Praktiken des Sprechens im zeitgenรถssischen Theater Julia Kiesler und Claudia Petermann (Hg.)
Praktiken des Sprechens im zeitgenรถssischen Theater
Mit freundlicher Unterstützung der Hochschule der Künste Bern
Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater Julia Kiesler und Claudia Petermann (Hg.) Recherchen 141 © 2019 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Erik Zielke Gestaltung: Sibyll Wahrig Umschlagabbildung: Faust. Der Tragödie Erster Teil von Johann Wolfgang Goethe, Regie: Claudia Bauer, Konzert Theater Bern. Foto: Annette Boutellier Printed in Germany ISBN 978-3-95749-197-8 (print) ISBN 978-3-95749-252-4 (ePDF) ISBN 978-3-95749-253-1 (EPUB)
Praktiken des Sprechens im zeitgenรถssischen Theater Julia Kiesler und Claudia Petermann (Hg.)
Recherchen 141
Inhalt
Vorwort Julia Kiesler und Claudia Petermann Zwischen Virtuosität und Persönlichkeit Perspektiven für eine gegenwärtige Schauspielausbildung
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Heiner Goebbels „Dass es eine Sprache gibt, worin die Dinge sich weder zeigen noch verbergen“
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Franziska Baumann Stimme als musikalisch-performatives Phänomen Potentiale des Musikalischen im sprachlichen Kontext
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Gabriella Crispino EinStimmen. EinSprechen Das aktuelle Sprechen in Texten von Elfriede Jelinek Anja Klöck Praktiken des Sprechens und das Dispositiv professionellen Schauspielens im Sprechtheater Eva Maria Gauß Sprechmethoden und Schauspielstile Ein Versuch in mehreren Anläufen Christina Laabs Die zeitgenössischen Sprechweisen im Lehrkonzept der Sprecherziehung Methodisch-didaktische Überlegungen -
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Inhalt
Bernd Freytag Chor der Zukunft Für Rettungen danach Hans Martin Ritter Schauspielkunst – ihre Praxis und ihre Vermittlung Ein Ort produktiver Widersprüche Leo Hofmann Flüchtigkeit und Fixierung Die Stimme im Theater aus Sicht eines Medienkünstlers Im Dialog Einblick in die Probenarbeit des Regisseurs Laurent Chétouane mit Studierenden der Hochschule der Künste Bern mit anschließendem Publikumsgespräch Florian Reichert Sich Gehör verschaffen Eine kurze Reflexion über den Partner der Sprache: das Gehör Autorinnen und Autoren
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VORWORT -
Im November 2017 versammelten sich an der Hochschule der Künste Bern Theaterpraktiker, Sprechwissenschaftler, Theaterwissenschaftler, Sprecherzieher sowie Dozierende und Studierende der Schauspielausbildung, um im Rahmen eines zweitägigen Forschungsworkshops über verschiedene Umgangsformen mit Texten und gesprochener Sprache, die das zeitgenössische Theater hervorbringt, zu diskutieren. Dabei wurden die Anforderungen, die an die Schauspielerinnen und Schauspieler in der Theaterpraxis gestellt werden, in Bezug zur Schauspielausbildung gesetzt. Es wurde der Frage nachgegangen, auf welche Weise insbesondere performative Praktiken des Spielens und Sprechens innerhalb der Schauspielausbildung Anwendung finden können. Die Schwerpunkte der Vorträge, Workshops, Performances und Diskussionsrunden standen in engem Zusammenhang mit den Themen und Phänomenen, welche die Herausgeberinnen im Rahmen eines Forschungsprojekts beobachtet und herausgearbeitet haben und das mit der Berner Tagung seinen Abschluss fand. Ausgewählte Erkenntnisse dieses Forschungsprojekts werden nun im ersten Beitrag des vorliegenden Tagungsbandes präsentiert. Im Fokus stehen intertextuelle Arbeitsweisen, Musikalisierungs- und Synchronisationsprozesse sowie ein verändertes Figurenverständnis, das die Autorinnen innerhalb verschiedener Probenarbeiten beobachtet haben. Der Artikel eröffnet ein Themenspektrum im Umgang mit Texten und gesprochener Sprache, das in den nachfolgenden Beiträgen dieses Tagungsbandes weiterverfolgt und differenziert betrachtet wird – sei es aus künstlerischer, sei es aus theoretisch-reflektierender oder methodisch-praktischer Perspektive. So beschreibt der Komponist und Theatermacher Heiner Goebbels anhand von Ausschnitten aus seinen Arbeiten und mit Blick auf den Philosophen Maurice Blanchot seinen musikalischen und polysemantischen Zugang zur Sprache auf der Bühne. Daran anschließend beschäftigt sich der Beitrag von Franziska Baumann mit der Stimme als sinnlich-materiellem Phänomen diesseits ihrer semantischen Funktion. Gabriella Crispino thematisiert in ihrem Artikel spezifische sprecherische und schauspielerische Herausforderungen im Umgang mit Texten der Autorin Elfriede Jelinek und reflektiert diese für die sprecherziehe-
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Vorwort
rische Arbeit. Mittels praktischer Übungssequenzen führt sie uns an die Arbeit mit Jelineks Texten heran. Die drei darauf folgenden Beiträge von Anja Klöck, Eva Maria Gauß und Christina Laabs stellen Ausbildungsfragen ins Zentrum der Betrachtung. Klöck untersucht das gegenwärtige Spannungsfeld professioneller schauspielerischer Arbeit: zwischen Schauspielen als glaubhafter Darstellung einer vorgegebenen dramatischen Situation und Schauspielen als wirklichkeitskonstituierender Praxis. Gauß geht in ihrem Artikel der Frage nach, in welchem Verhältnis Schauspielstile und Sprechmethoden stehen und ob bestimmte methodische Ansätze der Sprechbildung in besonderer Weise für die Ausbildung verschiedener Spielpraktiken oder Theaterästhetiken prädestiniert sind. Laabs stellt traditionelle Ausbildungsinhalte performativen Zugängen zu Texten gegenüber und plädiert für eine Ausbildung, die sowohl dramatische als auch postdramatische und performative Darstellungs- und Sprechformen vereint. Im Anschluss an diese theoretisch und methodisch reflektierenden Beiträge widmet sich Bernd Freytag in einem literarischen Text dem Thema Chor. Er stellt dem Chor, dem Wir als „Hauptdarsteller“, ein Ich gegenüber und lotet damit das Spannungsverhältnis zwischen einer gemeinsamen und einer individuellen Sprache aus. Um die chorische Arbeit mit Texten geht es u. a. auch im Artikel von Hans Martin Ritter. Darüber hinaus reflektiert er Aspekte der Situation, des ästhetischen Raums und der Figur anhand der künstlerischen Arbeit mit Studierenden sowie von Aufführungen des Gegenwartstheaters. Leo Hofmann thematisiert den Einsatz reproduzierter Stimmen in ihrem Spannungsverhältnis von Flüchtigkeit und Fixierung und eröffnet den Blick auf ästhetische Strategien im Umgang mit medial vermittelten Bühnenstimmen aus Sicht eines Performers. Schließlich finden auch das Gehör sowie bestimmte Hörgewohnheiten als konstituierende Elemente in der Entstehung theatraler Realität Beachtung. So erhalten die Leserinnen und Leser anhand des Ausschnitts aus einem Publikumsgespräch mit dem Regisseur Laurent Chétouane Einblick in dessen Arbeitsweise, die weniger geprägt ist von der Gestaltung eines Textes als vielmehr von der Begegnung eines Schauspielers mit einem fremden Text, der eine besondere Form des Nach- und Zuhörens innewohnt. Dem Phänomen des Hörens geht auch Florian Reichert abschließend nach. Mit zahlreichen Beispielen aus der Musik, der visuellen Gestaltung und der Literatur, die Wahrnehmungsgewohnheiten bewusst in unterschiedlicher Weise nutzen, rundet er die Auseinandersetzung mit dem Partner des Sprechens, dem Hören, ab.
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Vorwort
Der kollegiale Austausch, der auf dem Forschungsworkshop stattfand, kann hier nur bedingt wiedergegeben werden. Dennoch wird der Versuch unternommen, die disparaten Themen, die sich um die verschiedenen Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater und deren Herausforderungen drehen, in einem Buch zu vereinen und deren Vielfalt und Vielstimmigkeit offenzulegen. Wir wollen damit die Diskussion anregen und das Spektrum dessen, was möglich ist und als möglich angesehen werden kann, erweitern. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit haben wir uns entschieden, auf das generische Maskulinum zurückzugreifen. Selbstverständlich sind in diese Form alle Geschlechter einbezogen. Zudem möchten wir auf die QR-Codes hinweisen, die in den Beiträgen von Leo Hofmann und Florian Reichert abgebildet sind. Sie ermöglichen die schnelle Auffindbarkeit von Hör- und Videobeispielen im Internet. Abschließend sei an dieser Stelle folgenden Menschen und Institutionen gedankt, die sowohl zu der Durchführung des Forschungsworkshops in Bern als auch zu der Entstehung des vorliegenden Tagungsbandes beigetragen haben: Für die Finanzierung des Forschungsworkshops und der daraus hervorgegangenen Publikation danken wir der Hochschule der Künste Bern sowie dem Schweizerischen Nationalfond. Namentlich bedanken wir uns bei Priska Gisler, Wolfram Heberle, Thomas Strässle, Sebastian Ledesma, Pia Zühlke und Simon Wyss für die organisatorische Unterstützung in der Vorbereitung und Durchführung des Forschungsworkshops, Lorenz Gurtner für die Beleuchtung, Melina Pyschny und ihrem Team für die großartige kulinarische Betreuung der Workshopteilnehmer. Nicht zuletzt möchten wir allen Referentinnen und Referenten der Tagung sowie den Autorinnen und Autoren dieser Publikation danken, ebenso Erik Zielke vom Verlag Theater der Zeit für das fachkundige und umsichtige Lektorat. Die Herausgeberinnen Mai 2019
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ZWISCHEN VIRTUOSITÄT UND PERSÖNLICHKEIT 1
Perspektiven für eine gegenwärtige Schauspielausbildung -
Ausgangspunkt Im September des Jahres 2016 fand im Studienbereich Theater der Hochschule der Künste Bern/Schweiz im Rahmen der Weiterentwicklung des Curriculums ein Workshop statt, zu dem Expertinnen und Experten aus der Theaterpraxis eingeladen waren, darunter Herbert Fritsch (Regisseur und Schauspieler, Berlin), Barbara Gronau (Professorin für Theorie und Geschichte des Theaters an der Universität der Künste, Dramaturgin, Berlin), Alexander Giesche (Regisseur, München), Joachim Robbrecht (Autor und Regisseur, Amsterdam) sowie Ted Stoffer (Choreograf und Performer, Brüssel), um folgende Fragen zu diskutieren: Wie sieht die Berufswelt für Abgängerinnen und Abgänger einer Theaterausbildung heute aus? Wie wird sie sich künftig verändern? Worauf müssen die Studierenden vorbereitet werden? Was brauchen junge Menschen, um in den Theaterberufen bestehen zu können? Welche Qualifikationen muss ihnen die Ausbildung mitgeben? Ein Aspekt, der von allen Experten vertreten wurde, war die Wichtigkeit des auszubildenden Handwerks. Alle waren einhellig der Meinung, dass man handwerkliche Fähigkeiten zunächst ausbilden sollte, um dann auch wieder davon abweichen zu können. Zudem wurde die Fähigkeit gefordert, sich in verschiedenen formalen Kontexten künstlerisch einbringen zu können. Ein Schauspieler sollte laut den Experten heutzutage in der Lage sein, eigenschöpferisch, kreativ und vielseitig zu probieren. Einerseits eigene spielerische Angebote zu machen, aber andererseits auch in der Lage zu sein, sich einer Idee unterordnen und darin nach Freiheit und Kreativität suchen zu können, sind Anforderungen, die Regisseure gegenwärtig im Theater an die Schauspielerinnen und Schauspieler stellen. Hierzu zählt ihrer Meinung nach auch die Fähigkeit, sich hybrider Spiel- und Sprechweisen bedienen zu können und flexibel in Bezug auf verschiedene Darstellungsverfahren zu sein. Eine Figur realistisch auf der Bühne zu verkörpern, aus einer Figur herauszutreten und selbstreferentiell zu agieren, mal darzustellen, mal zu spielen, einen Text gestisch zu gestalten oder ihn nur zu rezitieren,
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dramatische Texte szenisch zu transformieren oder Textflächen musikalisch aufzulösen, sich in die Welt eines Textes hineinzubegeben ebenso wie die Differenz zwischen dem Text und sich selbst als Spieler zu markieren, sich einen Text leibhaft anzueignen und die Einheit von Sprache und Körperlichkeit in einer Figur zusammenfließen zu lassen oder aber diese Einheit zu zerstören – all diese Strategien der Darstellung und des Sprechens finden sich auf den deutschsprachigen Theaterbühnen in den vergangenen Jahren wieder. Sie eröffnen die Frage, was überhaupt zum Handwerk des zeitgenössischen Schauspielers gehört bzw. was es erfordert. Vor welchen Herausforderungen stehen die Schauspielerinnen und Schauspieler aufgrund der sich verändernden Theaterpraxis? Und darüber hinaus: Vor welchen Herausforderungen steht die sprecherzieherische Arbeit im Angesicht der aktuellen Ästhetiken und Umgangsformen mit Texten und gesprochener Sprache im Theater der Gegenwart? Um diesen Fragen nachzugehen, entwickelten die Autorinnen an der Hochschule der Künste Bern ein Forschungsprojekt, das sich mit Prozessen der Probenarbeit im zeitgenössischen Theater vor allem hinsichtlich der Texterarbeitung auseinandersetzt. Das Projekt mit dem Titel Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater wurde vom Studienbereich Theater sowie vom Forschungsschwerpunkt Intermedialität der Hochschule der Künste Bern unterstützt und mit einer Laufzeit von drei Jahren und neun Monaten (März 2014 bis November 2017) vom Schweizerischen Nationalfond finanziert.2 Im Zentrum stand die Untersuchung von Erarbeitungsweisen für Texte im Theater der Gegenwart sowie die Beobachtung der Entstehung bestimmter Sprechweisen im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater. Das Forschungsprojekt ist einer der ersten Versuche, zeitgenössische Darstellungsverfahren, insbesondere hinsichtlich des Umgangs mit Sprache, aus ausbildungspraktischer Perspektive zu beschreiben, methodisch zu untersuchen und zu reflektieren, für die Theaterausbildung ins Bewusstsein zu rufen und für die Lehre produktiv zu machen. Im Folgenden soll das Forschungsprojekt zunächst in Kürze vorgestellt werden, um anschließend einige vorliegende Erkenntnisse exemplarisch zu beschreiben. Einblicke in fünf Probenprozesse Für das Forschungsprojekt beobachteten die Autorinnen fünf verschiedene Probenprozesse ausgewählter Regisseurinnen und Regisseure im deutschsprachigen Theaterraum und untersuchten diese mit Blick auf die Frage, welche Spiel- und Sprechweisen fernab der psychologischen dort zu finden sind, wie diese während der Probenarbeit entstehen und
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welche Anforderungen sich daraus für die Schauspielerinnen und Schauspieler ergeben. Das Ziel des Projekts war es, verschiedene methodische Zugänge zu Texten, Figuren und Sprechweisen aus der beobachteten Theaterpraxis heraus zu beschreiben, die sich einer performativen Spielpraxis zuordnen lassen. Daraus galt es, Erkenntnisse, insbesondere für die Textarbeit bzw. den performativen Umgang mit Sprache3, zu gewinnen, die innerhalb der Schauspielausbildung und Sprecherziehung fruchtbar gemacht werden können. Der Begriff „performativ“ leitet sich in diesem Zusammenhang vom Begriffsverständnis der Performativität ab, wie ihn Erika Fischer-Lichte für die Theaterwissenschaft definiert hat. Er umfasst die „Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft“4. Demnach bringen performative Akte „keine vorgängig gegebene Identität zum Ausdruck, sondern sie bringen Identität als ihre Bedeutung allererst hervor“5. Bezogen auf die Handlungen des Schauspielers auf der Bühne, verliert hier dessen Spiel den Charakter des „Als ob“. „Es ahmt nicht mehr eine andere Wirklichkeit nach, die es lediglich vortäuscht, sondern es konstituiert selbst Wirklichkeit.“6 Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden Produktionen bzw. Regisseurinnen und Regisseure ausgewählt, die den Konflikt mit traditionellen Theaterpraktiken suchen bzw. in denen sich performative Ansätze der Textarbeit vermuten ließen, und folgende fünf Probenprozesse im deutschsprachigen Raum teilnehmend beobachtet: 1. ein Workshop des Regisseurs Laurent Chétouane mit Masterstudierenden des Studiengangs Expanded Theater des Studienbereichs Theater der Hochschule der Künste Bern, in dem ShakespeareSonette und die Annahme des Regisseurs „Der Text spricht, nicht ich!“ im Zentrum der Arbeit standen (vom 7. Oktober bis 9. November 2013 teilnehmend beobachtet von Julia Kiesler), 2. der Probenprozess zur Inszenierung Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch in der Regie von Volker Lösch am Theater Basel, in dem insbesondere die Beobachtung der chorischen Textarbeit fokussiert wurde (vom 9. Januar bis 27. Februar 2014 teilnehmend beobachtet von Julia Kiesler), 3. der Probenprozess zur Inszenierung Faust. Der Tragödie Erster Teil von Johann Wolfgang von Goethe in der Regie von Claudia Bauer am Konzerttheater Bern, in der es vor allem um den Aspekt der Figurenfragmentierung ging (vom 12. Juni bis 28. Juni/11. August bis 10. September 2014 teilnehmend beobachtet von Julia Kiesler), 4. der Probenprozess zur Inszenierung Warum läuft Herr R. Amok? –
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eine Adaption des Films von Rainer Werner Fassbinder in der Regie von Susanne Kennedy an den Münchner Kammerspielen, die mit einem aufgenommenen Playbacktext arbeitete und damit den Schauspieler in eine festgelegte Komposition „zwang“ (vom 16. September bis 18. September/6. Oktober bis 27. November 2014 teilnehmend beobachtet von Claudia Petermann), 5. der Probenprozess, der im Rahmen der Uraufführung von Elfriede Jelineks Stück Wut an den Münchner Kammerspielen in der Regie von Nicolas Stemann stattfand. Hier stand die Transformation eines postdramatischen Textes, einer Textfläche, die ohne Figuren auskommt, im Zentrum der Beobachtung (vom 22. Februar bis 16. April 2016 teilnehmend beobachtet von Claudia Petermann). Jeder dieser Probenprozesse ist ein eigenes kleines Universum, vom klassischen Drama wie Faust, über die Sonette Shakespeares, Fassbinders Filmadaption, bis hin zur Montage dokumentarischen Textmaterials mit dem Theaterstück von Max Frisch oder zum postdramatischen Theatertext von Elfriede Jelinek. Bereits hier zeigt sich ein Charakteristikum des zeitgenössischen deutschsprachigen Theaters, das sich nicht mehr an Genres und Gattungen bindet, sondern eine Vielfalt von Textformen aufweist. Die Werke werden dabei in performative Prozesse aufgelöst, beispielsweise durch die Dekonstruktion von Theaterstücken oder die Fragmentierung von Figuren.7 Es geht weniger um die „Umsetzung“ einer Textvorlage als vielmehr um die Behandlung des Textes als Material und die Hervorbringung einer neuen Wirklichkeit. Eine Strategie für die Behandlung des Textes als Material, die wir zumindest in drei der fünf Probenprozesse beobachtet haben, ist ein Ansatz, der als intertextuelle Arbeitsweise bezeichnet werden soll. Der literaturwissenschaftlich geprägte Begriff der „Intertextualität“ stellt aus unserer Sicht einen Schlüsselbegriff nicht nur für die Beschäftigung mit postdramatischen Texten, sondern auch mit postdramatischen Inszenierungs- und Arbeitsweisen dar. Er eröffnet eine Perspektive für die sprechkünstlerische Arbeit des Schauspielers mit dem Text. Intertextuelle Arbeitsweisen Der Begriff Intertextualität wurde von Julia Kristeva geprägt und verweist auf alle Bezüge eines literarischen Textes auf andere literarische oder auch außerliterarische Texte.8 Im Anschluss an Michail Bachtins Begriff der Dialogizität fasst Kristeva mit dem Begriff der Intertextualität einen Text „als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes“9. Er bezeichnet die Qualität aller
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literarischen Texte, die die Vorstellung einer Autorintention und der Einheit und Abgeschlossenheit des einzelnen literarischen Werks unterminieren.10 Eine „Absage an das Geniekonzept und die individuelle AutorInnenfigur“11 findet sich auch in den Theatertexten der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek wieder. Ihre Texte konstituieren sich durch intertextuelle Verfahren wie Collage und Montage. Zitate fremder Quellen werden aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen, nebeneinandergesetzt und mit eigenen Texten Jelineks gemischt. Sie zerstört bestehende Text- und Bildzusammenhänge mit dem Ziel, „die dadurch freigesetzten Diskurselemente neu und anders zusammenzuführen“12. Auch den Schauspieler fordert Jelinek auf dem Weg zum Stück auf, „sich und seine Vorstellungen mitautorschaftlich in den Text hineinzuschreiben, ihn sich anzueignen, radikal damit umzugehen“13. Damit stärkt sie die Autorschaft des Schauspielers bzw. Regisseurs. Dieses Zitierverfahren als konstitutives Moment der Intertextualität bei Jelinek stellt im Umgang mit dem Stücktext eine große Herausforderung für die Schauspielerinnen und Schauspieler und ihr Regieteam dar, so auch innerhalb des Probenprozesses zur Uraufführung von Jelineks Stück Wut an den Münchner Kammerspielen in der Regie von Nicolas Stemann. Das Stück entstand wenige Wochen nach dem Anschlag auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo am 7. Januar 2015. Im Zentrum stehen die Attentate auf die acht Redaktionsmitglieder des Magazins, zwei Polizisten und vier Kunden eines jüdischen Supermarktes. Jelinek mischt in ihrem Stück die zerstörerische Wut islamistischer Terroristen mit einem „Wut-Chor“, den Stimmen anderer Gotteskrieger, politischer Bewegungen (AfD, Pegida), aber auch die der „Shitstormer“ der Internetforen und des antiken Helden Herakles, der im Wahn die eigene Familie auslöscht.14 So entsteht eine vielstimmige Textfläche zum Thema „Wut“, ihren Erscheinungsformen und der Ohnmacht, die angesichts des Terrors bleibt, den sie auslöst. Der Text vereint spezifische Merkmale eines postdramatischen Theatertextes, der ohne Figurenzuweisungen, aus einem in 142 Absätze gegliederten, 114 Seiten langen Prosatext besteht. „Prinzipien von Narration und Figuration“ werden vernachlässigt, die Fabel wird zugunsten der Sprache zurückgedrängt.15 Elfriede Jelinek etablierte bereits 1983 für ihre Texte den Begriff der „Textfläche“, für den „überindividuelle Diskurse“ sowie „intertextuelle Allusionen“16 im Sinne der Bezugnahme auf Personen, Ereignisse und Literatur charakteristisch sind. Bedeutungsschichten überlagern sich, es bleibt unkenntlich, wo sich der Beginn und das Ende eines Zitats im Text befinden, oftmals auch, wer gerade spricht.
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Der jelineksche Text besteht aus vielen Stimmen, die sich aus diversen Diskursen und Texten speisen und verschiedene Bedeutungsebenen im Text eröffnen.17 Während der vier Leseprobentage zu Beginn, aber auch im Verlauf der gesamten Probenarbeit spielt das Klären von Referenzen und Bezügen des Stücktextes zu anderen Quellen daher eine große Rolle. Oftmals lässt sich über das Diskutieren und stellenweise „Rätselraten“, was gerade gemeint sein könnte, keine Eindeutigkeit oder Klarheit erreichen. Jelinek listet ihre Referenztexte teilweise auf. Einer davon wird am fünften Probentag gemeinsam im Original gelesen (Der rasende Herakles von Euripides). Das Nicht-Verstehen, die schwere Deutbarkeit des Jelinek-Textes führt das Ensemble dahin, weitere Sekundärquellen hinzuzuziehen. So schaut man sich ausführlich verschiedenes Videomaterial an und diskutiert es anschließend. Dieses dient gleichzeitig als Inspirationsquelle für szenische und darstellerische Transformationen des Themas Wut. Insbesondere die Internetplattform YouTube wird in Verbindung mit den Kommentaren der Nutzer für eine Erweiterung der Thematik genutzt. Konkrete Kommentare (z. B. zu verschiedenen Konzerten des Stücks Piano Phase von Steve Reich) geben den Impuls für die Beschäftigung mit den Themen „shitstorm“ oder „hate speeches“ im Internet als einer Form der öffentlichen, aber anonymen Entäußerung von Wut. Auf diese Weise werden dem Jelinek-Text weitere Realitätsebenen hinzugefügt.18 Zitate aus dem originalen Stücktext werden assoziativ vermischt mit aus anderen Quellen gewonnenen Inspirationen. Dieses Vorgehen kann als kollektives Assoziieren und Entwickeln von Spielideen verstanden werden und dient als eine Strategie der Texterarbeitung. Nicht eine bereits vorliegende Deutung des Textes, sondern die frei assoziierten Ideen während des Textlesens werden somit zur Referenz, wie der Text verstanden und gesprochen werden kann. Auch in den anderen von uns beobachteten Probenprozessen konnten wir einen intertextuellen Umgang mit der Textvorlage feststellen, indem den Stücken Zitate oder andere Texte hinzugefügt wurden. Beispielsweise wurde in die Vorlage der Inszenierung Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch in der Regie von Volker Lösch am Theater Basel umfangreiches zusätzliches Textmaterial eingebaut. Die Produktion drehte sich um das Verhältnis der Schweizerinnen und Schweizer zu den in der Schweiz lebenden Migrantinnen und Migranten. Hervorzuheben ist die Generierung authentischer Texte durch einen sogenannten Chor der Migranten, der aus 14 Frauen und Männern unterschiedlicher Nationen bestand. Die Laien leben alle im Raum Basel und haben einen Migrationshintergrund. Mit ihnen wurden bereits im Vorfeld der Pro-
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benarbeiten Interviews geführt, aus denen wiederum neues Textmaterial für die Inszenierung gewonnen wurde. Die Migrantinnen und Migranten wurden zu ihrer Lebenssituation in der Schweiz befragt und kamen als Chor innerhalb der Inszenierung zu Wort. Aus den Interviews entstand ein umfangreiches Textmaterial, das innerhalb eines aufwendigen Prozesses gekürzt, nach Themen kodiert und in das Stück Biedermann und die Brandstifter montiert wurde. Die Generierung zusätzlichen Textmaterials konstituierte den Inhalt der Inszenierung erst während des Probenprozesses und nimmt damit eine performative Dimension ein. Zwar stand das Thema Migration als Gegenstand der Lösch-Produktion fest, aber welche Aussagen die interviewten Menschen unterschiedlicher Herkunft machen würden, war nicht absehbar. Ihre Äußerungen bildeten die Grundlage für das zusätzliche Textmaterial und beeinflussten somit auch das Bild, das gezeichnet werden sollte. Hier ging es also ebenfalls nicht um die Umsetzung einer Textvorlage, sondern um die Hervorbringung einer neuen Wirklichkeit, die den performativen Umgang mit Texten im zeitgenössischen Theater auszeichnet.19 Zusammenfassend lassen sich unter eine intertextuelle Arbeitsweise das „Hinzufügen weiterer Realitätsebenen und Zitate“20, die Verwendung anderer (auch authentischer) Textmaterialien sowie die Montage heterogener Texte, Bilder und Filme subsumieren.21 So wie das Zitierverfahren auf textueller Ebene, beispielsweise bei Elfriede Jelinek, seinen Zweck darin findet, „die Operationen offenzulegen, denen sich die Entstehung von Texten verdankt und die interessegeleitete Künstlichkeit vorzuführen, die sie kennzeichnet“22, legt auch der intertextuelle Umgang mit Texten die Prozessualität einer Inszenierung frei bzw. stellt sie – auch auf Aufführungsebene – aus. Die intertextuelle Struktur derartiger Texte eröffnet die Perspektive auf einen prozessorientierten, offenen, fragmentarischen, polysemantischen Umgang mit einem Text. Methodische Zugänge der Texterarbeitung Wir möchten nun auf verschiedene methodische Zugänge eingehen, die wir im Umgang mit den Texten beobachtet haben. Es lassen sich bestimmte Tendenzen erkennen, die wir unter den folgenden Schlagworten systematisieren: Intervokalität, Musikalisierung, Synchronisation. 1. Intervokalität Nicht nur das Zitieren anderer Texte, sondern auch das Zitieren konkreter Sprechweisen wird in Stemanns Inszenierung von Jelineks Stück Wut für die Entwicklung von Szenen und Figuren genutzt. Beispielsweise wird das YouTube-Video eines Attentäters sowohl für eine szenische
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Idee als auch für die sprecherische Gestaltung des Jelinek-Textes hinzugezogen. Die Schauspielerin zitiert körperliche Posen, den Gestus und die Sprechweise des Attentäters aus seinem Bekennervideo. Das Zitieren stimmlicher und sprecherischer Charakteristika wird von der Theaterwissenschaftlerin Helga Finter in Analogie zum Intertextualitätsbegriff als „Intervokalität“ bezeichnet.23 Dieser Begriff eröffnet uns methodische Ansatzpunkte für die Erarbeitung eines Textes und/oder einer Szene und soll im Folgenden anhand eines weiteren Beispiels aus unseren Probenbeobachtungen erläutert werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Erarbeitung der Szene „Gretchens Martyrium“ während des Probenprozesses zur Inszenierung Faust. Der Tragödie Erster Teil in der Regie von Claudia Bauer am Konzerttheater Bern. Diese Szene besteht aus eigentlich drei Szenen des Goethe-Stücks („Am Brunnen“, „Nacht“ und „Dom“24), die größtenteils dialogisch mit mehreren Figuren angelegt werden. Nach der ersten Hauptprobe entscheidet die Regisseurin, die drei Szenen komplett zu verändern. Drei Tage vor der Premiere wird die Schauspielerin des Gretchen vor die Herausforderung gestellt, alle drei Szenen allein zu bewältigen. Dafür werden die drei dialogisch angelegten Szenen monologisiert. Die Texte aller Figuren sollen nun von der Darstellerin allein gesprochen werden. Vortrag statt Einfühlung: Auf Anweisung der Regisseurin nähert sich die Schauspielerin der neuen Szene nicht primär über die Einfühlung in die Figur des Gretchen oder der anderen Figuren, sondern behandelt sie eher wie einen Vortrag. Sie baut eine Distanz zum Text und zur Situation der Figur auf. Diese Distanz wird zum einen durch die Ansage der Regieanweisungen durch die Schauspielerin selbst hergestellt, zum anderen durch die Benutzung des Textbuchs auf der Bühne. Die Schauspielerin liest den Text teilweise aus dem Textbuch ab und hebt damit die Illusion auf, dass sie eine Figur verkörpere. Sie markiert bzw. zitiert sie vielmehr. Auf diese Weise wird die Präsenz der Schauspielerin wahrnehmbar, die nicht hinter der Figur verschwindet. Das Weglegen des Textbuchs markiert dann wiederum den Moment, in dem die Schauspielerin in die Figur des Gretchen einsteigt. Zudem wird die Distanz zur Figur und zum Text in der Sprechweise spürbar. Die Sprechgestaltung der Schauspielerin wechselt zwischen dem Zitieren und Lesen von Textteilen aus dem Textbuch, einem musikalisiert-rhythmisierten Sprechen, dem Mitsprechen von Auftritten und Regieanweisungen bis hin zu einem figurenidentifizierenden Gebrauch von Stimme und Sprechweise.
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Interessant dabei ist, dass die Schauspielerin für die Entwicklung dieser Szene die Sprechweisen und prosodischen Muster der drei anderen Schauspieler nutzt, die diese während des Probenprozesses für die ursprünglich dialogisch angelegten Szenen entwickelt hatten. Sie zitiert die von den drei anderen Schauspielern auf den Proben erarbeiteten Sprechmelodieverläufe, Akzentuierungsweisen und Haltungen, um die in der Szene abwesenden Figuren zu markieren. Diese Art des Sprechens kann als intervokale Sprechweise bezeichnet werden und soll an dieser Stelle wie folgt definiert werden: Eine intervokale Sprechweise markiert den Bezug der Sprechweise eines Sprechers bzw. einer Darstellerin auf die Sprechweise einer oder mehrerer anderer Personen und meint das Zitieren sprecherisch-stimmlicher Charakteristika. Der Begriff „Zitat“ beschreibt in diesem Zusammenhang sowohl das Zitieren des Textes, der nicht im Sinne einer Figurenverkörperung gesprochen wird, als auch das Zitieren einer oder mehrerer Figuren, die durch einen Schauspieler bzw. eine Darstellerin nicht verkörpert, sondern markiert werden. Eine intervokale Sprechweise kennzeichnet stets die Abwesenheit anderer Personen. Sie ermöglicht das Erzeugen von Vielstimmigkeit allein durch einen Schauspieler bzw. eine Sprecherin.25 Mit intervokalem Sprechen kann auf der Bühne eine Polyphonie von Stimmen und potentiellen personae durch eine Sprechende/einen Sprechenden erzeugt werden, wobei es nicht nur die soziokulturelle Konstruiertheit des Stimmlichen zu betonen, sondern gleichfalls eine eindeutige Subjektzuschreibung zu irritieren vermag.26 Die Schauspielerin erzeugt durch den intervokalen Gebrauch der Stimme und Sprechweise eine Vielstimmigkeit, die wiederum den Zustand der Figur Gretchen aufdeckt. Sie deckt diesen Zustand nicht mittels einer realistischen Darstellungsweise auf, sondern durch die Monologhaftigkeit ihrer Rede (der Schauspielerin wurden die Spielpartner genommen, sie muss drei dialogisch angelegte Szenen allein spielen, was die Einsamkeit der Figur Gretchen verstärkt bzw. aufdeckt) sowie durch den intervokalen Gebrauch ihrer Stimme und Sprechweise. Dieses Vorgehen impliziert das Prozesshafte auch innerhalb der Darstellung bzw. innerhalb der Aufführung, da der Entwicklungsprozess der drei Szenen durch die verschiedenen Spiel- und Sprechweisenwechsel sichtbar bleibt. Der intervokale Ansatz trägt das Potential in sich, die fließende Grenze zwischen einer realistischen Spielweise, welche die Illusion des Theaters aufrechterhält, und der Entlarvung dieser Illusion durch performative Formen des Spiels
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und des Sprechens bewusst zu machen und die Grenze zwischen dem Ausstellen der eigenen Person und dem Spielen einer Figur auszuloten. Das Erzeugen von Vielstimmigkeit ist neben dieser Form der Monologisierung und dem intervokalen Gebrauch von Stimme und Sprechweise auch ein Aspekt vieler Musikalisierungsprozesse, die wir in allen fünf Produktionen beobachtet haben. Die musikalische Arbeit am Text ist mittlerweile ein weit verbreitetes Phänomen im Theater der Gegenwart, sei es in chorischen Formen, in polyphonen Diskursen oder in Gestaltungsformen, welche die Materialität des Sprechens und der Stimme ausstellen. Wir möchten im Folgenden einige methodische Aspekte diesbezüglich in den Blick nehmen. 2. Musikalisierung Polyphone Gestaltung eines Textes: Die Regisseurin Claudia Bauer wollte für ihre Faust-Inszenierung am Konzerttheater Bern eine „andere“ Form für die großen Faust-Monologe finden. Sie wollte Musik daraus machen, eine Art „Gebetsmühle“, in welcher der Zustand Fausts spürbar und erlebbar wird. Hierfür wurden die Faust-Monologe auf besondere Weise musikalisiert und rhythmisiert und zunächst von Peer Baierlein, dem Musiker und Komponisten, mit dem die Regisseurin in vielen ihrer Produktionen zusammenarbeitet, als „Sprechgesang“ komponiert und in eine Partitur gesetzt.27 Der berühmte Faust-Monolog („Habe nun ach …“) wird dabei durch verschiedene Vorgehensweisen fragmentiert. Zu Beginn wird eine Bild- und eine Sprachebene entwickelt und auf diese Weise eine Trennung von Spiel und Sprache vollzogen. Auf der Bildebene agiert ein Schauspieler als Faust ausschließlich körperlich. Sein Spiel wird als Video auf eine Leinwand projiziert. Parallel dazu stehen auf der Vorderbühne zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler und sprechen die Texte Fausts jeweils in ein Mikrofon. Die Figur Faust wird auf diese Weise dekonstruiert und auf verschiedene Sprecherinstanzen verteilt. Für die Komposition des Faust-Monologs nutzt Baierlein verschiedene Techniken aus der Minimal Music, z. B. die Aneinanderreihung und Wiederholung rhythmischer Muster oder auch die Überlagerung und Wiederholung der einzelnen Abschnitte. In einem ersten Schritt wird der Text in mehrere Abschnitte unterteilt und rhythmisch innerhalb eines 4/4-Takts fixiert. Einzelne Textstellen werden auf rhythmische Motive gelegt, die innerhalb eines Abschnitts wiederholt werden. Auch die Abschnitte als Ganzes werden wiederholt, d. h., bestimmte Textstellen werden geloopt und durch mehrmaliges Sprechen mehrfach wiederholt. Zusätzlich werden die einzelnen Abschnitte als Textfragmente überlagert und von den vier Stimmen parallel gesprochen. Auf
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diese Weise findet eine Dekonstruktion des Textes statt und es entsteht ein polyphoner Sprechgesang, der den Rhythmus als sinnlich-materielles Phänomen des Sprechens hervorbringt und damit die Wirklichkeit Fausts konstituiert. Das Interessante in Bezug auf die Sprechgestaltung ist, dass sich der Sprechrhythmus nicht aus dem Denk-Sprech-Vorgang der vier Sprecherinnen und Sprecher oder aus einer konkreten Sprechhaltung ergibt, sondern durch die einzelnen musikalischen Motive und deren Wiederholung bzw. durch die Gesamtkomposition bestimmt ist. Interessant ist weiterhin, dass die sprecherische Gestaltung der Partitur ein rhythmisiertes bzw. skandierendes Sprechen hervorbringt, das innerhalb der Sprecherziehung normalerweise allenfalls als Hilfsmittel dient, um die metrische Form eines Textes zu erschließen, hier aber stilisiert und bis zur Aufführung gebracht wird. Während des Probenprozesses fiel es den Schauspielerinnen und Schauspielern schwer, mit dieser musikalisiert-rhythmisierten Form des Sprechens umzugehen. Zunächst ging es in der Erarbeitung des Sprechgesangs um die sprecherische Realisation der Kompositionsstruktur und des vorgegebenen Rhythmus. Im Verlauf des Probenprozesses fordert die Regisseurin Claudia Bauer dann die Darsteller zunehmend auf, freier mit dem rhythmisierten Text umzugehen, ihn mehr „mit Leben zu füllen“, wie sie sagt. Das führt dazu, dass die einzelnen Sprecher den Text mit individuellen Sprechhaltungen verbinden und versuchen, den Text auf eine konkreter gedachte semantische Ebene zu bringen, worum es der Regisseurin aber nicht geht. Claudia Bauer arbeitet innerhalb dieses Faust-Monologs – bewusst oder unbewusst – nicht explizit an einzelnen Haltungen, sondern an dynamischen, musikalischen Aspekten. An dieser Stelle prallten die Regiekonzeption und das schauspielerische Selbstverständnis, einen Text auf sein Sinnverständnis hin zu sprechen, aneinander. Es war auffällig, dass die Schauspieler bzw. Sprecherinnen, je geübter sie im musikalisiert-rhythmisierten Sprechen wurden (auch im Verlauf der Aufführungen), desto häufiger konkrete individuelle Sprechhaltungen einnahmen. Dies allerdings unterminierte die inhaltliche Dimension der Musikalisierung und Rhythmisierung. Die repetitive Struktur der Komposition impliziert eben keine musikalische Entwicklung, keinen Spannungsaufbau, sondern eher eine Serialität, die mit der Interpretation des Textes korrespondiert bzw. den Inhalt überhaupt erst ermöglicht. Der Zustand der Unveränderlichkeit des faustischen Strebens konstituiert sich überhaupt erst durch das rhythmisierte und musikalisierte Sprechen, in der Auffälligkeit und Gleichförmigkeit des Sprechrhythmus auf einer performativen Ebene. Hier erfolgt das Spre-
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chen nicht aus einer konkreten (dramatischen) Situation heraus, sondern stellt die Situation erst her und damit aus. Der Zustand Fausts manifestiert sich als Gestus der Rhythmisierung und nicht in den individuellen Sprechhaltungen der Schauspieler. Für die Schauspielerinnen und Schauspieler ergibt sich hier eine Herausforderung, die als Fähigkeit zum musikalischen Sprechdenken benannt werden soll. Die chorische Gestaltung des Faust-Monologs, das wiederholte Sprechen der rhythmischen Motive und einzelnen Abschnitte, die Überlagerung der Textfragmente und der vier verschiedenen Stimmen, die Fragmentierung der Figur, die Trennung von Spiel und Sprache etc. erzeugen eine polyphone Vielstimmigkeit bzw. eine polyphone Sprech- und Darstellungsweise. Diese ermöglicht es Schauspielern, verschiedene Stimmen eines Inneren, verschiedene Aspekte eines Themas oder verschiedene gestische Momente eines Grundgestus aufzudecken. Ein Text wird auf diese Weise nicht mehr nur in seiner Horizontalität, d. h. in seinem chronologischen Verlauf, sondern auch vertikal erfasst und bearbeitet. Vertikal, indem zum einen über die Polyphonie der Stimmen die Vielstimmigkeit der inneren Gedankenwelt der Figur offengelegt wird, zum anderen indem über das Ausstellen und Wahrnehmbarmachen des Sprechrhythmus der unveränderliche Zustand Fausts für den Zuschauer bzw. Hörer zum Bewusstseinszustand wird. Denn nicht der Inhalt des Textes, der sinnvermittelnd gesprochen wird oder eine klar erkennbare Haltung der Figur sowie des Schauspielers zum Gesagten lassen den Zustand der Unveränderlichkeit, die Mühle des ewigen faustischen Strebens erkennen, sondern im Rhythmus des Sprechens, in seiner Musikalität wird dieser Stillstand für den Zuschauer erfahrbar. Damit das gelingt, müssen die Schauspielerinnen und Schauspieler den Text nicht nur auf semantischer Ebene denken und gestalten, sondern ein musikalisches Bewusstsein dafür entwickeln, dass sich der Zustand Fausts als Erfahrung für den Zuschauer auf einer Metaebene durch die Musikalisierung herstellt, in dem Fall durch ein Wahrnehmbarmachen des Rhythmus.28 Diese Fähigkeit zum musikalischen Sprechdenken ist in allen chorischen Formen des Sprechens erforderlich sowie in Bereichen der Textarbeit, welche die Materialität des Sprechens und der Stimme ausstellen, d. h., sprecherisch-stimmliche Mittel wie Sprechgeschwindigkeit, Pausen, Akzentuierungsweisen oder den Stimmklang als besonders auffällig hervortreten lassen. Das Chorsprechen begegnete uns in den Arbeiten von Lösch und Stemann, die Benutzung sprechkünstlerischer Mittel als sprechkünstlerische Phänomene29 bei Kennedy, Bauer und Chétouane.
