens und der Verkettung gefunden werden müssen. Die Demokratiebewegungen in Spanien haben Aspekte eines Exodus aus maskulinistischen politischen Strukturen gestaltet. Von Beginn der Bewegungen an wurden soziale Reproduktion und Sorge aufgewertet und neu ausgerichtet. Feministische Überlegungen zur Neuorganisation von Arbeitsteilung, Reproduktion und Sorge haben neue Aktualität erlangt.56 Zugleich wurden bereits während der Platzbesetzungen viele Auseinandersetzungen darüber geführt, wie Feminismus und queere Praxen nicht identitär verstanden werden können, oder wie Sexismus, Homo- und Transphobie nicht nachzureihenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen entspringen, sondern aktuell Effekte patriarchaler neoliberaler Verhältnisse sind.57 Der spezifische Typus von Aktivismus, der sich bei der Besetzung der Plätze bald durchsetzte und solche Auseinandersetzungen begünstigte, war einer, der sich von einer machisti-

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schen und exkludierenden Militanz sowie den damit einhergehenden Dominanzansprüchen distanzierte. Zudem durften keine Parteien oder Organisationen mittels Fahnen oder Flyer für sich werben. Alle Praxen und Institutionalisierungen von Repräsentation waren unerwünscht. Diese weitgehend nicht maskulinistische Politik hat kein Interesse daran, dass sich ein ›Volk‹ gegen ›die da oben‹ versammelt. Sie besteht vielmehr aus Praxen radikaler Inklusion, die die Multitude aus der Sphäre des als unpolitisch markierten Privaten und Sozialen herausholen. In der Genealogie feministischer und queerer Praxen sind die Bewegungen nicht interessiert an weiteren Manifestierungen von Zweigeschlechtlichkeit oder anderer identitärer Festschreibung. Im Zentrum stehen die wechselseitigen Affizierungen und Sorge­ verhältnisse ebenso klar wie eine antirassistische Haltung, vor allem angesichts der erneuten Reinszenierung von patriarchaler weißer Männlichkeit und erstarkenden Ideen von identitären Gemeinschaften. Wenn Machtverhältnisse ›von unten‹ verändert werden, in den Weisen, wie wir alltäglich zusammenleben, wie wir in den Nachbarschaften und Kommunen aufeinander bezogen sind, lassen sie sich in neuer Weise auch auf der politischen Organisations- und Verwaltungsebene verdichten und verstetigen. Weil wir Machtverhältnisse in jedem Moment dermaßen (re-)produzieren, muss das Erfinden neuer Formen von Demokratie von hier ausgehen, um neue Institutionen zu erfinden, die die bestehenden ersetzen und transformieren können. Für eine solche aus dem Alltag kommende Ermächtigung taugt kein Populismus.58

1 Vgl. Lorey, Isabell: Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart, Berlin 2020. 2 Rousseau, Jean-Jacques: »Brief an d’Alembert über das Schauspiel« (1758), in: ders.: Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Henning Ritter, Frankfurt a. M. u. a. 1981, S. 333 – 474, hier S. 462. 3 Ebd., S. 428. 4 Vgl. ebd., S. 435 f. 5 Ebd., S. 456. 6 Vgl. ebd., S. 447. »Das Theater der Wiederholung tritt dem Theater der Repräsentation gegenüber«, schreibt Deleuze, ohne sich auf Rousseau zu beziehen. Siehe Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung (1968), München 1992, S. 26. Seine Referenzen sind stattdessen Nietzsche und Kierkegaard.

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7 Rousseau: »Brief an d’Alembert«, S. 462. 8 Ebd., S. 462 f. Das republikanisch-gesellschaftliche Fest ist kein unbegrenztes Fest, keines, das alle ohne Grenzen willkommen heißt. Es ist in erster Linie für Leute aus der Stadt, für die Bevölkerung (vgl. ebd., S. 469). Rousseau denkt keine entgrenzte Gastfreundschaft. 9 Vgl. ebd., S. 464. 10 Ebd., S. 462. 11 Vgl. Derrida, Jacques: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft (2003), Frankfurt a. M. 2005. 12 Vgl. ebd., S. 190. 13 Vgl. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale (1993), Frankfurt a. M. 2004, S. 11 f. 14 Vgl. Derrida: Schurken, S. 93; zur Unterscheidung zwischen bedingter und absoluter Gastfreundschaft siehe auch Derrida, Jacques: Von der Gastfreundschaft (1997), Wien 2007. 15 Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft (1994), Frankfurt a. M. 2002, S. 156. 16 Vgl. Derrida: Schurken, S. 217. 17 Vgl. Lorey, Isabell: Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich, Berlin 2011; Harney, Stefano/Moten, Fred: Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, Wien u. a. 2016, sowie Lorey: Demokratie im Präsens, Kapitel 6. 18 Zum Begriff der radikalen Inklusion im Kontext der Praxen der spanischen Demokratiebewegungen siehe Lorey, Isabell: »Präsentische Demokratie. Radikale Inklusion – Jetztzeit – Konstituierender Prozess«, in: Demirović , Alex (Hrsg.): Transformationen der Demokratie – Demokratische Transformationen, Münster 2016, S. 265 – 277. 19 Siehe auch Lorey, Isabell: »Sorge im Präsens. Verbundenheit, Sorge, _Mit_«, in: Bärtsch, Tobias u. a. (Hrsg.): Ökologien der Sorge, Wien u. a. 2017, S. 113 – 122. 20 Derrida: Schurken, S. 61. 21 Ebd., S. 121. 22 Marx, Karl: »Der Bürgerkrieg in Frankreich« (1871), in: Marx/Engels Werke, Bd. 17, Berlin 1973, S. 313 – 362, hier S. 340. 23 Marx, Karl: »Erster Entwurf zum ›Bürgerkrieg in Frankreich‹« (1871), in: Marx/ Engels Werke, Bd. 17, Berlin 1973, S. 493 – 571, hier S. 541, Herv. i. O. 24 Vgl. Gould, Roger V.: Insurgent Identities. Class, Community, and Protest in Paris from 1848 to the Commune, Chicago; London 1995, S. 165. 25 Vgl. zur Lesart als Aufstand Hardt, Michael/Negri, Antonio: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire (2004), Frankfurt a. M.; New York 2004, S. 87. Marx selbst hat mit dem Titel seines einflussreichen Textes »Bürgerkrieg in Frankreich« eine solche eindimensionale Interpretation begünstigt, obwohl er eine weit vielfältigere Lesart anbietet. 26 Vgl. zur folgenden Interpretation der Pariser Commune und ihrer feministischen Lesart vor allem das zweite und dritte Kapitel in Raunig, Gerald: Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20. Jahrhundert, Wien u. a. 2017. 27 Vgl. Lissagaray, Prosper: Geschichte der Kommune von 1871, Stuttgart 1894, S. 74; Michel, Louise: Memoiren (1886), Münster 1977, S. 127. 28 Vgl. Gould: Insurgent Identities, S. 121 – 152. 29 Siehe u. a. Leighton, Marian: »Der Anarchafeminismus und Louise Michel«, in: Michel, Louise u.a.: Louise Michel. Ihr Leben – Ihr Kampf – Ihre Ideen. Frauen in der Revolution, Bd. 1, Berlin 1976, S. 17 – 56, hier S. 32 f. 30 In Toulouse, Marseille und Lyon; vgl. Lissagaray: Geschichte der Kommune von 1871, S. 51. 31 Vgl. ebd., S. 7 – 10. 32 Raunig: Kunst und Revolution, S. 119. 33 Vgl. Leighton: »Der Anarchafeminismus«, S. 35 u. S. 38. Zu Berufsschulen als Bildungsstätten von Frauen »aus allen sozialen Schichten« siehe Michel: Memoiren, S. 106 f. 34 Vgl. Ross, Kristin: The Emergence of Social Space. Rimbaud and the Paris Commune, London; New York 2008, S. 137. 35 Marx: »Erster Entwurf zum ›Bürgerkrieg in Frankreich‹«, S. 543.

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36 Benjamin, Walter: »Paris, Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, in: ders.: Das Passagen-Werk (1927 – 1940), 1. Bd., hrsg. V. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1983, S. 45 – 59, hier S. 58. 37 Vgl. Ross, Kristin: Communal Luxury. The Political Imaginary of the Paris Commune, London; New York 2015, S. 15. 38 Vgl. Ross: Communal Luxury, S. 37. 39 Vgl. Leighton: »Der Anarchafeminismus«, S. 27 und S. 35. 40 Lefebvre, Henri: La Proclamation de la Commune. 26 Mars 1871, Paris 1965, S. 21. 41 Vgl. Raunig: Kunst und Revolution, S. 127 f. 42 Vgl. Stuckler, David/ Basu, Sanjay: Sparprogramme töten. Die Ökonomisierung der Gesundheit, Berlin 2014; Kubaczek, Niki/Raunig, Gerald: »Die politische Neuerfindung der Stadt«, in: Brunner, Christoph u. a. (Hrsg.): Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen und die Regierung der Städte, Wien u. a. 2017, S. 7 – 28, hier S. 9 – 10. 43 Zu den MayDay-Bewegungen der Prekären siehe u. a. Lorey, Isabell: Die Regierung der Prekären, Wien 2012, S. 127 – 141. 44 Plataforma de Afectados por la Hipoteca (vgl. La PAH http://afectadosporlahipoteca.com/) sowie Colau, Ada/Alemany, Adrià: ¡Sí se puede! Crónica de una pequeña gran victoria, Barcelona 2013. 45 Siehe https://marchapopularindignada.wordpress.com/about/ und zum ­Documento problematicas pueplos siehe https://marchapopularindignada.­ wordpress.com/category/documento-problematicas-pueblos/. Weder die ­sozial­demokratische Regierung von José Luis Zapatero, die bis Dezember 2011 im Amt war, noch die konservative Nachfolgeregierung unter Mariano Rajoy, der bis Juni 2018 amtierte, waren an Gesprächen mit den Demokratiebewegungen interessiert. 46 https://15mpedia.org/wiki/Lista_de_mareas. 47 Andere Bündnisse trugen u. a. die Namen Málaga Ahora, Participa Sevilla, Compromís in Valéncia. 48 Vgl. Raunig, Gerald: »Konfluenzen. Die molekular-revolutionäre Kraft der neuen Munizipalismen in Spanien«, in: Brunner u. a.: Die neuen Munizipalismen, S. 51 – 66. 49 Galcerán Huguet, Montserrat: »Der Kampf für den sozialen Wandel erreicht die Institutionen«, in: Brunner u. a.: Die neuen Munizipalismen, S. 35 – 50, hier S. 42. 50 Nicht alle mussten bei den Versammlungen körperlich präsent sein; Kommunikationsmedien waren Teil der eher horizontalen Entscheidungsstrukturen. »Entscheidungen werden zusammen getroffen und respektiert, aber die Sorge um die Vielfalt herrscht ebenso vor wie die aktive Suche nach Konsens und das Erkennen, Bearbeiten und Auflösen von Dissens.« (Ebd., S. 40.) 51 »Besonders stark«, so Montserrat Galcerán Huguet, »ist die Ablehnung im Fall der partizipativen Budgets und der neuen Foren der Teilhabe im Bezirk«. (Ebd., S. 47). 52 Ebd., S. 38. 53 Zechner, Manuela: »Let’s play? Bürgerschaft, Subjektivität und Kollektivität im Munizipalismus«, in: Brunner u. a.: Die neuen Munizipalismen, S. 66 – 81, hier S. 74. 54 Siehe z. B. Málaga Ahora https://malagaahora.org/> oder Barcelona En Comú: <https://barcelonaencomu.cat/. 55 Siehe hierzu Negri, Antonio/Sánchez Cedillo, Raul: Für einen konstituierenden Prozess in Europa. Demokratische Radikalität und die Regierung der Multituden, Wien u. a. 2015. Für weitere Hinweise zur munizipalistischen Bewegung siehe Lorey: Demokratie im Präsens. 56 Etwa jene des Madrider Kollektivs Precarias a la deriva zur cuidadanía, zu einer auf Sorge beruhenden Bürger*innenschaft. (Vgl. Precarias a la deriva: Was ist dein Streik? – Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität, Wien u. a. 2014.) 57 Siehe genauer Lorey: Demokratie im Präsens. 58 Vgl. Negri/Sánchez Cedillo: Für einen konstituierenden Prozess in Europa.

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Armen Avanessian

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Politische Zukunftsschule1 Schule erweist sich als schwerfällige Institution, wenn es um den Wandel geht. Das haben wir alle wahrscheinlich schon einmal in seiner Konsequenz erlebt. Schule ist ein offenbar oder vermeintlich überzeitliches Phänomen, eine überzeitliche Institution, die sich gleichwohl ständig in der Zeit verändern muss, ohne es wirklich zu wollen. Die besondere Problematik, die sich heute daraus ergibt, ist nicht einfach Resultat einer sich immer schneller verändernden Realität oder der sich wandelnden Zeit. Die Schule ist eine zukünftige Generationen prägende Institution. Als solche ist das Thema Zeit für sie vor allem deswegen so zentral, weil das Phänomen Zeit selbst sich gewandelt hat oder zumindest eines grundsätzlich anderen Umgangs bedarf. Wir leben nicht nur in einer schon wieder anderen Zeit als zum Beispiel in der, als jene Lehrkräfte ausgebildet wurden, die jetzt mit ihrer Ausbildung nicht mehr up to date sind. Das Problem ist ein tiefer greifendes. Dies möchte ich an drei Phänomenen skizzieren, die meines Erachtens von zentraler Bedeutung sind für ein nicht nur irgend­wie in der Zukunft liegendes Schulwesen, sondern für tatsächlich zukunftsoffene Orte. Deren Ziel darf es nicht sein, vergangene Inhalte in die Gegenwart hinüberzuretten. Stattdessen gilt es zunächst einmal, eine neue Einstellung zur Zukunft zu lernen, oder genauer: aus der Zukunft heraus zu denken. Ein zweiter Aspekt dieser neuen Zeiterziehung betrifft die in der Vergangenheit und Gegenwart sträflich vernachlässigte Notwendigkeit, zukünftige Generationen dazu zu befähigen, exponentielle Entwicklungen (etwa jene des Klimawandels) zu verarbeiten und angemessene Umgangsweisen damit zu entwickeln. Wir sind gesellschaftlich mit Phänomenen und Entwicklungen konfrontiert, die weit über das, was in der Gegenwart passiert, hinausgehen. Das geht, drittens, einher mit der grundsätzlichen demokratiepolitischen Herausforderung einer Toleranz gegenüber nicht nur der eigenen, sondern der Zukunft anderer und zukünftiger Generationen, gewissermaßen einer neuen Zeittoleranz. Aus der Zukunft denken

Wir sind es gewohnt oder wurden – spätestens ab unserer Schulzeit – dazu erzogen, in einer linearen Zeit zu leben. Die chronologische

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Grundannahme dabei lautet: Die Zeit entspringt in der Vergangenheit und verläuft durch die Gegenwart weiter in Richtung Zukunft. Gerade das aber ist in zunehmend komplexen (oder wie ich sie nenne: zeitkomplexen) Gesellschaften nicht mehr unbedingt und ausnahmslos der Fall. Was hingegen deren Gesellschaftsorganisationen auszeichnet, sind technologische Infrastrukturen, die immer stärker durch Automatisierung, Robotisierung und Algorithmisierung geprägt sind. ­Letztere orientieren sich nicht mehr an der Vergangenheit und verorten sich auch nicht wie biologische Wesen vornehmlich in der Gegenwart. Mit dem Verlust des menschlichen Primats geht eine Lockerung oder ein Verlust unserer Gegenwartsverankerung einher. In einer zunehmend hybriden Welt mit zunehmend hybriden Wesen, die nicht mehr ohne ihre technischen Hilfsmittel und Infrastrukturen leben können und wollen, wird die Gegenwart zunehmend aus der Zukunft beeinflusst oder gesteuert. Exemplarisch dafür stehen die derivative Finanzindustrie und diverse weitere Phänomene der Präemption: präemptive Kriege, präemptive Polizeiarbeit, präemptive Persönlichkeiten. Algorithmen können über uns Voraussagen treffen; über uns, über die Zukunft und in diesem Sinne aus der Zukunft – über die wir selber in der Gegenwart noch nichts wissen oder viel zu wenig wissen. Dass Schulen der Zukunft sich nicht mehr mit einer Vermittlung von etabliertem Wissen werden begnügen können, hängt nicht nur mit der ständigen Abrufbarkeit dieses im vollen Wortsinn immer schon vergangenen Wissens zusammen. Wird es uns in Zukunft gelingen, umgekehrt zukünftiges Wissen in unser gegenwärtiges Handeln zu integrieren? Dies geschieht zunehmend im Feld der Medizin. Proaktive Medizin bedeutet, dass wir nicht warten, bis der Krebs ausgebrochen ist, sondern dass wir Risikofaktoren kennen und diese als Zukunftswissen in die Gegenwart integrieren. Gegen die allgemeine Tendenz, sich über den Verlust der Zukunft zu beschweren oder über einen Mangel an Imaginationskraft zur Gestaltung der Zukunft in der Gegenwart, würde ich vorschlagen, dass es uns nicht an Zukunft fehlt, sondern dass wir zu viel an Zukunft haben. Wir haben zu viel an zukünftigem Wissen, mit dem wir nicht wirklich umgehen können oder von dem wir gar nicht wissen, wie wir es uns richtig aneignen können. Denn es sind ja nicht die Algorithmen, die darauf Anspruch haben, sondern bestimmte technologische ­Firmen, Monopole und so weiter. Diese besitzen ein Zuviel an Wissen über die Zukunft.

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Wenn wir viel mehr Zeit hätten, dann wäre es interessant, eine Zeitreise zurück in vergangene Medienrevolutionen zu machen und sich anzusehen, was in den Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten nach beispielsweise dem Buchdruck passiert ist; was diese medientechnologischen Brüche und Revolutionen mit Bildungsinstitutionen, mit Vorgängersystemen von Schulen gemacht haben. Daraus wäre noch viel zu lernen, was die Herausforderungen dieser allerneusten medientechnischen Revolutionen der Digitalisierung bedeuten. In neuen Zeitmodellen denken

Die auch politische oder einfach staatsbürgerliche Relevanz einer auf die Zukunft vorbereitenden Ausbildung betrifft zweitens die Zeitstruktur von Phänomenen, wie sie für das sogenannte Anthropozän typisch sind. In Zeiten des Klimawandels liegt es an den Schulen, die ersten Schritte zu tun in Richtung eines dringend notwendigen Wandels der wissenschaftlichen wie politischen Kultur insgesamt. Unsere Gattung steht vor einer drastischen Denkherausforderung, die­ ­wiederum mit einer bestimmten zeitlichen Dimension korreliert. Es handelt sich um eine temporale Überforderung, exponentiell sich entwickelnde Abläufe gedanklich zu verarbeiten, was ja die Voraussetzung für die Entwicklung darauf reagierender langfristiger Strategien wäre. Die gegenwärtigen oder sich aus der Zukunft annähernden Phänomene wie der Klimawandel operieren also wiederum gemäß einer Temporalität, die unser traditionelles chrono-logisches Zeitverständnis strukturell überfordert, und es wird zu spät sein, Jugendliche oder Erwachsene (neu) daran zu gewöhnen. Von Kindesbeinen und Schulzeit an bedarf es somit einer Sensibilisierung für die Formen von langsamer Gewalt, die selbst bei größter Aufmerksamkeit nur auf die Gegenwart oder gar Vergangenheit (statt auf die Zukunft) nicht wahrnehmbar sind. Ich zitiere dazu Rob Nixon: iolence is customarily conceived as an event or action that is V immediate in time, explosive and spectacular in space, and as erupting into instant sensational visibility. We need, I believe, to engage a different kind of violence, a violence that is neither spectacular nor instantaneous, but rather incremental and accretive, its calamitous repercussions playing out across a range of temporal scales.2 Werden Schulen der Zukunft sich der Aufgabe eines intensiven Gattungstrainings in Sachen exponentieller Entwicklungslogiken ­stellen? 72


Politische Zukunftsschule

Politische Zukunftsschule

Wenn junge Menschen heute massenhaft darauf pochen, eine politische Stimme zu besitzen, und die Gesellschaft eine Pflicht hat, sie an politischen Entscheidungen zu beteiligen, dann geschieht das nicht zufällig mit dem Slogan Fridays for Future. Ziel ist die notwendige Umstellung des politischen Denkens und Handelns von intra-generationalem Narzissmus auf eine inter-generationale Perspektive. Das muss zeitlich noch weit über die Generation der heutigen Jugendlichen und Kinder hinaus erweitert werden, und es radikalisiert unser Verständnis von Politik. Jeder tatsächlich politische Akt impliziert die Vergegenwärtigung eines zukünftigen politischen Subjekts. In den Augen der in der Schule der Vergangenheit Aufgewachsenen sind heute Geflüchtete oder Jugendliche ebenso unerhörte Eindringlinge in die (auch zeitlich) wohlgeordnete Polis wie einstmals Bürger, Frauen, Arbeiter*innen – um die Analyse des politischen ­Theoretikers Jacques Rancière hier weiterzuführen. Die Frage ist nicht, ob mit 16 schon gewählt werden darf oder man auch auf Achtjährige Rücksicht nehmen muss. Vielleicht wäre Gastfreundschaft hier ein gutes Stichwort, also eine radikalisierte und ausgeweitete Gastfreundschaft. Mein Vorschlag wäre Gastfreundschaft für diejenigen, die noch gar keine Personen sind, aber ebenfalls ein Recht darauf haben, in 100 Jahren auf diesem Planeten leben zu können. Versteht man Schulen als Ausbildungsstätten demokratischer Subjekte, dann muss das in Zukunft also auch bedeuten, noch gar nicht existierende Subjekte in das Gemeinwesen aufzunehmen. Was wäre eine Schule, in der nicht nur Lehrkräfte von Kindern lernen, sondern sich alle gemeinsam auf zukünftige Generationen vorbereiten? Diesen in der Zukunft eine lebenswerte Welt zu ermöglichen, meint zugleich, den Schulen ein politisches Mitspracherecht zu geben. Es ist gewiss nichts Neues, dass Schulen es sich zur Aufgabe machen, Kinder zu reifen Zeitgenoss*innen zu erziehen. Das kann aber nicht mehr nur meinen, auf die Zukunft vorzubereiten, sondern von der Zukunft zu lernen. Nicht zuletzt angesichts immer stärker verbreiteter Vergangenheitsgenoss*innen (Make schools great again?) bedarf es einer frühestmöglichen Eingewöhnung in die Zukunftsgenossenschaft, einem Denken und Handeln in anderen zeitlichen – aus der Zukunft denkenden, exponentiellen, transgenerationalen – Dimensionen: Schule als Ort der Begegnung mit der Zukunft selbst.

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1 Dieser Text basiert auf einem Vortragsentwurf, der durch die H ­ erausgeber*innen durch die gesprochenen Vortragsinhalte ergänzt und anschließend vom Autor überarbeitet wurde. 2 Nixon, Rob: Slow Violence and the Environmentalism of the Poor, Cambridge 2011, S. 2.

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Von marxistisch informierter Spielzeugkritik zur Katastrophenwerkstatt

Claudia Hummel

Von marxistisch informierter Spielzeugkritik zur Katastrophenwerkstatt1 Mit großem Vergnügen untersuche ich seit einigen Jahren das künstlerisch-­edukative Feld der 1970er Jahre in West-Berlin. Das ist der Grund, weshalb ich mich recht viel in der Vergangenheit aufhalte. Seltsamerweise habe ich dabei häufig das Gefühl, eher in der Zukunft gelandet zu sein als in der Gegenwart. Und so formuliere ich folgende Vorannahme: Wenn das Aus-der-Zukunft-Denken eine menschliche Fähigkeit ist, so müsste dies doch auch schon in der Vergangenheit einmal jemandem gelungen sein. Unsere Aufgabe heute ist also, es zu erkennen, wenn jemand in der Vergangenheit bereits aus der Zukunft gedacht hat. Doch zurück in die Vergangenheit: Ich streune seit circa sechs Jahren im Zeitraum zwischen 1968 und 1982 umher. Um diesen Teil der Vergangenheit zu untersuchen, habe ich mit Studierenden des Instituts für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin2 die Arbeitsweise der Wiederaufführung von künstlerisch-edukativen Projekten aus den 1970er Jahren entwickelt; eine Art Lehrforschung, die es mir erlaubt, das Heute mit der Vergangenheit zu verknüpfen und so über beides etwas zu erfahren. Das erste Projekt, dem ich mich widmete, war das Bauvorhaben Mitmachstadt der Gruppe Leut’Werk aus dem Jahr 1979: Sechs bis neun Tonnen Ton wurden damals in den öffentlichen Raum gekippt. Das Publikum wurde gebeten, daraus ein Stadtmodell zu bauen und die Stadtentwicklung miteinander zu verhandeln. Das Prinzip Mitmachstadt wurde dann 2015 zusammen mit sieben am Institut studierenden Künstler*innen und circa 1000 Bürger*innen, darunter mindestens zwei Dutzend Schulklassen, in Bernau bei Berlin reinszeniert.3 Eine andere Projektvorlage zur Reaktivierung einer alten Idee war der Spielklub Kulmer Straße 20a aus den Jahren 1970/71. Dieser bestand aus einer in eine leere Fabriketage gebauten Kinderstadt, ­initiiert von der AG Spielumwelt der NGBK (neue Gesellschaft für bildende Kunst, Berlin).4 Bis zu 60 Kinder aus dem Kulmer Kiez in Berlin Schöneberg hatten diesen Spielklub über Wochen mitgebaut, sich die Gebäude darin angeeignet und darin eigene kleine Produktionen begonnen. Die Künstler*innen der AG Spielumwelt hatten zudem Geld

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Spielclub Kulmer Straße 20a, 1971. Foto: Klaus Böllhoff, nGbK-AG Spielumwelt

Spielclub Oranienstraße 25, 2019/20. Im Hintergrund: der Grundriss des Spielklubs Kulmer Straße 20a von 1971. Im Vordergrund: Gebäude des neuen Spielclubs von Marcos García Perez, Moritz Gramming, Katharina von Hagenow und Georg Scherlin. Foto: Benjamin Renter, 2020

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gedruckt und versucht, damit ein ökonomisches System mit kapitalistischer Prägung ins Laufen zu bringen. Ihre Intention war es, die durch kapitalistische Mechanismen erzeugten Situationen der Konkurrenz, der Ungerechtigkeit und des Konflikts für die Kinder erfahrbar zu machen. Im Winter 2019/20 hatte ich, wieder zusammen mit Künstler*­ innen, die am Institut für Kunst im Kontext studierten oder studiert hatten, die Möglichkeit, diesen Spielklub als Spielclub Oranienstraße 25 zu aktualisieren.5 Meine Arbeit bezog sich dabei auf die historische Recherche für eine Ausstellung über das historische Vorbild und das Durchführen von Seminaren, in welchen die zukünftigen Spielleiter*­innen ihre Spieldramaturgien entwickelten. In der Neuauflage des Spielklubs ging es nicht um pauschale Kapitalismuskritik, sondern um die Finanzialisierung der Stadt selbst – eben das, was passiert, wenn Häuser nicht mehr primär zum Wohnen, sondern zum Erzielen von Renditen genutzt werden. Warum halte ich mich mit solchem Vergnügen im benannten Zeitraum auf? Damals – so denke ich – gab es für Künstler*innen in der Bildungsarbeit und für Pädagog*innen Handlungsräume, die seit dem Ende einer pädagogischen Euphorie6 so nicht mehr vorhanden sind. Vielleicht hatte das mit einer stärkeren Anwesenheit von Zukunft zu tun. Die 70er – damals war Zukunft lautete der Titel einer vom Büro ­trafo.K kuratierten Ausstellung im Jahr 2016 auf der Schallaburg in Österreich.7 Sie zeigte die damaligen Aufbrüche und Kämpfe in den Feldern Pädagogik, Feminismus, Museologie, kommunale Strukturen. Wenig nostalgisch zeigte die Ausstellung auch die Dingwelt jener Zeit, unter anderem die Welt des Spielzeugs. Beispiele aus dieser Ausstellung: neben einer Plastikpuppenstube ein Legobaukasten mit einem Kran (im Hintergrund Wohnblöcke in Schwarz-Weiß) und eine Legobroschüre mit dem Bild einer mittelständischen, weißen Familie auf dem Sofa, überschrieben mit dem Satz: »LEGO ein Wegweiser für die ganze Familie«. Mit dem Aufkommen industrieller Spielzeug-Massenware in den 1960er/1970er Jahren entwickelte sich auch die Spielzeugkritik. Diese könnte als Subgenre der Medienkritik gelesen werden, wie beispielsweise die Kritik an Superhelden-Comics, an Werbung oder am Fernsehen. Zwischen 1970 und 1980 entstand zu dieser Kritikform eine ganze Reihe an Texten und Publikationen.8 In der Verknüpfung von Überlegungen zum Klassenkampf, dem Fetischcharakter der Ware Spielzeug

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Spielzeugkritik in Publikationen zwischen 1973 und 1980. Fotos: Claudia H ­ ummel, 2020

und dem Blick auf das Kind als Verkörperung von Zukunft hat beispielsweise Donata Elschenbroich, damals Projektleiterin des Abenteuerspielplatzes im Märkischen Viertel Berlin, einen Text der Spielzeugkritik aus marxistischer Perspektive geschrieben. Veröffentlicht wurde er im Kursbuch zum Thema Kinder im Jahr 1973.9 In diesem Text argumentiert Elschenbroich, dass es eine Funktion von Spielzeug sei, das Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern zu bestimmen und es darin auch zur Einübung von Rollenerwartungen an das Kind in der jeweiligen sozialen Schicht diene: enn innerhalb des Spielzeugs, das Arbeiterkindern am nächsW ten ist, die Spielgegenstände überwiegen, die man nur konsumieren kann, liegt das nicht nur daran, dass mittelständisches Spiel-

