Theatermusik. Analysen und Gespräche

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Thomas Kürstner Bernadette La Hengst Nils Ostendorf Malte Preuss Insa Rudolph Greulix Schrank Thomas Seher Sebastian Vogel Michael Wilhelmi Lars Wittershagen Bert Wrede

978-3-95749-239-5 www.theaterderzeit.de

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Theatermusik Analysen und Gespräche

David Roesner Theatermusik

Interviews mit: Malte Beckenbach Peer Baierlein Carolina Bigge Paul Clark Octavia Crummenerl Gloggengießer Jörg Gollasch Ingo Günther Taison Heiß Julia Klomfaß Matthias Krieg

David Roesner

Recherchen 151

Die Theatermusik ist ein oft überhörtes Phänomen, obwohl sie gerade im Zuge der Digitalisierung zu einem kreativen Motor für die Spielformen und Dramaturgien der zeitgenössischen Theaterlandschaft avanciert ist. David Roesner gibt einen Überblick über Praxis und Ästhetik der heutigen Theatermusik und lässt in knapp zwanzig Interviews die Künstlerinnen und Künstler selbst zu Wort kommen. Sie berichten über ihren Werdegang, ihre Arbeitsweisen, ihre ästhetischen Überzeugungen und ihre Rolle in der Institution Theater. So entsteht ein umfassendes und vielschichtiges Bild dieser elementaren Ausdrucksebene des Theaters und des damit verbundenen Berufsbildes.

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Für Christina, Vincent und Laurenz

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Ludwig-Maximilians-Universität München.

David Roesner Theatermusik Analysen und Gespräche Recherchen 151 © 2019 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de

Korrektorat: Sybill Schulte Gestaltung: Agnes Wartner Umschlagabbildung: Szenenfoto von On the Road nach dem Roman von Jack Kerouac, Regie: David Marton, Münchner Kammerspiele, Premiere am 28. September 2017. Foto: © David Baltzer Printed in Germany ISBN 978-3-95749-239-5 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-265-4 (ePDF) ISBN 978-3-95749-266-1 (EPUB)

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Inhalt Theatermusik – eine Standortbestimmung

No more ›unheard melodies‹ Definition Disziplinäre Perspektiven auf Theatermusik Zehn Thesen These 1: Theatermusik ist Aufführungsmusik These 2: Theatermusik heute bestimmt den Entwicklungs- und Probenprozess von Inszenierungen fundamental mit These 3: Die Digitalisierung erlaubt der Theatermusik, im Dialog mit der Inszenierung interaktiver und flexibler zu sein These 4: Die Funktionen der Theatermusik haben sich erweitert These 5: Theatermusik webt intermusikalische Netze aus Verweisen und Zitaten These 6: Theatermusik ist Klangforschung und Arbeit am Rhythmus These 7: Die Performativität des Musizierens und die Liminalität des Musikerdarstellers bestimmen immer häufiger die Dramaturgien und Spielästhetiken These 8: Theatermusik inszeniert oft das Hören selbst These 9: Das Theater unterdrückt nicht länger sein ›Rauschen‹, sondern musikalisiert und inszeniert es These 10: Die Entgrenzung der Theatermusik führt zu einem Spiel mit musikalischen bzw. theatralen Dispositiven Interviews

Malte Beckenbach: »Hörgewohnheiten verändern« Lars Wittershagen: »Das Equipment ist viel kleiner geworden, die Möglichkeiten aber viel größer« Bert Wrede: »Diesen Fantasieraum ›Theater‹ laufen zu lassen« Jörg Gollasch: »Ich bin vor allem dafür verantwortlich, dass das Ganze eine gewisse musikalische Dramaturgie hat« Julia Klomfaß: »Wenn jetzt gerade diese Melodie aus mir heraussprudelt« Peer Baierlein: »Ich muss gestehen, dass ich selten ins Theater gehe« Taison Heiß und Greulix Schrank: »Mach es live!« Octavia Crummenerl Gloggengießer: »Ich gehe von einer Art Farb erinnerung aus« Matthias Krieg: »Als Gast im Theater« Ingo Günther und Malte Preuss: »Die beste Theatermusik ist die, die man hört!« Bernadette La Hengst: »Das Feld, in dem ich mich kreativ äußern konnte, war mir zu klein« Thomas Kürstner und Sebastian Vogel: »Wie klingt Welt?« Nils Ostendorf: »Alles, was ich nicht sofort definieren kann, finde ich interessant« Insa Rudolph: »Den Theaterraum als akustischen Raum begreifen« Thomas Seher: »Es kann auch mal die furchtbarste, schrecklichste Musik sein, die auf einmal gut klingt!«

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Inhalt

Carolina Bigge: »Sich in Verbindung mit dem bringen, was man sieht« Michael Wilhelmi: »Häufig sage ich mir den Text ganz oft laut vor, wie man ihn sprechen würde, und dann findet sich, wie man ihn singen könnte« Paul Clark: »I try to offer a parallel world, which will sometimes collide with the journey of the drama« Theatermusik als community of practice. Versuch einer Analyse

Methodische Vorbemerkung Theatermusiker*in als Identität Eine community of practice Theatermusik als Selbstverständnis, verhandelte Erfahrung und gelebte Biografie Lernkurven: Ausbildung und Einflüsse Kompetenzen Bühnen-Persona Als Gast im Theater? Theatermusiker*innen und die Institutionen Theatermusik im Spannungsfeld zwischen Regie, Dramaturgie, Schauspiel, Raum und Tontechnik Zusammenarbeit mit der Regie Zusammenarbeit mit der Tontechnik Theatermusik als Netzwerk und téchnē? Die Rolle des Computers ›Seasoning the presets‹. Sound als Recherche und Identitätsfindung Ästhetische Spannung zwischen analog und digital Liveness – Digitalität und die Musik als Mitspieler Institutionelle Aspekte Theatermusik als relationales Musizieren: Ästhetische Intentionen Stil und Sound Zwischen Zitat und Handschrift Zwischen autonom und relational Zwischen HiFi und LoFi Zwischen Musik und Geräusch Zwischen vorgefunden, komponiert und improvisiert Zwischen Intention und Intuition – die Stimmigkeit des Sounds Musik und Szene Raum und Energie Mit- und Gegenspieler für die Schauspieler*innen Emergente Narration und relationale Dramaturgie Wirkungsabsichten Fazit Glossar Zum Autor Danksagung

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Theatermusik – eine Standortbestimmung No more ›unheard melodies‹

Die Theatermusik ist ein häufig überhörtes Phänomen – sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der Theater- und Musikwissenschaft. Detlef Altenburg spricht von ihr als einem »Phantom des Theaters«1, Heidi Mottl konstatiert ihr »Schattendasein«2, und Ursula Kramer bezeichnet sie als »eines der letzten großen Desiderate«3 der musikwissenschaftlichen Forschung. Die Gründe hierfür sind vielfältig und wurden an anderer Stelle ausführlicher beschrieben, aber es scheint, dass die vermeintlich vor allem dienende Funktion der Theatermusik als Gebrauchs- oder »Gelegenheitsmusik«4, der »Mangel an Werkhaftigkeit«5 und die damit verbundene oft prekäre Quellenlage6 alle eine Rolle bei der Marginalisierung der Theatermusik gespielt haben und immer noch spielen. Dabei haben gerade die Digitalisierung der Produktionsmittel und die Erweiterung der Spiel- und Darstellungsformen und Dramaturgien unter anderem im Zuge postdramatischen Theaters zu einer besonders großen Vielfalt an Erscheinungsformen von Theatermusik geführt. Das vorliegende Buch unterbreitet einerseits einleitend eine Standortbestimmung und Charakterisierung einiger hervorstechender Tendenzen in dieser zumeist unbeachteten Kunstform. Andererseits unternimmt es in der abschließenden Analyse der Interviews, die den Hauptteil des Buches ausmachen, den Versuch, die Vielfalt der Arbeitsweisen, Funktionen, Poetiken und Ästhetiken von Theatermusik heute zu analysieren und zur Darstellung zu bringen. Für diesen ersten Teil habe ich den Titel von Claudia Gorbmans einflussreichem Buch über narrative Filmmusik, Unheard Melodies7, ex negativo zitiert, um eine Reihe von Entwicklungen zeitgenössischer Theatermusik zu skizzieren. In der traditionellen Filmmusik gibt es das altbekannte (und natürlich auch dort längst überholte) Bonmot, die beste Filmmusik sei die, die der Zuschauer gar nicht wahrgenommen habe.8 Subtile Lenkung und Manipulation sind hier oft erklärtes Ziel. Sehen und hören wir uns hingegen im zeitgenössischen Theater um, präsentiert sich ein anderes Bild: Häufig wird die klingende Musik live und sichtbar vor unseren Augen produziert, sie wird explizit szenisch bespielt und in die Bühnenhandlung mit einbezogen, nicht selten behauptet sie sich als gleichberechtigter Mit- oder Gegenspieler zu drama-

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tischen Figuren, Texten, Bildern, Licht und Raum. Das heißt nicht, dass es den Typus einer ›filmischen‹ Theatermusik, die im Hintergrund eher dienend Szenen atmosphärisch unterstützt oder die Zuschauer*innen emotional von Szene zu Szene begleitet, nicht mehr gibt, aber die Proliferation neuer Möglichkeiten und Spielformen sprengt die bisherigen Erklärungsmuster und verlangt nach einer Neubestimmung der Praxis. Dies bedeutet auch, dass die wenigen vorliegenden Definitionsversuche einer Überprüfung bedürfen.

Definition

Die wichtigsten Gattungsbestimmungen zur Schauspielmusik sind zum Teil älteren Datums oder zumindest vorwiegend an historischen Formen orientiert und entwickelt.9 Ich werde daher die bisherigen Definitionen kurz problematisieren und mit dem terminologischen Wechsel von ›Schauspielmusik‹ zu ›Theatermusik‹ ein neues Verständnis auch begrifflich markieren. Zum einen wähle ich den breiteren Begriff ›Theater‹, weil im Kontext von postdramatischen Theaterformen10, Devised Theatre11, Romanadaptionen, Stückentwicklungen und vielem mehr12 die Rückbindung an ein ›Schauspiel‹ im traditionellen Sinne oft gar nicht mehr gegeben ist.13 Es gibt heute viel Theatermusik, die keine Schauspielmusik ist. Zum anderen suggeriert ein Verständnis von Schauspielmusik als Gattung, dass es intrinsische Merkmale geben müsse, wie sie auch eine Sonate, ein Singspiel oder ein Madrigal aufweisen, anhand derer man Schauspielmusik also von anderen Formen abgrenzen könne. Eine solche Merkmal- bzw. Kriterien-orientierte Gattungscharakteristik halte ich, so viel sei bereits vorausgeschickt, angesichts heutiger Theatermusikpraxis nicht für sinnvoll. In ihren Schriften zur Schauspielmusik14 setzen sich auch Detlef Altenburg und Lorenz Jensen kritisch mit dieser Frage auseinander und stellen fest: Die Schauspielmusik entziehe sich etablierten musikwissenschaftlichen Methoden der Kategorisierung durch ihre mangelnde Eigenständigkeit und Werkhaftigkeit sowie ihre geringe Repertoirefähigkeit. Außerdem seien die Grenzen zu anderen Gattungen, wie z. B. der Operà-comique oder dem Singspiel, fließend.15 Folglich bieten die Autoren eine Minimaldefinition an: »Als Schauspielmusik bezeichnet man die Musik im sog. Sprechtheater.«16 Damit wird der ›Kelch‹ allerdings nur weitergereicht: Schauspielmusik wird durch die Verwendung in einer Sparte des Theaters definiert – diese Sparte selbst aber ist zu-

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Definition

nehmend schwerer zu definieren, historisch stark kontingent17 und eigentlich nur anhand kontextueller Behauptungen und Verabredungen von anderen Theaterformen zu unterscheiden. Christopher Balme bietet eine quantitative Abgrenzung an: »Sprechtheater dagegen denotiert […] Theaterformen, die sich im Gegensatz zu gesungenen oder getanzten Aufführungen vorrangig des gesprochenen Wortes bedienen.«18 Der Begriff umfasse aber auch »experimentelle Theaterformen, bei denen der gesprochene Text nur eine neben anderen Ausdrucksformen ist«.19 Wer entscheidet dann, ob das Sprechen »vorrangig« war? Ich will einige weitere mögliche Kriterien problematisieren: Man könnte meinen, dass der prozentuale Anteil von Theatermusik an einer Aufführung geringer ist, als etwa bei einer Oper oder einem Musical. Es gibt aber nicht wenige Beispiele20, bei denen Theatermusik während fast der gesamten Aufführung gespielt wird. Man könnte versuchen, Theatermusik an das Profil ihrer Komponist*innen rückzubinden. Auch hier gibt es zu viele Ausnahmen: Theatermusiker wie Lars Wittershagen, Thomas Kürstner oder Sebastian Vogel haben auch Opern bzw. Singspiele komponiert, Opernkomponisten wie Mozart, Beethoven oder Nono haben ebenfalls Theatermusiken geschrieben. Eine weitere Unterscheidung könnte am Produktionsprozess festgemacht werden: Traditionell war es häufig so, dass im Musiktheater zuerst das Libretto21 entsteht – bereits mit der Absicht zur späteren Vertonung –, dann die Komposition und dann eine Inszenierung. Im Fall von Schauspielmusik wurde häufig zunächst das Drama verfasst, dann in Proben die Inszenierung weitgehend fertiggestellt und am Ende die Musik hinzugefügt. Aber auch dieses Schema greift heute in vielen Fällen nicht mehr. Theatermusik entsteht bisweilen schon im Vorfeld oder im engen Dialog mit der Szene; Inszenieren und Komponieren lassen sich bisweilen kaum noch sinnvoll getrennt betrachten. Selbst die Frage, was die Theatermusik einer Produktion ist, muss mit Vorsicht behandelt werden, da häufig – auch eigens komponierte – Musik im Probenprozess eine prägende Rolle spielt, die aber in der Aufführung nicht mehr zu hören ist. Das heißt, auch die Grenze zwischen für die Zuschauer*innen hörbare Theatermusik und einer Art subtextuellen Musikalität (der Abläufe, des Sprechens, der Gestik usw.) ist fließend. Ich schlage daher dreierlei vor: Erstens ist Theatermusik als Oberbegriff für alle Formen von Musik bei einer Theateraufführung zu verstehen, wie z. B. Bühnenmusik, Inzidenzmusik, Zwischenaktmusik, Umbaumusik, Lieder und Songs22, wobei diese historischen Kategorien in vielen Fällen an Beschreibungskraft verloren haben. Außerdem kom-

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men Kategorien hinzu, deren Traditionslinie eher in der Praxis der Filmmusik zu suchen ist, wie z. B. das Underscoring, die Mood-Technik, das Mickey-Mousing oder die – von Wagner entlehnte – Leitmotivtechnik.23 Die Abgrenzung zu Formen des Musiktheaters funktioniert dabei einerseits kontextuell (Wie bezeichnen die Theatermacher*innen die Aufführung und ihre Musik? Wie wird sie, z. B. in der Kritik, rezipiert? Wie wird sie institutionell eingeordnet, bewertet, bezahlt?) und andererseits heuristisch (Was spricht dafür, eine Musik als Theatermusik zu untersuchen? Welche Erkenntnisse verspricht diese Perspektive gegenüber einer Analyse als Musiktheater?). Im zweiten Teil dieser Einführung sollen daher einige Eigenschaften und Tendenzen beschrieben werden, die nicht als Kriterienkatalog zu verstehen sind, aber zielführende Fragen aufwerfen sollen, wann eine Musik heute plausibel als Theatermusik zu betrachten ist. Zweitens handelt es sich bei Theatermusik nicht um einen Gegenstand, sondern um eine kulturelle Praxis: Sie ist nicht ein fixierbares Ergebnis, sondern ein kontinuierlicher Prozess der Praktiken des Komponierens, Improvisierens, Einstudierens, Musizierens und Rezipierens (auf der Bühne und im Zuschauerraum). Dieser Prozess beinhaltet heute meistens sound-technische Aspekte des Produzierens, Arrangierens, Einrichtens und Einspielens. Drittens ist ein Verständnis von Theatermusik als ›funktionale Musik‹ oder ›Gebrauchsmusik‹, wie sie oft in einem Atemzug mit Filmmusik genannt wird, tendenziös und reduktiv.24 Natürlich kann Theatermusik bestimmte Funktionen erfüllen, lässt sich aber nicht auf diese reduzieren. Genauso lässt sich Musik als Theatermusik zwar ›gebrauchen‹, geht aber selten in diesem Gebrauch vollständig auf. Funktionale Musik, so wie Hans Heinrich Eggebrecht sie definiert, ist ihrem Begriff nach jene Musik, als deren Wesentlichkeitsmerkmal es gilt, daß sie auf eine bestimmte Funktion (Aufgabe, Dienstleistung) bezogen ist: Musik, deren Produktion bzw. Reproduktion sich versteht und zu verstehen ist wesentlich in intendierter Abhängigkeit von einem konkreten Zweck, in Erfüllung einer Verrichtung (lat. functio). […] Musik […] ist als funktionale Musik zu benennen, wo diese Eigenschaften so dominieren, daß ohne deren Berücksichtigung die Musik nicht zu begreifen ist.25 Meines Erachtens trifft Eggebrechts Definition zwar dahingehend auf Theatermusik zu, dass auch diese von ihrem Kontext nicht sinnvoll zu

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Definition

lösen ist, ohne sie in ihrer Bedeutung und Wirkung zu verzerren, gibt aber mit der Rede von einem »konkreten Zweck« und einer »intendierten Abhängigkeit«26 einen Rahmen vor, den Theatermusik regelmäßig sprengt, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird. Die Kritik an der Idee von funktionaler Musik, sei es im Theater oder Film, und an der damit häufig verbundenen Abwertung ist nicht neu, sieht sich aber deutlichen Beharrungskräften in den wissenschaftlichen Disziplinen gegenüber. Schon 1982 schreibt Dietrich Stern in seiner Dissertation zum frühen Tonfilm: Filmmusik wird in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion meist unter funktionale Musik eingeordnet. Sie fällt damit in ein Gebiet der Musikwissenschaft, wo die spezifische musikalische Qualität der Produkte kaum beachtet wird, unter Kaufhaus-Musik, Tanzmusik, Musik am Arbeitsplatz, Werbespotmusik. Die Methoden der Untersuchung gehen hier vorwiegend von der Wirkung aus und richten sich nach psychologischen oder soziologischen Kriterien. Die musikalisch-ästhetische Bewertung steht als sekundär dahinter zurück. […] In einer Untersuchung von Filmmusik halte ich diese Gegenüberstellung für besonders ungeeignet, weil sie unter dem Begriff ›funktional‹ die musikalische Produktion in diesem Bereich von vornherein als zweitrangig einstuft und dem gegenüber impliziert, daß erstrangige Produktion nur im Absehen von Gegenständen, Zwecken und Begriffen geleistet werden könnte. […] Man kann einwenden, daß gerade die Mechanisierung und Funktionalisierung musikalischer Effekte im Film den Begriff funktionale Musik rechtfertigen. Es geht mir aber darum, diese herrschende Praxis […] gerade theoretisch zu überschreiten, neue Kriterien zu ihrer Kritik zu gewinnen und gleichzeitig dem ernstzunehmenden Teil der musikalischen Produktion im Film, der keineswegs mit dem Begriff funktionale Musik erledigt ist, überhaupt erst gerecht zu werden.27 Auch wenn sich das vorliegende Buch nicht primär der Analyse von Theatermusik widmet, sind Sterns Einwände dennoch sehr hilfreich. Ähnliche Vorstöße machen Autorinnen wie Christina Zenk, indem sie in vergleichbaren Kontexten den Hanns Eisler’schen Begriff der ›Angewandten Musik‹ ins Spiel bringen, gerade auch in Abgrenzung von dem so stark ideologisch geprägten Terminus der ›funktionalen Musik‹. Eisler bezeichnet mit ›Angewandter Musik‹ eine Reihe von Musikformen –

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darunter explizit auch Theatermusik28 – und meint damit Musiken, die »durch ihre Verbindungen mit anderen Kunstformen ›einen neuen Sinn und damit eine neue Nützlichkeit‹«29 bekommen. Stern argumentiert in Bezug auf den Film: Die Bezeichnung ›Angewandte Musik‹ scheint mir deshalb am treffendsten zu sein. Mit ihr ist keine Festlegung über Wirkungsweise, Dramaturgie oder Stil getroffen, sondern diese schälen sich erst aus der Analyse des einzelnen Beispiels und seines historischen Zusammenhangs heraus.30 Zenk akzentuiert mit ihrer Verwendung des Begriffs (für Musik bei Modenschauen) zum einen die Mischung von neukomponierter und präexistenter Musik und zum anderen deren stilistische Bandbreite31: All das lässt sich auch für die heutige Theatermusik festhalten und ist inhaltlich richtig. Ein Nachteil des Begriffs ›angewandt‹ ist jedoch, wie Barbara Barthelmes zu Recht bemerkt, seine Orientierung »am Nützlichen, an pädagogischen oder politischen Zielen« – eine wenig hilfreiche Verengung des breiten Spektrums der Theatermusik heute.32 Beide Konzepte, ›funktionale Musik‹ und ›Angewandte Musik‹, könnten daher, so Barthelmes, »nicht umfassend verwendet werden«.33 Ihr Plädoyer für »Audio-Design«34 als Oberbegriff für zweckgebundene Musikgestaltung (sie erwähnt nicht Theatermusik, wohl aber Filmmusik als Teil des Spektrums) scheint mir allerdings ebenfalls reduktiv und ideologisch aufgeladen, da Design doch meist im Sinne einer kapitalistisch-konsumorientierten Idee funktionaler Gebrauchsästhetik verwendet wird. Am meisten überzeugt mich hinsichtlich der Theatermusik eine Charakterisierung als »relationale Musik«. Diesen Begriff bringt der Musikphilosoph Harry Lehmann als »Gegenbegriff zur tradierten Idee der absoluten Musik«35 ins Spiel – zwar nicht explizit bezogen auf Theatermusik, aber ausdrücklich im Kontext der Digitalisierung von Musik.36 Der Begriff impliziert eine Abkehr von einer »reinen Instrumentalmusik ohne Bezug auf Sprache, Bewegung, Bilder oder Gefühle und allem, was man traditioneller Weise zum ›außermusikalischen Material‹ gerechnet hat.«37 Man könne, sagt Lehmann, »immer dann von relationaler Musik sprechen, wenn sie ein Moment der Alterität behält und sich nicht alle Fremdreferenzen in einer Komposition wechselseitig neutralisieren«.38 Wesensbestimmend ist demnach – und das gilt natürlich auch für Theatermusik –, dass diese Musik in einer Relation39 zu etwas steht, einem

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Kontext verpflichtet ist, in diesem aber nicht aufgeht. Sie hat darüber hinaus aber keine eigenen ontologischen Merkmale. Auch völlig theaterfremde Musik kann zu Theatermusik werden.40 Dies sehe ich als ein weiteres Argument, dass Theatermusik eben keine Gattung ist, sondern eine Praxis.41 Es sei abschließend noch ein weiterer Gedanke ergänzt, der in den folgenden Thesen und Interviews ausgeführt und konkretisiert werden wird: Während die oben erwähnte ›Angewandte Musik‹ immer noch ein einseitiges Verhältnis zu charakterisieren scheint – Musik wird auf etwas (eine Theaterszene, eine Filmsequenz, einen Werbespot etc.) angewandt – beschreibt ›relationale Musik‹ ein potenziell dialogisches Miteinander, wie wir es in heutiger Theatermusikpraxis regelmäßig vorfinden:42 Filmsequenzen werden zu einer Musik erfunden und rhythmisch präzise auf sie zugeschnitten,43 Theateraufführungen folgen musikalischen Dramaturgien, schauspielerische Darstellung wird zu Musik erarbeitet und einstudiert usw. Das heißt: Theater und Film werden ebenso auf Musik ›angewandt‹, wie umgekehrt, bzw. eben besser: ›in Relation gesetzt‹. Ich werde nun zunächst einige mögliche Perspektiven auf Theatermusik als kulturelle Praxis skizzieren, um dann in einer Reihe von Thesen wesentliche Tendenzen zu ihrer derzeitigen Entwicklung herauszuarbeiten bzw. zu vertiefen.

Disziplinäre Perspektiven auf Theatermusik

Wie bereits erwähnt war die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Theater- bzw. Schauspielmusik primär eine historische und philologische.44 Anhand von Quellen wie Noten, Regiebüchern, Theaterzetteln und Ähnlichem konnten Musikeinsätze im Theater Shakespeares, Goethes oder der fahrenden Truppen der Frühen Neuzeit rekonstruiert und analysiert werden. Des Weiteren sind immer wieder die Poetiken der Schauspielmusik, wie z. B. die anhaltende Diskussion über Form, Funktion und Wirkung von Zwischenaktsmusiken, aufgearbeitet worden, zuletzt besonders eingehend von Irmgard Scheitler.45 Das oben skizzierte erweiterte Verständnis dessen, was Theatermusik ist und wie sie untersucht werden könnte, situiert diese Praxis in der Schnittmenge einiger jüngerer Diskurse und Fachperspektiven46, die bisher wenig oder gar nicht mit ihr in Verbindung gebracht wurden. Im abschließenden Kapitel dieses Buches werde ich auf einige dieser Perspektiven zurückkommen, da sie neben ihrem Erklärungspotenzial

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für die Theatermusik auch Pfade in den ›Dschungel‹ der für dieses Buch geführten Interviews bieten. Eine erste Perspektive betrifft die disziplinäre Einordnung von Theatermusik, die häufig die Grenzen dessen, was wir konventioneller Weise als ›Musik‹ bezeichnen, überschreitet. Wohin gehört Theatermusik? Zwei jüngere Disziplinen drängen sich neben der Theater- und der Musikwissenschaft auf: Auditive Medienkultur und Sound Studies.47 Rolf Großmann hat die Notwendigkeit einer Neuorientierung im Umgang mit zeitgenössischer Musik zu Recht angemahnt, und seine Beobachtungen treffen meines Erachtens gerade auch auf die Theatermusik zu: Der Begriff ›Musik‹ steht in diesem Feld nicht nur wissenschaftshistorisch für die Kultur des Tons, die erwähnte ›Tonkunst‹. Die kulturelle Aneignung der Phonographie und ihrer Nachfolger relativiert jedoch […] die Tonkunst. Die entstandenen Kulturen des Hörbaren (die ›auditive Kultur‹) und des Klingenden (Soundkultur) enthalten längst als Teilbereich eine neue Musik, die auf der neuen Materialwerdung und Rationalisierung sämtlicher Parameter musikalischer Gestaltung beruht.48 Er bringt dabei auch den Begriff des ›Sonischen‹ ins Spiel, der »den für sich direkt körperlich wirksamen Schall auch am Rande eines traditionellen Musikbegriffs thematisiert und erkenntnistheoretisch jenseits begrifflicher Kategorisierung an neue Forschungsperspektiven erschließen soll«.49 Theatermusik heute stellt genau solch eine Erweiterung vom rein musikalischen Beitrag zum Sonischen dar: Sie integriert häufig alles Klingende und Hörbare: Musik, Sounds, Stimme, Geräusch, Raumklang und Effekte. Sie ist – angelehnt an Wolfgang Ernsts Definition von Sonik – »medientechnisch operationalisierte Form von Klang«50. Ernst ergänzt: »Das Sonische meint weder Ton noch Klang, sondern deren operatives Dazwischen. Das Sonische oszilliert zwischen dem Realen des Akustischen und dem Symbolischen des Klangs – ein dynamisches, operatives Dazwischen.«51 Diese Konstellation hat neben einer medientechnischen und musikästhetischen Komponente auch eine soziale Dimension. Theatermusik ist letztlich (wie Theater insgesamt) ein kollektiver, kreativer Prozess: ein Zusammenspiel menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. Bruno Latours Actor-Network-Theory, die schon andernorts für das Theater fruchtbar gemacht wurde52, bietet hier eine sinnvolle methodische

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Rahmung, um das komplexe Wechselspiel zwischen Musik, Schauspiel, Dramaturgie, Regie und Bühne einerseits und die Interaktion zwischen Theatermusiker*in, Tontechniker*in und der Masse an Hard- und Software beim Aufnehmen, Speichern, Arrangieren, Wiedergeben, Bearbeiten und Einrichten von Sound beschreiben und analysieren zu können.53 Eine weitere sozialwissenschaftliche Perspektive, die in diesem Buch aufscheint, ist mit Etienne Wengers (und später Ailbhe Kennys) Frage nach Identität und Praxis einer kreativen Gruppierung (community of practice) umrissen.54 Die Arbeit und Erfahrung von Theatermusiker*innen ist nicht nur im Kontext der jeweiligen Produktionsgemeinschaft einer Inszenierung zu sehen, sondern auch hinsichtlich der community of musical practice, der sie angehören, sowie der Auseinandersetzung mit dieser community als identitätsstiftendem Moment. Die Frage nach Identität bei Theatermusiker*in ist auch deshalb nicht zu unterschätzen, da es sich einerseits um eine ungeschützte Berufsbezeichnung ohne vorgesehenen Ausbildungsweg handelt und die Arbeit von Theatermusiker*innen eben andererseits von außen (durch Publikum, Kritik, Akademie) kaum wahrgenommen wird. All dies kommt, mal explizit, mal implizit, in den Gesprächen zur Sprache und wird im Schlusskapitel noch einmal ausführlich reflektiert. Wie ich im Folgenden in der ersten These ausführen werde, ist heutige Theatermusik Aufführungsmusik, die nicht als Artefakt, sondern nur als kulturelle Praxis studiert und verstanden werden kann. Dies verortet sie in einem jüngeren Diskurs, der bisweilen mit dem Label new musicology55 versehen wird. Unter diesem Begriff versammeln sich z. B. kulturwissenschaftliche, gendertheoretische oder postkoloniale Analysen von Musik, häufig verbunden mit der Auffassung, dass Musik als Performance56 zu verstehen und zu untersuchen sei. Philip Auslander hat dies einmal auf die Formel gebracht: »music ›is‹ what musicians ›do‹«57 und hat außerdem mit seinem Konzept der »musical persona«58 einen wichtigen Impuls gesetzt, der gerade auch für szenisch integrierte Theatermusik (siehe These sechs) instruktiv ist. Musiker*innen wie Clemens Sienknecht, Jürg Kienberger, Paul Brody, Polina Lapkovskaja, Michael Wilhelmi, Matthias Krieg, Bernadette La Hengst, Thomas Kürstner und Sebastian Vogel – um nur einige zu nennen – stehen regelmäßig selbst musizierend auf der Bühne, und ihre Theatermusik ist untrennbar mit einem, je unterschiedlichen, Modus des Performens verbunden. Zu diesen Perspektiven gruppieren sich – mal als direkte Applikation, mal als ›Einschuss‹ ins Gewebe – Methoden der Untersuchung und Analyse, wie z. B. genetic research, Probenethnografien, Interviews,

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practice-as-research, Korrespondenzanalysen, musikwissenschaftliche Partitur- und Höranalysen, phänomenologische Untersuchung von Hörund Aufmerksamkeitserfahrungen und vieles mehr. Dies habe ich an anderer Stelle ausführlicher erörtert,59 aber es sei hier noch einmal ausdrücklich gesagt, dass der in diesem Buch gewählte Zugang über qualitative Interviews wiederum nur eine Form der Annäherung an heutige Theatermusik darstellt.60 Vor dem Hintergrund dieser sich ergänzenden, zum Teil auch überlappenden ›Pfade‹ in Richtung eines holistischeren Verständnisses von Theatermusik werde ich nun einige Thesen vorwiegend aus einer Rezipientenperspektive entwickeln. Dies mag als Folie dienen, vor der sich dann in den Interviews gewissermaßen der Blick hinter die Kulissen in seiner je individuellen Besonderheit abzuheben vermag, bevor ich abschließend wiederum Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Diskurs der Theatermusiker*innen über ihre Arbeit identifizieren und analysieren werde.

Zehn Thesen61

Die nun folgenden Thesen versuchen, eine Reihe allgemeinerer Entwicklungen und Tendenzen der Ästhetik und Entstehungsprozesse von Theatermusik vor allem im deutschsprachigen Theater pointiert aufzuzeigen. Dabei ist unvermeidlich, dass diese Thesen Abstrahierungen sind, die sich zwar durch viele Beispiele stützen lassen – kurze exemplarische Analysen mögen hierbei zur Veranschaulichung dienen –, für die aber natürlich immer auch Gegenbeispiele zu finden wären. These 1: Theatermusik ist Aufführungsmusik Mit dieser Formulierung greife ich eine These von Ursula Kramer auf, die in ihrem Sammelband Theater mit Musik die (historische) Schauspielmusik unter anderem von der Oper abgrenzt. Sie schreibt, dass mit der »Flüchtigkeit des Mediums Schauspielmusik« ihr Status eines »Aufführungstextes« korrespondiere – »im Gegensatz zum ›Werktext‹, wie ihn Goethe für die Oper realisiert sah«62. Dem ist meines Erachtens zuzustimmen, ich würde jedoch noch eine weitere Differenzierung anschließen: Die wenigen weithin bekannten Schauspielmusiken in der Geschichte dieser Gattung (allen voran Beethovens Musik zu Goethes Egmont [1809], Mendelssohns Musik zu Shakespeares Ein Sommer-

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nachtstraum [1826/43] und Griegs Musik zu Ibsens Peer Gynt [1876]) waren primär auf die dramatische Vorlage bezogen und von ihr inspiriert. Oft wurden sie für eine Reihe unterschiedlicher Inszenierungen herangezogen und entwickelten ein unabhängiges Eigenleben als Konzertstücke. Sie sind in dieser Hinsicht wesentlich stärker ›werkhaft‹ als heutige Theatermusik. Diese ist kaum mehr Musik zum Drama (und potenziell unabhängig von einer konkreten Inszenierung), sondern zumeist Aufführungsmusik – ephemer und unwiederholbar. Theatermusik ist heute in der Regel auf das Konzept einer Inszenierung maßgeschneidert, welche ihrerseits mal mehr und mal weniger auf einem dramatischen Text basiert. Diese Theatermusik beansprucht – mit Ausnahme einiger Demo-CDs, Websites, Hörproben auf MySpace und Spotify-Playlists – auch keine Autonomie.63 Die Werkhaftigkeit wird nicht nur in Bezug auf die Autonomie der Theatermusik, sondern auch hinsichtlich ihrer Gestalt häufig infrage gestellt. In gewisser Hinsicht handelt es sich bei Theatermusik um eine Musik als »Möglichkeitskonzept«64, die zu keinem Zeitpunkt zu einer finalen Fassung findet. Jede Aufführung artikuliert eine Möglichkeit in einem intentional definierten Spektrum von Musiken. Dieses Spektrum kann enger oder weiter gefasst sein – zentral ist aber, dass hier die Idee einer Potenzialität von Musik zum Ausdruck kommt, die gar nicht in einer ideal imaginierten Gestalt vorliegt oder gedacht wird, sondern sich Abend für Abend im Zusammenspiel zwischen Bühne, Musik und Zuschauern neu generiert. These 2: Theatermusik heute bestimmt den Entwicklungs- und Probenprozess von Inszenierungen fundamental mit So wie die Theatermusik häufig über eine größere Adaptabilität während der Aufführungsserie verfügt (siehe These 3), hat sich ihre Präsenz und Funktion auch im Entwicklungs- und Probenprozess gegenüber traditionelleren Arbeitsweisen verändert. In der Geschichte der Schauspielmusik gab es natürlich häufig Musik, die schon zu Beginn der szenischen Einstudierung eines Theaterstücks fertig war – mal, weil sie unabhängig entstanden war, oder eben in Bezug auf ein Stück z. B. als Auftragsarbeit komponiert wurde. Sie war aber meist nicht eng mit dem Inszenierungstext verwoben, sondern diente als – bisweilen recht austauschbare – Ouvertüre, Zwischenakts- oder Umbaumusik. Mit der kurzen Blüte des Melodrams in 19. Jahrhundert und dem Aufkommen des Tonfilms ab den 1930er Jahren und den darin vielfältig

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erprobten Techniken der Untermalung, Kommentierung und einer leitmotivisch und atmosphärisch sprechenden Musik durchdringen sich auch im Schauspiel Szene, Dialog und Musik immer enger – zumeist aber unter dem Diktat des Wortes. Im 20. Jahrhundert sah die Berufspraxis der Theatermusiker*innen häufig vor, dass sie – einem/r Filmkomponist*in nicht unähnlich – einer szenisch weitgehend fertigen Inszenierung erst spät im Probenprozess noch Musik hinzufügten. Hierbei ist sicher zu bedenken, was Heiner Goebbels immer wieder betont: Elemente, die spät zum Entwicklungsprozess hinzukämen, könnten nur noch illustrieren. Es sei eben »absolut notwendig«, dass bereits zu Beginn der Probenarbeit »möglichst alle der auch später bei den Aufführungen Verwendung findenden Mittel […] zur Verfügung stehen, damit man das Verhältnis der Elemente zueinander finden und entwickeln kann«.65 Heute ist es in vielen Produktionen Usus, dass Theatermusiker*innen vom ersten Probentag an mit auf der Probebühne sitzen, früh musikalische Ideen anbieten, in Echtzeit Sounds, Klangtexturen und Rhythmen produzieren und ebenbürtig an der Entwicklung der Inszenierung teilhaben. Manchmal ist die Musik sogar eine frühe zentrale Setzung für den weiteren Inszenierungsprozess: Paul Clark66 z. B. lieferte zu Beginn der Probenarbeit zu Katie Mitchells Romanadaption Waves (National Theatre, London, 2006) zwei CDs mit musikalischen Entwürfen ab, die in vielen Fällen zu atmosphärischen und rhythmischen Blaupausen für Szenen wurden.67 Der Sounddesigner der Produktion, Gareth Fry, beschreibt, wie dabei auch die frühe Arbeit mit Klangschichten und soundscapes für viele Szenen im wahrsten Sinne des Wortes den Ton vorgaben und der Gesamtrhythmus der Inszenierung so als eine Art Protopartitur entworfen wurde.68 Auch Lars Wittershagen69, der unter anderem seit vielen Jahren die Musik zu Sebastian Nüblings Inszenierungen macht, verbringt viel Zeit auf den Proben und spielt zu vielen Improvisationen und szenischen Versuchen der Schauspieler*innen eigene und fremde Musik ein – mal zur Unterstützung bei der Figurenfindung als eine Art Subtext, mal aber auch als Kontrapunkt, gegen den sich die Schauspieler*innen behaupten müssen. Auch wenn diese Musiken oft in der Inszenierung selbst nicht mehr zu hören sind, haben sie sich doch als unhörbarer Puls in die Szene und das Spiel der Darsteller*innen eingeschrieben.70 Ich möchte das an einem weiteren Beispiel vertiefen: Schon 1995 zeigte Regisseurin Karin Beier71 – damals gemeinsam mit dem 2012 ver-

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storbenen Musiker Frank Köllges –, dass sie Theatermusik nicht additiv, sondern konstitutiv denkt und verwendet. Ihre damals viel beachtete Inszenierung Ein europäischer Sommernachtstraum (Düsseldorfer Schauspielhaus 1995), die auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, basiert auf der zentralen Idee, ein multikulturelles Ensemble für die Produktion zusammenzustellen und alle Schauspieler*innen in ihrer jeweiligen Landessprache spielen zu lassen. Dieser Sommernachtstraum hat also einen italienischen Oberon und eine italienische Helena, eine britische Titania und Hermia, einen ungarischen Demetrius und Puck, einen russisch-israelischen Lysander und einen polnischen Zettel. Außerdem wirken deutsche, französische und bulgarische Darsteller*innen mit. Während die Haupthandlung weitgehend der Vorlage Shakespeares folgt, wurden größere Teile der Handwerkerszenen in Improvisationen neu erfunden und setzen sich humorvoll mit den unterschiedlichen Theaterkulturen und Spielweisen der beteiligten Akteur*innen auseinander: Grotowski vs. Commedia dell’arte, Stanislawki vs. Brecht. Musik spielt für diese Inszenierung eine konstitutive Bedeutung, da sie nicht nur die besonderen Welten Athens und des Waldes charakterisiert, sondern wesentlich die zentrale Konzeption der Inszenierung mitbestimmt und trägt. Beier assoziiert hier Liebesverwirrung mit Sprachverwirrung und liest Shakespeares Komödie auf inhaltlicher Ebene – inspiriert von Theorien Jan Kotts und Camille Paglias72 – als harsche, blutige, sexuelle und existenzielle Bedrohung von Identität durch die Launen der Natur und der Natur der Liebe. Auf ästhetischer Ebene präsentiert sie daher keine eskapistische Feenwelt, sondern eine wilde und raue Feier des Mediums Theater. Sie setzt dabei insbesondere auf das große affektive Potenzial paralinguistischer Kommunikation und macht außerdem Gebrauch von paratheatralen Spielformen wie Stummfilm, Karneval und Zirkus. Die Musik kaschiert dabei nicht einfach den Übergang von Athen in den Wald, etabliert nicht bloß den neuen Spielort, sondern charakterisiert die Figuren als Fellini’sche Clowns. Im Übergang vom rigiden Trommeln bürokratischer Juristen (ein chorischer Egeus, Vater von Hermia, siehe Abb. S. 20) zu einer bunten, schrägen Zirkuskapelle entpuppen sich melancholisch feenhafte Wesen. Im kahlen Einheitsbühnenbild von Florian Etti sind es daher allein die verspielten Kostüme von Maria Roehrs (siehe Abb. S. 20) und das Musizieren, die die Welt bedeuten: nicht Shakespeare’sche Wortkulisse, sondern Tonkulisse. Was die Inszenierung darüber hinaus aufhebt oder zumindest zur Dis-

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position stellt, ist die Idee einer Zweiteilung von Musik und Szene. Das Musizieren wird zum zentralen theatralischen Vorgang, die Trennung von Musikern und Schauspieler*innen ist, zumindest vorübergehend,

Am Athener Hof (Ensemble). Still aus der Übertragung von 3sat, 4. Mai 1996

Im Feenwald von Athen (Michael Teplitsky und Jost Grix). Still aus der Übertragung von 3sat, 4. Mai 1996

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suspendiert. Die Szene wird nicht von Musik begleitet, sondern aus ihr heraus entwickelt. Außerdem spielte Musik für den Entstehungsprozess der Produktion eine wichtige Rolle – auch wenn dies für das Publikum nicht unmittelbar evident ist: Im Zuge der Entwicklung dieses ungewöhnlichen Projekts mit einem sehr heterogenen Ensemble war das gemeinsame Musizieren unter Leitung von Frank Köllges ein zentraler Bestandteil der Ensemblefindung; ein wichtiges Instrument im gruppendynamischen Prozess und eine gemeinsame ›Sprache‹ jenseits einer gemeinsame Sprache.73 These 3: Die Digitalisierung erlaubt der Theatermusik, im Dialog mit der Inszenierung interaktiver und flexibler zu sein Seit der Einführung des MIDI-Standards (Musical Instrument Digital Interface) und von digitalen Samplern vor etwa dreißig Jahren sind die Möglichkeiten, digital aufzunehmen, zu bearbeiten, abzuspielen, zu speichern, in Echtzeit verschiedenste Parameter zu manipulieren, virtuelle Instrumente anzusteuern und eben jegliche Klänge zu sampeln und komponierbar zu machen, exponentiell gewachsen. Gleichzeitig ist eine breite Auswahl an Instrumenten und Interfaces entstanden – Keyboards, Saiten-, Blas- und Schlaginstrumente sowie Touchscreens –, die MIDI-tauglich gemacht wurden.74 Es ist außerdem möglich geworden, live entstehende Bild- und Tonereignisse sowie Bewegungen über Grenzflächenmikrofone und tracking cameras in Programmen wie MaxMSP und Jitter unmittelbar mit digitalen Ton-, Bild- oder Lichtsignalen zu verschalten. All das hat dazu geführt, dass unter anderem auch die Theatermusik, die nicht von Musikern*innen ›live‹ gespielt wird (was häufig aus finanziellen Gründen nicht infrage kommt), eine stärkere ›liveness‹ erhält, indem sie viel stärker auf die subtilen Variationen in Tempo, Pausen, Tonfall und Dynamik, in denen sich Aufführungen der gleichen Inszenierung von Abend zu Abend unterscheiden, reagieren kann, statt als fixierte Aufnahme immer gleich abgespielt werden zu müssen.75 These 4: Die Funktionen der Theatermusik haben sich erweitert Eine Konsequenz aus diesen ersten drei Beobachtungen ist, dass sich zum einen die Funktionen, die Musik in Theaterinszenierungen erfüllt, verändert und erweitert haben, sich Musik zum anderen, wie bereits eingangs erwähnt, oft nicht mehr auf bestimmte Funktionen reduzieren lässt.

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Die Idee der Funktionalität ist dennoch nach wie vor ein wirkmächtiger Ansatz, den es zu rekapitulieren gilt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Funktionssysteme vor allem in Bezug auf Filmmusik entwickelt worden sind, wo die Musik in aller Regel nachgeordnet einem bereits weitgehend fertigen visuellen Artefakt hinzugefügt wird. Lange Zeit ist auch Schauspielmusik grundsätzlich als dienende und reagierende Kunst verstanden worden: prima il teatro, poi la musica könnte man pointiert sagen. Wie bereits kurz erwähnt, gibt es historisch zahlreiche Beispiele, bei denen Musik zwar fester Bestandteil von Theateraufführungen war, aber kaum mit der eigentlichen Bühnenhandlung verbunden wurde, sondern als eher zufällige Zwischenaktmusik oder austauschbare Ouvertüre, als ornamentales Ritual oder pragmatischer Lückenfüller fungierte.76 Und diejenige Musik, die tatsächlich auf eine konkrete Inszenierung und als ihr integraler Anteil konzipiert war (und wie wir sie natürlich auch heute noch in vielen Theaterinszenierungen wiederfinden), war und ist zweckgebunden und nachgeordnet. Dies gilt sowohl in Bezug auf die Chronologie ihrer Entstehung, als auch auf die Hierarchie ihrer künstlerischen Bedeutung. Diese Schauspielmusik ist, um eine kulinarische Metapher zu bemühen, weder das Fleisch, das Gemüse noch die Kartoffeln, sondern eher das geschmacksverstärkende Salz, die dekorierende Petersilie oder das Mehl, mit dem die Sauce eingedickt wird. Sie verstärkt, paraphrasiert oder widerspricht gelegentlich dem, was bereits vor ihr da ist: Dialoge, dramatische Handlung, szenische Vorgänge und theatrale Bedeutung. Die unterschiedlichen Funktionen zu differenzieren und zu ordnen, war in der Filmmusik-Forschung und vor allem seit Zofia Lissas Ästhetik der Filmmusik (Berlin 1965) immer wieder Thema. Den jüngsten Versuch macht Dana Pflüger verbunden mit dem Anspruch, auch Ansätze aus der Opern- und Schauspielmusikforschung mit in ihr Funktionssystem aufzunehmen.77 Wie andere Autor*innen auch, unterscheidet sie dabei grundsätzlich zwischen »dramatische[n] Funktionen«78 (Claudia Bullerjahn nennt diese »Funktionen im engeren Sinne«79) und »Metafunktionen«80. Die dramatischen Funktionen sind werkspezifisch und fallen dabei in zwei große Gruppen: diegetisch und extradiegetisch: Diegetisch: Mindestens ein Teil des Inhalts der Musik oder der Begründung für ihr Vorhandensein kann aus der Welt der Figuren abgeleitet werden.

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Extradiegetisch: Die Musik ist für niemanden in der Welt der Figuren wahrnehmbar, auch nicht ihrem Inhalt nach, bezieht sich jedoch auf diegetische Vorgänge; sie und die in ihr enthaltene Botschaft sind allein an das Publikum adressiert.81 Diegetische Musik im Sinne Pflügers kommentiert dabei nicht die Handlung für den Zuschauer, sondern berichtet davon82 (wobei sich beides mischen kann): Sie übersetzt a) Unhörbares in Musik, indem sie z. B. »Einblicke in die innere Gefühlswelt der Figuren«83 gibt, vermittelt b) äußerlich Wahrnehmbares, wie Natur, Kultur (Schauplatz, Milieu, etc.) oder Figuren, und c) innerlich Subjektives (Gefühle, Stimmungen, Unbewusstes, emotionale Identifikation, ein gutes Bauchgefühl oder ein geradezu somatisches Unwohlsein).84 Sie kann außerdem Geräusche oder Bewegung in Musik übersetzen (mickey-mousing wäre ein extremes Beispiel), und es kann sich um drameninhärente Musik handeln: Musik, die innerhalb der Diegese bzw. der Handlung aufgeführt wird.85 Extradiegetisch im Sinne Pflügers wird Musik vor allem in struktureller und inhaltlicher Hinsicht wirksam.86 Musik kann die Struktur und Dramaturgie einer Aufführung unterstreichen oder mit erzeugen: Sie unterstützt die Erzeugung dramatischer Höhepunkte, Wendepunkte, Spannung, ›toter Zeiten‹ oder diskrepanter Informiertheit. Sie beeinflusst unsere Zeitwahrnehmung, markiert oder verschleiert Segmentierungen, verdeutlicht Wiederholungen und Variationen oder fungiert sogar kleinteilig als eine Art ›akustische Zeichensetzung‹ für Texte oder Gesten. Inhaltlich kann uns die Musik ebenfalls Informationen über Figur und Situation geben, bzw. diese ›färben‹87, und das Publikum für eine bestimmte Lesart konditionieren. Die Idee solcher Funktionen, gerade in Bezug auf ihre emotionale und affektive Wirkungsmacht, hat eine lange Tradition. So schreibt schon Gotthold Ephraim Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767), Musik könne im Schauspiel bei allen Zuschauern die gleichen Empfindungen hervorrufen. Es sei eine besondere Qualität, sagt er über Johann Friedrich Agricolas Musik zu Voltaires Semiramis, »daß in dieser seiner Komposition niemand etwas anders gehört hat als ich«.88 Was nun neben solchen Aufgaben der Erzeugung von Atmosphäre, emotionaler Nuancierung oder erzählerischer und dramaturgischer Konturierung hinzukommt sind sogenannte Metafunktionen89. Hier unterscheidet Pflüger zwischen genre- und zeitspezifischen, intertextuellen90, binnentextuellen, sinnlich-persuasiven und ökonomischen Metafunktionen.91 Metafunktionen beziehen sich weniger auf den kon-

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kreten Film, sondern die Rezeptionssituation insgesamt: z. B. wenn die Musik im Stummfilm-Kino die Projektorengeräusche kaschierte. Vergleichbares leiste(te)n unspezifische Umbaumusiken, eine festliche Ouvertüre oder Hintergrundmusik im Theaterfoyer für das Schauspiel. Interessant sind jedoch vor allem auch die ökonomischen Metafunktionen, die z. B. Zielgruppenspezifizität erzeugen oder Vermarktung durch Transfereffekte bewirken sollen. Dies gab es sicherlich auch in der Vergangenheit, wenn mit Kompositionen eines bekannteren Komponisten für eine Inszenierung geworben wurde oder durch ein Lied oder Musikstück auf eine später stattfindende Marktplatz-Aufführung aufmerksam gemacht werden sollte. Im Zeitalter von multimedialen Metatexten (wie Videotrailer auf sozialen Internetplattformen) sind diese Funktionen noch wichtiger geworden: Musik dient im Rahmen der heute weit verbreiteten Internetwerbung für bestimmte Inszenierungen immer stärker als kultureller Code, der schneller und prägnanter als nur Bilder und Texte den jeweiligen Stil der Inszenierung einfangen soll. Sieht man sich beispielsweise aktuelle Trailer verschiedener Theater von unterschiedlichen Inszenierungen desselben Klassikers an, ist es nicht zuletzt die Musik (meist ein prägnantes Stück aus der Theatermusik), die schnell einen Eindruck von der jeweiligen Ästhetik und Lesart vermittelt. Lessings Emilia Galotti liefert hier ein gutes Beispiel. Am Theater Heilbronn92 (Regie: Martina Eitner-Acheampong, ein(e) Theatermusiker(in) wird interessanterweise nicht genannt, Premiere 16. November 2013) hat man ein Stück der deutschen Independent-Band The Notwist gewählt, das mit seiner minimalen Elektronik- und Störgeräusch-Musik trendig, cool und ein bisschen ›nerdig‹ daherkommt. Gemeinsam mit den heutigen Kostümen und einer Emilia mit Lola rennt-Frisur erwartet man hier eine heutige, auf Zeitgeist und Psychologie setzende Inszenierung. Bei Herbert Fritschs Oberhausener Inszenierung93 von 2011 (Musik: Otto Beatus) hört man vor allem Mozart und sieht bunt kostümierte und heftig geschminkte Post-Rokoko-Figuren. Man ahnt, dass es sich hier um eine überdrehte Gesellschafts-Farce handelt, in der eine zynische Macht sich ihren wilden Spaß mit den Ideen der Liebe und der Moral erlaubt. Der Trailer zu Andrea Breths berühmter Burgtheater-Inszenierung von 200294 (Musik: Elena Chernin) hingegen, innerhalb dessen sich die Inszenierung mit Hilfe eines Pressezitats als »perfektes Schauspielertheater« anpreist, fällt durch die völlige Abwesenheit von Musik auf. Diese Videovorschau, die auch als einzige die Namen der Schauspie-

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ler*innen bei ihrem Erscheinen einblendet, setzt ganz auf große Darsteller*innen – keine Aktualisierung, kein radikales Konzept, keine besondere Zielgruppe werden hier deutlich, sondern – so scheint es – das pure Interesse an einem starken Stück dramatischer Literatur. Ein weiteres Phänomen fällt – unter anderem – unter die Metafunktionen: Die Verbindung von Theaterinszenierungen mit bekannten Sängern*innen oder Bands aus dem Bereich der Popularmusik. Einer der Wegbereiter*innen für diesen Trend war sicher Robert Wilson, der in einer ganzen Reihe von Theaterarbeiten95 auf die Songs und die Theatermusik von Größen wie Tom Waits96, Lou Reed97, Rufus Wainwright98 oder Herbert Gröneymeyer99 setzte. Peter Zadeks und Heiner Müllers Projekte mit den Einstürzenden Neubauten100, Friederike Hellers kontinuierliche Zusammenarbeit mit der ›Hamburger Schule‹-Band Kante, bzw. ihrem Gitarristen und Sänger Peter Thiessen101 oder Jette Steckels Arbeiten102 wären als weitere Beispiele zu nennen. Diese Formen der Zusammenarbeit sind vielfältig und ästhetisch nicht über einen Kamm zu scheren. Aber gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie alle nicht auf eine rein dienende Rolle von ›unheard melodies‹ zielen, sondern die Musik hier meist ein sehr eigenständiger, bisweilen auch sperriger Partner sein soll und eine Eigengewichtigkeit behaupten darf. Gorbman bezeichnet solche Musik (sie bezieht sich auf Filmmusik) passenderweise als »part of the collaboration that is the film«103. Und Jon Pareles spricht in Bezug auf Robert Wilson sogar von Kollisionen mit dessen Musikern, skizziert dann aber am Beispiel von Waits und seiner Texterin Kathleen Brennan einen harmonischen Dialog von Musik und Szene: Mr. Wilson’s collaborations with rock songwriters have sometimes been more like collisions, as the straightforwardness and concision of rock clash with Mr. Wilson’s dream logic and slow-motion timing. But Woyzeck is his third collaboration with Mr. Waits and Ms. Brennan, and they have reached a détente that’s somewhere near a reimagined surrealist cabaret. Mr. Waits has always had a Kurt Weill streak in his music, subverting pretty melodies with arrangements that creak and clank. Mr. Wilson enjoys the combination of the everyday and the inexplicable, and Mr. Waits’s ballads still let him take his time.104 Oft resultiert also diese Auseinandersetzung mit Musiker*innen mit einer starken, etablierten Handschrift und einer gewachsenen Anhän-

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gerschaft in einer hybriden Ästhetik und Form mit einer ebensolchen Zuschauerschar, die sich z. B. aus Abonnent*innen des Berliner Ensembles, Schulklassen, die Goethes Faust durchnehmen, und Herbert Grönemeyer-Fans zusammensetzt. Diese resultierenden Inszenierungen nutzen so die Musik zur Erweiterung und Generierung neuer Publikumsschichten, aber die Musik lässt sich dabei kaum je auf so eine ökonomisch-demografische Taktik reduzieren. Meist fordert die Präsenz etablierter musikalischer Akteur* innen dem Theater auch neue Dramaturgien und Spielformen ab, führt die vermeintliche Gattung ›Sprechtheater‹ an ihre Grenzen und erschöpft sich nicht in einer funktionalen Vertonung und ›Untermalung‹ von Schauspielszenen, sondern behauptet einen ästhetischen Eigenwert. Dies drückt sich auch darin aus, dass aus diesen Kollaborationen – anders als sonst üblich für heutige Theatermusik – oft auch Tonträger entstehen. So hilfreich diese Unterscheidungen und die resultierende Funktionssystematik sind und so sehr sie in der Kreation und Rezeption von Theatermusik nach wie vor Relevanz besitzen, erscheinen sie dennoch auch problematisch, weil sie vereinfachend eine ›Wenn – dann‹-Relation suggerieren, die so nicht immer gegeben ist. Das liegt erstens daran, dass von einer klaren Trennung der Musik von dem anderen Bühnengeschehen nicht immer auszugehen ist. Zweitens sind die vermeintlich klar kalkulierbaren oder realisierbaren Konsequenzen und Effekte einer bestimmten Musik zu einer bestimmten Szene nicht zuletzt aufgrund der liveness der theatralen Vorgänge höchst unbeständig und fragil. Und drittens basieren die Annahmen über Funktionen und Wirkungen auf verallgemeinerbaren Aspekten von Musik innerhalb eines bestimmten Kulturkreises und übergehen dabei häufig die individuellen Hörgewohnheiten und die musikalischen Sozialisationen der einzelnen Zuschauer*innen. Natürlich ist es möglich, Musik so auszuwählen und einzusetzen, dass eine weitgehend homogene Reaktion in einem bestimmten Kontext mit großer Wahrscheinlichkeit vorherzusagen ist, aber häufig genug kann Musik eben auch eine völlig divergierende Aufnahme finden und zu sehr unterschiedlichen Lesarten einer Szene führen. Thomas Betzwieser schlägt in einem verwandten Zusammenhang105 eine Alternative zum Funktionsbegriff vor: die Idee der Motivation von Musik. Dies suggeriert eine interessante Perspektivverschiebung, wie Pflüger herausarbeitet: Obwohl ›Funktion‹ und ›Motivation‹ von Musik auf den ersten Blick fast austauschbar wirken, verbergen sich dahinter doch ganz

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unterschiedliche Herangehensweisen. Bei der Motivation wird primär auf die Handlung geschaut und auf die dramaturgischen Methoden, mit denen das Vorhandensein von Musik argumentativ legitimiert werden kann. Der Fokus liegt also auf dem textlichen Gehalt und in welcher Weise durch diesen Kontinuitäten zwischen Sprechen und Singen hergestellt werden. Bei den Funktionen dagegen wird nach der Zusatzqualität gefragt, die die Musik in einem bestimmten Moment für die Handlung hat.106 Dieser Begriff ›Motivation‹ ist also eine sinnvolle Ergänzung, aber auch er bindet die Musik stets an einen vorgängigen Text, an ein Konzept von Handlung und Figur zurück. Oft genug fehlen diese im zeitgenössischen Theater, werden Collagen und Performances gezeigt, steht Musik am Anfang und nicht am Ende eines Entwicklungsprozesses und entzieht sich der Einordnung in eine Taxonomie. Vertiefen möchte ich eine der bereits genannten Eigenschaften – die Intertextualität von Musik – da mir dieser Aspekt in zeitgenössischer Theatermusik in gesteigertem Maße präsent und sinnfällig zu sein scheint. These 5: Theatermusik webt intermusikalische Netze aus Verweisen und Zitaten In Zeiten nie dagewesener Verfügbarkeit von Musikaufnahmen quer durch Gattungen, Stile und Kulturen und einer historisch einmaligen Omnipräsenz von Musik in unserer Lebenswelt sehen sich Theatermusiker*innen einem schier unendlichen Fundus an Musik und Klängen gegenüber.107 Dabei kann man zwei Tendenzen in der Theatermusik beobachten: Zum einen gibt es den Versuch, den noch nicht gehörten Klang, die noch nicht kodifizierte Musik zu finden (siehe nächste These), zum anderen, sich bewusst direkter oder indirekter Zitate anderer Musik zu bedienen. Mit dem Verweis auf bestimmte Idiome, konkrete musikalische Kulturen, einzelne Stücke und/oder Musiker*innen werden so komplexe Bedeutungs- und Assoziations-Netze geschaffen. Dafür bietet sich der von Ingrid Monson in Bezug auf Techniken der Jazz-Improvisation geprägte Begriff einer Intermusikalität108 an. Ähnlich wie bei Julia Kristevas Begriff der Intertextualität, der hier natürlich Pate steht, geht es um die dialogische Beziehung von musikalischen Zeichen und Impulsen zueinander und zum Publikum. Musik kann, wie kaum ein anderes Theatermittel, als emotionales Speichermedium, als Fingerzeig auf eine bestimmte musikalische Praxis, als metonymisches Kürzel für

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eine Lebenswelt und einen Konnotationsraum fungieren. Wenige Töne von Jimi Hendrix’ »Star Spangled Banner« z. B. reichen den allermeisten Zuschauer*innen, um das soziopolitische Klima der Woodstock-Ära heraufzubeschwören. In Michael Thalheimers vielbesprochener Inszenierung von Emilia Galotti109 (Deutsches Theater Berlin 2000) ist es neben der knappen Strichfassung, der stilisierten Körpersprache und artistisch-rasanten Sprachbehandlung gerade auch die Musik von Bert Wrede110, die die Inszenierung prägt und unverwechselbar macht. Es handelt sich dabei um die radikale Setzung, fast die gesamte Inszenierung mit einem ikonischen Stück Filmmusik zu begleiten – »Yumei’s Theme« aus dem Film In the Mood for Love von Wong Kar-Wai (Musik: Shigeru Umebayashi, 2000). Durch dieses intermusikalische Zitat – das er vielfältig bearbeitet und variiert – assoziiert Wrede das gesamte Drama mit dieser kühl stilisierten, tragisch melancholischen Filmstudie über eine Liebessehnsucht. Der nicht enden wollende Walzertakt des Musikstücks seinerseits evoziert eine Stimmung der Dekadenz, der Fatalität, eines sich unaufhörlich drehenden Karussells der Gefühle und der Intrigen.111 Auch in Sebastian Nüblings multinationaler Uraufführung von Simon Stephens’ Three Kingdoms (Musik: Lars Wittershagen, Münchner Kammerspiele 2011) wird mit bekannten Versatzstücken gearbeitet. Hier singt der estnische Schauspieler Risto Kübar als enigmatischer Trickster u. a. eine geraunte Version von »La Paloma«. Bekannt geworden ist dieser Schlager durch Hans Albers und Freddy Quinn und gehört fest in den Kanon der Seemanns- und Hafenlieder. Die Untiefen einer Kriminalgeschichte an diversen Häfen und Wasserwegen werden hier ironisch mit Matrosenromantik verbunden und grundieren, so Christine Dössel, »diese expressive Ermittlung in Sachen Europa mit einer wunden Melancholie«.112 Anne Fritsch geht in ihrer Beschreibung noch einen Schritt weiter: Nie werden die zugrunde liegenden Themen Menschenhandel und Zwangsprostitution verharmlost, nie rutscht der Abend in die Betroffenheitsschiene ab. Dafür sorgt schon der wunderbar ätherische Risto Kübar als Trickster: Er geistert durch die Aufführung, singt Chris Isaaks ›Wicked Game‹ mit derselben Zartheit ins Mikro wie Hans Albers’ ›La Paloma‹, umspinnt Inspektor Stone und versetzt alle und alles in eine Stimmung der Zerbrechlichkeit, der Verletzlichkeit. Die Idee Europas kann so falsch nicht sein, wenn sie derartige Energien freizusetzen vermag.113

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Lars Wittershagen gelingt es dabei, seine Playbacks zu diesen bekannten bis abgedroschenen Songs so zu arrangieren, dass sie erkennbar, aber dennoch fremd erscheinen. Außerdem schälen sie sich kompositorisch fast unmerklich aus subtiler Szenenbegleitung heraus, werden zu eigenständigen Gesangsnummern, aus denen dann eine Basslinie, ein einzelner Akkord in die folgende Szene überhängt; ein Echo, das über den Figuren schwebt, in ihren Köpfen weiterzuklingen scheint. Mit solchen und vielen anderen Formen von Intermusikalität zieht die Theatermusik zusätzliche Ebenen in das Theatererlebnis: Diedrich Diederichsen hat dies am Beispiel des Popsongs als direktes Zitat in Theaterinszenierungen einmal durchgespielt und kommt zu einer Reihe von Erkenntnissen: Der vom Theater längst geahnte Umstand, dass Musik nicht einfach eine weitere, eventuell korrespondierende Kunst ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Musik ist ein Stück Welt, genauso wie Architektur, das man aber, im Gegensatz zur Architektur, über Zitat und Nachbildung hinaus noch wesentlich weiter ausbauen kann. Musik beginnt als Welt, als Zitat, als akustische Fotographie [sic], und verwandelt sich dann in etwas anderes, ein Gemälde. Die meiste Musik der Gegenwart, zumal die Pop-Musik, ist beides, Welt, Tapete, unbelebtes Objekt, und dennoch hervorgebracht, rückführbar zu kaputten Intentionen und seltsamen Leidenschaften und Fetischismen. Von da aus könnte man sie hereinführen ins Theater und dann ganz woanders hin. Mit einer vertrauten Funktion beginnen und dann dieser rein funktionalen Musik Autonomie verleihen.114 Die Musik kann, wenn sie intermusikalisch verwendet und gehört wird, nicht mehr nur sinnvoll auf die Bühnenfiktion und den Spieltext bezogen werden, sondern etabliert Parallelwelten, die einer eigenen Binnendramaturgie gehorchen und mit dem sonstigen szenischen Tun als Assoziation, Echo, ironischer Gegenklang, Genre- oder Milieuzitat verbunden sind. These 6: Theatermusik ist Klangforschung und Arbeit am Rhythmus Heutige Theatermusik findet, wie eingangs erwähnt, weder in der Musikwissenschaft noch in der Musikkritik nennenswerte Beachtung, was neben den bereits genannten Gründen unter anderem daran liegen mag, dass hier kompositorisch andere Prioritäten gesetzt werden als z. B. auf

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den Festivals für Neue Musik in Darmstadt, Witten oder Donaueschingen. Die Theatermusik stellt sich selten in den unmittelbaren Kontext oder die Traditionslinien der Neuen Musik (auch wenn die Theatermusiker*innen diese oft durchaus rezipieren, zum Teil sogar studiert haben und bisweilen ihre eigene Musik auch als experimentell verstehen). In ihr werden weniger der »Materialstand« im Sinne Adornos zur Disposition gestellt oder die Grenzen kompositorischen Denkens neu vermessen.115 Die musikalische Entwicklung der Theatermusik findet also im Großen und Ganzen weniger auf der Ebene harmonischer, formaler und melodischer Neuerungen statt. Stattdessen ist Theatermusik besonders im Bereich der Entdeckung und Collagierung von Klangmöglichkeiten innovativ. Sie interessiert sich für die Materialität von Klang116 und seine mikro- und makrorhythmische Strukturierung.117 Das Interessante und Untersuchenswerte an Theatermusik sowie ihr »Gehalt«118 finden sich daher eher in der fortwährenden Suche nach klanglichen und rhythmischen Texturen, die Räume konturieren, unsere Zeitwahrnehmung lenken, szenische Wirkung in einem hochkomplexen Wechselspiel mit den vielen anderen Medien des Theaters atmosphärisch aufladen und so insgesamt eine je eigene Erfahrungswelt eröffnen. Hierfür spielen Faktoren wie eine genaue Soundeinrichtung und Lautsprecherplatzierung eine große Rolle, ebenso wie die Klangforschung, mit der traditionellen und virtuellen Instrumenten neue oder andere Sounds entlockt werden, und das sensibel auszutarierende Spiel mit Unbestimmtheit und Bestimmtheit musikalischer Äußerungen, die mal vereindeutigen sollen, mal wiederum eine mögliche, vorschnelle Zuweisung verwischen können. Zum einen geht dies mit einer teilweisen Abkehr von traditionellen Kompositions- und Notationsverfahren zugunsten von »Klangorganisation«119 einher. Großmann benennt dies in einem verwandten Zusammenhang so: Auch Hugo Riemanns Konzept der Funktionstonalität kann als ein solches Regelwerk entwickelter Schriftlichkeit verstanden werden, pointiert könnte hier vom musikalischen ›Riemann-Universum‹ gesprochen werden, das für die Logik musikalischen Gestaltens und Hörens immensen Einfluss erlangte.120 Zum anderen gehört dazu auch, dass heutige Theatermusik im Vergleich zu früher die Unterscheidung zwischen Musik und Geräusch zunehmend aufhebt: Teils spielt sie mit der Geräuschhaftigkeit von Musik,

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teils mit der Musikalität bzw. Rhythmizität von Geräuschen, und hält oft beides in einer liminalen Schwebe. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Produktion 20000 Meilen unter den Meeren nach Jules Verne (München 2015).121 Das Unterseeboot, auf dem große Teile der Handlung spielen, wird vor allem durch eine bühnenfüllende, von steam punk und Orchestrion inspirierten Maschine evoziert, die gleichzeitig Teil der Handlung, bestimmendes Element des Bühnenbildes und Hauptquelle der Theatermusik ist, die Geräusch und musikalischen Klang ineinander integriert.122 Neben dem Schauwert dieses von den Musikern Greulix Schrank und Taison Heiß123 realisierten Meta-Instruments, veränderte es auch die Rolle der Theatermusik im kreativen Prozess dieser Produktion: Die Musik reagierte nicht unterstützend auf ein Stück, sondern entstand im Vorfeld. Dann erst suchte das kreative Team eine passende Geschichte und Erzählform: Die Arbeit zu dieser Produktion begann mit einer von uns so genannten ›Musikmaschine‹. Sie besteht zum Teil aus Instrumenten, die für zurückliegende Vorstellungen gebaut und entwickelt wurden. Kreativität, Neugier und Spaß am Experimentieren trieben Taison Heiß und Greulix Schrank an, immer neue mechanische und elektronische Klang- und Noise-Körper zu erfinden und zu bauen. So entstand aus Laserharfe, Magnetstössel-Klavier, Kreiselpumpen-Glockenspiel, Ballasttank-Trommeln, Orchestrophon, Linearmotoren-Luftorgel, Helmholtz-Induktionsklöppel, LichtringRelais, Pauken-Pneumatik, Kraftkreis-Vibraphon, Energie-Klangschalen und anderen verrückten Gegenständen und Gerätschaften die so genannte ›Musikmaschine‹. Als diese bereits imposante Dimensionen angenommen hatte, haben wir uns auf die Suche nach einer Geschichte gemacht, in der dieses Wunderding mitspielen konnte. Das hieß, die gesuchte Story musste mit dem Forschergeist der beiden Maschinenerfinder zu tun haben, fantastisch und spannend sein und zugleich ein Potential enthalten für essentielle Fragen, die uns heute beschäftigen sollten. So kamen wir auf ›20.000 Meilen unter den Meeren‹ von Jules Verne. Und die Musikmaschine bekam die Rolle des berühmten U-Boots ›Nautilus‹.124

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These 7: Die Performativität des Musizierens und die Liminalität des Musikerdarstellers bestimmen immer häufiger die Dramaturgien und Spielästhetiken Vorproduzierte Theatermusik, die aus der Tonloge eingespielt wird, begleitet immer noch ein Gros der Inszenierungen. Dennoch ist ein wachsendes Interesse der Theatermacher*innen am Live-Musizieren auf der Theaterbühne zu beobachten. Dabei kehren die Theatermusiker*innen, sei es alleine oder in unterschiedlichen Formationen, nicht in ihren historisch angestammten Ort, den Orchestergraben, zurück, sondern werden zu Bühnenmusiker*innen, die nicht selten in einen Grenzstatus eintreten: Sie sind mal Musiker*in, mal Darsteller*in, verkörpern teils Musiker*innen, teils fiktive Figuren, und nicht selten all dies zugleich. Die Zuschauer*innen oszillieren dann möglicherweise in ihrer Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung wie bei einem Vexierbild. Den schon erwähnten Sänger-Darsteller Risto Kübar beschreibt Petra Hallmayer in Nüblings Produktion von Orpheus steigt herab (Münchner Kammerspiele 2012) folglich als »Zwitterwesen« und konstatiert an ihm eine »eigentümliche flirrende Faszination«.125 Dieser Eindruck hat sicher maßgeblich etwas mit der androgynen Präsenz von Kübar zu tun, aber eben auch mit seinem Spielstil zwischen kommentierendem Sänger und agierender Figur. Auch in Amélie Niermeyers Inszenierung von Was ihr wollt (Residenztheater München 2014) gibt es so eine liminale Figur, deren besonderem Reiz Sabine Leucht in ihrer Kritik gleich den ersten Paragrafen widmet:

Der Star des Abends trägt Sockenhalter zu Pumps und ein Unterhemd in dänischen Kinderklamottenfarben. Und er trägt seine Gitarre. Ian Fisher ist nicht nur der Narr in Amélie Niermeyers Münchner Inszenierung von ›Was ihr wollt‹. Er rührt auch als Musiker und Sänger im Alleingang deren sehnsuchtsvollen Grundton an: Mit Textzeilen aus Shakespeare-Sonetten, Neil-Young-Schmelz und der Entspanntheit des Folk-Barden ist der Singer-Songwriter aus Missouri Herzschrittmacher und Pulsmesser der Kreuz- und Quer-Verliebten im Stück. Von ihm leihen sich die nach einem Schiffsunglück an die Küste Illyriens gespülte Viola und später ihr Bruder Sebastian den gleichen grün-rot-karierten Pulli nebst Hose (worauf Fisher aufs Neueinkleiden verzichtet) – und wie er auf etliche Demütigungen nur mit leichtem Augenverdrehen reagiert, ist hinreißend.126

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Gegenüber dieser komödiantischen und etwas genderfluiden Setzung eines Musiker-Narrens ist der Musiker Matthias Krieg in Felix Rothenhäuslers Bremer Inszenierung Faust hoch zehn127 (2014) eine zunächst unauffällig und nicht weiter hervorgehobene Figur auf der Bühne: Mit umgehängter E-Gitarre steht er seitlich auf der leeren Bühne vor einem Laptop und webt fortwährend dichte rhythmisch-klangliche Teppiche unter die ins Publikum gesprochenen, von Faust’schen Themen inspirierten Texte der acht Performer*innen (siehe Abb. unten). Als vibrierende, tanzende, gestikulierende, stampfende und emphatisch sprechende Reihe bilden die Schauspieler*innen gemeinsam mit dem Musiker eine pulsierende musikalische Einheit, eine dichte polyrhythmische Sprachskulptur. Krieg wippt dabei sichtbar mit, ›groovt‹ gemeinsam mit den anderen Darsteller*innen und zieht schon deshalb immer wieder die Blicke auf sich, weil sein Musikerhabitus als Gitarrist im andauernden Widerspruch zu den – durch einen MIDI-Wandler abgerufenen – symphonisch-elektronischen New-Age- und Techno-Klängen steht, die so gar nicht nach E-Gitarre klingen.

Musiker Matthias Krieg und Ensemble in Faust hoch zehn am Theater Bremen. Foto: Jörg Landsberg

Es ist diese immer wieder schwer festzumachende andersartige Präsenz von Live-Musiker*innen auf der Theaterbühne, die Regisseur*innen zunehmend interessiert. Wenn ein Musiker wie Ian Fisher nicht mehr von seiner klar umrissenen Rolle als ›Musiker‹ geschützt wird und noch

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nicht – etwa auf der Basis einer Schauspielausbildung – in den nächsten ›schützenden Hafen‹ als professioneller Bühnendarsteller eingelaufen ist, verändert das auch den Status der Theatermusik: Ist das diegetische oder nicht-diegetische Musik? Singt hier der Musiker oder die Figur? Sind Musik und Szene hier überhaupt noch voneinander zu trennen? All diese Fragen sind je nach Kontext immer wieder neu zu beantworten, aber dass man sie sich stellt, ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Bei Karin Beier, von der weiter oben bereits die Rede war, hat sich durch die Zusammenarbeit mit dem Musiker Jörg Gollasch128 das Interesse an der Liminalität zwischen Musik und Szene, zwischen Musiker*in und Schauspieler*in in den letzten Jahren noch verstärkt: War das Musizieren beim Sommernachtstraum noch im Rahmen einer letztlich relativ traditionellen Theaterinszenierung aufgehoben und interpretierbar, findet in ihren Kölner Arbeiten wie Das Werk. Im Bus. Ein Sturz (2010) oder Demokratie in Abendstunden (2011), aber auch in der Hamburger Produktion Schiff der Träume (Deutsches Schauspielhaus 2015) eine radikalere und experimentellere Anwendung. Hier rücken die Materialität, Performativität und Bedeutungsoffenheit des Musizierens an sich in den Vordergrund – inspiriert u. a. vom weiten Musikbegriff John Cages und den Ideen des instrumentalen Theaters bei Mauricio Kagel. In Demokratie in Abendstunden129 etabliert Beier zunächst eine lose szenische Rahmung, nämlich die Situation einer Orchesterprobe, die als Mikrokosmos sozialer Spannungen und Revolte fungiert (wie schon in Fellinis gleichnamigem Film von 1979, der hier Pate stand). Die Inszenierung schwankt zwischen reflektierenden Diskursen über die (Un)möglichkeit von Protesten, die Ästhetik von Revolte, den Platz der Demokratie in der Kunst usw. einerseits und Momenten purer Performance andererseits: mehrdeutig, sinnlich, überwältigend, affizierend. In diesem Beispiel geht Beier also einen Schritt weiter: Das Stück, das noch mit einer konkreten fiktionalen Situation begonnen hat (diese wird über etliche Minuten durch einen Orchesterwart, Michael Wittenborn, etabliert, der den Orchesterprobensaal – siehe Abb. S. 35 – einrichtet, Instrumente herbeibringt, usw.), löst sich in eine Kakophonie aus Tönen und Rhythmen, eine Collage skandierter Slogans auf und resultiert in einer zunehmenden Verwüstung der Bühne in ein Meer aus Notenblättern und literweise Farbe – siehe Abb. S. 35). Auf der Bühne agieren Konzertmusiker*innen und Schauspieler*innen ununterscheidbar. Alle machen alles: Sprechen, Darstellen, Instrumente spielen, Singen, Actionpainting usw. Die Szene wird zum Happening, und die Musik – und damit meine ich auch: die Rhythmen der Texte, die Klanglichkeit

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des raschelnden Papiers und der tropfenden Farbe, die visuellen Rhythmen von Licht, Kostüm und Bewegung – wird zum eigentlichen Gegenstand der Wahrnehmung. Es findet eine Entgrenzung dessen, was wir als Musik empfinden, statt. Daraus entsteht eine ästhetische Erfahrung, die wir nicht ohne Weiteres semantisieren können und die nicht in ihrer Bedeutung aufgeht.130

Still aus der hauseigenen Videoaufzeichnung von Demokratie in Abendstunden, Bühne: Johannes Schütz, Schauspielhaus Köln 2011.

Still aus der hauseigenen Videoaufzeichnung von Demokratie in Abendstunden, Bühne: Johannes Schütz, Schauspielhaus Köln 2011.

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These 8: Theatermusik inszeniert oft das Hören selbst Was Matthias Rebstock seit einiger Zeit in Bezug auf das Neue Musiktheater untersucht131 – nämlich, dass hier Aspekte des Hörens selbst zum Gegenstand von Komposition und Inszenierung werden –, ist auch in Bezug auf viele Theatermusiken festzustellen. Stücke wie This is how you will disappear von Gisèle Vienne (Avignon 2010) mit einer an der Erträglichkeitsgrenze ausgesteuerten Noise-Musik von Stephen O’Malley und Peter Rehberg attackiert uns in unseren Wahrnehmungsgewohnheiten, macht uns die physiologischen, psychologischen und kognitiven Bedingungen unseres Hörens – in diesem Falle schmerzhaft – bewusst. Daniela Barth beschreibt das so:

Auf Kampnagel werden Ohrstöpsel verteilt […]. Flugzeugmotorentinitus [sic]. Krachend, hämmernd, pfeifend: Ein blechern monotoner Rhythmus regiert ab jetzt den Pulsschlag – ob Ohrstöpsel oder nicht. Dieser eindringliche Klang ist die ohrenbetäubende wiewohl höchst antagonistische Hauptschlagader eines herbstlich entblätterten Waldes, der solcherart naturalistisch im Theater dargestellt quasi den Atem raubt. […] Da sitzt man nun, fast taub und schnappatmend.132 Viele Produktionen von Katie Mitchell133 hingegen führen uns mit ihrer Trennung von szenischer Aktion und Soundtrack, der parallel als Foley-Effekt erzeugt wird, und der gleichzeitigen Synthese beider im live über der Bühne projizierten Filmbild (siehe Abb. S. 37) unser elementares Bedürfnis vor, Visuelles und Akustisches miteinander zu verschmelzen und kausal zu verknüpfen.134 Analog zu dem u. a. von Michel Chion135 ausführlich beschriebenem Phänomen der Akusmatik – das Hören von Klängen, deren Quelle wir nicht sehen – präsentiert Mitchell eine Art ›Visumatik‹: Szenen, deren Ton wir nicht hören, während gleichzeitig, sichtbar unabhängig davon, Klänge erzeugt werden, die wir gerne mit dem Gesehen zusammendenken, uns aber ebenfalls von der ganz eigenen Theatralität der Soundeffekt-Erzeugung in den Bann schlagen lassen. Versuchsanordnungen wie diese thematisieren unser Hören, konfrontieren uns mit unseren Gewohnheiten und Erwartungen und stellen sich der im Alltag üblich gewordenen kontinuierlichen sonification entgegen136, deren primäre Funktionen die Übermittlung von Daten und Signalappelle an unsere Aufmerksamkeit sind. Zur Unterscheidung

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Still aus dem Video Sound Design for … some trace of her (Filmmaker: Pinny Grylls), in dem das Filmbild eines brennenden Buches mit dem Bild der mit Papierknäueln knisternden Foley-Artistin überlagert ist.137

helfen die, wenn auch etwas schematischen, drei Formen des Hörens von Michel Chion138: Er differenziert unser Hören in causal listening, mit dem wir vor allem die Quelle eines Geräusches auszumachen suchen, semantic listening, bei dem die Bedeutung von Sprache oder Klang im Vordergrund stehen, und reduced listening, bei dem der Klang an sich in seiner Beschaffenheit fokussiert wird. Während viele Alltagsklänge eben an das ursächliche und semantische Hören appellieren und dabei unmissverständlich und nicht selbstreferenziell sein sollen, spielt Theatermusik im deutschsprachigen Theater heute nicht selten mit der Irritation und Bewusstwerdung des Hörens und der auditiven Aufmerksamkeit.139 Hieran schließt sich unmittelbar These neun an. These 9: Das Theater unterdrückt nicht länger sein ›Rauschen‹, sondern musikalisiert und inszeniert es Während ›noise‹ seit einiger Zeit vor allem im englischsprachigen Kontext kulturwissenschaftlich und insbesondere auch in Bezug auf Musik und Theater diskutiert wird140, haben die äquivalenten Begriffe im Deutschen (Lärm, Rauschen, Geräusch) weniger Konjunktur.141 Dabei

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werden in der Theaterpraxis Geräuschhaftigkeit, akustische Störungen, klangliche Unreinheit, Ablenkung, Diffusion usw. immer häufiger genutzt und thematisiert. Sie treten an die Seite – bisweilen sogar an die Stelle – von traditionellen Klang- und Höridealen der Klarheit, des Wohlklangs einerseits und der konzentrierten und fokussierten Versenkung andererseits. So beobachtet Katharina Rost, dass sich viele Arbeiten des Gegenwartstheaters mit diesem historisch und kulturell dominanten Aufmerksamkeitsideal beschäftigen, indem sie es zersetzen, übertreiben, unterlaufen oder verunmöglichen. Sie weisen somit auch implizit darauf hin, dass diese Risiken, Gefahren, Minderungen, Störungen, Überlagerungen etc. schon immer Teil des Zuhörprozesses sind und eine Konzeption von störungsfreier, allumfassender und allein auf das Verstehen gerichteter Aufmerksamkeit nicht nur ein konstruiertes Ideal und eine restriktive Norm darstellt, sondern darüber hinaus auch eine Verkürzung der Weisen, wie auditive Wahrnehmung verläuft und erfahren wird.142 Die Zeiten, in denen man mit dem théâtrophone per Telefon einer Aufführung lauschen konnte143, oder in denen Tonaufzeichnungen von Theaterinszenierungen live erstellt und als Schallplatte verkauft werden konnten144, sind damit nicht nur aus mediengeschichtlichen, sondern vor allem auch aus sonisch-ästhetischen Gründen vorbei. Das Theater versteht sich zunehmend auch als komplexes Klangereignis, in dem das vermeintlich ›Störende‹ – z. B. die hörbaren ›Jahresringe‹ einer exzessiven oder regional geprägten Stimmbiografie, akustische Eigenheiten vorgefundener Aufführungsorte, die Geräusche von Akteuren und Zuschauern in bestimmten Räumen usw. – nicht als Störung, sondern im Sinne Roland Barthes’145 als identitätsstiftende und Präsenz erzeugende Eigenheit und Körnigkeit der Sonosphäre empfunden und genutzt werden.146 Ich würde hierbei allerdings noch weiter gehen und mit ›Rauschen‹ nicht nur konkrete Klangereignisse bezeichnen – also das, was R. Murray Schafer »the sounds we have learned to ignore«147 nennt –, sondern ›Rauschen‹ auch als eine Metapher und einen theoretischen Impuls dahingehend zu verstehen, Klang und Geräusch im Theater zu problematisieren und zu hinterfragen. Das Theater ist ein idealer Ort, um Reibungen zu thematisieren, spielerisch zu erproben, ja sogar: sie zu genießen. Der Begriff des ›Rauschens‹ in seiner Mehrdeutigkeit ist hier besonders

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angemessen: ›Rauschen‹ verstanden als konkretes Geräusch, als Überlagerung, Verschleierung oder Störung verschiedener Frequenzen (›weißes Rauschen‹) und als Rausch im Sinne ekstatischer Hingabe, bzw. im romantischen Sinne als Entgrenzung und Entdifferenzierung der Wahrnehmung. In diesem Sinne bezeichnet ›theatre noise‹148 Phänomene, bei denen das Rauschen zwischen Sender und Empfänger, zwischen Klang und Bedeutung, zwischen Auge und Ohr, zwischen Äußerung und Stille und zwischen Hören und Zuhören theatral fruchtbar gemacht wird. These 10: Die Entgrenzung der Theatermusik führt zu einem Spiel mit musikalischen bzw. theatralen Dispositiven Christopher Small (1998) und andere haben eindrucksvoll die Rituale untersucht, mit denen wir unterschiedlichen Kunstgattungen und Genres begegnen. Unser Theater-, Opern-, Konzert-, Ballett- oder Rockkonzertbesuch ist im Goffmann’schen Sinne ein jeweils anderer »Rahmen«149 und bringt ein komplexes Netz an Regeln, Verhaltensweisen, Kräfteverhältnissen, Erwartungshaltungen, Rezeptionsgewohnheiten und Bedeutungsmustern mit sich. Indem Theatermacher*innen in jüngerer Zeit immer häufiger mit diesen Rahmen experimentieren, sie zitieren und ineinander verschachteln, spielen sie mit unseren Verhaltensnormen und Erwartungen und bringen diese ins Wanken. Theaterinszenierungen, die stark in den Bereich eines Konzerts gehen – wie z. B. die Liederabende von Franz Wittenbrink oder Erik Gedeon, die staged concerts von Nico and the Navigators, Sasha Waltz und Heiner Goebbels oder einige der Kreationen Christoph Marthalers oder Thom Luz’ –, vermischen konzerthafte Momente mit Theater und Tanz und adressieren dabei verschiedene Zielgruppen, Rezeptionshaltungen und Wahrnehmungsrituale. Wann hat man im Theater zuletzt rhythmisch mit den Fußspitzen gewippt? Wann hat man die Augen geschlossen und nur zugehört? Wann hat man Licht als musikalisches Element erlebt? Das Verschwimmen musikalischer Formate und Dispositive150 verändert hier grundlegend unsere ästhetische Erfahrung der Inszenierung. Eine Einordnung fällt schwer: Ist das Theatermusik? Musiktheater? Tanztheater? Oder bekommen wir unser Bedürfnis nach einer Schublade lediglich vorgeführt, ohne dass dieses befriedigt wird? In Christoph Marthalers und Titus Engels Universe, Incomplete (Ruhrtriennale 2018) basierend auf Kompositionen von Charles Ives erwartet man vielleicht aufgrund der Inszenierungs-Biografie des Regisseurs ein Theaterprojekt mit Musik. Der Abend beginnt jedoch damit,

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dass weit entfernt in der riesigen Bochumer Jahrhunderthalle einige Darsteller*innen an einem Kiosk einfach nur Schlange stehen. Dazu hören wir etwa 15 Minuten lang den Beginn von Ives’ Universe Symphony (1911–1928) mit live gespieltem Schlagwerk, das kaum sichtbar über den Köpfen des Publikums verteilt ist.151 Ein vielstimmiges, polyrhythmisches Raumklangerlebnis, das sich bereits allen konventionellen Aufführungsformaten entzieht. Später kommt Text dazu, einzelne Choreografien, performance-artige Rituale, Chorsätze und immer wieder Bewegungen und Positionierungen kleinerer und größerer Instrumentalensembles, zum Teil in Orchestergarderobe, zum Teil in Kostüm. Man kann die Aufführung als Konzert, Klanginstallation, Tanztheater, Performance oder Theater lesen; man kann die Musik als Kunstmusik, Unterhaltungsmusik, Theatermusik oder gar Filmmusik hören, obwohl kein Film zu sehen ist.152 Es ist ein vielstimmiges Gebilde aus all diesen Elementen mit einer musikalischen Dramaturgie, die aber keine klassische Musiktheater-Dramaturgie ist. Das Musikalische findet hier wie auch sonst vielfach im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater nicht allein in der Musik statt, sondern durchzieht als klangliche, rhythmische, musikstrukturelle Sensibilität die ganze Aufführung. Dies ist nicht nur eine ästhetische Entscheidung, sondern auch ein kognitiver Transfer, eine Aktivierung anderer kreativer und rezeptiver Potenziale.153 Die Entgrenzung der Theatermusik bewirkt daher, dass Theater anders erfunden und erzeugt wird, und dass wir es anders wahrnehmen und andere Formen der Sinnstiftung in Gang setzen.

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Endnoten

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Altenburg, Detlef: »Das Phantom des Theaters: Zur Schauspielmusik im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert«, in: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hrsg.): Stimmen – Klänge– Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen 2002, S. 183–208. 2 Mottl, Heidi: »Schattendasein im Rampenlicht – Schauspielmusik ein wenig beachtetes Genre«, Deutschlandradio Kultur, Sendung am 11. März 2012. 3 Kramer, Ursula (Hrsg.): Theater mit Musik. 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen, Bielefeld 2014, S. 10. 4 Altenburg, Detlef: »Von den Schubladen der Wissenschaft. Zur Schauspielmusik im klassisch-romantischen Zeitalter«, in: Mauser, Siegfried/Schmierer, Elisabeth (Hrsg.): Handbuch der musikalischen Gattungen 17/1 und 17/2: Gesellschaftsmusik – Bläsermusik – Bewegungsmusik / Kantate – Ältere geistliche Musik – Schauspielmusik, Laaber 2009, S. 239–250, hier: S. 240. 5 Kramer: Theater mit Musik, S. 10 6 Siehe Altenburg: »Von den Schubladen der Wissenschaft«, S. 239. 7 Gorbman, Claudia: Unheard Melodies: Narrative Film Music, London 1987. 8 Gorbman zeichnet diese Idee kritisch nach: »The classical narrative sound film has been constituted in such a way that the spectator does not normally (consciously) hear the film score« (ebd., S. 31). Es ist schwer eine*n Urheber*in für das Bonmot zu finden, aber bereits in den 1970er Jahren wehrt sich der berühmte Filmkomponist Max Steiner dagegen: »There is a tired old bromide … that a good film score is one you don’t hear. What good is it if you don’t notice it?« (zit. in: MacDonald, Laurence E.: The Invisible Art of Film Music: A Comprehensive History, Lanham, Maryland 2013, S. 377). 9 Siehe Altenburg: »Von den Schubladen der Wissenschaft« und Altenburg, Detlef und Jensen, Lorenz: »Schauspielmusik«, in: Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2nd edition, vol 8, Kassel 1998, S. 1035–1049. 10 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999. 11 Siehe: Oddey, Alison: Devising Theatre, London 1994; Bicât, Tina/Baldwin, Chris: Devised and Collaborative Theatre: A Practical Guide, Ramsbury; Marlborough 2002; Heddon, Deirdre/Milling, Jane: Devising Performance. A Critical History, Basingstoke 2006. 12 Siehe: Englhart, Andreas: Das Theater der Gegenwart, München 2013. 13 Siehe Christopher Balmes Definition: »Schauspieltheater meint das Medium, in dem das geschriebene Drama zur Aufführung gelangt« (Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. 5. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2014, S. 22, Hervorhebung im Original). 14 Siehe u. a. Altenburg: »Von den Schubladen der Wissenschaft« und Altenburg und Jensen: »Schauspielmusik«. 15 Altenburg/Jensen: »Schauspielmusik«, S. 1035. 16 Ebd. 17 Man muss nur auf die Anfänge des europäischen Theaters in der Antike schauen, die, wie auch Altenburg und Jessen konstatieren, bereits von einer engen Verbindung von Musik und Szene, von rhythmischem Deklamieren und Singen gekennzeichnet waren. Das Antike Theater, auf das sich so viele Theaterformen der Geschichte berufen, ist selbst schon kaum sinnvoll als ›Sprechtheater‹ zu bezeichnen. 18 Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 22, Hervorhebung im Original. 19 Ebd. 20 Siehe u. a. die Interviews mit Bert Wrede und Peer Baierlein in diesem Band. 21 Siehe auch: Roesner, David: »Libretto, Drama und Musik«, in: Englhart, Andreas/ Schößler, Franziska (Hrsg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Drama (Band 10), Amsterdam 2019, S. 535–548. 22 Siehe ausführlicher: Altenburg/Jensen: »Schauspielmusik«. 23 Siehe: Bullerjahn, Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Augsburg 2001, S. 75ff. 24 Siehe zu beiden Begriffen, die immer wieder auch synonym verwendet wurden, ausführlich: von Massow, Albrecht: »Funktionale Musik«, in: Eggebrecht, Hans Heinrich (Hrsg.): Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 157– 163 und Hinton, Stephan: »Gebrauchsmusik«, in: Eggebrecht, Terminologie der

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Musik, S. 164–174. In beiden Artikeln wird auch der stark wertende Charakter der Begriffsverwendung, besonders prominent bei Theodor W. Adorno, deutlich. 25 Eggebrecht, Hans Heinrich. »Funktionale Musik«. In: Archiv für Musikwissenschaft, 30 (1973), H. 1, S. 1–25. Siehe auch: Bullerjahn: Grundlagen der Filmmusik, S. 53ff. 26 Ebd. 27 Stern, Dietrich: »Musik und Film: Aneignung der Wirklichkeit. Filmkomposition zu Beginn des Tonfilms«, Dissertation, Technische Universität Berlin, 1981, S. 1f. 28 Eisler, Hanns: »Hörer und Komponist [I]«, in: Eisler, Hanns: Musik und Politik: Schriften 1948–1962, hrsg. v. Günter Mayer, Leipzig 1982, S. 51–64, hier: S. 58. 29 Zit. in: Zenk, Christine: Die Musik der Laufstege: Merkmale der Modenschaumusik, Berlin & Münster 2014, S. 55. Das Eisler-Zitat stammt aus: Eisler: Musik und Politik, S. 184. 30 Stern: »Musik und Film«, S. 5. 31 Zenk: Die Musik der Laufstege, S. 58. 32 Barthelmes, Barbara: »Experimentieren, Basteln, Gestalten, Inszenieren. Wandlungen des künstlerischen Selbstverständnisses«, in: de la Motte-Haber, Helga (Hrsg.): Musikästhetik (= Handbuch der systematischen Musikwissenschaft, Band 1), Laaber 2004, S. 330–352, hier: S. 338. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 341. 35 Lehmann, Harry: »Ästhetischer Gehalt im Widerstreit von absoluter und relationaler Musik. Eine Erwiderung«, in: Neue Zeitschrift für Musik 1 (2014), S. I–XVII, hier: S. III. 36 Siehe das Kapitel »Theatermusik als Netzwerk und téchnē« zur formativen Bedeutung von Digitalisierung für heutige Theatermusik. 37 Lehmann, Harry: »Relationale Musik«, http://www.harrylehmann.net/begriffe/#relationale-musik (zuletzt aufgerufen am 10. September 2018). 38 Ebd. 39 Siehe auch das Kapitel »Theatermusik als relationales Musizieren«. 40 Auch der umgekehrte Fall ist denkbar und immer wieder vorgekommen: Sowohl historisch als auch heute gibt es Beispiele von Theatermusik, die zu Konzertmusik umgearbeitet wurde oder als eigenständige Audio-Aufnahme verbreitet wird und dann im Grund als autonome Musik rezipiert bzw. konsumiert werden kann. 41 Stern konstatiert analog für die Filmmusik: »Filmmusik […] ist keine Gattung der Musik (auch als Gattung ließe sie sich nicht aus diesem Zusammenhang herauslösen), sondern sie stellt einen Anwendungsbereich der Musik dar, einen Bereich, in dem die verschiedensten Formen, Gattungen, Sprach- und Erkenntnismöglichkeiten in neue Zusammenhänge gebracht werden.« (Stern: »Musik und Film«, S. 5). 42 Gorbman verwendet hier den griffigen Terminus der »mutual implication« (Unheard Melodies, S. 15., Hervorhebung im Original). 43 Siehe z. B. den Film Baby Driver (Edgar Wright, 2017), bei dem fast durchgehend ikonische Popsongs zu hören sind, zu denen viele Szenen geradezu choreographiert wurden, auch wenn es sich nicht um einen Tanzfilm handelt. 44 Siehe u. a.: Ernst, Klaus: »Zur Theorie der Schauspielmusik in der deutschen Aufklärung. Die Grundlegung einer Ästhetik der Schauspielmusik bei Johann Christian Gottsched (1700-1766)?«, in: Mauser/Schmierer (Hrsg.): Handbuch der musikalischen Gattungen, S. 251–257; Kramer, Ursula (Hrsg.): Theater mit Musik. 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen, Bielefeld 2014; Lucchesi, Joachim: »Zur Funktion und Geschichte der zeitgenössischen Schauspielmusik und zu einigen Aspekten der schauspielmusikalischen Praxis«, Dissertation, Berlin (Humboldt-Universität), 1977; Meier, Hedwig: Die Schaubühne als musikalische Anstalt: Studien zur Geschichte und Theorie der Schauspielmusik, Bielefeld 1999; Rienäcker, Gerd: »Schauspielmusik im Zeichen einer Musica teatralis – Thesen zu einem Problem«, in: Gesellschaft für Theatergeschichte e.V. (Hrsg.): Musik zu Shakespeare Inszenierungen, Berlin 1999, S. 13–22; Scheitler, Irmgard: Schauspielmusik: Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit. Zwei Bände, Tutzing 2013, Taylor, Millie: Theatre Music and Sound at the RSC. Macbeth to Matilda, London 2018.

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45 Scheitler: Schauspielmusik. 46 Eine Perspektive, die ich in diesem Buch vernachlässigen werde, findet sich im englischsprachigen Raum in Form von Handbüchern für die theatermusikalische Praxis. Diese geben zwar Einblick in Arbeitsweisen und konzeptionelle Überlegungen zur Schauspielmusik, sind aber ausschließlich auf die englischsprachige Theaterlandschaft bezogen und größtenteils einem konventionellen, psychologisch-dramatischen Theaterbegriff verpflichtet, bei dem der Realismus der Bühnenhandlung unhinterfragtes Ziel des Sound Designs ist. Siehe dazu u. a.: Barker, Paul: »Music and Composition«, in: Bicat, Tina/Baldwin, Chris (Hrsg.): Devised and Collaborative Theatre: A Practical Guide, Ramsbury, Marlborough 2002, S. 75–87; Bruce, Michael: Writing Music for the Stage. A Practical Guide for Theatermakers, London 2016; Kaye, Deena/LeBrecht, James: Sound and Music for the Theatre, New York 1992, Leonard, John A.: Theatre Sound, New York und London 2001; Walne, Graham: Sound for the Theatre, London und New York 1990. Katharina Rost hat dazu bereits einen sehr hilfreichen Aufsatz vorgelegt, in dem sie diese Handbücher vergleicht: Rost, Katharina: »The Shaping of ›Good Sound‹ in Handbooks for Theatre Sound Creation«, in: Theatre and Performance Design 2, (2016), H. 3–4, S. 188–201. 47 Siehe u. a. Sanio, Sabine, »Aspekte einer Theorie der auditiven Kultur. Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft«, in: www.kunsttexte.de (zuletzt aufgerufen am 9. Mai 2018); Volmar, Axel/Schröter, Jens: Auditive Medienkulturen: Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld 2013; Pinch, Trevor/Bijsterveld, Karin (Hrsg.): The Oxford Handbook of Sound Studies, Oxford 2012; Schulze, Holger (Hrsg.): Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008; Sterne, Jonathan: The Sound Studies Reader, New York 2012; Voegelin, Salomé: Listening to Noise and Silence. Towards a Philosophy of Sound Art, New York und London 2010. 48 Großmann, Rolf: »Die Materialität des Klangs und die Medienpraxis der Musikkultur. Ein verspäteter Gegenstand der Musikwissenschaft?«, in: Volmar/Schröter (Hrsg.): Auditive Medienkulturen, S. 61–77, hier: S. 68. 49 Ebd., S. 64. 50 Ernst, Wolfgang: »Zum Begriff des Sonischen (mit medienarchäologischem Ohr erhört/ vernommen)«, PopScriptum. (= Schriftenreihe herausgegeben vom Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität zu Berlin), 10 (2008), Das Sonische – Sounds zwischen Akustik und Ästhetik, https://www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst10/pst10_ernst.htm#5, (zuletzt aufgerufen am 15. August 2018]. 51 Ebd. 52 Siehe u. a. Ernst, Wolf-Dieter: »Akteur-Netzwerke und Performance-Analyse«, in: Bairlein, Josef et al. (Hrsg.): Netzkulturen: kollektiv, kreativ, performativ, München 2011, S. 57–80; Wagner, Meike/Ernst, Wolf-Dieter: »Networking«, in: Bay-Cheng, Sarah/Kattenbelt, Chiel/Lavender, Andy/Nelson, Robin (Hrsg.): Mapping Intermediality in Performance, Amsterdam 2010, S. 173–184. 53 Siehe dazu ausführlicher das Kapitel »Theater als Netzwerk und téchnē«. 54 Siehe Wenger, Etienne: Communities of Practice: Learning, Meaning, and Identity, Cambridge 1998 und Kenny, Ailbhe: Communities of Musical Practice, London 2016. 55 Siehe u. a. Kramer, Lawrence: »Musicology and Meaning«, in: The Musical Times 144 (2003), H. 1883, S. 6–12; McCreless, Patrick: »Contemporary Music Theory and the New Musicology. An Introduction«, in: The Journal of Musicology 15 (1997), H. 3, S. 291–296. 56 Siehe u. a. Cook, Nicholas: Beyond the Score: Music as Performance, New York 2013; Small, Christopher: Musicking: The Meanings of Performing and Listening, Hanover 1998 und die konzise Zusammenfassung dieser Perspektive in Fritsch, Melanie, »Musik als Performance«, in dies.: Performing Bytes. Musikperformances der Computerspielkultur, Würzburg, S. 92–111. 57 Auslander, Philip: »Music as Performance: The Disciplinary Dilemma Revisited«, in: Ernst, Wolf-Dieter/Niethammer, Nora/Szymanski-Düll, Berenika/Mungen, Anno (Hrsg.): Sound und Performance. Positionen, Methoden, Analysen, Würzburg 2015, S. 529–541, hier: S. 541.

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Auslander, Philip: »Musical Persona: The Physical Performance of Popular Music«, in: Scott, Derek B. (Hrsg.): The Ashgate Research Companion to Popular Musicology, Farnham, Surrey; Burlington, VT 2009, S. 303–315. 59 Siehe: Roesner, David »›Gequietsche, Gewaber oder Gewummer‹. Methodische Herausforderungen bei der Analyse von Theatermusik«, in: Balme, Christopher/ Szymanski-Düll, Berenika (Hrsg.): Methoden der Theaterwissenschaft, Forum Modernes Theater, Tübingen 2019 (im Erscheinen). 60 Andere Herangehensweisen sollen innerhalb des von der DFG geförderten Forschungsprojekts »Theatermusik heute als kulturelle Praxis« entwickelt oder angestoßen werden. Siehe auch den Blog zum Projekt: https://theatermus.hypotheses.org/ (zuletzt aufgerufen am 9. August 2018). 61 Die folgenden Textabschnitte basieren zum Teil auf einer früheren Publikation bei der online-Zeitschrift etum, die nach wenigen Ausgaben eingestellt und aus dem Netz genommen wurde. 62 Kramer: Theater mit Musik, S. 10. 63 Im Gegensatz dazu gibt es im Bereich der Filmmusik eine Vielzahl von Veröffentlichungen des »Original Motion Picture Soundtrack« als CD/Audio Download, mitunter sogar als Noten zum Nachspielen – populär waren hier z. B. die Klavierbearbeitungen von Die fabelhafte Welt der Amelie (Yann Tiersen) und Das Piano (Michael Nyman). 64 Melanie Fritsch verwendet diesen Begriff in Bezug auf Videospielmusik, wo er eher auf die Möglichkeiten der Spieler*innen abhebt, im Rahmen des Gamedesign Musik spielerisch hervorzubringen bzw. zu gestalten (siehe Fritsch, Performing Bytes, S. 97). 65 Goebbels, Heiner: Ästhetik der Abwesenheit: Texte zum Theater, Berlin 2012, S. 152. 66 Siehe das Interview mit Paul Clark in diesem Band. 67 Siehe Roesner, David: Musicality in Theatre – Music as Model, Method and Metaphor in Theatre-Making, Farnham 2014, S. 252. 68 Ebd., S. 254. 69 Siehe das Interview mit Lars Wittershagen in diesem Band. 70 Siehe auch Roesner, David: »Die Playlist als Inszenierung. Ein Portrait des Theatermusikers Lars Wittershagen«, in: Theater der Zeit/Beilage ›Zuspiel‹, 6 (2005), S. 14–15; Roesner, David: »The Politics of the Polyphony of Performance: Musicalization in Contemporary German Theatre«, in: Contemporary Theatre Review 18 (2008), H. 1, S. 44–55. 71 Siehe das Interview mit Jörg Gollasch in diesem Band. 72 Siehe Kott, Jan: Shakespeare Our Contemporary, Garden City, N.Y. 1964; Paglia, Camille: Sex and Violence, or Nature and Art, London 1995. 73 Dass dies kein Einzelfall ist, kann man immer wieder in Duska Radosavljevićs Buch The Contemporary Ensemble (London 2013) nachlesen, wo in vielen ihrer Interviews mit Theatermachern die Musik als ein wesentlicher Aspekt der Ensemblearbeit und des kreativen Prozesses genannt wird. So entstehen z. B. durch chorisches Singen, musikalische Improvisationen oder gemeinsames Trommeln Formen intensivierter gegenseitiger Wahrnehmung, ein nuanciertes Timing oder Aufeinander-Einstimmen, das auch und gerade jenseits von sprachlicher Kommunikation funktioniert. 74 Siehe zum Vergleich Millie Taylors detaillierte Studie zum Einzug der Elektronik und später Digitalität in der Royal Shakespeare Company: »Electronics, Sound and Fury at the RSC«, in: Taylor: Theatre Music and Sound, S. 93–132. 75 Im Extremfall – hiermit experimentiert z. B. das Theater der Klänge in Düsseldorf seit etlichen Jahren – kann die Musik sogar erst durch den Bewegungsvorgang auf der Bühne ausgelöst und bei jeder Vorstellung im Rahmen vorgegebener Algorithmen neu hervorgebracht werden. Die Bühne wird dabei zum Instrument, mittels derer die Darsteller Klang und Video ›improvisieren‹ (siehe Lensing, Jörg U.: »From Interdisciplinary Improvisation to Integrative Composition: Working Processes at the Theater der Klänge«, in: Rebstock, Matthias/Roesner, David [Hrsg.]: Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol 2012, S. 155–168). 76 Gegen diese Formen von »Beliebigkeit« (Scheitler: Schauspielmusik, S. 225) hebt sich besonders prominent sowohl Lessings als auch Scheibes Forderungen nach

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einer »werkspezifischen Schauspielmusik« (Altenburg und Jensen: »Schauspielmusik«, S. 1041) ab, die sich, so Scheibe, »auf den Inhalt oder die Beschaffenheit« des Schauspiels zu beziehen habe (zit. nach: Ebd., S. 1042). 77 Pflüger, Dana: Musik und Handlung. Die Funktionen der Musik in Oper, Film und Schauspiel mit einer exemplarischen Betrachtung von Albert Lortzings Werken, Bern 2018, S. 148. Pflüger integriert in diesem Modell eine ganze Reihe existierender Modelle, die auch an anderer Stelle bereits reflektiert und synthetisiert wurden, aber jeweils nur in Bezug auf Film. Siehe auch Bullerjahn: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, S. 69–74 und Kreuzer, Anselm: Filmmusik in Theorie und Praxis, Konstanz 2009, S. 97–240. 78 Pflüger: Musik und Handlung, S. 148. 79 Bullerjahn: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, S. 69–74. 80 Pflüger: Musik und Handlung, S. 148. Viele der unterschiedenen Funktionen können sich natürlich überlappen bzw. ergänzen. 81 Ebd., S. 127. 82 Ebd., S. 134. 83 Ebd., S. 135. 84 Ebd., S. 140. 85 Ebd., S. 142. Diese kann wiederum in unterschiedlicher Weise, divergierend oder identisch, hörbar gemacht werden, was Pflüger noch genauer ausdifferenziert. Normalerweise wird ›diegetische Musik‹ nur in diesem letzten Sinne verwendet: als Musik, die in der Erfahrungswelt der Figuren tatsächlich präsent ist. 86 Ebd., S. 128. 87 Vgl. ebd., S. 132. 88 Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, Frankfurt am Main 1986 [1767], S. 137. 89 Pflüger: Musik und Handlung, S. 119–126. oder Bullerjahn: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, S. 67. 90 Siehe meine nächste These. 91 Siehe Pflüger: Musik und Handlung, S. 119–126. 92 Siehe Theater Heilbronn: Trailer Emilia Galotti, https://www.youtube.com/ watch?v=quhEAvzak34 (zuletzt aufgerufen am 26. Januar 2019). 93 Siehe Theater Oberhausen: Trailer Emilia Galotti, https://www.youtube.com/ watch?v=AOHTzYMpdLs (zuletzt aufgerufen am 26. Januar 2019). 94 Siehe Burgtheater Wien: Trailer Emilia Galotti, https://www.youtube.com/ watch?v=sXWxbPKEaDc (zuletzt aufgerufen am 26. Januar 2019). 95 Er selbst nennt diese Inszenierungen wahlweile »operas« oder »art musicals«, dann aber auch wieder »play« oder »comedy« (siehe https://www.robertwilson. com, zuletzt aufgerufen am 23. August 2018). Es handelt sich sicher in allen Fällen nicht um ›typische‹ Theatermusik, aber eine Betrachtung in diesem Kontext scheint mir, gerade auch aufgrund der Impulse auf andere Theaterregisseur*innen und Theatermusiker*innen, sinnvoll und gerechtfertigt. 96 The Black Rider am Thalia Theater Hamburg 1990, Alice am Thalia Theater Hamburg 1992, Woyzeck am Betty Nansen Teatret Kopenhagen 2000. 97 Time Rocker, Thalia Theater Hamburg 1996, POEtry, Thalia Theater Hamburg 2000. 98 Shakepeare’s Sonnets, Berliner Ensemble 2009. 99 Leonce und Lena, Berliner Ensemble 2003, Faust I & II, Berliner Ensemble 2015. 100 Andi, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 1987, Hamlet/Maschine, Deutsches Theater Berlin 1989. 101 Kante hat 2015 mit In der Zuckerfabrik (Hook Music) sogar eine CD mit Theatermusiken veröffentlicht, auf der neben eigenen Theatersongs auch Lieder von Paul Dessau und Tom Waits spielen. Sie machen so, sagt Thorsten Gräbe, »eine Traditionslinie der Theatermusik deutlich, die Kante mit diesem gelungenen Album fortführen« (»Lieder der Elefanten«, FAZ, 16. Februar 2015). 102 Romeo und Julia am Thalia Theater Hamburg 2014, Antigone am Burgtheater 2015 mit Anja Plaschg (von Soap & Skin) und Anton Spielmann (von 1.000 Robota). 103 Gorbman: Unheard Melodies, S. 12. Meine Hervorhebung. 104 Pareles, Jon: »Woyzeck as a Normal Guy Who Gets Jealous«, The New York Times, 31. Oktober 2002.

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Theatermusik – eine Standortbestimmung

105 Betzwieser, Thomas: Sprechen und Singen: Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper, Stuttgart 2002, S. 194ff. 106 Pflüger: Musik und Handlung, S. 24, Hervorhebung im Original. 107 Siehe hierzu das Interview mit Paul Clark, der diesen Aspekt explizit aufgreift. 108 Ingrid Monson definiert »intermusicality« als »a way to begin thinking about the particular ways in which music and, more generally, sound itself can refer to the past and offer social commentary« und fragt damit »how music functions in a relational or discursive rather than an absolute manner« (in: Saying Something: Jazz Improvisation and Interaction, Chicago und London, 1996, S. 97). Der Begriff ›Musikalität‹ wird hier, analog zu Begriffen wie Textualität, Medialität oder Theatralität, nicht als Bezeichnung einer individuellen Begabung verwendet, sondern als Dispositiv, das z. B. bestimmte Qualitäten ästhetischer Anmutung, kognitiver Prozesse oder rezeptiver oder produktiver Aufmerksamkeit meint. Siehe dazu ausführlicher: Roesner, Musicality in Theatre, S. 1–21. 109 Siehe u. a. Kurzenberger, Hajo: »Aufführungsanalyse im Deutschunterricht: Ein Vergleich der Emilia Galotti-Inszenierungen von Thomas Langhoff (1984) und Michael Thalheimer (2001)«, in: Der Deutschunterricht 2 (2004): S. 5–19. 110 Siehe das Interview mit Bert Wrede in diesem Band. 111 Siehe auch: Schouten, Sabine: »Michael Thalheimer: Emilia Galotti«, in: dies.: Sinnliches Spüren: Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007, S. 210–218. 112 Siehe Dössel, Christine: »Die Euro-Cops. Simon Stephens’ dreisprachiger Theaterkrimi Three Kingdoms führt von den Münchner Kammerspielen geradewegs nach London und Tallinn« in: Süddeutsche Zeitung, 17. Oktober 2011. 113 Fritsch, Anne: »Europäische Kammerspiele«, Die Deutsche Bühne, 18. Oktober 2011 unter http://www.die-deutsche-buehne.de/Kritiken/Schauspiel/Simon%20 Stephens%3A%20Three%20Kingdoms (zuletzt aufgerufen am 20. August 2018). 114 Diederichsen, Diederich: »Fülle des Wohllauts. Ein guter Popsong bleibt auch im Theater immer er selbst–von der Rolle der Musik bei Thalheimer, Christoph Marthaler, Alain Platel, Frank Castorf und manch anderem«, in: Theater heute 10 (2003), S. 18–25, hier: S. 24. 115 Es sei ergänzt, dass auch im Diskurs um die Neue Musik von bestimmten Autoren das »Ende des Materialfortschritts« konstatiert und Klang als eine zentrale Kategorie bestimmt wird. Siehe: Lehmann: »Ästhetischer Gehalt«; Kreidler, Johannes: »Zum ›Materialstand‹ der Gegenwartsmusik«, in: Musik & Ästhetik 13 (2009), H. 52, S. 24–37. 116 Siehe: Großmann: »Die Materialität des Klangs«. 117 Großmann beschreibt dies allgemeiner für das 20. Jahrhundert: »Innovationen und Veränderungen in der Musik des 20. Jahrhunderts lassen sich […] in jedem Fall anders und besser deuten als aus dem Gedanken der Fortschreibung des musikalischen Materials der Epoche der Tonkunst, wie es etwa in der Konzeption musikalischen Fortschritts bei Theodor W. Adorno geschieht. Zu den großen, bedeutenden Innovationen gehören dann auch weniger Meilensteine der Kompositionstechnik wie Reihentechnik, Serialität und Aleatorik, sondern vor allem neue Gestaltungsoptionen durch elektronisch verstärkte und erzeugte Schwingungen, die(Re-)Kombination und Transformation phonographischen Materials (Loops, Cut, Copy & Paste, Effekte, Mehrspurproduktion etc.), die automatische und interaktive Klangerzeugung, die ästhetische Nutzung neuer Mediensettings (Klangkunst, Soundscapes), sowie eine auf Signalen und Codes basierende technische Intermedialität« (Großmann, »Die Materialität des Klangs«, S. 73f.). 118 Siehe Lehmann, Harry: »Gehaltsästhetische Wende«, in: Die digitale Revolution der Musik: Eine Musikphilosophie, von ders., Mainz 2013, S. 90–93 und Lehmann, Harry: Gehaltsästhetik: Eine Kunstphilosophie, Paderborn 2016. 119 Edgard Varése, zit. in Barthelmes, »Experimentieren, Basteln«, S. 334. 120 Großmann: »Die Materialität des Klangs«, S. 65. 121 20000 Meilen unter den Meeren nach Jules Verne, Regie: Taison Heiß, Thorsten Krohn, Bühne: Greulix Schrank, Musik: Taison Heiß und Greulix Schrank. Schauburg München, Premiere am 9. April 2015. 122 Barbara Barthelmes’ Aufsatz »Experimentieren, Basteln, Gestalten, Inszenieren.

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Wandlungen des künstlerischen Selbstverständnisses« liefert hier historischen und systematischen Kontext für solche Tendenzen zum bastelnd-forschenden Komponieren, die für die Theatermusik allgemein von Bedeutung sind. 123 Siehe auch das Interview mit Heiß und Schrank in diesem Band. 124 Schauburg Archiv, http://schauburgarchiv.online/produktion/20000-meilen-unter-den-meeren (zuletzt aufgerufen am 24. August 2018). Auf dieser Seite ist auch ein Trailer der Produktion zu sehen. 125 Hallmayr, Petra, »Provinz ohne Erbarmen. Orpheus steigt herab – Sebastian Nübling zeigt Tennessee Williams’ Reise in den amerikanischen Kleinstadt-Hades in München«, in: nachtkritik.de am 29. September 2012 (zuletzt aufgerufen am 9. August 2018). 126 Leucht, Sabine, »Ein mutiges Reh und Blicke zum Steinerweichen. Was ihr wollt – Bei Amélie Niermeyer am Residenztheater München kommen die Liebenden unter die (Zeit-)Walze«, in: nachtkritik.de vom 18. Januar 2014 (zuletzt aufgerufen am 9. August 2018). 127 Faust hoch zehn – eine Arbeit von Felix Rothenhäusler und Tarun Kade, Premiere am Theater Bremen 18. Oktober 2014. 128 Siehe das Interview mit Jörg Gollasch in diesem Band. 129 Demokratie in Abendstunden von Bettina Auer, Karin Beier und Rita Thiele. Regie: Karin Beier, Musik: Jörg Gollasch. Schauspiel Köln. Premiere am 28. September 2011. 130 Letzteres hat sich längst über Fragen der Theatermusik hinaus in der Forschung über Aufführungen niedergeschlagen und dazu geführt, neben hermeneutischen oder semiotischen Analyseverfahren auch mit den Begriffen und Methoden der Phänomenologie zu arbeiten. Siehe u. a. Roselt, Jens: Phänomenologie des Theaters. München: Fink, 2008, Fortier, Mark: Theory/Theatre: An Introduction. London: Routledge, 2002. 131 Siehe z. B.: Rebstock, Matthias: »Fluchtpunkt der Sinne. Musiktheater als Arbeit an einer Phänomenologie des Hörens«, in: Brüstle, Christa/Risi, Clemens/ Schwarz, Stephanie (Hrsg.): Macht Ohnmacht Zufall, Berlin 2011, S. 172–182. 132 Barth, Daniela: »Im Theater-Psycho-Zauberwald«, nachtkritik.de, 4. März 2011. Siehe auch: Wiens, Birgit: »Theaterszenografie, ›Phänomenotechnik‹ und die Multimodalität räumlichen Wahrnehmens. Am Beispiel von Gisèle Viennes Projekt This is how you will disappear«, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hrsg.): Inszenierung und Effekte: Die Magie der Szenografie, Bielefeld 2013, S. 87–102. 133 Angesichts ihrer kontinuierlichen Präsenz in deutschsprachigen Theater halte ich es für sinnvoll, die Arbeiten der britischen Regisseurin auch im Kontext eines Buches über Theatermusik im deutschsprachigen Raum zu diskutieren. 134 Roesner, David: »›An entirely new art form‹ – Katie Mitchells intermediale Bühnen-Experimente«, in: Forum Modernes Theater 24 (2009), H. 2, S. 101–119. 135 Chion, Michel: Audio-Vision. Sounds on Screen, New York 1994. 136 Siehe u. a. Hermann, Thomas/Hunt, Andy/Neuhoff, John G. (Hrsg.): The Sonification Handbook, Berlin 2011. 137 Siehe National Theatre Discover: https://www.youtube.com/watch?v=THpcmuKNumY (zuletzt aufgerufen am 17. August 2018). 138 Siehe: Chion, Audio-Vision, S. 24ff. 139 Siehe Rost, Katharina: Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance, Bielefeld 2017. 140 Siehe z. B. Attali, Jacques: Noise: The Political Economy of Music (transl. by Brian Massumi), Minneapolis (MN) 1985; Augoyard, Jean-François: Sonic Experience: A Guide to Everyday Sounds, Montreal 2005; Brown, Ross: Sound: A Reader in Theatre Practice, Basingstoke 2010; Hegarty, Paul: Noise/Music: A History, London 2007; Kahn, Douglas: Noise Water Meat. A History of Sound in the Arts, Cambridge (MA) 1999; Kendrick, Lynne/Roesner, David (Hrsg.): Theatre Noise. The Sound of Performance, Newcastle upon Tyne 2011; Voegelin, Salomé: Listening to Noise and Silence. Towards a Philosophy of Sound Art, New York und London 2010. 141 Eine Ausnahme bildet die jüngst veröffentlichte Dissertation von Katharina Rost Sounds that matter. 142 Rost: Sounds that matter, S. 122.

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143 Das théâtrophone wurde 1881 von Clement Ader erfunden und erlaubte die telefonische Übertragung von Aufführungen live aus Theatern und Music-Halls in private Haushalte (siehe Crook, Tim: Radio Drama: Theory and Practice, London 1999, S. 15 und vgl. Curtin, Adrian: Avant-Garde Theatre Sound: Staging Sonic Modernity, New York 2014; Larrue, Jean-Marc: »Sound Reproduction Techniques in Theatre: a Case of Mediatic Resistance«, in: Kendrick/Roesner (Hrsg.): Theatre Noise, S. 14–22. 144 Z. B. Faust I, nach einer Aufführung des Düsseldorfer Schauspielhauses 1954. Inszenierung: Gustaf Gründgens. Mit Paul Hartmann, Gustaf Gründgens, Kaethe Gold, Elisabeth Flickenschildt, Deutsche Grammophon,1977; Stella, nach einer Aufführung des Deutschen Schauspielhauses Hamburg 1965. Inszenierung: Rudolf Steinboeck, mit Aglaja Schmid, Paula Wessely, Will Quadflieg u. a., Helidor 1975, oder Hamlet, nach einer Aufführung der Old Vic Company, London 1979, Regie: Toby Robertson. Mit Derek Jacobi. Argo 1979. 145 Barthes, Roland: »Die Rauheit der Stimme«, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main 1990 [1972], S. 269–279. 146 Siehe auch das Kapitel »Stil und Sound«. 147 Schafer, R. Murray: The Soundscape: Our Sonic Environment And the Tuning of the World, Rochester, Vt. 1994, S. 34. 148 Brown, Ross: »Towards Theatre Noise«, in: Kendrick/Roesner (Hrsg.): Theatre Noise, S. 1–13. 149 Siehe Goffman, Erving: Rahmen-Analyse: ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main 1993. 150 Siehe: Bussolini, Jeffrey: »What is a Dispositive?«, in: Foucault Studies 10 (2010), S. 85–107. 151 Siehe auch das Interview mit Michael Wilhelmi in diesem Band. 152 Zu bestimmten Orchesterpassagen der hier noch hinter einer Wand versteckten Bochumer Symphoniker suggeriert ein entsprechend programmierter Scheinwerfer einen Filmprojektor. 153 Siehe ausführlicher: Roesner, Musicality in Theatre, S. 10–21.