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Chorische Textarbeit: Strategien der sprecherisch-stimmlichen Musikalisierung werden vor allem im Rahmen der chorischen Textarbeit notwendig. Zu ihnen zählt beispielsweise die Rhythmisierung, d. h. das Festlegen von Zäsuren, Pausen und Akzenten, weiterhin die Phrasierung als das Zusammenspiel von Rhythmus, Dynamik und Artikulation, das im Chorsprechen fixiert werden muss, oder die Instrumentierung, die der Gestaltung der Klangfarbe eines Chors dient und als die „Einrichtung eines Textes auf verschiedene ‚Stimmen‘ und Stimmgruppen“30 verstanden wird. Diese Strategien wurden als methodische Ansätze einer musikalischen Arbeit am Text anhand des Probenprozesses von Volker Lösch und seinem Chorleiter Bernd Freytag von Kiesler herausgearbeitet.31 Es ist auffällig, dass die rhythmische und musikalische Struktur der Chortexte in Löschs Produktion einer semantischen Gliederung und Phrasierung oftmals widerspricht. Das Verhältnis von Text und Musikalisierung lässt sich in Formen der traditionellen Sprech- und Schauspielkunst meist zugunsten der Textverständlichkeit, zugunsten der „Umsetzung“ des Textes auslegen (mit Ausnahme der sprechkünstlerischen Erarbeitung dadaistischer Formen oder von Texten aus dem Bereich der konkreten Poesie). In Verfahren der Texterarbeitung, die einen musikalischen Umgang mit Texten einschließen, wie beispielsweise der chorischen Textarbeit, ist das Verhältnis von Text und Musikalisierung ein besonderes, insofern die Musikalisierung in den Vordergrund drängt bzw. Textinhalte und Textstrukturen überformt werden. Dies wird von den Chorsprechern teilweise als Einschränkung erlebt und sorgt auf der Bühne für Irritation, weil die Choristen das Gefühl haben, „dass die Zuschauer nichts verstehen“32. Gerade aber in der Abweichung vom Gewohnten liegt die Gelegenheit einer Wahrnehmungserfahrung, die deshalb selbst reflektiert werden kann.33 Nicht allein das Verstehen, sondern das Hören des Textes kann zu einem sinnlichen Erlebnis werden, das auf andere Weise einen Zugang zum Inhalt eröffnet. Erst hier wird die ästhetische Erfahrung des Zuschauers möglich, die einen zentralen Aspekt für das Performative im zeitgenössischen Theater darstellt. Angefügt sei an dieser Stelle noch, dass eine umfassende Aufarbeitung methodischer Ansätze der chorischen Textarbeit allgemein aussteht. Der Chor ist aus dem Theater der Gegenwart nicht mehr wegzudenken. Insofern gehört auch das Chorsprechen zu einer Erfahrung, die jeder Studierende in seiner Ausbildung zum Schauspieler machen sollte. Volker Lösch und sein Chorleiter Bernd Freytag veranschaulichen dies, wenn sie formulieren: „Und dann muss auch Chorsprechen ein Kriterium sein. Warum wird Chorsprechen nicht als Fach angeboten auf
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Schauspielschulen?“34 Laut den Aussagen von Volker Lösch wird das Chorsprechen von vielen Schauspielern abgelehnt, „weil sie sich beschränkt fühlen in ihrer Individualität“35. Dabei könne der einzelne Schauspieler vom Chorsprechen extrem profitieren in Bezug auf das Individuelle. Chorsprechen kann für den einzelnen Schauspieler eine große Chance sein, sein individuelles schauspielerisches und sprechkünstlerisches Spektrum zu erweitern. Auch der Chorleiter Bernd Freytag spricht über die Schwierigkeiten vieler Schauspielerinnen und Schauspieler mit der chorischen Form, die er während seiner Zusammenarbeit mit dem Regisseur Einar Schleef erlebt hat. Man konnte erleben, wie die Schauspieler aus dem Ensemble sich gegen diese [von Einar Schleef verfasste] Partitur sperrten, ihr nicht folgen wollten oder konnten. Ich glaube, es war schwierig für sie, ihre Kompetenzen abzugeben, das psychologische Spiel, und sich musikalischer Kompetenzen zu entsinnen, sich wie Instrumente zu begreifen. Schauspieler denken in Rollenfächern oder Figurenkonstellationen, die wollen sich realisieren. Das hat Schleef nicht interessiert, der wollte einen Komplettchor mit Solisten. Der Solist, eher ein Darsteller als ein Schauspieler – das ist ein Unterschied! – ist der, der aus dem gemeinsamen Rhythmus, dem gemeinsamen Herztakt heraustritt. Der vortritt. Das ist vielen sehr schwer gefallen. Die konnten das Individuelle nicht abgeben, sich der gemeinsamen Sprache, der Chorsprache nicht hingeben.36 Schleef und viele Regisseure nach ihm, darunter auch Volker Lösch und Bernd Freytag, finden im chorischen Spiel eine Form der Darstellung, die eine vielstimmige Figur mit einer gemeinsamen Erfahrungswelt ermöglicht. Der Chor definiert sich dabei nicht hauptsächlich durch Synchronität, „sondern durch eine gemeinschaftlich produzierte, aufeinander bezogene Verteilung von Stimmen/Körpern/Agenten im Raum, die an Artikulationsformen von Erfahrungen und einer Form von Öffentlichkeit arbeiten, die im Modus von Identität nicht zu haben sind“37. Chorisches Spiel bzw. Chorsprechen in die Schauspielausbildung zu integrieren, bedeutet demnach vor allem, darstellerische Kompetenzen auszubilden, die das Verständnis von „Darstellen“ oder „Schauspielen“ im zeitgenössischen Theater erweitern. Es gilt, das Spannungsverhältnis zwischen Individualität und Gemeinschaft, zwischen Subjektkonstitution und vielstimmiger Figur zu untersuchen und darstellerisch zu erproben. Die chorische Form wird vielen postdramati-
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schen Theatertexten wie jenen von Heiner Müller oder Elfriede Jelinek gerecht, die sich durch ebendiese konstitutive Vielstimmigkeit auszeichnen, in denen hinter der Rede einer Figur viele Stimmen sprechen oder gar keine Figurenrede mehr zu finden ist. Allein das bietet Grund genug, den Chor als festen Bestandteil in die Schauspielausbildung zu integrieren.38 Ausstellung der Materialität gesprochener Sprache: Musikalisierungsbzw. Rhythmisierungsprozesse stellen ebenfalls einen Zugang zum Text dar, um die den Texten Elfriede Jelineks innewohnende Vielstimmigkeit hörbar zu machen. Unter dem Begriff Musikalisierung können in der Probenarbeit des Regisseurs Nicolas Stemann verschiedene Strategien zusammengefasst werden, die sich dem Text unter rhythmisch-musikalischen Gesichtspunkten nähern. In der Probenarbeit werden gemeinsam mit den beiden langjährigen Bühnenmusikern, dem Regisseur und dem Ensemble ebendiese Zugänge gesucht. So wird bereits während der Leseproben intensiv über das Sprechtempo und dessen Variationen gearbeitet. Dabei steht weniger das sinnverstehende Lesen im Vordergrund als ein Experimentieren mit dem sehr schnell gesprochenen Text, der das Textverständnis erschwert und mehr Klang bzw. Zustand als Inhalt transportiert. Das Sprechtempo wird hierbei als dynamisches Mittel genutzt, um einen Zugang zum Text zu erlangen, ein sehr hohes Lesetempo erschwert das Sinnverständnis bzw. macht es unmöglich. Das Erschließen des Textes geschieht somit auf einer musikalisch-rhythmischen Ebene und nicht ausschließlich auf der semantischen Ebene. Tempo und Dynamik transportieren den Inhalt des Gesagten, was als performativer Zugriff auf den Text gewertet werden kann, der im Widerspruch zum sinnerfassenden, langsamen Lesen steht, das üblich ist, um sich einem Text zu nähern. Ebenso wird mit großen Dynamikwechseln und unterschiedlichen stimmlichen Äußerungsformen (Schreien, Flüstern, Singen), zusätzlicher Untermalung und Dynamisierung des gelesenen Textes mit Musik oder gesungenen Tönen bzw. Textpassagen experimentiert. Dabei entstehen Klangteppiche, bei denen der Inhalt des Gesagten phasenweise komplett in den Hintergrund tritt. Auch chorisches Sprechen und überlappende Passagen werden ausprobiert. Insbesondere das Mischen von gesprochenem und gesungenem Text wird als Stilelement für die Bühne etabliert. So sprechen beispielsweise in einer Szene drei Schauspielerinnen zeitversetzt die gleiche Textpassage solistisch, während eine vierte Schauspielerin denselben Text darüber singt. Die Materialität des Sprechens und der Stimme werden hierbei vordergründig wahrnehmbar, während die Verständlichkeit des Inhalts deutlich erschwert bzw.
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unmöglich wird. Dies knüpft wiederum an die bereits im Kontext der chorischen Textarbeit beschriebene sinnliche Hör-Erfahrung als ästhetische Erfahrung des Zuschauers und somit als Zugangsmöglichkeit zum Text an. Mithilfe aufgenommener Wiederholung bedient sich Nicolas Stemann eines weiteren musikalischen Grundprinzips. So bietet ein Schauspieler während der Proben die Idee an, Textfetzen mithilfe einer LoopApp auf dem Handy aufzunehmen. In diese aufgenommenen Textsequenzen sprechen dann zwei weitere Schauspieler live ihren Text ein. In der Verbindung zwischen live gesprochenem und gelooptem Text sowie der hinzukommenden Musik ergibt sich eine sich wiederholende rhythmische Struktur, die als Grundgerüst für die beiden anderen Schauspieler dient. Der Ausgangstext wird somit benutzt, um mithilfe von Wiederholungen eine neue rhythmische Struktur zu erarbeiten, die die gesamte Szene strukturiert. Das Attentatsgeschehen, das in dieser Textpassage beschrieben wird, wird in der Szene nicht gespielt oder dargestellt, sondern über eine musikalisch-rhythmische und eine visuelle (ebenfalls durch die sich drehenden Schauspieler rhythmisierte) Ebene transportiert. Dies kann als performativer Zugriff auf den Text verstanden werden. Die Bedrohlichkeit des Attentats wird hier nicht über das Spiel hergestellt, das Attentat wird nicht ausagiert oder dargestellt, sondern der Zustand der Bedrohlichkeit wird über den musikalisierten Text transportiert. Ein stark rhythmisierter Text wird mithilfe von Wiederholungen und Überlagerungen unterschiedlicher stimmlicher Äußerungen verdichtet und auf der visuellen Ebene (rotes Licht, kreiselnde Bewegungen der Schauspieler, Einsatz von Videobildern der Gesichter der Schauspieler auf zwei großen Leinwänden) noch zusätzlich verstärkt. So entsteht eine SoundText-Bild-Collage, die indirekt auch auf die Ursprünge dieses Verfahrens in Form von Collagen in der bildenden Kunst und Montagen in der Filmkunst verweist.39 Das Prinzip der Überlappung und Vielschichtigkeit des Textes wird somit hörbar gemacht, in dem nicht die Einzelstimme, sondern der „diffuse Klangkörper“40 aus verschmelzenden Einzelstimmen zum Klingen kommt. Musikalisierung kann somit als eine Strategie verstanden werden, um die intertextuelle Struktur, die Jelineks Texten innewohnt, zu transportieren und deren Vielstimmigkeit zum Klingen zu bringen. Aus der Herausarbeitung verschiedener methodischer Ansätze lässt sich eine Vorstellung dessen ableiten, was unter einer „musikalischen Arbeit am Text“ verstanden werden kann. Auf die Herangehensweisen im Einzelnen, zu denen die polyphone Gestaltung von Texten, die cho-
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rische Textarbeit sowie Verfahren, welche die Materialität des Sprechens und der Stimme ausstellen, gehören, kann im Rahmen dieses Artikels nicht weiter eingegangen werden. Hierfür verweisen wir auf die methodische Reflexion einiger Verfahren, die wir bereits innerhalb diverser Artikel veröffentlichen konnten41 bzw. auf zukünftige Publikationen, in denen darüber zu lesen sein wird42. An dieser Stelle soll lediglich festgehalten werden: Innerhalb einer musikalischen Arbeit am Text werden sprecherisch-stimmliche Mittel als musikalische Mittel festgelegt. Unter Umständen kann eine musikalische Textbehandlung die musikalische Notation eines (dramatischen) Textes für die sprecherische Transformation beinhalten. Eine musikalische Texterarbeitung gliedert einen Text eher rhythmisch als semantisch. Dabei können beispielsweise Akzente, Zäsuren und Pausen oder Phrasierungselemente wie Sprechrhythmus, Dynamik und Artikulation den inhaltlich naheliegenden widersprechen und als auffällig hervortreten. Der Einsatz sprecherisch-stimmlicher Mittel, wie Sprechrhythmus oder Stimmklang, erfolgt auf hoher Bewusstseinsebene und ordnet sich nicht primär intuitiv einem Gestus unter. Sie werden als sprechkünstlerische Phänomene aus bestimmten Musikalisierungsstrategien, wie beispielsweise der Rhythmisierung oder Instrumentierung, hervorgebracht und geben den Agierenden die Fähigkeit, einen ästhetischen Erfahrungsraum zu öffnen. Sie befördern ein musikalisches bzw. sinnliches Hören, was vom Schauspieler wiederum die Fähigkeit zum musikalischen Sprechdenken voraussetzt. Einen Text musikalisch zu denken und sprechkünstlerisch zu erarbeiten, bedeutet dabei nicht zwingend, ihn als Partitur in eine Komposition zu setzen, sondern Sprache über bestimmte Verfahren der Verfremdung als Musik zu verwenden und darüber Themen, Inhalte und Bedeutungen auf einer performativen Ebene entstehen zu lassen.43 3. Synchronisation Ein weiteres Verfremdungsverfahren haben wir mit dem Prozess der Synchronisation beobachtet. Das eigentlich dem Film zugeordnete Mittel spielte u. a. im Probenprozess zu Warum läuft Herr R. Amok? in der Regie von Susanne Kennedy eine wichtige Rolle. Diese Inszenierung wurde aufgrund einer maßgeblichen konzeptionellen Setzung für die Beobachtung ausgewählt, da sie einen veränderten Umgang mit dem Thema Stimme und Sprechen auf der Bühne zwingend nahelegt – durch die Aufnahme des gesamten Stücktextes in Form eines vorab eingesprochenen und festgeschriebenen Playbacktextes. Vor Probenbeginn wurde der Stücktext in einem dreitägigen Aufnahmeprozess im Studio von Lai-
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ensprechern eingelesen und bildet somit das Textmaterial, mit dem die Schauspieler auf der Bühne arbeiten. Sämtliche Geräusche, Pausen sowie der gesamte Stücktext sind somit in Form einer Partitur festgeschrieben. Das bedeutet auch, dass die Schauspieler während der gesamten Inszenierung nicht selbst live sprechen, sondern tonlos ihre Lippen zum eingespielten Playbacktext bewegen. Bereits zum dritten Mal arbeitete die Regisseurin Susanne Kennedy in der Inszenierung von Fassbinders Filmvorlage mit einem vorab aufgenommenen Vollplayback und stellt damit eine Theaterkonvention – die des selbst sprechenden Schauspielers auf der Bühne – infrage. Hieraus ergeben sich spezifische Herausforderungen für die Schauspielerinnen und Schauspieler, die im Folgenden kurz umrissen werden sollen. Trennung von Körper und Stimme: Aus der über das Playback erreichten künstlichen Trennung der Stimmen von ihrem Ursprungskörper ergibt sich auf den Proben eine immer wieder auftretende Verwirrung über die Zuordnung der Laiensprecherstimmen zu den einzelnen Figuren. Zu Beginn jeder Probe muss geklärt werden, welchem Schauspieler im wahrsten Sinne des Wortes welche Stimme zugehörig ist, da diese sich untereinander nicht mehr an den eigenen, bekannten Stimmen erkennen. Demzufolge wissen die Schauspielerinnen und Schauspieler auch nicht, wessen Text gerade gesprochen wird. Dieses Zuordnen des Textes zur Figur sowie das Einhören in die Stimme der verschiedenen Figuren (auch im Sinne eines Wiedererkennens der fremden Laiensprecherstimmen) spielt im Probenprozess eine große Rolle und nimmt viel Zeit in Anspruch. Dazu wird der Playbacktext, oftmals auch unter Zuhilfenahme der Textbücher auf der Bühne, immer wieder durchgehört. Dies dient der stimmlichen Orientierung bzw. der Zuordnung der Schauspieler zu den fremden Stimmen. Erschwert wird dieses Zuordnen bzw. Erkennen des sprechenden Schauspielers zusätzlich durch das Tragen von Gummimasken, die die mimische Beweglichkeit einschränken bzw. zunichte machen.44 Anders als im Film leihen die Schauspieler hier auf der Bühne nicht einer Figur ihre Stimme, sondern stellen ihren eigenen Körper einer fremden Stimme zur Verfügung. Das Einfühlen in deren Körperlichkeit und individuelle Sprechweise spielt dabei eine große Rolle. Der zu sprechende Text erschließt sich also nicht über die jeweiligen Denk-SprechVorgänge der Schauspieler, sondern wird von außen auferlegt und bereits gestaltet vorgegeben. Die vom Band abgespielte, fremde Stimme gibt Tempo und Duktus des Sprechens und damit Spielens vor. Damit entfällt ein wesentlicher Bestandteil der schauspielerischen Arbeit, die
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wiederum ein Höchstmaß an Unterordnung unter die Vorgaben einer fremden Stimme erfordert, die auch als größtmögliche Flexibilität im Anpassen bezeichnet werden kann. Der Schauspieler lässt sich von der externen Stimme durch das Geschehen führen und stellt sich mit seinem Körper zur Verfügung. Bedingt durch diese Unterordnung unter die Vorgaben der Stimmen vom Playback-Band ergibt sich in der Probenarbeit eine Spannung zwischen dem aktiven Gestaltungsprozess, den der Schauspieler im Umgang mit seiner Figur durchläuft und dem passiven „Geführt–Werden“ durch das, was ihm diese fremde, akusmatische Stimme vorgibt.45 „Akusmatisch […] bezeichnet das, was man hört, ohne die tatsächliche Ursache des Klangs zu sehen“ oder „was Klänge hörbar macht, ohne eine Vorstellung von ihren Verursachern zu haben“46. Dieses In-Verbindung-Bringen der eigenen Körperlichkeit mit der akusmatischen, also nur hörbaren, aber nicht sichtbaren Stimme, erfordert von Seiten der Schauspieler ein spezifisches Hören, auch zu benennen als „funktionelles Hören“, d. h. dem Nachvollzug der muskulären Spannungsmuster und artikulatorischen Besonderheiten der Sprecherstimme. Diese Fähigkeit stellt in der Arbeit mit dem Playback eine grundlegende Voraussetzung dar. Die Stimmvorgaben führen bei den Schauspielern zu einer bestimmten Vorstellung über die Figur, die aus dem Klang und Spannungszustand der Stimme entnommen werden und ihre Fantasie anregen. Die Stimme und die ihr innewohnenden Anteile des Ursprungskörpers erzeugen somit ein „Klangkörperbild“47, das der Schauspieler für seine Figur nutzt. Somit konstituiert sich die Figur durch die fremde Stimme und deren Vorgaben und nicht in erster Linie durch die Textvorgabe und das Einfühlen in eine Figur. Dies kann als performativer Zugriff auf das Thema Figur verstanden werden. Verändertes Figurenverständnis: Dem Einfinden und -fühlen in die Figur und deren Motive, kurz: einer figurenpsychologischen Herangehensweise, sind im Probenprozess das Einfinden und Einhören in die „fremde Stimme“ und deren Sprechweise klar übergeordnet. Bedingt durch das Konzept der Mehrfachbesetzung (eine Figur wird jeweils von mehreren Schauspielern gespielt), entsteht keine in sich geschlossene Figurenidentität. Mit wechselnden Schauspielern wechselt auch die Physiognomie der Figur, lediglich die konstant zugeordnete Stimme dient ihrer Identifikation. Der Zustand der Figuren wird über das starre Korsett des Playbacks, eine visuell starre, an Tableaux vivants erinnernde Ästhetik sowie ein
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zähes, die gesamte Inszenierung durchziehendes Tempo transportiert. In der Probenarbeit geht es daher nicht um das Finden oder Verkörpern innerer Vorgänge und Zustände oder eine Einfühlung in die Figur. Vielmehr steht eine äußerliche Herangehensweise an die Figur über Parameter wie Körperspannung, Bewegung, Blick, Körper im Raum bzw. Arrangement der Figuren untereinander im Zentrum der Arbeit. Jeder Schauspieler trägt hier ähnlich einem Puzzle-Teil zum Gesamtbild einer Figur bei, die z. B. für die Hauptfigur des Herrn R. von drei Schauspielern verkörpert wird. Es stellt sich die Frage, inwieweit das Synchronisationsverfahren zu einer veränderten Wahrnehmung der Figuren führt. In Susanne Kennedys Inszenierung wird den Schauspielern mithilfe des durch Laiensprecher eingelesenen Playbacks ihre eigene Stimme als ein markantes Merkmal von Identität und Unverwechselbarkeit, ihr „vokaler Personalausweis“48, aber auch ein wesentlicher Teil ihres Arbeitsinstruments entzogen, das klassisch als wichtigstes Instrument des Spielers angesehen wurde.49 Mit Masken und Mehrfachbesetzungen der einzelnen Figuren, die von wechselnden Schauspielern gespielt werden, überschreitet die Regisseurin in einem weiteren konzeptionellen Schritt die Grenzen von Identität bzw. Identifizierung, indem die „Grenzen spezifischer […] körperlicher Zuordnung von Akteuren“50 aufgebrochen und unterwandert werden. Nicht die Individualität der Figur, sondern der übergeordnete Typus der Figur steht somit im Fokus bzw. wird durch den Einsatz des Playbackverfahrens überhaupt erst herausgebildet. Den „Vorgang des Zersetzens der Präsenz des Akteurs und seiner leiblich-stimmlichen Einheit“ bezeichnet Lehmann als „Spiel der neuen medialen Technologie“, das er aber keinesfalls als „Kinderspiel“ missverstanden wissen möchte. Die elektronisch entwendete (und in Kennedys Arbeit neu zugeordnete) Stimme mache mit dem „Privileg der Identität Schluss“.51 Dieses Spiel mit den Identitäten stellt in Susanne Kennedys Arbeit einen zentralen Aspekt dar und wird auf einer Metaebene ausgestellt. Insbesondere der Stimme kommt innerhalb dieses Inszenierungskonzepts eine besondere Funktion zu. Galt die Stimme im traditionellen Theater u. a. als „Instanz der Authentifizierung eines psychologisch gedachten Subjekts“ und wird diese auch im Alltag oftmals als „unverfälschter Ausdruck einer Person aufgefasst“, wird mit diesem Status nun bewusst gespielt bzw. die Stimme auf einer anderen Ebene als „Mittel der Bedeutungskonstitution“52 genutzt. Diese ist nicht mehr einem Schauspieler zugehörig, sondern wird als ein Teil der Figur von mehreren Schauspielern benutzt. Die Stimme ist nicht mehr die Trägerin eines individuellen, psychologischen Ausdrucks, innerer Motive, individuel-
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ler Emotionen und Haltungen, sondern wird „maskenhaft“ gebraucht. Den Schauspielern werden ihre eigenen Stimmen als identitätsstiftende Merkmale entzogen. Dennoch sind die Figuren auf der Bühne über die ihnen konstant zugeordneten, aber fremden Stimmen identifizierbar. Die Schauspieler fungieren nur mehr als Medium für die Sprache oder Sprachtransporteure und nicht mehr als selbstsprechende Subjekte. Dies fordert die Schauspieler heraus, sich in einem hohen Maße zurückzunehmen und sich unterzuordnen. Was bleibt, sind Hybride zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Marionettenhaftigkeit und individuellem Gestenrepertoire der DarstellerInnen. Statt plastisch ausgeformter Figuren gibt es grob skizzierte Charakterentwürfe – austauschbare Instanzen.53 Die Synchronisation wird auch innerhalb der Faust-Inszenierung von Claudia Bauer als Verfahren für eine Figurenfragmentierung genutzt. Anders als bei Kennedy findet die Synchronisation hier live statt, d. h., der Zuschauer wohnt dem Vorgang der Synchronisation bei. Spiel und Sprache werden dafür getrennt. Auf einer Videoebene agiert ein Schauspieler szenisch-körperlich und artikuliert den Text stumm, während auf der Vorderbühne ein Schauspieler oder eine Schauspielerin den entsprechenden Text dazu in ein Mikrofon spricht. Die Regisseurin entwickelt auf diese Weise eine „Kaleidoskopfigur“, wie sie sagt, eine Figur, die von mehreren Schauspielern gespielt wird und die wir gleichzeitig von innen und von außen sehen können.54 Anders als in der Filmsynchronisation nimmt der Synchronsprecher bzw. die Synchronsprecherin nicht den Rhythmus einer bereits „vorgefertigten“ Figur auf, sondern gibt den Rhythmus der Artikulationsbewegungen für die über die Videoprojektion sichtbare Person auf der Bildebene vor. Aber auch diese vermag das Sprechtempo des Synchronsprechers durch bestimmte Handlungsimpulse wie Lachen oder Husten zu beeinflussen. Beide, sowohl Synchronsprecher als auch der Schauspieler auf der Videoebene, agieren in einem Wechselverhältnis zueinander. Ein sehr differenziertes Hör- und Wahrnehmungsvermögen ist hier gefordert, zunehmend gesteigert durch den Umstand, dass Synchronsprecher und Schauspieler der Videoebene einander nicht sehen können. Aus dieser Trennung von Sprache und Spiel bzw. Sprechhandlung und körperlicher Darstellung entsteht etwas Drittes als die Symbiose von beidem, die auf der Rezeptionsebene nur der Denkleistung des Zuschauers entspringen kann. Die Stimme des Synchronsprechers bzw. der Synchronsprecherin ist zusätzlich verfremdet durch einen technisch erzeugten Pitch-Effekt. Der kör-
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perliche Ursprung dieser Stimme ist damit nicht mehr erkennbar. Es entsteht ein neuer Stimmkörper, der nicht an die beiden sichtbaren Körper auf der Bühne bzw. im Bild gekoppelt ist. Eine Figur kann sich auf diese Weise auf einer Metaebene konstituieren.55 Perspektiven für eine zeitgenössische Schauspielausbildung Welche Kompetenzen lassen sich nun aus den vorangegangenen Ausführungen ableiten? In den meisten der von uns beschriebenen Verfahren wird ein gewisses „schauspielerisches Selbstverständnis“ gestört. Es findet eine Art „Enteignung“ des schauspielerischen Umgangs mit Sprache statt56, beispielsweise wenn die „musikalischen“ Momente des Sprechens nicht mehr nur eine latente, sondern eine vordergründige Rolle spielen, oder wenn die Trennung von Stimme und Körper bzw. von Spiel und Sprache eine zersplitterte Figur hervorbringt. Auch das chorische Sprechen, das die „Austauschbarkeit der Akteure“ nahelegt und „individuelle gedankliche Hintergründe weitgehend zugunsten kollektiver Verabredungen oder des rhythmischen Taktierens“57 reduziert, gehört hierzu. Die Aufgabe des hier skizzierten Forschungsprojekts ist es zunächst, diese Umstände zu reflektieren und ins Bewusstsein zu rufen. Gleichzeitig drängt sich die Frage auf, wie die an die Schauspielerinnen und Schauspieler gestellten Anforderungen innerhalb der Ausbildung Berücksichtigung finden, wie identifizierte methodische Ansätze in die Lehre einfließen können. Beschäftigung mit postdramatischen Theatertexten: Auch wenn im postdramatischen Theater der Text nicht mehr unbedingt im Zentrum der Inszenierung steht, so ist er doch noch immer ein Ausgangspunkt vieler Inszenierungen. Jedoch geht es häufig nicht mehr um die „Umsetzung“ einer Textvorlage, sondern um die Behandlung des Textes als Material. Einen wichtigen Aspekt für diese Betrachtungsweise stellen die postdramatischen Theatertexte selbst dar. Sie eröffnen zwei Perspektiven für die Ausbildung: Zum einen lernt man aus der Beschäftigung mit ihnen etwas über den intertextuellen Umgang mit Texten, zum anderen eröffnen sie gedanklich-emotionale Räume, die eine Suche nach vielstimmigen Spielund Sprechweisen provoziert. Die Auseinandersetzung beispielsweise mit den Texten von Elfriede Jelinek, Heiner Müller, René Pollesch, Peter Handke oder Sarah Kane sollte innerhalb der Ausbildung zunächst überhaupt eine Rolle spielen und gleichzeitig unter der Prämisse stattfinden, deren Mehrdeutigkeiten und Vielstimmigkeiten hervorzuheben, anstatt sie zu reduzieren oder sie zu missachten. Ein intertextueller Zugang sowie entsprechende intervokale, chorische bzw. musikalische Erarbei-
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tungsweisen, wie die hier vorgestellten, bieten Möglichkeiten, mit denen man sich diesen postdramatischen Texten nähern kann. Methoden der Textgenerierung: Darüber hinaus ist es sinnvoll, Theaterstudierenden Methoden an die Hand zu geben, wie sie Texte selbst generieren können, da dies innerhalb von Probenprozessen immer häufiger eine Rolle spielt (vgl. die Lösch-Produktion). Die Projekte, die im Rahmen der Bachelor- und Masterausbildung Theater der Hochschule der Künste Bern durchgeführt werden, haben in den vergangenen Jahren erstaunliche Arbeiten hervorgebracht, in denen die Studierenden immer wieder ihr Textmaterial selbst entwickelt haben, sei es durch Interviews, sei es durch die Montage unterschiedlicher Quellen, sei es durch autobiografische Generierung. Sicherlich ist die Vermittlung derartiger Methoden nicht unbedingt Gegenstand der Sprecherziehung. In der Projektarbeit jedoch, in der ein disziplinäres „Fächerdenken“ keine Rolle mehr spielt, sind sie auf jeden Fall – auch für eine Sprecherzieherin oder einen Sprecherzieher – von Bedeutung. Bedienen hybrider Spiel- und Sprechweisen – zwischen Virtuosität und Persönlichkeit: Nicht nur die fünf von uns untersuchten Probenprozesse, sondern generell die Produktionen des zeitgenössischen Theaters bringen eine „Multiperspektivität des Darstellens“58 hervor und bedienen sich unterschiedlicher Spiel- und Sprechweisen. Allein die FaustProduktion von Claudia Bauer ist charakterisiert durch diverse Spielweisenwechsel. So fordert denn auch die Regisseurin, in der Ausbildung ein großes Bewusstsein für verschiedene Darstellungsformen zu finden. Dabei gelte es jedoch, die Balance zwischen Virtuosität und Persönlichkeit zu suchen, denn „Handwerk ohne Persönlichkeit will natürlich auch keiner sehen“59. Eine Schauspielausbildung muss sich also die Frage stellen, wie sie Künstlerpersönlichkeiten ausbildet, die – auf der Basis ihres Handwerks – eine Haltung zur Welt entwickeln. Eine Perspektive liefert die Schauspielerin Susanne-Marie Wrage, wenn sie formuliert: Um der Beliebigkeit, der Oberflächlichkeit und dem reinen Kunsthandwerk zu entkommen, muss sich ein Schauspieler spezialisieren, sich vom Instrument des Regiekünstlers zum eigenen Sein als Künstler bekennen. Ich zumindest kann nicht alles können.60 Und genau um diese Spezialisierung muss es auch in der Ausbildung gehen. Sie muss den Studierenden ein Spektrum bieten, innerhalb dessen sie sich ausprobieren dürfen. Hierfür müssen offene Strukturen geschaf-
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fen werden, die neben den disziplinären Unterrichten, zu denen auch das Fach „Sprechen“ gehört, Experimentierfelder erlauben, in denen sowohl verschiedene Arbeitsweisen und Methoden als auch das selbstständige Kreieren der Studierenden im Zentrum stehen. Der Studienbereich Theater der Hochschule der Künste Bern entwickelte bereits vor über zehn Jahren ein Projektmodul innerhalb der Ausbildung, in dem die Eigenverantwortung und Autorschaft der Studierenden gefördert wird. Die Studierenden haben während ihres Bachelor- und Masterstudiums mehrfach die Möglichkeit, in selbstständiger Arbeit Projekte zu entwickeln und darin ihre eigenen Themen, Arbeitsweisen und Ästhetiken zu suchen und zu verhandeln. Die Dozierenden fungieren hier lediglich als Mentoren, Coachs und Berater. Genau hier können die Studierenden ihre Stärken entdecken und sich in gewisser Weise „spezialisieren“. Es sei unbestritten, dass innerhalb einer drei- bis viereinhalbjährigen Schauspielausbildung verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten, Kompetenzen und Qualitäten ausgebildet werden müssen. Eine zeitgenössische Schauspielausbildung sollte aber die Ambivalenzen, die durch das Performative im zeitgenössischen Theater existieren, berücksichtigen. Es gibt verschiedene und vielfältigste Wege und Möglichkeiten im Umgang mit Themen und Texten, aus denen sehr unterschiedliche Spielund Sprechweisen sowie körperliche Darstellungsweisen hervorgehen. Nicht immer trifft eine bestimmte Herangehensweise auf den Geschmack oder die Überzeugung der Studierenden und/oder Dozierenden. Alle sollten sich jedoch, wie Seel schreibt, „unter den Einfluss von Möglichkeiten“61 stellen und die Offenheit einer Situation nicht ausräumen, sondern sich auf sie einlassen. Das bedeutet nicht, „alles gut zu finden“ oder (gleichwohl, ob positiv oder negativ) zu bewerten. Es bedeutet, um noch einmal Seel zu zitieren: „sich im eigenen Wünschen und Wollen weiterhin bestimmbar zu halten“62. Kompetenzen für einen performativen Umgang mit Texten und gesprochener Sprache: Zur Fähigkeit, unterschiedliche Spiel- und Sprechweisen bedienen zu können, gehört auch das Chorsprechen. Innerhalb einer Gruppe aufeinander zu hören, gedankliche und körperliche Spannung von einem oder mehreren Partnern abzunehmen oder an andere weiterzugeben, im Raum des Partners weiterzusprechen und zu agieren, eine gemeinsame Sprache und Spannung aufzubauen, sind handwerkliche Aspekte, die im Rahmen der chorischen Arbeit am Text vermittelt werden können. Darüber hinaus fordert und fördert sie musikalische Fähigkeiten, die als performativ-darstellerische Kompetenzen ausgebildet
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werden können. Ein musikalischer Denk-Sprech-Prozess lässt sich über eine musikalische Arbeit am Text, beispielsweise über die Rhythmisierung, Phrasierung und Instrumentierung von Texten schulen. Auch die sprechkünstlerische Erarbeitung musikalischer Werke, in denen Sprecherparts musikalisch fixiert sind, ist denkbar. Material hierfür findet sich in melodramatischen oder zeitgenössischen Kompositionen. Weiterhin geben die Kompositionsprinzipien zeitgenössischer Musik Anregungen, wie man Texte dekonstruieren bzw. musikalisch erarbeiten kann, beispielsweise durch die Substitutions-, Additions- und Substraktionsverfahren sowie Techniken der Phasenverschiebung aus der Minimal Music.63 Ebenso kann die künstlerische Verwendung der sprecherischstimmlichen Mittel in einem erweiterten Verständnis betrachtet werden. Sprecherisch-stimmliche Mittel werden dann als auffällig wahrgenommen, wenn sie bestimmte Regelbereiche verletzen und Erwartungsnormen unterminieren oder übersteigen. Der Bruch mit diesen Regelbereichen und Erwartungsnormen wird damit zum Kennzeichen des Phänomenalen, d. h., die sprecherisch-stimmlichen Mittel werden zunächst nicht primär in ihrer Ausdrucksfunktion, beispielsweise als Signal für die Erkennbarkeit emotionaler Regungen oder Haltungen, sondern als Phänomen, als Erscheinungsweise in ihrer Präsenz nutz- und wahrnehmbar. Damit avancieren sie zu einem autonomen Phänomen. Die Autonomie der sprecherisch-stimmlichen Mittel stellt die Materialität des Sprechens und der Stimme aus, womit Hörgewohnheiten im Theater verändert werden. Dennoch geschieht dies nicht unabhängig von einem Inhalt oder einer Bedeutung. Diese muss jedoch nicht vordergründig vom zugrundeliegenden Text ausgehen, sondern kann sich auf der Bühne als Thema überhaupt erst konstituieren. In diesem Fall steht die Verwendung der sprecherisch-stimmlichen Mittel nicht im Dienst der Vermittlung eines Textinhalts, sondern sie werden selbst zum Inhalt.64 Kiesler hat hierfür den Begriff der sprechkünstlerischen Phänomene etabliert65, die einen wesentlichen Anteil an der künstlerischen Wirkung einer gesprochenen Äußerung im Theater haben. Sie werden als ästhetische Kategorie beschreibbar, die Bedeutungen brechen, stören oder irritieren bzw. auf einer Metaebene neu konstituieren können. Sprecherisch-stimmliche Mittel, wie Sprechrhythmus oder Stimmklang bzw. artikulatorische Parameter, die aus bestimmten Musikalisierungsstrategien als sprechkünstlerische Phänomene entstehen, geben den Agierenden die Fähigkeit, einen ästhetischen Erfahrungsraum zu öffnen, und erweitern damit das Handwerkszeug eines Schauspielers. Sie können
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Zwischen Virtuosität und Persönlichkeit
innerhalb eines „performativen Spiels“66 zur Anwendung kommen, das die Situation, die zwischen Spielern und Zuschauern entsteht, fokussiert. Da geht es gar nicht so sehr darum, den einzelnen Zuschauer zu erreichen und zu bekehren, sondern eher um das Schaffen eines Energiefeldes […]. Man schafft einen Raum öffentlichen Reflektierens jenseits vom bloß Rationalen, der alle Sinne mit einschließt. Gerade bei Problemen, die so fassungslos machen und wo man den Eindruck hat, dass der öffentliche Diskurs an seine Grenzen kommt – […] (auch jetzt bei Wut) –, konnte man erleben, wie dankbar die Menschen für ein solches Energiefeld waren.67 Neben diesen musikalischen Fähigkeiten, gilt es weitere performativdarstellerische Kompetenzen zu fördern, wenn sich die Schauspielausbildung, wie Stegemann schreibt, im „Dreieck aus realistischem Schauspielen, epischem Spiel und performativem Spiel“68 bewegen will. Hierzu zählt auch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Figurenkonzepten bzw. mit Verfahren, die eine fragmentierte Figur oder eine Metafigur konstituieren. Auffällig innerhalb der Monologisierungs-, Musikalisierungs- und Synchronisationsprozesse der von uns untersuchten Produktionen ist die Entstehung von etwas „Drittem“. So entstehen Figuren bzw. einzelne Zustände von Figuren (wie z. B. beim Faust oder auch in der Inszenierung von Susanne Kennedy) auf einer Metaebene, der sich die Schauspieler zur Verfügung stellen müssen. Sie sind aufgefordert, sich einer Partitur oder einer anderen Stimme unterzuordnen bzw. das Bewusstsein zu entwickeln, nur ein Teil einer übergeordneten Figurenkonzeption zu sein. Das Playbackverfahren bei Susanne Kennedy erfordert von den Darstellern im hohen Maße die Fähigkeit zum funktionellen Hören und Nachvollziehen dessen, was ihnen die Laiensprecherstimmen an Körperlichkeit, Sprechweise und Sprechgestaltung vorgeben. Demnach müssten z. B. Fähigkeiten im Umgang mit akusmatischen Stimmen trainiert werden. Das Prinzip des funktionellen Nachvollzugs kann hierfür als methodisches Prinzip genutzt werden. Es umfasst das Wissen um physiologische Abläufe und das Nachvollziehen von Stimm- und Körperfunktionen, die im Rahmen einer Schauspielausbildung angelegt und gezielt trainiert werden. Wie in der Gesangsausbildung auch könnte z. B. ein funktionaler Ansatz (Rohmert/Lichtenberger Institut; Rabine etc.) im Fach „Sprechen“ stark gemacht werden bzw. die Notwendigkeit hierfür mit Arbeiten wie der von Susanne Kennedy begründet werden. Das Bewusstsein für das eigene (Stimm-)Material sowie die Materialität
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Julia Kiesler und Claudia Petermann
des Sprechens muss im Kontext einer zeitgenössischen Schauspielausbildung eine umso relevantere Rolle spielen. Auch im Hinblick auf intervokale Sprechweisen benötigen angehende Schauspielerinnen und Schauspieler hier ein umfangreiches Können. Fazit Das hier skizzierte Forschungsprojekt versucht ein Bewusstsein für bestimmte Prozesse, Herangehensweisen und Perspektiven im Theater der Gegenwart zu schaffen, auf dessen Basis sich methodische Ansätze für eine zeitgenössische Schauspielausbildung und Sprecherziehung weiterentwickeln lassen. Unabhängig von Textgattungen und Inszenierungsformen lassen sich intertextuelle Arbeitsweisen als ein wesentliches Moment in der Arbeit mit Texten auf der Bühne des zeitgenössischen Theaters beschreiben. Intervokale, musikalisierte und auf filmischen Techniken (Synchronisation) basierende Zugänge zum Text erweitern und öffnen das Repertoire bestehender Sprech- und Spielweisen um neue Gestaltungsformen. Die auf der Bühne zu beobachtenden vielfältigen Spiel- und Sprechweisen sollten in der Schauspielausbildung reflektiert werden und Berücksichtigung finden. Für das Fach „Sprechen“ bedeutet dies, neben einer gestischen Äußerungsfähigkeit ebenso musikalisierte, chorische oder polyphone Formen des Sprechens zu schulen. Insbesondere ein Bewusstsein für Verfahren, welche die Materialität des Sprechens und der Stimme ausstellen, ein Bewusstsein für die Dekonstruktion von Sprache bzw. für Sprache abseits ihrer semantischen Funktion, aber auch die als „Fähigkeit zum musikalischen Sprechdenken“ beschriebene sind hierbei wesentliche Kompetenzen, die angehende Schauspielerinnen und Schauspieler erlernen können. Daneben erfordern ein erweitertes Figurenverständnis im zeitgenössischen Theater sowie vielseitige Zugänge zum Thema Figur seitens der Regisseure eine große Flexibilität von angehenden Schauspielern. Sie müssen auf diese performativen, also das Spielen selbst thematisierenden Zugänge, reagieren können, die ihre Präsenz bzw. reale Anwesenheit auf der Bühne betonen und sich abwenden von der Repräsentation einer Figur. Hier gilt es bereits in der Ausbildung neben dem klassischen ein erweitertes Schauspielerverständnis zu etablieren: der Schauspieler u. a. als Co-Autor, Spieler und Entwickler eines Abends. Ziel der Ausbildung sollte es sein, ein performatives Verständnis – auch in der Verbindung zur klassischen Schauspielkunst – herzustellen, da das zeitgenössische Theater immer stärker von performativen darstellerischen Ansätzen durchzogen ist. Dennoch stimmen wir mit Stege-
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mann überein, der fordert, dass eine zeitgenössische Schauspielausbildung alle drei Formen des Spiels – realistisches, episches und performatives – und die entsprechenden Sprechweisen, integrieren muss.69 Das bedeutet, dass sowohl Fähigkeiten zum darstellenden, verkörpernden und zeigenden Spiel als auch das Erzeugen von Spielsituationen, „in denen der performative Spieler sich selbst darstellt, seine Situation vor Zuschauern problematisiert und die Frage nach dem Realitätsgehalt der sich hier ereignenden Spiele thematisiert“70, ausgebildet werden müssen.