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zeug zum Selbst produzieren – wie Lego, Plasticant, Holzbausteine, Technikkästen – teurer sind als Lutschketten und Heulrohre. Die Wohnverhältnisse selbst verbieten solch ›konzentrationsförderndes Spielzeug‹, es ist einfach kein Platz da; was die Kinder produziert haben, kann doch nicht stehenbleiben.10 Interessant daran ist, dass mittelständische Familien ihren Kindern gerne Spielzeug gaben, das direkt in eine Produktionssphäre des Mittelstandes einführte: die Bauindustrie. Die Exponate der Firma Lego in der bereits benannten Ausstellung zu den 1970er Jahren haben das schon gezeigt. Gehen Sie, liebe*r Leser*in, nun schon im Geiste die Ihnen bekannten Spielzeugsammlungen eigener oder befreundeter Kindern durch? Mein Sohn, zehn Jahre alt, spielte bis vor Kurzem noch gerne mit Lego. Die Kinder der Mittelschicht, auch der akademischen, nutzen noch immer dieses Produkt. In den vorletzten Weihnachtsferien hatte ich ihm vorgeschlagen, die Quality Time von Mutter und Sohn damit zu verbringen, aus all unseren Legosteinen – und die stammen aus dem Zeitraum von meiner eigenen Kindheit bis heute – eine riesige Stadt zu bauen. Mein Sohn schlug als Erstes vor, eine Villa für eine sehr reiche Figur zu errichten; diese war Mickey Mouse. Als die Villa fertig war und ich auf den Bau des zweiten Hauses wartete, fragte er mich: »Mama, darf ich die Villa zerstören?« Er bemerkte mein Zögern und begründete seine Bitte: »Ich will heute unbedingt einen Angriff spielen und dabei geht die Villa eben kaputt.« Ich begann zu verstehen: Die Funktion von Lego hatte sich gewandelt. Ein Blick in den Legokatalog meines Sohnes zeigt, dass Kinder heute vor allem mit Merchandise-Artikeln großer Filmproduktionen konfrontiert sind. Von Toy-Story, Batman, Star Wars und Avengers bis zu Harry Potter reicht das Spektrum. Der Topos Stadt taucht nur noch in Szenarien des Bankraubs oder der Überwachung auf. Die Produktionssphäre des Städtebaus ist also nicht mehr relevant. Lego führt heute direkt in die Kreativwirtschaft, die unter vielen Formen der immateriellen Arbeit und des Spektakels eine filmisch reich bebilderte Welt der – bezwingbaren – Katastrophen reproduziert. Als ich meinen Sohn im Hinblick auf den diesem Text zugrunde liegenden Vortrag fragte, welches Wissen aus der Zukunft er in der Schule gerne lernen würde, antwortete er: »Ich würde gerne die Legosets der Zukunft kennenlernen und aufbauen. Und dann nehme ich sie mit nach Hause.« Das brachte mich schlussendlich zu der Idee für eine soziale Erfindung. Sie ist eine Annäherung an das Thema der

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­ eiterziehung und der langsamen Gewalt von Armen Avanessian, und Z sie ist eine Reaktion auf meinen Sohn. Als soziale Erfindung schlage ich vor: Jeder Stadtteil braucht eine Katastrophenwerkstatt. Sie ist ein Ort, zu dem mehrere Schulen Zugang haben, angegliedert an ein Jugendzentrum oder ein Museum, und auch offen für Personen aus der Umgebung. Sie ist der Vermittlungsort für Expert*innen aus den Bereichen Klimawandel, Demokratieerziehung, Zeiterziehung. Die Methoden der Katastrophenwerkstatt sind spielerisch und experimentell. Die Katastrophenwerkstatt dient: • der spielerischen Auseinandersetzung mit den Konsequenzen des Anthropozäns und mit Formen langsamer Gewalt aus verschiedenen Perspektiven. Eisschmelze, Erdrutsche, Überschwemmungen, Waldbrände, Überfischung, Pandemien: Szenarien von allem, was der Mensch auf diesem Planeten kaputt gemacht hat. Dazu kommt die intersektionale Auseinandersetzung mit Diskriminierungslinien wie Ableismus, Adultismus, Sexismus, Klassismus und Rassismus. Denn auch dies sind Formen langsamer Gewalt. • der Dekonstruktion von Geschichte Das Schulfach Geschichte wird zur Arbeit an historischen Katastrophen. Bearbeitet werden die Hinterlassenschaften von beispielsweise Gewalt, Machtmissbrauch, kolonialen, patriarchalen Verhältnissen, Raubbau oder Spekulation. • der Demokratiebildung In der Katastrophenwerkstatt finden Rollenspiele statt: »Sei ein Baum im Parlament der Bäume« (nach Ben Wagins11), »Sei ein Ding im Parlament der Dinge« (nach Bruno Latour12), »Sei deine Enkelin im Parlament der Zukunft«. Die Katastrophenwerkstatt bietet Antidiskriminierungstrainings und Übungen im Mit-Sein (nach Donna Haraway und ihrem Konzept der companionship13). • der Umverwendung von Spielzeug und weiterem Material Die Katastrophenwerkstatt gibt dem Spielzeug der Kinder eine neue Funktion. Sie ist ein Recycling-Programm für

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­ onnen auseinandergebauter Legosets der letzten Jahrzehnte, T die niemand mehr zusammenbauen will, weil immer ein Teil fehlt. Dieses und anderes Material, das nicht gekauft werden muss (Sand, Ton, Erde, Wasser, Elektromüll), dient dem Bauen von Modellen, von statistischen Plastiken und dem Simulieren von Szenarien: Was ließe sich beim modellhaften Nachbau des Hambacher Forstes aus Lego lernen? • der Dekonstruktion von Blickachsen des Kolonialismus beziehungsweise der Moderne Beim Simulieren von Szenarien und auch beim Modellebauen müssen die Akteur*innen der Katastrophenwerkstatt auf­ passen, dass die kolonialen Blickachsen der Moderne nicht nochmals reproduziert werden. Keine »Entwicklungshilfe«-­ Narrationen, kein Fortschrittsglaube, sondern Übungen in Degrowth, Langsamkeit, non-kompetitivem Leben und große Vorsicht vor der Trope der Innovation. Die Idee der Katastrophenwerkstatt ist ebenfalls nicht neu. In den Jahren 2007 bis 2009 hat die Performancekünstlerin Eva Meyer-­Keller zusammen mit Sybille Müller und zehn- bis zwölfjährigen K ­ indern an verschiedenen Theatern (etwa HAU 3, Berlin; Kampnagel, Hamburg) Katastrophen in Modellform inszeniert – auch um zu verarbeiten, was die Kinder über sogenannte Katastrophen in den Medien erfahren.14 Und Antidiskriminierungstrainings gibt es mittlerweile vielerorts. Letztendlich war auch der eingangs beschriebene Spielclub ­Kulmer Straße eine Art Katastrophenwerkstatt. Schließlich sollten die Kinder beim Spiel die Konflikte der kapitalistischen Gesellschaft erfahren und erlernen, Gerechtigkeit zu fordern. Um dies zu tun, gab es die Vollversammlung zum Abstimmen und einen Boxring, um Wut und Aggressionen, die beim Spiel entstanden waren, ausagieren zu können. Vielleicht wirken solche (zukünftigen) Katastrophenwerkstätten dann in die Schulen hinein – werden zum beliebtesten außerschulischen Lernort und knüpfen an die bereits vorhandenen Unterrichtsinhalte zu Klimawandel, Globalisierungskritik und Kritik an der Moderne an.

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1 Dieser Text entstand als Antwort auf den in diesem Band abgedruckten Text Politische Zukunftsschule von Armen Avanessian. 2 http://www.kunstimkontext.udk-berlin.de/ (letzter Zugriff: 14.11.2022). 3 http://www.2015.kontext-labor-bernau.de/mitmachstadt.html (letzter Zugriff: 14.11.2022). 4 Heute lautet die Schreibweise des Vereins nGbK. https://www.ngbk.de/de/ (letzter Zugriff: 14.11.2022). 5 https://archiv.ngbk.de/projekte/spielclub-oranienstrasse-25/ (letzter Zugriff: 14.11.2022). Siehe hierzu auch: Hummel, Claudia: »Zum Beispiel ein Spielklub«, in: Streisand, Marianne/Puschke, Volker e.a. (Hrsg.): Brecht und das Theater der Interventionen, Berlin 2023, S. 249 – 272; Hummel, Claudia/Fahrenkrog, Valeria/ von Hagenow, Katharina (2022): »Spielclub. Kinder Stadt Geld«, Berlin 2022. 6 Die pädagogische Euphorie bezeichnet hier die Phase ab 1968 bis etwa 1982 in Westdeutschland und West-Berlin, in welcher die Erziehung von Kindern sowie die Erziehung der Erzieher*innen ein zentrales aus der Studentenbewegung resultierendes Projekt darstellte. Der Begriff der pädagogischen Euphorie stammt von der West-Berliner Lehrerin Marie-Claude Dutilly. Vgl. Dutilly, Marie-Claude (1986): Und sie bewegen sich. Lehrer nach dem Ende der pädagogischen Euphorie, Berlin; vgl. auch: Beck, Johannes/Boehncke, Heiner (Hrsg.): Selbstkritik der pädagogischen Linken: Einsichten und Aussichten (= Jahrbuch für Lehrer 7), Reinbek bei Hamburg 1982. 7 https://www.trafo-k.at/projekte/die70er/ (letzter Zugriff: 14.11.2022). https://www.schallaburg.at/de/ausstellungen/die-70er-damals-war-zukunft/ die-70er-damals-war-zukunft (letzter Zugriff: 14.11.2022). 8 Hoffmanns Comic Teater: »Kinderkultur«, in: Enzensberger, Hans Magnus/ Michel, Karl Markus (Hrsg.): Kinder (= Kursbuch 34), Berlin 1973, S. 25 – 48; Ästhetik und Kommunikation Verlags-GmbH, Institut für Kultur und Ästhetik (IKAe) (Hrsg.): Kindermedien (= Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung 27), Berlin 1977; Bauer, Karl W./Hengst, Heinz: Wirklichkeit aus zweiter Hand. Kindheit in der Erfahrungswelt von Spielwaren und Medienprodukten, Reinbek bei Hamburg 1980; Internationales Designzentrum Berlin e.V.: Spielzeug – und wozu es gebraucht wird, Berlin 1975. 9 Elschenbroich, Donata: »Spielen und Spielzeug. Aspekte zur Kritik bürgerlicher Theorien des kindlichen Spiels«, in: Kinder (= Kursbuch 34), Berlin 1973, S. 51 – 76. 10 Elschenbroich: »Spielen und Spielzeug«, S. 72. 11 Vgl. https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/parlament-der-baeume (letzter Zugriff: 14.11.2022). 12 Vgl. http://www.bruno-latour.fr/node/902.html (letzter Zugriff: 14.11.2022). 13 Vgl. https://www.documenta-archiv.de/de/aktuell/docarts/960/13-donna-­­j haraway-when-species-meet-dt-wenn-spezies-sich-begegnen (letzter Zugriff: 14.11.2022). 14 Vgl. http://www.evamk.de/texts/bauen-nach-katastrophen (letzter Zugriff: 14.11.2022).

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Die neue künstlerische Hochschule Man muss das Rad nicht neu erfinden, ­solange historisch noch nicht alles eingelöst oder auch nur verstanden ist … Ausgangspunkt der hier formulierten Position ist das Prinzip der Ungleichzeitigkeit, auf das ich zuerst bei Ernst Bloch stieß, dem großen Philosophen der Hoffnung, der Zukunft und der Utopien: In der Vergangenheit liegt uneingelöstes utopisches Potential, auf das wir uns immer wieder aufs Neue beziehen können. Es sind dort Dinge aufgehoben, die noch zu tun sind. Diese Dinge sind schon vorformuliert oder in Praktiken eingeflossen, an die man sich ­erinnern muss. Zur Frage der neuen künstlerischen Hochschule gibt es einen programmatischen Text aus dem Jahr 1929: »bauhaus und gesellschaft«1. Dessen Autor Hannes Meyer ist, als er ihn verfasst, Direktor der titelgebenden berühmten Hochschule und bilanziert mit seinem ­ ­poetischen Manifest einen damals noch ziemlich frischen Erkenntnisprozess, zu dem ihn der gleichzeitige Umgang mit Gestalt­ psycholog*­innen sowie mit Organisationswissenschaftler*innen und Ökonom*­innen geführt hat. Hannes Meyer verwendet anstelle von Kunst, die er mit einem Fragezeichen versieht und als Ordnung generalisiert, den Begriff »gestaltung«2. Die »hohe schule der gestaltung« setzt er als eine organisierende Funktion und eine elementare Ausdrucksform allen Lebens ein. Die neue Art von Hochschule kreiere einen harmonischen Modus Vivendi, setze einen guten Ton und bringe menschenfreundliche Umgangsformen in die gesellschaftliche Welt. In dem Moment, in dem die hohe Schule der Gestaltung ihrer vornehmen Funktion wirklich gerecht wird, werde sie zu einer »organisationsform des daseins selbst«. Als »lebensrichtige gestaltung« bezeichnet Hannes Meyer und, ihm folgend, der Philosoph Lothar Kühne, die ästhetisch gelingende, bejahende Beziehung von Menschen zu architektonischen, praktischen und künstlerischen Gegenständen sowie zu R ­ aumbedingungen ihres Lebens überhaupt.3 Indem Gegenstände erarbeitet würden und

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Kommunikationen gepflegt, entstünden unwillkürlich Resonanzen zwischen dem schulischen Milieu und seinem gesellschaftlichen Kontext. Als »gesellschaftliches geschehnis« sei diese neu definierte Hochschule kein künstlerisches, wohl aber ein soziales Phänomen. Den Kreis der Aufgaben und Ausbildungsziele schlage immer die Gesellschaft, die konkrete soziale Forderungen stellt, welche sich aus der Not, der Bedürftigkeit und ungelösten Problemen ergeben. (Was frommt hingegen, so spottet der Autor, das Piepsen irgendwelcher Kenner!) Statt sich elitärer Kennerschaft und frommer Kunstübung auszusetzen, stelle sich die hohe Schule der Gestaltung, mit anderen Worten gesagt, einer kommunitären Gemeinschaftsidee. Alle Antennen, alle Fähigkeiten, alle Kunst sind darauf auszurichten, dass im Ausbildungsprozess eine klare Vorstellung, ein Konzept von der eigenen Rolle und den eigenen Möglichkeiten bei der Stabilisierung, aber keineswegs bei der Abschottung gegenüber lebensweltlichen Assoziationen gewonnen werden kann. Die Bauhauslehre versteht Hannes Meyer als »erkenntnislehre vom dasein«, und er lässt sie als Gestaltungslehre »das hohelied der harmonik« anstimmen. Als gleichermaßen Gestaltungslehre wie Gesellschaftslehre verfolgt sie eine Strategie des Ausgleichs der Kooperativkräfte mit den Individualkräften; sie sei kein pädagogisches System, kein Mirakel, kein Stil. Meyer begreift sie als ständig im Wechsel, völlig unorthodox, »weil ihre formen so reichhaltig sind wie das leben selber«. »[R]eich sein«, heißt es da, »reich sein ist alles«. Hier wird eine Güter- und Erlebnisgemeinschaft entworfen und geordnet, die sich durch ein Maximum an Differenziertheit, an innerem ­Raffinement und an Beweglichkeit auszeichnet und die ihr Vorbild in der Gestalt planetaren Lebens hat, als Abbild der Artenvielfalt und Sprachdiversität. Die Aufgabe der neuen Kunsthochschule ist es, mit Hannes Meyer und auch mit Bruno Taut gesprochen, unseren Planeten als Heimat aufzusuchen, als äußeren Leib, den eine empfindsame Menschheit in Güte bewohnt.4 Auch der bereits erwähnte Lothar Kühne, Kulturphilosoph, Architekturhistoriker und Hochschullehrer in der DDR, kannte ein solches invertiertes Subjekt, das vermittels seiner elementaren gestaltenden Lebensfunktion letztlich sich selber entfaltet – genau wie beim Atmen, Essen, Wachsen, Arbeiten und Spielen. Seine Entdeckung, dass Gestaltung eine Grundfunktion jeglichen Lebens ist, hat also ihre Wurzeln bei Hannes Meyer, der diesen Lebenstrieb nach voller Entfaltung des Menschen pointiert auf dem »harmonischen genuss von sauerstoff+kohlenstoff+zucker+staerke+

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eiweiss« beruhen lässt und damit universellen energetischen Stoffwechselprozessen zuordnet.

Was nun unsere Fragestellung einer neu zu denkenden Hochschule betrifft, geht es im Tätigkeitsfeld der Lehre darum, zu wissen beziehungsweise vorausschauend zu konzipieren, was die Absolvent*­innen in einem bevorstehenden vierzigjährigen tätigen und engagierten Berufsleben an kognitiver wie produktiver Ausstattung benötigen, um a) erfolgreich ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, will sagen, mit dem Erlernten reproduktiv zu sein, es umzusetzen, und b) der Menschheit einen weiteren Schritt voran zu helfen, das heißt, im Sinne von Zugewinn auch innovativ zu sein. Das ist der Anspruch, an dem Hochschule und Universität als Unterscheidungsmerkmal zu den Fachund Gewerbeschulen auch weiterhin festhalten: dass sie beispielsweise auch ihren eigenen Nachwuchs rekrutieren und qualifizieren. Die Lernenden sollen schon bald selber forschen, entwickeln, erfinden, neu gestalten. Meyer nennt es dezidiert eine »berufung«, die nach prinzipienfester Prüfung der besten Eignung zur gesellschaftlichen Symbiose erfolgen kann, nicht länger jedoch als letzten Endes sektiererische Begabten-Auslese im geschlossenen Kreis. Kaum hatte er jedoch diese programmatische institutionelle Positionierung für seine Hochschule vorgetragen, sollte ihn das System eiligst eliminieren: Im Sommer 1930, nur wenige Monate später, wurde Hannes Meyer während der Semesterferien, in Abwesenheit der Studierenden und der Mehrheit des Lehrkörpers, fristlos entlassen. Seitdem liegt über seinem Namen und seiner Direktorenschaft am Dessauer Bauhaus eine Art Fatwa, ein trotz vieler Bemühungen nie aufgehobenes Verdikt. Die Anklage lautete damals bekanntermaßen auf unzulässige Politisierung. In dem selten erwähnten und meiner Kenntnis nach nie ernsthaft analysierten Manifest hatte er sich festgelegt: »[U]nser tun ist dienst am volke.« Und: »[B]auen ist schicksalsbestimmung, als gestalter erfüllen wir das geschick der landschaft.« Vollstrecker oder Gestalter? Die von Hannes Meyer und Bruno Taut aufgeworfene Schicksalsfrage, wie die Erde zu einer guten Wohnung umgestaltet werden kann, ist seit jenen Tagen offengeblieben. So sehr eine andere Bewirtschaftung der Welt auch auf der Hand liegt, Kooperation statt Konkurrenz, Empathie, Integration ... Es hat noch keine*r wieder gewagt, die Kunst aufs (Über-)Leben auszurichten.

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Schlussfolgerungen aus der Geschichte

Als Fazit aus jenem historischen Defizit, das mir durch meine wissenschaftliche Arbeit zunehmend bewusst geworden ist, und aus den eigenen Erfahrungen bei der Entwicklung von Curricula, namentlich für Architekten, aus dem Changieren zwischen historischer Forschung und zeitgenössischem Aktivismus in und außerhalb der Hochschule, möchte ich Folgendes festhalten:5 Es kann (nach Aussage meiner Student*innen) gar nicht genug Fächer geben. Das sichert man am besten durch modulare Vernetzung und Kooperationen ab. Nach dem Vorbild der Universität der Künste Berlin kann man das Feld über Angebote für freie Fächer oder Arbeit mit fachexternen Expert*innen variabel halten. • Gruppenarbeit sollte überwiegen: Jede*r Teilnehmer*in bringt eine eigene Geschichte, eine besondere Sicht auf die Dinge ein, ist anders begabt. Der eine sieht die Welt tatsächlich in Farbe und Tönen, die andere rezipiert in Windeseile und effizient ganze Bibliotheken. Einer Dritten liegen die Dinge in bewundernswerter Weise in der Hand. Der Vierte ist von Kopf bis Fuß unnachahmlich zugewandt, leiblich so präsent, dass er die Resonanzen innerhalb der Werkgemeinschaft gut nach außen repräsentiert. Nichts geht hier über das Prinzip der Kooperation, als unbegrenzte Werkgemeinschaft, in die Arbeit in vielen Gestalten eingezahlt wird, genau wie im richtigen Leben auch. Mit ­Meyers Worten: »[I]rgendwo ist irgendwer geeignet. das leben lehnt keinen ab.« Das macht die Hochschule zu einer Prüfstelle und Vermittlungsagentur für individuelle Kompetenzen. • Entscheidend in der Entwicklung, auch von Curricula, sind Praxis und Praktiken. Wir sind an den von mir geleiteten Instituten bevorzugt in soziale Räume gegangen, die auf irgendeine Weise im Hamsterrad ewig zirkulierender, aber ergebnisloser Routinen feststeckten und sich im Hinblick auf die Zukunft als Verlierer erlebten, die aus dem Raster gefallen waren; an unbequeme Orte, denen sich sonst niemand gestellt hat, oder in Problemlagen, die schlicht aussichtslos waren. Da die Hochschule eine hochprivilegierte, gesellschaftlich legitimierte und budgetierte Akteurin ist, sollte sie gesell­ schaftlich grundsätzlich intensiv in Anspruch genommen werden. Letztlich bietet sie durch Auslagerung der Lehre aus

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dem Elfenbeinturm, vor allem im Masterstudium, die Möglichkeit, vor Ort, mitten im Krisengebiet, andere Ökonomien, andere Praktiken, andere Gestalten zu entfalten, zu testen und zu exemplifizieren. Wie schon die französischen Enzyklopädist*innen wussten, war Kunst noch nie allein ein Kind der Freiheit, sondern immer auch eine Tochter der Not. Ein Konzept zukünftiger Kunsthochschulen

Für künstlerische Hochschulen lassen sich neue Funktionen beschreiben, wenn man von dem theoretischen Rahmen ausgeht, Gestaltung als den gemeinsamen Basisprozess von künstlerischen, technischen wie gesellschaftspraktischen Erkenntnis- und Verarbeitungsprozessen anzusehen. Dieser theoretische Rahmen wurde von Hannes Meyer als Direkter des historischen Bauhauses über Lothar Kühne, Kulturphilosoph und Architekturtheoretiker in der DDR, bis hin zu Jörg Petruschat, Philosoph und Kulturtheoretiker an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, entwickelt und gesetzt.6 Der Kunsthochschule käme in der Folge eine weniger exklusive, sondern wesentlich integralere Funktion im System von Forschung und Entwicklung, beim Erwerb von Kompetenzen sowie bei der Produktion und Verteilung von Gütern zu. Sie wäre letzten Endes dafür verantwortlich, dass die technischen Entwicklungen und die sozialen Handlungen in Einklang kommen, dass sie als Projektion einladend erscheinen und als anerkennenswerte neue Tatsachen zu erleben sind. Der unmittelbar anstehende Umbau dieser Welt wird durch die Bekräftigung durch Kunst in eine genießerisch vermittelte Spielform gebracht, die für Gemeinschaften mit der Aura von Heimat umgeben ist. Die dem Umbau der Welt innewohnende Intelligenz als das konzeptionelle Wissen aller Beteiligten erfährt in den Praktiken der Kunst seine emotionale, energetische Verstärkung. So ist die Kunst nicht mehr für sich separiert, sondern als lustvolle Komponente der Gestaltung von Welt nichts anderes als ein Ausdruck der Empathie, der Fähigkeit, einander freundlich behilflich zu sein. Kunst muss nicht mehr in erster Linie unter Protest auf Entfremdung reagieren, sondern sie nimmt bestärkende Funktionen an. Eine negative Ästhetik verliert jeglichen Sinn.7 Nimmt man weiterhin an, dass Gestaltung im Sinne von Formalisierung eine elementare Eigenschaft jeglicher gesellschaftlicher Interaktion und jeglicher Bezugnahme auf den planetaren Kontext ist, fällt als Erstes natürlich das etablierte Kriterium der exponierten Begabung und der Eignungsbewährung als exklusive Zugangsbe-

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schränkung der Hochschule weg. In einem existentiell verstandenen Konzept von künstlerischem Handlungswissen würden sich schließlich die Zielsetzungen dramatisch in Richtung kommunikativer ­Beziehungsfelder zu anders gebildeten Mitgestalter*innen von Welt verlagern. Kunst wäre nicht mehr Fetisch, Fluchtimpuls oder Religionsersatz, sondern dürfte in reine soziale Tonalität übergehen.8 Hier gibt es dann keine eindeutig oder hierarchisch gerichteten ­Distributionsverhältnisse zwischen Virtuos*innen und Laien mehr, denn die gesellschaftlich erstrebten Resonanzbeziehungen können sich in wechselseitigen Reaktionsketten, im Zusammenspiel im Ensemble sehr unterschiedlicher Talente und Kompetenzen, im Rahmen einer mit diesem Hin-und-wider-Schwingen vertrauten Gemeinschaft, einer definierten Kultur, schlicht am wirkungsvollsten entfalten. Um einen Modus Vivendi zu generieren oder zu tradieren und diesen als Wohlklang und Schwingung zwischen den Individuen, den Verwandten und den Fernerstehenden, ja auch gegenüber persönlich Unbekannten und sogar Kulturfremden, beständig zu unterhalten oder wohlmeinend zu raffinieren, nimmt die Kunst als ästhetisches Wertempfinden und als Anklang oder Anmutung ihre vornehmste Rolle wahr. Das lateinische Arbiter Artium oder auch das Wort Pfleger*in könnten im Bedarfsfall hilfreich sein, diese von Absolvent*innen der Fakultät zu gewährende permanente gesellschaftliche Stabilisierungs- und Meliorierungsleistung begrifflich zu fixieren. Im Vergleich zu früher rückte die Künstlerschaft diesem Verständnis nach in eine Art von sozialem Pflegeberuf, ohne noch das Forschen und Hinterfragen aufgeben zu müssen. In unmittelbarer Nachbarschaft dieser Ausbildungs- und Forschungsstätte würde sich unbedingt ein politikwissenschaftliches, organisationswissenschaftliches Institut befinden müssen, dass die Arbeit der Pfleger*innen beforscht, evaluiert und immer feiner justiert. Aber auch beide zusammen könnten das technische Gelingen der Gestalt nicht garantieren. Die Technologie müsste folglich als weitere Partnerin hinzutreten. Diese Seite des Interessensausgleiches ist beispielsweise in der Architektur, aber auch in der Tontechnik oder in der Informatik schon einleuchtend herausgearbeitet, während die politische Seite der Architektur in eklatanter Weise noch fehlt. Insgesamt nimmt künstlerische Gestaltung hier Einfluss auf Kulturtechniken und hilft, Geräte zu generieren, die gut in der Hand liegen und sinnfällig erscheinen. Es ist klar, dass ästhetische Gestaltung, um jenseits ihrer ­jahrhundertelang etablierten Felder im Sinne von Kunst nun auch

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unmittelbar gesellschaftspraktisch zu funktionieren, ihre ureigenen Potentiale zunächst in sich schrittweise erweiternden kunstinternen Interferenzen ermitteln, erforschen, raffinieren muss. Insofern ist die Kooperation zwischen den Gattungen das erste Erfahrungsfeld dafür, dass es sich gut, richtig und freudvoll anfühlt, was man macht. Die Kooperation an der Hochschule ist Conditio sine qua non.9 Für innerschulische Kooperationen gibt es historisch entwickelte tradierte Formate wie den gemeinsamen Grundunterricht, den Vorkurs, das Pleinair oder das kommunale Praktikum, die beständige Patenschaft der ganzen Schule mit einer kunstfernen Gruppe oder In­ stitution. Einmal im Jahr helfen alle bei sozialen Aufgaben oder sie feiern ein lang vorbereitetes Fest, wie es am Bauhaus üblich war. Ein weiteres Mittel könnten regelmäßig ausgelobte Wettbewerbe sein, die Crossover-Arbeitsgemeinschaften zur Voraussetzung haben. Die wirkungsvollste Übung allerdings ist es, sich gemeinsam in ausgesetzte lebensweltliche Problemzonen zu begeben und genau zu erforschen, welche Interferenzen und Akkumulationen von Erlebnissen und Geschehnissen dies erzeugt. Ich persönlich halte sozial eingebettete Studienformen draußen im Gelände für die universitäre Arbeitsform der Zukunft. Ich habe auch gute Erfahrungen mit dem Arbeiten in einem Schaufenster gemacht. Es müssen ja nicht immer Waren sein, die man darin ausstellt. Kooperieren Kunsthochschulen mit (institutionellen) Partner*­ innen, so verändern diese Kooperationen beide Seiten. Es sind genau jene Institutionen, die Künstler*innen als Resonanzverstärkende oder als Pflegende am dringendsten brauchen, sie aber gewöhnlich am wenigsten einkaufen können: zuallererst Kommunen, kleine, schwach aufgestellte Produktionseinheiten oder Interessenvertretungen. Kunsthochschulen sind, wie es die Erfahrung in schrumpfenden, überforderten und gänzlich gottverlassenen Gegenden zeigt, das ideale Testgelände für gestaltungsorientierte gesellschaftliche Praxis. Hier ist eine lange Geschichte zu erzählen, die von explorativen ­Raumpionier*innen und anders nicht gewährter Lebenshilfe handelt. Mein bevorzugtes Beispiel ist die interventionistische Praxis von ­s pacewalk 10, einer ursprünglich dominant theatralisch arbeitenden Gruppe, die sich ihre Teams projektbezogen immer wieder neu zusammenstellt. Während die Kunsthochschulen an Problemsicht und Problemlösungskompetenz gewinnen, reagieren die Partner*innen oft mit der Erkenntnis, dass man deren Intervention ins Krisengebiet gut und gerne auch mit eigenen Kräften weiterführen kann. Hervorragend ist

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das 2003 in Hoyerswerda gelungen, wo ein von der Bundeskulturstiftung finanziertes internationales Kunstprojekt mit dem Titel ­Superumbau den Abriss der halben Neustadt so nachhaltig reflektierte, dass Hoyerswerda über Jahre hinweg ins Tanzen kam.11 Die künstlerische Hochschule bildet in letzter Konsequenz die Fähigkeit zu intersubjektiver Einfühlung aus und übt gewissermaßen blindes Schwarmvertrauen in selbstvergessenen Figuren sozialer Plastik ein. Daraus folgt, dass sie gar keinen ausdrücklichen Imperativ zur Transformation benötigt. Stetige Transformation, die permanente Revolution der Praktiken wird ein Gradmesser ihres Fortschreitens von der alten in die neue Rolle sein. Je mehr sie sich in Resonanz begibt zu den Erfinder*innen, den Techniker*innen des Wandels und zu den Praktiker*innen der Erneuerung, wird sie eines Tages ubiquitär geworden sein. Das ist der Wandel, der für die Kunsthochschule ins Haus steht. Auch weil er seit mehr als neunzig Jahren auf sich warten lässt; genau genommen, seit die Nazis drei Mal das Bauhaus geschlossen haben.