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Interviews Eine genaue Zahl der im deutschsprachigen Theaterraum arbeitenden Theatermusiker*innen ist schwer zu ermitteln. Sie sind meist freiberuflich, die Berufsbezeichnung ist nicht festgelegt oder geschützt, und es gibt keine Dachorganisation wie z. B. den Bund der Szenografen e. V. Eine stichprobenartige, geografisch verteilte Recherche bei 15 der größeren deutschsprachigen Theater1 ergab, dass diese insgesamt weit über 300 verschiedene Theatermusiker*innen für die Spielzeit 2015/16 auflisteten.2 Von diesen waren lediglich 29 (also unter zehn Prozent) weiblich. Der Versuch, mit Hilfe von ca. 20 qualitativen Interviews einen repräsentativen Querschnitt der Theatermusik-Szene zu liefern, ist insofern zum Scheitern verurteilt. Dennoch habe ich mich – gemessen an den folgenden Kriterien – um eine gewisse Bandbreite bemüht: 1. Die Interviewpartner*innen sollten geografisch möglichst weit verstreut gearbeitet haben; 2. Sie sollten an Theatern unterschiedlicher Größe, Trägerschaft und Organisationsform gearbeitet haben; 3. Sie sollten insgesamt in unterschiedlichen Theaterformen wie Schauspiel (Klassiker und Neue Dramatik), Stückentwicklungen und spartenübergreifende Projekte, Kinder- und Jugendtheater, Dokumentartheater und Performance zu Hause sein; 4. Sie sollten insgesamt unterschiedliche Aufgaben als Theatermusiker*innen erfüllen: Komponieren, Bearbeiten, Arrangieren, Produzieren, Notieren, Einstudieren, Live-Bühnenmusik, LiveElektronik, Sound Design, Musikalische Leitung; 5. Der Anteil an weiblichen Interviewpartnern sollten mindestens der vorgefundenen Verteilung entsprechen. Diese Kriterien erfüllt die Auswahl meiner 20 Gesprächspartner*innen so gut, dass sich in ihren Interviews eine ganze Reihe von Erfahrungen, Arbeitsweisen und Überzeugungen ablesen lässt, die mindestens charakteristisch für diese community of practice ist. Die Entscheidung für qualitative Leitfaden-Interviews war insofern naheliegend, als dass es mir nicht um eine quantitative Erfassung von Daten ging, sondern um den Diskurs, den Theatermusiker*innen über ihre Arbeit führen. Es lag mir auch nicht daran, anhand von Aufführungsanalysen, Auswertung von Mitschnitten, Partituren oder flan-

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Interviews

kierenden Interviews (z. B. mit Regisseur*innen, Dramaturg*innen, Zuschauer*innen) die Selbstbeschreibungen zu verifizieren oder zu beglaubigen, sondern im Sinne einer Interpretative Phenomenological Analysis (IPA) der künstlerisch-beruflichen Praxis einer Gruppe in ihren Worten zu begegnen. Die IPA bietet sich dafür besonders an: The aim of interpretative phenomenological analysis (IPA) is to explore in detail how participants are making sense of their personal and social world, and the main currency for an IPA study is the meanings particular experiences, events, states hold for participants. The approach is phenomenological […] in that it involves detailed examination of the participant’s life-world; it attempts to explore personal experience and is concerned with an individual’s personal perception or account of an object or event, as opposed to an attempt to produce an objective statement of the object or event itself.3 Das Leitfaden-Interview oder semi-structured interview ist dabei die exemplarische Methode der Datengewinnung. Auf weitere Details der IPA gehe ich im Schlusskapitel ausführlicher ein4, schicke dies nur voraus, um zweierlei zu erklären: Zum einen folgen die Interviews eben weitgehend einem Schema von Fragen, von dem wir zwar immer wieder, dem natürlichen Gesprächsverlauf folgend, abgewichen sind, bei dem aber Originalität und Abwechslungsreichtum meinerseits keine Priorität waren. Zum anderen habe ich mich bemüht, die Interviews möglichst wenig sprachlich zu standardisieren, so dass der individuelle Sprachgestus und der mündliche Charakter der Dialoge erhalten bleiben konnten. Es war mir wichtig, nicht nur zu dokumentieren, was meine Gesprächspartner*innen sagen, sondern auch wie sie es sagen.

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Dies sind in alphabetischer Reihenfolge: Berliner Ensemble, Burgtheater Wien, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Münchner Kammerspiele, Düsseldorfer Schauspielhaus, Residenztheater München, Schaubühne Berlin, Schauspiel Bochum, Schauspiel Frankfurt, Staatsschauspiel Dresden, Staatstheater Stuttgart, Thalia Theater Hamburg, Theater Basel, Theater Bremen, Volksbühne Berlin. Nähme man Stadt- und Landestheater, Privattheater und die freie Szene hinzu, ergäben sich mit Sicherheit deutlich höhere absolute Zahlen. Smith, Jonathan A./Osborn, Mike: »Interpretative Phenomenological Analysis«, in: Smith, Jonathan A. (Hrsg.): Qualitative Psychology: A Practical Guide to Research Methods. 2nd Edition, London 2007, S. 53–80, hier: S. 53. Siehe das Kapitel »Methodische Vorbemerkung«.

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Malte Beckenbach: »Hörgewohnheiten verändern« Ein Gespräch am 13. November 2017 in der Schaubühne, Berlin

Ich fange mit einer banalen Frage an: Wie nennst du das, was du da tust? Malte Beckenbach: Ich sage immer, dass ich Theatermusik mache. Wenn dann jemand genauer nachfragt, beschreibe ich noch, in welcher Form dieses Theater sich organisiert, und dass da auch Tanz mit hineinspielt, dass es sich aber im Wesentlichen um Sprechtheater handelt. Da können die meisten Leute dann schon was mit anfangen. Auch die, die nicht so oft ins Theater gehen. Malte Beckenbach Foto: Chunky Move

Oft muss man das ja doch erklären, weil viele Zuschauer*innen gar nicht so bewusst wahrnehmen, dass es da Musik gab, oder nicht wissen, dass die Musik extra für das Stück entwickelt wurde, obwohl Theatermusiker*innen im Programmheft häufig darauf hinweisen: Da steht mal ›Komposition‹, ›Musik‹, ›Musikalische Leitung‹, oder ›Sound Design‹ – Letzteres im Deutschen seltener, im Englischen fast immer. MB: Ja, das gehört alles dazu. Ich biete auch ganz explizit Sound Design an, das ist aber ein anderer Vorgang des Arbeitens und hat sich im meinem Schaffen auch ganz deutlich vom Theater auseinanderdividiert dadurch, dass diese Sound-Design-Jobs sehr konkrete Anforderungen haben und die Auftraggeber meistens eher im kommerziellen Bereich sind. Ist das für Live-Events oder für mediale Nutzung? MB: Das ist meist für Industrie-Events und -installationen, aber oft im Grenzbereich zu Multimedia. Ich habe aber auch schon Sachen für bildende Künstler gemacht, z. B. für Videoarbeiten, die zu vertonen sind

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und zu denen man dann eine Klangwelt erschafft. Im Theater ist es tatsächlich so, dass ich für die Programmhefte auf den etwas allgemeineren Begriff ›Musik‹ zurückgekommen bin. Zwischendurch hatte ich auch mal andere Versuche, die sich aber oft ein bisschen gewollt angefühlt haben. Der Begriff ›Musik‹ beinhaltet dabei für mich die Komposition und Produktion und bei mir speziell eben auch Installation. Das hat eine technische Komponente, da ich keine Stereokompositionen mache, sondern immer Mehrkanal-Installationen. Das ist ein ganz anderes Klangerlebnis, das in der Komposition von mir schon mitbedacht wird. Die Klänge werden schon in meinem Kopf so angeordnet. Mittlerweile ist das mein Standard. Das ist alles der technischen Entwicklung der letzten Jahre geschuldet, dass man sich überhaupt über solche Dinge Gedanken machen musste, aber erst einmal sind es einfach mannigfaltigere Möglichkeiten, die man jetzt hat. Am Anfang habe ich noch auf CD produziert, und die Theater hatten gar keine Mehrkanal-Ausstattung. Da musste man sich noch die Bandmaschine von früher aus dem Keller dazuholen, die sehr schön klang, aber sehr langsam und behäbig war. Ansonsten habe ich mir dann so kreative Lösungen ausgedacht, wie z. B. mehrere MiniDisc Player mit einer Fernbedienung gleichzeitig zu starten. Dieses Format gibt es aber jetzt nicht mehr, stattdessen ist mittlerweile Ableton Live von dieser Berliner Programmiererschmiede der Industriestandard, und damit arbeite ich jetzt. Das ist wie gemacht fürs Theater: Da kannst du sehr viel vorproduzieren und voreinstellen. Das, was früher an Studiengängen für audio-visuelle Medien experimentell gemacht wurde, ist jetzt ein Standard, den jeder auf seinem Laptop haben kann. Wie würdest du deine Musik beschreiben? MB: Das ist ein bisschen schwierig, weil die Begriffe, die einem da einfallen, meistens schon irgendwo anders Verwendung finden, und wenn man eine Neuschöpfung macht, sagt es dann auch niemandem etwas. Dennoch: Meine Musik hat immer zwei Komponenten. Zum einen benutze ich immer elektronische Anteile und mische das aber mit echten Instrumenten. Eine Zeit lang habe ich das als elektroakustische Installationen bezeichnet, wobei ›elektroakustisch‹ sonst oft bedeutet, dass Dinge auf physikalischer Ebene kombiniert sind im Bereich des Sound Designs, während es bei mir eher eine Mischung aus elektronischem und von echten Instrumenten gesampeltem Material bedeutet. Im weitesten Sinne ist es irgendwie auch Computermusik. Schon in den Anfängen, so 1998, sind meine ersten Musiken mithilfe des Computers oder

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von mehreren Computern entstanden. Auch der ganze Sound hat sich in den letzten Jahren so entwickelt, dass der Computer einem die Möglichkeit gegeben hat, in dem kurzen Zeitraum, den man für eine Theaterproduktion hat, sehr vieles auszuprobieren. Mittelweile hat man, wenn man eine Internetverbindung hat, Zugriff auf alle Musik, die es gibt und die je gemacht wurde. Die kann man dann mit ausprobieren, weil man ja im Theater auch potenziell fremde Dinge benutzen darf – und für manche Regisseure auch benutzen soll –, weil das ja noch mal etwas anderes erzählt: Die Referenz ist hier ein wichtiges künstlerisches Stilmittel. Zum Stichwort Computermusik: Da hat man schnell eine bestimmte Klangvorstellung im Kopf, um die es bei dir aber gar nicht unbedingt geht, oder? Das musikalische Vorbild ist eben nicht unbedingt ein reales (ein Streichquartett, eine Rockband), sondern es geht um eine spezifische Qualität, eine musikalische Sprache, die nur zustande kommen kann, weil es den Computer gibt. MB: Richtig, der Computer ist nicht nur ein Hilfsmittel, sondern ein Instrument. Und das, was da entsteht, ist gewissermaßen site-specific – deswegen auch der Begriff der Installation –, weil die Musik meist in diesem spezifischen Kontext zur Wirkung kommt und außerhalb dieses Kontexts keinen Sinn macht. Sie ist für den Raum, für die Installation, genau an der Stelle so gemacht. Ich finde interessant, dass du den Begriff site-specific verwendest, obwohl du ja ausschließlich in designierten Theaterräumen arbeitest – was viele nicht als ›site‹ anerkennen würden.1 Aber es betont eben, dass die Musik sehr genau auf den Raum und seine – auch technische – Konfiguration reagiert. MB: Ja, ich habe sozusagen ein eigenes Dolby entwickelt über die Jahre. Es gibt ja dieses Standard Kino Dolby2, und ich habe eben eine Art ›Standard Theater Dolby‹, was ich dann immer noch ein bisschen anpasse, aber die Techniker*innen, mit denen ich arbeite – und an der Schaubühne arbeite ich ja nun schon fast 20 Jahre – wissen das dann schon und stellen das direkt so auf. Dieses System übertrage ich auch auf andere Theater – der technische Standard ist ja mittlerweile zumindest an den großen Häusern sehr ähnlich. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Tontechniker*innen, die deine Musik fahren? Wie variabel ist die Musik am Abend noch? MB: Wenn ich das programmiere für den/die Tontechniker*in, was ja

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meistens der Fall ist, dann hat das eben installativen Charakter und wird auf cue abgefahren. Der Spielraum ist das Timing auf der Bühne. Die Musikabfolge ist aber im Wesentlichen immer die gleiche. Klar: Man hört mal den ein oder anderen Part länger, aber die Komposition ist sonst gleich. Wenn ich selbst auf der Bühne bin, ist der Spielraum deutlich größer. Den nutzt du dann auch? MB: Ja. Wobei es auch da – speziell, wenn es mit Tanz ist, meistens ja sogar mit Tanz und Text – Punkte geben muss, wo man sich wieder trifft. Es muss so ein Grundgerüst geben, aber speziell bei Trust, was wir seit 2009 machen, gibt es schon Teile, wo ich viel freier bin als bei so einer Installation. Du hast vorhin 1998 als Startpunkt deiner Karriere genannt: Was hast du auf dem Weg dorthin gelernt, und wie kam es dazu, dass du Theatermusiker geworden bist? MB: Gelernt habe ich verschiedene Instrumente, alles so ein bisschen. Das ist auch sehr gut für dieses Genre, wenn man mehrere Instrumente beherrscht, sich aber auf keinem so zu Hause fühlt, dass man es als Hauptausdrucksmedium versteht, weil man sich dann selbst in den Mitteln begrenzen würde. Ich habe in Bands gespielt, habe dort vor allem gesungen und Schlagzeug gespielt. Dann war ich ein Jahr lang in Paris an einem Konservatorium im Lycée Racine und habe dort auch die klassische Musik kennengelernt, aber auch gemerkt, dass das nicht die Welt ist, in der ich mich zu Hause fühle. Von der Sozialisation her fühlte ich mich eher dem Jazz und der etwas abstrakteren Musik verbunden, schon damals. Dann wollte ich Jazz in Köln studieren und habe dort einige Leute kennengelernt, die mir davon abgeraten haben. Ich war schon in Bands und hatte einige Projekte, die gut liefen, und da haben die mir gesagt, ich soll das lieber weitermachen: »Das Studium versaut dich nur«. Neben der Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung habe ich auch noch was »Ordentliches« studiert, nämlich Wirtschaft, Philosophie und Politik, wo mich vor allem die Philosophie und die Politik interessiert haben. Die Wirtschaft hat mich aber immerhin dahin gebracht, ein eigenes Label zu gründen und meine eigene Musik herauszubringen. Die Bands brachen auseinander, wie es oft so ist, und aus dieser Krisensituation heraus habe ich angefangen, selbst zu produzieren. Technisch gesehen habe ich mit den ersten Geräten gearbeitet, die man mit einem normalen Budget bezahlen konnte.

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Das heißt, was die technische Seite betrifft, war es viel learning by doing? MB: Absolut. Ich bin totaler Autodidakt. Ich habe eine Basis an musikalischer Vorbildung, und im Nachhinein würde ich sagen, dass das auch eine Qualität gewesen ist: Ich musste mir immer genau überlegen, wie ich es schaffe, etwas zu realisieren, ohne die profundesten musikalischen Kenntnisse zu haben, sondern mich z. B. mit der Absicht hinzusetzen, die Opulenz eines Orchesterkörpers nachzuempfinden, ohne dass ich mir ein Orchester leisten könnte. Ich will auch keine Orchesterinstrumente benutzen, sondern vielleicht nur eine Gitarre und ein Hallgerät. Da entstehen dann interessante Sachen aus der Not heraus. Das sage ich jetzt allerdings im Nachgang, denn in den letzten Jahren habe ich durchaus mit klassischen Musikern und Komponisten zusammengearbeitet und für Streicher geschrieben und konnte mir Leute dazuholen, die mir geholfen haben, das zu übersetzen. Diese Möglichkeiten hat man aber nicht gleich von Anfang an. Über das eigene Label und die eigenen Platten bin ich an Falk Richter geraten, der gerade mit seinem Studium fertig war und einen Musiker für seine ersten Produktionen suchte. Er hatte diese Platte3 in die Hand bekommen, und dann ging es direkt los mit einem Projekt nach dem anderen, so dass keine Zeit mehr blieb für das Musiklabel. Ich fand es damals spannend zu sehen, dass man auch mit experimenteller elektronischer Musik Geld verdienen konnte! Das ist eigentlich nicht etwas, womit man normalerweise seine Brötchen bezahlen kann. Von der Platte hatten wir gerade mal 300 Stück verkauft – das war ja noch Vinyl, es gab noch kein MP3 und auch im Grunde noch kein Internet: Man saß eigentlich nur vor einem Ladebalken. Wie siehst du die Veränderungen in Bezug auf die Funktionen von Theatermusik? Sind es hier vor allem die enormen technischen Entwicklungen der letzten 20 Jahre oder ein Generationenwandel bei den Regisseur*innen, die ausschlaggebend waren? In deiner Arbeit finde ich bemerkenswert, dass sich die Funktion der Musik stark unterscheidet, je nachdem, ob du mit Thomas Ostermeier oder Falk Richter arbeitest: Bei Ostermeier sind es oft noch relativ klassische ›Entr’acte‹-Musiken4 – wie z. B. beim Professor Bernhardi5: kurze, evokative Stücke, die als Scharnier zwischen Szenen oder Akten eines dramatischen Texts dienen. Bei Falk Richter scheint es eine viel engere Verzahnung von Musik und Text, Bewegung und Licht usw. zu geben. MB: Ja, das trifft es auf den Punkt: Gegensätzlicher könnten die Arbeitsweisen der beiden Regisseure nicht sein, gerade was den Einsatz von

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Musik betrifft. Aber nicht nur das: Es liegt natürlich in der Grundkonzeption der beiden. Bei Ostermeier gibt es auch noch andere Arbeiten, aber die Produktionen, die ich mit ihm gemacht habe, waren im Wesentlichen klassische Texte, in denen der Raum sehr abstrakt war und die Musik sich zu diesem neutralen, vor allem sozial neutralen Raum dazugesellt, um auf einer eigenen Ebene noch ein wenig über den Hintergrund dessen zu erzählen, wo man sich da befindet, sowohl sozial als auch emotional. Bei Falk entsteht dieses Konzept, dieses Raumkonzept im Prozess. Das mischt sich dann auch ganz doll, nicht nur mit dem Raum, sondern auch mit der Sprache, mit der Bewegung und sogar mit der Dramaturgie, mit den Abläufen. Wir gestalten in sehr langen Improvisations-Sessions große Bögen, die dann oft auch so beibehalten werden. Falk strafft die dann zwar noch durch Texte, aber es sind schon erst einmal zwei grundlegend unterschiedliche Ansätze. Bei Falk Richter ist man wirklich wie ein Mitspieler auf der Bühne … … teilweise auch wirklich physisch präsent in der Aufführung – ich denke da an Trust 6 von 2009 … MB: … bei Trust, aber auch bei anderen Stücken, auch bei seiner MichelHouellebecq-Inszenierung Karte und Gebiet7, da hab ich sogar eine kleine Sprechrolle gehabt, da hat sich das alles so vermischt. Da gab es allerdings keinen Tanz, dafür aber viel Video. Video ist noch mal so eine andere Komponente, wo Musik eine andere Pforte erhält, oder einen anderen Aufhänger, wo man sich mitziehen lassen kann, wo man auf der anderen Seite auch ein bisschen mehr eingeschränkt ist, weil die Ästhetik anders vorgegeben ist. Es wird auch oft so wahrgenommen, dass Klang und Video miteinander einhergehen. Das ist mir gestern bei Professor Bernhardi auch aufgefallen: Sobald zu der Musik in den Szenenübergängen live Kamerabilder projiziert werden, zum Teil mit kinoartigen Nahaufnahmen, sind wir medial einfach so geschult, dass wir das sofort als film-musikalischen Kommentar lesen. MB: Was mich dabei interessiert hat: Wie kann ich sehr reduziert in so einer filmischen Musiksprache ausschließlich mit Orchesterinstrumenten meine elektronische Musiksprache wieder mit hineinmischen, auch wenn es in der Inszenierung eigentlich keine elektronischen Klänge gibt? Außerdem haben wir ein, zwei Musiken von Philip Glass und John Adams integriert und viel über Video gesprochen. Das machen wir immer, weil es für meine Arbeit einen so starken Rahmen bildet. Bei Falk rede ich gar nicht mehr so viel über Konzept, das interessiert ihn

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auch nicht so sehr, das vorher alles festzunageln, sondern wir schauen eher, was passiert, wenn wir diese Versuchsanordnung aufbauen und durchprobieren. Gibt es dabei so etwas wie einen typischen chronologischen Ablauf? Ich vermute, dass sich das zwischen den unterschiedlichen Regisseuren stark unterscheidet. Wann machst du was, wie viel bereitest du vor Probenbeginn schon vor? Bei Ostermeier gibt es ja immer eine Stückvorlage, bei Richter eher seltener? MB: Ja, das interessiert Falk gar nicht, einen klassischen Text zu machen – das haben wir früher mal gemacht, aber in letzter Zeit nicht mehr. Er ist als inszenierender Autor noch mal anders an der Entwicklung von so einem Abend beteiligt. Ich habe aber auch noch andere Regisseure, mit denen ich arbeite, die so ein bisschen hybrid sind in dieser Hinsicht, wie z. B. Marius von Mayenburg, der auch ein Autor ist … … stimmt, da habe ich in München die Lehman Brothers8 gesehen, wo du mit Nils Ostendorf 9 zusammen die Musik gemacht hast … MB: Ja, das war das erste Mal, dass ich mit Nils kooperiert habe, was sehr spannend war, weil wir auch sonst mit den gleichen Leuten arbeiten. Und das war, wie gesagt, so ein bisschen ein Hybrid zwischen den Arbeitsweisen von Falk und Thomas: Es entsteht ein neuer Text, in dem man sich auch musikalisch bewegt, aber andererseits ist Marius noch mehr an Genre-Zitaten interessiert … … das wurde bei den Lehman Brothers ja auch musikalisch sehr deutlich durch diese Rahmenfiktion des entstehenden Films, für den dann ganz bewusst klischee-beladene Musik ausgewählt wurde, wo man also bewusst in bestimmte musikalische Schubladen greift. MB: Das war aber auch bei anderen Produktionen so, wie z. B. bei der ersten Produktion, die wir gemeinsam gemacht haben: David Gieselmanns Tauben10. Auch da haben wir mit musikalischen Genres gespielt, mit Popmusik, Schlager und Chanson. Diese Referenzen11 geben so eine Mehrdimensionalität in der Erzählung, die den Marius interessiert. Oft waren das auch so humoristische Sachen: Die Form des Humors, den Regisseure haben, spielt natürlich auch eine große Rolle dabei, wie man Musik einsetzen kann. Bei der Bernhardi-Produktion darf die Musik gar keinen vordergründigen Humor entwickeln, während bei Marius die Musik häufig genau dazu dient. Dann habe ich noch relativ viele Produktionen mit Benedict Andrews gemacht, der auch sehr musikalisch denkt

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und ein musikalischer Mensch ist. Auch da ist es eher eine Mischung: Es gibt ein Konzept und einen Text, und die Musik erzählt sehr viel über Zustände, die Musik soll hier sehr abstrakt sein, ist dann auch meistens elektronisch, zum Teil sehr intensiv, und vermischt sich viel mehr mit den Handlungen. Das ist ja auch so eine Gretchenfrage: Wie verhält sich die Musik emotional zum Bühnengeschehen? Historisch gibt es da lange Debatten, wie weit die Zwischenaktmusiken die Emotionen der vorhergegangenen Szene wieder aufnehmen bzw. der nächsten Szene vorwegahnen lassen. Gestern fand ich, dass deine Musik in dieser Hinsicht recht distanziert blieb: Es war eine eigene Welt und Stimmung, die aber nicht die Handlung kommentiert, fast eher eine Art ›palate cleanser‹ wie man das bei Weinproben nennt: eine Neutralisierung zwischen verschiedenen Geschmäckern, die aber nicht selbst ›neutral‹ sein muss. Wie kommst du zu so einer je eigenen Musiksprache für eine Produktion? Welche Entscheidungen fällst du dabei? MB: Ich finde das gut beobachtet in Bezug auf Bernhardi. Das waren genau die Konzepte, mit denen wir da spielen wollten, beziehungsweise, das war auch der Prozess und auch die Herausforderung: eine Musik zu schaffen, die einerseits neutral ist, also die nicht erzählt »schlimm schlimm schlimm« – was so eine Pauschalformel für Theatermusik im zeitgenössischen Regietheater geworden ist. Man macht mal so dräuende, ungefähre Flächen, und das passt dann schon – genau darauf reagieren Thomas und ich total allergisch. Das sagt letztendlich überhaupt nichts aus und hilft auch niemandem. Es war dann eine Musik, die ein bisschen mathematischen Charakter hat, weil sie so etwas Serielles erzählt. Das ist dabei weniger auf die Figuren bezogen, behauptet also nicht, dass die auch so wären, sondern es ging mir um eine gewisse körperliche Reaktion beim Hören. Man wird ein bisschen agitiert, und man wird ein bisschen aufgeweckt zwischen den Akten. Zum anderen gibt es dennoch auch eine emotionale Komponente, denn ganz ohne Emotionalität geht es nicht. Selbst wenn man eine ganz aharmonische12, arrhythmische, neue Musikkomposition hat, erzählt die einem ja auch etwas. Es ist ja fast nicht möglich, Emotionalität ganz außen vor zu lassen. Und so gab es eben Glass und Adams als Referenzen. Das ist eine Sache, die mir und Thomas Spaß macht: unsere ›Geheimwitze‹ zu haben, etwas, was am Ende eigentlich niemand mitbekommt, nämlich, wofür solche musikalischen Referenzen für uns stehen. Dieses Spielchen begann eigentlich so richtig mit Hedda Gabler13, wo ich die Beach Boys

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eingeführt habe. Die Beach Boys haben ja eine sehr ambivalente Geschichte: Dennis Wilson hat mit dem Massenmörder Charles Manson zusammen Musik gemacht, und Brian Wilson ist oft mit Heroin total abgestürzt. Gleichzeitig stehen sie für die gutgelaunteste, harmloseste Kalifornien-Stimmung. Und wenn man um dieses Spannungsfeld weiß, hat die Musik noch mal eine andere Bedeutung, nur für einen selber, aber wenn man die Musik in diesem Bewusstsein benutzt, spannt sich da noch mal ein mehrdimensionales Netz auf, und so war es beim Bernhardi eben mit Glass und Adams. Die stehen wie ein Eames-Möbel auf der Bühne, was auch etwas über die Welt erzählt, in der sich die Figuren, in diesem Fall die Ärzte, bewegen. Das heißt, dass es in den Arbeiten mit Thomas Ostermeier schon früh konzeptionelle Setzungen gibt, zum Teil auch mit klaren musikalischen Referenzpunkten, ohne dass diese kopiert werden. Triffst du solche Entscheidungen zunächst mal für dich selbst in Reaktion auf den jeweiligen Stücktext oder entsteht das im Dialog mit Ostermeier? MB: Thomas ist, genau wie alle anderen Regisseure, mit denen ich arbeite, jemand, der erst einmal sehr konkrete Vorstellungen hat, was die Musik betrifft, und das ist auch etwas, was mich interessiert. Ich bin nicht der Meinung, dass ich dem Regisseur etwas aufzwängen möchte, sondern ich finde es eher interessant zu sehen, was seine Idee für den Abend ist und wo ich da meinen Platz habe. Für mich ist Theatermusik nichts, wo ich mich als Künstler selbst verwirkliche, sondern ganz klar eine Dienstleistung, in dem Sinne, dass sie sich in den Dienst des künstlerischen Konzepts stellt. Es sei denn, das Konzept ist, dass ich etwas sehr Eigenständiges entwickeln soll. Dann kann ich das auch und mache das total gerne, wie das eben bei Falk häufig der Fall ist – aber wir kennen uns eben auch schon so lange, dass sich da eigene Arbeitsweisen entwickelt haben. Bei Thomas gab es auch Produktionen, bei denen es offener war, wo er keine konkreten Vorstellungen hatte, z. B. bei Volksfeind14. Da gab es die Grundidee, dass die Figuren eine Art Band sind, die auf der Bühne musizieren. So ergab sich da ein Rahmen. Für mich ist es einfach spannend zu sehen, mit welchen Ideen die Regisseure kommen. Die greife ich auf und versuche dann, daraus etwas zu machen. Die Idee kann eben auch sein, dass es total frei ist [lacht]. Wie wählst du aus dem potenziell unendlichen Angebot an Instrumenten, die einem heute im erweiterten Sinne mit all der Sound-generierenden Software, presets, virtual instruments usw. zur Verfügung stehen, aus?

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MB: Die Selbstbeschränkung ist ganz wichtig.

Und wie machst du das? Ist das eher ein intuitiver Vorgang? MB: Die erste Vorgabe ist, in welchem Rahmen das stattfindet. Manchmal braucht man eben eine ganz intensive Körperlichkeit der Klänge und auch eine ganz spezifische Klangästhetik, die jenseits der Hörgewohnheiten stattfindet, so dass sich ein Zuhörer oder Zuschauer erst einmal orientieren muss: Wo bin ich da überhaupt? Und manchmal ist es eben genau das Gegenteil, dass das künstlerische Konzept, so wie jetzt bei Bernhardi, ganz stark mit konkreten Hörgewohnheiten spielt, und die dann benutzt, um so eine Orientierungsreaktion auszulösen. Aber so eine unbewusste Reaktion ist sicher etwas, womit ich immer zu arbeiten versuche. Das sind ja keine bewussten Prozesse – oft weiß der Zuschauer gar nicht, dass da Musik lief – aber da ich heute davon ausgehen kann, dass jede*r Theaterzuschauer*in auch medial gebildet ist und eine ähnliche Vorbildung hat wie ich, gibt es doch viele Ansatzpunkte, an denen man die Leute dann abholt und sie dann auf eine Reise mitnehmen kann. Am abstraktesten ist es dann, wenn man sich nur im elektronischen Bereich bewegt und Klangerzeuger benutzt, bei denen man selbst im Nachhinein gar nicht mehr so genau weiß, wie man den einzelnen Klang hervorgebracht hat. Ich versuche dabei immer, auch eine harmonische Komponente mit zu benutzen: D. h. ich stimme die Geräusche auch tonal aufeinander ab. All das bleibt natürlich für die Zuschauer*innen ein unbewusster Prozess. Was auch einen starken Einfluss darauf hat, welche Sounds ich auswähle, welches Instrumentarium ist die Konzeption des Raums. Das ist ein bisschen schwer zu beschreiben, hat aber mit Ästhetik zu tun, auch mit Stofflichkeit, mit Material. Die Bühnenbildnerin, mit der Falk immer zusammenarbeitet, Katrin Hoffmann, benutzt eben, genau wie ich das für meinen Klang gerade beschrieben habe, etwas seltsame Texturen auf der Bühne, bei denen man nicht genau weiß, was es ist, und die Wahrnehmung der Klänge, während man auf diese Bühne guckt, ändert sich ja auch und vermischt sich. Solche Dinge versuche ich vorauszudenken bei der Auswahl der Klänge. Wann entscheiden sich solche Dinge – wie viel steht vor der ersten Probe? MB: Das ist total unterschiedlich. Mittlerweile habe ich auch eine Freude daran, schon eine ganze Menge Material in petto zu haben, falls entweder von meiner Seite oder vonseiten der Regie das Bedürfnis aufkommt, dass mal was passieren muss. Bei beiden Regisseuren, Thomas

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und Falk, bin ich sehr viel auf Proben. Bei Thomas heißt das oft, dass man einfach da ist und auch nur hier und da mal was Kleines benutzt, dann aber auch mal wirklich total viel einspielt, auch während der Szenen, und durchaus mal Klangfarben vorgibt, gegen die die Schauspieler dann anarbeiten müssen. Viele dieser Musiken werden dann später wieder herausgenommen. Ich bringe immer Material mit, und wann ich dann beginne, das einzusetzen, das liegt eben am Probenprozess. Das ist auch das Spannende an der Theaterarbeit, dass man, im Gegensatz z. B. zum Film, obwohl sich vieles auch ähnelt zwischen Theatermusik und Filmmusik, und obwohl wir das gerne auch zitieren und diese Hörgewohnheiten mit aktivieren, eben die ganze Zeit dabei ist und einen Input gibt. Man hat somit auch schon im frühen Stadium Einfluss auf das Ergebnis. Ich habe mal gelesen15, dass Charlie Chaplin beim Drehen seiner Stummfilme auch meistens Musik spielen ließ, die natürlich hinterher auch nicht für den Zuschauer zu hören war, aber eben das Timing und die choreografische Qualität seines Slapsticks stark mit beeinflusste. Und im Theater scheint mir, dass Musik – übrigens schon seit Meyerhold!16 – wie eine Art Subtext für die Schauspieler eingesetzt wird, den sie dann später verinnerlicht haben. MB: Manchmal sind es aber auch technische Aspekte, die es nötig machen, dass man Musik einspielt. Das sind ja alles Profis, die zum Teil schon seit Jahrzehnten proben, und wenn da so eine Probenstille eintritt, wo man die Scheinwerfer knacken hört und irgendwo draußen fliegt ein Flugzeug, und wenn man diese Proben-Kulisse mal vergessen möchte und etwas tiefer eintauchen möchte in das, was situativ jenseits der real stattfindenden Theaterprobe passiert, dann ist es eben ein sehr probates Mittel, einfach mal die ›Jukebox‹ anzuschmeißen. Das ist dann ein anderes Prinzip der Musikauswahl, wo man eben wie ein DJ fungiert. Ich war selber mal DJ, und aus dieser Zeit kommt eben dieser Ansatz, dass man auch mal etwas spielt, das genau gegen die Stimmung geht, die man gerade empfindet. Wenn das so eine dröge, etwas ins Depressive abdriftende Stimmung ist, die relativ häufig aufkommt, wenn man eine Szene zum zwanzigsten Mal spielt und man dann genau dagegengeht und etwas total Fröhliches spielt, dann löst sich vielleicht ein Knoten. Und manchmal behält man die Musik sogar drin, weil sich da eine interessante Spannung ergibt. Ich finde die Idee sehr plausibel, dass man manchmal die Probenatmo-

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sphäre und den ›soundscape‹ der Probenbühne regelrecht musikalisch gestalten muss. Das ist ja nicht anders als mit einem Probenkostüm – da will ab einem bestimmten Punkt auch niemand mehr in den privaten Jeans probieren. MB: Gerade bei Ostermeier haben die Schauspieler*innen ja oft eine Spieltechnik, wo sie sehr nahe bei sich sind. Es ist ja kein Theater mehr, wo groß getönt wird. Wir machen oft Übungen, in denen es genau darum geht, möglichst konkret in der Situation zu bleiben, und dann ist die Situation aber halt oft einfach die Theaterprobe selber, und da hilft manchmal die Musik, da herauszukommen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich ja Technologie in Bezug auf Musikproduktion rasant entwickelt – wie hat sich das konkret in deiner Arbeit niedergeschlagen? Wie ist dein Dialog mit der Technologie? MB: Als ich angefangen habe, war der Apparat, den man mit sich herumschleppen musste, noch sehr umfangreich. Die Geräte waren auch noch viel fehleranfälliger; auch die Software, die man benutzt hat, hatte oft noch kleine ›bugs‹. Das habe ich von Anfang an mitbenutzt. Ich fand gerade diese kleinen Fehlerchen interessant. Und ich habe eine Sensibilität dafür entwickelt, welche eigenen Sounds der Computer kreieren kann, die vielleicht auch Computer-typisch sind – abstrakte Klänge, bei denen man nicht so genau weiß, was sie sind. Aber das bedeutet auch, dass man nicht sofort hört, dass sie aus dem Computer sind! Diesen Grenzbereich zwischen der synthetischen und der echten Welt herzustellen, das war am Anfang noch schwerer, aber mittlerweile ist die Technologie eben so weit, dass man sehr genau und sehr fein darauf Einfluss haben kann, wie das dann hinterher klingt. Dieser Grenzgang ist das, was mich persönlich interessiert. Ich hatte von jeher eine Faszination dafür, dass sich wirklich mithilfe des Computers ganz intensive Atmosphären und Emotionen herstellen lassen, gerade auch, wenn man ihn mal wirklich ein bisschen selbst machen lässt; zum Beispiel, indem man Produktionstechniken benutzt, in denen man noch nicht so firm ist, oder sich mal ein neues Gerät, eine neue Software oder ein Plug-in kauft, oder an einem lustigen analogen Steckfeld mal irgendwelche Kabel verbindet und damit experimentiert, was da passiert. Was da entsteht, ist teilweise dichter und intensiver, als wenn man echte Instrumente benutzt. Das hat sicherlich etwas damit zu tun, dass echte Instrumente immer mit bestimmten Genres und Hörgewohnheiten verbunden sind und von jeher immer schon Transportmittel für bestimmte Inhalte wa-

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ren. Die Musik, die wir am Theater machen, soll ja eine Funktion haben, so wie elektronische Musik im Club die Funktion hat, dass die Leute tanzen. Unsere Musik hat die Funktion, die Rahmenhandlung in irgendeiner Form entweder zu begleiten oder sie aufzubrechen, und an dieser Stelle hilft der Computer und die mit ihm verbundene technische Entwicklung, diese Funktionen immer genauer und spezifischer werden zu lassen – nicht nur in der Produktion der Klänge, sondern auch in ihrer Darstellung. Der Tod einer musikalischen Erzählung ist, wenn man das Gefühl hat, das ist jetzt irgendwie dräuend oder gefährlich, aber es hat hier mit diesem Abend eigentlich nichts zu tun. Es ist nur irgendwas. Dieses immer stärker nuancierte Arbeiten hingegen ist etwas, das einem im eigenen Schaffensprozess über die Jahre immer besser gelingt. Ich habe da auch mit Kolleg*innen darüber gesprochen, dass wir den Eindruck haben, dass die technischen Möglichkeiten eben parallel zu unseren Fähigkeiten gewachsen sind, so dass man in den Genuss kam, endlich noch genauer, noch besser das realisieren zu können, was man sich vorher mit so improvisierten Mitteln schon herstellen konnte. Oft ist die technische Entwicklung aber auch der Tod der Inspiration, denn wenn es zu einfach wird, dann wird es auch schnell wieder beliebig. Zum Teil beschränkt man sich dann auch mal absichtlich selbst [lacht], und an dem Punkt setzt dann auch die eigene künstlerische Persönlichkeit ein, die man als Theatermusiker*in braucht. Man verwendet eben eine eigene Klangsprache, die bestimmte Sachen beinhaltet, und andere eben auch nicht. Du beschreibst also eine Dualität in Bezug auf den Computer: Einerseits ist er ein Instrument, das dir immer mehr Kontrolle gibt in Bezug auf die Produktion und Wiedergabe von Musik, und andererseits, weil er in seinen Algorithmen viel weniger voraussehbar ist als z. B. ein Flügel, bedeutet er auch einen Kontrollverlust. Wenn ich auf einem Kaoss Pad mit dem Finger herumfahre, kann ich kaum präzise vorhersagen, was da klanglich entstehen wird, sondern bin immer auf der Ebene des spielerischen Sich-überraschen-Lassens. Und das ist auch ein kreativer Motor. MB: Der Computer ist manchmal eine Blackbox. Bei mir ist es so: Wenn ich vor der Klaviertastatur sitze, ist es für mich unmöglich zu vergessen, was für Akkorde ich da gerade spiele … … es treten halt sofort Gewohnheiten ein … MB: … und es ist eben ein bewusster Prozess. Mein erster Trick war, dass ich mir Instrumente geschnappt habe, wie z. B. anfangs die Gitarre, auf

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der ich mich nicht gut auskannte: Wenn ich da bestimmte Akkorde spiele, weiß ich nicht unbedingt, was es ist. Ich kann einfach herumprobieren. Das hat aber bei echten Instrumenten seine Grenze, weil man sie ja dann doch schnell kennenlernt, und weil sie eben dafür gebaut sind, bestimmte Tonfolgen abzubilden. Elektronische Instrumente hingegen sind oft im Gegenteil dazu gedacht, neue oder ungewohnte Klänge hervorzubringen, die nicht unbedingt einer tonalen Struktur folgen. Trotz dieses experimentellen Grundgedankens gehe ich schon oft von einer Vorstellung aus, von einer Atmosphäre, die ich erzeugen möchte. Diese Atmosphäre hat eine ästhetische Komponente, aber auch eine erzählerische Komponente, die sehr spezifisch auf das abgestimmt ist, was da geschehen soll. Dann passieren oft noch andere Dinge nebenbei, aber es gibt schon im klassischen Sinne einer Komposition eine Vorstellung davon, was da entstehen soll. Dann gibt es zwei Wege: Entweder man benutzt sein musikalisches Know-how und stellt das einfach her, oder man versucht mithilfe eines Experiments durch pures Herumprobieren, ohne den Weg genau zu verstehen, dahin zu gelangen. Da entstehen natürlich Dinge jenseits der Hörgewohnheiten, die nicht Genre-besetzt sind und wodurch man erzählerische Momente erschaffen kann, die sich sowohl für den Performer auf der Bühne als auch die Zuschauer*innen neuartig anfühlen. Das ist gerade für Texte von Falk Richter, der sich mit aktuellen Zeitgeschehnissen und unseren Gefühlen von heute beschäftigt, ganz wichtig, dass man da nicht immer ein Erzählungsinstrumentarium benutzt, das einem nicht schon zum tausendsten Mal aus den Ohren herauskommt. Nun wird ja die meiste Software im Bereich Musikproduktion für den kommerziellen Sektor entwickelt – keine Software-Firma kann sich leisten, ihre Programme nur für Theatermusiker zu schreiben [lacht] – und damit gehen auch Nominierungen einher: bestimmte Benutzeroberflächen, Tools und presets, die sich am aktuellen Mainstream orientieren. Muss man die Systeme da wieder austricksen? MB: Auch das war ein langer Prozess: Am Anfang war man froh, wenn sich die Musik überhaupt irgendwie gut angehört hat, wenn man sein riesiges Mischpult, den Sampler, den Computer irgendwo hingeschleppt bekommen hat und das dann auch noch im Theater irgendwie einrichten konnte, so dass es noch irgendetwas mit dem zu tun hatte, was man eigentlich machen wollte. Dann gab es eine Phase, wo ich nur mit einem Laptop durch die Gegend gereist bin und mit sonst nichts, und auch bewusst gesagt habe: Ich mache jetzt nur das, was damit mög-

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lich ist. Allerdings haben die allermeisten Theater ein Tonstudio, so dass ich dort dann häufig Aufnahmen gemacht habe, und man kann ja allein z. B. das Klavier dazu benutzen, um unendlich viele Klänge zu erzeugen, indem man es aufnimmt und nachbearbeitet. Dieses Prinzip habe ich, glaube ich, zum ersten Mal im Institut für Musik in Paris kennengelernt, am IRCAM [Institut de Recherche et Coordination Acoustique/ Musique], was Pierre Boulez [1977] mitgegründet hat. Die haben da z. B. mal eine Geige rückwärts aufgenommen – das hatte man zu dem Zeitpunkt so noch nicht gehört. Mit solchen ganz basalen Manipulationen von Klängen, die man kennt, kann man schon ein großes Instrumentarium an Sounds erzeugen, die einem einerseits bekannt vorkommen und mit Hörgewohnheiten spielen, und doch andererseits jenseits dieser stattfinden. Zum Computer noch eine Sache, die für Theatermusik interessant ist, weil es im Theater ja auch um die Wiederholungen von Vorgängen geht. Mittlerweile benutze ich Ableton für alles: fürs Produzieren und Abspielen. Das Programm hat sich stark weiterentwickelt, MIDI implementiert, und die Klangerzeugung ist mittlerweile so mannigfaltig, dass man alleine mit diesem Programm eine ziemlich differenzierte Klangsprache entwickeln kann. Wenn man den Computer jetzt nicht benutzen würde, und müsste dann so einen Probentag in seiner ewigen Wiederholung begleiten, dann würde man sich ziemlich blöd vorkommen, immer wieder die gleichen Phrasen spielen zu müssen. Am Computer ist das sehr einfach, auch durch die Technik des Loopens. Ich habe mich da aber oft gefragt, ob mir das Loopen reicht – tut es natürlich nicht. Auf der anderen Seite bin ich mir nicht sicher, ob nicht das Repetitive in der Theatermusik auch ein Charakteristikum dieser Gattung ist. Es ist also nicht nur Produkt einer technischen Möglichkeit, die man hat, sondern auch ein künstlerisches Prinzip. Für das Endprodukt spielt es vielleicht gar nicht so eine große Rolle, dass es da viele Wiederholungen gibt, weil es, glaube ich, so eine Art Schwellenwert gibt, unterhalb dessen man die Wiederholungen gar nicht als störend wahrnimmt, sondern eher als interessant. Es geht ja auch um Musik in Kombination mit einer Vielzahl anderer Medien und Ausdrucksmittel: Körper, Stimme, Text, Raum, Kostüm und so weiter, so dass eine zu große Komplexität in harmonischer, melodischer oder rhythmischer Hinsicht eher problematisch wäre, weil sie zu viel Eigengewichtigkeit entwickeln würde. Es braucht Reduktion und Repetition, damit Platz bleibt für das andere. MB: Da geht die Anforderung, die man an Theatermusik hat, parallel

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mit einer Entwicklung in der Musik allgemein, weil ja, auch durch technologische Entwicklung, Musik in alle Lebensbereiche vorgedrungen ist. Man kann Musik immer bei sich führen, sie oft auch direkt unterbrechungsfrei streamen, so dass die Leute beim Musikhören ganz viele andere Sachen machen. Auch da kann Musik, die zu viel erzählt, nerven, wenn man was arbeiten will oder sich unterhalten will, aber man trotzdem gerne eine Musik dabei hätte. All das, was ich jetzt erzähle, gilt natürlich für ein Publikum, das in den letzten 30 Jahren sozialisiert ist, und es wird interessant sein zu beobachten, wie sich all das verändert vor dem Hintergrund der aktuellen kulturellen Sozialisierung, die die Menschen heute durchmachen. Sowohl das Theater als auch die Musik, über die wir sprechen, kennt noch die große soziale und politische Bewegung aus den 60er und 70er Jahren, die kennt noch die Gefühle der Nachkriegszeit. Wenn ich in anderen Bereichen außerhalb des Theaters arbeite, speziell mit Industrie und Multimedia-Agenturen oder so, da bin ich mit meinen musikalischen Mitteln und Hörgewohnheiten schon viel eingeschränkter. Da wird der Computer gar nicht mehr als eigenes Instrument wahrgenommen, sondern steckt in jeder Musik schon mit drin. Wenn man etwas anbietet, was sich nicht nach Computer-Musik anhört, wird das eher als fremd wahrgenommen. Wie wichtig sind dir für deine Arbeit Projekte außerhalb des Theaters, ob jetzt Werbung, Filmmusik, eigene Bands usw., was du ja auch alles schon mal gemacht hast? Befruchten sich diese Dinge gegenseitig? MB: Ich bin ja im Sound Design für Events deshalb angekommen, weil es keine bessere Ausbildung für eine*n Sound Designer*in gibt, als lange Jahre Theatermusik zu machen. Wir sind die absoluten Spezialisten dafür, mit ganz wenigen Klängen ganz spezifische Dinge zu erzählen und auch ganz spezifisch erzählerische Inhalte wegzulassen und auszublenden. Und wir sind Spezialisten in der Kommunikation darüber, gerade auch mit Leuten, die keine musikalische Bildung haben. Das ist ein großes Thema, auch in der Werbung, mit der ich gerade so ein bisschen angefangen habe. Wenn es da heißt: »das soll angenehm klingen«, fragt man sich natürlich: Was heißt das? Welche Form von angenehm? Aber das finde ich gerade so spannend, weil man da in noch viel kürzeren Zeiträumen noch genauer die Bedürfnisse von jemandem bedienen soll. Ich habe natürlich auch Kolleg*innen, die das grundsätzlich ablehnen, weil sie an diesem ganzen Kapitalismuswahnsinn nicht teilnehmen möchten und weil sie sich von solchen Vorgaben als Künstler*innen beleidigt fühlen. Ich sehe das im Gegenteil als große

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Herausforderung, mich auf so einen Begriff zu konzentrieren und zu schauen, wie ich das machen kann, so dass es für mich immer noch interessant und künstlerisch vertretbar ist, und dass es sich im Idealfall noch nach einer Malte-Beckenbach-Musik anhört. Ich habe in vielen Gesprächen herausgehört, dass es bei Theatermusik einerseits um eine Dienstleistung geht, es aber andererseits auch das Bedürfnis gibt, eine eigene Handschrift zu entwickeln, eine künstlerische Stimmigkeit herzustellen, dem Abend eine eigene musikalische Logik zu verleihen. MB: Ja, das erzählt sich einfach auch unbewusst mit. Es ist eben doch faszinierend, wie musikalisch differenziert auch ein*e ungeschulte*r Hörer*in Klänge wahrnimmt und erkennt, ob das irgendein allgemeines preset ist, oder ob es Klänge sind, die sich in einen größeren Klangkontext einsortieren, der eine Gesetzmäßigkeit hat. Das nimmt man als Hörer*in wahr, unbewusst, und verarbeitet das zu einer Information. In der Lebensmittelbranche (aber sicher auch woanders) gibt es den schönen Begriff der ›Anmutung‹ von Produkten, was beschreibt, welchen Eindruck ein Produkt insgesamt vermittelt. Ich glaube ja, dass die Theatermusik ganz wesentlich dazu beiträgt, welche Anmutung der Zuschauer von einer Theateraufführung mitnimmt. MB: Ja, das sind alles erzählerische Elemente, die man in die Musik mit reinnimmt. Beim Bernhardi, zum Beispiel, haben wir darauf geachtet, dass die Musik eben sehr hochwertig aufgenommen klingt und eine Komplexität hat, trotz der Repetition, und etwas sehr Sorgfältiges und Nuanciertes. Das alles sind Erzählmerkmale, die sich verweben mit der Erzählung, die an dem Abend stattfindet, und mit dem Raum. Vielleicht abschließend: Du hast im Vorgespräch erwähnt, dass du gerne der Theatermusik in Deutschland durch eine CD-Produktion ein Forum schaffen würdest, so dass man mal eine Kostprobe dessen verewigt, was da täglich auf vielen Hundert Bühnen erklingt und vergeht. Zum Teil gibt es so etwas schon von einzelnen Theatern, wenn z. B. ein bekannter Singer-Songwriter die Musik beisteuert und man die CD zur Inszenierung im Theater Shop kaufen kann. Einzelne Theatermusiker*innen dokumentieren auch ihre Arbeit auf SoundCloud oder früher MySpace. Aber ist das nicht ein großer Kompromiss angesichts dessen, dass diese Musik so stark durch den Raum und den szenischen Kontext, in dem sie erklingt, bestimmt ist?

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MB: Ich bin jetzt schon seit ein paar Jahren daran, eine Veröffentlichung

auf den Weg zu bringen als eine Art Sammlung und Vernetzung von Kolleg*innen, die ich so kenne. Dass sich Theatermusik so versendet, ist ja auch ein Qualitätsmerkmal: Ich kenne viele Kolleg*innen, die bewusst keine Internetseite haben und ihre Musik bewusst nicht hochladen, weil das zum Ausdruck bringt, dass, wenn du mein ›Werk‹ sehen willst, dann musst du zu einer bestimmten Uhrzeit an einen bestimmten Ort gehen, und nur da findet das statt. Gleichzeitig hat sich aus den letzten 20 Jahren Theatermusik auch ein gewisser Sound herausgebildet, ein eigenes Genre – oder vielleicht auch nicht, aber allein, um das herauszufinden, wäre es eben interessant, mal eine Sammlung zu machen. Das dürfte wahrscheinlich nicht zu sehr im kommerziellen Kontext passieren, da dort andere Gesetzmäßigkeiten herrschen. Auch wie so eine Veröffentlichung gestaltet werden könnte, sollte ganz in der Hand der Kulturschaffenden selbst bleiben. Ich sehe da die Möglichkeit, eine Öffentlichkeit für dieses Thema zu schaffen. Gleichzeitig ist das auch nur begrenzt interessant, weil sich nur ein Teil der Musik eignet. Es könnte aber eine Metaebene für uns Musiker*innen schaffen, sich darüber Gedanken zu machen, inwieweit Theatermusik außerhalb des Theaters gehört werden kann oder sollte, und was wir da eigentlich entwickelt haben in den letzten Jahren. Vielleicht müsste man, wie das klassische Schauspielmusik-Komponisten der Vergangenheit getan haben, die gerne mal im Konzertsaal präsent sein wollten, eigene Fassungen schreiben: wie Grieg mit seinen Peer Gynt-Suiten oder Bernstein mit seiner West-Side-Story-Suite? MB: Es ist bei mir schon rein technisch so, dass ich die Musik ja gar nicht als Stereoversion konzipiere oder erstelle. Ich kann das gar nicht mal eben jemandem auf dem Kopfhörer vorspielen, weil es eben eine 8- oder 10-Kanal-Aufnahme ist. Meistens habe ich dann am Ende einer Produktion keine Zeit und Lust, noch mal eine Stereoversion zu mischen. Man will die Musik dann auch lieber mal ein bisschen liegen lassen und kommt noch mal darauf zurück. Zu diesem Schritt kommt man aber meist nicht, es sei denn, dass man da einen Anreiz von außen hat. Das wäre eben so eine CD-Produktion. Ich habe aber auch an der Schaubühne angeregt, dass wir mal Musik auf der Webseite zum Streamen anbieten. Zu jeder Produktion gibt es Texte, Bilder und Videos – aber eben keine Musiken. Ich habe eben das Gefühl, dass dieses Genre auch nur dann als solches wahrgenommen wird, wenn wir Kunstschaffenden uns da auch ein bisschen darum bemühen.

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Malte Beckenbach wurde 1974 in Berlin geboren. Medizinstudium an der Charité Berlin, promoviert im Bereich Neuro-Genetik. 1992 Auslandsjahr am Lycée Racine, Paris. 1998 Gründung eines Labels für experimentelle elektronische Musik. 1999 erste Veröffentlichungen in Zusammenarbeit mit Falk Richter (Gott ist ein DJ und Nothing Hurts mit Anouk van Dijk). Seit 2000 Tätigkeit als freischaffender Komponist und Musiker an der Schaubühne. Insgesamt über 50 kompositorische Auftragsarbeiten u. a. für das Schauspielhaus Hamburg, das Residenztheater München, das Schauspielhaus Zürich, das Burgtheater in Wien, das Nationaltheater Oslo und das Festival d’Avignon mit Regisseuren wie Thomas Ostermeier, Falk Richter, Marius von Mayenburg, Benedict Andrews. Darüber hinaus zahlreiche Kollaborationen mit dem Elektro-Produzenten Robot Koch samt Veröffentlichungen auf Berliner Elektro-Labels wie u. a. Kitty-Yo, Tonkind, B-Pitch, Projekt Mooncircle und Monkeytown Records. www.maltebeckenbach.com

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Siehe z. B. Pearson, Mike: »Site-Specific Theatre«, in: Aronson, Arnold (Hrsg.): The Routledge Companion to Scenography, New York 2018, S. 295–301. Dolby ist eine Ausstrahlungstechnologie mit einer langen Geschichte und vielen Versionen seit den 1960er Jahren. Gemeint sind hier der einflussreiche Standard Dolby 5.1, bei dem Musik über sechs Kanäle abgespielt wird. Inzwischen gibt es Dolby Atmos, bei dem Klangobjekte frei im Raum platziert werden können und die Anzahl der möglichen Ausgangssignale stark angestiegen ist. Siehe https:// www.dolby.com/us/en/cinema/index.html (zuletzt aufgerufen am 23. November 2017). Das war die Monzoom-EP Träum schön Cassandra auf Beckenbacks eigenem Label »Conzoom, Cologne«. Instrumentalstücke, die zwischen den Akten einer Oper oder eines Schauspiels gespielt wurden, bezeichnet man als ›Entr’acte‹ oder Zwischenaktsmusiken. Professor Bernhardi von Arthur Schnitzler, Regie: Thomas Ostermeier, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere am 17. Dezember 2016. Siehe: Richter, Falk, Trust, hg. von Nicole Gronemeyer, Berlin 2010. Karte und Gebiet nach dem Roman von Michel Houellebecq, Regie: Falk Richter, Düsseldorfer Schauspielhaus, Premiere am 16. Oktober 2011. Lehman Brothers. Aufstieg und Fall einer Dynastie von Stefano Cassini, Regie: Marius von Mayenburg, Musik: Malte Beckenbach und Nils Ostendorf, Residenztheater München, Premiere am 29. Juni 2016. Siehe das Interview mit Nils Ostendorf in diesem Band. Die Tauben von David Gieselmann, Regie: Marius von Mayenburg, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere am 6. März 2009. In Anlehnung an Julia Kristevas Begriff der »Intertextualität« und mit Blick auf Ingrid Monsons Idee der »intermusicality« (Monson 1996), könnte man so eine stark zitathafte Musikverwendung auch als »Intermusikalität« bezeichnen. Siehe: Kristeva, Julia: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt am Main 1972 [1967], S. 345–375; Monson, Ingrid: Saying Something: Jazz Improvisation and Interaction, Chicago; London 1996. Siehe auch: Roesner, David: Musicality in Theatre – Music as Model, Method and Metaphor in Theatre-Making, Farnham 2014, S. 221–222. Auf Nachfrage nach dem ungewöhnlichen Begriff erklärt Beckenbach: »Ich habe diesen Begriff von Jan Kopp adaptiert, der uns im Rahmen der Produktion For the Disconnected Child (Regie Falk Richter, Uraufführung in der Schaubühne am Lehniner Platz am 14. Juni 2013) einen kleinen Vortrag zu den Grundprinzipien der Neuen Musik gehalten hat, wo er u. a. das Begriffstrio ›aperiodisch, aharmonisch, amelodisch‹ benutzte. Das wäre an dieser Stelle ja passend, denke ich, da es sich ja auf etwas vermeintlich ›Noch-nicht-Dagewesenes‹ bezieht.« Hedda Gabler von Henrik Ibsen, Regie: Thomas Ostermeier, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere am 28. Oktober 2005. Volksfeind von Henrik Ibsen, Regie: Thomas Ostermeier, Festival d’Avignon, Premiere am 18. Juli 2012. Siehe Koszarski, Richard: An Evening Entertainment. The Age of the Silent Feature Picture, 1915–1928, New York 1990, S. 131. Siehe Roesner: Musicality, S. 65.

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Lars Wittershagen: »Das Equipment ist viel kleiner geworden, die Möglichkeiten aber viel größer« Ein Gespräch am 27. August 2016 in Hamburg

Wie bezeichnest du deinen Beruf? Lars Wittershagen: Ich selbst bezeichne mich als Komponist für Schauspielmusik. Und im Programmheft steht einfach nur: Musik. Ich habe durchaus mal überlegt, ob da mal drinstehen sollte: ›Sound‹ oder ›Musik Installation‹, aber ich bin dann doch bei Musik geblieben, weil das der allgemeinste Begriff ist und auch der schlichteste. In Großbritannien, z. B., gibt es häufig bei Produktionen sowohl einen Komponisten als auch einen Sound Designer, die durchLars Wittershagen aus unterschiedliche Dinge tun Foto: privat und auch noch von den Tontechnikern am Abend unterschieden sind. Das scheint mir in Deutschland anders zu sein, oder? LW: Wenn ich mit der Tonabteilung zusammenarbeite und meine Musik und Sounds einrichte, dann ist es natürlich auch ein Sound Design, was wir da zusammen machen, aber es lässt sich eben nicht auseinanderklamüsern. Hinter solchen Begriffen und Arbeitsweisen verbirgt sich ja meist auch eine bestimmte Ästhetik. In Großbritannien findet man eben noch viel häufiger ein naturalistisches Sound Design bei naturalistisch gespielten ›well-made plays‹ vor. Aber lass uns an den Anfang gehen: Schauspielmusiker ist keine Ausbildung, kein Studium und auch keine geschützte Berufsbezeichnung. Wie war dein Weg? Wie hast du gelernt, was du heute brauchst? LW: Es fing damit an, dass ich als Jugendlicher in Bands gespielt habe. Dann wurde ich von einem Freund gefragt, ob ich in seiner Theatergruppe Musik machen könnte und habe mit 17 Jahren meine ersten Schau-

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spielmusiken gemacht.1 Der Austausch mit den anderen Künsten hat mir damals schon viel Freude gemacht. Auf der Suche nach einem Ort, wo man das studieren könnte, bin ich auf den Studiengang Kulturpädagogik in Hildesheim gestoßen. Die interdisziplinären Bezüge zwischen den Instituten stellten sich vor allem in den Projektsemestern her. Ich habe dann während des Studiums einige Praktika gemacht, vor allem bei dem Theater- und Film-Komponisten Biber Gullatz – so hat sich eine ganz gute Verbindung zwischen Theorie und Praxis ergeben. In Hildesheim habe ich dann meinen späteren Theaterpartner Sebastian Nübling kennengelernt, der auch dort studiert hatte und bei dem ich ein musikalisch-szenisches Projekt belegt habe. Bis heute lerne ich bei jedem Projekt dazu: Wir haben versucht, eine Theatersprache zu erfinden, die ganz stark rhythmisiert und musikalisiert ist. Seine Art zu arbeiten, hat meine Musik stark geprägt und umgekehrt. Hattest du Grundlagen, was Instrumentalspiel und kompositorische Techniken angeht? LW: Ja, ich hatte Gitarren- und Klavierunterricht, habe Tonsatz und Harmonielehre gelernt, auch Chor- und Orchesterleitung. Ein Hildesheimer Professor, Wolfgang Löffler, hatte mir auch angeboten, dass er sich Kompositionen von mir anschaut, und dann haben wir daran gearbeitet. Da wurde eine Grundlage geschaffen. Wichtig war es außerdem, Computerprogramme kennenzulernen und sich da hineinzuvertiefen. Diese technischen Fähigkeiten hast du dir aber vor allem autodidaktisch beigebracht? LW: Ich hatte mal einen Einführungskurs zu Cubase an der Uni, bin dann aber auf Logic umgestiegen und habe da von Anfang an die jeweiligen Entwicklungen verfolgt und gelernt. Da ich eigentlich von der Gitarre herkomme und nicht schon gewohnt war, Synthesizer zu programmieren, war das anfangs ganz schön viel Arbeit, sich da zurechtzufinden. War das auch sonst ein Hindernis, von der Gitarre zu kommen, die sich ja schlechter für die Arbeit mit MIDI und DAWs eignet? LW: Ich konnte das schon kompensieren, aber dadurch, dass ich bis heute kein guter Pianist bin, muss ich manchmal Umwege beim Basteln von Sounds und Umsetzen von Songideen gehen, die man sonst wahrscheinlich nicht machen würde. Dadurch entstehen aber oft auch interessante Dinge, so dass ich das nicht als hinderlich sehe.

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Das finde ich einen interessanten Gedanken, dass eine nicht idiomatische Art und Weise mit Instrumenten umzugehen, gerade für die Theatermusik produktiv sein kann, weil man dort ja häufig mit Genres spielt, ohne sie authentisch abbilden zu wollen. Da entsteht auch mal eine Fremdheit. LW: In der Popmusik, zumindest in der, die ich interessant finde, ist ohnehin alles erlaubt. Was DJs und Produzenten von elektronischer Musik geleistet haben, ist u. a., dass sie mit vielen Konventionen gebrochen haben. Ich hatte z. B. noch auf der Gitarre gelernt, Phrasen abzuschließen. Dann ist mir beim Hören einer Massive-Attack-Platte in den 90er Jahren aufgefallen, dass die das gar nicht machen. Das kommt natürlich daher, dass man hier eben mit cut and paste gearbeitet hat. Was damals neu klang, ist heute ein gängiges Verfahren. Oder das Verfremden von Instrumenten: Wenn jemand einen gesampelten Bass benutzt und damit aber eine ganz hohe Melodie spielt, noch mit einem Echo versehen, dann wird das ein neuer Sound, der mit dem eigentlichen Bassklang nicht mehr viel zu tun hat. Da entstehen zum Teil auch Rhythmen, wie sie ein Schlagzeuger nicht spielen würde – oder auch nicht spielen könnte. Wenn wir einen Schritt zurückgehen: Was sind für dich wesentliche Funktionen von Theatermusik – oder lässt sich das gar nicht mehr funktional bestimmen? LW: Ich mache Stimmungen, erzeuge Atmosphären, die die Bühnenhandlung mal unterstützen, mal dagegengehen. Mit Stimmungen meine ich jetzt aber nicht nur ›Atmos‹, sondern das kann auch mal eine Melodie oder ein vollständiges Musikstück sein. Die thematische und leitmotivische Arbeit ist bei mir häufig melancholisch gefärbt. Oftmals hat die Musik darüber hinaus eine strukturierende Funktion, z. B., um einen Übergang zu schaffen oder Teile voneinander abzusetzen. Ich versuche auch häufig, zusätzliche Bedeutungsebenen zu schaffen: Durch die Musik wird etwas erzählt, was nicht im Stücktext steht. Hinzu kommen dann noch die Lieder, aber das ist ein eigener Bereich. Wie bewusst oder kalkuliert entsteht bei dir Bedeutung durch Musik? LW: Das probiere ich auf den Proben aus. Bei den meisten Regisseur*innen ist es erwünscht, Musik bei den Improvisationen der Schauspieler*innen, beim Entstehen von Szenen einzuspielen und den Prozess so auch zu beeinflussen. Da bin ich sehr frei. Wenn etwas nicht passt oder mir nicht gefällt, probiere ich beim nächsten Mal etwas anderes aus. Bei anderen Regisseur*innen ist es bisweilen so, dass sie schon zu

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Probenbeginn sehr konkrete Vorstellungen haben und mir einen sehr klaren Rahmen vorgeben. Die beschreiben mir von außen, was am Ende da sein soll. Da versuche ich dann hinzuarbeiten. Das kann auch eine interessante Aufgabe sein. Einem Regisseur wie Simon Stone z. B. spiele ich die Musik dann vor den Proben vor, und erst, wenn es passt, setzen wir das szenisch ein. Dann stimmt die Musik eben schon! Bei Sebastian Nübling hingegen passiert alles parallel: Das ist auf den Proben wie so eine Ursuppe, wo jeder seine Zutaten hineinschmeißt, und am Ende entsteht dann etwas daraus. Im Vergleich zu früheren Praktiken der Schauspielmusik, als die Musik meist sehr spät zu einer weitgehend fertigen Inszenierung hinzukam, ist das, was du beschreibst, ja sehr anders. Vieles entwickelt sich parallel in einem organischen, zum Teil auch schwer planbaren Prozess … LW: Das stimmt für viele Regisseur*innen. Aber Bastian Kraft z. B. versucht, vieles schon vorauszudenken: Bühne, Kostüm, Musik: Das war zumindest bei Andorra2 der Fall. Das heißt dann aber nicht, dass vor den Proben alles schon feststeht. Es werden immer Sachen verworfen, neu gemacht etc. Es findet eine Entwicklung statt. Gibt es denn eine typische Chronologie in deiner Arbeitsweise? LW: Bei Sebastian, mit dem ich auch heute noch am meisten arbeite,

habe ich so einen bestimmten Stil, ja – bei den anderen3 ist das wieder anders. Bei Sebastians Arbeiten bin ich insgesamt in die künstlerischen Prozesse stärker eingebunden: manchmal schon bei der Stückauswahl, der Besetzung und bei konzeptionellen Fragen. Anfangs mache ich mir Gedanken über den Musikstil einer Inszenierung. Das passiert in Gesprächen mit Sebastian oder bei der Recherche, kann aber auch sehr intuitiv geschehen, z. B. markiere ich beim Musikhören immer verschiedene Titel. Die wandern dann in bestimmte Ordner in iTunes, wenn ich denke, sie könnten mit einem bestimmten Stück etwas zu tun haben. Das sind schon existierende Stücke, von denen ich mich dann inspirieren lasse. Ich habe auch Playlists mit Instrumentalmusik, die ich bei Proben ausprobiere, um mal eine Stimmung zu testen, einen Rhythmus oder ein Tempo. Vor den szenischen Proben ist für mich aber noch die Bauprobe sehr wichtig; das ist meistens so die erste sinnliche Erfahrung, die man macht. Welches Material da auf der Bühne ist, hat auch wieder eine Auswirkung auf die Soundauswahl, oder wie viel Platz die Bühne lässt. Das ist wichtig, weil ich mit der Musik ja gewissermaßen auch bestimmte Räume baue. Wenn die Bühne schon ›zugerümpelt‹ ist, dann

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hat es die Musik oft schwerer, als wenn es sich um offene, zeichenhafte Systeme handelt. Ich mag ›leere‹ Bühnen. Ist das auch Thema zwischen dir und der Bühnenbildner*in? LW: Manchmal. Häufig geht es auf der Bauprobe aber schlicht um die Position der Lautsprecher, die für meine Arbeit ziemlich wichtig ist. Wo stehen die Klangquellen im Bühnenbild? Du suchst also im Vorfeld Referenzpunkte, die entweder für das Stück oder das Thema eine Rolle spielen. Mit Sebastian machst du ja sowohl Klassiker, neue dramatische Texte, Romanbearbeitungen und Stückentwicklungen – sind die von der Arbeitsweise her sehr unterschiedlich? LW: Nein, das ist im Prinzip ähnlich. Wichtig ist auch die erste Leseprobe, wo man den Klang der Stimme der Schauspieler hört. Manchmal stehen auch im Stück musikalische Anweisungen, bei Tennessee Williams ist das z. B. häufig der Fall.4 Das recherchiere ich dann und spiele es den Schauspielern vor. Bei Orpheus steigt herab5 z. B. werden ganz konkrete Musiker und Stücke vom Autor genannt: Es ist einfach interessant zu hören, was er sich da gedacht hat. Davon lasse ich mich schon beeinflussen, sehe, welche Stimmung er meint. Man behält das im Hinterkopf für die eigene Komposition. Das eigentliche Komponieren, wo passiert das? LW: Zum Teil auf der Probebühne, zum großen Teil in der Theaterwohnung. Ich bin sehr viel auf den szenischen Proben. Dort probiere ich Musiken aus, und abends oder nachts arbeite ich dann an den Kompositionen, die ich dann am nächsten Tag wieder ausprobiere. Bei einigen Regisseur*innen, wie z. B. Lars-Ole Walburg, Hakan Savaş Mican oder Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo, gibt es oft ganz konkrete Kompositionsaufträge. Sehr selten komme ich wie bei Simon Stone erst zu den Bühnenproben, um das dann auszuprobieren. Das ist natürlich ein ganz anderes Arbeiten. Man hat mehr Freizeit! [lacht] Man kann intensiver in den Mikro-Strukturen von Arrangements arbeiten, während bei Sebastian die Verschmelzung von szenischem Spiel und Musik vielleicht stärker ist, bzw. sich Szenen überhaupt nur gemeinsam so entwickelt haben. Ich finde, man merkt das auch im Ergebnis: Bei Simon Stone hatte ich den Eindruck, dass Musikstücke viel stärker als Nummern gesetzt sind, während bei Sebastian die Musik permanent zwischen Vorder- und Hintergrund changiert.

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LW: Es gibt einige unserer Stücke, die praktisch komplett mit Musik un-

terfüttert sind. Das wünschen sich aber Regisseur*innen immer mehr von mir, wie zuletzt bei Glaube Liebe Hoffnung 6 von Hakan Savaş Mican oder Rom7 von Karin Henkel.8 Wie verstehst du deine Musik, wenn es eigentlich keine Stückstrukturen mehr sind? LW: Ich melde z. B. bei der GEMA nicht mehr einzelne Parts an, sondern das ganze Werk, z. B.: »Schauspielmusik zu Camino Real, 1 Std. 30 Min.«. Das spiegelt meine Arbeit besser wider. Selbst wenn da mal keine Musik ist, ist das eher wie eine komponierte Pause in der Musik. Oder vielleicht ist noch ein Mikro offen, und ich lege noch einen Hall auf ein paar Sätze. Da verflüchtigt sich ja auch so etwas wie ein Werkbegriff. Was gehört zur Musik, was nicht? LW: Auch die Geräusche, die die Schauspieler*innen auf der Bühne machen, gehören dazu: Welche Schuhe wählt man? Was für einen Untergrund hat man? In welche Richtung spricht die Schauspieler*in? Wie klingt der Bühnenraum? Das hat alles etwas mit Musik zu tun. Simon Stephens hat das mal in einem Vortrag mit dem Titel »Five things I learned from Sebastian Nübling« gesagt: »Sprache ist Musik«.9 Und das finde ich eben auch: Wenn ich Musik mache, z. B. zu einem Stück vom Simon Stephens, dann verhalte ich mich immer auch zu dem gesprochenen Klangereignis. Deshalb sage ich eben auch: »Schauspielmusik zu Camino Real« und nicht: »Auftrittsmusik 1« oder »Melancholie Atmo 4«, weil für mich das Ganze das Werk ist. Was ist dein Set-up auf den Proben, wenn du die Musik dort live entwickelst? LW: Ich habe meinen Computer, meine Festplatten, Hardware Controller, meine Programme – beim Komponieren und auf den Proben verwende ich Apple Logic und Komplete Ultimate von Native Instruments, später bei der Einrichtung Ableton Live – und dann brauche ich Lautsprecherpaare vorne und hinten … … die du auch schon auf der Probe einzeln ansteuern kannst? … LW: … genau, über eine externe Soundkarte geht das. Meistens habe ich dann noch zwei Gesang-Mikrofone, falls einem/einer Schauspieler*in danach ist, da ein paar Sätze hineinzusprechen [lacht], und ich habe oft noch Richtrohre oder Grenzflächen-Mikrofone, die ich gerne benutze, um

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Sprache und Raumklänge über reverb und delay zu manipulieren. Manchmal kommen auch andere Effekte, wie z. B. pitch shifter, zum Einsatz. Heißt das, dass du bei Sebastian schon damit rechnest, Geräusche, die von der Bühne kommen, ins Sound Design mit einzubauen? LW: Ja. Aber das sehe ich immer als Teil meiner Arbeit an. Bei Sebastian Nübling ist die Zusammenarbeit aus der Begegnung an der Uni entstanden – wie kommen andere Regisseur*innen auf dich? LW: Lars-Ole Walburg kannte meine Arbeitsweise aus meiner Basler Zeit und hatte mich deshalb gefragt, mit ihm zu arbeiten. Ähnlich war es bei den Arbeiten mit Ene-Liis und Tiit. Die kannten mich aus den Koproduktionen von den Kammerspielen mit NO99, die Ene-Liis ausgestattet hatte. Bastian, Karin und Simon kannten mich nur über die Inszenierungsergebnisse, aber nicht über die Arbeitsprozesse. Simon hatten zwei Arbeiten von mir gefallen, und er sagte zu mir: »So etwas möchte ich auch!«. Er hat aber einen völlig anderen Arbeitsprozess! Dabei ist dann trotzdem etwas Interessantes entstanden. Anderen Regisseur*innen wurde ich von der Dramaturgie eines Hauses empfohlen, wie bei Hakan, Miloš oder Ayham. Es scheint, dass es so wahrgenommen wird, dass du offensichtlich eine eigene musikalische Handschrift hast, während man an Theatermusiker oft auch den Anspruch hat, musikalische Chamäleons zu sein, also je nach Stück sehr wandlungsfähig. Gibt es etwas, das typisch und wiedererkennbar ist für deine Musik? LW: Ich glaube, was von mir gefordert wird, ist teilweise extrem unterschiedlich. Mal sind es Live-Chöre, mal Einspielungen, verschiedene Stilistiken, und so dachte ich lange von mir, dass ich gar keine eigene Handschrift habe, weil ich eben in so unterschiedlichen Feldern arbeite. Oder höchstens, dass die Handschrift darin besteht, dass ich so flexibel bin. Aber mittlerweile denke ich das nicht mehr: Ich glaube, es ist zum einen der melancholische Charakter, von dem ich vorhin gesprochen habe, und eine bestimmte Auswahl an Sounds und Klangfarben, sowie der elektronische Charakter meiner Kompositionen, die einen Wiedererkennungseffekt haben. Ich kann da bei dir auch nicht den Finger drauflegen: Es gibt einerseits eine enorm große Palette von Idiomen, mit denen du spielst – von Blaskapelle über Fußballchöre bis zu Bossa-Nova und Dubstep …

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LW: … aber alles muss einmal durch meinen Computer [lacht].

Du hast davon gesprochen, dass du gerne Lieder verwendest. Manchmal sind die ja schon im Stücktext gefordert, wie bei den Shakespeare-Inszenierungen10, die ihr gemacht habt. Wovon hängt sonst die Entscheidung ab, Lieder zu verwenden, und wie gehst du dabei vor? LW: Die Schauspieler sind dabei wichtig. Gerade bei Sebastian erfinden wir häufig Figuren, die es im Stück nicht gibt oder die vielleicht nur wenig Text haben, die aber einen größeren Anteil an der Inszenierung bekommen sollen – was dann über Lieder funktioniert. So wie z. B. der estnische Schauspieler Risto Kübar in Three Kingdoms? LW: Richtig. Bei Romeo und Julia waren es z. B. gar nicht die Gedichte,

die ich vertont habe, sondern Texte der Julia, die ich auf Englisch benutzt habe, gesungen von Lady Montague. Das ist eine Figur, die im Stück kaum Text hat, bei uns aber während der ganzen Aufführung als ein somnambules, traumwandlerisches Wesen auf der Bühne ist und Lieder singt und so die tragische Liebesgeschichte begleitet, unterstützt und kommentiert. So ein Lied öffnet manchmal eine ganz neue Welt. Wenn so eine Idee am Anfang schon steht, dann fangen die Dramaturgie und ich an, Texte zu suchen, die ich dann vertone. Das passiert dann schon relativ früh während des Probenprozesses und bildet den Grundstock für die übrige Schauspielmusik: Sounds, Harmonien, Melodien. Wie verbindest du die zum Teil recht organische Entstehungsweise der Musik auf Proben mit dem Anspruch, doch so etwas wie eine kohärente Musiksprache und Struktur für jede Inszenierung zu finden? Da werden ja Motive wiederaufgenommen, Sounds kehren wieder, bestimmte Elemente dienen der Figurencharakterisierung – das ist ja auch eine dramaturgische Arbeit, die da passiert. LW: Genau. Es gibt parallel zum Stück auch eine Entwicklung der Musik – das ist mir sehr wichtig! Das ist die Frage, die wir uns stellen: Worauf soll die Inszenierung, auch musikalisch, hinauslaufen? Was ist die musikalische Logik? LW: Genau – das fragt Sebastian manchmal eben mich: »Weißt du denn schon, wie es enden soll«? [lacht] Genauso, wie sich Figuren entwickeln, entwickeln sich auch musikalische Themen durch den Abend oder werden zusammengeführt.

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Sebastian hat ja eine Vorliebe für solche ›Trickster‹-Figuren, poetische Zwischenwesen11, die so halb zum Bühnengeschehen gehören, aber halb auch Vermittlerfiguren sind … LW: … so eine Puck-Figur, die Sachen anstößt … … welche Bedeutung haben diese Figuren für die Musik? LW: Da wird der Staffelstab häufig an mich übergeben [lacht]. Ich habe dann die Möglichkeit, mit Hilfe von Songs oder instrumentalen Stücken so eine Figur durch die Inszenierung zu begleiten. Auch wenn die Mehrzahl deiner Theatermusiken eine Mischung aus Einspielungen und Livemusik sind, bist du eher selten selbst mit auf der Bühne. Aber wenn das der Fall ist, wie empfindest du dich dann? LW: Dann bin ich auch Darsteller, wenn ich mit auf der Bühne sitze. Für die Theatermusik ist es dann schwerer: Man hat noch weniger als sonst einen objektiven Blick auf die Musik. Ich mache das total gerne, finde es aber auch schwer. Mischen sich da ästhetische Überlegungen, warum das interessant wäre, dich als Musiker auf der Bühne zu haben, mit pragmatischen? Was gibt hier den Ausschlag? LW: Als wir das bei Dido und Aeneas 12 zum ersten Mal gemacht haben, da gab es die Musik von Purcell von einem Barockorchester live gespielt und meine elektronischen Bearbeitungen, und da war es Sebastian wichtig, dass diese zweite Ebene auch sichtbar ist und nicht einfach aus dem Off kommt. Das sollte auch der Computer als Instrument präsent sein, und die Einsätze sollten live kommen. Bei Mütter. Väter. Kinder.13 war noch ein anderer Regisseur und Musiker dabei [Tom Schneider], mit dem ich das zusammen gemacht habe, da war das klar: Das ist ja ein Stück über uns, und da gehören wir auch auf die Bühne. Und bei Die Nacht von Lissabon14 in Hannover waren ich und meine Musik Dialogpartner für den Schauspieler Silvester von Hösslin. Wir haben das Thema Technologie schon gestreift: Welche Rolle spielt sie bei dir? Wie setzt du sie ein? LW: Für mich hat sie eine große Bedeutung. Es ist für mich wichtig, in Bezug auf Software und Hardware auf dem neuesten Stand zu sein, weil ich mich auch sehr stark an aktueller Musik orientiere. Es gibt einfach immer neue Möglichkeiten, die meine Arbeit beeinflussen, neue Tools, die ich dann benutze. Natürlich schafft man auch manchmal etwas an,

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was sich dann doch auf Proben als eher nutzlos herausstellt, aber insgesamt spielt die Technologie eine große Rolle für mich. Wie ist das Zusammenspiel: Ist erst die Idee da und dann die Suche nach der Technologie, die das umsetzen kann, oder entsteht die Idee in der Interaktion mit bestimmten Interfaces, Programmen, Tools? LW: Man muss sein Equipment gut kennen und im Griff haben. Gleichzeitig ist das meiste so umfangreich, dass man gar nicht alles kennen kann! Da gibt es eben Situationen, bei denen man etwas umsetzen möchte und im Prinzip weiß, dass das Equipment das kann; man weiß aber noch nicht, wie! Dann befasst man sich damit. Oder man weiß: Es geht nicht, und dann bespricht man sich mit der Tonabteilung, ob es andere Lösungen gibt – neue Software, andere Hardware. Ich will z. B. bei der nächsten Produktion15 mit Funklautsprechern arbeiten, die von den Schauspieler*innen umhergetragen werden können. Darüber sollen Teile einer Diskussion von ›Experten‹ zum Thema Informationsbeschaffung, Medienkonsum, und -manipulation wiedergegeben werden, die wir vor Probenbeginn aufgenommen haben. Damit kenne ich mich noch nicht aus, aber da recherchiert jetzt die Tonabteilung für mich: Wie groß und schwer sind die? Was kosten die? Die Tonabteilungen, mit denen ich zu tun habe, sind auch gerne in diese Arbeitsprozesse mit integriert. Das ist ein gegenseitiger Austausch. Arbeitest du noch mit Notation? LW: Wenig. Bei Liedern drucke ich manchmal ein leadsheet mit Text und Melodie aus, oder mal eine Stelle für einen Instrumentalmusiker, aber im Prinzip ist das Arrangement-Fenster in Logic bzw. die Session-Ansicht in Live meine Partitur. Das hat sich ja eben auch geändert: Die Vorgänge des Komponierens, Instrumentierens, Arrangierens, Aufnehmens, Abhörens und Mischens, die früher chronologisch und personell getrennt waren, vermischen sich in der heutigen Produktionsweise ganz stark. LW: Manchmal ist es sogar so, dass man einen Sound findet und um diesen Sound herum ein ganzes Stück entwickelt. Bei Was ihr wollt z. B. hatte ich etwas gefunden, was ein bisschen nach Echolot klingt. Das passte gut zu der Anfangssituation des Stücks. Hier ist es also eine konkrete Assoziation, die den Sound mit der Geschichte verbindet. Was sind sonst Kriterien für dich bei der Suche

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und Auswahl von Sounds? Man muss ja so etwas wie einen eigenen Geschmack entwickeln. LW: Ja, was man benutzt und was nicht, ist eine Geschmacksfrage. Da bilden sich einfach Präferenzen heraus: Rumpelt der Schlagzeugsound schön, ist es nicht zu aufdringlich oder klingt es zu sehr nach Achtziger-Stadionrock …? Und dann gibt es eben Kriterien für das jeweilige Stück. Da kann es mal wichtig sein, diesen Eurodance-Melodie-Synthesizer zu haben, weil der so einen synthetischen Fanfarensound hat und man den gerade genau braucht. Dann verwende ich das, auch wenn das normalerweise nicht unbedingt zu meiner Soundpalette gehört. Das funktioniert dann auch eher wie ein Zitat, oder? LW: Genau. Oder man überlegt: Im Stück stehen hier Trompeten – was wäre denn eine heutige Entsprechung? Oder man sucht nach einem Störgeräusch und überlegt: Was empfinden wir heute als besonders störende Laute? Das heißt, man setzt sich nicht nur mit dem Stück und der dort entworfenen Welt auseinander, sondern immer auch mit Hörgewohnheiten, -moden und -ästhetiken von heute? LW: Für mich gilt das auf alle Fälle. Wie würdest du für deine Arbeit das Verhältnis von Konzeption und Intuition beschreiben? LW: Das ist ein dialogisches Verhältnis. Manchmal stolpert man über einen Sound, findet den toll, und daraus entwickelt sich etwas. Das passiert eher auf der Ebene der einzelnen Tracks, aber dann bettet man das ja in einen dramaturgischen Gesamtzusammenhang ein. Es reicht nicht, darauf zu vertrauen, dass die Dramaturgie schon durch die Geschichte und die Figuren gegeben ist und die Musik jetzt machen kann, was sie will. Dann wäre die Musik immer nur rein funktional, Mittel zum Zweck und keine eigene Sprache oder Spur. Es ist ja häufig sogar andersherum: Was früher durch den Stückzusammenhang geleistet wurde, gibt es heute häufig gar nicht mehr, und das übernimmt dann u. a. die Musik – etwa bei Inszenierungen, die stark auf Textcollagen basieren. LW: Stimmt, bei Jörg [Gollasch]16 kann man das häufig beobachten, dass die Musik so ein Projekt zusammenhält, und bei mir ist das oft auch so.

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Gibt es wichtige Einflüsse für deine Arbeit? LW: Einerseits gibt es Musiker und Bands, die ich schon viele Jahre lang

beobachte, andererseits beschäftige ich mich insgesamt sehr intensiv mit aktueller Musik: Ich kaufe viele neue Alben, höre und ›zerlege‹ die dann und ordne das bestimmten Playlists auf meinem Computer zu: Ich habe zu vielen Kategorien Playlists, wo dann z. B. steht: ›Bläser‹, ›Streicher‹, ›Instrumentalstück‹, ›Atmo mit Beat‹, ›Atmo ohne Beat‹, › heiter‹, ›traurig-schleppend‹. Gibt es auch andere Theatermusiker*innen, die dich beeinflussen? LW: Unter den Kolleg*innen kennt man sich ja eigentlich nicht so gut,

weil man selten zusammenarbeitet. Man kennt vielleicht ein paar Inszenierungen. Da habe ich dann eher eine Vorliebe für die Leute, die ganz anders arbeiten als ich, wie z. B. Clemens Sienknecht oder [Christoph] Marthaler – das mag ich dann einfach. Die Funktion der Musik ist oft ähnlich, aber sie ist ganz anders gemacht. Gibt es für dich ein bestimmtes Procedere? Was schreibst du als Erstes? LW: Bei Songs mache ich es immer so, dass ich das anhand des Textes

mit Gesang und Gitarre ausprobiere. Gar nicht am Computer? LW: Nee. An der Gitarre lege ich eine Harmoniestruktur fest und spiele das dann einfach über das Computer-Mikrofon ein. Dann arrangiere ich drum herum. Bei Instrumentalstücken ist es unterschiedlich: In letzter Zeit fange ich oft mit einer Basslinie an. Manchmal braucht man auch gar nichts anderes. Über Bässe geht die Sprache immer noch gut drüber, dann kann man noch ein paar sehr hohe Töne dazunehmen, eine HiHat oder ein Knistern, das reicht manchmal schon. Ich habe den Eindruck, dass sich die Theatermusik in letzten Jahren stark entwickelt hat und sich zum Teil ganz neu behaupten muss gegen bestimmte Chronologien und Hierarchien in der Arbeit. Was sind deine Erfahrungen? LW: Man muss manchmal mit Konventionen brechen. Z. B. musste ich den Tonabteilungen immer wieder sagen, dass bei meiner Arbeit die Hauptklangquelle hinter den Schauspielern sein soll, die Musik also aus dem Bühnenhintergrund kommen soll, auch wenn die besten Lautsprecher vorne im Portal hängen. Die werden dann mit einer Verzögerung zu den hinteren Lautsprechern über eine delay line angetriggert, damit

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man die Präsenz nicht verliert. Oder bei der Mikrofonierung mit Grenzflächen gab es oft Bedenken, dass es dann pfeifen17 könnte. Das stimmt aber meist gar nicht, weil man das filtern kann. Ich arbeite seit 18 Jahren so, muss mir aber manchmal heute noch anhören, dass das nicht geht [lacht]. Ich fordere z. B. auch genauso viel Zeit für die Toneinrichtung wie für die Lichteinrichtung – das ist aber immer noch ungewöhnlich. Gibt es Dinge, die du ablehnen würdest zu tun? LW: Also, ich will mich nicht nackt auf die Bühne setzen [lacht], aber sonst habe ich schon oft im Theater Dinge gemacht, die an meine Grenzen gingen: Wenn mich etwas handwerklich fordert – wie z. B. eine Barockoper zu bearbeiten wie bei Dido und Aeneas oder Judith 18 oder Fußballchöre auf Italienisch zu schreiben19 oder in einer Produktion20 alles nach Jazz klingen zu lassen, wo ich nicht so zu Hause bin. Das passiert mindestens ein Mal in der Spielzeit, dass mich etwas extrem herausfordert. Man wird natürlich auch durch die Regie und das ganze Team unterstützt. Theater verstehe ich als einen kollektiven Prozess, in dem man sich gegenseitig hilft. Das ist ja vermutlich bei Schauspieler*innen auch so, dass sie nicht immer das spielen wollen, was sie ohnehin schon im Schlaf können. Aber ich finde eben bemerkenswert, dass einige Theatermusiker*innen das ähnlich thematisieren: sich herausfordern zu wollen und nicht bei dem zu bleiben, was sie schon virtuos beherrschen. Das schlägt auch den Bogen zurück zum Anfang unseres Gesprächs und der Frage, welche Ausbildung eigentlich sinnvoll ist. Wie viel Routine und Erfahrung braucht es und wie viel bewusste Selbstüberforderung? LW: Das nimmt manchmal auch lustige Entwicklungen. Mit dieser Jazzmusik-Geschichte war es so, dass Bruno Cathomas den Maler Osvald in Gespenster spielt, der bei uns dann aber ein Musiker ist. Zufällig hatte Bruno mal Trompete in so einer Schweizer Bergkapelle gespielt und war dann bei uns eben Jazztrompeter [lacht]. Da habe ich so viel von ihm gelernt, wie man das auf der Bühne einfach behaupten kann, man sei jetzt ein experimenteller Jazzer! Da habe ich meine Musik dann drumherum gebaut. Es tut so ›als ob‹ und ist dann eigentlich etwas Neues! Man muss da mit einem Selbstbewusstsein herangehen … … und es ist kein Versuch, das realistisch zu machen! Beim Film würde man dem Schauspieler sechs Monate lang Trompetenunterricht geben, aber hier ist es eben Theater und eine Behauptung, die den Zuschauer

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einlädt, sich darauf einzulassen. Das zu finden, was in diesem Rahmen funktioniert, ist das Spannende. LW: Bei uns singen auch häufig die Leute, die eigentlich keine ausgebildeten Stimmen haben! Da findet man dann häufig etwas, was einen ganz eigenen Charakter hat und berührend ist, auch wenn jemand nicht jeden Ton trifft. Das ist in der Wirkung manchmal viel stärker als jemand, der gerade mit einer ausgebildeten Gesangsstimme von der Schauspielschule kommt. Das ist wie Bühnenfechten lernen – das kann man auch nur ganz selten gebrauchen [lacht]! Du bist jetzt schon eine ganze Weile im Geschäft – seit Ende der Neunzigerjahre. Was scheinen dir rückblickend wesentliche Entwicklungen der Theatermusik gewesen zu sein? LW: Für mich als Theaterkomponist war die größte Veränderung schon die Entwicklung vom Analogen zum Digitalen. Das Equipment ist viel kleiner geworden, die Möglichkeiten aber viel größer. Es ist viel unkomplizierter und bezahlbarer geworden, auch in den Theatern mehrspurig zu arbeiten. Du arbeitest ja viel mit vorproduzierten Einspielungen: Da hat sich aber auch viel verändert gegenüber der Bandmaschine … LW: … ja, natürlich. Früher musste man Musiken sehr genau auf eine bestimmte Länge hin komponieren, weil nach 23 Sekunden etwas auf der Bühne passieren sollte. Heute kann man mehrere Spuren so aufbauen, dass man innerhalb des Tracks auf die Bühnenereignisse reagieren kann. Das ist jetzt viel flexibler. Ist das Abspielen stärker ein Mit-Musizieren? LW: Genau – man kann sehr präzise bestimmen, wann Klänge einsetzen, woher sie kommen, ob sie vielleicht von der Bühne in den Zuschauerraum wandern, wann etwas Neues hinzukommt … Man kann zu jeder Zeit ganz genau mit der Bühnenhandlung mitgehen. Früher hatte man einen Stereo-Mix, den man nur lauter, leiser oder ausmachen konnte [lacht]. Da mussten sich die Schauspieler teilweise sehr genau nach der Musik richten, und zwar in jeder Vorstellung, jeden Abend gleich! Heute hat man unendliche Möglichkeiten. Das hat auch die Zusammenarbeit mit den Tonabteilungen verändert. Die sind zum Teil auf mich zugekommen und haben gesagt: »Schau mal, das ist unser neues Equipment, und da kann man all diese Dinge damit machen«. Heute wird aber leider in vielen Tonabteilungen Personal gespart. Oder die Bühnenprobenzeit

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schrumpft extrem zusammen, so dass es dann kaum noch Schließtage und damit ausreichend Zeit für Toneinrichtungen gibt. Die Theatermusiker*innen müssen dann Aufgaben übernehmen, die früher ein/eine Tontechniker*in gemacht hat. Das bedauere ich sehr, weil dann der kreative Austausch mit den Tonmeister*innen immer weniger stattfinden kann. Durch Sparmaßnahmen und Zeitdruck droht da etwas verloren zu gehen. Findest du, dass die Theatermusik – obwohl sie objektiv enorm an Bedeutung gewonnen hat – immer noch etwas marginalisiert ist? LW: Ja, das sieht man schon an der Bezahlung! Kostüm und Musik verdienen immer noch sehr viel weniger als Bühnenbild und Regie. Woran liegt das? LW: Das ist einfach Tradition. Aber eine große Schieflage! Ich kenne mittlerweile so viele Musiker, die sich diesen Beruf einfach nicht mehr leisten können! Und es findet sich halt immer jemand, der noch in einer WG lebt und den Job günstig machen kann. Wenn man Familie hat, wird das oft knapp – man muss schauen, dass man die Spielzeit vollbekommt. Begründen die Theater das? Wenn man in Arbeitsstunden rechnet, ist der Aufwand für eine Theatermusik vermutlich zum Teil deutlich höher als für ein Bühnenbild? Oder ist das gar nicht die Währung, in der man da denkt? LW: Ich vermute, die Theater haben Angst – auch bei Videokünstler*innen – Präzedenzfälle zu schaffen, wenn man Theatermusiker angemessen und verhältnismäßig entlohnt. Sie können ja nicht die Bühnenbildner*innen und Regisseur*innen auf einmal schlechter bezahlen, sondern sehen nur die Kosten, wenn man das angleichen würde. Bei der Regie verstehe ich ja den Unterschied im Gehalt: Da geht es auch um mehr Verantwortung und um so etwas wie eine ›Marke‹: Menschen gehen ins Theater, um eine Inszenierung von Karin Henkel oder Michael Thalheimer zu sehen, aber nicht wegen der Theatermusik von Lars Wittershagen [lacht]. Aber was die anderen Gewerke betrifft, wird es schon schwieriger, das zu begründen. Hat das auch damit zu tun, dass man zwar Regie, Schauspiel, Bühnenbild und Kostümbild studieren kann, Schauspielmusik aber nicht? Ist das noch das Vorurteil, dass im Prinzip jeder Theatermusik machen kann, der einige Platten zu Hause hat?

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LW: Ich glaube eher, es ist das Vorurteil, dass Schauspielmusiker*innen mehrere Produktionen parallel machen können und viel von zu Hause arbeiten können. Das stimmt aber heute gar nicht mehr; im Gegenteil: Wenn, dann können das eher noch die Bühnenbildner*innen!

Es gibt ja in letzter Zeit einige Initiativen für mehr Gerechtigkeit am Theater wie das Ensemble Netzwerk – vielleicht wäre das ein Ort, um Dinge in Bewegung zu bringen.21 Fehlt den Theatermusiker*innen auch einfach so etwas wie eine Lobby? In Großbritannien gibt es z. B. die Association of Sound Designers22, die als Interessenvertreter fungieren, Workshops und Treffen organisieren und Mitglieder unterstützen.23 LW: Ja, das wären vielleicht sinnvolle Schritte. Da haben wir in Deutschland noch etwas nachzuholen.

Lars Wittershagen wird 1969 in Schwerte geboren. Von 1992 bis 1998 studiert er Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und arbeitet dort bis 2000 als Lehrbeauftragter am Institut für Theater und Medien. Gleichzeitig ist er in der freien Theaterszene als Theatermusiker tätig. Bereits seit 1998 verbindet ihn eine enge Zusammenarbeit mit dem Regisseur Sebastian Nübling. Gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Muriel Gerstner entstanden Produktionen am Theater Basel, dem Staatstheater Stuttgart, dem Schauspiel Hannover und den Münchner Kammerspielen. Mit Dido und Aeneas am Theater Basel gewinnen sie 2007 den 3sat Preis. Gegenwärtig arbeitet Wittershagen mit den Regisseur*innen Sebastian Nübling, Robert Lehniger, Hakan Savaş Mican, Karin Henkel, Bastian Kraft, dem Regieduo Ene-Liis Semper/Tiit Ojasoo, Simon Stone, Peter Kastenmüller und Lars-Ole Walburg am Gorki in Berlin, dem Hamburger Thalia Theater, dem Hamburger Schauspielhaus, dem Schauspielhaus Zürich, dem Deutschen Theater in Berlin, dem Schauspiel Hannover und dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Daneben ist er immer öfter in der Lehre tätig, so beim internationalen Forum 2011 in Berlin, an der Otto-Falckenberg-Schule in München, der Theaterakademie in Hamburg und der Schola Cantorum Basiliensis.

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Die Theatergruppe hieß »Ökumenische Jugend 5,4«, damals geleitet von Tobias Bäcker. U. a. realisierte die Gruppe im Jahr 1991 eine sehr ambitionierte Faust-Produktion, bei der Lars Wittershagen die Komposition und musikalische Leitung übernahm. Andorra von Max Frisch, Regie: Bastian Kraft, Schauspielhaus Zürich, Premiere am 4. Mai 2016. Lars Wittershagen hat u. a. mit Lars Ole Walburg, Bastian Kraft, Simon Stone, Hakan Savaş Mican, Karin Henkel, Ayham Majid Agha, Miloš Lolić, Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo gearbeitet. An den Münchner Kammerspielen inszenierte Sebastian Nübling drei Stücke von Tennessee Williams, jeweils mit Musik von Lars Wittershagen: Endstation Sehnsucht (Premiere am 19. Januar 2010), Orpheus steigt herab (Premiere am 29. September 2012) und Camino Real (Premiere am 28. März 2015). Orpheus steigt herab von Tennessee Williams, Regie: Sebastian Nübling, Münchner Kammerspiele, Premiere am 29. September 2012. Glaube Liebe Hoffnung nach Ödön von Horváth, Regie: Hakan Savaş Mican, Maxim Gorki Theater Berlin, Premiere. Die Inszenierung hatte am 13. Januar 2018 am Maxim Gorki Theater in Berlin Premiere. Über die Musik schreibt Georg Kasch: »Überhaupt die Musik: Zusammen mit einigen anderen Szenen bildet sie die emotionalen Glutkerne des Abends. Lars Wittershagen legt den kühlen Beat aus, über dem der fabelhafte Daniel Kahn mit seinen wilden Songs zwischen jiddischem Folk und Kurt Weill an Klavier, Gitarre und Akkordeon die Konflikte und Sehnsüchte auf eine Formel bringt.« (Georg Kasch: »Sing, wenn du nicht weiterweißt«, nachtkritik.de, https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=14863:glaube-liebe-hoffnung-hakan-savas-mican&catid=38&Itemid=40, zuletzt aufgerufen am 12. April 2018). Rom von John von Düffel nach Texten von William Shakespeare, Regie: Karin Henkel, Deutsches Theater Berlin, Premiere am 16. März 2018. Diese Produktionen waren erst nach dem ursprünglichen Interviewtermin und sind in der Phase der Überarbeitung als Beispiele eingeflossen. Simon Stephens ist ein bedeutender zeitgenössischer britischer Dramatiker, dessen Stücke Nübling und Wittershagen häufig uraufgeführt haben (Reiher, Staatstheater Stuttgart und Junges Theater Basel, Premiere am 28. März 2003; Pornographie, Schauspielhaus Hannover und Deutsches Schauspielhaus Hamburg, UA am 15. Juni 2007; The Trial of Ubu, Schauspiel Essen und Toneelgroep Amsterdam, UA am 16. April 2010; Three Kingdoms, Münchner Kammerspiele, Lyric Hammersmith Theatre und NO99 (Estland), UA am 19. September 2011; Carmen Disruption, Deutsches Schauspielhaus Hamburg UA am 15. März 2014, Wut/Rage von Elfriede Jelinek und Simon Stephens, Thalia Theater Hamburg, UA 16. Juni 2016). 2011 hielt Stephens eine Eröffnungsrede zum Stückemarkt im Haus der Berliner Festspiele: »Skydiving blindfolded, or: Five things I learned from Sebastian Nübling« (https://theatertreffen-blog.de/tt11/2011/05/09/skydiving-blindfolded/, zuletzt aufgerufen am 23. März 2018). Die Stelle, auf die sich Lars Wittershagen bezieht, heißt im Original: »Language is noise«. U. a. Romeo und Julia, Theater Basel, Premiere am 14. September 2002; King Lear, Theater Basel, Premiere am 23. Oktober 2003; Was ihr wollt, Schauspielhaus Hannover, Premiere am 22. November 2004; Macbeth, Schauspielhaus Zürich, Premiere am 29. März 2008; Wie es euch gefällt, Schauspielhaus Zürich, Premiere am 27. Oktober 2012. In Bezug auf ihre mythische Bedeutungskomponente hat Jens Peters solche Figuren als »Psychopomp« bezeichnet: Dies sind »travellers between worlds who guard and guide the spirits of the deceased on their way into the underworld. In Greek mythology the psychopomp is often identified with the figure of Hermes. The characters are all bringing something across, both in terms of narration and in terms of bridging the gap between the living and the dead« (Peters, Jens: »Narration and Dialogue in Contemporary British and German-language Drama (Texts – Translations – Mise-en-scène)«, Dissertation an der University of Exeter, 2013, https://ore.exeter.ac.uk/repository/handle/10871/14393 [zuletzt aufgerufen am 12. April 2018], S. 90).

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Dido und Aeneas nach Henry Purcell und Christopher Marlowe, Regie: Sebastian Nübling, Theater Basel, Premiere am 7. April 2006. Über die Produktion schrieb Stefan Kister: »Der Theatermusiker Lars Wittershagen hat die Partitur verfremdet, arrangiert, Banales neben Erhabenes gestellt. Darf man das? Natürlich nicht. Aber kostbarer als in dieser Entstellung hat Purcells Musik ihren Zauber selten entfaltet.« (Kister, Stefan: »›Dido und Aeneas‹ als musikalisches Schauspiel in Basel«, Welt Online, 12.04.06, http://www.welt.de/print-welt/article210214/Dido_ und_Aeneas_als_ musikalisches_Schauspiel_in_Basel.html, zuletzt aufgerufen am 25. April 2007). 13 Väter. Mütter. Kinder., Regie: Sebastian Nübling und Tom Schneider, Theater Freiburg, Premiere am 27. November 2008. 14 Die Nacht von Lissabon, nach dem Roman von Erich Maria Remarque, Regie: Lars-Ole Walburg, Schauspielhaus Hannover, Premiere am 4. Feburar 2017. Jens Fischer schreibt: »Bühnenmusiker Lars Wittershagen greift ab und an ein, spricht mit verfremdeter Stimme Nazis, Freunde, Folterer, Geliebte und fabriziert auch mal Hörspielgeräusche. Vor allem aber mixt er live den Soundtrack: spartanische Grundierungen der szenischen Atmosphäre plus etwas Geheimnisblubbern, Unsicherheitssäuseln, ruhelose Schwingungen. Richtig in die Vollen geht’s beim Stichwort Liebe: Da schwellen spärliche Tonfolgen zu Klangwolken an und auch vor synthetischen Streicherkolorit wird nicht zurückgeschreckt. Das ganze Stück – ein Melodram? Auch. […] Hörbuchtheater vom Feinsten« (Fischer, Jens: »Hokuspokus Schauspielkunst«, nachtkritik.de, https://www.nachtkritik. de/index.php?option=com_content&view=article&id=13585:die-nacht-von-lissabon-lars-ole-walburg-verzaubert-erich-maria-remarques-roman-am-schauspiel-hannover-in-ein-drama-der-heimatlosigkeit&catid=38&Itemid=40, zuletzt aufgerufen am 12. April 2018). 15 In Formation von Guy Krneta, Regie: Sebastian Nübling, Schauspielhaus Zürich, Premiere am 17. Dezember 2016. 16 Siehe das Interview mit Jörg Gollasch in diesem Band. 17 Wenn Mikrofone sich zu nah an den Lautsprecher-Boxen befinden, kann es zu Rückkopplungen kommen, die sich als lautes Pfeifen bemerkbar machen. 18 Judith / Juditha Triumphans nach Friedrich Hebbel und Antonio Vivaldi, Regie: Sebastian Nübling, Musikalische Leitung: Lutz Rademacher, Komposition: Lars Witterhagen, Salzburger Festspiele, Premiere am 27. Juli 2009. 19 Bei I Furiosi nach dem Roman von Nanni Balestrini, Regie: Sebastian Nübling, Staatstheater Stuttgart, Premiere am 3. November 2001. 20 Gespenster von Henrik Ibsen, Regie: Sebastian Nübling, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere am 20. Februar 2007. 21 Eine kurze Recherche nach dem Interview ergab allerdings, dass keine Theatermusiker in dieser Initiative vertreten sind. Siehe http://www.ensemble-netzwerk. de (zuletzt aufgerufen am 25. März 2018). 22 Siehe http://www.associationofsounddesigners.com/whoweare (zuletzt aufgerufen am 25. März 2018). 23 Auch in den USA gab es hier eine Entwicklung, die Sound Designer John Gromada beschriebt: »Getting sound design recognized as a legitimate career and art form has been a long and arduous process. In the late ’90s, we were able to convince United Scenic Artists [eine Gewerkschaft und Interessensvertretung für die Unterhaltungsindustrie, DR] to represent us, marking a major step for our profession. For the first time, working sound designers were able to have employer-based health insurance and could look forward to a pension upon retirement. And we began to close the pay gap between the fees we received and what other designers made, meaning that to make a living we no longer had to do twice as many shows as our colleagues just to get by. We could spend more time, energy, and thought on any given production, and maybe, just maybe, even think about supporting a family while engaged in this business we love.« (Gromada, John: »Tony, Can You Hear Me? This coming Sunday the Tony Awards will again overlook the contributions of sound designers – an absence that screams louder each year«, American Theatre, July/August 2016, https://www.americantheatre.org/2016/06/06/tonycan-you-hear-me/, zuletzt aufgerufen am 12. April 2018).

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Bert Wrede: »Diesen Fantasieraum ›Theater‹ laufen zu lassen« Ein Gespräch am 21. Februar 2017 in München

Bert Wrede Foto: Dirk Richard Heidinger

Was steht in Programmheften vor deinem Namen? Einfach nur »Musik«? Bert Wrede: Genau. Oder Komposition, oder Bühnenmusik. Mir ist egal, was dort steht. Ich habe Komposition studiert, deshalb habe ich keine Scheu davor, mich Komponist zu nennen, auch wenn ich mal nur Gequietsche, Gewaber oder Gewummer mache – so nennen sie es zumindest manchmal in den Kritiken. Es hat aber Sinn, wenn ich das mache – nicht, weil mir nichts einfällt, sondern, weil Gewummer vielleicht die adäquate Übersetzung eines Gefühls zur Bühne oder zum Stück ist.

Wie war dein Weg in die Theatermusik? BW: Nach meinem Musikstudium – ich habe an der Hanns-Eisler-Mu-

sikhochschule Gitarre studiert – hatte ich dort sechs Jahre einen Lehrauftrag. Nach einem Examenskonzert, ich hatte einen Saxophonisten begleitet, wurde ich gefragt, ob ich Studenten unterrichten will. Das hat mich sehr geehrt, und ich habe das gemacht. Die ersten vier Jahre hat es mir richtig Spaß gemacht, danach weniger, weil ich schnell das Gefühl hatte, auf der Stelle zu treten. Ich habe Konzerte mit verschiedenen Bands gespielt und später Friedrich Schenker, einen zeitgenössischen Komponisten aus der DDR, kennengelernt, dessen Musik ich sehr spannend und sehr gut fand. Der Kontakt zu ihm kam durch Albert Ostermaier anlässlich einer szenischen Lesung in Leipzig zustande, zu der Friedrich Schenker als Vertreter der ernsten Musik eingeladen war und ich als Vertreter der Underground-Szene. Ich habe als Student in Punk- und Undergroundbands gespielt und später in freien Jazz-Projekten. Weil ich mich schon immer sehr für Neue Musik und Komposition

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interessiert habe, wurde ich Meisterschüler bei Friedrich Schenker an der Akademie der Künste. Was waren dort Schwerpunkte? BW: Es waren umfangreiche Kompositionen und Partituren. Ich habe zum Abschluss ein Stück für das Kammerensemble für Neue Musik Berlin geschrieben – das hat wahnsinnig viel Arbeit gemacht und wurde dann vor 60 Leuten ein Mal aufgeführt … … und vermutlich selten nachgespielt … BW: [lacht] … richtig – man braucht dazu einen langen Atem! Es war nicht so ganz meins. Mit Albert Ostermaier, der die Verbindung zur Musik suchte, habe ich dann mehrere CDs gemacht und bin durch Theater getourt. Dort haben wir seine Lyrik mit Livemusik performt. Auf diesem Weg bin ich eigentlich zu Theatermusik gekommen. Das heißt, am Anfang stand eine Auseinandersetzung mit Text und Musik? BW: Das habe ich schon immer gemacht. In der DDR habe ich damit begonnen, Hörstücke zu machen, Literatur und Musik miteinander zu verbinden – mit Leonhard Lorek und Ulrich Zieger als Autoren. Das war ziemlich spannend, und es war sicher auch der Grund, warum Albert Ostermaier auf die Idee kam, etwas mit mir als Musiker zu machen. Und das war damals noch eher live? Heute machst du ja ausschließlich Einspielungen, richtig? BW: Exakt. Das hat eng mit der Instrumentenentwicklung zu tun: Wenn man in den achtziger oder neunziger Jahren CDs machen wollte, musste man lange zuvor Studio-Termine buchen und sich dafür Geld besorgen. Ich habe in den 90ern zwei CDs mit meiner Band Frigg in New York aufgenommen. Elliot Sharp war der Produzent. Damals hab ich mich gefragt, wie die Amerikaner so schnell neue CDs herausbringen konnten – sie haben ihre Aufnahmen einfach selber gemischt. In kleinen home studios in der Lower East Side. Die Amerikaner hatten nicht diese Logistik, die wir in Deutschland hatten. Große Studios mit großem Bedarf an Geld. War das schon digital? BW: Es gab damals die ersten digitalen Bandmaschinen, damit hat es auch begonnen, spannend zu werden. Zuvor war die Studiotechnik nicht erschwinglich. Mitte der Neunziger fing es an, dass man digitale

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Bandmaschinen hatte und dass man das Ergebnis am Computer digital schneiden konnte. Das war noch rudimentär, aber kurze Zeit später konnte man schon mehrspurige Sachen damit machen. Plötzlich hatte man das Handwerkszeug in den Händen und konnte Musik aufnehmen und selbst bearbeiten. Diese Arbeitsweise hat dort ihren Anfang genommen. Zu dieser Zeit gab es an den Theatern noch fest angestellte Theatermusiker*innen. Die Theater haben dann diese Musiker*innen einfach weggespart und Musiker*innen, die die fertig produzierte Musik mitbrachten, engagiert. So bin ich da reingekommen. Eine wesentliche Qualität der fest angestellten Hausmusiker*innen war sicherlich, auf Zuruf alles Mögliche an musikalischen Stilen abrufen zu können, eine musikalische Vielsprachigkeit. Hatte dieser Wechsel, von dem du sprichst, auch zur Folge, dass es zunehmend Theatermusiker mit einer starken Handschrift gab, zu denen ich dich auch rechnen würde? Also, wo ein Personalstil von Inszenierung zu Inszenierung wiedererkennbar bleibt – in der Art, wie die Musik produziert ist, welche Sounds ausgewählt werden, auch wie sie eingesetzt wird? BW: Bestimmt hat es damit zu tun. Man hat eine ästhetische Bildung, und wenn man sich mit Neuer, ernster Musik und mit Avantgarde-Jazz beschäftigt hat, gibt es Dinge, die man gut findet, und Dinge, die gar nicht gehen. Sicher kann ich auch mal einen Walzer schreiben oder ein Lied, aber es interessiert mich nicht wirklich. Mich interessieren neue Klänge, technologische Neuheiten, und es interessiert mich, Musik zu machen, die wie ein sound branding für ein Stück ist. Also eine Stimmung zu schaffen, die eine Inszenierung trägt. Das wird sehr deutlich in deinen Arbeiten, dass es nicht primär darum geht, situativ für jede Szene ein ›underscoring‹ zu finden, sondern um eine Prägung und Anmutung für das Stück insgesamt; eine Grundierung, die zum einen oft über weite Passagen unter allem darunterliegt, aber auch – bei Kušej oder Thalheimer ist mir das aufgefallen – Schnitte zwischen den Szenen stark markiert. Das ist schon eine Musik, die man auch wirklich gehört hat, wenn man das Theater verlässt. BW: Ja, aber es ist nicht immer Musik im engeren Sinne. Bei Die schmutzigen Hände 1 habe ich z. B. mit ganz konkreter Musik begonnen, weil ich fand, dass das Stück geradezu nach Rhythmus und Gewalt schreit. Das hat sich aber nicht eingelöst in dem Rokoko-Raum [Cuvilliéstheater, München]. Mit Abstand zur Bühne war es viel weniger direkt, und am Schluss habe ich alles freigeräumt und bin in Richtung electric noise ge-

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gangen. Das war für mich das Beste, weil es dem Stück nichts angeklebt hat, sondern den Kern der Stimmung, so wie Martin Kušej es inszeniert hat, von black zu black mitträgt. Es hat etwas damit zu tun, dass man, wenn man in einer Szene ein Gefühl entwickelt hat, nach einem black wieder dort anknüpfen will. Hätte man zu musikalisch gearbeitet, zu harmonisch, zu deutlich Dur/Moll, dann wäre es in diesem Stück komplett falsch gewesen. Also musste ich alles Vorherige rausschmeißen. Geräuschhafte Elektronik hat mich dann interessiert. Da klingt schon an, welche Wege und Umwege so eine Theatermusik in ihrer Entstehung geht. Gibt es da bei dir so etwas wie einen typischen Ablauf? Du machst ja vorwiegend Musik zu Inszenierungen, denen ein Stück zugrunde liegt, keine Projekte oder Stückentwicklungen. BW: Mittlerweile nicht mehr, richtig. Früher habe ich solche Projekte gemacht, aber es hat sich ergeben, dass es jetzt nur noch Stücke sind. Wie stark diktiert hier der Text deine Ideen? Wie stark das Bühnenbild? BW: Für mich ist beides extrem entscheidend. Meistens arbeite ich erst

einmal für mich, probiere aus, was mich zu diesem Thema, zu dieser Stimmung interessiert – oft gibt es schon ein Bühnenbildmodell oder eine Bauprobe – und habe dann zu Probenbeginn meist schon eine Idee, wo es hingehen kann. Michael Thalheimer gebe ich jedes Mal zu Probenbeginn eine CD mit fünf bis zehn Stücken. Bei Martin Kušej ist es ähnlich, wobei ich bei ihm auch schon mal auf die Probe gehe, um die Stimmung dort einzufangen. Dann arbeite ich wieder separat und komponiere Material, von dem ich denke, dass es passt, und komme dann zu den Bühnenproben. Dort probiere ich aus, was davon funktioniert. Ich bin flexibel genug, die Musik so zu verändern, dass sie wirklich die Bedingung erfüllt, diesen Fantasieraum ›Theater‹ laufen zu lassen. Es macht keinen Sinn, wenn man ein Theaterstück sieht, und es kommt Musik, die zwar toll ist, aber etwas anderes erzählt. Dann reißt es mich heraus, und ich verpasse den Anschluss. Das, was du in Reaktion auf den Text erarbeitest – wie stark ist das konzeptionell geprägt, bzw. wie intuitiv gehst du dabei vor? BW: Die meisten Stücke sind ja schon eher dramatisch, oft auch melancholisch. Das kommt mir entgegen. Michael Thalheimer macht auch Komödien ganz schön düster. Damit kann ich etwas anfangen. Es würde mir sehr schwerfallen, wenn ich versuchen müsste z. B. Lully nachzumachen bei einem Moliére.

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Bei dem Labiche2 war es zumindest so ein bisschen Jazz-artig … BW: Ja, aber es war schon schwierig für mich – ich habe zu Martin Kušej gesagt: Eigentlich kann ich so etwas nicht. Dann hab ich ihm den Vorschlag mit dem Schlagzeug gemacht. Die Idee dazu kam daher, dass ich zuvor Birdman3 gesehen hatte. Mich hat interessiert, ob man so einen tollen Schlagzeugklang auch im Theater machen kann. Labiche war dann eine gute Gelegenheit, das auszuprobieren, weil ein Schlagzeug keine grundsätzlich melancholische Färbung hat. Und Kontrabass und Vibrafon waren naheliegend, damit es perlt. Als Zuhörer ist man dann zwar im Swing, und das passt zum Sektglas in der Hand, aber die Akkorde, die du verwendest, bedienen das wiederum nicht und bringen noch eine andere Stimmung mit hinein. Wie hast du diesen Sound erzeugt? Live oder mit virtual instruments? BW: Es gibt sehr gute Schlagzeug-Samples – wenn man gut programmiert, klingt es, als ob man direkt vor dem Schlagzeug sitzt. Und es war eben nicht eingespielt? BW: Nein, ich habe mit verschiedenen Bands Schlagzeug aufgenommen, Es ist wahnsinnig schwierig, einen guten Sound hinzubekommen. Man hat immer das Problem, dass z. B. das Becken oder die Snare immer auch von der Bassdrum und den anderen Mikrofonen mit aufgenommen werden usw. Dieses ›Übersprechen‹ verhindert oft, dass man einen brillanten Klang bekommt. Die recording engineers, die es schaffen, sind schon echte Könner. Bei Birdman war es offensichtlich so … … wobei das Schlagzeug gerade dort ja extrem natürlich klingt … BW: … und das habe ich versucht, mit einer sample library zu erzeugen, weil ich weiß, dass das wahnsinnig schwierig ist, so etwas gut aufzunehmen. Dasselbe gilt übrigens für das Klavier. Das gut aufzunehmen, ist wahnsinnig schwer. Du hast schon angesprochen, dass sich Technologie im Laufe deiner Arbeit stark verändert hat. Heute trägt man ein hochwertiges Studio in seinem Laptop mit sich herum. Welche Rolle spielt Technologie für dich? BW: Viel passiert am Computer. Es gibt auch Phasen, in denen ich am Klavier oder an der Gitarre sitze. Für harmonisches Material nutze ich zunächst meist die Gitarre. Erst dann spiele ich das über ein Keyboard ein. Manchmal ist es auch so, dass ich eine Idee habe und erst zwei oder drei Tage später merke, dass diese Idee zwar gut ist, aber mit einer klei-

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nen Veränderung noch viel besser wäre. Die Sachen müssen manchmal ein bisschen liegen. Das Gleiche gilt ja sicher auch für die Szenen: Da verändert sich ja auch vieles. Bei einer Probe passt die Musik vielleicht perfekt, aber zwei Wochen später hat sich das Tempo der Szene völlig verändert. Sind deine Musiken am Ende bei der Premiere relativ fixiert? BW: Meine Bühnenmusik ist immer total flexibel. Heute bin ich hier in München zur Übernahme von Jagdszenen 4 von den Kammerspielen ans Resi. An den Kammerspielen war die Musik ursprünglich viel voller, als sie dort letztlich klang. Viele Tracks habe ich gemuted. Das hatte mit der Stimmung des Stücks zu tun, mit dieser Rückwärts-Erzählweise. Ich weiß, dass ich während der Proben viel ausprobiert habe. Das Stück hat eine große Statik: Menschen im Dorf, die sich anbellen, statt miteinander zu reden, die ihre vorgefertigten Meinungen über Schwule klar definiert haben. Ich habe sehr viele Elemente harmonischer oder melodischer Natur rausgeschmissen. Diese hatte ich aber im [Ableton] Live Set nur ›gemutet‹. D. h. im Live Set sind aktuell doppelt so viele Clips als eigentlich abgespielt werden. Daran kann man erkennen, wie flexibel diese Musik noch ist. Was mich am Theater wahnsinnig fasziniert, ist: Am Theater hat man durch die Anzahl der Ausspielwege die Möglichkeit, die Musik extrem räumlich klingen zu lassen, indem man z. B. flächige Klänge hinten auf der Bühne zuspielt, nuancenreiche Details am Center laufen lässt und etwas Glanz auf die Surround Speaker in den Saal legt. Ich halte die Mischung eigentlich immer offen und verteile die einzelnen Stimmen im Raum. Schon seit fünfzehn Jahren mache ich keine fertigen Stereomixe mehr. Mir ist das vor vielen Jahren schon bei eurer Emilia Galotti am Deutschen Theater stark aufgefallen: Das musikalische Material war ja bewusst ganz eng beschränkt, da alles aus »Yumei’s Theme« aus dem Soundtrack von In the Mood for Love5 entwickelt wurde, aber du hast mit der Verteilung im Raum, mit dynamischen Unterschieden, mit delay-Effekten usw. ganz extrem gespielt. Schauspielmusik ist eben immer eine Raummusik, muss immer räumlich gedacht werden. BW: Das war ein Spezialfall, als ich gerade begonnen habe, Theatermusik zu machen. Es war meine zweite Arbeit mit Michael Thalheimer. Die Produktion fing vor der Sommerpause an, dann waren Ferien, und dann ging es nach der Pause in die Endproduktion. Michael Thalheimer hatte während des Sommers den Film gesehen und mit diesem Score, der ur-

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sprünglich ein temp-track war, geprobt. Ich musste gestehen: Ich kriege nichts Besseres hin, was ähnlich emotional ist. Also habe ich versucht, damit umzugehen: Das Original von Shigeru Umebayashi ist nur zweieinhalb Minuten lang, Micha wollte es aber die ganze Zeit laufen lassen. Also habe ich Shigeru Umebayashi kontaktiert und darum gebeten, das Stück bearbeiten zu dürfen. Dann habe ich die ganze Orchesterbegleitung zusammengesampelt und im Studio ›nachgebaut‹. Ein Sologeiger des Berliner Sinfonieorchesters, mit dem ich zusammen studiert hatte, hat dann die Solovioline eingespielt. Ich hatte ihm zuvor sechs verschiedene Variationen zu dem Thema aufgeschrieben. Wir haben das damals im Flur meiner Berliner Wohnung aufgenommen. Es kam aber noch das Problem der technischen Umsetzung: Damals gab es noch keine wirklich funktionierende Mehrspurtechnik im Theater. Es gab zwar ADAT-Recorder, aber die hatten eine Startverzögerung von zwei bis drei Sekunden und waren somit unbrauchbar. Um dieses ›Fake-Mehrspur‹ für Emilia Galotti hinzukriegen, kam ich dann auf die Idee, einen Stereo-Track zu erzeugen, wobei auf dem linken Kanal nur die Solovioline zu hören ist und auf dem rechten Kanal das ganze Orchester Mono. Dann haben wir die beiden Signale im Theater entsprechend auf die Ausspielwege verteilt, und die Tontechniker haben live mit dem Panoramaregler gemischt! Letztendlich war das der Schlüssel dafür, wie ich mit Michael Thalheimer seitdem arbeite. Meist additiv und subtraktiv: Ich nehme Spuren dazu und nehme Spuren weg. Die Musik wird vollständiger oder unvollständiger, je nachdem, wie wir es brauchen. Gibt es andere Unterschiede, wenn du die Arbeit mit verschiedenen Regisseuren vergleichst – du hast ja mit so unterschiedlichen Regisseur* innen wie Andrea Breth, Michael Thalheimer, Martin Kušej oder Dimiter Gotscheff gearbeitet? BW: Es unterscheidet sich nicht so stark, zumindest nicht in Bezug auf die Musikstücke. Ich denke bei Martin Kušej nicht an blacks, sondern es sind zunächst vollständige Musikstücke, die dann freigekratzt werden. Ich arbeite eher wie ein Bildhauer, der aus einem Stein etwas anderes herausschneidet. Ich weiß, dass Michael Thalheimer auf akustische Instrumente steht, Martin hört auch elektronische Musik. Andrea Breth ist am freiesten und experimentellsten. Bei ihr ist es manchmal schon elektronische Klangkunst, die ich da machen kann. Und weil ich das eben schon weiß, brauche ich Michael Thalheimer gar nicht mit elektronischem ›Gekrispel‹ ankommen. Diese Unterschiede interessieren mich aber und machen meine Arbeit reicher.

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Wie findet Soundauswahl bei dir statt? BW: Geschmack. Wenn man Musik studiert hat, ist man zunächst verbildet. Bevor man vergessen hat, was man alles gelernt hat, muss Zeit vergehen. Ich bin manchmal erstaunt, wenn ich Clips auf YouTube anschaue, wie gut dort manche Sachen sind, die ich aber niemals benutzen würde. Am liebsten höre ich zurzeit klassische Musik, kaum Pop, Jazz auch nicht oft. Musik, die ich mache, ist sehr vom Sound beeinflusst. Wenn ich einen Bass verwende, dann mag ich es, wenn es ein richtiger Kontrabass ist. Ich weiß, wie der klingt, ich habe selber auf welchen gespielt – das interessiert mich; mich interessiert eher nicht die Bassgitarre. Du hast aber viel E-Bass im Sommernachtstraum6 verwendet, richtig? BW: Da war es aber gekoppelt mit Gesangssamples, und es war eigentlich kein Bass, sondern eine pitched down guitar. Ich habe mich mit der Originalmusik [Purcells The Fairy Queen, eine der ersten Adaptionen des Shakespeare’schen Dramas für das Musiktheater, DR] beschäftigt – die wollte ich benutzen und verändern. Dann habe ich festgestellt, dass wir aber auch etwas Treibendes brauchten, wie eben diesen Bass, und habe das dann miteinander kombiniert. Frech und unehrfürchtig. Wie viel Dialog gibt es zwischen dir und der Regie bei der Entwicklung der Musik? BW: Ehrlich gesagt: zunächst sehr wenig. Bei manchen Regisseuren komme ich eher zum spätestmöglichen Zeitpunkt mit meiner Musik, bei anderen zum frühestmöglichen. Michael Thalheimer z. B. braucht Musik zum Proben. Er geht damit um. Von Beginn an. Deshalb gibt es bei ihm häufig einen durchgehenden Soundtrack bei den Inszenierungen. Ich habe den Eindruck, dass Musikalität ohnehin ganz zentral für Thalheimers Theaterverständnis ist. Szene und Musik trennt er gar nicht so. Bei Kušej wirkt es eher so, dass es da eine fertig gearbeitete Szene gibt, zu der dann noch Musik dazukommt. BW: Richtig. Martin Kušej ist die Musik in der Szene nicht wichtig. Er braucht Musik, damit das Stück fließt, die Übergänge funktionieren und der Mood stimmt. Bei Faust7 habe ich bewusst lange gezögert, bevor ich ihm Musik vorgespielt habe. Das war auch eine Erfahrung! Ich hatte einen großen Set-up und hatte viel Musik gemacht. Ich vermeide oft Probebühnen, aber bei den Bühnenproben bin ich dann schon dabei!