1
Der folgende Artikel erschien im Russischen in ähnlicher Form unter dem Titel „Textarbeit im zeitgenössischen Theater“. Vgl. Kiesler, Julia/Rastetter, Claudia: „Работа с текстом в современном театре“, in: Vasiljev, Jurij (Hrsg.): Речевое творчество актера: данность и предчувствие (Die Sprechkunst des Schauspielers: was ist (das Gegebene) und was sein kann (Vorgefühl)), Sankt Petersburg 2017, S. 94–119.
2
Vgl. Kiesler, Julia: „Sprechkünstlerische Tendenzen im zeitgenossischen deutschsprachigen Theater“, in: Bose, Ines/Neuber, Baldur (Hrsg.): Sprechwissenschaft: Bestand, Prognose, Perspektive (= Hallesche Schriften zur Sprechwissenschaft und Phonetik, Band 51), Frankfurt/M. 2014, S. 79–83.
3
Zur Begriffsbestimmung eines „performativen Umgangs mit Texten und gesprochener Sprache“ vgl. die voraussichtlich im Sommer 2019 im Verlag Theater der Zeit erscheinende Publikation: Kiesler, Julia: Der performative Umgang mit dem Text. Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater, Manuskript, in Vorbereitung.
4
Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 29.
5
Ebd., S. 41.
6
Ebd., S. 26.
7
Vgl. Ritter, Hans Martin: „Streifzüge zwischen Theater und Performance“, in: Wagner, Roland (Hrsg.): Sprechen. Zeitschrift für Sprechwissenschaft, Sprechpädagogik, Sprechtherapie, Sprechkunst, Heft 60, Heidelberg 2015, S. 52–63, hier S. 58.
8
Vgl. Martinez, Matias: „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“, in: Arnold, Heinz Ludwig/Detering, Heinrich (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 430–445, hier S. 444.
9
Kristeva, Julia: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, in: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Band 3, Frankfurt/M. 1972, S. 345–375, hier S. 348.
10
Vgl. www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/glossar-gesamt (letzter Zugriff am 17. Oktober 2018).
11
Jirku, Brigitte: „Materialität und Medialität postdramatischer Theatertexte“, in: Janke, Pia/Kovacs, Teresa (Hrsg.): Postdramatik. Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 308–317, hier S. 312.
12
Vogel, Juliane: „Intertextualität“, in: Jahnke, Pia (Hrsg.): Jelinek-Handbuch, Stuttgart 2013, S. 47–55, hier S. 47.
13
Von Blomberg, Benjamin/Anders, Sonja: „Jelinek-Texte auf dem Weg zum Stück. Über dramaturgische Extrembedingungen“, in: Gutjahr, Ortrud (Hrsg.): Ulrike Maria Stuart, Würzburg 2007, S. 109–119, hier S. 114.
14
Vgl. Programmheft zur Produktion.
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15
Vgl. Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramatische Analyse, Tübingen 1997, S. 177.
16
Millner, Alexandra: „Prae – Post – Next? Über Polyphonie, Partitur und Kontingenz in Theatertexten von und nach Elfriede Jelinek“, in: Janke, Pia/Kovacs, Teresa (Hrsg.): Postdramatik. Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 167–184, hier S. 171.
17
Vgl. ebd., S. 167.
18
Vgl. Blomberg/Anders: Jelinek-Texte auf dem Weg zum Stück, S. 110.
19
Vgl. Kiesler, Julia: „Methodische Aspekte einer musikalischen Arbeit am Text − Ein Probenbeispiel“, in: Hannken-Illjes, Kati/Franz, Katja/Gauß, Eva-Maria/Könitz, Friederike/ Marx, Silke (Hrsg.): Stimme – Medien – Sprechkunst (= Sprache und Sprechen, Band 49), Baltmannsweiler 2017, S. 62–73, hier S. 64.
20
Blomberg/Anders: Jelinek-Texte auf dem Weg zum Stück, S. 110.
21
Vgl. Roselt, Jens: „Dialog/Monolog“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 67–72, hier S. 70.
22
Vogel: Intertextualität, S. 47.
23
Finter, Helga: „Intervokalität auf der Bühne. Gestohlene Stimme(n), gestohlene(r) Körper“, in: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hrsg.): Stimmen Klänge Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen 2002, S. 39–49.
24
Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie Erster Teil, Stuttgart 2000, S. 103 ff.
25
Vgl. Kiesler: Der performative Umgang mit dem Text, Manuskript i. V.
26
Schrödl, Jenny: Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012, S. 214.
27
Vgl. hierzu Kiesler, Julia: „‚Jede Szene ist ein neues Glück.‘ Verfahren der Texterarbeitung innerhalb des Probenprozesses ‚Faust‘ (J. W. Goethe) in der Regie von Claudia Bauer am Konzerttheater Bern“, in: Unger, Angela (Hrsg.): Sprechen in unterschiedlichen Kontexten: Radio, Wirtschaft, Theater, Fremdsprachenunterricht, Beiträge zum 2. Doktorandentag der Halleschen Sprechwissenschaft. Reflexionen des Gesellschaftlichen in Sprache und Literatur – Hallesche Beiträge Band 5, Online-Publikation, Halle 2016, S. 51–72, hier S. 61 ff., abrufbar unter: http://digital.bibliothek.uni-halle.de/pe/content/titleinfo/2422792 (letzter Zugriff am 19. Oktober 2018).
28
Vgl. ebd., S. 67.
29
Vgl. hierzu Kiesler: Methodische Aspekte einer musikalischen Arbeit am Text, S. 71 f. sowie Kiesler: Der performative Umgang mit dem Text, Manuskript i. V.
30
Roesner, David: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen 2003, S. 188.
31
Vgl. Kiesler: Methodische Aspekte einer musikalischen Arbeit am Text, S. 62–73.
32
Kiesler: Probenprotokoll Lösch 2014-02-26, Erhebungsmaterial der Probenprozessbeobachtung Biedermann und die Brandstifter in der Regie von Volker Lösch am Theater Basel, unveröffentlichtes Manuskript.
33
Vgl. Roesner: Theater als Musik, S. 285.
34
Lösch, Volker in: Interview 1: Julia Kiesler mit Volker Lösch, geführt am 27. Februar 2014. Erhebungsmaterial, unveröffentlichtes Manuskript.
35
Ebd.
36
Freytag, Bernd in: Burckhardt, Barbara/Wille, Franz: „‚Wo ist die Störung?‘ Ein Gespräch mit dem Chorleiter Bernd Freytag über die Arbeit mit Einar Schleef und Volker Lösch, über Hebung, Senkung und Zäsur, den Einzelnen und die Klassenkampffrage“, in: Theater heute, Heft 7/2009, S. 6–11, hier S. 6.
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Standfest, Christine: „Surabaya Johnny reverberating. Vermischte Überlegungen zu der Frage ‚Wann ist ein Chor ein Chor?‘“, in: Enzelberger, Genia/Meister, Monika/Schmitt, Stefanie (Hrsg.): Auftritt Chor. Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater, Maske und Kothurn, Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft, herausgegeben vom Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, 58. Jahrgang, Heft 1, Wien 2012, S. 77–88, hier S. 77.
38
Vgl. Kiesler: Der performative Umgang mit dem Text, Manuskript i. V.
39
Großmann, Rolf: „Musikalische Wiederholungen und Wiederaneignung. Collagen, Loops und Samples“, in: Bense, Arne et al. (Hrsg.): Musik im Spektrum technologischer Entwicklungen und Neuer Medien, Osnabrück 2015, S. 207–218, hier S. 208.
40
Millner: „Prae – Post – Next? Über Polyphonie, Partitur und Kontingenz in Theatertexten von und nach Elfriede Jelinek“, S. 171.
41
Vgl. Kiesler: „Jede Szene ist ein neues Glück“; Kiesler: Methodische Aspekte einer musikalischen Arbeit am Text; Rastetter, Claudia: „Das Playback-Verfahren in der Arbeit der Regisseurin Susanne Kennedy“, in: Hannken-Illjes, Kati/Franz, Katja/Gauß, EvaMaria/Könitz, Friederike/Marx, Silke (Hrsg.): Stimme – Medien – Sprechkunst (= Sprache und Sprechen, Band 49), Baltmannsweiler 2017, S. 49–61 sowie Rastetter, Claudia: „Jelinek sprechen – Textarbeit im Probenprozess zu Elfriede Jelineks Wut in der Regie von Nicolas Stemann“, in: Wagner, Roland (Hrsg.): Sprechen. Zeitschrift für Sprechwissenschaft, Sprechpädagogik, Sprechtherapie, Sprechkunst, Heft 64, Heidelberg 2017, S. 68–81.
42
Vgl. Kiesler: Der performative Umgang mit dem Text, Manuskript i. V.
43
Vgl. ebd.
44
Vgl. Rastetter: Das Playback-Verfahren in der Arbeit der Regisseurin Susanne Kennedy, S. 53.
45
Vgl. ebd., S. 54.
46
Chion, Michel: Audio-Vision. Ton und Bild im Kino, Berlin 2012, S. 65.
47
Finter, Helga: „Der (leere) Raum zwischen Hören und Sehen“, in: Die soufflierte Stimme: Text, Theater, Medien. Aufsätze 1979–2012, Frankfurt/M. 2014, S. 379–388, hier S. 381.
48
Pinto, Vito: Stimmen auf der Spur, Bielefeld 2012, S. 370.
49
Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999, S. 277.
50
Pinto: Stimmen auf der Spur, S. 131.
51
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 277.
52
Kolesch, Doris: „Szenen der Stimme. Zur stimmlich – auditiven Dimension des Gegenwartstheaters“, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband Theater fürs 21. Jahrhundert, München 2004, S. 156–165, hier S. 158 f.
53
http://theatertreffen-blog.de/tt15/brutalitaet-des-alltaeglichen (letzter Zugriff am 22. Oktober 2018).
54
Vgl. Bauer, Claudia in: Interview 2, Julia Kiesler mit Claudia Bauer, geführt am 11. September 2014, Erhebungsmaterial, unveröffentlichtes Manuskript.
55
Vgl. ausführlicher hierzu: Kiesler: Der performative Umgang mit dem Text, Manuskript i. V.
56
Ritter, Hans Martin: „Theater und Sprache und die wiederkehrende Rede von einer Sprach-Krise“, in: Wagner, Roland (Hrsg.): Sprechen. Zeitschrift für Sprechwissenschaft, Sprechpädagogik, Sprechtherapie, Sprechkunst, Heft 61, Heidelberg 2016, S. 95–104, hier S. 103.
57
Ebd.
58
Kurzenberger, Hajo: „Multiperspektivität des Darstellens. Zum Paradigmenwechsel des Schauspielens“, in: Rey, Anton/Kurzenberger, Hajo/Müller, Stephan (Hrsg.): Wirkungsmaschine Schauspieler – vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielmacher, Berlin 2011, S. 75–84, hier S. 81. 39
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59
Bauer, Claudia in: Interview 2, Julia Kiesler mit Claudia Bauer, geführt am 11. September 2014, Erhebungsmaterial, unveröffentlichtes Manuskript.
60
Wrage, Susanne-Marie: „Alles Plagiat oder Abstand zu mir selbst“, in: Rey, Anton/Kurzenberger, Hajo/Müller, Stephan (Hrsg.): Wirkungsmaschine Schauspieler – vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielmacher, Berlin 2011, S. 29–34, hier S. 32.
61
Seel, Martin: „Kleine Phänomenologie des Lassens“, in: ders.: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2002, S. 270–278, hier S. 275.
62
Ebd.
63
Vgl. Linke, Ulrich: Minimal Music. Dimensionen eines Begriffs, Essen 1997, S. 13.
64
Vgl. Kiesler: Methodische Aspekte einer musikalischen Arbeit am Text, S. 71 f.
65
Vgl. ebd., S. 72 sowie Kiesler: Der performative Umgang mit dem Text, Manuskript i. V.
66
Stegemann, Bernd: „Drei Formen des Schauspielens“, in: Rey, Anton/Kurzenberger, Hajo/Müller, Stephan (Hrsg.): Wirkungsmaschine Schauspieler – vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielmacher, Berlin 2011, S. 102–109, hier S. 104.
67
Stemann, Nicolas in: Hayner, Jakob/Stemann, Nicolas: „Für Elfriede. Und manchmal gegen sie: Regisseur Nicolas Stemann gratuliert Elfriede Jelinek zum 70. Geburtstag. Ein Gespräch“, in: Theater der Zeit, Heft 10/2016, Berlin 2016, S. 20–22, hier S. 22.
68
Stegemann: „Drei Formen des Schauspielens“, S. 104.
69
Ebd.
70
Ebd., S. 107 f.
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Heiner Goebbels
„DASS ES EINE SPRACHE GIBT, WORIN DIE DINGE SICH WEDER ZEIGEN NOCH VERBERGEN“1 What is a conversation. We can all sing. A great many people come in. A great many people come in. Why do the days pass so quickly. Because we are very happy. Yes that’s so. That’s it. That is it. Who cares for daisies. Do you hear me. Yes I can hear you. Very well then explain. That I care for daisies. That we care for daisies. Come in come in. Yes and I will not cry. No indeed. We will picnic. Oh yes. We are very happy. Very happy. And content. And content. We will go and hear Tito Ruffo. Here. Yes here.
Ein kleiner Ausschnitt aus meinem Musiktheaterstück Hashirigaki aus dem Jahre 2000, in dem zur Musik der Beach Boys Texte von Gertrude Stein zu hören sind, z. B. hier Every afternoon – a dialogue aus ihrer Sammlung Geography and Plays (1922). Auf der Bühne drei Frauen, Yumiko Tanaka, eine Shamisen-Spielerin aus Japan, Marie Goyette, eine Pianistin aus Kanada, und Carlotta Engelkes, eine Tänzerin und Perfor-
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Heiner Goebbels
merin aus Schweden – keine Schauspielerinnen. Vielleicht lässt sich schon an dieser Textsorte und auch am überraschenden Umgang mit Licht, Bühne, Projektion von Klaus Grünberg und den Kostümen von Florence von Gerkan erahnen, was ich mit diesem merkwürdigen „Nicht-Sagen“ und „Nicht-Schweigen“ meinen könnte: dass ich auf der Suche bin nach einer Sprache, die zu etwas anregt, das vielleicht genau in den Lücken zwischen den semantischen Feldern dieses Dialogs entstehen kann, der nur aus Andeutungen, aus hingeworfenen und wieder abgebrochenen Themen, kurzen und sprunghaften Assoziationsketten besteht, die sich nicht wirklich „verstehen“ lassen. Wenn ich diese Szene als ein Plädoyer für das Unverständnis sehe, dann auch im Zusammenhang des Wunsches, Theater tatsächlich als eine Kunstform zu begreifen. Und „Kunst“ – Jean-François Lyotard hat das einmal gesagt – muss „vom Unausdrückbaren sprechen“.2 Deswegen tue ich mich schwer, wenn Theater immer mit großer Zeichendichte, mit direkter Ansprache und mit vorgeblicher Sicherheit mit Sprache umgeht. Ich gehöre eher zu denen, die von einem gehörigen Misstrauen gegen die Möglichkeiten einer erfolgreichen Übermittlung von Botschaften geprägt sind. Dieses Misstrauen findet man im Übrigen auch bei den Schriftstellern – selbst bei dem Nobelpreisträger Elias Canetti, der wichtigen, politischen Instanz der deutschen Literatur. So kommt in seiner berühmten Faschismus-Studie Masse und Macht – „obwohl diese 500 Seiten eigentlich von nichts anderem handeln“3, wie er selbst später in einem Interview eingeräumt hat – das Wort „Faschismus“ überhaupt nicht vor. Dieses Misstrauen gegenüber Erklärungen findet sich auch als ständig wiederkehrender Imperativ in seinen Tagebüchern und Aufzeichnungen, aus denen ich die Texte für mein Stück Eraritjaritjaka (2007) gewonnen habe. In Länder gehen, deren Sprache man nie erlernen kann. Sich vor jedem erklärten Worte hüten. Schweigen, schweigen und atmen, das Unbegriffene atmen. Es ist nicht das Erlernte, was ich hasse, was ich hasse ist, daß ich darin wohne.4 Das sind alles Imperative, sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen, das Fremde anzuerkennen, zu respektieren, auch das Unverstandene – gerade das Unverstandene – zu respektieren. Denn es ist, wie ich finde, eine politisch verhängnisvolle Konsequenz der medialen Präsenz von Sprache in unseren Medien/Fernsehen/Rundfunkanstalten, dass es im Grunde überhaupt keine nicht-deutschen Texte mehr zu hören gibt, man mit fremden Sprachen nicht mehr konfrontiert wird und damit keine
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„Dass es eine Sprache gibt, worin die Dinge sich weder zeigen noch verbergen“
Geduld für das unverstandene Wort mehr aufgebracht werden muss. Aber eine Auseinandersetzung mit dem Klang, der Prosodie einer fremden Sprache gehört doch zu den Grundvoraussetzungen von politischem Respekt und Anerkennung des Anderen. Darin fehlt uns aber die Übung. Theater als Erfahrung D. h., wenn es mir nicht um das Verständnis geht, geht es mir um etwas anderes – um eine Erfahrung. Eine Erfahrung, die im Theater aus vielen Mitteln bestehen kann, in der die Sprache nicht prioritär ist, in der die Sprache nicht als das wichtigste Mittel angesehen wird, sondern vielleicht nur als eines von vielen. Für die Schauspieler heißt das nicht, dass sie unwichtig werden – oder dass ich sie nicht mag, wie mir manche Leute gerne unterstellen –, sondern dass ein Schauspieler/eine Schauspielerin sich als Komplize/Komplizin verstehen muss in einer Reihe mit allen Theatermitteln, die gleichermaßen zur Sprache kommen, die gleichermaßen sprechen, uns ansprechen. Wenn Theater eine Kunstform ist, sollte es uns mit dem konfrontieren, was wir noch nicht kennen, oder mit dem, wofür wir keine Sprache haben. Selbst performative Arbeiten gehen an ihrem Anspruch vorbei, wenn sie auf Klischees zurückfallen, die auf Wiedererkennung setzen, damit wir als Zuschauer uns darüber lachend erheben und uns darüber verständigen. Auch die Berücksichtigung intervokaler oder intertextueller Elemente in den Textsorten geht an diesem Imperativ vorbei, wenn sie dadurch, dass man virtuos die Stimme verstellt, wiederum nur Stereotypen zitieren. Davor sollte sich das Theater hüten. Das ist letztlich nicht witzig. Im Gegensatz dazu ist Vielstimmigkeit eine wichtige Kategorie, auch für meine Arbeit, nicht nur, aber auch im musikalischen Sinn von Polyphonie. Vielstimmigkeit, Gleichberechtigung eben all dieser „sprechenden“ Theatermittel – ob Licht, Raum oder eine Bewegung oder eben die Sprache bzw. die Form der Sprache selbst. Auch Herakles 2 oder die Hydra5 von Heiner Müller ist ein Text, der nicht auf Verständnis setzt, sondern der im Grunde die Unmöglichkeit, diese Situation zu verstehen oder ihrer Herr zu werden – Herakles auf dem Weg zur Schlacht gegen die Hydra –, in eine literarische Form übersetzt. Durch seine große Kunstfertigkeit macht der Text schon im Leser eine ähnliche Erfahrung möglich wie die, über die er schreibt. In meiner Arbeit Ou bien le débarquement désastreux6 habe ich nicht versucht, die Schlacht, die Auseinandersetzung plausibel zu machen, zu illustrieren, sondern sie noch einmal zu übersetzen: jetzt, in die verschiedenen mir zur Verfügung stehenden Theatermittel. Einen
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Heiner Goebbels
Schauspieler, den Text, das Licht, die Musik, den Raum – hier eine Installation von Magdalena Jetelová, eine Wand aus seidenen Haaren und eine Pyramide aus Aluminium. Man könnte sagen, dass die Schlacht, von der der Text handelt, übersetzt ist in eine Auseinandersetzung zwischen Schauspieler und Bühnenbild, das ihn letztlich verschlingt, und zwischen Text und Musik – genauer gesagt: zwischen afrikanischer Musik gespielt, von zwei Griots aus dem Senegal, und meiner Musik, die von drei französischen Musikern gespielt wird. Auch wenn man die (in dieser Inszenierung: französische) Sprache vielleicht nicht versteht, sind die formalen Mittel deutlich. Der Text beginnt mit einem langen Gang durch den Wald, der sich mit seinen Attacken auf Herakles letztlich bereits als das Tier herausstellt, das zu erlegen er im Begriff ist. Der Griff, den der Wald zunehmend auf ihn ausübt, ist dadurch kompositorisch übersetzt, dass wann immer das Wort „Wald“ (französisch forêt) im Text auftaucht, der Text von der Musik unterbrochen wird, damit dieses forêt von den Musikern wie ein instrumentales Echo wiederholt werden kann. Zusammen mit weiteren instrumentalen Einsprengseln wird damit über der repetitiven KoraMusik von Boubakar Djebate ein komplexes Abhängigkeitssystem „aufgehängt“, in dem für den Schauspieler wie für die Musiker nie wirklich vorhersehbar wird, wann es rhythmisch weitergeht. Denn die französischen Musiker sind angehalten zu versuchen, dieses „Echo“ an einer musikalischen Stelle unterzubringen, die dem Puls und der musikalischen Phrase des afrikanischen Musikers entspricht. Auch der Schauspieler hat keine Sicherheit darüber, wann er weitersprechen darf, und muss die Spannung – die semantische Spannung, die den Satzteil zusammenhält – weiter halten über eine für ihn nicht vorhersehbare Dauer. Die Spannung, die dieser Text über den Wald produziert – in dem der Leser selbst zum Jäger wird, der versucht den Sinn zu erfassen7 –, überträgt sich über diese formalen Mittel zunächst auf den Schauspieler. Das ergibt für ihn eine Art „inneres Geschehen“, das allerdings nichts mit einer Identifikation mit der Figur des Herakles zu tun hat. Es ist zunächst nur eine Übertragung dieser musikalischen, formalen Forderung auf seine Wahrnehmungsweise. Das wiederum ist für das Publikum erfahrbar. Das Publikum kann mit dieser Klammer zwischen Sprache und Musik, zwischen Schauspieler und Bühne oder zwischen den verschiedenen Musiksorten eine Erfahrung machen, selbst wenn es den Text nicht versteht. Später greift die Musik des französischen Trios noch stärker in die Struktur des Textes ein. Der Zugriff der Musik wird noch schneller, noch formaler. Die Musik lässt hier jeweils nur noch zwei Silben des Textes hindurch. Die Verzahnung von Text und Musik wird enger. Damit lässt sich
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dieses Musiktheaterstück vielleicht eher mit einem poetischen Gebilde für die visuelle und akustische Erfahrung mit einem Text vergleichen. Der Titel meines Beitrags ist einem Buch des französischen Autors Maurice Blanchot entnommen und es ist vielleicht kein Zufall, dass ich seit einer Weile einen Zusammenhang verfolge, den ich zwischen Herakles 2 oder die Hydra (1972) von Heiner Müller und einem frühen Roman von Maurice Blanchot (1942) vermute. Wie der Titel des Romans Thomas der Dunkle8 schon andeutet, ist auch dieser Roman ganz mit der Suche nach einer Sprache beschäftigt, die etwas verbirgt, aber nichts verschweigt. Ich habe das zwar in den Archiven noch nicht erforscht, aber mein Verdacht ist, dass Heiner Müller diesen Text gekannt haben muss, weil wirklich wörtliche Übereinstimmungen in der Wortwahl, in der Motivwahl zu finden sind – auch wenn Heiner Müller Herakles 2, wie er mir einmal sagte, in einer langen Whisky-Nacht runtergeschrieben haben will. Ob so etwas wirklich möglich ist, bezweifle ich, dafür ist die Architektur des Textes zu präzise. Aber es gibt tatsächlich einen Zusammenhang zu einem zentralen Text von Maurice Blanchot, dessen erste zwei Kapitel von Thomas der Dunkle ganz viel mit diesem Weg durch den Wald und den Metaphern, die Heiner Müller hier wählt, zu tun haben. Nicht auszuschließen aber auch, dass beide gleichermaßen, zusammen mit Franz Kafka, Georg Büchners Lenz beerbt haben. In der Anziehung des Südpols Ein weiteres Beispiel ist der kurze Text von Heiner Müller Maelstromsüdpol9, der auch als Versuch zu lesen ist, einen Sog zu beschreiben mit den Mitteln einer Sprache, die alles andere ist als repräsentativ. Müller hat davor gewarnt, Texte nur zu benutzen, um Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, und auf der Wirklichkeit eines Textes bestanden. Alles andere hieße, Texte zu degradieren.10 Und weitergehend möchte ich auf der Wirklichkeit des Theaters bestehen; auf der Wirklichkeit eines Theaterabends, nicht auf das, worauf ein Theaterabend vielleicht verweisend erzählen will. Heiner Müller hat mit Maelstromsüdpol einen bereits bestehenden Text von Edgar Allan Poe, Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym11, komprimiert und die 35 Seiten von Poe auf eine knappe Textseite zusammengekürzt, in genialer Verdichtung der wichtigsten Bewegungen, die diese Erzählung einer Reise in die Fremde macht – insbesondere gegen Ende in der Anziehung des Südpols. Für ein Hörstück bzw. eine installative Performance Maelstromsüdpol12 habe ich dazu als Sprecher mit dem Schauspieler David Bennent gearbeitet. Ich kannte von einer Inszenierung Robert Wilsons seinen Umgang mit Sprache und war auch davon angezogen, wie sich seine Stimme den Stereoty-
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pen von Alters- und Geschlechterzuschreibung entzieht. Eine betörende Stimme zwischen Mann und Frau, zwischen jung und alt – eine Stimme, die selbst schon ein Geheimnis hat. Das Geheimnis, nicht Auskunft zu geben über das, was sie ist, bzw. über den, der spricht. „Qui parle?“, heißt es in einem anderen Roman von Maurice Blanchot mehrmals.13 […] wir treiben mit zunehmender Geschwindigkeit auf die Nebelwand zu manchmal reißt die Nebelwand und wir blicken in einen Wirbel aus flackernden Bildern wie Fetzen von Photographien im Feuer […]14 Mein Versuch bestand darin, zunächst aus einem rein formalen Motiv, aus dieser sicher nicht ganz zufälligen Anhäufung von F-Lauten am Ende dieser Passage ein musikalisches Prinzip zu machen, dem es mit körperlicher Anstrengung, aber durchaus auch in aller Formalität zu entsprechen gilt, und es auch akustisch zu einem Wirbel aus ffflackernden Bildern wie FFFFetzen von FFFFFotograffffffien im FFFFFFeuer wird. Abgesehen davon besteht die Schwierigkeit beim Sprechen dieses Textes, der vollkommen ohne Interpunktion geschrieben ist, darin, diese Interpunktion nicht allzu deutlich zu signalisieren. Das können wir an der Art, wie Heiner Müller selbst immer gelesen hat, lernen.15 Es geht darum, die Bedeutung offen zu halten, damit eigentlich erst im Nachvollzug der syntaktischen Struktur des Textes vielleicht so etwas wie ein Verständnis möglich ist – was ein individuelles Verständnis sein kann, wenn vielleicht zwischen zwei Worten, die ohne diese Interpunktion einen neuen Zusammenhang entdecken lassen, ein neuer Sinn sich anbietet, der möglicherweise beim Schreiben selbst noch gar nicht gedacht war. Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Aufnahmen mit David Bennent und wusste selbst noch nicht, was ich tatsächlich mit diesem Text kompositorisch im Einzelnen vorhaben würde. Es ging zunächst darum, den Text erst einmal als Material zu betrachten. So habe ich David Bennent gebeten, mit diesem Text in sehr unterschiedlichen Registern umzugehen. Z. B. den Text zu flüstern, nur einzelne Worte zu singen oder zu rufen – was ich auch jetzt noch beim Wiederhören wirklich grandios finde, denn er konnte damals schreien, ohne heiser zu werden. Er konnte vor allen Dingen schreien, ohne aggressiv zu wirken – ein Problem, vor dem ich oft stehe, wenn ich mit Schauspielern arbeite, bei denen ein lautes Sprechen oder Schreien/Rufen oft mit der Haltung oder Geste der Aggressivität verbunden ist. Mit David war das ganz einfach: „Stell dir eine riesige Entfernung vor und sie können dich kaum hören.“ Erst mit diesem, zwei Tage lang aufgenommenem Material konnte ich mir den Text erschließen und damit zu einer musikalischen Form finden.
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Zur Polyphonie der Theatermittel Ich möchte den Begriff der Polyphonie noch etwas präzisieren, von dem ich auf drei Ebenen sprechen will. Zunächst meine ich das gleichermaßen wichtige Sprechen aller Beteiligten einer Produktion. Durch das z. B. Sounddesigner, Lichtdesigner, Bühnenbildner, Kostümbildner, Performer oder Musiker sich für ihre Kunstform stark machen. Das bezeichne ich gerne als die erste Ebene oder Voraussetzung der Polyphonie: dass alle Beteiligten eine Stimme haben und sprechen können. Als ich in den 1980er Jahren noch viel für andere Regisseure komponiert habe, wurde überdeutlich, dass das dort nicht wirklich möglich war. Vielleicht bei den Konzeptionsgesprächen, aber keinesfalls während der Proben – und das ist bei mir anders. Inzwischen hat sich das, glaube und hoffe ich, wirklich verändert; denn damals war das, was man auf der Bühne letztlich sah, wirklich vor allem der Ausdruck eines Einzelnen. Mit einer zweiten Ebene meine ich die Materialisierung dieser Polyphonie in der Produktion. Das sieht man z. B. an Ou bien le débarquement désastreux. Das Bühnenbild von Magdalena Jetelová ist kein illustrierendes Dekor, sondern ein Ding an sich, eine Skulptur. Das Licht von Jean Kalman (z. B. die hohen Lichtrampen aus vertikal montierten sogenannten Svoboda-Scheinwerfern) haben den Charakter von eigenständigen Skulpturen und werden dadurch zu einer selbstständigen künstlerischen Kraft. Ebenso der Sound der Musiker, in einem Klangbild des Sounddesigners Willi Bopp sind nicht nur illustrative oder funktionale Mittel. All diese Kunstformen, die an einem solchen Prozess beteiligt sind, sind nicht Mittel zum Zweck der Untermalung, Sichtbarmachung, Verstärkung eines Inhalts, sondern haben gleichermaßen ihre unabhängigen Bedeutungen. Und das schon bei der Entstehung der Arbeiten. Gerade diese Unabhängigkeit trifft sehr stark für meine Arbeiten mit Klaus Grünberg zu. Einige von Ihnen haben vielleicht Stifters Dinge16 gesehen, eine Produktion ohne Schauspieler. Deswegen möchte ich sie auch nicht weiter zum Thema machen. Aber als wir anfingen, formulierte ich den Wunsch, mit einem Klavier zu arbeiten, Klaus Grünberg wollte gerne mit Wasser arbeiten. Das wurde nicht weiter begründet oder kontextualisiert. Wir fingen an mit einem Pool und zwei Klavieren, nach zwölf Monaten waren es schließlich drei Pools und fünf Klaviere. Und auch das hatte etwas mit Musik zu tun, denn Klaus Grünberg ist ein Bühnenbildner, der musikalisch denkt, und für ihn wäre ein einziger Pool wohl zunächst nur Bedeutung/Symbol gewesen. Erst drei Pools werden zu einem Rhythmus, einem Rhythmus von Bildern, die uns in der Wiederholung noch weitere Freiheiten der Wahrnehmung geben. Das ist auch eine musikalische Visualität, die in den Arbeiten zu erleben ist.
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Die dritte Ebene der Polyphonie ist die Perspektive der Zuschauenden, die sehr individuell sein kann und mit der all die Stimmen derer gemeint sind, die etwas gesehen haben, etwas anderes gesehen haben und ihre Gleichberechtigung haben in der Wahrnehmung und Sinngebung. Theater als Museum der Sätze Auch Eraritjaritjaka ist ein Titel, ein Begriff, der zunächst unklar bleibt, aber in Wirklichkeit ein Wort der Anderen ist, ein Begriff, den ich unter den anthropologischen Studien von Elias Canetti gefunden habe und der von den Aborigines aus Australien stammt. Das Wort bedeutet „verlangende Suche nach dem, was verlorengegangen ist“. Und vieles von meiner Arbeit, besonders bei der Arbeit mit akusmatischen Stimmen, hat mit dem Wunsch zu tun, aufzuheben, was droht verlorenzugehen und dem Vergessen anheimzufallen. Als wir mit diesem Stück 2010 zu einem Gastspiel nach Melbourne eingeladen waren, mussten wir uns für den Gebrauch dieses Worts zuerst bei einer Behörde der Aborigines, die darüber entscheidet, ob ein Wort aus ihrer Sprache für etwas anderes stehen kann, eine Genehmigung einholen. Das Interessante war, dass sie das Wort dort selbst nicht mehr kannten, weil es verlorengegangen war – ein aus der Welt gefallenes Wort. Sie konnten aber über andere, ähnliche, noch existierende Worte in etwa rekonstruieren, was es bedeutet, und haben uns schließlich auch die Erlaubnis erteilt. Aber es war eine nicht unwesentliche Erfahrung mit dieser Produktion, die zwischen 2004 und 2016 in mehr als 25 Ländern der Welt zu sehen war, ein Wort wieder zurückbringen zu können zu denen, von denen es entliehen ist. Am Ende dieses Stückes Eraritjaritjaka – Museum der Sätze17 hören wir eine Liste von utopischen, ironischen Aphorismen, die Elias Canetti auf seine verschiedenen Bände mit Aufzeichnungen verteilt hat. Immer wieder dort finden wir einen Satz, der mit derselben Formel beginnt: Dort knüpft ein Satz an den anderen an, dazwischen sind hundert Jahre. Dort flüstern sie miteinander und bestrafen ein lautes Wort mit Exil. Dort sind die Leute am lebendigsten beim Sterben. Dort gehen die Leute in Reihen aus, es gilt als unverschämt, sich allein zu zeigen. Dort hat man einen anderen für Schmerzen, eigene gelten nicht. Dort lesen die Leute zweimal im Jahr die Zeitung und übergeben sich. Dort haben Länder keine Hauptstadt, die Leute siedeln sich alle an den Grenzen an, das Land bleibt leer, die Hauptstadt ist die ganze Grenze.