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1 Meyer, Hannes: »bauhaus und gesellschaft«, in: bauhaus. zeitschrift fuer gestaltung (1919), S. 2. 2 Dieses und folgende Zitate von Hannes Meyer sind dem o. g. Text »bauhaus und gesellschaft« entnommen und folgen der Kleinschreibung des Originaltextes. 3 Meyer selbst spricht von der »Systematik des Lebensaufbaus«, von »Lebensraum« und zeitlich periodisch strukturiertem »Lebensabläufen« mit letztendlich »schicksalshaften« landschaftlichen Konsequenzen. Dieses Credo wird in den siebziger Jahren der marxistische Philosoph Lothar Kühne in seinem Buch Haus und Landschaft, Berlin 1973, im Sinne eines Ausblickes auf kommu­ nistische Verhältnisse aufgreifen und konzeptionell vertiefen. Kühnes weit über die DDR hinausweisender Beitrag zur generellen Ästhetik wurde jüngst neu thematisiert in: Möbius, Thomas/Küpper, Martin (Hrsg.): Die Ästhetik des Kommunismus – Lothar Kühne (= Berliner Debatte Initial 2), Berlin 2019. 4 In seinem zivilisationskritischen Manifest Die Auflösung der Städte von 1920 spricht Bruno Taut von der »Erde als guter Wohnung«. 5 Die Autorin hat an der Hochschule für bildende Künste Hamburg angefangen, Unterricht mit politisch herausfordernden Praxisaufgaben zu verbinden, etwa dem Umgang mit Plattenbauten des industriellen Bauens in Hoyerswerda, dem Schicksal der DDR-Architektur oder der Zukunft leerstehender Dorfkirchen im Westhavelland. Dabei wurden hochproblematische Industriestandorte wie das Areal von Topf & Söhne in Erfurt, auf dem die Verbrennungsöfen der Vernichtungslager produziert worden waren, untersucht oder die älteste Eisengrube der Welt als potentielles Welterbe. Seit 2004 hat die Autorin an der Bauhaus-­ Universität Weimar und an der TU Graz Curricula-Kommissionen der Architekturfakultäten geleitet und an Senatsgremien zur Studienplanentwicklung mitgearbeitet. 6 In dem o. g. Lothar Kühne gewidmeten Heft Berliner Debatte Initial, Die Ästhetik des Kommunismus, gibt Jörg Petruschat als dessen wichtigste Entdeckung an, Gestaltung als elementare menschliche Lebenstätigkeit begriffen zu haben. Ohne das Manifest von Hannes Meyer, das Kühne an anderer Stelle als dessen Credo, als Glaubensbekenntnis des Funktionalismus, bezeichnet hat, ist dieses Postulat wohl kaum vorstellbar. Hannes Meyers Konzept wird in den siebziger Jahren durch Kühne bereits vergegenwärtigt und philosophisch aufgehoben, bleibt in der DDR aber auch uneingelöst. 7 Weitere Überlegungen zur gesellschaftlichen Verantwortung der Kunst finden sich in folgendem Essay: Hain, Simone: »Das Ende des Appeasements. Kunst allein wird nicht reichen.«, in: Breitwieser, Sabine (Hrsg.): Utopie und Monument. Ausstellung für den öffentlichen Raum. steirischer herbst 2009 – 2010, Wien und New York 2011, S. 18. 8 Karel Teige, der für diese als Lebensweise, als Modus Vivendi, definierte Kunstpraxis den Begriff Poetismus gebrauchte, beschrieb deren Ziel als eine Verhaltenslehre, eine gesellschaftliche Etikette, den guten Ton unter Menschen. Vgl. Teige, Karel: Liquidierung der »Kunst«, Frankfurt am Main 1968. Siehe auch folgenden Beitrag über Karel Teiges Lehre am Bauhaus: Hain, Simone: »Karel Teige. Typographie, Propaganda, Poesie, Architektur«, in: Oswald, Philipp (Hrsg.): Hannes Meyers neue Bauhauslehre. Von Dessau bis Mexiko, Basel 1919, S. 349. 9 Ein schönes Beispiel dafür ist das Curriculum von Selman Selmanagićs Architekturausbildung an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee gewesen. 10 Siehe https://www.space-walk.com/ueber-uns/netzwerk (letzter Zugriff: 11.1.2023). 11 Siehe https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen_Schlingensiefs_Superumbau_in_Hoyerswerda_14289.html (letzter Zugriff: 11.1.2023).

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Jochen Gimmel

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Feindliche Übernahme – durch sich selbst? Entgrenzung der Arbeit – Utopie der ­Selbstverwirklichung1 »Die ehemals scharfe Trennung zwischen Home und Work ist verschwunden, Arbeit findet überall und zu jeder Tageszeit statt.«2 Diese erschreckende Zeitdiagnose entstammt nicht der Feder eines nörgelnden Gesellschaftskritikers, sondern dem Internetauftritt des Möbelherstellers Vitra. Vitra sieht in der Entwicklung einer umfassenden Entgrenzung der Arbeit Chancen für einen neuen »Workspirit«. Wer positiv denkt, wird mit diesem Spirit Selbstverwirklichung, Anerkennung, offene Kommunikation und Freude an der Produktivität assoziieren. Arbeit und Leben sollen sich im schöpferischen Elan aussöhnen, so die verheißungsvolle Botschaft in der Abteilung Bürobedarf. Eine Zukunft wird ausgemalt, in der sich Arbeit zum zentralen Glück des Lebens aufschwingt. Gegenüber diesem, aus dem Wording-­ Arsenal der Kreativbranche aufgerüsteten Workspirit erscheint eine Kapitalismuskritik, der bei obigem Satz der Atem stockt, seltsam rheumatisch. Deren Unbehagen rührt aber nicht daher, dass in der sozialistischen Weltdeutung einst die Trennung von Work und Home um jeden Preis erhalten werden sollte, sondern dass sie nun unter falschen Vorzeichen aufgehoben zu werden droht. Die Zukunfts­ ­ ingenieur*innen von Vitra geben die sozialistische Utopie quasi ex negativo vor. Wenn die Grenzen der Arbeit fallen, dann macht es einen Unterschied ums Ganze, ob das Leben nicht mehr von der Arbeit oder die Arbeit nicht mehr vom Leben zu unterscheiden ist.3 Dass Arbeit ein Spiel werden könne, Spaß machen solle und mit einem erfüllten Leben verschmelze, diese einst dem utopischen Sozialismus vorbehaltene Idee wurde von der New Economy gekapert. In jovialem Ton wird von den Befehlshaber*innen flacher Hierarchien gefordert, dass die starre Grenze zwischen Arbeit und dem übrigen Leben falle, denn die Zukunft gehöre einer Arbeit, der man aus Freude nachgehe. Diese Wohlfühl-Entgrenzung der Arbeit betrifft nun vor allem die Funktionselite, Menschen also, die in Büros arbeiten, wo auch eine Couch gerne gesehen wird und bei Bedarf vom Frühstückstisch aus die erste Video-Konferenz gut gelaunt bei einem Goji-­Beeren-Smoothie stattfinden darf. Dass trotz

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dieser Freude-durch-Arbeit-­Stimmung der Humanverschleiß erheblich ist und insbesondere dem pharmazeutischen Sektor die Nachfrage sichert4, sollte uns genauso zu denken geben wie der Verdacht, dass sich die Entgrenzung der Arbeit für das Prekariat vor allem als eine Sorge um Arbeit entpuppt. Ganz zu schweigen davon, dass ­saturierte Gesellschaften durch die Pflege ihrer Arbeitsambitionen dem Planeten mehr Gewalt antun als durch all ihre Urlaubsflüge und Konsumexzesse zusammen. Die einst marxistische Forderung einer Aufhebung der Arbeit5 in der Selbstverwirklichung des Individuums erscheint mir heute angesichts der feindlichen Übernahme durch die freie Wirtschaft anstößig. Anthropo-poietischer Arbeitsbegriff

Marx hat gegenüber Charles Fourier immer darauf bestanden, dass Arbeit kein Spiel werden könne.6 Die Selbstverwirklichung des Individuums sei kein bloßes Amusement, »denn wirklich freie Arbeiten, z. B. Komponieren, ist [sic] gerade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung«7. Diese Abgrenzung erscheint mir nicht evident. Amusement kann durchaus verdammtester Ernst sein, genauso wie im Spiel die intensivste Anstrengung verausgabt werden mag. Marx’ Beispiel vom Komponieren – man sitzt zu Hause am Klavier oder an der Gitarre und gibt sich ganz dem musikalischen Sinn hin – ist spielerisch und amüsant gerade da, wo es ernst und intensiv, das heißt nicht langweilig ist.8 In dieser Abgrenzung zu Fourier scheint mir eine konzeptionelle Vagheit eines überladenen Arbeitsbegriffs von Marx zum Ausdruck zu kommen. Warum bezeichnet Marx eine Tätigkeit als Arbeit, die spätere und sehr wohlwollende Interpreten als Hobby, als spielerisch-ästhetisches »Werk der Phantasie«9 oder »tätige Muße«10 betitelt haben? Einerseits geht Marx von einem sehr weiten Begriff von Arbeit aus11, der jegliche menschliche Regung umfasst, weil er das Leben selbst als einen Produktionsprozess des Menschen versteht. Die Idee der Selbstverwirklichung durch Arbeit beruht im Grunde auf diesem, wie man sagen könnte, anthropo-poietischen Arbeitsbegriff: Der Mensch bringt sich selbst hervor und somit ist das Leben des Menschen im Ganzen als Arbeit an sich selbst zu verstehen. Andererseits benötigt Marx aber einen engeren Arbeitsbegriff, der es ihm erlaubt, die ökonomischen Verhältnisse des Kapitalismus angemessen zu analysieren. Diese Arbeit meint das ökonomisch zweckbestimmte12 Tätigsein. Das betrifft keineswegs nur kapitalistische Lohnarbeit, sondern jede Arbeitstätigkeit, die darauf abzielt, Gebrauchswerte zu s­ chaffen

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oder zu beschaffen, die konsumiert, genossen, getauscht oder benutzt werden können. Aus Perspektive der Kritik der politischen Ökonomie stellt sich die Aufhebung der Arbeit als Aufhebung der Unterscheidung von der Sphäre der Arbeit und der Sphäre des Konsums dar. »Jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen«,13 diese Formel bezeichnet nicht bloß herrschaftsfreie Arbeits- und Güterverteilung (das Jenseits des bürgerlichen Rechts), sondern das Zusammenfallen von Bedürfnis und Fähigkeit in freier Selbstentfaltung. Man ist tätig, weil man ein Bedürfnis nach Tätigkeit hat, und man genießt, weil man eine Fähigkeit zum Genuss erlangt hat. Zugespitzt könnte man sagen: Bedürfnisse verwandeln sich in den Genuss des tätigen Lebens und Genießen-zu-Können wird zur Befähigung menschlicher Existenz. Das emanzipative Moment bei Marx liegt, so gesehen, in seinem latenten Hedonismus.14 (Das meint nicht die repräsentative Verschwendung der leisure class15, sondern eine Versöhnung des Widerspruchs von Tätigkeit und Genuss in der sinnlichen Lust am Leben.) Im Sinne der ökonomischen Schriften stellt sich das praktisch als Rationalisierung der Produktionsweise dar, »um die Arbeitszeit der ganzen Gesellschaft auf ein fallendes Minimum zu reduzieren und so die Zeit aller frei für die eigene Entwicklung zu machen«.16 Ökonomisch notwendige Arbeit soll reduziert werden, um dem Genuss freier Zeit, das heißt der anthropo-poietischen Arbeit als Selbstverwirklichung, Raum zu verschaffen. Ich möchte nun versuchen zu zeigen, dass der anthropo-poietische Arbeitsbegriff, der im Grunde allen emphatischen Arbeitsbegriffen der Moderne implizit ist, unter anderem durch die Aufladung mit einem ursprünglich der Arbeit fremden Motiv zustande kommt: dem des Eros, der Liebe, der Zeugungskraft und Fruchtbarkeit. Meine These lautet also: Der emphatische Arbeitsbegriff der Moderne ist ein erotisierter. Arbeit und Reproduktivität: Arendt

Gehen wir von der Bestimmung der Arbeit als Stoffwechsel mit Natur17 aus.18 Vormoderne Arbeitsbegriffe, die Arbeit bekanntlich meist als Mühe, Last, Qual oder Notwendigkeit charakterisiert haben, können mit dieser Bestimmung in Übereinkunft gebracht werden. Das Leben verzehrt und braucht auf und muss darum auch herstellen und beschaffen. Im natürlichen Lebensprozess, der sich zyklisch zwischen Erarbeiten und Aufbrauchen bewegt, stellen Anstrengung und Genuss die zwei Seiten der einen Medaille dar, des Lebens. Allerdings lassen

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sich diese beiden Seiten, so sehr sie auch zusammenhängen, durchaus klar voneinander unterscheiden – für diesen viel gescholtenen Arbeitsbegriff spricht gerade die Evidenz dieser Unterscheidung. Es macht einen großen Unterschied, ob man den Acker umgräbt und die Feldfrüchte nach Hause schleppt, oder ob man dieselben Früchte bei geselligem Mahl verzehrt. So verstanden, ist Arbeit notwendig als Voraussetzung und Mittel zu dem, was gerade nicht Arbeit ist: dem Genuss der Früchte, dem Genuss zweckfreier Geselligkeit und natürlich dem Genuss der Muße. Dass Arbeit in der Regel als lästige und mühselige Notwendigkeit angesehen oder noch bei Luther gerade zur Selbstzüchtigung empfohlen wird19, verweist auf ihren prinzipiellen Mittelcharakter: Selbst wo Arbeit gelobt wird, meint sie kein Gut, sondern nur ein Mittel zur Erlangung von Gütern. Wie kommt es nun dazu, dass in der Moderne Arbeit tendenziell selbst zu einem Wert oder Gut erklärt beziehungsweise ihr das Potenzial der Sinnstiftung zugesprochen wird? Wo das geschieht, verwischt und verkehrt sich die Unterscheidung von Arbeit und Genuss zusehends: Arbeit selbst wird zum Genuss, zur Freude erklärt, und Genuss wird als Konsum zum notwendigen Teil der Reproduktion der Arbeitskraft degradiert. Das geht so weit, dass es heute ganz selbstverständlich erscheint, von einem Bedürfnis nach Arbeit oder einem Arbeitswunsch zu sprechen, also das Instrument der Bedürfnisbefriedigung selbst zum Bedürfnis zu erklären, was konsequenterweise dazu führt, dass sich Arbeit schließlich zu einer verwert­ baren Ware verwandelt.20 Hannah Arendt, die epochal von einem Sieg des animal laborans spricht, sieht diese Tendenz, die »alle Tätigkeiten als Arbeiten«21 versteht, als das Ergebnis einer modernen Verunsicherung des säkularisierten Weltverständnisses, dem »als einziger fester Bezugspunkt [...] das Leben selbst übrigbleibt, und zwar der potentiell unvergängliche Lebensprozeß des Menschengeschlechts«22. Den neuzeitlichen Zweifel an ewigen Formen und Wahrheiten überlebt sozusagen nur der Lebensprozess selbst, der sich im Spiel von Selbsterhaltung und Reproduktion verewigt und zum Weltprinzip erhoben wird. Das reine Faktum biologischer Reproduktivität wird den sich aufbrauchenden Menschen zum sinnhaften Bezugspunkt im Leben der Gattung. Von diesem »Standpunkt des ›Ernstes des Lebens‹, der darin besteht, das Leben in der Arbeit zu reproduzieren und ›to make a living‹«23, wird die Arbeit mit dem Gattungsleben identifiziert. Die zweckbestimmte, produzierende Tätigkeit, die durch die Zeiten des Genusses begrenzt war und in ihnen ihren Zweck fand, wird nun tendenziell als expan-

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sive Re-Produktion verstanden. Es geht um Erhalt durch reproduktive Vermehrung, welche schließlich im Wachstumszwang kapitalistischer Wirtschaftsformen und dem biopolitisch ausgegebenen Ziel des Bevölkerungswachstums ihre Entsprechungen findet. So wird die Genusssphäre tendenziell unter die arbeitende Reproduktion subsumiert. Arendt spricht von einer Gleichsetzung von Fruchtbarkeit und Produktivität in der Moderne und verweist darauf, dass Glück fortan als Lust missdeutet wird.24 Modell der Arbeit wird somit die Reproduktivität der Fortpflanzung beziehungsweise libidinöse Aktivität, wo Genuss und Produktivität ineinander fallen beziehungsweise der Genuss als Funktion des Wachstums zum Instrument der Produktion verkehrt wird. Arbeit, Eros, Liebe, Sex: Marx

Da spricht es für sich, dass die Anerkennungslehre Hegels, aus der Marx unter anderem seinen Arbeitsbegriff abgeleitet hat, ihre Vorgeschichte im Liebesbegriff findet.25 Der frühe Hegel schreibt: In der Liebe »findet sich das Leben selbst als […] Verdoppelung seiner selbst, und Einigkeit desselben«26. »Die Vereinigten trennen sich wieder, aber im Kind ist die Vereinigung selbst ungetrennt worden.«27 Dieses Liebesmotiv, das auf Platon rekurriert28 und mit reproduktiver Erotik kurzgeschlossen ist, beschreibt den Prozess, in dem sich Menschen erst in der Anerkennung eines Getrennten und Entgegengesetzten selbst erkennen und sich dabei über sich hinaus entwickeln. In der Phänomenologie findet sich parallel dazu das Modell der Selbstwerdung durch den Gegenstandsbezug der Arbeit.29 Marx lobt Hegel gerade dafür, dass er »die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt […]; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen, wahren, weil wirklichen Menschen als Resultat seiner eignen Arbeit begreift«30. Man darf sich wohl wundern, denn den gegenständlichen, wahren, weil wirklichen Menschen würde man doch nicht zuerst als Resultat seiner Arbeit ansehen, sondern als das der liebevollen Betätigung seiner Eltern. Das gilt insbesondere, wo Marx von solcher Selbstverwirklichung als dem »wirklichen tätigen Verhalten des Menschen als Gattungswesen«31 spricht. Arendts Verdacht, dass der Siegeszug des Arbeitsbegriffs mit der Identifikation von Reproduktion und geschlechtlichem Gattungsleben einhergeht, lässt sich bei Marx in diesen frühen Schriften also durchaus stützen. Die Arbeit wird mit geschlechtlicher, gattungsbezogener Fruchtbarkeit identifiziert und so werden folgerichtig unter menschlichen Bedingungen Arbeitsver-

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hältnisse, also Tauschverhältnisse, zu Liebesverhältnissen.32 Der sexuelle Sinn kommt ganz unverhohlen zum Ausdruck, wenn Marx von den Anfängen der Arbeitsteilung spricht, die »ursprünglich nichts war als die Teilung der Arbeit im Geschlechtsakt«33. Der Zusammenhang von geschlechtlicher Fruchtbarkeit und arbeitender Produktion ist in diesen frühen Schriften also ganz explizit. Dass Arbeit überhaupt als Selbstverwirklichung begriffen werden kann, hat für Marx seinen Grund in der Identität von Arbeit und Sex34: Von der »Begattung zweier Menschen«, die den »Menschen produziert«, lässt sich die Menschwerdung als die »Kreisbewegung, welche in jenem Progreß sinnlich anschaubar ist, festhalten, wonach der Mensch in der Zeugung sich selbst wiederholt, also der Mensch immer Subjekt bleibt«35. Diese Bewegung der Selbstwerdung erweist sich für Marx vom Standpunkt der zu sich gefundenen, befreiten Gesellschaft als identisch mit der »Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen«36. Im reiferen ökonomischen Werk verliert diese Identifikation von Arbeit und Sexualität ihre schroffe Ausdrücklichkeit, zeigt sich jedoch nach wie vor als Mehrdeutigkeit des Produktionsbegriffs, der neben der Güterproduktion gleicherweise die Reproduktion (Essen, Hausarbeiten, Fortpflanzung) und die individuelle Selbstentfaltung umfasst, und den Marx grundsätzlich zu demografischen Erwägungen in Bezug setzt.37 Sozialtechnologien einer Arbeitsgesellschaft der Lust: Charles Fourier

Bei dem bereits erwähnten Charles Fourier, der für Marx eine zentrale Referenz darstellt, ist der Bezug zwischen Arbeit, Liebe und Lust ganz ausdrücklich. Er geht davon aus, dass durch die von ihm geforderte Einrichtung der Welt nach Maßgabe von Attraktionsgesetzen neue Sonnen über den Polen der Erde aufgehen und die dortigen Eiswüsten in fruchtbare Schlaraffenländereien verwandelt werden.38 Fourier weiß sich als erster Entdeckter globalpolitischer Maßnahmen der Erotisierung und Attraktivitätsentfaltung, die nicht bloß den Menschen, sondern den ganzen Planteten in ein erotisch-spielerisches Selbstverhältnis versetzen sollen. Anziehung und Abstoßung, die beiden Kräfte der Welt – man müsste genauer sagen: die beiden Fundamental-­Lüste des Kosmos –, bilden für Fourier eigentlich nur zwei Facetten des erotischen Vergnügens, die entfacht werden sollen, um die Menschheit in einen harmonischen und glückseligen Zustand zu versetzen. Damit spricht er sowohl Sexualität in ihren unterschiedlichen Spielarten als auch Erotik im weiteren Sinne an. Auf die Arbeitsverhältnisse nimmt diese erotische Weltanschauung insofern Ein-

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fluss, als Fourier versucht, nach Maßgabe einer Politik der Liebe39 eine Arbeits-Lust-Armee industrieller Herstellung zu errichten.40 Zur Überwindung der Zivilisation werden Arbeitstrupps, Fourier nennt sie ­phalanstère (von Phalanx), errichtet, die sich in ihrer Zusammensetzung und Arbeitsbeschäftigung einer Rationalität der Luststeigerung verdanken.41 Sie werden dann in sogenannten industriellen Serien in einen kollektiven Produktionsprozess eingegliedert, der sie nach Maßgabe der steuernden Lüste zu einer optimalen Ausnutzung der Fähigkeiten und Kräfte aller Beteiligten ergänzt. Dabei bleiben keine Arbeiten lustlos zurück, sondern selbst die schmutzigsten Verrichtungen werden beispielsweise durch die Ausnutzung der »Neigung zur Unsauberkeit bei den Knaben«, die nun »unerschrocken alle widerwärtigen Aufgaben verrichten, die eine Gruppe von Arbeitern erniedrigen würde, wie Ausräumen der Kanalisation, Stallausmisten, Reinigen der Därme usw.«42, in eine Lustverrichtung umorganisiert. Die Verwaltung dieser Lust-Ökonomie43 soll durch die Einsetzung von Vestalen und Vestalinnen erleichtert werden. »Die Liebe, die in der Zivilisation ein Keim der Unordnung, Faulheit und Verschwendung ist, wird in der neuen Gesellschaft eine Quelle der Wohltat und des Reichtums.«44 Es ist erstaunlich, dass sich immer wieder ernst zu nehmende Autoren positiv auf Fourier bezogen haben. Einer davon, Herbert ­Marcuse, hat wenigstens zugestanden, dass »die Arbeitsgemeinschaften der phalanstère eher ›Kraft durch Freude‹ voraus[nehmen] als die Freiheit«45. Betrachte ich heute Fouriers Arbeitsprogramme der Lust, fühle ich mich durch den darin zum Ausdruck kommenden Willen zur totalen sozialtechnischen Gestaltung in der Tat an totalitäre Gesellschaften erinnert, die mittels des Primats der Arbeit die letzten freien Winkel des Lebens mit ihrer Biomacht besetzten und durch konkrete Arbeit die physische Vernichtung von Menschen produktiv machten. Beschäftigen wir uns heute mit Arbeit, dann sollten wir den Gegensatz zwischen utopischer Verklärung von Arbeit und deren dystopischer Realisierung nicht aus dem Blick verlieren. Marcuse hat diese Nähe der Utopie befreiter Arbeit zur autoritären, biopolitischen Steuerung der Massengesellschaft wohl wahrgenommen. Dennoch warb er dafür, von »Marx zu Fourier überzugehen«46. Um dieses Moment zu begreifen, muss man sich vergegenwärtigen, welche Neudeutung das Verhältnis von Arbeit und Eros im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss der Psychoanalyse erfahren hat. Die Freud’sche Trieblehre wird auf die Funktionsweise des Kapitalismus angewandt, »indem wir aufdecken, in welcher Weise die gesellschaftliche Produktion und die Produktionsverhältnisse eine Institution des Wunsches

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bilden, und in welcher Weise die Affekte oder Triebe zur Infrastruktur selbst gehören«47. So haben es Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus formuliert. Ich beschränke mich hier aber auf eine kurze Skizze des freudo-marxistischen Ansatzes Marcuses.48 Industrielle Moral: Marcuse I

In einer Studie von 1957 über die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus49 schreibt Marcuse: ie Ähnlichkeit [zwischen kalvinistischer und sowjetischer D Ethik] ist mehr als zufällig: die beiden Ethiken [...] reflektieren die Notwendigkeit, große Massen »rückständiger« Menschen einem neunen Gesellschaftssystem einzugliedern, die Notwendigkeit, eine [...] disziplinierte Arbeiterschaft zu schaffen [...] und auf immer rationellere Weise stets ansteigende Gütermengen zu erzeugen, wobei die vernünftige Anwendung dieser Güter für individuelle Bedürfnisse durch die »Umstände« stets mehr hinausgezögert wird.50 Diese dem Sowjet-Marxismus wie dem Kapitalismus eigene Strukturlogik ist ebenjene, die ich oben mit dem Wachstumszwang der Reproduktionsarbeit angesprochen habe. Sie erhebt die Produktivität, die Mittel eines notbefreiten menschlichen Lebens sein könnte, zu einem Selbstzweck, der sich der Individuen als Arbeitsmittel bedient, während er ihnen den Genuss der Güter in freier Zeit beziehungsweise ihre Selbstentfaltung weitgehend vorenthält. Diese »industrielle Moral«51, wie Marcuse sagt, schlägt sich unmittelbar in der reaktionären Rückständigkeit beziehungsweise Fortpflanzungsversessenheit der Liebesmoral nieder. »Unter solchen Bedingungen ist das Hervorbringen von Kindern in der Tat im selben Sinne produktiv wie das von Werkzeugmaschinen, und ein liebender Ehemann und Vater ist im selben Sinne gut, wie ein tüchtiger Fabrikarbeiter.«52 Trotz dieser beklemmenden Bestandsaufnahme hält Marcuse an den emanzipatorischen Versprechen des Marxismus fest. Er sieht in der Produktivkraftentwicklung zwar die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung der Befreiung des Menschen, welche vielmehr eine Transformation der Triebstruktur voraussetze. Transformation der Triebstruktur: Marcuse II

Was meint Marcuse nun mit dieser »triebmäßigen Transformation«53? An dieser Stelle kann die detaillierte Auseinandersetzung Marcuses

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mit Freud nicht diskutiert werden.54 Ich möchte nur ein Schlaglicht auf die Konsequenzen für den Arbeitsbegriff werfen. Arbeit erscheint hier als ein Grundmoment des Realitätsprinzips, das das Lustprinzip einschränkt und sublimiert.55 »[D]er Mensch lernt, augenblickliche, ungewisse und zerstörerische Lust zu Gunsten einer späteren, beschränkten, aber gesicherten Lusterfüllung aufzugeben.«56 Diese Unterdrückung unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung kann als eine Modifikation des Lustprinzips angesehen werden, sie ist eine Unterdrückungsleistung des Lebenswillens, des Eros selbst.57 Arbeit lässt sich so als Tätigkeit unter den Bedingungen der Lebensnot verstehen, aufgrund derer »Energien von der Sexualbetätigung weg auf Arbeit [zu] lenken«58 sind. Marcuse interpretiert Entfremdung also nicht vor dem Hintergrund einer im Grunde erfüllenden Arbeit (anthropo-­ poietische Arbeit), sondern Arbeit als eine ursprüngliche Entfremdungsform von Lust. Diese notwendige Triebunterdrückung beziehungsweise -sublimierung stellt für Marcuse eine anthropologische oder biologische Voraussetzung59 nicht bloß des Überlebens, sondern ebenso sehr der Entwicklung von Rationalität, Kunst, Kultur und gesellschaftlichem Zusammenleben dar. In der Form »zusätzlicher Unterdrückung«60 internalisiert sich zudem gesellschaftliche Herrschaft als Sphäre der Allgemeinheit und es etabliert sich ein »­Leistungsprinzip«61, das den konkreten Lustverzicht im Rahmen einer übergeordneten Produktionsleistung fasst und Arbeit zum Lebensprinzip erhebt. ie Arbeit ist allgemein geworden, und so sind es die der Libido D auferlegten Beschränkungen: die Arbeitszeit, die den größten Teil der Lebenszeit des Menschen ausmacht, ist eine leidvolle Zeit, denn entfremdete Arbeit bedeutet das Fehlen der Befriedigung, die Verneinung des Lustprinzips.62 Die individuelle Lustbefriedigung unterwirft sich dem übergeordneten Eros, der sich als Produktivität, als Leistungsinstanz darstellt: »[E]rotische Leistung ist mit gesellschaftsfördernder Leistung gleichgerichtet.«63 Diese triebunterdrückende und doch fundamental libidinöse Konstellation entfremdeter Arbeit resultiert aus dem Umgang mit der blanken Lebensnot. Durch die technische Entfaltung der Produktivkräfte sei es dagegen heute durchaus möglich, »Armut und Elend« und »entfremdete Arbeit«64 abzuschaffen. Dennoch bleibt das Leistungsprinzip weiterhin vorherrschend, da die warenfetischistische Produktionsordnung sich der Sphäre des Genusses und der libidinö100