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Wie überprüfst du die Musik für die Inszenierung? BW: Während der Proben habe ich meinen Laptop und einen MIDI Controller dabei. Dann kann ich ausprobieren, was wie klingt. Und vor allem: Was klingt von wo? Manchmal sind Sounds gut, aber nicht aus der Richtung, aus der sie gerade kommen. Bei einem Theaterstück fliegt etwa 80 Prozent der Musik wieder raus, weil sie dann doch nicht passt. Du arbeitest ja vorwiegend an großen Häusern. Braucht es für deine Musik den großen Staatstheater-Apparat? BW: Nicht unbedingt. An kleinen Häusern muss ich mehr selbst machen. Ich habe z. B. einmal mit Enrico Lübbe am Theater Chemnitz Glaube Liebe Hoffnung 8 gemacht, und das war sensationell gut, aber es war dann eben alles fix programmiert. Das hätte zur Not auch der Inspizient mitfahren können. Alle Theater haben eine ungefähr ähnliche Ausstattung in Bezug auf Boxen usw., aber nicht unbedingt die Erfahrung. Was sind für dich wichtige Funktionen von Theatermusik, was vermeidest du eher? BW: Was ich nicht mag, ist, wenn die Musik dem/der Zuschauer*in sagt, was er/sie fühlen soll. Das ist ja eine Sache vom Film. Im Film ist die Aufgabe der Musik, Gefühle zu erzählen, im Theater: Fantasieraum zu schaffen. Das ist wirklich ein eklatanter Unterschied. Ich mache ja beides, daher weiß ich das mit Bestimmtheit. Es macht überhaupt keinen Sinn, so eine ausgefüllte, ausgemalte Musik im Theater zu spielen, weil sie keinen Raum mehr für die Gedanken lässt, für das, was man selbst als emotionales Erlebnis durch das Schauspiel hat. Im Film fehlt es, wenn die Musik das nicht leistet. Man sieht zunehmend Livemusiker*innen auf der Theaterbühne, ob an Instrumenten oder Laptops. Was hat es damit deiner Meinung nach auf sich? BW: Ich glaube, dass Livemusik im Theater oft sehr gut funktioniert, es muss mir aber nicht unbedingt gefallen. Ich selbst verzichte gerne auf Livemusik, weil ich nicht gerne sechs Wochen lang jeden Tag ins Theater gehe [lacht]. Da muss man viel anleiten, oft sagen: Spiel doch mal ein bisschen weniger – Musiker*innen spielen gerne viel! Meine Ästhetik bei Theatermusik ist: Unvollständigkeit. Die Aufgabe der Bühnenmusik ist es, den/die Zuschauer*in in die nächste Szene mitzunehmen. Oder bei Thalheimer, um ein Gefühl mitzuerzählen.

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Worin besteht diese Unvollständigkeit – was muss fehlen, damit das Theater daneben Platz hat? BW: Es fehlt z. B. die Melodie. Mit Melodien oder Harmonien gibt man viel zu viel vor; und damit kann man viel kaputt machen. Friedrich Schenker, bei dem ich studiert habe, hat auch manchmal Schauspielmusik gemacht. Einmal stand in einer Kritik, dass das einzig Gute an der Inszenierung die Musik war. Danach hat er keinen Job mehr bekommen. Davor hat er mich gewarnt. Als ich Martin Kušej kennenlernte, habe ich noch getourt, CDs gemacht und Konzerte gespielt. Also Musik, die man als Musik hören kann. Das Erste, was Martin dann sagte, war: »Mach mal ein bisschen weniger!« Mein Wunsch ist es, viel weniger und viel relaxter Musik zu machen und viel mehr eine Stimmung zu erfassen und zu erzählen. Zu all der Musik, die ich mache, kann man sich immer noch eine Gesangsstimme oder ein Melodieinstrument dazu vorstellen, aber die sind nicht drin! Heiner Goebbels thematisiert das auch in seinen Schriften9, wie viel man eigentlich gleichzeitig hören und sehen kann – und das ist gar nicht so viel! BW: Das sieht man aber nicht immer in der Art seiner Inszenierungen: Die finde ich ja schon manchmal sehr voll. Mir würde die Hälfte reichen. Die Hörstücke fand ich sensationell gut, die Musiktheaterstücke nicht so sehr. Ich habe den Eindruck, dass die Theatermusik im deutschsprachigen Theater besonders kreativ und vielfältig ist, auch im Vergleich zu anderen Theaterkulturen, wo sie noch stärker eine dienende Funktion hat. Ist es dann ärgerlich, dass sie so wenig wahrgenommen und diskutiert wird? BW: Das ist schon o. k. Ich finde Schauspielmusik ist in erster Linie dienende Musik. Wenn man das nicht will, muss man Konzerte oder Platten machen. Ich finde, eine Theatermusik muss mich überraschen, mich mitnehmen. Hinterher kann ich überlegen, was da eigentlich war. Das interessiert mich. Wenn ich nur denke: »Ja, okay, kann man so machen«, dann interessiert mich das nicht so. Es braucht eine Stärke der Behauptung, die etwas zum Denken und zum Fühlen gibt. BW: Ja, danach habe ich eine totale Sehnsucht, auch im Film. Einer der wenigen Filme, die mich letztens umgehauen haben, war Ewige Jugend 10. So etwas sucht man oft vergebens, oft plätschert irgendwas so dahin.

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Endnoten

Bert Wrede wurde 1961 in Potsdam geboren. Von 1982–86 Musikstudium an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, wo er von 1988–94 einen Lehrauftrag für Gitarre innehatte. Arbeiten als freier Musiker in Berlin. Veröffentlichungen zahlreicher CDs und Gast auf vielen internationalen Festivals. Zusammenarbeit u. a. mit den Musikern Phil Minton, Friedrich Schenker und Elliott Sharp. 1997 Kompositions-Stipendium von der Akademie der Künste Berlin, 1998 New York Arbeitsstipendium. Kontinuierliche Zusammenarbeit mit den Autoren Albert Ostermaier und Ulrich Zieger. Zahlreiche Theaterarbeiten u. a. für Die Räuber von Friedrich Schiller (Regie: Wilfried Minks, 1996) am Schauspiel Stuttgart, Maß für Maß von William Shakespeare (Regie: Wilfried Minks) in Den Haag, Gesäubert von Sarah Kane (Regie: Martin Kušej, 1999) am Staatstheater Stuttgart. Kompositionen für Hamlet von William Shakespeare (Regie: Martin Kušej, 2000) am Staatstheater Stuttgart und Weh dem der lügt (Regie: Martin Kušej, 2002) am Burgtheater Wien. Regelmäßige Zusammenarbeit mit Michael Thalheimer, u. a. Komposition der Bühnenmusik für Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing (2001) und Faust von Johann Wolfgang von Goethe (2004) am Deutschen Theater Berlin. 2002 Nestroy-Preis für Theatermusik, u. a. für Letzter Aufruf von Albert Ostermaier (Regie: Andrea Breth, 2002) am Burgtheater Wien. 2006 Deutscher Filmpreis in der Kategorie Beste Filmmusik für Knallhart (Regie: Detlev Buck, 2006).

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Die schmutzigen Hände von Jean-Paul Sartre, Regie: Martin Kušej, Residenztheater München, Premiere am 24. September 2016. Martin Kušej inszenierte im Mai 2015 Ich Ich Ich von Eugène Marin Labiche bei den Ruhrfestspielen. Film von Alejandro G. Iñárritu mit Michael Keaton, Emma Stone und Edward Norton, in dem die Original-Filmmusik fast ausschließlich aus Solo-Schlagzeug-Tracks besteht, die der mexikanische Jazz-Schlagzeuger Antonio Sánchez improvisiert hat. Jagdszenen aus Niederbayern von Martin Sperr, Regie: Martin Kušej, Münchner Kammerspiele, Premiere am 21. Februar 2015, Wiederaufnahme am Residenztheater München im Februar 2017. In the Mood for Love von Wong Kar-Wai, Musik: Shigeru Umebayashi, Paradis Films, 2000. Ein Sommernachtstraum von William Shakespeare, Regie: Michael Thalheimer, Residenztheater München, Premiere am 12. Juni 2012. Faust von Johann Wolfgang von Goethe, Regie: Martin Kušej, Residenztheater München, Premiere am 5. Juni 2014. Glaube Liebe Hoffnung von Ödön von Horváth, Regie: Enrico Lübbe, Theater Chemnitz, Premiere am 6. Februar 2010. Z. B. in Goebbels, Heiner: »Das Hören und Sehen organisieren«, in: Nicole Gronemeyer und Bernd Stegemann (Hrsg.): Lektionen: Regie, Berlin, 2009, S. 58–66. Ewige Jugend [Youth] von Paolo Sorrentino, Musik: David Lang, Fox Searchlight, 2015.

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Jörg Gollasch: »Ich bin vor allem dafür verantwortlich, dass das Ganze eine gewisse musikalische Dramaturgie hat« Ein Gespräch am 14. Februar 2016 in Berlin

Es gibt ja viele Begriffe um das Feld Theatermusik herum: Was steht hinter deinem Namen in Programmheften? Jörg Gollasch: Also bei den meisten Sachen, für die ich wirklich viel Musik schreibe, steht: Komposition und musikalische Leitung. Weil du meistens auch wirklich Leute anleitest? JG: Genau. Also, »musikalische Leitung«, das schreibe ich rein, wenn, wie z. B. jetzt bei Schiff der Träume1, Schauspieler*innen Lieder singen und ich diese mit ihnen einstudiere. Aber es geht dabei Jörg Gollasch Foto: Niki Karnari nicht nur um die musikalische Einstudierung, sondern musikalische Leitung heißt für mich, wenn man bei so einem Sieben-Stunden-Abend wie Die Rasenden2 einen musikalischen Bogen schlägt und so den Abend zusammen gestaltet. Wenn ich aber mit Dieter Giesing arbeite, steht immer »Musik« hinter meinem Namen im Programmheft, weil das einfach der übliche Begriff ist. Die Sachen sind zwar auch dafür komponiert und aufgenommen, aber da hat die Musik einen ganz anderen Stellenwert: Da gibt es Übergänge, mal unter der Szene ein bisschen etwas, aber musikalisch nicht zu vergleichen mit Inszenierungen von Karin [Beier] oder großen Produktionen am [Maxim] Gorki [Theater, Berlin]3, wo die Musik ein ganz anderer Bestandteil ist. Gibt es für dich eine typische Herangehensweise? Wann fängst du an, und was sind erste Inspirationen? JG: Es gibt natürlich große Unterschiede wie Probenarbeiten ablaufen, aber die Herangehensweise ist für mich oft ähnlich. Wenn ich für ein

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Stück gefragt werde, lese ich das Stück, falls es das schon gibt [lacht] – bei Schiff der Träume war das eben nicht der Fall, weil es eine lose Textsammlung war, mit der wir uns zu Probenbeginn getroffen haben. Dann treffe ich mich mit dem/der Regisseur*in oder telefoniere, um ein paar Grundbedingungen abzuklären. Der erste Punkt ist immer: Ist es live oder ist es nicht live? Ich habe ja früher viel auch selbst live gespielt, erst an der Baracke [am Deutschen Theater Berlin] und dann auch an der Schaubühne [am Lehniner Platz, Berlin], das hat sich aber total zurückentwickelt. Zum einen, weil ich viel für Instrumente schreibe, die ich selbst nicht spiele [lacht], und zum anderen, weil ich mich auch nicht so sehr als jemanden sehe, der immer seine Gitarre mit auf die Bühne nehmen muss. Ich stelle mich mehr darauf ein, was die Besetzung verlangt, könnte aber auch aufgrund der vielen Reisen, die die Arbeit mit sich bringt, gar nicht kontinuierlich an den verschiedenen Theatern Vorstellungen spielen. Und dann gibt es ganz verschiedene Vorgaben. Es gibt Regisseur* innen, die wollen keine Livemusik. Dann weiß ich schon grundsätzlich, dass es sehr bei mir bleibt, und dann ergeben sich verschiedene Abstimmungsgrade. Es gibt Regisseur*innen, die z. B. sagen: »Es gibt vier bis fünf Stellen im Stück, da möchte ich gerne etwas in dieser oder jener Richtung haben.« Es gibt Regisseur*innen, die hoffen und wünschen sich von mir, dass ich das alles selbst entscheide, wenn ich sozusagen den Geist der Inszenierung erfasst habe. Jetzt am Akademietheater machen wir das neue Yasmina-Reza-Stück4, worin es ein paar Umbauten gibt; da ist klar, da wird es Musik geben. Dann gibt es zwei bis drei Stellen, wo die Musik blühen soll und für sich steht. Da kann ich dann selbst entscheiden, was ich da mache, und dann muss der/die Regisseur*in sagen, ob es ihm/ihr gefällt oder nicht. Und bei Karin [Beier] ist es so, dass wir uns vorher sehr stark damit auseinandersetzen, was das Genre ist. Für Schiff der Träume ging es sehr viel um das Orchester, das bei uns statt dieser Opernbesatzung im Film mitfährt, und sie hatte die Idee, dass es diesen verstorbenen Dirigenten gibt, der zwei Kompositionen hinterlassen hat, die auf seiner Beerdigung gespielt werden sollen, und davon sehen wir eine Probe. Für mich gilt es dann, dieses Musik-Stück zu schreiben. Außerdem hatte sie so ein paar Stichworte: Kagel, Cage, solche Sachen. Und daraus ist dann ein Stück für zehn Schauspieler*innen und vier Musiker*innen geworden. Und einer der Schauspieler kommt mit Schwimmflossen als Perkussionsinstrument auf die Bühne und sagt: Hättest du nicht einen Schnorchel? Solche Vorgaben gibt es, aber das ist dann eher als Anregung gedacht.

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Bei Oliver Reese5 ist es so, dass wir einen musikalischen Kosmos eingegrenzt haben und seine Bitte war: »Es soll etwas mit Schubert zu tun haben und mach bitte instrumentale Sachen im Stile von … und aus der Richtung von … «. Es ist also tatsächlich sehr unterschiedlich. Der erste Schritt ist, dass man absteckt, was die grobe Richtung ist. Entweder mache ich das für mich alleine, wenn der/die Regisseur*in mir kein Feedback geben kann, oder ich mache das in Abstimmung. Immer zu Probenbeginn bereite ich dann fünf, sechs, sieben Stücke vor in verschiedenem Gestus, so dass man z. B. sehr ruhige und sehr schnelle Musik hat, um auf der Probe reagieren zu können, wenn es um Zuspielungen geht. Oder, wenn es Livemusik ist, treffe ich mich meistens vorher schon einmal mit den Livemusikern für eine Probe, um das einzustudieren, damit man dann auch genau so modulhaft mit denen arbeiten kann. Aus diesen Dingen entwickelt sich dann oft der Rest der Produktion. Das ist wie so ein Ideen- und Material-Pool … JG: Genau. … von ersten Ideen, ersten Reaktionen, die aber eben mehr mit dem Stück oder einer Grundkonzeption zu tun haben als jetzt schon mit Bühnenvorgängen. JG: Absolut. Bist du bei den Livemusiker*innen involviert in der Auswahl? Das ist wahrscheinlich immer eine Mischung aus einem ästhetischen Wunsch und einer finanziellen Frage. JG: Das ist unterschiedlich. Es gibt auch da manchmal Wünsche, wo der Regisseur sagt: »Da stelle ich mir irgendwie eine Trompete vor« [lacht], und dann suche ich einen Trompeter. Aber die Person, mit der ich tatsächlich am meisten mit Livemusik arbeite, ist Karin. Da habe ich nach einer gewissen Zeit, in der wir immer mit drei Musikerinnen gearbeitet haben und das ein bisschen zu einem Automatismus geworden war, gesagt: »Lass uns mal einen Schritt zurücktreten. Jetzt gucken wir mal, was wir für das Stück wollen, und dann suchen wir uns Musiker, die das machen.« Durch diese fast fünfzehn Jahre, die wir schon zusammenarbeiten, können wir so etwas sehr einfach zusammen klären. Dann wird in der Stadt, in der die Vorstellung laufen wird, herumgefragt, wer entsprechende Musiker*innen kennt, und dann schauen wir uns tatsächlich in einer Art Mini-Casting von jedem Instrument vier bis fünf Leute an und

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suchen dann – meistens zusammen – die aus, die uns da gefallen. Es gibt auch andere Situationen, wo ich schon jemanden aus einer Erfahrung kenne und dem/der Regisseur*in vorschlage. Es müssen aber nicht nur gute Musiker sein, sondern das müssen auch spezielle Charaktere sein. Man erlebt immer wieder so Situationen wie z. B. vor zwei Jahren, da haben wir Dogville6 in Frankfurt mit einem Streichquartett gearbeitet, und da merkt man, dass nicht jeder dafür gemacht ist: Gerade aus der Klassik kommende Leute sind oft völlig überfordert mit dieser charakterlichen Anforderung, wie man mit seinem Ego umgeht, da auf der Bühne zu stehen und sich so unterzuordnen. Livemusik heißt ja bei dir meistens, dass die Musiker auch auf der Bühne stehen und nicht schön im Graben oder in einer kleinen Ecke klar als Combo definiert, sondern die sind stark ins Spiel involviert. JG: Bei Karin Beier auf jeden Fall, aber auch bei Dogville war das so und jetzt auch bei Kleiner Mann – was nun? Da sitzen die Musiker*innen die ganze Zeit in einer Art Kneipe, kommen mal nach vorne und sind die ganze Zeit sichtbar. Sie übernehmen zwar keine großen szenischen Aufgaben, aber es ist eben nicht diese Konstellation, dass jemand an der Seite in einer Loge sitzt und von da Musik macht – das habe ich, glaube ich, noch nie gemacht [lacht]. D. h., man sucht bei diesen Musiker*innen schon auch sehr spezielle Fähigkeiten? JG: Absolut. Verwendest du für Proben überhaupt Notation? JG: Zu Beginn schon, aber auf der Bühne bei den Vorstellungen auf keinen Fall, wobei es ein paar Ausnahmen gibt. Wir arbeiten seit längerer Zeit mit einer grandiosen Schlagwerkerin zusammen: Yuko Suzuki. Sie spielt so viele Instrumente, u. a. auch Klavier, und da kann sie sich dann auch ein Notenblatt hinlegen. Alles andere spielt sie auswendig, aber wenn es ihr hilft, dann ist das von unten aus gesehen kein Problem. Ich versuche, den Musiker*innen möglichst früh vor Probenbeginn Noten zu geben, damit man mit diesen Modulen schon auswendig arbeiten kann. Alle Leute, die nicht nur aus der Klassik kommen, können da auch sofort andocken. Bei ›Klassikern‹ ist das oft ein Problem, weil die es einfach gewohnt sind, dieses Blatt da liegen zu haben, und sei es nur als kognitiven Reiz, als Sicherheitsgefühl, obwohl sie es eigentlich auswendig spielen. Aber an dem Moment, wo man auf szenische cues ach-

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ten muss, geht das einfach nicht mehr. Deswegen arbeite ich eigentlich zunehmend nur mit Leuten, die ich schon kenne. Ich bin schon lange genug dabei, um fast bei jedem Instrument jemanden zu haben, von dem ich weiß, dass ich mich darauf verlassen kann, dass die Person weiß, was von ihr gefordert wird. Wie stark bringen die Musiker*innen sich in die Arbeit ein? JG: Das kommt immer sehr darauf an, was es ist. Es gibt natürlich Teile, wenn es so eine große, freistehende Musikstelle gibt, da sage ich dann nicht: »Jetzt improvisiert mal zusammen zu viert einen Trauermarsch«, sondern den schreibe ich, und dann möchte ich ihn erst einmal hören, und dann kann man immer noch gucken, ob man das verändert. Andererseits gibt es z. B. bei Schiff der Träume Passagen mit Jazztrompete, die alle improvisiert sind. Das schreibe ich nicht auf, sondern da sitzt der Musiker [Michael Leuschner] auf der Bühne und hat eine Viertelstunde lang ein Solo als Hintergrund zu einer Szene. Da sage ich vielleicht: »Wir haben doch das und das Thema, vielleicht kannst du etwas improvisieren, was sich irgendwie aus diesem Motivpool speist« und bin froh, wenn die Leute selbst was anbieten. Vor allen Dingen wenn es eher um geräuschhafte Sachen geht. Also, Karin ist jemand, die auch immer so Stichworte reingibt, »Mach jetzt mal so was wie ›bläuliche Süße‹!«, und man dann sagt: »o. k.! [lacht], was passt da jetzt?«. Das sind die speziellen Herausforderungen bei der Kommunikation zwischen Regie und Musik [lacht]! JG: Ja, genau. Das gebe ich dann nicht so weiter, sondern versuche, das zu überzusetzen. Was Hohes, was Dissonantes, vielleicht das Stück in einem Achtel der Geschwindigkeit, damit das wie bei Morton Feldman auseinandergezogen ist. Manchmal kann man auch mit Komponistennamen arbeiten, wenn die Leute denselben Referenzpunkt haben. Gerade habe ich für eine Produktion in Wien hier eine Cellistin und eine Geigerin gehabt und habe sie dann einfach eine Stunde spielen lassen, nachdem sie die Themen eingespielt hatten, um mal alles an Sounds, die sie hatten, zu bekommen. Dann schneide und sample ich das zusammen, aber vorher sind sie ebenfalls gefordert, etwas zu machen, etwas anzubieten. Und ich lerne dadurch zusätzlich auch mögliche neue Spielarten der Instrumente kennen und kann dadurch wesentlich konkretere Vorschläge machen. Meine Erfahrung zeigt einfach, dass, wenn ich mich mit vier Musiker*innen treffe und denen sage: So, wir fangen jetzt an zu proben und

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es soll im Fellini-Stil sein, dann habe ich da einen Jazztrompeter, einen Justus-Frantz-Orchestergeiger, die dritte ist Neue-Musik-Stockhausen-Ensemble-Schlagwerkerin, und der vierte ist ein freier Cellist, der im Quartett spielt. Das kann dann teilweise so lange dauern, bis die sich mal geeinigt haben, was sie überhaupt unter ›Fellini‹ verstehen, und bis man dann den ersten Akkord hat und die erste Melodie – diese Zeit ist einfach nicht da. Ich versuche, das so Halbe/Halbe zu machen: Ich gebe einen Motiv-Pool an Stücken vor, damit alle wissen, wohin die Reise geht, und dann wird mit diesem Material gearbeitet und improvisiert. Das Schreiben der Musik: Passiert bei dir am Klavier, am Computer, an der Gitarre? Wie kommst du auf Ideen, wie entwickelst du das? JG: Das kann ich gar nicht sagen, weil das je nach Besetzung unterschiedlich ist. Ich bin schon sehr rhythmusaffin, wenn es um Instrumentalmusik geht. Ich arbeite sehr viel mit ungeraden Takten, rhythmischen Verschiebungen und Ergänzungen, die man darüber machen kann, weil ich diese Hintergrund-Funktion von Musik, die sie im Theater oft hat, gerne durch etwas anreichere, was anders ist als nur ein Durchlauf in einem 4/4-Takt, wo ich nach zwei Takten den Loop schon mitsingen kann. Ich versuche, eine Textur zu schaffen, die dann doch eine eigene musikalische Qualität hat. Aber ich habe z. B. für die deutsche Erstaufführung Die Wiedervereinigung der beiden Koreas7 Musik geschrieben, und da sollte es um französische Nouvelles-Chansons gehen. Das habe ich alles mit der Gitarre gemacht, nachdem ich vorher viel gehört hatte – alte Sachen, aber auch viel ZAZ und Nouvelle Chanson, um eine Ahnung von dem musikalischen Kosmos zu bekommen. Ich mache aber auch erst mal sehr viel im Kopf, muss ich sagen. Wenn ich über Musik zu einem Stück nachdenke, fallen mir viele Dinge ein, die ich dann notiere – also Rhythmen, aber auch melodische Phrasen – und sei es in der Bahn. Wenn ich dann nach Hause komme, setze ich mich an den Rechner, spiele das am Klavier in den Rechner ein, und so nimmt das Form an. Ich finde das spannend, weil es ja immer auch die Arbeit bestimmt, mit welchen Instrumentarien und Hilfsmitteln man arbeitet JG: Absolut. Wenn man auf der Gitarre eine Melodie erfindet, kommt etwas anderes raus als am Klavier. Und wenn man sie singt kommt wieder etwas anderes raus. Eine Kollegin erzählt, dass sie als Bassistin eben ganz viel von Basslinien her entwickelt.8

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JG: Das ist bei mir nicht mehr ganz so durch diese lange Zeit, die ich für Instrumente schreibe, die ich alle gar nicht spiele. Wenn ich z. B. weiß, dass ich für ein Streichquartett schreibe, dann habe ich durch die lange Zeit, die ich diese Musik auch höre – von Schostakowitsch über Rihm, Schnittke und Mozart – vieles vor Augen und weiß, was man da machen kann. Das schränkt natürlich auch manchmal fast ein bisschen ein, weil ich dann Ideen, die unspielbar sind, gar nicht erst habe, aber es hilft, wenn ich in der Bahn sitze und an Figuren denke, die diese vier Instrumente spielen können. Auch bei der ersten Leseprobe sitze ich da und schreibe hinten in mein Textheft Stücke. Da stehen dann hinten auf der letzten Seite nach der ersten Probe fünf Entwürfe für etwas, was man machen kann.

Welche Rolle spielt der Computer für dich? JG: Nun ja, der ist letztendlich einfach der verlängerte Arm, aber es gibt auch viele Tools, mit denen ich arbeite, die nicht in diesem Sinne beherrschbar sind. Es gibt Plug-ins, die von sich aus Zufallsergebnisse liefern. Iris 2 ist ein sample layer-tool mit einem grafischen Interface, wo du mit verschiedenen Cursor-Funktionen – Pinsel, Lasso usw. – grafische Figuren einzeichnen kannst, die sich auf verschiedene musikalische Parameter beziehen. Das kann man gar nicht alles antizipieren, was passiert, wenn du da etwas einmalst. Da weiß ich nur, was das grundsätzlich kann, und wähle dann aus. Mit dem Computer setze ich letztendlich Sachen um, die ich vorher im Kopf habe. Die Idee ist zu 95 Prozent vorher da. Oft habe ich sogar schon bestimmte Filter oder Ähnliches im Kopf. Für Onkel Wanja9 ging es um Kälte-Sounds, da hatte ich – auch aus Filmen – vieles im Kopf; hohe Sounds mit einem Filter, die dann hinten im Raum stehen und die man nicht so richtig orten kann. Das versuche ich dann herzustellen. Zusätzlich zur Sounderzeugung am Computer mache ich aber auch sehr viele Aufnahmen. Ich lasse mir zunehmend von den Theatern ein Budget zur Verfügung stellen, damit ich Musiker aufnehmen kann, je nachdem, was ich in der Produktion so brauche. Oft bitte ich die Musiker, einfach mit Klängen zu improvisieren, die auf dem Instrument möglich sind: Ventilklappern, Reinpusten bei Blasinstrumenten, Daraufklopfen, Dämpfer rein und raus tun oder bei Streichinstrumenten die verschiedenen Spielarten. So lege ich mir eine Bibliothek an Klängen an, die ich dann benutzen kann, und bei denen ich nicht wüsste, bei welchen presets oder Plug-ins sich so etwas findet. In Hamburg bin ich z. B. vor einem Jahr einen Tag in die Metallwerkstatt gegangen, habe mir einen riesigen Container mit allen mög-

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lichen Metallstücken, Platten und Ketten geholt und habe das zwei Tage lang alles im Tonstudio des Theaters mit dem großartigen Tontechniker Shorty Gerets aufgenommen – wenn man die Objekte anschlägt, fallenlässt, gegeneinander reibt, mit einem Bogen bearbeitet – also alle möglichen Klänge, dann ist das die Grundlage für ganz viele Sounds, auch in weiteren Produktionen. Heavy Metal. JG: Ja, wirklich! [lacht] Ist Theatermusik u. a. einfach Klangforschung? JG: Total. Also, dass es gar nicht immer darum geht, die neueste Entwicklung auf dieser kompositorischen ›Materialebene‹, um es mit Adorno zu sagen, zu erarbeiten, sondern um ein Erschließen, Verändern, Bearbeiten und Komponierbarmachen von Klangwelten. JG: Wobei das natürlich auch an seine Grenzen stößt. Es gibt ganz viele Produktionen, wo solche Sounds keine Rolle spielen dürfen, weil die einfach zu düster sind, zu ›Neue Musik‹-mäßig usw. Obwohl ich mit vielen unterschiedlichen Regisseuren arbeite – unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Ästhetik – gibt es viele Produktionen, wo einfach ganz klassische Theatermusik gefragt ist, wie sie vor 20 bis 30 Jahren auch da war. Da ist dann ein Restaurant, da läuft im Hintergrund ein bisschen Jazz, dann kommt ein Übergang und Übergangsmusik usw. Aber für mich ist es so, dass ich bei jeder Inszenierung eigentlich irgendein punctum habe, wie Roland Barthes das bei der Fotografie nennt, also einen Punkt, an dem ich einhake. Da kann es noch so ein jobmäßiger Kompositionsauftrag sein: Es gibt einen Punkt, wo ich weiß, da lerne ich was, sei es, wie ich ein Programm besser beherrsche, sei es, dass ich Musiker*innen aufnehme, die ich nicht kenne. Ich ziehe da jedes Mal für mich etwas heraus. Und das ist für mich ein ganz entscheidender Motivationspunkt, die Arbeit an Produktionen, bei denen ich jetzt kompositorisch nicht so gefordert bin, trotzdem nicht einfach abzutun, sondern mit Herzblut zu machen, weil das immer entscheidend ist. Und sich dabei auch nicht zu langweilen! Ich finde ja, Routine ist ein viel zu negativ besetztes Wort. Für mich ist Routine absolut notwendig. Ich bin total froh, dass ich nicht mehr so arbeite wie vor 20 Jahren. Wo ich jedes Mal gedacht habe: »oh Hilfe, oh Hilfe!« und in jeder Probe sitzen musste. Heute kann ich einschätzen: Wenn ich jetzt mal fünf Tage nicht da bin,

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dann kann ich in Ruhe zu Hause schreiben, komme dann mit produzierten Sachen wieder und habe auch eine Routine, meinen Standpunkt zu vertreten. Ich empfinde das echt als ein Privileg, Routine und Erfahrung zu haben. Und ich weiß auch, dass es irgendeine Art von kreativer Routine gibt und ich tatsächlich nie die Sorge hatte, dass mir nichts einfällt. Für mich ist dabei die Aufgabenstellung der entscheidende Punkt, damit mir was einfällt. Ich bin nicht ein Komponist, der 20 unveröffentlichte Streichquartette in der Schublade hat, die immer noch auf ihre Uraufführung warten. Sondern ich brauche es – und das macht mir auch total Spaß –, für einen Zusammenhang zu schreiben. Wie ist das in der Zusammenarbeit mit den Regisseur*innen, den Musiker*innen und/oder Schauspieler*innen auf der Bühne? Es gibt zum einen bestimmte klassische Hierarchien, auch was die Theatermusik betrifft, gerade wenn sie eine ganz bestimmte Funktion erfüllt. Dann gibt es aber auch Produktionen, wo dieses Verhältnis sicherlich offener ist und offener verhandelt werden muss. In der Zusammenarbeit mit Karin Beier gibt es sicher auch mal Phasen, wo die Musik im Grunde komplett übernimmt und wo man sagen kann: Die nächste halbe Stunde der Inszenierung ist eigentlich dein Job. Wie läuft so etwas? Welche Strategien hast du, um die Position der Musik zu behaupten? JG: Das hängt auch mit dieser Routine, dieser Erfahrung zusammen, aber es ist tatsächlich oft ein Kampf. Es gibt immer wieder so Momente, wo man denkt: »Lieber Regisseur, das ist doch dein Wunsch, dass die Schauspieler hier singen. Wenn du uns aber nie Zeit gibst, die Lieder mal zu proben, dann klingt das schlecht, und dann fliegen die Lieder halt heraus, obwohl du sie dir gewünscht hast. Gib uns doch mal eine Chance, das auf eine gewisse musikalische Höhe zu bringen, damit wir dann sagen können: Jetzt ist es präsentierbar, und jetzt höre es dir mal an. Und wenn es dir dann nicht gefällt, dann kannst du es gerne rausschmeißen. Aber nicht, weil wir die Melodie nach vier Minuten noch nicht können.« Da setze ich mich dann dafür ein, dass das stattfindet. Bei Karin, mit der ich jetzt am längsten zusammenarbeite und die ja auch sehr musiklastige Sachen macht, da ist es halt so, dass wir durch die lange Zeit einfach eine Arbeitsweise haben, wo klar ist, wie man sich da abspricht. Wir haben z. B. Schiff der Träume mit einer musikalischen Probe begonnen. Das Stück fängt auch damit an, dass es eine Art Geräuschkonzert gibt. Die Schauspieler*innen stehen auf der leeren Bühne, alle ein Instrument in der Hand, und ich habe eine Partitur geschrieben, in der eine Abfolge mit grafischer Notation festgelegt ist, um zu zeigen: Es ist

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grundsätzlich ein improvisatorischer Moment. Es gibt nur eine Abfolge und ungefähre Längen. Und ab und zu noch mal die Bitte: höher oder tiefer. Das war die erste Probe. Da haben wir zweieinhalb Stunden daran gesessen, und dann hatten wir eine Idee von dem Anfang. Das findet selten bei einer Produktion statt, aber das liegt auch daran, dass natürlich bei Bella Figura auch nicht unbedingt nötig ist, so einen Anfang zu machen [lacht]. Wenn ich Livemusik habe, dann mache ich es oft so, dass, wenn der/die Regisseur*in auf die Bühne geht und mit den Schauspieler*innen etwas bespricht, ich zu den Musiker*innen gehe und mich mit denen bespreche. Also, ich nutze jede Unterbrechung, um zu kommunizieren, zu beschreiben, was man vielleicht anders machen könnte, um noch eine andere Idee einzubringen. Ich finde auch interessant, wo die Arbeit an der Theatermusik stattfindet – zu Hause, auf der Probe, in der Bahn. Ob man sehr stark unter dem Eindruck und dem physischen Umfeld der Probe arbeiten kann und will, oder ob man auch diese Rückzugsmöglichkeiten ins Studio braucht, nicht nur aus pragmatischen Gründen, sondern auch, um Distanz und Konzentration zu schaffen. Ist das so eine Mischung bei dir? Ich nehme an, dass du bei Karin viel auf den Proben sitzt, bei Dieter Giesing eher weniger? JG: Genau. Aber ich kann diesen Unterschied zwischen dem Zu-HauseProduzieren und Auf-der-Probe-Sitzen gar nicht so klar machen. Ich bereite in der Regel Stücke vor, die nicht ohnehin innerhalb von zwei Sekunden herstellbar sind. Also bei dem Trauermarsch-Beispiel: Den schreibe ich zu Hause, es sei denn, wir brauchen auf der Probe nur eine kurze improvisierte Skizze davon. Was aber grundsätzlich der Fall ist, ist, dass ich auf der Probe nicht nur Zuspielungen mache, sondern mit dem Keyboard dasitze, auf dem ich -zig Sounds habe, oder auch mit einer Gitarre und dann live mit den Schauspieler*innen improvisiere und das dann vielleicht in der nächsten Probe an die Musiker*innen übergebe. Es ist also nicht so, dass sich der kreative Anteil bei den Proben darauf reduziert, die Sachen einzubauen, die ich zu Hause vorbereitet habe, sondern es ist eigentlich eine Weiterentwicklung dessen. Das gilt auch für die Livemusiker*innen. Die spielen nicht nur das, was ich mitbringe, sondern das ist die Grundlage für eine Probe; ein Ausgangspunkt, den wir weiterentwickeln – sei es von der Instrumentierung her, sei es vom Stil oder Genre her. Bei Karin ist es ohnehin so, dass wir bis auf die Endprobenphase immer nur vormittags proben, weil sie eben nebenher noch als Intendantin arbeitet. Das eröffnet mir die Möglichkeit, viele

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Sachen am Nachmittag und abends für den nächsten Tag vorzubereiten. Wenn man aber zweimal pro Tag probt und dann auch noch einen weiten Weg zur Probebühne hat, dann muss ich immer sagen: So, jetzt brauche ich mal zwei Tage, damit ich mal etwas vorbereiten kann, damit es nicht immer nur so ein Schnellschuss ist. In vielen Gesprächen ist die – manchmal auch prekäre – Zusammenarbeit mit den Tonabteilungen ein Thema. Fast alle künstlerischen Disziplinen des Theaters haben ja so ein Verhältnis zu den ›Gewerken‹: Bühnenbildner*innen sind auf die Werkstätten angewiesen, Kostümbildner*innen auf die Schneiderei und Maske, Regisseur*innen haben Visionen, die ihre Schauspieler*innen ›umsetzen‹ oder ›mitschaffen‹ sollen – und als Musiker hast du eben mit der Tonabteilung zu tun, ob nur für das Einrichten und Mischen von Livesound, oder das Fahren von Einspielungen. Was sind da deine Erfahrungen? JG: Ich gehe bei Produktionen, bei denen ich absehe, dass es viel Musik wird, immer mehr dazu über, einen Assistenten zu verlangen, wie es eben auch einen Regieassistenten oder Kostümassistenten gibt. Allein die Tatsache, dass es die Position normalerweise nicht gibt, zeigt einfach, dass viele immer noch glauben, dass Musik im Theater heute noch so funktioniert wie es vielleicht vor 70 Jahren war. Außerdem treffe ich mich zu Beginn jeder Produktion mal mit den Tonabteilungsleuten. Man kriegt sehr schnell heraus, wie die so ticken, also wie offen sie auch sind. Also je klarer sie ihre Vorstellungen formulieren, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie klare Strukturen brauchen und wenig improvisatorische Kapazitäten haben. Es gibt zum Teil immer noch eine Zweiteilung zwischen den mit digitalen Medien nicht ganz so vertrauten Kolleg*innen und eben denen, die das gut können. Und wenn man an die gerät, die damit immer noch ein bisschen fremdeln, muss man sehr klar und sehr simpel strukturierte Vorgaben machen. Kompliziertere Strukturen sind da manchmal nicht so leicht herzustellen. In Hamburg, wo ich jetzt schon so oft gearbeitet habe, gibt es den schon erwähnten Tontechniker, mit dem ich immer arbeite, der immer bei Karins Produktion dabei ist. Und ich hole die auch gern künstlerisch mit ins Boot, allerdings ist es wichtig, dass sie wissen, wo die Grenze dessen ist und auch der Zeitpunkt. Das ist wie mit den Musiker*innen auch: Wenn ich ein Ensemble von 15 Leuten vor der Nase habe, mit denen ich gerade eine musikalische Probe mache, fange an, den ersten Einsatz zu geben, und in dem Moment fragt ein/e Musiker*in: »Ja, aber können wir das nicht vielleicht so und so machen?« …

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… dann ist das schwierig. JG: Ich stelle meine Sachen gerne zur Diskussion – bis zu einem gewissen Grad – und hole mir auch Hilfe von Leuten, die ein Haus viel besser kennen als ich. Bei Tonproben in Hamburg und am Gorki bestehe ich darauf, dass da zwei Leute sind, weil ich möchte, dass eine/r von den Tonleuten neben mir sitzt im Saal und das mit mir anhört, und der/ die andere fährt hinten mal die Tracks ab. Aber das geht natürlich nur, wenn man Vertrauen zueinander hat, dass man da am selben Strang zieht. Wenn ich das Gefühl habe, der Techniker möchte am liebsten die ganze Musik rausschmeißen, weil ihm das zu viel ist, und er deswegen immer opponiert, dann ist es natürlich schwieriger. Andererseits habe ich am Gorki zwei Leute gehabt, die tatsächlich Tonmeister waren; so junge Typen, die hatten Geige und Bratsche studiert, konnten Partitur lesen, waren durch diese ganze Schule gegangen, und ich dachte [lacht]: Euch gibt es noch? Wahnsinn. Und die mochten unsere Arbeit und mochten dieses Niveau, was wir da hatten, und es war eine wirklich großartige Zusammenarbeit. Das Schlimmste sind für mich Leute, die eigentlich sehr gut sind, aber bei denen du merkst, die machen das so 08/15-mäßig. Ich habe früher sehr oft Stress mit der Tonabteilung gehabt, bis ich dann irgendwann merkte, dass es sehr daran liegt, dass ich immer von den Leuten erwarte, dass die ihr Equipment schnell und intuitiv beherrschen. Wenn jemand mit Ableton live Zuspielungen macht, und der braucht – habe ich vor einem halben Jahr erst erlebt! – eine dreiviertel Stunde, um einen Sound abzufahren und währenddessen einen anderen auszublenden, und unten auf der Bühne warten der Bühnenmeister, zehn Schauspieler*innen, Requisite, und wir mussten dann die Probe absagen – das ist dann mehr als ungünstig. Oder wenn du darum bittest, ob jemand in das Radio, das wir gerade auf der Bühne haben, Lautsprecher einbauen kann, damit man darüber auch einige Zuspielungen machen kann, und man dann einen Tag darum kämpfen muss, dass er das eben nicht von der Box, die fünf Meter weiter rechts steht, zuspielt, nur weil er noch mal einen Tag Arbeit hat, dann ist das echt mühsam. Wenn ich mir angucke, wie viel Veränderung ich mit meiner Musik in einem Probenprozess durchlaufe, dann kann man das schon verlangen, dass sie da mitziehen. Aber dieses ganze System, dass man eigentlich in der Probenphase komplett abgeschnitten ist von so einem Haus und die Abteilungen erst in der Endprobenphase ins Boot holt, das ist natürlich keine wirklich gute Lösung.

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Es gibt ja Leute wie Heiner Goebbels, die sagen, dass sie aus diesem Grund nie mehr in Deutschland produzieren, weil sie das nie hinkriegen, dass der/die gleiche Tonmeister*in oder Beleuchter*in von dem ersten Tag an mit auf der Probe sitzt. JG: Das hat sich aber ein bisschen verändert. Dieser Tontechniker in Hamburg, mit dem ich viel arbeite, dessen Vertrag ist auch anders. Der kann geteilte Schichten machen und ist dann in der Endprobenphase auch mal tatsächlich durchgehend da. Und am Burgtheater ist das auch so, dass man produktionsbezogene Tonleute hat, die dafür zur Verfügung stehen. Und deren Freizeit beginnt nach der Premiere – da fahren sie ein paar Vorstellungen und haben dann eben keine Dienste. Diese Konstellationen kommen aus der freien Szene, bzw. aus dem Festival-Betrieb. Ich habe jetzt seit drei Jahren dieses Open-Air-Theater in Worms und Bad Hersfeld gemacht, und da ist es ganz anders. Da sind alle da und stehen zur Verfügung. Und das sind alles sehr gute und motivierte Leute, weil die auch wissen, ihre Qualität ist die potenzielle Bewerbung für das nächste Jahr. In einer Geschwindigkeit machen die Sachen und bringen Sounds auf die Bühne, das ist wirklich toll. Wir haben letztes Jahr mit einem Trio gearbeitet: Schlagzeug, Akkordeon, Trompete. Und innerhalb der ersten Probe nach einer halben Stunde Soundcheck klang die Band ganz großartig, was auch an der sehr guten Vorbereitung der Abteilung lag. Die schätzen auch unsere Arbeit als Musiker und Komponisten. Wenn du das auf einem professionellen Niveau machst, dann hat man sofort eine Ebene, wo man abends ein Bier trinken geht und sich darüber freut, dass man schön geprobt hat. Du hast schon Ableton erwähnt, was bei vielen der Standard ist. Ist das auch dein Programm der Wahl? JG: Nein. Mein zentraler Host ist Logic. Ich bin auch ziemlich oft genervt von dem Programm, aber ich brauche einfach ein Programm, das tatsächlich auch einigermaßen gut Noten schreiben kann, und wo das vor allen Dingen in das Programm schon integriert ist. Ich könnte das auch beispielsweise in Ableton machen und das nach Finale oder Sibelius exportieren und dann aufschreiben. Aber das dauert mir einfach zu lange. Es passiert tatsächlich auch in der Probe, dass ich etwas auf dem Keyboard einspiele, mir das dann als PDF schicke, das ausdrucke, und zehn Minuten später habe ich die Noten vorliegen und die Musiker*innen können das spielen. Das ist besser, als wenn ich das irgendwie erkläre und alles fünfmal per Hand aufschreibe.

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Ist das denn mittlerweile besser geworden? Früher war Notenschreiben mit Logic doch sehr mühsam. JG: Naja, es hängt natürlich davon ab, wie dezidiert man den Notentext formuliert haben möchte. Ich habe z. B. dieses Stück für das »Ensemble Resonanz« geschrieben; das waren 20 Minuten mit extrem vielen Neue-Musik-Techniken, da hatte ich zum Glück Unterstützung von einem Tonmeister, der auch bei einer Sendeanstalt für Notendruck zuständig ist. Ich mache das ja alles in Logic vor allen Dingen auch deshalb, weil ich das dann zumindest rudimentär schon mal zu Gehör bringen kann: Ich konnte Karin ja schlecht für ihre Eröffnungsproduktion am Schauspielhaus sagen: Da kommen noch 20 Minuten Musik, die kannst du dann drei Tage vor der Premiere mal hören. Aber ich habe dem Schauspielhaus auch gesagt, dass das wahnsinnig viel Arbeit ist, das zu machen: Daraus einen Notensatz zu schreiben, den dieses hochprofessionelle, weltbekannte Ensemble sofort spielen kann. Das habe ich dann mit David Zellner zusammen gemacht, der das in Finale oder Sibelius umgesetzt hat. Und da er so was schon sehr häufig gemacht hat und er selber auch Bratscher ist, kennt er sich mit vielen Bezeichnungen aus und konnte das hervorragend umsetzen. Ich hatte vorher Aufnahmen mit einer Cellistin gemacht, um diese ganzen Techniken als Audiodatei vorliegen zu haben. Wenn man beispielsweise das Cello umdreht und den Bogen mit Haaren sehr fest darauf drückt und dreht [macht das kratzige Geräusch vor, das entsteht], dann klingt das, als ob du eine Kakerlake zertrittst. Knackt furchtbar! Und so fängt das Stück eben an mit Atem und diesen Sounds von allen Instrumenten, verstärkt mit Hall – ein krudes Ding, und dafür mussten wir eine Bezeichnung für den Notentext erfinden. So etwas ist in Logic unglaublich mühsam. Allein die Handhabung von Bindebögen macht einen wahnsinnig, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass es irgendwann anders wird. Aber, wenn ich während der Probe etwas für Musiker*innen notiere, dann ist das natürlich nicht von dieser Komplexität. Dann spiele ich zwei Akkorde, darüber eine Melodie, mache noch vielleicht einen Bindebogen oder schreibe das Genre drüber, und dann gebe ich denen das. Und dann sind das zu 90 Prozent Musiker*innen, die das auch spielen können. Was hat sich sonst technologisch verändert? JG: Da ich mit Logic arbeite, bin ich ja auf Apple angewiesen – was zugenommen hat bei Apple, ist diese Politik des geschlossenen Systems: Man kann an den Konfigurationen nichts verändern, weil alles fest in

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die Rechner reingeklebt ist. Du kannst das Ding nur so kaufen, und das ist es dann halt. Das ist natürlich für professionelle Anwender furchtbar. Das gilt auch für Software. Hier geht es immer mehr in Richtung GarageBand, also einfach zu bedienende Programme für den Home User, während man eben früher viel stärker die Möglichkeit hatte, solche Programme individuell zu konfigurieren. Das droht bei Logic, was ja nur auf Apple läuft, eben möglicherweise auch, dass eine neue simple Version auf den Markt kommt und die alte mit all ihren Möglichkeiten bald nicht mehr unterstützt wird. Ich mache es mittlerweile so, dass ich bei Produktionen, wo die Zuspielungen sehr komplex sind, Ableton nutze, aber eben nur zum Abspielen. Ich habe so viele third-party Plug-ins in Logic – da habe ich meine Oberfläche, da weiß ich, wie das funktioniert. Ableton kann ein paar Sachen, die Logic nicht kann, wie eben zeitunabhängig Tracks zu starten und auszublenden. Deswegen benutzen ja alle Theater auch dieses Programm. Spielst du bewusst mit dieser neuen Flexibilität, dass innerhalb eines Tracks ganz viel noch während der Aufführung verhandelbar und offen ist? JG: Was wir viel machen, ist, dass du einen geloopten Track hast, und dann kannst du irgendwo auf der nächsten Eins den nächsten Track drücken, und der hat dann eine feste Länge und läuft aus und macht ein musikalisches Ende. Da kann der Schauspieler gern mal zwischendurch fünf Minuten Pause machen, dann läuft halt die Musik davor einfach weiter und bis dann irgendwann das entsprechende Stichwort ist, da muss man natürlich hoffen, dass er die letzten drei Sätze richtig kriegt [lacht], und dann fährt man den cue ab, und die Musik fadet noch 20 Sekunden, und da ist dann das musikalische Ende, und das hört mit der Szene auf. Wie im Film eigentlich. Oder im Videospiel. Das ist ja manchmal der engere Verwandte! Im Film weißt du, wie lang eine Szene ist, und kannst genau darauf schneiden. Und im Spiel eben nicht, und da hast du diese ganze Modulhaftigkeit, adaptive music, procedural audio, die sich in Echtzeit an dein Spielverhalten anpassen. Wie eben die Theatermusik bisweilen an den/die Schauspieler*in. JG: Und da ist Ableton eine tolle Software.

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Ich wollte noch einmal auf das Thema der Soundrecherche zurückkommen. Gibt es da für dich bestimmte Kriterien, nach denen du Sounds erzeugst oder auswählst? Wie bewusst oder unbewusst passiert das? JG: Das hängt stark vom Kontext ab. Wenn ich eine dissonante Fläche als Hintergrund für einen Text mache, dann sind andere Kriterien entscheidend, als wenn, wie bei Schiff der Träume im zweiten Teil, fast durchgängig so ein House/Techno-Stück durchläuft. Das klingt jetzt vielleicht etwas weitschweifig, aber eine gewisse Wärme im Klang ist für mich schon entscheidend. Ich habe gestern eine Geigerin aufgenommen, die beispielsweise u. a. Flageoletttöne produziert hat: Wenn ich das aus drei Metern Entfernung aufnehme, habe ich viel Raum mit drauf und einen schönen Klang, aber wenn ich ganz nah rangehe, dann knistert jedes Härchen vom Bogen mit. Und diese Hyperakustik, diese Intimität, die mag ich sehr gerne. Was im Theater dazukommt, ist aber auch das Wissen, dass der Sound ein Mal erklingt und dann weg ist. Das ist meiner Meinung nach tatsächlich ein fundamentaler Unterschied zu dieser permanenten Wiederholbarkeit – dem/der Zuschauer*in, aber auch den Produzent*innen gegenüber. Ich habe das bei Filmen gemerkt, die ich gemacht habe: Da kann man sich halt jede Stelle 20-mal anhören, das hast du im Theater nicht. Der/die Regisseur*in ist auf der Probe ohnehin mit den Schauspieler*innen beschäftigt, und da ist die musikalische Detailarbeit im Film doch noch mal eine andere. Das muss ich also selber entscheiden: Wenn ich möchte, dass meine Orchesterstellen realistisch klingen, dann muss ich eben viel Aufwand betreiben, gerade wenn ich Plug-ins benutze. Denn die zu programmieren, dauert manchmal genauso lange, wie ein Orchester aufzunehmen. Du hast beschrieben, dass du manchmal Schauspielmusik mit relativ ›klassischen‹ Aufgaben machst und dass du an anderer Stelle diese Funktionen aber verlässt, das Musizieren selbst zu einem theatralen oder performativen Akt wird usw., die Musik vielleicht ein größeres Eigengewicht hat – wie stark ist das konzeptionell? JG: Ich bin eigentlich schon ein Freund von Konzeptionen, aber immer in dem Wissen, dass mein Konzept nur so lange gilt, bis ich auf den/die Regisseur*in treffe [lacht] und da auch auf Überraschungen stoße. Bei einem Film hatte ich eine Musik für eine Stelle geschrieben, und dann hieß es: »finden wir super, aber das nehmen wir dahinten«. Das gibt es im Theater auch, aber eben mit dem großen Unterschied, dass der Film abgedreht ist, wenn sich der/die Regisseur*in um die Musik kümmert.

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Im Theater entwickelt sich die Szene noch, während ich da schon Dinge zuspiele. Wenn ich mit dem/der Regisseur*in vor den Proben schon an den Punkt komme, dass ich weiß, was die Musik in dieser Inszenierung soll, oder können soll, dann versuche ich, mir ein Konzept zu machen. Ich bin vor allem dafür verantwortlich, dass das Ganze eine gewisse musikalische Dramaturgie hat. Dass man nicht alle zwei Minuten mit einem neuen Motiv um die Ecke kommt, dann kommt eine Einspielung von Earth Wind and Fire … … dann Arvo Pärt [lacht] … JG: … dann noch was von Metallica, und dann spielen die Schauspieler*innen noch einen Song. Ich versuche stattdessen, dass noch im kleinsten Motiv, das da erklingt, eine Anbindung an etwas anderes besteht – das hören die Leute oft gar nicht, aber ich weiß, dass die Textur etwas hergibt. Das fühlt sich stimmiger an. Es ist aber auch sehr unterschiedlich je nach Regie: Manche Regisseur*innen legen keinen großen Wert auf die Musik und lassen mich einfach machen, andere goutieren das nicht so sehr. Sich so ein motivisches Konzept zu entwickeln, ist natürlich einfacher, wenn man vorher schon ein Theaterstück hat. Bei Karin, wo es oft auch Textcollagen sind, da ist das Konzept viel offener, und die Spielform war eine offenere. Das kann ich gut nachvollziehen, dass man für sich für die Musik eine bestimmte Begründung sucht, dass es eine bestimmte dramaturgische Notwendigkeit geben soll … JG: … eine Legitimation … Und es nicht einfach heißt: Mach da mal was an … JG: … beziehungsweise, wenn jemand das sagt, das ist eben meine Entscheidung, ob ich Track »XY« von meiner Lieblings-CD nehme oder eben etwas motivisch Durchdachtes entwickle. Das ist eine musikalische Dramaturgie, die sich beim Proben ergibt, und da braucht man auch Musiker, die da mitziehen, die eine Flexibilität mitbringen. Gibt es starke Einflüsse auf deine Arbeit? JG: Rein theaterästhetisch beziehungsweise schon theaterhistorisch gesehen, waren diese ersten Marthaler-Inszenierungen, die ich gesehen habe, wie den Wurzel-Faust10, schon eine Aufführungserfahrung, wo sich mir musikalisch etwas erschlossen hat, auch bei Karin Beiers Sommernachtstraum11 – ich trage die jetzt nicht immer mit mir rum, diese

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beiden Inszenierungen, aber das hat einen Horizont eröffnet. Ich gehe jetzt aber auch nicht so wahnsinnig viel ins Theater, muss ich sagen. Ich hänge da eh so viel rum. Es gibt aber Dinge, die mich in dem bestätigen, was ich selber erreichen möchte: Dieser Film There Will Be Blood, z. B.; da arbeitet die Musik – übrigens von dem früheren Radiohead-Gitarristen [Jonny Greenwood] – ja fast durchgängig nur mit einem Streicherensemble. Das formuliert etwas, was ich mir als Gedanken manchmal wünschen würde: eine Durchführung einer Instrumentierung. Und es gibt Komponisten, die ich toll finde, wie z. B. Penderecki, besonders sein Utrenja und das Polnische Requiem. Das sind Klangwelten, an die mich auch Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino12 von Paul [Clark]13 erinnert hat. Das finde ich beeindruckend. Bei anderen Theatermusikern interessiert mich auch eher eine kompositorische Herangehensweise, als wenn das einfach nur gut aus existierenden Musiken zusammengestellt ist. Wenn ich Musik höre, die für Theater gedacht ist, und ich sie ohne Theater höre, möchte ich, dass sie noch eine eigene Qualität hat. Dass das nicht nur ein stehender Ton ist und ein Loop, der 20 Minuten lang läuft. Im Film ist das sowieso so: Auch bei Herr der Ringe14 gibt es irgendwelche 5/4-Takte, wenn die Orks aufmarschieren, oder die Zwölftonpassagen in Alien. Es muss nicht immer die 08/15-Ware sein.

Jörg Gollasch hat sein Musikstudium im Rahmen des Studiengangs Angewandte Kulturwissenschaften an der Universität Hildesheim absolviert. Von 1997 bis 1999 ist er musikalischer Leiter der Baracke am Deutschen Theater Berlin, wo er vor allem mit Thomas Ostermeier zusammenarbeitet. Anschließend ist er als Hauskomponist an der Schaubühne am Lehniner Platz tätig. Seit 2002 arbeitet Jörg Gollasch als freier Komponist, Arrangeur und Produzent an diversen Theatern im In- und Ausland, darunter das Deutsche Schauspielhaus Hamburg, das Wiener Burgtheater, das Deutsche Theater Berlin, die Münchner Kammerspiele und das Kretakör Theater Budapest, u. a. mit den Regisseuren Claus Peymann, Dieter Giesing und Robert Schuster zusammen. Gollasch komponiert außerdem die Musik für zahlreiche Kurzfilm- und Hörspielproduktionen. Mit Karin Beier verbindet ihn eine langjährige und enge Zusammenarbeit. Seine Theatermusiken sind am Deutschen Schauspielhaus Hamburg u. a. in ihren Inszenierungen Die Rasenden; Pfeffersäcke in Zuckerland & Strahlende Verfolger; Onkel Wanja; Ab jetzt; Schiff der Träume; Kaufmann von Venedig und King Lear zu hören. www.gollasch-musik.de

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Schiff der Träume nach dem Film von Federico Fellini, Regie: Karin Beier, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 15. Dezember 2015. Die Rasenden. Iphigenie in Aulis, Die Troerinnen, Die Orestie nach Werken von Euripides/Sartre/Aischylos/von Hofmannsthal, Spielfassung: Karin Beier, Rita Thiele, Regie: Karin Beier, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 18. Januar 2014. Die Stuttgarter Zeitung schrieb dazu: »Eine großartige Übersetzung für den Trojanischen Krieg übernehmen die Komposition von Jörg Gollasch und das Ensemble Resonanz. Theater wird zur besten aller möglichen Opern.« (zit. in: Junges Schauspielhaus Hamburg, https://presse.schauspielhaus.de/en_EN/stuecke-jsh/die-rasenden.1024873?l=jungesschauspielhaus, zuletzt aufgerufen am 8. März 2019). Dort hat Jörg Gollasch u. a. die Produktion Kleiner Mann – was nun? nach Hans Fallada, Regie: Hakan Savaş Mican, Maxim Gorki Theater Berlin, Premiere am 15. Januar 2016, gemacht. Bella Figura von Yasmina Reza, Regie: Dieter Giesing, Akademietheater/Wiener Burgtheater, Premiere am 3. April 2016. Auslöschung nach dem Roman von Thomas Bernhard, Regie: Oliver Reese, Theater in der Josefstadt, Premiere am 25. Februar 2016. Dogville nach dem Film von Lars von Trier, Regie: Karin Henkel, Schauspiel Frankfurt, Premiere am 11. April 2014. Die Wiedervereinigung der beiden Koreas von Joël Pommerat, Regie: Oliver Reese, Schauspiel Frankfurt, Premiere am 22. Mai 2015. Siehe das Interview mit Octavia Crummenerl Gloggengießer in diesem Band. Onkel Wanja von Anton Tschechow, Regie: Karin Beier, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 16. Januar 2015. Faust √1+2 nach Johann Wolfgang von Goethe, Regie und Musik: Christoph Marthaler, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Uraufführung am 4. November 1993. Über diese Inszenierung hat Jörg Gollasch seine Diplomarbeit an der Universität Hildesheim geschrieben: »Historische und systematische Aspekte der Schauspielmusik mit einer daran anschließenden Auseinandersetzung mit der Musik in Christoph Marthalers Inszenierung »Faust √1+2« (Hildesheim 1997). Sommernachtstraum. Ein europäischer Shakespeare, Regie: Karin Beier, Musik: Frank Köllges, Düsseldorfer Schauspielhaus, Premiere am 31. Oktober 1995. Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino von Martin Crimp, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Regie: Katie Mitchell, Uraufführung am 24. November 2013. Siehe das Interview mit Paul Clark in diesem Band. Gemeint ist die Filmtrilogie von Peter Jackson nach den Romanen von J.R.R. Tolkien, 2001–2003, Musik von Howard Shore.

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Julia Klomfaß: »Wenn jetzt gerade diese Melodie aus mir heraussprudelt« Ein Gespräch am 8. März 2016 in München

Es gibt ja keinen vorgeformten Karrierepfad, um Theatermusikerin zu werden, keine Ausbildung und keinen Studiengang. Wie war dein Weg in diese Tätigkeit? Julia Klomfaß: Also zur Schauspielmusik bin ich durch einen lustigen Zufall gekommen, weil die Mutter von einer Freundin von mir uns einfach angemeldet hat für ein Musical in Bochum, für Linie 1.1 Das war ausgeschrieben, und dann sind wir da hin und haben vorgesungen und getanzt. Ich bekam eine ganz kleine Rolle, weil ich damals sehr schüchtern war. Dann ist aber irgendwann Julia Klomfaß Foto: Nicole Müller rausgekommen, dass ich eben besser singen kann als die eigentliche Hauptrolle, und ich wurde dann umbesetzt und habe das Mädchen gespielt. So kam der Kontakt zu der Regisseurin Annette Raffalt zustande. Ab dem Moment habe ich eigentlich für fast alle Stücke von ihr die Musik gemacht am Jungen Schauspielhaus Bochum. So wurde ich für alle, die da inszeniert haben, plötzlich so etwas wie die Hauskomponistin [lacht]. Es gab sehr viel verschiedene Richtungen, die wir abgedeckt haben: Hörspiele, Live-Hörspiele, Musicals usw. Das war dann plötzlich mein Job. Da habe ich natürlich nicht viel mit verdient damals. Mein Gedanke war auch immer noch, dass ich weiter Soziale Arbeit studiere, was ich auch noch zwei Jahre lang weiter gemacht habe … Also der Einstieg ins Theater war während deines Studiums? JK: Genau, aber ich war mehr im Theater als im Studium. Ich habe dann abgebrochen, weil ich dachte, das bringt nichts. Dann habe ich Germanistik studiert und noch Philosophie, das hab ich auch noch versucht –

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hat aber auch nichts gebracht. Und dann hab ich eben die Aufnahmeprüfung an der Hochschule gemacht – erst hatte ich überlegt, ob ich Musical mache, weil das natürlich auch viel mit Singen zu tun hat, aber das war nicht so meins, und so habe ich mich für Jazzgesang beworben. Das hat aber nirgendwo geklappt, weil alle gesagt haben: Stimmlich ist das zwar schön, aber kein Jazzgesang. Köln war die einzige Schule, an der ich mich für Komposition beworben hatte und bei der ich dachte: »Okay, das nehme ich noch auf der Rückfahrt mit« [lacht]. Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dass das klappt, weil ich damals keine Noten lesen konnte, und habe trotzdem diese Aufnahmeprüfung gemacht, was sehr lustig war. Mutig. JK: Ja, das war mutig. Fanden die auch und waren dann auch sehr überrascht. Sie haben mich natürlich auch gefragt, warum ich da studieren will, und ich habe das dann alles erklärt, erzählt, was ich gemacht habe, und Sachen vorgespielt, und dann hat es irgendwie geklappt. Eine schöne »Zufallszusammenkunft« plötzlich von Menschen, die das anerkannt haben und die gesagt haben: »Noten können wir dir beibringen, ein Gefühl nicht« – und das fand ich natürlich toll. Ja, und dann hab ich eben da angefangen, erst bei Frank Reinshagen und dann später bei Joachim Ullrich, und habe während des Studiums natürlich immer noch viel weiter am Theater gearbeitet. Du hast jetzt vom Gesang gesprochen, aber du hast ja sicher auch schon Instrumente gespielt, wenn du am Jungen Schauspielhaus so eine Bandbreite an Musik abgedeckt hast. Was waren die Instrumente, und wie bist du zu denen gekommen? JK: Mein Vater ist Musiker, und der hat uns schon mit zwei Jahren vor irgendwelche Aufnahmegeräte gesetzt und Aufnahmen für Oma und Opa gemacht. Dann hat er angefangen, mir Gitarre beizubringen, oder es zumindest versucht. Das war etwas schwierig, weil man, glaube ich, wenn man Unterricht bei seinem Vater hat, einen anderen Druck hat. Wir hatten sehr viele Instrumente bei uns stehen, Schlagzeug und Klavier und kleine Aufnahmegeräte, mit denen ich sehr früh angefangen habe, einfach selber herumzuprobieren. Und Blockflöte habe ich natürlich gelernt. Also das Typische, aber ich hatte nie irgendwo anders Unterricht. Mein Bruder und ich waren dann irgendwann im Chor, und da fing eigentlich die Hauptausbildung an. Da habe ich dann auch viel Gitarre gespielt, Lieder geschrieben, wie man das mit vierzehn oder fünfzehn

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so macht. Und in dem Chor, da ging es natürlich ums Singen und Gehörschulung und später, mit neunzehn, habe ich dort auch angefangen, in der Instrumentalgruppe zu spielen, wechselnde Instrumente: Schlagzeug, mal Marimbaphon, Klavier, dann Gitarre. So wurde ich einfach geschult, aber eben mit der Problematik: Noten? Keine Ahnung. Ich habe einfach viel vom Gehör her gearbeitet. Also ein sehr autodidaktischer Weg, durch Ausprobieren und Sich-Dinge-Zurechtlegen. Interessant finde ich, dass du so eine frühe Berührung mit Aufnahmegeräten hattest. Instrumente spielen ja viele als Kind, aber das Moment des Aufnehmens und Sich-selbst-Hörens ist etwas sehr Eigenes und ein Wechsel im Denken. Ich hatte als Jugendlicher so ein Vierspur-Kassettengerät – das hat mich sehr fasziniert. JK: Genau! Man lernt, vom Hören zu übersetzen, auf das, was man tut. Also immer, wenn ich Noten vor mir hatte, hatte ich ein Problem mit der Übersetzung auf die Tasten vom Klavier oder sonst etwas. Bei der Gitarre fiel mir das leichter. Ich habe dann aber auch angefangen, einfach zu gucken: Was klingt schön? Das war immer im Vordergrund. Eine klassische Ausbildung hat, glaube ich, schon eine andere Tiefe an Wissen, und man hat eine andere technische Leichtigkeit. Sich immer auf das Gehör zu verlassen, ist manchmal eine größere Herausforderung, aber ich hab es einfach so gelernt und auch nie wirklich abgelegt [lacht]. Wie machst du das heute? Du spielst ja neben der Theatermusik mit vielen verschiedenen Bands und hast ständig damit zu tun, mit Schauspielern und Musikern zu kommunizieren. Spielen da Noten überhaupt eine Rolle? JK: Es läuft viel über Vorspielen, Vorsingen und manchmal auch zusammen Entwickeln. Ich mache zwar dann oft das ganze Drumherum, aber wenn ich z. B. eine Sängerin habe, die auf meine backing tracks singt, dann interessiert mich auch, wo sie das hinführt. Natürlich gibt es auch oft den Fall, dass die Leute Noten haben wollen, und dann muss man eben doch etwas aufschreiben – das habe ich natürlich mittlerweile gelernt. Und für die große Band2, die ja auch mein Diplomkonzert gespielt hat, sowieso. Da war es dann natürlich auch nicht mehr möglich, denen die Sachen vorzusingen, bei vier Streichern und drei Bläsern und Rhythmusgruppe. Aber ich habe auch da erst alles eingespielt und es dann aufgeschrieben.

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Welche Fertigkeiten, die du im Laufe der Zeit erworben hast, haben sich für die Theatermusik dabei als besonders wichtig herauskristallisiert? Wann kamen Computer und Software dazu, und wie hast du dir das angeeignet? JK: Wir hatten schon relativ früh einen C64, und ich hatte Spaß daran, irgendwelche Sachen daran herauszufinden, natürlich noch nicht Töne. Dann beim ersten PC habe ich mir viel von meinem Bruder abgeguckt, der ist Hobbymusiker. Ich glaube, es fing damals alles an mit Fruity Loops [lachend]. Da hatte man zwar nur so Samples mit ganz schlechten Sounds und konnte die irgendwie aneinanderreihen oder Schlagzeugspuren bauen, aber damit habe ich viel herumprobiert, und man hat sich neue Ebenen damit geschaffen, und dann kam irgendwann Cubase. Und so habe ich einfach angefangen, Songs aufzunehmen, auch mit eingespielten Instrumenten, die bei uns herumlagen. Wir hatten auch eine Geige, die ich natürlich nicht spielen konnte, aber für ein Stück, das weiß ich noch, »Whiskey in the Jar« habe ich das dann so richtig schlecht eingespielt, aber es passte irgendwie [lacht]. Passte auf die Stimmung. Das hat mir schon früh Spaß gemacht, Klänge zu finden, die passen. Klar, jede*r Geiger*in hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, aber es hat einfach Spaß gemacht. Das ist ja auch das Eigentümliche bei Theatermusik, dass sich diese Frage von Qualität oder Professionalität neu stellt: Es geht eben um theatrale Wirksamkeit. Und die kann manchmal auch aus einem sehr kratzigen Geigenton, aus dem Fehlerhaften oder Amateurhaften kommen. Wo liegen für dich so die Hauptaufgaben oder Funktionen von Theatermusik? Wechselt das stark je nach Kontext? JK: Ja, finde ich schon. Theatermusik begegnet mir in sehr unterschiedlichen Formen. Ich arbeite mit sehr unterschiedlichen Regisseur*innen zusammen und an sehr unterschiedlichen Stücken und sehe manchmal die Gefahr, dass ich zu sehr das bediene, was die einzelnen Regisseur*innen sich wünschen. Ich muss also darauf achten, mich vielleicht noch mehr zu finden, damit ich mich nicht verliere in den verschiedenen Sachen. Mal ist es nur eine Gitarre und Gesang, sehr viel Elektronik, dann ist es vorproduziert und jemand anderes fährt es oder ein*e Schauspieler*in singt noch dazu. Ich liebe das, immer wieder neu zu gucken, was gerade passt und geht, und will mich nicht einschränken. Und trotzdem muss man natürlich aufpassen, dass man sich nicht zu sehr in eine Richtung steuern lässt, von der man nachher denkt: Hab ich jetzt vielleicht ein bisschen zu sehr darauf gehört, was jemand anderes

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will? Das ist hauptsächlich dann ein Problem, wenn ich live mit auf der Bühne bin, weil ich das Stück dann nicht von vorne sehe. Das halte ich eigentlich für sehr wichtig: zugucken, ein Gefühl zu kriegen, die kleinen Momente der Schauspieler*innen mitnehmen zu können. Deswegen schaue ich auch lieber erst mal zu und versuche, nicht gleich alles zuzupacken mit Musik. Gibt es trotz der Unterschiede – je nach Regisseur*in, je nach Art des Projekts – eine typische Arbeitsweise bei dir? JK: Es ist schon abhängig davon, mit wem man arbeitet und natürlich, was die Idee ist, ob es schon Texte gibt, die jetzt vertont werden müssen, oder ob das Stück erst parallel entwickelt wird, das hatte ich auch sehr oft. Ich bin nicht wirklich ein Konzeptarbeiter, der sich vorher mit dem Stück hinsetzt und liest und schon mal überlegt. Ich gehe schon immer sehr vom Gefühl aus; von dem, was auf der Bühne passiert. Ob es bei der Leseprobe schon anfängt, beim Lesen der Schauspieler*innen, oder später: Ich fange dann erst an, etwas mitzunehmen und im Projekt zu sein, und nicht so sehr im Vorhinein. Ich habe mir natürlich auch schon vorher Gedanken gemacht, aber es ändert sich dann doch wieder. Das kenne ich gut: Man hat ein tolles Konzept und schmeißt es am Ende doch weg [lacht]. JK: Ja, denn wenn man sich zu sehr daran festhangelt, dann wird es zu verkopft. Was ich im Vorfeld schon tue, ist, dass ich mal nach Richtungen suche: Wie könnte es aussehen? Was für einen Klang verbinde ich jetzt schon mit dem Stück? In welcher Welt ist man? Und es ist auch nicht schlimm, wenn Dinge wieder wegfallen. Was sind Inspirationen, Auslöser für dich, an denen sich deine Ideen entzünden? Sind das eher atmosphärische Dinge? Sind das bestimmte Emotionen? Sind das bestimmte Tonfälle, Rhythmen? Sind es Räume? JK: Oft sind es Bilder, die eine Emotion in sich tragen. Also beim Macbeth3 z. B., wo man weiß, das spielt in Schottland; da hat man Weite; da gibt es etwas Mächtiges, Großes, mit Königen und Gewalt und eigentlich auch einer riesigen Traurigkeit. Dann ist man schon sehr schnell in einer Klangvorstellung. Es gibt aber auch einen Autor, Axel von Ernst, und einen Regisseur, Marlin de Haan, mit denen ich viel gearbeitet habe4 – Axel schreibt sehr extreme Texte, die schon einen Rhythmus vorgeben und auch viel an Melodien. Da ging das gar nicht über eine Emotionalität, sondern nur über die Struktur des Textes und etwas, das plötzlich

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aus einem herausgesprudelt ist. Mit Marlin und Axel habe ich sehr viel so gearbeitet: Sehr performativ mit der Sprache arbeiten und den Absurditäten dieser Sprache. Und da ist es natürlich spannend zu sehen, was dann in den unterschiedlichen Konstellationen für ganz verschiedene Dinge herauskommen. Was steht dabei am Anfang? Womit beginnt eine musikalische Idee bei dir? JK: Ich glaube, es ist tatsächlich zum größten Teil der Klang. Und die Melodien entwickeln sich dann meistens aus dem Instrument, das ich als erstes benutze. Also bei Macbeth wäre ich niemals auf eine Gitarre gekommen, bei einem anderen Stück [Treibsandkasten5] aber eben schon. Aber da war das ganz klar in der Rolle angelegt: Ich war da eine Eisverkäuferin, die in ihrem Stand steht und singt und Gitarre spielt. Aber entscheidend ist für mich, mit welchem Instrument man anfängt – Stimme oder Klavier oder Gitarre oder eine Cello-Linie bei Macbeth – bis man merkt, das wird etwas. Dann kommen bei mir oft noch schräge Instrumente dazu, die nur Klänge machen und die dieses Psycho-Ding [lacht] bedienen. Dabei ist wahrscheinlich auch ein großer Unterschied, ob das reale Instrumente sind oder ob du dich im Computer bewegst? Oder steht der Computer immer erst an zweiter Stelle? JK: Nein, ich arbeite viel mit dem Computer und vermische das viel. Ich nehme dann Klänge vom Computer oder nehme Klänge auf oder spiele dann eben live dazu. Aber der Computer spielt eine große Rolle. Gerade dann, wenn man alleine ist, dann kann man nicht alles abbilden, egal, wie viele Instrumente man jetzt mitnimmt. Man muss einen Boden darunter bauen. Harmonien und klangliche Vielschichtigkeit sind mir dann doch sehr wichtig. Nur mit einem Cello kann man viel machen, aber dann muss man es eben auch wiederum richtig schön spielen können. Wo arbeitest du – zu Hause oder auf der Probe? Wie ist der kreative Prozess? JK: Viel passiert auf der Probe. Ich bin einfach oft da und höre zu, wenn die Schauspieler*innen lesen oder irgendwas tun, und dann entwickle ich zumindest schon mal etwas oder suche nach Sounds. Das ist immer ganz spannend, finde ich, wenn man die Stimmlagen von allen Schauspieler*innen neben sich hat, dann nimmt man das tatsächlich schon auch mit, finde ich, in der Tonart, in der man sich bewegt oder in dem,

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was dagegensteht, oder in kleinen Klängen, die man plötzlich in einem Logic-Album findet und dann bearbeitet. Vom Ablauf her ist es dann meistens so, dass ich morgens mit auf der Probe bin, zwischen den Proben dableibe und arbeite, und das dann abends ausprobiere. Das ist natürlich viel und manchmal ein bisschen schwierig, aber ich bin tatsächlich lieber immer da, was, glaube ich, auch für viele Regisseur*innen eine ungewöhnliche und schöne Sache ist. Zu Hause schreibe ich eher für mich selbst, oder wenn ich z. B. an einem Hörspiel arbeite.6 Was sind die Haupt-Arbeitsmaterialien auf der Probe: Laptop, USB-Klaviatur, Kopfhörer, immer noch Cubase? JK: Nee, ich benutze mittlerweile Logic. Ein Mikro noch, und ich hab dann tatsächlich mein kleines ›Set-up‹. Ich nehme aber schon auch immer Instrumente mit, Klarinette oder Mandoline oder irgendwas – irgendein Instrument muss ich schon immer dabeihaben, nicht nur den Computer. Ansonsten sind eben Stimme und Klavier wichtig. Klavier hat man eh meistens an den Theatern. Aber manchmal ist auch plötzlich eine Idee da, eine Melodie oder so, wenn man gar nichts zur Hand hat, und dann singe ich auch schon mal ins Handy auf dem Weg in der Bahn. Die Musik ist halt dann immer präsent. Dabei entstehen ja oft musikalische Skizzen, Unfertiges, noch nicht perfekt Produziertes: Wie gut können deine kreativen Partner im Prozess mit solchen Zwischenstadien umgehen? JK: Das ist sehr unterschiedlich. Ich hatte auch mal einen Regisseur, mit dem das sehr schwer war, obwohl er sehr musikalisch war: Er war sehr darauf angewiesen, dass es schon fertig klingt, genau für die Boxen produziert usw., aber der hatte dieses Gefühl für diese Abstraktion nicht wirklich. Die Zusammenarbeit hatte sich eher durch den Zufall ergeben und war für uns beide ungewohnt: Er nahm sonst eigentlich immer Musik aus der Konserve und suchte sich das selber raus, und jetzt hatte er hier plötzlich eine Komponistin [lacht]. Er hat mir dann eben viel zum Hören gegeben – womit ich nicht so gut umgehen kann. Also, dass man mir sagt: Hier, hör dir mal die Filmmusik an, so soll es sein. Ich habe bisher noch mit niemandem gesprochen, der das so richtig super findet [lacht]. JK: Ja, das ist eine merkwürdige Anforderung: »Kannst du das bitte einfach genau so machen«. Das wird dann schwierig.

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Wobei ich interessant finde, dass das in anderen Bereichen ja durchaus so praktiziert wird, wenn z. B. Anna Viebrock auf Reisen geht, Räume sucht und fotografiert und daran ihre Bühnenbilder anlehnt. Der Raum wird nicht eins zu eins kopiert, aber da werden schon Elemente ganz konkret nachempfunden. Aber das Prinzip, eine Musik zu kopieren, damit man nicht die Rechte am Original bezahlen muss [lacht], macht vielleicht weniger Spaß, oder? JK: Nee, zum einen, weil man so schwer da wieder aus dieser Anforderung rauskommt, und zum anderen, weil ich es eben auch problematisch finde, wenn man auf das, was sich in den Schauspieler*innen oder im Spiel entwickelt hat, einfach nur was oben draufpackt. Ich finde es viel spannender zu gucken, was der Kern von dem ist, was der Schauspieler gerade reingibt und was ich empfinde, wenn ich das sehe und höre. Und wenn ich einfach eine Musik nehme, die es schon gibt und die ich dann eben nachbauen soll, weil sie diese oder jene Stimmung hat, dann nehme ich, glaube ich, dem Schauspieler und dem Stück eine Möglichkeit, noch mal etwas ganz anderes aufzumachen. Außer, man will ganz klar ein Zitat – das ist etwas anderes, so wie bei Stanley Kubrick z. B. Mir fällt da auch Bert Wrede7 ein, der in dieser berühmten Emilia GalottiInszenierung von Michael Thalheimer8, ein ganz konkretes Zitat [aus dem Film In the Mood for Love9] verwendet und das dann aber weiter entwickelt und immer wieder variiert, eigentlich durch die ganze Inszenierung durch. Das ist dann natürlich eine extrem starke Setzung. JK: Klar, dann ist es ein Bearbeiten einer Vorlage – ich mache das aber tatsächlich nicht so gerne. Ich finde es oft schade, wenn man nicht nach etwas Eigenem gesucht hat. Ich kann das auch nicht so gut, Dinge als Motive benutzen und verfremden. Außer bei Wagner – da hat es ganz gut geklappt! Das haben aber auch acht Kinder gemacht: Da haben wir die kleinsten Kerne aus Wagner genommen, und es gab noch eine Opernsängerin und eine Klarinettistin, und die Kinder haben eher mit Blockflöte, Geige, Schlagzeug und Percussion-Kram reagiert.10 Das war schön, aber auch sehr reduziert – eher wie Kinder das hören. Und das fand ich viel spannender zu sehen, wie ein Kind – und auch ich – Wagner in dem Moment empfinden? Und man alles darum herum wegnimmt. Das fand die Presse ein bisschen enttäuschend, ich fand es aber total schön [lacht] – vor allem die Kinder zu beobachten, dass die sich darauf einlassen, wie es spannend wird, wenn man mit der Geige ein Geräusch macht und man da ist und Aufmerksamkeit hat.

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Du beschreibst da auch eine andere Form von Musikalität. Gerade in Deutschland scheint es mir, dass wir zum Teil eine sehr festgelegte Vorstellung davon haben, was Musikmachen eigentlich heißt und welche Regeln da zu befolgen sind und wie das alles geht. Und dieses kindliche Herumprobieren, Spielen wird gleich hinterfragt: Ist das richtig, ist das falsch? Es scheint, dass das in deiner Biografie eine große Rolle gespielt hat, sich auch jenseits dieser Normen von »Klavierschule Band 1« usw., also jenseits dieser normativen Musikalität zu bewegen. JK: Ja: zulassen zu dürfen, dass es von woanders kommt, also von einem inneren Gefühl. Im Studium war das natürlich sehr schwer, weil es kaum zu bewerten ist, wenn eine Komposition vielleicht sehr einfach ist oder meinetwegen schon wieder mit e-moll anfängt oder was auch immer. Und ich habe dieses Intuitive auf jeden Fall im Studium auch zwischenzeitlich verloren, weil ich versucht habe, sehr viel zu denken und Noten so zu setzen, wie man das eben macht. Ich habe da den Bezug zu dem Gefühl ein Stück weit verloren, später aber durch einen Theatermusiker aus England wiedergefunden. Wer war das? JK: Simon Allen heißt der. Er ist eigentlich Perkussionist, macht aber eben auch viel Theatermusik. Der kam mit Katie Mitchell nach Köln11 und wollte dann, dass ich die Livemusik übernehme, weil er wieder zurückwollte. Und das war toll. Der sagte so Sachen wie: »Julia, es gibt keine falschen Töne. Mach einfach.« Und natürlich gibt es die schon – ich habe da zum ersten Mal singende Säge gespielt, und da die Halbtöne zu treffen, ist nicht gerade einfach. Aber für ihn war immer wichtiger, dass ich meinem Gefühl vertraue: »Du weißt schon, wann du den Holzklotz über das Klavier ziehst. Das muss ich dir nicht sagen.« Und das tat mir damals nach dem Studium so gut, diesen Menschen zu treffen, der gesagt hat: »Alles gut, trau dich mal.« Und das war auch eine Riesenchance, auch noch mal in Köln einen Fuß in die ganze Szene zu kriegen. Wie hast du dich an der Hochschule in Köln behaupten können? Wie offen oder restriktiv war dort der Kompositionsbegriff? War hier durch Mauricio Kagel und seine Affinität zum Szenischen und zum Filmischen eine deutliche Öffnung zu spüren? JK: Es war tatsächlich sehr schwer, vor allem auch mit den anderen Student*innen, die über mir waren. Unser Studiengang war der erste, der sich geöffnet hat für Popularmusik, das war gerade erst im Umbruch.

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Aber Theater, das gibt es da nicht. Mir ist nirgendwo begegnet, dass man mal irgendwie mit Bildern gearbeitet hätte oder so etwas. Und das ist ja auch ein schwieriges Feld: Wie soll man das vermitteln? In einem Fach hatten wir das mal so ein bisschen, dass man verschiedene Szenen mit unterschiedlicher Musik angeguckt hat – das hatte aber mit einem anderen Zweig zu tun und nicht mit meinem Studiengang. Bei uns ging es wirklich darum zu lernen: Was ist Blocksatz? Was ist »Drop-2«? Und wie funktioniert Big Band? Das war für mich aber weit weg, weil ich das Gefühl nicht gefunden habe. Ich habe unbewusst sicher viel mitgenommen aus diesen neuen Tönen, von denen ich plötzlich gelernt habe, wie man die zusammenstellen kann. Das hat mich schon auch glücklich gemacht, aber es war auch ein großer Druck, gegen die anderen zu bestehen, zu sehen, was die tun, was die sind, worüber die sich definieren. Das war auf jeden Fall schwierig – auch, dass immer mal wieder von Professor*innen- oder Dozent*innen -Seite rüberkam: »Jaja, Julia macht halt immer noch ihre Kindermusik«. Das ging im Grunde bis zum Diplom so. Aber ich habe mich halt entschieden, und auch mein Professor hat gesagt: »Du machst bitte kein Jazz und bitte auch nichts für Big Band, mach einfach dein Ding«. Meine Abschlussprüfung war dann ein sehr emotionales Konzert und auch schwierig zu bewerten, weil es eine Art der Unperfektheit hatte, die ich geliebt habe. Ich habe eben mit Musiker*innen gearbeitet, die zum Großteil eben nicht von der Musikhochschule waren, sondern Freunde. Eine Geigerin hatte schon seit ewigen Jahren nicht mehr Geige gespielt, aber ich habe ihren Ausdruck geliebt, weil ich wusste, die kann mein Gefühl widerspiegeln. Und das war mir sehr viel wichtiger, als da was Perfektes abzuliefern. Wir haben gerade kurz über Katie Mitchell12 gesprochen und ihre Arbeit mit Live Sound und Foley-Effekten – wie sie das einsetzt, ist sicher eine Ausnahme, aber diese Trennung in komponierte Theatermusik und Sound Design ist immer noch relativ stark. In Deutschland kenne ich das kaum, dass bei einer Produktion eine Person für Musik zuständig ist und eine andere für Sound Design – welche Rolle spielt beides für deine Arbeit? Gibt es da überhaupt noch Geräuscheffekte? JK: Doch schon, aber ich mache Musik und Geräusche gemeinsam. Also, ich muss jetzt nicht jedes Vogelgezwitscher oder sonst irgendwas noch heraussuchen, das kann jemand anderes machen – aber das kommt auch bei den Leuten, mit denen ich arbeite, meistens nicht vor, dass so etwas gefragt ist. Aber klar: Flächen, die eher in den Sound-Design-Bereich gehen, mache ich schon immer mit. Das ist aber auch eine

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Frage der Finanzierung, dass man sich nicht auch noch eine*n separaten Sound Designer*in leisten kann. Im besten Fall leistet das ja die Tonabteilung, aber die leistet es halt nicht immer. Das ist zumindest ein Punkt, der in vielen Gesprächen angeklungen ist, und ich finde es interessant, weil es eine Frage ist, die irgendwie mit dem deutschen Stadttheater-System zu tun hat. In anderen Ländern gibt es diese komische Trennung von kreativem und technischem Apparat in den Theatern so nicht – die haben bei uns schon institutionell eine Reibung eingebaut. Natürlich gibt es Ausnahmen und ganz tolle Tonabteilungen, aber nicht immer und überall. Was sind deiner Meinung nach da die größten Herausforderungen, und wie gehst du damit um, dass du ja als Theatermusikerin nicht autonom bist in Bezug darauf, wie es dann am Ende klingt? Denn entweder bist du gar nicht mehr da, und es wird etwas von dir eingespielt, oder du stehst auf der Bühne, und jemand anderes muss den Sound fahren – du sitzt ja nicht selbst am Abend am Pult, oder? JK: Meistens nicht, aber es kommt immer öfter vor! Es ist eine sehr schwierige Angelegenheit, von der Bühne aus einzuschätzen, wie es nach draußen klingt. Das ist fast unmöglich – man braucht eine sehr gute Spiegelung von außen und auch Zeit. Und Zeit ist ja eher etwas, was Musik am Theater – im Vergleich zu Licht z. B., eher wenig kriegt. Und deswegen sitze ich doch mittlerweile sehr oft alleine auf der Bühne, gehe dann aber auch selber oft raus, höre zu, merk mir, was gemacht werden muss, usw. – ein Wahnsinns-Aufwand. Und ich fahre den Ton von da, weil die Tonleute mir tatsächlich oft mit kruden Antworten kommen, warum sie das nicht fahren können und vor allem nicht in meinem Sinne fahren können. Mir ist das aber wichtig, dass, selbst wenn die Flächen oder die Sachen vorproduziert sind, ein Tontechniker den Sound mit dem, was auf der Bühne passiert, mitfährt. Was heißt ›Mitfahren‹ konkret in diesem Fall? JK: Zum einen das Anpassen der Lautstärke, in manchen Fällen sogar vielleicht ein flexibler Einsatz, der nicht unbedingt auf das Stichwort geht, sondern auf ein gefühltes ›jetzt‹. Den Moment zu erspüren, wo es anfängt – und dazu sind Tonleute oft nicht bereit, und das finde ich sehr, sehr schade einfach, weil ich das als Tonmann das Spannendste überhaupt fände: Wie langsam fahre ich eine Fläche herein, wann gehe ich raus, oder wie starte ich.

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Also: Im Grunde geht es darum, ein musikalisches Empfinden bei einem technischen Vorgang zu entwickeln. Wie interaktiv sind die Tracks, wenn du sie vorproduzierst? Man hat ja mittlerweile die Möglichkeit, bei Ableton vieles in der genauen Zusammensetzung des Musikstücks noch offen zu lassen – oder ist das dann eher wie ein fertiger CD-Track? JK: Wenn ich es abgeben muss, dann lege ich tatsächlich alles fest, weil ich mich sonst nicht darauf verlassen kann. Wenn ich hingegen alleine oder selber noch auf der Bühne bin, dann sage ich mittlerweile lieber: Ist gut, ich mache es selber, dann nehme ich mir alle Flächen mit auf die Bühne und fahre die auch selber noch dazu. Was noch dazukommt – und da finde ich interessant, dass du sagst, dass auch andere von Schwierigkeiten mit Tonabteilungen berichten – ist, dass ich lange dachte, es liegt daran, dass ich eine Frau bin und erst mal beweisen muss, dass ich auch als Frau weiß, wie ein Mischpult funktioniert oder ein Computerprogramm oder eine Rückkopplung. Da heißt es ganz oft: »Nein, das geht nicht! Du kannst die Mikrofone da nicht hinstellen.« Ich muss dann immer erst mal bitten: »Lass es uns doch versuchen. Ich glaube, es geht schon.« Das ist eine Anstrengung, und ich wünsche mir da oft eine Person, die das in ihrem Job genauso liebt, Musik und Sound mitzufahren. Theatermusik ist sicher insgesamt nach wie vor eine Männerdomäne. Es gibt sicherlich sehr viel weniger Theatermusikerinnen als z. B. Regisseurinnen, und davon wiederum noch sehr viel weniger als Regisseure. Und vermutlich kaum fest angestellte Tontechnikerinnen. Gibt es ein paar Ausnahmen? Und wie kommt das? JK: Ja, es gibt Ausnahmen, aber es ist tatsächlich sehr selten. Ich frage mich, ob das in meiner Generation schon in der Schule anfing. Also, da waren die Frauen auf jeden Fall die, denen man gesagt hat: »Geh mal in den sozialen Bereich oder Malen, Kunst, Kunst AG» oder so, aber bei Mathe wurde einem sehr schnell suggeriert: Das kannst du nicht. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass Technik für viele Frauen immer noch eine Schwelle darstellt … … oder es zumindest viel weniger selbstverständlich zu sein scheint, dass man bei einer Frau genau wie bei einem Mann davon ausgeht, dass sie ihr technisches Handwerkszeug beherrscht. Ich wollte noch mal einen Schwenk machen, ausgehend von dem Stichwort ›Kindermusik‹ und dem implizierten Vorwurf, bzw. der Geringschätzung, die darin liegt. Mal wörtlich genommen: Du hast ja viel

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Musik im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters gemacht – neben vielen anderen Dingen. Gibt es da Unterschiede in der Herangehensweise? JK: Doch, die gibt es, glaube ich. Es gibt zwei Sachen: Dass man zum einen aufpassen muss, die Kinder nicht zu behandeln, als würden sie musikalisch nichts verstehen, und es dadurch zu einfach machen. Zum anderen darf man aber auch noch eine ganz andere Fantasie bedienen und vielleicht eine Komik oder Leichtigkeit. Schon eine Einfachheit, aber damit meine ich nicht, dass es platt sein soll. Es darf schön sein, romantisch sein, lustig sein. Man darf so viele Dinge zulassen, finde ich, wenn es für Kinder ist. Und das liebe ich schon sehr. Es gibt auch Regisseur*innen, die Erwachsenen-Theater machen, wo das Platz hat, aber da muss es natürlich immer wieder brechen. Die Schere im Kopf ist schon eine andere? JK: Ja. Wenn man in Kinderohren denkt, dann darf man eben alles rauspurzeln lassen! Aber nicht zu platt, zu kitschig oder zu viel vorwegnehmend. Ich finde grundsätzlich, dass man dem/n Zuschauer*innen – auch im Film – überlassen muss, was sie selber sehen, hören und daraus mitnehmen. Und da muss man bei Kindern mit Sicherheit genauso vorsichtig sein. Wie verhindert man diese Gefahr, dass man mit seiner Musik sozusagen die Zuschauer*innen gängelt und ihnen vorschreibt, was sie fühlen sollen? Denn es geht ja in deiner Musik schon sehr stark um Gefühle, und das will man sich ja auch nicht wegschneiden, indem man nur noch weißes Rauschen einspielt oder irgendwelche coolen Beats, die nur noch eine bestimmte Oberfläche sind, aber kein Gehalt haben. JK: Ich glaube, es geht um den richtigen Zeitpunkt – deswegen ist es so wichtig, den Moment abzupassen, wann eine Musik kommt oder wann nicht. Und man muss versuchen zu verhindern, dass man den Schauspieler*innen nicht die Möglichkeit nimmt, immer noch selber zu ›füllen‹ mit dem, was die Emotion ist. Wenn die Musik das übernimmt und man sich zu sehr so schön ›draufsetzen‹ kann, dann kann das passieren, dann kann es abrutschen. Bei Macbeth hatte ich schon ein bisschen Angst, ob das passiert, weil es sehr elegisch ist und sehr groß sein durfte und ich das auch geliebt habe. Irgendwer meinte letztens, das hatte etwas von Hollywood [lacht], wo man auch manchmal was aufgedrückt kriegt. Eigentlich mag ich das nicht, aber in dem Fall war es halt mal ein bisschen so. Die Musik darf trotzdem berühren, aber ich glaube, wenn es zu sehr gedoppelt ist, dann muss man aufpassen, dass es nicht abrutscht.

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Ja, dieser Begriff, der fällt ja immer wieder: die Angst vor dem Doppeln. Ein bisschen ist das auch ein ›deutscher Theaterreflex‹, finde ich. Aber ich verstehe, was du sagst: Die Musik muss nicht un-emotional sein, aber ssie muss eine eigene Qualität behaupten, die nicht komplett deckungsgleich ist mit dem, was sowieso schon gezeigt wird. Und wenn da eine Reibung oder eine Differenz besteht, dann hat der/die Zuschauer*in auch die Chance, seinen/ihren eignen Platz darin zu finden. JK: Ich weiß auch nicht, ob es gerade eine Zeit ist, in der Menschen so etwas doch auch schön finden, wenn sie sich da hineingeben dürfen. Also, bei Macbeth gibt es ein sehr großes Bild, durch das alle sehr emotional berührt sind: Es stirbt jemand, es gibt wahnsinniges Licht, es gibt Regen, es gibt die volle Breitseite und Bandbreite an Musik, und trotzdem lassen die Leute das zu. Und auch bei dem Hörspiel ist mir das begegnet, dass die Leute, die das angehört haben – es ist für Kinder, aber natürlich auch für Erwachsene – alle auch ihre Tränchen verdrückt haben und das toll fanden, dass es sich das traut, eine sehr tiefe Emotionalität zu bedienen.13 Ich kann nicht genau sagen, woran das liegt – ob die Musik funktioniert, wenn sich meine Ehrlichkeit tatsächlich in der Emotion ausdrückt? Was nicht funktioniert, ist, wenn ich mir etwas zusammenklaube, was ich mal gelernt habe: »Mit dieser oder jener Rückung kann man jetzt die großen Emotionen erwecken …«. Das mache ich halt nicht. So denke ich nie, wenn ich komponiere. Du kalkulierst die Emotion nicht? JK: Nein, genau. Ich glaube, dass wenn jetzt gerade diese Melodie meinetwegen auch in dieser Größe aus mir heraussprudelt, weil ich in der Leseprobe ein bestimmtes Gefühl hatte, dann fließt da auch immer unbewusst mit ein, was sonst gerade in meinem Leben los ist, was man so mitverarbeitet, wenn man das darf. Und das hat mich jetzt in den letzten Monaten so gefreut, dass die Regisseur*innen das zulassen. Ich denke, dass das auch so ein Aspekt ist, der eher wenig reflektiert wird, dass Theatermusik nicht einfach eine Art Dienstleistung ist, die eine bestimmte Funktion erfüllt, sondern, dass die Musiker*innen-Persönlichkeit, der persönliche Geschmack, der individuelle künstlerische Ausdruck eben auch eine ganz entscheidende Rolle spielen. Ich habe immer wieder in den Gesprächen herausgehört, dass es ein Bedürfnis gibt, dass so ein Abend musikalisch eine ›Stimmigkeit‹ hat, die vielleicht niemand anderes bemerkt, aber die für die eigene kompositorische Handschrift bedeutsam ist. Du hast ja eingangs auch so einen Spagat

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beschrieben zwischen einer stilistischen Vielseitigkeit, die, glaube ich, alle Theatermusiker*innen brauchen, und dem Bedürfnis, sich dabei selber nicht zu verlieren. Worin liegt ein Kern von meiner Arbeit? Ist das eine kompositorische Technik oder Tonsprache, oder – wenn ich das bei dir richtig verstehe – ein emotionaler Kern, eine bestimmte Intuition, auf die du zurückgreifst und bei der du dich authentisch fühlst? JK: Ja, ich glaube schon, dass viel darüber funktioniert. Deswegen meinte ich auch am Anfang, dass so Konzeptarbeiten, die man vorher schon entwickelt, oft nicht aufgehen, weil diese ganzen Emotionalitäten, die auf einen zuprasseln, in einer Produktion doch auch Einfluss darauf nehmen. Fehlt dir manchmal das Feedback für deine Arbeit? Es gibt ja schon eine Gefahr im gesamten Theaterbetrieb, dass es ein sehr hermetischer Zirkel sein kannt. Also man spricht unter Theaterleuten über Theaterinszenierungen, liest vielleicht noch einmal eine Theaterkritik, in der die Musik selten erwähnt wird, und das war es, aber eigentlich macht man es ja nicht für die fünf Kolleg*innen und nicht für die drei Kritiker*innen, sondern für die 800 Leute, die drinsitzen. Und wie bekommt man mit, was für die funktioniert hat? JK: Es ist schwierig, tatsächlich mit den Leuten danach zu sprechen, gerade mit Leuten, die man nicht kennt. Das schafft man höchstens noch an der Premierenparty, wo man dann ein bisschen etwas gespiegelt kriegt. Am ehesten höre ich etwas über Freund*innen, die gar nichts mit Theater zu tun haben, aus ganz unterschiedlichen Bereichen kommen, und die oft auch unterschiedliche Meinungen haben. Wenn das passiert, ist das natürlich schön. Wie wichtig ist es in dem Zusammenhang für dich, dass du neben der Theatermusik auch noch unabhängige Bandprojekte hast, Filme und Hörspiele machst? JK: Das ist für mich sehr wichtig, dass ich das habe – als Ausgleich gegen die Welt, glaube ich [lacht]. Vermischt sich das, oder sind das getrennte Welten? JK: Ganz getrennt. Ich habe jetzt vor allem noch meine französische Band toi et moi, und man könnte mal überlegen, ob man mal ein Hörspiel macht oder so, aber eigentlich trennen wir das ziemlich klar. Beides hat seine Form von Leidenschaft und Liebe, aber die haben ganz wenig miteinander zu tun. Ich spiele zwar auch sehr viele Instrumente

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in der Band, aber die Theatermusik hat keinen Einfluss darauf; das ist auch eine ganz andere Musik. Du suchst dir einen Bereich, wo die Musik eine andere Funktion hat, wo sie einfach für sich steht und wo man anders darüber nachdenkt? JK: Ja, aber es geht auch einfach darum, aus dem ganzen Theaterkontext immer wieder zu verschwinden. Und dann liebt man es halt, wieder da zu sein. Und die Band ist an einer ganz anderen Stelle Herz und darf es eben sein. Du hattest vorhin erwähnt, einmal als Gitarre spielende Eisverkäuferin eingesetzt worden zu sein – wie geht es dir mit diesem Trend, dass Theatermusiker*innen zunehmend auch szenisch integriert sind? Wie empfindest du dich dann? Bist du dann musizierende Schauspielerin in einer Rolle? JK: Ach, ich mag das schon auch, eine kleine Rolle zu haben, wenn es gerade so angelegt ist. Ich weigere mich, was Text betrifft – Sprechen auf der Bühne, das mag ich überhaupt nicht. Und ob das jetzt eine Rolle ist …? Es ist für manche Sachen auf jeden Fall wichtig, dass man eine Haltung hat. Wenn es Pausen gibt und du bist trotzdem die ganze Zeit auf der Bühne und kannst dich nicht in die Musik retten, sondern stehst einfach nur da – dann ist es wichtig, etwas an die Hand zu kriegen: Wer bist du? Was denkst du? Womit beschäftigst du dich gedanklich? Das habe ich in der Theaterzeit in Bochum sehr gelernt, wo ich immer mit auf der Bühne war: Wie man dann sich so Brücken baut, und das mag ich schon auch immer gern mal. Aber eben: Hauptsache stumm! [lacht]. Aber Singen ist kein Problem? JK: Nein, Singen ist kein Problem. Es ist interessant, wie viel professionelle Hülle man braucht – dass du eben sagst: »Singen und Musizieren, das gehört zu meinem Selbstverständnis dazu, aber ich bin eben nicht gelernte Schauspielerin und damit fühle ich mich dann auch unwohl.« Ich wollte noch einmal den Rahmen etwas größer ziehen: Was heißt Theatermusik als Beruf für dich? Wie lebt man davon? Du bist nicht, wie andere, sehr stark an ein, zwei Regisseur*innen gebunden – ist das dann ein dauernder Kampf um Engagements? JK: Also im Moment nicht, weil man sich natürlich über die Zeit – ich mache das jetzt seit 15 Jahren – so seinen Kreis aufbaut, mit denen man

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gerne arbeitet oder von denen man auch mal an jemanden weiterempfohlen wird. Als Karin Beier aus Köln wegging und ich den Bezug zu dem Haus verloren habe, da habe ich schon gedacht: Was mache ich jetzt? Trotzdem bin ich gerade eigentlich ganz guter Dinge, dass man immer wieder auf Leute trifft. Ich glaube, sich diese Offenheit zu bewahren, ist für mich sehr wichtig. Und vielleicht schreibe ich selbst mal einen Förderantrag für was ganz anderes, dass ich ein Stipendium kriege und ein Jahr einfach nur für die große Band schreibe, weil mir das fehlt: die Zeit, mal wieder etwas ganz anderes zu schreiben, was eben nicht nur an ein Bild gekoppelt ist oder an eine vorgegebene Geschichte gebunden ist. Im Moment mache ich gerade ein Computerspiel z. B., und das ist auch total schön. Es klingt so, als ob du Vertrauen in dein kreatives Reservoir hast und auch in die glücklichen Fügungen, die es dir ermöglichen, daraus zu schöpfen. Machst du auch Film und Fernsehen? JK: Ja, aber sehr, sehr wenig. Also Fernsehen gar nicht. Ich habe irgendwann gemerkt: Ich kann schlecht 20.15-Uhr-Serien fürs ZDF machen. Das muss ich mir dann auch eingestehen. Das ist vielleicht das, wo man lernen muss, sich treu zu bleiben. Nicht alles anzunehmen und zu probieren. Aber die Erfahrung musste ich natürlich auch erst machen.

Julia Klomfaß ist Diplomkomponistin und studierte von 2004 bis 2009 an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln im Bereich Jazz/Popularmusik. Als Musikerin und Komponistin arbeitet sie seit dem Jahr 2000 für Theater/Film und Hörspiel an verschiedenen Theatern und Institutionen. Sie komponiert für viele verschiedene Stücke und Genres. Darunter sind Kinderstücke (z. B. Peter Pan; Emil und die Detektive am Schauspielhaus Zürich; Der Sängerkrieg der Heidehasen, Theater Krefeld), experimentelle Stücke und Tanztheater (z. B. Mein eigen Fleisch und Blut Orangerie/Wehrtheater) und Klassiker (z. B. Macbeth und Der zerbrochene Krug am Theater Krefeld/Mönchengladbach; Die schmutzigen Hände am Stadttheater Gießen). Die Theaterproduktionen sind meist live begleitet und von verschiedenen Instrumenten und Elektronik geprägt. Julia Klomfaß komponiert außerdem Musik für verschiedene Hörspiele aus dem Kinderbereich und tourt mit ihrer französischsprachigen Band toi et moi als auch mit ihrem Duopartner Raphael Hansen in ganz Deutschland. www.juliaklomfass.de

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Linie 1 von Volker Ludwig und Birger Heymann, Regie: Annette Raffalt, Schauspielhaus Bochum, Premiere im Jahr 2000. Klomfaß schreibt dazu auf ihrer Webseite: »Unter dem Namen ›the baffled Mind‹ laufen alle musikalischen Projekte, die ausserhalb [sic] des Theaters stattfinden. Darunter der baffled Mind Chor, die Band und das Soloprogramm. Für the ›baffled Mind‹ komponiert und arrangiert Julia Klomfass [sic] und leitet den Chor.« Siehe https://www.juliaklomfass.de/ (zuletzt aufgerufen am 24. Mai 2018). Macbeth von William Shakespeare, Regie: Huseyin Michael Cirpici, Theater Krefeld/Mönchengladbach, Premiere am 30. Januar 2016. Gemeinsame Projekte von de Haan/von Ernst/Klomfaß waren z. B.: High Definition. Der Avatarismus der Gegenwart auf der Bühne von de Haan/von Ernst/Klomfaß, Sophiensaele Berlin, Premiere am 14. März 2008; Das Unerforschliche der Thermodynamik von de Haan/von Ernst/Klomfaß, Forum Freies Theater Düsseldorf, Premiere am 23. Februar 2012; Where are you from? Ein Heimatabend mit Gesang von de Haan/von Ernst/Klomfaß, Forum Freies Theater Düsseldorf, Premiere am 9. Januar 2013. Siehe auch https://www.dehaanvonernstklomfass.de/ (zuletzt aufgerufen am 5. Oktober 2017). Treibsandkasten von Inken Kautter und Julia Klomfaß, Regie: Andrea Bleikamp, Freies Werkstatt Theater Köln, Uraufführung am 20. März 2015. Julia Klomfaß hat zu zahlreichen Hörspielen und Filmen Musik komponiert. Siehe http://www.juliaklomfass.de/index.php/filmmusik (zuletzt aufgerufen am 5. Oktober 2017). Siehe das Interview mit Bert Wrede in diesem Band. Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing, Regie: Michael Thalheimer, Deutsches Theater Berlin, Premiere am 27. September 2001. Die Produktion am Deutschen Theater Berlin hatte 2001 Premiere und wurde bis 2009 gespielt, und ein Mitschnitt wurde auf DVD publiziert. In the Mood for Love von Wong Kar-Wai, Musik: Shigeru Umebayashi, Paradis Films, 2000. Das Hauptthema der Filmmusik von Shigeru Umebayashi heißt »Yumei’s theme«. Parsifal nach Richard Wagner, Regie: Eva-Maria Baumeister, Junges Theater Göttingen, Premiere am 31. Mai 2014. Es war die erste Produktion der mittlerweile berühmten britischen Regisseurin Katie Mitchell in Deutschland: Franz Xaver Kroetz’ Wunschkonzert am Schauspiel Köln 2008 und wurde zum Theatertreffen 2009 eingeladen. Die Theatermusik war von Paul Clark und wurde live gespielt von Simon Allen und Julia Klomfaß. Siehe das Interview mit Paul Clark in diesem Band. Siehe auch: Roesner, David. »›An entirely new art form‹ – Katie Mitchells intermediale Bühnen-Experimente«, in: Forum Modernes Theater 24, 2 (2009): S. 101–119. Klomfaß bezieht sich hier auf Orpheus und Eurydike – Liebe, stärker als der Tod von Karlheinz Koinegg, Regie: Martin Zylka, WDR, 2015.

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Peer Baierlein: »Ich muss gestehen, dass ich selten ins Theater gehe« Ein Gespräch am 1. Oktober 2015 per Skype

Wie bist du zur Schauspielmusik gekommen? Peer Baierlein: Der Mann meines Bruders war lange Chefdramaturg am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, und durch ihn habe ich erfahren, dass dort für ein Weihnachtsmärchen nach Cornelia Funke1 noch ein Musiker gesucht wird. Auf diese Weise bin ich 2007 zum ersten Mal am Deutschen Peer Baierlein Foto: Paul De Cloedt Schauspielhaus gelandet. Das hat sich dann immer weiter entwickelt, und irgendwann hatte der Schlagzeuger, mit dem ich dort viel gespielt habe, das Angebot, Theatermusik für eine kleinere Produktion in Magdeburg zu schreiben, und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, das zu übernehmen.2 Ich habe zugesagt, und er hat mich an die Regisseurin Claudia Bauer vermittelt, mit der ich seither fast ausschließlich arbeite – als Theaterkomponist. Wir haben bisher etwa zehn oder elf Produktionen zusammen gemacht.3 Und vorher hattest du Musik studiert? Trompete? PB: Ich habe ab meinem sechzehnten Lebensjahr angefangen zu studieren. Erst war ich Jungstudent in Köln und habe dort später das Diplom als klassischer Trompeter abgelegt. Danach bin ich nach Belgien, hatte Unterricht im Fach Jazztrompete und dieses ebenfalls mit Diplom abgeschlossen. Weiter ging es mit Komposition, Filmmusik, Orchestrierung und elektronischer Musik – bis ich 41 Jahre war! Aber das Gute war, dass ich, nachdem ich drei Diplome hatte, nur noch die Fächer besucht habe, die mich interessiert haben. Mit vier bis fünf Leuten hatten wir bei Top-Lehrern den besten Unterricht, den man sich vorstellen kann. In Belgien hatte ich z. B. Orchestrierung bei einem früheren Studenten von Schostakowitsch. In der Theatermusik begegnet man vielen Autodidakten, die sich das, was sie heute brauchen, selbst beigebracht haben – du bist da sicher ein Ausnahmefall, der fast alle Aspekte dieser Arbeit wirklich studiert hat.

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PB: Ja, neben meinen Erfahrungen, die ich durch meine Studiengänge

sammeln konnte, arbeite ich jetzt viel mit dem Computerprogramm Max/MSP. Mit diesem kann ich in Real Time fast alle Farben produzieren, die sich Claudia Bauer wünscht. Ich habe ein Interface bzw. ein Patch programmiert, mit dem ich das Programm über iPads steuern kann – sie dienen mir quasi als Fernbedienung. Dadurch kann ich sehr schnell und spontan auf das, was auf der Bühne passiert, reagieren. Das bevorzugte Programm an Theatern ist jedoch Ableton Live, das für bestimmte Dinge sehr hilfreich ist, aber auch Nachteile mit sich bringt. Eine Nebenwirkung dieses und anderer Programme ist nämlich, dass jeder, auch wenn er noch nie ein Instrument in der Hand hatte, heutzutage im Prinzip Theatermusik machen kann. Dieser Entwicklung stehe ich eher kritisch gegenüber. Würdest du denn die Schauspielmusik als deinen hauptsächlichen Broterwerb bezeichnen? Oder ist es nur eine Facette in deinem musikalischen Tun?4 PB: Es ist im Moment mein Hauptbroterwerb, obwohl ich »ausgebildeter« Jazzmusiker bin, aber du weißt ja, wie es ist in der heutigen Kultur … nachdem es Taschenrechner gab, konnte keiner mehr 3+3 zusammenrechnen, und nachdem jetzt alle mit Pop-Musik berieselt werden, kann keiner mehr etwas mit Jazz anfangen und findet ihn zu kompliziert. Meine Prioritäten verschieben sich immer mehr. Ich beschäftige mich viel mit Geräuschen und freier Improvisation. Gerade habe ich eine CD mit improvisierter akustischer Musik5 produziert, von der ich weiß, dass ich kein einziges Exemplar verkaufen werde. Aber ich musste sie einfach machen. Meine größte Leidenschaft gehört jedoch dem Komponieren für klassisches Orchester. Ein Klangkörper, der mich fasziniert! Es ist ein langer Weg, um auf diesem Gebiet Fuß zu fassen, und man muss Geduld haben, aber es geht immer ein kleines Stückchen weiter voran. Wie du siehst, liegt mein Hauptaugenmerk nicht mehr nur auf Theatermusik. Ganz im Gegensatz z. B. zum Hauskomponisten von Karin Beier hier in Hamburg, Jörg Gollasch6, ein im positiven Sinne »Verrückter«, der total in seiner Arbeit aufgeht und 1000-prozentig dahinter steht. Ich weiß nicht, ob dir der Name etwas sagt? Ich kenne ihn gut und mache auch ein Interview mit ihm für dieses Buch. PB: Was? Nein! Jörg ist jedenfalls einer, der mit Leib und Seele und jeder Faser seines Körpers Theatermusiker ist, und das finde ich ganz toll. Ich wäre in dieser Beziehung gerne so wie er.

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Du hast vorher in einem anderen Zusammenhang mir gegenüber beschrieben, dass das Dienende der Theatermusik ein Problem für dich ist – nun hat ja vor vielen Hundert Jahren auch jemand wie Bach seine Musik im Dienst des religiösen Wortes geschrieben – gibt es andere Aspekte, die dich an der Theaterarbeit frustrieren? PB: Nun ja, am Anfang habe ich sehr viel Zeit in kleine Details gesteckt. Meist müssen Atmos, die im Hintergrund laufen, jedoch so leise abgespielt werden, dass man diese Details nicht mehr hört. Das gesprochene Wort soll ja im Vordergrund stehen und die Musik nicht vom Fokus ablenken. Daher auch meine Bemerkung über das »Dienende der Theatermusik«. Irgendwann erwischst du dich dabei, dass du oberflächlicher arbeitest. Diese »Spielereien« machen für mich aber manchmal das Salz in der Suppe aus. Manchmal denke ich, dass ein Teil von mir dadurch verloren gegangen ist oder ich ihn aufgegeben habe. Ein weiteres Problem ist, dass leider auch ich ein Ego habe. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die meisten Theaterkritiker*innen seltenst über Theatermusik schreiben, weil sie sich damit nicht so gut auskennen. Aus Angst, etwas Peinliches zu schreiben, wird dann lieber nichts geschrieben – irgendwie verständlich. Aber manchmal stecke ich sehr viele Stunden in die Herstellung der Musik und werde nicht erwähnt. Das ist etwas frustrierend. Ich bin nur froh, dass ich mit Claudia arbeite, weil sie meine Arbeit sehr wertschätzt – auch wenn ich manchmal denke, dass sie die Einzige ist [lacht]. Verstehst du dich denn primär als Komponist? Ich habe ja den Eindruck, dass es bei Theatermusik bisweilen um eine musikalische Praxis geht, die in einem strengen Sinne nicht so sehr Komposition ist, sondern eher Sound Design, Songwriting, Improvisation – ich meine das überhaupt nicht wertend, sehe aber einen Unterschied, sagen wir mal, zu einer intensiven motivischen Durchführung von musikalischem Material, wie sie z. B. Leonard Bernsteins Kompositionsverständnis7 geprägt hat. Wie siehst du das? PB: Was mir zumindest bei Claudia meistens erspart bleibt, ist, mit irgendwelchen Covern zu arbeiten. Es ist für mich eine große Strafe, wenn ein Regisseur zu mir sagt: »Bau mal Michael Jackson ein, bau mal David Bowie ein«. Dann wüsste ich nicht mehr, wie ich mich bezeichnen soll. Claudia kennt mich jetzt schon länger und sagt manchmal: »Sag mir einfach, was du willst, dann bekommst du das«. Mit Faust8 hat sie mir wieder ein Stück Zucker hingeworfen. Da konnte ich wirklich komponieren, wobei natürlich am Ende auch viel rausgeflogen ist. Was man

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als Komponist nicht vergessen darf: in 99,9 Prozent der Fälle arbeite ich mit Laienmusiker*innen zusammen. Entweder mit singenden Schauspieler*innen oder wie bei Faust mit einer Amateur-Brass-Band in der Schweiz. Da hatte ich allerdings Glück: Sie hatte ein sehr hohes Niveau, und die Musiker*innen haben richtig geil gespielt. Aber es ist logischerweise immer ein Unterschied, ob du für Amateure oder Profis schreibst. Was mir bei Claudia gut gefällt, ist, dass sie, wenn wir Livemusik haben, die Beteiligten auch immer spannend inszeniert. Das war ja beim Faust wirklich toll gelöst: Diese Brass Band fand ich szenisch sehr gut integriert. Erst ist sie wie ein Fremdkörper und wird dann immer mehr Teil dieser Welt in immer absurderen Bildern, am Schluss mit den Masken wie bei so einem mexikanischen Totenfest. Ich hab es ja leider nur auf Video gesehen, aber ich kann mir vorstellen, dass die auch richtig laut waren, oder? PB: Ja, das war super, weil wir erst gedacht haben, wir müssten mit Klang-Verstärkung arbeiten, aber die haben richtig Rabatz gemacht und hatten großen Spaß dabei. Bei Faust waren wir alle glücklich, dass wir diese Masse auf der Bühne hatten, weil wir ja auch mit sehr wenigen Schauspieler*innen gespielt haben. Gerade bei den Volksszenen war das absolut bereichernd. Und die Brass Band prägt auch als ein ganz markantes Element den Stil der Inszenierung sehr stark mit. Wenn du aber Musik »vom Band« machst – die natürlich längst nicht mehr vom »Band« kommt – ist diese Musik dann weitgehend fixiert oder bleibt sie Abend für Abend zu einem gewissen Grad flexibel? Technisch ist das ja mittlerweile möglich. PB: Bei Claudia ist es so: Wenn sie eine zweistündige Inszenierung macht, sind davon eine Stunde und 50 Minuten mit Musik! Das merkt eigentlich keiner, aber es ist eben konstant etwas im Hintergrund. Ich mache es so, dass ich während der Probenarbeit mit dem angesprochenen Programm Max/MSP improvisiere. Claudia will mich möglichst auch immer dabeihaben. Während die Schauspieler*innen eine Szene spielen, probiere ich herum, bis ich irgendeine Fläche habe, die ich cool finde und die Claudia dann meistens auch mag. Wenn wir uns einig sind, nehme ich die Fläche auf. Bei acht Wochen Proben, mit etwa zwei Wochen Endproben, schaue ich, dass ich zweieinhalb Wochen vor der Premiere eine komplette Ableton-Session programmiert habe, bei der der/die Tontechniker*in nur noch auf den Knopf drücken muss, um die entsprechenden Musiken abzufahren.

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Das heißt aber, dass diese Musiken eher weniger melodisch-rhythmisch gestaltet sind und somit vom variierenden Timing der Schauspieler relativ unabhängig bleiben? PB: Ganz genau. Rhythmische Dinge macht Claudia zumindest mit mir so gut wie nie, und wenn doch, dann machen wir ein Playback für einen Schauspieler, der singt. Dann aber genau getimt. Zum Arbeitsstil von Claudia und mir gehört auch, dass wir beide es nicht mögen, wenn akustische Instrumente vom Band kommen, die nicht sichtbar sind. Wenn wir dann doch einmal eine Rockband einspielen, dann will sie diese durch Effekte so verfremdet haben, dass es richtig schräg klingt. Wie würdest du deine Musik beschreiben? PB: Claudia hat immer die verrücktesten Ideen. Dadurch bin ich mit sehr vielen Stilen in Kontakt gekommen und habe sie ausprobiert. Außerdem habe ich durch die unterschiedlichen Studiengänge einiges kennengelernt. Es kommt auch auf den Zusammenhang an: Für unser Jazz Quartett schreibe ich natürlich Jazz, für Claudia alles quer durch den Gemüsegarten, für mein Privatvergnügen mache ich elektroakustische Musik, und außerdem komponiere ich für klassisches Orchester. Du hast schon erwähnt, dass du viel auf Proben bist. Welchen Einfluss hat die frühe Präsenz von Musik auf den Entstehungsprozess eines Theaterabends? Wie gehst du auf den Proben vor? PB: Die frühe Probenpräsenz ist sehr wichtig für die Entwicklung des Stücks. Es ist eine Wechselwirkung mit den Schauspieler*innen: Manchmal inspirieren sie mich durch ihre Arbeit zu bestimmten Atmos und Farben, und manchmal inspiriert die Musik die Schauspieler*innen. Man merkt meistens schon ganz genau, ob Schauspiel und Musik parallel entwickelt wurden oder nicht. Was die Vorgehensweise bei den Proben betrifft, stellt sich oft das Problem, dass plus und plus ja minus ergibt. Wenn du also unter eine schmalzige Szene schmalzige Musik spielst, dann erreichst du meistens genau das Gegenteil von dem, was du erreichen willst. Wir versuchen meistens, eher dagegenzuarbeiten. Der Satz, der ganz oft fällt, ist: »Das ist zu sehr ›eins zu eins‹«. Passiert das meiste bei den Proben, oder gibt es auch starke konzeptionelle Vorüberlegungen? PB: Vor den Proben treffe ich ausschließlich Claudia. Bisher war es so, dass sie dann oft schon verrückte Ideen hatte, wie z. B.: »Faust will ich mit einer Guggen-Musik machen. Die setzen wir bei den Volksszenen

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ein.« Und dann sagt sie auch ganz klar: »Ich brauche fünf Stücke, ich brauche Walpurgisnacht, die erste Dorfszene …« und so weiter. Dann setze ich mich zwei Monate vorher hin und fange an zu schreiben. Die Ergebnisse schicke ich ihr, und sie sagt mir, ob es passen könnte. Bevor die Proben losgingen, standen zumindest die Stücke mit Brass Band schon. Oder: Wir haben in Leipzig eine Uraufführung gemacht9, bei der wir die Idee hatten, alles mit Wagner-Musik zu machen (motiviert durch seine Verbindung zu Leipzig). Im Vorfeld habe ich dann Wagner-Samples produziert, in meine Library gesteckt und auf den Proben damit improvisiert. Bei Volpone10 hatte ich durch Italien die Assoziation zu Luigi Nono, den ich super finde. Claudia kannte ihn noch nicht, fand das aber spannend, und wir haben die ganze Produktion mit Nono gemacht. Es gibt aber auch Produktionen mit ihr, da gehe ich ganz unvorbereitet hin und improvisiere von der ersten Probe an. Du hast schon erwähnt, dass Technologie eine große Rolle in deiner Arbeit spielt – von Hause aus bist du aber Trompeter, spielst auch Klavier. Wie verbinden sich diese unterschiedlichen Instrumente? PB: Viel passiert schon am Klavier – gerade auch, wenn es Livemusik gibt und ich als Musikalischer Leiter agiere. Wenn es sich ergibt, mache ich gerne selber Livemusik auf der Bühne. In Hannover habe ich z. B. Die Jungfrau von Orleans11 komplett mit Euphonium live begleitet.12 Aber ich kann das eigentlich gar nicht mehr klar unterscheiden. Mein Schwachpunkt ist, dass ich mich nie auf ein Instrument oder Genre konzentriert habe. Für die Theatermusik ist das aber mein großer Vorteil, weil alles mit hineinfließt: mein Jazzstudium, die Klassik, es kommt alles zusammen, und ich weiß gar nicht mehr unbedingt, was woher kommt. Und ich bin total froh, dass ich vor vielen Jahren mit dem Computer angefangen habe, sonst wäre ich heute aufgeschmissen. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Aber ich stehe immer noch liebend gerne selber auf der Bühne. Ich wollte noch mal auf den Moment zurückkommen, wenn Claudia und du euch einig seid, dass ein Sound, eine Fläche passt – kannst du beschreiben, wonach ihr dabei geht? Gibt es Kriterien? PB: Nee, weiß ich nicht. Ich weiß auch nie, warum ich etwas auswähle. Wir haben dann einfach das Gefühl, dass der Sound die Szene trägt und stützt. Aber warum er das tut, könnte ich ehrlich gesagt nicht beschreiben. Ich probiere ganz viel aus, und Claudia lässt mir auch den Freiraum da-

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zu. Sie sagt dann erst mal nichts, lässt mich im Hintergrund während der Szene herumwurschteln, bis ich etwas gefunden habe, was wir beide gut finden. Und meistens sagen wir dann beide fast gleichzeitig: »Das ist es«! Es ist ja auch immer abhängig von der Szene: Man kann sich zu Hause sicher viele tolle Sounds zurechtlegen, aber was dann in der konkreten Szene funktioniert, ist oft was anderes … PB: … und es hängt auch ganz stark vom Schauspieler ab. Die machen manchmal ganz verrückte Sachen, und jeder spielt eine Szene völlig anders, bewegt sich anders, und dazu muss es ja passen. Ein anderer Theatermusiker13 hat mir mal erzählt, dass er den Übergang von der Probebühne auf die große Bühne ganz schwierig findet, weil plötzlich die ganze Musik ›falsch‹ klingt. Sie ist natürlich nicht falsch, sondern muss nur noch angepasst werden, aber der erste Eindruck ist wohl oft frustrierend. Wie geht dir das? PB: Das ist bei mir eher umgekehrt: Auf Probebühnen habe ich meistens schlechte Anlagen, so sehr ich mich auch beschwere, und freue mich dann, wenn auf der großen Bühne auf der guten Anlage die Musik endlich so klingt, wie ich mir das vorstelle. Was allerdings oft passiert, ist, dass dann noch Musik wieder rausfliegt, weil Szenen, die auf der Probebühne funktioniert haben, dies auf der großen Bühne nicht tun. Gibt es Vorbilder und Einflüsse für deine Arbeit? PB: Ich muss gestehen, dass ich selten ins Theater gehe und – aus den

verschiedensten Gründen – kein so großer Theaterliebhaber bin. In Bezug auf Musik bittet mich Claudia manchmal um bestimmte Stile oder Genres, wie z. B. »Deutsches Volkslied«. Dann orientiere ich mich bei der ersten Komposition meistens stark an einer Originalkomposition. Je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr kann ich davon loslassen. Bei Faust war das Vorbild zunächst »Balkan Band« – erst habe ich in diesem Stil geschrieben, dann aber noch das »Heideröslein« [T: Goethe, M: Schubert] eingebaut [lacht]. Hat aber niemand gemerkt [lacht]. Bei der Theatermusik ist es ja leider so, dass die Zuschauer*innen nicht ihretwegen ins Theater kommen. Bei einem Konzert sind die Leute wegen der Musik da, aber im Theater hat sie bestenfalls nicht gestört. Und im Idealfall schafft man es, für sich selbst eine Befriedigung daraus zu ziehen, dass man weiß, dass eine Szene nur mit der eigenen Musik so

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funktioniert hat. Aber man braucht eine andere Haltung zum eigenen Musikmachen, oder? PB: Das, was du da beschreibst, habe ich bei anderen Musiker*innen erlebt: Die verstehen sich als Teil eines Teams und tragen zu einem besseren Ergebnis bei. Mir macht das eigene Ego zu oft einen Strich durch die Rechnung. Ich möchte, dass man meine Musik hört. Da bin ich für die Theaterwelt etwas zu narzisstisch. Meistens kann ich diesen ›Narzissmus‹ aber mehr oder weniger erfolgreich unterdrücken – zumindest zeitweise. Was mehr Energie kostet, sind die festgefahrenen Hierarchien am Theater. Druck wird ›nach unten‹ weitergegeben, und manchmal höre ich mich selbst jemanden anschreien und denke: »Das bin ich doch überhaupt nicht«. Du hast gerade von deinem Ego gesprochen – auf dem Theater muss man das sicher auch ein Stück weit abgeben, oder? Auch ein/e Bühnenbildner*in verwirklicht sich nicht als freie*r Künstler*in, weil er oder sie immer auch eine Funktionalität der Bühne bedenken muss. Und manchmal ist eben auch eine vorgefundene oder schnell zusammengeschusterte Musik für eine bestimmte Szene genau das Richtige, oder? PB: Ich habe letzte Woche einen Ex-Gewandmeister getroffen, der am Theater aufgehört hat, weil er es nicht mehr ertragen hat zu sehen, wie seine 3000-Euro-Kostüme im Matsch geendet sind. Er hat sich jetzt als Schneider selbstständig gemacht und ist erfolgreich und happy. Sonst wurde über seine Kostüme ein halber Eimer Matsch geleert [lacht]. So ist das halt am Theater.