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Dort werden die Hausnummern täglich gewechselt, damit keiner nach Hause findet.18 Diese Liste von Sätzen beendet mein Stück Eraritjaritjaka mit antitotalitären Texten dieses Autors und bei dieser Szene wird noch ein anderer Begriff von Polyphonie hörbar, der direkt zurückgeht auf seine musikalische Definition. Wir hören den vierstimmigen Contrapunctus IX aus der Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach, gespielt vom Mondriaan Quartett. Die vier Musiker des Streichquartetts sitzen jeweils an den vier Ecken einer leeren Bühne und die Stimme des Schauspielers, die sich im Einsatz, im Rhythmus, mit dem aufspringenden Anfangsmotiv („Dort“, in der französischen Übersetzung „La bas“) und in der gesamten Musikalität des Sprechens diesem Contrapunctus verpflichtet, wird damit quasi zur fünften Stimme dieser Fuge. Four wonderful ‚Nobodies‘ Das Hilliard Ensemble ist ein Vokalquartett von vier britischen Gentlemen, die bis zu ihrer Auflösung 2014 in den letzten 40 Jahren meist in Kirchen konzertierten und 2006 noch einmal Lust auf etwas anderes hatten. In ihrem Auftrag entstand zwei Jahre später mein Musiktheaterstück I went to the house but did not enter.19 Und die charakteristische Qualität des Hilliard Ensembles besteht vor allem in der Fähigkeit dieser vier Herren – trotz ihrer persönlich sehr ausgeprägten Individualität – beim chorischen Gesang, wenn sie zusammen homophone Passagen singen, die Individualität ihrer Stimmen zurückzunehmen fast zu einer Neutralität. Für das Zustandekommen, für das Gelingen einer fünften Stimme. Im Laufe von Workshops, die schon sehr früh, ca. zwei Jahre vor der Premiere, begonnen haben, suchte ich dann Texte, die genau mit der Frage der Unsicherheit oder Fragwürdigkeit „Ich zu sagen“ zu tun haben. Daraus ist eine Folge von wichtigen Texten des 20. Jahrhunderts entstanden, die sich auf formal sehr unterschiedliche Weise mit dem Scheitern des Subjektbegriffs auseinandersetzen: Das Gedicht The Lovesong von J. Alfred Prufrock von T. S. Eliot20, Maurice Blanchots Erzählung Der Wahnsinn des Tages21, Franz Kafkas kurzer Prosatext Ausflug ins Gebirge22 und Samuel Becketts späte Prosa Worstward Ho23. Es ist diese Zurückhaltung, die ihnen zu eigen ist – die auch durchaus visuell eine Entsprechung hat, da sie kaum den Mund aufmachen, wenn sie singen (was ich sehr mag), die mich zu dieser Textauswahl motiviert hat und z. B. auch in der Abwesenheit jeglicher Farbe (im Bühnenbild des ersten Aktes von Klaus Grünberg) sichtbar wird. Und das ist wichtig: Die Textauswahl stand nicht am Anfang. Die Motive,
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warum ich ein Stück mache, sind immer andere, hier waren es z. B. nicht zuallererst die Texte, sondern der Auftrag dieses Ensembles, etwas zusammen zu entwickeln. Der Text von Eliot bringt das Scheitern eines Lovesongs auf die Bühne; im zweiten Akt – in dem die vier Herren den Text von Maurice Blanchot sprechen und dabei eigentlich zu Schauspielern werden – geht es letztlich um die Unmöglichkeit einer Erzählung: „A story? No. No stories, never again“. Und nach einem kleinen Interludium mit Kafkas „pack of nobodies“ wird das Scheitern mit Beckett im dritten Akt wörtlich zu einem „fail better“. Ein Text, in dem der Übergang von Sprache zu Musikalität auf eine besondere Weise dermaßen bereits „komponiert“ ist, dass ich mich als Komponist sehr zurücknehmen konnte, um ganz dem Sprachrhythmus Becketts zu vertrauen. All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.24 Vielleicht kommen wir damit auch der Frage näher, was mich an dieser Art des Sprechens interessiert, am Sprechen zwischen Musik und Sprache, und was mich interessiert, überhaupt Theater zu machen: nämlich letztlich an der Qualität anzuknüpfen, die Musik so auszeichnet, auch dann, wenn ich es zunächst gar nicht mit Musik zu tun habe. Und wenn ich am Anfang zitiert habe, dass Kunst von Unausdrückbarem zu sprechen habe, dann kann das die Musik am ehesten. Denn Musik hören wir immer wieder neu und haben dennoch kein klares Verständnis davon, was sie tatsächlich ausdrückt. Der Sinn, den wir der Musik zusprechen, kann sich eben sehr individuell ereignen. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy spricht von einer musikalischen Fragilität oder auch von einer musikalischen Diskretion. Und er sieht diese musikalische Fragilität in ihrer Nichtartikulation, sie „liegt an der Nichtartikulation eines stets zugleich aufgespannten dargebotenen und wieder entzogenen Sinns“25. Das ist es bereits, was mich an Texten interessiert, die eine so starke Musikalität in sich tragen, dass sich für sie kaum eine Kategorie finden lässt – wie z. B. bei Beckett. Ist das ein Roman? Eine Litanei, ein Gebet, eine Anrufung? „Sprechen ist nicht Sehen“ In dem Band Das Unzerstörbare hat Maurice Blanchot davon gesprochen, dass sich Vieles oder alles, was wir sagen, auf die Helligkeit als das alleinige Maß bezieht.26 Die Helligkeit steht für die Klarheit, das Verständnis. Und in diesem Zusammenhang verweist er auf Heraklit und
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die Idee, „dass es eine Sprache geben möge, worin die Dinge sich weder zeigen noch verbergen. Eine Sprache, die etwas von einem Orakel hat, von den Weissagungen, die spricht ohne zu sagen und ohne zu schweigen.“27 Eine solche Sprache besteht auf dem Rätsel, auf dem Rätselcharakter der Kunst. In den fiktiven Dialogen, die Maurice Blanchot in diesem Band mit sich führt, spricht er zugleich auch von einem Sprechen, dass „gleichwohl den Nächsten nie nennt, sondern an ihn appelliert, damit er als Unbekannter sich uns zuwendet“28. Damit kann z. B. auch gemeint sein, dass wir jemandem zuschauen, der spricht, ohne dass er dieses Sprechen an uns adressiert. In Worstward Ho singen die Sänger des Hilliard Ensembles aus dem Fenster heraus. Und wir interessieren uns dafür vielleicht gerade deshalb, weil sie uns nicht ansprechen. Und wir wenden uns ihnen zu mit unserem ganzen Interesse, mit unserer Motivation, vielleicht sogar in einem erhöhten Maße mit unserer Wahrnehmung, gerade weil sie sich von uns abwenden oder weil sie nicht in einer aufdringlichen Zeichendichte auf uns einreden. Vielleicht sei hier nochmal der Verweis erlaubt auf einen Text mit einer Wiederholungsstruktur, wie sie zuvor schon bei meiner Auswahl von Canetti-Texten auftauchte und wie man sie auch in dem reduzierten Vokabular von Samuel Becketts Worstward Ho aufspüren kann – ein Verweis auf die Aufmerksamkeit, die sich von der Semantik auf den Rhythmus verschiebt und zwischen beiden hin und her pendelt. Es ist ein weiterer Ausschnitt aus meinem Stück Hashirigaki, hier mit einem Text aus Gertrude Steins berühmten Roman The Making of Americans. Wie ich finde, einer der drei großen Romane vom Anfang des 20. Jahrhunderts, der neben Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und James Joyces Ulyssess die Frage nach der Zukunft dieser literarischen Gattung besonders experimentell und grundsätzlich stellt. There are very many people being living. Certainly very many come together to see something, to hear something, to do something, to see some see something, to see some hear something, to see some do something, to hear some see something, to hear some do something, to hear some hear something, to feel something, to feel some feel something, to feel some hear something, to feel some see something, to see some one do something, to hear some one do something, to feel some one do something, to do something to some, to do something to some one, to feel some do something to some, to hear some do something to some one, to see some do something to some one, to feel some doing something to some, to hear some do something to
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some, to see some do something to some, to see some one do something to some, to feel some one do something to some, to hear some one do something to some, to feel some one do something to some one, to see some one do something to some one, to hear some one do something to some one, to believe something, to forget something, to remember something, to like something, to hate something, to believe some, to believe some one, to like some, to like some one, to remember some, to remember some one, to forget some, to forget some one, to hate some one, to hate some, to be happy, to be happy again, to be earnest, to be serious, to be serious again, to be quick, to be quick again, to be frightened, to be frightened again, to be quiet, to be angry, to be angry again, to be brave, to be brave again.29 Maurice Blanchot spricht über Samuel Beckett und Gertrude Stein von einem „enigmatischen Raum der Wiederholung“. Zweimal das Gleiche zu sagen, nicht weil man auf das Identische bedacht ist, sondern aus der Ablehnung des Identischen heraus und so, als ob der gleiche Satz, wenn er reproduziert wird, dabei aber sich verschiebt, sich gleichsam in sich selbst entwickelt und zwar gemäß den Eigenschaften des von der Verschiebung erzeugten Raumes.30 Lassen Sie mich mit der Bemerkung schließen, dass mein Verfahren, Theater mit all seinen Mitteln musikalisch zu denken und zu bauen, vor allen Dingen darauf zielt, an das Wesen von Musik heranzukommen. An die ureigenen Möglichkeiten, die Musik hat – so wie sie gerade von JeanLuc Nancy formuliert wurden. Auch dann, wenn es nicht um komponierte Klänge geht, sondern z. B. um die Sprache selbst. Es ist der Versuch der Übersetzung dieser Qualität, nämlich der Nichtartikulation eines stets zugleich dargebotenen aufgespannten entzogenen Sinns in die Sprache der Bühne, der Bilder, der Texte und des Sprechens.
1
Transkript eines Vortrags von Heiner Goebbels am 29. November 2017 an der Hochschule der Künste Bern. Der Titel des Vortrags ist einem Zitat von Maurice Blanchot entnommen, in: Blanchot, Maurice: Das Unzerstörbare, München 1991, S. 92.
2
Lyotard, Jean-François: „Das Erhabene und die Avantgarde“, in: Le Rider, Jacques/Raulet, Gérard (Hrsg.): Verabschiedung der (Post)Moderne? Tübingen 1987, S. 251–269, S. 254.
3
Canetti, Elias: „‚Die Wirklichkeit wie mit Scheinwerfern von außen her ableuchten.‘ Ein Gespräch mit Horst Bienek (Oktober 1965)“, in: Canetti, Elias: Aufsätze, Reden, Gespräche, München/Wien 2005, S. 165–173.
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4
Canetti: Die Provinz des Menschen, Aufzeichnungen 1942–1972, München 1973, S. 211.
5
Müller, Heiner: Herakles 2 oder die Hydra, in: ders.: Werke 2 Die Prosa, hrsg. v. Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin, Frankfurt/M. 1999, S. 94 ff.
6
Ou bien le débarquement désastreux, Musiktheater von Heiner Goebbels, Paris 1993.
7
„Der Text ist ein Wald, in dem der Leser Jäger ist.“ in: Benjamin, Walter: Das Passagenwerk. Gesammelte Schriften V/1, Frankfurt/M. 1982, S. 530.
8
Blanchot, Maurice: Thomas der Dunkle, Frankfurt/M. 1987.
9
Müller: Maelstromsüdpol, in: Werke 2 Die Prosa, Frankfurt/M. 1999, S. 120 f.
10
„Der Text wird im deutschen Theater nicht als Wirklichkeit anerkannt, er wird nur benutzt, um Mitteilungen über Wirklichkeit zu machen. Und das ist eine Degradierung von Texten, das negiert die eigene Wirklichkeit von Texten.“ Heiner Müller im Programmbuch zu Robert Wilsons the CIVIL warS (Köln 1984), zitiert nach: Pfister, Manfred: „Meta-Theater und Materialität. Zu Robert Wilsons the CIVIL warS“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1995, S. 454–473, S. 458.
11
Poe, Edgar Allan: Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym zu Nantucket, Gesammelte Werke in 5 Bänden, Band 4, aus dem Amerikanischen von Arno Schmidt, Zürich 1994.
12
Maelstromsüdpol, Installative Performance von Heiner Müller, Heiner Goebbels, Erich Wonder, documenta 8, Kassel 1987.
13
Blanchot: Warten Vergessen, Frankfurt/M. 1987, S. 7.
14
Müller: Maelstromsüdpol, S. 120 f.
15
Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus/Goebbels, Heiner (Hrsg.): Heiner Müller Sprechen (= Recherchen 69), Berlin 2009.
16
Stifters Dinge, Performative Installation von Heiner Goebbels, Lausanne 2007.
17
Eraritjaritjaka – Museum der Sätze, Musiktheater von Heiner Goebbels, Lausanne 2004.
18
Die Sätze finden sich in den Aufzeichnungen: Canetti, Elias: Die Provinz des Menschen, Aufzeichnungen 1942–1972, München 1973; Canetti: Das Geheimherz der Uhr, Aufzeichnungen 1973–1985, München 1987 und Canetti: Die Fliegenpein, Aufzeichnungen, München 1992.
19
I went to the House but did not enter, Musiktheater von Heiner Goebbels, Lausanne 2008.
20
Eliot, T. S.: The Lovesong of J. Alfred Prufrock, London 1915.
21
Blanchot: Der Wahnsinn des Tages, Wien/Berlin 2016.
22
Kafka, Franz: Der Ausflug ins Gebirge, erstmals veröffentlicht in: ders.: Betrachtung, Leipzig 1913.
23
Beckett, Samuel: Worstward Ho, Frankfurt/M. 1989, S. 6.
24
Ebd., S. 6.
25
Nancy, Jean-Luc: Der Sinn der Welt, Berlin 2014, S. 123.
26
Vgl. Kapitel „Sprechen ist nicht Sehen“, in: Blanchot: Das Unzerstörbare, S. 83–94.
27
Ebd., S. 92 f.
28
Ebd., S. 119.
29
Stein, Gertrude The Making of Americans, Illinois 1995.
30
Blanchot: Das Unzerstörbare, S. 159.
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STIMME ALS MUSIKALISCHPERFORMATIVES PHÄNOMEN Potentiale des Musikalischen im sprachlichen Kontext -
Die Stimme als musikalisch-performatives Phänomen in der Gruppe zu erfahren, liegt in der „Stimme als wirklichkeitsstiftende Kraft“, einer Kulturtechnik, die innere Vorstellung (Autorschaft), gleichzeitige Ausführung (Interpretation) und Hörvirtuosität (sinnstiftende Gestaltung) vernetzt. Es ist eine Kulturtechnik, welche die Stimme als sinnlichmaterielles Phänomen begreift, das der Sprache, dem Inhalt übergeordnet ist. Ausschlaggebend ist die Entwicklung einer Hörvirtuosität, die erlaubt, im Moment musikalisch-kompositorisch mit der Stimme agieren und reagieren zu können, d. h. die Entwicklung einer sinnlichen Intelligenz, die kompositorisches Denken auf die Gestaltung aller stimmlicher Parameter und ihres Verhältnisses zueinander übertragen kann. Dieses Verfahren basiert im Wesentlichen auf der Kulturtechnik der freien Improvisation und den Errungenschaften des zeitgenössischen „composed theatre“1. Wesentlich für das „composed theatre“ ist, dass kompositorisches Denken auf die Gestaltung aller akustischen und visuellen Parameter auf der Bühne und ihre Verhältnisse zueinander übertragen wird.2 Verlässt man den semantischen Aspekt der Stimme, der die Wörter mit beabsichtigten Bedeutungen verknüpft, gelangt man in einen Raum, in dem der Klang der Stimme nicht nur das Wort (Logos) ersetzt, sondern in ein „Dazwischen“, in ein unbekanntes Gebiet, das ein Potential an multiperspektivischen Wirkungen entfaltet. Die Musikalisierung der Sprache eröffnet eine radikale Vokalität, die von der Idee einer musikalischen Landschaft als Hintergrund oder Katalysator für eine oder mehrere Figuren bei weitem übertroffen wird. Stattdessen wird das Zusammenspiel der musikalisch-performativen Phänomene zwischen Sprachsemantik und Musikalisierung erprobt. In der wechselseitigen Verwicklung durch permanente De- und Rekontextualisierung, die Mal um Mal ihre Bedeutung zwischen Klang und Sprachsemantik wechselt, entsteht ein dezentrales Beziehungsnetz zwischen den Medien Sprache
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und Klang. Musikalisches Denken schafft eine neue Transparenz des Durchklingens, weil wir nicht verstehen müssen, weil kein Inhalt transportiert wird. Zwar kann die Semantik der Sprache oder die Musikalität in den Vordergrund treten, jedoch werden die Verhältnisse immer wieder neu ausgehandelt. Im Folgenden möchte ich die Potentiale des Musikalischen im sprachlichen Kontext sowohl anhand eigener künstlerischer Arbeiten als auch anhand meiner Arbeit als Dozentin für zeitgenössische Stimmpraxis und Improvisation beschreiben. Stimme (ohne) Körper, Interfaces in Live Performances Als improvisierende sowie komponierende Sängerin und Klangkünstlerin nähere ich mich der Sprache als Hörende, ja Lauschende. Ich suche nach Wahrnehmungsfeldern, die über die Semantik hinausgehen, die den Fokus auf weitgefächerte Verlautbarungen der Stimme bzw. der Sprache ausweiten. Mich interessieren Spannungsfelder zwischen Klang, Sprache und Körper, die sich auf der Bühne wiederum kreativ nutzen lassen. In meinen Soloprojekten beschäftige ich mich als Stimmperformerin mit an Gestik gekoppelter Sensor-Live-Elektronik, um die vokalen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern und die daraus resultierende Semantik des Affektraums zu erkunden. Räumlich ausgedrückte Gesten und daran gekoppelte Klangprozesse lassen viele Verhältnisse von Stimmverkörperungen bzw. -entkörperungen zu und es eröffnen sich mehrschichtige Inszenierungskategorien und -parameter der Stimmklangoder Kompositionsparameter kontrollierenden Gesten. Die Akusmatisierung und Verräumlichung der Stimme eröffnet eine entkörperte Vokalität. Die dem Körper, meiner Person, entkoppelten Stimmen könnte man als neue imaginäre Personae (Persona = hindurchtönen) anschauen. Es entstehen amorphe, in ihrer Form sich ständig verändernde Personae, sogenannte Stimmwesen, die als Stimmklangkörper im Raum auftreten. Die an die Gestik gekoppelte Sensor-Live-Elektronik gestaltet als vermittelndes kommunikatives Element den Affektraum live aus. Durch das Zuspielen bzw. „gestisches Wiederbeleben“ von komponierten Stimmzonen ergibt sich ein Spannungsverhältnis von Fixierung und Flüchtigkeit. Es ist eine virtuell plastische Erfahrung, in der die entstandenen Stimmkörper im Raum mittels gestischer LiveElektronik wiederum berührt und gespielt werden können.3 Auf diese Art entstehen auch körperlose Sprachkörper, die sich skulpturenhaft und vielstimmig im Raum bewegen können. In diesen Sprach-Klangkörpern ist der Inhalt der Sprache nicht vordergründig. Sie mögen etwas andeuten, sei es eine Klanglichkeit aus flüchtig hingewor-
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Liquid Souls mit Andreas Stahel, Jeannine Hirzel und Jean-Claude Pellaton. Foto: Laura Hänni
fenen Wörtern und Sätzen, aus Verlautbarungen von Ungesagtem und Ahnungen. Durch das Loslösen der Klanglichkeit vom Sinn entsteht ein Bruch, eine Irritation, die den Zuschauer einlädt, selbst zum Lauschenden zu werden, will er sich einen Sinn erschließen.4 Stimmintensitäten und körperliche Herstellungsaspekte Weil die Aufführungen für Liquid Souls 2012 in einem ehemaligen, von verschiedenen Gewässern umgebenen Fischhaus im Schlosspark von Donaueschingen stattfanden, wollte ich zusammen mit der Berliner Medienkünstlerin Claudia Brieske zum Thema Wasser arbeiten. Inspiriert von der symbolischen und gesellschaftlichen Bedeutung, seiner Dynamik und Wandelbarkeit als auch seinen Extremen, entwarfen wir raumbezogene Stimminszenierungen und an den Klang getaktete Bildkompositionen. Claudia Brieske ließ eine übergroße Wand bauen, die ans Fischhaus gelehnt, das ganze Gebäude frontseitig verdeckte. Diese Wand hat nicht nur die Funktion von Abdeckung und Verdeckung, sondern ist ein eigenständiges plastisches Element, das sich mit der Architektur verbindet. Durch das Verbergen wird die Charakteristik des Orts noch betont. In der Wand ist eine Öffnung eingelassen, die sich mit einem trichterförmigen Körper verbindet, der eine tunnelartige Verbindung von Innenund Außenraum zulässt. Er dient sowohl als Aktionsraum für die Sänger und Sängerinnen als auch als Projektionsfläche für computergesteuerte Bewegtbilder. Das Verschließen des Raums wird somit zu einer erneuten Öffnung. Bilder, Stimmen und Klänge dringen von innen nach
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außen und umgekehrt. Videosequenzen, die als getaktete Projektionen an den Stimm- und Klangraum gekoppelt sind, durchströmen – virtuellen Wasseradern gleich – den Raum wie einen Organismus: im Innenraum, im Außenraum und von innen nach außen, miteinander, gegenläufig, sich drehend, sich biegend, abrutschend – aber auch einem Ein- und Ausatmen ähnlich. Zu dieser Skulptur entwarf ich eine auf Aufnahmen unserer Stimmen basierende Klanginstallation mit in den Park auslaufenden Lautsprechern, durch die sich sowohl die akusmatischen Stimmen als auch die klanglich bearbeiteten Wassergeräusche auf das Haus bzw. die Wandskulptur zu- und davon wegbewegten. Die Stimme verlässt beim Vokalisieren sowieso den Körper und als akusmatische Stimmen aus dem Lautsprecher werden die eigenen Wiedergänger auf der Zeitachse zur Erinnerung, zum medial gedehnten Echo. Für die Live-Aufführungen interessiert es mich, eine Materialdisposition an Sprachfragmenten, Statements und Stimmmodulen5 zum Thema Wasser in der gemeinsamen Arbeit mit den Sängern und Sängerinnen auf vokale und gestische Möglichkeiten hin auszuloten. Aus dem scheinbar zufälligen Laut und aus der Sprache heraus werden Grenzen des Materials gesucht: extreme Höhe, tiefes Knarren, dramatische Lautstärke, Grenze der Hörbarkeit, chaotisches Stimmengewirr, verständliche Textfragmente, Kehlkopftremoli, Falsettwirkungen, konsonantisches Rauschen, mikrotonale Gesänge, Reibegeräusche und Multiphonics (mehrere Töne klingen, meist chaotisch gleichzeitig). Da keiner von uns Sängern und Sängerinnen eine Sprechausbildung hat, möchte ich vielmehr den individuellen Charakter ihrer Stimmen hervorheben. Ich suche nach einer Unmittelbarkeit im Ausdruck, um das Bemühen um richtige Aussprache zu umgehen. Ich lasse sie auf die Bühne rennen und gleichzeitig Sätze rufen oder in genau festgelegten Abläufen von Liegen, Sitzen, Stehen Konsonanten, Silben, Textfragmente und Vokale rezitieren. Ich stelle Mikrofone zu hoch, zu tief ein, damit sie sich strecken und beugen müssen, um sprachliche Vokalphänomene zu erzeugen. Ich lasse sie ohne Lippenverschluss, als wenn sie Wasser im Munde hätten und mit Armen und Beinen in der Luft schwimmend auf einem Stuhl sitzend reden usw. Mich interessieren die Bedeutungsverschiebungen von körperlich erzeugten Stimmintensitäten und die aus dieser Übersetzungsarbeit entstehende eigene Ästhetik. Worte werden weniger ihrem Gehalt als in ihrer Klanglichkeit wahrnehmbar gemacht. Die Spannung zwischen dem Textinhalt und den ungewohnten Körperlichkeiten überträgt sich durch den inneren Herstellungsprozess auf die Ausübenden. Das wiederum ist für das Publikum wahrnehmbar. Durch den Probenprozess
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Aktionen verbunden mit Anweisungen. Grafik: Franziska Baumann
Fictions 4 für Stimme, Bassklarinette, Viola und Perkussion. Grafik: Franziska Baumann
schreiben sich die erzeugten sprachlichen Verlautbarungen im Körper ein und werden dadurch abrufbar. Die Hervorbringung und Evokation verschiedener stimmlich-körperlicher Raumerscheinungen, Raumeindrücke und Raumwirkungen sind von zentraler Bedeutung. Der Verzicht auf die Handlung als Einheit stiftendes Element bildet eine entscheidende Voraussetzung für das
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modulartige Stimminszenierungskonzept in Donaueschingen. Sätze und Satzfragmente, vokale Intensitäten, Momente aus akusmatischem Stimm- und Wasserklangmaterial und Bildraum präsentieren sich gleichwertig und unabhängig voneinander, umrunden von verschiedenen Perspektiven den Themenkomplex Wasser und werden als „Opera of the Box“ an die Zuschauer herangetragen.6 Dynamische Notation und Sprachklang Generierung in Fictions In seiner Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ berichtet der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges7 von einer fiktiven Kultur, deren Sprache keinerlei Hauptwörter kennt: „Es gibt kein Wort, das dem Wort ‚Mond‘ entspricht, aber es gibt ein Verbum, das im Lateinischen ‚lunare‘ oder bei uns ‚monden‘ lauten würde. Der Mond ging über dem Fluß auf lautet: blör u fang axaxcas mlö oder in genauer Wortfolge: ‚Empor hinter dauer-fließen mondet’es‘.“ Einfachste Aussagen lassen sich in dieser Sprache nur durch komplizierte grammatikalische Konstruktionen ausdrücken, die jedoch voller Poesie und Zauber sind, wie im oben zitierten Beispiel. Inspiriert von dieser Idee entstehen für Fictions vier Kompositionen. Daran gekoppelt sind räumliche, an die Musik getaktete Bildmomente von Claudia Brieske, sogenannte fiktive Orte. Für die Kompositionen habe ich einzelne Klangtypen wie Drones, Texturen, Pulsationen und Aktionen in grafischen Zeichnungen ausgelotet und mit verschiedenen beschreibenden Indikationen und Adjektiven kombiniert, die jedoch eher eine poetische und imaginative Seite ansprechen als klar definierte Spielanweisungen darstellen. Drones sind langgezogene, an- und abschwellende Töne, die mit wenig Fluktuation gespielt und bei Wiederholung nicht transponiert werden. Sie repräsentieren einen konstanten, homogenen Klangzustand. Textur beinhaltet innerlich bewegte, granulierte Klänge, die auf unterschiedlichste Weise durch Mustergenerierung gestaltet werden. Auch Fantasiesprache von multiplen Persönlichkeiten, auf Instrumente übertragen. Aktionen sind singuläre, heterogene, expressive Gestalten, kurze Eruptionen, die von Pausen unterschiedlicher Länge durchbrochen werden. Repetitionen/ Pulsationen sind Klänge, die in verschiedenen Geschwindigkeiten innerhalb eines Rasters gespielt werden. In der Begegnung mit den einzelnen Musikern werden individuelle Interpretationen zu meinen grafischen Notationen, den Klangtypen und verbalen Indikationen herausgearbeitet. Dabei werden sie zu Co-Komponisten, indem sie ihre individuelle Entscheidung über die genaue Wahl des Musikmaterials, die Farbigkeit, den Anriss, die Hüllkurve, die Dynamik usw. treffen.
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Für die Französisch sprechenden Musiker des Ensembles NEC (Nouvel Ensemble Contemporain, La Chaux-de-Fonds) habe ich die Indikationen und Adjektive vom Deutschen zum Teil in fiktiver Weise ins Französische übersetzt, z. B. brossant für „bürstend“. Vom Verb brosser abgeleitet, gibt es brossant als Adjektiv im Französischen nicht, jedoch imaginieren wir wie bei Borges, was gemeint ist. Jenseits von der sogenannten Improvisation fixieren hier meine Notationen jenen Freiraum, der ansonsten nur in der Improvisation selbst zu finden ist. Spontaneität betrifft ausschließlich den Realisierungsprozess durch die Interpreten, nicht jedoch meine kompositorische Tätigkeit „am Papier“. Gleiche Zeichen bedeuten für die einzelnen Interpreten Unterschiedliches. Mich interessiert es, sensitive Impulse freizusetzen und damit Sensibilitäten für individuelle unerforschte Klang- und Stimmmaterialien zu erzeugen und diese wiederum in einem Kollektiv zu bündeln. Biografische Sprach-Fiktion Des Weiteren stelle ich den Musikern Fragen zu einer imaginierten fiktiven Biografie. Die daraus auf Deutsch übersetzten Fragmente ihrer Aussagen versehe ich mit musikalischen Anleitungen zur Aussprache, z. B.: „aussi vite et aussi haut que possible, avec beaucoup d’air et saccadé“ (so schnell und so hoch wie möglich, mit viel Luft und abgehackt), „répétez quelques syllabes plusieurs fois et laissez-les monter et descendre“ (repetiere einzelne Silben mehrmals und lasse sie an- und abschwellen) usw. Da sie nicht genau verstehen, was sie auf Deutsch sagen, können sie sich aufs Musikalische und die Gestik konzentrieren, was den Stimmen zu einer eigenen physischen Präsenz verhilft. Durch die Übersetzungsprozesse und durch die Musikalisierung ihrer eigenen Aussagen entstehen so von ihnen entkoppelte Sprachinseln, die sie auf einer neuen Ebene wieder verkörpern. Sprache in Materialität und Musikalität Die Frage nach der Materialität eines sprachlichen Ereignisses erzeugt eine Verschiebung des Hörfokus vom „Was“ auf das „Wie“. Jenny Schrödl spricht von der „ereignishaften Dimension stimmlicher Materialität anstelle der Theaterstimmen als Mittel der Darstellung psychologisch gedachter Rollenfiguren“8. Dies ermöglicht eine andere und erweiterte Vorstellung von Stimmen bzw. Stimmenklang zu entwerfen. Hören wir auf die musikalische Materialität statt auf den semantischen Inhalt von Sprache, impliziert dies ein Zusammenspiel der Parameter wie Tonhöhe, Stimmdynamik, Klangfarbe, Intonation, Tempo und Dichte.
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Dadurch erfährt die sprachliche Äußerung eine Wandlung vom bedeutungstragenden und expressiven Phänomen zu einem eigenständigen musikalischen Phänomen. Dies eröffnet hybride Gestaltungsmöglichkeiten, indem Text rhythmisch, musikalisch aus dem Stimmklang heraus in verschiedene Richtungen und Perspektiven bearbeitet wird und sich damit über das Sprachmedium hinaus neue Wege zu den Worten und dem Inhalt entwirft und neue Wirkungen erschließen.9 Musikalisierung der Sprache in der Arbeit mit Schauspielern Ein weiteres Beispiel entsteht 2012 im Studiengang Theater der Hochschule der Künste Bern, als der damalige Student Cornelius Danneberg sich entscheidet, in seinem Solostück Alles nach der gleichnamigen Erzählung von Ingeborg Bachmann mit dem Spannungsverhältnis zwischen Semantik und stimmmusikalischer Erweiterung zu spielen. Wir stellen uns die Frage, wie er vom Sprechen ins Singen/Vokalisieren wechselt und umgekehrt. Wie diese Figur aus dem Stück Alles, die zuerst nach klassischem Handwerk psychologisch erarbeitet wurde, nach neuen Lebens- und Denkformen sucht, befreit sich auch Danneberg als Darsteller von der klassischen Darstellungsform, indem er den Text im Lauf der Erzählung mehr und mehr als Vorlage sieht, um daraus Klangmaterial, Rhythmen und Musik zu schöpfen und um sich vom TextDenken in einer Situation und einer Figur und von ständiger Sinnhaftigkeit zu lösen. Wir arbeiten als erstes mit der Wahrnehmung der Materialität der Sprache: Das heißt, mit Materialität sind all jene Phänomene und Prozesse verbunden, die nicht darin aufgehen, zu bedeuten oder Sinn hervorzubringen, sondern bei denen es um ihr Erscheinen selbst und die damit verbundene Wirkung geht.10 Mit Blick auf körperliche Herstellungsaspekte und stimmphysiologisch optimiertes Verhalten untersuchen wir verschiedene „musikalisierte“ Wahrnehmungs- und Hörmodi der Stimme diesseits von semantischer Funktion. Indem wir den Fokus auf das „Wie“ der Erscheinung der Stimme setzten, dekonstruierten wir bewusst traditionelle Ideale und Vorstellungen, ermöglichten im weitesten Sinne „sprechkünstlerische“ Phänomene, die sich für überraschende Momente aus dem Textmonolog heraus katapultieren. Durch das Loslösen der Sprache von der semantischen Ebene erscheinen Phrasen, Wörter, Silben und Laute als
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Klangphänomene, die sich dadurch als hybride musikalische Bausteine anbieten. Dementsprechend lassen sie sich mit musikalischen Parametern wie Tonhöhenveränderung, Schneiden, Pulverisieren, Rhythmisieren, Affektverschiebungen und Geräuschhaftigkeit usw. modulieren. Der erste Textabschnitt von Ingeborg Bachmanns Alles wird in einer Endlosschleife wiederholt. Darin eingebaut sind Loops mit einzelnen Wörtern, die beim Ein- und Ausatmen vorwärts und rückwärts gesprochen werden. Gleichzeitig wird das Volumen und das Tempo immer mehr angehoben. Das Sprachband wird plötzlich abgebrochen und nach einer Generalpause wieder aufgenommen oder durch ruhige Erzählung unterbrochen. Die Klangfarbe, mit der er den Namen der Protagonistin, „Hannah“, ausspricht, wird zu einer Art Leitmotiv im Stück. Danneberg unterbricht den Erzählfluss immer wieder durch das anfangs eingeführte Sprachdurcheinander, das er durch körperliche Spannungserzeugung aufbaut und „ausspuckt“. Aus einzelnen Wörtern werden nur die Vokale in Kopfstimme intoniert, dann wieder ganze Abschnitte rückwärts gelesen, Repetiertes wird in einen Groove übergeleitet und kontrapunktiert von Geflüsterten und Gehustetem und plötzlich wird Choralartiges eingeflochten. In weiteren Abschnitten werden einzelne Buchstaben aus Wörtern entfernt, durch Geräusche ersetzt und in den Repetitionen (Loops) mit Akzenten versetzt. Der Vorname des erwarteten Kindes erklingt in unterschiedlichen Tonhöhen, Lautstärken, Geräuschhaftigkeiten etc. und betont dadurch den etwas merkwürdigen Namen „Fipps“, den die Eltern mangels besserer Alternative dem Kind geben wollen. In den verständlichen Textabschnitten wird sozusagen die Handlung vorangetrieben, während die musikalisierten Fragmente und Einschübe den Text in Klang und Materialität erlebbar werden lassen. Durch diese zwischenzeitliche unabhängige Bedeutung in der Musikalisierung des Textes, der nicht mehr nur dem Verständnis zur Verfügung steht, wird die Figur ent-psychologisiert und es wird ein neues Licht auf den Text geworfen. Da wir immer Verbindung und Sinn sehen und hören wollen, entdecken wir durch dieses außersprachliche Spannungsfeld neue Zusammenhänge und zugleich wird die Bedeutung des Inhalts offen gehalten. Die Inszenierung mit einer Holzkonstruktion, aus der der nackte Oberkörper von Danneberg als Büste ragt, fokussiert ausschließlich auf den Sprechakt und die Bewegungen des Kopfs, wodurch der sprechkünstlerische Akt noch verstärkt wird. Aus dieser vielfältigen musikalischen und stimmperformativen Auseinandersetzung heraus kann er auf eine experimentelle Art die Geschichte erzählen und nachempfinden
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und eine neue ästhetische Wahrnehmung erwirken. Eine Aufnahme der Aufführung ist auf YouTube verfügbar.11 Stimme als musikalisch-performatives Phänomen im Unterricht In meinem Unterricht für Contemporary Vocal Arts Practice für Sänger, Instrumentalisten, Schauspieler und Tänzer vermittle ich einen individuellen Ansatz, sowohl im Umgang mit der Stimme als auch bezüglich des Körpereinsatzes. Das Wort Praxis steht im Zentrum, da die Teilnehmenden immer Praktizierende und gleich von Anfang an mitten in den Prozess involviert sind. Auch als Dozentin bin ich zuerst Mitpraktizierende und versuche die Beteiligten direkt vokal-künstlerisch anzusprechen und mit praktischen Anleitungen eine sinnliche Intelligenz in der Gleichzeitigkeit von Erfinden und Ausführen zu eröffnen. Ich versuche mit kleinen Mitteln lustvolle fantastische Stimmwirkungen zu erzielen, sodass die Stimmleute nicht mehr an sich selbst denken und der Kreationslust mit der Stimme freien Lauf lassen können. Dies lässt sich in der direkten Ansprache viel besser erreichen als über kognitive Reflexion, weil der Körper in der Leichtigkeit des Spielens „anspringt“. Wie lässt sich Stimme als musikalisch-performatives Phänomen als eigenständig erfahrbare Ausdrucksebene freisetzen? Wie (er-)findet und entwickelt man eine Musikalität und damit einhergehend eine Autorschaft im Moment des Praktizierens? Inwiefern entsteht dadurch ein Mehrwert? Wie erzeuge ich hybride Stimmphänomene, die mit unserer Wahrnehmung mehrschichtig in Resonanz treten und uns ein systematisches und/oder improvisierendes Zerlegen und Neuzusammenfügen von Sprache, Szene und Musik erlauben? Wie kann ich die Hoffnung auf Vorhersehbarkeit und Gewissheit zunichtemachen, um die Beteiligten aus der Reserve und somit in ein erweitertes Stimmenpotential zu locken? Wie kann ich sie dazu verführen, ein stimmliches Risiko auf sich zu nehmen, ohne sich zu bewerten und zu kategorisieren, sowie sich Erfahrungsräumen zu überlassen, die neue ästhetische Erfahrungen zulassen? Wie schaffe ich eine Akzeptanz des „Jetzt“, aus der schlussendlich neue Stimmphänomene, -kreationen und -improvisationen entstehen können? Perspektiven für einen musikalischen Umgang mit Sprache Vor dem Workshop zum Thema Stimme als musikalisch-performatives Phänomen gestehen mir erfahrene Schauspieldozierende, Sprecherzieher und Regisseure, dass sie furchtbar nervös seien, dass sie nicht singen können usw. Meine Frage „Was ist für mich Stimme?“ eröffnet einen Reigen intimer Aussagen in der Runde und schafft einen nicht werten-
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den Rahmen für das weitere Vorgehen. Mit der Stimme kehren wir das Innen nach Außen, lassen das, was wir vor allem innerlich über unsere Knochen hören, allen draußen zugänglich werden. Man muss sich zuerst einmal so leicht machen können, dass man sich vom Winde forttragen lassen könnte, um etwas Wirkliches beginnen zu können, das lebensfähig ist.12 Eine spielerische Aufwärmphase hilft, um die Stimme erstmal frei zu machen und sich den körperlich-stimmlichen Impulsen der damit verbundenen experimentierenden Lust überantworten und sich die Phänomene wertfrei anhören zu können. Wir sind es gewohnt, alles bis zur Perfektion zu üben, nachzuhören und nochmals zu üben. Weniger selbstverständlich erscheint indes, dass die Erfahrung von Stimmen nicht etwas ist, das gewissermaßen sekundär oder nachträglich hinzutritt – nach dem Motto: zuerst wird produziert, was danach rezipiert wird. Vielmehr ist die Wahrnehmung als konstitutiv zu verstehen, das heißt, dass sie wesentlich an der stimmlichen Produktion und Präsentation beteiligt ist.13 Ich beginne mit Übungsrunden zu Wahrnehmen, Reaktion, Wachheit mit Tönen und Geräuschen, Konsonanten und Vokalen, mit Wortspielen, die eine körperliche Bewegung hervorrufen, mit Rufen und Verlautbarungen, die auch Erinnerungen an unsere Kindheit wecken. Unbewusste alltägliche Verlautbarungen werden bewusst gemacht und lassen die Stimme ihren guten Sitz im Körper einnehmen. Die Gruppe findet zusammen, Stimmphänomene können sich wertfrei entfalten und die Teilnehmer wagen sich in unerforschte Gebiete vor. Gleichzeitig wird eine sinnliche Intelligenz des unmittelbaren Praktizierens und Hörens geweckt. Ein paar Beispiele: Alle gehen kreuz und quer im Raum herum, nehmen ihn schreitend ein. Sobald jemand klatscht, singen alle einen Ton mit einem bestimmten Vokal und versuchen den Ton gerade zu halten, bis die Person wieder klatscht und alle wieder im fiktiven Labyrinth weitergehen. „Graad häbe“ ist eine gängige Methode beim Appenzeller Zäuerli (improvisierte, mehrstimmige, textlose Naturjodel aus Vokalen und Silben) und kann auf Clusters jeglicher Art angewendet werden. Die Schwierigkeit besteht darin, sich von den anderen Tönen nicht „anziehen“ zu lassen, sondern den eigenen und die anderen Töne unvermittelt wahrzunehmen und die unvorhersehbare Spannung zu halten.