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sen Entfaltung bemächtigt. »Die Ausdehnung der Kontrolle auf ehemals freie Regionen des Bewußtseins und der Muße gestatte[t] eine Lockerung der Sexual-Tabus.«65 So wird der ganze Bereich der Konsumtion und der individuellen erotischen Verhältnisse zunehmend unter die Gesetze des Leistungsprinzips gestellt. Mit der Entwicklung der Produktivkräfte werden die zuvor arbeitsförmig unterdrückten libidinösen Energien warenförmig frei und selbst zum Mittel der Unterdrückung. Kulturindustrie, repressive Entsublimierung66 und repressive Toleranz67 sind hier die entscheidenden Schlagworte, durch die Marcuse das Fortbestehen der unterdrückenden Produktionslogik, trotz realer Möglichkeit ihrer Abschaffung, erklärt. Modell für eine nicht entfremdete, sublimierende Tätigkeitsform wären das freie Spiel in Anlehnung an Kant und Schiller sowie der platonische Eros.68 Die Parole, von Marx zu Fourier überzugehen, muss als die Forderung verstanden werden, das Reich der Notwendigkeit vollständig in einem Reich der Freiheit aufzuheben; alle Arbeit müsste ihren Zwangscharakter einbüßen und alles Notwendige sich quasi als ein Kollateraleffekt der freien, spielerischen und libidinösen Betätigung der Menschen erledigen. Wo also mit Marcuse von einer Aufhebung der Arbeit im libidinösen Spiel gesprochen werden kann, ist die »vollständige Unterordnung der Arbeit«69 unter die spielerische Wirklichkeitsaneignung gemeint. Diese Befreiung im libidinösen Spiel sei »völlig unvereinbar mit den Institutionen des Leistungsprinzips«, worauf hinzuweisen Marcuse gesteigerten Wert legt, da eine Tendenz bestehe, »die repressive Produktivität als menschliche Selbstverwirklichung zu feiern«70. Nimmt man diese radikal-­utopische Wendung ernst, müsste man tatsächlich von einer restlosen Auf­ hebung der Arbeit zugunsten einer erotisch-künstlerischen Existenz ohne Not ausgehen. Schluss: Plädoyer für eine Begrenzung der Arbeit

Mir scheint es verdächtig, dass gerade in jener Menschheitsepoche, die eine Ökonomie grenzenloser Produktion und instrumentell-­ entfremdeter Arbeitsformen global etabliert hat, Arbeit mehr und anderes bedeuten soll als ökonomisch zweckbestimmte Tätigkeit. Angesichts der aktuellen Probleme, die ein unbegrenztes Produk­ tionswachstum und eine Fetischisierung der Arbeit hervorrufen, scheint es mir notwendig, eine radikale Arbeitskritik starkzumachen. Diese müsste die Entfaltungsmöglichkeit des Menschen letztlich in einer freien Zeit verorten, die nicht mehr bloß als Freizeit (Nichtarbeit und Erholungszeit), sondern als Mußezeit zu verstehen wäre. Man darf sich hierzu an den Marx des Kapitals halten, wenn er schreibt: 101


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ie Freiheit [...] kann nur darin bestehen, daß [die] vergesellD schaftete[n] Mensch[en] [...] diesen [...] Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit geringstem Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung.71 Grundbedingung von Muße wäre in diesem Sinne die scharfe Trennung von Home und Work. Arbeit ist notwendig, hat jedoch ihren Zweck gerade in der Nichtarbeit, im Genuss der freien Zeit. Die in diesem Sinne notwendige Arbeit ist möglichst menschenwürdig zu organisieren, gerecht zu verteilen und auf ein Minimum zu reduzieren. Ich plädiere also mit Marx nicht bloß dafür, den Begriff der Arbeit, sondern auch die reale Arbeitszeit im Leben der Menschen radikal einzugrenzen, um Muße zu ermöglichen. Das müsste auch bedeuten, die allzu enge Bindung gesellschaftlicher Anerkennung und öffentlicher Teilhabe an Arbeit zu lockern. Nicht alles, was wir als wichtige gesellschaftliche Leistungen oder Qualitäten unseres Zusammenlebens verstehen, muss arbeitsförmig erscheinen, um Anerkennung zu verdienen. Vielmehr käme es meines Erachtens darauf an, gerade auch jenen Tätigkeiten eine besondere ideelle wie auch materielle Wertschätzung zukommen zu lassen, die nicht der Sphäre der Arbeit entspringen. Gutes Leben jenseits aller Leistungsanforderungen wertzuschätzen und durch radikale Umverteilung des Reichtums zu finanzieren, entspräche den aktuellen Anforderungen in einer Welt, die allen Grund hat, sich nach einem Ende des Wachstumszwangs zu sehnen. Öffentliche Räume und gesellschaftliche Teilhabe, die nicht an Arbeit gebunden sind, zu fördern und zu fordern, scheint mir ein Desiderat für Gesellschaften, die dabei sind, ihre demokratische Übereinkunft im Arbeitskampf der Verwertung aufzureiben. Jenseits der Arbeit beginnt die »Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt«72, das heißt gesellschaftliche Selbstentfaltung, ein sich genießendes Tätigsein, Spiel, Erotik, Muße. Arbeit wird notwendig bleiben, ist darum aber noch lange nicht sexy.

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1 Diesem Text liegt ein Vortrag zugrunde, der in sehr viel umfangreicherer Fassung und stark modifiziert bereits andernorts veröffentlicht wurde: Gimmel, Jochen: »Die Aufhebung der Arbeit im libidinösen Spiel. Wo bleibt die Muße in der Selbstverwirklichung?«, in: Dobler, Gregor/Tauschek, Markus/Wilke, Inga/ Vollstädt, Michael (Hrsg.): Produktive Unproduktivität. Zum Verhältnis von Arbeit und Muße (Otium 14), Tübingen 2020, S. 199 – 225. 2 Vitra: »Workspirit«, auf: https://www.vitra.com/de-de/concepts-projects/office/ workspirit (letzter Zugriff: 13.07.2018). 3 Zum Begriff der Entgrenzung der Arbeit und zum Verhältnis von Arbeit und Leben vgl. Gottschall, Karin/Voß, Günter: »Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zur Einleitung«, in: dies. (Hrsg.): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag (= Arbeit und Leben im Umbruch 5), München 2003, S. 11 – 33. 4 Vgl. Schütte, Martin/Windel, Armin: »Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung«, in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 71.1, 2017, S. 1 – 5. 5 Vgl. Zilbersheid, Uri: Die Marxsche Idee der Aufhebung der Arbeit und ihre Rezeption bei Fromm und Marcuse (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 20, Philosophie 193), Frankfurt am Main 1986. 6 Vgl. Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (= Marx Engels Werke 42), Berlin 1983, S. 607. 7 Ebd., S. 512. 8 Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (= Rowohlts Enzyklopädie 55435), 24. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2015, S. 27. 9 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1969, S. 175 – 176. 10 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 3), 8. Aufl., Frankfurt am Main 1980, S. 1080. 11 Zur Ambivalenz dieses Arbeitsbegriffs vgl. Gimmel, Jochen: »Mußevolle Arbeit oder ruheloser Müßiggang«, in: Dobler, Gregor/Riedl, Peter Philipp (Hrsg.): Muße und Gesellschaft (= Otium 5), Tübingen 2017, S. 47 – 59. 12 Vgl. Gorz, André: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Zürich 2010, S. 330. 13 Marx, Karl: »Kritik des Gothaer Programms«, in: Marx Engels Werke, Bd. 19, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1987, S. 10 – 51, S. 21. 14 Dieser postuliert, dass die Teilung der Arbeit aufgehoben werde, durch die »der Genuß und die Arbeit, Produktion und Konsumtion, verschiedenen Individuen zufalle.« Marx, Karl: Deutsche Ideologie, in: Marx Engels Werke, Bd. 3, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1978, S. 32. Die Idee des guten Lebens kann erfreulicherweise einen Konjunkturaufschwung verzeichnen, was auch die Frage nach einer Re-Etablierung des Konzepts der Muße auf den Plan ruft. Vgl. Pfaller, Robert: Wofür es sich zu leben lohnt: Elemente materialistischer Philosophie, Frankfurt am Main 2011. 15 Vgl. Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, München 1981. Zur Kritik an Veblen im Sinne dieser Untersuchung vgl. Adorno, Theodor W.: »Veblens Angriff auf die Kultur«, in: ders.: Gesammelte Schriften 10.1., Kulturkritik und Gesellschaft 1, Frankfurt am Main 1998, S. 72 – 96. 16 Marx: Grundrisse, S. 604. 17 Vgl. z. B. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Der Produktionsprozeß des Kapitals, in: Marx Engels Werke, Bd. 23, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1962, S. 57. 18 Diese Bestimmung impliziert eine Universalisierung des Arbeitsbegriffs, die Arbeit zum Schibboleth des Menschseins erhebt. Sobald Arbeit zu einer an­­thro­pologischen Konstante erklärt worden ist, liegt es nahe, sie mit jeder Tätigkeit gleichzusetzen, die ein Mindestmaß an intendierter Kraftverausgabung impliziert. Ein anthropologischer Arbeitsbegriff als Stoffwechsel mit Natur meint dann im Grunde jede Regung des Naturwesens Mensch. Ein schönes Beispiel für diese Entdifferenzierung des Arbeitsbegriffs stellt Karl Büchers Verteidigung der Naturvölker gegenüber dem Vorwurf der Arbeits-

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scheu dar. Er weist darauf hin, dass diese Völker sehr vielen, wenngleich auch »überflüssigen Arbeiten« nachgingen und z. B. »das Ordnen des Haares, das Bemalen des Köpers, das Tättowieren, das Anfertigen zahlloser Nichtigkeiten, mit denen sie die Gliedmassen verzieren« – Bücher, Karl: Arbeit und Rhythmus, Leipzig 1899, S. 15 – mit großem Arbeitseifer verfolgten. Dem Arbeitstheoretiker scheint sich unter dem wohlwollenden anthropologischen Blick auch das zur Arbeit zu verwandeln, was er im heimischen Badezimmer seinem eigenen europäischen Nachwuchs wohl kaum als überflüssige Arbeit durchgehen ließe. 19 Vgl. Luther, Martin: »Von der Freiheit eines Christenmenschen«, in: Reformatorische Schriften, Luthers Werke für das christliche Haus, Bd. 1, Leipzig 1924, S. 291 – 316, S. 307. 20 Gerburg Treusch-Dieter hat die Entwicklung aufgezeigt, in der Arbeit selbst zu einer verwertbaren Ware wird, der eigene Dienstleistungsbereiche zugeordnet sind. Vgl. Treusch-Dieter, Gerburg: »Die Abschaffung der Arbeit. Von den Zumutungen der modernen Dienstleistung«, in: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, Bd. 24, Heft 46 (2004). Diese Tendenz, Arbeit als eine wünschenswerte Ware verstehen bzw. verkaufen zu wollen, öffnet in der Wunschinfrastruktur einer Gesellschaft die Schleusen zur Entgrenzung gegenüber dem, was ehemals Broterwerb heißen durfte, und erweist sich überaus förderlich, um die Selbstoptimierung zugunsten der Lebensarbeit anzukurbeln. 21 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 12. Aufl., München 2013, S. 150. 22 Ebd., S. 408. 23 Ebd., S. 152. 24 Ebd., S. 156 – 160. 25 Vgl. Honneth, Axel: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie (= Universal-Bibliothek 1844), Stuttgart 2001, S. 106. Honneth bezieht sich hier in erster Linie auf die Rechtsphilosophie (mit der sich der frühe Marx, um den es hier geht, intensiv auseinandergesetzt hat), dies aber im Kontext der Anerkennungsproblematik. 26 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Frühe Schriften, Werke, Bd. 1, hrsg. v. Eva Moldenhauer, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2016, S. 246. 27 Ebd., S. 249. 28 Hegel zitiert Platons Phaidros. Vgl. ebd., S. 244. 29 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, hrsg. v. Eva Moldenhauer, 11. Aufl., Frankfurt am Main 2010, S. 152 – 155. 30 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Marx Engels Werke, Bd. 40, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1968, S. 574. 31 Ebd., S. 557. 32 Die entsprechende Literatur hat diese enge Verknüpfung des Liebesbegriffs mit der Anerkennungslehre und der Konzeption von Arbeit ausgewiesen und dem Einfluss Feuerbachs zugeschrieben. Vgl. Quante, Michael: »Kommentar zu Karl Marx Ökonomisch-philosophische Manuskripte«, in: Marx, Karl: Ökonomisch-­ philosophische Manuskripte, Frankfurt am Main 2009, S. 209 – 410. 33 Marx: Deutsche Ideologie, in: Marx Engels Werke, Bd. 3, hrsg. v. Institut für Marxismus-­Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1978, S. 31. 34 Lyotard hat eine Interpretation von Marx vorgelegt, die diesen Zusammenhang ausführlich thematisiert. Vgl. Lyotard, Jean-François: Libidinöse Ökonomie, Zürich/Berlin 2007, S. 117 – 188. 35 Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 545. 36 Ebd., S. 546. 37 Besonders interessant in diesem Zusammenhang sind die Auseinandersetzung mit Malthus (dem Ideengeber Darwins) und die Konzeption einer relativen Überbevölkerung. Vgl. auch Weiss, Wolfgang: »Zwischen Marx und Malthus. Die Scheu der Linken vor der Demographie«, in: UTOPIE kreativ, Heft 159 (2004), S. 42 – 53. 38 Vgl. Fourier, Charles: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, hrsg. v. Theodor W. Adorno/Elisabeth Lenk (= Politische Texte), Frankfurt am Main 1966, S. 73.

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39 Vgl. Fourier, Charles: Aus der neuen Liebeswelt, hrsg. v. Daniel Guérin, Berlin 1977, S. 203 – 206. 40 Wie ungemein strikt man sich dieses Produktionsregime vorzustellen hat, wird sehr deutlich, wenn man sich die ideale Fourier’sche Tagesplanung ansieht. Vgl. Reitz, Tilman: »Zeitmanagement im Frühsozialismus. Ökonomische Zwänge und organisiertes Leben«, in: Gamper, Michael/Hühn, Helmut (Hrsg.): Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Hannover 2014, S. 369 – 389. 41 Vgl. Saage, Richard: »Utopie und Eros. Zu Charles Fouriers ›neuer sozietärer Ordnung‹«, in: UTOPIE kreativ, H. 105 (1999), S. 68 – 80, S. 74 – 76. 42 Fourier: Aus der neuen Liebeswelt, S. 198 – 199. 43 Mit eigenartigem Wohlwollen beschreibt Roland Barthes Fouriers »Lustkalkül« in einem weiten Zusammenhang mit so illustren Persönlichkeiten wie de Sade und de Loyola. Vgl. Barthes, Roland: Sade. Fourier. Loyola, Frankfurt am Main 1974, S. 95 – 99. 44 Fourier: Aus der neuen Liebeswelt, S. 203. 45 Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 215. 46 Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, Frankfurt am Main 2008, S. 42. 47 Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main 1977, S. 81. 48 Vgl. Flego, Gvozden: »Erotisierte Einzelne – Erotisierte Gesellschaft?«, in: ders./ Schmiedt-Kowarzik, Wolfdietrich (Hrsg.): Herbert Marcuse – Eros und Emanzipation. Marcuse-Symposion 1988 in Dubrovnik, Gießen 1989, S. 127 – 153. 49 Marcuse, Herbert: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus (= Herbert Marcuse Schriften 6), Frankfurt am Main 1989. Vgl. dazu: Schmidt, Alfred: »Ein unverbesserlicher Romantiker. Alfred Schmidt im Gespräch mit Karin Beindorff«, in: Jansen, Peter-Erwin/Redaktion Perspektiven (Hrsg.): Zwischen Hoffnung und Notwendigkeit. Texte zu Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1999, S. 15 – 38, S. 21 – 22. 50 Marcuse: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, S. 222 – 223. 51 Ebd., S. 225. 52 Gesellschaftliche Fortschritte wie die Emanzipation der Frau entpuppen sich unter dem Diktat der Produktivität letztlich vornehmlich als Fortschritt der Arbeitsausbeutung. So »läßt die ökonomische und kulturelle Emanzipation der Frauen diese nur in gleichem Maße am System entfremdeter Arbeit teilhaben.« – Ebd., S. 235. 53 Marcuse: Versuch über die Befreiung, S. 40. 54 Vgl. dazu Füchtner, Veronika: »Das Unbehagen in der Triebstruktur. Herbert Marcuses Aneignung von Sigmund Freud«, in: Jansen, Peter-Erwin/Redaktion Perspektiven (Hrsg.): Zwischen Hoffnung und Notwendigkeit, o. O. 1999, S. 113 – 129. 55 Freud schreibt: »[D]a [die menschliche Gesellschaft] nicht genug Lebensmittel hat, um ihre Mitglieder ohne deren Arbeit zu erhalten, muß sie die Anzahl ihrer Mitglieder beschränken und ihre Energien von der Sexualbetätigung weg auf Arbeit lenken.« Zitiert nach Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 22. 56 Ebd., S. 19. 57 Es lassen sich destruktive und libidinöse Ich-Triebe oder Selbsterhaltungstriebe bzw. Lebenstriebe und Todestriebe bei Freud unterscheiden. Dabei wird der »Eros [...] als die große einende Kraft definiert, die alles Leben erhält.« – Ebd., S. 32. 58 Ebd., S. 22. 59 Vgl. Marcuse: Versuch über die Befreiung, S. 21 – 41. 60 Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 40. 61 Ebd., S. 49. 62 Ebd., S. 49 – 50. 63 Ebd., S. 50. 64 Marcuse, Herbert: Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967, Frankfurt am Main 1980, S. 12. 65 Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 95 – 96. 66 Vgl. ebd., S. 199 – 200.

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67 Vgl. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der ­fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 21. Aufl., Darmstadt 1987, S. 236 – 238. 68 Früchtl spricht von einer »Synthese hedonistisch-antiidealistischer und kantisch-antihedonistischer Position« – Früchtl, Josef: »Revolution der Sinnlichkeit und Rationalität. Eine Erinnerung an Marcuse in aktualisierender Absicht«, in: Flego/Schmied-Kowarzik: Herbert Marcuse – Eros und Emanzipation. Marcuse-Symposion 1988 in Dubrovnik, Gießen 1989, S. 294. Vgl. dazu Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 171 – 233. 69 Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 194. 70 Ebd., S. 215. 71 Marx, Karl: Kapital Dritter Band. Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, in: Marx Engels Werke, Bd. 25, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1964, S. 406. 72 Ebd.

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Praxisformen

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Die Neuen Auftraggeber Von 2017 bis 2021 war ich Mediatorin bei den Neuen Auftraggebern, einer Initiative, die 1990 von dem Künstler François Hers in Frankreich begründet wurde. Kunst im öffentlichen Raum wird häufig an Orten installiert, wo die Anwohner*innen wenig damit anfangen können und wo wenig über sie geredet wird. Auch findet die Finanzierung dieser Kunst häufig ohne Beteiligung der Bürger*innen statt. Daher fordert François Hers in seinem Manifest, man solle die Idee von Auftraggeberschaft völlig neu denken.1 Genau jene Menschen, die später mit der Kunst vor Ort zu tun haben, sollen die Auftraggeber*innen der Kunst ­werden. Mit der Gründung der Neuen Auftraggeber hat sich Hers auch gegen herkömmliche Finanzierungsmodelle gewendet, in denen Jurys, Kulturausschüsse, Sammler*innen, Banken oder große Museen Kunst finanzieren, um sie dann im öffentlichen Raum zu zeigen. Hers’ Neue Auftraggeber sind eine Initiative, in der bürgerschaftliche Gruppen oder auch Einzelpersonen einer*einem Künstler*in einen Auftrag geben. So werden die Anliegen von Menschen an ihren jeweiligen Orten Anlass des Auftrags. Neben den Bürger*innen und den Künstler*innen hat Hers die Mediator*innen als wichtige Rolle für den Prozess einer Auftragsentwicklung und -umsetzung eingeführt. Diese Aufgabe hatte ich für ein Gebiet in Brandenburg übernommen. Ich begann bei den Neuen Auftraggebern mitzuarbeiten, weil mich die Initialidee von Hers interessierte. Was er gemacht hat, ist ja eine klassische künstlerische Geste: den Prozess unter die Lupe nehmen und ihn dann anders als gewohnt aufstellen. Das ist es, was mich daran reizt.

Die Anfänge in Frankreich

Innerhalb der letzten 30 Jahre gab es in Frankreich und in weiteren Ländern Europas schon über 200 Projekte im Rahmen der Initiative. Beispielsweise erfuhr ein kleiner Ort in der Bretagne davon. Ein engagiertes Kollegium der dortigen Schule sprach die Mediatorin ­Anastassia Makridou-Bretonneau von Les Nouveaux commanditaires an und sagte: »Uns fehlt Lehrmaterial für die Arbeit in der Schule – etwas, das das Wegesystem der Flüsse und Seen hier in der Gegend dokumentiert.« Anastassia kam daraufhin in die Schule und trat in

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einen Dialog mit dem Kollegium ein. Es wurde hin und her diskutiert, warum es so wichtig sei, genau jetzt die Wasserwege zu dokumentieren und was das mit dem Unterricht zu tun habe. In diesem Prozess stellte die Mediatorin fest, dass die eigentliche Problematik viel grundsätzlicher war. Eigentlich ging es darum, dass die Schule seit Jahren schrumpfte, wie auch der ganze Ort. Es kamen immer weniger Schüler*innen, das Schulgebäude war veraltet und es waren keine Gelder da, um es zu sanieren. Geld wiederum wurde mit dem Argument verweigert, dass die Schule doch im Schrumpfen begriffen sei. Das war es, woran man eigentlich arbeiten wollte: an der Entwicklung einer Vision und an einer Öffnung der Schule hin zur Gemeinde. Man wünschte sich, dass die Schule ein Ort der Gemeinschaft würde, nicht nur eine Schule, sondern auch ein Treffpunkt für Bürger*innen, wo die ganze Gemeinde zusammenkommt. Daraufhin holte die Mediatorin die Pariser Designerin Matali Crasset ins Boot. In einem achtjährigen gemeinsamen Prozess wurde am Ende tatsächlich die komplette Schule saniert und auch räumlich völlig umstrukturiert, hin zu einer dem Kollegium entsprechenden pädagogischen Idee und hin zu einer Öffnung in Richtung Gemeinde. Damit hat sich die äußere Struktur der Schule verändert, aber auch die innere, die räumliche wie auch ihre Funktion an diesem Ort.

Die Finanzierung

In Frankreich sind die Neuen Auftraggeber mittlerweile als eine Form der Kulturförderung ein verstetigtes Projekt. Der Prozess des Dialoges mit den Mediator*innen wird über die Fondation de France finanziert. Wichtig ist jedoch, dass die Menschen, die den Auftrag vergeben wollen und sich für den Entwurf eines*einer Künstler*in entscheiden, auch die Verantwortung dafür mittragen, dass der Auftrag tatsächlich vergeben wird. So übernehmen sie eine – zumindest mentale – Mitverantwortung für die Finanzierung. Dabei handelt es sich klassischerweise um Mischfinanzierungen. Man prüft, aus welchen Töpfen Gelder beantragt werden können. Und weil es oft ähnlich komplexe Projekte sind wie im Falle der Schule, sind es am Ende in der Regel auch Gelder aus ganz verschiedenen Töpfen: Kulturförderung, Bildungsförderung, politische Bildung, Stadtplanung. Die Mediatorin oder der Mediator bemüht sich gemeinsam mit der Gemeinde, der Bürger*innen-Gruppe, manchmal auch mit Einzelnen darum, die Finanzierung für die konkrete Arbeit auf die Beine zu stellen.

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Die Neuen Auftraggeber

Hier in Deutschland hat das Ganze 2017 mit einem Pilotprojekt über sechs Jahre für drei sogenannte strukturschwache Gebiete in Brandenburg, in Mecklenburg-Vorpommern und im Ruhrgebiet begonnen. Alexander Koch und Gerrit Gohlke haben die Initiative nach Deutschland geholt und die Finanzierung der Pilotphase durch die Kulturstiftung des Bundes initiiert. Durch diese Stiftung wird der Dialog zwischen Bürger*innen und Künstler*innen mit insgesamt fünf regional zuständigen Mediator*innen für einen Zeitraum von sechs Jahren finanziert. Die Finanzierung deckt die Prozessarbeit und die künstlerischen Entwürfe ab. Für die Umsetzung der Entwürfe müssen jeweils neue Finanzierungsmodelle entwickelt und akquiriert werden.

Heraushören, was die Menschen beschäftigt

Ich war zu Beginn in Südbrandenburg unterwegs und habe mit verschiedenen Menschen dort gesprochen. Beispielsweise war ich in Eisenhüttenstadt und in der umgebenden Region und habe mit Angehörigen eines Kleingartenvereins Gespräche geführt; etwa mit jemandem, der aus Eisenhüttenstadt weggezogen ist, aber zurückkam, um mir von seiner Weggangserfahrung zu erzählen. Mit dem Leiter des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR habe ich mich ebenfalls ausgetauscht. Ich spreche also zunächst nur mit den Menschen, ohne eine bestimmte Erwartung aufzubauen. Die Idee, dass etwas Kunst werden soll, steht zunächst ganz weit hinten. Es geht im ersten Schritt darum, herauszuhören, was die Menschen gerade beschäftigt, und zusammen mit ihnen vor Ort herauszufinden, worin die lokalen Notwendigkeiten bestehen. Ausgangspunkt ist also das, wofür die Menschen sich selber engagieren. Wenn dann ein Bedürfnis oder eine Notwendigkeit für diesen Ort formuliert ist, sind das die besten Voraussetzungen für eine Kooperation mit den Neuen Auftraggebern. Oftmals stellt sich heraus, dass die Menschen sagen: »Eigentlich sind wir gerade an einem Punkt, wo wir nicht so richtig weiterwissen oder uns einen Blick von außen wünschen oder einen anderen Umgang mit dem, was wir hier sowieso schon machen.« Dann stelle ich bestimmte künstlerische Praktiken vor, von denen ich denke, dass sie sich gut mit der von den Menschen formulierten Notwendigkeit verbinden lassen, um in ein weiterführendes Gespräch zu kommen.

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Kunstverständnis

Die Menschen, mit denen ich zunächst spreche, haben in der Regel ganz andere Kunstbegriffe als ich. Insofern geht es erst mal überhaupt nicht um Kunst, sondern um das Engagement der einzelnen Bürgerakteur*innen, um deren Anliegen und um das, was sie als Notwendigkeit formulieren an ihrem Ort, in ihrer sozialen Struktur. Es geht nicht darum, den Menschen ein breites Feld künstlerischer ­Praktiken vorzustellen. Meine Rolle in dem Prozess ist es vielmehr, genau jene künstlerischen Praktiken ins Spiel zu bringen, die zu der Notwendigkeit an dem jeweiligen Ort passen. Dabei ist es immer eine Herausforderung, Kunst nicht zu etwas werden zu lassen, das die Notwendigkeiten und Bedürfnisse der Leute einfach nur auf einer oberflächlichen Ebene beantwortet oder illus­ triert. Ich möchte im Zuge dessen von einem weiteren Beispiel aus Frankreich berichten: Das Dorf Blessey hatte das ehemalige Waschhaus des Ortes eigenhändig saniert und ein kleines Juwel daraus gemacht. Nun baten die Bürger*innen die Nouveaux commandi­ taires: »Wir möchten, dass in dieses Waschhaus ein Bild kommt, ein schönes Bild, das irgendwie klarmacht, dass dieses Waschhaus eine eigene Qualität hat.« Es handelte sich dabei um eines der wenigen noch intakten historischen Gebäude vor Ort. Als der Mediator Xavier Douroux hinzukam, stellte sich im Gespräch heraus, dass auch dieses Dorf schrumpft und an allen Ecken und Enden gespart wird. Die Infrastruktur funktionierte nur noch teilweise, Häuser verfielen und die Menschen stürzten sich auf dieses Waschhaus, sozusagen als letzte Instanz, um ein Bild zu schaffen, das noch intakt und schön ist. Schließlich holte Mediator Douroux den Maler und Konzeptkünstler Rémy Zaugg in dieses Dorf. Zaugg sagte zu den Bewohner*­ innen: »Leute, ich bin doch nicht bekloppt und setze euch hier ein ­schönes Bild in dieses kleine Waschhaus, während um euch herum alles zusammenbricht. Entweder, wir machen das hier richtig und machen aus dem Bild, das ihr wollt, das ganze Bild, also das gesamte Dorf, oder ich gehe wieder nach Hause.« Das hat einen langen Prozess in dem Dorf ausgelöst, der, wie man sich gut vorstellen kann, nicht konfliktfrei war. Aber am Ende sagte die Dorfgemeinschaft: »Okay, wir machen das. Wir geben Rémy Zaugg den Auftrag, unser Dorf als Ganzes zu betrachten, und wir ­lassen ihm dabei freie Hand.« Zaugg ließ überflüssige Gebäude abreißen, alte Wege und Mauern verschieben, die an einem neu geschaffe-

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nen Teich hinter dem Waschhaus mündeten. So wurde das Waschhaus nach einem zehnjährigen Verhandlungsprozess doch noch zum Mittelpunkt eines sodann veränderten Dorfes, das sich nun auf die Schönheit der es umgebenden Landschaft bezieht. Es gibt auf Les Nouveaux commanditaires, der französischen Website der Neuen Auftraggeber, Videoclips mit Interviews mit den Auftraggeber*innen der Projekte. Die Dokumentation zu diesem ­Projekt ist sehr eindrücklich. Ein Bauer aus diesem Ort sagt, er habe vor dem Projekt immer gedacht, dies sei nicht sein Dorf, und er habe es eigentlich auch immer vermieden, zu erwähnen, dass er aus ­diesem Dorf kommt. Und nun, nach dem Projekt, sei er stolz, Teil des Dorfes zu sein. Es habe eine Art Selbstbewusstsein in den Ort zurückgebracht. Ganz wichtig ist, dass über die Form der Umsetzung der Künstler oder die Künstlerin entscheidet, der oder die beauftragt wird. Die Auftraggeber*innen müssen in die Praxis der Künstlerin oder des Künstlers bis dahin so viel Vertrauen entwickelt haben, dass sie diesen Freifahrtschein geben. Es geht also nicht darum, mit bürgerschaftlicher Beteiligung Kunst zu machen, sondern darum, eine künstlerische Arbeit in einen Kontext zu bringen, in dem sie für die Menschen vor Ort eine Notwendigkeit hat. Die Reaktion, dass dieses jetzt nicht dem eigenen Geschmack entspricht oder jenes nicht gut aussieht, gibt es natürlich. Aber oft hat die Notwendigkeit, die in der Arbeit steckt, die größere Kraft. Es treffen letztlich drei Gruppen von Fachleuten aufeinander: der*die Künstler*in als Expert*in für künstlerische Arbeit und die Auftraggeber*­innen als Expert*innen für die Notwendigkeit vor Ort. Die Interessen beider Parteien müssen zueinanderkommen, ein Dialog, der durch den*die Mediator*in begleitet wird.