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Endnoten

Peer Baierlein begann mit sieben Jahren, Akkordeon zu spielen, bevor er mit neun Jahren zur Trompete wechselte. Nach einigen Jahren im örtlichen Musikverein folgte 1988 ein Studium als Jungstudent an der Musikhochschule Köln, wo er später auch sein Diplom als Instrumentalpädagoge und Orchestermusiker bei Malte Burba machte. Während dieser Zeit war Baierlein auch Schüler von Arno Lange an der Deutschen Oper in Berlin. 1996 ging er nach Belgien, um dort bei Bert Joris am Lemmensinstituut Jazz zu studieren. Es folgte ein weiteres Studium mit dem Spezialgebiet Leadtrompete. 2004 begann er, klassische Komposition bei Piet Swerts zu studieren, gefolgt von weiteren Studien der Filmmusik und Orchestrierung bei Denis Pousseur, Victor Kissine und Jean-Luc Fafchamps am Conservatoire Royal de Mons. Zwischen 2011 und 2013 studierte er Neue Medien an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Peer Baierlein arbeitet vor allem mit der Regisseurin Claudia Bauer zusammen. Ihr gemeinsamer Weg führte sie an die Häuser in Magdeburg, Stuttgart, Hannover, Basel, Bern, Graz und Leipzig. Ihre Produktionen wurden zur Biennale in Venedig, zum Theatertreffen in Berlin, dem Heidelberger Stückemarkt und den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Seit 2017 komponiert Peer für großes klassisches Orchester und wird dabei von seinen beiden Mentoren Daniel Börtz (Stockholm) und Wolfgang Andreas Schulz (Hamburg) unterstützt. 2018 erschienen seine Orchestrationen von Tschaikowskys ›Kinderalbum‹ für Streicherensemble beim renommierten Wiener Verlag Universal Edition. www.peerbaierlein.de

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Tintenherz nach dem Roman von Cornelia Funke, Regie: Markus Bothe, Deutsches Schauspielhaus, Premiere am 5. November 2006. Der Reigen von Arthur Schnitzler, Regie: Claudia Bauer, Theater Magdeburg, Premiere am 30. März 2011. In der Magdeburger Volksstimme hieß es dazu, Schnitzlers Stück verlange »ungeheuren Einsatz von den Darstellern. Die Magdeburger Inszenierung treibt diese Anforderungen physisch und psychisch auf die Spitze und setzt da noch ein Stück oben drauf, indem eigens komponierte Musik in die Dialoge eingebaut ist. Verblüfft registriert der Zuschauer, welch musikalisches und gesangliches Chorpotenzial in den Schauspielern steckt.« Der Komponist Peer Baierlein habe »mit seinen mystischen und rockigen Stücken die Dramatik bis zur Schmerzgrenze transportiert« (zit. in https://www.nachtkritik.de/index. php?option=com_content&view=article&id=5461:der-reigen-claudia-bauer-arthur-schnitzler&catid=180:theater-magdeburg&Itemid=100190, zuletzt aufgerufen am 29. November 2017). Auf Wikipedia sind mittlerweile vierzehn Zusammenarbeiten gelistet (https:// de.wikipedia.org/wiki/ Peer_Baierlein, zuletzt aufgerufen am 15. Mai 2019). Ihre Produktion 89/90 nach dem Roman von Peter Richter, Regie: Claudia Bauer, Schauspiel Leipzig, Premiere am 16. September 2016, wurde 2017 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Peer Baierlein hat eine Reihe von Band-Projekten (Dark Fader, South Quartett), mit denen er international zahlreiche Konzerte spielt, ein eigenes Label, hat Filmmusik gemacht und Auftragskompositionen geschrieben. Die CD heißt me² + 1 und ist 2015 auf Peer Baierleins eigenem Label Peer’s Playground erschienen. Siehe auch das Interview mit Jörg Gollasch in diesem Band. Bernstein schreibt: »Sie wissen doch genauso gut wie ich, daß man bei der Rhapsody überhaupt nicht von einer Komposition sprechen kann. Es ist eine lose Aneinanderreihung einzelner Stücke. Aber Komponieren bedeutet mehr als das. Die Themen, Melodien, oder wie immer man es nennen mag, sind großartig und wahrhaftig gekonnt; jedenfalls mindestens vier davon. Und das ist viel für ein Stück von nur 20 Minuten. Sie sind von perfekter Harmonie, ideal in den Proportionen, musikantisch, klar, wohlklingend und ergreifend. Sie sind rhythmisch in Ordnung, und immer voller ›Qualität‹, genau wie seine besten Show-Melodien. Aber man kann nicht einfach vier Melodien zusammenstellen, wie genial sie auch sein mögen, und das dann eine Komposition nennen. Komponieren heißt zwar,

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etwas zusammenfügen, aber gemeint ist ein Zusammenfügen von Elementen zu einem organischen Ganzen […]. Die Rhapsody in Blue ist keine Komposition im wahren Sinne des Wortes. Dazu fehlt es ihr an innerer Konsequenz und Folgerichtigkeit« (Bernstein, Leonard: Freude an der Musik, München 1963, S. 54–55). Faust von Johann Wolfgang von Goethe, Regie: Claudia Bauer, Konzert Theater Bern, Premiere am 8. November 2014. Und dann von Wolfram Höll, Regie: Claudia Bauer, Schauspiel Leipzig, Premiere am 4. Oktober 2013. Trailer unter: http://peersplayground.com/theatre (zuletzt aufgerufen am 29. November 2017). Volpone oder Der Fuchs von Ben Jonson, Regie: Claudia Bauer, Konzert Theater Bern, Premiere am 4. April 2014, Wiederaufnahme am Schauspielhaus Graz am 11. Oktober 2015. Die Jungfrau von Orleans von Friedrich Schiller, Regie: Claudia Bauer, Junges Schauspiel Hannover, Premiere am 2. März 2013. Dazu schreibt Roland Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 6. März 2013: »Kann man machen. Wie man ja überhaupt vieles mit Schiller machen kann. Seine Sprache musikalisch begleiten zum Beispiel. Vorn auf der Bühne hat der Musiker Peer Baierlein Platz genommen und illustriert das Spiel mit Sounds von der Festplatte und live gespielter Blasmusik. Das ist sehr spannend und stellt sich nie gegen den Text, der hier immer gut zur Geltung kommt« (in Meyer-Arlt, Roland: »Ballhof Hannover: ›Krieg ist Dreck‹. Schillers ›Jungfrau von Orleans‹ als große Schlammschlacht im Ballhof Hannover«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, http://www.haz.de/Nachrichten/Kultur/Uebersicht/Ballhof-Hannover-Krieg-ist-Dreck (zuletzt aufgerufen am 29. November 2017). Siehe das Interview mit Lars Wittershagen in diesem Band.

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Taison Heiß und Greulix Schrank: »Mach es live!« Ein Gespräch am 2. August 2017 in München

Taison Heiß Foto: privat

Greulix Schrank Foto: Bernhard Reuschel

Wie seid ihr zu Theatermusik gekommen? Greulix Schrank: Wir sind seit 2006 an der Schauburg1, haben davor als Duo Portmanteau gewirkt mit Schlagwerk und Elektronik, sehr tanzbare Livemusik. Das Schlagwerken habe ich mir auch vollständig autodidaktisch beigebracht. Das ist natürlich ein ganz anderer Ansatz an die Kunst: Die Musik eben nicht über die Notenschrift zu lernen, welche Viertel muss man wo spielen, sondern zu sagen: »Das hat mir gefallen. Wie geht das?« Und dann versucht man, das nachzuspielen und selber weiterzuentwickeln. Taison Heiß: Das ist natürlich unfassbar anstrengend! Der Greulix war erst Schlagzeuger in einer Heavy-Metal-Band … … Die Schweißer … TH: … und ich habe 1998 Abitur gemacht und habe dann hier in München Tontechnik studiert und war dort nach vier Monaten massiv von diesem Thema gelangweilt, weil es mir einfach nicht schnell genug

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ging. Dann haben wir bei einem Zeltlager einen Gitarristen kennengelernt, dessen Band gerade für die Live-Umsetzung ihres letzten Albums einen Elektroniker gesucht hat, und dann bin ich da so hineingeschlittert. Greulix war wahrscheinlich derjenige, der am ehesten geahnt hat, dass das, was ich da mache, eigentlich gar nicht in meiner Kompetenz liegt – zum damaligen Zeitpunkt [lachen]. Und dann haben wir uns gemeinsam, hineingefuchst, wie das denn geht, und haben die Tour den Umständen entsprechend gut gespielt. Dann hat sich die Band aufgelöst, und wir beide standen da. Ich hatte ein abgebrochenes Studium, und Greulix wollte nicht zurück in die beiden Lehrberufe, die er hatte … GS: … Elektrotechniker und davor Mechaniker … Deshalb stehen hier auch so viele geschraubte und geschweißte Gerätschaften in eurem Studio. Man bekommt gleich den Eindruck, dass die Materialität der Instrumente und Apparaturen für eure Arbeit ganz wichtig ist. GS: Ja, man muss sich natürlich auch heranwagen an das Basteln von Musikinstrumenten. TH: 1998 oder 1999, da war eben auch die Revolution in der Musik: Da hat eben der Computer oder das digitale sequencing gerade so alles überrannt in der Musik. Da sind Alben rausgekommen wie z. B. dieses Madonna-Album Ray of Light [1998], da ist so vom Detroit Techno an die Oberfläche und in die Popmusik-Charts gespült worden, und dieser Prozess hat ja bis jetzt nicht aufgehört. Wenn du dir jetzt eine Schlagerplatte anhörst, benutzen die zum Teil die gleichen Stilmittel wie vor fünf Jahren die High-End-Elektronik im Nischenbereich. Hast du auch ein Instrument, auf dem du dich zu Hause fühlst? TH: Ich habe als Kind Klavier gelernt, mal mit mehr und mal mit weniger

Enthusiasmus. Eher mit weniger. Und dann hat man sich mit 16 die erste Stromgitarre gekauft und war völlig baff, was man mit drei Akkorden und ein bisschen Wut im Bauch alles so anstellen kann. Und dann kam eben die Elektronik, was sehr spannend, aber auch wahnsinnig anstrengend war, weil man ja um das Jahr 2000 herum nicht mal eben in einem Internetforum gucken konnte, wie etwas funktioniert. Dann haben wir uns hier bei dem alten Probenraum das erste Mini-Studio eingerichtet. Das Geld, das mir meine Großmutter zum Studieren gegeben hatte, habe ich der Uni wieder weggenommen [lacht] und habe davon mein erstes Mischpult gekauft und musste das etwa zehn Jahre lange vor meiner Großmutter verheimlichen [lacht]. Und so haben wir das hier ganz

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Greulix Schrank (l.) und Taison Heiß in Das Trollkind. Foto: George Podt

langsam, Schritt für Schritt, aufgebaut. Zur Theatermusik sind wir 2006 gekommen über einen Freund aus der Popmusik, der ein Projekt ablehnen musste, weil er anderweitig beschäftigt war; das war mit dem Regisseur Johannes Schmid damals, und so sind wir das erste Mal an die Schauburg gekommen.2 Wir haben auch an anderen Häusern Theatermusik gemacht, aber die Schauburg hat uns natürlich auch aufgrund der großen Nähe und der Tatsache, dass wir dort im Grunde immer einen Freifahrtschein hatten, besonders großen Spaß gemacht. Das, wodurch Kunst am allerbesten ermöglicht wird, ist eine finanzielle und terminplanerische Sicherheit auf der einen Seite, die eben ein subventioniertes Haus bieten kann, zusammen mit dem Freiraum, sich wirklich etwas überlegen zu dürfen und nicht in ein Korsett gepresst zu werden, bei dem der Regisseur schon weiß, was er will. Das ist dann natürlich optimal, und da hat die Intendanz der Schauburg uns viel Vertrauen entgegengebracht, was darin mündete, dass wir dann bei einer Inszenierung, 20000 Meilen unter den Meeren3, praktisch alles gemacht haben: Der Greulix hat das Bühnenbild gemacht, ich habe mich viel ums Licht gekümmert, habe mit Videomapping die Laser bedient … GS: … Script neu geschrieben … TH: … genau – dieses 800-Seiten-Buch musste auf 26 Seiten Stücktext heruntergekürzt werden … GS: … und mit neuen Texten versehen werden, denn wörtliche Rede kommt im Buch kaum vor. TH: Wir mussten da wirklich noch mal fokussieren, was uns ei-

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gentlich an einer Theaterinszenierung interessiert. Klar, wenn du z. B. Heiner Müller nimmst, da ist es der Text und seine Abgründigkeit, die beeindruckend sind. Das kannst du aber im Kinder- und Jugendtheater nicht machen, und ich will mich mit dieser Abgründigkeit auch nur bis zu einem gewissen Grad beschäftigen. Wir machen ja vor allem Theater für Jugendliche so für das Alter von zwölf bis 15 Jahre – die Kinder haben mich, ehrlich gesagt, weniger interessiert. Das sind schon keine richtigen Kinder mehr – die haben eine eigenständige Meinung, wenn auch noch vom Elternhaus gefärbt –, aber die noch mal zu erwischen und zurückzuführen in die Imaginationsfähigkeit, die man hat, wenn man sieben oder acht ist, wo man mit virtuellen Freunden noch ganz ungeschminkt umgeht, das fand ich spannend. Da konnten wir noch mal was hineinpflanzen, wo wir einerseits technisch alles ausprobieren konnten, was wir wollten, und wo wir andererseits einen Kindheitstraum, nämlich auf eine Forschungsreise zu gehen, erfüllen konnten. Deswegen ist es Jules Verne geworden. Ich wollte auch nicht mit einem Text umgehen, der mir zu wertvoll erscheint. Wenn du einen Thomas Mann anfasst, dann musst du da vorsichtig sein, weil das ein fragiles Gebilde ist – während du bei Jules Verne acht Neuntel rausschmeißen kannst, und das ist immer noch o.k. Man konnte gnadenlos mit diesem Text sein. Man braucht keine falsche Pietät? TH: Genau. Die Geschichte an sich ist das Interessante, diese Reise ins

Unbekannte und der Käfig, der für den einen eben die Welt bedeutet, weil er alles erforschen kann, und der für den anderen ein Gefängnis ist. Es ist nur schade, dass das Projekt so spät in der Intendanz von Georg Podt passiert ist – da hätten wir sicher noch andere Sachen machen wollen und das auch gedurft, dadurch dass die 20000 Meilen ein Erfolg waren. Ich fand an der Inszenierung beeindruckend, dass sie das bisweilen immer noch grassierende Vorurteil widerlegt hat, dass Theater für Kinder oder Jugendliche gut gemeint, aber ästhetisch halt ein bisschen schlicht sei. Hier wurde nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern den Jugendlichen eine ästhetische Erfahrung ermöglicht, die sich auch nicht darauf beschränkt, die Story und die Figuren zu erzählen, sondern einen großen Eigenwert hatte. GS: Das war für uns ein wichtiger Punkt: diese Riesenmaschine4, die uns durch die Geschichte führt und ein großes Eigenleben entwickelt.

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TH: Es ist einfach ein Unterschied, ob sich ein Stück Pappe in einem

Lautsprecher bewegt, oder ob man auf eine Trommel haut, und das kann man in unserer Welt eigentlich nur erleben, wenn man mal in den Herkulessaal geht und sich ein klassisches Konzert anhört: Das ist etwas anderes. Da kannst du vor noch so einer guten HiFi-Anlage sitzen; es fühlt sich einfach anders an. Und der Gänsehaut-Moment, wenn die anfangen, ist einfach da. Jetzt kann man aber an einem kleinen Haus wie der Schauburg kein Orchester buchen, möchte aber trotzdem diese Erfahrung irgendwie vermitteln, dass da noch echte Körper zum Klingen gebracht werden, und das war dann die einzige Möglichkeit, das zu realisieren. Die Ursprungsidee war sogar, eine begehbare Installation zu haben, wo man nur ganz fragmentarisch auf das Thema zurückfällt. Das Haus fand die Idee o. k., fragte aber, warum wir kein Stück machen wollen. Da haben wir statt des kleinen Fingers die ganze Hand genommen und sind dann Hals über Kopf hineingezogen worden … GS: … gesprungen … TH: … das hat das Haus eigentlich sehr gut gemacht: uns bis zu einem gewissen Grad auch zu überfordern und zuzulassen, dass das auch völlig in die Hose hätte gehen können. Wir haben uns gut vorbereitet in Bezug auf die Maschine: Da habe ich eineinhalb Jahre dann rumgeschraubt und immer wieder getestet, dass das zuverlässig funktioniert. GS: … und man damit arbeiten kann! … TH: … und auf der anderen Seite zu sagen, ich überlasse die Schauspielerführung, die ich in dem Ausmaß noch nicht gemacht habe, einem Regisseur. Das musste aber jemand sein, den ich kenne, und so haben wir den Thorsten [Krohn] mit hineingenommen, der sehr viel Erfahrung hat, auch durch seine Arbeit an Schauspielschulen, und auch, um ein Korrektiv zu haben. Wenn ich meine Student*innen bitte, eine Theatermusik zu beschreiben, fällt oft die Formulierung: »hier untermalt die Musik die Szene«. Mich stört dieser Ausdruck immer, weil ich finde, dass er eigentlich nichts aussagt. Was soll, was kann Theatermusik aus eurer Perspektive leisten? Wie beschreibt ihr das? TH: Wenn es gelingt, dass die Musik das erzählt, was als Möglichkeit im Kopf des/der Zuschauer*in existiert, dann ist es ideal. Wenn sie einfach nur noch etwas draufsetzt, ist es nicht so toll. Muss mir die Musik noch mal erzählen, dass das jetzt gerade tragisch ist? Das ist im optimalen Fall ja bereits von den Schauspieler*innen abgedeckt …

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Oder vom Text … TH: Oder vom Licht. Jedenfalls von den anderen Gewerken.

Mir scheint, dass eine Besonderheit von Theatermusik ist, dass sie so schwer zu fassen ist. Wenn man etwas sieht und hört, wo die Musik ›funktioniert‹, ist das meist intuitiv sehr evident, aber es ist deutlich schwieriger, zu beschreiben oder zu analysieren, warum das so ist. Es hilft ja nichts, sich eine Aufnahme der Musik oder ein Notenblatt geben zu lassen und das durchzuanalysieren, wo hier welcher Dominantsept-Akkord steht, sondern ich muss immer die Musik im Kontext der Theateraufführung sehen. TH: Zumal die Notenschrift ohnehin ein schlechtes Vehikel ist. Schon mal Jazz notiert? Das erzählt Tonfolgen, aber transportiert nicht, was da emotional vor sich geht. Deshalb finde ich es auch wichtig, dass ein Musiker so viel in den Probenprozess einbezogen ist, wie nur irgend möglich. Wir haben das immer so gehandhabt, dass wir tatsächlich die sechs Wochen immer vollständig da sind. Ich werde ja von dem, was ich sehe, beeinflusst, und die anderen werden beeinflusst von dem, was ich tue. Es geht um den Prozess, in ein gemeinsames Fahrwasser zu kommen, bei dem man sich gegenseitig unterstützt, und nicht darum ein besonders schönes Stück unterzubringen, das man geschrieben hat. Das ist graue Theorie. Man kann das schon mal machen, dass man sich im Vorfeld überlegt, wo Szenerien sind, die eine Akzentuierung gebrauchen könnten, weil sie z. B. nicht vollständig erzählen. Habt ihr dabei einen eigenen, besonderen Stil? TH: Als Künstler ist man natürlich immer ein wenig an seine Mittel ge-

bunden. Künstler schöpfen immer wieder aus dem gleichen Pool. Auch einen Baselitz wird man immer wieder erkennen, auch wenn es ein neues Bild ist. Insofern habe ich immer versucht, eben nicht mit meiner Musik zu untermalen, sondern beizusteuern. Worin das besteht, kann man bei Stücken erst sagen, wenn man weiß, wo die Reise hingeht. Und dafür haben wir ein gewisses Repertoire. GS: Ja, wobei ich nicht sagen würde, dass wir eine Formel für die Musik entwickeln wollen – das ist gerade das Spannende, dass du es diesmal anders probierst als beim letzten Mal. Es ist aber ein Prinzip für euch, dass ihr bei den Aufführungen live dabei seid, richtig? TH: Das ist ein gewünschtes Prinzip von unserer Seite aus, weil wir die

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Musik – um es mit Beat Fäh zu sagen – als Mitspieler organisieren wollen. Das Schlimmste ist eigentlich, wenn das Schauspiel der Musik hinterherläuft: Wenn der Schauspieler zählen muss, bis er auf die Bühne laufen darf, und denkt »ich darf meinen Satz erst dann sagen, sonst stimmt der Paukenschlag am Ende nicht«, dann ist es eine Katastrophe. Es presst die Schauspieler*innen in ein Korsett, das ihnen die Möglichkeiten des Schauspielens wieder entzieht. Ich muss als Theatermusiker auf das reagieren können, was auf der Bühne passiert. GS: Das muss live passieren – das macht es erst aus. Sonst kann ich auch eine CD einlegen und auf einen Knopf drücken. Was ja durchaus in vielen Fällen gängige Praxis ist – auch wenn es keine CD mehr ist, sondern eine Festplatte. Viele Theatermusiker arbeiten nur mit Einspielungen, und wieder andere sagen eben: »Ich muss live mit auf der Bühne sitzen«. TH: … wobei der Ort, wo man sitzt, jetzt nicht entscheidend ist. Wir haben uns oft aufgeteilt. Weil wir zu zweit sind, konnte der Greulix häufig auf der Bühne agieren, während ich den Hintergrund gemacht habe, aber ich habe eben immer eine live-Draufsicht auf das, was auf der Bühne passiert. Und dabei richtet sich das Timing nach den Schauspieler*innen. Ich versuche zu agieren wie ein Mitspieler, der eben seinen Satz erst beginnt, wenn der andere seine Frage gestellt hat. Es kann aber auch interessant sein, wenn es in der Inszenierung Freiräume für die Musik gibt, wo den Schauspieler*innen z. B. nicht klar ist, wann es losgeht, sondern sie warten müssen, bis ich das empfinde. Ich nenne das den ›Bratkartoffelsatz‹: Manchmal ist eine Pause, als Pause gesetzt, erst richtig, wenn sie ein bisschen zu lang ist. Wie die Bratkartoffel: Die muss man immer ein bisschen länger drinlassen, erst wenn man denkt, jetzt brennt sie gleich an, darf man sie wenden. Dann wird sie schön knusprig. Einen Schauspieler mal hängen lassen zu können an einer Stelle … GS: … das weckt förmlich auf … TH: … und das hält die Schauspieler am Ball. Das erfordert unglaublich viel Aufmerksamkeit, weil nicht nur Menschen auf der Bühne als Mitspieler wahrgenommen werden müssen, sondern auch noch das, was ich höre. Da stellen sich total interessante Fragen: Beschreibt die Musik den Seelenzustand einer Figur? Wer kann das auf der Bühne wahrnehmen? Wir hören die Musik natürlich alle, aber weiß der/die Schauspieler*in, der mit der Figur kommuniziert, die ich musikalisch darstelle, dass der Gefühlszustand so ist? Ist es eine globale, darüberge-

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stülpte Musik aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers oder des allwissenden Musikers? Oder ist es kontrapunktisch gesetzt, und ich beschreibe mit der Musik etwas, was die auf der Bühne gar nicht wissen? Da gibt es sicher theoretische Modelle, die da heranzuziehen wären. Ja, die gibt es – vor allem in der Filmmusik – aber es ist interessant, dass die Theorie sich viel stärker für den Zuschauer interessiert: Wie verändert die Musik die Lesart einer Szene für das Publikum?5 Die Frage, was es für einen Schauspieler bedeutet, eine Szene mit einer bestimmten Musik, oder gegen eine bestimmte Musik zu spielen, und welche Dynamik oder Reibung das zeigen kann, ist viel weniger erforscht. TH: Das ist ja der Punkt, auf den du, glaube ich, hinauswolltest: Warum sind wir auf der Bühne? Weil wir Teil der Inszenierung der Schauspieler*innen sind. Dass dann irgendwann jemand dasitzt und sich das von außen anguckt, ist eine Diskussion, die ich mit mir nie geführt habe. Die Außenwirkung war mir nie so wichtig. Die stellt sich dann schon ein. Da kann man sich schon drauf verlassen, dass die Menschen etwas zu denken haben. Das heißt, die Musik ist für euch Teil eines multimedialen Erzählens: Mal erzählt sich etwas durch ein Licht, mal durch ein Kostüm und manchmal eben durch eine Musik oder die Wechselwirkung aus allem. Aber es gibt eben nicht schon eine fertige Erzählung, bei der die Musik lediglich noch ein bisschen Geschmack hinzufügt. TH: Ich glaube, die Gefühlsanbindung von Menschen basiert auf all ihren Sinnen. Wenn du einen oder mehrere ausblendest und den Fokus nur da setzt, wo der kognitive Teil angesprochen wird, dann muss man sich wahnsinnig konzentrieren, um zu folgen. Das kann auch einen Reiz haben, aber gerade im Jugendtheater fand ich es interessant, die YouTube-, Netflix-, Facebook-Generation auch tatsächlich mit allen Sinnen anzusprechen und nicht nur zu fordern, dass sie dem Text zuhören müssen. Das müssen die schon den ganzen Tag, und das langweilt sie berechtigterweise. Wir fanden es immer interessant, sie visuell zu fordern mit Dingen, die nicht »stimmig« sind, die nicht glatt durchkostümiert sind. Das gilt auch für die Musik: Ich muss den Shakespeare nicht in seiner Zeit verhaften lassen. Es geht bei euch immer wieder um einen Imaginationsraum, der aus dem kontrastiven Hören und Sehen besteht. Es geht nicht um Illusion, sondern die Hergestelltheit dieses Theaters ist immer wieder Thema.

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GS: Genau, denn das regt ja zum Denken an, wenn du hier und da aus Bildern ausbrichst und in komische Geräusche kommst – das passt erst nicht zusammen, aber im Ganzen eben doch. Das war z. B. in Der Aufsatz6 insgesamt der Versuch, aus Geräuschen Musikstücke aufzubauen. TH: Eine gute Geschichte hat einen Kern, den man verstehen muss, aber alles andere sind zusätzliche Dinge, die schön sind, wenn man sie wahrnimmt. Leute, die im Theater alles verstehen wollen, sind dort fehl am Platz, finde ich. Sich darauf einzulassen, zu begreifen, was in meinem Erfahrungshorizont liegt – darauf kommt es eigentlich an. Jeder schaut durch seine Brille anders auf ein Stück. Ein Flüchtling bringt eine andere Erfahrung mit ins Theater als ein behütetes Münchner Kind. Ich denke, der/die Regisseur*in hat die Aufgabe, das Denken bei den Zuschauer*innen durch die Möglichkeit der vielen Optionen, da draufzugucken, so breit wie möglich zu halten. Dann erreiche ich relativ viele Leute an einem Punkt, an dem es sie wirklich etwas angeht, wo sie eine Brücke zu ihrem Leben finden. Wenn zu klar ist, was erzählt wird, und zu klar vorgegeben ist, was ich denken soll, finde ich es meistens langweilig.

Das ist ja manchmal die Gefahr von Theater- oder Filmmusik, dass sie ausbuchstabiert, was ich jetzt fühlen soll. TH: Genau – und das ist natürlich das Damokles-Schwert, das immer über der Theatermusik hängt: Ich habe mal versucht, zu Kafkas Prozess Theatermusik zu machen7, und ich bin schier verzweifelt, weil das ja nie sagt, wie die Situation gefühlsmäßig gerade ist. Im Gegenteil: Es geht gerade darum, nicht zu wissen, wer was fühlt [lacht]. So – und jetzt mach mal gefühllose Musik! Das ist echt schwierig: eine Musik, die unter einer Szene liegt und nicht sagt, wie es dem dabei jetzt geht. Das so hinzukriegen, dass es wertbefreit ist, ist unfassbar schwierig. Keine Farbe mitzugeben. Viele eurer Produktionen sind textbasiert. Gibt es vor Probenbeginn einen bestimmten Ablauf, wie ihr euch der jeweiligen musikalischen Konzeption nähert? Wann trefft ihr Entscheidungen über Instrumentation und Set-up? Ich stelle mir z. B. vor, dass man, wenn man La Strada8 macht, schon von Anfang an eine bestimmte musikalische Welt imaginiert. GS: Es ist schon so, dass man sich am Anfang der Produktion mit der Regie zusammensetzt, erste Ideen durchspricht, beide den Text wissend, und das ist der erste Schritt. Dann erfolgt meistens von uns ein Brainstorming, was die Instrumentierung betrifft, wer ist auf der Bühne, wer nicht, von wo fahren wir die Musik – und so tastet man sich da eben ran.

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Wie sehr ist das konzeptionell, wie sehr intuitiv? TH: Das vermischt sich. Aber wenn man z. B. Ruf der Wildnis9 anschaut,

das im Norden von Alaska spielt, da habe ich schon darüber nachgedacht, wie ich jetzt möglichst kalte Klänge erstelle. Da hat sich dann für uns herausgestellt, dass eine reine Sinusschwingung dem menschlichen Ohr Kälte vermittelt, und dann haben wir gesucht, wie wir das erzeugen können, und fanden, dass das gestrichene Vibrafon eine gute Annäherung ist. Es gibt schon immer wieder thematische Bezüge: bei La Strada gibt es … GS: … diese Zirkusmusik … TH: … in dem Original-Fellini: Ich meine, Nino Rota10 ist vollkommen großartig, aber auch nicht wiederholbar. Und dann will man nicht das Gleiche machen, nur schlechter – so viel ist sicher.

Szene aus La Strada (v. l. Thorsten Krohn, Markus Campana, Greulix Schrank, Nick-Robin Dietrich, Regina Speiseder, Peter Wolter). Foto: George Podt

Aber dieses Zirkusding muss da schon erhalten bleiben in irgendeiner Form und so haben wir diese Nino-Rota-Maschine– diese Trommel mit verschiedenen Sachen dran, diese Ein-Mann-Band – erfunden und haben die Rota-Musik durch den Wolf gedreht, so lange, bis man sie eigentlich nicht mehr …

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… bis man keine GEMA mehr zahlen muss [lacht]… TH: … das auch, aber mehr: Bis man sie sich zu Eigen gemacht hat. Aber klar: Man schaut schon auch immer, was andere machen. Sich komplett zu isolieren und zu sagen: »Ich mache, was ich mache, und keiner ist so toll wie ich«, das führt nicht zum Ziel. Wenn man abgefahrene Sachen für einen Chor schreiben soll, dann gibt es schon Chöre, die sich mit so etwas beschäftigen, da gibt es [Olivier] Messiaen, der Stücke für Chor geschrieben hat, wo es dir den Schalter raushaut. Also man schaut: Was machen die? Welche Stilmittel benutzen die, was gefällt mir davon, und wie kann ich Teile davon adaptieren? Ich glaube nicht, dass man in der mitteleuropäischen Musik noch irgendetwas machen kann, was nicht schon dagewesen wäre. Man kann es nur neu gestalten, anders formen, ästhetisch anders präsentieren, aber: Grundton, Subdominante, Dominante – da kommst du ja auf eine gewisse Art nicht drumherum. Das hat Karl-Heinz Stockhausen viele Jahre lang versucht, auch unglaublich inspirierend, aber zu Hause anhören tue ich mir das nicht. Das ist ein eher theoretisches Konstrukt. Ich sehe – mal sehr vereinfachend gesprochen – zwei Tendenzen in der Schauspielmusik: Das eine ist die Suche nach Klängen, die man so noch nicht gehört hat, wo auch die Zuschauer im Ungewissen sind, wie sie das wahrnehmen und beschreiben sollen, und das andere ist ein Spiel mit Vertrautem, wo man einen bestimmten Stil, einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit evozieren will. Nicht unbedingt als musikalisches Klischee – wir sind in Frankreich, und ein Akkordeon erklingt –, aber wo man stark damit spielt, dass Musik Konnotationen auslösen kann. Deshalb spielt man natürlich schon auch mit Bekanntem, weil man so schnell eine Welt mit im Raum hat … TH: … ohne, dass ich sie mit etwas anderem herstellen muss. Ich kann Baguette und Barett weglassen in Frankreich, wenn ich das musikalisch erzähle. Und für den/die Zuschauer*in sollte sich im Optimalfall der Baguetteduft dann einstellen. Wie geht das dann konkret, wenn die Musik entsteht: Sitzt ihr am Rechner, am Klavier, an anderen Instrumenten? TH: Alles davon. GS: Man nutzt natürlich den Rechner als Sequenzer, um das aufzuzeichnen, was einem am MIDI-Klavier gerade einfällt. TH: Und es ist nicht umsonst alles so voll hier [zeigt auf die Studioräume, die voller Instrumente, Materialien, Werkzeuge, alter und neuer

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Musikelektronik sind], weil man manchmal auch auf der Suche nach einem Gespenst ist: Man weiß gar nicht so genau, wonach man sucht, und kommt dann durch Zufall auf etwas, woran man gar nicht gedacht hätte. Ich versuche, nicht zu verkopft an Sachen heranzugehen. Ich lese den Text und lasse mal andere Sachen nebenbei laufen, die müssen gar nicht von mir sein, und schaue mal, ob es einen Punkt gibt, an dem ich finde: Das ist jetzt aber gerade mal gut! Das dauert zum Teil Ewigkeiten. GS: Da gibt es auch hier gar keine Regel, da verzweifelt man oft ja auch daran, aber genau das gehört zum Komponieren auch dazu: Über etwas zu verzweifeln, auch mal in Wut zu geraten, und plötzlich pfft: Da ist es [lacht]! TH: Ich stehe ja ganz oft auf Kriegsfuß mit Text. Also, die Auseinandersetzung wirkt bei mir so, dass ich den Text zum Probenbeginn schon hasse. Weil er es mir so schwer gemacht hat. Es gibt Stücke, da saust du durch und hast in zwei Wochen schon mehr Material als du für die Inszenierung jemals bräuchtest, und bei anderen kommst du nicht drauf, was es sein könnte. Das führt zum Teil zu langen Gesprächen mit Regisseur*innen oder Dramaturg*innen, wo man sagt: »Ich kann dem nichts entnehmen, helft mir bei der Suche nach dem Thema!« Ein Stück mit einem ganz klaren Thema ist leichter zu bearbeiten, als ein vielschichtiges. Es ist ja eher ungewöhnlich, dass ihr als Duo arbeitet: Habt ihr da eine bestimmte Dynamik als Team? Gibt es eine Art Aufgabenteilung? GS: Einzig, dass ich eher der Schlagwerker bin und Taison eher der Elektroniker, sprich: »Start/Stop« [imitiert elektronische Sounds], und delay und Co. Aber sonst eher nicht. TH: Pragmatisch teilt man sich aber schon auch mal Dinge auf: Der eine macht für eine Szene schon mal das backing, oder der andere macht mal einen Vorschlag für eine Lösung. Wenn du mit Sequenzen arbeitest, musst du schon manches in petto haben, um etwas anbieten zu können. Du kannst nicht einfach drauflosimprovisieren, sondern du musst schon ungefähr wissen, was ist die Gemütslage, was habe ich für ein Instrumentarium – auch, weil die Möglichkeiten so unbegrenzt sind. Ein großer Prozess ist es auszusondern, was ich alles nicht will [lacht]! Das Herausdestillieren von Möglichkeiten, dadurch, dass es so viele sind. Das gab es z. B. dieses Seefahrerstück … GS: … Die Entdeckung der Langsamkeit11 … TH: … wo der Regisseur [Beat Fäh] gesagt hat: »Ich möchte ein Seefahrerdrama groß erzählen mit ganz kleinen Mitteln. Aber die Musik

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soll bitte fettes Kino sein.« Das ist natürlich eine Ansage. Dann schaut man sich mal so Hans-Zimmer-Zeug an. GS: Da ist uns dann aber auch was recht Einmaliges gelungen: Wir haben es tatsächlich geschafft, mit Musiker*innen, von denen auch noch jede*r in dieser Schlachtszene sein Soloinstrument spielt, mit einem Sequenzer und mit laut gesprochenem Text eine Abfolge zu schaffen, die musikalisch spannend ist. Da stehst du auch hier im Studio und schreist den Text vor der Box, um Musiklängen festzulegen, und überlegst, was du als Schlagzeuger noch dazu spielen kannst – da kommt man auf die wildesten Ideen. TH: Auch hier ist es eben wieder so: Die Schauspieler*innen sollen nicht zählen oder denken müssen zur Musik; die sollen sich verhalten zu dem, was emotional transportiert wird. Da ist der Greulix oft das Bindeglied auf der Bühne, der zwei Ohren bei der Musik hat und die Schauspieler im richtigen Moment führen kann. Eine Art Dirigent, ohne zu dirigieren, sondern mit Anatmen usw.? TH: Genau. Anatmen ist z. B. ein ganz großes Thema, haben wir immer

benutzt, und das kann ich nicht, wenn ich 100 Meter weit weg bin, oder wenn etwas von CD kommt. Und wenn du in der Aufführung am Mischpult sitzt, hast du wahrscheinlich so etwas wie Ableton vor dir, um flexibel reagieren zu können? TH: Exakt. Da ist Ableton das Mittel der Wahl, wenn es darum geht, interaktives Sequencing-Timing genau abzufahren. Das ist das einzige von den größeren Programmen, das das in allem Umfang beherrscht. Wir haben ja oft zum Leidwesen der Lichttechniker das Licht mitgesequenzt, zumindest an den entscheidenden Punkten. Man hat sonst am Theater die Affenschaukel, wie ich das immer nenne: Der/die Inspizient*in gibt dem/der Lichttechniker*in auf ein Stichwort ein Zeichen, der/die kriegt dann eine grüne Lampe und drückt dann auf einen Knopf, aber das ist dann die entscheidende Sekunde zu spät. Manchmal ist es aber wahnsinnig wichtig, dass das wirklich mit der Musik übereinstimmt, und deswegen sind eben wir auch bei Ableton, weil es diese Dinge mit verknüpfen kann. GS: Bei der erwähnten Schlachtszene ist es einfach wichtig, dass bei dem Kanonensound auch der Lichtblitz kommt! TH: Sonst ist die Imagination ja auch hin. Du kannst ja ohnehin eine Schlacht nicht erzählen im Theater: Es ist allen bewusst, wo sie sitzen. Da jetzt eine Illusion zu erstellen, die es möglich macht zu glauben,

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dass das, was mir erzählt wird, Realität sein könnte – da kann man nur herausfordern, dass der/die Zuschauer*in sich eine Schlacht vorstellt. Da sind wir auch des Öfteren dafür gerügt worden, dass es dann halt auch mal so laut wird, dass man denkt, man müsse sich die Ohren zuhalten. Aber das ist es doch! GS: Du willst dich unweigerlich verkriechen, wenn auf dem Schiff alle Kanonen losgehen. TH: Das kann ich doch nicht mit 75 dB Fernsehlautstärke einspielen! Da müssen sich die Haare aufstellen. Das ist doch das, was man dann will [lacht]! Und da kann ich auch den Jugendlichen, die sich mit ihren iPod-Kopfhörern über Stunden mit ihrer Lieblingsband zudrönen, mal 100 dB zumuten. Dafür gibt es aber auch andere Sequenzen, wo man die Musik so leise macht, dass man gar nicht mehr weiß, ob man etwas hört oder nicht. GS: Apropos Lautstärke – das ist natürlich einer der interessantesten Aspekte der Theatermusik überhaupt: Wie kriegst du Musik überhaupt zu dem Text dazu? Da überlegt man sich dann Instrumente, die man spielen kann, und trotzdem kann einer einen ganz ruhigen Monolog dazu halten. Ich habe ohnehin den Eindruck, dass es in der Theatermusik sehr viel um den Sound geht; vielleicht weniger um das, was gespielt wird, welche Melodie, welche Akkorde, sondern, wie das klingt, auch: von wo das kommt, was für Lautsprecher oder Instrumente. Und: Wie setzt man das ins Verhältnis zu einer Stimme? Gibt es für euch eine Art Sound-Kompass, wo ihr sagen könnt: Da ist Norden, da wollen wir klanglich hin? TH: Grundsätzlich bin ich schon mal ein totaler Hasser von Mikroports, weil sie die Ortung zerstören. Wenn ich jemanden links auf der Bühne sehe, höre ihn aber von überall – das ist für mich der Tod, weil das Ohr eines der präzisesten Messinstrumente ist, das wir haben. Wir können eigentlich auf 50 Zentimeter genau sagen, wo etwas herkommt, es sei denn, die Akustik ist total beschissen. Jetzt sind ja die meisten Theater auch als Theater konzipiert worden oder zumindest so eingerichtet, dass Sprachverständlichkeit stattfinden kann – da gibt es auch schlechtere Beispiele in München wie das Cuvilliéstheater: Wenn sich der Schauspieler da herumdreht, steht er in einer riesigen Kirche – jedenfalls kann man Mikroports weglassen. Das hat nur den Nachteil, den ich aber gar nicht als Nachteil empfinde, dass man mit der Musik sehr vorsichtig agieren muss. Das menschliche Ohr ist auf Sprache optimiert, d. h. zwischen 1500 und 3000 Hz hast du die Sprachverständlichkeit

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sitzen.12 Wenn du jetzt bei einer ruhigen Textpassage genau in dieser Frequenz etwas reingibst, was stört, dann verstehst du schon bei geringen Lautstärken nichts mehr, weil dann alle ›s‹ und ›t‹ weg sind. Da versuchen wir oft, an den Stellen, an denen Text über Musik läuft oder umgekehrt, die Frequenzen für die Sprachverständlichkeit einfach herauszufiltern, so dass wir Platz machen für den Text. Und das kann man nicht, wenn man einen Pop Song daruntermischt. GS: Man bedient sich natürlich auch der Technik: Wenn es laut werden soll, hilft der Subwoofer, wenn es fern und leise klingen soll, eher die Boxen hinten im Bühnenraum. TH: Wir haben eigentlich immer mit einer [Dolby] 5.1-Beschallung gearbeitet. Im Vergleich zu vielen ›fahrenden‹ Theatermusiker*innen kennt ihr euer Haus, die Schauburg, wie eure Westentasche, wisst also sehr genau, was in diesem Raum klanglich geht. Seid ihr eure eigenen Tontechniker, oder gibt es da schon noch Leute vom Haus, mit denen ihr zusammenarbeitet? TH: Es ist eine Kooperation. Wir haben mit dem Klaus Pinternagel aus der Schauburg immer sehr eng zusammengearbeitet. Ich habe mich auf sein Urteil auch zum Großteil verlassen; da haben wir uns auch so gut wie nie in die Haare gekriegt, weil er natürlich sein Haus kennt. Und gerade, wenn Greulix und ich beide auf der Bühne sind, wie bei 20000 Meilen, dann habe ich eben keine Außenperspektive mehr, dann muss ich Entscheidungen über Lautstärken usw. einfach ihm überlassen. Das Verhältnis von Theatermusik und Tontechnik ist ein kompliziertes: Es ist ein bisschen, als ob man als Schauspieler eine Rolle erarbeitet und dann am Premierentag an jemand anderes übergibt – welche Erfahrungen habt ihr damit gemacht? TH: Ja, es ist manchmal eine Krücke. Ich sehe das bei Tonabteilungen anderer Häuser, wie z. B. dem Marstall.13 Das sind ganz tolle Jungs, aber das macht einen Unterschied, ob ich das fahre oder ob die das fahren. Für die ist das ein Job mit acht Stunden am Tag, die haben nicht nur eine Produktion, sondern noch 15 andere, die im Spielplan sind, und die gehen eben auf Lichtzeichen und lesen nebenbei Zeitung. Das kann ich zu einem gewissen Grad auch verstehen – aber es ist etwas anderes, wenn ich nur für die Vorstellung komme, mich völlig darauf einlasse und das ohne Skript aus dem Kopf mit dem Finger am Master-Regler wirklich mitgestalte. Das ist ein Unterschied.

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GS: Lautstärke, Tempo – so etwas variiert bei Schauspieler*innen von Abend zu Abend, und da ist es eben manchmal sinnvoller, einen cue langsamer reinzufaden oder schneller. Da kann man nicht einfach einen Wert programmieren, und der stimmt dann immer.

Mich interessiert auch sehr, welche Rolle Technologie in eurer Arbeit spielt. Ihr habt schon angedeutet, dass ihr ja im Laufe eurer Arbeitszeit eine große Entwicklung mitgemacht habt: von analog zu digital. Ich habe den Eindruck, dass es da in eurer Arbeit eine Bandbreite gibt: von der scheppernden Trommel in ihrer Materialität und Theatralität bis hin zu komplexen digitalen Systemen der Tonerzeugung und Steuerung. GS: Ich denke gerade darüber nach, ob es da für uns bestimmte Gesetzmäßigkeiten gibt, aber ich glaube auch, das ist eine pure Bauchentscheidung, die beim Findungsprozess einfach passiert. TH: Vielleicht kann man in meinem Fall schon sagen, dass ich immer versuche, von einer möglichst analogen Klangquelle auszugehen und sie mit den Möglichkeiten der digitalen Klangtechnik zu bearbeiten. Das sind die beiden Stärken der Systeme: Man versucht mittlerweile, mithilfe von Samplerinstrumenten ein echt gespieltes Cello zu imitieren, und das gelingt auch, würde ich sagen, zu 70 Prozent. Mit sehr viel Aufwand und Know-how kann man mittlerweile einen Orchestersatz digital gestalten, das macht aber das Orchester nicht obsolet. Das Orchester hat einfach Nuancen, die eben nicht greifbar sind. Das Gleiche gilt für Analogsynthesizer: Alles, was die Musikindustrie in den letzten 15 Jahren an consumer-orientierter Software herausgegeben hat, hat einen Unterton der Machbarkeit in Bezug auf die Rechenleistung, die Finanzierbarkeit und die Bedienbarkeit. Und die Synthesizer, die man kaufen kann, ähneln in ihrer Soundästhetik dem, was der Konsument hören möchte. Damit bist du natürlich immer irgendwo im Mainstream. Sich von diesen Dingen zu verabschieden und zu sagen: Ich nehme nicht das Plug-in, das Ableton mir vorgibt, sondern ich baue mir selber ein MaxPatch, oder ich nehme eine andere Klangquelle, da kommt man erst an den Punkt, wo man das nicht schon so gehört hat. Es sei denn, man will eben genau so eine vertraute Klangästhetik zitieren? TH: Genau, aber selbst, wenn man das ganz bewusst als Stilmittel einsetzen will, dann kommst du mit dem Rhodes Sound von einem DX-7 nicht so weit, als wenn du analog Klangplatten anschlägst. Daher geben wir auch bei jeder Produktion Unsummen dafür aus, um uns neue Möglichkeiten zu schaffen, um zu experimentieren.

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GS: Da wird auch mal für eine Produktion eine Laserharfe gebastelt: Mal

schön ein paar Röhren zusammengeschweißt, Lichtabnehmer und Dioden rein, und dann gucken wir mal. TH: Oder Greulix kauft einfach mal 20 Stimmgabeln und versucht, mit diesen Stimmgabeln ein Stück zusammenzubauen. Das wird anders klingen, als wenn ich mir aus dem Computer einen Sinuston hole. Solche Artefakte und das, was da neben dem reinen Klang noch passiert, das interessiert uns und ist, wenn man die Softwareentwickler*innen fragt, auch noch lange nicht reproduzierbar. Der Unterschied zwischen analog erzeugtem Klang und digital erzeugtem Klang ist immer noch riesig, finde ich. Nutzt ihr den Computer auch als Skizzenblock – um musikalische Gedanken festhalten oder auch, grob umrissen, kommunizieren zu können? Man kann dort ja schnell mal einen Chor oder ein Streichquartett simulieren – oder habt ihr die Erfahrung gemacht, dass das gar nicht so hilfreich ist, weil für Regie und Schauspieler*innen nicht immer vorstellbar ist, wie das dann am Ende klingen wird? GS: Das ist natürlich immer ein Wagnis, aber was willst du machen: Irgendwie muss man ja loslegen, und außerdem kriegt man über die Diskussion dann erst raus, wie es weitergehen soll. TH: Da hatten wir auch immer Glück, mit Regisseuren arbeiten zu dürfen, die, ob sie nun musikalisch waren oder nicht, zumindest ein Gespür hatten für die Funktionalität dessen, was man da macht. Wenn man mit Peer Boysen arbeiten darf, dann muss man darüber nicht diskutieren: Der ist so musikalisch, dass man sich auf einem Niveau unterhalten kann. Der sagt dann schon mal: »Ja, da wäre ein Dominantseptakkord super«, weil er weiß, was er damit will. Das ist dann relativ leicht umzusetzen. Wenn man mit Beat Fäh arbeitet, der keinen theoretischen Hintergrund hat und auch das Vokabular nicht besitzt, um sich auf diese Weise darüber zu unterhalten, dann sagt er: »Mach mal, was du denkst«. Und dann sagt er dir: »Das finde ich super, das finde ich nicht so gut«. Es ist aber auch häufig so, dass wir auf der Probe eine Szene mit drei verschiedenen Musiken ausprobieren, um zu schauen, was das für den/die Zuschauer*in, vor allem aber auch für den/die Schauspieler*in tut. Das ist mir noch wichtiger. Und wie läuft die Zusammenarbeit mit den Schauspieler*innen? Deren Bereitschaft, sich auf ein Zusammenspiel mit der Musik einzulassen und die eigene Musikalität der Sprache und Bewegung in Relation zu

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setzen, ist ja auch ganz entscheidend. TH: Da haben wir natürlich hier den Optimalfall: Wenn man lange mit

einem Ensemble arbeitet, weiß ich, dass ich dem Markus Campana nicht sagen muss, wo die ›1‹ ist. Bei anderen muss man eine Stelle schon mal öfter vorspielen, wenn sie einen Einsatz erkennen sollen – das ist schon unterschiedlich. GS: Ich glaube, man muss manchmal darum bitten, dass auch auf die Musik gehört wird. Es passiert natürlich, dass die Schauspieler*innen so in ihren Texten sind und auf Anschlüsse warten, dass sie dann den Mitspieler »Musik« übersehen, oder besser gesagt, überhören. Es spielt dabei doch sicher auch eine Rolle, dass ihr von Anfang an bei den Proben dabei seid. Früher – das gibt es ja kaum noch – wurde wochenlang geprobt, und am Schluss kam die Schauspielmusik und hat ein paar Szenen unterlegt und ein paar Umbauten gekittet. Das ist aber natürlich auch eine ökonomische Frage, ob man diesen Wechsel mitvollzieht, oder? TH: Das ist in erster Linie Aufgabe der Häuser, das zu ermöglichen. Man kann überall sparen oder investieren, und da kommt es auf das Haus an, die Wichtigkeit der Musik zu würdigen, indem man, so banal es klingt, den Musiker für den Probenzeitraum bezahlt! GS: Unter anderen Umständen würde ich so etwas auch gar nicht machen. Wenn es Livemusik sein soll, dann muss ich natürlich auch live dabei sein bei der Entwicklung. TH: Das ist wieder diese Frage: Soll Musik live gestaltet sein, oder soll sie zugespielt werden? Und da sagen wir halt eindeutig: Wenn du irgendwie die Möglichkeit hast, dann mach es live! Das ist ein Riesen-Unterschied. Ich habe darüber hinaus den Eindruck, dass diese Veränderung hin zu viel engerer Interaktion von Musik und Szene bei den Proben auch zu neuen Dramaturgien und Spielformen führt. Die Präsenz von Musik und Musikern*innen bremst, denke ich, bestimmte Formen des Naturalismus, des Spiels mit der vierten Wand usw. aus. Musik in so einer expliziten, oft sichtbaren, in jedem Fall bewusst präsenten Form verweist ja auch auf den theatralen Rahmen, auf die Gemachtheit des Ganzen. Wie ist da das Zusammenspiel von Theatermusik und Regie, gerade wenn ihr mit Formen experimentiert wie Live-Hörspiel oder Ähnlichem? GS: So eine Grundidee entsteht häufig in den ersten Gesprächen mit der Regie und Dramaturgie: Wird das eher ein Konzert, ein Hörspiel, sind wir bei-

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de mit auf der Bühne? Alle denkbaren Varianten. Das ergibt sich recht früh. TH: Es kommt auch ganz darauf an, ob das Bühnenbild eine statische oder mobile Präsenz eines Musikers überhaupt zulässt, ob es ins Konzept passt. Manchmal findet natürlich auch eine gewisse Entzauberung dadurch statt, dass man sieht, wie die Musik gemacht ist. Das ist schon eine Gratwanderung: Auf der einen Seite ist es toll zu sehen, wie ein Klang entsteht, aber manchmal ist es auch ablenkend von dem, dem man eigentlich folgen sollte. Aber das obliegt der Aufgabe des Regisseurs, das zu beurteilen. Wenn ihr auf der Bühne seid, wer oder was seid ihr da? Ist das eine Art Bühnenfigur? GS: Schon. Abgesehen davon, dass ich ja auch schon richtig Rollen gespielt habe, brauche ich das, auch eine Art Rolle zu haben. Die wechselt dann bei Stücken, wo man keine feste Rolle spielt, von Figur zu Figur. Das tue ich aber im Übrigen auch in einem ganz normalen Konzert. Ein Song vermittelt ja auch über den Text etwas, und so nehme ich da immer eine Position ein. TH: Das sind sicher Teile seiner Persönlichkeitsstruktur, die er dann in dem Moment in den Vordergrund stellt. Es abzukoppeln und lediglich eine Rolle zu spielen, ist auch irreführend, aber als Privatperson habe ich eben auf der Bühne eigentlich so nichts verloren, finde ich. GS: Man merkt das auch sofort, ehrlich gesagt. Bei den Räubern im Residenztheater neulich waren links und rechts Musiker*innen – da hat man gemerkt, die sind nur da, um ihre Musik zu spielen, die waren nicht dabei. TH: Und wenn man so etwas bei den Proben merkt, dann muss man sich vielleicht doch einen Abgang organisieren, um nicht vom Eigentlichen abzulenken. Ich habe vor Kurzem eine spannende Inszenierung gesehen, die das noch radikal weitergedacht hat. In Felix Rothenhäuslers The Re’search14 hatte während der Proben sein Musiker Matthias Krieg15 permanent Musik beigesteuert, bis man kurz vor der Premiere entschied, dass es diese Musik für die Aufführung eigentlich nicht mehr braucht. Die Musikalität war längst in die Körper und die Sprache der Schauspieler*innen übergegangen. Sie hatten die Musik verinnerlicht. TH: Das ist aber ein Prozess, den hast du eigentlich ganz oft: Dass die Musik für die Entstehung der Szene immanent wichtig war, einen Input von musikalischer Seite aus zu haben, um die Szene überhaupt entwi-

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ckeln zu können, und am Ende stellt man fest, dass die Musik obsolet geworden ist, weil sie jetzt doppelt. Das, was die Schauspieler*innen da machen, ist besser, wenn ich einfach die Klappe halte. Da darf man dann nicht beleidigt sein. Das entsteht aber auch über das Vertrauen zum Regisseur. Ein Regisseur, der immer schon weiß, was er von der Musik will, ist schwierig – das weiß ich ja selbst oft nicht. Man muss sich schon miteinander unterhalten, um die Freiräume, die jedes Gewerk für sich hat, auch ausnutzen zu können. GS: Um noch mal auf die Frage der Bühnenpräsenz zurückzukommen: Interessant fand ich da eine Szene zwischen zwei Figuren in La Strada, die wahnsinnig wichtig und intim ist auf eine blöde Art und Weise. Da stand ich nun als Musiker dahinter auf der Bühne und habe mich wahnsinnig unwohl gefühlt und habe mir dann eine Rolle gesucht: Spiel ›Spiegel‹! Du verfolgst die Szene, also spiel’ einfach deine Reaktionen! Es ist auch eine Form von Selbstschutz: Auch bei einem Konzert bin ich vielleicht nicht privat auf der Bühne, das ist auch eine Form der Selbstinszenierung, aber die hat einen klar definierten Rahmen. Auf der Theaterbühne ist der/die Musiker*in hingegen oft ein Zwischending: teils Figur, teil Musiker*in, nicht richtig Rolle, aber doch mit einer Art Kostüm, usw. Ist es da die Lösung, eine Art Bühnenpräsenz zu finden, die aber nicht fiktional ist, oder? GS: Ja, aber erzählen tut man immer etwas. TH: Die Begabung ist es eben, nichts zu spielen, aber trotzdem jemand zu sein. Taison, du hast vorhin Stockhausen und andere erwähnt, gleichzeitig habt ihr einen Hintergrund in einer Heavy-Metal-Band: Was sind eure Einflüsse? TH: Ich lasse mich schon sehr stark beeinflussen von Elektronikern. Also, wir reden über die 40er, 50er und 60er Jahre, das gucke ich mir viel an, weil die mangels der technischen Möglichkeiten immer wieder musikalische Erzählformen finden mussten – also Pierre Henry, Pierre Schaeffer, oder wie sie alle heißen – die nicht mit den musikalischen Konventionen übereinstimmen, über die wir uns popmusikalisch in den letzten vierzig Jahren geeignet haben. Das ist noch frei von diesem Korsett Strophe-Refrain, Tonika-Subdominante-Dominante, sondern da geht es um reine Klangforschung. Zugänge, wie die aleatorische Musik bei Cage, interessieren mich, die einen völlig anderen Ansatz gewählt haben, nicht unbedingt, weil sie jetzt unbedingt Musik schreiben wollten, sondern

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weil sie etwas kreieren wollten, was so noch nicht dagewesen ist. Auch jemand wie Messiaen entzieht sich bestimmten Konventionen ganz bewusst, und das führt dann zu Dingen, die man sich noch jetzt anhört und denkt: Das habe ich noch nie in dieser Form gehört. Und das finde ich spannend. Ich glaube, etwas, was Frank Zappa und die Beatles nicht gemacht haben, das gibt es musikalisch nicht – in der Popmusik. Das haben die alles durchdekliniert. Vom einfachen De-doo-doo-da bis zu Captain Beefheart ist das alles abgegrast. Was mich auch interessiert sind ungewöhnliche Kombinationen, wie es Stockhausen oft gemacht hat: drei Live-Instrumente, ein Steptänzer und eine Säge! So eine Instrumentierung erzwingt ja schon ein Ergebnis, das ›artfremd‹ ist. Und das birgt ja auch eine gewisse Theatralik – ein Nachdenken über Raum, über Material … TH: Genau. Und das ist uns auch ganz wichtig: Wir denken immer den Raum musikalisch mit. Das ist bei 20000 Meilen ganz explizit. Da haben wir das Stück danach ausgesucht, wo man die Musikmaschine hineinbauen kann, wo das Teil eines Gesamtkonstrukts werden kann. GS: Und für mich als Schlagwerker ist es immer so, dass man sich den Raum anschaut, das Bühnenbild, die Requisiten, die da rumliegen, und darüber versuche ich immer auch, eine Verbindung herzustellen, indem ich auf diesen Dingen auch Musik mache. TH: Dem Spieltrieb auf einer Probe freien Lauf zu lassen, beinhaltet, dass der Regisseur nicht 100-prozentig weiß, wie er die Dinge erzählen will, sondern nur, was.

Taison Heiß, geb. 1976, ist Ton-, Video-, Musik- und Performance-Künstler, Toningenieur, Studiobetreiber, Theatermusiker und Regisseur. Ausbildung zum Toningenieur am SAE Institute München, Einstieg bei der Band Schweisser mit anschließender Tournee durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Seit 2001 Betreiber des Portmanteau-Tonstudios in München mit Produktionen u. a. für Helmut Hattler, Balloon Pilot, Rhytm Police, Dr. Döblingers geschmackvolles Kasperltheater, Missent to Denmark, Saroos. Ab 2002 ist er Mitglied der Elektronik Pop Bands Lali Puna und Portmanteau mit weit über 1000 Konzerten in ganz Europa, USA, Russland, Japan, Südkorea, China und vielen Tonträgern. 2006 beginnt die Arbeit als Theatermusiker an verschiedenen Häusern in Deutschland, unter anderem an der Schauburg München, dem Residenztheater München, Theater Konstanz und dem Theater Münster. Seit 2018 arbeitet er für die Produktion und Sendetechnik bei PULS, dem jungen Programm des Bayerischen Rundfunks.

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Gerald »Greulix« Schrank, geb. 1969, machte zunächst Ausbildungen zum Mechaniker und zum Elektrotechniker, bevor er 1988 in Weilheim die Metal-Band ›Schweisser‹ als Schlagzeuger mitbegründete. Seit Auflösung der Band betreibt Schrank zusammen mit Taison Heiß ein Tonstudio und das Duo ›Portmanteau‹ und spielt als Gastmusiker u. a. bei Lali Puna, The Notwist und ISO 68. Er musiziert außerdem regelmäßig für ›Café Unterzucker‹, dem »Institut für ungesüßte Kindermusik und unversäuerten Erwachsenenschmarrn« und beim Singspiel auf dem Nockherberg. Seit 2006 arbeitet Schrank als Theatermusiker an der Schauburg München und am Theater Landshut, und er entwickelt gemeinsam mit Sebastian Hofmüller mit der ›Greulmüllerschen Hörspielmanufaktur‹ Live-Hörspiel-Abenteuer (Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton), die kontinuierlich auf Tour sind.

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Schauburg – Theater der Jugend ist das Kinder- und Jugendtheater Münchens und wurde 1953 gegründet. Von 1990 bis 2017 wurde es von George Podt und Dagmar Schmidt geleitet. Die Produktion hieß: Das Trollkind oder das Märchen vom Wechselbalg von Selma Lagerlöf, Regie: Johannes Schmid, Schauburg München, Premiere am 22. April 2006. 20000 Meilen unter den Meeren nach Jules Verne, Regie: Taison Heiß/Thorsten Krohn, Bühne: Greulix Schrank, Schauburg München, Premiere am 9. April 2015. Das Bühnenbild wurde u. a. bestimmt von einer großen Maschine, die wie ein Steam-Punk-Orchestrion aussah und die mit allerhand Geräuschen und Tönen einen Großteil der Theatermusik des Abends live beisteuerte. Einen umfassenden Überblick über die interdisziplinäre Bandbreite an Theorien zum Verhältnis von Narration und Musik gibt: Pflüger, Dana: Musik und Handlung. Die Funktionen der Musik in Oper, Film und anderen musiktheatralen Gattungen mit einer exemplarischen Anwendung auf Werke Albert Lortzings, Frankfurt 2017. Der Aufsatz von Antonio Skármeta, Regie: George Podt, Schauburg München, Uraufführung am 10. November 2016. Der Prozess von Franz Kafka, Regie: Johannes Schmid, Theater Konstanz, Premiere am 6. Dezember 2008. La Strada von Federico Fellini und Beat Fäh, Regie: Beat Fäh, Schauburg München, Uraufführung am 14. Januar 2017. Ruf der Wildnis von Jack London, Bearbeitung und Regie: Beat Fäh, Schauburg München, Uraufführung am 22. Juni 2014. Komponist der Filmmusik zu Fellinis La Strada (1954) und zu fast allen anderen Filmen Fellinis. Die Entdeckung der Langsamkeit nach dem Roman von Sten Nadolny, Fassung und Regie: Beat Fäh, Schauburg München, Premiere am 10. Oktober 2015. Das ist ein Annäherungswert, da für die Sprachverständlichkeit viele Faktoren eine Rolle spielen. Genauere Angaben finden sich u. a. in Hans Lazarus, Charlotte A. Sust, Rita Steckel, Marko Kulka, Patrick Kurtz: Akustische Grundlagen sprachlicher Kommunikation, Berlin 2007. Der Marstall ist die kleine, experimentellere Spielstätte des Residenztheaters München. The Re’search von Ryan Trecartin, Regie: Felix Rothenhäusler, Musik: Matthias Krieg, Münchner Kammerspiele, Uraufführung am 29. Oktober 2016. Siehe das Interview mit Matthias Krieg in diesem Band.

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Octavia Crummenerl Gloggengießer: »Ich gehe von einer Art Farberinnerung aus« Ein Gespräch am 21. Dezember 2015 per Skype

Wie bist du zur Theatermusik gekommen, und wie hast du dir das, was du dafür brauchst, angeeignet? Octavia Crummenerl Gloggengießer:

Ich bin bestimmt immer noch nicht fertig als Schauspielmusikerin, fühle mich zumindest nicht so, d. h., ich eigne mir immer noch ständig etwas an. In die Theatermusik bin ich so hineingeraten: Zunächst war ich schon Musikerin, habe viel auf der Straße musiziert und wurde dann am Deutschen Theater Göttingen von einer Regieassistentin, die damals am Haus war, engagiert. Die brauchte für ihre zweite AbOctavia Crummenerl Gloggengießer 1 Foto: Lea Dietrich schlussproduktion eine schauspielende Musikerin und kannte jemanden aus Hildesheim2, und die kannte wiederum mich. Vorher hatte ich schon einige Jahre beim Musiktheater »Springinsfeld«3 als Schauspielerin und Musikerin gearbeitet. Bei dieser Arbeit am Deutschen Theater war die Regieassistentin ein so großes Vorbild für mich, so dass ich auch Regisseurin werden wollte. Ich habe mich dann als Assistentin beworben und bin nach einigen freien Arbeiten am Staatstheater in Braunschweig am Theaterspielplatz unter der Leitung von Jörg Gade gelandet. Der wusste aber auch, dass ich Musik mache und schon in freien Produktionen gespielt hatte. Er hatte viele Ideen für eine eigene Produktion. Da wurde ich gleich als Musikerin besetzt – das war eben mein Glück ziemlich früh, schon in diesem ersten Jahr der Regieassistenz, musikalische Aufgaben übernehmen zu können. Zum einen war das die Komposition für ein mobiles Stück, zum anderen aber auch viele Geräusche für die anderen Produktionen, die ich begleitet habe. Das war oft so ein Grenzbereich zwischen Geräuschen, Sound und Musik. So habe ich

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angefangen, noch mit analoger Technik, zu sampeln, Geräusche zu verwandeln. Nach diesem Jahr habe ich mich aber besonnen, dass ich ja eigentlich Regisseurin werden will und etwas inszenieren müsste. Klaus Schumacher, der damals noch als Schauspieler am Moks4 unterwegs war und den ich als Gastregisseur aus Braunschweig kannte, hat mir dann die Möglichkeit gegeben, mein erstes Stück in Bremen zu inszenieren; ich durfte aber auch die Musik dafür komponieren und produzieren. Ich hatte danach eigentlich nicht genug Selbstvertrauen, um mich auf dem Regiemarkt zu behaupten, auch wenn es eine tolle Arbeit mit guten Kritiken war.5 Von daher war eigentlich alles perfekt, aber da war irgendwie so ein Gefühl, dass ich da keine Chance haben würde als nicht-studierte Regisseurin. Gleichzeitig gab mir Klaus weitere Optionen, in Bremen Musik für Schauspielproduktionen kreieren zu können, und so bin ich da hineingerutscht. Mit Klaus Schumacher hast du ja sehr kontinuierlich zusammengearbeitet? OCG: Ja, das ging damals los, und dann sind wir zehn Jahre zusammen unterwegs gewesen und auch an größere Häuser gekommen. Du hattest also von Anfang an beides: die Erfahrung, in sehr freien Zusammenhängen zu arbeiten – die Straßenmusik ist ja sicher sehr wenig von institutionellen Sachzwängen behaftet –, aber eben auch an staatlichen Theaterbetrieben. Wie ging es dir mit beidem? OCG: Nach den ersten freien Arbeiten war ich schnell im Stadttheaterbetrieb, dort aber eben nicht fest angestellt, und habe dann schon überlegt, was ich als festen Job machen könnte. Da war auch die Theaterpädagogik eine Option. Ich habe dann einen Job in Berlin in einem Jugendkulturzentrum bekommen und dort Theater- und Musikarbeit mit Jugendlichen gemacht. Während dieser Zeit kamen aber weiter Anfragen für freie Projekte, und beides ließ sich schwer vereinbaren. Ich habe mich dann ganz bewusst für die Selbstständigkeit entschieden und die entsprechenden Schritte unternommen: bei der GEMA anmelden, einen Gründungszuschuss vom Arbeitsamt beantragen, Rentenversicherungen abschließen und und und. Ich habe aber gedacht, das geht halt so lange, wie es geht, und hatte schon im Hinterkopf, dass ich vielleicht irgendwann wieder feste Optionen suchen muss. Es ging aber lange so, dass ich gut davon leben konnte.

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Das war jetzt die Vergangenheitsform: Was hat sich verändert? OCG: Ich lebe schon immer noch von der Theatermusik, allerdings ist es in den darauf folgenden zehn Jahren etwas weniger geworden. Das hat vor allem damit zu tun, dass ich eine Familie gegründet habe und Klaus [Schumacher] inzwischen mit anderen Musikern arbeitet. Aber die Veränderung hat mir auch neue Freiräume eröffnet, die mich noch mal auf einen anderen Weg gebracht haben, nämlich in Richtung Film. Das hast du ja ziemlich kontinuierlich gemacht, und es ist sicher oft auch die familienfreundlichere Arbeit. Wie würdest du Komposition für Film und Theater vergleichen in Bezug auf den Arbeitsprozess? OCG: Film ist sicherlich intensiver, weil viel genauer gearbeitet wird und oft auch umfangreicher, aber es ist letztlich auch viel einfacher, weil das Bild und die Geschichte schon stehen in dem Moment, in dem die Musik hinzukommt. Das ist eigentlich ein Geschenk – da merke ich, dass wir als Theatermusiker*innen sehr trainiert sind in Sachen Rhythmus, also darin, ein Gefühl für Szenen und Verläufe zu bekommen, wie etwas erzählt wird, nämlich, die passende Gangart, Tempo und Timing von Figuren und Stimmungen zu Hause zu erinnern. In dem Moment, wo das schon alles fertig und zu jeder Zeit abspielbar ist, ist das natürlich viel einfacher, etwas zu entwickeln und draufzusetzen. Man muss die Musik ja im Theater auch gemeinsam proben, damit es bei jeder Aufführung funktioniert, während es beim Film nur ein Mal bei der Aufnahme stimmen muss. OCG: Genau. Vielleicht gibt es manchmal Schnittveränderungen, und man muss noch mal etwas verlängern oder anders auflösen, aber im Prinzip ist es viel einfacher. Dadurch, dass die Aufführung im Theater meist erst in der letzten Woche vor der Premiere fertig ist, kann man erst dann angefangen, die Musik richtig auf den Punkt zu bringen. Das frustriert mich auch oft, weil leicht etwas verrutschen kann. Wie würdest du deine Musik beschreiben? OCG: Quasi – deluxe! [lacht] Meine Liebe gilt dem Detail, aber ich suche nicht die Perfektion. Ich lasse die Musik gerne aufblättern, wie die Patina einer alten Wand. Ich nutze elektronisches und akustisches Instrumentarium, um Temperatur und Abstraktion in das richtige Mischungsverhältnis zu setzen. Quasideluxe6 schließt das Unvollkommene mit ein, denn ›Fehler‹ sind meine ›Freunde‹, die etwas überraschendes Neues bringen oder Widerstände bergen, die zu spannenden Herausforde-

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rungen werden können: Für jeden ›Stoff‹ die passenden Farbe und Materialität, zu jedem ›Bild‹ die notwendige Gestalt zu finden. Stimmen und Geräusche nehme ich auf und auseinander, um sie in Musik zu transformieren, wobei sie nicht ohne die Verknüpfung mit Dramaturgie und Regie zu denken sind. Musik ist für mich immer auch ein Gesamtkonzept. Du hast vorhin gesagt, du kannst immer noch dazulernen, was die Theatermusik betrifft. Was muss man denn, deiner Erfahrung nach, können? OCG: Schwere Frage, weil es natürlich vielfältige Fähigkeiten sind, die man vielleicht für die Theatermusik brauchen kann – ob man sie brauchen muss, ist wieder etwas anderes. Klar: Das Musizieren oder auch eine instrumentale Vielfalt, das ist auf jeden Fall etwas, das ich sehr schätze. Ich habe schon als Kind diverse Flöten und Klavier gespielt, später Gitarre probiert und Violine gelernt und bin darüber in der Straßenmusik zum Kontrabass gekommen. Der Bass ist wiederum als Fundament für alle Musikstücke nützlich, und so bin ich schon fast meine eigene Combo. Und dann fängt man eben an, in musikalischen Stücken und Komplett-Paketen zu denken und nicht als einzelner Instrumentalist oder Instrumentalistin. Das ist sicherlich hilfreich, weil wir häufig verschiedene Genres bedienen müssen. Also stilistisch vielfältig zu sein? OCG: Ja, und das ergibt sich auch aus einer instrumentalen Vielfalt. Meine neueste Errungenschaft ist nach der Chalumeau [ein Vorläufer der Klarinette] das Sopransaxofon. Was ja auch wichtig ist, ist eben ein differenziertes Theaterverständnis. Du hast ja in Hildesheim Kulturwissenschaften studiert – ist da viel an theaterästhetischem Fundament gelegt worden oder resultiert das eher aus den späteren Proben- und Seherfahrungen? OCG: Teils, teils. Ich glaube, das kam eigentlich aus der Praxis. Andererseits habe ich mich natürlich während des Studiums viel mit Theater, auch mit Musiktheater beschäftigt, allerdings eher mit dem experimentellen Musik-Theater, z. B. mit Mauricio Kagel, und habe damit experimentiert. Ich fand es spannend, Instrumente auf der Bühne zu sehen und das Agieren am Instrument in Szene zu setzen. Die Verbindung von Bild und Ton hat mich fasziniert, und das hat sich bis heute gehalten, aber für das Erzählen der Geschichten mit Musik habe ich erst durch die Praxis ein Gespür bekommen.

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Hast du eine typische Arbeitsweise? OCG: Ja, die gibt es schon. Am Anfang steht bei mir der Text. Ich gehe ganz stark in den Text hinein, in die Geschichte, und gehe davon aus, was mir der/die Regisseur*in von seinen/ihren Ideen erzählt. Manche Regisseur*innen haben schon recht konkrete Vorgaben – »Ich möchte gerne den Kontrabass als Hauptinstrument, das soll insgesamt eine Bass-lastige Grundstimmung sein« – so etwas bringt einen dann auf einen anderen Weg, als wenn alles frei ist. Es spielt natürlich auch eine Rolle, ob ein Krimi erzählt wird, oder ob es ein Kinderstück ist. Beim Lesen des Textes versuche ich daher, die Soundebene mit zu denken. Die erste Konzeptions- und Leseprobe ist dann ein weiterer wichtiger Moment, weil ich das Stück zum ersten Mal klingen höre und ein Gefühl dafür bekomme, ob sich der Rhythmus-Eindruck, den ich beim Lesen hatte, bestätigt. Wie konkret wirst du schon vor dem ersten Probentag? Entwickelst du eher grundsätzliche Ideen, z. B. zur Instrumentierung, oder fängst du bereits an, Melodien oder Rhythmen zu notieren? OCG: Ich gehe immer mehr dazu über, schon vorher etwas zu produzieren, weil ich es nicht mag, in Stress zu geraten. Das gilt besonders, wenn sich der/die Regisseur*in wünscht, dass gesungen wird. Diese Sachen müssen im Grunde zu Beginn fertig sein, weil es teilweise viel Zeit braucht, diese Gesangslinien den Schauspieler*innen beizubringen und zu proben. Früher habe ich gedacht: Ich werde ja erst ab Probenbeginn bezahlt, warum soll ich da vorher anfangen? Aber inzwischen mache ich das, weil ich keine Lust mehr habe, mich so aufzureiben. Du hast in deinen Produktionen mal alles eingespielt, mal mit einer Mischung aus Playback und Livemusik gearbeitet und auch oft selbst live auf der Bühne gestanden. Wann fällt diese Entscheidung? OCG: Diese Entscheidung wird vorab gefällt und ist meistens eine institutionelle Entscheidung. Man schaut, ob das Stück das erfordert, und vor allem auch, ob der finanzielle Rahmen es hergibt, mit Livemusik zu arbeiten. Wie verläuft dein Kompositionsprozess, und wo findet er statt? OCG: Das ist eine interessante Frage, denn das kann sehr unterschiedlich sein. Manchmal fängt es einfach mit einer Basslinie an. Ich komme immer mehr dazu, tatsächlich verschiedene Techniken auszuprobieren und für mich festzuhalten, weil es natürlich unterschiedliche Effekte

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hat, je nachdem, wie man vorgeht. Es kommt etwas anderes dabei heraus, ob ich von einer Melodie ausgehe oder von einem Groove. Da bin ich am Forschen, am Sammeln und Experimentieren. Es gibt da so viele Möglichkeiten, und dieser Prozess interessiert mich sehr.7 Ein Prozess der schrittweisen Einschränkung und Annäherung an das jeweilige Vokabular der Inszenierung? OCG: Genau. Das finde ich auch nach wie vor das Geschenk dieser Tätigkeit, diesen Prozess immer wieder gestalten und erleben zu dürfen. Was den Ort betrifft: Es reicht mir eigentlich, eine Szene ein- bis zweimal zu sehen, dann weiß ich, in welche Richtung das geht und kann dazu etwas entwickeln und bin dann auch nicht so viel bei den Proben. Schwieriger ist es, wenn das Stück noch nicht da ist, wenn improvisiert wird und Texte noch entwickelt werden und noch gar nicht so klar ist, wo es dramaturgisch hingeht. Aber sonst nehme ich die Szene in meinem Kopf mit nach Hause und entwickele dort etwas, und das funktioniert meistens ganz gut. Das kann man übrigens auch auf den Film übertragen: Wenn ich erst einmal gecheckt habe, wie die Szene funktioniert, dann kann ich auch das Bild gut ausschalten und mir dazu eine Musik ausdenken. Spielt Improvisation für dich eine Rolle? OCG: Eher weniger, aber auch da gibt es Ausnahmen. Bei einer Produk-

tion, bei der auch Video dabei war, da haben wir gesagt: Das wird jetzt eine große Jam-Session. Wir haben ganz viel Material gesammelt und spielten das dann ein. Und da habe ich auf der Probe noch ganz viel Material verfremdet oder mit Effekten verarbeitet. Das kann inspirierend sein, Dinge direkt auszuprobieren, so dass die Szene auch auf die Musik reagieren kann. Schön ist es dann auch, wenn ich schon fertiges Material, also richtige Musikstücke zur Verfügung habe und dadurch mit diesen verschiedenen Farben spielen oder das Stück noch mal zerlegen kann. Was mich allerdings musikalisch seit einiger Zeit umtreibt, ist die Jazz-Improvisation, mit der ich mich jetzt seit über zehn Jahren intensiver befasse, und die mich auch für die kompositorische Arbeit total fasziniert. Die Begegnung mit dem virtuosen Improvisator und Komponisten Oli Bott (Vibrafon) und sein genialer Unterricht haben mich da sehr bereichert. Das Üben und das Arbeiten mit Jazz-Tonalitäten ist ein täglicher Faktor geworden, der auch für meine Erfindungsarbeit ganz wichtig ist: Skalen und Modi durch alle Tonarten zu verfolgen, Akkorde und bestimmte voicings in allen Stellungen mit den entsprechenden

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Optionen zu probieren hilft mir, mich in diese Farben hineinzubegeben, um noch mehr Register fürs Komponieren zur Verfügung zu haben. Und zudem ist es spannend zu trainieren, ›steg-reif‹, also aus dem Moment heraus, kreieren zu können. Musik wie Sprache aufnehmen, verarbeiten und weitergeben. Das passiert beim Komponieren ja auch. Das zu untersuchen, interessiert mich. Neben diesen Filterungsprozessen in der Improvisation spielt das Zulassen von Fehlern auch eine Rolle, denn dadurch entstehen manchmal ganz hervorragende Sachen. Da ist Theatermusik sicher auch anders als andere Formen des Komponierens – das erfordert so eine Osmose zwischen dem eigenen Schaffen und dem, was um einen herum passiert, auf der Probe und darüber hinaus. Man muss sehr offen sein für die spezielle Konstellation, für das spezielle Wechselspiel mit der Regie, und mit den Schauspieler*innen. Es ist ein wenig vorhersehbarer Prozess, oder? OCG: Ja, das stimmt. Trotzdem bereite ich einiges vor, weil das Schöne ist eben, dass wenn man schon relativ komplexe Sachen gearbeitet hat, kann man diese auch immer wieder auseinandernehmen, weil die Musik eben immer vielschichtig ist. D. h., du denkst musikalisch schon in Songstrukturen – kann man das so sagen? OCG: Das ist unterschiedlich. Das hängt vom Stück ab. Die Herausforderung besteht für mich aber schon auch darin, Songs zu schreiben, die auch als eigenständige Musik funktionieren können. Vielleicht sind es eher gedachte Atmosphären. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass harmonisch modale Sachen wahnsinnig gut funktionieren auf dem Theater, weil die Musik gar nicht zu viel erzählen darf. Das merke ich ganz oft, dass ich da wieder reduzieren muss und Spuren auseinanderschiebe, weil so viele Ereignisse gar nicht verträglich sind. Aber natürlich will man auch coole Songs machen [lacht]. Schmeißt du viel weg? OCG: Nein, ich bin da mittlerweile relativ ökonomisch, aber etwas bleibt

natürlich immer übrig. Spielt Notation für dich noch eine große Rolle? OCG: Schon. Immer mehr eigentlich.

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Für dich selbst oder eher für eine*n Schauspieler*in, der/die etwas singen soll? OCG: Auch für mich selbst, um etwas festzuhalten. Wobei manchmal das Aufnahmegerät näher liegt, weil es schneller geht. Aber beim Arrangieren finde ich es immer noch hilfreich, Notation zu verwenden. Beim Querhören deiner Musik8 hatte ich den Eindruck, dass es neben Melodie und Rhythmus auch stark um Sounds geht. Du zitierst manchmal bestimmte musikalische Genres, aber es wirkt so, als ob du diese noch mal in eine andere Welt transportierst durch eine bestimmte Soundauswahl. Wie wählst du diese aus? OCG: Die Sound-Frage ist tatsächlich sehr wichtig für mich, weil ich das Gefühl habe, dass der Sound eng verbunden ist mit dem Bild, also der Farbigkeit und Materialität der Bühne und damit, was das Stück für eine Grundfarbe, für ein Setting hat. Da ist für mich der Sound der Link zwischen der Musik und der Erzählung. Ist das ein sehr bewusster und konzeptioneller Prozess – »ich suche jetzt einen besonders körnigen Sound, weil das zum Stück oder zur Bühne passt« – oder eher ein intuitiver Vorgang? OCG: Das ist eine gute Mischung von beidem, aber letzten Endes gehe ich ganz stark von den Geräuschen aus, die in dem Stück vorkommen oder erzählt werden, oder die ich beim Lesen höre. Davon versuche ich, etwas abzuleiten, zusätzlich zu so einer Genre-Farbe. Ich gehe von einer Art Farberinnerung aus. Das geht mir auch im Film so, dass ich ein Geräusch höre und dazu die passende Tonalität suche. Das passiert meistens auch unbewusst. In einem Film hatte ich beispielsweise helle elektronische, perkussive Sounds eingesetzt und später festgestellt, dass im vervollständigten Sound Design die raschelnden Gräser den gleichen Sound viel schöner übernehmen. Da wird es dann spannend, denn das ist Teamarbeit. Und wenn rhythmische sync-points unbewusst getroffen werden, kann die Szene ins Komische gleiten. Wie passiert dann die Einrichtung der Musik im Theaterraum? OCG: Das ist ein wichtiger Schritt. Die Besonderheiten jeder Bühne werden zu Beginn besprochen, und auch die Unterbringung der Lautsprecher im Bild sind ein wichtiges Thema. Deshalb ist es auch auf den Proben schon wichtig zu versuchen, eine Ahnung davon zu bekommen, wie der Sound im Raum funktionieren wird, wobei das oft frustrierend ist, weil sich das auf den Probenbühnen oft einfach noch nicht so her-

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stellt. Inzwischen habe ich da aber großes Vertrauen, weil ich einfach weiß, dass ich zu Hause sehr gute Abhörer habe und mir dann die Erfahrung sagt, dass das auch auf der großen Anlage gut klingen wird. Wenn es möglich ist, nutze ich gerne auch die Endprobenzeit zur Abmischung im Saal. Die Musik dann noch fein einzustellen und im Raum auszurichten – dabei helfen dann die feinen Ohren der Techniker*innen vor Ort. Das ist schon sehr hilfreich, zumal ich die Musik dann oft schon so gut kenne, dass ich manchmal nur noch schwer beurteilen kann, ob ein Effekt zu stark ist oder so etwas. Da ist es ganz wichtig, immer mal herauszutreten und Abstand zu gewinnen, zu vergessen, was ich da eigentlich produziert habe, um es wieder ›unbeleckt‹ und neu zu hören. Wichtig ist auch, die Musik jeweils in der Lautstärke abzuhören, in der sie abgespielt werden soll. Du hast schon erwähnt, dass Technologie für deine Arbeit eine wichtige Rolle spielt: Mit welchem Equipment arbeitest du, und wie schlägt sich das in deiner Arbeit nieder? OCG: Ich arbeite gerne mit sämtlicher elektronischer Verfremdungstechnologie: Ich gehe ja wie gesagt oft vom Geräusch aus, und was ich an den elektronischen Möglichkeiten mag, ist, dass man gar nicht mehr so konkret auf die Instrumente verweist, die man so kennt. Die braucht man zwar manchmal genre-mäßig, wenn es z. B. eine starke E-Gitarre sein muss, aber im elektronischen Bereich kann man davon auch einmal weggehen und neue Klangkreationen schaffen. Das finde ich eigentlich das Faszinierende. Und je nachdem, wovon ich bei einem Stück ausgehe, fange ich eben mal am Computer an, mal aber auch am Bass, am Klavier oder mit einer rollenden Münze in einem Luftballon. Der Computer ist also mal Speichermedium, mit dem du Musik quasi notierst, aber eben auch Werkzeug zur Bearbeitung. Erzeugst du auch viele Sounds am Rechner selbst, oder arbeitest du mit Samples oder presets? OCG: Ja, auf jeden Fall. Ich nutze den Computer sowohl als Werkzeug als auch als Speichermedium. Ich habe keine analogen Synthesizer oder Sampler mehr, sondern es ist alles Software-basiert, aber auch da kannst du ja wahnsinnig viele Module neu kombinieren und verändern. Das habe ich früher mehr gemacht, heute seltener, weil schon die presets so viele Möglichkeiten bieten. Aber man muss auf jeden Fall noch daran schrauben z. B., weil die Effekteinstellungen angepasst werden müssen, oder weil ich einzelne Klangaspekte isolieren möchte. Das ist ja auch das Spannende daran.

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In welcher Software bewegst du dich dabei hauptsächlich? OCG: In Logic. Damit habe ich angefangen und bin dabei geblieben. Wenn du die Musik entwickelst, denkst du sehr konkret über erwünschte Wirkung und Funktionen nach, die die Musik auf die Zuschauer*innen haben soll? Wenn ja, sind diese stark atmosphärisch, oder eher dramaturgisch bzw. figurenbezogen? OCG: Über die Wirkung denke ich schon nach, ohne sie konkret zu benennen. Der Auftrag ist ja, die Geschichte zu erzählen. Ich versuche, die passende Stimmung zu erzeugen, um die Szene in die richtige Richtung zu bringen. Ich denke da schon funktional – ich stelle mir z. B. oft die Frage: »Will ich jetzt diese Emotion unterstützen oder nicht?« Das muss dann manchmal auch diskutiert werden, denn je nachdem, wie ich das Ruder ins Wasser halte, lenke ich das Schiff in eine andere Richtung. Oder wir entscheiden uns, das Schiff treiben zu lassen, und verlegen die musikalische Erzählschiene z. B. in die Szenenumbrüche. Arbeitest du dabei auch motivisch? OCG: Ja, wobei für mich auch bestimmte musikalische Atmosphären ein leitmotivisches Element sein können. Wenn ich eine Musik bestimmten Szenen zuordne oder wiederkehrende Brüche baue, dann hat das auch eine dramaturgische Funktion und ist wichtig für die Erzählform. Bei dir vermischen sich ja manchmal auch Musizieren und Schauspiel: Du stehst oft selbst auf der Bühne, auch als Figur. Was bedeutet das für dich? OCG: Das ist immer unterschiedlich: Oft gab es schon den Versuch, mich oder uns als Musiker*innen szenisch einzubinden. Aber eine richtige Figur war ich eigentlich nur in meinem allerersten Stück: ein Zweipersonenstück, bei dem ich eben auch richtig gespielt habe, musikalisch und schauspielerisch. In dem Moment, wo es mehrere Musiker*innen auf der Bühne sind, verändert sich das, glaube ich. Das ist dann eine Band oder ein Duo, und da funktioniert das szenisch weniger und wird auch weniger inszeniert. Das ist aber eigentlich total schade, weil es da tolle Möglichkeiten gäbe. Mit Livemusik etwas experimenteller zu arbeiten, das würde mich sehr interessieren! Das hat mich sowieso am Anfang sehr beschäftigt: Ich hatte mich im Studium ja viel mit neuer Musik auseinandergesetzt und dann am Theater aber ganz konventionell mit Harmonien hantiert und recht offensichtlich und sehr funktional Emotionen bedient. Da habe ich mich oft gefragt, ob das eigentlich legitim ist.

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Es gibt doch schon so viel Musik – warum muss ich dann auch noch Musik erfinden? Letztlich kommt man aber dann schon an den Punkt zu erkennen, dass für eine bestimmte Erzählweise eine bestimmte Handhabung der Musik nicht nur berechtigt, sondern für die Inszenierung schon auch notwendig ist. Das könnte ja auch ein Grund dafür sein, dass sich die Musikwissenschaft so wenig für die Theatermusik interessiert, weil eben der Eindruck ist, dass da rein kompositorisch gesehen das Rad nicht neu erfunden wird. Nicht jede musikalische Neuerung wird hier mit vollzogen, weil ja oft auch ganz bewusst mit vertrauten Formen gespielt wird. Aber ich verstehe, dass man sich als Theatermusikerin schon fragt, wie die Musik auch zu ihrem Recht kommt und nicht nur Verstärker von etwas ist, das schon da ist. OCG: Absolut. Sehr gut beschrieben. Und was das Musizieren auf der Bühne betrifft: Das wird ja häufig im Moment genau ausgelotet, wo man sich in diesem Zwischenbereich zwischen Musizieren und Rollenspiel bewegen will – ob bei Marthaler, Häusermann oder Marton. Da sind aber nicht alle Regisseur*innen so einfallsreich und auch nicht alle Musiker*innen gleichermaßen bereit, über die Schwelle des Szenischen zu treten. OCG: Es ist auch etwas anderes, als Schauspieler*in eine Bühnen-Präsenz zu behaupten, als nur instrumental präsent zu sein. Was mich bei Kagel immer auch interessiert hat, war, wenn die Musik und das Musizieren selbst das Thema waren und von Musiker*innen szenisch verhandelt wurden. Wie funktioniert Musik auf der Bühne als gesehene? Damit zu experimentieren, finde ich spannend. Auch z. B. als Frau bestimmte Instrumente zu spielen, die lange in der Musikgeschichte für eine Frau als unschicklich galten. Um das Stichwort aufzugreifen: Nun ist ja die Theatermusik nach wie vor eine ziemliche Männerdomäne. Ist das ein Thema für dich? OCG: Auf jeden Fall. Es ist verdammt schade, dass ich so gut wie keine Kolleginnen kenne. Deshalb unterstütze ich auch ›Pro Quote Bühne‹9. Filmkomponistinnen habe ich inzwischen viele entdeckt und kennengelernt. Da sind tolle Komponistinnen, große Vorbilder. Austausch und Vernetzung sind extrem wichtig. Zurzeit engagiere ich mich bei ›Pro Quote Film‹10, um gemeinsam mit der Filmkomponistin und Kulturmanagerin Gudrun Lehmann aus Hamburg daran etwas zu ändern

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und mehr Frauen zu protegieren und zu ermutigen, in diesen Beruf zu gehen. Die Initiative ›Pro Quote Regie‹, die im Januar 2018 in Pro Quote Film aufgegangen ist, unterstütze ich seit der ersten Stunde, weil mehr Diversität im Regiefach für mich schon lange ein Thema ist. Wir als Musiker*innen inhalieren die Stoffe und sprechen aus den Figuren heraus. Durch diese extreme Nähe zum Geschichtenerzählen sind wir für die Perspektiven einer Inszenierung, für den Umgang mit stereotypen Rollenbildern und für den notorischen Mangel an weiblichen Protagonisten besonders sensibilisiert, denke ich. Mir geht es jedenfalls so. Wenn du selbst Theater guckst, achtest du sehr auf die Musik? Gibt es da Kolleg*innen, deren Arbeit dich besonders interessiert oder sogar inspiriert? OCG: Schon, aber eher im Film. Da höre ich mehr Vorbilder als im Theater. Filme inspirieren mich häufiger als Theater: Da erkenne ich öfter etwas Neues, was ich dann auch ausprobieren möchte. Im Theater horche ich vor allem auf, wenn es musikalisch inszeniert ist. Mich interessiert dann eher, wie die Musik eingebaut ist, wie mit Form umgegangen wird, als dass es jetzt musikalisch etwas völlig Neues ist. Gibt es dafür Beispiele? OCG: Bei Marthalers Inszenierung Jubiläumskonzert in zwei Aufzügen11, bei

der die Instrumente im Orchestergraben inszeniert werden: Das ist eine tolle Verbindung. Oder ein Film wie Gegen die Wand12, wo die Stimmung einfach besonders dicht war, gerade auch durch den Einsatz der Musik. Man hat ja oft solche Bezugspunkte: Ich fand damals Jim Jarmuschs Dead Man bemerkenswert, für den Neil Young nur mit seiner E-Gitarre den Soundtrack geliefert hat. Solche Dinge fallen einem dann als eine markante und eigenständige Handschrift auf, als mutige Setzungen. OCG: Ja, und sie fallen uns auf, weil sie sich in besonderer Weise verbinden – mit der Inszenierung und mit uns, unserem Denken und unseren Erfahrungen. Marthalers Die Spezialisten. Ein Gedenktraining für Führungskräfte13 und Stunde Null oder die Kunst des Servierens14, ebenso wie die frühen musiktheatralischen Abende der Les Reines Prochaines15, waren für mich so starke musikalische Inszenierungen, dass sie mich im Nachgang mit starken Traumbildern beschenkt haben. Und das ist dann doch etwas Geniales, wenn Musik, die ja auch im Kopf entsteht, verwoben mit der Geschichte und den Bildern, in deren Zusammenhang sie vorkommen, wieder in den Traum transzendieren.

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Endnoten

Octavia Crummenerl Gloggengießer. Theater- und Musikausbildung an der Universität Hildesheim. Neben mehrjähriger Festanstellung als Regieassistentin und Theaterpädagogin, ist sie seit 1999 freischaffend als Komponistin für Theatermusik an verschiedenen Bühnen tätig: Deutsches Schauspielhaus Hamburg; Schauspielhaus Zürich; Theater Bremen; Staatstheater Stuttgart; Schauspiel Hannover; Schauspielhaus Graz; u. a. 2003 erfolgte eine Einladung zum 7. deutschen Kinder- und Jugendtheatertreffen Augenblick-mal!, mit der Produktion: Cyrano (MOKS am Bremer Theater und Junges Schauspielhaus Hamburg) und 2019 die Einladung zum 15. Augenblick-mal!, mit der Produktion Waisen vom Jungen Theater Bremen. Seit 2007 ist Octavia auch als Filmkomponistin und Sound Designerin tätig. Für die Musik zu einem Kurzspielfilm bekam sie in Frankreich 2012 die Auszeichnung: »Mention spéciale pour la musique originale du film«. 2012 Teilnahme an der EFA-Masterclass: »The Sound of the Image«, an der Filmuniversität Babelsberg. 2014, Teilnahme als »Nachwuchsurheberin«, beim EMAS-Stipendium der GEMA, in Dresden. Die jüngste Filmmusik entstand zu dem Kino-Dokumentarfilm Die Schule auf dem Zauberberg (UA 2018) von Radek Wegrzyn. www.quasideluxe.de

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Aus dem Making-of der Produktion Verbrennungen von Wajdi Mouawad, Regie: Konradin Kunze, Junges Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 28. Januar 2012. Octavia Crummenerl Gloggengießer studierte in den Neunzigern Kulturpädagogik (heute: Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis) an der Universität Hildesheim. Siehe http://www.theater-springinsfeld.de/theatergruppe/theatergruppe.html (zuletzt aufgerufen am 10. August 2018). Das Moks ist die Kinder- und Jugendtheatersparte am Theater Bremen mit eigener Spielstätte. Siehe: http://www.theaterbremen.de/de_DE/junges-theater#moks (zuletzt aufgerufen am 10. Dezember 2017). Presseausschnitte über Octavia Crummenerl Gloggengießers Arbeit finden sich unter http://quasideluxe.de/?page_id=136 (zuletzt aufgerufen am 10. Dezember 2017). »Quasideluxe« heißt die Webseite und das Label von Octavia Crummenerl Gloggengießer. Siehe: http://quasideluxe.de (zuletzt aufgerufen am 10. Dezember 2017). Eine pointierte Zusammenfassung ihres Arbeitsprozesses hat Octavia Crummenerl Gloggengießer in einem kurzen animierten Videoclip festgehalten: »Auge und Ohr« unter https://vimeo.com/157623361 (zuletzt aufgerufen am 10. Dezember 2017). Siehe bzw. höre Klangbeispiele unter http://quasideluxe.de/?page_id=48 (zuletzt aufgerufen am 10. Dezember 2017). Pro Quote Bühne e.V. ist ein Verein von Theaterschaffenden in Deutschland, der sich »paritätische Besetzung […] von allen künstlerischen Theater-Ressorts« zum Ziel setzt. Siehe: https://www.proquote-buehne.de/ (zuletzt aufgerufen am 18. August 2018). Siehe: https://proquote-film.de/ (zuletzt aufgerufen am 18. August 2018). Der Eindringling – Ein Jubiläumskonzert in zwei Aufzügen von Christoph Marthaler nach Karl Valentin und Maurice Maeterlinck, Regie: Christoph Marthaler, Volksbühne Berlin, Uraufführung am 19. November 1994. Gegen die Wand, Regie: Fatih Akin, Musik: Alexander Hacke und Maceo Parker, Produktion: Arte, Bavaria Film International u. a., 2004. Die Spezialisten. Ein Gedenktraining für Führungskräfte von Stefanie Carp und Christoph Marthaler, Regie: Christoph Marthaler, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 16. Februar 1999. Stunde Null oder die Kunst des Servierens von Stefanie Carp und Christoph Marthaler, Regie: Christoph Marthaler, Musikalische Leitung: C. Sienknecht, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 20. Oktober 1995. Les Reines Prochaines sind eine Schweizer Frauenband, die spartenübergreifend Musik, Video, Bildende Kunst und Performance miteinander verwebt. Siehe: http://www.reinesprochaines.ch/ (zuletzt aufgerufen am 18. August 2018).

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Matthias Krieg: »Als Gast im Theater« Ein Gespräch am 11. Oktober 2016 in München

Wie nennst du das, was du tust? Komposition, Theatermusik, Musikalische Leitung? Matthias Krieg: Diese Begriffe sind alle notwendig, die sind oft auch nicht vermischbar. Ich habe heute erst wieder darüber nachgedacht, dass ich das häufig klar für mich trenne, weil es verschiedene künstlerische Bereiche und Funktionen sind, in die ich beim Arbeiten am Theater reingehe. Z. B. hatte ich vorhin eineinhalb Stunden Gesangsprobe mit den Schauspieler*innen der hiesigen Produktion The Re’search 1 und da bin ich in einem vollkommen anderen MoMatthias Krieg dus, als wenn ich auf der Bühne Foto: Stefan Kuntner bin und spiele. Wenn ich pädagogisch anleite, muss ich da eine Energie reingeben, mit der ich das Gegenüber erspüre, um möglichst genau zu wissen, wo es gerade ist. Die meisten haben ja keine musikalische Theoriebildung oder musikalische Vorbildung im Allgemeinen, da muss man einiges von dem, was man als Ergebnis vor Augen hat, anders erklären und z. B. in Bilder übersetzen. Das macht zwar unheimlich Spaß, fühlt sich aber vollkommen anders an, als als Künstler oder Performer auf der Bühne zu sein und dann so etwas wie Kunst zu machen. Ich fühle mich nicht einfach nur als Theatermacher, sondern als irgendwas dazwischen: Musiker, Arrangeur, Performer, Künstler, Produzent, Toningenieur … vielleicht sogar nur Gast. Musiker als Gast im Theater. Und wie wichtig ist dir der Begriff ›Komponist‹? MK: Im Zusammenhang mit Theatermusik wird mir das immer weniger wichtig, weil sich mit den Jahren der kompositorische Anteil auf musikalische Module beschränkt, die ich dann in der Zeit des Produzierens

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der Bühnenstücke ›on the fly‹ erweitere und ergänze. Komponisten*innen durchlaufen Schulen, die sie zu dem machen, was sie sind. Ich sehe sie eher als Musiker*innen, bei denen es vorrangig um ein ganzheitliches musikalisches Werk geht: Ich bezeichne, was ich tue, ungern als Komposition, sondern eher als Skizzen, die ich dann anwenden kann, die in viele Richtungen flexibel sein müssen, im Prozess mit den Schauspielern veränderbar sein müssen, manchmal nur ein flüchtiger Ausgangspunkt für etwas ganz anderes sind. Vielleicht spricht da gerade viel mehr mein Gefühl zu dem Schreckenswort ›Komponist‹ als mein Verstand. Ich hab ja die Vermutung, dass es ein deutsches Phänomen ist, dass wir mit diesem Begriff Komponieren gleich so einen hehren Anspruch verbinden: Unter Brahms, Bach, Beethoven geht es nicht. Im Englischsprachigen hängen die die Latte da nicht so hoch. Aber ich kann gut nachvollziehen, dass du bei dem Begriff zögerst. Von anderen Musiker*innen habe ich gehört, dass sie sich schon bewusst Komponist*innen nennen, um zu markieren, dass das, was man hört, auch wirklich von ihnen ist, und nicht, wie ja früher durchaus mal üblich, ein Griff ins Schallplatten-Archiv darstellt. Es ist ja immer noch ein Beruf, der im Schatten der Wahrnehmung stattfindet, wo es angeblich immer noch Intendant*innen gibt, die bei der Premiere sagen: »Ach, wo war denn diese Musik her? Die ist ja toll.« MK: Ein Stich ins Herz, immer wieder, diese Art von ›Lob‹. In diesem Zusammenhang leuchtet es mir sehr ein, dass andere Musiker*innen, die an Theatern arbeiten, sich lieber gleich Komponist*innen nennen. Einige unter ihnen sind es wahrscheinlich sogar. Ich selbst arrangiere und komponiere ja im Grunde auch viel, z. B. in den Bremer Leonard-Cohen-Abenden, die teils musikalisch komplexe Strukturen haben, aber mir ganz persönlich läuft ein kleiner Schauer den Rücken hinunter, wenn mich jemand als Komponist bezeichnet, ich bin an dieser Stelle gern zurückhaltend. Und ›Sound Design‹ – spielt das für dich als Begriff eine Rolle? Im Englischsprachigen fällt der Begriff dauernd, aber im Deutschen höre ich ihn von Theatermusiker*innen sehr selten. MK: Irgendwie schon, kommt aber immer drauf an, was ich gerade tue. Die Arbeit ist bei mir wirklich sehr verschieden, bei fast jedem Stück anders. In Nichts von euch auf Erden2 gibt es einen ausgesprochen langen monologischen Teil von Wiebke Puls, auf den ich u. a. mit vielen syn-

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thetischen, digitalen Geräuschen live reagiere – die hab ich eigenhändig generiert, in dem Fall mit einem native instrument bzw. sound-developer namens Massive3. Da hab ich im Prinzip ›sound designed‹. Ich verstehe mich aber sowieso nicht als Musiker, der in Kategorien zu Hause ist, sondern fühle mich die ganze Zeit außerhalb dessen. Ich gucke eher von außen wie durch eine Glastür zu: »ah, o. k., da ist der Latin Jazz drin« oder so etwas, aber ich gehe da nie wirklich rein. Wie würdest du deine Musik beschreiben? MK: Das ist natürlich eine sehr schwierige Frage. Ich denke, ›meine‹ Musik gibt es gar nicht, in dem Sinne, dass sie sich mit mir als Person ständig entwickelt, von Stück zu Stück oder Zeit zu Zeit neue Bedürfnisse und Notwendigkeiten den Drang in mir bestimmen, Musik auf eine dann bestimmte Weise mit den dementsprechenden Mitteln zu erarbeiten. Was haben die 40-minütige Komposition »plus minus kosmos« für die Ausstellung Alchemie4. Die Große Kunst im Kulturforum der Staatlichen Museen zu Berlin, mein Soloprojekt MK_elastisch 5 und die Musik zum Theaterstück Mr. Robot6, was eine Art Musical ist, gemeinsam? Schwierige Frage. Vielleicht möchte ich das auch gar nicht so genau wissen, ich strebe wahrscheinlich nicht einmal eine Handschrift an. Hat das auch mit deinem Werdegang zu tun? Es gibt ja keinen Studiengang ›Theatermusik‹, und die Pfade sind häufig verschlungen. MK: Ich habe erst Psychologie studiert und dann Audioengineering an der SAE [School of Audio Engineering Institute Berlin]. Das ist eine Privatschule für Sound und Multimedia. War das eine Antwort auf deine Suche nach einem Weg in die Theatermusik? MK: In der Tat, das war tatsächlich so. Ich habe mein Psychologiestudium ab einem bestimmten Punkt nicht mehr weiterverfolgt, weil ich zu der Zeit schon Theatermusik gemacht habe und weil ich auch gemerkt habe, dass sich meine Interessen an diesem Ort – Theater – gut bündeln lassen. Als ich 2006 oder 2007 mit dem Regisseur Aureliusz Smigiel anfing, Theater zu machen, stellte ich dann fest, dass es total sinnvoll wäre, ein paar technische Basics zu lernen, wenn ich das weitermachen will. Und so habe ich dieses Studium an der SAE angefangen und nach ungefähr einem Jahr dann auch wieder damit aufgehört, als ich merkte, dass es mir reicht, dass ich mehr davon nicht wissen will oder muss. Technisches Know-how hat in meiner Arbeit einige Vorteile: Wenn man wirk-

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lich gelernt hat, wie ein Kompressor funktioniert und was er kann, was ein Gate ist oder aus welchen Komponenten sich ein Hall zusammensetzt, dann kann man einfach direkter mit den Tonleuten reden. Und wenn du noch so ein bisschen Ahnung hast, wie ein Lautsprecher funktioniert und welche Probleme es da auch geben kann, dann bist du halt mit denen sofort per Du, und das macht bei einer Theaterarbeit total Sinn. Die Tonabteilung ist im Prinzip deine rechte Hand. Je mehr du auf diese Abteilung eingehen kannst und je genauer du deine Ansagen machen kannst, desto mehr nehmen sie dich ernst und setzen sich auch für einen guten Ton ein. Und das ist so wichtig im Theater, dass der Ton gut ist. Das ist auch nicht in jedem Theater selbstverständlich. Du spielst ja aber auch ›klassische‹ Instrumente? MK: Ja, ich hab als kleiner Junge Geige gelernt, doch dann musste ich damit aufhören, weil ich zu schlecht war. In der DDR hatte man jährlich Prüfungen. In einer dieser Prüfungen, ich war circa neun Jahre alt, hatte ich dann eine Fünf und hätte theoretisch die staatliche Musikschule verlassen müssen. Meine Geigenlehrerin hat jedoch durchgekämpft, dass ich stattdessen Waldhorn lernen darf. So habe ich zehn bis zwölf Jahre lang Waldhorn gelernt. Darin bin ich relativ gut geworden, doch dann hab ich irgendwann angefangen, PunkRock zu hören, und da kam die andere Seite … … da kommt man mit Waldhorn nicht weiter [lacht] … MK: Nee … Und dann kam Gitarre und Schlagzeug oder beides? MK: Ja, Gitarre eigentlich nur. 13 bis 14 muss ich zu der Zeit gewesen sein. Schlagzeug kam wirklich erst sehr viel später dazu, mit Sickster7 – also vor drei, vier Jahren. Aber ich war schon immer sehr Schlagzeugaffin. Vor meiner Jazzphase habe ich diese Band Tool gehört, und der Schlagzeuger ist sehr bekannt, und die Rhythmen sind ein bisschen komplizierter. Jetzt höre ich den Berliner Jazzschlagzeuger Christian Lillinger sehr viel, bzw. viele der Projekte, an denen er beteiligt ist. Lass uns darüber sprechen, wie die Chronologie einer Theaterarbeit bei euch verläuft. Gibt es so etwas wie eine typische Arbeitsweise? Unterscheidet sich das sehr, je nachdem, ob ihr an einem Theaterstück, einer Romanbearbeitung oder einem Projekt arbeitet? MK: Ja, das hängt extrem davon ab, was man macht und wie man da

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rangeht. Die erste entscheidende Frage ist ganz häufig »ist das live oder nicht live?«, und mittlerweile entscheiden wir wirklich so 80 zu 20 Prozent für live. Und fällt diese Entscheidung eher aus ästhetischen, dramaturgischen oder ganz pragmatischen Überlegungen? Das ist ja auch oft ein finanzielles Problem … MK: War es früher, ja. Gerade in den Anfängen war das Geld eigentlich immer Hauptargument, warum ich da nicht live dabei war. Das ist jetzt anders, und das ist sehr schön so. Felix und ich können also darüber nachdenken, was mehr Sinn macht. Live oder Konserve. Braucht der Theaterabend eine Musik, die sich dynamisch an den Spielern orientiert, oder eine, die eine Wechselwirkung mit den Spielern eingeht, dann spiele ich live. Möchte Felix eine Bühnenästhetik erzeugen, die durch die Anwesenheit eines Musikers ungünstig gebrochen oder aufgeweicht wird, spiele ich nicht live, sondern produziere Musik als ›Konserve‹, oder Musik ›vom Band‹. Wenn du auf der Bühne bist, was für ein Gefühl hast du dann als Figur? Du spielst ja keine fiktive Rolle mit Kostüm oder Text, aber du bist ja auch nicht privat dort, oder? MK: Ich kann das überhaupt nicht ab, wenn Musiker*innen irgendwie im Sinne einer Stückfigur oder Rolle kostümiert werden und dann so eine Art ›Pseudoübersetzung‹ von irgendwas sind. Das find ich immer total merkwürdig und halbgar. Ich meine damit so etwas, wie wenn der Musiker in Faust als Pudel verkleidet werden würde und dann immer spielt, wenn Mephisto nicht anwesend ist, aber als Musikerpudel doch alles beobachtet und kommentiert. Wobei: Das klingt auch schon wieder lustig. Vielleicht ist es auch egal, was ich mag oder nicht mag. Wichtiger ist, was Sinn macht. Und das kann von Stück zu Stück sehr unterschiedlich sein. In Verzehrt 8 bilde ich das Zentrum, also Herz des Geschehens auf der überdimensional großen Haut der abwesenden Hauptfigur. Was ich in dem Moment bin, fühlt sich dann sehr viel abstrakter an, als eine Rolle oder Figur. Unsichtbarer. Anwesend, aber auf einer nicht figurenbezogenen Ebene auf das Geschehen eingehend, einwirkend. Durch die Musik und meine physische Präsenz, die ja auch unabhängig von Rollen etwas ausstrahlen, oder vermitteln, oder erfahrbar machen kann.

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Annemaaike Bakker, Matthias Krieg und Justus Ritter in Verzehrt (Consumed), Theater Bremen. Foto: Jörg Landsberg

Verstehst du dich also primär als Bühnenmusiker? MK: Ich würde schon sagen: Performer. Das ist für mich so der schönste Begriff, der leider aber auch mit ›neue hippe Kunst‹ konnotiert wird. Die Frage ist heikel, weil nur ›Musiker‹ stimmt irgendwie auch nicht – dann könnte ich auch in meinen Jeans da reinlatschen. Das ist schon irgendwie enthobener, und ich habe das Gefühl, dass durch meine im Theater-Rollen-Kontext undefinierte Anwesenheit und unser Zusammenspiel auch die anderen Menschen auf der Bühne mehr in Richtung Performer rücken. Die Theaterabgeschlossenheit wird gebrochen. Der Schauspieler ist nicht mehr nur Schauspieler, sondern durch unsere Interaktion Schauspiel/Musik gleichen wir uns ein bisschen an, bewegen uns aufeinander zu. Das ist ja auch das Schöne: Wenn es funktioniert, mache ich mit den sprechenden und performenden Schauspieler*innen zusammen Musik auf der Bühne, entwickeln wir einen inhaltlich musikalischen Sog. Und wie geht das vor sich – was sind die Schritte auf dem Weg zur Aufführung? MK: Es hängt stark vom Inhalt ab, wie wir da rangehen. Meistens produ-

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ziere ich allerdings schon sehr viel Musik vor Probenbeginn – und mit ›Produzieren‹ meine ich mal das Skizzieren von Ideen oder eben auch das Entwerfen komplexer musikalischer Stücke mit vielen layers und Spuren; komplexe Strukturen also, die dann im Nachhinein wieder vereinfacht, auseinandergerissen und neu zusammengesetzt werden. D. h. es könnte sein, ich mache einen 30-Minuten Track, der dann aufgeteilt wird in verschiedene Phasen, Instrumentengruppen, Soundgruppen, je nach Intention des Tracks und seinen musikalischen Bögen, die ich beim Proben oder auch live auf der Bühne beliebig anspielen kann. Da wird es dann modular. Ich komme ganz oft schon mit einem riesigen ›Rucksack‹ an, und dann muss ich darüber nachdenken, wie ich das live im Probenprozess erweitern kann. Und reagierst du bei diesem ›Rucksack‹, also mit dem, was du vorbereitest, primär auf das Material oder die Themen, um die es gehen wird, oder auch z. B. darauf, wie wahrscheinlich die Bühne aussehen wird? Woraus speist sich die Entwicklung der Ideen? MK: Also, im Fall von Nichts von euch auf Erden eröffnet allein der Science-Fiction-Begriff eine riesige Spielwiese. Da hat man auch ganz plakative Bilder im Kopf, wie der Sound zu sein hat. Für den fast 40-minütigen Anfangsteil dieser Inszenierung, da hat mir, gestehe ich ganz offen, Felix irgendwann ein Klangbeispiel geschickt, wie er sich das vorstellen würde. Das Intro eines Songs von Lana Del Ray … keine Ahnung, welcher das war. Die Stimmung dieses Tracks diente dann als Vorlage für mein eigenes Stück. Hier wird es inhaltlich, weil die spezifische Atmosphäre dieses Tracks einzelne wichtige Aspekte provoziert, die uns in der langen Anfangsphase auf der separatistischen, aufgeteilten Erde mit ihren sedierten Europäern zwingend erschien. Alle Ebenen kommen da zusammen. Die Art des Sprechens, die Bühnenästhetik, die Art, wie die Spieler*innen sich bewegen, und die Musik bilden eine Einheit. Als ich damit fertig war, den Track auf meine Weise neu zu verstehen und zu produzieren, habe ich die einzelnen Stimmen aus dem Mix extrahiert, um sie live an die Vorgänge auf der Bühne anzupassen. Dadurch kriegt das wieder so einen Livecharakter, der für meine Arbeit relativ entscheidend ist. Das ist sehr interessant, weil es eher umgekehrt wirkt: Man hat den Eindruck, dass die Musik live aus Improvisationen auf den Proben entsteht und die Herausforderung darin besteht, das dann wiederholbar zu machen. ist. Was du beschreibst, ist fast das Gegenteil: Es ist am Anfang

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sehr genau und im Vorhinein komponiert, bis ins Detail gestaltet, und es geht eher darum, das Material wieder zu einer Offenheit zurückzubauen … MK: … ins Provisorische … … genau, oder sagen wir: in das Interaktive, so dass das, was mal ein Track war, wieder etwas wird, das diese Möglichkeit hat, zu reagieren und zu interagieren. MK: Richtig. So, wie du es formulierst, klingt es ziemlich ausgefuchst [lacht]. Hinzu kommt: Der Roman oder der Text hat immer auch eine bestimmte Energie. Es kann also sein, dass ich diese Energie in ein langes vorproduziertes Musikstück übertrage. Dieses wäre dann aber abgeschlossen und muss also wieder geöffnet werden für den Prozess. Die Kraft und Energie, vielleicht sogar das Wesen eines Theaterstücks, Textes oder Romans als Ausgangspunkt, ist ein Herangehensweg an die Musik im Gesamten. Bei den Räubern9 war es z. B. so, dass ich das Stück auf eine witzige und dennoch ernste Weise als eine Anmaßung empfand: in seinem Pathos, seiner Länge, seiner inhaltlichen Opulenz, in der Verdichtung des Plots bis ins Absurde. Ich meine das nicht kritisch, denn genau diese Empfindung wurde ja zum Zentrum meines Herangehens: Wie klingt denn das, diese anmaßende, großbrustige Opulenz? Ich habe die Energie des Stücks, mit seinen Lügen, Machtansprüchen, wahnhaften Ideen und Schillers Sprache dann als überviele, dichte, schnelle Streicherstimmen gehört und sehr viele kleinere und größere oft scheinbar unendlich anschwellende Musikstücke produziert. Wie ein ewig antreibendes, inzestuöses, pulsierendes, überforderndes Anschwellen. Das kann man eben live nicht so gut machen, dafür sitzt man im Studio. Bei Nichts von euch auf Erden andererseits habe ich den kompletten zweiten Teil des Stücks erst bei den Proben entwickelt. Es gibt ja bei euren Produktionen oft Teile, wo Musik und schauspielerische Darstellung/Performance sehr stark miteinander verzahnt sind, wo man merkt, dass das minuziös aufeinander abgestimmt ist und aufeinander reagiert. Wie entsteht so etwas, und ist das dann irgendwann auch sehr präzise fixiert? MK: Für mich ist es extrem wichtig, dass es durchlässig bleibt, eigentlich am ganzen Abend. Selbst, wenn es minuziös geprobt wirkt. Es gibt am Ende fixierte Punkte, an denen sich musikalisch thematisch etwas ändert oder eine kurze Betonung stattfinden kann, aber ich mag es dann

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auch, live mit dem ›Wissen‹ um diesen Fixpunkt zu spielen. Alle kennen ihn, aber die Spannung untereinander auf der Bühne könnte dann dadurch entstehen, dass man die Betonung ignoriert, oder verschiebt. Wenn z. B. Christian [Löber] an einer bestimmten Textstelle nach vorne springt und die Musik stoppen soll, ihn allein lassen soll mit dem Folgetext, kann es sein, dass ich mit meiner Energie noch nicht am Ende bin, kurz stoppe, aber direkt hinterher einen Schlag setze, um meiner Energie Raum zu geben und der Verabredung zu zeigen: »Es gibt dich, aber du gehörst mir.« Dann ist das für ihn ein neuer Impuls, mit dem er umzugehen hat. Und bei Wiebke [Puls] entwickelt es sich so krass über die Zeit, wie unterschiedlich die Dynamiken innerhalb ihres Monologs sind. Am Anfang war das ein Brett, das ging einfach ’ne Viertelstunde durch … … ihr Monolog? … MK: … nee, auch die Musik im Hintergrund. Aber jetzt gibt es oft Phasen, in denen man wieder ganz zurück geht, vorsichtig wird, sentimental oder zartfühlend, rückblickend, um dann wieder neu in die Wut reinzugehen und den Hass über das durch die Figur Erlebte, wenn ich das mal so vereinfacht sagen darf. Das entwickelt sich über die Wochen, über die Monate, und das entwickelt sich auch innerhalb des Stückes. Es ist total wichtig, dass es eine Wechselwirkung gibt – das ist für mich das entscheidende Kriterium in unserer Arbeit. Was ich absolut nicht will, ist, mich auf die Bühne zu setzen, um dann etwas zu spielen, was exakt dem entspricht, was man sich mal ausgedacht hat. Es sei denn, das ist Konzept und dadurch zwingend … [lacht]. Im Grunde geht es darum, die ›liveness‹ von Theater zu nutzen, oder? Es wäre ja eigentlich schade, wenn man sagt: Ich will das so haben und nie wieder anders. Dann muss man eher Filme machen. Aber wie sieht diese Zusammenarbeit, diese Wechselwirkung konkret auf der Probe aus? Wie muss ich mir das vorstellen? Wie arbeitet Felix Rothenhäusler mit Text? Von außen scheint es so, als ob es sowohl eine intensive Arbeit an Inhalt und Emotion der Texte gibt (aber vielleicht weniger an Figuren im klassischen Sinne), aber eben auch ein großes musikalisches Formbewusstsein eine Rolle spielt – und wie kommst du dabei ins Spiel? MK: Das sind sehr spezifische Fragen, die leichter an konkreten Szenen, oder Stücken zu beantworten sind. Und das ist immer auch sehr vom/ von der Schauspieler*in abhängig, wie er/sie arbeitet, denkt und fühlt, was sein/ihr Theateransatz ist. Hier aber der Versuch, mal eine Kerbe zu schlagen: Grundsätzlich achten wir extrem darauf, dass sich der ganz

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rudimentäre Sinn oder narrative Gehalt eines Satzes überträgt. Das ist gar nicht so einfach. Klingt selbstverständlich, ist es aber gar nicht. Das muss man sich schon auch abringen, diese Textrealität. Das ist im Schauspiel nicht anders als in der Musik. Die kann man auch total ungedacht und ungefühlt produzieren, oder sich eben auf eine bestimmte Weise ›abringen‹. Je komplizierter der Text, desto mehr arbeitet man vor allem daran, dass das Ganze klar gedacht ist. Bei Wiebke Puls ist das z. B. gar kein Problem, weil die alles und in fast jedem Zustand klar denkt. In solchen Proben reicht es, wenn wir alle drei unsere Intuition auf ein hohes Niveau stellen und uns von dem leiten lassen, was passiert. Im Sprechen darüber wird es dann reflektiert und perspektivisch eingeordnet. Wie ich Felix kenne, geht er zumal am liebsten mit dem um, was von den Spieler*innen kommt, innerhalb der Vorgaben, oder Erkenntnisrichtlinien, die zum Konzept gehören. Das betrifft alle Ebenen: Emotion, Inhalt, Bewegung usw. Der/die Schauspieler*in und ich, wenn ich auf der Bühne bin, sind im besten Fall Konstrukteure unseres eigenen Stücks. Die Verständigung über Musik ist ja alles andere als einfach, selbst unter Musiker*innen. Bisweilen gibt es einen klar kodifizierten Rahmen wie z. B. in einem Symphonieorchester, aber selbst dort müssen sich die Musiker*innen an den/die jeweiligen Dirigent*in gewöhnen, weil jeder etwas andere Begriffe benutzt. Aber gerade in so einem Arbeitsfeld wie dem Theater, wo heute viele Codes und Regeln im Fluss sind, ist es schwierig, über Ästhetik zu kommunizieren. Oft geht es dann über etwas Drittes, über einen gemeinsamen Kanon an kulturellen Referenzpunkten – da fallen dann Sätze wie: »Jetzt mach’ doch mal so was wie Tom Waits«. Gibt es solche Kürzel bei euch auch? MK: Doch, doch; und ich finde die Arbeit mit fremden Hörbeispielen gar nicht so unlegitim. Ich denke da am Ende immer, dass uns das die Sache schon auch irgendwie leichter macht, und es ist trotzdem unser Eigenes. Ich habe da nicht das Gefühl, dass dadurch meine künstlerische Kreativität beschnitten wird. Unabhängig davon hat sich zwischen Felix und mir aber logischerweise auch ein gemeinsames Vokabular entwickelt. Wenn ich Jazz sage, weiß er, welchen Jazz ich meine. Weder Swing noch BeBop. Fast nonverbal weiß ich auch, welche Einheiten einer Probe er gelungen fand und welche weniger. Wenn Felix sagt, »die Musik muss den Raum öffnen«, weiß ich grundsätzlich etwas damit anzufangen. Und bevor wir anfan-

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gen, über die Musik zu reden, versuche ich auch immer, zuerst darüber zu reden, worum es eigentlich geht. Manchmal trifft sich Felix mit mir und will mit mir über Musik reden, und dann merke ich schon: Da bin ich noch gar nicht, das ist doch nur so ein halbes Gespräch, jetzt lass uns lieber darüber reden, worum es in Mr. Robot oder einem anderen Stoff geht. Und dann denken wir über die Bühne nach und über die grundsätzliche Atmosphäre, und dann kommt man irgendwann zur Musik. Dass es vielleicht geil wäre, wenn ich auf der Bühne wäre und die Gitarre das Licht bedient, zum Beispiel. Du meinst das Ende von Nichts von euch auf Erden? Da gab es ja diese Batterie von Scheinwerfern, die auf die Stimme und die Musik live reagierten, wie ein überdimensionierter Spektrumanalysator. Ist das von Hand koordiniert oder sind beide Elemente wirklich verschaltet? MK: Ja, das ist nicht gefaked. Es ist ein toller Effekt: Es sieht aus, als ob das Licht tatsächlich spricht. MK: Bei dem Schlagzeug-Teil ist das auch so. Da reagiert das Licht auf einzelne Instrumente des Sets. Dein Instrumentarium besteht aus einer Mischung aus Computern, virtual instruments, Soundmodulen und zum Teil auch Live-Instrumenten, die aber wiederum mit den digitalen Geräten verschaltet sind. Bei Faust hoch zehn10 sah es so aus, als ob du praktisch auch den ganzen Computer und Synthesizer mit der Gitarre steuerst. Bei Nichts von euch hast du Gitarre und Schlagzeug gespielt, aber auch viel an Knöpfen gedreht. Wo kommen diese Entscheidungen her? Wann benutzt du welches Interface? MK: Das hängt ganz klar mit dem Inhalt zusammen. Bei Nichts von euch auf Erden war für Felix wichtig, dass der zweite Teil, wo die Figur von Christian Löber in den Katakomben des Mars ist und da zuerst in einer Katakombenbibliothek liegt und unbeweglich ist und sich dann von dort an die Oberfläche arbeitet, deutlich abgesetzt sein muss vom restlichen Stück – und da musste dann das Schlagzeug am Start sein. Andere Entscheidungen leiten sich über den Track beim Proben ab. Bei Faust war es ja nur ein Hauptinstrument, die MIDI-Gitarre, welches dann über wireless-Verbindung Spuren und Instrumente in Ableton Live ansteuert. Wir sind eben öfter mal monothematisch unterwegs, weil wir eher über Intensität einen Gedanken so stark in den Raum geben wollen, dass der hängen bleibt. Der Theaterabend funktioniert nicht

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über eine Vielzahl von Ideen, sondern so, wie wenn man eben manchmal auch eine Stunde lang auf ein weißes Blatt gucken muss, bevor man kapiert, was das zu einem sagt. Bei Verzehrt habe ich was vollkommen anderes gemacht: Da hab ich ganz analog gespielt. Ich hatte zwei Gitarren, die ich nur gestrichen habe. Die standen wie Celli auf Stativen, und dann hatte ich noch ein Schlagzeug (siehe Abb. S. 187). Das war alles in der Mitte der Bühne kreisförmig angeordnet, und ich habe dadurch die Position des Herzens des Raums eingenommen und von Szene zu Szene das Instrument gewechselt. Ganz systematisch. Das ist eine starke strukturelle Setzung. Gab es darüber hinaus einen inhaltlichen Bezug? MK: Ja, in dem Buch geht es u. a. darum, dass Körper aufgeschnitten werden. Und dieses Aufschneiden ist natürlich ein Vorgang einer Verletzung. Da reißt etwas auf, oder es wird ein glatter Schnitt erzeugt; ein Material, in diesem Fall Fleisch oder Haut, wird geteilt oder zerstört. Und ich finde, das Streichen auf einem Instrument ist in gewisser Weise ähnlich, weil es ganz sensibel reagieren kann: Es kann kratzen, es kann ganz sezierend klingen, es kann singen und leiden, es kann aber auch zerstören. Die Streichbewegung erinnert nicht zuletzt an eine Schneidebewegung. Und das ist vom Vorgang tatsächlich eine zunächst ganz banale Parallele, die aber dann dadurch, wie ich das verwende, viel umfangreicher werden kann als diese anfangs einfache Idee. Sie bot einen Anlass. Die Wahl des Schlagzeugs kommt aus verschiedenen Richtungen: Es kann Spannung erzeugen und ist gleichzeitig perkussiv, hölzern, analog. Alles Attribute, die passten. In Verzehrt geht es in Teilen auch um Kannibalismus, die vielleicht intensivste Art, zusammenzukommen, zueinander zu kommen, um eine heftige Form der Nähe. Das hat etwas Mythisches, aber in dem Fall eine hoch romantische Komponente. Was mich wirklich sehr interessiert, ist, wie dann aus so einfachen Grundideen die eigentliche Musik entsteht. Bei Verzehrt ist z. B. das Stück komplett improvisiert gewesen, und diese Improvisationen folgen unterschiedlichen Begrifflichkeiten. Z. B.: »Hier gerät etwas ins Stocken«. Und dieses Stocken war für mich ein szenischer Vorgang, den ich wahnsinnig spannend fand, dass etwas dysfunktional wird auf der Bühne, abbricht, zögert, versucht und hadert, so dass man das von außen erfährt und von innen erfahrbar macht.