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„Gibberish“ ist eine Nonsens-Sprache, in der schnell und unartikuliert gesprochen wird: „Stelle dir vor, du kommst von einem anderen Planeten und hast ganz viele Informationen, die du übermitteln möchtest.“ Wir vokalisieren in Duos, die sich zuerst dialogisch, jedoch zunehmend musikalisch entwickeln. Ohne Sprachsemantik wird Information allein über sinnlich-affektive Wirkung übermittelt und lässt sich dementsprechend leicht musikalisieren. „Solaris“ ohne Konsonanten: Ein Chor singt mikrotonal von O nach A nach I. Bei O werden die Töne im ähnlichen Frequenzbereich intoniert, also nah beieinander. Bei A wird ein umfangreicheres Frequenzfeld abgedeckt, d. h. mit größeren Intervallabständen, und zugleich wird jeder neue Ton mit einem Akzent versehen. Das I beginnt im Pianissimo und steigert sich kontinuierlich bis zum Fortissimo und bricht unvermittelt ab. Hier ist die Herausforderung keine Glissandi (gleitende Töne) zu intonieren, sondern den eigenen Ton in der Spannung zu den anderen zu hören und zu intonieren. Geht es um das musikalische Potential in der Sprache, dreht sich in Bezug auf die Vokalität vieles um die Thematik der eigenständigen Musikalität statt illustrativer Verstärkung der Sprache durch Musik. Individuelle Kleinstmotive aus Verlautbarungen jeglicher Art werden in einem Call-and-Response-Verfahren untersucht, einzelne Stimmphänomene auf Tonhöhenerweiterung, Tempo, Farbe usw. musikalisch erforscht, dabei chorisch erweitert und im Zusammenklang ausgelotet. Dabei kommen auch experimentelle Stimmtechniken zum Zug: beim Ein- und Ausatmen vokalisieren, Subtones erzeugen (oder „Louis– Armstrong-Effekt“), mit viel Luft, stimmhafte und stimmlose Vokalrepetitionen (Hululation) bilden, im Pfeiftonregister sprechen, jodelnd jammern, Vokaltrakt-Veränderungen vollziehen, wie nasal oder mit nach hinten gedrückter Zunge erzeugte Silben produzieren usw. In einer Spielrunde wird das Material des eigenen Vornamens als Solo vertont. Jeder sucht nun eine musikalisch gedachte Artikulation, Intonation, Phrasierung, Geräuschhaftigkeit der einzelnen Silben, Vokale und Konsonanten. Danach dienen diese als Bausteine, die in ihrer Abfolge und Schichtung in immer neuen Variationen aufeinandertreffen. Die Erkenntnis, dass ich einen gefundenen vokalen Baustein musikalisch in verschiedener Weise bearbeiten kann, entlastet davon, individuell immer wieder neue Ideen entwerfen zu müssen. Durch das Verweilen bei der eigenen vokalen Idee treten die Bezüge und Funktionen untereinander in den Vordergrund. Zwischendurch setze ich Impulse mittels Dirigat, verändere das Tempo und die Dynamik der Abfolgen und Clusterbildungen, was tolle chorische Momente
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erzeugt und die Vorstellung vom Umgang mit Stimmmaterial erweitert. Reflexion über Materialerkundung zwischen Sprache und Klang In einer Gesprächsrunde eruieren wir Methoden und Vorgehensweisen. Wie komme ich vom Sprechen ins Singen/Vokalisieren und umgekehrt? Wie kann ich über das Sprachmedium hinausgehen? Wann kippt es vom Darstellerischen ins Musikalische? Wir betrachten Récitiation No 10 von Georges Aperghis. Zu sehen ist ein spartanisches Arrangement in Halbpyramidenform mit französisch klingenden Silben. Wir erörtern konkrete Verfahren: Silben mit unterschiedlicher Tonhöhe und Dynamik versetzen, Konsonanten durch Geräusche ersetzen, rhythmische Artikulation der Vokale, Affektbeimischungen ausprobieren, homophones Klang-Morphing vom Geräusch zu Ton und zurück usw. Verschiedene Impulse, Geräuschkomplexe und andere Partikel werden so zusammengesetzt, dass der Schein von Sprache entsteht. Wir untersuchen die einzelnen Bausteine, variieren die Vokale, Tonhöhen, Dynamik, Affektbeimischungen, das Tempo, repetieren und beschleunigen Musterbildungen, lassen diese in der Tonhöhe auf- und absteigen, ersetzen in Wörtern Buchstaben durch Geräusche, kreieren homophone Clusterbildungen und intensivieren Schwarmverhalten, das wieder rhythmisch koordiniert wird usw. Improvisation Multivokal. Wer spricht? Als Beispiel bringe ich das Stück Telefon Aria von mir, eine grafische Notation, die sich um das Thema Telefon und Telefonmessages rankt mit verschiedenen Aussagen und einem Fundus telefonartiger Geräusche.14 Hingeworfene Fragmente erzeugen einen Hyperraum, in dem die Beziehung zwischen Sprache und Klanglichkeit einem dauernden Wechselspiel unterzogen werden. Wer spricht hier? Wem leihe ich meine Stimme? Wann wird sie zu Klang und entzieht sich der Semantik? Die Worte weisen eine Richtung. Sie erzählen eine kleine Geschichte. Manchmal kehren Worte wieder und widersprechen sich, manchmal auch nicht. Zu fragen, ob das nun Musik sei oder nicht, ist eine dumme Frage, denn darum geht es gar nicht. Zu fragen ist vielmehr, ob es etwas für uns bedeutet, ob es uns etwas mitteilt. Was dadurch gesagt wird, ist absolut unerheblich. Es geht allein um das Wie und das Warum des Kommunizierens.15
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Telefon Aria für Stimme und gestisch ausgelöste Samples. Grafik: Franziska Baumann
Freies Improvisieren Das unterdessen freigesetzte Stimmmaterial erlaubt, in kleinen Formationen zu improvisieren. Die nachfolgenden Reflexionen in der Gruppe untersuchen, inwiefern die Interaktionen musikalisch oder darstellerisch umgesetzt wurden. Können Impulse musikalisch gedacht werden oder adressieren sie ans darstellerische Potential des Gegenübers? Lausche ich auf musikalisches Potential oder reagiere ich als Darsteller? Was bedeutet es, musikalisch statt dialogisch bezugzunehmen? Das Vokalisieren mit spezifischem Stimmmaterial, d. h. mit einem Stimmphänomen16, lässt die Beziehungen unter den Verlautbarungen vermehrt in den Vordergrund treten: Agiere ich begleitend, führend, unterstützend, störend, etwas anderes machend? Fragt man nach einer gemeinsamen ästhetischen Tendenz des Klangs, dann kann diese weder in der Kategorie des Schönen noch des Hässlichen, Abscheuerregenden gefasst werden, sondern weitaus weniger auf den Begriff zu bringenden des „Dazwischen“.17 Dieses „Dazwischen“ erlaubt eine hybride Spielhaltung in der Funktion/Rolle. Stimmphänomene können Impulse setzen oder Impulse empfangend eine zweite Stimme rhythmisch, geräuschhaft, tonal dazu vokalisieren, einen Kontrast setzen, unterstützend oder störend einwirken
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usw. Die Art der Bezugnahme steuert als modus operandi des experimentellen Forschens die Formbildung des Stücks, d. h. das prozesshafte Schaffen verbindlicher musikalischer Ordnungen aus dem Moment heraus. Stimmperformance zu Tschechows Die Möwe In einer Stimmperformance legen wir mit Schnüren ein schachbrettartiges Muster auf den Boden. Pro Spiel sind vier bis sechs Performer beteiligt. Ein einfaches Regelsystem beinhaltet die Anweisung, pro Feld ein Stimmphänomen und/oder eine Geste oder reine Präsenz zu benutzen. Jeder kann frei über den Zeitpunkt entscheiden, das Feld zu wechseln. Grundmaterial sind Sätze aus dem Stück Die Möwe von Anton Tschechow, einer nach Erfolg und Ruhm strebenden Traumwelt, wie in diversen Vorprogrammen aller Fernsehsender, in denen die Jagd nach Aufmerksamkeit, nach etwas Glanz und Glamour die Triebfeder so mancher Möchtegern-Stars und Sternchen ist. Damit sind wir sofort in einer Situation, die mit Bedeutung aufgeladen ist, in einem Gefühl. Die Entscheidung der Performer, wann sie das Feld wechseln, welches Stimmmaterial sie wählen oder ob sie nichts machen, erzeugt hybride Informationsreize. Diese treten mit unserer Wahrnehmung mehrschichtig in Resonanz und erlauben ein improvisierendes Zerlegen und Neuzusammenfügen von Raum, Szene, Sprache und Musik. Verbunden ist damit die Einsicht, dass das Nichts-Machen mindestens so formbildend ist wie das Impulse-Nehmen oder -Geben. Klare Entscheidungen sind lesbarer für die Mitperformer und erzeugen eine Durchlässigkeit in der Gleichzeitigkeit. In der wechselseitigen Verwicklung durch permanente De- und Rekontextualisierung, die mal um mal ihre Bedeutung zwischen Klang und Sprachsemantik wechselt, entsteht ein dezentrales Beziehungsnetz zwischen den Medien Sprache und Klang. Das räumlich Konnotierte, das Mitschwingen von szenischen Registern und Bedeutungsebenen lassen die Sprache und die Klänge in neuem Licht erscheinen und gleichzeitig verweisen sie in einer neuen ästhetischen Erfahrung auf den Inhalt des Stücks. Als vokale Performancekünstlerin oder Vocal/Performer/Composer wage ich in meinen künstlerischen Arbeiten und Workshops einen hybriden Raum aufzuspannen, in dem das Nichtsagbare durch das Sagbare hindurchschimmert. Durch meine gewählte Perspektive, in Sprache, Klang, Geste und Szene die musikalische Sichtweise in den Vordergrund zu holen, suche ich durch Übersetzungen von Qualitäten, neue Sinnbezüge, die auf mehreren Ebenen den Transfer vom Sehen zum Hören und vom Verstehen zum Lauschen direkt ästhetisch-sinnlich erfahrbar machen.
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1
Der Begriff „composed theatre“ wurde von Matthias Rebstock und David Roesner geprägt.
2
Dick, Leopold: „Komponierte Sprechereignisse. Vokalität in der Unterrichts- und Aufführungspraxis des ‚composed theatre‘“, in: Rey, Anton (Hrsg): Disembodied Voice (= subTexte 10), Berlin 2012, S. 94.
3
Baumann, Franziska: „Interfaces in Live Performances“, in: Harenberg, Michael/Weissberg, Daniel (Hrsg.): Klang (ohne) Körper. Spuren und Potentiale des Körpers in der elektronischen Musik, Bielefeld 2010, S. 75–90.
4
Vgl. www.franziskabaumann.ch/de/solos.
5
Stimmmodule sind komponierte Stimmfragmente, die einen Bezug zu körperlichen Herstellungsaspekten haben.
6
Vgl. http://baumann-brieske.net/projects/liquid-souls.
7
Borges, Jorge Luis: „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“, in: ders.: Fiktionen, Erzählungen 1939– 1944, Frankfurt a. M. 1992.
8
Schrödl, Jenny: Vokale Intensitäten – Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012, S. 35.
9
Vgl. http://baumann-brieske.net/projects/fictions.
10
Schrödl: Vokale Intensitäten, S. 37.
11
Siehe www.youtube.com/watch?v=eYMziYvkU18 (zuletzt aufgerufen Dezember 2018).
12
Gebser, Jean: Gesamtausgabe, Band VII, 1931–38, S. 261.
13
Schrödl, Jenny: „Erfahrungsräume“, in: Kolesch, Doris/Pinto, Vito/Schrödl, Jenny (Hrsg.): Stimm-Welten, philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven, Bielefeld 2009, S. 145.
14
Das Stück Telefon Aria wurde für die Aufführung von Gravity Pleasures auf dem Dach des Swisscom Towers in Bern 2017 komponiert.
15
Ligeti, György über sein Stück Aventures 1966 in: Gesammelte Schriften Band 2, Basel 2007, S. 80.
16
Ein Stimmphänomen beschreibt eine stimmliche Äußerung mit einer ästhetischen Tendenz im Klang.
17
Schrödl: Vokale Intensitäten, S. 101.
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EINSTIMMEN. EINSPRECHEN Das aktuelle Sprechen in Texten von Elfriede Jelinek -
Was zieht da mit, was zieht da mit mir mit, was zieht da an mir? Mein Schatten kann es nicht sein […] Kann man ihn eigentlich vorauswerfen und dann entschlossen in ihn hineinspringen?1 Ein mood board mit Auszügen aus dem Tagebuch einer Dozentin für Stimme und Sprechen. Nachklang zur Tagung in Bern „Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater“. Prolog Jelinek erreichte mich über Umwege. Über Italien. Prima del Teatro, eine Europäische Sommer-Universität, lud mich 2008 ein, mit italienischen Schauspielstudierenden an zeitgenössischer Dramatik zu arbeiten. Nicht ganz fremd, aber fremd genug sollte die Autorschaft sein und natürlich ins Italienische übersetzt. Heiner Müller und Roland Schimmelpfennig waren in der italienischen Inszenierungspraxis bereits etabliert, Elfriede Jelinek nur einigen wenigen bekannt. In Deutschland wurde Jelinek zunehmend von der Theaterwissenschaft beleuchtet und diskutiert, ihre Stücke meines Wissens nach größtenteils von männlichen Regisseuren inszeniert. Gesehen hatte ich bis dato: Wolken.Heim. in der Regie von Jossie Wieler, Nicolas Stemanns Über Tiere, natürlich Sportstück, inszeniert von Einar Schleef mit dem bahnbrechenden Chor, dem choreografierten und rhythmischen Einsatz der Körper und der Sprache. Später marschierten die Plüschtiere auf, es rollte die Textvernichtungsmaschine an, mit zunehmendem Einsatz von Musik und Video, circensische Spiele und Spektakel eroberten die Bühne. Die vierte Wand war definitiv eingerissen. Arbeitete Jossie Wieler noch mit Figuren, lösten sie sich bei Stemann auf. Das Sprechen veränderte sich und suchte mehr und mehr, den Zuschauer frontal von der Rampe aus zu „konfrontieren“, Behauptungen und Thesen rufend. Wer wollte da von der Bühne aus an mir tätig werden? Oft schien mir das Sprechen technisch und unnahbar, der Ton kalt und abweisend, in der Distanz gleichwohl anziehend. Da schien sich im deutschsprachigen Theater der 1990er Jahre ein Muster oder
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Pattern2 zu verabreden, wie Jelinek zu sprechen sei. Schauspielstudierende griffen damals diesen wenig einladenden Gestus oft sehr äußerlich auf, vernachlässigten dabei häufig die der jeweiligen Inszenierung unterlegten Absichten. Allmählich breitete sich eine Bequemlichkeit aus: unverletzlich, Reibung vortäuschend. Mich interessierte damals, wie Italiener3 mit den Texten umgehen. Italiener, im Alltag Philosophierende mit großer Liebe zur Verkörperung, zum Pathos, zum opernhaften Spiel, zu einer Dramatik des Überflusses. Italien, etwas wie „ein Gewesenes, das nie veraltet, weil es seiner Natur nach immer das Jüngste ist, eigentlich das Letzte“4, so Jelinek in Heideggerschem Jargon über Natur, Chaos und Theater. Ich entschied mich, an Elfriede Jelineks Wolken.Heim. zu arbeiten, war dieser Text doch der Einzige ins Italienische übertragene. Nun also Nuvole.Casa., in der Bearbeitung des Hölderlin-Übersetzers und -Herausgebers Luigi Reitani, ein collagiertes Kompendium deutschen Denkens mit Stimmen aus dem Totenreich: Kleist, Hölderlin, Fichte, Hegel, Heidegger und Briefe der RAF. Noch heute sehe ich die Fassung von Crescentia Dünßer und Maren Rieger vor mir, die für ihre Arbeit an der Bayerischen Theaterakademie München mühevoll jeden Satz gekennzeichnet und den jeweiligen Autoren farbig zugeschrieben haben. Ich nahm zum ersten Mal die Vielstimmigkeit in Jelineks Zitierverfahren grafisch wahr. „Wer spricht denn hier?“, das ließ sich aus dem Fluss herausfiltern und zuordnen. Die von Jelinek selbst beschriebene Textfläche5 wurde begehbar. In Italien sprach sich die von Jelinek verarbeitete, zum Teil düstere Geschichtsphilosophie unmittelbar, warm, fast sonnig, fremd und zerreißend komisch. Wenn Elfriede Jelinek sagt: „Ich möchte seicht sein“, legt sie dem Begriff seicht eine Flächigkeit bzw. Oberflächlichkeit, Inhaltslosigkeit bis zur Banalität nahe. In Italien wurden ihre Texte nicht in diesem Verständnis seicht, sondern eher, sich das Bild eines Gewässers vergegenwärtigend, dem Boden sehr nahe kommend, den Grund fast berührend, ihn vorerst gefahrlos sehen könnend. Ein gewesener „ErdenWesensBauch“ sprach mit, fern von Zynismus, sehr leicht, vielschichtig und unbeschwert, gewann an Dynamik, Tiefe ohne Schwere. „La volontà non è un possesso, […] é il motore“6: eine gelassene Anwesenheit im Chaos. Jelinek: So aus dem Chaos etwas herausschöpfen, das, indem es auftritt, schon etwas ganz andres sein könnte und vielleicht auch sein sollte, das Gewähren von Anwesenheit von Wesenheiten (nicht von Wesentlichem!). […] Das Sprechen ist vielleicht dieses Chaos.7
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Die Schauspielstudierenden brachten auf ihren Handys kleine Videoclips mit. Videos über ihre alltäglichen Rituale und Tätigkeiten, über ihre Orte, aus denen sie kamen: Campiglia Marittima, Bergamo, Milano, Pisa, Roma, Salerno, Venezia: ihren Begriff von Heimat. „Da noi. […] Noi apparteniamo a noi.“8 Die italienischen Farben von Erde, die Sounds wie das unaufhörliche Zirpen der Zikaden, das Knattern der motorini und der Wettstreit der sich zurufenden Stimmen in der vokalischen Sprache brachten die Texte von Jelinek auf den Boden: „Siamo a casa.“9 Einige der deutschen Philosophen und Autoren, auf die Jelinek verweist, waren in Ansätzen bekannt, die Erinnerungen an die Brigate Rosse saßen nicht nur im historischen Bewusstsein. Pier Paolo Pasolini tauchte in den Diskussionen auf und wollte intertextuell mit hinein. Wir unterteilten die einzelnen Abschnitte in thematische Kapitel und assoziierten Situationen, z. B. erinnere ich mich an Kochrezepte und live a mano Pasta machen. Wir abstrahierten Tätigkeiten und Abläufe, vergrößerten und verlängerten sie ins Extrem und in die Groteske. Wir experimentierten mit der Rhythmisierung von Bewegungsabläufen und improvisierten zu rhetorischen Figuren wie: „Es rinnt uns Geist von der Stirne“10, „Uns wird der Kopf schwer von uns“11, „Wir gehören uns. Und immer wieder, wie Kinder, schuldlos sind unsere Hände“12. Wir erprobten Sounds zu: „Der Regen, der zeitig in der Früh die Schuhe durchnässt“13, „Bei des Fremdlings besonderer Stimme stehen die Herden auf“14 oder zu „Zungen des Volkes“15. Wir untersuchten den Einfluss von Raum auf das Sprechen, von Tempo und seinen Variationen unter anderem im Takt des Metronoms. Faszinierend war für mich 2008 das ungebrochene „Wir“ Italiens, das die von Jelinek übertragene Ich-Perspektive fraglos in sich aufnahm und Töne fand, die ich mir in Deutschland nicht vorstellen konnte. Zehn Jahre später dürften sich nach den gesellschaftspolitischen Veränderungen im Land die Fragen an nationale Identität und den zu bewältigenden Strom der Geflüchteten verschärft haben und nach einer neuen Position verlangen. Zurück nach Deutschland. Seit 2013 leite ich dreitägige Seminare zum Thema Jelinek Sprechen an der Universität Hildesheim. Das von Annemarie Matzke und mir formulierte Ziel war, den Studierenden im Bereich Medien, Theater und Populäre Kultur einerseits Grundlagen der Stimmbildung und Sprecherziehung zu vermitteln, andererseits sollte das Erfahrene so direkt wie möglich an Texten von Jelinek erprobt werden. Damit sollten die Studierenden aus ihren eher theoretisch geprägten Zusammenhängen gelöst werden und in sprecherisches Handeln kommen. Der aus Hildesheim
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formulierte Zusatz, dass es in den Jelinekschen Texten ja nichts zu „verkörpern“ gebe, brachte mich damals in Konflikte und warf Fragen auf. Wie wird der Körper des Schauspielers verstanden, wenn Elfriede Jelinek ihn in einem Text als „zwecklos“16 überschreibt? Was ist der phänomenale Körper des Schauspielers, was Verkörperung und dementsprechend Entkörperung? Wie bewege ich mich darin als Sprecherzieherin, setzen doch die ersten grundlegenden Schritte im Körper-Stimmtraining ein notwendiges Zusammenspiel von Körper und Stimme voraus, einen Körper, der vor der Stimme schon spricht? Sprechen „Zivilisten“17 per se oft eher getrennt von Bewegung – Körper – Stimme, sollen doch dem Schauspieler wesentlich höhere Energiequellen zur Verfügung stehen. Besonders im Sprechen der Jelinek-Texte. Wie verortet sich die Ausbildung von Körper und Stimme im Fach Sprecherziehung und lässt einen transparenten Übertrag ins Schauspiel zu, wenn im Fach Schauspiel wieder Isolationen und Trennungen abgefragt werden. Überlegungen, die mich aufstörten, im Hildesheimer Diskurs virulent pulsten. Wenn es also nicht wie im realistisch-psychologischen Schauspiel eine Figur zu verkörpern und mit Zeichnen zu „begaben“18 gilt, liegt der Ansatz nahe, vom phänomenologischen Körper des Schauspielers und einem impulsiv orientierten Spiel auszugehen, von der Begegnung mit dem Textkörper, als handle es sich um den eines Unbekannten. Blind Date. Ich entwickelte für den Unterricht ein Konzept mit dem Fokus auf Impuls und Bewegung, Haltung – Gestus – Spiel, Rhythmus und Musikalität. Was kann der Körper erzählen, ohne in „Verkörperung“ zu gehen? Wie verändert sich der Text durch die Kontaktaufnahme mit einem Partner, durch die sinnliche Wahrnehmung des Raums? Gibt es Entscheidung im Moment? Wohin treibt dich diese Sprechwut, dieser „überflüssige“ Gedankenstrom? Welchen Hindernissen begegnest du? Auf die Frage eines Studierenden, warum ich Jelinek ausgewählt hatte, antwortete ich, dass man in ihren Texten gar nicht anzufangen bräuchte, etwas logisch oder „sinnvoll“ erklären oder auf eine Erklärung hinarbeiten zu wollen. Im Resultat drücke sich das in Bedeutungsschwere und handlungsferner Intonation aus. Der Adressat werde entweder belehrt oder für dumm verkauft. Die Sprache sollte sich nicht vordrängen19, wie Jelinek selbst sagt. Es kann in ihren Texten nur um eine Wirklichkeit im Moment gehen. Ein Vorspielen, ein Als-ob entlarvt sich selbstredend als vorsätzlich, als antizipierend, wo es nichts zu antizipieren gibt. Die Wortspiele verdrehen das Vorangegangene, das Gegenwärtige stellt sich im nächsten Wortspiel infrage. Es ist, wie es ist.
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In diesem Moment. Und im nächsten anders. „Das Vergangene findet jetzt statt!“20 Das bedeutet, dass die Texte im Sprechunterricht als herausforderndes Material verstanden werden können, Haltungen klar erkennbar zu führen. Den jeweiligen Gedanken auf den Punkt hin zu durchdenken, auch wenn er, der Punkt, erst sehr viel weiter unten gesetzt ist. Die Einschübe und Wortspiele verlangen in den länger angelegten Bögen Haltungswechsel und schnelle Brüche, ohne im Grundimpuls nachzulassen und dadurch den Lauf zu unterbrechen. Besonders bei Affekten, die über eine längere Spanne am Leben gehalten werden müssen, braucht es alerte Spielenergie, hohe Sprechspannung, die sich nicht zwangsläufig in Lautstärke umsetzen darf, und auch schlicht Kondition. Mich interessiert an den Texten der Spagat zwischen dem Hineinblenden in Intimes, „Gehen wir in uns hinein und bleiben wir drinnen“21, und dem „Sagen, was los ist“22. Der permanente Wechsel der gestischen Möglichkeiten: Einspruch und sofortiger Widerspruch, Rede und Gegenrede, Stimmen und Gegenstimmen. Hauptsache reagieren. Bedingungsloses Reagieren auf das Vorangegangene oder das, was im Moment da ist. Ich kann diese Prinzipien an Texten anderer Autoren erarbeiten. Es ist in dem Zusammenhang auch eine Frage, wann die Arbeit an Jelinek-Texten in der Sprechausbildung ihren sinnvollen Platz findet. Über Jelinek ist der Zugang ein von Figuren unabhängiger und damit vorerst unvermittelter. Jede sprecherische „Beharrlichkeit“23 muss aufgegeben werden, der Moment bleibt gleichwohl zu steuern. Es gäbe einen Grundton zu entdecken, um sich im Gedankenstrom sprecherisch bewegen zu lernen. Da hält mich etwas fest, ich schiebe etwas von mir, meine Aufmerksamkeit ist geteilt und multivalent. Der Körper wird ein handelnder, wie in anderen dramatischen Texten auch, die Chance in den Texten von Jelinek ist ein von sich aus denkender Körper. Der Sinn des Textes entdeckt sich dann von selbst. Ist neu für den Spieler wie den Zuschauer und richtet sich nicht nach Gesetzen der Logik und des Verstandes. Dem Sprecher verlangt das ein hohes Maß an Präsenz – zwischen Präsens und Präsentation – ab; Reaktionsfähigkeit und wendige Haltungsbezogenheit, zu verstehen als „nicht mit dem Inhalt zu argumentieren“, sondern auf Haltungen unmittelbar und unberechenbar zu reagieren; die Fähigkeit, den eigenen Beteiligungsgrad an Vorgängen zu bestimmen und zu verdeutlichen; unterschiedliche Temperaturen und Identifikationsgrade einzustellen und unterschiedliche Spielweisen bis hin zum Entertainment auszuprobieren. Für das Sprechen relevant ist, wie ich beobachte, dass gerade diejenigen Spieler, die politisch ein ech-
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tes Anliegen vermitteln wollen, dazu neigen, ihre Wut aggressiv oder zumindest überaus engagiert zum Motor ihres Sprechens zu machen. Der Text wird dann kolonialisiert. Im Anklang moralisch. Jelineks Texte verweigern sich einem derartigen Zugriff. Wovon ist hier die Rede? Dem Text lässt sich nicht folgen, zu viel Subjektivität, zu wenig Distanz. Vielleicht liegt gerade in der Intention des Vermittelns oder Vertretens die Blockade. Charme und Witz braucht’s, Spiel und Leichtigkeit! Die Frage der Distanz ist ein länger zu bearbeitender Prozess. Hält sich der Spieler im umgekehrten Fall heraus und spricht mit unentschiedenen Impulsen, wird der Atem und damit die Sprache flach. Das ist bekannt. Die Texte von Jelinek entsprechend extrem flach, wobei ich diese Beschreibung nicht mit dem von Jelinek notierten Begriff „seicht“ verstanden wissen möchte. Glücklicherweise merkt das jeder, der zuhört, auch der Sprecher. Da stimmt was nicht! Das plätschert so dahin. Also anders bitteschön! Entschiedenes Handeln im Sprechen. „Labern“ gilt nicht. Überengagement auch nicht. Was jetzt? Methodische Ansätze in der Erarbeitung von Jelinek-Texten: Eine Versuchsanordnung Manifesto: „Die Schauspieler SIND das Sprechen, sie sprechen nicht.“24 1 2 3
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Leute sollen nicht etwas sagen und so tun, als ob sie lebten. Ich will keine fremden Leute vor den Zuschauern zum Leben erwecken. Ich will kein Theater. Der Schauspieler ahmt sinnlos den Menschen nach, er differenziert im Ausdruck und zerrt eine andere Person dabei aus seinem Mund hervor, die ein Schicksal hat, welches ausgebreitet wird. Ich will nicht das Kräftespiel dieses „gut gefetteten Muskels“ (Roland Barthes) aus Sprache und Bewegung – den sogenannten Ausdruck eines gelernten Schauspielers sehen. Bewegung und Stimme möchte ich nicht zusammenpassen lassen. Vielleicht will ich einmal nur Tätigkeiten ausstellen, die man ausüben kann, um etwas darzustellen, aber ohne höheren Sinn. Schauspieler sollen Arbeit zeigen. Sie sollen sagen, was los ist, aber niemals soll von ihnen behauptet werden können, in ihnen gehe etwas ganz anderes vor, das man indirekt von ihrem Gesicht und ihrem Körper ablesen könne. Ohne sich um die Wirklichkeit zu kümmern, wird der Effekt zur Realität.
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10 Die Schauspieler bedeuten sich selbst und werden durch sich definiert. 11 Und ich sage: 12 Weg mit ihnen! 13 Sie sind nicht echt! 14 Echt sind nur wir. 15 Wir sind unsere eigenen Darsteller. 16 Brauchen wir nichts außer uns! 1 Gehen wir in uns hinein und bleiben wir drinnen, jeder hofft ja. 2 Werden wir unsere eigenen Muster und sprenkeln wir den Schnee, die Wiesen, das Wissen, womit? 3 Mit uns selbst! 4 So ist es gut! 5 Achtung! 6 Das Vergangene findet jetzt statt! 7 Aber beeilen müssen Sie sich nicht, das machen schon andere für Sie. 8 Das Sprechen ist nie alles, es ist nicht einmal etwas. 9 Und nicht, was übrig bleibt, interessiert mich, sondern der Verbrauch an sich. 10 Dass das Jetzt vernichtet wird, unaufhörlich, das interessiert mich! 11 Hineingezwängt in das trojanische Pferd, im Augenblick des Sprechens schon wieder verschwunden! 12 Schauspieler haben das Sprechen gelernt und glauben daher, es immer tun zu müssen. 13 Sie wollen ihren Mantel aus Sprache nicht hergeben. 14 Sie haben einen Vorrat an möglichen Spielzügen, aber nichts wird, ähnlich unserer Kleidung, ganz genauso wiederholt, wie es war. 15 Ich will aber, dass die Schauspieler was ganz andres tun. 16 Ich will, dass die Sprache kein Kleid ist, sondern unter dem Kleid bleibt. 1 Da ist, aber sich nicht vordrängt, nicht vorschaut unter dem Kleid. 2 Wie unter dem Pflaster der Strand, so unter dem Pflaster die nie heilende Wunde Sprache. 3 Sie dürfen aber auch nicht sie selber sein wollen. ALLE Hören Sie zu! 4 Sie müssen nicht denken, bevor Sie sprechen, aber Sie müssen denken, wenn Sie zuhören! ALLE Die Schauspieler SIND das Sprechen, sie sprechen nicht. Dieses Manifest habe ich für den Workshop an der Hochschule der Künste Bern aus den Texten Ich möchte seicht sein, Es ist Sprechen und
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aus, Sinn egal. Körper zwecklos und Hören Sie zu!25 zusammengestellt. Da die Teilnehmerzahl der aktiven Beobachter die der aktiven Tätigen übertraf und sich Dozierende, Professoren, Lehrbeauftragte und Studierende gleichermaßen begegneten, wollte ich die Beobachter in ihrer Rolle aktivieren, den Blick von der Bühne in den Zuschauerraum lenken und damit den ganzen Raum ins Thema einbeziehen. Ich nannte die Tätigen, die im Anschluss zwei Stunden lang auf der Bühne mit ihren mitgebrachten Jelinek-Texten improvisierten, Chor A. Die aktiven Beobachter Chor B. Chor B improvisierte unter Anleitung der ausgewiesenen Nummerierung, sozusagen die provokante und in sich widersprüchliche Einführung in den Stoff. Hans Martin Ritter dirigierte spontan einen Grundbeat, um das „entschlossene Hineinspringen“26 des Chors zu sichern. Die Nummerierung dieses Manifests orientiert sich nicht immer an der von Jelinek gebundenen Gedankenführung und ist nicht als Gliederung dieses Textes zu verstehen; sie organisierte die Anzahl der aktiven Beobachter, angenommene 16, zu einem spontanen Chor und rhythmisierte die Gedanken in Stimmen und Gegenstimmen. Das Manifest ist original in der Berner Fassung übernommen. Aufgabenstellungen Im Folgenden stelle ich eine Auswahl von Aufgabenstellungen und methodischen Ansätzen zusammen, die exemplarisch die vorangestellten Überlegungen in eine praktische Versuchsanordnung bringen. Der Übungskatalog entstand in Kompaktseminaren, dreitägigen Wochenendseminaren in Hildesheim und dem zehntägigen Intensivseminar in Italien sowie aus Einzel- und Gruppenunterrichten an der Universität der Künste Berlin. Einzelne Übungen wurden auch auf der Tagung in Bern vorgestellt. Die Chronologie der Übungen sucht eine Verbindung zwischen sprecherzieherischen Inhalten und dem vorangestellten Manifest herzustellen. Die Abfolge ist variabel. Die einzelnen Übungen sind in Teilen dem traditionellen Kanon der Sprecherziehung entnommen und stellen in ihrer Ausrichtung auf die Texte von Elfriede Jelinek eine Verbindung zur interdisziplinär geprägten, zeitgenössischen Spielweise her. Das Sprechen steht hier auf den Schultern der Fächer Bewegung, Tanz, Rhythmik und Musik. Sie beziehen sich auf die im Grundlagenstudium Schauspiel erworbenen Kenntnisse zum Thema „Körper hat Vorfahrt“27 und auf die angestrebte Fähigkeit, die artikulatorische Geläufigkeit der Sprache auch bei Temposteigerungen halten zu können, ohne in Hast und Aufregung zu geraten. In einigen Übungen versuche ich Identitäten aufzulösen und Körper, Bewegung und Stimme zu trennen. Allen
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Übungen ist das Anliegen gemeinsam, sprecherisch mit Körper – Raum – Partner – Fremdfigur – Situation und Musik improvisieren zu können, vor allem ihre Aufmerksamkeit unbedingt auf ein Außen, ein „außer sich“ richten zu können, dabei die Verbindung zum eigenen Körperund Atemzentrum behalten zu können. Sie sind folgendermaßen gegliedert: A. B. C. D. E. F.
Über Tiere „Körper hat Vorfahrt“: Textualität in den Körper bringen Sprechtempo erhöhen, angelegt über die Grundtätigkeit des Gehens Annäherung über Haltungen im Spiel Bewegung und Stimme trennen Rhythmus und Musikalität
Gearbeitet wird mit Textabschnitten, die in der Regel fünf bis zehn Zeilen umfassen. Sie sind als Vorarbeit zu verstehen, eine längere Textfläche agil und wendig denken und sprechen zu können. A. Über Tiere „Sie (die Schauspieler) dürfen aber auch nicht sie selber sein wollen.“28 Wenn wir einmal davon ausgehen, dass Schauspielstudierende gar nicht sie selbst sein, sondern Figuren spielen wollen, gleichzeitig aber mehr von sich zeigen sollen – ein Paradox –, kann diese Übung einen praktikablen Zugang öffnen. Eine äußere Form wird ein Gefäß für Vorstellung und Atem. Die Stimmen darin sind nicht per se verstellte oder chargierte. Den Begriff übernehme ich aus der Arbeit mit Puppenspielern der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Charge habe ich dort so verstanden, dass ungewöhnliche Stimmen hinsichtlich Typisierung, Überzeichnung und Verfremdung erprobt werden. Der Mut zur stimmlichen Charge/Figur in Extremen ist lustvoll, der Bezug zur Puppe, Marionette, Kreatur oder zum Tier hilfreich, um die Breite instrumenteller Verfremdung zu erfahren und Distanz zum eigenen Körper herzustellen. Sie ist zeitgenössischen Spielweisen zuträglich und auch insbesondere der Umsetzung von Jelineks Texten, die mehrere Ebenen und Mittel der Spielformen abfragen. In meinem Unterricht mit den Puppenspielern versuchte ich das handwerklich über die verschiedenen Resonatoren des gesamten Körpers auszuloten. Oder eben im inneren Gespräch mit der Maske der Puppe. Hören auf das Material. In der untenstehenden Übung suchen wir den „phänomenalen“ Körper in Resonanz zum vorgestellten zu bringen und eine grundsätzliche
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Bereitschaft zu schaffen, sich auf ein Material oder, bezogen auf den Schauspieler, das eigene Instrument einzulassen; auf der Suche nach einer angebundenen Stimme, persönlich und nicht-persönlich, zumindest nicht sofort konsumierbar und abzulegen im Bekannten. Inwieweit lassen sich aber nun Körper und Stimme allein durch die Interaktion mit imaginativen Kräften verändern? Kann es sein, dass dann ein Körper eine andere Durchlässigkeit gewinnt, die ihn beinahe zum Verschwinden bringt und dafür umso mehr dem Textkörper zufließt? Ins „Geistige“ sozusagen. Rhetorische Frage. Der Darsteller „kann nicht so einfach ein andrer werden, aber er kann ein anderer sein“29. Übung 1: a) Gehen und die Partner im Raum begrüßen. Ausgehend von der Wahrnehmung und zunehmenden Bewusstheit der eigenen Haltung während der Begrüßung von Partnern im Raum wird das eigene Pattern stufenweise verstärkt und sukzessive in die Groteske vergrößert. In Momenten des Innehaltens werden zu den herausgearbeiteten grotesken Haltungs- und Bewegungsmustern Erinnerungen an Kreaturen oder Tiere assoziiert. Der Weg geht von außen nach innen. Im nächsten Schritt übernehmen das imaginierte Bild und das innewohnende Gefühl mehr und mehr die äußere Form, die vorgestellte Kreatur lässt sich von innen nach außen weiter entwickeln und verfeinern. Diese Übung entstammt einer der zentralen Einführungsstunden von Kristin Linklater, in der sie progressiv die Abfolge von Wahrnehmung/ Imagination, Atem und Stimme in Erfahrung bringt. Die Imagination greift die Haltung auf, der Atem das Gefühl darin, die Stimme den Atem. Die Erkenntnis, dass Stimmfarbe und Klang abhängig sind von der äußeren Form des Körpers, seiner Dichte, und dem inneren Raum darin, seiner Leichtigkeit oder Schwere, erweitert sich um die Erfahrung, dass ich diese durch meine Vorstellung von Körper und Gefühl steuern und verändern kann. Anders ausgedrückt: Das Hören auf das Material, das Instrument, die Form findet Atem und damit die Stimme. b) Im Verlauf der Übung werden einzelne Zeilen des mitgebrachten Jelinek-Textes in den Kreaturen erprobt. c) In Begegnungen mit Partnern in den Dialog kommen und die Aufmerksamkeit sowohl gegenüber dem Dialogpartner als auch gegenüber dem eigenen Instrument behalten. In der Figur bleiben. d) Sprechen des Textes in der Figur. Kontinuierliche Reduktion/ Zurücknahme des tierhaften Körpers und des ihm eingeschrie-
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benen Sprechens; weiterhin auf die Figur hören, wie eine neue und unbekannte Begegnung. „Sie müssen nicht denken, bevor Sie sprechen, aber Sie müssen denken, wenn Sie zuhören!“30 In den Jelinek-Kursen greife ich gern auf diese Übung zurück. Sie erlaubt den nachfolgenden Zugängen über Bewegung einen tieferen Anschluss und beugt der Gefahr des blinden mechanischen und monotonen Exerzierens von Körpern in Bewegung, auch im „Stimmen“, vor. „Tierarbeit“ umfasst ja in der Ausbildung einen längeren Zeitabschnitt. Die vorgestellte Übung ist ein neunzigminütiger Einstieg, um einen voreilig äußerlichen und generalisierten Griff zum Klischee zumindest in Frage zu stellen und das Aufsuchen von extrem angelegten Fremdfiguren beweglich zu halten. Intendiert ist dabei, eine Brücke sowie Distanz zu Fremdfiguren zu schaffen, indem Bilder und eine möglicherweise vordergründig visuelle Betrachtung wieder den Sinnen anvertraut werden. Das Bild ist unbedingt und will auch immer unbedingt, dass wir hinschauen. Das Denken, das Hören kann gar nichts unbedingt wollen […]. Es ist ein unwillkürlicher Vorgang.31 2018 zeigte einer meiner Studierenden eine autokratische Orchestrierung von Das Lebewohl und transponierte die von Elfriede Jelinek im Jahr 2000 ursprünglich auf Jörg Haider monologisch angelegte Stimme, mehrstimmig auf Baschar al-Assad, Donald Trump und Sebastian Kurz. Wie er selbst beschreibt, war sein Ansatz anfangs vollständig konzeptionell angelegt, was notwendig war. In der Entwicklung für ihn als Spieler und für mich als Zuschauerin in der Aufführung bestechend, war die zur Verfügung gestellte Offenheit und Flexibilität, das „nicht komplett in der Form Festhängen“32 und die „höfliche Anfrage“33 an den Text, zu übernehmen. Etwas dann doch „Wesentliches“ von beiden Seiten zu betrachten sowie unwillkürlich zu erleben. „Man kann es aber natürlich auch ganz anders machen. Es können auch alle Lederhosen tragen, von mir aus.“34 B. „Körper hat Vorfahrt“: Textualität in den Körper bringen Bewegung und der konkrete Wechsel einzelner Bewegungsformen vertiefen die Atmung und damit die Entschiedenheit des Sprechens. Gedanken werden durch den Raum und die Partner impulshaft aufgegriffen, ohne sie einer Logik zu verpflichten. Sich gegenseitig Impulse verschaffen, bringt die Texte in Bewegung. Eine Spielsituation kann abstrakt wie auch spielerisch real sein. Die Aktionen simpel und schlank.