Erfahrungen aus der Geschichte

Mit dem Pilotprojekt in Deutschland gab es bei den Neuen Auftrag­ gebern die komfortable Situation, auf 30 Jahre Erfahrung zurückblicken zu können. Diese Erfahrungswerte sind für die Mediator*innen eine große Hilfe bei der Einschätzung der Prozesse vor Ort, besonders was die Langwierigkeit der Prozesse angeht. Diese sind oft zäh und unscheinbar, bevor sich ein handfestes Ergebnis zeigt. Künstler*­ innen sind in der Regel sehr offen, wenn man sie für ein Projekt gewinnen will. Auch sehr etablierte Künstler*innen, die im Kunstmarkt gut

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unterwegs sind, haben oft Lust auf solche andersartigen Aufträge, weil auch sie sich natürlich oft die Sinnfrage stellen. Es gibt ein Interesse von Künstler*innen, in einen solchen Dialog einzutreten, auch, um ihre eigene künstlerische Methodik einmal ganz anders zur Diskussion zu stellen. Es war ein geschickter Schachzug von François Hers, die Rolle der Mediator*innen als so zentral für ein Projekt herauszuarbeiten und sie dann eben nicht Kurator*innen oder Vermittler*innen zu nennen; denn diese Begriffe sind im Kunstbetrieb schon mit Vorstellungen belegt, was in diesem Aufgabenfeld zu tun sei. Für mich, die ich selbst Künstlerin und Kunstpädagogin bin, bot die Benennung und Beschreibung des Aufgabengebiets der Mediatorin die Möglichkeit, meine Rolle in den Prozessen klar zu umreißen und sie gleichzeitig von meinen anderen Tätigkeitsfeldern abzugrenzen.

Heute

Seit 2017 sind in Deutschland 17 Projekte in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrheinwestfalen in Auftrag gegeben worden. Keines der Projekte ist bis Ende 2022 zu einem Abschluss gekommen. Mit viel Engagement sind die Mediator*innen an den Orten bemüht, passende Finanzierungsmodelle für die seither entwickelten künstlerischen Entwürfe aufzutreiben. Es hat sich herausgestellt, dass das Modell Les Nouveaux commanditaires aus Frankreich nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar ist. In Deutschland existieren ganz andere Förderlogiken, die auch noch einmal von Ort zu Ort sehr unterschiedlich sind. Dennoch ist es großartig, zu sehen, mit wie viel Geduld die Bürger*innen in den Projekten in einem zum Teil sehr langwierigen und zähen Verlauf bei der Stange bleiben. An vielen Orten sind die Mediator*innen darum bemüht, gemeinsam mit den Künstler*innen kleine Zwischenschritte zu initiieren, um die Motivation am Projekt aufrechtzuerhalten. Auch der Auftrag in der Gemeinde Steinhöfel in Brandenburg, den ich von 2018 bis 2022 betreut und nun an die Mediatorin Sophia Trollmann abgegeben habe, ist durch kleine Zwischenschritte strukturiert. In Steinhöfel hat sich eine Gruppe Bürger*innen zusammengeschlossen, um einen Dialog über die Gestaltungsspielräume des Älterwerdens anzuregen. Mit dem Auftrag ist der Wunsch verbunden, dass die Menschen in den zwölf Dörfern der Gemeinde die Möglichkeit finden, einander beim Älterwerden in den Dörfern zu unter­ stützen und zugleich die Verbindung zwischen den Dörfern zu stärken. 114


Die Neuen Auftraggeber

Ausschlaggebend für die Formulierung des Auftrags war ein altes Schwarz-Weiß-Foto an der Wand des Gemeindehauses im Dorf Demnitz: Darauf sitzen drei Männer auf einer Bank vor einem Haus und unterhalten sich, für alle Menschen im Dorf sichtbar. Die Bank gibt es schon lange nicht mehr. Und selbst wenn es eine Bank gäbe, würde sich heutzutage dort kaum jemand niederlassen. Die Menschen in der Gemeinde sind in den letzten 30 Jahren immer unabhängiger voneinander geworden, anstatt sich auf diese Weise miteinander auszutauschen. Jeder Haushalt hat nun seine eigene Heckenschere, einen Rasenmäher und einen Netflix-Account, und es gibt wenig Gründe, auf die Nachbar*innen zuzugehen. Nach langen Gesprächen mit den Bürger*innen schlug ich vor, die Praxis des Dorfgesprächs zum Projektvorhaben zu erklären. In der Diskussion wurde klar, dass es nicht darum gehen soll, eine Bank zu bauen oder auch nur darauf zu hoffen, dass sich die Menschen von heute so wie früher verhalten würden, als es noch kein Internet gab. Ziel soll es vielmehr sein, das Erzählen selbst zu entdecken. Die Geschichten und Anekdoten sind in soziale Medien und deren digitale Timelines entführt worden. Sie müssen wieder heraus, weil die Menschen einander in Timelines nicht über die Straße helfen oder am Gartenzaum bemerken, wann jemand Hilfe braucht. Ich fragte das Theaterkollektiv Rimini Protokoll, ob es sich ­Steinhöfel als Bühne vorstellen könne. Rimini Protokoll hat einen Lkw zu einer fahrenden Bühne umgebaut und reist mit diesem zu Schauplätzen, an denen sie die Anwohner*innen und Passant*innen in ein Bühnenstück involvieren. Rimini Protokoll verwandelt das, was ohnehin geschieht, in Bühnengeschehen, verdichtet es, legt Zusammenhänge offen und lässt Menschen zu Wort kommen, die sonst nicht beachtet werden. Helgard Haug von Rimini Protokoll entwickelte gemeinsam mit dem Architektur- und Designkollektiv Constructlab ein Konzept für ein fahrbares Bühnenstück für die 160 Quadratmeter große Gemeinde. Während sich die Finanzierung dieses aufwendigen Projektes nach wie vor schwierig gestaltet, sind die Auftraggeber*innen in Steinhöfel nicht untätig geblieben. Sie wussten, dass ein Theaterstück nicht reicht, um Gewohnheiten zu ändern. Sie baten in Ergänzung zur Theaterproduktion um etwas, das in der Gemeinde bleibt. Im Dialog mit den Auftraggeber*innen entwickelte sich so die Idee eines rollenden Mobils, das von den Bürger*innen Steinhöfels wahlweise zum Beispiel als Café, Reparaturwerkstatt oder Zirkusstand während eines Dorffests genutzt werden kann.

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Im Sommer 2022 initiierte Constructlab auf dem Dorfanger von Heinersdorf einen kollektiven Workshop, der mit einem großen Werkstattwagen einschließlich aller für das rollende Mobil notwendigen Gewerke durchgeführt wurde. Unter Beteiligung von Menschen aus den umliegenden Dörfern und mit Hilfe einer regional gebundenen Finanzierung wurde das Mobil vor Ort realisiert. Mittlerweile hat die Sommerwerkstatt sich verstetigt. Aus dem Mobil ist ein elektrisch betriebenes Lastenfahrzeug geworden, das für Kinovorführungen, Kirchenveranstaltungen und Grillfeste gleichermaßen tauglich ist. Auch hat sich aus diesem Engagement ein Donnerstagstreff der Akteur*innen vor Ort gebildet, den es vorher nicht gab. Nun braucht es noch eine deutlich größere Summe, dann soll der Rimini-Lkw rollen. Steinhöfel hat sich zu einem Langzeiterzählprojekt entwickelt, das weiterhin darauf hofft, im Theater seine Form zu finden. Die Erfahrungen aus Frankreich zeigen, dass sich die Kontinuität vor Ort lohnt, auch wenn es manchmal zehn Jahre dauert, bis ein Projekt final realisiert ist.

1 Vgl. Les Nouveaux commanditaires (Hrsg.): »Protocol«, auf: http://www.nouveauxcommanditaires.eu/fr/44/le-protocole (letzter Zugriff: 19.12.2022).

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Über eine andere Art des gemeinsamen Aufenthalts

Philipp Furtenbach

Über eine andere Art des gemeinsamen ­Aufenthalts Studien zur Gastfreundschaft

Für das Projekt Studien zur Gastfreundschaft wanderten wir, das Kollektiv AO&, mit einem Bollerwagen durch die Bergdörfer des Großen Walsertals, klopften an Türen und fragten die Leute, ob wir bei ihnen kochen könnten. Wir hatten alle Utensilien dabei und baten darum, den Privatraum in einen öffentlichen Raum zu verwandeln, um Menschen aus der Umgebung und den umliegenden Dörfern für ein gemeinsames Essen einzuladen. Auf diese Weise wurden Leute zusammengeführt, die sich oft kaum kannten, obwohl sie Nachbar*­ innen waren – Essen als Anlass für Kontaktaufnahme und das ­Kreieren sozialer Settings auf Augenhöhe.

Studien zur Gastfreundschaft, 2010. Handwägen. Foto: AO&

Wegweisend war hier für uns die Zusammenarbeit mit der Saint Charles Alimentary in Wien: Wir leiteten neben einer Apotheke ein kleines Restaurant mit Platz für drei Leute. Die Zutaten für die Gerichte, die dort serviert wurden, wurden eigenhändig gesammelt.

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Philipp Furtenbach

In all unseren Projekten zum Thema Essen in Österreich und auch im Ausland haben wir ausschließlich Zutaten von Orten verwendet, zu denen wir einen persönlichen Zugang hatten. Wir verwendeten keinerlei anonyme Handelsware. Der kulinarische Aspekt stand für uns, auch im Restaurant, nie im Vordergrund – auch wenn wir über die Jahre hinweg, ohne uns loben zu wollen, wirklich sehr gut gekocht haben. Uns ist also der Ort wichtig. Als sozialer Ort hat uns mitunter das Wohnzimmer des Bauern mehr interessiert als der Stall. Wir sind auf einen persönlichen Bezug aus und sagen immer: »Uns ist ein schlechter Schnaps von einem netten Menschen lieber als ein guter von einem Arschloch.« Als Methodenkomplex und als Gruppe, die in immer wieder unterschiedlichen Konstellationen agiert, arbeiten wir seit 2008 an verschiedenen Themen. Vor allem in unserer ersten Phase bis 2012 war eben das Essen eines unserer zentralen Themen: Wir sammelten die Orte von Essen, um sie auf unterschiedlichste Art und Weise zu

Principal Concerns Tour, 2012. Holzkohleproduktion. Foto: AO&

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verkochen; zum einfachen Mahl, das man vielen Menschen kostenlos zur Verfügung stellen kann, oder auch zu sehr differenzierten Menüs mit 15 Gängen. Dabei entwickelten wir zunehmend aufwendigere Settings und komplette Dramaturgien, wie die Menschen zu diesen Orten kommen und wie die soziale Situation dort sein wird. Principal Concerns Tour

2011 kam dann der Wunsch auf, etwas an der Arbeitsweise zu ändern. Es folgte der bewusste Entschluss, mit dem Essen als Praxis aufzuhören, um Raum für etwas Neues zu schaffen. Um die Phase abzuschließen, planten wir einen sich über ein halbes Jahr erstreckenden Epilog, die sogenannte Principal Concerns Tour. Dabei wollten wir unsere Art und Weise, mit Zutaten umzugehen, noch einmal ehren und verdeutlichen, indem wir versuchten, die grundlegendsten Substanzen für den Prozess des Kochens in industriellen Mengen selbst von Hand hervorzubringen. In einer Serie beispielsweise stellten wir Holzkohle selbst her. Von einem Kunstverein eingeladen, installierten wir im ländlichen Raum einen Kohlemeiler und betrieben ihn zwei Wochen lang, um am Ende 1,5 Tonnen Holzkohle zu ernten und in Säcke abzufüllen. Wir versuchten auch, Zucker selbst herzustellen. Das funktionierte aber nur bedingt. Heraus kam dieser schwarze, dicke Sirup, den man nur in Deutschland kennt, nicht in Österreich. Beim ersten Schneefall wuschen wir 1,5 Tonnen Zuckerrüben von Hand, bürsteten sie, jagten sie durch den Gartenhäcksler und erhitzten sie in einem großen Bottich über dem Feuer im Wasser. Was wir außerdem noch gemacht haben, sind 200 Liter Schnaps. Zudem wurde es uns nach ungefähr 40 E-Mails, die wir mit einem Salzkonzern in Österreich wechselten, erlaubt, dort bei einer Schicht im Berg mitzuwirken: Eigenhändig holten wir 1,5 Tonnen Salz aus den tiefsten Schichten. Dass wir 40 Mails schreiben mussten, betraf Sicherheitsfragen – genau wie im Theater oder auf der Straße. Manchmal werden wir von Institutionen eingeladen, doch meist haben wir erst eine Idee und suchen dann einen Ort oder eine Situation, wo wir sie umsetzen können. Da gibt es immer mal ein Nein. Dann wird es erst interessant für mich. Ein unüberlegtes Ja schafft viel größere Probleme als so ein schnelles Nein. Man kann Schlüsselerlebnisse in allen Begegnungen finden. Sie können in einer Zehntelsekunde stattfinden, im Moment der ­jeweiligen Anerkennung der anderen Existenz. Sie können sich an der

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Principal Concerns Tour, 2012. Salzproduktion. Foto: AO&

Supermarktkasse ebenso ereignen wie in einem langen Gespräch, aber eben auch, wenn man Lebensmittel beim Bauern holt. Oder wenn man etwas wie Holzkohle herstellt. Oder auch unter Tage mit Bergleuten. Das sind beiderseits bereichernde Begegnungen, wie ich glaube. Das ist das, was mich interessiert. Wenn man zweieinhalb Wochen lang Tag und Nacht auf etwas aufpasst, das unglaublich stinkt, entsteht natürlich Kontakt – spätestens, wenn die Leute ihre Wäsche draußen aufhängen … Insgesamt ein halbes Jahr haben wir uns somit intensiv mit diesen einzelnen Substanzen beschäftigt, um das Thema Essen abzuschließen. Hotel Konkurrenz

Für das Projekt Hotel Konkurrenz wurden wir von einem Kurator angefragt, der vorher Museumsdirektor in Wien gewesen war. Er kuratierte im ländlichen Raum eine Serie zum Potenzial zeitgenössischer ­Landart in einem touristischen Gebiet in den Bergen Südösterreichs –

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landschaftlich ganz schön, der Ort jedoch war grausig: in den sechziger Jahren durch Hotelbau und alpinen Massentourismus explodiert, welcher mittlerweile einschläft; die Besucherzahlen sinken. Deswegen hatte man sich überlegt, dass vielleicht Kunst wieder mehr Leute herbringen könnte. Als Resultat wünschte man sich eine große Skulptur. Doch weil in dem Ort sowieso schon Lifte und Beschneiungsanlagen herumstanden, wollten wir dem nichts hinzufügen, sondern das Thema des Ortes selbst behandeln, also den Tourismus und dessen zerstörerische Kraft. Die Veranstalter wünschten sich ja eine Skulptur. Also suchten wir uns nach vier Tagen das Hotel St. Oswald aus, eine 100-Betten-Burg; bis vor wenigen Jahren ein Fünf-Sterne-Hotel, aber

Hotel Konkurrenz, 2014. Foto: AO&

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wegen Investitionsrückstand herabgestuft auf vier Sterne. Bei dem Gebäude handelt es sich um das einzige Hotel in dieser Gegend, das nicht durch tumorartigen Zubau von einem alten Gasthaus in ein Großhotel verwandelt wurde. Es wurde in den siebziger Jahren von Investoren erdacht und sollte die Zukunft des Alpintourismus darstellen. 1975 haben sie es dann einfach hingeknallt. Dieses Hotel erklärten wir zu einem Readymade, einer Skulptur. Es war nicht leicht, das Haus zu bekommen. Nach mehreren Treffen stellte es uns die Betreiberfamilie dann doch zur Verfügung – für die Zeit, in der es normalerweise geschlossen ist. Sie wollten in den Urlaub fahren und uns das leere Haus geben. Wir wollten jedoch unbedingt, dass sie da sind; dass sie zu Gästen in ihrem eigenen Haus werden. Für das Projekt stand uns ein richtig großes Budget zur Verfügung. Mit 40.000 Euro konnten wir das Setting umbauen und uns ein Jahr lang mit dem Ort beschäftigen, mit der Betriebsform, mit der Familie. Viele Male haben wir mit den Leuten zusammengegessen, dort übernachtet und uns mit Mitarbeitern1 unterhalten, die schon 20 Jahre dort arbeiteten. Zwölf Mitarbeiter konnten wir überreden, ­performative Funktionen im Hotel zu übernehmen, 16 Leute suchten wir zusätzlich aus. Auf diese Weise schufen wir eine komplett neue Arbeitssituation: Das Personal aß darin an denselben Tischen wie die Gäste. Schon einen Monat vor Projektstart waren wir im Hotel und stemmten den Betrieb – 100 Betten plus Personal, zusammen 140 Leute: alles selber machen, angefangen beim Brotbacken. Dank der weltgewandten jungen Köche, die wir für das Projekt gewinnen konnten, war es wahrscheinlich das beste Restaurant weit und breit. Die Leute, die dort arbeiteten, trugen keine Uniform. Sie verbrachten ihre Freizeit genau wie die Gäste in der Sauna, tranken ihren Pausenkaffee zusammen mit anderen in der Lobby und so weiter. Am spannendsten war jedoch der Prozess, den wir mit dieser Familie durchliefen. Das soziale Leben an diesem Ort ist sehr blutleer. Wir haben das Setting umgestaltet und den offiziellen Eingang verhängt. Statt durch die Glastür ins Hotel zu gelangen, musste man einen Umweg durch den Raum nehmen, in dem normalerweise die Skier und Skischuhe gelagert werden. Dort war eine zweite Tür, die direkt ins Hotel führt, doch diese war verschlossen. Alle Ankommenden fanden sich also in einem schwarz ausgemalten Raum wieder, wo eine tief hängende Lampe eine Glocke anstrahlte. Von diesem Punkt

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an war man als Besucher auf sich alleine gestellt. Es war uns wichtig, die Reaktionskette, wie man sich verhält, wenn man ein Hotel betritt, bewusst zu durchbrechen. Es kamen wirklich viele Leute – es gab einen großen Artikel in der Zeit. Plötzlich war ein Zeitraum, in dem normalerweise nie Leute dorthin fahren, erstaunlich gut gebucht. An die durch den Einsatz von nicht tragenden Balken traditionell wirkende Decke der Lobby waren Alpinismen gemalt. Diese Decke demontierten wir über der Bar bis auf den Stahlbeton. Während dieser Demontage war die Stimmung der Familie unglaublich schlecht: Sie sahen, wie wir ihre Hütte zerlegten. Und sie mussten ja sechs Wochen später wieder ihre eigenen Gäste empfangen! Wir versprachen, alles wieder zurückzubauen. Für die Umgestaltung wurden nur Dinge verwendet, die bereits im Hotel waren. Die Couchen zum Beispiel wurden neu angeordnet, sämtliche Vorhänge und 700 Bilder aus allen Zimmern entfernt. Im Eingangsbereich aller sechs Geschosse hingen Grundrisse, die jeden Tag ausgetauscht wurden. Ich schrieb immer hinein, wer wo wohnt, was es zum Essen gibt und so weiter. Am ersten Wochenende habe ich 30 Leute aus dem Ort eingeladen, kostenlos. Sie konnten sich freiwillig melden. Das war wohlwollend, bot aber auch die Möglichkeit, die Hotelbar als Dorfbar zu nutzen, weil es dort keine andere gab. Anschließend hielten sich Leute aus dem Ort öfter dort auf. Das Projekt war 33 Tage lang geöffnet und fungierte gleichzeitig als eine Art durchlaufender Kongress, zu dem wir viele und Vertreter aus Kunst und Wissenschaft einluden. Sie alle traten ohne Gage auf, erhielten aber fünf bis sieben Urlaubstage an diesem Ort für ihre Auftritte, ihre Musik, ihren Vortrag oder was auch immer. Es gab kein Programm. Wenn es am Abend ein Konzert geben sollte, hat sich das einfach herumgesprochen. Für die Besitzer und die Belegschaft des Hotels war es schwierig, denn sie mussten nach dem Projekt wieder in den konservativen Hotelbetrieb zurück. Wie es bei uns gewesen war, hatten sie sehr genossen. Das war der interessanteste Punkt. Denn uns war es ja nie um die Frage gegangen, wie man ein Hotel führen soll. Vielmehr wollten wir eine Blase schaffen, in der veränderte Bedingungen für Aufenthalt, Kommunikation und produktive Prozesse herrschten. Das hatten wir schon in vielen Projekten getan. Hotel Konkurrenz jedoch bot uns die Möglichkeit, es mit einem anderen finanziellen Hintergrund in einer komplett anderen Dimension zu machen. Aber das wurde natürlich anders wahrgenommen: Es kamen alle namhaften Hoteliers aus

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Österreich, um sich die neuen Formate anzusehen. Und die zunächst sehr skeptische und um ihren Ruf besorgte Hotelbetreiberfamilie war stolz, als an den ersten drei Öffnungstagen die Zeit-Redakteure da waren. Obwohl wir oft unterschiedlicher Meinung waren, entstand ein freundschaftliches Verhältnis. Als es dann um den Rückbau ging, wollte die Familie für die kommende Saison alles belassen, wie es im Projekt war, und strich lediglich die Decke schwarz, damit man den rohen Beton nicht sieht. Wir machten die Leute natürlich darauf aufmerksam, dass es nicht um diese formalen Dinge ging, sondern um die sozialen Verhältnisse. Doch darauf konnten sie sich nicht so schnell einlassen. Ein Jahr später präsentierten wir dort das Buch zum Projekt. Interessanterweise hatten sie bis zu diesem Zeitpunkt alles wieder anmontiert, was wir abmontiert hatten. Aber wieso konnten wir überhaupt so viel verändern? Beispielsweise durften wir die Decke nur verändern, weil ich vorher immer davon gesprochen hatte, die ganze Wand herauszunehmen. Wir spielten also mit einer großen Übertreibung, und sie stellten sich auf etwas viel Schlimmeres ein – obwohl wir die ganze Zeit über tatsächlich nur die Decke im Sinn hatten. Das sind Prozesse. Fast zwei Monate dieses Jahres haben wir nur recherchiert. Zudem haben wir uns mit ebenjenem Tourismus bedankt, den die Kunstprojekte nach sich zogen, und mit der touristischen Kommunikation im Rahmen des Projektes. Hotel Konkurrenz hieß das Projekt übrigens, weil es in Konkurrenz stand zu jenen, die es eigentlich betreiben. Es ging uns nie darum, aus dem Hotel ein schönes Hotel zu machen. Das ist auch gar nicht interessant. Vielmehr wollten wir ohnehin schon vorhandene Objekte so anordnen, dass neue Assoziationen und letztlich eine neue Ästhetik entstehen. Entscheidend ist eine klare Vorstellung davon, was man erreichen will. In einem Szenario setzt man sich mit den im jeweiligen System herrschenden Bedürfnissen, Bildern und Vorstellungen auseinander. Im Falle des Hotels beispielsweise mit der Arbeit sowie den buchenden und besuchenden Gästen. Ich betrachte es wie eine Theaterarbeit, die wir inszenieren, eine bewusste Auseinandersetzung mit allerlei Bedürfnissen. Es geht nicht um Dienstleistungen in dem Sinne, dass man eben ein Gasthaus aufmacht. Stattdessen fokussieren wir innerhalb dieses Ideengefüges schlüssige Handlungen. Noch einmal zu den Arbeitsverhältnissen der Menschen im Hotel: Wie bereits erwähnt, bekamen alle das gleiche Essen. Egal ob jemand geputzt oder etwas anderes gemacht hat, danach saßen alle

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an derselben Tafel. Es gab keinerlei Trennung. Unser Verständnis war: Wir befinden uns alle unter einem Dach. Ob man nun hingeht und Geld oder Arbeit als Energieform einbringt, das macht letztlich keinen großen Unterschied. Es war der Versuch, das Gefüge komplett zu öffnen und zu ebnen.

1 Von dem Autor wird das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten sind dabei mitgemeint.

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Gabriele Stötzer

Gabriele Stötzer

Einen ungeraden Weg finden1 Ich bin durch meine Biografie in der DDR als Systemkritikerin oder Feministin bekannt geworden. Damals habe ich aber gar nicht gedacht, dass ich irgendwie abweiche, sondern dass ich richtig okay bin. In meiner damaligen Idee von Kommunismus und Sozialismus war die führende Klasse die Arbeiterklasse: Sie hatte das Recht, die ganze Welt zu erneuern. Meine Eltern in unserem Dorf waren Bauern beziehungsweise Arbeiter. Wir hatten zu Hause keine große Bibliothek. Was ich las, war das, was es in der Dorfbibliothek so gab. Gott sei Dank war meine Mutter mit 16 aus dem Westen gekommen mit zwei Büchern, die es im Osten nicht gab: Alexandre Dumas’ Die schwarze Tulpe und Karl May. Also keine große Bildung. Aber als Arbeiterkind habe ich mir gesagt: »Du hast die Chance.« Mit dieser Naivität bin ich eigentlich immer an alles herangegangen. In meinem Leben habe ich drei Unterschriftensammlungen gemacht. An der Pädagogischen Hochschule in Erfurt habe ich Deutsch und Kunsterziehung studiert. Dort gab es für mich und viele weitere Studenten2 eine Ernüchterung. Ich kam vom Dorf und dachte, Bildung, das sei meine Zukunft. Doch an der Hochschule wurde gesagt, Lehrer müssten nicht mehr wissen als das, was sie lehren sollten. Der Stoff, den ich bis zur zehnten Klasse hatte, war also der Stoff, den ich noch mal an der Uni lernen sollte; ein bisschen ausgebreitet, aber nicht mehr. Dadurch waren wir unterfordert. Es waren sehr viele intelligente Leute da, die teilweise umgelenkt worden waren auf die Pädagogik. Sie durften nicht Germanistik oder Kunst studieren; die Plätze dafür waren unwahrscheinlich reduziert worden. Also: Alle in die Pädagogik! Und in der Pädagogik waren Ideologie und Demagogie einfach das Herrschende. Wir haben auch sehr viel Marxismus, Leninismus, Philosophie gehabt. Und einige versuchten, gerade das zu reformieren. Wir haben erst Marx, Engels, Lenin und dann Rosa Luxemburg gelesen. Dabei haben wir immer ein bisschen zwischen den Zeilen gelesen, was in der DDR gang und gäbe war. Also: Freiheit ist die Freiheit der Andersdenkenden. Dann haben wir Bakunin und Trotzki gelesen, die noch in den Giftschränken waren. Und aus lauter Langeweile haben wir dann Studententheater gemacht. Wir haben Majakowski inszeniert: Die Wanze. Das lief aber nur ein Jahr. Im nächsten Jahr wurde es verboten. Der Leiter der Studentenbühne,

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Wilfried Linke, hat daraufhin ein total humorvolles Pamphlet geschrieben. Er zitierte darin Margot Honecker, die auf irgendeinem Parteitag gesagt hatte: »Wenn es um Kunst und Literatur geht, darf es keine Tabus geben.« Und der Artikel richtete sich gegen Tabus und war für den Streit der Dialoge, Streit der Meinungen. Das war ein Artikel für die Hochschulzeitung, die ihn aber abgelehnt hat. Wir in Erfurt waren ja wirklich Provinz. In Jena war das anders. Dort studierte beispielsweise Jürgen Fuchs, der kritische Texte schrieb. Wenn man zu ihm kam, sagte er immer: »Mein Freund Havemann.« Oder: »Mein Freund Biermann.« Und ich dachte: »Oh, da kennen sich die Leute.« Damals hörte man die Lieder von Biermann im Westradio und schrieb sie auch persönlich ab und reichte sie weiter. Aber Jürgen Fuchs kannte den sogar persönlich! Das fand ich ganz toll. Fuchs schrieb auch selber Gedichte und gab Westliteratur weiter, sodass wir uns weiterbilden konnten. Wir wollten in Erfurt jedoch was Eigenes machen. Wir wollten die DDR reformieren. Jürgen Fuchs vertrat den Weg durch die Instanzen und meinte, dann müsse ich in die Partei gehen. Aber das hätte ich meinen Eltern auf dem Dorf nie antun können. Die waren ja wirklich Arbeiter und Bauern und gegen das System. Also haben wir die Parteimitglieder abgewählt, die bei uns die FDJ-­ Leitung in der Seminargruppe waren, und ich war dann stellvertretende FDJ-Sekretärin. Ich habe Linkes Artikel genommen und in den anderen FDJ-Gruppen vorgelesen. Dadurch ist Linke Anfang des Jahres 1976 ins Feuer der Diskussion gekommen. Ihr müsst euch diese Sozialisten-Diskussion ungefähr so vorstellen: Wenn man für den Dialog war, war man für den Pluralismus und gegen die Führungsrolle der Partei. Damit war man Staatsfeind. »Er ist Staatsfeind!« So logisch war das für sie. Und er wurde exmatrikuliert. Ich hatte damals eine Schreibmaschine. Das war etwas ganz Besonderes in der DDR. Darauf musste man fast so lange warten wie auf das Auto. Ich dachte also: »Wem können wir mitteilen, wie es uns geht?« Ich habe einen Brief an Margot Honecker geschrieben, auf dem 83 Studenten unterschrieben haben. Sie war für mich die einzige Frau im Politbüro. Ich dachte, die Frau hilft uns. Inzwischen war es Juni. Da erst hat Margot Honecker gehört, was schon monatelang eine Diskussion in den Seminargruppen war. Und Margot hat gesagt: »Was? Der eine ist als Rädelsführer exmatrikuliert? Das ist sehr gut.« Daraufhin mussten sich die Studenten entweder von dem Brief distanzieren, oder sie wurden ebenfalls exmatrikuliert. Von den 83, die unter-