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Ich finde das sehr spannend, weil es eben hier auch so etwas ›Drittes‹ gibt, worauf sich beide, Regie und Musik, beziehen. Oder auch: Schauspieler und Musiker, wenn ich an die schon genannte Szene mit Christian Löber denke. Man hat dort nicht den Eindruck, dass du ihn nachahmst oder dass es eine banale Untermalung oder Bebilderung ist, von dem, was er da macht. Stattdessen steht eine dritte Idee im Raum, und er setzt diese Idee mit seinen Mitteln physisch und sprachlich um, und du mit deinen, und das trifft sich und ergibt eine gemeinsame Struktur. MK: Ja, und das ist hyper-live und total real, komischerweise. Da sind zwei Menschen im Raum, und es verbindet die eine gewisse Energie oder Idee oder Begrifflichkeit. Die Musik macht in dem Moment gleich mehrere Dinge: Sie überhöht die Situation hinein in eine Fantasiesituation. Also, z. B., indem ich »bumbummbumbumm« mache [singt], denkt man sofort, dass man in einer Kathedrale ist – das ist dann sehr filmisch. Und dann ist es aber trotzdem hyper-live dadurch, dass ich das die ganze Zeit variieren kann und dadurch den Pathos streiche bzw. kontrolliere. Wenn man das einfach einspielt, dann gibt es für keinen Anwesenden die Möglichkeit, den Pathos zu sanktionieren oder zu führen. Dieses Steuern des Grads von emotionaler Tiefe, Pathos, Geschwindigkeit, Intensität im Allgemeinen, das macht es für mich hyper-live. Die Idee von etwas Drittem, wie du es nennst, dem mehrere zuarbeiten auf ihre spezielle Ausdrucksweise, macht es hyper-live. Es ist dabei auch darstellerisch eine interessante Zwischenform: Es ist ja nicht einfach eine Figur, die Christian Löber in diesem Moment spielt, sondern er ist eher ein musikalisch-szenischer Performer. Natürlich assoziieren wir mit ihm stärker eine Figur und eine Narration als mit dem, was du tust, aber es ist auch sehr abstrakt. Die Figur wird nicht verkörpert, sondern durch eine tänzerisch-sprachliche Form evoziert. MK: Uns es geht darum, möglichst subjektiv und augenblicklich Fantasie zu affizieren. Dafür bräuchte der Schauspieler eigentlich nichts, außer seine Überzeugungskraft und Ausdrucksstärke. Fehlt dann, wie in unserem Fall, die Bühne, ist schon mal eine gängige Figurenebene abhanden gekommen. Nur eine Restfigur bleibt zu sehen. Verhält sich der Schauspieler dann auch noch konträr zu dem, was wir von der Figur normalerweise erwarten – indem er tanzt oder mit einem Musiker interagiert –, dann wird es schwer, das eindeutig zuzuordnen. Es gibt ja viele Beispiele, wo Theatermusik das konnotative Potenzial von Musik sehr stark benutzt, ihre Fähigkeit, Dinge herbeizuzitieren.

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Also drei, vier Takte Akkordeon, und wir sind in Paris, oder eine Flamenco-Gitarre, und wir sind in Spanien. Mal ist das ein geografisches oder zeitliches Kürzel, mal aber auch eine Abkürzung zu einer bestimmten Stimmung oder Emotion hin. Bei dir hingegen habe ich den Eindruck, dass die Musik etwas sehr Eigenes ist, was man nicht sofort zuordnen kann, was nicht unmittelbar Konnotationen hervorruft. Ist das eine Musik, die sich einer ›Entzifferbarkeit‹ bewusst entzieht? MK: Jaja, das ist bewusst. Lange Frage, kurze Antwort [lacht]! MK: Es ist schon deshalb ganz bewusst, weil es mich schon immer gelangweilt hat, mich mit solchen Kategorien zu beschäftigen. Immer, wenn ich das versucht habe, dann bin ich sang- und klanglos daran gescheitert, weil ich einfach keinen Nutzen darin sehen konnte, leider. Aber ich bewege mich schon bewusst außerhalb von Stilzitaten auch deswegen, weil ich es im Theater oft langweilig finde. Ich will auch keine neue Kategorie erstellen, sondern ich will tatsächlich alles abgrasen, was drumherum ist. Ich will gar nicht erst irgendwo andocken müssen, sondern ich will einfach irgendwohin expandieren und gar nicht wissen, wo das hingeht. Das hat auch mit einem anderen Aspekt zu tun, der mich sehr interessiert: so eine Idee von eigener Handschrift in der Theatermusik. Das gibt es ja auch bei Schauspieler*innen: diesen Typus des Verwandlungskünstlers, der alles kann und jeden Akzent nachmacht und jede Physis verkörpert. Und dann gibt es so Leute wie Josef Bierbichler oder auch Annette Paulmann, die eigentlich immer sie selbst sind, und trotzdem entstehen Figuren, bei denen aber die Schauspielerpersönlichkeit sehr präsent bleibt. Übertragen auf die Theatermusiker heißt das: Es gibt auch hier die Verwandlungskünstler, die auch von sich selbst als eine wichtige Qualität beschreiben, dass sie sehr gut Stile und Genres zitieren können, sich mit ihrer Musik sozusagen verwandeln von Wiener Salonorchester zu New Yorker Hip-Hop-Club. Und bei dir habe ich eher ich das Gefühl, dass du wirklich eine ganz eigene Handschrift hast – auch wenn du das vorhin eher infrage gestellt hast. Auf alle Fälle machst du Musik, die sich in den Arbeiten behauptet und von dieser Idee einer primär dienenden Funktion verabschiedet. Und es ist eine ganz eigene musikalische Sprache, die einfach ein Teil dieses ästhetischen Vokabulars eurer Inszenierungen ist. Wie bist du da angekommen? MK: [nachdenklich] Als ich angefangen habe mit Theatermusik, dachte

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ich schon, ich müsste mir jetzt das große musikgeschichtliche Wissen aneignen: Da habe ich mir erst einmal im Internet Musik von 15 Kulturen der Welt bestellt, also russische Folklore, indische Folklore, chinesische Folklore usw. Davon habe ich mir dann höchstens von dreien mal ein Lied angehört, aber ich dachte tatsächlich, dass Theatermusik als Beruf genau das bedeutet – Stile bedienen können. Das Schöne ist aber, dass ich das Gefühl habe, ich führe den Beruf eigentlich umso besser aus, je authentischer ich damit bin. Das andere ist einfach nicht so meins. Wie ist man da hingekommen? Durch Begriffe. Die Begriffe, mit denen Felix und ich kommunizieren, die handeln einfach nicht davon. Da geht es um andere Sachen. Da geht es um eine spezifische Energie, da geht es vielleicht darum, wie ein Raum klingen könnte, oder was eine Stimmung ist. Was stellen wir da denn hin, als Musikapparat? Womit willst du arbeiten? Aber man arbeitet eben nicht mit Orten oder mit Stilistiken. Das mit der Handschrift sagst du. Ich bin mir dessen gar nicht so bewusst, dass es eine geben könnte. Wie habt ihr euch kennengelernt? MK: Über einen Schauspieler, der mit ihm gearbeitet hat, der mich schon kannte. Dann habe ich bei einem größeren Studienprojekt mitgemacht, Ödipus in Hamburg war das11. Ich habe damals nur Rauschen moduliert und es war ihm immer zu laut [beide lachen]. Ich wollte aber noch mal was zur Frage nach der Erweiterung der Instrumente sagen: Ob beim Schlagzeug in Nichts von euch, das getriggert ist, oder bei der MIDI-Gitarre bei Faust, ist dieses Erweitern ja auch etwas, das nicht in eine Kategorie einzuordnen ist, weil man das ja kaum kennt. Spannend daran ist, dass ein Instrument nicht das Gewohnte von sich gibt und so eine Verschiebung stattfindet, etwas nicht einzuordnen ist und unberechenbar wird. Diese Irritation spielt dabei keine geringe Bedeutung. Es findet eine Entgrenzung des Instruments statt. Für Faust hoch zehn war das bei aller Entgrenzung im Stoff – literarisch und narrativ – natürlich zwingend. Aber dazu könntest du dir ja auch einfach ein Keyboard hinstellen. Hat das etwas mit deiner Musikerbiografie zu tun, dass du dich auf der Gitarre einfach mehr zu Hause fühlst? Ich denke, dass ja so etwas wie das Körpergedächtnis als Musiker oft eine Rolle spielt für das, was man da hervorbringt … MK: Also, ich würde nur sehr, sehr ungern mit einem Keyboard auf der Bühne spielen. Ich sehe manchmal Theatermusiker, die nicht gut Kla-

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vier spielen können, und das dann machen, und da denk ich jedes Mal: Lasst das doch besser! Es ist dann einfach nicht intensiv. Und was ich an diesen erweiterten Instrumenten so spannend finde, ist, dass es halt Prothesen sind. Es kommt zu dem Instrument etwas hinzu, was ihm fremd bleibt. Wie auch die Triggerings am Schlagzeug. Das verschmilzt nicht, das sind Prothesen, die einen Abstand erzeugen, und das löst bei mir wirklich was aus. Das ist ein Moment der Irritation: Man schlägt eine Gitarrensaite an, und es kommt aber Rauschen oder ein Synthesizer-Sound. Ist das auch ein Motor deiner kreativen Energie? Ich fand immer, dass das einen großen Spieltrieb auslöst, mit einer MIDI-Gitarre erst eine Flöte und dann eine Tabla zu spielen. Es zwingt einen auch aus den eigenen Gewohnheiten heraus? MK: Absolut. Die Spielpraxis bei Faust hoch zehn war für mich eine Veränderung, weil ich ganz exakt spielen musste. Deadnotes, Flageolettöne oder dominante Obertöne erzeugen ungewollte Tonhöhen in der Übertragung zum Computer. Der MIDI-Tonabnehmer fabriziert dann Töne in ungewollten Tonhöhen, oder komplett dissonante Töne. Missinterpretationen, die man durch sehr exaktes Spielen vermeiden muss. Weiterhin gibt es nicht dieses natürliche Sustain, sondern der synthetische Ton reißt ab, wenn er kein Signal mehr bekommt. Gleichzeitig ist es auch für die Zuschauer*innen ein interessanter Effekt. Durch diese Verschiebung und Erweiterung, wie du sie beschrieben hast, wird es interessant: Ich sehe, da spielt jemand Gitarre, aber ich höre was ganz anderes – wie hängt das zusammen, und was macht der da eigentlich? MK: Ja, das kann ich gut verstehen. Das ist schon ganz bewusst so, dieses Moment der Irritation. Sonst müssten wir uns ja nicht so krasse Sachen einfallen lassen. Ein zweites Irritationsmoment ist dann eben noch, dass ich auch einfach weggehen kann. Die Gitarre sendet per Funk an den Computer. Der bleibt stehen, und ich verlasse die Bühne. Es spielt weiter. Ohne mich. Ist dein Set-up, dein Instrumentarium relativ fixiert? Also feste Programme, mit denen du da arbeitest, bestimmte Interfaces und DAWs wie Ableton oder Logic? MK: Ableton ist momentan in der Theaterlandschaft für jeden, der Theatermusik machen will, das Standard-Programm. Alle Theater, die ich

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kenne, arbeiten mit Ableton. Was mir dabei einfällt: Ich wäre ja dankbar gewesen, wenn es vor zehn Jahren so ein Buch gegeben hätte, wie das, was du gerade schreibst. Das hätte mir dann schon so ein bisschen die Angst genommen davor, was es bedeutet, Theatermusik zu machen. Ich wurde ja damals irgendwie so reingezogen, und wenn du da kein Studium vorweisen kannst … … es gibt halt keinen Titel ›Diplom Schauspielmusiker*in ‹, der einem erst einmal Autorität verleiht. Das beobachte ich ohnehin: Einerseits haben sich die meisten in diesem Feld das, was sie brauchen, selbst beigebracht und ihr eigenes Ding gefunden, andererseits gibt es schon so eine Vorstellung von Professionalität und Insiderwissen, bei der man sich schnell als Laie fühlt, wenn man sich daran misst. Dabei ist diese Idee von Handwerk in der Theatermusik ganz problematisch. Da gibt es wirklich extrem unterschiedliche Herangehensweisen und auch sehr unterschiedliche Voraussetzungen: Mancher ist ein brillanter Instrumentalist, ein anderer ist technisch sehr versiert, manche studieren Chöre ein, andere basteln an elektronischen Beats. Und für manche Aufführungen ist aber gerade etwas ganz Schlichtes oder sogar Laienhaftes genau das Richtige. Was ich damit meine, ist, dass es eigentlich keine externe Warte gibt, von der aus man theatermusikalische Qualität beurteilen kann, weil es immer nur um die Frage geht: Wie funktioniert was in welchem Zusammenhang? MK: Ja, absolut. Das ist eine Frage der Ästhetik, und die hängt auch ganz stark vom gesamten Team ab, mit dem man arbeitet, vom Stoff usw. Mein Eindruck ist, dass überhaupt Theatermusik sehr stark vom Sound lebt. Also nicht primär davon, welche Töne da gespielt werden – wobei ich das auch interessant bei dir finde, weil du komplexe Harmonien in deinen Klangflächen anbietest. MK: Danke, dass dir das auffällt. Darüber bin ich sehr froh und das ist mir unbedingt wichtig. Nur Sound Design finde ich total langweilig. Trotzdem die Frage: Wie suchst du nach Sounds? Hast du dabei bestimmte Kriterien? Und wie setzt man die dann im Theaterraum um? Es ist ja ein Unterschied, ob es auf dem Kopfhörer klingt oder dann im Theaterraum. Mir ist vorgestern sehr aufgefallen, dass du oft in diesen zusammengesetzten Sounds stark mit pannings arbeitest, so dass z. B. der Groove aus der linken Ecke kommt und die Flächen von woanders, also dass du da auch sehr mit der Räumlichkeit spielst.

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MK: Ja, alles das! Insofern lässt es sich nicht so kategorisch sagen. Das ist aber das Schöne an der Arbeit: Die ist so flexibel und so schnelllebig, dass man einfach alles braucht! Was ich nicht mache, ist klauen. Also ich nehme nicht mehr gern, wie früher mal, Schnipsel aus Liedern, um die zu samplen. Und was die Auswahl der Libraries, Instrumente oder Generatoren betrifft: Das kann ja manchmal sprechend sein, also vermittelnd, wenn der Sound ›bully‹ ist, also wenn der nahezu eins zu eins aus einem preset kommt und deshalb etwas plakativ klingt. Man schafft sich mit der Zeit eine unheimliche ›library‹ an native instruments an: Battery, Massive, Kontakt, Vienna Symphonic Library und diverse andere symphonische libraries. Ableton an sich hat auch schon viele Instrumente. Jetzt ist noch Max for Live12 dazugekommen. Und darauf folgt die Audiobearbeitung. Ich erinnere mich kaum an eine Produktion, in der ich nicht am Ende auch die Sounds, Tracks, Files, den Klang der Instrumente in den Theaterraum gemischt habe. Das kostet dann Zeit, in der man eben genau den Raum, in dem das Stück stattfindet, mit einbezieht. Pannings gehören da selbstverständlich mit dazu. Ich spiele das Schlagzeug z. B. häufig rudimentär und perkussiv, also nicht Groove-orientiert, sondern eher so solierend, und möchte dann vielleicht, dass es wie ein auseinandergefallener Korpus wirkt. Dann verteile ich die einzelnen Instrumente des Sets unzusammenhängend im Raum.

Bei all dem Aufwand, ist es da nicht ein bisschen schmerzlich, dass Theatermusik so vergänglich ist? Du hast auf SoundCloud ein paar Tracks verewigt – viele Theatermusiker machen das –, aber bei dir scheint es mir besonders schwierig, da es weniger klar umrissene und zeitlich begrenzte Stücke sind. MK: Ich find es jedes Mal traurig, dass die Musik dann weg ist, denn eigentlich könnte man ja jeden Abend Mitschnitte schneiden und hätte jeweils ein bisschen ein anderes Musikstück davon. Im Vorfeld gibt es ja immer diese Vorproduktionen; die sind dann zumindest ein wenig repräsentativ, und die stelle ich dann ins Internet. Aber ganz viel von dem, was ich gemacht hab, ist dafür einfach nicht geeignet. Ich hab damit jetzt auch einigermaßen aufgehört, Dinge ins Netz zu stellen, zu sammeln oder zu archivieren. Man denkt immer, man müsse die ganze Zeit präsent sein, und es gibt auch schon ein paar Leute, die es interessiert, die Musik nachzuhören, aber ich kann nicht wirklich im Internet darstellen, was ich im Theater gemacht habe und wie ich da arbeite. Jeder Versuch in diese Richtung ist eigentlich immer gescheitert. Es fühlt sich dann an wie ein altes Bühnenbild, was in der Ecke steht. Es birgt

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noch eine gewisse restliche Eigenenergie, aber ist jetzt kontextlos und dadurch kastriert oder faul. Und die Musik verschmilzt ja zum Teil auch sehr stark mit der Sprache. Bei Nichts von euch auf Erden gab es ganze Passagen von zehn bis 15 Minuten, wo man primär einer Art ›spoken word Komposition‹ zuhört. Da wird es dann fast zum Hörspiel, und es ist dann vielleicht auch für die Zuschauer gar nicht so einfach, damit umzugehen. Auch beim Faust ist mir diese radikale Reduktion aufgefallen: Es gab Schauspieler, die sich in einer Art pulsierender Reihe bewegen und sprechen, und eben deine Musik. Und bei Nichts sind es gut drei Stunden lang eine Handvoll Leute, die sich mit stilisierten Bewegungen in einem Wasserbecken bewegen, und der Rest muss über Sprache und über Musik funktionieren. MK: Genau, und über die Fantasie eben, die dabei angeregt werden kann! Und das ist der schmale Grat: dass man eben nicht nur einem Hörspiel zusieht. Reduktion öffnet ja auch Räume, Räume im Denken, welches dir als Zuschauer*in nicht abgenommen wird durch Bühnenübersetzungen, die als Interpretationshilfen fungieren. Es sind Räume der Fantasie, die nicht vorbebildert werden, man bekommt Zeit, den Menschen, den Körper zu sehen … und vieles mehr. Gibt es bestimmte Einflüsse oder Orientierungspunkte für deine Arbeit? MK: Die Berliner Jazzszene ist sehr interessant für mich, insbesondere der Schlagzeuger Christian Lillinger, den musst du dir unbedingt mal angucken beziehungsweise anhören! Er hat mein Schlagzeugspiel natürlich nicht nur beeinflusst, sondern erst sinnvoll gemacht. Was ich bei ihm zu verstehen glaube, ist, was es heißt, beim Spielen ständig kreativ zu sein. In jeder Sekunde steht er mit dem, was er tut, in Verbindung, spult nix ab, oder versucht es jedenfalls. Jetzt könnte man sagen, das hat man doch bei jedem Jazzmusiker oder Musiker generell. Das stimmt aber nicht: Es gibt viele, die mit Patterns arbeiten und bei denen man halt so ihre Gewohnheiten heraushört. Und der Lillinger hat, habe ich das Gefühl, in seiner Anfangsphase zumindest, wirklich seine Gewohnheiten zerdroschen. Ich habe Konzerte gesehen, bei denen hat er teilweise minutenlang nur auf die Snare gehauen, Singlestrokes, so lange, bis alles weg war im Kopf und er dann wieder frei war und neu kreativ werden konnte, auch um den Raum zu ›cleanen‹, so wie ich seine Arbeit verstehe. Und das waren auch performative Momente. Das ist nicht mehr nur dieses smoothe Schlagzeugspiel, was mal ein bisschen mehr, mal bisschen weniger Energie hat, sondern das ist ein Instrument, was

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wirklich expandiert. Auch der gesamte Körper bewegt sich in einer musikalischen Zeitlichkeit, der gesamte Körper macht die Musik. Manche mögen das von mir aus doof finden, aber in der Radikalität, wie er das macht, heißt das für mich: raus aus dem Jazz, rein in den Versuch, Kunst zu machen. Jelena Kuljić 13 hat übrigens auch eine Band mit Lillinger! Das ist interessant, denn sie ist ja musikalisch sehr präsent im Moment an den Kammerspielen: bei David Marton14, bei Nicolas Stemann, bei euch usw. Unterscheidet sich die Arbeit mit ihr als improvisierender Sängerin von der Arbeit mit den gelernten Schauspielern? MK: Absolut. Jelena hat diese Musikerlockerheit am Theater, die Schauspieler*innen oft nicht so haben. Da werden Grabenkämpfe gefochten, und es gibt schon auch einen Konkurrenzdruck, den Musiker*innen oftmals nicht so verinnerlicht haben. Sie ist also schon mal eine coole Sau. Mit Jelena hab ich natürlich sofort musikalische Proben gemacht [lacht], und wir haben dann die ganze Zeit improvisiert, wovor ich, um ehrlich zu sein, einen Heidenrespekt hatte. Selten im Leben hatte ich so großen Schiss vor einer Probe, wie vor der mit Jelena Kuljić, der bekannten Jazzsängerin, die mit allen Berliner Jazzgrößen arbeitet, die ich bewundere. Aber, was ich halt merke und spüre, ist: Da ist jemand ein Gast im Theater. Im Theater darf man eigentlich nur Gast sein. Als Gast hast du die Eigenschaft, dass du etwas hereinbringst, was niemand kennt, und dieses Geheimnis muss man sich bewahren. Das ist eine spezielle Herangehensweise, die ich auch als ›Gast‹ beschreiben würde: Ich will im Theater nicht ankommen, sondern ich würde das Theater gern erweitern, mit dem Theaterunspezifischen, was ich als Außenständiger mitbringe. Und dabei lebt Theater ja auch oft von ›Kantinengeruch‹ und ›Familienersatz‹, vom Ankommen und Eingebettet-Sein … MK: … ja, aber mir ist ›Fremdheit‹ in der Kunst eben total wichtig. Auch ruhig in Form einer Art von ›Dilettantismus‹: um Theater nicht als professionellen Abrufapparat zu begreifen, sondern als ein Provisorium, als Gegenentwurf zur Welt, wo man die Fähigkeit hat, was offen zu lassen … … ein Theater, das sich einer bestimmten Ethik des Funktionierens entzieht? Eure Abende sind ja auch Provokationen, so reduziert und gleichzeitig komplex sie sind. Da wird einem nichts handlich gemacht. MK: Absolut. Provokation und Genuss liegen da relativ nah beieinander, und ich versuche, auch bei der Probe immer eigentlich beides zu sein,

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für den/die Schauspieler*in. Also ich versuche, ihn zu unterstützen und insofern ein Genuss für ihn zu sein. Aber ich muss ihn natürlich auch provozieren, damit wir etwas für uns Ungewohntes tun, ein Wechselspiel der Provokation erzeugen. Ich will auch vom Schauspieler provoziert werden: Wenn Wiebke Puls plötzlich leiser wird, dann denke ich: »o. k., du hast recht« [macht ein decrescendo vor], dann muss ich mich anpassen, fahre ich den Apparat runter. Und diese Wechselwirkung, die ist fundamental, das ist der Spaßfaktor. Das ist die permanente Kreativität, von der ich gesprochen habe. Die darf nicht aussetzen, die verlässt sich auf nichts, sondern da muss Energie gehalten und produziert werden; wie ein energetischer Wandel, so lange im Prozess, bis der Inspizient »Black« sagt.

Matthias Krieg wurde 1980 in Karl-Marx-Stadt geboren. Er studierte zuerst Psychologie an der Freien Universität Berlin, dann Sound Engineering an der SAE Berlin. Seit 2008 ist er ausschließlich als Musiker, vor allem als Theatermusiker tätig. Matthias’ Musik war/ist im Theater Bremen, in den Münchner Kammerspielen, am DT in Göttingen, Schauspielhaus Düsseldorf, Badischen Staatstheater Karlsruhe, Theater Heidelberg und Theater Bielefeld in Arbeiten zu hören, die ausschließlich mit dem Regisseur Felix Rothenhäusler entstehen. Seit Anfang 2015 realisiert Matthias Krieg neben seiner Theaterarbeit das Solo-Bandprojekt »MK_elastisch«. 2017 hat Matthias Krieg die Musik »plus minus kosmos« für die Staatlichen Museen zu Berlin zur Ausstellung Alchemie. Die Große Kunst am Kulturforum in Berlin komponiert. www.matthiaskrieg.com

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Endnoten

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The Re’search von Ryan Trecartin, Regie: Felix Rothenhäusler, Münchner Kammerspiele, Premiere am 29. Oktober 2016. Nichts von euch auf Erden von Reinhard Jirgl, Regie: Felix Rothenhäusler, Münchner Kammerspiele, Premiere am 16. Dezember 2015. Siehe https://www.native-instruments.com/de/products/komplete/synths/massive/ (zuletzt besucht am 28. September 2017). Siehe http://blog.smb.museum/idee-obsession-handwerk-musik-in-der-ausstellung-alchemie-die-grosse-kunst/ (zuletzt besucht am 22. Februar 2018). Siehe https://mk-unterstrich.bandcamp.com/ (zuletzt besucht am 22. Februar 2018). Mr. Robot, Regie: Felix Rothenhäusler, hatte am 1. März 2017 am Theater Bremen Premiere und basiert auf der populären Fernseh-Serie auf USA Network (Start: 2015) über einen Computernerd und eine anarchistische Hackergruppe. Sickster nach dem Roman von Thomas Melle, Regie: Felix Rothenhäusler, Theater Bremen, Premiere am 29. September 2012. Verzehrt [Consumed] nach David Cronenberg, Regie: Felix Rothenhäusler, Theater Bremen, Premiere am 17. September 2015. Die Räuber von Friedrich Schiller, Regie: Felix Rothenhäusler, Theater Bremen, Premiere am 1. Juni 2013. Faust hoch zehn – eine Arbeit von Felix Rothenhäusler und Tarun Kade, Regie: Felix Rothenhäusler, Theater Bremen, Premiere am 18. Oktober 2014. Ödipus nach Friedrich Hölderlin, Regie: Felix Rothenhäusler, Theaterakademie Hamburg, Premiere am 4. Dezember 2009, wurde auch beim Festival Radikal Jung in München gezeigt. Siehe https://www.ableton.com/de/live/max-for-live/ (zuletzt aufgerufen am 29. September 2017). Ensemble-Mitglied der Münchner Kammerspiele in der Intendanz von Matthias Lilienthal und Schauspielerin/Sängerin in Nichts von euch auf Erden. Siehe das Interview mit Michael Wilhelmi in diesem Band.

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Ingo Günther und Malte Preuss: »Die beste Theatermusik ist die, die man hört!« Ein Gespräch am 13. Februar 2016 in Berlin

Ingo Günther Foto: David von Becker

Malte Preuss Foto: Ingo Höhn

Wie nennt ihr das, was ihr macht? Ingo Günther: Natürlich offiziell Theatermusiker oder eben -komponist, aber ich sage auch häufig, dass ich Theaterschaffender im Bereich Musik bin, weil das mein Verständnis von Theater widerspiegelt: nicht, dass das eine das andere illustriert, sondern dass das verschiedene Komponenten sind, die zusammen ein Theater ergeben. Das stellt ja schon die früher so klar gedachte Aufteilung in abgegrenzte Zuständigkeiten infrage. Wie ist das bei dir, Malte? Malte Preuss: Es gibt ja immer diese Programmhefte, und da steht bei mir meistens: »Musik, Komposition, Sound Design«, um einfach bewusst zu machen, dass ich alle drei Dinge tue. Ich nutze z. B. nie die Tonabteilung für irgendwelche Geräusche, sondern mache das alles selber. »Musikdramaturgie« ist es eigentlich auch und wird für mich immer wichtiger. Das steht nirgendwo, aber durch die lange Erfahrung ist das auch etwas, was ich tue.

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Ingo Günther und Malte Preuss

Wie seid ihr dazu gekommen? IG: Ich bin da einfach so reingerutscht, letztendlich auch über Malte und ›Theater Aspik‹1. Ich habe ja in Hildesheim Kulturpädagogik2 studiert mit den Fächern Musik und Kunst, und da gab es eine rege freie Theaterszene, Aspik und Mahagoni3 und wie die alle hießen, und da bin ich so reingerutscht und habe dann gemerkt, dass mich nicht nur die absolute Musik interessiert, sondern vor allem eben das Interdisziplinäre, was ja in Hildesheim ohnehin oben auf der Tagesordnung stand. Und so kam ich zu Filmmusik, Theatermusik, Installation. Du hattest aber auch eine musikalische Vorbildung, oder? IG: Genau. Klavier und Orgel – Tasteninstrumente im weitesten Sinn. Im Studium habe ich dann noch mal so ein bisschen E-Bass gemacht, aber eigentlich Klavier. MP: Ich habe ja auch in Hildesheim studiert, und ich fand einfach die Leute, die bei uns im Studium Theater gemacht haben, wie die das gemacht haben – das fand ich sauinteressant. Wir hatten das große Glück, dass da eben tolle Leute zusammenkamen, um Theaterkunst zu machen. Das ging zusammen mit meinem Interesse für Filmmusik. Die hat mich immer fasziniert. Aber es waren eben vor allem die Theaterleute: Das war interessanter, als was damals in der Kunst lief4, oder auch in der Musik, was ich als Fach einen ziemlichen Flop fand. Wann habt ihr angefangen zu studieren? MP: 1984, wir gehörten somit zu der ersten Generation. IG: Ich ein bisschen später, so 1986, 1987. Ich habe da schon mit Malte zusammengewohnt und Zivildienst gemacht und bin schon in Seminare gegangen. Ich wollte das eigentlich gar nicht studieren, aber bin dann so da reingeraten. Als ich dann die Aufnahmeprüfung bei Herrn Löffler hatte, da meinte er: »Herr Günther, sie studieren hier doch schon lange!« [lacht]. Ich frage auch deshalb, weil es ja kein Studium für Theatermusik gibt: Hat eure Ausbildung insofern eher in den freien Gruppen um den Studiengang herum stattgefunden oder sind auch Inhalte aus dem Studium in eure Arbeit eingeflossen? IG: Bei mir gab es das in Seminaren eigentlich nicht, außer, dass ich mal Filmmusik bei [Claudia] Bullerjahn studiert habe.5 Was mich aber interessiert hat, war, dass damals »Live Art« aufkam, Forced Entertainment und dieses Ganze. Also: die Bühne nicht als »Bühne« zu nehmen –

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Achtung: der Vorhang geht auf! –, sondern die Bühne als Kunstraum zu verstehen, wo dann eine Performance oder Installation stattfindet, wo die Bühne eine reale Welt wird und nicht versucht, die Realität nachzubilden. Und da sind natürlich auch Klang und Musik sehr interessant. Ähnlich wie bei den Ready-mades, also wenn Duchamps ein Klo ins Museum stellt, dann ist das was. Genauso ist es auf der Bühne etwas anderes, wenn ich da einen Ton abfeuere, als wenn ich das ganz normal hören würde. Diese Lupen-Wirkung, die eine Bühne hat, das fand ich immer verrückt. MP: Ich kann mich noch erinnern an das Festival, was aus dieser Zeit entstanden ist, transeuropa.6 Ich glaube, das hat erst Julia Lochte gemacht und dann Viola Hasselberg, und die haben natürlich großartige Gruppen eingeladen. Wir hatten das Glück, mit den ›Desperate Optimists‹ eine Produktion zu machen. Die haben die vierte Wand aufgebrochen und mit Videokamera im Off gearbeitet – das war inhaltlich ein Riesenknall für die ganzen Hildesheimer Gruppen. Wir haben dann alle Videokameras gekauft [lacht] und auch damit gearbeitet. Wir waren wie ein trockener Schwamm und haben das alles aufgesogen. IG: Dann kam aber auch der Dämpfer: In Hildesheim waren wir voll Avantgarde, wie wir dachten, und sind dann mal nach Berlin zur Volksbühne gefahren und haben Christoph Schlingensief gesehen oder Marthaler oder Castorf! [lacht] Das fand ich aber immer schon interessant, dass die beiden universitären Studiengänge, von denen so viele Impulse für die Theaterszene ausgegangen sind, nämlich Gießen und Hildesheim, eben beide in der Provinz sind. Das scheint eben doch dazu zu führen, dass man erfinderisch wird, weil sonst eben nichts los ist. IG: Ich glaube auch, wenn derselbe Studiengang in Berlin gewesen wäre, wäre da nicht so viel bei rausgekommen. Wir waren da ja richtig unterzuckert! [lacht] Noch mal zu deinem Rüstzeug, Malte: Hast du immer schon Gitarre gespielt? MP: Ich bin da als kompletter Autodidakt in dem Studiengang gelandet, bin durch die erste Aufnahmeprüfung gerasselt, habe mich erst mal für Lehramt eingeschrieben, dann konnten die Dozenten nicht mehr sagen, der kann ja nichts, weil ich dann ja schon Seminare bei denen belegt hatte, und so hat es bei der zweiten Prüfung auch funktioniert. Ich hab damals schon Gitarre gespielt, hatte aber keine Ahnung von Noten, das

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habe ich mir dann alles draufgeschafft. Aber das Autodidaktische – das sind schon meine Wurzeln. Da gab es eben einfach Leute, die mich geprägt haben, in irgendwelchen Hippie-Wohnungen beim Bahnhof in Bremen, mit denen ich Musik gemacht habe. Diese frühen Prägungen sind ja enorm wichtig, weil da so ein grundsätzliches Musikverständnis entsteht: Was ist Musik eigentlich? Die Interpretation irgendwelcher Meisterwerke, oder geht es um das ganz Eigene und darum, Spaß zu haben? Das schleppt man ganz lange mit. IG: Weil du das gerade sagst: Ich glaube, das war dann schon auch die sogenannte Postmoderne – man macht dann was musikalisches Verrücktes, aber es gab ja schon die Moderne: John Cage war schon da! [lacht] Dada auch schon! Das war ja alles schon da. Und mir geht es jetzt so in meiner Entwicklung, dass das noch mal so ein Aufarbeiten ist. MP: Für mich war da z. B. interessant, dass in den neunziger Jahren die ganze gute Musik der siebziger Jahre veröffentlicht wurde. Da hat man dann auf einmal völlig schräges Zeugs gehört, z. B. von Peter Thomas7, was ich vorher nie wahrgenommen hatte. Dieses Revival, das mochte ich sehr gerne, das war sehr inspirierend. Ihr hattet doch eine Band in dieser Richtung, oder? IG: Ja, die Paramounts – mit denen haben wir Filmmusik der sechziger und siebziger Jahre gecovert. Habt ihr das Gefühl, dass sich die Theatermusik manchmal schon auch zum Ziel setzt, die Musikwelt aufzurütteln, wie es ja andere Genres durchaus tun, oder befreit der Kontext von so einem Neuigkeitszwang? IG: Ich glaube, das ist eine ganz wichtige, aber auch ganz schwere Frage: Das beschäftigt mich sehr, dieses Thema. Was heißt das: »neu erfinden«? Ich glaube, neu erfinden kann man da jetzt sowieso nicht mehr wahnsinnig viel. Das ist durch, würde ich sagen. Man kann eigentlich nur noch in anderen Zusammenhängen neu erfinden. Es ist aber auch eine Frage, wo das Theater dabei steht. Die Theaterleute sagen immer, sie seien ästhetisch vorne. Ein Freund von mir sagt dann: »Nenne mir einen Regisseur, und ich sage dir, welche DVDs er zu Hause hat; nenne mir einen Bühnenbildner, und ich sage dir, welche Kunstbände er zu Hause hat; nenne mir einen Kostümbildner, und ich sage dir, welche Modelabel er liebt«. Das ist ein bisschen böse, aber auch ganz schön, wenn man einsieht, dass das Theater nicht ganz vorne ist. Die etablierte Kunstform Theater klaut durchaus bei den Blockbustern und sagt aber:

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»Achtung, wir sind intellektuell!« Eigentlich geht es also eher um Zusammenhänge und neue Kopplungen. Es ist sicher die Frage, ob Theater überhaupt noch ein Leitmedium ist oder eher andere Medien reflektiert und durcharbeitet. Aber bevor wir zu allgemein werden, sollten wir doch noch mal konkret auf eure Arbeit zurückkommen. Wie geht ihr vor, wenn ihr eine Theatermusik erfindet? Gibt es da so etwas wie ein System, oder ist es jedes Mal anders? MP: Ich versuche schon, jedes Mal anders zu sein. Da gibt es für mich ein System: Das entsteht chaotisch! In diesem Chaos habe ich eine Ordnung und versuche, mich dann auch selbst zu überraschen. Nehmen wir mal ein Beispiel: Wenn ich mit dem Computer arbeite, habe ich eine Festplatte. Und auf dieser Festplatte ist wahnsinnig viel Zeugs drauf. Da finde ich manchmal Sachen und bearbeite sie wieder neu. Das ist sozusagen meine Bibliothek, und dann kommt aber auch noch von außen ganz viel dazu. IG: Bei mir ist es gerade so ein bisschen speziell, weil ich die letzten fünf Jahre ausschließlich mit Herbert Fritsch zusammengearbeitet habe. Und da ist die Situation, dass wir immer wieder gemeinsam ein neues Projekt entwickeln, und das ist was anderes als die typische Theatermusik. Das heißt, die Projektfindung ist schon Teil deiner Arbeit? IG: Naja, wir haben ja zunächst viele Komödien gemacht, zuletzt etwas abstraktere Stücke, wie z. B. Murmel Murmel 8, und da ist dann schon Herbert derjenige, der dann diese eine Idee hat – er ist ja auch der Bühnenbildner –, die er machen möchte. Ich überlege mir dann auch eine Sache: Also, bei Ohne Titel 9 war die Bühne aus Holz, und dann habe ich gedacht: »O. k., wir machen Holz!« Ich spiele Marimbafon, alle möglichen Sounds aus Holz. Bei der die mann10 war das ganz anders, da war eher Plastik das Material. Ich mag es gerne, wenn ich eine relativ feste Idee habe, die mich auch erst einmal überfordert. Und dann begebe ich mich da hinein und komme an Widerstände, und die sind ja gerade gut. Dann entsteht im Ideal eine gute Spannung. MP: Bei mir gibt es Grundideen, an denen ich dranbleibe und auf die ich auch am Schluss immer wieder zurückkomme. Die sind wertvoll, weil ich sie mir für mich streng überlegt habe. Oft scheitere ich aber auch erst mal mit diesen Ideen: Ich spiele die vor, merke dann aber, dass sie für eine bestimmte Szene viel zu komplex sind oder so etwas, aber ich lass sie nicht aus den Augen, beziehungsweise aus den

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Ohren. Wie Ingo genieße ich es auch, in einem Regie-Team zu arbeiten. Das tue ich auch regelmäßig mit bestimmten Leuten, weil man da einfach eine gemeinsame Sprache findet. Du musst dich nicht immer komplett neu erklären. Du hast schon einen Stil entwickelt, von dem du ausgehen kannst. Ich bereite mich vor und merke dann auch, dass ich für die Produktion auch wichtig bin, weil man mit Musik schon schnell sehr perfekt sein kann. Viel schneller als irgendwelche Werkstätten kann man mit einem Instrument oder am Computer etwas schaffen, das sonst nur die Schauspieler schaffen, wenn die den Text können. Ich mache das mit Musik relativ oft, dass ich eine Probe an mich reiße, und dann sind alle ganz selig danach [lacht]. Weil dann schon mal was funktioniert und nach was klingt? MP: Die Musik kann eine Atmosphäre schaffen, aber auch eine ganz radikale Setzung sein und eine Wendung schaffen, an die keiner gedacht hat. Trotz Neonlicht auf der Probebühne kann man mit der Musik da etwas herbeiführen, wo alle von den Socken sind. Und diese Grundideen, von denen ihr sprecht – beziehen die sich eher auf das Inszenierungskonzept oder auf die Stückvorlage? IG: Auf die Inszenierung – das liegt natürlich daran, dass wir mit Herbert häufig gar keine Stückvorlagen mehr haben. Und es hängt auch damit zusammen, wie Herbert Theater denkt, wie er Theater macht. Für ihn besteht Theater aus gleichberechtigten Komponenten. Das ist der Text, das ist die Bühne, das ist das Licht, das sind die Kostüme, die Bewegung und die Musik. Und diese Komponenten spielen miteinander. Das Inhaltliche interessiert Herbert dabei gar nicht so sehr, sondern das Theater ist für ihn eine Form. Das ist wie in der bildenden Kunst: Der Pinsel ist nicht mehr dazu da, einen röhrenden Hirsch zu malen, sondern um einen tollen Strich zu machen. So würde er auch einen Schauspieler sehen. Method-Acting z. B. hasst er. Es geht nicht darum, Realität abzubilden, sondern selbst Realität zu sein. Da ist man natürlich schnell in einem formalen Konstrukt drin, und da ist die Arbeit eben eine andere. Musik hat da eine andere Funktion: Man muss nicht eine bestimmte Zeit bedienen, oder irgendetwas untermalen oder illustrieren, sondern das ist erst mal eher so eine Anordnung. Um nicht beliebig zu sein, erlegt man sich ja gerne selbst Regeln oder Beschränkungen auf für die Musik, an denen man sich dann kreativ abarbeiten kann – du hast vorhin das Beispiel genannt, dass du in einer

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Produktion vor allem Marimbafon spielst, obwohl du das gar nicht so gut beherrschst. IG: Ich finde, dass in der Kunst, aber auch in unserer von Apple-Computern perfekt durchstrukturierten Welt, gerade im Fehler etwas Interessantes drin sein kann: eine Energie, ähnlich wie beim Fußballspiel ein Foul, oder der Effenberg-Finger – darüber reden die Leute; die stehen nicht auf perfekten Fußball. Höchstens die Bayern [lacht]. Wie ist das bei dir, Malte: Du machst ja durchaus auch klassische Stücke. Sind deine Ausgangsideen da eher rhythmisch, melodisch? Beziehst du dich auf bestimmte Sounds? Welche Beschränkungen setzt du dir am Anfang eines Projekts? Welches Besteck legst du dir zurecht? MP: Wichtig ist bei mir immer die komplette Gleichberechtigung von Geräusch und Musik. Cage hat gesagt: Geräusche sind Musik, und Satie hat die Musik als Möbelstück zum Teil der Umgebung erklärt. Das ist für mich wesentlich, und ich mache da auch keinen Unterschied. Da arbeite ich wie ein bildender Künstler, der Schichten auf eine Leinwand packt und dann wieder freilegt – besonders, wenn ich mit dem Computer arbeite. Mich langweilen presets furchtbar. Ich krieche richtig in die Sounds hinein, und dann wird Musik plötzlich zum Geräusch und umgekehrt. Aber um auf deine Frage zu antworten: Da gibt es oft auch einfach einen Impuls vom/von der Regisseur*in. Jetzt z. B. mache ich gerade Peer Gynt 11, und da gab es den Wunsch des Regisseurs, dass ich etwas mit ›Dark Folk‹ mache – so düstere Songwriter. Das höre ich mir dann an, kombiniere das aber auch mit eigenen Stimmen, oder digitalisiere das mit Melodyne und mache was Eigenes draus. Beim Peer Gynt baue ich z. B. schon den Grieg12 mit ein und kombiniere das mit Dark Folk, was wunderbar funktioniert [lacht]. Was passiert vor den Proben, was währenddessen? Und seid ihr viel auf Proben? IG: Das hängt ganz stark vom Theaterverständnis des/der Regisseur*in ab. Wenn man ein Stück macht und das eher so wie Kino denkt, dann kann man auch so arbeiten – dann wird auch die Theatermusik so gemacht wie eine Filmvertonung. Bei mir ist es aber so, dass ich inzwischen sehr viel live mache, und dann kann man natürlich nicht zu Hause am Schreibtisch sitzen, sondern muss auf der Probe sein. Das ist also gar nicht immer eine Sache, die ich als Musiker entscheiden kann, sondern es ist eigentlich eine gemeinsame Entscheidung darüber, was für ein Theater man machen will.

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Du hast oft noch andere Musiker*innen dabei. Wann kommen die dazu? IG: Da muss ich immer mit den jeweiligen Intendant*innen arbeiten – das ist halt eine Geldfrage. Die Intendant*innen hätten mich natürlich gerne als eine Art Korrepetitor, der dann auch schön Noten schreibt, so dass die anderen Musiker*innen erst sehr spät dazukommen müssen. Und ich sage dann: »Nee, so machen wir das aber nicht. Die müssen genauso bei jeder Probe da sein.« Da kriegen die aber Verträge, in denen sie unterschreiben, dass sie einen ›sub‹ stellen, wenn sie mal nicht können – und so mache ich das natürlich auch nicht. Bei einem Schauspieler geht es ja auch nicht, dass der mal für eine Probe jemand anders schickt. Da muss man mit den Intendant*innen oft reden, weil die Musik so gar nicht denken. Meine Musiker*innen haben z. B. Notenverbot! Ich möchte auf der Bühne keine*n Musiker*in sehen, der/die in die Noten guckt, genauso wie ich keine*n Schauspieler*in sehen möchte, der/ die sein Textbuch in der Hand hat. Insofern geht auch gar kein ›sub‹. Deine Musiker*innen gestalten dadurch auch stärker mit? IG: Ja, natürlich, da kommen auch Ideen, das ist ein Geben und Nehmen. Das funktioniert eher wie Jazz. Natürlich mache ich Skizze oder »Kompositionen«, aber ansonsten entsteht das auch viel über Improvisation und Festlegung. Improvisation betrifft aber nicht nur die Musik, sondern es entsteht eben gemeinsam. Die Bewegung des Schauspielers ist auch ein Musikstück, ist vielleicht ein Solo. MP: Das ist bei mir ähnlich. Hauptakteur war bei mir neulich ein brummender Kühlschrank. Das war für mich wichtig und für die Schauspieler*innen wichtig, und da bist du eben dann Musikalischer Leiter, d. h. alle kommen zu dir und fragen: Was machen wir jetzt damit? Ich habe ganz oft Schauspieler*innen, die musikalisch arbeiten, in welcher Form auch immer, ob die nun wie Fritz Hauser Schraffuren kratzen13 oder ein Lied singen. Da gehe ich aber meist weg von Kunstgesang. Es gibt ja Schauspieler, die eine Ausbildung haben, aber da trete ich immer ziemlich auf die Bremse, weil das für mich ein anderes Genre ist. Wie kommuniziert ihr mit euren Mitmusiker*innen und Schauspieler* innen? Benutzt ihr noch Notation? IG: Noten benutze ich wenig, weil ich selbst kein Fan davon bin. Aber wenn ich z. B. für Schauspieler*innen Chöre aufschreibe, dann erfinde ich eine Form der Notation, die die auch lesen können. MP: Wenn jemand eine Linie aufgeschrieben braucht, dann mache ich das halt, aber mir ist es wichtig, dass die Musik ja auch immer

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eingebunden ist, und nicht so eine »Nummer« – es sei denn, das soll im Stück ganz bewusst exponiert als Musiknummer verstanden werden. Ich mach das gerne, wenn es ganz schlicht ist und wie aus dem Nichts dann so ein Gesangsstück kommt. Dann hat das auch was mit dem brummenden Kühlschrank zu tun. Ich höre da heraus, dass man als Musiker*in auch sehr sensibel für die Probendynamik sein muss, damit das Musikmachen nicht so einen kompletten Kontextwechsel bedeutet: »So, das war jetzt die szenische Probe, und jetzt kommt die Musikprobe«. Es geht um viel fließendere Übergänge, oder? MP: Im Idealfall sind wir bei einer Produktion von A bis Z da und kriegen alles andere mit, und da entsteht dann die Musik. IG: Es ist ja auch alles Musik! Was ist Musik? Wenn ich mir anhöre, wie Otto Sander einen Text spricht, dann ist das Musik! Oder wenn ich mir Louis de Funès anschaue, wie der sich bewegt, dann ist das Tanz! Es ist ja nicht so, als ob man Text hat, sich dazu bewegt, und da drunter kommt noch Musik. Das ist ja eins, im Idealfall. MP: Ich finde z. B. interessant, wenn man einen besonders agilen Schauspieler hat: Dem gebe ich gerne eher einen musikalischen Kontrapunkt, etwas Schweres, was dann noch mal etwas anderes schafft. Wie läuft auf der Probe das Zusammenspiel mit der Regie? IG: Weil ich in letzter Zeit nur mit Herbert arbeite, sind wir schon so ein eingespieltes Team, so dass das sehr gemeinsam läuft. Natürlich ist er der Chef, aber es passiert schon auch, dass er mal rausgeht und sagt: »Ingo, mach’ das mal«. MP: Ich hatte mal ein heftiges Erlebnis, wo ich immer wieder gestoppt wurde. Das war eine Produktion, Geister sind auch nur Menschen14, mit Laien um die 70, und darin gab es eine Tänzerin, die einen komplett crazy Tanz gemacht hat, und dazu habe ich eine unheimlich brutale E-Gitarre gespielt, bis ich mitgekriegt habe, dass die Regisseurin mir die ganze Zeit das »Auszeit«-Zeichen gibt! Nach so einem Abbruch ist es natürlich schwierig, wieder auf 100 zu kommen. Man ist da drin, es entwickelt sich, und dann wird gestoppt, und man hört schon die Peitsche der Regie. Aber das gab dann am Ende auch eine tolle, radikale Energie. Auf der Bühne war das ganz konträr: diese älteren Leute ohne Bühnenerfahrung, die eher so über die Bühne schlurften und dazwischen musikalisch die völlige Kakophonie. Ein toller Moment. Aber das haben wir von den zwölf Aufführungen vielleicht auch nur zwei Mal so richtig hingekriegt und die anderen zehn Mal nur versucht.

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Ihr habt schon ein bisschen über euer Instrumentarium gesprochen und gesagt, dass presets nerven: Womit arbeitet ihr, und welche Rolle spielt Technologie in eurem Schaffensprozess? MP: Presets versuchen halt, ein Abbild von einem richtigen Instrument zu schaffen. Das funktioniert natürlich immer besser, weil es immer ausgefeilter wird, u. a. durch Techniken, bei denen man z. B. pro Klavierton zwölf verschiedene Anschlagsdynamiken sampelt. Natürlich nutze ich diese Instrumente, aber ich drehe so lange daran herum, bis es mir ›schmeckt‹. Ich arbeite viel am Computer und suche viel nach Instrumenten und schaue nach Sounds, die mir gefallen, die ich fast anfassen kann, die fragil sind – und nicht so Hochglanz-Bilder, die mich überhaupt nicht interessieren. Mich interessiert Hans Zimmer nicht.15 Ich arbeite dabei mit Ableton Live: Das ist ein guter Workflow, da höre ich gleichzeitig, was ich mache, und es kommt hinzu, dass die Theater die Musik auch damit abspielen, weil das auf dem Mischpult gut zu rooten ist. Ich muss aber dazu sagen, dass das auch wahnsinnig gefährlich ist, denn du kannst mit diesem Programm alles automatisieren, was natürlich dazu führt, dass wenn ich in einem der vielen Theatern, an denen ich arbeite, auf eine faule und zombiehafte Tonabteilung treffe, dann sitzt beim Durchlauf jemand in der Tonloge, liest eine Zeitung und lässt sich jedes Zeichen vom/von der Inspizient*in geben, weil ich schon alles automatisiert habe. Ich möchte aber die Tonleute dazu zwingen, dass sie sich als Teil jedes Abends verstehen. Ich sage denen: »Wenn mal ein Fehler passiert, ist es nicht so schlimm, aber sei bitte dabei! Das soll leben! Hab noch einen Finger am Regler!« Also: Ableton ist einerseits toll, weil es mir viele Möglichkeiten schafft, und andererseits muss man immer aufpassen, dass das Ganze nicht eine Filmmusik wird. Früher bestand eingespielte Musik aus fertigen Tracks, die man eigentlich nur noch in der Lautstärke verändern konnte; heute kann man innerhalb der Musik vieles noch in Echtzeit beeinflussen: Eine Geige setzt zwei Takte später ein, weil das Stichwort an diesem Abend später kommt usw. Nutzt ihr diese technisch mögliche ›liveness‹ von eingespielter Musik viel? MP: Natürlich nutzen wir das und arbeiten damit, und ich finde es auch wunderbar. Andererseits ist es so: Ich hatte gerade eine Produktion, da kam der Tonmensch zum ersten Mal zur »AMA«16, also erst fünf Tage vor der Premiere, und da sagte ich zu ihm: »Hast du eigentlich einen Oberknall?« Und er sagte nur: »Ja, die Arbeitspläne … «. Ich baue im-

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mer Sachen, die bestehen aus Geräuschen, aus Musik, aus Attacken – das muss zusammengehen mit dem Licht, den Schauspieler*innen, die sich darauf verlassen, und und und. Damit das ein Ding wird, das leben kann, muss da jemand sitzen, der das gerne macht. IG: Ich kann das nur unterstützen und sage vor allen Dingen immer: Was haben die für eine Macht! Die haben ihr Mischpult und verfügen über 30.000 Watt, und der/die Schauspieler*in steht alleine da mit blankem Arsch. Und wenn sie diese Macht so nebenbei fahren, dann sollen sie lieber einen anderen Beruf machen. Ich möchte z. B. auch pro Produktion nur einen Tonmann haben und möchte nicht, dass die dauernd tauschen. Da fange ich ja jedes Mal von vorne an! Ich will einen, und der sitzt die letzten drei Wochen neben mir. Dann sagen die: Das geht aber nicht. Dann sage ich: Doch! MP: Das geht auch eigentlich, aber ich arbeite so viel an kleineren Häusern, und es ist Wahnsinn, was ich da für Kämpfe führe. Es ist Gold wert, wenn man da drei Wochen jemanden neben sich hat. Dann macht das auch Spaß, wenn das ein guter Typ ist. Wie ist es bei dir, Ingo – arbeitest du auch viel am Computer? IG: Nee, inzwischen gar nicht mehr. Das ist aber auch eine Absprache mit Herbert, weil wir sagen: Theater ist live, es ist Schweiß. Das ist dann auch eine Entscheidung. Wenn ich überhaupt mit Computer arbeite, dann möchte ich auch, dass er etwas macht, was nur ein Computer kann. Ich möchte ihn nicht benutzen, um eine Realität abzubilden. Wo ich ihn so benutzt habe, war z. B. unsere letzte Arbeit Der eingebildete Kranke an der Burg.17 Da konnte ich nicht live dabei sein und habe dann Musik für drei Cembali geschrieben. Wir sind dann darauf gekommen, dass die auch automatisch spielen könnten – wie diese Pianola Pianos. Diese Cembali hat dann jemand gebaut, und die wurden dann vom Computer mit MIDI-Dateien gefüttert. Und dann natürlich mal los! [lacht] Die können dann auch was spielen, was keine Sau spielen kann. Das war dann auch Konzept. Das fand ich dann schön, diese Verbindung von den uralten Instrumenten, die aber von Hightech zugeballert werden. Bei einem anderen Stück in Hamburg, Die Kassette18, spiele ich jetzt gerade nur Flügel live auf der Bühne und merke aber, durch das ganze elektronische Zeug aus den Neunzigern hat man natürlich auch eine ästhetische Erfahrung gemacht, die ich jetzt wieder mit ans Klavier nehme, also Erfahrungen, die man in der digitalen Welt gemacht hat, auf das Analoge zu übertragen. Dann passiert da was. Das ist auch irgendwie neu, denn diese Erfahrung hatte z. B. der Cage jetzt nicht, ob-

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wohl er auch zu schrägen Ergebnissen gekommen ist. Es ist ja z. B. so: Wenn man am Synthesizer ein rosa Rauschen erzeugen will, dann werden per Zufallsgenerator willkürliche Töne gespielt, und wenn man das immer schneller dreht, entsteht ein Rauschen. Und da dachte ich: Da habe ich ja drei Cembali … [lacht]! Und dann habe ich denen Zufallstöne gegeben, Tempo auf 2080 [lacht] und dann spielen diese drei Cembali, und man hört nur ein [macht brummendes Rauschen nach]. Da finde ich den Computer gut, weil er eben so etwas kann. MP: Auch noch mal zum Computer: Ich sitze manchmal nachts da und spiele Gitarre, nur für mich. Das nehme ich immer öfter auch auf, gebe das dann in den Computer ein und bekomme ein Notenbild. Und aus so einem intimen Moment, nachts in der Küche, mache ich dann Musikstücke. Das finde ich einen kreativen Profit, dass man Dinge so schnell aufnehmen und verarbeiten kann. Aber am Anfang steht mein Spiel, und das gibt eine komplett andere Musik, als wenn ich zu einem Bass oder Schlagzeug nur dazuspiele. Man könnte ja meinen, dass Digitalität bedeutet, dass man keine Musiker*innen mehr für Aufnahmen bestellen muss, dass aber das Denken das gleiche ist: Man schreibt ein Stück und nutzt eben den Computer als Aufnahmestudio. Was ihr aber beschreibt, ist ein ganz anderer, kreativer Umgang, nämlich zwischen digitalen und analogen Medien die jeweiligen materiellen Bedingungen und damit verbundene ›Denke‹ zu nehmen und dann miteinander eine Reaktion zu erzeugen. Also auch zu fragen: Wie können wir durch das eine Medium einen Abstand zum anderen gewinnen?19 MP: Das Absurde ist ja: Je weiter sich der Computer entwickelt, desto analoger will er klingen. Alles, was an neuem Zeugs rauskommt, tut eigentlich so, als wäre es eine alte Bandmaschine. IG: Das ist aber auch irgendwie eine Verarsche, denn Digitalität kann eines nicht, was analoge Medien können: Sie kann keine Patina bekommen, sie kann nicht altern. Wir kennen das bei einem Buch: Ein altes Buch von meiner Oma, das schlage ich auf, und das riecht! Oder alte Fotos von früher: Da sehe ich genau, ob das jetzt ein Agfa- oder ein Kodak-Film war, je nachdem, wie es vergilbt ist. Wir Menschen stehen ja auf dieses Altern. Die Digitalität versucht, uns den Wunsch des Unsterblichen zu verkaufen. Dateien können nicht altern. Und ich hoffe, dass es noch so eine Sehnsucht gibt, dass man an diesem Altern noch Spaß hat. Ich glaube auch, dass die Wahrnehmung sich nicht so schnell verarschen lässt: Als ich noch ein richtiges Klavier hatte, konnte ich ohne Pro-

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bleme zwei Stunden daran herumklimpern, obwohl es relativ schlecht war und verstimmt. Beim digitalen Klavier ist es so, dass man nach einer halben Stunde keine Lust mehr hat. Und ich habe immer noch nicht verstanden, warum das so ist. MP: Ich glaube, ich weiß, warum. [lacht] IG: Es ist vielleicht so eine Ermüdungserscheinung, dass das Ohr irgendwann merkt, dass ihm da etwas vorgegaukelt wird. Es hat nicht diese Wärme, auch nicht diesen Fehler vielleicht: Digitalität suggeriert ja sogar noch die Fehler, wie bei diesen Foto-Apps, die das Foto alt erscheinen lassen – aber weil man die völlige Kontrolle über diesen Fehler hat, ist er auch keiner mehr. MP: Ich kann das noch ergänzen: Beim Digitalklavier weißt du eben auch, dass du da noch 100 andere Klaviersounds hast, und dann klimperst du eben nicht auf dem einen Instrument herum, sondern springst von einem zum nächsten – was mich total nervt. Man hat den Stress, dass man was verpassen könnte. Ihr habt beide viel über Sound gesprochen, der für Theatermusik sicher ganz wesentlich ist. Was sind für euch Kriterien für einen ›guten Sound‹? IG: Es gibt ja dieses schöne Spiel: Ich nehme zehn verschiedene Platten und spiele eine halbe Sekunde ab – und ihr wisst genau, welches Jahrzehnt das ist, welches Genre usw.20 Das ist in einer halben Sekunde schon drin. D. h., der Sound transportiert schon wahnsinnig viel an Inhalt. Das ist natürlich etwas, was für Theater sehr interessant ist. Ich brauche nur etwas kurz anzuklicken, und schon bin ich im Barock. Wenn du dich für einen Sound entscheidest, gibt es da eine Begründung oder eher eine Intuition? IG: Das fühlt sich richtig an. Warum, weiß ich nicht unbedingt. »Klingt grad geil!« [lacht] Andererseits weiß ich noch, wenn ich Computermusik für Theater gemacht habe, dann hatte ich schon so ein paar Tracks vorbereitet. Ein oder zwei schienen einem immer besonders gelungen, da war man richtig stolz drauf, und dann hatte man noch so zehn andere, die waren eher so »geht so«. Ich habe dann aber die Erfahrung gemacht, dass die schlechteren Tracks es bis zur Aufführung geschafft haben, die guten aber nicht! [lacht] Ihr habt beide über presets gesprochen, und ich habe auch bisher noch niemanden getroffen, der damit so richtig glücklich ist. Wie schon die Geräusche aus den Geräuschebibliotheken, kann man diese Sounds of-

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fensichtlich nicht unverändert übernehmen. Sind die zu perfekt? Fehlt da eine Rauheit? IG: Man muss sie zum Leben erwecken, glaube ich, indem man sie noch mal durcharbeitet. Das ist wie Kochen. Es gibt ja so fertige Mahlzeiten mit allen Zutaten, aber da will man ja auch noch mal nachwürzen. Man will das persönlich kriegen. MP: Für mich ist wichtig, die Sachen, die ich mal gut fand, eine Zeit lang nicht zu hören und dann mit Abstand noch mal zu überprüfen. Manchmal kommt dann zu einem späteren Zeitpunkt noch eine Schicht dazu: Dann finde ich auf einmal, dass da z. B. noch ein tiefer Basston dazugehört, um den Sound noch etwas freizukratzen. Entzieht sich eure Musik den klassischen Funktionen von Theatermusik? IG: Es gibt ja so komische Sachen wie Leitmotivik, das hat man natürlich alles mal gelernt in der Schule, aber das ist ja das Problem. Also, beim Eingebildeten Kranken, da kommt die Frau von Argan zu so einer Cembalomusik hereingetänzelt. Dann kommt sie im zweiten Akt wieder, und sie kriegt von mir eine komplett andere Musik – sie tänzelt aber genauso wie bei der ersten! Und dann meinte die Schauspielerin zu mir: »Sag mal, Ingo, ich hab doch da beim ersten Mal diese schöne Musik, wäre das nicht gut, wenn die wiederkommt?« Dann sage ich: »Ja klar, mache ich aber nicht. Komme ich jetzt ins Gefängnis?« MP: Bei mir ist es so, weil ich ja mit verschiedenen Regisseuren arbeite, da habe ich mich mit vielen schon richtig, richtig doll gestritten. Die kommen dann mit ihrer iTunes-Bibliothek, und im schlechtesten Fall hab ich es schon erlebt, dass ich mit der Gitarre auf der Bühne sitze, und da haut mir die Regisseurin so eine perfekt gemischte Musik rein: Da musste ich erst mal zig-mal schlucken. IG: Ich kenne so was auch und finde das unmöglich! Wird Musik da zum reinen Funktionserfüller? IG: Das ist ein gutes Stichwort. Da gibt es so zwei Sachen: Das eine ist, wenn der Regisseur gerade eine ganz tolle CD geschenkt bekommen hat und muss jetzt die Musik hören, die wahrscheinlich auch noch gerade en vogue ist. Da denke ich dann: Warum machst du nicht Werbejingles? Das ist doch hier Theater! Das verstehe ich dann nicht. Und das zweite sind Schauspieler*innen, die kommen und vorschlagen, dass es doch passen würde, wenn sie in dieser oder jener Szene doch den Song sowieso singen. Ophelia wünscht sich, dass sie »My heart belongs to Daddy« singen darf. Da habe ich mittlerweile eine Standardantwort: »Nenn mir

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eine Szene aus der kompletten Theaterliteratur, zu der es keinen Popsong gibt! Muss man ihn deshalb machen?« Das kann natürlich auch mal funktionieren, aber dann muss man es in einem Kontext machen, der seine Berechtigung hat und nicht, weil es gerade hip ist. Theatermusik ist nicht, dass ich die Musik so toll finde. MP: Ich kenne einen sehr arroganten jungen Regisseur. Von dem habe ich drei Sachen gesehen, und jedes Mal lief Portishead. Geht’s eigentlich noch? Klar gibt es atmosphärische tolle Popmusik. Die neue CD von Goldfrapp läuft auch bestimmt in zehn Inszenierungen in Deutschland. IG: Oder man ist eben Tarantino, der für seine Filme eben nur Pop Songs verwendet, aber das hatte Sinn und Verstand. Das hatte auch eine Aussage. Er hat als Künstler bewusst mit diesen Zitaten gearbeitet und sie nicht einfach nur benutzt. Heißt das, dass Theatermusik für euch immer etwas ist, das für sich eine eigene Sprache und Stimmigkeit entwickeln muss im Rahmen einer Inszenierung? Dass sie eine eigene Logik verfolgt? MP: Auf jeden Fall – selbst wenn ich fremde Musik verwende, dann habe ich das selbst sehr genau ausgesucht. Gibt es wichtige Einflüsse für eure Arbeit – der Name Cage ist schon gefallen, Filmmusik der Sechziger … IG: Klar gibt es Idole, im Theater fällt mir da gerade nichts ein, aber eine Filmmusik, die ich interessant fand, war die von American Beauty 21. Die ist gar nicht so »hollywood-esk«, so streichermäßig, sondern eher wie eine Ethnomusik mit diesem Marimbafon, man denkt fast, der Film spielt in Afrika! Da hat der Thomas Newman einen Sound dafür gefunden, der sehr speziell war – das fand ich toll. MP: Es gibt so Meilensteine, und das war so einer. IG: Das ist dann auch so eine Setzung, die man von so einer Filmmusik lernen kann. Bei Spiel mir das Lied vom Tod 22 benutzt Morricone so eine Tenor-E-Gitarre zum ersten Mal, und wenn ich heute diesen Sound höre, denke ich: Western. Warum ist das so? Weil Morricone gesagt hat: Das ist Western. Wenn er eine Blockflöte verwendet hätte, würden wir jetzt immer bei Blockflöte Cowboys sehen [lacht]. Das finde ich eben toll, dass man bestimmte Sachen auch einfach setzen kann. Manchmal ist es gar nicht Musik, die man dann übernimmt, sondern eher so ein Prinzip oder so eine Idee, wie jemand mit Musik umgeht.

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IG: Henry Mancini hat ja mal gesagt: »Die beste Filmmusik ist die, die man nicht hört.« Ich würde aber schon sagen: »Die beste Theatermusik ist die, die man hört!« Und das gibt es natürlich im Film auch, dass man als Rezipient wirklich wahrnimmt, was da musikalisch gerade passiert, und dass man nicht so eingelullt wird. Das finde ich ganz wichtig. MP: Ich erlebe aber immer noch, dass die Theater eigentlich nicht möchten, dass Theatermusik stattfindet. Das Regieteam muss da schon drauf bestehen: Wir brauchen diesen Musiker, das ist wichtig! Dann sind wir manchmal umso radikaler, um das zu beweisen. Ich habe es leider, leider immer wieder als Theatermusiker erlebt, dass die Leute das scheinbar nicht wichtig finden, weil das eine Sache ist, die man nicht anfassen kann. Es ist eine unsichtbare Kunst und wird deswegen oft auch nicht ernst genommen. Ich erlebe das, weil ich verhindert werden soll. Das sind natürlich oft die kleineren Theater, die dann rumjammern, dass sie so wenig Geld haben. Das Schlimmste fand ich mal, als mir erzählt wurde, dass sich der Intendant eines Theaters, an dem ich mal gearbeitet habe, aus einer anderen Inszenierung die Musik genommen hat und sie einfach wiederverwendet hat. Das ist so eine Respektlosigkeit gegenüber dem, was wir da machen.

Und das spiegelt sich ja auch in den Diskursen wider: In der Kritik, aber auch in der Wissenschaft findet Theatermusik praktisch nicht statt, mit wenigen Ausnahmen. IG: Ja, da war ich mal sehr stolz, dass der Peter Laudenbach im letzten Jahrbuch von Theater heute etwas in dieser Kritikerumfrage geschrieben hat, wo Beste Regie, Bestes Stück usw. gewählt werden, und da schreibt er unter »Ärgernis des Jahres«: »Dass Theatermusik nicht nominiert wird, wie z. B. der tolle Ingo Günther« [lacht]. MP: Ich finde ja gar nicht, dass die Musik da so hervorgehoben werden muss, aber wenn man alles nur Starschauspieler*innen und Regisseur*innen zuschreibt, dann ist das doch Schwachsinn. Es ist ja eine gemeinsame interdisziplinäre Arbeit, die da auf die Bühne gehoben wird; das gilt ja auch für die Kostümleute, für den Lichtmensch … IG: Es liegt wahrscheinlich daran, dass Theatermusik nicht elementar wichtig ist für ein Theaterstück, genauso wie Video. Bei jedem Stück hast du eine Bühne, Kostüme, Schauspieler, aber Musik und Video sind optional. Ich glaube aber auch, dass das eine Kompetenzfrage ist. Viele trauen sich zu, einen Schauspieler oder eine Regiehandschrift zu beurteilen,

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aber bei Musik sind sie dann doch ein bisschen ratlos. IG: Oft ist es eben subtil, und man muss bewusst drauf achten. Mir geht

es ja auch oft so, dass ich aus dem Kino komme, und wenn mich jemand nach der Musik fragen würde, wüsste ich auch nicht immer, was ich da eigentlich gehört habe, obwohl ich vom Fach bin. MP: Schon, aber wenn ein*e Kritiker*in für viele Leser*innen über Stimmung oder Atmosphäre schreibt, über Tempowechsel und so etwas, dann darf ich doch erwarten, dass er irgendwann mal darauf kommt, dass das auch was mit Musik zu tun hat. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass es etliche Nominierungen für beste Schauspieler*in gab, wo die eine tolle Szene hatten, zu der es aber eben auch eine tolle Musik gab! Herausragende Theatermomente haben eben oft auch mit der Musik etwas zu tun. Ingo Günther wurde 1965 in Bremen geboren. Er ist Musiker, Komponist, Arrangeur und Schauspieler. Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Universität Hildesheim und der Pop-Musik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Mitbegründer der Filmmusikband die paramounts, mit denen diverse CD-Produktionen entstehen. Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Jarg Pataki, Sebastian Baumgarten, Barbara Weber, Claudia Bauer und Armin Petras am Schauspiel Leipzig, dem Bayerischen Staatsschauspiel, Theaterhaus Jena, Nationaltheater Weimar, Schauspiel Magdeburg, Burgtheater Wien, Thalia Theater Hamburg, Maxim Gorki Theater und der Volksbühne Berlin. Zusammenarbeit mit Herbert Fritsch ab 2007, u. a. im intermedialen Kunstprojekt Hamlet X und 2010 für den Film Elf Onkel sowie an der Volksbühne Berlin in Theaterarbeiten wie Die (s)panische Fliege von Franz Arnold und Ernst Bach (2011), Murmel Murmel nach Dieter Roth (2012), Frau Luna von Paul Lincke (2013), Ohne Titel Nr. 1 – Eine Oper von Herbert Fritsch (2014), der die mann nach Konrad Bayer (2015) oder Pfusch von Herbert Fritsch (2016) an der Volksbühne Berlin. Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg als Komponist, Musiker, Schauspieler und Dirigent in Herbert Fritschs Inszenierungen Die Schule der Frauen von Molière (2014) und Die Kassette von Carl Sternheim (2015) tätig. Ingo Günther lebt in Berlin.

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Malte Preuss stammt aus Bremen und studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim. Seit 1990 macht er Theatermusik (Gitarre, Computer, Gesang, Livemusiker, Komponist, Musikalischer Leiter). Er war Mitglied des »Theater Aspik« (u. a. mit Julia Lochte, Matthias Günther, Uli Jäckle, Ingo Günther). 1999–2007 war er fest als Theatermusiker, Schauspieler, Regisseur am Luzerner Theater engagiert (u. a. Die Pest, Das Totenhaus, Jakob von Gunten, Käthchen von Heilbronn, Haruki Murakamis Untergrundkrieg, Mädchenband, Franz Kafkas Käfer, Thomas Bernhards Frost). Er war Gast am Theater Basel (Taking care of baby, Pornografie, Berlin Alexanderplatz, Kabale und Liebe etc.) und machte die Musik zu Lulu, Gift am Schauspielhaus Bochum, Die Methode am Schauspielhaus Zürich, Chronik eines angekündigten Todes, Fegefeuer, Wilhelm Meister, Bei den wilden Kerlen am Schauspiel Hannover, Der Besuch der alten Dame, Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Kasimir und Karoline, Der Prozess, Die Jungfrau von Orleans, Drüberleben am Theater Freiburg, Jugend ohne Gott, Urfaust, Peer Gynt, Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten, Die Netzwelt, Hamlet am Hans Otto Theater/Potsdam, Die Räuber, Das fliegende Kind, Hamlet am Theater Münster, Lupus in Fabula, Kasimir und Karoline am Theater Heidelberg, Judith am Staatstheater Darmstadt. Auch für Radiohörspiele machte er Musik, u. a. beim SWR und SRF. Filmmusiken entstanden zu Kein Zurück – Studers neuester Fall und The Breeder. Diverse CD-Veröffentlichungen (Kriminalmuseum, One before closing, Zooming Kalliroi, Schauspielmusik – Trilogie auf Vinyl, Granulatsexrom und die aktuelle CD Malte Preuss 21:30). www.maltepreuss.com

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Theater Aspik ist eine freie Theatergruppe, die 1988 von Absolventinnen und Absolventen der Hildesheimer Kulturwissenschaften gegründet wurde. Siehe http:// www.theateraspik.de (zuletzt aufgerufen am 13. Dezember 2017). Der Studiengang Kulturpädagogik wurde 1979 an der Universität Hildesheim gegründet und gehört neben der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen zu den Wegbereitern und wichtigsten Vertretern einer »Praktischen Theaterwissenschaft« im deutschsprachigen Raum. Siehe: Kurzenberger, Hajo (Hrsg.): Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text, Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim, 1998. Ende der neunziger Jahre wurde der Studiengang in »Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis« umbenannt. Theater Mahagoni hatte 1981 im Studiengang Kulturpädagogik der Universität Hildesheim seinen Ursprung. Kernmitglieder waren Albrecht Hirche und Kathrin Krumbein, die als »hirche/krumbein productions« in Berlin weiterarbeiteten, Joachim von Burchard als »Theater M21« in Hildesheim/Göttingen, Carsten Hentrich als »Theater Fenster zur Stadt« in Hannover und Adrian Frieling in Athen.Siehe https://hirchekrumbeinproductions.wordpress.com/eine-seite/formerly-knownas-theater-mahagoni/ (zuletzt aufgerufen am 13. Dezember 2017). Im Studiengang Kulturpädagogik wählte man ein Hauptfach und ein Nebenfach aus drei möglichen Bereichen: Kunst, Musik und Theater/Literatur/Medien. Siehe: Bullerjahn, Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Augsburg 2001. Transeuropa wurde 1994 zum ersten Mal in Hildesheim ausgerichtet und findet alle drei Jahre als Festival für freie Gruppen in Europa statt. Das Peter Thomas Sound Orchester prägte mit Film- und Fernsehmusik u. a. zu Raumpatrouille Orion oder Winnetou, den Sound der sechziger und siebziger Jahre in der BRD. Murmel Murmel von Dieter Roth, Regie: Herbert Fritsch, Volksbühne Berlin, Premiere am 28. März 2012. Ohne Titel Nr. 1. Eine Oper von Herbert Fritsch. Regie: Herbert Fritsch, Volksbühne Berlin, Premiere am 21. Januar 2014. Der die mann nach Konrad Bayer. Regie: Herbert Fritsch, Volksbühne Berlin, Premiere am 17. Februar 2015. Peer Gynt von Henrik Ibsen, Regie: Alexander Nerlich, Hans Otto Theater Potsdam, Premiere am 23. April 2016. Edward Griegs Schauspielmusik von 1876 zu Henrik Ibsens Peer Gynt gehört zu den wenigen berühmt gewordenen Beispielen des Genres und findet sich in

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Form der Peer-Gynt-Suiten noch regelmäßig in Konzertprogrammen. Fritz Hauser (*1953) ist ein experimenteller Schlagzeuger und Komponist aus der Schweiz. Ein jüngeres Werk heißt z. B. ›Schraffur‹ für Gong und Theater (2011). Siehe auch: Ziltener, Alfred: »Fritz Hauser«, in: Kotte, Andreas (Hrsg.): Theaterlexikon der Schweiz. Band 2, Zürich 2005, S. 806–807. Geister sind auch nur Menschen von Katja Brunner, Regie: Heike M. Goetze, Luzerner Theater, Uraufführung am 7. Mai 2015. Hans Zimmer ist der derzeit erfolgreichste deutsche Filmkomponist in Hollywood und bekannt für häufig sehr monumentale Scores, die er mit einer Phalanx von Assistent*innen in einem riesigen Studio produziert. Siehe: Weigel, Markus: »Der Popstar der Filmmusik«, http://www.deutschlandfunkkultur.de/komponist-hanszimmer-wird-60-der-popstar-der-filmmusik.2177.de.html?dram:article_id= 395659 (zuletzt aufgerufen am 18. Dezember 2017). AMA steht im Theater für »Alles mit Allem« und bezieht sich auf Endproben auf der Bühne mit Kostüm, Maske, Licht und Ton. Der eingebildete Kranke von Molière, Regie: Herbert Fritsch, Wiener Burgtheater, Premiere am 5. Dezember 2015. Die Kassette von Carl Sternheim, Regie: Herbert Fritsch, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 3. Oktober 2015. Das ist eine bewusste Anspielung auf Heiner Goebbels’ Beschreibung seiner Doppelfunktion als Regisseur und Komponist: »In the past I used to answer the question about the relationship between composing and directing by taking advantage of both professions in order to get a creative distance towards the other medium: composing as a director, directing as a composer.« (Goebbels, Heiner: »›It’s all part of one concern‹: A ›Keynote‹ to Composition as Staging«, in: Rebstock, Matthias/Roesner, David (Hrsg.), Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes. Bristol 2012, S. 111–120. Vgl. Wicke, Peter: »The Art of Phonography: Sound, Technology and Music«, in: Derek B. Scott (Hrsg.): The Ashgate Research Companion to Popular Musicology, Ashgate 2009, S. 147–170. American Beauty von Sam Mendes, DreamWorks, 1999. Spiel mir das Lied vom Tod von Sergio Leone, Paramount Pictures, 1968.

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Bernadette La Hengst: »Das Feld, in dem ich mich kreativ äußern konnte, war mir zu klein« Ein Gespräch am 29. November 2016 per FaceTime und Telefon

Wie würdest du deine Tätigkeit beschreiben, welchen Begriff verwendest du dafür? Bernadette La Hengst: Theatermusikerin ist eigentlich nicht der richtige Begriff, weil ich ja auch immer mit auf der Bühne bin, auch als Performerin. Außerdem bin ich auch Regisseurin. Ich bin also eher Theatermacherin, würde ich sagen. Das ist mir auch wichtig, denn ich glaube nicht, dass ich über die reine Theatermusik, bei der man so im Hintergrund Sounds macht, zum Theater gekommen wäre. Bernadette La Hengst Foto: Christiane Stephan

Wie bist du denn zum Theater gekommen? BLH: Ich wurde 2003 gefragt, ob ich bei einem Stück mitmache. Als Vorgeschichte muss man noch wissen, dass ich ohnehin mal zum Theater wollte: Bevor mir klar wurde, dass ich Musikerin sein will, wollte ich Schauspielerin werden. Das habe ich auch ein paar Jahre lang in freien Gruppen gemacht und hatte dadurch schon einen Bezug zum Theater. Dann habe ich begonnen, Bands zu gründen. Ich habe aber auch gemerkt, dass es mich gestört hat, im Theater einen vorgegebenen Text zu haben und mit dem Regisseur einen meist männlichen Entscheider, der mir sagt, wie ich mich auf der Bühne zu bewegen habe. Das Feld, in dem ich mich kreativ äußern konnte, war mir zu klein. Außerdem hatte das Theater Ende der Achtziger in Berlin nichts mit meinem Leben zu tun. Das war mir zu abgehoben. Ich traf da auch nicht unbedingt Leute, die ich kennenlernen wollte. Es hatte nichts mit Rock’n’Roll oder Punkrock zu tun! Dann habe ich die All-Girl-Band Die Braut haut ins Auge gegründet und beschlossen: Ich werde meine eigene Regisseurin! Ich inszeniere

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meine eigene Kunst. Das war eine bewusste Entscheidung gegen das Theater, was mir zu verstaubt und zu eingeschlossen war. Musik sollte für mich anders klingen: Das hatte etwas mit Spontanität zu tun, wenig technischem Aufwand und sollte uns auch selbst ermächtigen. Das konnte ich am besten mit dieser Band, die es zehn Jahre lang gab [von 1990 bis 2000]. Während dieser Zeit hatte ich mit Theater sehr wenig zu tun. Das war auch eine Reaktion auf die Schauspiellehrer, die mir gesagt hatten: »Das wird nichts mit dir auf der Bühne«! Da dachte ich eben: »Die können mir doch nicht vorschreiben, ob ich auf eine Bühne gehen darf, oder nicht«! Und als ich das Theater schon längst in die Mottenkiste gesteckt hatte, kam es komischerweise wieder auf mich zu. Um die Jahrtausendwende hatte ich mich viel in politischen Netzwerken bewegt, mich mit Globalisierung, Gentrifizierung und Flüchtlingsbewegungen beschäftigt und habe in Hamburg eine Gruppe gegründet namens ›Schwabinggrad Ballett‹, mit der wir als ein Aktivisten-Kollektiv auf der Straße gespielt haben. Wir wollten diese Grenze verwischen zwischen den Aktivisten und den Musikern, die nach einem Auftritt vor solchen Gruppen gleich wieder verschwinden. Wir wollten Teil des Protests sein, aber mit anderen ästhetischen Mitteln: mit Musik, die wir gut fanden, aber eben auch mit so einer Art Straßentheater. Bei den aktivistischen Linken gab es natürlich auch eine gewisse Verstaubtheit der musikalischen Vorlieben – dagegen wollten wir etwas Neues ausprobieren. Das bewegte sich zwischen Brecht/Eisler-Songs, FreeJazz und Elektronik/ Techno, den man mit mobilen Instrumenten spielen kann. Inhaltlich ging es darum, als Kunstgruppe getarnt im öffentlichen Raum politische Demonstrationen durchzuführen. Wir waren daher auch ein Vehikel, um an Orten demonstrieren zu können, wo es eigentlich verboten war, wie z. B. in Grenzcamps. In Hamburg hatte z. B. Roland Schill1 zu Weihnachten Demonstrationen in der Innenstadt verboten, und wir haben dann als Performance-Gruppe gespielt und eben doch einige Leute mitgezogen. Mit Hilfe von Kunst war so eine Art politische Artikulation möglich. So hat das eigentlich alles angefangen. Es war eine Bewegung raus aus den geschlossenen Räumen des Theaters, aber auch aus den geschlossenen Räumen des Pop-Kontextes. Dort ist es oft ein ›preaching to the converted‹ [= offene Türen einrennen]. Es war für mich eine neue Form zu schauen, was und wen man mit Musik erreichen kann. Um diese Zeit ist auch ein Club entstanden, den ich mitgegründet habe, der ›Butt Club‹, in den auch viele Theaterleute kamen. So habe ich Matthias von Hartz kennengelernt. Der machte gerade am

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Schauspielhaus eine Veranstaltungsreihe, wo er politische Vorträge mit künstlerischen Formen zusammengebracht hat. Er hat mich dann eben 2003 gefragt, bei einem Stück mitzumachen, das Alles muss man selber machen – z. B. Globalisierung 2 hieß. Er hat mich aber weder als Schauspielerin noch als Musikerin, sondern als irgendwas dazwischen gefragt, bzw. eben auch als politische Aktivistin. So stand ich mit diesen drei verschiedenen Skills auf der Bühne und habe den Text mitgeschrieben und das Stück mitentwickelt. Da waren u. a. noch Claudia Wiedemer und Jochen Roller dabei, und das ergab so eine Zusammenarbeit, von der ich dachte: »Aha, so kann Theater also auch funktionieren!« Es kann Leute auf eine didaktische Art ansprechen, die aber auch Spaß macht. Die Inszenierung war eine Art Vortrag über Globalisierung und ihre Auswirkungen. Da waren meine Songs nur ein Teil des Abends, aber die Songs waren wiederum auch Teil des Textes. Für mich ist es als Theatermusikerin wichtig, dass es Songs sind, die Teil des ganzen Geschehens werden. Das war so der Anfang. Wie hattest du das gelernt, was dann in dieser Weise zum Einsatz kam? Musizieren, Texte und Songs schreiben, Arrangieren usw. Wie hast du dir dein skill set zusammengestellt? BLH: Ich hatte zehn Jahre lang Klavierunterricht, und das war schon wichtig, aber nicht das Wichtigste. Wichtiger war die Selbstermächtigung, eigene Lieder zu schreiben, und die Erfahrung, auf der Straße zu spielen, weil es in Bad Salzuflen in Ostwestfalen, wo ich herkomme, keine Bühne gab. Es gab dort schon eine Theatergruppe, aber da ging es um das Nachspielen von literarischen Vorlagen. Das Gitarrespielen habe ich mir selbst beigebracht, zuerst Cover-Versionen gespielt, bevor ich eigene Songs geschrieben habe, und bin damit durch Deutschland und Europa getrampt. Das war eine ganz wichtige Bühnenerfahrung. Wie schafft man das im öffentlichen Raum, laut genug zu sein, Präsenz zu schaffen, so dass die Leute stehen bleiben, so dass man in all dem Lärm Gehör findet. Und das Schreiben von Songs hast du ja vermutlich auch nicht auf einer Schule gelernt? BLH: Nein, so etwas wie die Mannheimer Popakademie gab es ja auch erst später, und ich halte da auch gar nichts von. Aber es gab in Ostwestfalen das Label ›Fast Weltweit‹ Mitte der Achtziger um ein Studio in Bad Salzuflen herum, das von Frank Werner gegründet wurde. Da waren Leute wie Bernd Begemann, Frank Spilker von den Sternen, Jochen Diestel-

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meyer von Blumfeld. Die habe ich dort kennengelernt, und die schrieben alle wie selbstverständlich ihre eigenen Songs. Das war so normal, dass ich dachte: Was die können, kann ich auch! Und dann habe ich das einfach getan. Dafür war das role model der Jungs schon wichtig, weil ich gemerkt habe, dass so etwas geht. Die bezeichnen sich einfach als Songschreiber und Künstler und fragen auch nicht danach, ob das Erfolg hat. Sie tun es einfach. So habe ich eben angefangen, Lieder zu schreiben, die dort aufzunehmen und damit auf die Bühne zu gehen, aber es war noch nicht so ernsthaft, dass ich gedacht hätte, das wird jetzt meine Zukunft. Wie hat sich dein theatraler Instinkt, der bei dir ja dazukommt, entwickelt? BLH: Theatralität habe ich dort nicht entwickelt, da wollte ich ja gerade weg von, weil mir das alles zu aufgesetzt war. Eine Rolle zu spielen, war mir eher zuwider. Es ging eher darum, authentisch zu sein – oder so etwas, obwohl dieser Zwang zum Authentischen ja auch furchtbar ist. Ich habe das später wieder abgelegt. Es geht eher darum, keine Rolle zu spielen, sondern herauszufinden: Wer bin ich als Person, auch als Mädchen, in einer sehr männerdominierten Pop-Landschaft? Wie kann ich meine eigene Stimme finden und diese laut und vehement nach außen tragen? Mit Die Braut haut ins Auge war das ein bisschen anders: Mit vier oder fünf Frauen auf der Bühne hat man auch eine enorme Kraft. Das war uns gar nicht so bewusst, da haben wir die Leute teilweise auch verschreckt, weil sie dachten, wir sind gewalttätige Emanzen – das waren wir aber gar nicht! Aber wir waren spielerisch mit Kostümen: ein Dirndl oder ein zerrissenes Brautkleid zu Springerstiefeln. Wir wollten auch eine Zerrissenheit vermitteln: Wir können sexy sein, aber wir sind auch Punkrockerinnen. Da ging es weniger um so ein Rollenspiel, wie Madonna das in dieser Zeit gemacht hat, sondern darum, man selbst zu bleiben, aber zu zeigen, dass man verschiedene Facetten hat. Das hat sicher auch bedeutet, sich von den Schablonen frei zu machen, die in dem männerdominierten Musik-Business für Frauen vorgesehen waren. Es scheint, als ob ihr da auch ein neues Bild von Weiblichkeit einfach behauptet habt? BLH: Es gab in den Neunzigern schon die ›Riot Grrrl‹-Szene aus Amerika, von denen wir sehr beeindruckt waren, aber wir waren halt nicht so. In einer verniedlichten Form gab es das in Deutschland z. B. mit Heike Makatsch – das war uns dann wieder zu harmlos. Es musste irgendetwas dazwischen sein. Es war eine Suche zwischen ganz normal, aber nicht

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langweilig sein. Ein Spielen mit weiblichen Bildern, die man im Kopf hat, beziehungsweise die andere im Kopf haben. Dann war Alles muss man selber machen schon so eine Art Initialzündung für eine andere Art, Theater zu machen? Eine Art der Arbeit, bei der du eine andere Form der Autorschaft empfindest, wo du nicht in einer vorgefertigten Rolle zu agieren hast? BLH: Genau. Hat sich daraus für dich eine Art Arbeitsprinzip entwickelt oder wäre das zu hoch gegriffen? BLH: Ja, wobei ich noch ergänzen sollte, dass ich kurz zuvor ein Theaterstück mit Till Müller-Klug entwickelt hatte, das hieß Die Liebespopulistin.3 Da war ich auch selber alleine als Musikerin auf der Bühne und war auch Mitautorin, aber mehr im Team: Das Stück war quasi um mich herum geschrieben. Es war also der Zeitpunkt gekommen, wo ich als Person gefragt war, meine Skills auf eine Theaterbühne zu bringen. Es war jetzt nicht so, dass dieses eine Format mich dahin gebracht hat, wo ich jetzt stehe. Das wäre zu viel gesagt. Aber Matthias [von Hartz] hat es eben sehr geschickt verstanden, das zu fokussieren und zu einem Prinzip zu machen. Danach wurde ich einfach immer wieder gefragt; der Impuls kam gar nicht von mir, mir das nächste Stück zu überlegen. Das nächste Projekt lief dann über das Theater Freiburg. Die brachten mich mit den Architekten und Stadtplanern von raumlaborberlin zusammen. Wir sollten mit Senioren in einem Altersheim in Freiburg einen Workshop machen.4 Ich habe dann mit einem Freund, Pastor Leumund, und den Senior*innen zusammen Lieder über die Zukunft gesammelt, und die haben wir dann auch aufgeführt, mit einem Film und einem kleinen Seniorenorchester. Das war jetzt kein Stück, sondern eher eine Performance oder ein Liederabend. Die Intendantin Barbara Mundel war aber ganz begeistert, wie wir das mit diesen Menschen gemeinsam entwickelt haben, und da habe ich zum ersten Mal mein Talent entdeckt, von dem ich bis dahin gar nicht wusste: dass ich mit sehr unterschiedlichen Gruppen von Leuten Dinge entwickeln kann. Als Nächstes hat mich Barbara Mundel gefragt ob ich mit Christoph Frick zusammen in Freiburg eine Bettleroper 5 machen möchte. Das war ein Projekt, das wir uns dann gemeinsam ausgedacht haben, mit Schauspieler*innen und sogenannten Bettlern, Leuten mit Obdachlosenerfahrung, mit denen ich einen Bettlerchor gegründet habe. Das

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war dann ein Stück passend zur Wirtschaftskrise 2008. Mit denen habe ich dann aus dem Probenprozess heraus Songs geschrieben, aus Texten, die wir zusammen entwickelt haben. Was ich interessant finde zu beobachten an deiner Arbeit, ist, dass du häufig mit Laien – im Sinne von: Menschen, die keine musikalische oder theatrale Ausbildung haben – arbeitest und daraus auch eine besondere Qualität entwickelst, gleichzeitig aber auch ein Interesse und ein Talent hast, dass das Resultat musikalisch gut klingt, gut produziert ist und nicht den Eindruck von betulich oder ›gut gemeint‹ macht. Wie moderierst du zwischen diesen möglicherweise im Konflikt stehenden Ansprüchen? BLH: Natürlich muss man immer schauen, wo die Leute am besten Zugang finden. Die Senior*innen schrecken Lautstärke und Beats eher ab, aber man kann sie daran gewöhnen. Ich habe jetzt schon dreimal Projekte mit Alten gemacht, und die, die sich nicht daran gewöhnen konnten, haben halt Ohrenstöpsel gekriegt [lacht]. Aber eigentlich waren alle am Ende immer sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Raus aus der Mottenkiste und rein in die moderne Welt, das hat denen schon auch gefallen. ›Betulich‹ heißt halt immer, dass man bei sich selber stecken bleibt. Es muss jetzt nicht mit Hauruck immer Hip-Hop werden, aber es muss schon etwas Neues erfunden werden. Ich bin ja auch eine Verfechterin von eigenen Liedern und eher gegen Coverversionen. Da kann man sich so schön gemütlich drin einrichten, aber das ist mir zu einfach. Gerade im Theater passiert das ja sehr oft, dass man Cover-Versionen nutzt, um sich an eine Zeit, an ein Lebensgefühl zu erinnern, an das dann alle Anschluss finden können. Das ist mir als Songschreiberin, aber auch als Künstlerin allgemein zu einfach. Ich glaube, dass es viel interessanter ist, wenn Leute ihre eigenen Gedanken in ein Lied packen. Damit hat das auch etwas zu tun, nicht nur mit der musikalischen Umsetzung. Das geht dann Hand in Hand. Wenn man sich etwas Eigenes ausdenkt, muss es auch eine eigene musikalische Form dafür geben. Meine Form sind eben Pop Songs, oft auch sehr tanzbare Pop Songs und mittlerweile auch oft Chöre. Dabei frage ich mich aber auch oft, wie gleichmacherisch so etwas ist. Kann man in einem Chor auch eine Vielschichtigkeit ausdrücken, verschiedene Stimmen hören? Ich möchte, dass man auch Differenzen hört in so einem Chor, gerade auch, wenn im Text Dinge diskutiert werden sollen und das Ganze nicht nur zum harmonischen Wohlklang dient.

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Theatermusik gilt ja oft als dienende Musik, die sich an die jeweiligen Stücke oder Projekte anschmiegt, unterschiedlichste Formen annehmen oder zitieren kann. Bei dir habe ich den Eindruck, dass sich eher die Projekte mit deiner unverwechselbaren musikalischen Handschrift auseinanderzusetzen haben. BLH: So ist es. So habe ich das ja auch eingangs beschrieben: Ich möchte mein Leben selber inszenieren und nicht inszeniert werden. Dabei muss ich natürlich aufpassen, dass ich nicht anfange, die anderen zu inszenieren, so dass es für mich passt. Auf dieser Gratwanderung bewege ich mich, weil ich meistens Projekte mit Laien und sogenannten marginalisierten Gruppen mache, die sonst nicht auf der Bühne stehen. Das wird ja mittlerweile in vielen Theatern gemacht, aber als ich damit vor zwölf, dreizehn Jahren angefangen habe, war das noch nicht so normal. Ich habe mir das selbst so angeeignet und versucht, auf die Bedürfnisse der Leute einzugehen, mit denen ich das mache, aber gleichzeitig meine eigene musikalische Vision nicht aus den Augen zu verlieren. Genau dazwischen bewege ich mich. Ich habe im Jugendknast in Hamburg mit zwanzigjährigen Kriminellen Musik gemacht, die da zum Teil für zwanzig Jahre im Knast sein müssen. Mit denen haben ich natürlich eher Hip-Hop gemacht, aber es hatte trotzdem meine Handschrift. Ich musste mich da nicht verbiegen, aber ich habe eben dafür gesorgt, dass es denen auch gefällt. Kunst und Musik haben für mich vor allem etwas mit Kommunikation zu tun. Ich glaube auch, dass es im Ergebnis spürbar ist, wie der Probenprozess oder der Prozess des Songschreibens verlaufen ist. Sowohl künstlerisch, rein menschlich oder auch politisch. Du wirst merken, ob ein Songschreiber anderen Leuten etwas aufgedrückt hat oder ob sie künstlerisch mit einbezogen wurden. Das versuche ich zu schaffen. Wie geht das? Wie gehst du dabei vor? BLH: Texte entstehen häufig aus Gesprächen, aus denen ich Dinge sammle und in ein singbares Format verwandle. Es bringt kaum jemand von sich aus einen Song mit, sondern ich unterhalte mich mit den Teilnehmer*innen über ihre Geschichte, ihre Themen, und das verdichte und ›verlyrisiere‹ ich dann. Ich habe z. B. ein Stück am Thalia Theater in Hamburg gemacht, Integrier mich, Baby 6, da hatte ich drei Leute aus verschiedenen Ländern aus Integrationskursen heraus gecastet und drei Schauspieler aus dem Haus. Ich habe dann mit einer Kolumbianerin ein ganz wunderbares Lied auf Spanisch geschrieben, eine Sprache, in der ich allein gar nicht schreiben könnte, und trotzdem konnte ich sie

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dahin coachen, dass es ein Songtext wird, der in das Stück passt und etwas aussagt. Ganz wichtig ist für mich auch, dass ich mir für jedes Projekt vornehme, nicht nur Stücke zu schreiben, die ganz speziell für diesen Abend gestrickt sind, sondern die später noch eine Gültigkeit haben, die man vielleicht auch auf einem Album zweitverwerten kann, aber die vor allem einfach eine Art Strahlkraft haben, die über das Theater hinausgeht. Sonst bleibt das bei so typischer Theatermusik stecken. Das interessiert mich nicht. Das ist dann tatsächlich Auftragsmusik, die nur für einen Theaterabend wirkt. Aber wenn ein Lied auch auf einem meiner Konzerte oder Alben funktioniert, dann ist das ein guter Song. Mir ist aufgefallen, dass die Theaterprojekte bei dir neben einer durchgängigen Karriere als Pop- und Rock-Künstlerin stehen, was nicht unbedingt typisch für den Bereich Theatermusik ist. BLH: Das ist mir auch total wichtig. Die Theatermusik-Arbeit ist ja immer auf ein Resultat hingedacht, wo man nach sechs bis acht Wochen ein fertiges Stück abliefern muss. Dann ist das Stück auch wieder abgespielt, und dann passiert da auch nichts weiter mit; auch nicht mit der Musik, die man dafür gemacht hat. Es ist sehr temporär und sehr zielgerichtet. Das inspiriert mich zwar auf der einen Seite, in bestimmte gesellschaftliche oder politische Themen einzutauchen, aber ich möchte mir zwischendurch den Freiraum nehmen, ziellos Lieder schreiben zu können. Und diesen Freiraum muss ich mir immer wieder schaffen, sonst bin ich zu eingeengt von diesem Theaterbetrieb. Dann kann ich mit diesem freien, weiten Blick auch wieder ins nächste Theaterstück hineingehen. Wenn man immer nur fürs Theater Musik schreibt, dann ist da zu wenig Zeit zum Proben, zum Improvisieren – es ist ja alles sehr festgezurrt im Theater, und diesen Rahmen muss ich immer wieder für mich sprengen. Lass uns noch mal einen Blick in deine Werkstatt werfen: Wie erarbeitest du die Songs, und wie entsteht daraus ein Abend? BLH: Es gibt zuerst immer das Thema. Entweder werde ich für ein Thema gefragt, wobei die Leute oft schon wissen, für welche Themen ich mich interessiere, oder ich gebe selber das Thema vor, wie bei der Produktion Bedingungsloses Grundeinsingen7 – da war ich ja selbst die Regisseurin. Dann ist es so, dass ich meistens vor Probenbeginn schon mal ein oder zwei Lieder schreibe, weil es dann leichter ist, einen Anfang zu fin-

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den. Die schreibe ich meistens an der Gitarre oder Klavier, aber meine Songs sind auch oft sehr beatlastig, und da ist der Laptop bzw. das Programm Logic für mich auch ein Instrument. Ansonsten entstehen die Lieder während des Prozesses, da man ja meist nicht vorher weiß, was einen erwartet. Es gibt bei uns ja auch meistens vorher keinen fertigen Text; auch der entwickelt sich erst im Probenprozess. Ich schreibe in der Regel mit den Beteiligten zusammen. Das letzte Stück in Freiburg war z. B. mit Senior*innen und jungen Geflüchteten. Ich habe mit denen darüber gesprochen, wo sie herkommen, wo sie hinwollen. Das war teilweise auf Arabisch, Französisch, und so spielen dann verschiedene musikalische Vorlieben mit hinein. Ich lasse mir oft, gerade von den jungen Leuten, ihre Lieblingssongs auf dem Handy vorspielen und orientiere mich daran. Da tauchen dann arabische oder afrikanische Zitate in den Songs auf. So lerne ich durch meine Theaterprojekte auch immer etwas dazu. Laptop und Logic sind dann sowohl Tools beim Schreiben als auch beim Einstudieren? BLH: Auf jeden Fall. Du benutzt aber vermutlich weniger Notation, oder? BLH: Das ist eher ein Vorspielen und Nachsingen. Ich kann zwar Noten schreiben, aber das bringt den meisten nichts. Ich hab schon mal mit Streichern gearbeitet, denen habe ich dann was notiert, aber normalerweise nicht. Und wenn andere Instrumente mitspielen, dann improvisieren wir das gemeinsam. Wie wird das dann live umgesetzt? BLH: Ich spiele meistens live Gitarre und habe dazu ein Playback vom Laptop. Das spiele ich auch alles selbst ein und mische es ab und bin somit quasi auch Produzentin. Was prägt dabei deinen Sound? Wonach gehst du? Was klingt für dich gut? BLH: Das hängt davon ab, wie viele Leute da mitmachen und mitsingen. Wenn ich mit Chören arbeite und habe einen Beat, dann muss man die Chöre natürlich noch hören, und es muss trotzdem fett klingen. Ich finde nichts schlimmer, als wenn man einen Beat produziert, und der wird dann viel zu leise im Theater abgespielt, weil die Theaterleute das nicht gewohnt sind, dass die Musik mal laut ist. Die zweite Gefahr ist, dass man die Sänger*innen nicht hört. D. h., man braucht immer mehrere

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Mikros. Es muss irgendwie ausgewogen sein: Die Idee von Beat, die ich im Kopf habe, ist schon so, dass es wie im Club funktioniert, aber dass man die einzelnen Stimmen trotzdem hört. Das muss man genau ausbalancieren. Da ich mittlerweile oft mit Menschen aus anderen Ländern zusammenarbeite, versuche ich natürlich, auch deren musikalische Backgrounds mit einzubeziehen. Da nehme ich dann auch mal eine Oud, eine Saz oder Percussion auf, oder lasse die Beteiligten das mitspielen. Ich entferne mich dabei aber nicht von meiner Art, Pop Songs zu schreiben, sondern versuche, das mit einzubeziehen. Arbeitest du dabei mehr mit Aufnahmen oder auch mit virtual instruments? BLH: Die Schlagzeug-Sounds sind so unterschiedlich. Manchmal nehme ich Sounds aus Logic, manchmal nehme ich sie selbst auf. Manchmal sind es Klänge, die etwas mit dem jeweiligen Stück zu tun haben. Insgesamt sind Klänge sehr wichtig im Theater und auch in der Popmusik. Nichts ist schlimmer, als irgendwelche zufälligen Sounds zu benutzen, die alle schon verwenden! Man muss es individuell finden. Jeder Sound ist wie ein Instrument. Man muss kreativ mit Sounds umgehen, im Theater, aber auch pragmatisch. Bei dem Stück Schwarzwaldstraße 8 in Freiburg haben wir z. B. mit einem 25-köpfigen Chor auf der Straße gespielt. Dafür habe ich mir eine neue Gitarre gekauft, so eine retro-futuristische Vox-Gitarre, die schon eine kleine Beatmaschine eingebaut hat. Dazu hatte ich noch so einen Umhänge-Verstärker – das macht aber mobil mehr her als nur eine Akustikgitarre. Ich wollte halt einen Beat und eine E-Gitarre, damit das nicht so klingt wie die Wandervögel. Ich überlege also immer: Wie will ich klingen, und was soll das bedeuten? So braucht eben jeder Rahmen und jedes Projekt einen neuen Sound, und da bin ich sehr experimentierfreudig. Da du selbst auf der Bühne stehst, bist du auf andere angewiesen, die Musik mit zu mischen und zu gestalten in den Räumen, in denen ihr spielt. Wie funktioniert das? BLH: Das ist schon immer ein bisschen ein Kampf und hängt stark vom Raum ab. Die meisten Theaterräume sind ja ziemlich schalldicht, aber nicht unbedingt für die Musik konzipiert, die ich mache. Und dann hängt es stark vom Tontechniker ab, aber die meisten sind da sehr kooperativ.

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Spielt es dabei eine Rolle, dass du dich als Frau in einer ziemlichen Männerdomäne bewegst? BLH: Nee, das ist bei mir mittlerweile unwesentlich. Dafür mache ich schon zu lange Musik. Ich kenne das Gefühl total, aber da, wo ich arbeite, kennt man mich, und da werde ich schon ernst genommen. Wie würdest du beschreiben, was du auf der Bühne bist? Du hast ja schon kurz erzählt, dass du dich eher nicht als Figur verstehst … BLH: Das hat sich ein bisschen verändert, weil ich jetzt so viel im Theater bin, dass ich keine Lust mehr hatte, immer nur Bernadette La Hengst zu spielen. Jetzt finde ich Gefallen daran, bescheuerte Kostüme auszuprobieren und tatsächlich so etwas wie eine Kunstfigur zu werden. Natürlich bleibe ich immer ich selbst – ich bin keine Schauspielerin –, aber ich mag es, mich selbst zu überhöhen. Bei Integrier mich, Baby war ich die ›Integrette‹ und hatte einen leuchtenden Globus auf meinem Kopf. Bei Planet der Frauen 9 in Freiburg war ich so ein Zwischending zwischen Drag King und Drag Queen, und beim letzten Stück in Freiburg war ich die ›Endlichkeit‹ – geschminkt als der Tod. Trotzdem erkennt man mich, glaube ich, immer. Was ich bei dir beobachte, ist eine Mischung aus einem politischen, auch aktivistischen Mitteilungswillen und gleichzeitig einem großen Bewusstsein für den Spaßfaktor von Theater. BLH: Ja, total! Das bringt es auf den Punkt. Ich glaube schon, dass Kunst etwas verändern kann und auch muss. L’art pour l’art hat mich noch nie interessiert, aber dabei ist es so, dass in verschiedenen Gesellschaften verschiedene Arten von Kunst durchaus subversiv oder provokant sein können. Liebeslieder können in einem arabischen Land extrem politisch sein. Ich habe neulich einen Film gesehen, in dem es darum ging, dass in Mali die Musik von den Islamisten verboten wird und die Musiker um ihr Leben fürchten.10 Man kann das also nicht generalisieren, und ich bin daher auch nicht dogmatisch und verlange, dass jeder politische Songtexte schreiben muss, aber ich glaube, dass sich jeder mit der Welt auseinandersetzen muss und dass das in die Kunst mit einfließen muss, auch schon durch die Auswahl der Stücke oder die Struktur einer Theatergruppe. Gibt es da nur eine*n Regisseur*in, oder gibt es mehrere Autor*innen? Inwieweit fließen die Ideen aller mit ein und werden wertgeschätzt – und auch bezahlt? Ich glaube, dass Theater im Moment mehr Menschen erreichen kann, als Popmusik es tut. Es kann weit ausschweifender sein als ein

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Rockkonzert. Es kann mehr antriggern. Gleichzeitig finde ich, dass das Theater die Türen noch weiter öffnen muss und nicht in geschlossenen Räumen bleiben darf. In Dresden gibt es ja z. B. diese tolle Bürgerbühne: So kommt das Theater mit den Leuten in der Stadt ins Gespräch – und nicht immer nur mit denselben Leuten. Es muss sich gerade auch mit den Menschen beschäftigen, die gerade in die rechte Ecke abdriften und mit niemanden mehr sprechen wollen, außer mit der AfD. Das Theater muss raus in die Stadt, und diese Projekte müssen auch ernst genommen werden, da muss für Nachhaltigkeit gesorgt werden. Sonst bleiben das so Image-Projekte: »Schaut mal, wir machen auch was Partizipatives«. Das ist auch ein bisschen das Dilemma, in dem ich zurzeit stecke. Ich werde dauernd für irgendwelche temporären Projekte gefragt, in die ich dann mein Herzblut stecke, aber in sechs Wochen oder drei Monaten ist halt nur eine bestimmte Art von Ergebnis möglich. Da würde ich viel lieber für längerfristige Projekte bezahlt werden.

Bernadette La Hengst ist Elektro-Pop-Musikerin und Theatermacherin aus Berlin mit einem Hang zu sozial-politischen Themen und utopischen Ideen. Mit ihrer Hamburger BeatPunk-Girlband Die Braut haut ins Auge rockte sie durch die Neunziger, seitdem ist sie solo unterwegs, das aktuelle 6. Solo-Album der ›Agitations-Chanteuse‹ Wir sind die Vielen erschien 2019 bei Trikont. Seit 2004 realisierte sie unzählige partizipative Theaterprojekte und Hörspiele als Musikerin, Regisseurin und Autorin zwischen Berlin, Hamburg, Freiburg und Bonn. 2003 erhielt sie für ihr bisheriges Gesamtwerk den Künstlerinnenpreis für Popularmusik in Nordrhein-Westfalen. www.lahengst.com

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Endnoten

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Schill war von 2001 bis 2003 Innensenator und Zweiter Bürgermeister von Hamburg. Alles muss man selber machen – z. B. Globalisierung von und mit Marion Baumgartner, Matthias von Hartz, Bernadette Hengst, Tanja Krone, Claudia Wiedemer, Martina Stoian, Steffen Dost und Jochen Roller, Sophiensæle Berlin, Uraufführung am 6. November 2003. Die Liebespopulistin von Till Müller-Klug und Bernadette La Hengst, HAU Hebbel am Ufer Berlin, Uraufführung im Januar 2004. Die Zukunft im Altersheim. Musikalisch-visionäres Projekt in einem Freiburger Altersheim von Bernadette La Hengst und Pastor Leumund, Theater Freiburg, Uraufführung 2007. Bettleroper. Ein Ensembleprojekt zu den Lebenslagen in Deutschland mit Musik von Bernadette La Hengst, Theater Freiburg, Premiere: 23. Januar 2009. Integrier mich, Baby von Bernadette La Hengst, Thalia Theater Hamburg, Premiere am 23. Oktober 2011. Bedingungsloses Grundeinsingen. Ein chorisches Coaching von Bernadette La Hengst, Sophiensæle Berlin, Premiere am 28. März 2013. Schwarzwaldstraße von Bernadette La Hengst, Theater Freiburg, Premiere am 23. Mai 2014. Planet der Frauen. Eine Kampfoperette von Maxi Obexer und Bernadette La Hengst, Theater Freiburg, Uraufführung am 23. März 2012. Mali Blues. Ein Film über die vereinende Kraft der Musik, Regie: Lutz Gregor, gebrueder beetz filmproduktion, Veröffentlichung 2016.

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Thomas Kürstner und Sebastian Vogel: »Wie klingt Welt?« Ein Gespräch am 20. September 2015 in München

Thomas Kürstner (l.) und Sebastian Vogel. Foto: Claudia Lehmann

Wie seid ihr zur Schauspielmusik gekommen? Und habt ihr schon immer als Team gearbeitet? Thomas Kürstner: Wir lernten uns kennen im Studium der Musikwissenschaft/Komposition in Halle und Leipzig. Bereits nach dem ersten Studienjahr haben wir Konzerte zusammen gespielt. Es war sehr schön dort, auch etwas elitär; aber mir war das alles zu verkannt. Wir wollten etwas machen, was nicht einfach so ein nie aufgeführtes Stück für sechs Gitarren im Innenhaus ist. Sebastian Vogel: Schon 1992 bekamen wir von der Oper Halle einen Kompositionsauftrag für eine Konzertreihe. Thematisch ging es um die Verbindung zeitgenössischer Fotografie mit Neuer Musik. Da sind letztendlich nicht sehr viele Leute hingekommen. Offenbar war die Musik tatsächlich sehr experimentell, obwohl gedanklich durchaus von Mussorgski inspiriert. Hatte das auch schon was Theatrales? TK: Das war insofern sehr theatral, weil wir sehr früh unsere Kompo-

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sitionen zu außermusikalischen Kontexten in Beziehung setzten. Die Musik kooperierte mit anderen Medien, z. B. Bildern oder Texten, und darüber entstand etwas gänzlich anderes. In diesem Fall war auch unser Instrumentarium sehr ungewöhnlich. Wir haben neben klassischen Instrumenten mit Hupen, Klingeln und Gegenständen gearbeitet, die man im Baumarkt bekommt. Es ging nicht nur um die Frage, wie klingt etwas, sondern auch: Wie sieht das aus? SV: Wie sieht es aus? Wie gestisch ist das? Letzten Endes: Was erzählt das? Gab es dafür Vorbilder und Einflüsse? TK: Wir waren sehr kirchenmusikalisch geprägt, haben dann aber im ersten Studienjahr in Halle sehr viele Komponisten kennengelernt. Wer mich z. B. stark beeinflusst hat, war Georg Katzer1. Ich bin mit den ganzen DDR-Hörspielen aufgewachsen, z. B. mit der Musik von Hans-Dieter Hosalla2, der auch im Berliner Ensemble war. SV: Mein Kompositionslehrer war Thomas Buchholz3. Wir sprachen eigentlich immer mehr über Bildende Kunst als über Musik. Aus der Frage, wie sich ein Bild von Dali anhören könnte, ergab sich fast von selbst eine Sehnsucht, Bilder zum Klingen zu bringen. TK: Mich hat auch die technische Seite sehr interessiert. Ursprünglich wollte ich Physik studieren, und das hätte ich vermutlich gemacht, wenn die Mauer nicht gefallen wäre. Ich hatte immer ein großes Faible für die technischen Aspekte der Musik von Stockhausen, Xenakis oder John Cage. Kompositionen für Bandmaschinen oder Kassettenrecorder fand ich großartig. SV: Davon inspiriert, präparierten wir Glascontainer mit Mikrofonen und rhythmisierten die Klänge der zerspringenden Flaschen. In einer anderen Komposition dieser Zeit beklebten wir eine Schallplatte von Bachs h-Moll-Messe mit einem Pflaster und verschmolzen den entstehenden arhythmischen Loop mit minimalistischen Strukturen für Piano und Schlagwerk. Gibt es auch etwas, von dem ihr sagt: Das ist mein Handwerk, das habe ich handwerklich gelernt? SV: Ich spiele Violine. TK: Ich komme eigentlich vom Schlagzeug, spiele aber am liebsten Vibrafon. Ein wichtiger Aspekt von Theatermusik liegt auch in der Entdeckung neuer Farben. Über die Jahre lernt man dann, das eine oder andere Instrument recht gut zu bedienen. Zudem haben wir unseren

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Umgang mit elektronischen Verfahren der Klangerzeugung mehr und mehr intensiviert und bauen modulare Synthesizer. SV: Die Verbindung von elektronischen Instrumenten mit klassischen Klangkörpern ist sehr inspirierend. Der Synthesizer im Orchester bildet einen wichtigen Teil unserer Lebenswelt ab. Wir unterschätzen das. Wenn ihr von modularen Synthesizern sprecht: Meint ihr dann prädigitale, analoge Geräte oder auch digitale ›virtual instruments‹ usw.? TK: Es gab mal diesen Streit zwischen ›virtuell‹ und ›analog‹. Beinahe eine Glaubensfrage. Mittlerweile hat sich das etwas verflüchtigt. Beide haben ihre Vorzüge. SV: Bei dieser Inszenierung4 arbeiten wir viel mit Mischformen, die ihre ganz eigenen Reize haben: analog, mit Samplern und Ableton Live. Das ist ein großartiges Programm und hat, muss man sagen, die Theatermusik stark beeinflusst. Eigentlich handelt es sich um ein eigenes Instrument. Welche Spuren hinterlassen solche Programme in eurer Musik? TK: Die Frage, welche Rolle Technologie spielt, interessiert mich sehr.

Ein Programm wie Ableton Live ist ja nicht nur ein Vehikel, eine Plattform, auf der man Musik macht, sondern vielmehr ein neues ästhetisches Konzept der Musikproduktion. Der Produktionsverlauf mit vielen Möglichkeiten des Eingreifens, der Veränderung, Dynamisierung bekommt eine andere Präsenz. SV: Vielleicht ließe sich das, übertragen auf die Musik, mit Kleist sagen: » … die Verfertigung des Gedankens beim Sprechen«. TK: Andererseits ist die Qualität der Samples heute viel besser. Früher brauchte man ein großes Orchester im Tonstudio, heute kann man das allein oder zu zweit machen. Manchmal ist es eben toll, wenn das Licht angeht, und es kommt so ein großer, emotionaler Klang. SV: Aber das betrifft nicht nur die Samples der großen libraries, sondern auch das Sampling selbst. Über die entsprechenden Algorithmen gelangt man zu wirklich neuen musikalischen Strukturen. In gewisser Weise ist das revolutionär für die Musikproduktion. TK: Vor 20 bis 30 Jahren hat man, wenn man nicht mit einem Live-Ensemble arbeiten konnte, eine relativ starre Konserve abgegeben, von der dann Tracks eingespielt wurden, die eben so waren wie sie waren. Man konnte da noch lauter oder leiser machen, aber das war es mehr oder weniger. Heute ist die Anschmiegsamkeit der Musik eine ganz andere, weil wir die Musik während des Entstehens fortwährend verändern können.

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SV: Das ist nicht immer nur ein Vorteil. Nimmt man einmal das An-

schmiegsame und das Monolithische als zwei verschiedene Arten von Theatermusik, so führt Letztere zu einem anderen Widerstand, der oft ganz gut ist, weil er den Text auf eine Art aufhält oder ausbremst und einen anderen Kontext aufmacht. Diese Sperrigkeit kann schnell ins Abseits geraten, weil natürlich alle mit der Idee im Kopf arbeiten, dass sich die Musik schon anschmiegt. Wohlfühlen kann Bewusstseinsprozesse auch behindern. TK: Man muss auch sagen, dass sich unsere Sehgewohnheiten durch Kino, Fernsehen, YouTube stark verändert haben. Im Film wird in entsprechenden Sequenzen z. B. immer eine Atmosphäre dazugemischt, weil man die Stille im Raum nicht aushalten würde. Es wäre äußerst seltsam. Ganz klar macht man so etwas auch im Theater. Wir sind es ja so gewohnt. Dann rauscht es irgendwo ein bisschen lauter, und man hat das Gefühl: Huch, der Satz ist jetzt wichtiger als der Satz davor. Heißt das, dass Schauspielmusik für euch immer auch Sound Design bedeutet? TK: Ich glaube, der Übergang zwischen Musik und Sound Design ist fließend. So arbeiten mittlerweile auch die musikalischen Abteilungen. Der gesamte Bereich der Akustik in den Theatern ist über die Jahre viel professioneller geworden. Mittlerweile arbeiten dort wirklich oft exzellente Leute, exzellente Musiker*innen. Wie sieht denn eine typische Arbeitsweise – auch wenn sie sicher von Projekt zu Projekt verschieden ist – aus? Womit fangt ihr an? Wie stark seid ihr bei den Proben? TK: Ich würde gern beispielhaft über die Arbeit mit Nicolas [Stemann] reden. Wir kennen Nicolas seit dem ersten Studienjahr im Reinhardt-Seminar. Es ist also wirklich ein weiter Weg, auf dem wir uns aneinander entwickelt haben. Seit etwa 1996 arbeiten wir kontinuierlich zusammen: jedes Jahr ein bis zwei, manchmal drei Produktionen. SV: Meistens treffen wir uns bereits weit vor dem eigentlichen Probenbeginn. Auch das hat sich mehr und mehr entwickelt: Mittlerweile sind es kleine Wochenend-Workshops, ein abgeschiedenes Hotel in Mecklenburg … Wer ist dabei? TK: Regie, Dramaturgie, Bühne, Kostüme und Musik und Video. SV: … das Kernteam …

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TK: … die treffen sich alle … SV: Wir lesen das Stück, besprechen mögliche Konzeptionen. Es gibt

erste musikalische Reaktionen auf einen Text: Wie könnte er klingen? Beim Bühnenbild: Wie könnte das aussehen, ebenso bei den Kostümen. TK: Diese Treffen sind sehr inhaltlich. Wir versuchen, uns darüber klarzuwerden, wie man das Stück oder den Text lesen könnte, loten Perspektiven aus, Problemzonen, Querverweise, Rezeptionsgeschichte, die Weltlage. SV: Im zweiten Schritt kommt man dann zur Ausstattungsökonomie: Was braucht man? Also: Was würde man sich wünschen, was hätte man gerne, und was kann man sich leisten? Das ist meistens in dieser Phase noch sehr unverschämt. Braucht man einen Chor? Braucht man ein Kind? Oder hundert? Braucht man ein Orchester? Ein Streichquartett? Zehn E-Gitarren? Im schlimmsten Fall sagt das Theater später, dass eigentlich für nichts Geld da wäre. TK: Aber das geht dann schon in der Regel irgendwie. Diese Treffen sind oft sehr schön. Das ist meistens so eine frei-assoziative Spinnerei. Sehr angenehm. Mal an einem Beispiel: Wie war das bei Kaufmann5, was waren so die Themen in der ersten Phase, wo man sagt, das drängt sich jetzt auf? SV: Wie bekommt man aus einem durchaus antisemitisch lesbaren Stück eine Inszenierung auf der Höhe der Zeit? TK: Und wie besetzt man das? Was macht man mit Shylock? Lässt man ihn weg? Tatsächlich haben wir eigentlich vorwiegend über Antisemitismus, Diskriminierung und Rassismus gesprochen; über den Kaufmann von Venedig nach 1945, auch über Sexualität, die ja im Text eine starke Bedeutung hat. SV: Wir haben uns auch mit dem kalifornischen Videokünstler Ryan Trecartin6 beschäftigt, der unterschiedliche Gruppen von Leuten über einen bestimmten Zeitraum in verschiedenen Spielsituationen miteinander filmte. Es geht um die Zuschreibung von Rollen: Opferrollen, Täterrollen. Das ist bei Shakespeare ein wichtiges Thema. TK: Worum es uns am Anfang auch ging, war eine Generationengeschichte: Eine ältere Generation hinterlässt Schuld und Schulden. David Graeber hat darüber ein Buch7 geschrieben, wo er versucht, das etymologisch herzuleiten – sehr interessant. Bezüglich des Kaufmann von Venedig heißt das: Wie kommt man aus dem Kreislauf heraus, dass die ältere Generation der jungen eigentlich einen Haufen Schulden hinterlässt?