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In der folgenden Übung wird auf der Textgrundlage von Schneewittchen gearbeitet: „Jetzt gehe ich durch die Krümmungen und Biegungen des Waldes schon seit Ewigkeiten, und was finde ich nicht? Zwerge!“35 Übung 2: a) Jedes Schneewittchen spricht ihren/seinen Text in den Grundformen Gehen, Laufen, Stehen, Rollen, Fallen, Liegen, Hüpfen und Springen und nimmt wahr, wie die unterschiedlichen Bewegungsformen das Sprechen aktivieren und beatmen. Tätig werden und arbeiten. „Vielleicht will ich einfach nur Tätigkeiten ausstellen, die man ausüben kann, um etwas darzustellen, aber ohne höheren Sinn.“36 Der Sound einer angeschlagenen Klangschale bedeutet „freeze“; die Spieler halten in ihren jeweiligen Positionen inne, bleiben im „freeze“; ich lade einzelne Studierende nacheinander ein, sich im eingefrorenen Wald der Kreaturen zu orientieren und einen Weg zu finden. Daneben erhält „der Wald“ die Aufgabe, Atmosphäre zu schaffen: Die Bäume beginnen zu pfeifen, säuseln, zwitschern und raunen: Sounds und Atmosphäre des Waldes. Der Solist bewegt sich in den Grundformen, die sich nunmehr durch die Absicht verändern, zu erforschen, zu untersuchen, zu testen, zu erproben und auszureizen. Die „Bäume“ werden benutzt zum Anlehnen und Ausruhen, zum Hindurch-Kriechen, zum Darüber-Hüpfen oder zum Versuch, auf ihnen zu liegen oder sich um sie herum zu rollen, sich auf ihnen abzurollen. „Use your partner.“ Die Partnerbeziehung verändert sich, das Sprechen verändert sich. Im Lauf der Übung den Wald immer wieder auftauen und in Bewegung setzen. Die „eingefrorenen Bäume“ und Kreaturen dürfen sich dabei in ihren Positionen verändern. Unmerklich oder abrupt. Sie können auf „Schneewittchen“ reagieren, das Anlehnen beantworten, sich von der Partnerin, dem Partner verändern lassen. Im Solo können die wechselnden Akteure durch die Ruhe und Stille der Stehenden gegen etwas Angehaltenes tätig werden, kontrastive Bewegungen setzen, überraschende Impulse für das Sprechen nutzen. Variationen des Laufens in unterschiedlichen Tempi und Raumwegen – Kreise, Schlangenlinien, Strecken, auf der Stelle – können durch entsprechende Impulse von außen leicht präzisiert und korrigiert werden hinsichtlich Raum und Wegen, Richtungen, Achsen, Qualität der Bewegung. Die Aufforderung zu Laufextremen, ein Schneewittchen bis zur Erschöpfung „hochzukurbeln“, zeigt Grenzen auf. Bis hin zu einem „Sprechen außer sich“. Der Spieler ist gelöster für die nächste Handlung.
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Nach einigem Erproben der Soli ergeben sich zuerst Duette, die in der Folge in Trios und als Finale in eine Gruppenimprovisation überführt werden können. Für die Ansagen von Aufgaben, die den Fokus im Spiel verändern, hat sich das schwingende Zeichen der Klangschale für „freeze“ sehr bewährt. Es verlangt anfangs ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Hören auf den Raum. Mit der Zeit erhöht sich die Konzentration. Der nachschwingende Klang bringt den Körper in einen schwingenden und weiteratmenden Stopp, aufmerksam für das Neue. Im Anschluss an die Improvisation „Eigenarbeit“: b) Jeder Spieler sucht sich drei Bewegungen aus den Grundformen der Bewegung, die er/sie aus der vorangegangenen Improvisation entwickelt hat, und legt seinen Textabschnitt choreografisch an. Variationen in den Bewegungen sind möglich, auch unterschiedliche Tempi und Raumwege (siehe oben), jetzt aber als Solo in eigenständiger Arbeit. Partner und Widerstände werden imaginiert. c) Zurück in die Präzision. Jeder Spieler wählt drei bis fünf Sätze aus dem eigenen Text und erprobt für jeden Satz eine der Grundbewegungen. Als fortführende Variation lässt sich diese Übung nach den Systematiken der Biomechanik strukturieren: „Bewegung. Stopp. Text“; „Text. Stopp. Bewegung“; „Bewegung und Text gleichzeitig“. Denken und Spielen bis zu einem Ende, zum „full stop“. Dann die Möglichkeit zur kompletten Veränderung. Im Umgang mit dem Stopp ist wiederum auf das Weiterschwingen der inneren Bewegung zu achten. d) Ein Spieler legt eine Bewegungsform (z. B. das Hüpfen) und ihre unterschiedlichen Ausdrucksformen und Qualitäten37 als Leitfaden unter seinen gewählten Text; er spielt mit ein oder zwei anderen, die entweder mit derselben Grundform arbeiten oder eine andere auswählen. Die Spieler gehen sowohl auf der Ebene Bewegung und Raum in Dialog als auch auf sprecherischer. Die Texte entstammen nicht zwangsläufig demselben Werk. Günstig ist, wenn im Unterricht die Arbeit mit Widerständen bekannt ist – sich Rücken an Rücken wegschieben, einander über einen Graben ziehen, noch besser: gegen den Zug eines Fahrradschlauchs anzugehen – und dieser Parameter vorzugsweise ins Warm-up integriert wird. Tagebucheintrag, 21. September 2014: In er nicht als er, einer Hommage an Martin Walser, einen von Jelineks Wahlverwandten, 2014 im Deutschen Theater aufgeführt, nehmen sich
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die Schauspieler für eine sich wiederholende Textpassage eine spezifische Bewegungsform als Untertext: das Liegen. Liegend komponieren sie einen Raum durch unterschiedliche Stellungen – ein Spieler in Bauchlage unter einer Bank, eine Spielerin seitenverkehrt auf der Bank darüber, die dritte in Embryonalstellung diagonal zu den anderen auf dem Boden. Die Positionen und der atmende Kontakt der Spielerinnen und des Schauspielers öffnen in diesem Bild den Raum für ein sich wiederholendes Ritual. Das Ritual eines inneren Alltags des Dichters Walser, einer vielstimmigen Positionierung des Ichs und seines Sprechens. C. Sprechtempo erhöhen, angelegt über die Grundtätigkeit des Gehens Wenn ein Schauspieler durch die Regie die Anweisung erhält, ergebnisorientiert „schneller“ zu sprechen, ist häufig zu beobachten, dass die Anbindung der Gedanken an das Körper- bzw. Atemzentrum verloren geht. Die Frage ist also: Wodurch kann es gelingen, dass diese Anbindung nicht verloren geht? Die Steigerung des Tempos impliziert mehr, als schneller zu sprechen. Damit dies erfahrbar wird, greifen wir zurück auf eine körperliche Tätigkeit, in diesem Fall das Gehen, die über die Intensivierung des Atems und eine insgesamt höhere Investition übertragen wird in eine gesteigerte Reaktionsfähigkeit, in schnelleres Denken und Orientieren im Raum. Erhöhtes Sprechtempo erhöht die Aufmerksamkeit der Spieler und der Zuhörer. Die Zuschauer gehen mit. Die Wechselwirkung zwischen Gehen und Sprechen bildet die Kernaufgabe der folgenden Übungen. Übung 3: a) Gehen in verschiedenen Geschwindigkeiten von eins bis zehn, die von außen zugerufen werden. Im nonverbalen Miteinander etabliert die Gruppe aufeinander hörend, unterschiedliche Tempi zwischen sehr langsam und sehr schnell. Die Bestimmung erfolgt durch das Gefühl. b) Sprechen eines gemeinsam vorbereiteten Textes oder unterschiedlicher Texte – während des Gehens in verschiedenen Tempi von eins bis zehn; die unterschiedlichen Tempi werden wieder von außen zugerufen. Mit zunehmender Übungsdauer können immer größere Kontraste und Brüche geschaffen werden. Auf Zuruf bleiben die Akteure stehen. Die neue Tempovorgabe kann in der Vorstellung des Kommenden bewusster antizipiert werden und verbindet sich in der Regel mit einer Vorstellung, einem Bild, einer Absicht, einem Gefühl. Das Körpergedächtnis triggert die notwendige Investition von Energie und Atem. Entscheidungen werden nicht nur formal oder ergebnisorientiert getroffen, sondern begründet und souverän.
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Erfahrungsgemäß kommt es in der Parallelschaltung von Bewegung und Sprechen zu Tumulten und wilden Ungenauigkeiten; der beschriebene Aufbau kann stimmliche Grenzen bewusst machen und zur stufenweisen Steuerung von Körper und Stimme unter erschwerenden Bedingungen befähigen. Um einsetzende Ungenauigkeiten in der Anbindung von Körper, Stimme und Sprechen zu präzisieren, wird zu Begegnungen aufgerufen, zusammen weiterzugehen, zu zweit, zu dritt. Als Variante: Ein Spieler, der im Gewirr der Stimmen seine Orientierung verloren hat, ruft mit einem lauten „Io!“ andere zur Unterstützung herbei. Gemeinsam setzen sie die Übung fort. Die Spieler gewinnen wieder an Boden und atmen gelassener. Sie können dabei führen und einander folgen, in wechselnden Formationen mit der Führungsrolle spielen. Gesprochen wird dann z. B. vom jeweils Anführenden. Zwischenstufen sind, dass die Folgenden immer wieder anhalten und am Ort den Beat stampfen, oder auch mitschnipsen bzw. klatschen. Sorgsamkeit und immer wieder Suchen und Finden. Erproben. Wenn das klappt, können sich sukzessiv die Folgenden mit ihrem Text dialogisch „dazuschalten“. Alle sich daraus ergebenden intentionalen Handlungen wie „Beschatten“ und „Verfolgen“ bringen gefühlte Tempowechsel mit sich und führen aus der bisher technischen Arbeit mit Tätigkeiten, hier des Gehens, in Handlung und rhythmisches Spiel; bleiben aber vorerst der formalen Arbeit untergeordnet. c) Die Akteure stehen im Raum. Der Text wird aus der Erinnerung des Gehens und der vorangegangenen Übung in den Tempi von eins bis zehn gesprochen. Die entsprechenden Ansagen werden anfangs noch von außen eingegeben, können mehr und mehr eigenständig ergriffen und innerhalb der Gruppe improvisiert werden. So wie in anderen Übungen Töne abgenommen werden, können hier die Tempi abgenommen und gesteigert, beschleunigt bzw. gebremst und beruhigt werden. Als weiter gehender Schritt kann mit zwei kontrastiven Tempi im Raum experimentiert werden, z. B. ein Tempo der Masse gegen das eines Einzelnen. Gleichheit gegen individuellen Ausdruck und andere Geschwindigkeiten. Das nächste Thema, „Lautstärke“, ergibt sich von allein, wird in diesem Rahmen jedoch nicht weiter thematisiert. D. Annäherung über Haltungen im Spiel Einen Text lesend vom Blatt förmlich zu „vernichten“, ist bei hundert Seiten Textfläche schon mal Programm. Ich kann nicht beurteilen, worin jeweils die Entscheidungen liegen, den Text ungekürzt auf die Bühne zu
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bringen. Vielleicht soll er wie auf einem Teleprompter oder wie Sushis auf dem Fließband an meinem Ohr vorüberziehen. Vielleicht muss der Text aber auch einfach irgendwohin oder einfach abtransportiert und weggetragen werden. Schnell soll er vorbei sein, das ist ablesbar. Es ist nicht unbedingt leere Zeit, Sushi-Bänder sind eben auch nicht leer, aber man betrachtet das „Vorbei“38 als eine Art „Auszeit“39 oder Schwebezustand vor dem nächsten Zugriff. Ginge es um die Regieanweisung, den Text schnell zu sprechen, wäre interessant, welcher Darsteller es bei dieser Regieanweisung dennoch schafft, den Text zu greifen. Ist Greifen ohne den Text zu denken möglich? Das ist sicherlich Kür. Ich muss an Ingo Hülsmann als Marinelli in Michael Thalheimers Inszenierung von Emilia Galotti denken, der dem Prinzen „mit einem zungenbrecherischen Speed, als gelte es, in einer Quiz-Show binnen dreißig Sekunden so viele altertümliche, hohe Worte wie möglich herunter zu rattern“40 gegenübersteht. Studierende sind nun verführt, den Vorbildern nachzueifern und den zweifelsfrei kunstvollen Stilen. Text auf Tempo lesen, schnelles Sprechen oder Text wegsprechen. Die Sprechspannung reicht aber oft dafür nicht aus. Oder die innere Anbindung an die erhöhte Dringlichkeit, Notwendigkeit, höhere Intensität und Investition der Einsätze. Übung 4: Bei der Übung Katz und Maus oder der überflüssige Dritte41, einem Kinderspiel oder dem Sportunterricht entliehen, liegt der Fokus auf der kontrastiven Situation zweier Figuren. Zwei unterschiedliche Grundhaltungen werden dialogisch behauptet. Einem sehr einfachen Ziel oder einer klaren Absicht verschrieben, entwickeln sich aus dem situativen Sprechen eine Vielfalt an Gesten. Provozieren, Schmeicheln, Verführen, Drohen, Necken, Besänftigen werden zu absichtsvollen und konkreten Handlungen, die in rasantem Spiel einmal dem Körper aus Zugzwang überantwortet werden und zum anderen dem Raum, beschrieben durch die Koordinaten der Mitspieler. Die spezifisch „postdramatischen“, in Prosa gefassten „Textkaskaden“, oft ohne Figurenzuweisung, werden in Partnerkontakt und aktives Handeln gezwungen. Sprechen die Spieler unterschiedliche Stellen aus unterschiedlichen Stücken, werden sie zum Ko-Autor und lernen, sich spielerisch in den rasanten Widersprüchlichkeiten des Jelinekschen Denkens zu bewegen, sie in Gang zu setzen; sie fordern einander heraus, loten Diskurse bis an ihre Grenzen aus, trotzen ihnen, jagen sie einander förmlich ab. Die Haltungswechsel von Jagendem und Gejagtem sind verwirrend und überraschend, die Überforderung der Reaktionsschnelligkeit und der
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Kondition gehört zum Spiel. Jeder Moment wird als spielerischer Act und Re-Act wahrgenommen und findet im „betonten“ Atem stimmlich und sprachlich impulsive Angebote. Bedeutungsschichten finden spontane Handlungsgrundlagen und Referenzen, die oft in ihrer Einfachheit genügen, um den Text sprechen zu lassen. Der Text wird vom Spieler abgelöst, ist reine Handlungs- und Gedankenenergie zwischen Partnern. Er bleibt nicht an der Person kleben, gleichwohl eröffnet er den Zugang zu Stimmen und Gegenstimmen. Die Sprache bleibt sozusagen „unter dem Kleid“42. Sie ist da, aber drängt sich nicht vor. Siehe Manifesto. „Und nicht, was übrig bleibt, interessiert mich, sondern der Verbrauch an sich.“43 Die Schauspielerin Sophie Rois44 setzt dem von Jelinek formulierten Gedanken, der Schauspieler solle Arbeit zeigen, Folgendes hinzu: Spielen ist eben Spielen […] und nicht Arbeit. Spielen bedeutet Befreiung von der Arbeit und vom Authentischen. Es geht darum, das Leben zu übertreffen, frei mit dem Material umzugehen. Die Dinge in eine andere Ordnung zu rücken. Es geht um Verdichtung, Übertreibung, Schönheit, Schnelligkeit, Glanz und Sex-Appeal. Beide beschreiben das Spannungsfeld zwischen Arbeit und Spiel und seiner Verdichtung. In meinen Kursen bringen die Teilnehmer favorisierte Textabschnitte mit. Auch bei der Berner Tagung war das so. Es lässt sich gerade im Aufeinandertreffen von Fetzen unterschiedlicher Texte eine wiederkehrende Struktur in Jelineks Wortspielen entdecken. Sie wendig und lustvoll im Spiel anzuwenden, darum geht es. Den Partner toppen und aufs Glatteis führen: „Ist es möglicherweise die Irre, in die Sie gehn?“45 E. Bewegung und Stimme trennen In Inszenierungen gibt es verschiedene Möglichkeiten, einen mehrdimensionalen Raum zu schaffen. Bewegung und Stimme auf der Bühne zu trennen, ist eine davon: „Bewegung und Stimme möchte ich nicht zusammen passen lassen“46, schlägt Jelinek vor. Wir untersuchen grundsätzliche Auswirkungen dieses Phänomens mit Übungen des sprecherischen Übungskanons. Übung 5: a) Bewegte Stimme: Ein Spieler bewegt sich, der Partner übersetzt die Bewegung mit seiner Stimme. b) Bewegende Stimme: Ein Spieler setzt einen Partner mit stimmlichen Impulsen in Bewegung.
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Anfangs bleiben beide in einem Abstand von drei Metern am Ort, später lenkt die Stimme den in Bewegung umsetzenden Partner durch den Raum. Der Stimmgebende kann in angemessenem Abstand den Raum mit durchqueren oder bleibt am Ort stehen. c) Polyphonie von Stimmen: Zwei oder drei Paare stehen in zwei Linien vor dem Publikum. Im „background“ die Stimmimpulse gebenden, davor die zu bewegenden Partner. Die stimmlichen Aufträge und Absichten müssen nun dem Partner sehr gerichtet mitgeteilt werden. Das erhöhte Aufkommen von Parallelgeräuschen anderer Paare soll nicht über Lautstärke gelöst werden, sondern durch genaueres Senden und die Durchdringung von Raum und Partner. Nicht gegen die anderen im Raum arbeiten. Die Aktionen der anderen mit aufnehmen, sie können stimmlich kontrastiert, gesteigert oder entschleunigt werden. Die Übung stellt stimmlich eine ähnliche Anforderung dar, wie über Musik hinwegzusprechen. d) Bewegender Text: In einem Duo, vorerst allein auf der Bühne, versucht der mit Stimmimpulsen agierende Partner, die vorherige Übung mit einem Satz oder Satzfragmenten weiter zu entwickeln. Nach einer Erprobungsphase kommen weitere Spieler dazu und verändern den sich bewegenden Solisten mit ihren stimmlichen Aktionen. Sie unterstützen den sprechenden Spieler im Versuch, mit seinem Satz Veränderungen auszulösen. Der Übung inhärent sind zwei Ziele. Erstens: Adressatenbezug herzustellen mit der Absicht, ihn zu verändern, „durch ihn hindurch zu sterben“. Diese Formulierung stammt von Martin Gruber, Professor für Bewegung, der mir das in einem Training so anwies. Ob ich ihn recht verstand? Für mich war das ein unvergessener Hinweis, so wenig ich mir auch in dem Moment wirklich darunter vorstellen konnte. Zweitens: eine Anordnung zu schaffen, um parallele Geräusche und Sounds im Raum in klarer Absicht zu durchdringen und präsent zu sein. Übung 6: Die folgenden Übungsansätze zielen auf die Trennung von körperlichen Gesten/Bewegungen und Sprechvorgang sowie auf die Auflösung der Einheit von Wort und Sinn. a) Zeichenspiele und Dekonstruktion des Textes: Partner 1 umarmt Partner 2 von hinten. Im Folgenden P1 und P2 genannt. P2 spricht seinen
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Text, P1 gestikuliert unabhängig. „Mein Herr Körper, mit dem ich mich vorhin noch amüsiert habe, will jetzt wieder berufstätig sein […]. Mir wird schlecht, nein, umgekehrt, ihm wird schlecht von mir.“47 Es lohnt sich, diese improvisatorische Anlage über ihren überraschenden und komischen Wert hinaus genauer zu analysieren. In einer vertiefenden Studie der Übung wird die grundsätzliche Neigung deutlich, mit den Gesten erst nach dem Text zu agieren und ihn somit zu illustrieren. „Versuch, den Impuls der Geste abzuwarten, dann erst zu sprechen!“ Das Aufnehmen der Impulse von P2 führt zu präziseren Sprechimpulsen. Sprechhaltungen werden wesentlich deutlicher und erlauben variablere Entscheidungsmöglichkeiten hinsichtlich der Reaktion. Kontraste zwischen Stimme/Text und Geste/Bewegung ergeben sich oft von allein und überraschen Zuschauer und Spieler gleichermaßen. b) Computerstimme aus dem Off: Eine Studentin setzt in ihrem Monolog Körper und Frau Jelineks Angabe „vom Band, Computerstimme“48 um. Sie hat den Text über Google Translator eingesprochen und arbeitet in einer Etüde ihre Bewegungsparameter wie Hüpfen und andere Tätigkeiten (vgl. Teil B) unabhängig von der Computersprache aus dem Off ab. Tagebucheintrag, Juli 2017: Mir wird beim Zuhören der von Empfindung abgelösten, technischen Sprache tatsächlich schlecht. Sie ist übermächtig und radiert den Körper auf der Bühne anfangs aus. Die in diesem Hörerlebnis ausgelösten körperlichen Reaktionen werden vom Textkörper überraschend bestätigt oder behauptet, manchmal widerlegt und hintertrieben. Als wäre ihm die Verfassung des Zuschauers vorhersehbar. Ein Frauenkörper in Bewegung, herausgelöst aus Text und Sprache. Ihr Körper bewegt sich zur Sprache in einer anderen Zeit. Gegenüber der mechanischen Sprache wird der Körper ein denkender. Wirkt anfänglich schwächer und hilfloser, verletzlicher; bei längerer Betrachtung wird sein Eigenleben umso deutlicher. Über diese Differenz werden sowohl Körper und Bewegung als auch auf der anderen Ebene Sprache und Inhalt transparenter. Nach dem Zufallsprinzip assoziieren sich Fragen für den Betrachter. F. Rhythmus und Musikalität Parameter wie Schnellsprechen wurden in Teil C über die Grundtätigkeit Gehen und ihre unterschiedlichen Tempi bereits angelegt. Die in den
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höheren Semestern noch weiter auszubauende Sprech- und Denkkunst möchte ich im Folgenden rhythmisch und musikalisch untersuchen. Ich beginne mit dem Metronom, einem explizit ordnenden Partner. Tempo-Rhythmus als Impuls Übung 7: a) Sprechen in den Tempi des Metronoms: In Bern stehen die Teilnehmer des Workshops im Kreis, in der Mitte das Metronom. Verschiedene Metren werden eingestellt. Vorzugsweise mit Andante, 76 bis 85 Taktschlägen pro Minute, beginnen. Einzelne Sprecher erproben ihren Text. Die Teilnehmer geben als Feedback, dass sich eine innere Gelassenheit einstelle. Der Beat des Metronoms sei so unausweichlich, so sicher und verlässlich, dass sich Herzschlag und Puls dem Grundschlag anvertrauten. Es wird intuitiv und „im-pulsiv“ gesprochen, „beherzt“, Neuland mit dem Text beschritten. Die auf das Außen gerichtete Aufmerksamkeit, das Hören und die Unausweichlichkeit des spontanen Reagierens und Entscheiden-Müssens, bedingt auch durch die Gedankenpausen, die entstehen, um im Takt zu bleiben, setzen neue Satzstrukturen und Haltungen frei. Die Sprechspannung erhöht sich um ein Mehrfaches. Überraschend schnell lassen sich Anliegen intensivieren und Adressaten im Raum, auch vorgestellte, direkt ansprechen. Eine Ahnung von „der Text spricht“ taucht auf. b) In derselben Anordnung wie oben beschrieben, wird jetzt nicht mehr nur einzeln gesprochen, sondern auch im Dialog. c) Sprechen der Texte auf vier verschiedene Tempi in vier verschiedenen Stimmungen. Die Spieler sind auf vier Ecken des Raums verteilt und wandern von einer in die nächste. Die mithilfe des Metronoms erworbene Sensibilität für Tempo und seine Variationen wird mit unterschiedlichen Stimmungen aufgeladen, der Text im musikalischen Sinn con sentimento gesprochen: Allegro con moto – amoroso Larghetto – assai Andante – Prestissimo con fuoco49. Die letzte Übung ist als Einschub zu verstehen, um den persönlichen und künstlerischen Handlungsradius musikalisch zu erweitern und das Ticken des Metronoms auf sensorischer Ebene neu ins Spiel zu bringen. Ist das Metronom grundsätzlich als möglicher Partner eingeführt, greife ich diesen Impulsgeber im Einzelunterricht wieder auf; vorzugsweise im vierten Semester mit dem Schwerpunkt Vers und Kleist-Dramen. Der Anfangsmonolog des Odysseus, Monologe von Penthesilea oder Meroe gewinnen an Dringlichkeit bzw. „gelassenerer“ Dringlichkeit. Sie kön-
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nen über die Erinnerung an Form und ihr innewohnende Gefühle abgerufen werden, auch in Stresssituationen wie dem Vorsprechen. Musik als Impuls: Im Publikumsgespräch zu Am Königsweg in der Regie von Falk Richter50 antwortet der Schauspieler Tilman Strauß auf meine Frage, ob sich das Ensemble an eine zündende Improvisation und deren Aufgabenstellung erinnere, es sei ganz einfach: Musik an und los geht’s. Mittlerweile haben mir mehrere Regisseure diesen Einstieg bestätigt. Selbst von der Bewegung und dem Tanz kommend, ist mir das vertraut, mit der Sprecherziehung hätte ich diesen Zugang nicht verbunden. Gleichwohl hatte ich mich auf der Tagung in Bern für einen Einstieg auf Musik entschieden. Die Zeit für die klassischen Erwärmungsetüden war kurz. Vom Band juchzte und jodelte Christian Zehnder in Triahotala durch alle Resonatoren. Seine überraschenden stimmlichen Impulse und Sprünge durch den ganzen Umfang der Stimme, die beatmeten Pausen, der rasante Beat eines Ritts durch die mongolische Steppe in ungewöhnlichen und fremden Laut- und Silbenkombinationen, menschlich wie tierisch, entführten die Gruppe ad hoc in spontanes körperliches und stimmliches Improvisieren. Im beschleunigten, fünfminütigen Galopp waren Energie, Temperatur, Lust und Bereitschaft für das Spielen mit Jelineks Texten geschaffen. Tagebucheintrag, Mai 2018: Ich arbeite im Unterricht an der Winterreise von Elfriede Jelinek. Ich berichte einem Studierenden aus dem dritten Semester von „Musik an und los geht’s!“. Wir verabreden, dass er ein Lied aus Franz Schuberts Winterreise zur nächsten Stunde mitbringen solle. Uns interessiert, ob Schuberts Liederzyklus einen Ausgangspunkt für die einzelnen Kapitel darstellen könne. Der Studierende bringt das Lied Erstarrung mit. „Mein Herz ist wie erstorben“, heißt es in einer Liedzeile. Die Situation, die durch die Musik vorgegeben wird, ist eine so verschiedene von der, die der Studierende in den vorherigen Stunden angeboten hatte, dass wir nur noch staunen. Das Sprechtempo hat sich nun aber dermaßen erhöht, dass sich Schwierigkeiten auftun. Die Gedanken auslösenden Impulse verschwinden, die einzelnen Gedanken werden flach, er fühlt sich gejagt und doch ist es eben der Gestus, den wir erproben wollen. Er muss und will aus der Komfortzone. Wir wollen schaffen, in diesem vorgelegten Tempo schnell zu sprechen. Durch die Musik fühlt der Studierende den hohen Spannungsgrad des Sängers, ein Körper schier erfroren bis in die Knochen, bis in die Wirbelsäule, wendige Sprechwerkzeuge in ihrer Ver-
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längerung. Wir greifen zurück auf das orientierende Metronom. Andante. In Hildesheim probierten wir nicht aus der Konserve, sondern live mit Musikerinnen, Cello und Geige, und gliederten den Aspekt Musikalität unter drei Gesichtspunkten: Musik als unabhängiges „Geplänkel“; Musik als Atmosphäre; Musik als Verstärker. Die Agierenden sind die Schauspieler und in unserem Fall ein Cello und eine Geige. Parameter wie Raum, Partnerbezug, Intention und Haltung werden als Mitagierende vorausgesetzt. Übung 8: a) Musik als unabhängiges „Geplänkel“: Die Sprecherin S. richtet ihr Spiel nach vorne in den Zuschauerraum. Sie hat den Fokus. Die beiden Schienen „Sprechen“ und „Musik“ laufen nebeneinander her. Der Begriff „Geplänkel“ wurde von den Musikerinnen eingeführt. b) Musik als Atmosphäre: Die Spielerin F. legt die Textschiene mit ihrem Monolog aus der Winterreise vor: Aber die Zeit bewundere ich schon auch. Sich niemals zu wiederholen, das ist schon was! Immer gehen, immer nur gehen, sogar die Uhr macht da oft schlapp, auch die kann nicht immer nur gehen, die geht manchmal ein wie ein Mensch. Ich schalte mich ebenfalls auf schnellen Vorlauf, aber immerhin, beim Vorlauf geht es auch zurück, beim Verlauf nie. Sagen Sie das mal der Zeit!51 Die Musikerinnen schaffen aus dem, was sie wahrnehmen, eine Atmosphäre, die der Text bei ihnen auslöst. Die Musik formuliert die Gedanken der Sprecherin weiter, fungiert quasi als Untertext oder innere Stimme. Sprache und Musik wechseln einander ab, um gegenseitig zu klären, worum es geht oder gehen könnte. Je länger improvisiert wird, desto weiter entwickeln sich Motive und Parameter wie Tempo und Gehen. Die Atmosphäre verändert sich vom Stimmungspartner zu einem in Vorgängen handelnden und verlässt den Charakter der Atmosphäre. Die Spielerin N. beginnt ihren Monolog aus Wut52: Wir verteilen die Todeskämpfe, wir hören, wie sie nach Mutter und Vater rufen, wir hören nichts, und wir sind ja schließlich auch nicht ihre Mütter und Väter, wir schließen ihr Buch, wir löschen ihre Linie aus, ihre Spur, ihr Denken […].
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Es beginnt ein Kampf zwischen Text und Musik. Die Musik mauert, wird zur Wand. Die Musikerinnen bauen eine eigene, die Sprecherin kontrastierende Atmosphäre, gegen die sich N. auflehnt. Stopps der Musik wurden mit Schweigen auf der Textebene beantwortet. Von wem diese Gegnerschaft ausging und wer hier wen pusht, ist am Ende der Übung nicht mehr zu erkennen. Stimmlich stellt sie eine große Herausforderung dar: In diesem Monolog wurde sie außerordentlich gut bewältigt. Entweder hatten wir stimmlich gut vorgearbeitet oder die Musik wurde trotz der sich anbahnenden Gegnerschaft als Partner einbezogen. Die Musik wurde Figur. c) Musik als Verstärker: Die Musikerinnen verstärken Brünnhildes Monolog in Rein Gold, indem sie Text und Sprecherin „nachäffen“ (Ausdruck der Musikerinnen): Ich versuche zu präzisieren, das ist ein etwas delikates Gebiet, es fällt mir schwer. Also. Papa kann den Kredit nicht zurückzahlen. Eine Situation wie in jeder zweiten Familie.53 Die Musikerinnen haben ihre helle Freude daran. Auch die Spielerin L. geht mehr und mehr ins Spiel. Sie fasst nach der Übung zusammen, dass der Text für sie plastischer und aktiver wurde, sie überhaupt erst verstanden habe, worum es darin gehe. Die musikalischen Antworten wirkten also wie ein Vergrößerungsglas und forderten eine höhere Deutlichkeit und Präzision der Sprecherin, auch mutigere und eben neu motivierte Zugänge in die Lautstärke. Die Zuschauer berichteten, dass bei ihnen Bilder entstanden seien, dass die ironische Komponente sich bis zum Makabren dehnen ließe und so überhaupt erst begriffen werden konnte. Chapeau vor den beiden Musikerinnen, die es schafften, Stimmfarben, Modulationen und Sprechrhythmus aufzunehmen und musikalisch umzusetzen. Das Cello erwies sich dabei als der menschlichen Stimme sehr verwandtes Instrument. Epilog Mittlerweile findet die Arbeit an den Texten von Elfriede Jelinek in meinem Curriculum einer Sprechausbildung für Schauspielstudierende einen festen Platz. Die Offenheit des Textmaterials legt den Studierenden einen transparenten Transfer von den Parametern des Grundlagenstudiums Schauspiel – Körper, Raum, Partner, Fremdfigur, Situation – zu den spezifischen Inhalten des Sprechunterrichts nahe. In Anlehnung an die spezifischen Spielweisen des zeitgenössischen Theaters erfährt die
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sprecherische Arbeit in den Feldern Tempo – Rhythmus – Musik eine handwerkliche Zuspitzung. In der fortführenden Arbeit lässt sich mit Jelineks Texten ein nahtloser Übergang zu den Texten von Kleist herstellen. Da dem Schauspieler die oben genannten strukturellen Merkmale in ihren unterschiedlichen Kombinationen als kompositionelle und performative Mittel vertraut werden, kann er in Einfachheit seine Aufmerksamkeit bündeln und konkret realisieren. Er ist dann das Sprechen. In diesem Moment. Wenn Jelinek sagt, sie möchte Bewegung und Stimme nicht zusammen passen lassen, dann bezieht sie sich auf ein inszenatorisches Gefüge von unterschiedlichen Vorgängen und Qualitäten auf der Bühne, die synchron und voneinander getrennt eine Mehrdimensionalität erzeugen können. Merkmale, die für das zeitgenössische Theater prägend geworden sind. Der Zuschauer weitet aus dieser geschaffenen Distanz den Blick und seine Wahrnehmung. Er assoziiert unvermittelt. Auf diesem Grundverständnis ist der Schauspieler aufgerufen, voll und ganz tätig zu werden, Arbeit zu zeigen. Im spielerischen Verbrauch wird er sicht- und hörbar. So beantworte ich meine in Hildesheim anfangs gestellte Frage, wie sich in diesem Vokabular von Trennung und Isolation die für die Stimme notwendige Einheit von Körper und Stimme dennoch hundertprozentig in schauspielerisch lustvolles Handeln umsetzen lässt. In den dargestellten Übungen habe ich diese Zugänge erprobt und trainiert, den Wechsel zwischen sekundenschnellem Drauflos und blitzartiger Distanz zum eben gerade Angerichteten ausgelotet. Es gibt kein Maß. Es sind Amplituden von Extremen, handwerklich nur zu lösen in detaillierten Aufgaben. Eine meiner Schauspielstudierenden beschreibt die Frage nach der sprecherischen Distanz in der Textfläche als ein Wechselspiel zwischen unterschiedlichen Partnern. Spreche ich als eine mir vorgestellte Realitätsfigur oder als ich, Paulina?54 Spreche ich zu mir, zum Publikum oder zu einer mir anderen vorgestellten Figur? Mache ich als Paulina Kommentare über die Figur oder benutze ich die Figur, um Kommentare ans Publikum zu richten? Eine Textfläche lässt sich in mehrere Stimmen aufbrechen, sie kann aber auch monologisch von einem einzelnen Schauspieler durch das Springen in verschiedene Figuren und Adressen, dem Wechsel der Kommentarebenen sozusagen schizophren ins Handeln gebracht werden. Diese Mittel haben den Zweck, Brüche zuzulassen. Wie immer geht es um die Klarheit des Denkens. Darum, dass sich die Stimme nicht vor den Gedanken schiebt. Es geht um das Hören. „Hören Sie zu!“. An dieser Stelle Dank an meine Studierenden und alle, die mich bisher auf der Suche begleiteten und sie weiterhin anregen.
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1
Jelinek, Elfriede: Winterreise. Ein Theaterstück, Reinbek bei Hamburg 2011, S. 7.
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Pattern ist in der Schauspielausbildung der Universität der Künste Berlin ein stehender Begriff geworden und bezeichnet Muster im Sinne von Gewohnheiten, Haltungen, die dem Schauspieler meist unbewusst eingeschrieben sind und auf der Bühne standardmäßig angeboten werden. Sie bewusst zu machen und ändern zu können, ist eines der Ziele in der Ausbildung.
3
Gedanklich sind alle Geschlechter einbezogen. Um den Fluss des Lesens nicht zu unterbrechen, greife ich zuweilen auf die maskuline Form zurück.
4
Jelinek: „Es ist Sprechen und aus“. Grußbotschaft zum Jubiläumskongress 125 Jahre Burgtheater (11.–13. Oktober 2013), in: www.elfriedejelinek.com (letzter Zugriff am 16. Oktober 2018).
5
Jelinek: „Textflächen“ in: www.elfriedejelinek.com.
6
Jelinek: Nuvole.Casa, Milano 1991, S. 45, übersetzt von Luigi Reitani aus dem Original Wolken.Heim., Köln 1990, S. 48. „Der Wille ist eben kein Besitz, er ist der Motor.“
7
Jelinek: „Es ist Sprechen und aus“.
8
Jelinek: Nuvole.Casa, S. 23, übersetzt von Luigi Reitani aus dem Original Wolken.Heim. „[…] bei uns […] wir gehören uns“.
9
Ebd., S. 40, übersetzt aus dem Original „Wir sind Zuhaus.“, S. 43.
10
Jelinek: Wolken.Heim., S. 13.
11
Ebd., S. 9.
12
Ebd., S. 17.
13
Ebd., S. 1.
14
Ebd., S. 18.
15
Ebd., S. 43.
16
Jelinek: „Sinn egal. Körper zwecklos.“ in: www.elfriedejelinek.com.
17
Jelinek: „Ich möchte seicht sein“, in: Theater heute, Jahrbuch 1983, S. 102, nachzulesen auf www.elfriedejelinek.com.
18
Jacob und Wilhelm Grimm, zitiert nach: Kröll, Kathrin: „Körperbegabung versus Verkörperung – Das Verhältnis von Körper und Geist im frühzeitlichen Jahrmarktspektakel“, in: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/Warstat, Matthias (Hrsg.): Verkörperung, Tübingen/Basel 2001, S. 30.
19
Jelinek: „Sinn egal. Körper zwecklos.“
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Jelinek: „Es ist Sprechen und aus.“
21
Jelinek: „Ich möchte seicht sein.“
22
Ebd.
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Jelinek: „Sinn egal. Körper zwecklos.“
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Ebd.
25
Jelinek: „Ich möchte seicht sein“, 1983, „Sinn egal Körper zwecklos“, 1997, „Hören Sie zu!“ in einer Rede, gehalten am 7. Juni 2004 in Berlin, anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden für Jackie (Teil 4 der Prinzessinnendramen), in: www.elfriedejelinek.com
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Frei nach Jelinek, Elfriede: Winterreise.