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schrieben haben, wurden drei exmatrikuliert. Drei haben nicht zurückgezogen, alle anderen schon. Ich und noch zwei weitere Frauen aus unserer Seminargruppe wurden also exmatrikuliert. Das war meine erste Unterschriftensammlung, 1976. Was mich schockiert und wirklich tief berührt hat, war im Zuge dessen der Verrat einer Freundin, meiner besten Freundin Martina, die bei mir gewohnt hat. Ihr Vater sollte an der medizinischen Klinik Direktor werden. Da wurde gesagt: »Wenn du die Tochter nicht im sozialistischen Sinne erziehst, wirst du hier nicht Rektor.« Als wir einmal durch die Hochschule liefen, kam plötzlich die Mutter von ­Martina und betete sie an: »Martina, distanzier dich!« Ein reines Drama, ja? Dass sie sich dann wirklich von uns distanziert hat, hat mich sehr berührt. Deswegen wollte ich nie an die Aufarbeitung der Sache heran. Das ist anders als mit der Stasi. Da hast du einen Feind, du bist das Opfer. Da gibt es Schwarz und Weiß. Darüber kann ich viel besser referieren, wenn ich Zeitzeugin spiele. Bei der Ausbürgerung von Biermann im gleichen Jahr war es so, dass Jürgen Fuchs – der inzwischen exmatrikuliert war – gerade bei seinem Freund Robert Havemann in Berlin wohnte. Die Künstler in Berlin schrieben ein Pamphlet gegen die Ausbürgerung: Das sei keine Art, einfach einen Künstler außer Landes zu transportieren. Sie sammelten Unterschrift, und Jürgen gab den Text per Telefon nach Jena runter. Ein Jenaer Freund kam zu mir, da ich ja eine Schreibmaschine hatte. Ich tippte den Text ab: »Wir erklären uns mit dem Protest der Berliner Schriftsteller solidarisch.« Das haben diesmal 20 Leute unterschrieben. Da ich die Erste war, die es unterschrieben hatte, war die Staatssicherheit der Meinung, ich sei »der Kopf« einer staatsfeindlichen Gruppierung. Dafür saß ich ein Jahr im Gefängnis. Thomas ­Wagner, ein Freund meines Mannes, der die Unterschriften gesammelt hatte, war »der Bauch« einer staatsfeindlichen Gruppierung. Er hat anderthalb Jahre gekriegt. Der ist aber – wie fast alle anderen, die wegen der Biermann-Sache verhaftet wurden – in den Westen gegangen. Ich bin somit fast die Einzige, die im Osten wieder aus dem Gefängnis rausgekommen ist. Da sie dachten, ich sei eine Politische, die wie fast alle Politischen in den Westen wolle, saß ich bei den Schwerverbrecherinnen in Hoheneck – bei den Mörderinnen in der »Mörderburg«. Ich war die Einzige dort im erleichterten Vollzug und rannte in diesem schwersten Frau-

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engefängnis der DDR herum, auch da, wo ich nicht hätte sein dürfen. Dort saßen auch wahnsinnig viele junge Frauen ein, die nicht arbeiteten, also als »asozial« galten. Das hat mich wirklich schockiert: diese ganzen jungen »asozialen« Frauen, die damals einfach leben wollten, die frei lieben wollten. Während die jungen Leute im Westen für ihre Freiheit auf die Straße gingen, wurden diese jungen Frauen von der Straße geholt. Man kam ins Gefängnis, wenn man die Miete nicht gezahlt hat, wenn man in der Straßenbahn beschissen hat, wenn man seinen Strom nicht bezahlt hat. Als ich im Knast war, habe ich mir überlegt: »Jetzt hast du alles verloren: deine Karriere.« Ich war immer Beststudentin. Und plötzlich wusste ich: »Das kannst du vergessen. Du hast nichts mehr zu verlieren. Dann kannst du auch Kunst machen.« Meine Eltern haben gesagt: »Du willst doch nicht in die brotlose Kunst gehen. Du musst nicht hoch hinaus, nur arbeiten und selber Geld verdienen.« Das war wichtig im Osten, dass man selbst verdient hat und damit unabhängig war, auch als Frau. Das wollten meine Eltern, nichts weiter. Bloß keine Kunst. Darum musste ich früh aus der Schule und einen mittleren medizinischen Beruf lernen. Als ich aus dem Knast kam, musste ich erst mal in einer Schuhfabrik arbeiten. Da ich aber schreiben wollte, habe ich gekündigt. Ich wusste ja, was man nicht machen darf. Ich habe nicht gearbeitet, aber auch keine Schulden gemacht. Ich habe mit Schafwolle mein Geld verdient. Gesponnen, gewebt und gestrickt, alte Frauentechniken – und plötzlich hatte ich eine Privatgalerie, die Galerie im Flur. Manchmal ist es komisch, wie es läuft. Da wollte ich aufhören zu arbeiten und hatte plötzlich eine Galerie von einem Berliner Künstler übernommen, der nach einer Zeit in der Provinz wieder nach Berlin wollte. Dort wurden zunächst Thüringer Künstler ausgestellt, die keinen sozialistischen Realismus machten und somit nicht in den Künstlerverband kamen. Im Künstler- und Schriftstellerverband musste man nicht in der ­Produktion arbeiten, sondern durfte Kunst machen. Das war was ganz Besonderes. Aber dadurch, dass ich schon mal im Knast war, war der Zug für mich abgefahren. Wir haben Berliner, Rostocker und Dresdener Künstler ausgestellt. Ich lernte dadurch die ganzen Untergrund-Gruppen kennen. Zuletzt habe ich 1981 Ralf Kerbach ausgestellt, der jetzt Professor in Dresden ist. Mit dieser Ausstellung wurde die Galerie verboten. Ein Freund von

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ihm, Sascha Anderson, hatte Kerbachs Ausstellung an die Staats­ sicherheit verraten. Aber da Kerbach bereits mit seinen Bildern aus Dresden angereist war, bin ich mit ihm durch Erfurt gerast. Wir waren bei der Stadt, Abteilung Kultur. Die haben gesagt: »Deine Galerie hat es nie gegeben, also brauchen wir die auch nicht zu verbieten. Aber wenn ihr die Ausstellung macht, dann kommt die Polizei, und dann ist die Galerie zu.« Da bin ich mit Kerbach erst mal ins Bachstelzen-­ Café gelaufen. Dort hat er was weiß ich was erzählt, und da wusste ich: »Den kriegst du nicht klar, wir müssen was machen.« Also habe ich mit ihm die Ausstellung aufgebaut, und wir haben alle Leute von Dresden und Berlin kommen lassen und gesagt: »Ihr seht hier eine Ausstellung, die verboten ist.« So. Dann hatte er einen Abend lang die Ausstellung, seine erste Ausstellung. Mit diesem Verbot begann meine eigentliche Zeit als Künstlerin. Ich ging in den künstlerischen Untergrund in der Prenzlauer-Berg-Szene, der wie die Politik von Männern dominiert wurde, und wurde dort mit meinen Arbeiten mit Frauen bekannt. Oder eher berüchtigt. Denn weil ich ungebührliche, grenzüberschreitende Fotos und Texte machte, wurde mir vorgeworfen, dass ich ebenso hart wie Männer mit Frauen arbeite. Darum habe ich auch 1984 eine Künstlerinnengruppe gegründet, in der die Frauen selber ihre Kunst entwickeln. Wir haben Performances und Super-8-Filme gemacht. Das Prinzip war: immer bis zur Grenze gehen. Denn wenn man nicht über seine Grenze geht, dann hat man einfach nicht gelebt. Hat das nicht Beuys mal gesagt? Dadurch, dass ich im Frauenknast war, hatte ich ein unwahrscheinliches Wissen über Frauen, Leidenschaften und so weiter bekommen. »Das, was mir meine Mutti nicht erzählt hat«, so nannte ich es damals. Mir begegneten da tätowierte Frauen, Frauen, die einen Banküberfall machten, und die ersten Lesben. Den Begriff gab es vorher nicht. Das hat man alles da gelernt. Ich fand eine unwahrscheinliche Potenz in Frauen, eine große Kraft. Frauen in solchen existentiellen Situationen entwickeln sich unglaublich. Das habe ich mit rausgenommen. Und diese Nicht-Angst vor Frauen habe ich benutzt, um mit Frauen zu fotografieren und bis an ihre Grenze zu gehen. Wir haben begonnen, nackt zu fotografieren. Und zwar, weil es außerhalb der Zeit, außerhalb der Mode war. Es war nur das Wesen, das weibliche Ich. In meiner ersten Fotoserie zeigt eine Freundin alle Löcher von sich: Augenloch, Nasenloch, das Ohrloch, das Mundloch. Das habe ich

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fotografiert. Auf andere Frauenkörper habe ich gezeichnet. Da laufen dann aus diesen Löchern schwarze Linien, als Blut. Ich habe das Loch und das Blut verbunden, als eine Art Verschmelzung. Und da ist immer was passiert – dass Frauen in Ohnmacht gefallen sind vor dieser Nähe. Ich habe immer gesucht, wie nah sich Frauen kommen können. Das kam durch diese Nähe im Knast, wo man nie alleine ist; wo du mit 30, 50 Leuten in einem Raum im Kommando bist, drei Betten-­Etagen übereinander schläfst. Du hörst alles. Das Schreien, das ­Stöhnen. In der U-Haft bist du zuerst alleine und freust dich, wenn jemand kommt. Aber dann, nach drei Wochen, fängst du an, die andere anders wahrzunehmen. Wie sie redet, oder wie sie isst, wie sie sich die Zähne putzt. Es fangen wahnsinnige unterbewusste Aggressionen an. Die nimmst du als Gefangene mit raus. Das einzige, größte, härteste Frauengefängnis der DDR ist übrigens noch kein Museum. Alle Gefängnisse, wo Männer waren, also Bautzen, Hohenschönhausen, sind jetzt Museen. Aber das Frauenzuchthaus nicht. Das Fotoprojekt hat sich weiterentwickelt. Meine damaligen Freundinnen, mit denen wir auch Aktzeichnen machten, hatten keine Schwierigkeit, sich auszuziehen. Durch das Einschreiten der Stasi, die das »Zersetzung« und »Liquidieren« nannte, sind sie nach Berlin oder in den Westen gegangen. Somit musste ich neue Frauen suchen. Aber die haben sich nicht mehr ausgezogen. Die habe ich angezogen fotografiert. Daraus hat sich die Mode-Objekt-Show entwickelt, mit der die Künstlerinnengruppe bekannt wurde. Das war 1988 zu den Kirchentagen im Augustinerkloster in Erfurt. Ich habe einen Artikel für die Zeitung geschrieben: »Jede Frau näht ihr Traumkleid und führt das vor.« Wir hatten uns unsere Träume erzählt. Für Träume kannst du nichts, deswegen kannst du sie darstellen. Das war ein super Erfolg. Wir waren total bekannt. Danach wurde unser erster Super-8-Film gedreht; er hieß Frauenträume. Später haben wir einen Film gemacht und gesagt: »In einer Diktatur kommt man nie aufrecht weiter. Wir machen einen Film, wo jeder eine verrückte Bewegung und ein besonderes Kostüm machen muss.« Zurückkommend auf die dritte Unterschriftensammlung: Es war nun also so, dass der Schriftstellerverband mehrere Schriftsteller ausschloss, Kurt Bartsch, Adolf Endler, Stefan Heym, Karl-Heinz Jakobs, Rolf Schneider, Dieter Schubert, Joachim Seyppel und Klaus Schlesinger. Die sind alle in den Westen gegangen. Aber wir fanden das unmöglich: erst mal als Studenten, dass wir nicht mitregieren durften; dann,

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dass Biermann, so ein Musiker eines Volkes, einfach in den Westen ausgebürgert wird. Und nun die Intellektuellen. Wir haben aber keine Unterschriftensammlung mehr gemacht, sondern alle den gleichen Text abgeschrieben und ans Politbüro geschickt. Dadurch war es keine Unterschriftensammlung – wir haben ja auch dazugelernt. Das war also praktisch die dritte Unterschriftensammlung, für die wir weder exmatrikuliert, noch in Haft gekommen sind, noch haben sie die Galerie im Flur deswegen verboten. Heutzutage mache ich an der Uni Erfurt als eine Art Rehabilitationsveranstaltung Performances im Studium Fundamentale. Da habe ich maximal 20 Studenten, die am Montag kommen und am Freitag zusammen eine Performance aufführen. Sie suchen sich zuerst eine Bewegung im geschlossenen Raum aus. Jeder verhält sich in einem Raum anders; in der Küche verhält man sich anders als im Garten. Die Studenten kommen dann mit diesen Bewegungen. Sie führen sie aus, bis sie sie auswendig können. Das trainiere ich richtig mit ihnen, damit sie sich endlich mal auf sich konzentrieren, indem sie ganz einfache Handlungen machen; damit sie merken, dass überall Menschen sind, die alle ihre eigenen Handlungen machen. Daraus entwickelt sich dann eine Performance. Das begann vor vier Jahren. Da konnte ich noch sagen: »Die Grenzen nach außen sind gefallen; wir gucken uns die Grenzen nach innen an.« Wie verändern sich die ­inneren Grenzen? Eine Übung, um die inneren Grenzen zu öffnen, ist, zu zweit durch einen großen Raum hin und her zu laufen. Dann sage ich, dass sie rennen sollen. Danach schenke ich ihnen fünf Minuten Zeit, um sich von hier nach da zu bewegen. Und plötzlich müssen sie über die Zeit kommen. Das ist eine andere Beobachtung von sich selbst, die Erfahrung, plötzlich Zeit zu haben, vermischt auch mit einer großen Ungeduld. Man achtet auf seine Schritte, man meditiert beim Laufen, man gibt sich hin und merkt nicht, wie die Zeit vergeht, und man findet sich. Eine andere Übung ist, dass ich ihnen den Super-8-Film von 1988 mit den Bewegungen zeige. Und dann sollen sie selbst einen »ungeraden« Weg finden. Da fangen sie plötzlich an und schlagen Rad oder kullern vor und zurück und zur Seite. Dabei kommen so kindliche Sachen heraus. Und das Verrückte ist, dass oft plötzlich die am stärksten geschminkten Personen anfangen, sich auf den Boden zu werfen. Der Körper ist dabei unwahrscheinlich wichtig. Nach einer Woche

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­ erformance sind die fix und fertig. Ich gehe abends auch total P ­erledigt ins Bett, weil ich das alles halten muss, dirigieren. Die m ­ erken gar nicht, wie ich es durch meine Anleitung ermögliche, dass sie frei werden für sich selbst. Da ist ein unwahrscheinlicher Widerstand in jedem Einzelnen. Das Fotografieren und Performance-Machen existierte damals in den 80ern bei mir anarchisch nebeneinander. Ich habe die Fotos gemacht und diese dann aneinander geklebt wie bei einem Leporello. Und dann gab es Untergrund-Lesungen, Ausstellungen in Berlin oder irgendwo anders. Da fuhren wir hin. Ich weiß gar nicht, wie wir das alles gemacht haben ohne Telefon. Man hörte das irgendwo, und dann raste man dahin. Ich habe dort vorgelesen, dann habe ich mal eine Ausstellung gemacht. Performances haben wir mit der Künstlerinnengruppe entwickelt, das kam später. Im Untergrund haben sich ganz neue Formen entwickelt. Wir waren nicht wie Pussy Riot. Könnt ihr euch eine Vorstellung gegen Margot Honecker oder Erich H ­ onecker vorstellen? Schon die Namen, ja? Wir haben nicht gesagt: »Wir sind gegen die.« Sondern: »Wir sind nicht gegen Männer, aber für Frauen.« Wir haben aus uns das Letzte herausgeholt und unser Ziel war es immer, in die Öffentlichkeit zu gehen. Das war in der DDR erst nur der Untergrund. Später haben wir Performances zu Ausstellungseröffnungen gemacht oder bei Privatleuten wie in Lietzen, in der Kulturscheune der Künstlerin Stürmer-Alex. Ich habe meine Texte auch in den Untergrund-Zeitschriften veröffentlicht. Bei deren Erscheinen herrschte die Frage vor: Wie kommt man mit diesen Veröffentlichungen nicht in den Knast? Vervielfältigung war verboten, aber in der Kunst durfte man Künstlerbücher bis zum Limit von 15 Exemplaren machen. Somit sind von diesen Zeitungen stets 15 Stück erschienen. Wenn ich ein Gedicht dahin geschickt habe, musste ich es 15-mal abtippen. Das wurde zu einer Zeitung gemacht und eine kriegte man dann. Die wurden von Person zu Person weitergereicht und Leute wie Christa Wolf haben sie gekauft. Der von der Stasi in die Untergrund-Szene inszenierte Dichter Sascha Anderson hat sich dessen dann bemächtigt und eigene Bücher gemacht, Untergrund-Bücher – die Auflage war höher. Die hat er in den Westen verkauft. Er hat praktisch die ganzen Ideen, die im Untergrund entstanden sind, professionalisiert. Die waren natürlich legalisiert durch die Stasi, was wir nicht wussten.

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Was ich noch sagen möchte zur Frauenkraft: Politisch gab es mehrere Frauengruppen nach unserem Vorbild. Wir Künstlerinnen waren verschrien. Man kriegt da auch keine Männer. Deswegen haben Frauen, die sich im Osten sozialisieren wollten, andere Gruppen gemacht. Ich habe bei dem Kirchentag 1988 in Erfurt festgestellt, wie viele unterschiedliche Frauengruppen da waren, und habe vorgeschlagen, dass wir uns einmal im Monat im Rahmen der Kirche treffen sollten. Aus dieser Gruppe haben wir 1989 Frauen für Veränderung gegründet. Wir haben in Erfurt als erste Stadt in der DDR die Staatssicherheit gestürmt. Das haben fünf Frauen initiiert. Ich war dabei und habe unter anderem dafür das Bundesverdienstkreuz von Gauck überreicht bekommen. Er sagte dabei: »Wir standen in Rostock und haben geguckt, wie die Russen reagieren, wie die Amerikaner reagieren, wie die Bundesrepublik reagiert. Gibt es eine Vereinigung oder nicht? Aber wir haben uns nicht gerührt, weil es ja noch die bewaffneten Organe gab. Und die Stasi, die hatte noch Waffen.« Aber wir in Erfurt sind reingegangen. Roland Jahn hat mal zu mir gesagt: »Wahrscheinlich, weil ihr Frauen wart, haben die nicht geschossen.« Was man aber nicht mehr weiß, weil dazu keine Unterlagen mehr existieren. Es waren zwei Frauen von Frauen für Veränderung, Kerstin Schön und Sabine Fabian, die festgestellt haben: Die Demonstrationen laufen, die Mauer ist auf, aber in der Stasi wird weiter verbrannt. In Kirchenkreisen wurde sogar die Luftverschmutzung gemessen, und man hat festgestellt, dass sehr viel Asche in der Luft ist. Es war klar: Die verbrennen die Stasi-Akten. Die beiden haben sich überlegt, dass wir jetzt irgendwie in die Stasi reinmüssen, um die Akten noch zu retten, die sie Volkseigentum nannten und damit zu unserem Eigentum erklärten. Am 4. Dezember 1989 klingelten beide bei mir in der Frühe, weil sie meinten, ich sei verrückt genug, das mitzumachen, und sie sagten: »Wir müssen in die Stasi rein.« Ich sah die Innenräume der Stasi, wo ich als Gefangene gesessen hatte, vor mir und wusste: »Das schaffen wir da rein.« Da ich basisdemokratisch war, meinte ich, dass wir Frauen von anderen Frauengruppen mitnehmen müssten. So fragten wir Tely Büchner und Claudia Bogenhardt. Wir waren somit fünf Frauen. Kerstin sagt immer: »Das war eine Faust.« Sabine, die in der Stadtbibliothek arbeitete und bei deren Umbau die Erfurter Baubetriebe kennengelernt hatte, rief erst an ihrer Arbeitsstelle alle Bibliotheken und Buchhandlungen an und ging dann ganz alleine in die Betriebe und sagte das Mantra. Ich sage Mantra, weil ich jetzt den Ausdruck kenne. Aber damals war das für uns ein

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e­ infacher Satz. Sabine ist hingegangen und hat gesagt: »Wir besetzen heute die Staatssicherheit. Überlegen Sie, was Sie dazu beitragen ­können.« Und dann ist sie wieder gegangen. Sie hat gesagt, dass sie immer Angst hatte, wenn sie rausging, dass sie jetzt die Stasi rufen und sie verhaften. Aber sie konnte immer wieder zum nächsten Betrieb. Wir anderen vier waren zuerst bei Probst Falke, der ein Telefon hatte: Kerstin telefonierte mit dem Rat der Stadt, der Staatsanwaltschaft, der SED-Parteileitung und der Zeitung Das Volk. Ich rief alle Freund­ innen an, die auf der Arbeit ein Telefon hatten, und forderte sie auf, sich sofort um das Stasi-Gebäude zu versammeln. Dann sind wir vier ins Rathaus zur Rathaussitzung gegangen. Die Sekretärinnen wollten uns natürlich abhalten: »Da dürft ihr nicht rein.« Aber wir waren ja selbst Frauen. Wir sind da durch, und dann standen wir vor dem Bürgermeister und den ganzen Ratsmitgliedern und haben dort auch wieder gesagt: »Wir besetzen heute die Staatssicherheit. Die ganzen Bürger von Erfurt stehen hinter uns.« Das haben wir einfach so erzählt, wir wussten das nicht. »Und wir wollen, dass es friedlich verläuft. Wie können Sie uns helfen?« Da hat der Bürgermeister erst mal die Sitzung geschlossen. Zwei von uns sind in die Bezirksleitung der SED gegangen und haben dasselbe gesagt. Die Stasi war ja das Schild der Partei. Wir anderen waren bei dem Chef der Abteilung Inneres und sagten: »Wir besetzen heute die Stasi. Wie können Sie uns helfen?« Dann hat dieser den Major Schwarz in der Stasi angerufen, dass wir kämen, und Schwarz hat gesagt: »Wenn ihr reingeht, werdet ihr verhaftet.« Da dachte ich: »Oh, nicht erschossen. Das ist doch schon mal eine Stufe weiter.« Ich habe gesagt: »O. k., wir gehen rein und lassen uns verhaften.« Wir sind dann erst mal weiter zum Staatsanwalt gegangen, um nicht kriminalisiert zu werden, und haben gesagt, dass wir die Staatssicherheit anklagen: »Die vernichten Volkseigentum, und zwar die Akten, die sie über uns angefertigt haben.« Er meinte, dass der Militärstaatsanwalt von Berlin für die Stasi zuständig sei. Der wurde angerufen und wollte in drei Stunden kommen. Da sage ich: »Nichts. Sie gehen mit rein und wir beginnen mit dem Versiegeln der Räume.« Und so bin ich mit dem Erfurter Staatsanwalt in das Bezirks-Stasi-Amt hinein, das inzwischen schon viele Bürger der Stadt umringt hatten. Drinnen wurden wir an der Nase herumgeführt. Wenn wir sagten: »Wir wollen an Ihre Öfen!«, sagten sie: »Die haben wir nicht, wir haben doch Zentralheizung.« Es hat Stunden gedauert, bis die uns wirklich in den Keller gelassen haben. Da waren

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Gabriele Stötzer

die Öfen und Asche. Als der Chef der Buchhandlung Peterknecht kam, war gerade seine Akte verbrannt. Er hat noch die leere Hülle gefunden. Die Information, dass wir in Erfurt die Stasi besetzt hatten, ging ­ eiter – nach Halle, nach Leipzig – am gleichen Tag. Und überall hat w sich die Staatssicherheit frei ergeben. In Berlin kam das ziemlich spät. Die sind im Januar 1990 mit dem ZDF rein. Aber da war bereits aller Widerstand gebrochen, und es war klar, dass sie nicht schießen.

1 Der vorliegende Text basiert auf einer öffentlichen Gesprächssituation. Der lebendige Charakter dieses Formats wurde beibehalten. 2 Von der Autorin wird das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten sind dabei mitgemeint.

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Alle Brücken abbrechen – in die Dorfkneipe gehen – Bier trinken – abwarten

Thomas Heise

Alle Brücken abbrechen – in die Dorfkneipe ­gehen – Bier trinken – abwarten Um einen Film zu machen, begebe ich mich zusammen mit meinen Protagonisten1 in eine Situation und beobachte, was zwischen und um uns herum passiert. Diesen Vorgang kann ich nicht in irgendeine Richtung lenken, sondern ich schaue, folge dem, was da ist, und reagiere auf das, was im Moment passiert. 1991 habe ich Eisenzeit gedreht. Vier Freunde aus Eisenhüttenstadt, zwei gehen in den Westen, zwei bleiben im Osten und bringen sich um. Es waren auch meine Freunde. Am Schluss dieses erinnernden Films gibt es ein langes Interview mit Frank, einem der vier, und die Beschreibung seiner Haltung wurde für mich zu einer Art Grundlage für die Art, wie ich Filme wahrscheinlich mache. Franks Vater hatte in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik Leute für die DDR rekrutiert. Das war eine längere Zeit seine Arbeit beim MfS. Zuhause hat er seine Frau und vor allem seinen Sohn Frank terrorisiert. Er steckte ihn ins Erziehungsheim und später kam Frank ins Gefängnis, weil er an eine Autobahnbrücke Keine Macht für Niemand gesprayt hatte. Schließlich wurde er in die Bundesrepublik freigekauft. Er reiste durch die ganze Welt und experimentierte mit Drogen und dann saß er in Kreuzberg. Frank beschreibt sein Leben so: »Man begibt sich in eine Situation und dann guckt man, was passiert.« Genau das tue ich auch und es ist ein Kennen – Lernen mit der Kamera. Den Film kann man in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung frei ­streamen.2 In meinem Film Vaterland drehe ich in einem Dorf. Für den Film gehe ich in die Dorfkneipe namens Otto Nathos Gastwirtschaft und bleibe lange dort. Am nächsten Tag komme ich wieder, und noch einmal. Bis wir schließlich ins Gespräch kommen, etwas vorwärtsgeht. Wenn man in so einem abgelegenen Dorf in die Dorfkneipe geht, wo sich die Leute unterhalten, und es kommt ein Fremder rein, dann ist erst mal Ruhe, dann schweigen sie. Nach einer Weile fängt das Gespräch zwar wieder an, aber du bleibst erst mal draußen und kannst nur gucken. Das dauert erst mal. Ich kann warten.

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Thomas Heise

Eisenzeit, 1991. Filmstill. Copyright: DEFA-Stiftung/Sebastian Richter

Vaterland ist ein Film über Biografien, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Doch es gibt diesen, ihren gemeinsamen Ort, den all diese Biografien schneiden: Straguth in der Nähe der Stadt Zerbst, nah der Elbe, 25 km südöstlich von Magdeburg. Das Dorf liegt ein bisschen abseits. Es gibt nur eine Stichstraße dorthin. Da fährt keiner durch und es kommt auch niemand vorbei, der nicht ausgerechnet dort etwas will. Dort wohnen rund 200 Leute. Neben diesem Dorf wurde in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Rasenflugplatz für Sportflugzeuge angelegt. Da Deutschland wegen des Versailler Vertrages keine Luftwaffe mehr besitzen durfte, haben die Piloten auf Kunstflug umgestellt und dann sozusagen als Militär Kunstflug betrieben und Flugschauen veranstaltet. Später, nach 1933, wurde der Flugplatz zum Militärflugplatz ausgebaut, im Laufe des Krieges schließlich auch mit Hilfe von Kriegsgefangenen und sogenannten »jüdischen Mischlingen« aus Berlin, die 1944 dorthin zur Zwangsarbeit deportiert worden waren. Sie sollten eine verlängerte Rollbahn bauen für die neuen Wunderwaffen. Düsenstrahlflugzeuge aus dem nahen Dessau. Als sie die Rollbahn dann fertig gebaut hatten, wurde sie von den Engländern bombardiert. Da war der Krieg schon fast zu Ende, es war April 1945. Das Lager hat sich dann aufgelöst: Die Wachmannschaften sind verschwunden, die Gefangenen auch und es gibt kein richtiges Ende.