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Und wie übersetzt ihr das für euch dann in Musik? Denkt ihr zuerst in Motiven, Harmonien, Besetzung, Klängen? Oder alles zusammen? TK: Eigentlich alles zusammen. Meistens geht es bei den ersten Treffen schon auch konkret um solche Stellen, die problematisch sind: Im Kaufmann von Venedig z. B. dort, wo einfach Lieder im Text stehen. Wir suchten nach grundsätzlichen Möglichkeiten, damit umzugehen. SV: Es ist ja alles noch sehr lose. Gewissermaßen ist noch alles erlaubt. Ein sehr inspirierender Zustand gemeinsamen Suchens. Was passiert dann? TK: Solche Treffen wirken nach. Wir arbeiten an ersten Entwürfen, schi-

cken uns diese gegenseitig zu. Einzelne Sequenzen spielen wir schon ein, schreiben vielleicht einen Chor oder bauen ein neues Instrument … je nachdem. Manchmal schreiben wir einen Text, um die Gedanken zu sortieren. Das alles passiert schon vor dem eigentlichen Probenbeginn? SV: Ja. Vielleicht könnte man es als eine Art Baukasten beschreiben: eine Mischung aus dem Zurückwirken des Textes, Erfahrung, Inspiration, ästhetischen Überlegungen, künstlerischem Mut und Vorsatz, aus der sich dann eine Setzung ergibt: eine Struktur, eine Ästhetik, die Festlegung, welche Instrumente man will. Gibt es auf der Bühne ein Piano, nimmt man noch ein Blasinstrument dazu oder doch besser Streicher, Schlagwerk? Nach der ersten Leseprobe fangen wir meistens schon an, Musik zu machen, besonders bei Nicolas. Dadurch bekommt der Text eine andere Höhe. Inwieweit sind die Schauspieler dabei involviert? Spielen die auch Musik oder singen? TK: Unterschiedlich. Es kommt immer auf die Fähigkeiten an. Da gibt’s ja am Theater eine große Bandbreite: Schauspieler, die sich nur sehr eingeschränkt musikalisch äußern können bis zu wirklich hochbegabten. SV: Beim Kaufmann von Venedig arbeiten wir z. B. mit Jelena Kuljić zusammen. Eine sensationelle Sängerin, die viel mit David Marton gearbeitet hat und mit der sich aus Improvisationen heraus wunderbare musikalische Strukturen entwickeln lassen. Das heißt, ihr seid beim Kaufmann auch sichtbar auf der Bühne. Wie versteht ihr dabei eure Rolle? TK: Vielleicht sollten wir von Zwischenrollen sprechen. Wir wollen das

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gar nicht so richtig – ich muss sagen, ich bin gerne nur Musiker –, aber es passiert immer wieder. Es hängt auch damit zusammen, dass wir mit Nicolas so viele Konzerte gespielt haben. Dort haben sich die Grenzen zum Theatralen, Szenischen, Performativen längst aufgelöst. Im Faust 8 hat uns Nicolas eine ganze »Expertenszene« eingeräumt. Wir spielen zwei Handpuppen – zwei alte Zausel, die das Helmi-Theater gebaut hat, und wir erzählen dem Publikum als vermeintliche Experten, was uns gerade im Moment über den Faust II so durch die Birne rauscht; das ist sehr lustig geworden. In jeder Vorstellung assoziiert man sich neu durch ein Dickicht von Realität, Text, Fantasien und Absurditäten: Was hat Goethe da gerade in Leipzig gemacht – oder in Wien, je nach Gastspielort, warum wollte er aus Auerbachs Keller unbedingt eine Pizzeria machen, was passierte eigentlich mit seinen zehn Söhnen auf seiner Italienreise … Da ist man natürlich kein Musiker mehr, aber wir werden als Figuren sehr bei uns belassen. SV: … und kriegen die Rollen eher angeheftet … TK: … weil wir so angesprochen werden. Aber wir ändern nichts … SV: Wir verkörpern nichts. Seid ihr bei den eigentlichen Proben oft anwesend? SV: Bei Nicolas – ja. Bei anderen Regisseuren auch mal nicht.

Und braucht ihr auch den Rückzug, dass ihr sagt: Jetzt müssen wir im Studio noch was fertig basteln? TK: Natürlich muss man möglicherweise noch ins Studio, um Dinge zu verfeinern, auszuformulieren, auf- oder auszuschreiben, aber eigentlich ist die Anbindung an den Probenprozess sehr sinnvoll. Das meiste passiert direkt auf der Probebühne. Text und Musik berühren sich sehr früh und dauerhaft, können idealerweise ineinander verwoben werden. Nicolas geht damit sehr musikalisch um. Zwischen euch und der Regie herrscht dann fließender Wechsel: Das ist noch Musik-Idee, das schon Regieanweisung? TK: Ja. Mal sagt Nicolas: »Hört da lieber auf, oder macht da weiter«, oder »jetzt brauch ich ’was«. Gleichzeitig können wir aber auch machen, was wir wollen: Es ist ein Geben und Nehmen, das von großem Vertrauen geprägt ist. Das klingt so, als ob das Verfahren, wie ihr Musik macht, zunächst auch viel mit Improvisation zu tun hat, also eher spielerisch und weniger konzeptionell ist?

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SV: Absolut. In Improvisationen verfestigen sich Gedanken. Idealerweise

trifft man auf einen brauchbaren, vielleicht schönen Kern. TK: Gerade als Theatermusiker ist man das gewohnt. Man sitzt vor einem Instrument, und jemand sagt zu dir: »Spiel!« SV: »Mach mal ’n Liebeslied!« oder: »Wir brauchen ’was ganz Wildes!« [lacht] TK: »Etwas Düsteres! Was zum Tanzen!« Dann kriegst du noch drei Melodien ins Ohr gesungen: »Woah, kennst du das?« Daraus wird dann irgendwas. Da sollte man dann anfangen zu spielen. Welches Instrumentarium nutzt ihr dabei? TK: Das ist sehr verschieden. Bei dieser Produktion arbeite ich z. B. ausschließlich mit Computer, MIDI-Keyboard und Elektro-Drum-Pads. SV: Ich benutze momentan ein Klavier, dazu ein rechnergestütztes MIDI-Keyboard. Welche Rolle spielt dabei Sound? SV: Verschieden. Wir mischen sehr oft Texturen und versuchen, deren Verhältnis zu akustischen Instrumenten zu finden. Wir arbeiten auch häufig mit einem Feldrekorder und nehmen selbst viel auf. TK: Mit Ableton lassen sich diese Aufnahmen mit allen möglichen Effektwegen wunderbar als Samples verwenden. So kann man aus jedem Ping [spielt ein Glas an] etwas ganz Großartiges machen. SV: Der aufgenommene Klang ist dann oft gar nicht mehr als solcher identifizierbar, sondern wird entweder zu einer Textur oder – mit einem großen Bereich variabler Parameter – auf einer Tastatur spielbar. Das versuchen wir dann wiederum, mit originär akustischen Instrumenten zu koppeln. TK: Eine Textur lässt sich ebenso mit verschiedenen Oszillatoren rhythmisieren. Dann stapelt sich das gewissermaßen auf. Gibt es einen bestimmten Grund, warum ihr so arbeitet? TK: Ich glaube, es gefällt uns, weil das viel mit uns als Menschen, mit un-

serer Freundschaft und unserem Arbeitsverhältnis zu tun hat. Sebastian ist deutlich stärker akustisch orientiert, bestimmt auch klassischer, ich viel eher elektronisch und rhythmisch. Da haben wir uns schon immer ergänzt: Bei Sebastian geht’s schneller in Richtung Bach, bei mir geht’s schnell mehr in Richtung Berio, und das ist ein weiter Weg. Es ist oft so, dass ich mit Synthesizern anfange, während Sebastian dazu Klavier oder Violine spielt. Das ist bei uns ein ganz klassischer Anfang, wo sich sofort etwas herstellt.

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SV: Vielleicht ist es eine Sehnsucht nach dem Verborgenen, wenn man in die Textur eines Synthesizers noch etwas hineinzeichnet. Mit einem akustischen Instrument. Vergleichbar mit einem Cantus firmus, der bereits in dieser Textur enthalten, aber nicht sichtbar ist. Vielleicht ist es dieselbe Sehnsucht, unsere reale Lebenswelt, in der uns sehr viele nicht-akustische, synthetische Klänge umgeben, mit irgendeiner [lacht] alten Lebenswelt zu verknüpfen, in der trotzdem ganz viel liegt, was man so mitschleppt. Das ist nicht immer gut, aber oft wahnsinnig befriedend. TK: Das hat sich teilweise zu einem Wechselspiel zwischen uns entwickelt: Je älter ich werde, desto emotionaler spreche ich auf Violine an, während Sebastian analog dazu auf Synthesizer reagiert, wenn er sagt, wie zärtlich das klingt, schier natürlich [lacht].

Wie ist überhaupt euer Verhältnis zu Sound? Wann klingt es für euch gut? Reagiert ihr da aus einer Art Intuition heraus? SV: Die gibt es garantiert, diese Intuition. Aber kann man das artikulieren? Wie kommuniziert ihr den Sound, den ihr sucht? TK: Das ist bisschen wie Instrumentierung. Natürlich schließen sich manche Dinge aus oder sind nicht elegant. SV: Manche Konstellationen scheinen laut gängigen Instrumentationslehren völlig absurd. Folgt man solchen Gedanken, ist man oft überrascht: Wie toll klingt das denn! Was für eine Kraft und Poesie, was für eine Schönheit! TK: Ich würde sagen: Es ist sehr viel Erfahrung. Man geht ein bisschen anders durch die Welt. Ich höre immer überall zu, wenn ich irgendwo bin. Das ist es, was mich interessiert: Wie klingt Welt? Das ist schon ein ganz entscheidender Unterschied zu Musik im konventionellen Verständnis, zu einer Symphonie. Die ist natürlich aus der Welt. Da gibt es eine heilige Stille, bevor der erste Ton kommt. Diese Stille gibt es für mich in diesem Sinne nicht. Ich habe immer das Gefühl, Welt zu thematisieren, auch zu rhythmisieren, zu phrasieren. Ich habe von einem Tonmeister aus Kanada gehört, Joby Baker, der beim Aufnehmen von Pop-, Soul- und Jazz-Alben immer ein Mikrofon in seiner Küche mitlaufen lässt, das die Geräusche aus dem Haus mitnimmt. Das hört man natürlich im Mix nicht mehr bewusst, aber es ist so ein ganz bisschen akustischer »Dreck«, ein bisschen »noise«9. Das

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fand ich interessant, weil die Entwicklung im Zuge der Digitalisierung ja lange in Richtung Klangpurismus und Rauschfreiheit usw. ging. TK: Wir bauten uns ganz aufwendig vor vier Jahren ein Studio. Benutzt haben wir das eigentlich nur ein Jahr. Seither haben wir so viele Aufnahmen gemacht, einfach in unseren Zimmern oder in Räumen, die gut klingen. Manchmal fährt ein Auto vorbei, manchmal zwitschern Vögel. Nie hat irgendwas gestört. Es ist eher so, dass diese akustische Verfransung mit Welt das Tonmaterial belebt und inspiriert. Diese Aufnahmen sind schon auf großen Leinwänden gelaufen und durch die Institutionen gegangen. Niemand hat das moniert. SV: Man lernt es zu schätzen, wenn die Sachen lebendig sind. Gerade auch für uns gewissermaßen auf der Bühne sozialisierte Menschen: Man lernt, auf eine bestimmte Art zu spielen, wenn man den Raum mitfühlt, mitdenkt und mitspielt. Jeder Theaterraum hat seinen sehr eigenen Klang, der auf die Komposition, Instrumentierung und die Art zu spielen, zurückwirkt. TK: Einerseits gibt der Raum etwas vor. Nicht minder wichtig ist die akustische Ausstattung: die Anlage, die Boxensysteme, das Mischpult. Alles spielt eine Rolle. Das sind alles gute Autos, aber die fahren sich alle anders [lacht]. Da kann man sich sofort etwas drunter vorstellen! Aber jetzt noch mal etwas anderes: Gibt es so etwas wie Arbeitsethik? Sachen, die ihr nicht macht? Auch wenn der Regisseur noch so bittet und bettelt? SV: Oft helfen gute Argumente. Wenn es solche Diskussionen gibt, wie argumentiert ihr? TK: Immer dramaturgisch. Man redet immer inhaltlich. Der Grund »Ich spüre das.« ist zu wenig. Der Regisseur ist da, um zu »spüren«. Wir sollten immer Begründungen haben. Nehmt ihr die Arbeit von Kolleg*innen stark wahr? TK: Ja, die gegenseitige Aufmerksamkeit, der Zusammenschluss unter den Kolleg*innen ist in den letzten Jahren gewachsen. Man kennt sich, auch persönlich, tauscht sich aus. Ich hab unlängst einen Kollegen in Berlin getroffen, Malte Beckenbach.10 Er meinte, dass es interessant wäre, ein Institut einzurichten, wo man Theatermusik studieren könnte. Klar! Auf jeden Fall gäbe es genug Studenten … Man tauscht sich auch mehr und mehr über Arbeitsweisen aus, technische Neuerungen, Programme und vieles mehr. Vor Kurzem ha-

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ben wir mit Ingo Günther11 gesprochen. Auf die Frage, was ihn gerade interessiere, antwortete er, dass er zwei elektronische Cembali nachbauen will. Es ist nicht mehr so ominös. Du hast von einem Institut für Theatermusik gesprochen, das es ja noch nicht gibt. Es gibt überhaupt keine dezidierte Ausbildung, und die Wege der Einzelnen, die in die Theatermusik gehen, unterscheiden sich zum Teil sehr. Was muss man mitbringen? TK: Ein abgeschlossenes Flötenstudium reicht unter Umständen nicht. Die Persönlichkeit ist sehr entscheidend. Als Mensch brauchst du sehr viel Kraft, Mut, Fantasie und auch Empathie. Niemand weiß genau, wie es geht, weil alles erst entsteht. Trotzdem musst du dich dort hinstellen. SV: Es ist auch sehr wichtig, wie man mit Verlusten umgeht. Unter Musikern ist das immer so eine Sache. Alle wursteln sich durch alles durch, und das ist nicht immer gut. Jeder kann bestimmte Sachen. Manches kann man einfach auch nicht. Im klassischen Bereich kann man sich viel schneller spezialisieren. Im Theaterbereich ist das kaum möglich. Andererseits birgt dieser Zwang zur Adaption großes künstlerisches Potenzial. Man muss aber ja nicht nur etwas von Musik verstehen, sondern auch von Theatervorgängen. Dazu gehört viel Erfahrung, und es ist vielleicht auch kein Zufall, dass die meisten Theatermusiker eine langjährige Zusammenarbeit mit einigen wenigen Regisseuren verbindet. Entwickelt sich so eine gemeinsame Sprache? TK: Sprache, Vertrauen und vor allen Dingen Diskurs. Man muss schon in der Lage sein, sich auch zu Themen zu verhalten. Musik beschäftigt sich ja nicht mit Musik. SV: Man beschäftigt sich eigentlich wenig mit Musik. Es geht eher darum, Sprache gemeinsam zu denken. TK: Unser Ansatz ist immer Sprache. Sprache an sich ist Musik. Jeder gute Satz ist Musik, sobald er gesprochen wird, rhythmisiert durch die menschliche Stimme, einzigartig durch den Sprecher oder die Sprecherin. Die Texte von Elfriede Jelinek sind hochmusikalisch. Ihr zieht die Musik aus der Sprache – gibt es auch das Umgekehrte, dass sich Szenen aus der Musik entwickeln? Früher war Theatermusik ja primär dienend, aber das hat sich heute verändert. TK: Mal so, mal so. Musik machen aus dem ›Geist der Sprache‹ meint ja nicht, dass immer jemand zuerst spricht, sondern eher, dass ich weiß, was kommt.

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SV: Es gibt einmal die Funktion von Musik, dem Text dienend zu sein, Szenen atmosphärisch zu verdichten und auf eine bestimmte Höhe zu heben. Oder aber: eine Musik, die einen Akzent, eine Energie, einen Gedanken vorgibt, die Aktionen hinter sich herzieht. Sie weiß natürlich, was die Sprache sagt, nimmt aber etwas vorweg, etwas, dem die Inszenierung mit größerer Wucht und Glaubwürdigkeit folgen kann. TK: In den Arbeiten mit Nicolas ist es oft so, dass Musik und Sprache gleichzeitig beginnen, sich ineinander verweben. Irgendwann wird die Musik so laut, dass man die Schauspieler*innen nicht mehr versteht. Jetzt könnte man sagen: Das geht doch nicht! Aber das ist Energielogik. Nicht zuletzt sind wir im Theater auch für die Widerstände und Gegenpole zuständig. Z. B. zu einer Trockenheit der Sprache, zu einer ewigen Sinnschleife, bei der man denkt: Das hab ich doch jetzt schon dreimal gehört, jetzt muss etwas passieren. Da geht es letztendlich auch um Auslöschungen und Indifferenzen.

Musik nicht nur Dienstleister, sondern auch Element, das sich gegen etwas stellt? SV: Es ist natürlich wichtig, was da gesprochen wird, denn daraufhin ist es ja konzipiert. Aber es gibt eben einen Gesamtklang. Wenn Sprache mit Musik verschmilzt, wird der Wirkmechanismus eines Gedankens ein anderer: Er wird körperlicher. Dadurch, dass Musik die Sprache ohnehin beherbergt, kann man darauf verzichten, jedes Wort zu verstehen. Die Dialektik dieses Gedankens ist fundamentaler Natur und berührt die verschiedenen Genres in ihrem Selbstverständnis. Wir denken Schauspiel von der Musik her, Oper aus der Sprache heraus. So verfransen sich die Gattungen. Das hätte Adorno nicht gefallen. Ist aber sehr spannend. Wie viel Spielraum lasst ihr euch während der Aufführungsserie, Dinge noch zu verändern? TK: Inszenierungen sind häufig am Tag der Premiere nicht fertig. Natürlich ändert man Dinge, die nicht funktionieren. Oft findet man den Groove einer Inszenierung erst nach einigen Aufführungen. Veränderungen von Kleinigkeiten, Timing, Tempi oder Dynamik sind sehr mächtig. Arbeitet ihr mit klassischer Notation? SV: Zum Teil. Gegen das Vergessen schreiben wir auf.

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Fixiert ihr das schriftlich, oder wird das ins Diktafon gesungen? TK: Wenn wir nicht mit klassischer Notation arbeiten, stehen in den

Textbüchern z. B. jeweils die Arten der Sounds, Parameter, Tonalitäten, einzelne Töne, die zu spielen sind. Oder es gibt Fotos vom Synthesizer, auf der entsprechende Einstellungen sichtbar sind.

Thomas Kürstner wird 1972 in Weimar, Sebastian Vogel ein Jahr zuvor 1971 in Magdeburg geboren. Während des Studiums begegnen sie einander: Beide haben sich für ein Studium der Musikwissenschaft, Komposition und Germanistik in Halle immatrikuliert – später werden sie es in Dresden, Wien und Berlin fortsetzen, beide interessieren sich für die Vorlesungen derselben Professoren, Gerd Domhardt, Thomas Buchholz, Carl Ferdinand Zech und Günter Hartung – den nachhaltigsten Eindruck aber hinterlassen Gespräche, die sie miteinander führen: über dieses und jenes, über das Tagespolitische, die Kunst der Fuge oder die kleinen und großen Fragen des Lebens. Auch das Theater entdecken sie gemeinsam: Seit vielen Jahren arbeiten sie an zahlreichen deutschsprachigen Bühnen in Berlin, Hannover, Basel oder Zürich. Sie geben Konzerte, schreiben Filmmusiken, 2001/02 binden sie sich fest an ein Theater, als musikalische Leiter gehen sie an das TAT in Frankfurt am Main. 2003 wechseln sie als Komponisten und Hausmusiker nach Wien ans Burgtheater. Dorthin folgen sie Nicolas Stemann: Seit Hamlet arbeiten sie zusammen, in Das Werk; Babel; Ulrike Maria Stuart; Die Brüder Karamasow oder Die Räuber. Am Thalia Theater und an den Münchner Kammerspielen setzt sich ihre Zusammenarbeit mit Stemann bei Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns und Wut; Lessings Nathan der Weise, Shakespeares Kaufmann von Venedig und Goethes Faust (I&II) fort. Mit Fritz Kater/Armin Petras schreiben sie für das Theater Bremen zwei durchkomponierte Musiktheater-Adaptionen: Anna Karenina und Wahlverwandtschaften.

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Georg Katzer, geb. 1935 in Habelschwerdt, Schlesien, gest. in Zeuthen 2019, war Meisterschüler von Hanns Eisler an der Akademie der Künste Berlin (Ost). Seit 1963 lebte Katzer als freischaffender Komponist in und bei Berlin. Er war Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Akademie für Elektroakustische Musik in Bourges/Frankreich. Siehe http://www.georgkatzer.de/ (zuletzt aufgerufen am 28. August 2017). Hans-Dieter Hosalla, 1919 –1995, war eine Film-, Hörspiel und Theaterkomponist der DDR. 1970 erschien z. B. eine Schallplatte seiner Arbeiten für das Berliner Ensemble: Lieder, Chöre, Musiken zu Aufführungen des Berliner Ensembles. Siehe https://www.discogs.com/de/Hans-Dieter-Hosalla-Berliner-Ensemble-LiederCh%C3%B6re-Musiken-Zu-Auff%C3%BChrungen-Des-Berliner-Ensembles/release/5503952 (zuletzt aufgerufen am 28. August 2017). Thomas Buchholz, geb. 1961 in Eisenach. Gesangs- und Kompositionsstudium in Leipzig. 1988 –1992 wissenschaftlicher Assistent für Musiktheorie an der Martin-Luther-Universität in Halle (S.). Seit 1999 Professor für Komposition am Staatlichen Komitas-Konservatorium Eriwan (Republik Armenien). Siehe buchholz-komponist.org/vita.html (zuletzt aufgerufen am 28. August 2017). Das Interview fand während der Probenzeit zur Nicolas Stemanns Inszenierung von Shakespeares Kaufmann von Venedig 2015 an den Münchner Kammerspielen statt. Kaufmann von Venedig war Stemanns Eröffnungspremiere zur neuen Intendanz von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen 2015. In der Spielzeit 2016/17 machten Felix Rothenhäusler und Tarun Kade aus The Re’search von Ryan Trecartin eine vielbeachtete Uraufführung an den Kammerspielen als musikalisches Sprachkunstwerk. Siehe das Interview mit Matthias Krieg in diesem Band. Graeber, David: Schulden: Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart 2012. Nicolas Stemanns achtstündiger Faust I + II hatte 2011 bei den Salzburger Festspielen Premiere. Siehe: Hegarty, Paul: Noise/Music: A History, London 2007; Kendrick, Lynne/Roesner, David (Hrsg.), Theatre Noise. The Sound of Performance, Newcastle upon Tyne 2011. Siehe das Interview mit Malte Beckenbach in diesem Band. Siehe das Interview mit Ingo Günther in diesem Band.

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Nils Ostendorf: »Alles, was ich nicht sofort definieren kann, finde ich interessant« Ein Gespräch am 27. Juni 2016 in München

Wie nennst du deinen Beruf? Nils Ostendorf: Ich bezeichne mich als Musiker, nicht speziell als Komponist, weil ich denke, dass Komponieren eine Form der Arbeit ist, die in der Schauspielmusik – wie ich sie verstehe – nicht unbedingt immer im Vordergrund steht. Es geht ja nicht nur um den Prozess, zu Hause im Studio zu sitzen und sich Musik für ein Stück zu überlegen und zu produzieren, sondern die Arbeit am Theater ist wesentlich vielschichtiger. Meistens arbeite ich ja an der Schnittstelle von Musik und Sound Design, oder ich bin Nils Ostendorf Foto: Oliver Schultz-Berndt gleichzeitig ›musical supervisor‹ und wähle ein Musikstück für eine bestimmte Szene aus. Ein anderes Mal studiere ich Musik mit Schauspielern oder Livemusikern ein – das ist genauso in meiner Arbeit mit inbegriffen, da sehe ich gar keinen Unterschied. Es geht mir darum, dass ich einen Sound für einen Abend finde, dass ich Tonmaterial finde, das schon in der Probe eine Atmosphäre herstellt, die den/die Regisseur*in oder auch die Schauspieler*innen ›triggern‹. Ich bin also künstlerischer Mitarbeiter eines Teams, das zusammen in einem mehrwöchigen Arbeitsprozess einen Theaterabend gestaltet, und nicht jemand, der zum ersten Probentag kommt und sich danach zu Hause einschließt und etwas komponiert, um dann in der letzten Woche zurückzukommen und die Musik anzulegen. Es gibt Kolleg*innen, die machen das so, und manchmal wünschte ich mir, es wäre bei mir auch so und ich müsste nicht so viel Zeit auf Proben verbringen, aber es ist für meine Arbeit schon wichtig, dass ich das tue.

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Wie bist du in der Theatermusik gelandet? NO: Ich habe an der Folkwang [Universität der Künste, Essen] Jazz-Trompete studiert, auch mit dem Ziel, Jazz-Trompeter zu werden, wurde dann aber auch mit der harten Realität konfrontiert. Unabhängig davon hatte ich aber auch schon zu meiner Studienzeit vor allem zu Tänzer*innen Kontakt und habe da interdisziplinäre Projekte realisiert. Nach dem Studium habe ich dann bei einem größeren Tanzprojekt des Choreografen Samir Akika, jetzt Leiter der Tanzabteilung am Theater Bremen, als Musiker mitgewirkt. Ich habe am Anfang insgesamt mehr Tanzprojekte gemacht, was auch eine gute Schule ist. Ich bin damals auch viel nach Wuppertal gefahren und habe die Pina-Bausch-Produktionen gesehen. Inwiefern ist Tanztheater eine gute Schule? NO: Weil Musik hier im Vergleich zum Theater mehr im Vordergrund steht und die Musik an sich schon eine Welt erzeugt und den dramaturgischen Rahmen des Abends setzt, ohne dass es ein aufwendiges Bühnenbild oder Video gibt. Mittlerweile bin ich aber auch nicht unglücklich, im Sprechtheater gelandet zu sein, weil konkrete Inhalte behandelt werden und ich mich mit vielen der Themen persönlich mehr identifizieren kann oder das Gefühl habe, dass es gesellschaftliche Relevanz hat und mich das inspiriert. Das Tanztheater empfinde ich oft als überästhetisiert und aussagearm. Jedenfalls war ich dann 2005 bei einer Tanzproduktion namens Loca Mierda1 dabei, die wir mit Samir Akika auf Kuba realisiert haben. Da war ein französischer Dramaturg dabei, Mikaël Serre, der eigentlich selber Regisseur war und der mich im Anschluss für mehrere Produktionen engagierte, bei denen ich als Bühnenmusiker mit Trompete, Klavier und Computer auf der Bühne stand. Dann ging es relativ schnell: Wir hatten ein Gastspiel in Paris, und zur selben Zeit war Thomas Ostermeier dort. Wir spielten auch noch ein Stück von Marius von Mayenburg2, und so kam die ganze Schaubühnen-Mannschaft eines Abends ins Theater. Thomas fand das, was ich da machte, wohl ganz gut, und als ich ihn zufällig am nächsten Tag im Thalys auf dem Weg von Paris nach Liège traf, sprachen wir länger miteinander. Er brauchte für eine Produktion in München noch kurzfristig einen Musiker und hat mich dann gleich engagiert. Das war 2007. Dann haben wir in München Die Ehe der Maria Braun3 gemacht, was dann auch gleich zum Theatertreffen eingeladen wurde. Seitdem arbeite ich sehr viel mit Thomas zusammen.

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Wie hast du gelernt, was du heute brauchst? NO: Viel learning by doing auf jeden Fall. Was auch hilft, ist ein großes Interesse an unterschiedlichsten Musikstilen zu haben: Jazz, klassische und zeitgenössische Musik, ganz abstrakte experimentelle Musik, elektronische Musik, Weltmusik. Viel Hören und einen großen musikalischen Horizont haben gehört zu den Voraussetzungen. Was die Fertigkeiten betrifft, braucht man natürlich auch technische. Man muss die Musik in Eigenregie produzieren können, das muss man sich irgendwie draufschaffen. Ansonsten kommt es eben darauf an: Wenn es für eine Produktion ein Streichquartett sein soll, dann muss ich eben schauen, wie man für Streichquartett schreibt. Das höre ich häufiger, dass sich die Musiker*innen von Projekt zu Projekt neue Dinge erarbeiten. NO: Das macht es ja auch interessant, weil man ständig neue Sachen lernt oder sich mit einer bestimmten Musikrichtung näher beschäftigt, mit der man sich sonst nicht unbedingt auseinandersetzen würde. Gibt es für dich typische Funktionen von Theatermusik? NO: Ich persönlich versuche, eher intuitiv und räumlich als konzeptionell oder dramaturgisch zu arbeiten. Ich versuche schon, Situationen zu unterstützen und Atmosphären zu schaffen, in denen der/die Schauspieler*in agieren kann, statt kontrapunktisch zu arbeiten und mit der Musik Stimmungen im Raum zu brechen. Ich mache auch lieber Musik bzw. Sound unter den Szenen als zwischen den Szenen. Es interessiert mich mehr, Sound und Sprache und Schauspieler*innen zusammenzukriegen, als jetzt diese typischen Szenen- und Aktübergänge zu schaffen, die man wahrscheinlich als eine klassische Funktion von Theatermusik definieren würde: Wie komme ich von Szene A zu B? Wahrscheinlich bin ich seit jeher aber auch mehr vom Film beeinflusst und wie Musik da eingesetzt wird. Wie ist bei dir der typische Arbeitsverlauf? NO: Ich mache ja sowohl Musik zu Theaterstücken als auch zur Stückentwicklungen, z. B. am Gorki Theater mit Yael Ronen. Wenn es ein Stück gibt, lese ich das und schaue, was das beim ersten Lesen so bei mir auslöst. Dieser erste Eindruck und die erste kleine Idee ist meistens der Startpunkt, woraus dann die Musik entsteht.

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Und worin besteht diese erste Idee? NO: Oft aus einer Vorstellung für einen Sound oder eine Instrumentation. Thematisch oder melodisch arbeite ich sowieso eher weniger. Es ist eher ein bestimmter Sound, der für mich einen Abend trägt. Wir haben z. B. den Othello 4 gemacht: Da ging es uns darum, diesen Exotismus auch in der Musik zu haben. So kamen wir eben darauf, eine AfroBeat-Band auf die Bühne zu stellen. Bei Maß für Maß 5 haben wir nur mit Renaissancemusik gearbeitet, bei Richard III 6 nur mit Schlagzeug und einer Synthesizer-Spur. Es ist so ein Grundsound, den ich dann höre oder auf den man sich beim Gespräch mit dem/der Regisseur*in einigt. Klar kann es auch sein, dass der/die Regisseur*in von Anfang an eine ganz spezifische Musikvorstellung hat, oder den Wunsch äußert, dass es Livemusik und eine bestimmte Instrumentation sein soll. Dennoch reagiert die Musik nicht auf eine fertig geprobte Szene, sondern steht mit am Anfang der konzeptionellen Überlegungen? NO: Absolut. Aber entscheidend ist dann doch immer der Moment der ersten Probe, wo es dann szenisch zusammenkommt. Man sieht und hört dann meistens sehr schnell, ob das, was man sich überlegt hat, funktioniert oder nicht. Das geschieht dann auch gleichzeitig – also die Schauspieler*innen spielen nicht erst die Szene, und danach überlege ich mir, was da wohl für Musik passen könnte, sondern ich mache gleich mit und spiele von Anfang an Sound ein und manipuliere den live. Wie wichtig ist für dich der Bühnenraum, der ja meist auch weit vor Probenbeginn konzipiert ist? Wie stark denkst du den mit? NO: Den Bühnenraum denke ich schon stark mit, die Musik wirkt ja z. B. in einem breiten und offenen Bühnenbild ganz anders als in einem geschlossenen Raum. Mir hilft es, wenn das Bühnenbild an sich schon eine starke Atmosphäre ausstrahlt und die Musik mit dieser interagieren kann. Auf der Probe arbeitest du, wie du beschrieben hast, sozusagen live mit den Schauspielern, entwickelst Dinge im Moment. Mit welchem ›Besteck‹ operierst du dabei – wie kann ich mir so eine Probe vorstellen? NO: Ich bereite Sachen zu Hause vor und kann sie dann auf der Probe einspielen; meist Einzelspuren, wo ich einzelne Elemente hervorheben oder stummschalten kann – manchmal nur eine Soundfläche, manchmal nur ein Soloinstrument. Oft merkt man beim Proben, dass es oft viel weniger musikalische Information braucht, als man sich zu Hause vorgestellt hat.

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Zum Teil sample ich auch Sachen auf der Probe und puzzle sie spontan zu etwas zusammen, das ich dann als ›dummies‹ benutze, oder ich lege Tracks übereinander – es ist tatsächlich eher intuitiv-experimentell in dem Moment, und ich arbeite das dann erst später aus. Manchmal ist dann aber auch der erste, eher chaotische Ansatz besser, als das, was ich dann mit Abstand im Studio mache. Im besten Fall kann ich auf der Probebühne als Mitspieler agieren, die Temperatur im Raum mit Sound und Musik verändern und mit den Schauspieler*innen interagieren. Und das passiert mit Computer und Keyboard oder auch mit der Trompete? NO: Nein, eigentlich immer am Computer. Wenn ich tatsächlich mal mit der Trompete auf der Bühne stehe, dann im Rahmen einer Band, und dann sind die Sachen vorweg mehr vorbereitet und definiert. Klar, ich habe auch Stückentwicklungen gemacht, wo ich als einzelner Musiker mit Trompete/Computer/Keyboard auf der Bühne bin; das war dann aber oft insgesamt eine sehr improvisatorische Herangehensweise, wo man auf der Probe miteinander ›gejammt‹ hat. Das kann großen Spaß machen, manchmal ist es aber schwer, die Sachen zu reproduzieren, die sich in einer halbstündigen Improvisation ergeben, oder man hat das Gefühl, nicht die gleiche Energie wieder einfangen zu können. Da ist es einfacher, von außen mit dem Computer als Klangregisseur zu fungieren. Womit arbeitest du auf dem Computer? (Siehe auch: Abb. S. 255) NO: Ich produziere mit Logic, aber am Theater wird halt alles mit [Ableton] Live gemacht, und damit arbeite ich auf der Probe auch, quasi als Abspielgerät. Früher habe ich in Logic noch mit virtual instruments gearbeitet, versuche, das aber eher weniger zu tun. Ich kaufe mir eher analoge Synthesizer und versuche, im Studio mit richtigen Instrumenten zu arbeiten. Wenn es natürlich mal Orchesterklänge sind, dann verwende ich schon Samples, weil dafür auch das Budget gar nicht da ist. Ich arbeite aber häufig mit Einzelmusikern, mit Vorliebe mit Gitarristen, zusammen und mache dann zweibis dreistündige Aufnahme-Sessions, bei denen ich möglichst viel Material sammle. Ich lasse die Musiker dann auch improvisieren oder verlange manchmal nur bestimmte Sounds oder drones von denen. So entstehen meine eigenen sample libraries, die ich dann immer wieder mal verwende. Du arbeitest viel auf Proben? NO: Ja, ich ziehe mich eigentlich nur zurück, wenn es mal etwas Komplizierteres zu produzieren gibt, aber dann auch nur für zwei bis drei Tage,

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Nils Ostendorf im Studio. Foto: Oliver Schultz-Berndt

weil ich sonst das Gefühl habe, den Anschluss zu verlieren. Klar gibt es den Komponierprozess, wo man einfach allein in einem Raum sitzen muss und höchste Konzentration braucht. Trotzdem muss ich immer wieder kontrollieren, ob das immer noch stimmt, was ich da mache. Es geht ja schnell, dass sich im Probenprozess die Richtung mal ändert oder während der Probe ganz spontan Ideen entstehen, die musikalische Unterstützung brauchen. Ein permanenter Dialog also. Was für Rückmeldungen bekommst du von den Schauspieler*innen? NO: Sie sagen schon mal, dass ihnen die Musik hilft, oder vermissen sie auf der Probe danach, wenn sie mal fehlt. Sie sprechen nicht viel mit mir, aber oft vertrauen sie mir und lassen mich gewähren, was auch sehr wichtig für mich ist. Es gab schon Situationen mit Schauspieler*innen älteren Semesters, die nicht so erfreut waren, wenn ich in deren Monolog Sound eingespielt habe, das blockiert dann schon. Lässt du die Schauspieler*innen auch singen? NO: Das kommt schon vor, wenn es Sinn macht, für eine Szene passt, und ein*e Schauspieler*in eine außergewöhnlich gute Stimme hat.

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Meist bin ich aber kein Fan von Gesangsnummern bei Schauspieler*innen. Oft hat das keinen besonderen Mehrwert, außer dass es unterhaltend ist. Klar gibt es Songs, die eine ganz bestimmte Message oder Atmosphäre erzeugen, und das kann schon mal toll funktionieren. Aber hier mal eine Popnummer, um den Abend aufzupeppen, ist nicht mein Ding. Ich bin auch skeptisch, was musizierende Schauspieler*innen auf der Bühne angeht: Manche Regisseur*innen glauben ja, dass jede*r Schauspieler*in jedes Instrument innerhalb von acht Wochen lernen kann … Wenn Leute wirklich Talent haben, ist das o. k., aber ansonsten möchte ich, wenn ich ins Theater gehe, nicht unbedingt jemanden sehen, der gerade mal zwei Akkorde auf der Gitarre spielen kann. Klar, kann es auch mal absichtlich ›trashig‹ sein, aber das interessiert mich nicht so. Wenn du selbst auf der Bühne stehst, als was siehst du dich dann? NO: Ich bin da sozusagen mein professionelles Selbst. Ich versuche, möglichst nicht eine Figur zu sein. Ich bin nicht so der Performer, und ich sehe das auch selbst im Theater nur ungern, wenn Musiker versuchen, sich schauspielerisch zu profilieren. Bei David Marton oder [Christoph] Marthaler, die ganz gezielt damit arbeiten, ist das etwas anderes.7 Du hast schon erwähnt, dass der Computer eine große Rolle für deine Arbeit spielt. Kannst du das noch etwas ausführen? NO: In erster Linie ist er für mich ein Hilfsgerät beim Aufnehmen und Abspielen. Gerade wenn man im Theater mehrkanalig arbeitet, ist es schon eine wahnsinnige Hilfe, und es ist auch viel einfacher geworden, räumlich zu denken. Es macht auch besonders viel Spaß, die Toneinrichtung zu machen und den Sound durch den Raum wandern zu lassen und an verschiedene Lautsprecher zu senden, vom kleinen Kofferradio auf der Bühne bis zum Subwoofer unter den Sitzen im Zuschauerraum. Da denke ich natürlich darüber nach, was das Programm kann und wie ich das so programmieren kann, dass ich das hinterher optimal an den/ die Tontechniker*in abgeben kann. Das Programm, mit dem die Theater arbeiten, heißt ja Ableton Live – wie ›live‹ sind die Toneinspielungen bei dir am Ende noch? NO: Immer weniger. Die Leute wollen die Musik immer mehr durchprogrammiert, was ich manchmal schade finde. Früher hatte ich so Sachen, da wusste der/die Toningenieur*in, dass auf der einen Spur das Klavier ist, auf der anderen eine Fläche, wieder woanders die Streicher, und dann konnte er/sie den Ton mit mehreren Fingern fahren und crossfades machen …

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… und konnte so mehr auf das szenische Geschehen reagieren? NO: Ja. Ich glaube die Tonleute waren früher stärker kreativ eingespannt und haben mehr Eigenverantwortung übernommen. Ganz früher war das, glaube ich, so, dass der/die Komponist*in gar nicht zur Probe gekommen ist, sondern dem/der Toningenieur*in seine Stücke übergeben hat, so nach dem Motto: »Mach was damit«.8 Heute hat man zwei Wochen vor der Premiere die Übergabe, man ist aber selbst schon Wochen oder Monate lang in der Materie und muss dann alles so vorbereiten, dass der/die Toningenieur*in auch verstehen kann, was zu tun ist. Oft werden dann noch Microports gefahren, alles von nur einer Person. Das ist schon relativ komplex. Deshalb haben die Tontechniker*innen es dann lieber, wenn man die cues einfach mit der Entertaste weiterklicken kann. Denkst du dabei in fertigen Tracks oder sind das schon Einsätze innerhalb von Tracks? NO: Beides. Ich denke in cues, die auf Stichwort flexibel gefahren werden, aber alles andere ist programmiert, wie z. B. die Lautstärke. Da war ich früher manchmal erschrocken, wenn ein Stück schon eine Weile im Repertoire lief und ich es mal wieder gesehen habe, dass es dann manchmal ganz anders war, als man es sich vorgestellt oder damals erarbeitet hatte. Daher ist es dann fast sicherer, die Sachen durchzuprogrammieren. Ich habe jetzt z. B. mit Thomas eine Produktion in der Schweiz gemacht, die viel auf Tournee sein wird. Da geht der Toningenieur in jedem neuen Saal mit dem dB-Messgerät zu den einzelnen Lautsprechern und kann den Sound dann für jeden Raum genau so wieder einrichten. Umgekehrt mache ich das, was wir hier bei Lehman Brothers9 gerade entwickeln, nur so, weil ich weiß, das Stück geht nicht auf Tour. Aber insgesamt kann man schon sagen: Ich wünschte mir Toningenieur*innen, die ein bisschen mehr oder ein bisschen früher dabei sind. Aber oft sind sie einfach wahnsinnig eingespannt, und es gibt an den Theatern auch nicht genug. Es ist ein strukturbedingtes Missverhältnis: Der/die Musiker*in sitzt seit Wochen mit auf der Probe und kennt jede Nuance der Musik, und dann kommt der/die Techniker*in, der/die gerade noch auf einer anderen Probe war. NO: Diesen Unterschied merken meist auch die Regisseur*innen. Mir macht es einfach auch Spaß, die Musik bei den Proben selbst zu fahren und wie einen Mitspieler dabei zu sein. Das ist was anderes, als cues ab-

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zufeuern. Das ist halt der Nachteil an dieser technischen Entwicklung, wo das Durchprogrammieren so einfach möglich ist. Du arbeitest viel mit Sounds – weniger stark mit Melodien oder klassischen Instrumenten. Gibt es für dich ein bestimmtes Suchfenster – wonach wählst du deine Sounds aus? NO: Das ist stark von der Produktion abhängig. Privat interessieren mich Sounds experimenteller oder improvisierter Musik, von Leuten, die auf ihren Instrumenten ganz verrückte Klänge erzeugen. Alles, was ich nicht sofort definieren kann, finde ich interessant. Also auch die Musique concrète und diese ganze Tradition, Tonbandmusik – also alles, wo verschiedene Ebenen im Sound vorhanden sind, finde ich interessant und auch im Theater spannend. In der Musikszene, in der ich mich auch mit der Trompete bewege, greifen elektronische und analoge Sounds stark ineinander. Diese Schnittstelle interessiert mich sehr. Ich denke, man hat so eine Vorstellung von klassischer Theatermusik mit Akkordeon und Geige, und das hat sich einfach geändert. Wie wichtig ist dir eine eigene Handschrift, also, dass man erkennt: Das ist eine Nils-Ostendorf-Musik? NO: Das ist mir schon wichtig, und viele Leute sagen, dass sie das hören, wenn ich die Musik gemacht habe, aber es ist mehr, wie es gemacht ist und wie die Musik eingesetzt wird. Du hast vorhin das Stichwort Improvisation genannt: Ist das ein wichtiges Arbeitsprinzip für dich? Arbeitest du stärker konzeptionell oder eher intuitiv? NO: Eher intuitiv. Manchmal weiß man, hier sollen jetzt acht bis zehn Minuten Musik kommen, da muss man dann schon einen Aufbau finden und planen, aber der Moment, in dem die Sachen auf der Probe entstehen, ist sehr intuitiv. Manchmal stelle ich mir auch zu Hause die Szene vor und bereite etwas vor, von dem ich denke, dass das super funktioniert, und dann funktioniert es überhaupt nicht. Das ist dann im Theater auch innerhalb von drei Sekunden weg. Deshalb bereite ich mittlerweile nicht mehr so viel vor, bevor wir anfangen zu proben, weil ich weiß, dass man sich da oft viel Arbeit mit einer Musik macht, von der in kürzester Zeit klar ist, dass man sie nicht gebrauchen kann. Teilst du den Eindruck, ob etwas passt oder nicht, meistens mit der Regie, oder findest du auch schon einmal etwas großartig, und die Regie

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sagt: Das geht überhaupt nicht? NO: Doch, das passiert öfters. Die Regisseur*innen haben dann meis-

tens die besseren Argumente, so dass man nachgibt. Das kommt eben vor, dass Momente, an denen man total hängt, rausgeschmissen werden. Im Endeffekt haben die Regisseur*innen oft recht, weil sie besser wissen, worauf sie hinauswollen oder wie die Gesamtdramaturgie ist. Du machst ja beides: Musik um ihrer selbst willen und Theatermusik im Dienst einer Sache, bzw. im Dialog mit einer Szene. Brauchst du beides? NO: Im Moment habe ich mal wieder mehr das Bedürfnis, Musik für mich zu machen. Das sind immer so Phasen. Ich habe aber auch drei kleinere Kinder, und es ist wahnsinnig stressig mit seiner eigenen Musik finanzielle Stabilität hinzubekommen. Und es ist ja nicht nur ein kreativer Prozess, sondern auch viel Arbeit mit Vermarktung und Organisation, und da bin ich ohnehin nicht so gut drin. Allgemein fällt es mir schwer, meine Arbeit anzupreisen. Deshalb bin ich auch im Theater froh, nicht der/die Regisseur*in zu sein. Ich mache die Musik, was nur wenige Leute interessiert – aber dafür hat man viel Spielraum und muss sich hinterher weniger dafür rechtfertigen. Man muss nicht so viele Interviews geben! NO: Genau! [lacht]. Das finde ich ganz entspannt. Ich merke aber auch, dass es auch für meine Arbeit am Theater wichtig wäre, an meinen eigenen Sachen weiterzuarbeiten. Man reagiert halt sonst viel auf andere … NO: Richtig, und man denkt auch schneller in Genres. Mittlerweile habe ich so viel Theater gemacht und weiß ungefähr, wie es funktioniert. Ich suche aber eher die Momente, wo man gar nicht weiß, wie es funktioniert und dann auf einmal etwas Besonderes entsteht. Sonst ist man halt bei den Sounds, wo so eine dunkle Fläche mit wabernden Bässen kommt und ich schon weiß, das soll jetzt ›Bedrohung‹ sein. Es sind viele Klischees, die man kennt, die man versucht aufzubrechen, was aber nicht immer ganz einfach ist im Theater. Das Gleiche gibt es auch im Film. Die kriegen dann ein Streichorchester, und dann wird damit Musik gemacht, in 90 Prozent der Fälle eher schlecht. Bei den wenigen Filmen, bei denen mal mit einer anderen Instrumentation gearbeitet wird, da schlägt mein Herz dann gleich höher.

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Wann spitzt du im Theater die Ohren bei anderen Musikern? NO: Als Musiker höre ich schnell, wenn Leute gut sind und das gut machen. Woran machst du das fest? NO: Wenn die Musik von der Norm abweicht, wenn ich einen Klang interessant finde, bei dem ich mich frage, was das ist oder wie es wohl gemacht wurde. Da gibt es Leute, die ich schätze. Lars Wittershagen10 finde ich z. B. stark, weil er mit einfachen Mitteln arbeitet und dabei konsequent ist. Das finde ich bei ihm immer beeindruckend. Ich mag auch den Musiker von Romeo Castellucci, Scott Gibbons: Wie die Musik da funktioniert, das ist sehr beeindruckend. Bei ihm habe ich manchmal das Gefühl, dass die Musik vor allem körperlich wirkt. Da wird nicht irgendein Ort oder eine Zeit zitiert, oder so etwas. NO: Genau das interessiert mich wahnsinnig: Physikalität in Musik interessiert mich total. Allgemein will ich, wenn ich ins Theater gehe, körperlich mitgenommen werden. Ich sehne mich da nach sinnlichen Erfahrungen. Machst du unterschiedliche Erfahrungen, je nachdem, ob du mit männlichen oder weiblichen Regisseur*innen zusammenarbeitest? NO: Eher nicht, aber mir ist aufgefallen, wenn ich z. B. an der Schaubühne und am Gorki hier in Berlin arbeite, dass die Häuser unterschiedliche Ästhetiken haben. Ich weiß z. B., dass ich mit Yael Ronen am Gorki Theater weniger experimentell arbeiten kann, weil es ihr um etwas anderes geht. Das Abstrakte interessiert sie nicht so. Ich weiß schon, was ich mit welchen Regisseur*innen machen kann. Ist es eine Gefahr, wenn man zu lange mit bestimmten Regisseur*innen arbeitet, wenn man sich zu gut kennt? NO: Nein, es ist eher von Vorteil, wenn man sich lange kennt und ein künstlerisches Vertrauen besteht, dann muss man auch viel weniger diskutieren. Ich mag aber auch gerne die Herausforderung, mit neuen Regisseur*innen zu arbeiten. Ich weiß, dass meine ersten Arbeiten mit einem/einer neuen Regisseur*in oft die besten sind. Wie kommen neue Zusammenarbeiten zustande? NO: Am Theater passiert schon sehr viel durch Connections. Oder man wird mal von einem/einer Dramaturg*in angerufen, der/die etwas ge-

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sehen hat, auch wenn der/die Regisseur*in einen noch gar nicht kennt. Manchmal finde ich das komisch, wie die Sachen zustande kommen. Mein Idealfall wäre, dass jemand auf mein Konzert kommt und sagt: »Die Musik, die du machst, will ich in meinen Stücken haben«. Aber an dem Punkt bin ich noch nicht. Vielleicht ist das, was ich persönlich mache, auch zu abgefahren. Gleichzeitig muss ich ja im Theater auch nicht nur meine eigene Musik verwirklichen. Ich genieße es auch, zwischen den Genres zu ›switchen‹ und sehe das als einen Vorteil gegenüber Musikerkollegen, die sehr streng ihre Linie verfolgen. Ich finde gut am Theater, dass es dieses »das darf man nicht machen« nicht gibt! Manchmal ist es gerade gut, das zu machen, was man nicht machen darf. Was wäre das zum Beispiel? NO: Das, was ich hier [bei Lehman Brothers] die ganze Zeit mache: Total harte Filmzitate – da kommt auch mal »Spiel mir das Lied vom Tod« – oder so ganz offensichtliche Anspielungen, eigentlich so› No-Gos‹. Oder ein Streichquartett, was einem heilig ist und das man eigentlich nicht in einer Szene hören will. Aber ich habe da gelernt, über meinen Schatten zu springen. Bloß nicht Arvo Pärt? [lacht] NO: Nee, das ist wirklich Schmerzgrenze! Aber das habe ich auch schon mal benutzt.

Nils Ostendorf wurde 1977 in Hamburg geboren und arbeitet als Trompeter und Komponist in Berlin. Er studierte von 1997 bis 2002 Jazztrompete an der Folkwang Hochschule Essen und am Rotterdams Conservatorium. Nils Ostendorf hat auf seinem Instrument unter Einbindung von spezifisch entwickelten Spieltechniken eine ganz eigene musikalische Sprache entwickelt, die von zeitgenössischer Musik, elektroakustischer Musik und Naturgeräuschen inspiriert ist. Er ist als Trompeter international in der experimentellen und improvisierten Musikszene tätig. Konzerttourneen führten ihn durch ganz Europa, die USA und Kanada. Als Trompeter wirkte er zudem an zahlreichen Hörspiel-, Klangkunst- und Theatermusik-Produktionen mit, u. a. für Thom Kubli, Alessandro Bosseti, Sebastien Roux, Peter Lenaerts und Philip Ludwig Stangl. 2017 gründete er die Synth-Rock Band Polypore mit den Theatermusikern Daniel Freitag und Max Andrzejewski. Seit seiner Studienzeit interessiert sich Nils Ostendorf für die Zusammenarbeit mit Tanz und Theater. Nach ersten Erfahrungen mit den Choreografen Felix Bürkle und Samir Akika als Trompeter und Komponist entstanden 2006 erste Theatermusiken für den französischen Regisseur Mikael Serre. 2007 arbeitete er als Theaterkomponist erstmals mit dem Regisseur Thomas Ostermeier zusammen, mit dem ihn bis heute eine langjährige erfolgreiche Zusammenarbeit verbindet, mit zahlreichen Produktionen an der Berliner Schaubühne, den Münchner Kammerspielen, dem Toneelgroep Amsterdam, dem Theater Vidy Lausanne, und dem Theatre of Nations Moskau. Weitere Theaterarbeiten entstanden mit den Regisseuren Marius von Mayenburg, Falk Richter und der Regisseurin Yael Ronen (mit der er seit 2015 kontinuierlich zusammenarbeitet) am Gorki Theater Berlin, am

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Residenztheater München, am Schauspiel Hannover und an der Comédie de Reims. 2015 komponierte er im Rahmen des Projektes Sinfonia Tropico in Kolumbien das Musiktheaterstück Sinfonia Llanera, gefördert durch eine Künstlerresidenz des Goethe-Instituts. Nils Ostendorf lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern seit 2009 in Berlin.

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Loca Mierda, Regie: Samir Akika, Theater im Pumpenhaus Münster, Premiere am 2. Dezember 2005. Marius von Mayenburg war lange Hausautor und Dramaturg der Schaubühne am Lehniner Platz. Die Ehe der Maria Braun nach Fassbinder und Märtesheimer/Fröhlich, Regie: Thomas Ostermeier, Münchner Kammerspiele, Premiere am 6. Juni 2007. Othello von William Shakespeare, Regie: Thomas Ostermeier, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere am 9. Oktober 2010. Maß für Maß von William Shakespeare, Regie: Thomas Ostermeier, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere bei den Salzburger Festspielen am 17. August 2011. Richard III von William Shakespeare, Regie: Thomas Ostermeier, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere am 7. Februar 2015. Siehe auch das Interview mit Michael Wilhelmi, der mit beiden Regisseuren zusammenarbeitet hat. Siehe das Interview mit Paul Clark in diesem Band, der zum Teil bewusst so arbeitet. Lehman Brothers. Aufstieg und Fall einer Dynastie von Stefano Massini, Regie: Marius von Mayenburg, Musik Malte Beckenbach und Nils Ostendorf, Residenztheater München, Premiere am 29. Juni 2016. Siehe das Interview mit Lars Wittershagen in diesem Band.

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Insa Rudolph: »Den Theaterraum als akustischen Raum begreifen« Ein Gespräch am 18. Dezember 2017 in Frankfurt am Main

Du bist seit vielen Jahren Musikerin – wie und wann wurde daraus (auch) Theatermusik? Insa Rudolph: Ich habe Jazzgesang in Amsterdam studiert und bin nach dem Studium zunächst nach Berlin gegangen, wo ich in unterschiedlichen Formationen und Projekten Musik gemacht habe. Zeitgleich haben die Regisseurin Julia Roesler und ich – wir kennen uns aus dem Jugendtheater-Club des DT Göttingen – vor mittlerweile über zehn Jahren gemeinsam ein Theaterkollektiv1 geInsa Rudolph gründet. Seit acht Jahren ist die Foto: Markus Lübeck Dramaturgin Silke Merzhäuser mit dabei. Als Dreier-Team entwickeln wir dokumentarische Theaterstücke, in denen wir versuchen, soziale Wirklichkeit aus der Perspektive von Menschen zu beschreiben, die zu gesellschaftlichen Minderheiten zählen. Nach ausführlichen Recherchen entstehen auf der Basis von Interviews Textfassungen und schließlich Inszenierungen. Wichtig ist uns hierbei, die Grenzen zwischen Schauspiel und Musiktheater, Dokumentation und Fiktion auszuloten. Dabei übernehme ich (fast) immer die musikalische Leitung und bin auch manchmal selbst als Musikerin mit auf der Bühne. Neben der Theatermusik mache ich seit ca. sechs Jahren auch Filmmusik, vor allem im Dokumentarfilmbereich. Es ist interessant, dass sich zwischen diesen unterschiedlichen Arbeitsbereichen doch immer wieder Querverbindungen herstellen, und es ist spannend zu sehen, wie sie zunehmend zusammenwachsen. Die Frage nach dem Dokumentarischen begleitet mich sowohl in der Theatermusik als auch in der Filmmusik ganz stark. Meistens dient Musik im Theater und im Film ja dazu, fiktionale Welten mit hervorzubringen und Geschichten zu erzählen. Geht es in deiner

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Arbeit trotzdem auch darum, obwohl das Material ein anderes ist? Oder kommt der Musik im Dokumentarischen eine andere Rolle zu? IR:Ich glaube, dass Musik auch im Dokumentarischen als ein Mittel der Verdichtung funktionieren kann und darf. Die Herausforderung ist für mich, das Spannungsverhältnis zwischen einer dokumentarischen Purheit und der Möglichkeit der emotionalen Anteilnahme über Musik auszuloten, so, dass die Würde des Protagonist*innen gewahrt bleibt. Musik kann außerdem Räume fernab einer direkten Erzählung schaffen, Denk- und Fühlräume, in denen man zu nichts ›aufgefordert‹ wird. Und nicht zuletzt gibt es auch einen dokumentarischen Anspruch an die Musik selbst: Ich stelle mir natürlich immer die Frage: Was gibt es für musikalische bzw. klangliche Anknüpfungspunkte an diese konkreten Texte, Geschichten, an eine Epoche oder einen Ort Das liegt mal mehr auf der Hand und mal weniger. Jetzt bereiten wir gerade ein Stück zum Thema der 68er Jahre vor2 – da liegt eine bestimmte Musikauswahl sehr nahe. Und im Film ist es genau das Gleiche: Da finde ich es auch spannend herauszufinden, was das für Geräuschwelten sind, aus denen diese Geschichten kommen, und was ich auf ganz anderer, viel subtilerer, psychologischerer Ebene mit so einer Musik bewirken oder anstoßen, erzählen, oder eben: dokumentieren kann. Das beinhaltet natürlich die Frage, was man unter ›dokumentarisch‹ versteht und wie sich dieser Anspruch mit Musik verträgt?3 Da gibt es ganz unterschiedliche Techniken, wie z. B. das sogenannte verbatim theatre4, die gerade darauf bestehen, dass das verwendete Interviewmaterial möglichst unbearbeitet wiedergegeben wird. Ihr bearbeitet hingegen euer Material stark, sowohl dramaturgisch als auch musikalisch. Wann kommt die Musik dabei ins Spiel? Es klingt so, als ob das von Anfang an zusammengedacht wird? IR: Ja, die Musik wird sehr früh mitgedacht. Schon in den Interviews gibt es immer auch Fragen nach Musik, Geräuschen, nach Klangräumen. Nachdem wir uns für ein Thema entschieden haben, entwickeln wir ein Konzept für Bühne und Musik, um in Folge über Besetzung und Instrumentierung nachzudenken. Ein gutes Beispiel ist das Stück Polnische Perlen 5, bei dem es um osteuropäische Pflegekräfte im Bereich der Altenpflege ging. Sehr früh entstand die Idee, dass die Musikerinnen auf der Bühne eine Art Stellvertreter für die Alten sind, die keine Sprache mehr haben oder sich mit den Pflegerinnen oft nicht verständigen können. Sprachlosigkeit, Verlangsamung, Gedächtnisverlust waren die Themen, die da musikalisiert wurden, die in Kompositionen zum

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Ausdruck gebracht wurden. Das war eine Konstellation, die ganz wunderbar funktioniert hat, bei der Musik, Schauspiel und Szene toll ineinander greifen konnten. Wie involviert bist du bei der Recherchearbeit für die Theaterproduktionen? IR: Ich mache eine eigene musikalische Recherche, bei den Interviews bin ich nicht mit dabei und lese diese meist auch nicht zeitgleich zu ihrer Entstehung. Ich komme ein bisschen später mit meiner eigenen Recherche dazu, sie knüpft zum Teil an die Interview-Texte an, geht aber dann oft auch ganz eigene Wege. Bekommst du dadurch auch ein bisschen die Rolle einer (weiteren) Dramaturgin, weil du mit etwas mehr Abstand auf das Material schaust? IR: Es kann manchmal hilfreich sein, einen frischen Blick auf Textpassagen oder die Auswahl der Texte zu haben, aber es ist nicht meine primäre Rolle. Ich möchte noch mal kurz zurück zum Dokumentarischen: Der Einsatz von Musik birgt ja die Gefahr des Vorwurfs, dass hier ein vermeintlich ›authentisches‹ Material manipuliert oder aufgeladen wird – obwohl wir alle wissen, dass es keine authentisch-objektive dokumentarische Position geben kann. Gibt es dennoch im Hinterkopf diesen Anspruch? Wie geht ihr, gerade in Bezug auf die Musik, damit um? IR: Es gibt ein Zitat von Jacques Ranciére, das auch auf unserer Homepage steht: »Das Reale muss fiktionalisiert werden, um gedacht werden zu können«.6 Etwas muss zu Kunst werden, damit man es wieder neu anschauen und begreifen kann. Ich glaube, das ist der Tenor, unter dem wir die Inszenierungen denken, und unter diesem Vorzeichen darf eben auch Musik sein, ohne dass man Angst hat zu verfälschen. Wir erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und versuchen nicht, die Realität eins zu eins abzubilden, sondern es ist ein freier Umgang mit einem Material, der sich auch durchaus mal eine Wertung oder Positionierung erlaubt. Es geht also eher um eine authentische Reaktion auf das Material als um die Idee, dieses unverfälscht auf die Bühne zu bringen? IR: Natürlich wollen wir von dem erzählen, was uns die Protagonist*innen anvertrauen. Und zum anderen möchten wir den Diskurs miterzählen. Gerade bei dem Stück Gypsies 7, eine internationale Koproduktion

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mit Rumänien und Frankreich, ist die Auseinandersetzung der Beteiligten mit dem Thema stark in die Inszenierung eingeflossen. Im Vergleich zu Strategien, wie die Theatergruppe ›Rimini Protokoll‹ sie anwendet, sind es bei euch ja eigentlich nie die Menschen selbst, die da auf die Bühne kommen.8 IR: Genau. Dadurch ist es an sich schon eine künstlerische Bearbeitung. Aber natürlich beschäftigen uns die Fragen um das Dokumentarische im Theater immer wieder und begleiten fortwährend unsere Arbeitsprozesse. Wir haben gerade unseren ersten Kurz-Film gedreht, und da stellt sich diese Frage noch mal auf andere Weise als im Theater. Insgesamt bewegt sich auf dem Feld des Dokumentarischen Theaters und Films ja gerade sehr viel. Es gibt zunehmend Formate, in denen dokumentarische und fiktionale Elemente bewusst vermischt werden. Man ist nicht mehr bei so einer naiven Haltung, dass man die Realität so darstellen könne ›wie sie ist‹, sondern erzählt das Dokumentieren als Vorgang reflexiv mit. Das wird bei euch sehr deutlich, dass ihr immer auch eine Form miterzählt, die sich auch als solche zu erkennen gibt. Und dazu gehört auch die Musik, die bei Polnische Perlen ja live und szenisch stark integriert ist. Ist das immer so? IR: Musik passiert bei uns immer live auf der Bühne. In den wenigen Fällen, in denen ich Musik vorproduziert habe, wurde sie von auf der Bühne stehenden Geräten – Kassettenrecordern, Plattenspielern oder Radios – abgespielt. Dadurch hat das auch nicht so eine filmmusikalische Dimension, sondern ist Teil der Performance und wird auch so wahrgenommen. Ihr Musikerinnen wart in diesem Fall sogar Figuren. Wie ist das in anderen Produktionen? IR: Wir versuchen immer, die Musiker*innen szenisch zu integrieren, ohne dass ihnen automatisch eine konkrete Rolle oder Figur zugeschrieben werden muss. Mal sind sie auch einfach Musiker*innen, die aufgrund der eigenen persönlichen Geschichte einen Bezug zum Thema haben und über die Musik das Geschehen musikalisch differenzieren, oder kommentieren. Wichtig ist, dass das Musizieren als Vorgang sichtbar gemacht wird. Die nächste Produktion [Die Ehen unserer Eltern, Karlsruhe 2018] ist tatsächlich die erste ohne Musiker*innen – zumindest fast, am Ende tritt ein Laienchor auf, aber da werden die Schauspieler*innen musikalisch stark miteinbezogen. Es wird viele alte Kof-

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fer-Plattenspieler und Platten auf der Bühne geben, außerdem planen wir, Platten mit vorproduzierter Musik zu pressen, die dann von den Schauspielern abgespielt, kombiniert und übereinander gelagert werden. Das heißt, die Musik ist immer Teil des Spiels bei euch und nicht eine übergeordnete Kommentarebene? IR: Ja, sie ist Teil des Bühnengeschehens, darf aber auch durchaus heraustreten und kommentieren. Das muss sich ja nicht ausschließen. Wie arbeitest du? IR: Wenn das Thema des nächsten Projekts feststeht, versuche ich erst mal, so offen wie möglich Informationen und Assoziationen zu sammeln. Irgendwann kristallisiert sich dann heraus, welche Art der Musik es sein bzw. mit welchen Musiker*innen man zusammenarbeiten könnte. Geht es dabei mehr um die Instrumentation oder die Musikerpersönlichkeit(en), die du dir vorstellst? IR: Das ist unterschiedlich. Mal ist es das Instrument, mal die Person, mal beides zusammen. In der Produktion Offener Himmel 9, wo es um das Thema Glauben ging, haben wir mit drei Sängerinnen unterschiedlicher Konfession zusammengearbeitet, einer Jüdin, einer muslimischen Türkin und mit mir als Christin.

Offener Himmel. Bühne: Thomas Rump. Foto: Volker Beinhorn

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… mit der Idee, dass sich das auch in der Musik widerspiegelt? … IR: … ja, und mit dem Ziel, dass die Musikerinnen in den Entstehungs-Prozess und die Auseinandersetzung eingebunden werden. In einem traditionellen Theaterzusammenhang gibt es ja meist einen Stücktext, auf den man als Musikerin reagieren kann und aus dem sich Ideen entwickeln. Bei euch ist es eher ein Thema, über das man vielleicht zu Beginn auch noch recht wenig weiß und dennoch schon Ideen für eine Klangwelt entwickeln soll. Ist dieser Vorgang bei dir eher konzeptionell oder intuitiv? IR: Mal arbeite ich eher konzeptionell und dann wieder sehr intuitiv, das hängt stark vom Thema ab und davon, wie viel es an Musik ›mitbringt‹. Bei Offener Himmel wollte ich unbedingt mit Gesang arbeiten, weil die Stimme im Kontext der Religionen, des Betens, ein so prägnantes und direktes Instrument ist. Bei Rotlicht 10 [ein Stück über Prostitution] habe ich für Cembalo, Klavier, Cello und dreistimmigen Gesang geschrieben. Konzeptionell kann diese kammermusikalische Instrumentierung als gutbürgerlicher Gegenentwurf zu den ›freizügigen‹ Texten und Bildern auf der Bühne gelesen werden. Ebenso wichtig waren mir aber Fragen wie: Welche Grundstimmung möchte ich erzeugen? Welche Farbe, welche Dichte soll der Abend haben. Wie kann ich mit diesen klassischen Instrumenten auf einer sehr intuitiven Ebene etwas über Intimität, Kommunikation, Sehnsucht oder Liebe erzählen. Steht denn nach dem Rechercheprozess zu Probenbeginn so etwas wie ein Stück oder Script, oder entwickelt sich das erst in der Arbeit mit den Schauspielern? Und an welchem Punkt beginnst du konkret zu komponieren? IR: In der Regel gibt es eine rohe Stückfassung, wobei da noch viel Raum bleibt zum Schieben und Streichen. Bei der Produktion Gypsies war es so, dass es eher einen Materialstapel gab, aus dem die Schauspieler*innen ganz viel lesen konnten und dann mit in die Entwicklung hineingegangen sind. Das ist dann auch für die Figurenfindung wichtig, dass sie sich durch die Texte durchwühlen und Dinge finden, die für ihre Figur zentral sind, wobei das natürlich auch eine Deutungsfrage ist. Was die Musik betrifft, gibt es Produktionen, wie Rotlicht oder Soldaten – bei Letzterer haben wir mit einem Knabenchor kooperiert –, bei denen bei Probenbeginn viele Kompositionen fertig waren, da vorgeprobt werden musste; es gab aber auch eine Produktion mit zwei Pianisten und ei-

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nem Gitarristen, da ist vorher ganz wenig entstanden, weil alle drei Musiker fantastische Improvisatoren sind. Vorkomponiertes Material und Freiraum zum gemeinsamen Entwickeln müssen sich die Waage halten, nur so können Schauspiel und Musik am Ende wirklich ineinander greifen. Wie sieht dein Kompositionsprozess konkret aus? IR: Ich sitze am Klavier und spiele und singe. Meistens entstehen dabei Melodie und Akkorde gemeinsam – es geht irgendwo los und entwickelt sich von dort. Manchmal gibt es einen Text, den ich vertone, oder es gibt Strukturen und Stimmungen, die ich vorher denke. Und dann kommt eine Phase des Arrangierens für die Besetzung? IR: Genau. Das mache ich meistens am Computer, da nutze ich die virtuellen Instrumente und Notationsfunktionen von Sibelius. Ihr seid eine freie Gruppe, habt aber in letzter Zeit auch mehr und mehr mit Häusern kooperiert, richtig? IR: Ja, wir haben zu Beginn frei in einer sehr speziellen Spielstätte, der Saline Luisenhall in Göttingen, inszeniert. Friedland 11 war dann die erste von vier Kooperationen mit dem Deutschen Theater Göttingen, zunächst noch in der Saline, später auf der Bühne des Hauses. Mit dem Staatstheater Braunschweig haben wir dann über drei Jahre lang im Rahmen von Doppelpass kooperiert.12 Was war anders im Vergleich zu eurer freien Arbeit? IR: In der freien Arbeit hat man natürlich immer weniger Mittel zur Verfügung, muss immer selbst anpacken – das kann aber auch einen wahnsinnigen Charme haben, und man hat eine große Freiheit in allem, was man tut. Davon geht eine Kraft aus – ein Einfallsreichtum, ein Engagement von allen Beteiligten. Bei den Kooperationen mit dem DT Göttingen, die eben Schauspieler*innen und Teile der Gewerke zur Verfügung gestellt haben, war es für die Schauspieler*innen, glaube ich, eine Herausforderung, in diesem Salzwerk unter sehr oft sehr ungemütlichen Bedingungen zu arbeiten. Da trafen schon Welten aufeinander, aber irgendwann ist der Funke übergesprungen, und das hat viel mobilisiert. An einem festen Haus hat man natürlich technisch ganz andere Möglichkeiten. Ich habe in dieser Salinezeit ganz schön viel von meinem eigenen Equipment geschrottet, weil das alles korrodiert ist. Aber am Theater ist man dafür in einem System drin, in dem die Entscheidungswege komplizierter sind, in dem sehr viele mitreden, in dem es unter-

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schiedliche Ängste, Bedürfnisse und Ansprüche gibt. Das bringt schon auch manchmal Einbußen in der künstlerischen Freiheit mit sich. Ich möchte das nicht werten: Beides hat seine Vor- und Nachteile. Für die Arbeit als Musikerin und Musikalische Leiterin ist es toll, die Technik vor Ort nutzen zu können, jemanden zu haben, der mir Dinge abnimmt. Ich hatte bisher mit den Tontechniker*innen immer viel Glück und hatte sehr nette Menschen an der Hand, die mich unterstützt haben. Den Ensemble-Schauspieler*innen unsere Arbeitsweise – auch in musikalischer Hinsicht – näher zu bringen, war manchmal ein weiter Weg. Der Musik und den Musiker*innen so viel Aufmerksamkeit einzuräumen, war für manche neu und sehr gewöhnungsbedürftig. Für viele Schauspieler*innen ist Theatermusik nach wie vor ein Mittel, das sie in ihrem Spiel unterstützt, ›puscht‹ und Energie gibt, aber es ist selten ein Element, das man so intensiv mitdenken muss, an das man sogar das eigene Timing, den eigenen Rhythmus anpasst – das sogar ein gleichberechtigter Partner auf der Bühne sein kann! Für die Schauspieler*innen ist es manchmal sehr schwer auszuhalten, wenn sie danebensitzen, während die Instrumentalist*innen gerade etwas ausprobieren, was aber jetzt für diese Szene gerade fundamental ist, damit es auf den Punkt ist und funktioniert. Und ab einem gewissen Punkt kann man das eben nicht mehr parallel proben, sondern dann muss etwas zusammengebaut werden. Polnische Perlen war da die schwierigste Produktion, weil das so genau ineinandergreifen musste und alles ganz stark rhythmisiert war. Der ganze Abend war eigentlich durchkomponiert. Manchmal geht es ja aber auch nur um die Frage, ob man Dinge von Anfang an mitdenkt … IR: Genau … Und ob man auf Proben dabei ist … IR: Bisher war ich immer beim Großteil der Proben dabei. Seitdem ich Mutter bin, muss alles noch sehr viel genauer geplant und auch komprimiert werden. Der Theater-Betrieb ist nur bedingt familienkompatibel, auch abhängig davon, wie flexibel das eigene familiäre Gefüge ist. Zum Glück habe ich mit Jule und Silke so erfahrene und unterstützende Kolleginnen an meiner Seite. Das ist wirklich toll! Nicht zuletzt aufgrund der Nähe zu Frankfurt [am Main] haben wir unsere letzte Produktion in Karlsruhe realisiert. Und so werden auch immer wieder die Arbeitsformen und Umstände neu gedacht und angepasst.

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Wie läuft da der Dialog zwischen dir und Julia – es klingt so, als ob Regieführung und Musikmachen in der Arbeit eigentlich stark verschmelzen? IR: Natürlich sprechen wir sehr viel über die konkreten Schnittstellen von Musik und Spiel oder Szene. Während der Probe aber sind unsere Aufgabenbereiche eigentlich sehr klar getrennt: Sie sagt nur selten was zur Musik oder zu den Musiker*innen und ich nur selten was zur Regie bzw. zu den Schauspieler*innen (es sei denn sie musizieren). Wenn es dann wirklich um das Inszenieren der Musiker*innen als Figuren auf der Bühne geht, dann ist sie natürlich schon gefragt, aber das funktioniert sehr gut. Komplizierter ist es, wenn ich mit auf der Bühne bin. Das ist eine schwierige Rolle – da fehlt dann manchmal der Blick von außen. Den kann Jule in musikalischer Hinsicht auch nicht völlig auffangen. Wie stellt sich in solchen Produktionen die Frage des Performens, die Frage nach Rollenspiel für dich? Hast du da Erfahrungen aus dem Studium mitgenommen, wo man als Jazzsängerin ja immer auch ein Stück weit als Figur wahrgenommen wird und sich damit auseinandersetzt? IR: Nein, das sind für mich schon zwei Welten. Ich gehöre nicht zu den Sängerinnen, die in eine Rolle schlüpfen oder eine Kunstfigur inszenieren wie z. B. Lady Gaga oder Madonna. Wie verstehst du dich, wenn du in einer Theaterproduktion inszeniert auf der Bühne bist? IR: Ich denke mich als inszenierte Theatermusikerin oder Performerin – obwohl ich den Begriff irgendwie schwer mit mir in Verbindung bringe. Das ist auch nicht immer ganz leicht und funktioniert mal besser, mal schlechter. Manchmal fehlt auch einfach die Zeit. Da ist noch Luft nach oben, die Performance der Musiker von Anfang an mitzudenken. Wie hast du das gelernt, was du heute in deiner Arbeit brauchst? IR: Ich habe im Studium natürlich die Basis fürs Komponieren und Arrangieren gelernt. Aber das Aufnehmen bzw. Produzieren von Musik, der Umgang mit Notationsprogrammen wie Sibelius oder das Arbeiten in spartenübergreifenden Kontexten – das habe ich mir selbst beigebracht und im Prozess gelernt. Wie wichtig ist für dich die digitale Revolution in der Musik? Es gibt ja viele Musiker*innen, die nur noch am Computer sitzen und für die das Vorbild auch nicht mehr die Idee einer Band oder eines Ensembles ist. Bei dir steht das Live-Musizieren nach wie vor im Vordergrund – welche

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Rolle kommt da der Technologie zu? IR: Sie ist ein Hilfsmittel auf dem Weg, Musik zu schreiben und zu komponieren, und natürlich, um Musik zu produzieren. Allerdings verzichte ich bislang auf Sample-Dateien wie native instruments. Der Computer war bislang noch nie mit auf der Bühne, aber natürlich nutze ich technisches Equipment, wie Loop-Gerät oder Effekte. Es gibt z. B. das Mogee, ein Mini-Sequencer, den man wie ein Kontakt-Mikrofon auf alle möglichen Klangkörper kleben kann; akustische Impulse werden mit Sounds verlinkt, so kann aus jedem Gegenstand ein Instrument werden. Das ist natürlich sehr performativ, ich könnte mir gut vorstellen, mal damit auf der Bühne zu arbeiten. Aber ansonsten bin ich in meiner gesamten Herangehensweise an Musik extrem akustisch, Sound-orientiert. Ich habe schon immer sehr gerne mit Musikern zusammengearbeitet, die über ihr Instrument und seine Funktionalität hinausdenken, es einfach als Klangkörper wahrnehmen, und Sound-affin sind. Denkst du dann überhaupt in musikalischen Genres und Formmodellen? IR: Sehr wenig. Und in der Theatermusik noch weniger. Mich interessiert es, den Theaterraum als akustischen Raum zu begreifen. Ich finde es toll, wenn ein Bühnenbild mitklingt. Bei Offener Himmel haben wir mit diesen ganzen alten Radios gearbeitet. In Zusammenarbeit mit dem Klang-Künstler Georg Werner ist eine Soundlandschaft aus Rauschen, Knopfdrücken und Original-Radioaufnahmen entstanden, fast wie eine Klanginstallation. Es ist spannend, wenn man Theaterformen auf diese Weise aufbrechen kann, wenn ich Klang wirklich um mich herum erleben kann, dieser dadurch so nah an mich heranrückt, dass ich mich nicht entziehen kann – da ist noch viel möglich. Kannst du beschreiben, wann dich ein Klang interessiert, wann er dir richtig erscheint? IR: Ich glaube, dass ich grundsätzlich mehr von Klängen anzogen bin, die sustain haben, die länger klingen als andere. Und ich mag Sounds, die nicht allzu glatt sind, die scheppern, kratzen oder rauschen. Im Alltag bin ich sehr hellhörig, meine Ohren sind immer in alle Richtungen offen. Kennst du den Sound, der entsteht, wenn man ein frisches Nutella-Glas aufmacht? Da kann ich mich wie ein Kind drüber freuen. Ich mag es grundsätzlich sehr, mit Alltagsklängen zu arbeiten und zu schauen, was diese Klänge auslösen. Teile meiner Filmmusik habe ich mit Küchenutensilien und Alltagsgegenständen aufgenommen.

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Gibt es für dich wichtige Einflüsse? IR: [Denkt nach] Es gibt z. B. einige skandinavische und isländische Mu-

siker*innen, die ich sehr schätze. Sidsel Endresen, Skùli Sverrisson, Christian Wallumrod u. a. Sie haben eine so direkte, ungekünstelte Art, sich Musik zu nähern. Musik ist dort ganz anders in das tägliche Leben integriert. Singen z. B. gehört einfach so viel stärker zum Alltag, so wie auch die Nähe zur Natur. Eine Musik, die sehr viel Raum und sehr viel Zeit hat. Diese Musik hat ja auch wieder ein interessantes Verhältnis zu Sound: Sie klingt toll, aber nicht glatt und poliert. IR: Ja, sie ist wie eine Landschaft. Aber mich interessieren auch Philip Glass und Minimal Music. Und natürlich Singer-Songwriter wie Joni Mitchell und Bob Dylan. Und was Theater bzw. die Theatermusik betrifft, finde ich nach wie vor die Inszenierungen von Marthaler sehr inspirierend.

Insa Rudolph studierte Jazz-Gesang am Conservatorium van Amsterdam und arbeitet seitdem als freischaffende Sängerin und Komponistin in den Bereichen Songwriting, Filmund Theatermusik. Das Aufspüren ungewöhnlicher Klangquellen und der unkonventionelle Gebrauch von Instrumenten sind oft Ausgangspunkt ihrer Kompositionen. Über das spielerische Forschen nach Klängen und Klangmixturen in Verbindung mit ihrer Stimme entsteht eine Musik, in der sich Fremdes und Vertrautes zu einem alternativen Gesamtklang fügen. Als Sängerin hat sie mit verschiedenen Musikern und Ensembles zusammengearbeitet, u. a. mit Claudio Puntin, der WDR Bigband, Matthew Herbert und dem Contrast Trio. Sie ist Gründungsmitglied des freien Theaterkollektivs werkgruppe2 und arbeitet dort seit 2009 als Komponistin, Musikalische Leiterin und Bühnenmusikerin. Kürzlich komponierte und produzierte sie die Filmmusik von National Bird, einem Dokumentarfilm von Sonia Kennebeck (Executive Producer: Wim Wenders). Zudem produziert sie regelmäßig die Musik für Dokumentarfilme des NDR. www.insarudolph.com

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Werkgruppe2 wurde 2006 von der Regisseurin Julia Roesler und der Musikerin und Komponistin Insa Rudolph gegründet, seit 2009 ist die Dramaturgin Silke Merzhäuser ebenfalls festes Mitglied. Ziel der Gruppe ist es, »soziale Wirklichkeit aus der Perspektive von Menschen zu beschreiben, die zu gesellschaftlichen Minderheiten, Unsichtbaren, Ausgeklammerten zählen. Beruhend auf einer ausführlichen journalistischen Recherche, entstehen atmosphärisch und erzählerisch dichte Inszenierungen, welche die Grenzen von Schauspiel und Musiktheater, Dokumentation und Fiktion ausloten.« (http://www.werkgruppe2.de/website/index.php?id=87, zuletzt aufgerufen am 13. März 2018). Die Ehen unserer Eltern von werkgruppe2, Regie: Julia Roesler, Badisches Staatstheater Karlsruhe, Uraufführung am 11. März 2018. In einem Symposium mit dem Titel »Singing the Document. Exploring the relationship of documentary material and its music-theatrical treatment« diskutierten Theatermacher*innen und Wissenschaftler*innen diese Frage, wobei Julia Roesler und Silke Merzhäuser auch die Arbeit von werkgruppe2 präsentierten. Siehe http://www.theaterwissenschaft.uni-muenchen.de/aktuelles/archiv/archiv_2016/termine/symp_sing_act_doc/index.html, zuletzt aufgerufen am 18. März 2018. Verbatim Theatre ist eine dokumentarische Theaterform, bei der vorwiegend oder ausschließlich Texte aus Interviews mit Zeitzeugen von Schauspieler*innen gesprochen werden. Siehe http://www.dramaonlinelibrary.com/genres/verbatim-theatre-iid-2551, zuletzt aufgerufen am 17. März 2018, sowie u. a. Martin, Carol (Hrsg.): Dramaturgy of the Real on the World Stage, New York: Palgrave Macmillan, 2010; Paget, Derek. »›Verbatim Theatre‹: Oral History and Documentary Techniques«, New Theatre Quarterly 3/12 (1987): S. 317–336. Polnische Perlen. Ein Dokumentarstück über osteuropäische Pflegekräfte von werkgruppe2, Regie: Julia Roesler, Staatstheater Braunschweig, Uraufführung am 20. März 2014. Auf NDR Kultur sagte Jürgen Jenauer zur Rolle der Musik: »Die lakonisch leicht schwebende Inszenierung wird dabei durch die zutiefst melancholische, fast katatonisch anmutende Musik von Komponistin Insa Rudolf [sic!] unterstützt.« (Jenauer, Jürgen: NDR Kultur, http://www.werkgruppe2.de/website/ index.php?id=84, zuletzt aufgerufen am 16. März 2018). Siehe z. B. Vrääht Öhner: »›Das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann‹ – Jacques Rancières Begriff der (dokumentarischen) Fiktion.«, in: Robnik, Drehli; Hübel, Thomas; Mattl, Siegfried (Hrsg.) Das Streit-Bild: Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière. Wien u. a.: Turia + Kant, 2010, S. 131–144. Gypsies. Roma in Europa hatte am Théâtre de la manufacture in Nancy im November 2016 Premiere und wurde in Braunschweig, Hannover, Göttingen, Berlin und Timisoara (Rumänien) gezeigt. Eine Ausnahme stellte das Stück Die Georgier (Stadttheater Ingolstadt, Premiere am 15. November 2016) dar, bei dem Mitglieder des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt mit auf der Bühne waren. Die Interviewtexte wurden von Schauspieler*innen gespielt, die Musiker*innen lieferten vor allem die Musik zur Inszenierung. Offener Himmel. Über das Konvertieren von werkgruppe2, Regie: Julia Roesler, Staatstheater Braunschweig, Uraufführung am 18. März 2016. Rotlicht. Ein dokumentarisch-musikalisches Stück von werkgruppe2, Regie: Julia Roesler, Deutsches Theater Göttingen, Uraufführung am 6. April 2013. Friedland von werkgruppe2, Regie: Julia Roesler, Deutsches Theater Göttingen, Uraufführung am 20. Mai 2009. Doppelpass ist ein von der Kulturstiftung des Bundes finanziertes Programm zur Initiierung und Unterstützung von konkreten Zusammenarbeiten zwischen freier Szene und subventionierten Häusern. Siehe http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/programme/doppelpass/, zuletzt besucht am 13. März 2018.

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Thomas Seher: »Es kann auch mal die furchtbarste, schrecklichste Musik sein, die auf einmal gut klingt!« Ein Gespräch am 25. September 2015 per FaceTime

Thomas Seher: Schön, dass wir

uns sprechen! Bin ich der Einzige, der sich zurückgemeldet hat? Nein, eine ganze Reihe von Musiker*innen haben reagiert – manche kennst du noch aus Hildesheim. TS: Ja, klar! Aber wie es dann immer so ist: Die Theatermusiker*innen selbst sehen sich so wenig. Das ist ein bisschen, wie wenn sich Regisseur*innen am Theater treffen, die sich nicht Thomas Seher Foto: Marie Bonnet kennen: Man ist da so ein bisschen schüchtern und vorsichtig, aber eigentlich ist ein ganz großer Wille da, sich mit dem anderen auszutauschen. Wenn das dann passiert, weil man sich am selben Haus zum dritten Mal über den Weg läuft, dann sind das auch immer sehr interessante Gespräche. Aber es gibt eben so ein bisschen Berührungsängste, die es eigentlich nicht bräuchte, denn man macht ja doch unterschiedliche Sachen, und man könnte sich im besten Falle gegenseitig inspirieren. Wie bist du denn zur Theatermusik gekommen? TS: Zunächst über mein Studium in Hildesheim1, wobei ich ursprünglich eigentlich eine Affinität zu Filmmusik hatte. Theater kannte ich nur aus der Schule und hatte es eher in schlechter Erinnerung. Da ich aber insgesamt gerne kreativ arbeite – nicht nur in der Musik, sondern mittlerweile z. B. auch in der Videokunst2 – hat mich das Hildesheimer Studium dazu gebracht, mit anderen Menschen gemeinsam an Ideen zu arbeiten. Ich war dabei nicht darauf festgelegt, dass es Filmmusik sein muss. Durch die Struktur des Studiums haben sich Gruppen und Projekte ergeben3, innerhalb derer man sich ausprobieren kann. Mir war es wichtig, musikalisch nicht nur in einem Bereich tätig zu sein.

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Wenn ich jetzt in einer Metall-Band wäre und mein Leben lang nichts anderes spielen würde, würde ich mich zu Tode langweilen. Durch die Vielfalt, die es in der Schauspielmusik gibt, sehe ich da am ehesten Platz für mich. Die Möglichkeiten sind größer, und Konventionen können eher gebrochen werden. Das passt ganz gut zu meinem Naturell. Das Studium hatte ich auch bewusst so gewählt, da ich nicht nur Musik studieren und zehn Stunden am Tag in der Übezelle Klavier üben wollte, sondern es war eben genau diese Mischung aus Musiktheorie, Musikpraxis, Medienwissenschaften, Psychologie, Politik, Theaterwissenschaften, die mich gereizt hat – wobei ich Letzteres gar nicht so viel studiert habe. Diese Mischung war ausschlaggebend, dass man da freigeistig herangehen konnte. Dass man davon auch leben kann, hat sich tatsächlich erst aufgrund der Anfragen ergeben. Es gab diesen Punkt nach dem Studium, wo ich mich als Komponist für Film und Theater selbstständig machen wollte – wenn aber keine Aufträge gekommen wären, hätte ich radikal umschwenken müssen. Aber wie die Zufälle halt so sind, hat sich Jarg Pataki an mich erinnert, als er 2008 gerade nach Freiburg ging. Er hat damals mit Viola Hasselberg4 zusammengearbeitet, und ich hatte beide bei meinem Praktikum in Hannover kennengelernt. In Freiburg ging es dann richtig los, und ich habe gemerkt, dass ich – zumindest alleine – super davon leben kann. Das ist allerdings gleich noch so ein Thema: Mit einem Privatleben ist dieser Job wirklich schwer zu vereinbaren. Wie hast du dir das, was du heute brauchst, angeeignet? Du spielst Klavier, Gitarre, Saxofon, hast Chorerfahrung … TS: … und singe auch, genau. Das ist, glaube ich, eine gute Mischung. In diesem Job kommt man ja nicht mehr weit, wenn man nur ein Instrument spielt. Ich glaube, es braucht diese Mischung aus Handwerk – dass man komponieren kann, ein leadsheet schreiben oder etwas orchestrieren kann – eine gewisse Freiheit in den Stilen, dass man mal was Klassisches, was Schräges, aber auch etwas Konventionelles komponieren kann, mal Reggae, mal etwas Fünfstimmiges, weil man gerade fünf Schauspieler*innen hat, oder einen Song mitsamt Liedtext. Und man braucht eine Technikaffinität: Computer, Software, Ableton Live, Logic – diese ganzen Sachen, die man in keinem Kurs lernen kann. Ich hänge Stunden vor dem Rechner und schaue mir Tutorials von irgendwelchen neuen Plug-ins an.

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Thomas Seher

Das heißt, es gibt eine Mischung aus Selbst-Ausbildung und Instrumentalfähigkeiten, die du wahrscheinlich schon aus der Kindheit mitgebracht hast … TS: … genau: Bands, Klavier- und Keyboardunterricht, wobei ich erst spät, mit 13 Jahren, angefangen habe. Und das Komponieren? TS: Habe ich einfach gemacht. So bin ich eigentlich zum Keyboardspie-

len gekommen, weil ich eigene Ideen umsetzen wollte – das war eigentlich die Grundhaltung, auch heute noch: Ich will eine Idee umsetzen und gucke dann, wie das funktioniert, und lerne das dann. Im Studium bin ich übrigens zum Jazz gekommen – das war ein Riesenschritt und stilistisch eine ganz neue Richtung, gerade auch das Improvisieren. Das war wie ein Katalysator für die Dinge, die ich eh schon gemacht habe. Gibt es eine typische Herangehensweise für dich oder unterscheidet sich das stark von Regisseur*in zu Regisseur*in? TS: Es gibt sowohl Gemeinsamkeiten als auch große Unterschiede in der Umsetzung oder Stilistik, aber die Herangehensweise ist immer erst einmal das gemeinsame Gespräch. Beim Film ist es ja oft so, zumindest in meiner Erfahrung, dass man den/die Regisseur*in gar nicht sieht, keinen Kontakt hat. Man bekommt einfach den Film und die Musik, die vorläufig drunter gelegt wurde, und dann soll das so ähnlich klingen. Das ist ein relativ stupider Austausch. Im Theater hingegen – ich habe viel mit Marco Štorman und Jarg Pataki gearbeitet – gibt es immer erst einmal viele Gespräche. Vorher bereite ich mich auf die Stücke vor und recherchiere zu den jeweiligen Themen. Bei den Treffen gibt es, so mein Eindruck, nicht so viele Vorgaben von den Regisseuren, außer vielleicht mal, dass gesungen oder getanzt werden soll. Dann schreibe ich im Vorfeld bereits Songs oder Texte und Schauspielmusik, die ich mit dem Stück assoziiere. Das ist für mich als Musiker der spannendste Moment: Die Vorbereitung und das erste Improvisieren, wo ich noch ganz freigeistig an das Material herangehen kann. Alles, was dann danach passiert, ist dann schon wieder angepasst; man muss schauen, ob es geht, ob es gefällt, ob es im Sinne des Stücks ist. Ich mache also meistens schon so fünf bis zehn Tracks und habe meistens schon zwei bis drei Songs, die ich mit den Schauspielern*innen probieren kann. Da kommt dann meine theaterpädagogische Erfahrung aus Hildesheim mit ins Spiel. Das hat sich z. B. bei den Buddenbrooks 5, meinem ersten Projekt in Freiburg, als sehr wertvoll herausgestellt – dass ich mit den

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Schauspieler*innen Aufwärmübungen machen und mehrstimmige Songs einstudieren konnte. Dann kann man mit den ersten Songs, die thematisch auf das Stück abgestimmt sind, schon improvisieren, und das ist ein großes Geschenk für die Schauspieler*innen und die Regie. Das heißt, es gibt eine erste, sehr freie Phase mit viel Improvisation, wo du jetzt nicht primär konzeptionell herangehst? Ein intuitives Reagieren auf ein Stück? TS: Absolut. Die Phase unterschätzt man immer, aber die ist für mich als Musiker mega-wichtig, weil ich da alles ausprobieren kann und diesen Schutzraum habe. Ich darf auch alles. Bei der zweiten Probe ist das schon nicht mehr so, habe ich festgestellt. Auch bei Marco Štorman: Bei der ersten Probe kann man sich selbst noch überraschen, aber auch das Team. Es geht darum, die Schauspiel-Improvisation musikalisch mitzugestalten, indem man musikalische Räume behauptet, Stimmungen lenkt, Zäsuren setzt oder einfach mal zu laut ist. Viele Schauspieler*innen haben Angst vor dem ersten Tag der Improvisation – merken aber, dass meine Musik wie ein Partner auf der Bühne funktionieren kann. Da kann man als Schauspieler*in erst einmal schauen und eine musikalische Erfahrung machen und muss nicht sofort etwas darstellen. Die Musik ist da ein ganz aktiver Teil der Szenerie. Wie verhalten sich Improvisation und dein vorbereitetes Material zueinander? TS: Wir haben häufig nach den ersten Gesprächen am Tisch eine frühe Probenphase, in der alle gemeinsam improvisieren, und da bringe ich meine Tracks mit ein, aber auch Tracks von anderen Komponisten. Wenn ich z. B. merke, da braucht es jetzt einen Drum ‘n’ Bass Track, den ich aber nicht selbst vorbereitet habe, dann nehme ich einen fertigen, weiß aber, dass ich den am Ende ersetzen werde. Ich verwende selten Stücke, die es schon gibt, es sei denn, man will z. B. den Kontext der Tristan-Oper als solchen im Theaterstück zitieren. In Buddenbrooks habe ich das beispielsweise gemacht. Die Bedeutung und Stimmung der Musik hat wunderbar zum Erweckungserlebnis von Thomas Buddenbrook gepasst. Da wäre von mir komponierte Musik sogar falsch gewesen. Das Improvisieren sieht bei mir so aus, dass ich unter Kopfhörern arbeite, während der/die Regisseur*in neben mir Gespräche mit den Schauspieler*innen führt. Das scheint wichtig zu sein, dass ich das eben nicht zu Hause mache, sondern dass die Musik an dem Ort, wo es passiert, entsteht. Ich nehme bestimmte Stimmungen und Irritationen

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auf und komme stilistisch irgendwie auf eine Spur, die mir hilft und die mich auch in das Stück einbettet. Das Gespräch beeinflusst mich dabei natürlich, auch inhaltlich. Spielen die Schauspieler*innen immer musikalisch eine Rolle? TS: Da, wo ich die Musik mache, wird in der Regel auf der Bühne musi-

ziert, meistens live gesungen, es gibt aber auch eingespielte Passagen. Ich versuche auch immer, als Musiker dabei zu sein, wenn es vom Stück und von den Finanzen her möglich ist. Ich lasse die Schauspieler*innen selten mit Instrumenten spielen, das mag ich nur selten. Ist das vor allem eine Frage der Qualität oder vermischt sich da von der Darstellung her etwas? TS: Es kann auch mal eine Qualität haben, wenn Schauspieler*innen ein Instrument schlecht spielen, aber bis jetzt hatte ich den Fall noch nicht, wo ich das gebraucht hätte [lacht]. Welche Rolle spielt das Bühnenbild für dich – wie stark reagierst du darauf? TS: Tendenziell spielt das gar keine so große Rolle. Ich kriege aber natürlich vor den Proben schon diese Bühnenmodelle als Fotos geschickt, und dann schaue ich schon, was da möglich ist. Ich arbeite aber mit Regisseuren zusammen, die mit relativ kargen Bühnenbildern spielen, wo man jetzt nicht irgendwelche Trigger einbauen oder die Bühne auch als Instrument nutzen kann – das habe ich noch nicht erlebt. Aber ein leeres Bühnenbild bedeutet gleichzeitig auch, dass ich große Freiheit habe und den Bühnenraum musikalisch stark mitgestalte. Wie reagieren die Schauspieler*innen auf deine Musik? TS: Während der ersten Proben sind die Schauspieler*innen meistens

überrascht, welche Rollen die Musik übernehmen kann. Das nimmt ihnen den Druck, ständig aktiv zu sein. Sie können mal dem Crescendo eines hohen Tons zuhören, ohne was zu sagen, oder sie lassen sich von einer Collage aus TV-Statements von B-Promis überraschen und können sich Zeit lassen, darauf zu reagieren. So ergibt sich eine Interaktion zwischen mir, der Musik und den Schauspieler*innen. Manchmal gibt es aber auch Irritationen, wie während der Proben zu Buddenbrooks: da gab es eine Chorprobe, in der wir mit Solmisationssilben6 gesungen haben, »jei-jei-jei, ja-ja-ja, do-do-do«, und das fand einer der Schauspieler wirklich total blöd [lacht]. Was soll man da machen? In dem Stück ging

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es eigentlich um utopische Räume, es ging darum, Sachen zu tun, die man normalerweise nicht macht – und das war eben eine Idee von mir, an der ich lange dran gesessen habe und die ich ausprobieren wollte. Ich war noch ganz frisch im Geschäft, und die Kritik hat mich schon verunsichert. Andererseits war auch klar, dass die Schauspieler*innen in der Situation den Außenblick nicht hatten. Man muss Sachen erst probieren und in einen Kontext setzen, um dann zu entscheiden, ob es Sinn macht. Manchmal muss ich die Schauspieler*innenmeinung relativieren, weil sie eben von der Bühne aus denken. Da steht man auch zwischen den Fronten: zwischen Regie und Darsteller*innen. Es gibt dann Schauspieler*innen, die möchten gerne einen schönen Song haben – das geht aber eben nicht, wenn es inhaltlich woanders hinsoll. Trotzdem will man Musik machen, die eine Erfahrung oder eine Emotion ermöglicht. Wie schreibst du die Musik? TS: Ich nehme am Klavier mit Diktiergerät auf und singe dazu, wenn es um Songs oder Choräle geht. Dann suche ich den Weg über den Computer und über leadsheets usw. Bei den Einspielungen ist es genau andersherum: Da ist es eher das Keyboard als Eingabemittel, um dann die verschiedenen Sounds zu probieren, weil es da weniger um die Konventionen vom Klavier geht. Was fällt dir leichter? TS: Ich finde beides kompliziert. Songs zu schreiben ist mega-anstrengend: Man muss sich vorbereiten, mehrstimmig schreiben, die Noten ausdrucken, die Probe einrichten. Bei der Bühnenmusik kann ich teilweise improvisieren, während die Szene passiert, und das ist eine andere Herausforderung. Welchen Sound nehme ich? Wie laut muss es sein? Wo setze ich dramaturgisch Akzente? Wie komplex müssen die Sounds sein? Diese Musik ist insofern schwerer als die Songs, weil sie so viel können muss. Beim Film kann man das rein akustisch besser lösen, die Balance zwischen Stimme und Musik. Im Theater ist es immer anders, je nachdem, wo man sitzt, also muss der Pegel stimmen, aber da, wo es dramaturgisch wichtig ist, muss es auch was können, Akzente setzen und Gedankenräume eröffnen – ich finde das immer richtig schwer und verzweifle regelmäßig daran, an dieser klassischen Schauspielmusik, die unter einer Szene läuft, da sie sich der Sprache unterordnet und trotzdem dramaturgisch und musikalisch etwas ausdrücken muss.

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Wann kommt die Musik ins Spiel? TS: Das unterscheidet sich von Regisseur*in zu Regisseur*in: Jarg Pata-

ki ist jemand, der grundsätzlich seine Szenen erst aus der Musik entwickelt, der im Grunde die Musik erst hören muss, bevor er weiß, was er mit den Schauspielern machen will. Wir haben 2013 ein Bollywood-Musical entwickelt7 – da gab es musikalisch eine große Bandbreite. Wir hatten Tänze, Songs und Schauspielmusik, die sich zum Gezeigten verhält und Szenen stark kommentiert, unterstützt oder verwirrt hat. Da musste die Musik zuerst da sein. Und bei einem Vier-Stunden-Stück war das die große Herausforderung [lacht]. Wie nennst du deine Tätigkeit? Wie verstehst du deine Rolle? TS: Im Programmheft steht immer »Musik«, aber ich selbst sehe mich

als so eine Mischung: Komponist, Sound Designer, Klangtüftler, weil ich eben nicht nur Theatermusik mache. Und unter Theatermusiker können sich viele nichts vorstellen, weil die nicht wissen, dass da im Theater jemand sechs Wochen sitzt und Musik macht. Die denken dann eher, man hat da ein großes Orchester und verwechseln das mit der Oper [lacht]. Dass man eine enge Verbindung zu einem Regisseur pflegt, finde ich wichtig. Ich darf ja nicht nur als Musiker denken – das ist es ja. Ich werde ja auch ein bisschen zum Regisseur, genauso wie der Regisseur auch ein bisschen zum Musiker wird. Das ist anders als bei konventionelleren Arbeiten: Die können auch Spaß machen, aber da spielt die Musik eine nette Nebenrolle. Ich will das nicht abwerten, ich mag das auch mal, aber inhaltlich und dramaturgisch kommt man weiter, wenn man mit wenigen Regisseur*innen arbeitet und sich von Stück zu Stück miteinander weiterentwickelt. Spielt Sound Design im klassischen Sinne – das Erzeugen einer realistischen akustischen Mise en Scène – überhaupt noch eine Rolle bei dir? TS: Unbedingt! Es gibt einen Professor aus Dortmund [Jörg U. Lensing8, FH Dortmund] für den Studiengang Sound-Design9, der hat darüber ein Buch geschrieben, dass man – auch in der Filmmusik – Musik und Sound Design heute zusammendenken muss.10 Nicht nur das Orchester einerseits und die tickende Uhr andererseits spielen eine Rolle, sondern man denkt es gemeinsam; so, dass die tickende Uhr eben auch der Beat für das Orchester sein kann. So denke ich auch. Für mich sind Geräusche und alles, was ich komponierend klanglich zusammenstellen kann, die Musik, und da trenne ich gar nicht zwischen Mu-

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sik und realen Sounds. Das kann mal ein Zufallsgenerator mit einem Rauschen sein, der mit einer gewissen Atmosphäre vermischt wird, wo dann ein verhallter Klaviersound rauskommt. Was bedeutet das für dein Verhältnis zu Technologie in deiner Arbeit? TS: Ohne technisches Equipment könnte ich nicht in dieser Form arbei-

ten. Wenn ich jetzt nur Klavierspielen und Singen könnte … … was ja vor vierzig Jahren bei Theatermusikern durchaus noch der Fall sein konnte … TS: … genau, und wenn man dann noch eine Kapelle hatte, war es noch mal wieder etwas anderes. Trotzdem spielt die Technologie eine entscheidende Rolle. Der Computer ist ja eine Fabrik. Ich bin der Denkende davor, aber die Fabrik, die das macht, ist der kleine Kasten vor mir, der die Sounds kreiert, wo ich Sachen zusammenschließen kann, wo ich Noten editieren kann – ich schreibe das nicht mehr per Hand. Das Internet ist auch extrem wichtig, weil ich viele Songtexte recherchiere, Sounds suche, Tutorials brauche für neue Synthesizer, weil ich Probleme mit der Software habe, die ich nur im Internet lösen kann. Manchmal komme ich erst auf Musikideen, weil ich mich im Internet zu den jeweiligen inhaltlichen Themen informiert habe. Eine Theaterwohnung ohne Internet ist fatal! Einige Stadttheater sind in dieser Hinsicht noch in den Neunzigern. Wie viele Kaffees ich schon in Internetcafés trinken musste! Welche Software verwendest du? TS: Was ich benutze, sind eben Ableton, Logic, diverse Synthesizer, Kon-

takt, Native Instruments, Reaktor. Bei Max/MSP, dieser open source-Software, mit der man Synthesizer selbst programmieren kann, lasse ich mir von Programmierern helfen, die das können. Sonst: ein Laptop, MIDI-Keyboard, Soundkarte. Mikrofone kriege ich immer vom Theater. Ein Klavier ist meistens vorhanden. Das ist es auch schon. Wie findest du deine Sounds? Früher gab es diese Sammlungen »99 Geräusche aus Umwelt, Technik und Verkehr« oder so ähnlich, und eigentlich konnte man nichts davon wirklich gebrauchen, weil es immer falsch klang. TS: Soundarchive nutze ich schon auch, aber immer nur als Rohmaterial. Man muss das dann eben stark bearbeiten. Das Gleiche gilt für presets: Ich habe schon den Anspruch, dass man neue, eigene Sounds

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kreiert. Man hat eine Vorstellung im Kopf, wie es klingen kann, doch die meisten Sounds passen anfangs nicht, also passe ich sie an. Wann etwas gut klingt, ist neben der soundtechnischen eine inhaltliche bzw. dramaturgische Frage. Wann es ›richtig‹ klingt, kann man erst in Abstimmung mit dem/der Regisseur*in und dem Gefühl auf der Probe entscheiden. Ich mache im Probenraum andere Musik als zu Hause und den Abgleich, ob es passt, muss ich auf der Probe machen. Es kann auch mal die furchtbarste, schrecklichste Musik sein, die auf einmal gut klingt, weil eine Aussage geformt wird und die Bedeutung einer Szene gesteigert wird. Das kann man nur auf Proben herausfinden und nicht daheim im Homestudio. Du sagst, dass du nach Möglichkeit immer noch gerne als Musiker bei den Aufführungen dabei bist – was ist die Motivation dabei? Und wie gibst du die Arbeit ab, wenn das mal nicht geht? TS: Als Live-Theatermusiker oder als Bandmitglied habe ich die Möglichkeit, auf die kleinen Timing-Unterschiede des Schauspiels zu reagieren – so kann ein Stück atmen und man kann sich miteinander bewegen. Wenn Livemusik eingesetzt wird, bin ich wie ein zusätzlicher ›Mitspieler‹, und dann wird es auch dramaturgisch interessant. Bei eingespielter Musik mit programmierten fades ist der Spielraum für den/die Techniker*in eher gering. Wenn keine Livemusik erwünscht oder finanziert werden kann, sieht es so aus, dass man dem/der Tontechniker*in vom Theater alle Tracks übergibt und mit ihm zusammen die Klangmöglichkeiten im jeweiligen Raum erörtert. Da bei mir alle Tracks wie ein langer Soundtrack funktionieren, verwende ich sehr oft crossfades zwischen vielen Audiospuren. Diese crossfades sind für die Tontechniker*innen totale Frickelarbeit; bei den Aufführungen hingegen vereinfacht ihnen die Programmierung das Abfahren von Soundsettings. Es sind dadurch komplexe Raumklangsituationen erst möglich, worunter die Flexibilität während der Aufführungen wiederum leidet. Das macht in meinem Fall dramaturgisch Sinn, da die Theaterstücke von Marco Štorman sehr leise sind: Da wird selten geschrien, und sie sind sehr filmisch gedacht – Sprache, Musik und Geräusche und Video sind am Ende ein feingliedriges Konstrukt, das in eine sehr genaue Balance gebracht werden muss. Es werden eben nicht mehr einfach zwölf Stücke von CD nacheinander abgefahren, richtig? TS: Nein, an den Theatern wird überwiegend mit Ableton Live gearbeitet anstelle von CD-Playern. Ich habe die Zeit gar nicht mehr erlebt, als

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noch mit CDs an Theatern gearbeitet wurde. Trotzdem stehen sie immer noch auf allen Probebühnen herum. Das heißt, die Musik bleibt stärker interaktiv, und innerhalb eines Tracks gibt es noch viele Variablen, die jeden Abend live beeinflusst werden können und müssen? TS: Bei Livemusik kann ich sehr wohl interagieren – wenn das Video auf der Bühne ausfällt, kann ich mit der Band das Loch sehr gut stopfen – ebenso, wenn ein*e Schauspieler*in mal heiser ist, kann ich als Musiker darauf reagieren. Bei Tracks, die vom/von der Tontechniker*in mit programmierten fades abgefahren werden, ist das nur begrenzt möglich. Wie würdest du deine Rolle als Livemusiker beschreiben? Seid ihr integriert und Figuren, wie man das heute häufig sieht? TS: Ich schlüpfe ungern als Musiker in irgendwelche Bühnenrollen. Ein Musikerkostüm ist das höchste der Gefühle. Eine Band muss sich aber unbedingt als Mitspieler verstehen, da die Musik wiederum die Szenen wie eine Figur kommentiert, unterstützt, entgegenstellt, emotionalisiert oder unterbricht. Ist deine Musik eher dazu da, bewusst wahrgenommen zu werden, oder soll sie eher subtil und unbewusst wirken? TS: Das ergibt sich automatisch und ist von Stück zu Stück unterschiedlich. Ich habe mal eine Musik für eine Begräbnisszene gemacht, die sich ganz unterschwellig auf eine Seite geschlagen hat. In diesem Fall wäre es ein Kompliment gewesen, wenn jemand gesagt hätte: »Ich habe die Musik nicht gehört, aber mit mir ist etwas passiert.« Anders ist es bei Songs: Da ist klar, dass diese einen größeren Raum haben, bei Tänzen auch. Und bei Jarg Pataki ist die Musik fast rezitativisch: Sie hakt in die Sätze rein, um ein neues Sprungbrett für den nächsten Absatz zu geben. Da kann man die Musik gar nicht überhören. Grundsätzlich finde ich es gut, wenn die Musik, die ich komponiert habe, als Teil des Theaterstücks verstanden wird. Deshalb kann die Musik mal unauffällig sein und trotzdem einen wichtigen Job machen. Wenn das auch von außen erkannt wird, bin ich glücklich. Trotzdem lasse ich es auch gern mal krachen und liebe es, wenn, die Regie versteht, der Musik genügend Raum zu geben. Wie erlebst du die Arbeitsbedingungen von Theatermusikern – du hast sowohl Stadttheater als auch freie Szene gemacht, richtig?

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TS: Ich habe einige Projekte mit der freien Szene gemacht, doch das ist

lange her. Stadttheater zahlen besser als freie Gruppen, andererseits finde ich die Arbeitsweisen und Themen der freien Szene meistens interessanter. Im Stadttheater gibt es eben klare künstlerische Leiter, die zwar wollen, dass man auf gleicher Augenhöhe ist, aber es ist trotzdem eine Arbeit von unten nach oben. Das spiegelt sich ja auch im Gehaltsgefälle11 wider. Die sehr unterschiedliche Staffelung der Honorare unterstützt wiederum das Hierarchiekonstrukt. Es ist ganz klar, dass Bühne, Kostüm, Musik und Regie als eins gedacht werden müssen. Diesen Gemeinschaftsgeist, den es sonst eher bei freien Gruppen gibt, habe ich damals sehr genossen und vermisse ihn auch ein bisschen an Theatern. Gibt es Einflüsse für deine Arbeit, eventuell auch von anderen Theatermusikern? TS: Dadurch, dass ich stilistisch mit sehr unterschiedlichen Stilen hantiere, ist das eine schwere Frage. Angefangen habe ich mit Keyboardunterricht, habe dann Reggae gemacht, dann Hip-Hop, dann klassisches Klavier, später Jazz-Klavier gespielt, Orchestrierung im Selbststudium gelernt, Drum ‘n’ Bass und Popsongs produziert – es gibt jede Menge Komponisten und Produzenten, von denen ich sagen kann, dass ich was von ihnen gelernt habe. Bei allem, was mich berührt, egal, was für eine Stilistik, schaue ich, wie es gemacht ist. Das kann eine Fuge sein, aber eben auch Geräuschmusik.

Thomas Seher, geb. 1980, ist Komponist, Musiker für Theater und Film und Medienkünstler. Er hat Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis mit Schwerpunkt Musik (Klavier, Saxofon) in Hildesheim studiert. Seine Arbeit umfasst Schauspiel- und Filmmusik, Chorwerke, Songs, Musicals, Sound Design und Musik für Kunst-Installationen. Als Auftragsarbeit komponiert er Kinderkonzerte für die Berliner Philharmonie und arbeitet als Musikproduzent für die Berliner Musik-Softwarefirma Native Instruments. Er gewann den 1. Platz beim Kompositionswettbewerb der Lotto-Stiftung 1999 und den 3. Platz der Fete de la Musique 1999. Er arbeitete unter anderen mit Marco Štorman, Jarg Pataki, Sandra Strunz, Viola Hasselberg, Uli Jäckle, Tanja Krone und Mirjam Tscholl in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Als Filmkomponist vertont er TV-Filme und Dokumentationen für ARD, arte, SF1, 3sat sowie diverse Erklär- und Imagefilme. Thomas ist Autor des Buches Filmmusik – Analyse ihrer Funktionen. Regelmäßig veröffentlicht er seine Tracks auf Streamingportalen. Als Medienkünstler gründete er die Gruppe »Catch A Falling Knife Collective« und entwickelt im Team künstlerische Projekte wie Das Börsenorchestrion oder Bacteria, bei dem aktuelle und historische Aktienkurse in akustische und visuelle Strukturen übersetzt werden. Er lebt in Berlin und Zürich. www.thomasseher.de

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Thomas Seher hat von 2001 bis 2007 Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim studiert. Im März 2018 hatte Seher eine Ausstellung in Winterthur/CH, für die er unter dem Label Catch A Falling Knife Collective verschiedene Künstler*innen versammelt, die gemeinsam Motive entwickeln. Es gibt in Hildesheim z. B. alle zwei Jahre ein Projektsemester, innerhalb dessen vorwiegend in Gruppen gearbeitet wird im Rahmen einer Art künstlerischer Forschung. Viola Hasselberg ist ebenfalls Hildesheimer Absolventin und war damals Dramaturgin am Schauspiel Hannover, dann Schauspieldirektorin in Freiburg. Buddenbrooks nach dem Roman von Thomas Mann, Regie: Jarg Pataki und Viola Hasselberg, Theater Freiburg, Premiere am 10. Oktober 2009. Bei der Solmisation werden bestimmte Tonstufen mit bestimmten Silben wie do, re, mi verknüpft. Gottes kleiner Krieger von Kiran Nagarkar, Regie und Dramaturgie: Jarg Pataki, Viola Hasselberg, Musik: Ravi Srinavasan, Musikalische Leitung: Thomas Seher, Theater Freiburg, Uraufführung am 19. Februar 2014. Siehe http://www.film-sound-design.de/SoundSet.html, zuletzt aufgerufen am 18. März 2018. Auf der Seite finden sich viele nützliche Definitionen und Informationen rund um Filmmusik und Sound Design. Der Studiengang heißt Film & Sound mit einem möglichen Schwerpunkt Sound Design. Siehe Lensing, Jörg U.: Sound-Design, Sound-Montage, Soundtrack-Komposition: Über die Gestaltung von Filmton, Stein-Bockenheim: Mediabook, 2006. Üblicherweise verdienen Regisseur*in, Bühnenbildner*in, Kostümbildner*in und Theatermusiker*in unterschiedlich viel, wobei die Theatermusik in vielen Fällen hinterherhinkt, was eher ihre historisch marginalere Rolle widerspiegelt, als die heutige Arbeitsrealität und die nicht selten zentrale ästhetische Bedeutung für die Inszenierung.

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Carolina Bigge: »Sich in Verbindung mit dem bringen, was man sieht« Ein Gespräch am 17. Dezember 2017 in Hamburg

Kannst du mir einen kurzen Überblick über die verschiedenen Tätigkeiten geben, die du in Bezug auf Theatermusik und Bühnenmusik schon ausgeübt hast? Du spielst Schlagzeug auf der Bühne, hast oft die Bandleitung, hast aber auch Theatermusik geschrieben oder, wie im Fall von Bibi und Tina1, Filmmusik für eine Tourfassung mit umarrangiert und für die Live-Bühne eingerichtet. Kannst du mir etwas mehr über diese Bandbreite erzählen? Carolina Bigge Carolina Bigge: Es hat sich früh Foto: Frank Egel herausgestellt, dass ich nicht nur Schlagzeugerin bin, sondern auch gut Songs schreiben und produzieren kann – auch dadurch, dass ich noch andere Instrumente spiele und singe. Mit dem Theater fing das hier in Hamburg an: Da war meine erste Produktion Don Giovanni 2 – da haben wir viel herumprobiert, und der Musikalische Leiter [Johannes Hofmann], die Band und ich haben dann zusammen Sachen entwickelt, wie man mit dieser berühmten Oper umgehen kann. Am Ende war es dann eigentlich ganz neue Musik, wenn auch mit Zitaten. Parallel dazu habe ich ganz viel mit den Rosenstolz-Leuten gearbeitet, die dann auch Bibi und Tina geschrieben haben. Wir haben Filmmusiken gemacht, bei Sarah Connor ist ein Song von mir auf der CD [Muttersprache, 2015], Marianne Rosenberg, Vicky Leandros – also schon auch Schlager, aber eben auch viel Popmusik. Dann hatten Peter Plate und Ulf Sommer von Daniel Karasek in Kiel den Auftrag bekommen, Romeo und Julia3 für das Sommertheater dort zu machen. Da habe ich schon die Musikalische Leitung gemacht, habe die Songs mitgeschrieben, die Platte mitproduziert. Noch viel früher war ich auch Bühnenmusikerin bei der Neuköllner Oper – aber da habe ich einfach nur gespielt. Hier in Hamburg hat sich durch die Don Giovanni-Truppe so ein

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Band-Kern entwickelt, bei dem wir gemerkt haben, dass wir gut zusammenarbeiten, auch mit dem Musikalischen Leiter, Johannes Hofmann. Er schreibt die Sachen, und wir können das dann, mit mir als Bandleitung, total gut in der Band umsetzen. Deshalb mache ich jetzt so oft es geht die Bandleitung für ihn. Bei der Dreigroschenoper 4 heißt das auch, dass ich die Musik vom Schlagzeug aus quasi dirigiere. Das ist ganz wichtig im Theater, wo es ganz viel um Timing geht. Ich habe auch gemerkt, dass mich das viel mehr reizt, da Verantwortung zu übernehmen, als einfach nur zu spielen. Jetzt haben wir auch noch Mutter Courage 5 hier zusammen gemacht, mit einem anderen Regisseur diesmal, und parallel dazu habe ich in Oldenburg die Musik geschrieben für Theaterstücke6 – das geht für mich alles zusammen: Schreiben, Spielen, Komposition, Arrangement. Lass mich noch mal bei dem Stichwort ›Produzieren‹ nachhaken: Eigentlich ist Theatermusik ja etwas sehr Vergängliches. Sie erklingt am Abend während der Aufführung, wird fast nie offiziell dokumentiert oder kommerziell herausgebracht – es gibt vielleicht mal ein paar Schnipsel auf der SoundCloud-Seite des jeweiligen Musikers – aber es ist eigentlich eine Kunst ohne Werk. Du hingegen hast auch die Erfahrung gemacht, dass es zur Inszenierung eine CD gibt … CB: … und dass es in der Show auch so klingen soll wie auf der CD! Das ist zumindest bei so einer Produktion wie Bibi und Tina klar der Anspruch. Die Dreigroschenoper war hier eine super interessante Arbeit: Wir haben uns natürlich gefragt, wie man heute noch dieses Stück inszenieren kann, wie man das vielleicht ein bisschen ins Heute transportieren kann. Wir haben uns u. a. entschieden, die Musik auswendig zu lernen. Wir spielen ohne Noten, und ich finde, dass man das hört. Viele haben uns gefragt, ob wir die Musik irgendwie umgeschrieben haben – haben wir aber gar nicht! Wir haben einfach Stimmen anders herausgearbeitet, die man vielleicht nicht so beachtet, wenn man die Musik vom Blatt spielt. Wie stark ist die Orchestrierung von Weill schon vorgegeben? CB: Die ist sehr stark vorgegeben. Wie viel darf man denn überhaupt ändern? CB: Sehr wenig, aber was ich schon oft gemacht habe, ist, ein wenig den Groove zu verändern, das ging ganz gut. Der Verlag ist andererseits

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mit den Tonarten sehr pingelig – das ist schon hart, weil die Schauspieler*innen ja nicht immer die passende Stimmlage haben. Wir hatten uns auch entschieden, die ›Hits‹, also »Seeräuber Jenny« und »Mackie Messer«, eigentlich nur anzuspielen. Da sind die vom Verlag aber sehr empfindlich. Da muss das Theater dann verhandeln. Aber wenn es insgesamt gelingt, dann ist so ein Stück natürlich auch für so ein Haus wichtig: Das ist halt jedes Mal voll! Wie funktioniert die Arbeitsverteilung zwischen dir und Johannes Hofmann? CB: Das ist unterschiedlich: Johannes übernimmt z. B. die Einstudierung der Stimmen mit den Schauspieler*innen, weil ich diese Klaviersachen so nicht spielen kann, aber alles, was die Umsetzung betrifft – Einsätze der Band, Tempi usw. – das übergibt mir Johannes dann, wenn wir es gemeinsam erarbeitet haben, und ich sorge dafür, dass es möglichst auf dem Niveau bleibt. Da gibt es dann vielleicht noch mal eine Probe, wenn eine Stelle nicht mehr so sicher ist, oder es eine Neubesetzung gab. Die Verantwortung liegt dann bei mir. Wie bist du überhaupt zur Theatermusik gekommen? Was war dein Weg? CB: Ich glaube, wenn man von Musik gut leben will, muss man sich breit aufstellen. Ich fühle mich in diesem Sinne nicht als Schlagzeugerin, sondern als All-Rounderin, als Musikerin. Schlagzeug ist mein Hauptinstrument, aber ich wäre auch nicht verloren, wenn ich mit Bass, Gitarre, Klavier oder Gesang arbeiten müsste. Dafür werde ich ja manchmal auch gebucht. Wie bin ich zur Bühne gekommen? Manchmal fragen einen Freunde, aber hier am Thalia Theater z. B. kannte ich niemanden, da habe ich vorgespielt. Die suchten für Don Giovanni eben eine Frauenband, und da kommen dann nicht so viele infrage. Das war eben ein Glücksfall und der erste Kontakt. Was mir dann charakterlich hilft, ist, dass ich einfach Sachen schnell begreife; wie sie gemeint sind – auch wenn Leute die Vokabeln dafür nicht haben. Das ist eine gute Gabe für diese Arbeit. Und dieses ›Dazwischensein‹ bei den Schauspieler*innen, den Musiker*innen und der Regie – das ist ein guter Ort für mich, das habe ich dann ziemlich schnell verstanden. Und so hierarchisch das Theater oft auch ist, so wertschätzend kann es manchmal auch sein. Das mag ich total daran. In den Konstellationen, in denen wir hier so arbeiten, ist das sehr schön, weil wir uns alle gut verstehen und weil wir alle so einen hohen

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Anspruch haben. Wenn man einmal so eine gute Truppe beisammenhat, dann wechseln viele ihr Team auch nicht mehr – was ich eigentlich auch ein bisschen schade finde, weil das auch eintönig werden kann. Wie ging es bei dir mit der Musik los? Du hast als Jugendliche schon Schlagzeug gespielt? CB: Im Schulmusical habe ich Bongos gespielt! [lacht] Mit den großen Jungs damals. Da war ich 13, und dann wollte ich halt Schlagzeug lernen. Dann bin ich an die Folkwang Musikschule, weil meine Eltern gesagt haben: »Lern es dann aber auch richtig.« Dann bin ich aber auch schon direkt in der ersten Band gewesen, und das war eben das, was ich am tollsten fand! Mir war direkt klar: Das will ich unbedingt machen! Im Laufe der Zeit verändert sich das: Dann hat man eine eigene Band, ist viel unterwegs … Ich gehe heute auch noch auf Tour, aber das ist dann halt anders, weil ich dafür engagiert und bezahlt werde. Du hast Pop- und Rockschlagzeug auch richtig studiert, richtig? CB: Ja, in Arnheim. Wie fiel die Wahl auf Arnheim? CB: Die Schule hatte einen super Ruf, und ich war halt keine Jazzschlagzeugerin. Das bin ich nie gewesen. In der Studienvorbereitung an der Folkwang Musikschule haben mich zwar alle bestärkt, ich solle Musik machen, aber wussten auch, dass eine deutsche Hochschule, wo ich den ganzen Tag BeBop spielen muss, nicht so eine richtig gute Idee gewesen wäre [lacht]. Hätte ich aber auch nie geschafft, schon die Aufnahmeprüfung nicht. Dann habe ich in Holland vorgespielt und dort auch bis zu Ende studiert. Und diese Bandbreite an Musizieren – von Vicki Leandros zu Gitarrenrock, von Bibi und Tina bis zur Dreigroschenoper – hat sich das einfach so ergeben? CB: Ich glaube, das ist schon eine Wahl, die man trifft. Ich empfinde mich da als freier als die meisten. Bei mir ist zwar das nächste Jahr noch nicht durchgeplant, aber dadurch kann ich flexibel entscheiden. Wenn man jetzt so eine*n Regisseur*in hat, mit dem man immer arbeitet und von dem auch abhängig ist, dann ist das anders. Was ist, wenn der/die mal krank ist, oder ich mal keine Lust habe, so viel im Jahr weg von zu Hause zu sein? Diese Theaterkomponist*innen empfinde ich manchmal als sehr gestresst. Ich habe mich da von vorneherein ein bisschen

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breiter aufgestellt. Ich finde das Theater einen guten Arbeitsplatz, würde es aber auch nicht nur machen wollen. Dazu interessieren mich noch die ganzen anderen Dinge, die ich machen darf: Songs schreiben, unterrichten, Konzerte spielen usw. Es würde mich auch interessieren, noch mehr Filmmusik zu machen – bisher habe ich nur einzelne Songs für Filme geschrieben –, aber ich habe da auch Respekt davor. Es ist halt ganz anders, weil man auf das fertige Produkt schaut, wenn die Musik entsteht. Mir ist das Livemusizieren da schon noch näher, weil ich auch toll finde, dass es jeden Abend anders ist. Wir haben Dreigroschenoper jetzt schon fünfzig Mal gespielt, und es ist immer irgendwie anders, auch, weil die Schauspieler* innen so gut sind und Lust haben zu improvisieren – das finde ich toll. Es ist immer das Interessanteste, in dem, was man tut, nicht so festgefahren zu sein. Das ist auf jeden Fall mein Punkt. Ich finde das nur von Vorteil, dass ich so viele verschiedene Sachen mache und alles von allem profitiert. Als Popmusikerin denke ich anders als viele im Theater … Und wenn du nach einer Theaterarbeit wieder mit einer Band auf der Bühne stehst, denkst du über diese szenische Situation wieder anders nach …? CB: Genau. Das befruchtet sich total. Das ist auch bei unserer Band hier im Theater so: Da sind Klassikerinnen dabei, eine Jazzerin dabei, eine reine Popgitarristin – und wir treffen uns zusammen und kriegen einen gemeinsamen Sound hin. Das ist eine große Bereicherung. Schwierig wird es nur, wenn sich einer über den anderen stellt. Du hast vorhin gesagt, dass Musizieren für dich eine Mischung aus Schreiben, Produzieren, Arrangieren ist: Kannst du deine Musik beschreiben, gibt es da stilistisch einen roten Faden? CB: Es ist vielfältig, aber eine Konstante, in dem, wie ich arbeite, besteht in einem authentischen Gefühl, das ich dazu habe. Das ist die einzige Chance, die man hat: Sich in Verbindung mit dem zu bringen, was man sieht, oder mit dem Stück oder der Musik, die da ist, und dann ganz ehrlich zu gucken, wie man das betrachten kann und was man ausdrücken möchte. Es gibt zwar auch den Gedanken, »Was wollen die Leute hören?«, und man hat auch die Aufgabe, das zu unterstützen, wofür man sich inszenatorisch entschieden hat, aber ich denke eher wenig darüber nach, was andere denken könnten. Das ist etwas, was ich gut kann: keine Angst davor zu haben, dass es auch mal Kitsch wird, weil ich eben glaube, dass die Emotion, die ich fühle, auch vom Publikum geteilt wird.