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Der Ausdruck „Körper hat Vorfahrt“ stammt von Szeneprofessor Enrico Stolzenburg, Universität der Künste Berlin.
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Jelinek: „Sinn egal. Körper zwecklos.“
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Ebd.
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Jelinek: „Hören Sie zu!“
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Ebd.
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Claus, Franziskus, Studierender im dritten Studienjahr Schauspiel an der Universität der Künste Berlin, in einem Gespräch mit Gabriella Crispino am 9. Juli 2018.
33
Jelinek: „Hören Sie zu!“
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Jelinek: Das Lebewohl, Berlin 2000, siehe Regieanweisung.
35
Jelinek: Der Tod und das Mädchen I–V, Berlin 2004, S. 9.
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Jelinek: „Ich möchte seicht sein.“
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Qualität ist hier ein dem Tanz entliehener Begriff. Jede Bewegung lässt sich in ihren Qualitäten Zeit (langsam oder schnell), Kraft (leicht oder fest) und Raum (direkt oder flexibel) analysieren.
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Jelinek: er nicht als er, Deutsches Theater Berlin, 2014, Regie Felicitas Brucker.
39
Jelinek: Winterreise, S. 8.
40
Schaper, Rüdiger: „‚Emilia Galotti‘: Sturm und Zwang“, in: Tagesspiegel online, 28. September 2001.
41
Vasiljev, Jurij A.: Imagination, Bewegung, Stimme. Variationen für ein Training, Urban 2000, Übungsbeschreibung S. 121.
42
Jelinek: „Sinn egal. Körper zwecklos.“
43
Jelinek: „Es ist Sprechen und aus.“
44
Sophie Rois im Interview mit Ulrich Seidler: „Ich will in Berlin Theater spielen“, in: Berliner Zeitung, 22. April 2018. Sophie Rois antwortet auf die Frage: Worauf kommt es beim Spielen überhaupt an?
45
Jäger zu Schneewittchen, in: Jelinek: Der Tod und das Mädchen I–V, Berlin 2004, S. 10.
46
Jelinek: „Ich möchte seicht sein.“
47
Jelinek: „Körper und Frau“, in: www.elfriedejelinek.com.
48
Ebd., Regieanweisung.
49
Übersetzt: allegro con moto/heiter, ausgelassen, fröhlich mit Bewegung: entspricht einem schnellen Temo (moto kann durch brio näher bestimmt werden, nämlich mit Schwung). Amoroso Larghetto/lieblich, verliebt, etwas breit und langsam: entspricht einem langsamen Tempo. Assai Andante/„ziemlich“ oder doch sehr gehend, schreitend: entspricht einem mittleren Tempo. Prestissimo con fuoco/äußerst schnell mit Feuer: entspricht einem sehr schnellen Tempo.
50
Eingeladen zum Theatertreffen 2018 in Berlin, uraufgeführt am Deutschen Schauspielhaus Hamburg am 28. Oktober 2017.
51
Jelinek: Winterreise, S. 8.
52
Jelinek: [Wut], in: Theater heute, 6/2016, S. 3.
53
Jelinek: Rein Gold. Ein Bühnenessay. Programmheft der Staatsoper Berlin, 2014, S. 1.
54
Bittner, Paulina, Studierende im dritten Studienjahr Schauspiel an der Universität der Künste Berlin, in einem Gespräch mit Gabriella Crispino am 9. Juli 2018.
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Anja Klöck
PRAKTIKEN DES SPRECHENS UND DAS DISPOSITIV PROFESSIONELLEN SCHAUSPIELENS IM SPRECHTHEATER -
Wenn Praktiken des Sprechens in Bezug auf Theater gegenwärtig vermittelt, gelehrt, geübt, auch verhandelt, hinterfragt oder in Workshops erarbeitet werden, gibt es dafür meist einen institutionellen Kontext. Dieser institutionelle Kontext ist in Bern, wie auch bei mir in Leipzig, eine Fachrichtung/ein Institut, an dem Schauspieler und Schauspielerinnen1 ausgebildet werden. Ausgebildet werden, genauer genommen, Berufsschauspieler. Die Begriffe Beruf, Berufsschauspieler tauchen in den Leitbildern der „Schauspielschulen“ immer auf, egal wie weit die möglichen Tätigkeitsbereiche nach dem Studium gegenwärtig aufgefächert werden. Angestrebt wird mit der Ausbildung/dem Studium eine Professionalisierung: Der institutionelle Kontext, in dem wir die Frage nach Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater stellen, ist immer schon von diesem Konzept des professionellen Berufsschauspielers, der professionellen Berufsschauspielerin grundiert. Mit meinem Beitrag werde ich dieses Konzept des professionellen, des berufsmäßigen Schauspielens etwas näher betrachten und Praktiken des Sprechens, die damit verschaltet sind, es aufbrechen oder hinterfragen. Dabei verbirgt sich hinter dem Begriff mehr als ein theoretisches Konzept, denn sowohl Professionalisieren als auch Schauspielen umfasst Körperpraktiken, Handlungsanweisungen, spezielle Räume, Institutionen, Gebäude und gesellschaftliche Strukturen. Um dieser Komplexität angemessen zu begegnen, werde ich in einem ersten Schritt den theoretischen Begriff des Dispositivs auf das Berufsschauspielen anwenden. In einem zweiten Schritt möchte ich fragen, inwiefern sich das „Sprechen im zeitgenössischen Theater“ mit dem Dispositiv professionellen Schauspielens greifen lässt, sich von diesem abgrenzt oder es erweitert. Wovon also sprechen wir, wenn wir sagen „professioneller Schauspieler, professionelle Schauspielerin“? Professionelles Schauspielen und Professionalisierung Der Begriff professionelles Schauspielen bedeutet mehr als Schauspielen als Erwerbstätigkeit: Professionalisierung ist nach Andrew Abbott2 ein
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Prozess, durch den bestimmte Gruppen ihre Exklusivität in Bezug auf allgemein Erwerbstätige etablieren und behaupten. Professionalisierung bezeichnet also einen Prozess der Abtrennung und Alleinstellung bestimmter Tätigkeitsbereiche. Im Fall des Schauspielens findet eine Abgrenzung des professionellen vom Laien- oder Freizeit-Schauspieler statt sowie eine Alleinstellung innerhalb der Produktionsprozesse Film oder Theater. Professionalisierung ist darüber hinaus ein historischer Prozess der Institutionalisierung von Fachwissen und -können moderner Gesellschaften, der mindestens in das 19. Jahrhundert zurückweist: im Fall der Schauspielausbildung auf die Einrichtung von Schauspielklassen an königlichen Konservatorien im 19. Jahrhundert und auf die Einrichtung privater Schauspielschulen um 1900 (in Deutschland sticht besonders das Jahr 1905 hervor, in dem die Schauspielschulen von Max Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin, von Louise Dumont am Schauspielhaus in Düsseldorf und von Max Martersteig am Stadttheater Köln eröffnet wurden3). Andrew Abbott benennt folgende Ereignisse als Merkmale einer Professionalisierung eines bestimmten Tätigkeitsbereichs: – – – – – – –
die Einrichtung von speziellen Schulen zur Weitergabe des Expertenwissens und -könnens; die Herausbildung von Ethikkodizes; die Einrichtung universitärer Studiengänge; die Gründung von Vereinen, Fachgesellschaften, nationalen Berufsverbänden und Gewerkschaften; die Anerkennung eines staatlich unterstützten Zulassungsrechts zu Studium oder Ausbildung; die Einrichtung staatlicher oder staatlich anerkannter Prüfungen; die Gründung von Fachzeitschriften; die Akkreditierung von Schulen und Studiengängen.4
Wie bei der exklusiven Abgrenzung anderer Berufs- und Expertengruppen auch verschalten sich in der Professionalisierung des Berufsschauspielens diskursive und nicht diskursive Praktiken mit Institutionen und machtpolitischen Instanzen. Das gilt auch für Experten oder Profis in anderen Bereichen, auch für hauptamtlich Forschende und wissenschaftlich Lehrende an philosophischen, kultur-, theater- und sprechwissenschaftlichen Instituten. „Ich bin professioneller Theaterwissenschaftler“ hört man dennoch seltener als „Ich bin professioneller Schauspieler“. Warum das so ist, hat u. a. etwas mit dieser Exklusionsbewegung zu tun: Schauspielen und Sprechen als Berufspraxis hier – das
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Anja Klöck
Nachdenken und Forschen darüber dort. Und doch haben auch Bereiche wie Theaterwissenschaft und Sprechwissenschaft sich mit einer Exklusionsbewegung professionalisiert, die sich einerseits von der Berufspraxis abgrenzt und andererseits doch immer schon auf sie bezogen ist. Die beiden Tätigkeitsbereiche haben sich als solche, wie ich weiter unten zeigen werde, in einem historischen Prozess der wechselseitigen Bezogenheit mit ihren jeweils eigenen Sprachen, ihren eigenen Institutionen, ihren Praktiken, Diskursen und Machtgefügen professionalisiert. Im Falle des Berufsschauspielens haftet diesen Professionalisierungsprozessen meist auch eine bestimmte normative Vorstellung von Theater als Institution und Praxis an und – z. B. über die Zulassungskriterien zu den Schulen – ein exklusives Menschenbild, sodass es angemessen erscheint, vom professionellen Schauspielen als einem Dispositiv zu sprechen. Was ist ein Dispositiv? Der Begriff Dispositiv ist ein Fachbegriff aus der Philosophie und gängiges Schlagwort innerhalb der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, eine Art Kürzel für komplexe, dynamische Formationen menschlichen Wirkens. Prägend wurde Michel Foucaults Erklärung in dem Gespräch „Ein Spiel um die Psychoanalyse“ aus den 1970er Jahren: Was ich unter diesem Titel [Dispositiv] festzumachen versuche ist erstens [Hervorhebung im Original] ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. [… U]nter Dispositiv [verstehe ich] eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.5 Als Beispiel führt Foucault das Dispositiv des Wahnsinns an – seinem Urteil nach eine strategische Reaktion darauf, dass sich eine bestimmte Volksmasse nicht in die Ökonomie des 19. Jahrhunderts hätte integrieren lassen, außer eben durch eine Matrix für ein Dispositiv, „das sich nach und nach zum Dispositiv der Unterwerfung/Kontrolle des Wahn-
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… Das Dispositiv professionellen Schauspielens im Sprechtheater
sinns, dann der Geisteskrankheit, schließlich der Neurose entwickelt hat“6. Foucaults Fokus und Kritik liegen dabei auf der akademischen Wissensproduktion, d. h. auf Diskursen, die an Orten namens „Universität“ produziert werden, wo unterschiedliche Typen von Wissen und „Wahrheiten“ entstehen und die immer auch schon Teil eines Machtgefüges sind. Dispositiv und Professionalisierung: Schauspielen und Sprechen Max Herrmann, der Gründer des Theaterwissenschaftlichen Instituts in Berlin, schreibt 1920 in seiner Rede „Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Instituts“7: „Schauspielkunst hat mit der Universität nichts zu tun“. Dafür „reicht eine Fachschule aus“.8 Das ist eine Geste der Abgrenzung, der Professionalisierung (eben der Theaterwissenschaft) und aus dem Notstand (urgence) geboren, dass man zur Etablierung einer neuen universitären Disziplin einen klar umrissenen Gegenstand benötigte. Um die Theaterwissenschaft zu dieser Zeit als Kunstwissenschaft zu etablieren, benötigte Herrmann als ihren Gegenstand eine Kunst: die Schauspielkunst. Eine der wirkmächtigsten Verschaltungen im Dispositiv professionellen Schauspielens im deutschsprachigen Raum ist diese institutionelle Entkoppelung von theaterwissenschaftlicher und schauspielerischer Ausbildung.9 Sie findet ihren entwicklungsgeschichtlichen Höhepunkt in Berlin im Jahr 1923, als sowohl das Theaterwissenschaftliche Institut an einer staatlichen Universität als auch die Staatliche Schauspielschule an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik gegründet wurden.10 Durch die theaterwissenschaftliche Definition von Schauspielen als „Kunst-Praxis“ wurde die institutionelle Entkoppelung diskursiv vollzogen, sodass die Professionalisierung der deutschsprachigen Theaterwissenschaft an den Universitäten sowohl als Abgrenzung von als auch als unmittelbar bezogen auf die Institutionalisierung des Schauspielens als berufsmäßige Kunst verstanden werden kann. Im theaterwissenschaftlichen Diskurs verankert werden darüber hinaus das hierarchische Organisationsmodell zeitgenössischer Theaterbetriebe und ein bildungsbürgerlicher Theaterbegriff: So stellt Hermann den Absolventen der höheren Bildungseinrichtung Universität über den Schauspielabsolventen mit „niedrigerer“ Fachschulausbildung. Das Berufsziel der universitären Theaterbildung soll der „Theaterbeamte“, der „Theaterleiter“ sein.11 Er soll „diese Kunst [des Schauspielens] unbedingt bis ins letzte kennen lernen“: „Der Direktor, um ein Engagement zu treffen, der Regisseur, um auf den Proben ‚vormachen‘ zu können.“12 Der Universitätsabsolvent soll also in den asymmetrischen Machtverhältnissen des Theaterbetriebs über dem Absolventen der Schauspielschulen stehen.
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Im Oktober 2016 erklärte Lisa Jopt vom ensemble-netzwerk13 dem Verwaltungsausschuss des Oldenburgischen Staatstheaters, dass die Mindestgage von Schauspielenden an Subventionstheatern in Deutschland (zu der Zeit 1765 Euro brutto im Monat) in der Entgelttabelle des öffentlichen Dienstes bei ungelernten Küchenhilfen liegt. Die Institutionalisierung des Berufsschauspielens als an Fachschulen erlernbare Kunst und die historische Entkoppelung von Schauspielausbildung einerseits und theaterwissenschaftlicher Bildung zukünftiger Theaterleiter und Regisseure andererseits sind historische Verschaltungen die im gegenwärtigen Dispositiv professionellen Schauspielens fortwirken. Während bei Foucault sich die Diskurse verselbstständigen und von allem lösen, was sich nicht in Sprache fassen lässt, auch vom Subjekt, denkt Giorgio Agamben das Subjekt, das menschliche Lebewesen, explizit mit. Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern.14 In Was ist ein Dispositiv? beschreibt Agamben zudem die „theologische Genealogie“ der Foucaultschen Dispositive, ihre Nähe zur „dispositio der Theologen“ (Ordnung, Handlungsplan).15 Die Feststellung dieses Zusammenhangs, dieses theologischen Erbes erlaubt es ihm, zwischen der „Ontologie der Geschöpfe“ und der „oikonomia der Dispositive“ zu differenzieren, wobei letztere darauf ziele, erstere „zu regieren und zum Guten zu führen“16. Dazwischen sieht er als Drittes das Subjekt. Gerade in Bezug auf das Schauspielen und das Sprechen kommt man nicht umhin, das Subjekt und Subjektivierungsprozesse mitzudenken. Für Agamben schließen „die Dispositive immer einen Subjektivierungsprozess ein, da sie ihr Subjekt selbst hervorbringen“17. Das heißt beispielsweise, ein bestimmtes Dispositiv professionellen Schauspielens bringt ein auf bestimmte Weise schauspielendes Subjekt hervor: Das Dispositiv des Filmschauspiels bedingt andere Praktiken des Schauspielens und ein anderes Subjekt als das Dispositiv des Illusionstheaters oder das Dispositiv der Performance-Kunst. Es gibt also auch in Bezug auf das professionelle Schauspielen mehr als nur ein Dispositiv. Es gibt des Weiteren eine Handlungsmacht der Agierenden, sich in ein bestimmtes Dispositiv hineinzubegeben, sich zwischen ihnen zu bewegen, und auch: neue mit hervorzubringen. Agambens Hinweis auf die Verhaftung des Dispositiv-Begriffs in einer theologischen Genealogie birgt einen besonderen Erkenntnisge-
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… Das Dispositiv professionellen Schauspielens im Sprechtheater
winn für eine Analyse der machtpolitischen Dimension des Berufsschauspielens, besonders sein Hinweis auf „Weihe“ und „Glauben“ als wichtige Aspekte in der Ontologisierung von Machthandeln. Die zum Teil mehrstufigen Aufnahmeverfahren für künstlerische Studiengänge ähneln nicht selten Initiationsriten, an deren Ende bei positivem Ausgang die angenommenen Kandidaten sich glücklich in eine exklusive Gemeinschaft aufgenommen fühlen: „Am Ursprung jedes Dispositivs steht [also] ein allzumenschliches Glücksverlangen“18, schreibt Agamben. Das affektive Potenzial dieses Glücksverlangens entfaltet sich alljährlich, wenn es im Rahmen von Aufnahmeprüfungen für künstlerische Studiengänge bestätigt oder enttäuscht wird. Auch in der Ausbildung spielen Aspekte des Glaubens eine Rolle: Wer hat nicht schon einmal auf einer Probebühne sagen hören: „Das glaube ich nicht!“? Hinter diesem Kommentar verbirgt sich ein Allgemeinplatz im westlichen Verständnis professionellen Schauspielens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: dass nämlich Schauspielende sich selbst und ihren Handlungen auf der Bühne glauben müssen, um für die Zuschauenden glaubhaft zu sein,19 oder aber dass sie vorgegebene dramatische Situationen durch ihr Können für die Zuschauenden glaubhaft darstellen. Die Institutionalisierung dieses Dispositivs professionellen Schauspielens als glaubhafte Darstellung vorgegebener Situationen ist nun aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im politisch-ideologischen Ost-West-Konflikt zu historisieren, insbesondere in den frühen 1950er Jahren. Während des sogenannten Kalten Kriegs wurden „glaubhaftes Spiel“ und „Wahrhaftigkeit“ in den staatlichen Schauspielschulen vieler Industrienationen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs als Qualitätsstandards institutionalisiert: Das Spektrum bewegte sich in den 1950er Jahren zwischen den Polen amerikanischer Naturalismus und sozialistischer Realismus – der Glaube und die Wahrhaftigkeit des professionellen Schauspielers war zu dieser Zeit systemisch.20 Mit diesem Wahrhaftigkeits- und Glaubhaftigkeitsideal verschalteten sich in der deutsch-deutschen Konkurrenzsituation der 1950er Jahre auf je unterschiedliche und doch miteinander verwobene Weise: staatlich subventionierte Theater, staatliche Schauspielausbildung, öffentliche Verwaltungsstrukturen, gewerkschaftliche Organisationen und Interessensverbände. Das Ergebnis war eine Professionalisierung von Schauspielen als Beruf: Organe für Eignungs- und Berufsprüfung wurden eingerichtet wie auch für die Stellenvermittlung und die soziale Versorgung staatlich geprüfter Schauspieler und Schauspielerinnen.21 Im Bereich des Sprechens bildeten sich für die Ausbildung professioneller Schauspieler ebenfalls zwei unterschiedliche und doch aufei-
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nander bezogene Ansätze heraus: im Osten das von Herbert Minnich und Klaus Klawitter ab den 1960er Jahren entwickelte Gestische Sprechen, im Westen das von Hans Martin Ritter für die Schauspielpädagogik entwickelte Gestische Prinzip.22 Beide Ansätze waren bestrebt, die bis dahin eher mechanische, rein funktionell orientierte Sprecherziehung (d. h. das Üben und Trainieren von Artikulationsreihen, Geläufigkeitsfolgen, Atemwurf) in die sie umgebende künstlerische Praxis zu integrieren: also in Schauspielen als gekonnte, weil glaubhafte Darstellung einer vorgegebenen dramatischen Situation. Beide Ansätze beziehen sich auf den späten Gestus-Begriff Bertolt Brechts der 1950er Jahre, der sich von dem Gestus-Begriff um 1940 wesentlich unterscheidet. 1940 fordert Brecht vom Schauspieler, „den allen Vorgängen unterliegenden gesellschaftlichen Gestus zu verfremden“23 – also eine radikal kritische Haltung gegenüber jener Summe gesellschaftlich verfügbarer Gesten alltäglichen Handelns und sozialer Beziehungen, die Stanislawski als „natürlich“ erachtete. „Gestus“ setzt hier eine analytische Leistung des Schauspielenden voraus und eine kritische Distanz gegenüber alltäglichen und scheinbar „natürlichen“ Gesten. Brechts GestusBegriff der 1950er Jahre – im Sinne von „Gesamtgestus“ – ist weniger auf gesellschaftliche Widersprüche bezogen (was u. a. mit Brechts prekärer Situation in der frühen DDR zu tun haben könnte) und enger an den schauspielerischen Vorgang gekoppelt: „Ein Mensch, der einen Fisch verkauft, zeigt unter anderem den Verkaufsgestus. Ein Mann, der sein Testament schreibt, eine Frau, die einen Mann anlockt, ein Polizist, der einen Mann prügelt […] in allem steckt sozialer Gestus.“24 Der Gestus kann einen Komplex von Gesten und Äußerungen bedeuten, der Vorgänge auslöst, eine Gesamthaltung aller an einem Vorgang Beteiligten oder aber auch die Grundhaltung eines Menschen in einer konkreten Situation anzeigen (Warten, Zufriedenheit).25 Die in einen Gestus eingebettete sprechsprachliche Äußerung nennen die Vertreter des Gestischen Sprechens in beiden Teilen Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachfolgend gestisch. Jede Sprech- oder Stimmübung wird in den Kontext einer Situation, eines Handlungsziels, des Partnerbezuges und der gedanklichen und emotionalen Einstellung gestellt, d. h., die Praktiken des Sprechens verschalten sich mit dem in der Nachkriegszeit institutionalisierten Dispositiv professionellen Schauspielens als gekonnte, weil glaubhafte Darstellung einer vorgegebenen dramatischen Situation. Die gegenwärtige Wirkmacht dieses Dispositivs zeigt sich in einer aktuellen Definition: „GESTISCHES SPRECHEN ist aus der Situation motiviertes zielgerichtetes Sprechhandeln.“26
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Kritik am Dispositiv Unzufriedenheit mit den hier angesprochenen Verschaltungen im Dispositiv professionellen Schauspielens ist in der jüngsten Geschichte deutschsprachiger Schauspielschulen nichts Neues. Eine der ersten freien Gruppen in Westdeutschland ging aus einer Schauspielschule hervor: das Kollektiv Rote Rübe, 1971 gegründet an der Otto Falckenberg Schule in München. Unter den Schlagworten der Enthierarchisierung und der Emanzipation hinterfragten die studentischen Mitglieder des Kollektivs vehement die institutionalisierten Praxisnormative der 1950er Jahre: – –
– – –
autoritäre Beziehungsmodelle im Produktions- und Ausbildungsprozess; das Verständnis von Rolle als mimisch-gestische Ausdruckspartitur, die vom Schauspieler-Meister auf alle Schüler gleichermaßen zu übertragen war; die Vorstellung vom Schauspieler als Verwirklicher des Dramentextes; die Zweiteilung des theatralen Raums durch die Guckkastenbühne und das Konzept der vierten Wand; die Konzeption der Schauspielschule als „Zulieferer“ für die Subventionstheaterbetriebe.
Das Kollektiv verstand seine künstlerische Praxis und seine Lebenspraxis als einen radikalen Gegenentwurf zu dem auf „glaubhafte“ und „wahrhaftige“ Menschendarstellung ausgerichteten Repräsentationsmodell der Nachkriegszeit wie auch zum politischen Repräsentationsmodell der Bundesrepublik dieser Zeit.27 Für Hans-Peter Cloos von der Roten Rübe stellten die freien Gruppen „keine Ergänzung zu den herrschenden Theatern, sondern eine kämpferische Alternative [dar]“28. Das große Ziel war dabei immer auch, die Gesellschaft in der Bundesrepublik zu verbessern. Diese Konzeption der freien Gruppe als „kämpferische Alternative“ zum Stadttheater war, Anfang der 1970er Jahre, auch in der Situation des geteilten Deutschlands verhaftet. Der Versuch, mit Theater die Missstände und hegemonialen Strukturen der westlichen kapitalistischen Gesellschaft aufzudecken, war befeuert von der Idealisierung einer anderen, sprich sozialistischen Gesellschaftsordnung. Mit ihren Forderungen nach „stärkere[r] Bezuschussung Freier Gruppen“, „Berufsperspektivseminare[n] für Schauspielstudenten mit Vertretern Freier Gruppen“ und „[g]ewerkschaftliche[r] und genossenschaftliche[r] Organisation der Schauspielstudenten und der Freien Gruppen“ 29 befeuerte die Gruppe die Erzeugung eines anderen, als neu und besser
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empfundenen Dispositivs, das sich in seiner Idealisierung vehement von dem als überholt empfundenen Dispositiv des an Schulen ausgebildeten professionellen Schauspielers absetzte: Schauspielen nämlich als wirklichkeitskonstituierende Praxis – auf Englisch auch Performance genannt. In Bezug auf die als schlecht beurteilten Missstände innerhalb des Dispositivs des professionellen, dramatischen, glaubhaften Schauspielens war die daraus resultierende kritische Gegenpraxis allerdings offensichtlich wenig nachhaltig. Das suggerieren zumindest die aktuellen Forderungen des ensemble-netzwerks. Gegenwärtiges Spannungsfeld Das Ziel des ensemble-netzwerks ist es, dass sich an den öffentlich geförderten Theatern gute betriebliche Bedingungen für die Künstler*innen durchsetzen, dass Mitbestimmung und Transparenz Einzug halten, dass Künstler*innen angemessen bezahlt werden und gute betriebliche Bedingungen haben. […] dass sich die einmalige deutschsprachige Theaterlandschaft ausdehnt, weiterentwickelt und sich ihren Platz in der Gesellschaft zurückerobert. […] Freiheit der Kunst bedeutete nicht Knechtschaft der Künstler*innen.30 Die Institutionalisierung der Gegenpraxis der 1970er Jahre in den Performance Studies Departments und anderen eigens eingerichteten Studiengängen mit einem sich von Schauspielschulen abgrenzenden Praxisbegriff führte einerseits zur Verstärkung der Entkoppelung von professioneller Theaterpraxis und wissenschaftlichem Diskurs und andererseits zu neuen Dispositiven. Gegenwärtige schauspielerische Arbeit bewegt sich in einem Spannungsfeld, das zwischen diesen unterschiedlichen Dispositiven schauspielerischer Arbeit entsteht: zwischen Schauspielen als gekonnte Darstellung einer vorgegebenen dramatischen Situation und Schauspielen als wirklichkeitskonstituierende Praxis. Nicht selten wird ein Verhandeln dieses Spannungsfelds auch als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Dispositiv professionellen Berufsschauspielens insbesondere in Verschaltung mit der gegenwärtigen Arbeitssituation an Subventionstheatern verstanden. Innerhalb dieses Spannungsfelds stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer kritischen und zeitgenössischen Schauspiel- und Sprechpraxis: Kann sie sich innerhalb dieser institutionellen Verschaltungen artikulieren und, wenn ja, wie? Im März 2016 hatte am Neuen Theater Halle Frühlings Erwachen Premiere: eine Kollaboration von einem Regisseur und acht Schauspiel-
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studierenden der Hochschule für Musik und Theater Leipzig im sechsten Semester. Ausgehend von Wedekinds Frühlings Erwachen in der Bearbeitung von Nuran David Calis (Live Fast Die Young) erarbeitete das Ensemble eine eigene Fassung. Darin werden die autoritären Normen aus Wedekinds Skandaltragödie von 1891 zu irreführenden Freiheiten des 21. Jahrhunderts. Die Schule bei Wedekind ist eine Schauspielschule, die Schüler sind Schauspielschüler kurz vor dem Absolventenvorspiel und dem Eintritt in eine Berufswelt mit Zwängen und Freiheiten, die sie nicht verstehen, an denen einige von ihnen (wie Moritz Stiefel bei Wedekind) scheitern, während andere ihren Platz finden. Junge Menschen zwischen Glücksverlangen, Enttäuschung, Liebe, Sexualität, Angst, Wut und Rausch. Das Bühnenbild: eine vierte Wand aus Papier; darauf beim Einlass Projektionen von Super-8-Filmen und Fotos aus der Kindheit der acht Schauspieler und Schauspielerinnen. Da ich sie kenne, versuche ich die Kinderbilder den gleich auftretenden Schauspielenden zuzuordnen. Im Programmheft lese ich: Marie Scharf spielt Wendla, Sophia Platz Martha, Barbro Viefhaus die Ilse, Mira Helene Benser spielt Thea, Benito Bause den Moritz, Paul Oldenburg den Melchior, Paul Simon Hans und Paul Maximilian Pira den Ernst. Und damit ist das Konzept der Produktion bereits in vollem Gange, nämlich die genaue Unterscheidung zwischen Schauspieler und Bühnenfigur, zwischen dramatischem Text und „Eigenem“ zu unterbinden. Sie spielen ein Stück mit konventioneller Figurenverteilung, aber sie sind auch sie selbst, das wird nicht nur durch die Projektionen privater Bilder am Anfang klar, sondern auch durch die bald folgenden Sprechchöre, durch selbst entwickelte, zum Teil sehr persönliche Texte, und sie thematisieren auch den Subjektivierungsdruck des Dispositivs professionellen Schauspielens. Und so überlagern sich Texte von Wedekind, Calis, dem Regisseur Nick Hartnagel und den Studierenden in einem Gewebe aus Projektionen, Fiktionen, Erwartungshaltungen, Glücksverlangen, scheinbar authentischen Erlebnisberichten der Studierenden, chorischen Passagen über diese Generation der heute Zwanzigjährigen und ihren Eltern, Momente körper-stimmlicher Verschwendung, kritische Stellungnahmen zur Schauspielausbildung und dem Theaterbetrieb spannungsreich. Die Papierwand der Anfangsprojektion wird eingerissen, doch dahinter erscheint eine weitere, dahinter noch eine und noch eine. Durch eine Mischung des dramatischen Textes von Wedekind/Calis mit persönlichen Texten und mit Fremdtexten und durch entsprechend unterschiedliche Praktiken des Spielens und Sprechens wird die Grenze zwischen Schauspieler und Bühnenfigur verwischt. Spielen die Studierenden eine
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dramatische Vorlage oder spielen sie persönliche Erlebnisse oder konstituieren sie durch ihr Spiel eine neue Wirklichkeit? Mira Benser, eine mitwirkende Schauspielstudentin, beschreibt in ihrer Masterarbeit anschaulich den Wechsel zwischen dramatischem Spiel und dem Spiel mit der Kamera auch in Bezug auf das Sprechen: Auf der Bühne spielt der Schauspieler in der Regel Richtung Publikum oder in einer Sichtachse zum Spielpartner. In dem Kameraarrangement rotieren alle Beteiligten um einander und um die Kamera herum. Ich muss also während des Spielens ständig darauf achten, dass ich nicht im Weg stehe oder mit einem anderen Spieler kollidiere. […] Zu Anfang der Proben ist auch unsere Aussprache zu deutlich und wirkt fast überartikuliert. Die Dialoge sollen nicht inszeniert wirken, sondern so, als hätte man uns Schauspieler heimlich in einer privaten Situation gefilmt. Wir benötigen einige Proben um unseren „Theaterton“ loszuwerden. […] Wir agieren miteinander wie in einem alltäglichen Gespräch. Da unsere Stimmen durch die Aufnahme mit der Tonangel über Lautsprecher zu hören sind, können wir uns in normaler Lautstärke unterhalten. […] Ich verlasse den Platz vor der Kamera, reiße eine Papierbahn ein und steige durch das entstandene Loch in der Wand, um nach vorne an die Bühnenrampe zu gehen. Die Szene wechselt also abrupt nach vorne an die Rampe und vom Spiel mit der Kamera zurück zum klassischen Theaterschauspiel. Jetzt muss ich als Schauspielerin sofort umschalten. Ich wechsle augenblicklich von der normalen Sprechstimme zurück in meine tragende Bühnenstimme. Meine Artikulation verschärft sich und ich sende bewusst meinen Monolog in den Zuschauerraum, um bis in die letzten Reihen verständlich zu sein. Auch meine Gesten werden wieder größer.31 Die sich am Dispositiv des professionellen Bühnenschauspielers Subjektivierenden konnten und können sich bei dieser Arbeit dem Dispositiv nicht entziehen. Das Neue Theater Halle und das Schauspielstudium ermöglichten immerhin, dass und wie das Bühnengeschehen hier in Erscheinung tritt. Doch gleichzeitig gelingt es ihnen, das sie hervorbringende Dispositiv vielschichtig in seinen Subjektivierungsmechanismen zu thematisieren, zu historisieren, in andere Dispositive (wie etwa das des Film-Castings) einzuordnen, und performativ zu verhandeln. Durch die Artikulation der Brüche des Dispositivs professionellen Schauspielens durch Schauspielstudierende trat in der Rezeption dieser Produktion dann auch etwas Unregierbares in Erscheinung. Es äußerte sich
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darin, dass während des Treffens deutschsprachiger Schauspielstudierender in Bern im Juni 2016 Kollegen anderer Schulen auf Kollegen und Studierende des Leipziger Instituts zukamen und fragten, ob sich denn am Leipziger Institut ein Student umgebracht hätte. Staunen und Ratlosigkeit machten sich im Ensemble breit: „Leute, es ist T h e a t e r , hallo …?“ – „Also, in der dramatischen Vorlage von Wedekind, da nimmt sich doch der Moritz Stiefel das Leben …, also fiktiv!“ Aber in der Wahrnehmung vieler Besucher funktionierte dieses Dispositiv des wahrhaftig gespielten dramatischen Theaters für das Hallenser Frühlings Erwachen eben nicht mehr. Das damit verschaltete Glaubhaftigkeitsideal wurde vielmehr reflexiv auf sich selbst gewendet, sodass viele Zuschauende glaubten, statt einer fiktiven Geschichte mit Rollen im traditionellen Repräsentationstheatermodell eine authentische Verhandlung biografischer Erlebnisse der Akteure zu sehen. Das Wahrnehmungsdispositiv vom professionellen Schauspieler als glaubhaften Rollendarsteller wurde für sie brüchig, sodass es als Rahmung des theatralen Ereignisses nicht mehr funktionierte. Das Unregierbare des Dispositivs trat als skandalöses Moment oder in der Form persönlicher Betroffenheit in Erscheinung. Kritische Schauspieler und Schauspielerinnen glauben nicht, dass sie die Wahrheiten anderer glauben müssen, um glaubhaft zu sein, sie erkennen das Zurichtende, sprich für einen bestimmten Zweck auf den Menschen Zugreifende, in dieser Setzung. Sie streben die Bildung von Widerständigem, Widersprüchlichem und Eigenem an. Sie erkennen, dass sprechkünstlerische Gestaltungsformen des Sprechens im zeitgenössischen Theater (wie Vielstimmigkeit, simultanes und chorisches Sprechen, „entkörperlichtes“ Sprechen oder Aufteilung von Figurenrede auf mehrere Spieler) keine Frage der Ästhetik oder einer zu erlernenden Sprechtechnik sind, sondern eine Frage der kulturellen Teilhabe. Die zeitgenössischen Gestaltungsformen sind zwar Symptome eines sich wandelnden Praxisbegriffs. Solange Teilhabe, Vielstimmigkeit und Dezentralität aber nicht auch den Probenprozess als gesellschaftliche Prinzipien durchwirken und die Prämissen und Schaltstellen des Dispositivs offen artikulieren, bleiben sie ästhetische Effekte oder zu erbringende schauspielerische oder schauspielstudentische Leistungen im Dispositiv des professionellen Schauspielens. 1
Im Folgenden wird das generische Maskulinum auch für die weibliche Form von Nomen verwendet.
2
Abbott, Andrew: The System of Professions: An Essay on the Division of Expert Labor, Chicago 2014 (1988).
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3
Vgl. Lackner, Peter: Schauspielerausbildung an den öffentlichen Theaterschulen der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1985, S. 17 ff.
4
Abbott: System of Professions, S. 16–18. Der Liste Abbots hinzuzufügen wäre für den deutschen Kontext noch die Absicherung im Sozialsystem, die auf überregionale Initiativen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen ist. Vgl. Rübel, Joachim: Geschichte der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehörigen, Hamburg 1992, S. 42–46.
5
Foucault, Michel: „Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Département de Psychanalyse der Universität Paris VIII in Vincennes“, in: ders.: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 119 f.
6
Ebd., S. 120.
7
Herrmann, Max: „Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Instituts“ [1920], in: Klier, Helmar (Hrsg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Texte zum Selbstverständnis, Darmstadt 1981, S. 5–24.
8
Ebd., S. 20.
9
Zur „Entkoppelung von Theatergeschichte und Theaterpraxis“ sowie zum „Spannungsverhältnis zwischen Theaterpraxis und Theaterdiskurs“ vgl. Hulfeld, Stefan: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht, Zürich 2007, S. 280 f. und S. 337–342.
10
Sie stand unter der Leitung von Leopold Jessner und nahm am 1. Oktober 1925 mit Lehrkräften wie Lucie Höflich, Tilla Durieux, Erich Engel, Julius Bab und Emil Pirchau den Unterrichtsbetrieb auf. Fischer-Defoy, Christine: „Kunst, im Aufbau ein Stein.“ Die Westberliner Kunst- und Musikhochschulen im Spannungsfeld der Nachkriegszeit, Berlin 2001, S. 329.
11
Herrmann, „Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Instituts“, S. 18.
12
Ebd., S. 20.
13
„Das ensemble-netzwerk ist eine Bewegung, aber auch ein eingetragener, gemeinnütziger Verein. Es vernetzt die Theaterschaffenden miteinander und setzt sich für die Arbeitsbedingungen am Stadttheater und dessen künstlerische Zukunft ein.“ www.ensemble-netzwerk.de/about/ueber-uns.html (Zugriff 17. Oktober 2018).
14
Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv?, Zürich/Berlin 2008, S. 26.
15
Ebd., S. 24.
16
Ebd., S. 26.
17
Ebd., S. 23 f.
18
Ebd., S. 31.
19
„[An actor] must believe to make his audience believe.“ McGaw, Charles et. al.: Acting is Believing, Boston 2011 (1955), S. xi.
20
Vgl. McConachie, Bruce A.: American Theater in the Culture of the Cold War: Producing and Contesting Containment, 1947–1962, Iowa City 2003; ders.: „Method Acting and the Cold War“, in: Theatre Survey 41 (2000), H. 1, S. 47–68; Steiger, Amy Lynn: „Actors as Embodied Public Intellectuals: Reanimating Consciousness, Community and Activism Through Oral History Interviewing and Solo Performance in an Intertextual Method of Actor Training“, Austin (Diss.) 2006, S. 113–131; Klöck, Anja: „Acting on the Cold War: Imperialist Strategies, Stanislavsky, and Brecht in German Actor Training after 1945“, in: Balme, Christopher/Szymansky-Düll, Berenika (Hrsg.): Theatre, Globalization and the Cold War, New York 2017, S. 239–257; dies.: „Theater und ‚Kalter Krieg‘ im doppelten Deutschland: Plädoyer für theaterwissenschaftliche Forschung“, in: Leonhardt, Nic (Hrsg.): Theater-Wissen quer denken. Facetten szenischer Künste aus drei Jahrzehnten, Berlin 2017, S. 231–245.
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Vgl. Klöck, Anja: Heiße West- und kalte Ostschauspieler? Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 (= Recherchen 62), Berlin 2008, S. 66–122.
22
Ritter, Hans Martin: Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht, Köln 1986.
23
Brecht, Bertolt: „Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst die einen Verfremdungseffekt hervorbringt“ (1940), in: ders.: Schriften zum Theater, Bd. 3, Frankfurt/M. 1962, S. 95.
24
Hecht, Werner: „Gestus“, in: ders. (Hrsg.): Brechts Theorie des Theaters, Frankfurt/M. 1986, S. 347.
25
Es handelt sich um einen „ganzen Komplex einzelner Gesten der verschiedensten Art, zusammen mit Äußerungen, welcher einem [absonderbaren] Vorgang unter Menschen zugrunde liegt und die Gesamthaltung aller an diesem Vorgang Beteiligten betrifft […]“ – Brecht, „Über den Gestus“ (Typoskript um 1951), in: ders.: Schriften. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 3, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Berlin u. Frankfurt/M. 1992, S. 189.
26
Schmidt, Viola: „Gestisches Sprechen“, in: Stegemann, Bernd (Hrsg.): Lektionen 4. Schauspielen Ausbildung, Berlin 2010, S. 161.
27
Henrichs, Benjamin: „Freie Gruppen – zum Beispiel ‚Rote Rübe‘“, in: Jahresheft Theater heute (1973), S. 128. Ich beziehe mich hier auch auf ein Gespräch mit Hans-Peter Cloos am 18. Oktober 2010 in Paris.