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Das rührt auch daher, dass die Fronten im Osten und Westen schon so nah waren. Auf der einen Seite kamen die Russen bis kurz vors Dorf und blieben dann stehen. Auf der anderen Seite, jenseits der Elbe, kamen die Amerikaner und blieben auch kurz vor dem Dorf stehen, so dass Straguth eine Weile gewissermaßen im Niemandsland zwischen den Siegern lag. Ich bin zweimal in diesem Dorf gewesen. Das erste Mal 1987, denn eine der Figuren dieses Films ist mein Vater. Er wurde als Neunzehnjähriger zusammen mit seinem Bruder dorthin deportiert, musste Zwangsarbeit leisten und hat an dieser Rollbahn mitgearbeitet. Es gibt Briefe aus diesem Lager, die ich bei meiner Großmutter hinterm Schrank gefunden habe. Die Briefe hatten Wehrmachtssoldaten mit nach Berlin genommen und dort in den Briefkasten gesteckt. Diese Briefe hatte ich und dachte: »Da muss ich was draus machen.« Dann bin ich irgendwann in dieses Dorf gefahren. Dort ging ich als Erstes in die Kneipe, und dann war es eben so, dass alle zunächst einmal schwiegen. Damals, 1987, hatte ich eine VHS-Kamera dabei, die ich mir aus dem Westen besorgt hatte. Ich habe einfach angefangen zu drehen, im Dorf, die Leute in der Kneipe und auch die Russen in ihren MIGs.3 Anhand der verschiedenen Aufnahmen, die ich im Film später genutzt habe, kann man sehen, was sich im Lauf der Zeit verändert hat. Vaterland wurde im Jahr 2000 gedreht, 13 Jahre später, als es auch die DDR nicht mehr gab. Auf den Aufnahmen von 1987 ist die Dorfkneipe rappelvoll zu sehen. Das ganze Dorf ist drin: Die Frauen, die Männer, die Kinder, die trinken Bier und Brause oder essen Bockwurst. Und im Jahr 2000 ist nur noch der Stammtisch mit vier Trinkern besetzt. Die haben da den Tag nach der Arbeit verbracht, und sonst war niemand mehr da. Das kulturelle Zentrum des Dorfes, das die Dorfkneipe neben der Kirche ist, war verschwunden. Und die Kinder und die Leute. Es war überhaupt niemand mehr zu sehen, auch auf der Straße nicht. Natürlich war es 1987 nicht einfach, miteinander ins Gespräch zu kommen. Damals hatte ich Glück. Ich bin mit dem Wirt gut klargekommen. Mit den anderen war es anfangs schwieriger, sie waren misstrauisch. Es gab einen, der hieß Rudi, sozusagen der Obertrinker. Der meinte immer: »Der is’ von der Stasi, da müsst ihr aufpassen. Mit dem dürft ihr nicht sprechen …« Ich habe mich davon aber nicht abbringen lassen und bin immer wieder in die Kneipe gegangen, habe dort mein Bier getrunken und mit Otti – das war der Spitzname des Wirtes Otto Natho – gesprochen. Das war ganz freundschaftlich mit der Zeit. Es war schön für ihn, dass jemand zuhörte, der seine Geschichten noch nicht kannte. Und eines Tages, so nach zwei oder drei Wochen, hat

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aber Rudi dann ganz nebenbei gefragt: »Kannste nich’ mal ’n Foto machen von meinem Hund?« Ich sagte Ja, bin mit ihm nach Hause gegangen und wusste: Jetzt kann ich alles mit ihm machen und das Misstrauen war offenbar verschwunden. Es ist immer das gleiche Verfahren. Aber es ist kein Verfahren, sondern eine auch real erlebte persönliche Annäherung. Kennen – ­Lernen.

Vaterland, 2002. Thomas Heise mit Kneipenbesitzer Otti Copyright: Deckert Distribution

1992 habe ich STAU, einen Film über junge Rechte, gedreht. Der Film wurde in Sachsen-Anhalt gedreht, weil das Land Sachsen-Anhalt das Geld dafür gegeben hat. Dadurch war kein Fernsehsender dabei und es gab es keine Wünsche einer Redaktion. Mir ist für den Ort der Handlung die Stadt Halle und dort die Neustadt eingefallen. Die kannte ich noch von früher; da war ich öfter gewesen, auch als Jugendlicher hingetrampt. Ich hatte eine Kneipe recherchiert. Das war der ehemalige FDJ-Jugendclub am Rande der Neustadt, kurz vor der Autobahn. Jetzt waren die rechten Jugendlichen im Roxy. Dann habe ich überlegt: »Was mache ich denn jetzt, wie komm’ ich mit denen ins Gespräch?« Ich habe mein Auto ein bisschen weiter weg geparkt. Auf dem Weg zum Jugendklub habe ich dann auf der Straße eine Frau überholt, die mir hinterhergerufen hat: »Wollen Sie auch zum Roxy?« Ich sagte »Ja«. Sie hat mich gebeten, ihren Sohn, der da drin war, mal schnell für sie rauszuholen, weil sie sich nicht reintraut. Das war toll für mich,

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jetzt hatte ich einen Grund. Ich ging also hinein und an den Tresen und fragte: »Wo ist denn hier der Soundso, seine Mutter ist hier.« Und ihm sagte ich dann: »Deine Mutter ist draußen – kannst du mal rauskommen?« Und dann stand ich weiter am Tresen, habe noch drei Bier getrunken und bin wieder gegangen. Am nächsten Tag bin ich wieder hin, zur g ­ leichen Zeit. Das habe ich so lange gemacht, bis mich einer angesprochen hat. Ich hatte nichts gefragt oder Guten Tag gesagt – mir hat schließlich jemand Guten Tag gesagt. Eines Tages stand Holli am Tresen, der Zahnschmerzen hatte, und darüber kamen wir ins Gespräch. Ich ging immer wieder hin und habe mich eben öfter mal unterhalten, aber immer beobachtet und zugehört. Es war ziemlich wahnsinnig, was da manchmal ablief, aber gut, das musste man an sich abperlen lassen. Nach ungefähr drei Wochen fragte Holli: »Was machst’n du hier?« Ich sagte: »Na ja, ich überlege, ob ich hier einen Film drehe.« Und dann war unser Gespräch wieder zu Ende. Es hatte schon diverse Reportagen gegeben, unter anderem auch über das Roxy. Da wurden die Jugendlichen als gewalttätige Untergrund­ armee beschrieben. Das hatte aber nichts mit der Realität von Sachsen-­Anhalt zu tun. Sie haben mir erzählt, dass sie dem Journalisten, der den Film gemacht hat und mit Personenschutz erschienen war, verscheißert hatten. Sie hatten sich Palästinensertücher um die Köpfe gewickelt, dass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte, und angegeben. Darauf waren sie stolz. Aber das Gespräch war erst mal zu Ende und ich sagte dann: »Moment, es ist ja noch gar nichts passiert. Ich kann euch erst mal einen Film von mir zeigen, und dann werden wir sehen.« Ich zeigte ihnen Eisenzeit. Danach haben sie beraten und dann haben sie Ja gesagt. Während des Filmens stelle ich im Grunde Spielmaterial her. Dann sitze ich am Schneidetisch und schaue, was ich eigentlich gemacht habe. Es ist natürlich nicht beliebig – mal hier drehen, mal da drehen. Es gibt Regeln. Peter Badel, mein Kameramann, mit dem ich sehr viele Filme gemacht habe, erzählt immer: »Der Heise, der sperrt einen ins Lager. Da muss man drinbleiben und darf nicht nach Hause. Man muss drinbleiben, bis der Film abgedreht ist.« Ich organisiere den Film nicht um angenommene Höhepunkte herum, sondern fahre hin und bleibe 25 bis 28 Drehtage. Was ich in der Zeit nicht kriege, das ist nicht da. Damit muss ich auskommen. Ganz einfach: Man baut einen Käfig, und innerhalb des Käfigs kann man sich dann frei bewegen.

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Konrad, der später auch im Film eine wichtige Rolle spielte, auch in den Folgefilmen, hatte zugesagt, dass wir mit ihm drehen könnten. Aber als wir dann vor der Tür standen, hat er die Tür nicht aufgemacht. Ich wusste, er ist drin. Wir haben uns auf die Treppe gesetzt und drei Stunden gewartet, ohne Terror, denn irgendwann musste er ja rauskommen. Kam er auch. Und dann habe ich gesagt: »Wir haben eine Verabredung, und wenn du nicht willst, dass wir bei dir drehen, dann musst du uns rausschmeißen. Aber einfach die Tür zulassen, das geht nicht.« Da hat er uns reingelassen. Dann waren wir drin und haben gedreht, wie er einen Kuchen bäckt.

STAU – Jetzt geht’s los, 1992. Filmstill. Copyright: öFilm

Am Anfang weiß ich nichts, ich gehe einfach hin. Wenn ich einen Auftrag habe, egal ob von mir selbst oder von jemand anders, dann muss ich dafür sorgen, dass ich nicht mehr zurückkann. Ich breche wirklich Brücken ab. Das hat was damit zu tun, dass ich mich in Bewegung setzen muss. Ich muss mir selber einen Tritt in den Hintern geben, denn ich fürchte mich vor der Anstrengung. Mit der Mutter vor der Kneipe hatte ich Glück. Ich wäre auch ohne sie da reingegangen, aber das wäre vielleicht schwieriger gewesen oder zumindest anders. Ich habe mich der Sache einfach ausgesetzt, wenn man so will. Und das habe ich später immer wieder so betrieben, immer variiert.

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Bei einem Film im Gefängnis in Mexiko-Stadt hatte ich eine Einladung, mit jungen Straftätern ein Theaterstück zu machen. Ich habe mit ihnen Brechts Lesebuch für Städtebewohner gemacht und gedacht, wenn ich schon mal da bin, kann ich gleich auch einen Film drehen. Und den Film macht man eben nicht über das Theaterstück, das ist langweilig, sondern über den Alltag im Gefängnis, der damit nichts zu tun hat. Und das habe ich getan. Wir haben im Gefängnis gewohnt, auf Matratzen geschlafen in einer ehemaligen Massendusche, das war über Weihnachten und Neujahr, denn das ist die beste Drehzeit. Die Leute sind weicher, da ist so eine Ruhe, da fällt alles ab. Und es ist dunkel, was auch gut ist für eine Interviewsituation, falls man so etwas braucht. Solche Dinge sind es, die eine Rolle spielen. Den Film und die zwei Folgefilme findet man auch auf den Seiten der Bundeszentrale, hier unter dem Stichwort Extremismus und Radikalisierung auf den hinteren Seiten des Links.4 Ich nehme manchmal selbst die Kamera, aber meistens hab’ ich einen Kameramann oder eine Frau und ein richtiges, professionelles Team. Das ist wie bei Musikern. Wenn eine Jazzband zusammen improvisiert, dann spielen sie zusammen und es läuft nicht auseinander. Wenn ein Team aufeinander eingespielt ist, dann funktioniert das wunderbar. Es ist immer eine Zusammenarbeit, über weite Strecken auch nonverbal. Film ist kollektiv. Anders geht es nicht.

STAU – Jetzt geht’s los, 1992. Filmstill. Copyright: öFilm

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Den fertigen Film zeige ich niemals vor der Premiere. Die Protagonisten des Films sehen ihn zusammen mit dem anderen Publikum. Denn in der Regel haben die Leute Angst. Wenn sie alleine im Kino sind und sich den Film ansehen, dann stellen sie sich vor, was die anderen Leute über sie denken. Das können sie aber gar nicht wissen. Sie liegen also falsch in ihrer Vorstellung. Wenn sie die anderen Leute und deren Reaktionen spüren, hilft ihnen das. Das ist ein bisschen frech und auch nicht demokratisch, aber ich mache es so und lasse den Film nicht vorher abnehmen. Bei STAU habe ich allerdings eine Vorführung in der Akademie der Künste in Berlin organisiert – ein riesiger Kinosaal, sehr schöne Projektion. Und ich habe die Protagonisten mit einem VW-Bus aus Halle abgeholt, damit sie nicht mit der Bahn fahren, vorher schon Bier trinken und irgendwelchen Mist anstellen. So wurden sie auch zurückgebracht. Ich habe einen Bruder, der damals im Wedding eine Kneipe aufgemacht hatte, eine Kneipe mit lauter Türken. Den habe ich vorgewarnt: »Nach der Akademie gehen wir zu dir. Klär’ das mal mit deiner Klientel.« Das war alles abgesprochen und hat dann auch sehr gut funktioniert. In der Akademie der Künste war eine Riesenaufregung: »Die Nazis kommen!« Sie wollten die Polizei dahaben. »Alles Quatsch!«, sagte ich. »Ihr müsst Bockwurst holen! Bockwurst und ein Bier für jeden, dann sind sie glücklich.« Die fünf Hanseln saßen schließlich unten in der ersten Reihe, guckten sich den Film auf der Riesenleinwand an und sagten: »Na ja, also so richtig gut sin’ wa ja nich, aber so sin’ wa.« Sie haben erfahren, dass sie nicht von außen bewertet wurden. Ich hatte sie erzählen lassen, habe ihnen zugehört und habe versucht, sie kennenzulernen. Ich habe ihnen nur bei dem Dreh gesagt: »­Politsprüche schneide ich weg. Das nehme ich alles raus, interessiert mich nicht. Ich will Alltag haben und keine Propaganda.« Das haben sie akzeptiert. Das war später bei dem Film Städtebewohner im Knast in Mexiko ähnlich im Umgang miteinander. Wir waren dort mit drin, hatten dasselbe Mittagessen wie die gefangenen Jugendlichen, haben uns mit ihnen zusammen im selben Speisesaal jeden Tag in die Schlange gestellt und dann diesen (wirklich) Fraß reingezogen. Das macht natürlich vertraut, es ist eine gemeinsame Erfahrung, und dann kann man besser miteinander umgehen. Man hat etwas wie Respekt voreinander. Natürlich bleibt die Distanz dabei auch, die ist nicht vergessen. Und beides, Nähe und Distanz, sind verschränkt miteinander.5

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1 Heise benutzt hier das generische Maskulinum, weil er ausschließlich von den Protagonisten in den genannten Filmen spricht. 2 Siehe https://www.bpb.de/mediathek/suche-mediathek/?global=false&term=­ Eisenzeit&local-themen-main=all&local-format-mediathek=all&local-year=all/. 3 Das Wort »Russen« wurde immer auch als Synonym für sowjetisch benutzt und die sowjetischen Soldaten kamen auch aus diversen verschiedenen Sowjetrepubliken, Usbekistan, Russland, Grusinien, Weißrussland, Kasachstan u.a. 4 Siehe https://www.bpb.de/mediathek/film-highlights/. 5 Siehe https://vimeo.com/156076505/.

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Uwe Lübbermann

Uwe Lübbermann

Das Premium-Getränkekollektiv Ein Ergebnis, das viel klüger ist, als du es alleine jemals hättest hinkriegen können Der Anfang

Es ist mir gelungen, mit dem Premium-Kollektiv aus dem Nichts heraus ein Unternehmen aufzubauen, welches nun schon seit 2001 besteht und allem widerspricht, was man an BWL-, VWL-, Marketingund Managementlehren lernt. Zu Beginn war da nur ich; ich als Fan einer Cola-Marke, die ihr Rezept heimlich verändert hatte: Ich merkte 1999, dass die Cola plötzlich anders schmeckte und auch der Koffeingehalt, den ich wollte, nicht mehr vorhanden war. Ich dachte: »Das kann ja wohl nicht sein, dass die mein Getränk einfach ändern!« Und ich verlangte vom Hersteller, dass er die Kund*innen nicht nur informiert, sondern sie auch mitbestimmen lässt. Für mich war klar, dass das nötig ist. Das haben die Hersteller aber überhaupt nicht so gesehen. Zwei Jahre lang haben wir erfolglos darüber debattiert. Da waren Menschen an Schreibtischen, die etwas zu sagen hatten und gedacht haben, das Unternehmen gehöre ihnen. Ich als Konsument, der die Flasche kauft, hatte nichts zu melden. Der Anlass war das Rezept. Aber der Grund war, dass ich das Gefühl hatte, als Konsument nicht für voll genommen zu werden. Dahinter steckt die grundsätzliche Haltung: Augenhöhe. Wenn man einander gegenübersteht, sind beide Seiten auf dem gleichen Level. Man kann es auch Gleichwürdigkeit oder Gleichwertigkeit nennen. Es geht um Menschen, und die sollten grundsätzlich gleichwürdig sein. Egal welche Hautfarbe, welches Geschlecht, ­welche sexuelle Orientierung, aber auch egal, welche Rolle sie in einer Gesellschaft haben und ob sie ein Unternehmen haben oder nicht. Es sind alles Menschen. Demzufolge sollte man sie auch gleichwürdig behandeln. Das ist der zentrale Wert, auf dem ich alles andere aufgebaut habe. Es gibt eine Menge Menschen, die von dem betroffen sind, was ein Unternehmen tut. Premium, unser Unternehmen beispielsweise, hat einen Abfüllbetrieb, der Flaschen herstellt. Dem habe ich den Auftrag dazu erteilt. Dann gibt es Lieferant*innen für Kisten und Flaschen, die wiederum Aufträge bekommen. Es ist eine Kette, die sich fortsetzt. Man braucht eine Buchhaltung, eine Person, die die Homepage

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Das Premium-Getränkekollektiv

­ rogrammiert. Dann gibt es ein paar Lieferungen in die Schweiz, wo es p den Zoll gibt. Das Problem für mich als Gründer war, dass ich über andere Menschen bestimme, wenn ich ihnen Aufträge erteile. Das wollte ich aber nicht. Ich möchte ja Augenhöhe haben. Deswegen habe ich meine Entscheidungen vom ersten Tag an geöffnet und alle Menschen eingeladen, die von dem Cola-Projekt betroffen waren. Zu Beginn waren es natürlich nur eine Hand voll, aber nach und nach wurden es mehr. Ich habe darum gebeten, dass alle ihre Wünsche, Bedürfnisse, Meinungen und Sichtweisen einbringen und wir so lange im Plenum reden, bis wir einen Konsens erreichen, damit sich keine*r in diesem ganzen Netzwerk schlecht behandelt oder nicht berücksichtigt fühlt. Wir versuchen also, es allen recht zu machen. Wer Plenumserfahrung hat, weiß, dass so etwas dauert; aber nur zu Anfang. Im ersten Jahr waren wir bei unseren Sonntagabend-Treffen rund um die Premium Cola immer zehn bis zwölf Leute. Nach und nach ­wollten auch Leute aus anderen Städten die Cola haben. Es wurden demnach immer mehr Menschen. Diese Diskussionen brauchten zunächst viel Zeit. Aber dann hatte man ein Ergebnis gemeinsam mit allen, die mitreden wollten, gefunden. Es wurden deren Wünsche und Bedarfe mit eingebaut. Man hat sich lange bemüht und allen gezeigt, dass wir wollen, dass sie mit im Boot sind. Und dann hast du ein Ergebnis, das viel klüger ist, als du es alleine jemals hättest hinkriegen können. Und du hast viel weniger Ärger mit den Leuten, viel weniger Streit, wesentlich weniger Probleme und machst auch ganz wenige Fehler. Die Gesprächsregeln

Zu Anfang gab es nicht wirklich Regeln. Wenn ich von Anfang spreche, dann meine ich von der ersten Flasche an drei Jahre. Das ist so der typische Gründungsakt. Um ein Unternehmen zu starten, holt man sich in der Regel externes Geld. Man schreibt einen Business-Plan mit bestimmten Meilensteinen, die man erreichen muss. Damit geht man zu einem Investor, leiht sich Geld, um dann gleich zu starten und idealerweise in drei Jahren einen Break-even zu schaffen. Das war für mich ein Problem. Ich hatte kein Geld und keine eigenen Mittel. Aber ich dachte mir: »Ich möchte das nicht! Ich möchte nicht das Zeitfenster von jemand anderem vorgesetzt bekommen und nicht Druck ausüben, damit die Produktion schneller geht und der Verkauf schneller geht.« Ich wollte das bewusst entschleunigen und so schnell machen, wie ich es mit den anderen Beteiligten ohne Druck schaffe. Deshalb habe ich mir keinen Kredit geholt und keinen Business-Plan

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­ eschrieben, sondern habe das Unternehmen Schritt für Schritt, Stadt g für Stadt aufgebaut. Dadurch hat es siebeneinhalb Jahre gedauert, bis ich selbst einen Anteil pro Flasche haben konnte, und achteinhalb, bis ich davon leben konnte. Eine gewisse Sturheit ist da hilfreich. Aber nicht alle Leute, mit denen wir zusammenarbeiten, wollen mitreden. Nur ein relativ kleiner Teil nutzt das Gesprächsangebot. Wenn die anderen weiterhin mit uns zusammenarbeiten, sind sie mit den bisher gefundenen Lösungen anscheinend zufrieden. Wir haben keine schriftlichen Verträge, was bedeutet, dass alle, die bei uns sind, da sind, weil sie es wollen. Wir haben im Moment 1.700 gewerbliche Partner*innen. Ungefähr 100 davon beteiligen sich in einem Online-­Forum an den Entscheidungen. Und wir haben etwa 10.000 Endkund*­innen gesammelt, von denen sich ebenfalls 100 an den Entscheidungen beteiligen. Das ist eine relativ handliche Größe: 200 Leute. Ich hatte in der gesamten Zeit keinen einzigen Rechtsstreit. Insofern kann ich davon ausgehen, dass die Leute, die dabei sind und nicht mitreden, auch zufrieden mit den Lösungen sind, die wir gefunden haben. Das Produkt ist nicht das Getränk; das Getränk ist nur das Ergebnis. Das eigentliche Produkt ist das Moderieren der Beteiligten, die alle ihren Beitrag dazu leisten, dass die Flaschen fertig werden. Die Entscheidungsfindung

Wir haben ein erprobtes Verfahren, um zu Konsensbeschlüssen zu kommen. Es gibt bei uns drei Entscheidungskategorien: die Einzel-­ Entscheidungen, die primär eine Person betreffen; beispielsweise, wann und wo ich arbeiten möchte. Das sind Dinge, die typischerweise vom Arbeitgeber vorgeschrieben werden. Ich bin aber der Meinung, dass die Menschen das selbst entscheiden sollten. Als zweite Kategorie gibt es Entscheidungen, die eine Gruppe von Leuten betreffen. Die Kistenproduktion etwa betrifft mindestens diejenigen, die die Kisten produzieren, und uns, aber auch die Leute, die die Kisten transportieren sollen; also eine ganze Gruppe von Menschen. Die Entscheidungen, die eine solche Gruppe betreffen, sollen nach unserem Verständnis auch mit dieser Gruppe getroffen werden. Dann gibt es als dritte Kategorie Entscheidungen, die das gesamte Unternehmen betreffen, mit allen Elementen, die mit dranhängen: Wer bekommt welche Anteile? Welche Produkte gibt es? Wie wollen wir uns nach außen ­darstellen? Der Clou ist, dass jede Person, die mitarbeitet, erst mal das Recht hat, die Entscheidungskategorie zu wählen, also eine anstehende Ent-

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scheidung als Einzel-Entscheidung, als Gruppen-Entscheidung oder als Entscheidung für das ganze Unternehmen zu definieren. Jede andere Person kann die Frage aber in eine höhere Kategorie verschieben. Wenn ich beispielsweise entscheide, dass ich fünf ­ Monate in den Urlaub fahren möchte und das als Einzel-Entscheidung kennzeichne, betrifft das vielleicht auch andere Menschen. Dann kann ich zwar sagen, dass das nur meine Entscheidung ist, aber jede andere Person könnte die Angelegenheit zu einer Gruppen- oder Gesamt-Entscheidung machen, die dann bindend ist. Die Magie passiert aber vorher: Ich möchte es so vorbereiten, dass niemand meine Entscheidung in eine höhere Kategorie schiebt und über mich hinweg entscheidet. Für die Entscheidungsverfahren haben wir uns auf ein gemeinsames Ziel geeinigt: die Gleichwertigkeit von Menschen. Ab da ist es sehr offen. An dem Entscheidungsprozess teilnehmen kannst du, wenn du eine Flasche getrunken hast, jemanden vom Kollektiv persönlich gesehen hast und deinen realen Namen sagst. Als Endkund*in loggst du dich in ein Forum ein und kannst dort jedes Thema eingeben. Da gibt es ganz bewusst keine Filter. Du kannst dich auch zu jedem Thema äußern, zu dem du etwas sagen möchtest. Ein Diskussionsprozess von der Eingabe bis zum fertigen Beschluss dauert in der Regel zwei bis drei Wochen. Das ist im Vergleich zu normalen Unternehmen, die ich von innen kenne, sehr schnell. Der Verlauf ist, dass man das Thema eingibt, offen diskutiert und ganz bewusst Raum zur Meinungsbildung lässt, um zu einem gemeinsamen Weg zu kommen. Dann kann jede Person, die beteiligt ist, einen Beschlussvorschlag machen. Wenn es dagegen kein Veto gibt, gilt er als beschlossen. Das Veto kann aber jede einzelne Person ausüben. Das heißt auch wieder, dass die Magie vorher passiert: Ich will meinen Vorschlag so ausgestalten, dass er alle Beteiligten berücksichtigt, damit ich kein Veto bekomme. In der Praxis haben wir ungefähr ein Mal im halben Jahr ein Veto. Wenn es überhaupt nicht anders geht und wir keine andere Chance haben, aber produzieren müssen, darf ich als Plan B oder Notnagel doch eine Entscheidung treffen. Das könnte ich jetzt täglich nutzen und würde damit spätestens am zweiten Tag das Vertrauen der Beteiligten verlieren, die mit uns zusammenarbeiten und nicht gebunden sind. Das heißt, ich kann diese formale Macht ­überhaupt nicht nutzen, sondern muss das Gegenteil tun: Ich muss sie so selten wie m ­ öglich nutzen. Aber wenn es nötig ist, dann gibt es diese Option.

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Wenn man so miteinander arbeitet, wandelt sich ein Unternehmen sehr stark. Typischerweise ist es laut BWL-Buch das Ziel von Unternehmen, Gewinne zu erwirtschaften. Dazu stellt sich die Frage: Gewinne auf wessen Kosten? Man sagt mir manchmal nach, mein Ansatz wäre mutig. Ich glaube, das einzig Mutige daran ist, das BWLBuch in Gedanken wegzuschmeißen und nicht als gegeben hinzunehmen, was drinsteht. Der Verdienst

Wer die meisten Arbeitsstunden hat, verdient bei Premium am meisten. Denn: Wir haben ganz bewusst den gleichen Stundensatz für alle. Wir denken auch in diesem Punkt, dass Menschen gleichwertig sein sollten und niemand mehr wert ist, weil er Buchhaltung macht oder Gründer war. Lange war ich derjenige mit den meisten Arbeitsstunden, doch 2022 hatte ich einen Nebenjob in der Senioren-Pflege. Jobs wie diese bedeuten, dass ich bei Premium weniger arbeite und somit auch verdiene als andere. Wir haben zum kollektiven Stundensatz Ergänzungen für Menschen, die Kinder haben, einen Bonus für Menschen, die eine Behinderung haben, und einen Bonus für Menschen, die sich irgendwo einen Arbeitsplatz hinstellen wollen. Denn: Wir haben bis heute zwar ein Riesennetzwerk aus 1.700 Pat*innen, aber ganz bewusst kein Büro. Alle arbeiten, wo sie wollen, und wohnen demzufolge auch, wo sie wollen. Das ist mir wichtig. Wenn du einen Arbeitgeber hast, hat der normalerweise irgendwo ein Büro und definiert damit, wo du zu sein hast. Dann musst du in dem Radius um dieses Büro herum wohnen. Ich möchte aber gerne, dass die Menschen wählen können, wo sie wohnen. Neue Mitarbeitende

Das Projekt hat sehr klein angefangen und ist seitdem – bis zur Pandemie – relativ stetig gewachsen, obwohl wir keine Werbung machen. Ich glaube, das liegt daran, dass wir uns um die beteiligten Menschen so gut kümmern. Die bleiben und holen noch andere dazu. Wir hatten die Luxussituation, relativ regelmäßig neue Leute dazuholen zu können. Gegenwärtig stehen wir bei 70 Prozent der Umsätze von vor der Pandemie und müssen sparen. Wenn wir neue Leute brauchen, läuft es in der Regel so, dass wir erst mal im Konsens mit allen beschließen, dass wir den neuen Job haben wollen, und dann schreiben wir das ins Forum. Die erste ­Person, die sagt, dass sie das ausprobieren möchte, darf das aus­

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probieren. Ich möchte ganz bewusst nicht, dass Menschen auf bestimmte Lebens- und Arbeitsläufe festgelegt sind. Wenn man zum Beispiel eine Buchhaltung suchen würde, würde man in einer normalen Wirtschaft vielleicht auf Zeugnisse und Vorerfahrungen aus der Buch­haltung Wert legen. Damit würde man die Menschen aber auf ­Buchhaltung festlegen. Da wird der Wechsel in einen anderen Job sehr schwierig. Das möchte ich bewusst nicht so machen. Deswegen darf es im Prinzip jede Person mal probieren, die das möchte. Auch die Buchhaltung. Da gibt es kein wirkliches Auswahlverfahren, nur musst du vorher eben mal in dieses Forum reingekommen sein. Das kann aber wie gesagt jede Person, wenn sie ihren realen Namen sagt, eine Flasche getrunken hat und eine*n der Kollektivist*innen vorher persönlich gesehen hat. Ich glaube, wir wären auch schlecht beraten, wenn wir etwa nach Sympathie aussuchen würden. Dann wäre die Frage, wem man sympathisch sein muss. Wenn man weiß, dass man mir sympathisch sein muss, ist es vielleicht doch nur ein Kollektiv von Uwes Gnaden. Deswegen arbeite ich auch bewusst mit Leuten zusammen, die mir unsympathisch sind, und das erwarte ich auch ein bisschen von den anderen. Es gibt nur eine Sache, auf die wir uns einigen müssen. Das ist der Grundwert: die Gleichwertigkeit von Menschen. Wenn du das nicht teilst, dann finden wir keinen Weg zusammen. Alles andere ist Verhandlungssache. Wenn du allen das Gleiche bezahlst, dann haben Leute keinen Anreiz, einen Job zu machen, den sie eigentlich gar nicht möchten, um ein höheres Gehalt zu bekommen. Sie haben auch keinen Anreiz, einen Job zu machen, den sie eigentlich gar nicht leisten können. In der Psychologie spricht man von zwei Kreisen. Da sind einmal Tätigkeiten, die du einigermaßen beherrschst und die du in deiner jetzigen Verfassung und Altersstufe leisten kannst. Und dann gibt es Tätig­ keiten, die du gerne machst. Die Schnittmenge aus beidem ist das Feld, wo du dauerhaft produktiv und glücklich arbeiten kannst. Ziel ist es, die Person dorthin zu bekommen. Das geht nicht immer perfekt auf, muss aber das Ziel sein. Sonst haben wir entweder eine Person in dem Beruf, die den gar nicht kann. Dann ist die eine Seite unglücklich. Oder die Person kann vielleicht den Beruf, aber macht ihn nicht gerne. Dann ist die andere Seite unglücklich. Wir wollen zu einer Wirtschaft kommen, in der alle Beteiligten, die Arbeit investieren, vernünftig bezahlt werden. Um das tun zu ­können, versuchen wir, es vorzuleben, und bitten und ermutigen andere, das ähnlich zu machen. Wenn sich dadurch ein Produkt