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Ich denke, viele Theatermusiker*innen haben schon auch ein Ohr für die Trends: Was ist gerade cool? Welche Sounds sind angesagt? Wie schaffe ich da eine Art Zeitgenossenschaft …? CB: … das widerspricht sich für mich nicht. Ich schaue schon auch, was ich für ein Soundkonzept verwende oder so etwas. Bei Liliom habe ich zwar sehr emotionale Musik geschrieben, habe aber z. B. die Beats nur mit einem Klavier gebaut. Solche Konzepte liebe ich total, weil ich glaube, dass man dadurch auf andere Ideen kommt, wenn man sich bewusst einschränkt. Wenn du sagst, dass du nach einem authentischen Impuls suchst, in Reaktion auf ein Stück, heißt das dann auch, dass der Prozess des Komponierens schon weit vor den Proben beginnt? CB: Das ist unterschiedlich: Bei Liliom war die Musik zuerst da. Das hatte auch einen zeitlichen Grund, aber ich habe einfach vorgeschrieben, was mir zu dem Stück einfiel, und habe dann ganz viel angeboten. Das kann den Schauspieler*innen auch sehr helfen. Produktionen mit vielen Musiker*innen wie hier am Thalia arbeiten ganz anders, weil Musik und Szene auch teilweise getrennt geprobt werden müssen. Und die Regisseur*innen sind auch immer verschieden: Manche kommen ans Haus und haben eine klare Vorstellung, in welche Richtung das gehen soll, während Antú [Romero Nunes], mit dem ich hier bisher zwei Sachen gemacht habe, eher die totale Freiheit braucht. Der kommt relativ wenig festgelegt zur Probe – schon mit Ideen, aber eben noch ganz offen. Das wird dann sehr viel gemeinsam erarbeitet. Und es kommt auf die Schauspieler*innen an: Was bringen die für Qualitäten mit, wie frei sind die? Wie läuft der Prozess des Schreibens? CB: Ich glaube, dass es hilft, dass ich so viele Songs geschrieben habe. Ich habe keine Angst davor, einfach zu schreiben. Bei Liliom war es reine Instrumentalmusik, nur ein Stück war mit Gesang. Mit Gesang finde ich meistens einfacher, obwohl mir das Texteschreiben erst einmal schwieriger scheint. Du denkst sicher in Bandformaten und -besetzungen? Ich frage, weil es ja durchaus Kollegen gibt, die stark in Soundflächen und Klangtexturen denken. CB: Nee, so denke ich eher nicht. Ich denke in Melodien und Arrangements und arbeite mit den Funktionen von Bandinstrumenten.

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Die unterschiedlichen Prozesse des musikalischen Erfindens und Machens haben vermutlich auch verschiedene Probenarten zur Folge, oder? CB: Genau. Mal passiert mehr zu Hause, mal sitzen wir sehr viel auf Proben, was ich sehr gut finde. Da gibt es Leute, die finden das nicht nötig, da so viel präsent zu sein, aber ich finde, man hört es einfach. Das ist die Mühe wert. Wenn man als Band klingen will, dann ist das einfach Arbeit. Und wenn man so etwas wie einen eigenen »Sound« für ein Stück hinkriegen will, dann noch tausendmal mehr. Deswegen haben wir für die Dreigroschenoper auch acht Wochen geprobt. Das hat sich total gelohnt. Während bei Mutter Courage, wo relativ klar war, was wir spielen und wie, da haben wir weniger Zeit miteinander verbracht. Aber wart ihr da nicht auch einfach als Band schon mehr eingespielt? CB: Klar, aber Dessau ist jetzt auch nicht einfach zu spielen, da muss man schon auch Zeit investieren. Woran arbeitet ihr, um einen bestimmten Band-Sound zu etablieren? Es geht ja nicht unbedingt nur darum, dass es »toll« klingt, sondern um einen Sound, der für das Stück, für den Raum, für die Stimmen passt. CB: Genau, es kann auch zum Sound Design gehören, dass es ein bisschen schrammelig klingt. Bei der Dreigroschenoper haben wir viele Bläser: Da geht es ganz viel um Intonation, aber auch Phrasierung. Wie die zusammen atmen. Wie ist die Melodie gemeint, wie fühlt man die zusammen? Und es geht viel um Timing, auch mit den Schauspieler*innen. Und grooven gehört auch dazu! Aber erst einmal geht es um ein gemeinsames Verständnis der Musik, ein gemeinsames Empfinden. Und das kommt durch viel Spielen, wo man dann auf einmal Dinge wahrnimmt, die man vorher so nicht wahrnehmen konnte. Nicht alle Häuser wollen Musiker*innen gerne über einen längeren Zeitraum bezahlen – wie konntet ihr das erreichen? CB: Es war Johannes einfach sehr wichtig, und deswegen war das einfach eine Setzung des künstlerischen Teams. Gleichzeitig ist es schon auch so, dass wir auch mal mit subs arbeiten müssen, wenn jemand krank ist. Wie versuchen sehr, das zu vermeiden, weil die Qualität immer ein bisschen leidet – nicht, weil die subs schlecht sind! –, sondern, weil die diese Zeitinvestition nicht haben. Ich denke, die Entscheider merken schon, dass so Stücke mit Musik einfach besser laufen. Mit Liveband hat einfach was! Und das ist dann halt teuer. Aber woanders wird ja auch viel Geld ausgegeben im Theater!

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Wie läuft bei euch die Zusammenarbeit mit der Tonabteilung? CB: Bis es auf die Bühne geht, hat mir Hannes praktisch schon alles übergeben, was Musikalische Leitung betrifft, und kann sich dann um die Einrichtung und Mischung kümmern. Der hat das gelernt und kann das richtig gut! Er arbeitet dann die Tontechniker*innen des Hauses ein, die später die Show fahren. Bei meinen eigenen Arbeiten habe ich immer sehr darauf bestanden, dass genug Zeit eingeräumt wird, den Sound gut einzurichten. Da muss man hartnäckig sein, weil es total wichtig ist, wie und von wo Musik eingespielt wird. Ob die Lautstärke stimmt, ob es genug Bässe hat, oder ob es wehtut. Das muss man einfach probieren, weil ja jeder Raum anders ist, jedes Mischpult und jeder Mischer. Ich frage die Techniker*innen vor Ort auch oft: Wie muss ich die Musik am besten mischen, damit es für dich leichter wird, das hier im Raum gut klingen zu lassen? Die kennen ja ihren Raum! Womit arbeitest du dabei? CB: Ich benutze gerne Logic, aber die Theater ›lesen‹ gerne Ableton. Und für die nächste Produktion werde ich das wohl auch verwenden. Im Prinzip sind die Programme ja alle sehr ähnlich, man muss nur ein Mal raffen, wie die aufgebaut sind, und sich ein bisschen damit beschäftigen. Arbeitest du denn mit der Flexibilität, die Ableton auch für Aufführungssituationen noch ermöglicht? CB: Der Sound, den man hört, ist bei mir relativ fix, der kann noch in seinen Frequenzen bearbeitet werden, aber ich gebe das so ab, dass von den Lautstärken her alles in Ordnung ist und gut gemischt ist. Wie geht es dir, wenn eine tolle Musik, die du geschrieben hast, zwei Tage vor der Premiere rausfliegt? CB: Das ist überhaupt nicht schlimm. Null. Wenn ich was schön finde, dann ist das nur für mich schön. Ich finde dann nicht, dass das alle hören müssen – das ist dann eine Egosache, und da bin ich ziemlich pflegeleicht. Da geht es mir nur um die Sache. Gibt es bestimmte Prinzipien für deine Musik? CB: Das klingt jetzt vielleicht böse, auch wenn ich das nicht so meine:

Ich finde, dass dieses zu ›Kunstige‹, dieses »ich hab mir hier mal was ganz Tolles ausgedacht« die Leute einfach häufig nicht erreicht. Das ist dann nur Show, wenn man sich den Druck macht zu denken, dass

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man da unbedingt etwas Neues erfinden muss. Ich glaube, man muss nur etwas Passendes finden. Das kann auch mal sehr kunstvoll sein, aber so auf Teufel komm raus etwas Neues, was sich mir nicht erschließt, das ist oft nur nervig. Wenn da in einer Produktion die ganze Zeit nur irgendwelche tiefen Töne durchgehen oder immer derselbe Beat wiederholt wird, dann denke ich: Die haben sich da nicht richtig Mühe gegeben und werde dann eher ein bisschen sauer. Ich kenne so viele verschiedene Herangehensweisen bei Filmmusik und Theatermusik, und meistens ist es so, wenn mir etwas super gefällt und ich mich dann damit beschäftige, wie das gemacht wurde, dann merke ich auch: Die haben da nicht nur eine Gitarrenspur aufgenommen, sondern die haben das zwölfmal aufgenommen, auch wenn es nur eine Stimme ist, und dann hat es auf einmal eine Tiefe, die anders funktioniert. Darum glaube ich immer, dass es nicht besonders verkopft sein muss, aber dass man sich Mühe geben muss. Das ist natürlich eine Gefahr bei Theatermusik, dass diese letzte Sorgfalt keine Priorität hat. In der Oper ist es, zumindest im Prinzip, immer klar, dass die Musik auf höchstem Niveau gemacht werden sollte, aber fehlt im Theater manchmal die Lobby für die Musik? CB: Ja, und es gibt schon auch so Muckertum – alles irgendwie mitnehmen – und das ist z. B. bei unserer Band eben gar nicht so, und deswegen funktioniert das auch so gut. Wir sind auch sehr empfindlich, sobald jemand, der so denkt, dazukommt und ›subt‹. Wir wollen, dass das richtig gut ist. Uns bedeutet das was. Das ist der Schlüssel, zu vielem. Welche Rolle spielt Technologie in deiner Arbeit? CB: Wenn ich nicht live spiele, eine große! Das gibt mir die Möglichkeit, dass ich alle möglichen Dinge klingen lasse. Dann kann ich für Orchester schreiben oder ganz kleine Besetzung. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt, und das finde ich toll an der Digitalisierung. Nutzt du Logic auch für Notation? CB: Nein, Sibelius. Das kann Logic nicht so gut, und es sieht auch nicht so gut aus. Aber ich benutze Notation nicht so oft, das verwende ich eher an der Hochschule beim Unterrichten. Es ist interessant, wie da eine Art neuer Oral- bzw. Digitalkultur an die Stelle einer bestimmten Art von Schriftkultur tritt. Das meine ich nicht wertend, aber es ist sicher auch ein Problem der Theatermusik in Bezug

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auf ihre Anerkennung, dass sie sich bestimmten klassischen Produktions- und Bewertungsschemata entzieht. Aber noch mal zurück zum Musizieren selbst: Wenn du live spielst, bist du immer auf der Bühne oder auch schon mal im Orchestergraben? CB: Bisher immer auf der Bühne. Ich frage, weil ich das Gefühl habe, dass Regisseur*innen mit Livemusik auf der Bühne bewusster und kreativer umgehen als früher. Wie empfindest du dich dabei? CB: Also, bei Don Giovanni haben die Musikerinnen eine ganz wichtige Rolle! Ohne uns würde das nicht funktionieren: Wir laufen im ganzen ersten Teil mit Don Giovanni mit, wir sind eigentlich seine Band. Da habe ich die Trommel auch einfach umhängen. Das war für Antú ganz klar, dass er uns da so mitinszeniert. Was verändert das für dich beim Musizieren? CB: Es gibt Leute, die haben davor Angst – das kann ich auch verstehen –, aber ich mag das. Mich reizt das eben auch wieder, weil ich mich nicht als reine Schlagzeugerin sehe. Wenn ich für so etwas engagiert werde, dann bin ich für so etwas auch zu haben. Das ist dann halt eher so Gesamtkunstwerk-mäßig gedacht. Da bin ich nicht eitel und mache auch alles mit. Bei der Dreigroschenoper sind wir auch mit auf der Bühne, aber eher weit hinten. Das war einfach anders nicht zu lösen, auch aus technischen Gründen. Aber präsent sind wir da auch. Antú spielt ganz bewusst mit den Musikerinnen auf der Bühne und sieht das auch gerne. Er sagt: »Ihr seid da! Dann will ich auch sehen, wie ihr spielt«. Bei Mutter Courage sind wir so richtige Theatermusiker: Wir sind zwar auch im Bühnenbild, aber von der Haltung her gar nicht so präsent oder involviert. Wir sind dort nur Musiker, das ist unsere Haltung. Das liegt mir lustigerweise am wenigsten, weil ich das eigentlich verkoppele, dass man auch irgendwas macht oder irgendetwas denkt, wenn man auf der Bühne steht. Das vermisse ich da so ein bisschen. Sowohl als Schlagzeugerin als auch als Theatermusikerin bist du als Frau eher eine Ausnahme. Spielt das für dich eine Rolle? CB: Das spielt nicht so eine große Rolle für mich. Es ist nicht so mein Thema. Ich finde natürlich schon gut, wenn mehr Frauen Musik machen, aber mir ist wichtiger, dass sich Leute treffen, die auf einer Schwingung sind und zusammen Musik machen, und da ist es mir egal, ob das Männer oder Frauen sind. Durch Don Giovanni ist es aber halt

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so gekommen, dass wir als Band jetzt häufig in der Mehrzahl Frauen sind – das ist schon etwas anders, weil ich das Gefühl habe, dass Dinge offener angesprochen werden, dass dadurch bestimmte Probleme gar nicht aufkommen und alle mehr an einem Strang ziehen und sich mehr bemühen, als bei männlichen Musikern, die erst mal so cool sein wollen. Wie stark nimmst du die Theatermusik-Szene insgesamt wahr? Was beobachtest du dabei? CB: Ich gucke schon viel, bin dabei auch kritisch, was ich manchmal auch schade finde, dass ich dann so darauf achte, statt mich einfach so mitreißen zu lassen. Ich finde Christopher Uhe ganz toll, der viel mit Stefan Pucher macht. Aber vieles gefällt mir auch nicht, besonders, wenn ich so das Gefühl habe, dass da etwas auf den letzten Drücker gemacht wurde und nicht zu Ende gedacht ist. Oder wenn ein Riesenaufwand für etwas betrieben wird, der in keinem Verhältnis zu dem Ergebnis steht. Wenn da ein 60-köpfiger Chor steht, und ich denke … schade, dass ich davon so wenig höre! Aber ich kann mich dafür auch sehr freuen, wenn etwas so glückt. Ich war jetzt gerade in Die Unterwerfung 7 von Selge – da fand ich die Musik z. B. super. Das war überhaupt nicht kunstvoll, fast belangloses Zeug darunter, aber es passte halt total! Das war echt beeindruckend. Manchmal ärgert man sich einfach, wenn am Theater viel Geld für Scheiß ausgegeben wird. Klar, Theater braucht diese Freiheit, aber manchmal steht es in keinem Verhältnis. Das ist aber auch ein bisschen das Besondere, vielleicht auch Tolle am deutschen Theatersystem. Immer wenn ich in England ins Theater gehe, weiß ich, ich werde gut unterhalten, es wird eine solide professionelle Sache, aber nicht unbedingt neu oder aufregend (wobei es da natürlich auch Ausnahmen gibt). Hier in Deutschland kann es manchmal ganz neu und innovativ und aufregend (im doppelten Wortsinn) sein, oder auch mal ein richtiger Griff ins Klo, aber es gibt eben noch dieses Risiko, diese Ausschläge nach oben oder unten. Das Scheitern darf und muss auch sein. CB: Stimmt: Ich habe mal eine Arbeit mit Fabian Hinrichs gemacht und dem Gitarristen von Element of Crime [Jakob Ilja].8 Wir haben dafür eine Band zusammengestellt. Das hat aber nicht so gut funktioniert, weil Fabian zum ersten Mal nicht mit Pollesch zusammengearbeitet hat und selbst die Regie geführt hat. Da war eigentlich ganz viel Potenzial, auch musikalisch, und Fabian ist ein tierischer Schauspieler und

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Sänger, aber es ist irgendwie nicht zusammengekommen. So was passiert halt. Das ist dann gar kein böser Wille. Das Scheitern ist halt auch mal wichtig. Du unterrichtest auch – an der ›Ernst Busch‹ in Berlin und an der Zürcher Hochschule der Künste. Ich finde das Thema Ausbildung ohnehin ganz wichtig: Ich habe den Eindruck, dass an den Schauspielschulen schon noch recht klassisch Liedgesang mit Korrepetitor*in geübt wird. Was sind deine Eindrücke? CB: Meine Erfahrung ist, dass das von Hochschule zu Hochschule natürlich verschieden ist. Die ›Ernst Busch‹, eine der renommiertesten deutschen Schauspielschulen, ist in dieser Hinsicht noch recht altmodisch. Die sprechen auch noch über »richtig« und »falsch«: »wenn du das so singst, ist das falsch«. Und das ist natürlich Quatsch. Zürich ist da hochmodern: Die arbeiten mit Modulen und laden auch mal Grenzgänger wie Georgette Dee ein. Da ist, glaube ich, ein großer Bedarf an neuen Wegen. Ich nehme Schauspieler*innen als sehr talentiert wahr, aber wenn sie nur irgendwelche Sachen singen müssen, von denen sie nichts haben, zu denen die keinen Bezug haben und wodurch sie nichts lernen, dann bringt das nichts. Ich finde, dass da ein Unterricht, der offen ist und kreativ mit ihnen umgeht, ihre Stärken und Schwächen berücksichtigt, viel bewirken könnte. Wir haben z. B. am Thalia Theater ganz viele Schlagzeuger [unter den Schauspielern], die fast alle nicht wirklich wissen, was sie da tun: Wenn man denen in der Ausbildung gesagt hätte, »so Freunde, das ist hier eine Viertel, und jetzt spielt mal eine Sechzehntel gerade da drüber …« – da hätte man ganz viel machen können, und dann wären viele Prozesse hier im Zusammenspiel gar kein Problem oder würden viel schneller gehen. Wie unterrichtest du? CB: Ich habe mit den Schauspieler*innen eher Sachen erfunden statt bestehendes Material einzustudieren. Die haben sehr viel getextet zu einem Thema – wir hatten eine Woche Zeit. Jeder hat einen Song geschrieben, und wir haben noch zwei Duette gemacht. Dann haben die sich aber auch selbst mit ihren Instrumenten begleitet. Das war mir auch wichtig, dass sie erfahren, was es heißt, in einer Band zu spielen. Die performen dann auch als Sänger*innen anders. Und die Texte haben mich umgehauen, worüber die nachdenken, wie reflektiert die sind.9 Und danach meinten die Student*innen, dass sie sich noch nie so frei und unterstützt gefühlt haben, bei dem, was sie ausdrücken wollen. Das

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zeigt, dass mehr auf eigene Kreativität gesetzt werden sollte und eine moderne neue musikalische Ausrichtung an den Schauspielschulen forciert werden müsste. Ein Kollege, Jörg Gollasch10, unterrichtet auch an der ›Ernst Busch‹ – allerdings die Regiestudent*innen. Das finde ich auch wichtig, dass die frühzeitig eine musikalische Sensibilität entwickeln. Wie denkt man Musik mit und inszeniert sie gegebenenfalls auch? CB: Antú ist z. B. sehr musikalisch. Das hilft total. Das ist aber in diesem ganzen Ausbildungsbereich noch fremdes Land. In Zürich mache ich jetzt ein Modul, da geht es um Tempo halten. Was ist ein Metrum? Wie kann ich bewusst damit spielen? Ist mir bewusst, wie schnell oder langsam ich spreche? Das wird spannend. Mehr Musikunterricht überall!

Carolina Bigge hat an der niederländischen Hogeschool voor de kunsten Arnhem Jazz- und Popschlagzeug studiert. Sie lebt in Berlin und Hamburg und ist als Schlagzeugerin, Musikalische Leiterin, Produzentin, Komponistin und Songwriterin u. a. für Ben Zucker, Schiller, Beckmann, Peter Plate, Vicky Leandros, Yvonne Catterfeld, Balbina, Marianne Rosenberg, Johannes B. Kerner Show (ZDF), Staatstheater Oldenburg, Schauspielhaus Lübeck (Theatermusik), Coming-in (Filmmusik), Bibi und Tina – Total verhext (Musik) tätig. Für das Thalia Theater Hamburg arbeitet sie als Bandleitung und Schlagzeugerin für die Produktionen Don Giovanni, Die Dreigroschenoper, Mutter Courage und Orpheus. Am Berliner Ensemble ist sie Komponistin und Live-Musikerin bei Max und Moritz. Bei der Arenentour des Musicals Bibi und Tina – Die große Show hatte sie die musikalische Leitung und war dort auch Schlagzeugerin. Außerdem hatte sie Lehraufträge für Bandpraxis und Bandleitung an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig und an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Seit April 2018 ist sie Lehrbeauftragte an der Zürcher Hochschule der Künste im Ausbildungsbereich Bachelor Schauspiel für die Fächer Tempo halten, Songwriting und Bandunterricht.

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Bibi und Tina. Die große Show, ein »Live Spektakel« nach den Figuren der Hörspielreihe Bibi Blocksberg, die später zu vier Kinofilmen von Detlef Buck gemacht wurden. Für die Filme schreiben bereits Peter Plate und Ulf Leo Sommer (Rosenstolz) die Songs. Don Giovanni. Letzte Party – eine Bastardkomödie nach Wolfgang Amadeus Mozart/ Lorenzo da Ponte, Regie: Antú Romero Nunes, Musik: Johannes Hofmann, Thalia Theater Hamburg, Premiere am 25. Januar 2013. Romeo und Julia – Das Musical. Regie: Daniel Karasek, Neuübersetzung: Daniel Karasek/Kerstin Daiber mit Songs von Peter Plate & Ulf Leo Sommer (Rosenstolz), Premiere im August 2014 am Schauspiel Kiel. Die Dreigroschenoper von Kurt Weill und Bertolt Brecht, Regie: Antú Romero Nunes, Musikalische Einrichtung: Johannes Hofmann, Thalia Theater Hamburg, Premiere am 12. September 2015. Mutter Courage und ihre Kinder nach Paul Dessau und Bertolt Brecht, Regie: Philipp Becker, Musik: Johannes Hofmann, Thalia Theater Hamburg, Premiere am 27. Januar 2017. Zum Beispiel für Liliom von Franz Molnár, Regie: Alexander Simon, Oldenburgisches Staatstheater, Premiere am 30. April 2016. Unterwerfung von Michel Houellebecq, in der Übersetzung von Norma Cassau und Bernd Wilczek in einer Fassung von Karin Beier und Rita Thiele, Regie: Karin Beier, mit Edgar Selge. Musik: Daniel Regenberg, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Uraufführung am 6. Februar 2016. Die Zeit schlägt dich tot von und mit Fabian Hinrichs, Berliner Festspiele, Uraufführung im Oktober 2012. Einen Eindruck von den Ergebnissen vermittelt eine kurze Dokumentation unter https://www.youtube.com/watch?v=2ZtMeeOCmnU (zuletzt aufgerufen am 6. Oktober 2018). Siehe das Interview mit Jörg Gollasch in diesem Band.

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Michael Wilhelmi: »Häufig sage ich mir den Text ganz oft laut vor, wie man ihn sprechen würde, und dann findet sich, wie man ihn singen könnte« Ein Gespräch am 22. März 2019 in München

Wie beschreibst du deine Tätigkeit? Michael Wilhelmi: Ich bin Pianist und Komponist. Ich arbeite viel am Theater, da kommt es dann darauf an, mit wem ich arbeite. Ob ich eher als Darsteller agiere und improvisiere, ob ich als Komponist arbeite oder als Pianist. Es gibt dafür keine allgemein gültige Bezeichnung. Wie löst du das in Programmheften? Michael Wilhelmi MW: Da steht meist »Musik«, »MuFoto: Claudia Meyer sikalische Leitung«, »Arrangement« oder »Komposition«. Aber am besten finde ich einfach »Musik«; das ist am unkompliziertesten. Meine Arbeit am Theater bewegt sich meistens zwischen diesen Tätigkeiten. Man könnte es natürlich Theatermusik nennen, aber dieses Wort ist für mich negativ konnotiert, es klingt immer etwas nach Musik zweiter Klasse, nach einer Dienstleistung für andere, die an sich keinen eigenen Wert hat. Manche nennen es ja auch Schauspielmusik? MW: Das würde ich auf keinen Fall sagen, da ich viele meiner Produktionen (z. B. alle mit David Marton) als Musiktheaterproduktionen verstehe. In diesen Stücken agieren die Musiker*innen auch als Darsteller*innen, es sind meistens mehr Musiker*innen auf der Bühne als Schauspieler*innen. Bei ›Schauspielmusik‹ denke ich eher an illustrative Musik zur Untermalung von Szenen. Das interessiert mich weniger. In den Arbeiten mit David und auch mit Claudia Meyer (das sind die beiden Regisseur*innen, mit denen ich am meisten zusammenarbeite) ist es genau die Suche nach einer Arbeitsweise zwischen Schauspiel

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und Oper, die uns antreibt. Es geht um das Suchen nach einer Einheit von Musik und szenischer Darstellung. Genauso wie ein Text oder eine Szene zu einer Musik inspirieren kann, so kann sich auch eine Szene aus einem Klang entwickeln oder einem Rhythmus. Wir wollen hier die verschiedenen Perspektiven stärker miteinander verweben. Außerdem haben Schauspieler*innen andere improvisatorische Fähigkeiten als Musiker*innen. Wir suchen nach Situationen der gegenseitigen Befruchtung. Wie bist du zur Theatermusik gekommen? MW: Ich habe zuerst an der Hochschule in Berlin Jazz und Komposition studiert, danach Neue Musik in Leipzig. Ich habe mich immer in einem Bereich zwischen Komposition und Improvisation bewegt, die beide am Theater gleichermaßen wichtig sind. Zum Theater bin ich über Studienkolleg*innen gekommen. Es gab immer Kontakte von unserer Hochschule zu den Berliner Theatern z. B. zur Volksbühne, wo ich dann auch mal bei Christoph Schlingensief als Bühnenpianist ausgeholfen habe. Mein wirklicher Einstieg war aber am Berliner Ensemble bei Robert Wilson, der dort die Dreigroschenoper 1 inszeniert hat. Hier arbeitete ich zunächst als Korrepetitor, später auch als Musikalischer Leiter. Die Dreigroschenoper ist ein originäres Genre zwischen Oper, Schauspiel und Musical. Wilson hat allen Beteiligten immer eine hohe Präzision und Aufmerksamkeit abverlangt, Licht, Szene und Musik sind in seinen Inszenierungen immer sehr genau miteinander verbunden. Das hat mir einiges an Handwerk vermittelt. Dann kam ich in Kontakt mit Claudia Meyer, die zu der Zeit am DNT Weimar war. Sie hat mich nicht nur als Pianist und Komponist für ihre Stücke eingesetzt, sondern auch als Darsteller. Da sie selbst ursprünglich aus dem Schauspiel kommt, konnte sie mir diesbezüglich sehr viel vermitteln, auch, was die Behandlung von Text im Schauspiel angeht. Wir arbeiten bis heute sehr eng zusammen. Mit David Marton kam ich auch über die Hochschule in Kontakt. Wir kennen uns in dieser ganzen Gruppe schon seit Studienzeiten: David hat dort Regie studiert, Paul Brody war zu meiner Zeit dort Dozent, mit der Sängerin Yuka Yanagihara habe ich damals schon zusammengespielt, und die Sängerin Jelena Kuljić hat ebenfalls dort Jazz studiert. Da die Theaterwelt klein ist, habe ich im Laufe der Zeit auch mit einigen anderen Regisseur*innen gearbeitet und war an vielen verschiedenen Häusern tätig.

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Ich habe gelesen, dass du auch Mathematik studiert hast? MW: Ja, ich hatte vor der Musik angefangen, Mathematik zu studieren, mich dann aber für die Musik entschieden. Ich habe dann später per Fernstudium nebenbei das Mathematikstudium abgeschlossen und hatte in diesem Bereich danach eine Promotionsstelle, halb Forschung, halb Lehre, aber das ging zeitlich nicht mit dem Theater zusammen. Ich betreibe nun privat weiter mathematische Forschung, das entspannt mich und bringt mir Zerstreuung, ich lebe aber von der Musik. Gibt es für dich Querverbindungen zur Musik? Die Nähe zur Mathematik wird ja oft beschworen. MW: Im Prinzip schon. Jemand, der sich mit digitaler Klangerzeugung beschäftigt, sollte z. B. einiges an Mathematik verstehen. Das ist aber eher angewandte Mathematik, fast mehr Physik, die man dafür braucht. Mich interessiert bei der Mathematik eher das, was daran ›kompositorisch‹ ist, das Entwerfen von abstrakten Bildern, das Schaffen neuer Gedankenstrukturen, die dann ein Eigenleben bekommen. Es ist erstaunlich, wie reichhaltig ein Axiomensystem sein kann und wie viele Sprünge in der Perspektive es manchmal erlaubt. Natürlich habe ich mich mit Kompositionsalgorithmen beschäftigt, habe eine Zeit lang ungefähr alles ausprobiert, was es da so an Programmiersprachen gibt. Ich hatte aber das Gefühl, dass sich hier die Kreativität der beiden Bereiche gegenseitig ausschließt, die Algorithmen, mit denen Musik erzeugt wird, gibt es meistens schon, und für diese ist die Musik nur ein relativ eingeschränktes Anwendungsgebiet: Wirklich neue mathematische Ideen auf Musik anzuwenden, führt dann umgekehrt meistens auch zu mageren Ergebnissen. Es gibt z. B. Musikwissenschaftler*innen, die die Homologiegruppen von irgendwelchen Beethoven-Sonaten ausrechnen – wie auch immer sie das tun: Der Sinn dafür erschließt sich mir nicht, außer dass die Autoren zeigen wollen, dass sie sich in Topologie auskennen. Es gibt Leute, die in diesem Bereich tolle Sachen machen – ich finde z. B. die Kompositionen von Iannis Xenakis fantastisch – nur ist bei ihm die Mathematik nicht besonders ausgefuchst bzw. teilweise sogar falsch. Es ging ihm nur um die Musik. Am IRCAM wurden seine Theorien weiterentwickelt – ich habe all diese Bücher zu Hause, schaue da aber nie rein, weil das nicht wirklich inspirierend ist. Gibt es dann bei dir so etwas wie eine typische Arbeitsweise? Wie viel ist dabei Komposition, Improvisation, Arrangement, Auswählen? All das

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gehört ja zu deiner Arbeit. MW: Das ist unterschiedlich. Ich arbeite gerne eng am Text. Mit Claudia

habe ich z. B. in Weimar den Kaufmann von Venedig 2 gemacht. Wir haben dort beschlossen, den fünften und letzten Akt des Stücks als eine Art Mini-Oper zu vertonen. Dieser Akt ist eher ein Anhängsel, wird auch gerne in Inszenierungen weggelassen, da die Kerngeschichte, der Prozess gegen Shylock, schon vorbei ist. Shylock ist verjagt, die anderen bleiben unter sich und feiern sich selbst, frei von irgendeinem moralischen Gewissen. Dieser Akt ist schon von Shakespeare sehr musikalisch gedacht. Der englische Text ist sehr inspirierend und gibt viel an Rhythmus vor – sich davon leiten zu lassen, führt auf jeden Fall schon zu einer Art von Musik. Die Musik wächst regelrecht aus dem Text heraus. Dann ist es eine Frage des Ausprobierens: Wird es ein Song? Ich improvisiere dann sehr viel. Häufig sage ich mir den Text ganz oft laut vor, wie man ihn sprechen würde, und dann findet sich, wie man ihn singen könnte. Das ist ein langer Prozess. Und das machst du mit dir selbst aus – du wartest also nicht auf Leseproben oder Ähnliches, bis du den Text von den Schauspieler*innen gesprochen hörst? MW: Nein, das mache ich alleine, und das passiert auch gerne schon vor Probenbeginn, weil es danach zu stressig werden würde. Und natürlich im Austausch mit dem/der Regisseur*in, mit dem/der ich mich dann bespreche: »Wie hörst du den Text? Welche Haltung stellst du dir darunter vor?« –, aber noch nicht mit den Schauspieler*innen. Wenn sie keine Sänger*innen sind, freuen sie sich erfahrungsgemäß über eine möglichst genaue Vorlage. Der Schritt vom Ausprobieren zum Fixieren – wie geht der vor sich? MW: Ich nehme die unterschiedlichen Varianten auf mein iPhone auf, höre sie ab und wähle dann aus. Das bearbeite ich dann weiter und notiere es dann erst in Notenschrift. Ich komponiere meistens aus einem Antrieb der Improvisation heraus, das Bearbeiten kann dann aber lange dauern und sehr akribisch werden. Es kann von einer Note abhängen, ob eine Vertonung eines Textes stimmt oder nicht, ob sie Fluss hat, vor allen Dingen, ob sie etwas Spezielles hat, was sich nicht konzeptuell beschreiben lässt. Das ist jetzt aber nur eine Herangehensweise, die ich gerade beschrieben habe. Bei David arbeite ich nicht so stark am Text. Da geht es mehr um Atmosphären, und wir sind meistens ›live‹ auf der Bühne. Bei meiner ersten Arbeit mit ihm – das war Die Krönung der Poppea3

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in Hamburg – war ich als Komponist engagiert. Ich kannte seine Arbeitsweise noch nicht und hatte einige Sachen vorbereitet, die dann aber höchstens als Inspiration in das Stück eingeflossen sind. Es stellte sich im Laufe dieser Produktion heraus, dass es viel sinnvoller war, dass ich auf der Bühne mitimprovisiere und sich Musik und Szene alles aus einem Guss und gleichzeitig in Echtzeit entwickeln. Engagiert war ich als Komponist, aber am Schluss habe ich bei dem Stück auf der Bühne mitgespielt. Viele Arbeiten von Marton sind Bearbeitungen von Werken, bei denen es bereits Musik gibt, sei es von Monteverdi, Mozart, Bellini oder Alban Berg. Was heißt in diesem Kontext dann ›Komponieren‹ für dich? MW: Als David mich zum ersten Mal engagiert hatte, hatte ich gerade eine CD aufgenommen, eine Neubearbeitung von Schumanns Kreisleriana4. Er hatte das gehört und kam auch deswegen auf mich zu, weil wir eine sehr ähnliche Herangehensweise hatten. Man könnte diese Technik als ›Weiterkomposition‹ des Originalstücks bezeichnen, allerdings trifft es das nicht immer. Bei den Werken, mit denen wir uns beschäftigen, handelt es sich oft auch um sehr bekannte Werke, die in sich abgeschlossen sind und einer Weiterkomposition nicht bedürfen. Es geht dann keineswegs darum, diesen alten Werken neue Relevanz zu verleihen, im Sinne eines ›Verständlichmachens für heutige Ohren‹ – so etwas würde ich als Bevormundung des Publikums empfinden. Mir geht es eher darum, einen musikalischen Dialog mit diesen alten Werken einzugehen, einen musikalischen Kommentar zu diesen Werken zu finden. Wo wäre eine Phrase vielleicht hingegangen, wenn der Komponist heute gelebt hätte? Es hätte viele andere Möglichkeiten gegeben: Ein vergangenes Stück macht einen Möglichkeitsraum auf. Das Stück soll aber auf der anderen Seite nicht als bloßer Ideensteinbruch dienen, als Materialsammlung. Der Geist der Komposition soll auch in unseren Kontext übersetzt werden, aber auf undidaktische Art und Weise. Wo verläuft da die Grenze zwischen Komponieren und Arrangieren? MW: Es gibt Musikstellen, die wir unbearbeitet lassen, die dann für die jeweilige Besetzung arrangiert werden. Da geht es darum, wie ein DJ neue Kontexte durch die Zusammenstellung der Musikstücke zu schaffen. Man kann das Alte auch mit Neuem überlagern: z. B. habe ich bei Figaros Hochzeit 5 hier in den Kammerspielen über traditionell arrangierte Chorstellen aus der Oper frei mit dem Klavier darüber improvi-

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siert, so als wäre das alte Werk eine Art dekoratives Möbelstück, was es zu verschönern gilt. Es kann auch passieren, dass wir nur ein kleines Fragment aus einem Musikstück entnehmen und bei diesem dann untersuchen, welche Eigendynamik sich daraus entwickelt. Um bei dem Beispiel zu bleiben, hatten wir bei Figaros Hochzeit auch einige freie Improvisationen mit dabei, die auf den Geist des Aufbegehrens hinweisen, der im Libretto der Oper auch immer durchscheint. Gibt es dafür Vorbilder? Ich musste gerade an Quincy Jones’ Bearbeitung von Händels Messias denken, oder an Uri Canes Jazz-Platten zu Mahler und Schumann?6 MW: Ja, da gibt es einiges. Mal mehr, mal weniger gelungen. Viele dieser Crossover-Versuche finde ich eher oberflächlich. Nur weil man in der Barockmusik über Akkorde improvisiert hat, muss man jetzt nicht gleich eine Jazzband gründen, die über Purcell-Arien improvisiert. Das kann man machen, sollte aber nicht der Grund dafür sein. Gerne löschen sich die Stile, die da angeblich so gut zusammenpassen, gegenseitig aus. Mich interessieren mehr die Zusammenhänge, die überraschen, die unerwartet sind, die eine neue Sprache begründen könnten. Wir versuchen in unserer Arbeit ständig, die Perspektiven zu wechseln: Was bedeutet etwas szenisch, harmonisch, emotional, von der Melodie her usw.? Gelungen finde ich ein Crossover-Projekt dann, wenn die Zusammenhänge zwischen alt und neu so miteinander verwoben sind, dass sie sich nicht mehr auseinanderdividieren lassen. Dann ist es aber auch genau kein ›Crossover‹ mehr. Es gibt für mich aber ein Vorbild aus der Literatur: Ich habe einige Bearbeitungen der Winterreise7 von Schubert gemacht, auch eine mit Claudia in dem Stück Winterreise 8 von Elfriede Jelinek, die ihrerseits öfter den Text von Wilhelm Müller einfließen lässt. Als ich in einem Interview mit ihr gelesen habe, wie sie Texte von früher bearbeitet, wie sie das in ihre Arbeit hineinbringt, da fand ich das schon sehr ähnlich zu dem, wie ich musikalisch arbeite. Nun könnte man ja bei der Sonnambula9 oder anderen Projekten von euch fragen: Warum macht ihr denn nicht ›richtig‹ die Oper? Warum müsst ihr da noch mal drübergehen? Nach welchen Qualitäten sucht ihr im Moment der Bearbeitung? MW: Das erste Problem bei dieser Oper ist schon mal die Handlung. Das ist jetzt kein Shakespeare! Die Handlung gibt nicht genug her, um es z. B. als Schauspiel zu machen. Und auch als Oper finde ich diese Oper gar nicht so spannend. Es gibt sehr schöne Arien, aber insgesamt schleppt

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sich das Stück so dahin. Das ist ein Stück, das sich dazu eignet, mehr daraus zu machen. Hier würde ich ausnahmsweise wirklich von einer Weiterkomposition sprechen, auch weil unsere Bearbeitung musikalisch der Chronologie der Oper genau folgt. Gegenüber dem reinen Neukomponieren finde ich es manchmal spannender, sich mit alten Mosaiksteinen zu beschäftigen, mit altem Material. Dadurch kommt eine zusätzliche Sinnebene mit rein. Man kennt das Stück – was bedeutete es damals, wie kann man dem eine neue Bedeutung geben? Daran kann man sich reiben. In der Sonnambula-Inszenierung ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit, die Nostalgie eine wichtige Linie. Wie sieht die Zusammenarbeit mit Regie und Schauspieler*innen dann auf der Probe konkret aus? MW: Ich bin immer von Anfang an da, ziehe mich aber manchmal raus – wobei das immer ein bisschen schwer ist, den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen, aber ich brauche die Zeit alleine oder wir Musiker*innen unter uns. Interessant war jetzt z. B. On the Road10, weil das einfach durchgehend frei improvisiert war, immer mit allen. Das war ein Experiment und führte auch zu Grenzen. Da hatte man zwischenzeitlich schon mal das Bedürfnis nach klaren Strukturen. Wenn man neue Prozesse ausprobiert, bedeutet das natürlich oft ein Stück Befreiung und ein Stück Verunsicherung. MW: Dass wir keine Schauspieler*innen sind und die Schauspieler*innen keine Musiker*innen, zeigte sich nicht immer, aber es kam schon ab und zu der Moment, wo man spürt, dass es nicht ganz aufgeht. Da griff aber der Regisseur auch ein, und am Ende war es dann schon so, dass jede*r eher da landet, wo er/sie sich tendenziell wohler fühlt. Das heißt aber auch: Wenn man den Prozess einfach so laufen lassen würde, wären Musik und Schauspiel am Ende wieder völlig getrennt. Und so sollte es ja gerade nicht sein! Wann funktioniert Musik für dich als Theatermusik? MW: Es gibt die Sinnkomponente. Das ist ein großer Unterschied zu ›reiner‹ Musik oder auch zu einer Schauspielmusik, die rein untermalend ist. Da stört es mich, dass es keine Begründung gibt, warum jetzt gerade dieses Musikstück an dieser Stelle kommt. Es sollte immer eine Verbindung zu dem geben, was gerade im Text passiert.

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Wenn du über den Sinngehalt in der Musik sprichst: Wie nimmt Musik für dich Bedeutung an? MW: Wenn man sich z. B. Lieder anschaut, von Schumann oder Schubert, da hat ganz oft die Musik, gerade das Vor- oder Nachspiel, eine ganz besondere Bedeutung, die den Text weiterträgt. Der Text sagt irgendwas, hört aber an einer Stelle auf, und die Musik sagt genau das Gegenteil: Das, was im Unterbewussten wirklich drunterliegt für die Figur. Bei der Dichterliebe 11 z. B. verselbstständigen sich so die Gedanken in der Musik.

Michael Wilhelmi in 1968.12 Foto: Julian Baumann

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Das klingt, als ob die Musik der Subtext der Figuren ist? MW: Das war jetzt bei diesem konkreten Beispiel so, oftmals wird es aber in der Musik dann doch nicht so konkret, es bleibt etwas wie eine Vorbedeutung, etwas, was noch nicht Sprache ist. Musik kann für mich so etwas wie eine gefühlte Logik oder Folgerichtigkeit in sich tragen, ähnlich einer mathematischen Gleichung, die aufgeht. Oder eher wie in einem Traum, in dem manchmal die absurdesten Dinge ganz logisch erscheinen, so kann sich eine Melodie immer weiter fortpflanzen auf eine Art und Weise, wie man es sich in dem Moment gar nicht anders vorstellen kann. Eine gelungene Improvisation ist auch so: Etwas, das im Moment passiert, und gleichzeitig so klingt, als wäre es im Vorfeld mit genauester Planung entstanden, so wie alles zusammenstimmt. Das ist ein Paradoxon, das sich manchmal einlöst. Du bist ja sehr häufig als Musiker auch auf der Bühne präsent. Wie empfindest du dich da? MW: Ja, das ist komisch. Vielleicht als Performer? Ich habe keine Schauspielausbildung. Ich meine aber, dass ich einen Text einigermaßen sprechen kann, wenn ich ihn verstehe. Das hat damit zu tun, dass ich auch Mathematik betreibe. Wir haben es dort mit sehr komplexen Sachverhalten zu tun und versuchen dabei immer, diese so verständlich wie möglich darzustellen. Wenn ich auf der Bühne bin, erinnere ich mich daran und versuche, auch das, was ich sage, möglichst zu denken. Was das ›Spielen‹ betrifft, da helfen mir dann auch die Regisseur*innen. Die erfinden dann für mich spezielle Situationen, die sie einem Schauspieler nicht unbedingt vorgeben müssten. Bist du eine Figur? MW: Manchmal schon. Ich habe z. B. gestern in Bern Das Missverständnis 13 gespielt, da bin ich der Knecht. Ich habe fast keinen Text, gehe aber sehr oft über die Bühne und beobachte das Geschehen. Ich bin derjenige, der von Anfang an weiß, dass es zu einer Tragödie kommen wird und der auch nicht interveniert. Am Ende des Stücks ruft die Frau des Ermordeten mich um Hilfe an, und ich sage nur das Wort: »Nein«. Dazu spiele ich Klavier. Spielst du das Klavier auch als Figur? MW: Ja. Ich komme rein als Knecht, bin mir dieser unerträglichen Si-

tuation sehr bewusst, gehe raus und spiele diese Wut dann ins Klavier rein. Der zweite Teil beginnt dann mit einer Wagner-Dekonstruktion

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und ist schon eher große Oper, da versuche ich, die Figur in dem, was ich spiele, genau zu zeichnen: liebende Verzweiflung, die Einsamkeit von jemandem, der nicht sprechen kann (ich spiele unter einer Folie) gepaart mit allergrößter Zerstörungslust. Das macht mir schon Spaß, so eine ›traditionelle‹ Rolle zu spielen, aber dafür brauche ich dann Regieanweisungen. Bei David sind es weniger Figuren, die ich spiele, sondern ich bewege mich mehr auf einer Kommentarebene. Bei Sonnambula hattest du aber schon einen großen Anfangsmonolog. MW: Das sind Notizen von Marcel Duchamp zu seinem Kunstwerk Das Große Glas14 welche dieses Werk näher erläutern sollen gleichzeitig aber auch Teil dieses Kunstwerks sind und über es hinausweisen. Mal plakativ gesagt, wird hier etabliert, dass die ganze Bühne wie ein Museum ist und ich in die ›Ausstellung‹ einführe – aber so platt wollten wir es dann letztlich nicht haben. Auf jeden Fall ist der Text kommentierend und bedeutet immer ein Aussteigen aus dem Stück. Ich habe den Text so bearbeitet, dass ich ihn in seiner eher assoziativen Logik für mich verstehe. Er handelt von einer erotisch aufgeladenen Wunsch- oder Junggesellenmaschine, einer ›vierdimensionalen Braut‹, die von einem Motor mit Liebesbenzin angetrieben wird. Animalische Triebe und die aktuelle Technik der Zeit Duchamps sind hier auf wundersame Weise vermischt. Es werden hier kybernetische Konzepte vorausgeahnt, wir zeigen eine Art Echo der Oper ins 20. Jahrhundert hinein, eine Verbindung der Opernromantik mit einem ebenso romantisierenden Futurismus, der seine Sehnsüchte in eine Technik projizierte, die auf uns heute auch schon antiquiert wirkt. Auf diese Art und Weise verdoppelt sich die Opernnostalgie. Musikalisch verwenden wir in dem Stück an einigen Stellen auch kurze Loops aus der Oper, die maschinenartig schnell repetieren – auch ich spiele das als Maschinenkörper am Klavier, da tragen wir diese Idee dann in die Musik hinein. La Sonnambula braucht diese zweite Ebene: Die Opernhandlung ist banal und wäre schnell erzählt gewesen. Auf diese Art und Weise wird sie in einen anderen Kontext gehoben: Das Schlafwandeln bedeutet etwas anderes in einer technisierten Welt. Dass ich den Kommentator spiele, passt ganz gut. Die Figuren, die ich spiele, sind oft speziell für mich konzipiert. Wir haben noch gar nicht über Technologie gesprochen. Du sitzt zwar viel am ›analogen‹ Klavier, aber beschäftigst dich auch intensiv mit digitalen Klängen und Programmen. Wie nutzt du diese, und wie hat Digitalität dein musikalisches Denken beeinflusst?

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MW: Es gibt Stücke, bei denen ich nicht auf der Bühne stehe und Ein-

spieler mache. Da gibt es dann keinen Grund, nur traditionell Klavier zu spielen. Dann arbeite ich mit Logic, habe aber früher auch alles ausprobiert, was es so an algorithmischen Kompositionsprogrammen gab: Max/MSP, SuperCollider, Chuck usw. Ich hatte damals eine Band, die Controller-Band, in der wir auch Software zur Sounderzeugung programmiert haben. Wir haben uns damals sehr damit beschäftigt, wie man Klänge ineinander umwandeln kann. In der elektronischen Musik hat man oft sehr viele Parameter, die man verändern kann, die oft sehr technisch sind und sich alle gegenseitig beeinflussen können. Wir wollten Instrumente bauen, die diese Fülle von Parametern intuitiv vom Klang her bedienbar machen. Ich habe mich elektronischer Musik mehr von der konzeptionellen Seite aus genähert im Gegensatz zum Klavier, auf dem ich immer am liebsten improvisiert habe. Wenn du an Klängen bastelst, gibt es dafür Kriterien der Auswahl, oder wie gehst du da vor? MW: Ziemlich instinktiv – und ich bin da auch traditionell, muss ich sagen. Wenn ich am Theater arbeite, denke ich da eher Song-haft. Es ist gar nicht so klangorientiert, sondern es gibt eher ein Thema usw., das dann aber für Elektronik instrumentiert ist. Es ist dann lange nicht so experimentell wie das, was ich früher mit der Controller-Band gemacht habe. Ich wüsste auch nicht, ob so eine experimentelle Band am Theater funktionieren würde, da wir uns immer Konzepte überlegt haben, ohne zu wissen, was dabei musikalisch herauskommt. Das war dann das Experiment. Welche Rolle spielt bei euch die Tontechnik-Abteilung? MW: Diese Abteilungen sind im Wesentlichen meistens eher ausführend. Dazu muss man aber auch sagen, dass die Tonabteilung in vielen Theatern sträflich vernachlässigt wird. Die Münchner Kammerspiele sind ein Beispiel dafür, dass es auch anders gehen kann. Die Tontechniker*innen, die hier arbeiten, haben eine fundierte Ausbildung und einen Kunstanspruch. Das ist an anderen Theatern im Allgemeinen nicht gegeben und die Tontechniker dort wundern sich dann, wenn die Musiker*innen kommen und schon alles auf Ableton vorprogrammiert haben und sie zu reinen Knöpfedrückern degradiert werden. Das höre ich immer wieder, und es ist ja schade, denn im Idealfall ergänzt sich das ja sehr: Die Tontechniker*innen kennen ihr Haus, ihr Equipment …

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MW: … eben, warum sollen wir das machen? Wir kennen uns doch in

dem Raum gar nicht aus! Und man darf eben auch nicht einfach auf Texteinsatz fahren, sondern muss das musikalisch mitgestalten, die Lautstärken mitfahren und auch mal was ändern, wenn die Vorstellung anders ist. An manchen Theatern sitzt die Tonabteilung hinter Glas und hört eigentlich gar nichts! Das haben sie in München systematisch abgeschafft. Bei Microports gilt das sowieso: Da als Tontechniker*in nicht mit im Raum zu sitzen, gehört unter Strafe gestellt [lacht]! Ich wollte noch mal darauf zurückkommen, wovon du eingangs gesprochen hast: dass das Improvisieren und Komponieren bisweilen Gegenpole bei dir waren oder zumindest von deiner Umwelt so wahrgenommen wurden. In welchem Verhältnis stehen bei dir konzeptionelles Denken und eher intuitives Tun? MW: Das ist ein fließender Übergang. Es gibt auch den Begriff des ›Instant Composing‹, der beides vereint, aber nicht immer treffend ist. Wenn in einem Stück so etwas wie Songs vorkommen, gibt es natürlich vorher Überlegungen, und ich denke dann auch oft schon mit, ob sich da weitere Motive für andere Stellen abspalten lassen. Da denke ich eher kompositorisch. Bei einem Stück wie On the Road, wo eigentlich nur improvisiert wird, finde ich es dagegen sogar kontraproduktiv, sich vorher etwas zu überlegen. Es unterscheidet sich also je nach Kontext und Stück? MW: … und nach Besetzung. Je größer die Besetzung, desto mehr muss man überlegen. Wenn da z. B. ein Chor oder ein Ensemble von Musiker* innen dabei ist, kann man nicht einfach losimprovisieren, das wird nicht abendfüllend. Umgekehrt habe ich auch schon erlebt, dass wir zu viert waren und gut hätten improvisieren können, und dann kam ständig so ein Arrangeur und schrieb einem immer irgendeinen Quatsch auf. Das finde ich dann auch völlig unsinnig. Das war bei einer Herbert-Fritsch-Inszenierung, Herbert Fritsch mit Noten. Da würde ich sagen: Thema verfehlt. Wie improvisiert ist On the Road am Abend noch? MW: Das hat sich schon ziemlich eingespielt. Es gibt einfach klare Eckpunkte und natürlich auch eine Dramaturgie, wann es lauter und leiser werden soll usw. Lass uns abschließend noch mal ein bisschen ›herauszoomen‹: Wie nimmst du die Gemeinschaft der Theatermusiker*innen insgesamt

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wahr? Beachtet und beobachtet man sich da gegenseitig? Gibt es Inspirationen? MW: Ich denke nicht, dass es da so etwas wie eine Gemeinschaft gibt, aber ich bin mit vielen Musiker*innen befreundet, und manche dieser Musiker*innen arbeiten auch am Theater. Mit den Musiker*innen, mit denen ich bei David meistens spiele, Paul Brody und Daniel Dorsch, auch mit den Sängerinnen Yuka Yanagihara und Jelena Kuljić bin ich natürlich befreundet, wir arbeiten sehr viel zusammen und verstehen uns musikalisch blind. An den Münchner Kammerspielen gab es in den letzten drei Jahren aber schon einen guten Austausch über die Produktionen hinaus. Hier bin ich auch mit Thomas Kürstner und Sebastian Vogel15 in Kontakt gekommen, die bei Nicolas Stemann oft die Musik machen; wir haben letztes Jahr auch zusammen ein Konzert gespielt. Auch Kazuhisa Uchihashi, der bei No Sex16 die Musik gemacht hat, habe ich hier kennengelernt. Ich schätze diese Kollegen als Musiker sehr; dass sie am Theater Musik machen, ist da für mich nicht unbedingt ausschlaggebend. Ich finde trotzdem, dass es bei den Musiker*innen, die beim Theater arbeiten in den letzten zehn Jahren einen Qualitätssprung gab. Christoph Marthaler hat einen großen Anteil daran, dass das Niveau so viel besser geworden ist. Es ist ohnehin spannend zu beobachten, wie viele Musiker*innen in den Gesprächen irgendwann auf Marthaler zu sprechen kommen! Er ist eine echte Bezugsgröße. Gerade auch für die Frage, welche Funktionen Musik erfüllen kann, welche Rolle sie spielen kann. MW: Letztes Jahr habe ich auch mit Marthaler gearbeitet – ich war als Pianist mit dabei bei seinem Charles-Ives-Projekt17 an der Ruhrtriennale. Das war ein Mammutprojekt mit drei Orchestern, die gleichzeitig gespielt haben, eine koordinatorische Meisterleistung mit trotzdem sehr entspannten Proben, in denen ich auch das eine oder andere wiederentdeckt habe, was jetzt andere Regisseur*innen auch machen. Ich denke, dass Christoph Marthaler eine Art ›Genre‹ begründet hat, in dem wir uns nun alle bewegen. Er hat dafür gesorgt, dass sich nun am Theater die Musik und das Schauspiel auf Augenhöhe treffen können. Er hat diesen Dialog in allen Facetten zum Leuchten gebracht.

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Michael Wilhelmi studierte Mathematik, Logik und Philosophie an der Universität Leipzig später Klavier/Jazz/Komposition an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin bei Reinhold Friedl, Aki Takase, Gerorg Graewe, John Taylor, Alex von Schlippenbach und Steffen Schleiermacher. Er unterrichtet seit Oktober 2004 an der Hochschule für Musik ›Hanns Eisler‹ Berlin Improvisation für Dirigierstudenten. Seit 2001 entwickelt Wilhelmi mit der Controller-Band Steuerungssoftware für elektronische Musik und konzertiert mit selbiger im In- und Ausland (u. a. Media Space Stuttgart 2004, ICMC Barcelona 2005, Rencontres International Paris/Berlin 2005). Er gewann zahlreiche Preise, u. a. bei: Internationaler Wettbewerb für junge Kultur in Düsseldorf, Förderpreis des Berliner Senats, ›Hanns-Eisler-Preis‹, Interpretation, in Berlin. Er kam außerdem mit der Gruppe Super 700 ins Finale der Dutch Jazz Competition. Seit 2008 ist er verstärkt als Musikalischer Leiter/Komponist/Pianist im Bereich (Musik-) Theater tätig u. a. am Berliner Ensemble (Dreigroschenoper, Regie: Robert Wilson), DNT Weimar (Winterreise – Elfriede Jelinek, Regie: Claudia Meyer), am Thalia Theater Hamburg (Die Krönung der Poppea, Regie: David Marton), Schaubühne Berlin (Die Heimkehr des Odysseus, Regie: David Marton), an der Volksbühne (Die Kameliendame, Regie: Clemens Schönborn), den Münchner Kammerspielen (La Sonnambula, Figaros Hochzeit, On the Road, Regie: David Marton) und am Konzert Theater Bern (Biedermann und die Brandstifter, Das Missverständnis, Regie: Claudia Meyer). www.michaelwilhelmi.de

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Die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht und Kurt Weill, Regie: Robert Wilson, Berliner Ensemble, Premiere am 26. September 2007. Kaufmann von Venedig von William Shakespeare, Regie: Claudia Meyer, Deutsches Nationaltheater Weimar, Premiere am 1. Juni 2013. Die Krönung der Poppea von Claudio Monteverdi, Regie: David Marton, Thalia Theater Hamburg, Premiere am 2. Oktober 2010. Die Kreisleriana (op. 16), Klavierzyklus von Robert Schumann (1838). Figaros Hochzeit nach Wolfgang Amadeus Mozart, Lorenzo da Ponte und Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, Regie: David Marton, Münchner Kammerspiele, Premiere am 10. Juni 2016. Quincy Jones: Messiah – A Soulful Celebration (WEA, 1992), Uri Caine: Urlicht (Winter und Winter, 1997) und Love Fugue (Winter und Winter, 2000). Die Winterreise (op. 89), Liederzyklus von Franz Schubert (1827). Elfriede Jelinek: Winterreise. Ein Theaterstück. Hamburg 2011. La Sonnambula nach Vincenzo Bellini und Felice Romani, Regie: David Marton, Münchner Kammerspiele, Premiere am 29. Januar 2016. On the Road nach dem Roman von Jack Kerouac, Regie: David Marton, Münchner Kammerspiele, Premiere am 28. September 2017. Dichterliebe (op. 48), Liederzyklus von Robert Schuhmann (1840). 1968. Eine Besetzung der Kammerspiele. Projekt von Leonie Böhm, Collectif Catastrophe, Gintersdorfer/Klassen, Henrike Iglesias, Elfriede Jelinek, Wojtek Klemm, Anna-Sophie Mahler, Raumlabor Berlin, Alberto Villarreal. Das Foto stammt aus dem von Anna-Sophie Mahler inszenierten Teil, Münchner Kammerspiele, Premiere am 8. Dezember 2018. Das Missverständnis von Albert Camus, Regie: Claudia Meyer, Konzert Theater Bern, Premiere am 20. Dezember 2018. Marcel Duchamp: Die Neuvermählte/Braut wird von ihren Junggesellen entkleidet, sogar (oder: Großes Glas), 1915. Siehe: http://www.dada-companion.com/duchamp/largeglass.php, zuletzt aufgerufen am 9. Mai 2019. Siehe das Interview mit Thomas Kürstner und Sebastian Vogel in diesem Band. No Sex von Toshiki Okada, Regie: Toshiki Okada, Münchner Kammerspiele, Premiere am 14. April 2018. Universe, Incomplete von Charles Ives, Christoph Marthaler, Titus Engel und Anna Viebrock. Ruhrtriennale 2018, Premiere am 17. August 2018.

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Paul Clark: »I try to offer a parallel world, which will sometimes collide with the journey of the drama« In conversation on 2 December 2017 in London

Paul, you have worked both in the UK and Germany within quite different institutional contexts – you are co-director of your own theatre company, Clod Ensemble, have composed music for theatre and opera at institutions such as Opera North or the National Theatre but have also experienced the German ›Stadtand Staatstheater‹, the municipal theatre system in Cologne, Berlin Paul Clark and Hamburg, so I am intrigued Photo: Bella Eacott to talk to you about your experiences from outside and inside of German ›Theatermusik‹. What do you call your work in relation to theatre? Incidental music? Paul Clark: It depends on the piece. With Clod Ensemble’s work it wouldn’t be the right word at all. That work is often driven by a score, and often has no spoken text at all. But perhaps with naturalistic plays like, eg., Fräulein Julie 1, those kind of very text-based straight narratives you could call my contribution ‘Incidental music’. The music tends to be very much supporting that text. But I try to avoid all the terminology and just say ‘music’. In a recent piece I did with Katie Mitchell, Cleansed 2, the music was, you could say, a loud colour in the fabric of the piece rather than a muted colour! That felt different. Katie is quite open to suggestions, so sometimes we start a piece thinking it will contain incidental music and then it turns into something else, something that gives a performance a particular identity. For example, we just did Alice Birch’s Anatomy of a Suicide 3 at the Royal Court in London. It is a complex play with three strands, three simultaneous plays going on at the same time. I ended up setting sections of that to music as you would for an opera – not all of it, maybe 20%, but that became something different, like a Singspiel, but the audience weren’t necessarily aware that that was happening: I’d slip into this sound and then make

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it disappear – it was somewhere between opera and a very ‘present’ kind of incidental music. With regard to the work I do with Clod Ensemble each piece is really different. While the music is always a big element, some productions are more obviously music-led – e.g. Zero 4 or Anatomy in Four Quarters 5 – whereas for some of the pieces – e.g. Must 6 – it is a bit ›further back in the mix‹. Generally, the less spoken text there is in the piece, the more the structure of the piece is driven by the music. Like dance scores. But it’s not really dance.

Zero by Clod Ensemble. Photo: Hugo Glendinning

Your productions defy a clear notion of genre, don’t they? The pieces flirt with different genres at different times. PC: Exactly. We talk about this a lot. We have one piece, Silver Swan7, that has been programmed in theatre festivals, opera festival, dance houses, music festivals, in art galleries, found spaces, a church. I’m not sure audiences care about genre terminology. I certainly don’t find it very helpful. It is interesting to me, how you use the words incidental music, because there are some translation issues here. In German, it is either ›Schauspielmusik‹ or ›Theatermusik‹. In English ›theatre music‹ is much less common and from what you were just saying I gather that ›incidental

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music‹ is not just a technical term for music in dramatic or ›straight‹ theatre, but denotes a particular quality or style. PC: I think it denotes a quality. Perhaps not a style. But ›underscore‹ seems to be the term that people are using a lot now. That also refers to film practice, doesn’t it? PC: Yes, and it also definitely indicates a certain hierarchy. Incidental suggests it is somewhat functional and in the background. The other term that used to be used is »Background Music« – although you don’t hear that so often these days. I don’t use the word ›incidental music‹ very often, probably because I’m not modest enough [laughs]. What’s even more confusing, is that we do have the word ›Inzidenzmusik‹ in German, but that is conventionally used for a music that is already called for by the author of the play, eg., as part of the stage directions. PC: I think the term has the same roots in English. But the word changed its meaning over time. What also noteworthy is the difference in job descriptions you might find in the theatre: I can’t think of an example in Germany where a production would have two different people responsible for composition and sound design respectively, whereas in the UK that seems to still be quite common, also in Katie Mitchell’s productions. You are the composer in that context – what is that relationship to sound design like? PC: I mainly work with three sound designers, Gareth Fry, Melanie Wilson or Donato Wharton, who have different kinds of musical knowledge. I am using the word ›music‹ crudely here, since it is almost a private joke between us: When I ask, »Do we need some music here?«, they might respond by saying: »Isn’t what I do music as well?«, when they play the sound of, say, a cement mixer. Which of course it is. Depending on the project, I am quite open to carving things up in different ways for different projects. I am interested to see what happens. I see it as an opportunity to learn something, to try a different approach each time. I might take some of the sound designer’s sounds, edit them, tune them and make them into ›instruments‹ in my score. And they might take my sounds and weave them into their sound design. So, for example, with Cleansed, there are definitely parts in the score, where I would no longer be sure how some sounds were created if you play them back to me – they have been passed between myself and the sound designer so many times. Usually, I would do all the things that require recording sessions

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with acoustic instruments. If there was a song or a violin playing somewhere; I would obviously do that and if there was anything very rhythmic, I would have an opinion on it at the very least. I would lead on anything that the typical audience member would call music. I normally also record a lot of music suggestions before the production even starts and say to the sound designer: »Here are a number of two-minute pieces, which I think could be useful«. And she might find, say, the last 30 seconds of one piece particularly interesting, put it through some filters and mess around with it in her own way and then play it back to me. And I might say: »I like that and will now take what you have done and write a melody over the top«, or whatever. It can be as collaborative as that sometimes. Similarly, I had to write a song for Cleansed because we couldn’t get the rights for the Beatles song that Sarah Kane had suggested. In the song I created a lot of space for sound effects, like explosions, which all became part of the song. It ended up being a kind of combined sound sculpture and Country and Western song. At other times, I may have very little to do with the sound design beyond perhaps suggesting the re-tuning of a drone, and otherwise having absolute clarity about the division of labour, like in Waves.8 There, I was sitting at the desk next to Gareth, but all of the conversations were about volume levels, and the general sonic shape of the show, not sharing content. I am interested in both: composition and sound design, keeping it open and often responding to the technology as it becomes available. I guess the division of labour between composers and sound designers is much more pronounced in the British theatre system. In Germany, I found that that job is mostly done by one person and that the boundaries between what is music and what are sounds is more fluid. With Clod Ensemble I work this way. I do all the sound design myself and perhaps just get in a technical person to help me put together the best system of speakers etc. But they won’t make any content. I guess this also reflects the overall differences in theatrical aesthetic. In Britain, there is still much more of a sense of realism to which the sound design contributes. But this kind of theatrical illusion, the depicting a fictional world through sound, is not a device employed a lot in Germany ›Regietheater‹ any more! PC: That’s true of the larger subsidised theatres and the West End. But a lot of younger directors are attracted to what you could call a ›continental approach‹. There’s lots of non-naturalistic performance in smaller

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UK venues. The larger theatres just don’t programme it. Unless it is by a European director! Coming back to your music – how would you describe it? PC: I have been asked about this recently and have finally found a way of trying to describe it. It is a kind of consonance/dissonance of musical forms or styles rather than just in terms of harmony. I have avoided cultivating a particular style. Modern listeners are really polygamous in their tastes, and listen to music from different eras and from all over the world. Anything goes and will have a different meaning to the audience. So I am playing with audiences’s expectations in the 21st century – not with just a single concept of how tension/release should work. I have made it my project to learn about different musics and put them next to each other or lay them on top of each other. Doing stuff for the stage is obviously an invitation to do that and I will take that opportunity even if it is not specified by the script. So when we did a piece in Vienna9, I decided to do a Second Viennese School10 inspired music simply for my own satisfaction. But it also used lots of contemporary sounds and recording techniques. My background is classical, but all through my youth I listened to non-classical music – Jazz, Rock, Electronic Music and so on – so I don’t have any tribal loyalties. I nearly always have different genres of music in play and I am thinking about the consonance and dissonance of how I use them – not just in terms of notes or harmony, but in terms of style. In other words, I know that if I play a tango or hip-hop beat, they will give certain meanings, and if I put them up against each other, or on top of each other, then that will have another meaning, which I can use. I am influenced by [Alfred] Schnittke in that regard, but his palette was narrower. I am bringing in things that Schnittke wouldn’t touch. He wouldn’t do a full-on punk song, which I thoroughly enjoyed putting next to a string orchestra in Anatomie in Four Quarters. I am aware of the risks of that: seeming diffuse and a bit ›flibbertigibbet‹, as we say here, but it is an honest reflection of the music I want to hear. I feel the same way about food – I might have French for breakfast and Italian for lunch and Indian for dinner and don’t feel that makes my diet incoherent! Eclectic is the word, which comes to mind, but I should say that some people use that as a derogatory term, which I don’t: I think it describes techniques of mixing and collage … PC: … which seems to be what life is like now! People think in different

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chunks of time and are more likely to flip from one thing to another in the course of an hour, rather than stay in one sonic or visual world. I’m trying to make music that purposefully uses this reality. With my scores for Clod, and sometimes for other projects, I’m thinking of this structurally – thinking of musical themes as being genre as well as melody and texture. Of course there are exceptions – one piece I’m working on at the moment, Snow11, has a pretty limited palette of choir and percussion. Interestingly, it’s a short piece – 20 minutes. Listening to your music, it struck me that it seems to always contain recorded acoustic instruments rather than their surrogates from virtual instrument libraries, which is actually not that common anymore. PC: Yes, I like that quality. There are times, when I electronically process and destroy that recording – so a violin doesn’t sound like a violin – but the starting point was a sound I recorded myself. I feel that I can tell when it is just a preset from a software instrument – I can recognize the VSL strings [Vienna Symphonic Library], for example, when I hear them on a score, and there is something slightly sad about wearing the mass produced ›label‹. It’s useful of course, like all mass produced items, but it doesn’t interest me sonically. Recording is time-consuming to do, but I grew up at a time where this was the only way to do it, so I have got the recording skills and the gear and I simply put it into the budget for any new project. I’d rather be paid a bit less but have a recording session, even if it is only one three hour sessions with some really good musicians that I know. Then I have got a palette of sounds, that nobody else has. Even if I don’t yet know where the piece will lead me, I will just record sounds that I think will be of use to me. I throw in a couple of experiments, that may or may not work. And then I will use the full technological trickery to make something of them. I can chop everything up, maybe retune things, timestretch and so on, but yes, I do like a bit of analogue! Even in its electronic form. I never liked the Eighties digital sound, with respect to electronic music – I always preferred the analogue sound. I always like that slightly distressed, overdriven sound. The latest digital plug-ins are pretty satisfying from that point of view – I use Sound Toys a lot and some of Arturia’s synths. Can you tell me about your process? PC: There are several scenarios: With Clod Ensemble, there really isn’t a typical process – each work is bespoke and might require a different way of working. It is not unusual for us to take two or three years to make a

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piece – over several R&D [Research and Development] weeks and then a final rehearsal period – and it would be done in lots of different ways. A piece like Silver Swan12, a choral piece with dancers and actors, came from a composition of mine. Suzy Willson, the co-artistic director of Clod, heard me working on it and wanted to do something with it. I finished it and gave it to her. I did attend rehearsals, but I didn’t change the piece – it was finished at that point. A totally different example is the piece we are working on at the moment, Placebo13: I have been writing little pieces of music for it, we are working mainly with dancers and I am trying things, remixing things live in rehearsal, a year away from the scheduled premiere, trying to knit things together. At the earlier stages I might borrow some material from previous projects, trying to find the right sounds. We’re very fanatical about nailing the structure of the piece as a whole early on – so I will have lots of ›holding‹ sketches that allow us to map out the whole piece early on, even if it is rough. Once I have got that, I can actually write the final piece hoping not to change too much. Then for the final three week’s rehearsal the structure is locked down, and I only tweak. That’s how it works with Clod Ensemble. Occasionally, there are other more music-driven pieces with other directors – e.g. Here All Night14 with Gare St Lazare – where the score is heavily shaping the structure of the piece. With Katie, who is the main other person I work with regularly, it is the process I’ve described before: on the first day of rehearsal or even before I will give the sound designer between half an hour to an hour’s worth of short pieces, many of which are variations of the same material: if one version is too weird, there is another, calmer version and so on. Are these fully recorded? Or are these temp versions, MIDI sketches of your ideas? PC: I never do MIDI mock ups except for my own use. I tried it a couple of times and it was just confusing for the director, with me having to say »Of course, it won’t sound anything like this!« Some of the tracks will work as they are – the demo ends up in the piece. A lot of directors can get attached to demos, so I try to do a decent recording, which I will tweak or polish. I usually do a recording session with musicians a few weeks before and I will tell the director what I am planning to do, just to check whether for some reason it is a terrible idea, but I can’t remember a time when I had a problem at this stage.

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At that point, do you predominantly respond to the text with your music? PC: It will be the text and a conversation with the director. But you’d be amazed how sketchy that is at that point! With Katie, if it is a naturalistic play, we might have an hour-long conversation and I might say: »I’ve read the text and I’m interested in one particular angle – ›looking‹«. I’m not too worried at this stage about whether the audience will find it legible. It’s just a way in. A way of finding musical games. I might write material for, say, clarinet and piano and pursue the idea, that the clarinet ›finds‹ the piano over the course of the piece – I’m just making this up, of course – but something like that might spark off an idea and then I write lots and lots of music, some of which uses electronic processes to further explore the idea. Clearly the main reason I can write music before I have actually seen anything of one of Katie’s productions is because I have seen so much of her work and I know how ›high‹ it is going to be, how to pace things, what problems are likely to arise that I might be able to help solve. I also look at how much text there is on a page. If it is one of her live-cinema15 productions, there sometimes isn’t so much text, which means that the music can be more detailed and even literally have more notes! Also, I look whether there is a pattern to the passages with fewer words that I can use. What I noticed when I was a young musician was that whenever I saw a film where I thought the music was amazing, and I waited for the credit, it was always ›found‹ music … … so the music pre-existed and had its own logic like your music for theatre? … PC: Exactly, and so that’s what I do! Also, and this is going to sound crazy, I don’t think the composer is always the best person to choose the music. At least for plays and movies where the structure of the piece is not a musical structure. I think the composer is the best person to write the music! I am happy to write music and let someone else decide where they think it works best. I can still react to that and if they are always using Track 3, I will then write some variations on it, so it develops during the piece and creates a satisfying journey. But I always know I am content with the raw material. Whereas if I try to fit it in and tailor the music during rehearsals, I have to essentially collaborate on writing the music with the director, which is possible but very hard and they have a lot of other things to worry about. I like to say: pick the things you like, I’ll give you a lot of choice. And I know that I’m happy with every piece of music that might end up in the show and that there is a strong family

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sound. There was no compromise when you wrote it. And you are free when you are writing! That’s my process and I try to talk people into letting me do that, whenever I can. I don’t always get it right – in The Rest Will be Familiar …16 my demos were way too playful and very few ended up in the show. How would you define your role for the overall creation process? PC: Again, it depends. With Clod Ensemble, I am co-writing the structure of the piece with Suzy. And with other directors I sometimes get involved in wider discussions about the overall shape of a performance. I find that if I am less in the rehearsal room than the sound designer, who knows every psychological beat and has heard every conversation about what everyone is trying to achieve, and if I come in later to see how it is all hanging together, then I am able to see what I see, not what everyone thinks we are supposed to be seeing. What you describe is actually a typical function of the dramaturg in German repertoire theatre, who will perhaps leave the rehearsal room for a week or two and then come back with a fresh pair of eyes, not necessarily with a focus on musical structures, but also with a less prejudiced perspective. PC: That’s an interesting point, I hadn’t thought about that. Well, you should get paid for that! [laughs] PC: Ha! I think a lot of people play this role in a rehearsal room – lighting directors, for example. But, it has just occurred to me, that I do less of this in the productions we do in Germany, because there is a dramaturg! Your practice still marks a difference to how incidental music used to be: added very late in the process to a relatively finished piece, rather than having a substantial role in shaping it. I wanted to ask you a bit more about your compositional practice. How do you write your music? Do you use notation? What is your primary tool or medium? PC: It depends. I will sing ideas into my iPhone and write down notation in a little notebook I carry around. But I only use pen and paper for sketching. I still have those big score sheets and use them for sketching material. During this initial phase it is a mixture of ideas developing in my head, on paper and at the piano. I may also press record on my computer – my piano is MIDI-ed up, it is a real piano but is connected to the computer – and if I am really on fire and working fast, I will press record

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just in case. But usually I am pretty methodical: I have my big pieces of paper and write down my ideas, main themes, main textural ideas and general directions. That will usually take a couple of days. Then I will review the material, make choices and then turn to the computer sketching ideas out in Logic (or Finale if I know I have a recording session and need to notate things). I also usually book my musicians before I have finished writing the score, so that I know who I am writing for. That also means I can be a bit more sketchy with my notation, if I’m working with my ›A-Team‹. They know what you intend? PC: Yes. As well as the planned material I also nearly always record some semi-improvised sounds with the musicians, which I will make up on the spot. I might need a driving quaver rhythm like ›chakachakachaka‹ at a particular tempo and ask for it on different notes or chords. And I might wave my arms around for others to join in. It is just textures often with really extreme dynamics. I will often record something very, very quiet, because you get an amazingly delicate sound that way. It is usually recorded quite quickly, a three-hour session perhaps, and then another one nearer the end, when I record the more finished pieces and all the things I wish I had recorded first time. And is it mainly strings and woodwinds you record, doing all the other instruments yourself? PC: Yes. I am not really a pianist, but I will record it and can correct it on the computer. I can play lots of instruments badly, and will record really simple stuff myself – trumpet, double bass, clarinet. But I can’t play anything technically demanding. I also use things I have recorded as samples and create new sounds from the raw material. Do you work with virtual instruments at all? PC: Only if I have to. It depends on what I want to do with them. I do use contrabass sounds, which are often quite good with simple short notes. Anything with a level of virtuosity is really hard to do with virtual instruments. You spend so long programming it, that you might as well record it. But that’s why film scores have a lot of drones or go ›tscha tscha tscha tscha‹, with détaché quaver patterns or pizzicato because the samples sound great doing that, but much less so if it is a complex legato melodic phrase. I do make up my own virtual instruments – I’ve got hundreds of

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them now, made with sounds I’ve recorded myself. I have quite a good collection of weird and wonderful instruments. For each show I make some EXS instruments with the ›family sound‹ from my recordings so I can quickly enhance or rethink the tracks I am using in the show. I sometimes will use commercial virtual instruments satirically if I want something to sound like clichéd film music … … like Hans Zimmer? … PC: Exactly [laughs]! I sometimes use synth sounds, often to double up something, like a violin, which then destabilises the sound. Or I will put a sound through a synth module. I’m actually about to do a piece with a lot of analogue synth sounds, which I still prefer, even though the virtual one’s sound really good these days. I like it all! [laughs] You mentioned earlier that your work has changed alongside the development of technology. Is it mainly about broadening your sonic palette, or what role does technology play for your work? PC: Certainly yes – the sonic palette is so much bigger than when I started. But there are also some processes I wouldn’t have tried in the past. A piece like Under Glass17 depended on the ability to MIDI-trigger lighting cues. You can now very quickly program quite complicated synching of music and lights and the equipment is cheap enough to have it all in a rehearsal room for a few weeks. That meant we were able to make a piece in complete darkness with lights beautifully synchronised to music. This also made me write a kind of music I would otherwise not have written, which had its own logic because the eye and the ear are so closely linked. You hear differently in darkness or when you are returning to an image. That set me off on a whole strand of work, where Suzy and I would start playing with lighting states from the beginning The speed of workflow and the level of ambition you can attempt these days is pretty incredible. You can manipulate sound very quickly and keep working on something to the bitter end in great detail. For example, for The Cat in the Hat18, a childrens’ production we did at the National, I wrote a score for lots of the big sequences with movement, music and text all tightly organised. But with children there is always a lot of unpredictability in how they would react, so everything had to be done on loops – so we could go into a holding pattern if necessary. Gareth Fry put together a rig using Ableton synced to QLab and trigger pads for the operator and thus created a really complex system that was very flexible. This would have been impossible some years before,

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when Ableton didn’t exist.19 Instead the actor would have had to have learnt to do everything to an inflexible recording and if anything had gone wrong things would’ve gone out of sync. With Ableton, however, we were able to put in some very detailed music and take risks because they knew we’d be able to get back on track. So even though it is playback, it retains an element of liveness? PC: Yes. I’ve noticed that sound designers in Germany predominantly

use Ableton, whereas in the UK it is mostly QLab, which is more fixed, even though there are ways of interacting with it. I know when Donato [Wharton] works with Lepage he really likes to work with Ableton: it is great when you have that flexibility. In Germany, the technical team is usually quite separate from the creative team, in terms of the organization of its work schedule. Sound operators may vary from rehearsal to rehearsal, from show to show. PC: In the UK – at least on the shows I work on, which have a lot of sound – we would have the same operator and would very much insist on that, possibly two on rotation. But at the National these two people would have to be on their knees with the plague for someone else to be brought in [laughs]. It lacks the musical intuition, when someone only operates with cue list in hand. PC: Exactly, which is why we also insisted that our shows in Germany work in that way. With regard to technology another thing just occurred to me: it is the possibility to use multiple speakers. That’s the other creative tool, that I enjoy using – and surround mixing is so much easier in software than on mixing boards, I write in a different way and mix things differently if there are several speakers at different parts of the stage and around the audience. You might even use that as an EQ, because the speaker that is behind the set is darker in sound, so instead of using an EQ you might just redistribute the sound. You said earlier, you would give the sound designer and the director a CD with music towards the beginning of the rehearsal process. Is that now actually a file? PC: Yes, it used to be a CD, but now it is a file. In addition to a stereo mix for reference I often send them stems. If, for example, I have done this piece with string quartet, electronics, percussion and a squeaky noise,

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then I will give them all four of those stems separately, so that they can begin to play with them straight away. Traditionally, music for theatre is often discussed with regard to its function in relation to the drama or the dramatic performance. In the case of your collaborations on Katie Mitchell’s multimedia productions it gets even more complicated, because your music is essentially both theatre music and film music. Do you think about music in terms of dramatic function at all? PC: [Pauses] Generally, ›in life‹ [laughs], or in making work, I try to break down the form and content divide and think of them being the same. The meaning of the piece is whatever we show them. So I think of the form – the beautiful image on the screen at the top and all the mess of cables and cameras below it, of those ›live cinema‹ productions.20 All these pieces are, in a way, about how we construct things, in this case, a film, and about how we see, and who is looking. I’m trying to find sounds that encourage the audience to explore both parts, the upper and lower, and see how they interact – and to disturb the image as well as compliment it. But then you can’t ignore film tropes. And I have lots of conversations that I would typically have if working on film – about creating tension, or softening a scene, for example. All that stuff! It is brilliant being able to jump cut with video, but be in a theatre environment. You can build a huge crescendo and then you go ›puff‹ [makes a gesture of something vanishing] and then cut to the picture of a kettle or something really mundane. This is really hard to do on stage. We can control the audience’s eye in a way that you can’t with theatre and the ear goes along with that. Of course, it is live, so we have to make cues that have flexibility – there is no ›final edit‹ that is exactly the same length – although I do take films of the scenes to work to at the studio. What I have noticed, also in contrast to other musicians, is that you don’t seem to shy away from writing quite emotional music … PC: I know what you mean, but at the risk of repeating myself: it is different every time. I’ve just spent a week in rehearsal with Clod Ensemble writing some incredibly alienated, emotionally ambiguous music and I quite like that. It’s one of the reasons why I quite like a lot of German work, because it is comfortable with the colder end of the spectrum. On the other hand, one of my favourite quotes in the world is Willem DeKooning who said something like: »You cannot draw a person and you cannot not draw a person«.21 I think it is the same with music: you can’t

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emotionally manipulate someone, you can’t really make them sad, but you can’t not do it! So: if you are playing alienated, cold music, it is always going to be hitting an emotion, if you like it or not – perhaps an emotion like ›detachment‹. The danger of it is not that you are emotionally manipulating, but that you are ›mono‹: you are doing one emotion throughout your piece. That’s less interesting to me. But I’m not that interested in the film music extreme of one-dimensional emotional manipulation – I very rarely use very sentimental strings. And I’ve never been drawn to big orchestral music anyway – perhaps Stravinsky is an exception. Or Ligeti. Even with composers that I love, like Bartók, I don’t like their orchestral music. Chamber orchestras – baroque music – I like. I think there are different extremes and forms of emotional manipulation. One is doing something that the drama itself is just unable to convey, basically covering up the flaws of bad writing, bad directing or bad acting. And that feels soul destroying. I have written for TV shows and it can feel like that. I don’t want to start with that intention. Instead I want to try to offer another parallel world, which is following its own rules, is being threaded through the production, has got a journey, which will sometimes collide with the journey of the drama, sometimes meeting it, hopefully making it transcend itself in some way. If I just play a low drone, it is just a musical way of saying: »This is really important!«. That’s not very interesting or exciting to me. How do the actors respond to your music? It seems that your process is different to a typical West End well-made show. German actors are used to having music in rehearsals all the time as it has become much more common, and also it is not unusual for a production in Germany to be underscored almost all the way through. Did you notice a difference between German and British actors with regard to their response to music? PC: It is interesting that you say that! You are probably right. But more and more productions here are using heavier underscore – they are getting used to it! And British actors seem to like working with the music – or at least they have not yet told me to shut up! [laughs] – but I guess it is just another ingredient in a long rehearsal process, another thing to play with, to play against. They will sometimes come up to me over a tea break and make suggestions or comments. Sometimes I have given them the music at the beginning, asking them to play with it and explore it. With Clod Ensemble, we are often working with dancers as well as actors – these kind of performers are used to music having a more central role in the piece.

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With regard to … Some Trace of Her, Katie Mitchell has said22 that it often was quite a collective exercise in trying to solve problems: How can we use Foley sounds to convey a scene? How can you stage a train ride with very few props and a camera? PC: Yes, ideas can come from anywhere. For the British actors that was probably a more novel thing. In Germany they seem the more used to those kinds of processes, used to having a lot of ›noise‹ in the rehearsal room. But I don’t do a lot of ›straight‹ theatre and so every rehearsal room I have been in has sound in it from day one. But there is a noticeable divide between the very small amount of experimental work that goes on at the main stages in the UK and everything else. In smaller venues there is a lot of exciting work. You don’t see a lot of ›well-made plays‹ at the Edinburgh Fringe. I forgot to ask you something: what is your background, your training? PC: I learned classical guitar. I trained with a local guitar teacher in Hertfordshire, who turned out to be quite an important guitarist and also a composer – total fluke! So I had this really high level of teaching as a teenager. He took me to quite a few avant-garde concerts, which I loved, but at the same time I was trying to play Jimi Hendrix. So even at that age, my tastes were very eclectic. When I got to 18 I didn’t know what kind of musician to be. I didn’t want to study composition, as the conservatoires were all teaching serialism which I was dubious about dedicating years to. I didn’t really want to do classical guitar, because it felt there was only room for two classical guitarists in the world [laughs]. So I endlessly deferred going to college and instead wrote pieces for my friends to play at their college concerts. Pretty early on I offered my services to anyone and got into theatre and film. I did one production with a friend, John Binias, now a novelist – a version of Ubu 23 at Edinburgh Festival in the early 90s – which was quite an ambitious set-up of eight live musicians. I felt this way of working offered some really stimulating and exciting opportunities, as I was never a fan of the classical concert. I love classical music but I never liked the concert ritual, which I think rarely works these days. With Clod Ensemble we tried to do staged concerts with proper lighting or as promenade events. We still work in that area, currently with the Manchester Camerata and with the ŒNM [Österreichisches Ensemble für Neue Musik] in Salzburg: writing pieces that break down the form/content divide.

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You are essentially self-taught, having had to figure out how to write for voices, for instruments, how to use all the technology – how did you achieve that? PC: My guitar teacher showed me a lot as a teenager. Also, I was always fairly direct with the musicians I know – to ask them for lessons and help. Whenever I had musicians in for a recording I would ask them to show me certain things. And because I didn’t spend three years at college I had a lot of time to read all the orchestration books and things like that. But I made a lot of mistakes! With all the music I did in my Twenties, I’m not particularly tempted to go back and listen to it again. Even though it starts from a similar impulse to work I’m still doing. The first Clod Ensemble piece, Feast During the Plague [1995], which was based on Pushkin, that pretty much set the template for future work – not too many words, integral score, different kinds of performers on stage – but I haven’t listened to the score since the last performance of it over 20 years ago. It is so interesting how people slip into this profession. Hardly anyone decides at age twelve that they want to become a theatre composer. PC: It is a minority sport. But also ubiquitous! At least in Germany there are very few productions without a musician or a composer! PC: It is quite healthy, at the moment. The technology is a game changer. It means that directors can ask for something sophisticated from a sound designer and get it. If they had asked twenty years ago, someone would have had to sit in a studio for two weeks, messing around with tapes attempting something that probably didn’t sounded as good as what someone can now do over a lunch break. The other thing that struck me about technology as a game changer is what I would call the democratization of music production: with an affordable laptop and some additional equipment anyone can produce pretty reasonably sounding music, just like in film a couple of filmmakers have now made entire movies with just an iPhone and an additional lens, the quality of which was high enough for cinema release. There are no gatekeepers any more, or at least not the old ones. PC: I know what you mean, but it is too early to tell which way it is going to go. I do a mentoring scheme for eighteen-year-old composers getting professional musicians to play their compositions. And I see pros and

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cons: the pros are obviously that you get different voices, you get people who normally wouldn’t have access, coming in with different ideas, which is good. The bad aspect of this is that it is possible to be lazy, to be a copy & paste composer. The sound of film and TV music at the moment does not fill me with hope; it does not feel like everyone is really being ambitious with the technical resources they have. This has a lot to do with tight deadlines and the speed at which composers have to work on media music. There are plenty of terrible minimalist three or four chord sequences, going around and around. It makes me think: you have this treasure trove of sonic possibilities and people are just playing piano arpeggios. So I worry about the ears of the 18-year-olds. In their exams they get an extra grade for building in a modulation, but they haven’t even heard a modulation except for the step-up one at the end of a pop song! I worry that the promise of the new technology has not been paid off at the moment, at least with music for picture. At the same time, a lot of interesting sounds are being produced in the electronic music and hip hop worlds, and that seems to be where they are using technology to their advantage. I learn from these musicians. But I can see that the directors’ ears are changing a bit. They seem to be thinking more in terms of texture than in terms of melody. It could be an interesting world for us musicians. Some of the musicians I talked to have expressed a frustration about the lack of recognition and the impression that their music is ultimately a dispensable cog in the wheels. How do you feel about that? PC: Quite the opposite. Yes, it’s true that within the theatre establishment music is downgraded – there is no Olivier or Evening Standard award for best composer. But there is an upside – there is no standard way of working, no rulebook (or any other sort of book!) or set of conventions for theatre music. So there is a lot of room for manoeuvre. I’m very lucky to have found people to work with who care about music, and realise that it can make or break a production. I’m also lucky to have my own company, which means that I can have a say in the kind of work I want to make. I’m always searching for ways of making the music indispensable. I appreciate that the theatre world may not be the obvious place to start looking, but it actually gives you a lot of freedom. The music world of gigs and recording has its own habits and narrow-mindedness. Theatre environments can bring your musical ideas to life in ways that a standard gig just won’t. I prefer gigs where people have really thought about why they play a piece of repertoire, where they put the audience, what

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the lights are going to be. And that doesn’t have to be a compromise musically. It needs to be excellent musicians playing excellent music, but I really think you can have your cake and eat it, too. I don’t often get concert commissions, but when I do, like with the ŒNM, I say: only, if I can bring in a team to do the lights, and we really think about the staging. We need to think about the whole scenario, including any other sound, that isn’t played by you. Here, it involved me taking lots of samples of spoken word, which they will trigger from a synth. Then we started to work out the geography of the room and all those things. That’s interesting to me in a way that simply writing a concerto isn’t. And it also allows me to work with my skills as a theatre maker: all that knowledge you acquire, when you have learned to keep an audience’s attention over the course of two hours on an intellectual game of words and bodies on stage.

Paul Clark is co-artistic director of Clod Ensemble and has written critically acclaimed original scores for all the company’s productions to date – ranging from totally acoustic works, to multi speaker installations. Each score is a bespoke piece that is in a dialogue with the visual material; Silver Swan is an acapella piece for seven classical singers; Under Glass is an entirely recorded surround-sound installation; whilst An Anatomie counterpoints electronics, live orchestral music and a rock band. These productions have played at venues including Sadler’s Wells, Southbank Centre, Tate Modern Turbine Hall, Serralves Institute (Porto) and the Public Theater (New York). As a leading composer on the British theatre scene, Paul has written dozens of scores for theatre in the UK and internationally. He has a long-standing collaboration with Katie Mitchell for whom he has written over twenty scores in theatres across Europe, including Waves and Wunschkonzert, and with Gare St Lazare with whom he created Here All Night (Lincoln Center, New York, Brighton Festival, The Abbey, Dublin) an acclaimed words and music piece using texts by Samuel Beckett. In TV and film, he has collaborated with Simon Amstell, Arnaud Desplechin, John Michael McDonagh and written scores for David Sedaris audio books. Other works include The Weather Man (Opera North) and Liebeslied/My Suicides, a collaboration with photographer Rut Blees Luxemburg (ICA/Genesis Foundation); gallery installations (ICA, Ceri Hands); museum installations (V&A); and one-off events including the 500th anniversary of Hampton Court video/firework event. Paul is an advocate for the access of young people to live music and leads Clod Ensemble’s project for teenage music students, Living Room Music. www.clodensemble.com

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Fräulein Julie by August Strindberg, director: Katie Mitchell, Schaubühne am Lehniner Platz, premiered on 25 September 2010. Cleansed by Sarah Kane, director: Katie Mitchell, National Theatre London, premiered on 25 February 2016. Anatomy of a Suicide by Alice Birch, director: Katie Mitchell, Royal Court Theatre London, premiered on 3 June 2017. Zero by Clod Ensemble, director: Suzy Willson, Sadler’s Wells Theatre London, premiered on 21 May 2013. Also performed at The Corn Exchange, Brighton (Brighton Festival) and Bristol Old Vic. Anatomy in Four Quarters by Clod Ensemble, director: Suzy Willson, Sadler’s Wells Theatre London, premiered on 29 October 2011. Prodcuced as part of Clod Ensemble’s »Performing Medicine Anatomy Season 2011« at Sadler’s Wells. This production toured from 2007–2012 through museum, anatomy theatres, and dance/theatre studios. It premiered in 2007 at the Wellcome Collection, London. Silver Swan by Clod Ensemble, director: Suzy Willson, Battersea Arts Centre, premiered 1999 at Battersea Arts Centre, London. Waves based on Virgina Woolf’s novel was the ground-breaking production by Katie Mitchell and Leo Warner at the National Theatre in 2006, which started their continuing collaboration on the so called »multimedia productions« of Mitchell. See e.g. »Katie Mitchell on directing multimedia productions«, National Theatre Discover (2011) at https://www.youtube.com/watch?v=rAij9r9RvF0, last accessed 26 April 2018. Wunschloses Unglück by Peter Handke, director: Katie Mitchell, Burgtheater Wien, premiered on 27 February 2014. Clark refers to the group of composers in the early twentieth century including Arnold Schönberg, Anton Webern and Alban Berg. Snow by Clod Ensemble, director: Suzy Willson, »Noh Reimagined« Festival at Kings Place, premiered on 30 June 2018. The production premiered in 1999 at Battersea Arts Centre and has since toured, e.g. Tate Modern’s Turbine Hall, V&A’s Raphael Room and McEwan Hall, Edinburgh. Placebo by Clod Ensemble, director: Suzy Willson, The Lowry Salford, Premiered on 2 November 2018. Here All Night was commissioned by Beckett Project Paris and first presented in a work-in-progress performance at Le Centre Culturel Irlandais in Paris in 2010. In 2013 the show was performed at Brighton Festival. See http://garestlazareireland. com/here-all-night-music-in-beckett/, last accessed 30 August 2018. See footnote 20 for examples. The Rest Will Be Familiar to You from Cinema by Martin Crimp, director: Katie Mitchell. Deutsches Schauspielhaus Hamburg, premiered on 24 November 2013. Under Glass by Clod Ensemble has been performed in different locations and formations since 2007, first at Battersea Arts Centre, later at Sadler’s Wells, Bristol Old Vic and other places and most recently at Wales Millennium Centre, Cardiff in 2017. The Cat in the Hat based on the book by Dr. Theodor Seuss, director: Katie Mitchell, National Theatre, premiered on 2 December 2009. The first release of Ableton Live was in 2001. Katie Mitchell and Leo Warner have realized a number of productions in the multi-media or Live Film style described above, including Waves (National Theatre, 2006), … some trace of her (National Theatre, 2008), Wunschkonzert (Cologne 2010), Fräulein Julie (Schaubühne am Lehniner Platz 2012) or Il gran sole carico d’amore (Felsenreitschule Salzburg 2012). The original quotation reads: »De Kooning said that you can’t draw the figure and you can’t not draw the figure«, cit. by Miles Champion in: Brown, Andy: Binary myths 1 & 2, Exeter 2004, p. 39. She speaks about this in a video as part of the National Theatre Discovery programme »Sound design for … some trace of her«, https://www.youtube.com/ watch?v=THpcmuKNumYm, published on 9 May 2011 (last accessed on 4 June 2018). Ubu Roi by Alfred Jarry, translated and adapted by John Binias, Edinburgh Fringe Festival 1992.

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Theatermusik als community of practice. Versuch einer Analyse Methodische Vorbemerkung

Wer die in diesem Buch versammelten Interviews liest, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass wir es hier mit einem vielseitigen Feld zu tun haben. Es gibt genügend Gemeinsamkeiten zwischen den Interviewpartner*innen, um sie im Sinne Etienne Wengers als »community of practice«1 zu betrachten; gleichzeitig sind die beschriebenen Formen theatermusikalischer téchnē 2 und ihrer Reflexion divers genug, um an dieser Stelle das Spektrum der Positionen noch einmal vergleichend in den Blick zu nehmen.3 Es wäre naiv, die Interviews lediglich als faktische Aussagen über die Wirklichkeit zu lesen und daraus ein repräsentatives Berufsbild ›Theatermusiker*in‹ zu konstruieren. Wichtiger war mir, im Sinne der bereits angesprochenen Methode der Interpretive Phenomenological Analysis (IPA), detailliert zu untersuchen, welche individuell gelebten Erfahrungen Theatermusiker*innen beschreiben und wie sie diese bewerten und verstehen.4 IPA empfiehlt sich dabei in mehrerlei Hinsicht: Zum einen wurde diese Methode bewusst für qualitative Daten aus kleinen Gruppengrößen entwickelt5 und setzt sich zum Ziel, sowohl das ›was‹ als auch das ›wie‹ der getroffenen Aussagen als »Objektivierung gelebter Erfahrung«6 zu untersuchen. Dabei werden die Interviews in einem iterativen und induktiven Prozess7 analysiert: »Beginning with several close detailed readings to provide a holistic perspective, noting points of interest and significance«.8 Daraus werden übergeordnete Themen und ihre Verbindungen abstrahiert und die Bedeutungsgenerierung (»meaning making«9) sowohl des/r Interviewten und des Interviewers in Beziehung gesetzt. Das resultierende Narrativ sollte, so Eatough und Smith, sich zwischen verschiedenen Interpretationsebenen bewegen: »From rich description through to abstract and more conceptual interpretations«.10 Bei der Auswertung der in den Interviews angesprochenen Erfahrungen, Meinungen und des artikulierten Selbstverständnisses scheint es mir sinnvoll, insbesondere folgende Themenkomplexe noch einmal vergleichend zu betrachten: Die Praxis der Theatermusiker*in als identitätsstiftendes Moment, die kreative Zusammenarbeit mit anderen, die technischen Aspekte ihrer Tätigkeit und die ästhetisch-poetologischen Fragen im Umgang mit relationaler Musik und Klanglichkeit im Theater.

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Theatermusiker*in als Identität

Eine community of practice Im Vergleich zu anderen Theaterberufen, zu denen es Studiengänge, Jobbeschreibungen oder Buchreihen (wie die Lektionen von Theater der Zeit11) gibt, ist Theatermusiker*in eine weniger etablierte, weniger klar definierte Tätigkeit. Wer dies zu seinem Broterwerb bzw. als Form künstlerischer Praxis wählt, begibt sich in einem besonderen Maß in eine »verhandelte Erfahrung«: eine »negotiated experience«,12 wie Wenger das bezeichnet. Wenger benennt dies als einen von fünf wesentlichen Aspekten davon, wie Identität im Kontext sogenannter communities of practice zu charakterisieren sei. Sein Konzept dieser communities, das von vielen Seiten aufgenommen und weiterentwickelt wurde – so unter anderem von Ailbhe Kenny mit einem Fokus auf communities of musical practice 13 – ist als theoretische Rahmung dieser abschließenden Analyse doppelt geeignet. Es lenkt zum einen die Aufmerksamkeit auf die Person der Theatermusiker*in in einer ganzen Reihe identitärer Spannungsfelder,14 und zum anderen auf die Tätigkeit, die kulturelle Praxis selbst.15 Diese Gemeinschaften sind zum Teil als unmittelbare Mitglieder einer durch ihre (musikalische) Praxis definierte Gruppe zu verstehen (z. B. ein Kirchenchor), können aber auch aus loseren Verbindungen bestehen, die beispielsweise einer »musical world«16 angehören (z. B. die Jazzszene Baden-Württembergs). Der Praxisbegriff, den Wenger dem Modell zugrunde legt, ist nicht auf ein bestimmtes instrumentales, kompositorisches oder tontechnisches Tun beschränkt, sondern weit gefasst, wie Kenny beschreibt:

Within the CoP model, Wenger characterises ›practice‹ […] as ›socially defined ways of doing things in a specific domain: a set of common approaches and shared standards that create a basis for action, communication, problem-solving, performance and accountability‹.17 In diesem Zusammenhang ist es einleuchtend, dass im Dialog zwischen einer so definierten Gemeinschaft und einer so definierten Praxis die Frage nach der eigenen Identität eine wichtige, wenn auch im kontinuierlichen Wandel befindliche Größe darstellt. Moran und Steiner18 definieren daher, dass Identität dadurch entstehe, »how people form themselves through what activities and roles they chose to ›make their own‹«.19 Wenger differenziert dann den Begriff der Identität hinsichtlich seiner

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Theatermusiker*in als Identität

Bedeutung in communities of practice noch weiter aus: 1. Identity as negotiated experience. We define who we are by the ways we experience our selves through participation as well as by the ways we and others reify our selves. 2. Identity as community membership. We define who we are by the familiar and the unfamiliar. 3. Identity as learning trajectory. We define who we are by where we have been and where we are going. 4. Identity as nexus of multimembership. We define who we are by the ways we reconcile our various forms of membership into one identity. 5. Identity as a relation between the local at the global. We define who we are by negotiating local ways of belonging to broader constellations and of manifesting broader styles and discourses.20 Damit sind die wesentlichen Leitfragen genannt, die auch dieses Kapitel durchziehen und strukturieren. In diesem ersten Unterkapitel (»Theatermusiker*in als Identität«) stehen das Selbstverständnis der interviewten Musiker*innen, ihr Werdegang und skill set (learning trajectory) und ihre Beziehung zur community und zur Institution Theater im Mittelpunkt (community membership). Im zweiten Teil (»Theatermusik im Spannungsfeld«) geht es um eine zweite Art von community: Nicht die Gruppe der Theatermusiker*innen, sondern die Produktionsgemeinschaft und die Rolle der Theatermusiker*innen an der Schnittstelle zwischen Regie, Schauspiel und Technikabteilung als den wichtigsten Kooperationspartnern (multimembership) wird in den Blick genommen. Im dritten Teil (»Theatermusik als Netzwerk und téchnē «) untersuche ich, welche Rolle Technologie und der Umgang damit für die Theatermusiker*innen spielt, und im letzten Teil (»Theatermusik als relationales Musizieren«), welche ästhetischen Überlegungen sie jenseits der einzelnen Produktion (local) für ihre Arbeit generell abstrahieren (global).

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Theatermusik als Selbstverständnis, verhandelte Erfahrung und gelebte Biografie Auch wenn sich Theatermusiker*innen prinzipiell als Teil einer (Berufs-)Gruppe sehen, zeigen sich die zum Teil signifikanten Unterschiede im Selbstverständnis schon in der Frage, wie man die eigene Tätigkeit bezeichnet. Theater- oder Schauspielmusiker*in ist eine übliche und von vielen verwendete Bezeichnung.21 Einzelne, deren Arbeit vom typischen Aufgabenspektrum abweicht, suchen aber durchaus alternative Begriffe wie »Performer«22 (z. B. Krieg, Rudolph), »speziell konzipierte Figur« (womit Michael Wilhelmi seine Besonderheit als Musiker, der eigene und fremde Musik auf der Bühne interpretiert, kommentiert und theatralisiert kennzeichnet) oder »Theatermacherin« (weil Bernadette La Hengst meist auch noch als Texterin, Performerin, Pädagogin und Regisseurin in ihren Projekten verantwortlich zeichnet). Schon der Begriff der ›Komposition‹ hingegen scheidet die Geister: Manchen ist er zu unbescheiden bzw. zu ungenau23, andere benutzen ihn bewusst, um diesen kreativen Eigenanteil klar zu markieren. Dies ist auch eine Reaktion auf die relativ verbreitete Unkenntnis innerhalb und außerhalb des Theaters, was Theatermusiker*innen eigentlich tun. Nicht selten stoßen die Musiker*innen auf überraschte Reaktionen, wenn sie erklären, wie viel Arbeit und welche Bandbreite an Expertise einer Theatermusik zugrunde liegen. Bert Wrede pointiert das – auch mit Blick auf seinen Werdegang – so: »Ich habe Komposition studiert, deshalb habe ich keine Scheu davor, mich Komponist zu nennen, auch wenn ich mal nur Gequietsche, Gewaber oder Gewummer mache – so nennen sie es zumindest manchmal in den Kritiken.« Häufig wird dabei aber der Kompositionsbegriff problematisiert bzw. erweitert: Bei Lars Wittershagen schlägt sich die oft schwierige Frage, wo die Komposition endet und die Szene beginnt, in seinen verwertungsrechtlichen Angaben nieder:

Ich melde z. B. bei der GEMA nicht mehr einzelne Parts an, sondern das ganze Werk, z. B.: ›Schauspielmusik zu Camino Real, 1 Std. 30 Min.‹. Das spiegelt meine Arbeit besser wider. Selbst wenn da mal keine Musik ist, ist das eher wie eine komponierte Pause in der Musik. Und auch Nils Ostendorf oder Jörg Gollasch erweitern den Kompositionsbegriff für ihre Arbeit, indem sie sich als »Klangregisseur« (Ostendorf) bezeichnen, bzw. dafür verantwortlich fühlen, »dass das Ganze

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eine gewisse musikalische Dramaturgie hat« (Gollasch). Dabei artikulieren viele der Interviewten auch das Bedürfnis, dass die Theatermusik einer Inszenierung einer eigenen Logik folgen und eine Art Handschrift erkennbar lassen werden solle, selbst wenn sie mal primär dienende Funktion habe. Mit wenigen Ausnahmen akzeptieren die Musiker*innen gleichzeitig, dass Theatermusik ephemer ist und nur für den gegebenen Moment und Kontext erdacht wird. Das musikalische Ego, so u. a. Carolina Bigge, müsse man möglichst außen vor lassen; das Einlassen auf andere, der Wille zum kollektiven Arbeiten und immer wieder auch zum Kompromiss seien essenziell. Und das Bedürfnis, die Musik als ›Werk‹ für die Nachwelt zu bewahren, ist meist eher gering, wie Malte Beckenbach formuliert: Dass sich Theatermusik so versendet, ist ja auch ein Qualitätsmerkmal: Ich kenne viele Kollegen, die bewusst keine Internetseite haben und ihre Musik bewusst nicht hochladen, weil das zum Ausdruck bringt, dass, wenn du mein ›Werk‹ sehen willst, dann musst du zu einer bestimmten Uhrzeit an einen bestimmten Ort gehen, und nur da findet das statt. Das Verhältnis zur community insgesamt differiert von typischen communities of musical practice, die häufig von konkreter gemeinsamer Praxis und physischer Begegnung geprägt sind. Wittershagen beschreibt das so: Unter den Kolleg*innen kennt man sich ja eigentlich nicht so gut, weil man selten zusammenarbeitet. Man kennt vielleicht ein paar Inszenierungen. Da habe ich dann eher eine Vorliebe für die Leute, die ganz anders arbeiten als ich, wie z. B. Clemens Sienknecht oder [Christoph] Marthaler – das mag ich dann einfach. Die Funktion der Musik ist oft ähnlich, aber sie ist ganz anders gemacht. Auch Thomas Seher spricht davon, dass es gewisse Berührungsängste gebe, »die es eigentlich nicht bräuchte, denn man macht ja doch unterschiedliche Sachen, und man könnte sich im besten Falle gegenseitig inspirieren«. Die Identifizierung mit der community läuft hier über eine Differenzerfahrung bei gleichzeitiger Gemeinsamkeit in der Tätigkeit. Thomas Kürstner spricht daher auch von »gegenseitige[r] Aufmerksamkeit«, von einem »Zusammenschluss unter den Kollegen«. Michael Wil-

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helmi sieht das anders: »Ich denke nicht, dass es da so etwas wie eine Gemeinschaft gibt, aber ich bin mit vielen Musikern befreundet, und manche dieser Musiker arbeiten auch am Theater.« Dennoch nimmt man sich natürlich auch gegenseitig kritisch wahr. Bigge berichtet: »Vieles gefällt mir auch nicht, besonders, wenn ich so das Gefühl habe, dass da etwas auf den letzten Drücker gemacht wurde und nicht zu Ende gedacht ist.« Peer Baierlein zeigt sich besorgt um den handwerklichen Standard seiner community: »Eine Nebenwirkung dieses und anderer Programme [gemeint ist: Ableton Live, DR] ist nämlich, dass jeder, auch wenn er noch nie ein Instrument in der Hand hatte, heutzutage im Prinzip Theatermusik machen kann.« Wilhelmi hingegen spricht von einem Qualitätssprung in der Theatermusik in den letzten Jahren und vermutet, dass »Christoph Marthaler einen großen Anteil daran [hat], dass das Niveau so viel besser geworden ist.« Hier zeigt sich, dass Identifikation mit der Gruppe und das Verhandeln der eigenen Identität über ein dynamisches Kräfteverhältnis funktionieren, in dem die Praxis anderer als different, aber dazugehörig, ja sogar inspirierend empfunden werden kann, man sich aber auch von bestimmten Praktiken abgrenzt. Lernkurven: Ausbildung und Einflüsse Gemeinsam ist den künstlerischen Biografien fast aller Interviewten, dass ein hohes Maß an Zufall und glücklicher Fügung zu ihrer jetzigen Position geführt haben. Es gibt zwar einige studierte Musiker*innen unter ihnen, und einige wenige haben eine Karriere als Theatermusiker auch gezielt verfolgt und vorbereitet – z. B. durch Praktika und Assistenzen –, aber besonders häufig hört man, die Interviewten seien in das Fach so »hineingerutscht« (z. B. Octavia Crummenerl, Ingo Günther). Alle waren musikalisch in irgendeiner Form aktiv – meist in Bands und/ oder experimentellen Formationen, zum Teil auch im Kontext klassischer Musik – und es gab dann einen Initialkontakt; eine Bekanntschaft zu einem*r Schauspieler*in, Regisseur*in, Dramaturg*in oder Theaterpädagog*in. Gemeinsam ist allen Geschichten, dass die Interviewten sich musikalisch oft bereits abseits klar definierter Pfade und Genres bewegten und die Nähe zu anderen Künsten suchten (Ingo Günther und Malte Preuss hatten eine Filmmusik-Band, Ostendorf machte Musik für Tanztheater, Wrede mit Albert Ostermaier Lyrik mit Live-Musik usw.). Dies mag mit ein Grund dafür sein, warum der interdisziplinäre Studiengang Kulturpädagogik (heute: Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis) an der Stiftung Universität Hildesheim eine auffällig hohe

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Zahl von Theatermusiker*innen24 hervorgebracht hat: Die Interdisziplinarität ist dem Studienprofil bereits eingeschrieben, und sowohl die Musik- als auch insbesondere die Theaterpraxis ist weniger davon gekennzeichnet, bestimmte handwerkliche ›Standards‹ zu vermitteln, als Suchbewegungen nach neuen Formen der künstlerischen Praxis und ihrer Vermittlung zu initiieren. Auch die Präsenz von Prof. Wolfgang Löffler, der zuvor viele Jahre als Schauspielmusiker in u. a. Stuttgart, Basel, Heidelberg tätig war, als Professor für Musik mit Schwerpunkt Theatermusik von 1985–2010 sorgte dafür, dass diesem Fach hier ein gesteigertes Interesse entgegengebracht wurde. Ausbildung und Werdegang zeigen sich letztlich im Spiegel der Interviews als äußerst heterogen. Manche sind weitgehend Autodidakten, manche haben ›nebenbei‹ musikfremde Studien betrieben (Beckenbach ist z. B. promovierter Neurogenetiker, Krieg hat Psychologie studiert, Wilhelmi Mathematik), und wieder andere haben gleich eine ganze Reihe musikalischer Ausbildungen absolviert (Baierlein studierte Instrumentalpädagogik, Jazz, Trompete, Komposition und Neue Medien, Wilhelmi Jazz, Komposition und Neue Musik). In allen Fällen mischen sich Gelerntes und völlig selbst Erworbenes, nicht zuletzt eben deshalb, weil immer nur Teilaspekte des Berufsbildes überhaupt studierbar, bzw. von sonst irgendwie autorisierter Stelle erlernbar sind. Selbst Formen wie Praktika, Assistenzen, Workshops, Meisterklassen etc., die in den Bereichen Schauspiel, Regie, Dramaturgie, Kostüm oder Bühnenbild etabliert und weit verbreitet sind, stellen in der Theatermusik eine große Ausnahme dar. Auch formative Einflüsse für ihre Arbeit, nach denen ich die Interviewten befragt habe, sind – trotz mancher Mehrfachnennungen, wie z. B. der Inszenierungen Christoph Marthalers25 – sehr weit gefächert und reichen von Filmen, Musiker*innen und Musikstilen26 wie Punk, Jazz, Schlager, Klassik, Minimal, Elektronik und Pop über Avantgarde Komponist*innen, bildende Künstler*innen, Regisseur*innen bis hin zu politischen Aktivistinnen. Kompetenzen Ein viel stärkeres Bindeglied der community stellen die Fähigkeiten dar, die sie sich im Laufe ihrer Tätigkeit erworben haben und die zu ihrem Selbstverständnis und ihrem Selbstbewusstsein beitragen. Darunter fallen immer Formen des Instrumentalspiels – häufig mehrere Instrumente27 –, Tätigkeiten des Komponierens und Arrangierens, der Umgang mit Digital Audio Workstations und nicht selten auch Fähigkeiten

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bei der Vermittlung und Anleitung von Musik, gerade auch an musikalische Laien. Dabei wird gleichzeitig ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu einer normativen Vorstellung von ›Handwerk‹ deutlich. Die Theatermusiker*innen sind sich dessen bewusst, dass sie etwas können, und formulieren den Anspruch einer Professionalität an ihr Tun (und den Wunsch nach entsprechender Anerkennung), distanzieren sich aber auch nicht selten von einer traditionellen Vorstellung von Handwerklichkeit. Gerade unkonventionelle Techniken des Instrumentalspiels (Günther), des Aufnehmens (Kürstner), Notierens, Komponierens (Sebastian Vogel) und Improvisierens (Wilhelmi) – so die formulierte Erkenntnis, können im jeweiligen szenischen Kontext genau das Richtige sein. Gezielt mit Laientum, Regelbruch oder ›schlechtem Geschmack‹ spielen zu können, gehört auch zur Klaviatur der Theatermusiker*innen. In der zeitgenössischen Theatermusik ist aber auch der kompetente Umgang mit einer Reihe von Technologien zu einer zentralen Fähigkeit geworden: Das Aufnehmen, Bearbeiten, Mischen und Einrichten des Tons sind dabei ebenso essenziell wie eine hohe Geschwindigkeit und Souveränität im Umgang mit dem eigenen Equipment. Nicht selten beschrieben die Theatermusiker*innen dabei auch, wie sie über ein reines Anwenderwissen hinaus selbst programmierend in die Benutzeroberflächen eingreifen oder diese lötend und schraubend erst erstellen: Baierlein z. B. beschreibt: »Ich habe ein Interface bzw. ein Patch programmiert, mit dem ich das Programm über iPads steuern kann – sie dienen mir quasi als Fernbedienung. Dadurch kann ich sehr schnell und spontan auf das, was auf der Bühne passiert, reagieren.« Und Taison Heiß und Greulix Schrank erinnern sich: »Da wird auch mal für eine Produktion eine Laserharfe gebastelt: Mal schön ein paar Röhren zusammengeschweißt, Lichtabnehmer und Dioden rein, und dann gucken wir mal.« Schließlich sind auch Fähigkeiten Thema, die über das rein Musikalische und Technische klar hinausgehen und eben den relationalen Aspekt von Theatermusik betreffen.28 Da ist z. B. der Bezug der Musik zu Narration, den Beckenbach herstellt: »Wir sind die absoluten Spezialisten dafür, mit ganz wenigen Klängen ganz spezifische Dinge zu erzählen und auch ganz spezifisch erzählerische Inhalte wegzulassen und auszublenden«. Paul Clark hebt die dramaturgische Funktion von Musik hervor: »What I can be useful for, is to think about the overall shape of a performance. Obviously the director is ultimately responsible for this, but I can contribute from my experience […] often using musical

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structures«. Ähnlich äußert sich Gollasch: »Musikalische Leitung heißt für mich, wenn man […] einen musikalischen Bogen schlägt und so den Abend zusammen gestaltet«. Auch das Potenzial von Musik zu kennen, wie sie integrativ wirken und Kreativität freisetzen kann, und dieses dann nutzen zu können, wird als theatermusikalische Kompetenz thematisiert. Hengst erinnert sich: »Da habe ich zum ersten Mal mein Talent entdeckt, von dem ich bis dahin gar nicht wusste: dass ich mit sehr unterschiedlichen Gruppen von Leuten Dinge entwickeln kann«. Wie in der Standortbestimmung am Beginn dieses Buches aber schon beschrieben, beschränkt sich die Arbeit von Theatermusiker*innen aber nicht unbedingt auf ein Wirken hinter den Kulissen. Häufig ist eine weitere Kompetenz gefordert, die darin besteht, das Musizieren selbst szenisch zu denken und gegebenenfalls als inszenierte Musiker-Persona eigens zu vertreten. Bühnen-Persona Es betrifft beileibe nicht alle Interviewpartner*innen dieses Buches und ist auch nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel, aber die physische Präsenz von Theatermusiker*innen im Rahmen von Theateraufführungen hat deutlich wieder Konjunktur. Per se ist das keineswegs neu: Zu allen Zeiten und in allen Kulturen – vom antiken Drama bis zu Shakespeare, in der Commedia dell’arte oder im Bunraku – finden sich Beispiele, bei denen Theatermusik eben Bühnenmusik war. Neu scheint mir, wie im Zuge veränderter Spielformen29 und Regiehandschriften Musikerperformer*innen in quasi liminalen Funktionen – zwischen Musiker*in und Figur, Teil des Bühnengeschehens und doch davon getrennt – gerade auch außerhalb von szenischen Konventionen des Bühnenmusizierens auftreten. Ihre Präsenz ist weder bereits durch eine tradierte Rahmung begründet noch innerhalb der Diegese des Stücks motiviert. Mich hat deshalb interessiert, wie diejenigen meiner Gesprächspartner*innen, die regelmäßig selbst auf der Bühne stehen, ihre ›Rolle‹ dort verstehen. Philip Auslanders Unterscheidung von verschiedenen Schichten einer Musikerperformance im Rahmen der Popmusik ist hierbei hilfreich: Er differenziert: »The real person (the performer as a human being), the performance persona (the performer as social being) and the character (Frith’s song personality)«.30 Letzteres bezieht sich auf Simon Friths Beobachtung, dass gerade in den Lyrics von Popsongs fiktive Figuren evoziert werden. Wenn also beispielsweise Suzanne Vega im Konzert den Song »Luca« (1987) singt, ist sie zum einen als real person (Privatperson) Suzanne Nadine Vega anwesend, vor allem aber die

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performance persona, die Singer-Songwriterin Suzanne Vega und eben auch der character, d. h. die Figur des kleinen Jungen Luca, der sich im Lied an uns wendet (»My name is Luca …«). Auf das Theater übertragen kann das z. B. bedeuten, dass real person Peter Theissen als performance persona Bandleader, Sänger und Gitarrist der Band Kante als character des Chorführers in der Antigone-Inszenierung von Friederike Heller (Schaubühne Berlin, 2011) auftritt. Dabei muss hier der character nicht unbedingt aus gesungenen Songtexten hervorgehen, sondern kann durch die fiktive Gesamtrahmung entstehen. Wie sehen sich nun die Theatermusiker*innen? Schon in der Bezeichnung gibt es ein gewisses Ringen um Klarheit: Sie beschreiben sich als »Performer« (Krieg), »professionelles Selbst« (Ostendorf), »inszenierte Theatermusikerin« (Rudolph), »Darsteller« (Wittershagen) oder »Zwischenrollen« (Kürstner und Vogel). Kürstner und Vogel erläutern das noch weiter: Kürstner: Da ist man natürlich kein Musiker mehr, aber wir werden als Figuren sehr bei uns belassen. / Vogel: … und kriegen die Rollen eher angeheftet … / Kürstner: … weil wir so angesprochen werden. Aber wir ändern nichts … / Vogel: Wir verkörpern nichts. Das Oszillieren zwischen real person, performance persona und character wird hier sehr deutlich und ist auch in vielen Inszenierungen von Nicolas Stemann, bei denen die beiden häufig auf der Bühne stehen, bestens zu beobachten.31 Insgesamt beschreiben die Musiker*innen ihre Bühnenpräsenz oft als Gratwanderung – weder will man privat auf der Bühne stehen noch ›schauspielern‹. Das Dazwischen wird dabei verschieden artikuliert: Crummenerl unterscheidet eine schauspielerische Bühnen-Präsenz von einer instrumentalen und interessiert sich – wie auch Gollasch – für die Idee Mauricio Kagels, das Musizieren selbst szenisch zu verhandeln: »Wie funktioniert Musik auf der Bühne als gesehene?« Bei ihr kommt noch eine interessante Frage dazu: Was heißt es, »als Frau bestimmte Instrumente zu spielen, die lange in der Musikgeschichte für eine Frau als unschicklich galten« – ein Thema, das auch für die Schlagzeugerin Carolina Bigge und die Frauenband in Antú Romero Nunes Don GiovanniProjekt (Hamburg 2013) eine Rolle spielte. Heiß und Schrank, die in vielen Inszenierungen an der Münchener Schauburg mit auf der Bühne standen, beschrieben das Bedürfnis,

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»eine Art Rolle« zu haben, auch wenn es keine feste Figur sei. Diese Rolle bestehe darin, Teile der eigenen Persönlichkeitsstruktur in den Vordergrund zu stellen, da man als Privatperson »auf der Bühne eigentlich so nichts verloren« habe. »Die Begabung ist es eben, nichts zu spielen, aber trotzdem jemand zu sein.« Auch La Hengst »[hatte] keine Lust mehr […], immer nur Bernadette La Hengst zu spielen«. Mit Hilfe »bescheuerte[r] Kostüme« wird sie lieber zu »so etwas wie einer Kunstfigur«: »Natürlich bleibe ich immer ich selbst – ich bin keine Schauspielerin –, aber ich mag es, mich selbst zu überhöhen«. Wilhelmi beschreibt unterschiedliche szenische Funktionen für sich: Manchmal sei er eine Art Spezialfigur, die das Geschehen kommentiert und unterbricht, durchaus auch mit Text. In anderen Inszenierungen tritt er aber durchaus auch als Figur des Dramas auf: In Das Missverständnis32 ist er z. B. der Knecht. »Ich habe fast keinen Text, gehe aber sehr oft über die Bühne und beobachte das Geschehen. […] Ich komme rein als Knecht, bin mir dieser unerträglichen Situation sehr bewusst, gehe raus und spiele diese Wut dann ins Klavier rein.« Andere äußern stärkeres Unbehagen gegenüber bestimmten Aspekten des Szenischen in der Theatermusik-Performance. Bei Julia Klomfaß verläuft die Grenze zwischen stummer Rolle und Sprechrolle: »Ich mag das schon auch, eine kleine Rolle zu haben, wenn es gerade so angelegt ist. Ich weigere mich, was Text betrifft – Sprechen auf der Bühne, das mag ich überhaupt nicht.« Bei Krieg gehen Warnsignale schon früher los: »Ich kann das überhaupt nicht ab, wenn Musiker irgendwie im Sinne einer Stückfigur oder Rolle kostümiert werden und dann so eine Art ›Pseudoübersetzung‹ von irgendwas sind.« Aber auch er ist nicht privat oder einfach nur als ›Musiker‹ auf der Bühne – »dann könnte ich auch in meinen Jeans da reinlatschen.« Am Beispiel einer Inszenierung beschreibt er: »Was ich in dem Moment bin, fühlt sich dann sehr viel abstrakter an als eine Rolle oder Figur. Unsichtbarer. Anwesend, aber auf einer nicht figurenbezogenen Ebene auf das Geschehen eingehend, einwirkend.« Und Insa Rudolph beschreibt noch einmal zusammenfassend das Spannungsfeld: Wir [die freie Gruppe werkgruppe2, DR] versuchen immer, die Musiker*innen szenisch zu integrieren, ohne dass ihnen automatisch eine konkrete Rolle oder Figur zugeschrieben werden muss. Mal sind sie auch einfach Musiker, die aufgrund der eigenen persönlichen Geschichte einen Bezug zum Thema haben und über die

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Musik das Geschehen musikalisch differenzieren oder kommentieren. Wichtig ist, dass das Musizieren als Vorgang sichtbar gemacht wird. Da diese Balance schwer zu erreichen ist, lautet Rudolphs Fazit: »Da ist noch Luft nach oben, die Performance der Musiker von Anfang an mitzudenken.« Aus analytischer Sicht lassen sich durchaus Modelle finden, diese Zwischenpositionen zu beschreiben – man denke nur an Michael Kirbys Kontinuum von »Acting and Not-Acting«33 oder Kurzenbergers folgendes Beschreibungscluster: »Vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spieler. Der Schauspieler [oder eben auch Theatermusiker, DR] als Rollenspieler, Performer, Selbstdarsteller, Entertainer, Körperartist, Kameraobjekt, Musiker, Redemaschine, Choreut, Feldforscher, Experte des Alltags«34. Diese »Multiperspektivität des Darstellungsvorgangs«35 zu beschreiben, ist dabei bereits eine Herausforderung: Mit ihr konkret szenisch umzugehen und dazu noch im Rahmen einer technisch-physisch-expressiv anspruchsvollen Musizieraufgabe, ist – das deuten die Interviews an – ein schwer aufzulösendes Paradox. Als Gast im Theater? Theatermusiker*innen und die Institution Ambivalenz bestimmt auch den Diskurs, den die Interviewpartner*innen über ihr Verhältnis zu ihren Arbeitgebern führen. Viele artikulieren hier ein Bedürfnis, immer wieder auf Distanz zum Theater zu gehen. So sehr sie bewusst die besondere Art des Komponierens, Produzierens und Musizierens im Kontext (und oft: im Dienst) einer Theaterproduktion für sich akzeptiert, ja auch: bewusst gewählt haben, ist ihr Selbstverständnis als Musiker*innen dadurch oft nicht vollständig abgedeckt, sind die kreativen Bedürfnisse nicht hinreichend befriedigt (und zum Teil auch die Rechnungen noch nicht alle bezahlt). Bigge beschreibt das so:

Ich habe mich da von vorneherein ein bisschen breiter aufstellt. Ich finde das Theater einen guten Arbeitsplatz, würde es aber auch nicht nur machen wollen. Dazu interessieren mich noch die ganzen anderen Dinge, die ich machen darf: Songs schreiben, unterrichten, Konzerte spielen usw. Hengst, Ostendorf und Klomfaß gehen noch einen Schritt weiter und formulieren eine Notwendigkeit, neben dem Theater anderes zu machen, auch im Interesse der Theatermusik. Hengst sagt:

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Ich möchte mir zwischendurch den Freiraum nehmen, ziellos Lieder schreiben zu können. Und diesen Freiraum muss ich mir immer wieder schaffen, sonst bin ich zu eingeengt von diesem Theaterbetrieb. Dann kann ich mit diesem freien, weiten Blick auch wieder ins nächste Theaterstück hineingehen. Ostendorf schätzt ebenfalls ein, »dass es auch für meine Arbeit am Theater wichtig wäre, an meinen eigenen Sachen weiter zu arbeiten«, und Klomfaß betont: Das ist für mich sehr wichtig, dass ich [unabhängige Bandprojekte, Filme und Hörspiele] habe – als Ausgleich gegen die Welt, glaube ich [lacht]. […] Es geht auch einfach darum, aus dem ganzen Theaterkontext immer wieder zu verschwinden. Und dann liebt man es halt, wieder da zu sein. Krieg wendet diese Idee von einer persönlichen Notwendigkeit des Abstands in eine fast ethische Forderung: »Im Theater darf man eigentlich nur Gast sein.« Er erläutert: »Ich will im Theater nicht ankommen, sondern ich würde das Theater gern erweitern, mit dem Theaterunspezifischen, was ich als Außenständiger mitbringe.« Bei einigen Theatermusiker*innen gehört es auch zum Verständnis ihrer Aufgabe innerhalb des Theaters, dass diese eine gewisse Distanz erfordert: So artikuliert Clark, dass es ihm beim Blick auf die Gesamtdramaturgie eines Stücks gemeinsam mit der Regisseurin hilft, wenn er nicht so oft auf den Proben ist wie der Sound Designer – »who knows every psychological beat and has heard every conversation about what everyone is trying to achieve, and if I come in later to see how it is all hanging together, then I am able to see what I see, not what everyone thinks we are supposed to be seeing.« Er pointiert dies auch umgekehrt in Bezug auf seine Musik: I don’t think the composer is always the best person to choose the music. At least for plays and movies where the structure of the piece is not a musical structure. I think the composer is the best person to write the music! I would rather write good music and let someone else decide where they think it works best. Diese Form der Arbeitsteilung ist im anglo-amerikanischen Theater durchaus typisch, im deutschsprachigen System allerdings eher unüb-

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lich, weshalb Clarks Arbeitsweise hierzulande wenig verbreitet ist.36 Neben der bereits mehrfach beschriebenen Marginalisierung bei Publikum, Kritik und Wissenschaft, die die Theatermusiker*innen mal mehr, mal weniger beklagen, sind es nicht selten auch die Arbeitsbedingungen am Theater, die kritisch zur Sprache kommen. Im Kern geht es dabei um mangelnde Wertschätzung, die anhand unterschiedlicher Aspekte erfahrbar werde: Oft werde über die Verzichtbarkeit eines/r Theatermusiker*in diskutiert37, selten bekämen Theatermusiker*innen eine Assistenz (die bei Regie, Bühne und Kostüm, bisweilen auch Dramaturgie selbstverständlich ist), das Honorar bleibe häufig unter dem anderer Gewerke zurück, die Ausstattung der Probebühne, die Zeit für das Tonpersonal und die Bühnenzeit für Toneinrichtung müssten hart erkämpft werden. Bei all dieser Kritik kommen aber auch Glücksmomente zur Sprache: Kollegialer Zusammenhalt und wechselseitige Inspiration; Regisseure, die dafür sorgen, dass jeder im Regie-Team gleich viel Geld erhält; das Privileg, mit sich kontinuierlich verbessernder Technik arbeiten zu können; Freiräume zum Improvisieren, Erfinden, Scheitern und ein bisschen Theatermagie, wenn die Musik unversehens ein szenisches Problem löst.