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v­erteuert, dann ist das so. Die Alternative wäre, dass Menschen Arbeit in einen Job stecken, den sie gar nicht machen wollen, und dort nicht vernünftig bezahlt und behandelt werden. Das halte ich für schlecht. Wir haben es natürlich auch schon gehabt, dass eine Person einen Job nicht gemocht hat, ihn aber schon hatte. Hier wäre es der Standardweg, dass man die Person austauscht. Wir tauschen stattdessen den Job aus. Wir bauen den Job für diese Person passend um, um die Person zu behalten. Wir müssen dann natürlich sehen, dass jemand anders ihre ursprünglichen Tätigkeiten übernimmt, aber es ist auch unsere Aufgabe, die Person nicht einfach zu streichen. Dann muss der Job eben umgeschrieben werden. Die Konflikte

Dadurch, dass ich von Anfang an alle mit eingebunden habe und alle nach ihren Wünschen, Erfahrungen und Bedarfen gefragt habe, habe ich in der gesamten Zeit tatsächlich sehr wenige Fehler gemacht. Das war in der ersten Phase auf jeden Fall ein Vorteil. Es gab aber durchaus auch Situationen, in denen wir mit unserem Konsensprinzip erst mal nicht weiterkamen; Streitsituationen, die anstrengend waren. Einmal ging es um den Text, der auf die Flasche gedruckt werden sollte, einmal um einen versehentlich zu hoch dosierten Koffeingehalt. Eine Person hat uns zudem mit vielen Streitigkeiten und Unhöflichkeiten bis hin zu Diskriminierungen ein Jahr lang schwer beschäftigt. Das habe ich ganz bewusst sehr weit laufen lassen, damit alle sehen, dass die Person zwar anstrengend ist, deswegen aber nicht gehen muss. Erst als die Person etwas geklaut hat, habe ich argumentiert, dass wir sie rauswerfen sollten. Das haben wir dann auch getan. Die Person hat uns noch ein Jahr lang von außen verfolgt und Dinge behauptet, die nicht stimmten. Das war für mich persönlich eine sehr schwierige Phase, weil ich nicht auf Menschen vorbereitet war, die mir schaden wollen. Das hatte ich in den Jahren davor überhaupt nicht erlebt. Ich habe es aber auch ganz bewusst nicht eskalieren lassen; habe diese Person nicht verklagt. Ich wollte nicht auf ihr Spielfeld gezogen werden. Ich wollte meinen und nicht ihren damaligen Weg gehen. Das haben alle im Kollektiv gesehen und noch mehr Vertrauen dazu gefasst, den Weg auch in der Krise nicht zu verraten. Das haben wir überstanden. Inzwischen arbeitet diese Person sogar wieder bei uns. Der Rückweg ist also auch gangbar. Damals dachte ich zunächst: »Eigentlich haben wir doch ein schlechtes System, wenn es mich so fertigmachen kann.« Aber das lag gar nicht am System, sondern an mir, weil ich auf eine solche Situation

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nicht vorbereitet war. Seitdem gehe ich nach wie vor grundsätzlich davon aus, dass ich willkommen bin, dass mir hier keine*r was Böses will. Aber falls mich jemand angreift, weiß ich mich zu verteidigen. So kann ich mich gut und sicher fühlen. Die Krise

Auch Corona war für uns eine große Herausforderung: Wir beliefern zu 95 Prozent Bars und Festivals. Die waren alle geschlossen beziehungsweise abgesagt, was für uns einem Todesurteil gleichkam. Manche Menschen bei uns sagten daraufhin, dass das mit der Demokratie zwar schön sei, aber nun harte Entscheidungen getroffen werden müssten: kürzen, streichen verschieben – alles Nötige tun, um den Betrieb zu retten. Ich gehörte zu denen, für ungefähr zehn Sekunden. Dann wurde mir klar, dass wir gerade in dem Moment voll in die Gemeinschaft gehen mussten, denn jetzt konnte sie ihre Stärken ­ausspielen. Wir haben zwar gekürzt, gestrichen und verschoben, wo immer es ging, aber wir haben immer die betroffenen Personen darüber entscheiden lassen. Man konnte also selber bestimmen, ob die eigene Rolle getilgt wird, oder ob man einfach später bezahlt wird und so weiter. Andersherum haben wir auch alle Beteiligten gefragt: »Brauchst du etwas? Eine Auszahlung im Voraus oder eine Auslieferung?« Diese Bedürfnisse spielten ebenfalls eine Rolle. In der Summe wurden wir dadurch zu einem Umverteiler und sorgten dafür, dass die Menschen, die gerade etwas abgeben konnten, diejenigen ausglichen, die gerade etwas brauchten. Auf diese Weise überleben stets mehr, und dadurch stehen wir als Gruppe, als Gemeinschaft, nun noch stärker da. Wir hatten 30.000 Euro als Rücklage gespart. Damit hätten wir im Regelbetrieb drei Monate überbrücken können. Nach diesen drei Monaten hatten wir aber durch das gerade beschriebene Vorgehen plötzlich 100.000 Euro Liquidität. Das war zwar nicht unser Geld, jedoch waren wir zu keinem Zeitpunkt existentiell gefährdet. Allerdings haben wir dafür jeden Job umgebaut, inklusive meinem. Ich habe mir, wie bereits kurz erläutert, eine Halbtagsstelle in der Pflege gesucht, einfach, um den Betrieb zu entlasten. So ein Umbau bedeutet Stress und bringt somit auch Streitigkeiten mit sich. Bei uns war das interessanterweise erst in dem Moment der Krise der Fall, in dem wir Staatshilfen bekamen. Da sind mehrere Leute durchgedreht. Infolgedessen definierten wir drei neue Minimal-­ Anforderungen und beschlossen diese wiederum im Konsens: 1. Auf Nachfrage muss die eigene Arbeit offengelegt werden. Es gibt nach

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wie vor keine Ziele, keine Vorgaben, aber du musst offenlegen, was du machst. 2. Wer an rechtlich heiklen Dingen arbeitet, muss sich dabei absprechen, und zwar im Wesentlichen mit mir, weil ich voll für alles hafte. 3. Auf Nachfrage muss der Stundenumfang, den man abrechnen möchte, plausibel erklärt werden. Letztlich haben wir niemandem gekündigt; die Leute sind (teils unter großem Getöse) freiwillig gegangen, weil sie die genannten Minimal-­Anforderungen nicht erfüllen wollten. Wir haben allerdings auch gesehen, dass sich Menschen persönlich weiterentwickelten; ­beispielsweise wurden unzuverlässige Menschen zuverlässiger. Da ist viel passiert. In der Krise haben wir den Kurs also nicht verlassen, ­sondern ihn ausgebaut. Die Übertragbarkeit des Produktes

Getränke sind wie gesagt das Ergebnis unseres Produktes. Das Produkt ist es, mit Menschen zu kommunizieren und gemeinsam Lösungen zu finden, mit denen alle zufriedener sind als vorher. Ich habe unser Konzept zur Open Source gemacht und auf die Homepage gestellt, damit es frei von anderen benutzt werden kann. Vor einigen Jahren habe ich zudem angefangen, aktiv auf Unternehmen zuzugehen, um sie dabei zu begleiten, sich in eine ähnliche Richtung zu bewegen. Ich bin nicht der Einzige bei uns, der Beratungen macht. Aber ich bin der mit der längsten Erfahrung und so eine Art Kompass des Projektes, der auch immer wieder die Aufgabe hat, auf den Kurs zurück zu moderieren. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass das, was wir tun, in dieser Form Neuland ist. Das hat noch niemand vorher gemacht. Viele wissen schlichtweg nicht, dass es so geht. Deswegen fahre ich viel herum und erzähle davon – und zwar nicht nur, dass es geht und wie es gehen kann, sondern auch davon, dass am Anfang wirklich nur ich selber mit einer ganz groben Idee dastand: dass es doch irgendwie gehen muss, dass man mit Menschen auf einer gleichwürdigen Ebene arbeitet. Von da aus waren nur noch ein bisschen Sturheit und Kommunikationsgeschick erforderlich, was man aber üben kann. Ich habe früher immer gedacht, dass man als einzelne Person sowieso nichts ändern kann, weil die Märkte und das System mächtig sind. Aber doch: Als Einzelne*r kannst du was ändern. Und in welcher Gesellschaft könnten wir leben, wenn andere Unternehmen, Hochschulen, Institutionen auch in diese Richtung gehen würden?

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Biografien

Biografien Prof. Dr. Armen Avanessian hat in Wien und Paris Philosophie und Politikwissenschaft sowie in Bielefeld Literaturwissenschaft studiert. Er war Visiting Fellow am German Department der Columbia ­University und an der Yale University sowie Fellow am Thomas Mann House in Los Angeles. Nach mehreren internationalen Gastprofessuren ist er seit 2021 Professor für Medientheorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Er ist Editor-at-Large beim Merve Verlag und leitete in Berlin an der Volksbühne mehrere Jahre die wöchentliche Theorie-­Serie Armen Avanessian & Enemies. Neben seinen zahlreichen Publikationen, unter anderem zum Spekulativen Realismus und zum ­Akzelerationismus, erschien 2022 bei Ullstein seine Monografie Konflikt. Von der Dringlichkeit, die Probleme von morgen schon heute zu lösen. Augusto Corrieri ist ein in Großbritannien lebender Schriftsteller, ­Forscher und Künstler. Sein Buch In Place of a Show: What happens inside Theatres when nothing is happening ist bei Bloomsbury Methuen Drama erschienen. Corrieris Fokus liegt auf den Schnittstellen zwischen verschiedenen Ökologien, menschlichen und nicht-­ ­ menschlichen. Nach dem Theaterstudium am Dartington College of Arts schuf Corrieri mehrere Werke für Theater und Galerien in europäischen Kunstzentren, etwa für die Casa Encendida in Madrid, für das Tanzquartier Wien, das Camden Arts Centre in London und das Nightingale Theatre in Brighton. Seine Artikel und Essays zu Performance und Kunst wurden in zahlreichen Büchern und Zeitschriften veröffentlicht. Er praktiziert auch als Taschenspielertrick-Magier: Unter dem Pseudonym Vincent Gambini präsentiert er derzeit gefeierte Solo-Performances der Theatermagie. Er unterrichtet Theatre and Performance an der University of Sussex. Philipp Furtenbach arbeitet in den Feldern bildende Kunst, Performance, Architektur sowie Orts- und Systementwicklung und lebt in Wien. Er trägt die Hauptverantwortung für den Methodenkomplex AO&. Viele Arbeiten setzt er gemeinsam mit Philipp Riccabona und Thomas Wisser um. In unterschiedlichsten Umgebungen werden dabei Raumfolgen und Dramaturgien geschaffen, durch die sich außergewöhnliche Bedingungen für Aufenthalt, Kommunikation und Produktion ergeben. In diesem Zusammenhang entstanden temporäre Versammlungsorte in Wien, München, Rom, London, New York

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Biografien

und einigen ländlichen Gebieten in Österreich. Für das Projekt ­Prehabitation haben sich Hanna Burkart und Philipp Furtenbach dazu entschlossen, ihre fixen Wohnsitze aufzugeben, um täglich neu eine kontemporäre, nicht sesshafte Lebensform zu entwickeln. Dr. Jochen Gimmel ist Philosoph aus Freiburg im Breisgau. Er studierte Philosophie, Soziologie und Historische Anthropologie in Freiburg und Berlin und promovierte nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt in Buenos Aires schließlich 2013 mit der Arbeit ­Konstellationen negativ-utopischen Denkens. Ein Beitrag zu Adornos aporetischem Verfahren (Freiburg 2015). Von 2013 bis 2021 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 1015 Muße an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit 2022 ist er freiberuflich im Bereich Fortbildung und Consulting tätig und unterrichtet an verschiedenen Hochschulen. Seine letzten Buchveröffentlichungen neben zahlreichen Aufsätzen: An den Grenzen der Muße. Essays zu einem prekären Begriff, Tübingen 2021, und »Zeit haben – Zeit sein. Ein Plädoyer für Zeit«, Tübingen [erscheint im Frühjahr 2023]. Prof. Regina Guhl ist Dramaturgin und Professorin für Dramaturgie am Studiengang Schauspiel der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Sie studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie, arbeitete als Dramaturgin an Stadt- und Staatstheatern in ­Berlin, Bremen, Wien, Hamburg, Hannover und Graz. Schwerpunkte an den Bühnen sowie in der Lehre sind transdisziplinäre Arbeiten, die die Grenzen der Institutionen für neue inhaltliche und ästhetische Perspektiven öffnen. Sie kuratierte das internationale Theaterprojekt Emergency Entrance, ist Generalsekretärin des Europäischen Hochschulnetzwerks E:UTSA und entwickelte mit Dorothea Hilliger von der HBK Brauschweig den Modellversuch Überzeugungstäter, eine künstlerische Zusammenarbeit von Studierenden der Bereiche Schauspiel, Performance und Theaterpädagogik aus beiden Instituten. Prof. Dr. Simone Hain ist Architektur- und Planungshistorikerin. Nach einem Kunstgeschichtsstudium in Brno in der damaligen CSSR war sie wissenschaftliche Assistentin an der Humboldt-Universität zu ­Berlin sowie an der Bauakademie der DDR. Es folgten Gast- und Vertretungsprofessuren an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, eine Professur an der Bauhaus Universität Weimar und von 2006 bis 2016 eine Professur am Institut für Stadt- und Baugeschichte der Technischen Universität

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Graz. Zusammen mit Hartmut Frank initiierte sie die erste gesamtdeutsche architekturhistorische Retrospektive und Wanderaus­ stellung Zwei deutsche Architekturen 1949 – 1989. Zudem war sie ­Mitarbeiterin im Beirat für Baudenkmale beim Berliner Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz. Seit ihrer Emeritierung arbeitet sie frei an Projekten in Berlin. Thomas Heise arbeitet seit seinem 1983 abgebrochenen Studium an der Filmhochschule der DDR freiberuflich als Autor und Regisseur für Film, Theater und Funk. Seine Dokumentarfilme und dokumentarischen Rundfunkarbeiten in der DDR wurden gesperrt und gelangten erst nach 1990 an die Öffentlichkeit. Der Titel seines ersten Kurz­ dokumentarfilms Wozu denn über diese Leute einen Film ist zu einem Leitgedanken seiner Arbeitsweise geworden. Seine Filme zeigen ­Menschen, deren Leben sich als Bild historischer Geschehnisse und Entwicklungen zeigt, im heutigen Deutschland, aber auch in Lateinamerika. Von 1990 bis 1997 inszenierte Heise am Berliner Ensemble, anschließend am Theater 89 in Berlin und am Theater Heilbronn. Von 2007 bis 2013 war er Professor für Film an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, von 2013 bis 2022 Professor für Kunst und Film an der Akademie der bildenden Künste Wien. Er ist seit Mai 2018 Direktor der Sektion Film und Medienkunst an der Akademie der Künste in Berlin. Prof. Dr. Dorothea Hilliger ist Professorin für Performative Künste und Bildung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und war dort auch Interimspräsidentin. Sie studierte Germanistik, politische Wissenschaften, Theaterwissenschaften sowie Theaterpädagogik und arbeitete an verschiedenen Theatern, in der Freien Szene sowie als Theaterlehrerin. Schwerpunkt ihrer Arbeit und ­Forschung sind das Transferpotential der Künste, insbesondere für die Entwicklung und den Erhalt demokratischer Strukturen, die Initiierung und Begleitung von institutionellen Entwicklungsprozessen, die Qualitätssicherung in Kooperationsprojekten sowie Formen und Formate der Theaterpädagogik. Mit Regina Guhl entwickelte sie das Kooperationsprojekt Überzeugungstäter, im Rahmen dessen neben künstlerischen Arbeiten mit Studierenden auch verschiedene Kon­ ferenzen realisiert wurden, welche die Funktion von Kunst in der Gesellschaft thematisierten.

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Claudia Hummel ist Hochschullehrende, Kunstvermittlerin und Kuratorin. 2007 und 2012 co-konzipierte sie das Kunstvermittlungsprogramm für Kinder und Jugendliche auf der documenta. Seit 2009 lehrt sie im Masterstudiengang Art in Context am Institut für Kunst im Kontext der Universität der Künste Berlin. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind Recherchen und Projekte an der Schnittstelle von Kunst und Bildung. In den letzten Jahren forschte sie vor allem zur Geschichte der künstlerisch-edukativen Praxis in Westberlin seit den siebziger Jahren. Prof. Dr. Isabell Lorey hat einen Lehrstuhl für Queer Studies in ­Künsten und Wissenschaft an der Kunsthochschule für Medien Köln. Sie hat Politikwissenschaft, Philosophie sowie afrikanische und europäische Ethnologie studiert und hatte Assistenz- sowie Gastprofessuren an der Universität der Künste Berlin, an der Humboldt-­Universität zu Berlin sowie an den Universitäten Basel, Wien und ­Kassel inne. Sie war Mitglied der feministisch-aktivistischen Gruppe kleines postfordistisches Drama (kpD) und arbeitete für ARD und ZDF, hier vor allem für logo!, die tägliche Nachrichtensendung für Kinder. Sie ist Teil des Herausgeber*innen-Kollektivs der Publikationsplattform transversal des eipcp, das Bücher und ein multilinguales Webjournal macht sowie einen Blog betreibt. Schwerpunkte ihrer ­Forschung sind die Prekarisierung von Arbeit und Leben im Neo­liberalismus, soziale Bewegungen, kritische Demokratietheorie und politische Immunisierung. Ihr Buch Demokratie im Präsens. Eine T ­ heorie der politischen Gegenwart ist 2020 im Suhrkamp Verlag sowie 2022 in englischer und spanischer Übersetzung erschienen. Uwe Lübbermann ist Gründer und zentraler Moderator des konsensdemokratischen Premium-Getränkekollektivs. Dort verdienen alle gleich viel, mit Ausnahme derer, die im Alltag mehr Geld benötigen, beispielsweise weil sie für Kinder zu sorgen haben. Bei Entscheidungen reden etwa 200 Leute mit, auch Lieferant*innen und Kund*innen, und alle haben ein Vetorecht. Seiner Ansicht nach sollten alle Menschen so gleichwürdig wie möglich behandelt werden. Folglich hat das Kollektiv keine Geschäftsführung. Darüber hinaus arbeitet ­Lübbermann als Begleiter anderer Firmen, aber auch von Hochschulen, denen er neue Organisationsformen nahelegt (beispielsweise in den Vereinigten Arabischen Emiraten und bei der Deutschen Bahn). 2021 erschien sein Buch Wirtschaft hacken.

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Martin Schick geht mit transdisziplinärer Manier durch alle Kunstsparten und darüber hinaus, kann auch Kulturmanager und will noch mehr Aktivist sein. In der Schweiz aufgewachsen, lebte er unter anderem in Berlin; nun auf einem Wagenplatz in Bern. Nach einem Studium an der Hochschule der Künste Bern entwickelte er zahlreiche eigene Produktionen für die Bühne und den öffentlichen Raum und präsentierte seine Arbeiten zehn Jahre lang weltweit auf Tournee. In Notwendigkeit einer nachhaltigeren Praxis konzentriert er sich seit 2018 auf einen lokaleren Kontext, unter anderem als Kulturmanager der bluefactory, eines privat entwickelten, ökologisch orientierten Innovationsquartiers in Fribourg in der Schweiz, sowie als Partizipationsfachperson für die Genossenschaft Kalkbreite in Zürich. Er begleitet diesen Aufbau von Räumen gesellschaftlicher Entwicklung als Experte, Moderator, Facilitator, Berater oder in kulturpolitischen Positionen. Seine künstlerische Praxis setzt sich somit fort im Strukturellen, Institutionellen, Transdisziplinären. Berthold Schneider ist Intendant der Oper Wuppertal. Nach einem Klavierstudium schloss er seine Ausbildung 1992 mit einem Master in Opernregie an der University of Iowa ab. Er arbeitete zunächst als Musikdramaturg und war von 1999 bis 2005 Künstlerischer Leiter der staatsbankberlin, eines interdisziplinären Aufführungsortes für Konzerte, Ausstellungen, Opern und Diskussionsreihen am Berliner Gendarmenmarkt. In diese Zeit fällt auch seine vielbeachtete Inszenierung der Oper Einstein on the Beach, für die er eine Sondergenehmigung von Philip Glass und Robert Wilson erhielt. 2006 ging er als Operndirektor an das Saarländische Staatstheater. Anschließend arbeitete er als Referent für internationale Kooperationen an der English National Opera in London. Seit 2016 ist er Intendant der Oper Wuppertal. Unter seiner Leitung erarbeitete sich das Haus ein international beachtetes Profil und wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2021 mit dem Deutschen Theaterpreis. Gabriele Stötzer studierte ab 1973 Deutsch und Kunst an der Pädagogischen Hochschule in Erfurt (DDR). Sie wurde 1976 politisch exmatrikuliert und später wegen einer Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Sie verweigerte eine Zwangsausreise in den Westen. Seit den achtziger Jahren ist sie freischaffende Künstlerin; sie übernahm die Galerie im Flur und organisierte Pleinairs, bis diese 1981 durch die Staatssicherheit liquidiert wurden. Ab 1982 folgten Veröffentlichungen in Unter-

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grundzeitschriften der DDR, sie machte Fotografien, Super-8-Filme, webte und setzte ab 1984 Mode-Objektshows und Performances mit der Erfurter Künstlerinnengruppe Exterra XX um. Am 4. Dezember 1989 besetzte sie mit vier weiteren Frauen in einer ersten Aktion dieser Art eine Stasi-Zentrale. Ab 1990 erfolgten zahlreiche Buchveröffentlichungen, Lese- und Vortragsreisen, etwa in die USA, sowie internationale Ausstellungen. Ab 2010 Rehabilitation und Dozentin für Performance an der Universität Erfurt. Einzelausstellungen waren unter anderem in der Klassik­stiftung Weimar, in der Galerie Loock Berlin und in der Galeria ­Monopol Warschau zu sehen. 2013 erhielt Gabriele Stötzer das B ­ undesverdienstkreuz. Joshua Wicke ist Dramaturg am Schauspielhaus Zürich. Er hat Philosophie, Volkswirtschaftslehre und Dramaturgie in Berlin und ­Potsdam studiert. Neben seinen dramaturgischen Tätigkeiten an der Schnittstelle zwischen Stadttheater und freier Szene in Berlin, so am Deutschen Theater, HAU Hebbel am Ufer und in den sophiensaelen mit Auftrag:Lorey, Martin Laberenz, Max Linz und Turbo Pascal, ­co-­kuratierte er die Diskursreihe Das ABC der Krise und zuletzt an den Berliner Festspielen mit dem Palast der Republik ein dreitägiges ­Festival zwischen Kunst, Diskurs und Para-Parlament. An der Kunsthochschule für Medien Köln und der Freien Universität Berlin gab er Seminare zur Theorie und Praxis der Dramaturgie und zur Kunst der Geldvernichtung. Gemeinsam mit Sandra Umathum und Björn Pätz richtet er eine Plattform für Emerging Performance Artists namens Dirty Debüt aus. Zurzeit beschäftigen ihn zunehmend Ökologien des Theaters. Mirko Winkel ist Künstler, Kurator und Leiter eines transdiszi­ plinären Labors am Geographischen Institut der Universität Bern. Geboren in der damaligen DDR, lebt er in Bern, Berlin und Wien. Er studierte bildende Kunst, Performance-Kunst und Choreografie. Das Spektrum seiner recherchebasierten und kontextsensitiven Arbeit umfasst ­ Performances, Videos, Vorträge, Gesprächsformate und Verbesserungsvorschläge. Er hat seine Arbeiten international in ­ ­Theatern, auf Filmfestivals und in Ausstellungen gezeigt. Gegenwärtig koordiniert er das mLAB, ein Labor des Geographischen Instituts der Universität Bern, das Wissenschaftler*innen dazu anregt, künstlerische Arbeit in ihre Forschung zu integrieren und neue Wege der Wissenskommunikation zu beschreiten. Gemeinsam mit Dorothea Hilliger und Regina Guhl entwickelte er im Rahmen des Koopera­

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tionsprojektes ­Überzeugungstäter vier begleitende Konferenzen zur Funktion von Kunst in der Gesellschaft. Doreen Yuguchi ist Künstlerin und Therapeutin in der Forensik. ­Yuguchi kommt aus der ehemaligen DDR und studierte zunächst ­Theaterwissenschaften. Nach einer Mitgliedschaft im theatercombinat Wien studierte sie Freie Kunst bei Marina Abramovic’. Ihre Installationen und Performances wurden unter anderem am PS1 in New York, auf dem Festival d’Avignon sowie im ARCUS Project in Japan gezeigt. Lehraufträge führten sie an die Kunsthochschule Berlin-­Weißensee und an die Universität Duisburg-Essen. Nach einer Arbeit in der JVA Neustrelitz war sie ehrenamtlich als ­ambulante ­Hospizbegleiterin tätig und studierte Ergotherapie mit dem Arbeitsschwerpunkt forensische Psychiatrie an der Alice S ­alomon Hochschule Berlin. An der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig war Yuguchi Gastwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Performancetheorie und leitete unter anderem ein gemeinsames Arbeitsund Ausstellungsprojekt von ­Studierenden und inhaftierten Jugendlichen. Aktuell lebt Doreen Yuguchi mit ihrem Sohn in Berlin und unterstützt beruflich Frauen, die in der JVA Ersatz­freiheits­strafen verbüßen, dabei, ihre Haftzeit durch gemeinnützige Arbeit zu verkürzen. Prof. Lena Ziese, Künstlerin, Kuratorin und Lehrende, studierte ­bildende Kunst und Politikwissenschaften in Berlin und Kassel. Sie ist Professorin für Freie Kunst und Kunstpädagogik an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. Von 2017 bis 2021 war sie Mediatorin im Programm Neue Auftraggeber. Die Methoden und Handlungsmöglichkeiten der Kunst befragt sie aus unterschiedlichen Perspektiven und Praxisfeldern. 2005 gründete Lena Ziese den Ausstellungsraum Jet in Berlin, wo sie Jahresreihen konzipierte und in Zusammenarbeit mit wechselnden Gastkurator*innen Ausstellungen internationaler Gegenwartskunst realisierte. Für verschiedene ­Festivals, Workshops und Institutionen entwickelte sie weitere Ausstellungen und Vermittlungsformate, unter anderem in London, Limassol, Schardscha, ­Heidelberg und Leipzig.

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Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – »Ich war immer ein Opportunist …« . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz – Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu »Unter Eis« Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst. Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990 – 2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977 – 2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007

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Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Kleist oder die Ordnung der Welt Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten Theater in Japan Sabine Kebir – »Ich wohne fast so hoch wie er« Steffin und Brecht Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute Frank Raddatz – Der Demetriusplan . Oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Falk Richter – Trust Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm

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Recherchen 93

Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie 95 Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft 97 Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals 98 Das Melodram . Ein Medienbastard 99 Dirk Baecker – Wozu Theater? 100 Rimini Protokoll – ABCD 101 Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern 102 Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen 103 Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 104 Theater im arabischen Sprachraum 105 Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit . Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation 107 Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik 108 Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 112 Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa 113 Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 116 Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 123 Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« am Schauspiel Leipzig

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125 Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) 126 Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert 127 Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen 128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L’Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019)


Recherchen 151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche 152 Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen 153 Wer bin ich, wenn ich spiele? . Fragen an eine moderne Schauspielausbildung? 154 Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung . ­Fragen an Heiner Müller 155 TogetherText . Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater 156 Ästhetiken der Intervention . Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters 157 Theater in Afrika II – Theaterpraktiken in Begegnung 158 Joscha Schaback – Kindermusiktheater in Deutschland 159 Inne halten: Chronik einer Krise 160 Heiner Goebbels – Ästhetik der ­Abwesenheit . Texte zum Theater . ­ Erweiterte Neuauflage 161 Günther Heeg – Fremde Leidenschaften Oper . Das Theater der Wiederholung I 163 Charlotte Wegen – Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion . Eine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny 164 Theresa Schütz – Theater der ­Vereinnahmung . Publikumsinvolvierung im immersiven Theater 165 Benjamin Wihstutz, Daniele Vecchiato und Mirjam Kreuser – #CoronaTheater . Der Wandel der performativen ­Künste in der Pandemie 166 Dazwischengehen! . Neue Entwürfe für Kunst, ­Pädagogik und Politik

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Armen Avanessian Augusto Corrieri Philipp Furtenbach Jochen Gimmel Simone Hain Thomas Heise Claudia Hummel Isabell Lorey Uwe Lübbermann Martin Schick Berthold Schneider Gabriele Stötzer Joshua Wicke Doreen Yuguchi Lena Ziese

978-3-95749-436-8 www.theaterderzeit.de

Regina Guhl, Dorothea Hilliger und Mirko Winkel (Hg.)

Dazwischengehen!

Mit Beiträgen von

Dazwischengehen! Neue Entwürfe für Kunst, ­Pädagogik und Politik

Recherchen 166

Was kann Kunst in der Gesellschaft bewirken? Wie wollen wir künftig leben, arbeiten und lernen? Und wie können künstlerische und soziale Praxen, Philosophie und wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem Perspektivwechsel bei der Beantwortung dieser Fragen führen? Die unter dem Titel Dazwischengehen! versammelten Praktiker*innen und Denker*innen aus verschiedenen sozialen Feldern und Institutionen machen in ihren Beiträgen Vorschläge für abweichende Methoden und Vorgehensweisen, für die Neubewertung von Haltungen und für das Lernen mithilfe künstlerischer Praxis. Dieser wohnt das Experiment, die modellhafte Erforschung und Erprobung von Verfahren und Strukturen inne. Künstlerische Praxis hat mithin das Potential, verändernd auf unser Zusammenleben einzuwirken. Sie trägt zudem einen wichtigen Teil dazu bei, die Komplexität unserer Demokratie zu erhalten und fortzudenken.


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