Theatermusik im Spannungsfeld zwischen Regie, Dramaturgie, Schauspiel, Raum und Tontechnik

Theatermusik oszilliert nicht nur in ihrer Ästhetik zwischen Autonomie und Relationalität – sie ist auch in ihrer Entstehung, Durch- und Aufführung von einem Wechselspiel zwischen individueller Praxis und einer ganzen Reihe von Kollaborationen gekennzeichnet, bei denen ästhetische, hierarchische, organisatorische und zwischenmenschliche Konflikte und Synergien Hand in Hand gehen. Nimmt man die Gesamtheit der Theatermusiker*innen in einem Kulturraum als einen Bezugspunkt, eine community of practice, bilden Produktionsgemeinschaften die andere wesentliche community. Sehr häufig unterhalten Theatermusiker*innen langjährige Arbeitsbeziehungen zu einem Pool von Regisseur*innen, Schauspieler*innen, Bühnenbilder*innen und Tontechniker*innen und anderen. In einigen Fällen geht dies so weit, dass z. B. von einer »Marthaler-Familie«38 gesprochen wird – Ähnliches ließe sich auch über andere Konstellationen (z. B. Ostermeier, Beier, Fritsch, Thalheimer etc.) sagen.

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Bevor also im nächsten Unterkapitel – insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zu technologischen Entwicklungen – die téchnē von Theatermusiker*innen sowie ihr oft sehr individuelles Verhältnis zu Komposition, Arrangement und Sound Design untersucht werden sollen, geht es hier zunächst darum, wie sie die vielfältigen Formen der Zusammenarbeit, die wechselseitigen Inspirationen und Abhängigkeiten reflektieren. Mit wenigen Ausnahmen lässt sich zunächst festhalten, dass die Theatermusiker*innen die unmittelbare Nähe zur Produktion suchen: Viele äußern das Bedürfnis, ja, die Notwendigkeit, auf den Proben kontinuierlich und von Anfang an präsent zu sein. Mal gestalten sie dabei die Probe aktiv mit (dazu gleich mehr), mal arbeiten sie mit Kopfhörern vor dem Hintergrund eines Probenprozesses, der – quasi osmotisch – in die eigene Arbeit an Klangatmosphären oder Musikstücken mit eingeht. Klomfaß beschreibt das so: Viel passiert auf der Probe. Ich bin einfach oft da und höre zu, wenn die Schauspieler lesen oder irgendwas tun, und dann entwickle ich zumindest schon mal etwas oder suche nach Sounds. Das ist immer ganz spannend, finde ich, wenn man die Stimmlagen von allen Schauspielern neben sich hat, dann nimmt man das tatsächlich schon auch mit, finde ich, in der Tonart, in der man sich bewegt oder in dem, was dagegensteht, oder in kleinen Klängen, die man plötzlich in einem Logic-Album findet und dann bearbeitet. Seher empfindet das ähnlich: Das Improvisieren sieht bei mir so aus, dass ich unter Kopfhörern arbeite, während der Regisseur oder Regisseurin neben mir Gespräche mit den Schauspielern führt. Das scheint wichtig zu sein, dass ich das eben nicht zu Hause mache, sondern dass die Musik an dem Ort, wo es passiert, entsteht. Theatermusiker*innen sind also im Inszenierungsprozess in hohem Maße präsent. Was bedeutet das für ihr Verhältnis zur Regie? Zusammenarbeit mit der Regie Insgesamt decken die Antworten, wie sich die Zusammenarbeit mit der Regie und die Chronologie der Entstehung ›fertiger‹ Musiken gestaltet, eine große Bandbreite ab: Manche bevorzugen es, bereits vor Probenbeginn einige Stücke vorzubereiten – die von skizzenhaften Sounds oder

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Rhythmen bis zu relativ fertig produzierten Kompositionen reichen können. Viele benennen die Leseprobe – wenn es eine solche gibt – als eine wichtige Inspirationsquelle 39 und Initialzündung. Dann gibt es etliche, die während der Proben musikalisch quasi mit Regie führen. Das beginnt bereits bei der Etablierung einer Arbeitssituation, wie Beckenbach berichtet: »Ich finde die Idee sehr plausibel, dass man manchmal die Probenatmosphäre und den ›soundscape‹ der Probebühne regelrecht musikalisch gestalten muss«. Was die konkrete Arbeit an Szenen betrifft, begleiten die Musiker*innen deren Entstehung häufig ebenfalls direkt mit und üben Einfluss auf die Richtung, den Spielstil, die Interpretation aus. So beschreibt z. B. Ostendorf: Das geschieht dann auch gleichzeitig – also die Schauspieler spielen nicht erst die Szene, und danach überlege ich mir, was da wohl für Musik passen könnte, sondern ich mache gleich mit und spiele von Anfang an Sound ein und manipuliere den live. […] Im besten Fall kann ich auf der Probebühne als Mitspieler agieren, die Temperatur im Raum mit Sound und Musik verändern und mit den Schauspielern interagieren. Wie schon in der Einleitung thesenhaft formuliert, bedeutet dies auch, dass die Musik zum Teil ganz andere Funktionen einnimmt als das Kommentieren bzw. Untermalen von fertigen Szenen. Baierlein betont beispielsweise die Wechselwirksamkeit mit den Schauspieler*innen: »Manchmal inspirieren sie mich durch ihre Arbeit zu bestimmten Atmos und Farben, und manchmal inspiriert die Musik die Schauspieler.« Ganz ähnlich beschreibt es Krieg: »Der Schauspieler ist nicht mehr nur Schauspieler, sondern durch unsere Interaktion Schauspiel/Musik gleichen wir uns ein bisschen an, bewegen uns aufeinander zu«. Bei Sebastian Nübling, berichtet Wittershagen, »passiert alles parallel: Das ist auf den Proben wie so eine Ursuppe, wo jeder seine Zutaten hineinschmeißt, und am Ende entsteht dann etwas daraus.« Seher weist dabei darauf hin, dass diese offeneren Wechselwirkungen auch dazu führen, dass die traditionellen Rollen und etablierten Arbeitsteilungen bisweilen verwischen: »Ich werde ja auch ein bisschen zum Regisseur, genauso wie der Regisseur auch ein bisschen zum Musiker wird.« Im Sinne dieser intensiveren Verzahnung von Musik und Szene im Entstehungsprozess bezeichnet Ostendorf die Musik auch als Auslöser für spielerische Ideen: »Es geht mir darum, dass ich einen Sound für einen Abend finde, dass ich Tonmaterial finde, das schon in der Probe

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eine Atmosphäre herstellt, die den Regisseur oder auch die Schauspieler ›triggert‹.« Auch Seher kennt die Situation, dass Musik am Anfang steht: »Jarg Pataki ist jemand, der grundsätzlich seine Szenen erst aus der Musik entwickelt, der im Grunde die Musik erst hören muss, bevor er weiß, was er mit den Schauspielern machen will.« Bei Projekten und Stückentwicklungen, wie Hengst sie vor allem macht, geht das noch einen Schritt weiter: »Ich lasse mir oft, gerade von den jungen Leuten, ihre Lieblingssongs auf dem Handy vorspielen und orientiere mich daran.« Hier werden die Spieler*innen zu musikalischen Mit-Autor*innen. Bei der Zusammenarbeit mit den Regisseur*innen thematisieren viele der Musiker*innen die Bedeutung einer gewachsenen Beziehung, einer gefundenen gemeinsamen Sprache, die es möglich macht, sich gegenseitig zu verstehen, auch wenn man nicht unbedingt fachsprachlich miteinander redet. Heiß: »Da hatten wir auch immer Glück, mit Regisseuren arbeiten zu dürfen, die, ob sie nun musikalisch waren oder nicht, zumindest ein Gespür hatten für die Funktionalität dessen, was man da macht.« Natürlich gibt es hier aber auch Potenzial zu Frustrationen: Über Musik zu sprechen, ist bekanntlich schwer, und bisweilen gehen Wünsche und Anweisungen im Übersetzungsvorgang verloren, wie z. B. Gollasch berichtet: »Also, Karin [Beier] ist jemand, die auch immer so Stichworte reingibt, ›Mach jetzt mal so was wie ›bläuliche Süße‹!‹, und man dann sagt: ›o. k.! [lacht], was passt da jetzt?‹«. In anderen Fällen fehlen Zeit und Geduld, um eine musikalische Idee so weit zu entwickeln, dass man sie ernsthaft überprüfen könnte. Gollasch appelliert an die Regiepartner: »Gib uns doch mal eine Chance, das auf eine gewisse musikalische Höhe zu bringen, damit wir dann sagen können: ›Jetzt ist es präsentierbar, und jetzt höre es dir mal an.‹« Preuss berichtet Ähnliches von Proben, bei denen er musikalisch improvisiert: »Man ist da drin, es entwickelt sich, und dann wird gestoppt, und man hört schon die Peitsche der Regie.« Oder, wie Baierlein es formuliert, die Arbeit, die man gemacht hat, werde nicht so wertgeschätzt, wie man sich das wünschen würde: »Meist müssen Atmos, die im Hintergrund laufen, so leise abgespielt werden, dass man die Details nicht mehr hört.« Bei aller Emanzipation der Theatermusik ist ihr der Nimbus des ›Dienenden‹ doch immer wieder eingeschrieben: in den Hierarchien der Künste und den Hierarchien der Theaterarbeit. Die Musiker*innen bewegen sich auf einem feinen Grat zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit, zwischen künstlerischer Autonomie und Dienstleitung, zwischen essenziellem Impulsgeber und verzichtbarer Größe.

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Zusammenarbeit mit der Tontechnik Eine intensive Zusammenarbeit und auch Abhängigkeit verbindet die Musiker*innen mit der Tonabteilung. Dabei beschrieben die Interviewpartner*innen eine Bandbreite an Erfahrungen: Der Wunschzustand, der auch immer wieder eintrifft, ist der von einer kreativen Partnerschaft und von wechselseitigem Respekt. Krieg sagt:

Die Tonabteilung ist im Prinzip deine rechte Hand. Je mehr du auf diese Abteilung eingehen kannst und je genauer du deine Ansagen machen kannst, desto mehr nehmen sie dich ernst und setzen sich auch für einen guten Ton ein. Und das ist so wichtig im Theater, dass der Ton gut ist. Die geschulten Ohren der Tontechniker*innen, ihr Know-how und die intime Kenntnis des Hauses, in dem der/die Theatermusiker*in häufig nur Gast ist, sind im Idealfall eine perfekte Ergänzung und sichern auch nach Abreise des kreativen Teams die klanglich-musikalische Qualität der Aufführung. De facto führt die organisatorische Trennung der projektweise arbeitenden Produktionsgemeinschaften von den im Schichtdienst arbeitenden Technikabteilungen oft zu Reibungsverlusten. Ostendorf beklagt: »Ich wünschte mir Toningenieure, die ein bisschen mehr oder ein bisschen früher dabei sind. Aber oft sind sie einfach wahnsinnig eingespannt, und es gibt an den Theatern auch nicht genug.« Ähnlich äußert sich Gollasch: «Dieses ganze System, dass man eigentlich in der Probenphase komplett abgeschnitten ist von so einem Haus und die Abteilungen erst in der Endprobenphase ins Boot holt, das ist natürlich keine wirklich gute Lösung.« Diese Trennung gibt es auch häufig noch räumlich, wie Wilhelmi beklagt: »An manchen Theatern sitzt die Tonabteilung hinter Glas und hört eigentlich gar nichts! Das haben sie in München systematisch abgeschafft. Bei Microports gilt das sowieso: Da als Tontechniker nicht mit im Raum zu sitzen, gehört unter Strafe gestellt [lacht]!« Eine Konsequenz aus diesem arbeitsteiligen System ist, dass bisweilen Musikeinsätze zwar präzise auf Zeichen gefahren werden, aber nicht musikalisch mitgestaltet werden. Es gehe darum, sagt Klomfaß, den Moment zu erspüren, wo es anfängt – und dazu sind Tonleute oft nicht bereit, und das finde ich sehr, sehr schade einfach, weil ich das als Tonmann das Spannendste überhaupt fände: Wie langsam fahre ich eine Fläche herein, wann gehe ich raus, oder wie starte ich.

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Auch Heiß empfindet da ein Defizit: Für die ist das ein Job mit acht Stunden am Tag, die haben nicht nur eine Produktion, sondern noch 15 andere, die im Spielplan sind, und die gehen eben auf Lichtzeichen und lesen nebenbei Zeitung. Das kann ich zu einem gewissen Grad auch verstehen –, aber es ist etwas anderes, wenn ich nur für die Vorstellung komme, mich völlig darauf einlasse und das ohne Skript aus dem Kopf mit dem Finger am Master-Regler wirklich mitgestalte. Das ist ein Unterschied. Hier kommt eine Zweischneidigkeit zur Sprache, die auch Rudolph noch einmal aus der Perspektive von jemandem reflektiert, die vorwiegend in der freien Szene arbeitet, deren Gruppe aber immer wieder auch mit Stadttheatern kooperiert: An einem festen Haus hat man natürlich technisch ganz andere Möglichkeiten. Ich habe in dieser Salinezeit40 ganz schön viel von meinem eigenen Equipment geschrottet, weil das alles korrodiert ist. Aber am Theater ist man dafür in einem System drin, in dem die Entscheidungswege komplizierter sind, in dem sehr viele mitreden, in dem es unterschiedliche Ängste, Bedürfnisse und Ansprüche gibt. Das bringt schon auch manchmal Einbußen in der künstlerischen Freiheit mit sich. Ich möchte das nicht werten: Beides hat seine Vor- und Nachteile. Für die Arbeit als Musikerin und Musikalische Leiterin ist es toll, die Technik vor Ort nutzen zu können, jemanden zu haben, der mir Dinge abnimmt. Ich hatte bisher mit den Tontechnikern immer viel Glück und hatte sehr nette Menschen an der Hand, die mich unterstützt haben. Auch in den verschiedenen kooperativen Konstellationen, so lässt sich festhalten, bestimmen eine ganze Reihe von Ambivalenzen die Arbeit der Theatermusiker*innen, bei denen Hierarchien, Entscheidungswege, Zuständigkeiten und Kompetenzen immer wieder neu zu verhandeln sind und bestimmte Konfliktpotenziale der Tätigkeit offenbar systemisch eingeschrieben sind.

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Theatermusik als Netzwerk und téchnē

Ein Bereich des Theaters, auf den sich die technischen Entwicklungen der letzten Jahre – unter anderem in Form der Digitalisierung – besonders signifikant ausgewirkt hat, ist die Theatermusik. Es lag daher nahe, den Theatermusiker*innen die Frage zu stellen, wie sie die Rolle von Technologie für ihre Arbeit reflektieren. Es wird niemanden überraschen, dass das zentrale Thema dabei in fast allen Interviews die Digitalisierung von Musikproduktion und -präsentation ist. Dieser »game changer«, wie Clark das nennt, hat die Theatermusik der jetzigen Generation nachhaltig beeinflusst und spielt für ihre Arbeitsrealität, ihr künstlerisches Selbstverständnis und ihre Ästhetik eine zentrale Rolle. Zwei Begriffe scheinen mir dabei zentral, um die folgende Auswertung der verschiedenen Aussagen zu rahmen. Zum einen ist gerade die Praxis der Theatermusik ein klassischer Fall eines Actor-Networks im Sinne der gleichnamigen Theorie des Soziologen Bruno Latour. »Einer der wirkungsmächtigsten Denkanstöße, der von der ANT ausgeht«, schreibt Wolf-Dieter Ernst, »ist die Idee der zirkulierenden Handlungsmacht humaner und nicht-humaner Akteure«.41 Gerade weil zeitgenössische Theatermusik in so engem Austausch mit Hard- und Software der Musikproduktion entsteht, wäre es reduktiv, nur über die Intentionen und Praktiken der Musiker*innen zu sprechen. Sie sind Teil eines Netzwerks humaner und nicht-humaner Akteure, deren Zusammenspiel variiert und das wechselnde ›agencies‹ hervorbringt, wie Latour das nennen würde.42 Die Musiker*innen, Tontechniker*innen, Schauspieler*innen, Regisseur*innen, Zuschauer*innen, aber eben auch die Mikrofone, Lautsprecher, Verstärker, Effekte, presets, Ableton-Spuren, Musikinstrumente, Sound-Datenbanken etc. bilden ein »sozio-technisches Ensemble«43, dessen komplexe Kollaborationen eine Theatermusik ausmachen. Wenn Ernst feststellt, dass ein Auftritt Schlingensiefs mit einem Megafon »selten […] ausgehend von der (technischen) Ausrüstung, Bauart und Herkunft […] des Megaphons her analysiert«44 werde, dann wird gerade in Bezug auf die Theatermusik deutlich, dass so eine Verschiebung bzw. Erweiterung der Betrachtungsperspektive bisweilen absolut notwendig ist. Sieht man sich beispielsweise die spielbestimmende Präsenz der Mikrofone in Nübling/ Wittershagens Inszenierung Ilona, Rosetta, Sue (München 2013), die der Instrumente in Beier/Gollaschs Demokratie in Abendstunden (Köln 2011) oder die des Steam-Punk-U-Boot-Orchestrions in 20000 Meilen unter den Meeren (Heiß/Schrank, München 2015) an, ist unmittelbar evident, dass

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die non-human actors 45 weit mehr als Erfüllungsgehilfen einer humanen Regie-Intention sind.46 In ihrer jeweiligen techno-kulturellen Beschaffenheit geben sie hingegen wesentliche Impulse und wirken sich prägend auf Spielform, szenischen Rhythmus, physischen Habitus und die Klanglichkeit des Theaterraums aus. Der zweite Begriff, der sich anbietet, wenn man analysieren will, wie die Theatermusiker*innen über ihre Arbeit sprechen, ist der griechische Terminus ›téchnē‹, der mir präziser zu sein scheint als die verwandten Begriffe der ›Technik‹ oder ›Technologie‹.47 Téchnē impliziert ein Verhältnis und ein Tun, statt einer Sache. Der Begriff schafft eine Verbindung zwischen künstlerischer und technischer Praxis und denkt Ästhetik und Handwerk zusammen.48 Er beschreibt außerdem eine teleologische, d. h. auf einen Gegenstand ausgerichtete Kunstanstrengung, was eben auch die Theatermusik von rein selbstbezüglicher Kunstmusik (mitunter als »absolute Musik«49 oder als »music alone«50 bezeichnet) unterscheidet. Sie ist eben, wie ich in der Einleitung ausgeführt habe, »relationale Musik«51. Die téchnē der Theatermusik ist dabei komplex und beinhaltet traditionelle musikalische Fertigkeiten, wie Instrumentalspiel, Komposition, Notation oder Einstudierung sowie eben heute eine umfassende Beherrschung sogenannter DAWs (Digital Audio Workstations) für die Produktion und das Arrangement von Sounds, das Aufnehmen und Bearbeiten von Klängen, das Abmischen und Mastern von Tracks, die Toneinrichtung, Mikrofonierung und gegebenenfalls Live-Wiedergabe und Mischung der Klangwelt einer Inszenierung.52 Im Rahmen der Interviews waren dabei vor allem die Rolle des Computers in der Arbeit, das Bedürfnis nach einer individuellen Sound-Identität, die Spannung zwischen analog und digital und zwischen liveness und Reproduzierbarkeit wichtige Themen. Die Rolle des Computers In den letzten Jahren ist der Computer53 zum professionellen Tonstudio avanciert und zum wichtigsten Instrument vieler Theatermusiker*innen geworden. Die Beziehung zu diesem Gerät wird dabei unterschiedlich bewertet: Einerseits wird der Computer als Speichermedium und Tonarchiv verstanden, durch das die Vielfalt und Zugänglichkeit von Klängen förmlich explodiert ist, zum anderen wird er als »Aufschreibesystem«54 für musikalische Ideen und Klangvorstellungen verwendet: Gollasch spricht z. B. vom Computer als »verlängertem Arm«. Häufig wird der Computer aber auch als Partner verstanden, der weder

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vollständig beherrschbar noch dessen Ziel es ist, natürliche Klänge oder Spielweisen zu imitieren. Günther bringt dies auf die Formel: »Wenn ich überhaupt mit Computer arbeite, dann möchte ich auch, dass er etwas macht, was nur ein Computer kann.« Er gibt dabei ein Beispiel aus seiner Musik zum Eingebildeten Kranken.55 Hier spiele die MIDI-Software bei »Tempo 2000«56 ein präpariertes Cembalo, das dann nur noch weißes Rauschen erzeuge. Beckenbach spricht vom Computer als »Black Box«, die ihn aus musikalischen Gewohnheiten am Klavier befreie. Für Gollasch schafft er anhand bestimmter grafischer Interfaces die Möglichkeit, sich überraschen zu lassen und Neues zu generieren, das man nicht vollständig antizipieren könne, das aber gleichzeitig nicht beliebig sei. Für Wittershagen macht die eigene DAW sogar einen Teil des Personalstils aus: Er arbeite zwar stilistisch sehr heterogen, von Blaskapelle über Fußballchöre bis zu Bossa-Nova und Dubstep, aber alles müsse, wie er sagt, »ein Mal durch seinen Computer durch«. Durch die dort getroffenen Voreinstellungen und Software-Konstellationen, die vorhandenen Klangbibliotheken sowie die erworbenen handwerklichen Gewohnheiten im Umgang mit all dem, entsteht eine eigene künstlerische Handschrift. Deutlich wird in diesen Aussagen, dass der Computer die Rolle eines Aktanten im Sinne Latours einnimmt und als (Meta-)Medium und Interface fungiert, das sich in den kreativen Prozess vielfältig einschreibt. Barbara Barthelmes hat diesen Gedanken für den Kontext der Neuen Musik so ausgeführt: Die Einstellung zur Technik hat sich in verschiedener Hinsicht gewandelt. Nach wie vor werden technische Apparate als Mittel zum Zweck, als Instrumente benutzt, um Klänge zu synthetisieren, um sie zu verstärken, zu bearbeiten und zum Publikum zu bringen. Daneben hat sich auch ein Verständnis etabliert, die [sic] diese Mittel-Zweck-Relation umkehrt. In der Regel zeichnet sich ein Werkzeug, ein Instrument dadurch aus, daß sich in seinem Werkzeugcharakter ein verallgemeinerter Zweck manifestiert. Für den Bastler jedoch wird ein Apparat wie ein Radio, ein Schallplattenspieler, ein Sampler usw. zu einem Mittel für einen ganz bestimmten konkreten Zweck, d. h. ein Gegenstand nimmt nur für ein bestimmtes Projekt die Funktion eines Instruments an, außerhalb des Projekts erlischt diese Funktion wieder. Zusätzlich hat die Möglichkeit der Digitalisierung, das Computieren, d. h. einen Ton, einen Klang oder ein Geräusch in einzelne Signale aufzulösen und

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wieder zusammenzusetzen, einem Verständnis für Technik den Weg geebnet, das sich von der Vorstellung einer Dingwelt, bestehend aus Apparaten, die der Sphäre der Kunst gegenüberstehen, gelöst hat. So paradox das scheinen mag, hat die technische Entwicklung im 20. Jahrhundert die Bedeutung von Komponieren von einem geistigen Akt auf das Tun, auf das Behandeln, Formen, Modellieren, Herstellen und Entwerfen, auf den direkten ›Stoffwechsel‹ zwischen Mensch und Klang zurückgeführt.57 Diese Formen des »Experimentieren[s], Basteln[s], Gestalten[s], Inszenieren[s]«, so der Titel von Barthelmes’ Aufsatz, sind ganz typisch für die téchnē der Theatermusik. Wie nun dieser ›Stoffwechsel zwischen Mensch und Klang‹ im Einzelnen aussieht und wie stark Technologie als Aktant Einfluss auf Arbeitsweise und Ästhetik der Theatermusik nimmt, variiert von Musiker*in zu Musiker*in, wie man an den drei folgenden ausgewählten Aspekten – presets, Digitalität und liveness – ablesen kann. ›Seasoning the presets‹. Sound als Recherche und Identitätsfindung Die Suche nach künstlerischer Identität, die in der Theatermusik immer wieder Thema ist, zeigt sich unter anderem darin, dass die Musiker*innen eine kritische Distanz zu den technischen Produktionsmitteln artikulieren, also ihre téchnē hinterfragen. Es sei, sagen manche, zu einfach geworden, mit der am Hobbyraum-Pop-Produzenten orientierten Software mal schnell ein paar Tracks und Loops zu erzeugen. Die Vor- und Nachteile digitaler Musikproduktion abwägend, sagt Clark: »The bad aspect of this is that it is possible to be lazy, to be a copy & paste composer.« Beckenbach ergänzt:

Oft ist die technische Entwicklung aber auch der Tod der Inspiration, denn wenn es zu einfach wird, dann wird es auch schnell wieder beliebig. Zum Teil beschränkt man sich dann auch mal absichtlich selbst [lacht], und an dem Punkt setzt dann auch die eigene künstlerische Persönlichkeit ein, die man als Theatermusiker braucht. Als rote Fäden ziehen sich daher zwei Themen durch die Interviews: der Umgang mit sogenannten presets – damit sind hier voreingestellte Sounds und virtuelle Instrumente gemeint – und das Bedürfnis nach einer eigenen Sound-library. Günther verwendet eine interessante Metapher in Bezug auf presets: Man müsse sie »zum Leben erwecken […],

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indem man sie noch mal durcharbeitet.« Das sei wie Kochen: »Es gibt ja so fertige Mahlzeiten mit allen Zutaten, aber da will man ja auch noch mal nachwürzen. Man will das persönlich kriegen.« Eine zweite téchnē , die einige Musiker*innen beschreiben, besteht darin, sich durch systematisches Aufnehmen von Alltagsklängen oder instrumentalen Clips und deren Zurichtung als Samples (d. h. als komponierbare Einheiten, die in Echtzeit verwandelt werden können) eine eigene Klangpalette zu schaffen. Die persönliche ›library‹ gehört hier auch konstitutiv zur eigenen Handschrift und zur Identität innerhalb der community of musical practice. Heiß formuliert das so: Alles, was die Musikindustrie in den letzten 15 Jahren an consumer-orientierter Software herausgegeben hat, hat einen Unterton der Machbarkeit in Bezug auf die Rechenleistung, die Finanzierbarkeit und die Bedienbarkeit. Und die Synthesizer, die man kaufen kann, ähneln in ihrer Soundästhetik dem, was der Konsument hören möchte. Damit bist du natürlich immer irgendwo im Mainstream. Sich von diesen Dingen zu verabschieden und zu sagen: Ich nehme nicht das Plug-in, das Ableton mir vorgibt, sondern ich baue mir selber ein Max-Patch, oder ich nehme eine andere Klangquelle, da kommt man erst an den Punkt, wo man das nicht schon so gehört hat. Zur téchnē von Theaterkomponisten gehört also nicht nur das Erfinden von Melodien und Harmonien, sondern von Instrumenten, Aufnahmeverfahren und Formen der Verräumlichung von Musik. Für Beckenbach ist z. B. die Verwendung eines eigenen Dolby-Verfahrens ein essenzieller Teil seines Set-ups. Das gebe seinen Musiken einen »installativen Charakter«, weshalb er sich z. B. auch schwer tue, jenseits der spezifischen Aufführungssituation seine Musik in ein Stereoformat reduziert verfügbar zu machen.58 Und in Bezug auf Techniken der Klangrecherche berichten beispielsweise Heiß und Schrank, man müsse sich »natürlich auch heranwagen an das Basteln von Musikinstrumenten«: Heiß: Greulix kauft einfach mal 20 Stimmgabeln und versucht, mit diesen Stimmgabeln ein Stück zusammenzubauen. Das wird anders klingen, als wenn ich mir aus dem Computer einen Sinuston hole. Solche Artefakte und das, was da neben dem reinen Klang noch passiert, das interessiert uns.

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Hier wird deutlich, dass – quasi als Gegenbewegung zu einer möglichen sinnlichen Entfremdung von Klangphänomenen durch den Computer – die Materialität 59 und Theatralität 60 von Musikerzeugung von einigen Theatermusiker*innen ganz bewusst in den Dienst genommen werden. Ästhetische Spannung zwischen analog und digital Bei aller Faszination und intensiver Beschäftigung mit den digitalen Möglichkeiten der Musikproduktion artikulieren viele meiner Interviewten eben auch eine Sehnsucht nach analogen bzw. akustischen Klängen, oft verbunden mit einem – zum Teil auch nostalgischen – Interesse an prä-digitalen Technologien. Preuss und Günther erklären das so:

Preuss: Das Absurde ist ja: Je weiter sich der Computer entwickelt, desto analoger will er klingen. […] Günther: Das ist aber auch irgendwie eine Verarsche, denn Digitalität kann eines nicht, was analoge Medien können: Sie kann keine Patina bekommen, sie kann nicht altern. Wir kennen das bei einem Buch: Ein altes Buch von meiner Oma, das schlage ich auf, und das riecht! Oder alte Fotos von früher: Da sehe ich genau, ob das jetzt ein Agfa- oder ein Kodak-Film war, je nachdem, wie es vergilbt ist. Wir Menschen stehen ja auf dieses Altern. Die Digitalität versucht, uns den Wunsch des Unsterblichen zu verkaufen. Dateien können nicht altern. Und ich hoffe, dass es noch so eine Sehnsucht gibt, dass man an diesem Altern noch Spaß hat. Ich glaube auch, dass die Wahrnehmung sich nicht so schnell verarschen lässt: Als ich noch ein richtiges Klavier hatte, konnte ich ohne Probleme zwei Stunden daran herumklimpern, obwohl es relativ schlecht war und verstimmt. Beim digitalen Klavier ist es so, dass man nach einer halben Stunde keine Lust mehr hat. Heiß stimmt dem zu: »Der Unterschied zwischen analog erzeugtem Klang und digital erzeugtem Klang ist immer noch riesig, finde ich.« Viele der Musiker*innen berichten daher, dass sie bewusst digitale und akustische Klänge mischen, um das Beste aus beiden Welten zu bekommen. Bei Kürstner und Vogel spiegelt sich das auch in der Arbeitsteiligkeit wider: Sebastian ist deutlich stärker akustisch orientiert, bestimmt auch klassischer, ich viel eher elektronisch und rhythmisch. Da haben

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wir uns schon immer ergänzt: Bei Sebastian geht’s schneller in Richtung Bach, bei mir geht’s schnell mehr in Richtung Berio, und das ist ein weiter Weg. Es ist oft so, dass ich mit Synthesizern anfange, während Sebastian dazu Klavier oder Violine spielt. Das ist bei uns ein ganz klassischer Anfang, wo sich sofort etwas herstellt. Jenseits der Frage nach digital vs. analog beschreiben die Musiker*innen in ihrer Ästhetik insgesamt ein Bedürfnis nach etwas »grain« im Sinne Roland Barthes’ 61, also: nach etwas Rauheit, Körnigkeit in der Klangästhetik, oder – mit Ross Brown gesprochen – nach etwas »theatre noise«62. Ross prägt den Begriff als eine Gegenbewegung, »a polemical objection to theatre’s phobia of noise«.63 Fehler im Instrumentalspiel, glitches in der Computer-Technik, Nebengeräusche in der Aufnahme oder Lärm im Theaterraum werden bewusst in Kauf genommen und als manchmal besonders produktiv für den Theaterzusammenhang gewertet.64 Dabei fällt häufig ein Begriff, der mal als Begründung für, mal als Konsequenz aus dieser Spannung zwischen Digitalem und Analogem, dieser Bewahrung des Imperfekten im Perfekten, des Unkontrollierbaren im Kontrollierten ins Feld geführt wird: der Begriff der »liveness«.65 Liveness – Digitalität66 und die Musik als Mitspieler Bereits in der Einleitung habe ich skizziert, dass aufgrund neuer Abspielsysteme auch vorproduzierte Musik nicht mehr statisch sein muss, sondern einzelne Stimmen eines Tracks zeitlich, räumlich und dynamisch flexibel abgefahren werden können. Das hat dazu geführt, dass auch Musik, die nach landläufiger Bezeichnung ›vom Band‹ kommt, von den kreativen Teams stärker als eine Art ebenbürtiger »Mitspieler« (u. a.: Heiß) gedacht wird. Weder müssen sich Schauspieler*innen Takte zählend nach festen Musikeinsätzen richten (auch wenn sich das Timing einer Szene in der zwanzigsten Aufführung vielleicht längst verändert hat) noch muss die Musik so dienend und zurückhaltend gedacht werden, dass sie der Szene nicht ins Gehege kommt. Krieg beschreibt das in Bezug auf seinen Umgang mit vorproduzierten Tracks, die er häufig als live anwesender Musiker einspielt: »Ich [habe] die einzelnen Stimmen aus dem Mix extrahiert, um sie live an die Vorgänge auf der Bühne anzupassen. Dadurch kriegt das wieder so einen Livecharakter, der für meine Arbeit relativ entscheidend ist.« Ob durch live präsente Musiker*innen – die immer häufiger die Inszenierungen bevölkern – oder durch Ableton: Musik wird, das betonen die Interviewpartner*innen oft, viel dialogischer gedacht.

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Das liegt auch daran, dass die Digitalisierung den Theatermusiker*innen eine frühere und kontinuierliche Präsenz auf Proben erlaubt: Auch hat die téchnē wesentlichen Einfluss darauf, dass die Musik schon während der Probe oder nach einer kurzen Mittagspause unmittelbar auf die jüngsten szenischen Entwicklungen reagieren kann bzw. überhaupt erst wesentliche Impulse setzen kann, wo sie früher viel später und tendenziell illustrierender hinzugefügt werden musste. Kürstner und Vogel wägen dabei Vor- und Nachteile gegeneinander ab. Während Kürstner argumentiert, dass gegenüber der »starre[n] Konserve« von vor 20 bis 30 Jahren die »Anschmiegsamkeit der Musik [heute eine ganz andere ist], weil wir die Musik während des Entstehens fortwährend verändern können«, gibt Vogel zu bedenken: Nimmt man einmal das Anschmiegsame und das Monolithische als zwei verschiedene Arten von Theatermusik, so führt Letztere zu einem anderen Widerstand, der oft ganz gut ist, weil er den Text auf eine Art aufhält oder ausbremst und einen anderen Kontext aufmacht. Diese Sperrigkeit kann schnell ins Abseits geraten, weil natürlich alle mit der Idee im Kopf arbeiten, dass sich die Musik schon anschmiegt. Wohlfühlen kann Bewusstseinsprozesse auch behindern. Vogel spricht hierbei auch schon eine zentrale Frage der Ästhetik von Theatermusik an, die im Grunde an das alte Diktum des Musiktheaters »prima le parole e poi la musica« (oder eben umgekehrt!) anknüpft: Kommentiert die Musik die Worte bzw. Szene, oder richtet sich die Szene nach der Musik? Diesen Aspekt gilt es im folgenden Unterkapitel zu vertiefen. Davor möchte ich jedoch noch auf einige institutionelle Implikationen eingehen, die die Interviewten im Zusammenhang mit der Digitalisierung benannt haben. Institutionelle Aspekte Die Veränderung der téchnē der Theatermusik geht einher mit institutionellen und ökonomischen Konsequenzen: Theater leisten sich viel seltener sogenannte Hausmusiker*innen, die wie ein*e Hausdramaturg*in viele Produktionen gleichzeitig betreuen und stilistisch vielseitig Übergangsmusiken oder mal ein Lied auf Zuruf beisteuern können. 67 Theatermusiker*innen gehören heute stattdessen nicht selten fest zum gastierenden Regieteam und bestimmen dessen Probenmethoden und Aufführungsästhetik maßgeblich mit. Das ist nur durch den Compu-

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ter und die mit ihm verbundene Mobilität und Erschwinglichkeit der Produktionsmittel möglich geworden, hat aber auch den Verlust einer verteilten Expertise zur Folge: Während früher unter Umständen ein/e Komponist*in, Arrangeur*in, Dirigent*in, Musiker*in und Tontechniker*in gemeinsam die Theatermusik verantworteten, fallen heute all diese Aufgaben häufig bei einer Person zusammen.68 Die Tontechniker*innen des Hauses wiederum spielen nicht mehr das Vogelzwitschern ein, sondern fahren zum Teil äußerst komplexe musikalische Raummusiken und mitunter auch Live-Mikrofonierungen von Gesang und Instrumenten. Außerdem ist eine enorme Beschleunigung des Entstehungs-Prozesses von Theatermusik zu verzeichnen, gekoppelt mit hohen Erwartungen an die unmittelbare Verfügbarkeit perfekter Ergebnisse. Dazu Clark: The technology is a game changer. It means that directors can ask for something sophisticated from a sound designer and get it. If they had asked 20 years ago, someone would have had to sit in a workshop for two weeks, messing around with tapes to try and get something that probably didn’t sounded as good as what someone can now do over a lunch break. In anderen Bereichen wiederum sind die Beharrungskräfte des Theaters groß. So berichten die Interviewpartner*innen, dass wenn es um Probenzeiten für Toneinrichtung, Ausstattung von Probebühnen oder auch die Bezahlung von Theatermusiker*innen geht, die Institution noch so zu denken scheine, als bringe jemand für die Endprobenwoche ein paar Schallplatten für die Umbauten mit. Digitalisierung führt in der community of musical practice der Theatermusiker*innen, so ein kurzes Zwischenfazit, zu einer Reihe von signifikanten Veränderungen ihrer téchnē : Sie beschleunigt und ökonomisiert Produktionsverfahren radikal, schließt die Konzeption, Komposition und Produktion von Musik in vielen Fällen kurz und legt die dazu nötigen Produktionsmittel alle in die Hand der Theatermusiker*innen. Sie macht Formen der Notation häufig unnötig und erlaubt eine ungleich größere Flexibilität darin, eine ›fertige‹ Musik auch im Aufführungsprozess anpassungsfähig zu halten. Das führt gleichzeitig auch die Idee eines Werkcharakters als auch einer Analyse von Theatermusik herausgelöst aus ihrem Aufführungskontext ad absurdum. Die Digitalisierung erlaubt außerdem die unmittelbare technische Verschaltung gestischer, bildlicher und klanglicher Prozesse durch Trigger-Technologien und die Möglichkeit der Echtzeitbearbeitung oder Generierung

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Theatermusik als relationales Musizieren: Ästhetische Intentionen

von Klängen. Damit gehen Veränderungen in der Ästhetik von Theatermusik, ihrem Stellenwert für Spielweise und Dramaturgie einher, die im Folgenden anhand der Interviewaussagen reflektiert werden.

Theatermusik als relationales Musizieren: Ästhetische Intentionen

Der Diskurs der Interviewten über ihre stilistischen Mittel, wichtige Einflüsse auf ihre Arbeit, über Relationen zwischen Szene und Musik (sofern sie getrennt gedacht werden) und über Wirkungsabsichten ist so vielseitig wie die Theaterlandschaft insgesamt. Es gibt zwar einige Trends, aber ansonsten bietet sich ein äußerst heterogenes Bild. Ich werde zunächst Äußerungen zur Musik- und Soundästhetik untersuchen, dann Positionen zum Korrespondenz-Verhältnis von Musik und Szene betrachten und im dritten Schritt vergleichen, welche Intentionen bezüglich des Publikums thematisiert wurden. Stil und Sound69 In den Interviews zeichnen sich eine ganze Reihe von Polen ab, die jeweils die Extrempunkte von bestimmten Kontinua markieren, zwischen denen sich die Theatermusiker*innen immer wieder neu positionieren, bzw. deren Spannungsverhältnis kennzeichnend für ihre Arbeit ist. Sechs dieser Kontinua sollen hier kurz skizziert werden. Zwischen Zitat und Handschrift Der letztgenannte Punkt ist bereits wesentlich für das Selbstverständnis der interviewten Musiker*innen: Viele berichten von der Notwendigkeit, stilistisch vielfältig zu sein, versiert bestimmte Register zu beherrschen und ›im Stile von‹ musizieren zu können. Krieg z. B. hat sich aber bewusst dafür entschieden, eine gewisse Distanz zu solchen Stilen oder Genres beizubehalten: »Ich gucke eher von außen wie durch eine Glastür zu: ›Ah, o. k., da ist der Latin Jazz drin‹ oder so etwas, aber ich gehe da nie wirklich rein.« Auch bei Wittershagen kann man so eine Mischung aus Zitat und Verfremdung bzw. Anverwandlung gut beobachten. Hier zeigt sich der Gegenpol zum Musiker*innentypus des ›stilistischen Chamäleons‹: Geäußert wird hier eher das Bedürfnis nach Innovation und nach einem eigenen Stil. Dieser hat sich häufig durch prägende Einflüsse außerhalb des Theaters formiert und bildet so etwas wie einen Referenzpunkt: Das können eine eigene Punk- oder Jazz-Band, ein/eine Kompositionslehrer*in, eine Filmmusik oder ein/eine Musiker*in sein.

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Zwischen autonom und relational Das Bedürfnis nach einem eigenen Stil, einer eigenen Agenda jenseits des reinen ›Bedienens‹ kommt immer wieder zur Sprache. Gollasch wünscht sich, dass eine Theatermusik auch ohne den szenischen Zusammenhang »noch eine eigene Qualität hat«. Ähnlich formuliert Hengst:

Ganz wichtig ist für mich auch, dass ich mir für jedes Projekt vornehme, nicht nur Stücke zu schreiben, die ganz speziell für diesen Abend gestrickt sind, sondern die später noch eine Gültigkeit haben, die man vielleicht auch auf einem Album zweitverwerten kann, aber die vor allem einfach eine Art Strahlkraft haben, die über das Theater hinausgeht. Sonst bleibt das bei so typischer Theatermusik stecken. Das interessiert mich nicht. Gleichzeitig wird in vielen Gesprächen deutlich, dass das Relationale der Theatermusik, ihre enge Verzahnung mit einem szenischen Vorgang als besonderes Merkmal und Motivation wahrgenommen wird. Crummenerl sagt z. B.: »Mich interessiert […] eher, wie die Musik eingebaut ist, wie mit Form umgegangen wird, als dass es jetzt musikalisch etwas völlig Neues ist.« Bigge geht da noch einen Schritt weiter: Das klingt jetzt vielleicht böse, auch wenn ich das nicht so meine: Ich finde, dass dieses zu ›Kunstige‹, dieses ›ich hab mir hier mal was ganz Tolles ausgedacht‹ die Leute einfach häufig nicht erreicht. […] Ich glaube, man muss nur etwas Passendes finden. Auch Wrede stimmt zu, dass es keinen Sinn mache, »wenn man ein Theaterstück sieht, und es kommt Musik, die zwar toll ist, aber etwas anderes erzählt.« Und Seher bringt es auf folgende Formel: Es kann auch mal die furchtbarste, schrecklichste Musik sein, die auf einmal gut klingt, weil eine Aussage geformt wird und die Bedeutung einer Szene gesteigert wird. Das kann man nur auf Proben herausfinden und nicht daheim im Homestudio. Übereinstimmung herrscht bei der Feststellung, dass Sound ein ganz wichtiger Aspekt von Theatermusik sei.70 Crummenerl sagt z. B.: Die Sound-Frage ist tatsächlich sehr wichtig für mich, weil ich das Gefühl habe, dass der Sound eng verbunden ist mit dem Bild, also

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der Farbigkeit und Materialität der Bühne und damit, was das Stück für eine Grundfarbe, für ein Setting hat. Da ist für mich der Sound der Link zwischen der Musik und der Erzählung. Was aber für den/die Einzelne*n einen guten Sound ausmacht (Wrede spricht sogar von einem sound branding für Inszenierungen),variiert. Bei Wittershagen ist es Teil seiner Handschrift: Es seien der »melancholische Charakter […] und eine bestimmte Auswahl an Sounds und Klangfarben […], die einen Wiedererkennungseffekt haben.« Auch in Bezug auf die formative Bedeutung von Sound kommen einige Spannungsverhältnisse zur Sprache, wie im nächsten Abschnitt deutlich wird. Zwischen HiFi und LoFi Einerseits beschreiben viele Theatermusiker*innen den Wunsch nach Wertigkeit, Professionalität und Klangtreue für die Produktion und Wiedergabe ihrer Musik. Schlecht ausgestattete Probebühnen (Baierlein) oder zu wenig Zeit für die Toneinrichtung (Günther) werden beklagt. Auch beim Musizieren selbst artikulieren einige klare Standards: »Wenn ich ins Theater gehe, [möchte ich] nicht unbedingt jemanden sehen, der gerade mal zwei Akkorde auf der Gitarre spielen kann. Klar, kann es auch mal absichtlich ›trashig‹ sein, aber das interessiert mich nicht so«, sagt Ostendorf. Baierlein stimmt zu: »Es ist logischerweise immer ein Unterschied, ob du für Amateure oder Profis schreibst.« Andererseits durchzieht die Interviews auch ein immer wieder geäußertes Interesse am nicht Perfekten, Fehlerhaften bzw., nochmals mit Barthes gesprochen, »rauen« oder »körnigen« Charakter von Klängen und Stimmen.71 So sagt z. B. Rudolph: »Ich mag Sounds, die nicht allzu glatt sind, die scheppern, kratzen oder rauschen.« In Bezug auf Stimmen berichtet Wittershagen etwas Ähnliches: »Bei uns singen auch häufig die Leute, die eigentlich keine ausgebildeten Stimmen haben! Da findet man dann häufig etwas, was einen ganz eigenen Charakter hat und berührend ist, auch wenn jemand nicht jeden Ton trifft.«72 Kürstner und Gollasch thematisieren dies auch in Bezug auf die Aufnahme-Situation, wobei sich Kürstner speziell auf Nebengeräusche von außen bezieht:

Wir haben uns ganz aufwendig vor vier Jahren ein Studio gebaut, und wir haben das eigentlich nur ein Jahr benutzt. Seither haben wir so viele Aufnahmen gemacht, einfach in unseren Zimmern, wo draußen mal ein Auto lang fährt und ein paar Vögel zwitschern,

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und es hat nie irgendwas gestört. Gollasch hingegen beschreibt sein Interesse an Nebengeräuschen im Musiziervorgang selbst: Ich habe gestern eine Geigerin aufgenommen, die beispielsweise unter anderem Flageoletttöne produziert hat: Wenn ich das aus drei Metern Entfernung aufnehme, habe ich viel Raum mit drauf und einen schönen Klang, aber wenn ich ganz nah rangehe, dann knistert jedes Härchen vom Bogen mit. Und diese Hyperakustik, diese Intimität, die mag ich sehr gerne. Zwischen Musik und Geräusch Diese Affinität zum ›Rauschen‹,73 zum Körnigen des Klangs, spiegelt sich auch im Interesse der Theatermusiker*innen wider, im »Grenzbereich zwischen Geräuschen, Sound und Musik« (Crummenerl) zu arbeiten. Theatermusik reiht sich hier in eine reiche Traditionslinie des 20. Jahrhunderts ein, mit einem erweiterten Musikbegriff zu operieren, bei dem Geräusche systematisch miteinbezogen werden oder gar zum Zentrum von Kompositionen avancieren.74 Gollasch und Crummenerl beziehen sich z. B. explizit auf Mauricio Kagel und John Cage, Beckenbach hat am IRCAM [Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique] studiert, Heiß fand Inspiration bei Pierre Henry und Pierre Schaeffer, und Preuss sagt explizit: »Wichtig ist bei mir immer die komplette Gleichberechtigung von Geräusch und Musik.« Dabei sind mindestens zwei Aspekte wichtig: Rudolph erzählt zum einen, dass eine Faszination an allen Klängen für sie Motor und Inspiration sei, da diese immer auch ein narratives Potenzial hätten:

Im Alltag bin ich sehr hellhörig, meine Ohren sind immer in alle Richtungen offen. Kennst du den Sound, der entsteht, wenn man ein frisches Nutella-Glas aufmacht? Da kann ich mich wie ein Kind drüber freuen. Ich mag es grundsätzlich sehr, mit Alltagsklängen zu arbeiten und zu schauen, was diese Klänge auslösen. Teile meiner Filmmusik habe ich mit Küchenutensilien und Alltagsgegenständen aufgenommen. Wittershagen beschreibt zum anderen, wie die Geräuschwelt des Theaters insgesamt in der Theatermusik mitgedacht werden muss, ja, von ihr gar nicht klar zu trennen ist:

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Auch die Geräusche, die die Schauspieler*innen auf der Bühne machen, gehören dazu: Welche Schuhe wählt man? Was für einen Untergrund hat man? In welche Richtung spricht die Schauspieler*in? Wie klingt der Bühnenraum? Das hat alles etwas mit Musik zu tun. Zwischen vorgefunden, komponiert und improvisiert Eine Ästhetik der Theatermusik besteht nicht selten in der Vermischung aus Vorgefundenem, Imitiertem, Improvisiertem und neu Erdachtem. Dieses Verhältnis wird bei den Musiker*innen durchaus sehr unterschiedlich ausgehandelt – auch von Produktion zu Produktion. Und auch wenn einige der Interviewten explizit ihre Abneigung dagegen ausdrücken, auf Wunsch von Regisseur*innen Cover-Versionen zu basteln (z. B. Hengst und Baierlein) oder bestimmte Stile ›nachzubauen‹, kann Theatermusik auch bedeuten, auszuwählen statt neuzuschöpfen. Günther spricht sogar von der Idee des ›Ready-made‹, bei dem der künstlerische Akt ja in einer Neukontextualisierung von etwas Vorgefundenem, eben einem objet trouvé besteht. Das Musizieren bewegt sich dabei zwischen dem direkten musikalischen Zitieren, Techniken des Komponierens und Praktiken des Improvisierens und späteren Fixierens. Dazu gehört auch, das betonen z. B. Beckenbach und Wrede, dass das componere von Musik immer auch räumlich gedacht wird: ›Zusammensetzen und -stellen‹, so die lateinische Etymologie, ist hier nicht nur metaphorisch gemeint, sondern meint im Wortsinn das Positionieren der Klänge im Raum. Zu den Wesenszügen von Theatermusik und ihrer Klangästhetik gehöre eben sehr häufig, so artikulieren das die Expert*innen, dass sie räumlich und damit auch szenisch gedacht werden muss.75 Bevor ich die damit aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Musik und Szene noch einmal vertiefe, gibt es noch ein letztes Spannungsverhältnis in Bezug auf die Musik- und Soundästhetik, das aus den Interviews hervorsticht: das Verhältnis von Intention und Intuition in der theatermusikalischen Arbeit. Zwischen Intention und Intuition – die Stimmigkeit des Sounds Es scheint in der Theatermusik einen oft fließenden Wechsel von Phasen konzeptioneller Arbeit mit absichtsvollen Vorentscheidungen und Phasen intuitiven Agierens und Reagierens zu geben. Klomfaß z. B. beschreibt Momente der Inspiration so:

Wenn jetzt gerade diese Melodie meinetwegen auch in dieser Größe

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aus mir heraussprudelt, weil ich in der Leseprobe ein bestimmtes Gefühl hatte, dann fließt da auch immer unbewusst mit ein, was sonst gerade in meinem Leben los ist […]. Auch Baierlein beschreibt ein eher intuitives Vorgehen: Ich weiß auch nie, warum ich etwas auswähle. Wir haben dann einfach das Gefühl, dass der Sound die Szene trägt und stützt. Aber warum er das tut, könnte ich ehrlich gesagt nicht beschreiben. Ich probiere ganz viel aus und Claudia [Bauer, die Regisseurin, DR] lässt mir auch den Freiraum dazu. Sie sagt dann erst mal nichts, lässt mich im Hintergrund während der Szene herumwurschteln, bis ich etwas gefunden habe, was wir beide gut finden. Und meistens sagen wir dann beide fast gleichzeitig: ›Das ist es‹! In anderen Fällen stehen wiederum starke konzeptionelle Überlegungen am Anfang, mit denen sich dann später durchaus wieder spielerisch umgehen lässt. Kürstner gibt in diesem Zusammenhang eine interessante Antwort auf die Frage, wie man sich zwischen Regie und Musik verständige, wenn Uneinigkeit herrsche: Man argumentiere immer dramaturgisch: »Man redet immer inhaltlich. Der Grund ›ich spüre das‹ ist zu wenig. Der Regisseur ist da, um zu ›spüren‹. Wir sollten immer Begründungen haben.« Gleichzeitig führen Vogel und Kürstner aber auch ins Feld, dass eine schwer zu definierende »Poesie« und »Energielogik« ausschlaggebend für musikalisch-klangliche Entscheidungen sein können. Es scheint, als ob sich durch musikalische Vorbildung, persönlichen Geschmack und viel szenische Seh- und Hörerfahrung etwas herausbildet, was Clark »palate« nennt: eine Art auditiver ›Gaumen‹,76 oder besser: ein geschultes Ohr, verbunden mit der Fähigkeit – bewusst oder unbewusst –, Entscheidungen über die Stimmigkeit und Kohärenz musikalisch-klanglicher Ereignisse im szenischen Kontext zu treffen. Dabei artikulieren die Interviewpartner*innen eine Reihe – durchaus unterschiedlicher – von Überlegungen zum Verhältnis von Musik und Szene. Musik und Szene Unabhängig von möglichen Wirkungen auf den/die Zuschauer*in, spielt Musik nach Aussagen der Interviewten eine wichtige Rolle für die Produktionsästhetik und den Probenprozess. Zwei Begriffe, die dabei immer wieder fallen, sind: Raum und Energie.

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Raum und Energie Noch bevor es um konkrete Szenen, Bedeutungen, Repliken, Übergänge oder Ähnliches geht, beschreiben die Musiker*innen die Bedeutung ihrer Musik dahingehend, dass diese den Raum einer Produktion und die darin herrschende Energie beeinflussen könne. Preuss sagt dazu:

Die Musik kann eine Atmosphäre schaffen, aber auch eine ganz radikale Setzung sein und eine Wendung schaffen, an die keiner gedacht hat. Trotz Neonlicht auf der Probebühne kann man mit der Musik da etwas herbeiführen, wo alle von den Socken sind. Beckenbach beschreibt einen ähnlich transformativen Effekt, den Musik auf die Probensituation haben kann: […] wenn da so eine Probenstille eintritt, wo man die Scheinwerfer knacken hört, und irgendwo draußen fliegt ein Flugzeug, und wenn man diese Proben-Kulisse mal vergessen möchte und etwas tiefer eintauchen möchte in das, was situativ jenseits der real stattfindenden Theaterprobe passiert, dann ist es eben ein sehr probates Mittel, einfach mal die ›Jukebox‹ anzuschmeißen. Das ist dann ein anderes Prinzip der Musikauswahl, wo man eben wie ein DJ fungiert. Ich war selber mal DJ, und aus dieser Zeit kommt eben dieser Ansatz, dass man auch mal etwas spielt, das genau gegen die Stimmung geht, die man gerade empfindet. Wenn das so eine dröge, etwas ins Depressive abdriftende Stimmung ist, die relativ häufig aufkommt, wenn man eine Szene zum zwanzigsten Mal spielt, und man dann genau dagegengeht und etwas total Fröhliches spielt, dann löst sich vielleicht ein Knoten. Und manchmal behält man die Musik sogar drin, weil sich da eine interessante Spannung ergibt. Neben der Idee des Atmosphärischen gibt es auch das, was Kürstner und Vogel, wie eben erwähnt, als »Energielogik« bezeichnen. Ich verstehe das so, dass sie damit eine Art vorsemiotischer Dramaturgie ansprechen, bei der – jenseits von Figur oder Handlung – die Musik von einem energetischen Zustand zu einem anderen strebt. Auch für Krieg ist diese Frage ein wichtiger Impuls für seinen Zugang zu einer Vorlage: Der Roman oder der Text hat immer auch eine bestimmte Energie. Es kann also sein, dass ich diese Energie in ein langes, vorprodu-

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ziertes Musikstück übertrage. Dieses wäre dann aber abgeschlossen und muss also wieder geöffnet werden für den Prozess. Die Kraft und Energie, vielleicht sogar das Wesen eines Theaterstücks, Textes oder Romans als Ausgangspunkt, ist ein Herangehensweg an die Musik im Gesamten. Damit verbunden ist auch die Frage des Raums, den es schließlich mit zu gestalten gilt: Musik, so sagen z. B. Wittershagen und Seher, braucht Platz, um ihr Potenzial, Räume und Atmosphären zu gestalten, entfalten zu können.77 Wittershagen: »Wenn die Bühne schon ›zugerümpelt‹ ist, dann hat es die Musik oft schwerer, als wenn es sich um offene, zeichenhafte Systeme handelt. Ich mag ›leere‹ Bühnen.« Und Seher: »[…] ein leeres Bühnenbild bedeutet gleichzeitig auch, dass ich große Freiheit habe und den Bühnenraum musikalisch stark mitgestalte«. Mit- und Gegenspieler für die Schauspieler*innen Eine ganze Reihe von Fragen, die sich die Musiker*innen stellen, drehen sich um die Beziehungen ihrer Musik (bzw. ihres Musizierens) auf die Schauspieler*innen. Heiß gibt einen ersten Eindruck:

Beschreibt die Musik den Seelenzustand einer Figur? Wer kann das auf der Bühne wahrnehmen? Wir hören die Musik natürlich alle, aber weiß der Schauspieler, der mit der Figur kommuniziert, die ich musikalisch darstelle, dass der Gefühlszustand so ist? Ist es eine globale darübergestülpte Musik aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers oder des allwissenden Musikers? Oder ist es kontrapunktisch gesetzt, und ich beschreibe mit der Musik etwas, was die auf der Bühne gar nicht wissen? So schildern viele Musiker, dass ihr Musizieren schon während der Probe entscheidend mit dazu beitragen kann, wie die Schauspieler*innen spielen, wie sich eine Szene entwickelt, wobei sie dabei unterschiedlich vorgehen. Ostendorf z. B. sagt, er versuche, »Situationen zu unterstützen und Atmosphären zu schaffen, in denen der Schauspieler agieren kann, statt kontrapunktisch zu arbeiten und mit der Musik Stimmungen im Raum zu brechen.« Im besten Fall könne er »auf der Probebühne als Mitspieler agieren, die Temperatur im Raum mit Sound und Musik verändern und mit den Schauspielern interagieren.« Auch Seher berichtet:

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Es geht darum, die Schauspiel-Improvisation musikalisch mitzugestalten, indem man musikalische Räume behauptet, Stimmungen lenkt, Zäsuren setzt oder einfach mal zu laut ist. Viele Schauspieler haben Angst vor dem ersten Tag der Improvisation – merken aber, dass meine Musik wie ein Partner auf der Bühne funktionieren kann. Da kann man als Schauspieler erst einmal schauen und eine musikalische Erfahrung machen und muss nicht sofort etwas darstellen. Preuss betont im Gegensatz zu Ostendorf, dass er die Musik durchaus auch bewusst als Gegenspieler einsetzt: »Ich finde z. B. interessant, wenn man einen besonders agilen Schauspieler hat: Dem gebe ich gerne eher einen musikalischen Kontrapunkt, etwas Schweres, was dann noch mal etwas anderes schafft.« So entstehen bei der Kreation von Figuren unterschiedliche Formen des Dialogs mit der Musik, die mal Probenkonzentration schaffen und mal die Rollenfindung unterstützen – sei es durch Übersetzung von Seelenzuständen und Subtexten in Musik, sei es durch Widerständigkeit, gegen die der/die Schauspieler*in sich behaupten muss und an denen er/sie sich abarbeiten kann. Das kann auch direkt auf der Mikroebene der Sprache stattfinden, wie Seher erläutert: »Bei Jarg Pataki ist die Musik fast rezitativisch: Sie hakt in die Sätze rein, um ein neues Sprungbrett für den nächsten Absatz zu geben«. Am ausführlichsten kommt aber insgesamt in Bezug auf das Verhältnis von Musik und Szene der Aspekt der Narration und der Dramaturgie zur Sprache: Was wird erzählt, wie wird es erzählt, und welche Rolle kann dabei die Musik spielen? Emergente Narration und relationale Dramaturgie Die Musiker*innen beschrieben eine Bandbreite an Wechselwirkungen hinsichtlich der durch Musik und Szene kommunizierten Erzählung. Crummenerl verwendet eine nautische Metapher, um die Rolle der Musik dabei zu verdeutlichen:

[…] je nachdem, wie ich das Ruder ins Wasser halte, lenke ich das Schiff in eine andere Richtung. Oder wir entscheiden uns, das Schiff treiben zu lassen, und verlegen die musikalische Erzählschiene z. B. in die Szenenumbrüche. Beckenbach spricht davon, wie die Musik die Erzählung um weitere Schichten ergänzt: In seiner Zusammenarbeit mit Marius von Mayenburg habe er häufig mit »musikalischen Genres gespielt, mit Popmu-

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sik, Schlager und Chanson. Diese Referenzen geben so eine Mehrdimensionalität in der Erzählung, die den Marius interessiert.« In Bezug auf seine Zusammenarbeit mit Thomas Ostermeier sei es jedoch weniger ein solch postmodernes Spiel mit Zitaten. Es gehe vielmehr darum, »auf einer eigenen Ebene noch ein wenig über den Hintergrund dessen zu erzählen, wo man sich da befindet, sowohl sozial als auch emotional.« Auch Heiß thematisiert das Moment, wenn Musik die Erzählung erweitert statt verdoppelt: »Wenn es gelingt, dass die Musik das erzählt, was als Möglichkeit im Kopf des Zuschauers existiert, dann ist es ideal. Wenn sie einfach nur noch etwas draufsetzt, ist es nicht so toll.« Interessant ist hier zu beobachten, wie Musik einmal im Kopf des/ der Schauspieler*in als eine Art Subtext platziert wird (siehe oben) und einmal im Kopf des/der Zuschauer*in als weitere Ebene der Handlung. Neben den Stichworten der Ergänzung und Erweiterung fallen aber noch weitere Begriffe, um das Potenzial der Musik im Verhältnis zur Szene zu beschreiben. Rudolph sagt z. B., »dass Musik […] als ein Mittel der Verdichtung funktionieren kann und darf«. Crummenerl spricht von der Unterstützung durch die Musik – sie versuche, die »passende Stimmung zu erzeugen, um die Szene in die richtige Richtung zu bringen«. Gleichzeitig dürfe sich die Musik nicht in den Vordergrund drängen: Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass harmonisch modale78 Sachen wahnsinnig gut funktionieren auf dem Theater, weil die Musik gar nicht zu viel erzählen darf. Das merke ich ganz oft, dass ich da wieder reduzieren muss und Spuren auseinanderschiebe, weil so viele Ereignisse gar nicht verträglich sind. Musik kann im Gesamtzusammenhang verdichten, verstärken und akzentuieren, darf dabei selbst aber womöglich nicht zu ›dicht‹ sein und nicht zu eindeutige Vorgaben machen. Wrede bringt es auf die prägnante Formel: »Meine Ästhetik bei Theatermusik ist: Unvollständigkeit.« Er erläutert, dass bei ihm deshalb häufig keine Melodien vorkommen: »Mit Melodien oder Harmonien gibt man viel zu viel vor; und damit kann man viel kaputt machen.« Aber nicht alle Musik wird unterstützend gedacht: Baierlein gibt z. B. zu bedenken: »Wenn du also unter eine schmalzige Szene schmalzige Musik spielst, dann erreichst du meistens genau das Gegenteil von dem, was du erreichen willst«. Klomfaß sieht das ähnlich: »Die Musik darf […] berühren, aber ich glaube, wenn es zu sehr gedoppelt ist, dann muss man aufpassen, dass es nicht abrutscht.« Clark zieht daher für sich die

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Schlussfolgerung: »I am usually trying to disturb the image in some way, to make it slightly troubled.« Und schließlich geht es in den Interviews auch nicht nur um das Verhältnis der Musik zur Szene, sondern auch um ihren Beitrag zur Struktur und Dramaturgie des Abends. Nochmals Crummenerl: »Wenn ich eine Musik bestimmten Szenen zuordne oder wiederkehrende Brüche baue, dann hat das auch eine dramaturgische Funktion und ist wichtig für die Erzählform.« Bereits zitiert habe ich Gollaschs Gefühl der Verantwortung dafür, »dass das Ganze eine gewisse musikalische Dramaturgie hat«, und Wittershagen äußert sich ähnlich: »Es gibt parallel zum Stück auch eine Entwicklung der Musik – das ist mir sehr wichtig! Das ist die Frage, die wir uns stellen: Worauf soll die Inszenierung, auch musikalisch, hinauslaufen?« Was sich hieraus zusammenfassend ergibt, ist zum einen, dass Musik und Szene potenziell gemeinsam eine emergente Narration ergeben.79 Emergenz bedeutet, einer besonders pointierten Definition von Jeffrey Goldstein, Spezialist für komplexe Systeme und Organisationstheorie, folgend: »The arising of novel and coherent structures, patterns and properties during the process of self-organization in complex systems«.80 Die Idee, dass eine Erzählung (oder auch Bedeutung) in der Theateraufführung nicht das Produkt einer singulären Autorintention, sondern das Ergebnis eines komplexen, »dynamischen Prozesses«81 ist, ist nicht neu, aber mit dem Begriff der Emergenz noch einmal griffig benannt und dahingehend erweitert, dass die Erzählung eben erst im Moment des Zusammenspiels inklusive der aktiven Mitwirkung des Publikums, in ihrer »radikalen Neuheit«, ihrer »Kohärenz«, »Gesamtheit« und »Anschaulichkeit« hervortritt.82 Das muss nicht der Fall sein: Theater kann sicher auch mal ›nur‹ die Summe seiner Einzelteile sein83 – kann aber eben den zunächst angenommenen erzählerischen Horizont auch deutlich übersteigen. Im Zusammentreffen von Musik und szenischer Handlung (und das Gleiche gilt auf je eigene Weise für Licht, Kostüm, Video, Szenografie etc.) kommentieren sich die Ausdrucksebenen nicht einfach, sondern treten in einem emergenten Prozess wechselseitigen Korrespondierens ein.84 Zum anderen entsteht gerade in den Arbeiten, deren Dramaturgie nicht schon primär durch einen dramatischen Text vorgegeben ist, eine Form, die man mit Hans-Thies Lehmann (und in Anlehnung an den vorgeschlagenen Begriff der relationalen Musik)85 ›relationale Dramaturgie‹ nennen könnte:

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Im Theater sind Relationen (Publikum – Bühne, Akteure unter sich, Zuschauer untereinander) nicht nur Bedingung, sondern Gegenstand der künstlerischen Arbeit. Ich schlage vor, bei solchem Theater, das oft in der Nähe zu Performance, Installation oder Dokumentation steht, von einer ›relationalen Dramaturgie‹ zu sprechen […].86 Während Lehmann jedoch stärker die Relation des Theaters mit seinen Zuschauer*innen im Hinblick auf Fragen der Partizipation im Blick hat (er bezieht sich explizit auf den in der Kunst von Nicolas Bourriaud entwickelten Begriff der »relationalen Ästhetik«87), lässt sich der Begriff meines Erachtens sinnvoll erweitern:88 Wenn die Beziehung der Akteure in den Mittelpunkt rückt und wir den Begriff der Akteure mit Latour weit fassen89, kann eben auch die Relation von Musik und Szene zentrale inhaltliche wie formgebende – also: dramaturgische – Aufgaben übernehmen. Was eine weitere Achse des Begriffs betrifft – die Beziehung zwischen Bühne und Publikum – haben sich einige Schwerpunkte herauskristallisiert, wie die Theatermusiker*innen ihre musikalischen Wirkungsabsichten formulieren. Wirkungsabsichten Obwohl die Theatermusiker*innen klare Vorstellungen darüber haben, was sie mit ihrer Musik hinsichtlich der Zuschauer*innen – mal mehr, mal weniger konkret – intendieren, beschrieben sie dies oft auch zunächst einmal ex negativo: Was wollen sie nicht? Dabei richten sich viele Aussagen vor allem gegen das manipulative Potenzial von Musik, das wir aus Zusammenhängen wie Radio- und Fernsehwerbung, kommerziellen Orten (Restaurants, Bekleidungsgeschäfte, Hotels etc.) und zum Teil auch Filmproduktionen kennen.90 »Was ich nicht mag«, formuliert z. B. Wrede, »ist, wenn die Musik dem Zuschauer sagt, was er fühlen soll. Das ist ja eine Sache vom Film.« Klomfaß stimmt ihm zu:

Was nicht funktioniert, ist, wenn ich mir etwas zusammenklaube, was ich mal gelernt habe: ›Mit dieser oder jener Rückung kann man jetzt die großen Emotionen erwecken …‹ Das mache ich halt nicht. So denke ich nie, wenn ich komponiere. Bigge sieht das ein wenig anders: Ihr gehe es auch nicht darum, die Zuschauer*innen zu bevormunden, aber mit Hilfe der Musik eine Verbindung zwischen ihrem eigenen Erleben des Textes oder der Szene und dem

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der Zuschauer*innen herzustellen: »Das ist etwas, was ich gut kann: keine Angst davor zu haben, dass es auch mal Kitsch wird, weil ich eben glaube, dass die Emotion, die ich fühle, auch vom Publikum geteilt wird.« Clark differenziert diesen Gedankenkomplex noch etwas weiter aus, indem er infrage stellt, ob man das Emotional-Manipulative der Musik überhaupt wirklich kontrollieren könne: You can’t emotionally manipulate someone, you can’t really make them feel sad, but you can’t not do it!91 So: if you are playing alienated, emotionally ambiguous music, it is always going to be hitting an emotion, if you like it or not. The danger of it is not that you are emotionally manipulating, but that you are ›mono‹: you are doing one emotion throughout your piece. That’s less interesting to me. Er bezweifelt also, dass man die emotionale Lenkung überhaupt vermeiden könne, plädiert aber für eine differenzierte, emotional vielschichtige Musik, so dass dem/der Zuschauer*in ein gewisses Maß an Wahlmöglichkeiten bleibe. Wrede begründet sein oben erwähntes Credo für die notwendige Unvollständigkeit von Theatermusik ähnlich: Es mache überhaupt keinen Sinn, »so eine ausgefüllte, ausgemalte Musik im Theater zu spielen«, weil diese keinen Raum mehr für die Gedanken und das eigene emotionale Erlebnis des/der Zuschauer*in lasse. Diese Idee, dass Musik nicht unbedingt interpretiert, emotional verengt, semantisch vereindeutigt oder kritisch kommentiert, sondern eher »Gedankenräume« (Seher) bzw. »Denk- und Fühlräume« (Rudolph) eröffnet oder »Fantasieräume schafft« (Wrede), erscheint mir dabei besonders interessant. In den Funktionsmodellen der Filmmusik tendiert die jeweilige Systematik eher zu Schemata, bei denen sich die Musik letztlich affirmativ oder kontrastiv zum Bild verhält.92 Für eine Musik, die sich diesem Schema und einer direkten Wechselwirkung mit der Szene entzieht, gibt es in bestimmten Filmmusiktheorien das Konzept sogenannter Metafunktionen, die hier aber nicht selten recht kommerziell als Teil einer Zielgruppenorientierung gedacht werden.93 Beschrieben wird, z. B. von Bullerjahn, aber auch die wahrnehmungspsychologische Komponente: Musik hilft, den Vorgang des Filmschauens selbst zu erleichtern.94 Das thematisieren die Theatermusiker*innen auch hinsichtlich ihrer Musik, eher allgemein gemünzt auf die Situation des Theaterschauens selbst: So ist für Wrede die Musik vor allem auch dazu da, »den

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Zuschauer in die nächste Szene mitzunehmen. […] Es hat etwas damit zu tun, dass man, wenn man in einer Szene ein Gefühl entwickelt hat, nach einem Black wieder dort anknüpfen will.« Hier hat Musik, ganz in der Tradition von den von Johann Adolph Scheibe geforderten Zwischenaktsmusiken95, die Aufgabe, für eine Kontinuität des Theatererlebnisses zu sorgen. Beckenbach erweitert diese Idee dahingehend, dass die Musik nicht nur helfen kann, dass die Zuschauer*innen zwischen Szenen bei der Stange bleiben, sondern auch dabei, sie überhaupt für das Theatererlebnis »abzuholen« und mit »auf eine Reise» zu nehmen. Dabei bediene er sich ganz bewusst der Tatsache, dass in einem Kulturkreis ein gewisses Maß intersubjektiver Übereinstimmung hinsichtlich des musikalischen Vokabulars besteht, an das er anknüpfen könne. Neben diese – bewussten oder unbewussten – Prozesse der Bindung des Publikums tritt ein Interesse an der unmittelbar körperlichen Affizierung. Ostendorf: »Physikalität in Musik interessiert mich total. Allgemein will ich, wenn ich ins Theater gehe, körperlich mitgenommen werden.« Auch Beckenbach spricht davon, dass es ihm bei einer Inszenierung »um eine gewisse körperliche Reaktion beim Hören« gehe. »Man wird ein bisschen agitiert, und man wird ein bisschen aufgeweckt zwischen den Akten.« Heiß argumentiert ebenfalls für eine somatische Dimension der Musik, beschreibt dies aber in Bezug auf eine konkrete narrative Situation (eine Seeschlacht), die dem/der Zuschauer*in erlebbar gemacht werden soll: »Das kann ich doch nicht mit 75 dB Fernsehlautstärke einspielen! Da müssen sich die Haare aufstellen. Das ist doch das, was man dann will!« Zuletzt gibt es aber auch hier Gegenpositionen: Musik könne und solle bisweilen auch ein Mittel sein, das Distanz schafft und das ein Thema durch ästhetische Formung anders sichtbar und erfahrbar macht, wie Rudolph gerade im Kontext der stark dokumentarischen Arbeit ihrer Theatergruppe formuliert: »Etwas muss zu Kunst werden, damit man es wieder neu anschauen und begreifen kann.« Sie kann darüber hinaus auch bewusst ein Mittel sein, dass einem Nicht-Verstehen96 des Theaterabends Vorschub leistet. Krieg z. B. bestätigt, dass sich seine Musik bewusst einer ›Entzifferbarkeit‹ entziehe. Die Verfügbarkeit und Kommensurabilität von Theater wird hier infrage gestellt und von dem/ der Zuschauer*in ein Sich-Einlassen auf das Rätselhafte gefordert.

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Fazit

Zu Beginn dieses Buches habe ich auf die oft geäußerte Feststellung verwiesen, Theatermusik sei ein marginalisiertes Phänomen. Als Gründe dafür werden immer wieder der Gebrauchscharakter von Theatermusik und ihre mangelnde Werkhaftigkeit genannt.97 Theatermusik sei im Grunde nicht ›akademiefähig‹. Am Ende meiner Untersuchung beschleicht mich eine andere Vermutung: Will man der Theatermusik als relationaler Musik gerecht werden, sie in ihrer komplexen Entstehungsweise, Ästhetik und Wirkung erfassen, steht man schlichtweg vor methodisch enorm großen Herausforderungen. Diese Hürde mag mitverantwortlich dafür sein, dass sich die Wissenschaft so schwer mit der Theatermusik tut. Mit diesem Buch soll ein Beitrag geleistet werden, diese Hürde anzugehen. Dies ist aber als eine gemeinschaftliche Aufgabe zu verstehen, die nur in der Summe der schon erschienenen und noch zu schreibenden Studien, Analysen und Vorträge möglichst vieler Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen zu leisten ist. Einleitend habe ich versucht, einige Merkmale zeitgenössischer Theatermusik zu skizzieren im vollen Bewusstsein, dass der gewonnene Überblick über bestimmte Tendenzen auf Kosten der zu beobachtenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit des Feldes geht. Diese Detailgenauigkeit erlaubt dann der zweite große Abschnitt mit den Interviews. Hier kommen die Musiker*innen selbst zu Wort, und es entsteht ein Panorama an Praktiken, Ästhetiken und Reflexionen, in dem im Kontrast zum generalisierenden ersten Teil gerade auch die partikularen Umstände, die Bedingtheit von Theatermusik im Kontext von Werdegängen, Arbeitsgemeinschaften, Institutionen und Technologien deutlich werden. Abschließend habe ich eine Zusammenschau dieses vielstimmigen Diskurses unternommen, die sich nicht zum Ziel setzte, die eingangs formulierten Thesen zu verifizieren oder zu falsifizieren, sondern Gemeinsamkeiten und Unterschiede darin herauszuarbeiten sucht, wie Theatermusiker*innen als eine community of practice ihr Tun beschreiben und reflektieren. Dabei wurde u. a. deutlich, dass Theatermusiker*innen sich häufig in einem besonders komplexen Prozess künstlerischer Identitätsstiftung befinden. Der bereits zitierte Etienne Wenger spricht hier von »identity as nexus of multimembership« und erläutert: »We define who we are by the ways we reconcile our various forms of membership into one identity.«98 Die Musiker*innen haben oft neben der Theatermusik noch weitere Standbeine (Filmmusik, Bandarbeit, Komposition, Labels) und sind auch innerhalb der Theaterarbeit ›Schar-

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niere‹ zwischen Regie, Schauspiel, Bühne, Dramaturgie und Tontechnik. Dieses Verhandeln der eigenen Zugehörigkeit zu bzw. Differenzierung von einer Vielzahl von ›Mitgliedschaften‹, von unterschiedlichen Kompetenzen sowie Spielarten von Habitus ist der Theatermusik als kultureller Praxis eingeschrieben. Im zeitgenössischen Spektrum ihrer Erscheinungsformen gilt das auch für die Musik selbst: Theatermusik bewegt sich in einer ganzen Reihe von Spannungsfeldern: zwischen dienend und führend, unterstützend und kontrapunktierend, analog und digital, vertraut und kryptisch, Schauspieler- und Zuschauer-bezogen, nostalgisch und avantgardistisch, geräuschhaft und melodiös, rhythmisch und flächig, tonal und atonal, improvisiert und komponiert, intim und episch. All diese Eigenschaften sind dabei nicht als Gegensatzpaare, sondern als Eckpunkte von Kontinua zu sehen. Wie auch ihre Urheber*innen, bezieht auch die Theatermusik ihre Identität, Ästhetik und téchnē aus einem ›Nexus vielfältiger Mitgliedschaften‹: Sie speist sich aus Produktions- und Kompositionsverfahren des Musiktheaters, der elektronischen Musik, des Jazz, der Oper, des Films, des Videospiels, des Pop, der Weltmusik, der Klangkunst, des Chansons, Folk und Rap. Dabei amalgamiert und transformiert sie ihre Einflüsse und stellt sie in einen Zusammenhang mit Räumen, Texten, Geräuschen und Szenen. Dass dies auf äußerst vielfältige Art und Weise geschieht, ist – bei allen Gemeinsamkeiten und roten Fäden, die sich durch die Interviews ziehen – ein wichtiges Ergebnis dieser Studie. Ich war, ehrlich gesagt, von einem homogeneren Feld ausgegangen, konnte aber feststellen, dass die Praxis der Theatermusik letzlich so vielseitig ist wie die enorme Bandbreite an Regiehandschriften, Spielformen, Dramaturgien und Szenografien, die den Reichtum der deutschsprachigen Theaterlandschaft ausmachen. Diese Vielfalt theatermusikalischer Praxis genauer zu untersuchen und weitere Methoden dafür zu entwickeln, dürfte noch lange eine spannende Aufgabe bleiben.

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Wenger, Etienne: Communities of Practice: Learning, Meaning, and Identity, Cambridge 1998. Siehe das Kapitel »Theatermusiker*in als Identität« für eine Diskussion des Begriffs. 2 Wallis, Mick: »Thinking through Téchnē«, in: Performance Research 10 (2005), H. 4, S. 1–8. Siehe das Kapitel »Theatermusik als Netzwerk und téchnē« für eine Diskussion des Begriffs. 3 Siehe dazu auch die weiteren Interviews, die auf dem Blog des DFG Projekts »Theatermusik heute als kulturelle Praxis« kontinuierlich ergänzt werden: https:// theatermus.hypotheses.org/ (zuletzt aufgerufen am 9. April 2019). 4 Eatough und Smith formulieren das so: »Interpretive phenomenological analysis (IPA) is concerned with the detailed examination of individual lived experience and how individuals make sense of that experience.« (Eatough, Virginia/Smith, Jonathan A.: »Interpretative Phenomenological Analysis«, in: Willig, Carla/Rogers Stainton, Wendy (Hrsg.): The SAGE Handbook of Qualitative Research in Psychology, Los Angeles, CA; London 2008, S. 179–194, hier: S. 179.) 5 Siehe Smith, Jonathan A./Osborn, Mike: »Interpretative Phenomenological Analysis«, in: Smith, Jonathan A. (Hrsg.): Qualitative Psychology: A Practical Guide to Research Methods. 2nd Edition, London 2007, S. 53–80, hier: S. 55. 6 Eatough/Smith: »Interpretative Phenomenological Analysis«, S. 180, meine Übersetzung. 7 Ebd., S. 187, meine Übersetzung. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Siehe Theater der Zeit, https://www.theaterderzeit.de/reihen/lektionen/ (zuletzt aufgerufen am 28. Februar 2019). 12 Wenger: Communities of Practice, S. 149. 13 Kenny, Ailbhe: Communities of Musical Practice, London 2016. 14 Siehe v. a. dieses und das folgende Unterkapitel. 15 Siehe v. a. die Unterkapitel zur téchnē und Ästhetik von Theatermusik. 16 Kenny verweist hier auf Finnigans Konzept der »musical worlds« (2007). Diese sind »distinguishable not just by the different musical styles but also by other social conventions: in the people who took part, values, their shared understandings and practices, modes of production and distribution, and the social organisation of the collective musical activities« (in: Kenny: Communities of Musical Practice, S. 19). 17 Kenny: Communities of Musical Practice, S. 13. 18 Moran, Seana/John-Steiner, Vera: »How Collaboration in Creative Work Impacts Identity and Motivation«, in: Miell, Dorothy/Littleton, Karen (Hrsg.): Collaborative Creativity: Contemporary Perspectives, London 2004, S. 11-25. 19 Kenny: Communities of Musical Practice, S. 23. 20 Wenger: Communities of Practice, S. 149, Hervorhebungen im Original. 21 Wilhelmi z. B. lehnt aber den Begriff Schauspielmusik dezidiert ab: »Das würde ich auf keinen Fall sagen, da ich viele meiner Produktionen (z. B. alle mit David Marton) als Musiktheaterproduktionen verstehe. In diesen Stücken agieren die Musiker auch als Darsteller, es sind meistens mehr Musiker auf der Bühne als Schauspieler. Bei ›Schauspielmusik‹ denke ich eher an illustrative Musik zur Untermalung von Szenen. Das interessiert mich weniger.« 22 Wenn nicht anders gekennzeichnet, sind alle Zitate den Interviews des vorliegenden Buches entnommen. 23 So äußert Matthias Krieg, dass er das, was er tue, nur »ungern als Komposition« bezeichne, »sondern eher als Skizzen, die ich dann anwenden kann, die in viele Richtungen flexibel sein müssen«. Nils Ostendorf ergänzt: »Ich bezeichne mich als Musiker, nicht speziell als Komponist, weil ich denke, dass Komponieren eine Form der Arbeit ist, die in der Schauspielmusik – wie ich sie verstehe – nicht unbedingt immer im Vordergrund steht.« 24 Im vorliegenden Band allein sind dies Octavia Crummenerl Glockengießer, Jörg Gollasch, Ingo Günther, Malte Preuss, Thomas Seher und Lars Wittershagen. Darüber hinaus wären z. B. Thomas Esser, Jan Exner, Roman Keller, Maria Roth-

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fuchs, Lisa Stepf, und Thorsten zum Felde zu nennen. Dadurch, dass ich selbst auch in Hildesheim studiert habe, spielt eine personal bias sicherlich auch eine Rolle – die Häufung von Theatermusiker*innen aus dem Hildesheimer Studiengang ist dennoch auffällig. Wilhelmi betont den Einfluss Marthalers stellvertretend: »Ich denke, dass Christoph Marthaler eine Art ›Genre‹ begründet hat, in dem wir uns nun alle bewegen. Er hat dafür gesorgt, dass sich nun am Theater die Musik und das Schauspiel auf Augenhöhe treffen können. Er hat diesen Dialog in allen Facetten zum Leuchten gebracht.« Ostendorf formuliert das so: »Was auch hilft, ist, ein großes Interesse an unterschiedlichsten Musikstilen zu haben: Jazz, klassische und zeitgenössische Musik, ganz abstrakte experimentelle Musik, elektronische Musik, Weltmusik. Viel Hören und einen großen musikalischen Horizont haben gehört zu den Voraussetzungen.« Beckenbach geht so weit zu behaupten, dass es sehr gut für dieses Genre sei, »wenn man mehrere Instrumente beherrscht, sich aber auf keinem so zu Hause fühlt, dass man es als Hauptausdrucksmedium versteht, weil man sich dann selbst in den Mitteln begrenzen würde«. Siehe das Kapitel »Theatermusik als relationales Musizieren« sowie die Einleitung zum Begriff der relationalen Musik. Siehe u. a. Rey, Anton/Kurzenberger, Hajo/Müller, Stephan (Hrsg.): Wirkungsmaschine Schauspieler – Vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielemacher, Berlin und Köln 2011 und Roselt, Jens/Weiler, Christel (Hrsg.): Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld 2011. Auslander, Philip: »Musical Persona: The Physical Performance of Popular Music«, in: Scott, Derek B. (Hrsg.): The Ashgate Research Companion to Popular Musicology, Farnham, Surrey/Burlington, VT 2009, S. 303–315, hier S. 305, Hervorhebung im Original. Siehe z. B. meine kurzen Beobachtungen zur Inszenierung Der Vater (Kammerspiele 2018) unter https://theatermus.hypotheses.org/49. Das Missverständnis von Albert Camus, Regie: Claudia Meyer, Konzert Theater Bern, Premiere am 20. Dezember 2018. Kirby, Michael: »On Acting and Not-Acting«, in: The Drama Review 16 (1972), H. 1, S. 3–15. In: Rey/Kurzenberger/Müller (Hrsg.): Wirkungsmaschine Schauspieler, S. 75. Ebd., S. 78. Siehe zusätzlich die Einleitung und das Interview mit Paul Clark zu diesem Thema als auch das kenntnisreich geschriebene Buch von Michael Bruce, Writing Music for the Stage. A Practical Guide for Theatermakers (London: Nick Hern, 2016). Günther berichtet: »Es ist eine unsichtbare Kunst und wird deswegen oft auch nicht ernst genommen. Ich erlebe das, weil ich verhindert werden soll.« Siehe Kurzenberger, Hajo: Der kollektive Prozess des Theaters: Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität, Bielefeld 2009, S. 151ff. So z. B. Wittershagen: »Wichtig ist auch die erste Leseprobe, wo man den Klang der Stimme der Schauspieler hört«; Crummenerl: »Die erste Konzeptions- und Leseprobe ist dann ein weiterer wichtiger Moment, weil ich das Stück zum ersten Mal klingen höre und ein Gefühl dafür bekomme, ob sich der Rhythmus-Eindruck, den ich beim Lesen hatte, bestätigt«; oder Gollasch: »Auch bei der ersten Leseprobe sitze ich da und schreibe hinten in mein Textheft Stücke. Da stehen dann hinten auf der letzten Seite nach der ersten Probe fünf Entwürfe für etwas, was man machen kann.« Werkgruppe2 nutzte immer wieder eine alte Saline als Spielort. Siehe: http://www. werkgruppe2.de/website/index.php?id=3 (zuletzt aufgerufen am 11. März 2019). Ernst, Wolf-Dieter: »Akteur-Netzwerk Theorie und Aufführungsanalyse«, in: Balme, Christopher/Szymanski-Düll, Berenika (Hrsg.): Methoden der Theaterwissenschaft, Tübingen 2019 (im Erscheinen). Siehe auch: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006. Nicht humane Akteure bezeichnet Latour allerdings in der Regel als Aktanten.

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Agency kann in der Actor-Network-Theory sowohl Handlung, Handlungsträger als auch Handlungspotenzial bedeuten. Hier meine ich Letzteres. 43 Ernst: »Akteur-Netzwerk Theorie«. 44 Ebd. 45 Latour hinterfragt eben die »precise role granted to non-humans. They have to be actors […] and not simply the hapless bearers of symbolic projection« (Latour, Bruno: Reassembling the Social: An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005, S. 10). 46 Ernst formuliert die übergreifende Fragestellung so: »Wie lässt sich sinnvoll über die Mitsprache aller heterogenen Entitäten eines Aufführungsgeschehens sprechen, ohne einigen davon vorab nur die Rolle der Randfigur zuzuschreiben, ein Mittel zum Zweck, ein Diener einer Inszenierungsabsicht zu sein, während andere angeblich das gesamte Ensemble mit allen Zufälligkeiten zusammenhalten? (Ernst: »Akteur-Netzwerk Theorie«). 47 So argumentieren auch Nick Hunt und Susan Melrose in ihrem Aufsatz »Techne, Technology, Technician« (in: Performance Research 10 (2005), H. 4, S. 70–82. 48 Siehe: ebd. 49 Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978. 50 Kivy, Peter: Music Alone. Philosophical Reflections on the Purely Musical Experience, Ithaka (NY) 1990. 51 Lehmann, Harry: »Relationale Musik«, http://www.harrylehmann.net/begriffe/#relationale-musik (zuletzt aufgerufen am 10. September 2018). 52 Ross Brown spricht hier von der »techne of the postmodern theatre soundscape« (Brown, Ross: »The Theatre Soundscape and the End of Noise«, in: Performance Research 10 (2005), H. 4, S. 105–119, hier: S. 105. 53 Ich verwende den Begriff hier metonymisch als Konstellation aus Hardware und Software, als konkrete Maschine, aber auch als Metamedium. 54 Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800–1900. München 1995 [1985]. 55 Der eingebildete Kranke von Molière, Regie: Herbert Fritsch, Burgtheater Wien, Premiere: 5. Dezember 2015. 56 Gemeint ist das Metronom-Tempo, das in M.M. (in der Popularmusik als BPM = beats per minute) angegeben wird und gewöhnlich höchstens bis etwa 208 M.M. reicht. 57 Barthelmes, Barbara: »Experimentieren, Basteln, Gestalten, Inszenieren. Wandlungen des künstlerischen Selbstverständnisses«, in: de la Motte-Haber, Helga (Hrsg.): Musikästhetik (= Handbuch der systematischen Musikwissenschaft, Band 1), Laaber 2004, S. 330–352, hier: S. 352. 58 Die Tatsache, dass Theatermusik daher häufig nicht in einer Form vorliegt, die außerhalb des spezifischen technischen Settings der Aufführung auf handelsüblichen Abspielgeräten gehört werden kann, trägt dazu bei, dass sie weder kommerziell noch zu Forschungszwecken einfach verfügbar ist. Es betont die Kontextabhängigkeit und Einmaligkeit ihrer Rezeption. Die Theatermusik ist dann eben nicht, im Sinne Walter Benjamins, ›technisch reproduzierbar‹ (siehe Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1963 [1936]). 59 Siehe auch: Mersch, Dieter: Was sich zeigt Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002. 60 Warstat, Matthias: »Theatralität«, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 358–364. 61 Barthes, Roland: Die Körnung der Stimme – Interviews 1962-1980. Aus dem Französischen von Agnès Bucaille-Euler, Birgit Spielmann und Gerhard Mahlberg Frankfurt am Main 2002 [1981]. 62 Brown, Ross: »Towards Theatre Noise«, in: Kendrick, Lynne/Roesner, David (Hrsg.): Theatre Noise. The Sound of Performance, Newcastle upon Tyne 2011, S. 1–13. 63 Ebd., S. 1. 64 Siehe auch das Kapitel »Theatermusik als relationales Musizieren«. 65 Auslander, Philip: Liveness: Performance in a Mediatized Culture, London & New York 1999. Siehe auch: Reason, Matthew/Lindelof, Anja Mølle (Hrsg.): Experiencing Live-

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ness in Contemporary Performance: Interdisciplinary Perspectives, London 2016. Zu Fragen der Digitalisierung und der Veränderungen im Bezug auf Sound Design und Musikästhetik gibt es eine Reihe relevanter Schriften. Zu den wichtigsten zählen dabei – im Hinblick auf Musik und Sound – die Arbeiten von Jonathan Sterne (The Sound Studies Reader, New York 2012), Jörg Becker (Die Digitalisierung von Medien und Kultur, Wiesbaden 2013), Johannes Kreidler (Musik, Ästhetik, Digitalisierung: Eine Kontroverse, Hofheim 2010) und Harry Lehmann (Die digitale Revolution der Musik: Eine Musikphilosophie, Mainz 2013). Mit ihren Betrachtungen zu den Veränderungen von Produktionsweisen, Materialästhetik, sozialen und psychologischen Aspekten im Umgang mit digitalen Klängen und Klangträgern liefern sie einen wesentlichen Kontext, vor dessen Hintergrund die tiefgreifenden ästhetischen und produktionstechnischen Umwälzungen im Bereich der Theatermusik zu evaluieren sind. Vgl. dazu Millie Taylors detaillierte Studie der Musikpraxis an der Royal Shakespeare Company, die – oft über Jahre hinweg – Musikalische Leiter, Komponist*innen und Live-Musiker*innen mit großer Kontinuität beschäftigt, was laut ihrer Beobachtungen zu äußerst produktiven Formen von Ensemble-Identität, Flow und kollektiver Kreativität führt. Siehe: Taylor, Millie: Theatre Music and Sound at the RSC. Macbeth to Matilda, London 2018. Siehe zum Vergleich Taylors Analyse der musikalischen Kollaboration an der Royal Shakespeare Company: »Collaborative Composition at the RSC«, in: Taylor: Theatre Music and Sound, S. 51–92. Siehe auch: Roesner, David: »Sound Decisions – The Contemporary Praxis of Theatre Music«, in: Roesner, David/Curtin, Adrian (Hrsg.): Theatre and Performance Design. Special double issue: »Sounds good«, 2 (2016), H. 3/4, S. 202–216. Siehe auch die sechste These über Theatermusik als Klangforschung in der Einleitung. Siehe Barthes: Die Körnung der Stimme. Man könnte nun versucht sein, erstere Tendenz zu hoher Klangqualität als ›HiFi‹ (von ›High Fidelity‹) zu bezeichnen und Letztere als ›LoFi‹ (von ›Low Fidelity‹), aber man müsste hier gleichzeitig problematisieren, was ›Treue‹ dabei bedeutet. Ist eine einfache Feldaufnahme einer unperfekten Stimme nicht ›naturgetreuer‹, als eine Studioaufnahme eines Profis? Was wirkt ›echter‹? Ist der Eindruck von Authentizität eines Klangs oft eher das Resultat einer aufwendig kalkulierten Inszenierung dieses Klangs? Siehe: Roesner, David: »Theaterrauschen – Spielarten der performativen Hervorbringung von Geräusch«, in: Ernst, Wolf-Dieter/Mungen, Anno (Hrsg.): Sound and Performance, Würzburg 2014, S. 319–342. Siehe dazu u. a. Hegarty, Paul: Noise/Music: A History, London 2007; Kahn, Douglas: Noise Water Meat. A History of Sound in the Arts, Cambridge (MA) 1999; Ross, Alex: The Rest Is Noise: Listening to the Twentieth Century, New York 2007. Siehe auch das Kapitel »Seasoning the presets«. Vielleicht nicht ganz zufällig formuliert Günther an einer Stelle: »Natürlich nutze ich diese Instrumente, aber ich drehe so lange daran herum, bis es mir ›schmeckt‹.« Siehe auch: Schouten, Sabine: »Räumlichkeit«, in: dies.: Sinnliches Spüren: Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007, S. 38–47. Modale Harmonik, wie sie u. a. in bestimmten Jazz-Stilen vorkommt, ist im Vergleich zur vertrauteren Funktionsharmonik schwebender und weniger stark von einem Streben zu einem Grundakkord (Tonika) bestimmt. Gerade die Modi, die sich dem für die westliche Musik so einflussreichen Dur/Moll-Schema entziehen, das wir gewohnt sind, mit ›fröhlich‹/›traurig‹ zu assoziieren, sind außerdem offener in Bezug auf ihre emotionalen Konnotationen. Siehe dazu weiterführend: Wolf, Werner: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie«, in: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002, S. 23–104. Goldstein, Jeffrey: »Emergence as a construct: History and issues«, in: Emergence 1 (1999), H. 1, S. 49–72, hier: S. 49. Online unter: https://journal.emergentpublicati-

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ons.com/article/vol1-iss1-1-3-ac/ (zuletzt aufgerufen am 25. Februar 2019). Ebd., meine Übersetzung. Siehe ebd., meine Übersetzung. Diese Begriffe (radical novelty, coherence or correlation, global or macro level, dynamical, ostensive) stellt Goldstein als Schlüsseleigenschaften des Emergenten zur Diskussion. 83 Emergenz wird häufig mit der Idee in Verbindung gebracht, dass emergente Phänomene mehr als die Summe ihrer Einzelteile darstellten. Vgl. dazu: Islam, Gazi/ Zyphur, Michael J./Beal, Daniel J.: »Can A Whole Be Greater Than The Sum Of Its Parts? A Critical Appraisal Of ›Emergence‹«, Insper Working Paper 2006, unter http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.318.5653&rep=rep1 &type=pdf (zuletzt aufgerufen am 9. Februar 2019). 84 Dass dies sich nicht auf die Ebene der Erzählung beschränkt, sondern auch für das Wirkungspotenzial gilt, wird im nächsten Unterkapitel noch zu vertiefen sein. 85 Siehe die Einleitung dieses Buches. 86 Lehmann, Hans-Thies, »Get down and party. Together. Partizipation in der Kunst seit den Neunzigern«, in: http://www.heimspiel2011.de/assets/media/dokumentation/pdf/HSP-Doku_D_Lehmann.pdf (zuletzt aufgerufen am 9. Mai 2018). 87 Siehe: Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon 2002. 88 So fasst z. B. der Drehbuchautor André Georgi unter dem Begriff der relationalen Dramaturgie den Einfluss der Figurenkonstellation auf eine filmische Erzählung und akzentuiert den Begriff bereits anders. Gemeinsam ist den verschiedenen Verwendungen, dass die Beziehung zwischen Personen oder Elementen im Zentrum steht. Siehe: Georgi, André: Figurenkonstellationen. Einführung in eine relationale Filmdramaturgie, Frankfurt am Main 2019. 89 Siehe das Kapitel »Theatermusik als Netzwerk und téchnē«. 90 Siehe z. B. Brown, Steven: Music and Manipulation. On the Social Uses and Social Control of Music, New York 2006; DeNora, Tia: Music in Everyday Life, Cambridge 2000. 91 Siehe auch Beckenbachs Aussage: »Es [gibt] dennoch auch eine emotionale Komponente, denn ganz ohne Emotionalität geht es nicht. Selbst wenn man eine ganz aharmonische, arrhythmische, neue Musikkomposition hat, erzählt die einem ja auch etwas. Es ist ja fast nicht möglich Emotionalität ganz außen vor zu lassen.« 92 Siehe Pflüger, Dana: Musik und Handlung. Die Funktionen der Musik in Oper, Film und Schauspiel mit einer exemplarischen Betrachtung von Albert Lortzings Werken, Bern 2018, S. 100–119. 93 Siehe Bullerjahn, Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Augsburg 2001, S. 67. 94 Siehe ebd., S. 66. Siehe auch die vierte These in der Einleitung. 95 Siehe: Scheitler, Irmgard: Schauspielmusik: Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Darstellungsteil (= Würzburger Beiträge zur Musikforschung), Tutzing, 2015, S. 292ff. 96 Siehe dazu: Lehmann, Hans-Thies: »Ästhetik. Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 48 (1994), S. 426–431. 97 Ganz aktuell nimmt die Musikwissenschaftlerin Leah Broad diese Vorurteile in einem Blog-Beitrag noch einmal instruktiv unter die Lupe: »Why incidetal music?«, https://leahbroad.wordpress.com/2019/04/14/why-incidental-music/, (zuletzt aufgerufen am 14. Mai 2019). 98 Wenger: Communities of Practice, S. 149, Hervorhebung im Original. 81 82

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Glossar Ableton Live. Software Sequenzer mit einer klassischen Arrangement-Ansicht und einer Session-Ansicht, in der besonders schnell, intuitiv und in Echtzeit Musik produziert werden kann.1 ADAT Recorder. ADAT steht für Alesis Digital Audio Tape; es war ein digitales Aufnahmegerät für den Studiogebrauch und wurde seit 1992 von der Firma Alesis vertrieben. ADAT Recorder konnten auf S-VHS Kassetten bis zu acht Spuren aufnehmen und mit anderen Geräten synchronisiert werden. Seit 2003 werden die Aufnahmegeräte nicht mehr hergestellt.2 BeBop. »Anfang der 1940er Jahre entstandener Jazzstil. […] Die Bezeichnung dafür ist die lautmalerische Nachbildung einer in diesem Stil häufigen Zweitonphrase, einem von schwerer auf leichte Zählzeit abwärtsspringenden Intervall (oft eine kleine Terz) […].3 C64. Der Commodore C64 war einer der meistverkauften Heimcomputer in den 80er Jahren. ChucK. Programmiersprache für die Echtzeit-Soundsynthese und -Musikerzeugung. Sie ist open-source und für MacOS X, Windows und Linux frei erhältlich.4 Cubase. Softwareprogramm der Firma Steinberg für Musikproduktion. Neben Logic seit 1989 eine der führenden und leistungsfähigsten DAWs der letzten Jahrzehnte. Cue. »Hinweis (Handzeichen, Kopfnicken usw.) für Musiker, z. B. für den gemeinsamen Einsatz nach einer freien Passage«.5 DAW. Steht für »Digital Audio Workstation«. Ein digitales System zum Aufnehmen und Bearbeiten von digitalen Audiodateien. »DAW« wird wahlweise für die Hardware, Software oder beides verwendet.6 Deadnotes auch Dead Tones. »Bezeichnung für geräuschhafte, in der Tonhöhe unbestimmbare Töne, meist als zusätzlicher Rhythmusimpuls oder als ausdruckssteigerndes Klangmittel eingesetzt. Gitarristen und Bassgitarristen erzielen diesen Effekt durch Abdämpfen beim An-

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schlag, d. h. durch nur leichtes Auflegen der Finger der Greifhand auf die anzuschlagende Saite. […] Bläser formen Dead Tones mit dem Ansatz und durch Ventil- bzw. Klappeneffekte.«7 Delay. »Ein Delay ist eine Laufzeitverzögerung für akustische Signale. […] Man unterscheidet zwei Anwendungsbereiche eines Delays. Zum einen gibt es den Soundeffekt: Er erzeugt eine oder mehrere verzögerte Kopien des Eingangssignals, wodurch man einen echoähnlichen Klang erzielt. Zum anderen wird das Delay in der Veranstaltungstechnik genutzt, um die Laufzeitverzögerung von Lautsprechern zu korrigieren, die sich in unterschiedlicher Entfernung zum Hörer befinden.«8 Dolby 5.1. »Anfang der 1979er Jahre von den Dolby Laboratories entwickeltes Verfahren zur Rauschminderung bei Filmprojektionen und zur mehrkanaligen Beschallung von Kinosälen. […] Dolby Stereo bot vier Kanäle: rechts, links, Mitte […] und ein (Mono-)Surroundsignal. […] Eine neue Dimension der Klanggestaltung […] wurde 1994 […] eröffnet: Dolby Digital AC3 brachte das fortan weitverbreitete 5.1-Format mit fünf Kanälen (rechts, links, Mitte, Stereo-Surround) plus einem separaten Tieftonkanal.9 Drop-2. Drop-2 beschreibt in der Jazzharmonielehre das Tiefoktavieren der zweiten Stimme eines Blockakkords oder Vierklangs. Drum ‘n’ Bass. »Mitte der 1990er Jahre in Großbritannien aufgekommene Variante des Jungle genannten Techno-Stils. Die Rhythmusmuster sind etwas weniger komplex, dafür steht die wuchtige Basslinie bei dieser Version des Techno im Vordergrund.«10 DX-7. Populärer Synthesizer der Firma Yamaha, der 1983 auf den Markt gebracht wurde und auf vielen Pop-Aufnahmen der 80er und 90er Jahre zu hören ist. Finale. Weitverbreitete Software zur Musiknotation und zum Notendruck. Flageoletttöne. »Durch Teilschwingung der Saiten entstehende hohe, etwas hohl-pfeifend klingende Töne; besonders bei Streichinstrumenten und Harfe, aber auch bei Gitarre verwendet. Beim natürlichen Flageolett berührt ein Finger der Greifhand nur leicht die Saite an den gewünsch-

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ten Teilungspunkten (z. B. 1:2, 1:4, 1:3 usw.); es ergeben sich Schwingungsknoten, wodurch der entsprechende Oberton […] erklingt.11 Foley. Benannt nach Ton-Pionier Jack Foley, bezeichnet das Nachvertonen von Geräuschen im Film, die nicht selten ganz anders zustande kommen als das, was man im Filmbild sieht. Schläge auf Körper und Gesicht in einem Actionfilm kommen häufig durch Aufnahmen mit verschiedenen Gemüse- und Obstsorten zustande, Feuerknistern durch das Rascheln mit einer Plastiktüte.12 Fruity Loops. Heute FL Studio genannt, war eine frühe DAW (Digital Audio Workstation). GEMA. »[Abk. für Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte]: [Eine Verwertungsgesellschaft und] gemeinnütziger Wirtschaftsverein, der im Auftrag der Komponisten, Texter, Arrangeure und Verleger in Deutschland das Inkasso der sich aus dem Urheberrecht ergebenden Vergütungsansprüche seiner Mitglieder übernimmt. […].«13 Groove. »1.) Bezeichnung für eine ständig wiederkehrende, ein Arrangement bestimmende Figur, ähnlich dem Riff. Während ein Riff hauptsächlich melodisch geprägt ist, überwiegt beim Groove das rhythmische Element; 2.) rhythmisch-metrisches Grundmodell (Basic Groove) der Begleitung (Bass, Schlagzeug) im Sinne von Pattern. 3.) das Gefühl für Rhythmus, Spannung und Tempo eines Stückes, in diesem Sinn seit den 1970er Jahren im Sprachgerbauch […].«14 Interface. Auch: Schnittstelle. »Spezielle Schaltung zur elektronischen Anpassung zweier sonst inkompatibler Geräte oder Geräteteile.«15 IRCAM. Das Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique ist ein international anerkanntes Forschungszentrum in Paris für die Kreation neuer Technologien für Musik.16 Kaoss Pad. Das Kaoss Pad der Firma Korg ist ein Touchscreen MIDI Controller, mit dem man Klänge erzeugen und/oder durch Kombinationen von Soundeffekten in Echtzeit modifizieren kann. Die Steuerung der Parameter läuft dabei über intuitive Fingerbewegungen auf dem Touchpad.17

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Komplete Ultimate. Instrumenten- und Effektsammlung für Musiker*innen und Sound Designer.18 Kontakt. Software-Sampler, der von der deutschen Firma Native Instruments vertrieben wird. Lead Sheet. »Ein in gedruckter Form (aber auch handschriftlich) vorliegendes Notenblatt […] mit Melodielinie (lead), Akkordsymbolen und ggf. Songtext (Lyrics); einfache Form der Verlagsausgabe eines Titels […], nach der dann ein Arrangement erarbeitet werden kann. Lead Sheets waren ein wesentlicher Faktor bei der Verbreitung populärer Musik […].19 Leslie. »Bezeichnung für ein Effektgerät, dessen Wirkungsweise auf dem Prinzip rotierender Lautsprecher beruht, aber auch für den mit ihm erzeugten, einem Vibrato ähnlichen Effekt. Der Name geht zurück auf Donald James Leslie (1911–2004), der dieses Gerät Ende der 1930er Jahre entwickelte.«20 Logic. Digital Audio Workstation und Software-, Audio- und Midisequenzer des Herstellers Apple. Max/MSP. »Graphische integrierte Entwicklungsumgebung für Musik und Multimedia von Cycling '74, die für Echtzeitprozesse ausgelegt ist. Sie wird seit 20 Jahren von Komponisten, Musikern, Softwareentwicklern und Künstlern eingesetzt, um interaktive Software selbst zu erstellen – unabhängig von den ästhetischen Vorgaben kommerzieller Produkte. Insbesondere im Live-Betrieb ist diese Sprache in der akademischen elektronischen Musik, im Bereich des Live-Video und unter Laptop-Künstlern weit verbreitet.«21 Melodyne. 2001 entwickelte Software zur Audiobearbeitung, oft genutzt zur Tonhöhenkorrektur von Gesangsspuren, aber auch darüber hinaus zur Analyse und Bearbeitung einzelner Parameter in Audioaufnahmen.22 Method-Acting. »Von Lee Strasberg im […] Actors’ Studio in New York Anfang der 1950er Jahre entwickelte Schauspielmethode, die durch das vollkommene Aufgehen des Schauspielers in seiner Rolle eine außergewöhnlich realistische Darstellung erreichen will.«23 MIDI. »Abk. für Musical Instrument Digital Interface: International stan-

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dardisierte, digitale Schnittstelle für elektronische Musikinstrumente, Zusatzgeräte (Effektgeräte, […] Sequenzer, Mixer) und Computer. Diese 1983 eingeführte Norm […] ermöglicht die Datenübertragung zwischen Geräten unterschiedlicher Hersteller, so dass z. B. ein aus mehreren Synthesizern bzw. Soundmodulen […] bestehendes System zentral von einer Tastatur (Masterkeyboard) aus gesteuert werden kann […].«24 Native Instruments. Native Instruments ist die führende Softwarefirma, die sample libraries zu bestimmten Instrumentengruppen oder Stilistiken anbietet. Siehe https://www.native-instruments.com/de/ (zuletzt besucht am 29. September 2017). Panning. Bezeichnet die Verteilung von Tonsignalen in einem Stereooder Multikanal-Tonfeld z. B. anhand von entsprechenden Mischpulteinstellungen. Diese Verteilung muss nicht statisch sein. Durch dynamisches panning kann daher z. B. auch der Eindruck erweckt werden, dass sich ein Sound im Raum bewegt.25 Pitch Shifter. »Elektronisches Effektgerät, mit dem ein beliebiges Audiosignal in der Tonhöhe verschoben (transponiert) werden kann, ohne dass eine Zeitraffung oder -dehnung erfolgt.«26 Plug-in. »Bezeichnung für Software, die zur Erweiterung eines anderen Computerprogramms dient, in dieses eingeschleift […] werden kann, z. B. Effekt Plug-ins innerhalb einer Audiobearbeitungssoftware oder Mischpultsimulation.27 Preset. »Gespeicherte Klangeinstellung bei Synthesizern, E-Pianos, E-Orgeln […] und Effektgeräten; zugleich programmierte Klänge und Grundrhythmen (Pattern) bei Drum Computern und Konfigurationsprogramme bei Masterkeyboards. Die Arbeit mit Presets ermöglicht einen schnellen (abrupten) Wechsel der Klang- und Funktionsparameter bei einem elektronischen Instrument oder Zusatzgerät.«28 QLab. Ist eine Multimedia-Abspielsoftware der Firma Figure 53, die nur für das Apple Betriebssystem entwickelt ist. QLab kann z. B. Ton- und Videodateien, sowie MIDI Befehle auf Knopfdruck abspielen, wobei viele Voreinstellungen (Lautsprecherzuordnung, Verzögerungen, Fades etc.) vorprogrammierbar sind. Während in deutschsprachigen Theater Ableton Live Standard ist, arbeiten viele britische Theater mit QLab.

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Reaktor. Grafische Entwicklungsumgebung zur Erstellung und Verwendung von Software-Synthesizern, Sequenzern, Samplern und Effektgeräten der Berliner Firma Native Instruments. Reverb. Natürlicher oder künstlich erzeugter Nachhall von Klängen. Sampler, Sample. Bezeichnung für ein spezielles Gerät bzw. eine spezielle Software zum Sound Sampling. Dies bedeutet, dass kurze Audioaufnahmen als Sample so gespeichert werden, dass sie in Echtzeit von Geräten wie Synthezisern abgespielt, geloopt, in der Tonhöhe verändert usw. werden können.29 Sequencing. »Baueinheit (Modul) im Synthesizer, separates Gerät (Hardware-Sequenzer) oder ein Computerprogramm (SoftwareSequenzer) zur Speicherung von Steuerbefehlen für elektronische Klangerzeuger […], Effektgeräte und Audiotechnik (Tonbandgerät, Mischpult usw.). In einem Sequenzer können Folgen (lat. sequentia = ›Aufeinanderfolge, Reihe‹) von Funktionsweisungen für den automatischen Ablauf programmiert werden.«30 Sibelius. »Notensatzprogramm, benannt nach dem finnischen Komponisten Jean Sibelius. Herstellung und Vertrieb leistet das Unternehmen Avid Technology, welches das Programm im Jahr 2006 von der Sibelius Software Ltd. der Brüder Ben und Jonathan Finn erworben hat.31 Site-specific art. Werke bzw. Aufführungen in Theater, Tanz, bildender Kunst und Performance, die speziell für einen Ort entwickelt werden und in der Regel auch auf mit den Besonderheiten des jeweiligen Ortes eine Beziehung eingehen.32 Sub: Sub von engl. ›substitute‹ ist ein*e Ersatzmusiker*in. In bestimmten Zusammenhängen (wie zum Beispiel großen Musical-Produktionen) ist es Usus, dass die jeweilige Erstbesetzung im Orchester Ersatzmusiker*innen vorschlägt und bei Bedarf einsetzt. SuperCollider. Ist eine Software-Plattform für Audiosynthese und algorithmische Komposition. Sie ist frei erhältlich und open source und wurde 1996 von James McCartney entwickelt.33

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Sustain. Natürliche oder durch Effekte erzeugte Klangdauer eines Tons. Timing. »Begriff für das ›richtige‹ Tempo, in dem Phrasierung und Artikulation gut zur Wirkung kommen, aber auch für das stilistische Empfinden, die Töne rhythmisch-metrisch in den Zeitablauf einzuordnen.«34 Trigger. »Elektischer Spannungsimpuls; ein Schaltsignal, das einem elektrischen Bauteil oder Gerät zugeführt wird und dort eine bestimmte Funktion auslöst. […] Als Quelle von Trigger-Impulsen können z. B. die Trommeln eines Schlagzeugs dienen […]. In einem angeschlossenen Drum Computer, Synthesizer oder Sampler lösen diese Signale dann das Abspiel der dort programmierten Klänge aus. Man spricht in diesem Fall von einem ›getriggerten‹ Schlagzeug.«35 Underscoring. Die Underscoring-Technik, oder auch deskriptive Technik, stammt noch aus der klassischen Hollywoodmusik. […] Zu den Merkmalen des Underscorings gehören die synchrone Nachahmung von Geräuschen, Orten oder Bewegungen mithilfe musikalischer Mittel. Dadurch wird beispielsweise das Tempo und die Stimmung einer Szene musikalisch unterstrichen.36

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Siehe Ableton, https://www.ableton.com/de/live/ (zuletzt aufgerufen am 28. August 2017). Siehe https://obsoletemedia.org/adat/ (zuletzt aufgerufen am 12. Juni 2019). Wicke Peter, Wieland Ziegenrücker und Kai-Erik Ziegenrücker (Hrsg.): Handbuch der populären Musik. Geschichte, Stile, Praxis, Industrie, Mainz 2007, S. 74. Siehe http://chuck.cs.princeton.edu/ (zuletzt aufgerufen am 12. Juni 2019). Wicke et al., Handbuch der populären Musik, S. 179. Siehe https://techterms.com/definition/daw (zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2019). Wicke et al., Handbuch der populären Musik, S. 185. Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Delay_(Musik) (zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2019). Wicke et al., Handbuch der populären Musik, S. 203. Ebd., S. 209. Ebd., S. 249. Siehe auch die Webseite Rodrigues, Phil: »The Story of Jack Foley«, http://www. marblehead.net/foley/jack.html sowie FilmSound.org, http://filmsound.org/terminology/foley.htm (zuletzt aufgerufen am 10. Oktober 2018). Wicke et al., Handbuch der populären Musik, S. 274. Ebd., S. 295. Duden online. https://www.duden.de/rechtschreibung/Interface (zuletzt aufgerufen am 12. Juni 2019). Siehe IRCAM, https://www.ircam.fr/creation/ (zuletzt aufgerufen am 12. Juni 2019). Siehe Wikipedia, https://en.wikipedia.org/wiki/Korg_Kaoss_Pad (zuletzt aufgerufen am 23. November 2017).

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Siehe Native Instruments, https://www.native-instruments.com/en/products/komplete/bundles/komplete-12/ (zuletzt aufgerufen am 12. Juni 2019). Wicke et al., Handbuch der populären Musik, S. 397. Ebd., S. 398. Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Max/MSP (zuletzt aufgerufen am 12. Juni 2019). Siehe Celemony, http://www.celemony.com/de/melodyne/what-is-melodyne (zuletzt aufgerufen am 13. Dezember 2017). Lexikon der Filmbegriffe, http://filmlexkon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon& tag=det&id=1799 (zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2019). Wicke et al., Handbuch der populären Musik, S. 438ff. Siehe: Revolvy, https://www.revolvy.com/page/Panning-%28audio%29 (zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2019). Wicke et al., Handbuch der populären Musik, S. 533. Ebd., S. 537. Ebd., S. 556f. Siehe auch Bonz, Jochen, »Sampling. Eine postmoderne Kulturtechnik«, in: Kimminich, Eva/Schmidt, Siegfried J./Jacke, Christoph (Hrsg.), Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen, Bielefeld 2006, S. 333–353. Wicke et al., Handbuch der populären Musik, S. 660f. Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Sibelius_(Software) (zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2019). Siehe Pearson, Mike. Site-Specific Performance. New York, NY 2010. Siehe https://supercollider.github.io/ (zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2019). Wicke et al., Handbuch der populären Musik, S. 744. Ebd., S. 757. Siehe Roland Kah, https://ronaldkah.de/filmmusiktechniken/ (zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2019).

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Zum Autor David Roesner ist Professor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Musiktheater an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forschte und lehrte bisher an den Universitäten Hildesheim, Exeter und Kent und arbeitet außerdem gelegentlich selbst als Theatermusiker. Er studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Stiftung Universität Hildesheim und promovierte dort mit einer Arbeit zu David Roesner Theater als Musik (Narr, 2003). Foto: Anja Thiel Forschungsschwerpunkte sind die Musikalisierung des Theaters und die Theatralisierung der Musik, Sound und Performance, Intermedialität sowie Performativität und Musikalität in Videospielen. 2007 wurde sein Aufsatz »The Politics of the Polyphony of Performance« (Contemporary Theatre Review 18/1, 2008) mit dem Thurnauer Preis für Musiktheaterwissenschaft ausgezeichnet. Zuletzt publizierte er unter anderem die Bücher Composed Theatre (mit Matthias Rebstock, Intellect, 2011), Theatre Noise (mit Lynne Kendrick, CSP, 2012) sowie die Monografie Musicality in Theatre: Music as Model, Method and Metaphor in Theatre-Making (Ashgate, 2014).

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Danksagung Dank gebührt an erster Stelle den Theatermusiker*innen, die sich auf den Dialog mit mir eingelassen haben: diejenigen, deren Aussagen in diesem Buch versammelt sind; jene, deren Gespräche sich auf dem Blog »Theatermusik heute« auf hypotheses.org finden und noch finden werden, und auch die, die sich schließlich doch gegen eine Veröffentlichung entschieden haben. Den Fotograf*innen danke ich sehr herzlich für die Erlaubnis, ihre Bilder in dieses Buch mit aufnehmen zu dürfen. Des Weiteren danke ich meiner Mitarbeiterin Tamara Yasmin Quick und meiner Hilfskraft Sara Zarrabi für ihre vielen wertvollen Hinweise und Korrekturen. Meinen Studierenden, mit denen ich viele Aspekte von Theatermusik diskutieren und erproben durfte, danke ich für ihr Interesse und ihr Engagement. Der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die finanzielle Förderung des Projekts, ohne die diese langjährige Forschung und die resultierende Publikation nicht möglich gewesen wären. Meiner Familie danke ich von Herzen für ihre große Unterstützung und Liebe!

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Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – „Ich war immer ein Opportunist …“ . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz–Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“ Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990 – 2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977 – 2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen

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Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Kleist oder die Ordnung der Welt Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater Theaterlandschaften in Mittel-, Ostund Südosteuropa Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten Theater in Japan Sabine Kebir – „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute Frank Raddatz – Der Demetriusplan . oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Falk Richter – Trust Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft

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Heiner Goebbels – Ästhetik der Abwesenheit . Texte zum Theater Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals Das Melodram . Ein Medienbastard Dirk Baecker – Wozu Theater? Rimini Protokoll – ABCD Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 Theater im arabischen Sprachraum Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit . Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate Reenacting History: Theater & Geschichte Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität FIEBACH . Theater. Wissen. Machen Auftreten . Wege auf die Bühne Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert

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127 Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen 128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L'Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019)

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Thomas Kürstner Bernadette La Hengst Nils Ostendorf Malte Preuss Insa Rudolph Greulix Schrank Thomas Seher Sebastian Vogel Michael Wilhelmi Lars Wittershagen Bert Wrede

978-3-95749-239-5 www.theaterderzeit.de

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Theatermusik Analysen und Gespräche

David Roesner Theatermusik

Interviews mit: Malte Beckenbach Peer Baierlein Carolina Bigge Paul Clark Octavia Crummenerl Gloggengießer Jörg Gollasch Ingo Günther Taison Heiß Julia Klomfaß Matthias Krieg

David Roesner

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Die Theatermusik ist ein oft überhörtes Phänomen, obwohl sie gerade im Zuge der Digitalisierung zu einem kreativen Motor für die Spielformen und Dramaturgien der zeitgenössischen Theaterlandschaft avanciert ist. David Roesner gibt einen Überblick über Praxis und Ästhetik der heutigen Theatermusik und lässt in knapp zwanzig Interviews die Künstlerinnen und Künstler selbst zu Wort kommen. Sie berichten über ihren Werdegang, ihre Arbeitsweisen, ihre ästhetischen Überzeugungen und ihre Rolle in der Institution Theater. So entsteht ein umfassendes und vielschichtiges Bild dieser elementaren Ausdrucksebene des Theaters und des damit verbundenen Berufsbildes.

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