28
„Wie wird fürs Theater ausgebildet, wie sollte ausgebildet werden? Dokumentation über den ‚Theaterpädagogischen Kongress‘ in Berlin“, in: Theater heute 7 (1973), S. 11.
29
Ebd.
30
Vgl. www.ensemble-netzwerk.de (Zugriff 5. Oktober 2018).
31
Benser, Mira: „Die Arbeit des Theaterschauspielers im Spannungsfeld zwischen Bühne und Videokamera – Beobachtungen anhand ausgewählter Beispiele und der eigenen Arbeit im Rahmen des Schauspielstudiums“, Masterarbeit, Hochschule für Musik und Theater Leipzig 2017. Unveröffentlichtes Manuskript.
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SPRECHMETHODEN UND SCHAUSPIELSTILE Ein Versuch in mehreren Anläufen -
Einleitung Es gibt verschiedenste Auffassungen davon, was Theater ist, und es gibt eine Bandbreite an Vorstellungen, was die Kunst und das Handwerk des (Schau-)Spielens sind. Wenn es dabei auch um Sprache und um Stimme auf der Bühne geht, dann liegen hierzu ebenso vielfältige Zugänge vor, die sich für eine Ausbildung des Sprechens und des stimmlichen Ausdrucks auf der Bühne anbieten. Wie kann man sich da orientieren? Orientierung brauchen in diesem Feld vor allem Pädagoginnen und Pädagogen, die angehende Schauspielerinnen und Schauspieler in dem Handwerk ausbilden sollen. Wodurch ist das Handwerk bestimmt? Wie kann man es vermitteln? Aus Sicht der Sprecherziehung wäre es wünschenswert, wenn man zu verschiedenen Theaterästhetiken und den damit verbundenen Schauspielstilen den passenden sprechbildnerischen Ansatz finden könnte, damit das in verschiedenen Fächern Vermittelte gut ineinander greift. Sollte es nicht möglich sein, zu der anthropologischen Vorstellung, die hinter einer Theaterauffassung – was ist der Mensch und warum und wozu macht er diese Veranstaltung „Theater“? – mit dem dazugehörigen Schauspielstil – was ist der Mensch und was und wie soll/kann er auf der Bühne „verkörpern“? – steht, die passende anthropologische Auffassung in der Pädagogik – was ist der Mensch und wie kann man ihn und seinen Körper und Geist bzw. KörperGeist ausbilden? – zu finden? Doch – um dies gleich vorwegzunehmen – das ist nicht zu leisten. Stattdessen sondiert der Beitrag, in welchem Verhältnis Schauspielstile und Sprechmethoden zueinander stehen, und gibt uns einen Ausblick, wie man sich den Vorstellungen vom Körper und der Kommunikation in einer bestimmten künstlerischen Praxis theoretisch annähern kann. Zuweilen trifft man als Sprecherzieherin auf die Auffassung, dass das Sprechen auf der Bühne doch einfach ein Handwerk sei, das es zu erlernen gilt. Jedoch gibt es – den Praktikerinnen und Praktikern ist das klar – eben nicht das eine Handwerk. Vielmehr gibt es Traditionen, die sich in der künstlerischen Ausbildung finden und die in unterschiedlicher Weise an eine bestimmte Theaterpraxis bzw. einen Schauspielstil gebun-
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den sind. Und oft sind die sprechbildnerischen Ansätze auch an ein anderes Wirkungsfeld der Körperpraxis gebunden, nämlich eine therapeutische Schule. Sprechbildnerische Praxis findet im künstlerischen und medizinischen Feld statt. Ein anderes Vorurteil, dem man begegnet, betrifft die Normierung, die im Sprechunterricht an Schauspielschulen gesehen wird.1 Die Praxis der Sprecherziehung sei doch eine rigide und unreflektierte Einschränkung im kreativen (Schau-)Spielergeschäft.2 Auf die Bedenken bzw. das Vorurteil, das Fach Sprecherziehung sei normierend und einschränkend, kann man nur entgegnen, dass selbstverständlich jede Pädagogik von einer Vorstellung ausgeht, was es zu vermitteln gilt und wie diese Vermittlung zu bewerkstelligen ist. Gerade diese Normen explizit zu machen und ihnen auf den Grund zu gehen, erscheint mir interessant. Das Verhältnis von normativ orientierter (Bildungs-) Praxis und Kreativität wäre ebenso zu erkunden3. Gut tut natürlich die jeweilige Pädagogik daran, ihr Werte- und Praxissystem in sich kohärent zu gestalten, sich jedoch dabei der eigenen Norm und grundsätzlichen Variabilität bewusst zu sein. Das gilt im Bereich des Theaters mindestens für beide: für die Schauspiel- sowie die Sprech- bzw. Stimmbildungsmethoden. Es ist zu überlegen, ob sich nicht auch das Ästhetikverständnis immer an einer Norm orientiert, da man sich an „etwas“ orientiert, das das Theater zu einem „guten“ Theater macht. Interessant ist hier das Wechselspiel in dieser Orientierung verbunden mit der Aufgabe der Kunst – zumindest im heutigen Kunstverständnis –, sich immer wieder neu und anders zu entdecken. Man mag darin je eine Orientierung am „Handwerk“ sehen – und damit den unliebsamen Begriff der Norm umgehen – oder man sieht darin, allgemeiner formuliert, eine Orientierung an dem, worum es eigentlich geht bei dieser eigentümlichen Veranstaltung „Theater“. Aber kann man diese Orientierungslinien für diese Bereiche (Theaterästhetik, Schauspielstil bzw. -methode und Sprechmethode) formulieren und dann auch noch übereinanderlegen, um das je zueinander Passende zu finden? Das wird meiner Einschätzung nach nicht möglich sein, aber wir können und sollten besser verstehen, was genau in der Sprechbildung vermittelt wird. Anlass für diese Überlegungen ist mein aktuelles Forschungsprojekt, in dem es um Körperkonzepte in der Sprechausbildung von Schauspielern geht. Die oben gestellten Fragen zum Verhältnis zu Schauspielstilen sind weitgreifender und allgemeiner, als dass sie innerhalb des Forschungsprojekts Antwort finden könnten. Dennoch möchte ich in diesem Beitrag die Richtung aufzeigen, in die Überlegungen angestellt werden könnten. Der folgende Absatz umreißt Einschätzungen, die dem aktuellen Stand des Projekts entsprechen.
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Das Fach Sprecherziehung hat an den deutschsprachigen Schauspielschulen einen festen Platz im Curriculum. In der individuellen Umsetzung des Unterrichts stehen neben der eigenen Erfahrung und Kompetenz der Pädagogen auch ein Lehransatz bzw. eine Schule, aus der sich a) die Art und Weise des Unterrichtens, b) die Grundannahmen und c) das Ausbildungsziel generieren. Auch wenn es meist der individuelle Zugang ist, der von den Unterrichtenden hervorgehoben wird, sind bestimmte Qualifikationen zur Unterrichtsbefähigung gefordert, sodass immer auch bestimmte Lehransätze oder Schulen mit ihren Annahmen gelernt wurden, die nun – individuell adaptiert – weitergegeben werden.4 Wie unterschiedlich die Auffassung von Stimme und dem Ausbildungsweg für die Bühne sein kann, hat Tara McAllister-Viel kulturvergleichend für ‚westliches Stimmtraining‘ gegenüber der Ausbildungspraxis zum koreanischen P’ansori, einer Art Erzähloper, herausgearbeitet.5 Auch bei den aktuell im deutschsprachigen Raum vertretenen Ansätzen, wie z. B. dem gestischen Sprechen6, der Stimmbildung nach Kristin Linklater7, der atemrhythmisch angepassten Phonation8, dem Ansatz nach Schlaffhorst-Andersen9, der Lichtenberger Stimmphysiologie10 u. a., gibt es unterschiedliche Bezugssysteme. So kann z. B. das anatomische Wissen eine mehr oder weniger große Rolle spielen. Die einzelnen unterrichtenden Personen nennen nicht immer explizit einen pädagogischen Ansatz, dem sie sich zuordnen – verständlicherweise, denn die individuelle Erfahrung und die biografisch erworbenen Kompetenzen speisen sich meist aus mehreren Quellen; manches scheint auch schlicht selbstverständlich und wird gar nicht als ein Ansatz oder Bezugssystem unter mehreren erkannt. Nun bleibt aber auch innerhalb der unterschiedlichen pädagogischen und gegebenenfalls in Lehrbüchern verfassten Sprechbildungsansätze oftmals implizit, was denn eigentlich das ästhetische Stimm- und Sprechideal für die Bühne ist. Wenn es nun in diesem Beitrag darum geht, ästhetische Praxis und pädagogische Norm miteinander in Verbindung zu bringen und auf mögliches produktives Ineinandergreifen hin zu prüfen, dann gilt es, auch die Bezugssysteme der jeweiligen Praxis zu verlassen und ihnen mit einem befremdeten Blick zu begegnen, d. h.: die Praxis mit theoretischer Distanz zu betrachten und anders zu beschreiben. Wie können wir die pädagogische Vermittlung künstlerischer Sprechbildung anders denken? Wie können wir besser verstehen, was wir da eigentlich tun? In zwei Teilen sowie in einem begleitenden Theorie-Storyboard sollen diese Überlegungen zum Verhältnis von Schauspielstilen und Sprechme-
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Sprechmethoden und Schauspielstile
thoden sowie zur Praxis der Sprechbildung ihre Form finden, im dritten Teil werde ich die Überlegungen zusammenführen. Teil 1, Verbindungslinien von Sprechmethoden und Schauspielstilen, fragt: In welchem Verhältnis stehen Sprechmethoden und Schauspielstile? Wie könnte man herleiten, was zueinander passt? Was fehlt noch zu einer Orientierung? Welche theoretischen Perspektiven gibt es auf Schauspielstile und künstlerische Sprechpädagogiken? Teil 2, Beobachtungen, fragt: Welche durch Videografie beschreibbaren Details des Sprechbildungsunterrichts könnten bei der weiteren Verfolgung der Fragen interessant sein? Wenn – wie in Teil 1 entwickelt wird – für die Sondierung der Passungen von Sprechmethoden, Schauspielstilen und Theaterästhetiken übergreifende Prinzipien erst sichtbar gemacht werden müssten, nämlich Kommunikations- und Körperkonzepte, die in den Praktiken jeweils am Werk sind, eignet sich dann eine Mikroanalyse von Interaktion um die dahinter stehenden Auffassungen vom Körper und seinem Kommunikationsvermögen explizit zu machen? Weit vor der Beantwortung des praxisgeleiteten Anliegens, Orientierung in die Frage der Eignung von verschiedenen sprechbildnerischen Ansätzen für verschiedene künstlerische Spielarten zu bringen, steht also zunächst eine methodologische Frage, wie man überhaupt Körper- und Kommunikationskonzepte in einer künstlerischen Praxis beobachten und explizit machen kann. Demonstriert wird die Analyse, Interpretation und Diskussion von wenigen Minuten eines Einzelunterrichts in der Sprecherziehung an einer staatlichen Schauspielschule. Im Theorie-Storyboard wird versucht, den theoretischen Gedankengang in Skizzen festzuhalten. Notwendig scheint mir, mit den Darstellungsweisen von theoretischen Gedanken zu spielen, da oftmals eine Kommunikationslücke zwischen (Körper-)Praxis und Wissenschaft besteht. Auf der einen Seite ist der wissenschaftliche Stil, in dem Gedanken vorgetragen werden, sehr stark konventionalisiert.11 Auf der anderen Seite wird von Praktikern oftmals die Reflexion des eigenen Tuns als nicht formulierbar oder die Theorie als irrelevant zurückgewiesen. Vielleicht könnte eine solche Artikulation von theoretischen Gedanken in Skizzen beide Seiten einladen, miteinander ins Gespräch zu kommen? Teil 3, zusammenführende Überlegungen, versucht die sprachlich formulierten und gezeichneten Skizzen des fiktiven Gesprächs, der wissenschaftlichen Analyse und des Theorie-Storyboards zu rekapitulieren und einen Ausblick zu geben.
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Teil 1: Verbindungslinien von Sprechmethoden und Schauspielstilen In diesem Abschnitt will ich zusammentragen, wie man den Zusammenhang zwischen Schauspielstilen und Sprechmethoden herstellen – und dabei scheitern – kann. Für die Form wähle ich ein fiktives Gespräch. Dies erlaubt mir skizzenhaft die Überlegungen auszuführen, die sich eigentlich erst an mein Forschungsprojekt anschließen dürften, mich aber schon seit Beginn meines Studiums der Sprechwissenschaft beschäftigten: Selbst geprägt durch eine Pädagogik und Ästhetik des experimentellen Körpertheaters, war mir der pädagogische und ästhetische Zugang für Stimme und Sprechen auf der Bühne, für die am Seminar für Sprechwissenschaft in Halle (Saale) ausgebildet wurde, zunächst fremd. Das Grundverständnis dessen, was auf der Bühne getan wird und worauf es ankommt, sowie das ästhetische Ziel dieser beiden Traditionen (experimentelles Körpertheater, Sprechbildung in Halle) schienen wenig miteinander zu tun zu haben – oder doch mehr, als auf den ersten Blick wahrnehmbar? Anlässlich des Forschungsworkshops 2017 in Bern bot sich die Gelegenheit, dies systematisch zu betrachten. Welche Verbindungslinien lassen sich zwischen Sprechmethoden und Schauspielstilen ausfindig machen? Mit dem Begriff Schauspielstile meine ich die unterschiedlichen Weisen körperlich-geistiger Arbeit, die ein Schauspieler ausführt und die als ästhetische Gestaltungsweise etabliert sind.12 Für die Überlegungen hier unterscheide ich nicht scharf zwischen den Begriffen Theaterästhetik, Schauspiellehre13 bzw. -pädagogik und Schauspielstilen – was aber für die weitere Beschäftigung durchaus sinnvoll wäre. Vorwiegend benutze ich hier aber den Begriff Schauspielstile, um die pädagogisch und ästhetisch geprägte Körperlichkeit zu benennen. Unter Sprechmethoden will ich hier die verschiedenen pädagogischen Zugänge verstehen, mit denen – soweit mir bekannt – Sprechen an (staatlichen) deutschsprachigen Schauspielschulen gelehrt wird. Die Rede von Methode und Stil setzt voraus, dass es sich nicht um Einzelereignisse handelt, sondern um Praktiken mit pädagogischer und ästhetischer (meist impliziter) Norm. Wie kann man den Zusammenhang zwischen Sprechmethoden und Schauspielstilen denken? Bauen sie aufeinander auf? Lassen sie sich voneinander ableiten? Welche allgemeineren Vorstellungen stehen vielleicht unterscheidbar im Hintergrund? In den sieben Anläufen suche ich nach einer sinnvollen Erklärung des Zusammenhangs und nach Ideen, wie die Verbindung produktiv weiter gedacht und praktiziert werden kann. Im Disput zu diesen Deutungsversuchen (A) und den Gegenüberlegungen (B) komme ich noch nicht zu einem überzeugenden Ergebnis. Die Geste des Scheiterns ist hierzulande in der Theaterpraxis angekom-
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men und theoretisch reflektiert – vielleicht ist sie auch für die Theorie produktiv? Welche Denkbewegung wird ermöglicht, wenn man als Theoretikerin nicht behaupten muss, der Wahrheit ein Stück näher gekommen zu sein, sondern transparent macht, wo man nicht weiterkommt und mit der Leserschaft ratlos stehen bleibt, weil die Erkenntnis nicht erreichbar ist. Nun wird aber wiederum dieser Versuch, mit der Form des schriftlichen Nachdenkens zu spielen, in sich scheitern. Die Konvention des Schriftbetriebs zügelt nämlich das freie Nachdenken und wird schließlich in der Rhetorik einer wissenschaftlichen Argumentation münden: Letztlich werde ich über das Scheitern dazu kommen, mein Forschungsprojekt als sinnvoll und nützlich darzustellen. Parallel zu dieser Darstellung sind aber auch die Zeichnungen zu lesen, die die Geschichte etwas anders konturieren. In meinem Fazit dieser sieben Anläufe zu der Frage „Wie hängen Sprechmethoden und Schauspielstile/Theaterästhetiken zusammen?“ werde ich dafür argumentieren, dass eine Mikroanalyse, sozusagen eine empirische, intersubjektive Phänomenologie der körperlich-geistigen Tätigkeiten des Schauspielens, einige Einsichten liefern könnte. Anlauf Nr. 1: Die Gründungspersonen sagen es doch! A: Die Sprechbildungsmethoden oder -schulen sind ja meist an eine Gründungsperson oder ein Gründungsteam gebunden. Und meistens haben sie dazu ein Lehrbuch verfasst oder sich anders schriftlich geäußert. Wer wissen möchte, welcher sprechbildnerische Zugang für welchen Theater- oder Schauspielstil geeignet ist, der sollte einfach mal nachlesen, wie sich die Praktikerinnen und Praktiker selbst zuordnen. Ganz einfach. Zum Beispiel schreibt für die Methodik des gestischen Sprechens 1998 Herbert Minnich: „Die unsere künstlerische Ausbildung bestimmende theaterästhetische Auffassung ist die eines gestischen Realismus.“14 Naja – so klar formuliert ist es leider nur im Vortrag gewesen. In der gekürzten und redaktionell bearbeiteten Fassung heißt es zur Fachmethodik lediglich: „[S]ie ist theaterästhetisch geprägt von einem Ausbildungskonzept, in dessen Zentrum der gestisch handelnde Schauspieler steht.“15 B: Ja aber muss es dabei bleiben? Kann die Sprechmethode nicht auch für andere theaterästhetische Zugänge produktiv sein? Und was ist, wenn die Gründer nicht formulieren, für welchen Theaterstil sie eigentlich ausbilden? A: Dann müssten wir es aus dem Praxiskontext ablesen und es uns erschließen. Das war bis vor kurzem z. B. auch bei Kristin Linklater der Fall. Man musste sich erschließen, dass es ihr um einen Theaterstil ging, in dem Rollen und Charaktere naturalistisch zu verkörpern sind. Inzwi-
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schen hat sie es aber sowieso klar formuliert, welchen Schauspiellehren sie ihre Methodik zuordnet. Nebenbei: Auch die Urheberschaft des Ansatzes der „Freien Stimme“ bzw. „Stimmbildung nach Kristin Linklater“ wird nun immer klarer ihrer Lehrerin Iris Warren zugeordnet, die ihn in den 1930er bis 1940er Jahren in London entwickelte und die Praxis ausdrücklich nicht niederschrieb. Theaterästhetisch ist ihre Leitlinie also die „Wahrhaftigkeit“ und für die schauspielmethodische Zuordnung nennt Linklater konkret Namen: This approach to voice and speech is organically linked to the actor training processes that have developed over the past hundred years in the search for performative veracity in the theatre. The Linklater vocabulary of training is umbilically and imaginatively connected to the vocabulary of Stanislavsky, Michael Chekhov, Sanford Meisner, Uta Hagen, and Stephen Wangh, among others.16 Und dann gibt es natürlich die, die behaupten, dass dieser Ansatz offen für alle ästhetischen Richtungen ist. Zum Beispiel der Ansatz der Lichtenberger Stimmphysiologie, dort ist etwa ein Thema des Fortbildungsprogramms: „Darstellende Künste – die Unabhängigkeit einer künstlerischen Gestaltung von kulturellen und emotionalen Programmen“17. B: Jaja, natürlich wird es immer sehr interessant sein, sich auf die verschiedenen Körperschulungen einzulassen. Die Frage ist aber, ob es zielführend ist, genau nach diesem Ansatz zu lehren. Greifen ästhetische Arbeit und körperlich-mentale Ausbildung der Sprechmethode gut ineinander? Die Ästhetik entwickelt sich weiter und wir brauchen Antworten für die aktuelle Praxis. Diese neuen Spielarten konnten die Gründungspersonen noch nicht kennen und weitere Theaterästhetiken, die es zu der Entstehungszeit der Texte gab, waren ihnen schlicht nicht vertraut genug, um zu beurteilen, ob diese Sprechbildungsmethode eine bestimmte kreative Arbeit gut unterstützen kann. Das eigentliche Problem ist: Es muss erst explizit werden, worin die kreative Arbeit und die Sprechpädagogik gewinnbringend ineinandergreifen und miteinander verzahnt sein sollten. Erst dann kann man Zuordnungen finden. A: Na, so außerordentlich einmalig und neu sind die jetzigen Spielarten nicht. Was eine theatrale Situation ausmacht und in welche verschiedenen Richtungen es da für die Aufgabe der Schauspielerin gehen kann, zeigt ja die Historie. Das Grundschema bleibt konstant. Insofern sind „zeitgenössische Spielformen“ nicht unbedingt „neue Spielformen“. B: Das Grundschema ist aber eben vielfältig in der konkreten Ausgestaltung und vor allem auch in der Begründung und praktischen Herstel-
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lung. Verschiedene Schwerpunkte können gesetzt werden und die Handlungen vor und für die Zuschauer sind unterschiedlich motiviert und gerahmt. Damit sind nicht Handlungen einer fiktiven Person in einem geschriebenen Schauspiel gemeint, sondern ich meine das viel grundsätzlicher. Ist diese Vorführungssituation damit begründet, dass z. B. der Schauspieler sich eher als Vermittler zu einer anderen Welt versteht – sozusagen in schamanischer Tradition professionell aktiv ist –, oder sieht er sich z. B. in aufklärerischer Tradition und will das Publikum zum Nachdenken anregen. Anlauf Nr. 2: Die Entstehungsgeschichte sagt es. A: Wenn die Selbstaussagen nicht glaubwürdig genug erscheinen, weil die Praktikerinnen und Praktiker der Gründergeneration die mögliche Zuträglichkeit für die Bandbreite verschiedenster Theaterstile unterstellterweise nicht überblicken konnten – du beziehst dich ja auf die synchrone und diachrone Dimension und vermutest, die Gründungspersonen kannten die kulturelle Breite nicht und konnten nicht sehen, was sich zukünftig an Spielformen entwickeln würde –, dann hilft der distanzierte historische Blick und eine Institutionenanalyse. Unter welchen Vorzeichen und im Austausch mit welchen ästhetischen Ansätzen ist die jeweilige Lehre/Sprechmethode formuliert worden? Das sollte uns genügend Rückschlüsse erlauben, um die zueinander passenden Anthropologien für die Schauspielerarbeit zu finden. Stellen wir uns einen Zeitstrahl vor und dann die verschiedenen Ebenen: a) Theaterästhetik, b) Probenpraxis, c) Schauspiellehre, d) künstlerische Sprechmethode, d) therapeutische bzw. sonstige Sprechmethode. Man kann sehen, wann was zueinander in einem Wechselverhältnis stand. Schau, dass du die Zeichnungen (16) bis (20) im Theorie-Storyboard findest. Das Vocal Training des Odin Teatrets ist z. B. hier entstanden. Die Auffassung vom Schauspieler als dem Kern der Theaterkunst bedeutete, dass alle drei Ebenen Ästhetik, Schauspieltraining und Stimmbildungsmethode in einem Wurf entstanden sind. Es bestand aber kein Wechselverhältnis zu einer therapeutischen Praxis. Beim Gestischen Sprechen haben wir eine Theaterpraxis, eine Schauspielausbildung und den Auftrag, die Sprecherziehung passend dazu zu gestalten. Das Lichtenberger Konzept entwickelt sich unabhängig – eigentlich aus der Gesangspädagogik, hat aber große Wirkung im therapeutischen Feld. Beim LinklaterTraining gibt es die Ästhetik im Hintergrund. B: Damit finden wir heraus, was wir ohnehin schon wussten oder ahnten. An diesen Beispielen gesprochen: Das gestische Sprechen wurde entwickelt, um gezielt einen Schauspielstil zu unterstützen. Und das
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Extended Voice Movement, zu der ich jetzt mal das Vocal Training des Odin Teatrets zählen würde, ist nicht richtig in den Schauspielschulen angekommen, da das Ausbildungsziel auf einen anderen Theaterstil vorbereitet. Vielleicht ist es ein interessanter Gedanke für „travelling concepts“, also Konzepte aus dem einen Bereich, die sozusagen als Metapher in andere Bereiche übernommen werden. In der Grafik würde man das dann vielleicht als einen Sprung erkennen – und dann als Fortführung zweier paralleler Bahnen. Anlauf Nr. 3: Es ist ein lineares Kausalverhältnis. Erst Schauspiellehre, dann Sprechmethode. Oder umgekehrt. A: Systematisch gesehen, ist es doch so: Schauspieler handeln professionell mit einem bestimmten Körpergebrauch in einer Bühnensituation. Damit diese herausgehobene Situation18 hergestellt werden kann, trainieren sie sich eine bestimmte Körperlichkeit an und bilden körperlichgeistige Fähigkeiten19 aus. Man kann also die Linie direkt nachzeichnen – und zwar von der Aufführungsform zum Schauspiel-Handwerk. Und das Schauspiel-Handwerk beinhaltet als einen Bereich eben den stimmlichen und sprecherischen Ausdruck. Das ist eine klare und sinnvolle Hierarchie, ein einfaches Kausal- und Mengenverhältnis. B: Punkt Nr. 1: Dies ist ein hierarchisches Denkmodell – je nachdem kann darüber noch das Sprachkunstwerk stehen oder die soziale Situation, die man unter Theater verstehen will usw. Also, erstens stelle ich diese Hierarchisierung im Kunstwerkverständnis in Frage und zweitens entspricht es nicht der Praxis. Punkt Nr. 2 ist also folgender: Die Praxis ist chaotisch, zufällig und individuell. Es ist ja nicht immer eine etablierte Inszenierungsweise, die dann zur Folge hat, dass dazu eine passende Schauspielpädagogik entwickelt wird, die dann wiederum als Teilbereich eine Sprechmethode hervorbringt. Es ist doch eher ein Wechselspiel und immer von Individuen getragen. Künstlerin X wurde von diesem Verständnis von Schauspielhandwerk Y in ihrer Ausbildung geprägt und entwickelt von dort aus ihre Inszenierungsweise. Jemand bringt von irgendwo eine spannende Körpertechnik – hier eben eine Stimmtechnik aus der Therapie – mit und diese dann als Impuls in die kreative Arbeit ein. Oder ein Handicap wie Stottern mag Anlass sein und zur Entwicklung einer ästhetischen Arbeitsweise führen (Schleef). Eine Konzeption von Theater kommt zu einer bestimmten Stimmästhetik (Artaud) usw. X und Y mit diesen und jenen Hintergründen arbeiten fruchtbar zusammen. Schau dazu ins Storyboard von Zeichnung (22) bis (27). Oder – wie oftmals bei den grundlegenden Körpertechniken – Person X beginnt aus einem gesundheitlich notwendigen Anlass, Körper-
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forschung zu betreiben, entwickelt eine Körpertechnik und diese wird dankbar in Institutionen aufgenommen, wo sie wiederum auf Schauspielstudierende trifft, die eine andere Körpertechnik ebenfalls lernen und damit in die kreative Arbeit gehen, und so ist ein Teil der institutionell vermittelten Schauspielpädagogik sozusagen der „heimliche Lehrplan“, nämlich, dass Schauspielschüler die verschiedenen Zugangsweisen – sagen wir: aus dem Feldenkrais, der Akrobatik und dem Szenenunterricht irgendwie für sich kohärent gestalten müssen. Aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls: Dieses einfache lineare Denken hilft hier nicht weiter. Anlauf Nr. 4: Es geht um die Kommunikationskonzepte der Schauspielstile. A: Ist es möglich, dass zu dem professionell erlernten Körpergebrauch bzw. dieser körperlich-geistigen Fähigkeit, die zum Schauspielen erlernt wird, auch jeweils ein unterschiedliches, implizites Kommunikationskonzept gehört? Gehen wir von der Grundsituation einer theatralen Situation aus (29), sei sie so oder so oder so angelegt. Nun sind es aber eben unterschiedliche Körperpraktiken, Körpergebräuche – eben Schauspielstile, in denen das getan wird. Dann haben sie ja sicher ein unterschiedliches Selbstverständnis von dem, was sie da tun und in welcher Art von Kommunikation sie mit dem Publikum stehen. Der Schauspielerkörper agiert ja nicht im leeren Raum, sondern eben vor anderen und in irgendeiner Art der kommunikativen Absicht. B: Und wie willst du das explizit machen? Über eine Inhaltsanalyse der kommunikativ relevanten Aussagen in Geste und Worten sowohl in Trainings- und Probensituation, eine quantitative Auswertung, um dann daraus rückzuschließen, was zueinander passen könnte, da es ähnliche Kommunikationsvorstellungen gibt? Ein absurdes Verfahren aus Sicht der Praxis. Und auch inhaltlich ist es problematisch. Es wird sehr schnell sehr esoterisch, das würde sicher nicht mit den Selbstdeutungen der Praktiker einhergehen. Anlauf Nr. 5: Die Kommunikationskonzepte und Schauspielstile lassen sich aus der Historie ableiten. A: Was bisher fehlt, ist eine genaue Bestimmung, worin die kreative Arbeit bzw. Schauspielpraxis und die Sprechpädagogik gewinnbringend ineinandergreifen können und miteinander verzahnt sein sollten. Die Zuordnungen sollen ja nicht zum Zweck der nachträglichen Analyse stattfinden, sondern sind ja pädagogischen Überlegungen geschuldet. Wer Schauspieler ausbilden will, müsste ja wissen, worum genau es
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jeweils geht – wenn zunächst akzeptiert wurde, dass unterschiedliche ästhetische Ziele vorhanden sein können. Was ist da jeweils die Kernfähigkeit, die Schauspieler jeweils brauchen? Da geht es also um eine körperlich-geistige Fähigkeit im engeren Sinne und einen den Stilen zugehörigen Körpergebrauch im Dienst einer Kommunikation. Zunächst fehlt uns aber überhaupt ein Verständnis von Schauspielstilen. Wir könnten jetzt an vielen spannenden Arbeiten zu Schauspieltheorien ansetzen20, besser noch direkt an Reflexionen aus der und über die künstlerische Praxis21 – wobei die Theorien ja meist eng mit der Praxis verwoben sind. Eine schematische Darstellung der verschiedenen Kommunikationsanliegen bei der Unterteilung in veristischen, rhetorischen und komödiantischen Schauspielstil hat die Theaterwissenschaftlerin Gerda Baumbach vorgelegt.22 Das will ich mal kurz skizzieren: Nur im veristischen Schauspielstil gibt es die vierte Wand und es geht um die durchgängige Verkörperung eines Charakters, im rhetorischen Schauspielstil wird auf etwas gezeigt und die Künstlichkeit ist ausgestellt, der Comödien-Stil verhandelt existentielle Themen durch den ständigen Wechsel und die Doppelbödigkeit und offene Ambivalenz. Dazu agieren die Schauspielerkörper je in unterschiedlicher Weise. Hinsichtlich des Verhältnisses von Fiktion und Realität sieht Baumbach den ComödienStil als „Praxis des doppelten Ortes“, im rhetorischen Stil geht es um die Wahrung der Grenze, im veristischen Stil um die Ausblendung. B: Und die Aktionsweise der Schauspielerkörper wäre dann also auf die Aktionen der Stimme und des Sprechens zu übertragen? A: Genau. Die Forderung, dass ein Schauspieler ganz in seiner Rolle aufgehen solle, sozusagen dahinter verschwindet, trifft dabei nur auf die Theaterform des veristischen Schauspielstils zu, ansonsten sind der Akteur und der Rollenträger und die fiktive Figur immer gleichzeitig präsent – in dem einen Schauspielerkörper. Das heißt, das Kriterium der Natürlichkeit und Glaubwürdigkeit auch als Leitlinie für die Ausbildung des Sprechens gilt nur im veristischen Schauspielstil. Die Schematisierung ist aus der Historie abgeleitet und dient ja vor allem dazu, das landläufige Theaterverständnis zu relativieren, und damit können wir auch neue Spielformen besser verstehen. B: Ja, aber für den Comödien-Stil werden z. B. als Prinzipien Verdopplung, Zerstücklung genannt. Das sind doch eher dramaturgische Vorgehensweisen als konkrete Schauspielarbeit, oder? A: „Körpergebrauch aus der Mitte, dem Becken“ – wie es aus Bildern für den Stil abgelesen wird – würde vielleicht die Rede von „Körperzentrum“ in der Trainingsarbeit des Schauspielers meinen. Zerstückelung als dramaturgisches Prinzip bzw. Körper-Zerstückelungen als
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inhaltliches Motiv könnte sich auch wiederum in einer konkreten Sprechbildungsarbeitsweise spiegeln – wenn eben bestimmte körperliche Fähigkeiten voneinander getrennt und autonom trainiert werden, z. B. schnell sprechen, aber langsame Gesten dazu ausführen, oder mental: jemanden anschauen, aber jemand anderen ansprechen. Brecht’sches Theater ordnet Baumbach dem rhetorischen Schauspielstil zu – Körper und Stimme sind dort Zeichen, nur beim veristischen Schauspielstil ist der Schauspielkörper (und seine Stimme) Ausdrucks- und Mitfühlfläche. B: Statt Schauspielstile könnte man aber auch einfach die Tätigkeiten charakterisieren. Andreas Kotte23 greift auf die Untersuchungen zurück und charakterisiert: Der Spieler erlebt, der Spieler zeigt und – als dritte Komponente fasse ich zusammen – der Spieler spielt. Das sollten wir analog setzen zu dem Sprechen und dem Stimmgebrauch, das lässt sich ohne Weiteres tun. Welche Methode zielt aufs Erleben, welche aufs Zeigen, welche aufs Spielen und wie lässt sich das ausbilden? Das könnte Orientierung geben. A: Ja, vielleicht produktiver, direkt auf die Tätigkeiten zu gehen, anstatt Stile zu benennen, die wie Schubladen wirken und in die dann doch nicht alles hereinpasst oder noch schlimmer – wie ich es vorhin probiert habe –, über diese Tätigkeiten noch ein Metakonzept der Kommunikation zu werfen. Auch im Ansatz von Baumbach, scheint mir, ist das Kommunikationskonzept selbst doch noch nicht richtig gedacht. Es ist eine Beschreibung der ästhetischen Inhalte, gekoppelt an eine knappe Beschreibung eines jeweilig unterschiedlichen Körpergebrauchs. Oder muss das ästhetische Anliegen als Kommunikationskonzept gedacht werden? Ja, man kann zumindest für die Sprechpädagogik daraus ableiten, dass passenderweise für manche Stile eine „Natürlichkeit“ in Stimme und Sprechausdruck leitend sein dürfte, für andere die „ausgestellte Künstlichkeit“. Mit der Arbeit an Extremen und Entstellungen wäre dann aber z. B. das Extended Voice Movement eher im Comödien-Stil anzusiedeln. Die Selbstdeutung dieser Richtung geht aber eher in die Breite des menschlichen Ausdrucks, „Echtheit“ ist ein echtes Arbeitskriterium. Damit wäre man beim veristischen Stil … Das ist noch schief insgesamt. Für mediatisierte Stimmen und neue technische Spielformen ist auch fraglich, ob es noch eine weitere Stilart braucht. Anlauf Nr. 6: Zur Orientierung hilft eine graduelle Matrix kultureller Zeichensysteme. A: Vielleicht hilft ein Vorschlag von Tara McAllister-Viel24. Wie kann man pädagogisch mit der Variabilität von Schauspielstilen umgehen und
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pädagogisch sinnvoll ausbilden? Hierzu muss ich die gesamte Geschichte erzählen. McAllister-Viel ist amerikanische Schauspielerin und Stimmpädagogin und bekam 2003 den Auftrag für die neu gegründete staatliche Schauspielschule Südkoreas (KNUA) ein „westliches Stimmtraining“ zu entwickeln, das im Curriculum vereinbar sein sollte mit dem traditionellen Theaterstil, dem koreanischen P’ansori, einer Art solistischer Erzähloper. Das war keine leichte Aufgabe, in mehrerer Hinsicht, doch zuvor noch diese Bemerkung: Es zeigt sich nebenbei, wie stark die Pädagogiken des Sprechens und der Stimme (noch) sprachgebunden und national verankert sind – denn unter westlichem Training fasst McAllister-Viel die im englischsprachigen Raum verbreiteten, aktuellen Ansätze der „natürlichen Stimme“ zusammen, nach ihren Gründerinnen bekannt Patsy Rodenburg, Kristin Linklater, Cicely Berry. Die wesentlichen Schwierigkeiten mit der Maßgabe, zwei Ansätze der Stimmpädagogiken für bestimmte Bühnenstile aufeinander abzustimmen, sollen hier aufgelistet werden, ebenso die Erkenntnisse, die gewonnen werden konnten: 1) Die Praxis der Stimmbildung im P’ansori ist zuweilen gegenläufig zur westlichen: Nach hiesigen Kriterien ist es stimmschädigend über eine Belastungsgrenze hinweg und bei großer Umgebungslautstärke zu trainieren. 2) Im Unterricht war McAllister-Viel viel mit dem fremden Beschreibungssystem für Stimme konfrontiert, die Studierenden wollten wissen, ob sie das eben Erlernte aus dem anderen Unterricht nun auch in diesem Unterricht wieder anpeilen oder anwenden sollten. Bedeutet eine „dicke“ Stimme – ein Arbeitsbegriff aus dem P’ansoriUnterricht – das Gleiche wie „eine tragfähige Stimme“ nach „westlichem“ Verständnis? 3) Im Vergleich der konkreten Ausbildungspraktiken der Stimmbzw. Sprechbildung kommt McAllister-Viel zu einer Beschreibung der unterschiedlichen Mikroprozesse – etwa welches Verständnis von körperlicher Spannung vorliegt und was jeweils an- oder abtrainiert werden soll. So ist pädagogische Zielführung im Training nach Kristin Linklater etwa, dass (zu viel) Spannung linear abtrainiert werden soll, im P’ansori liegt dagegen ein komplementäres Ideal von körperlicher Spannung vor. Es sind vor allem drei Bereiche, die in eine konkrete Ausbildungspraxis hineinspielen: die ästhetische Zielvorstellung, das sonstige kulturelle Bezugssystem – im P’ansori z. B. die chinesische Medizin – und die institutionelle und soziale Organisation eines solchen künstlerischen Lernens.
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4) Im Hinblick auf die institutionelle Organisation und die Ausbildung in der Arbeit des Schauspielens stellt McAllister-Viel folgende Überlegungen an: Zur institutionell verbreiteten Unterrichtspraxis gehört es, dass in verschiedene Fächer eingeteilt wird, die meist für sich stehend unterrichtet werden. Homogen sind sie in ihrem Arbeitsvokabular und in den Zielvorstellungen, was die Ausbildung des Körpers im engeren Sinn betrifft, ohnehin nicht. McAllister-Viel kommt zu der Beobachtung, dass der Klassenraum eher als Ort der Übertragung (room of transference) verstanden werden muss, die Integration jedoch individuell und stillschweigend erfolgt. Vom Yoga über Akrobatik zum klassischen Gesangsunterricht – jedes Mal wird der Schauspielerkörper in bestimmter Weise gefordert und ausgebildet, die Schauspielstudierenden stehen vor der Aufgabe, diese verschiedenen Erfahrungen für sich kohärent zu machen, es in ihren individuellen Körper zu integrieren und gegebenenfalls mit Widersprüchlichem (Lerninhalten und Zielvorstellungen) umzugehen. 5) Im Hinblick auf die ästhetische Zielvorstellung schlägt McAllister-Viel vor, den schauspielerisch-sprecherischen Zugang zu einer Figurengestaltung nicht als Arbeit an der Rolle, sondern als Gestaltung von kulturellen Klangzeichen zu verstehen. „Gemeinsam kreieren Performer und Zuhörer während der Aufführung Bedeutung der Klänge, wie sie in der geteilten Kultur verstanden werden.“25 Für den Unterricht schlägt sie vor, einen bewussten Umgang mit der Variabiliät zu etablieren, etwa durch eine Form-Funktions-Grafik: Sprechen – Singen // Natürlich – Abstrakt. Funktion bedeutet hier ästhetischer Ausdrucksstil. Angenommen, man spricht irgendeinen Text, sagen wir mal: „Ich lief gestern zum Bus, da begegnete mir eine schwarze Katze“, in realistischer Weise, als würde man es in einer alltäglichen Situation einem Freund erzählen – dennoch mit Bühnenpräsenz, es geht hier ja nur um Äußerungen in theatraler Situation –, dann würde ich die „Narration“ unten links verorten. Wenn ich nun aber den gleichen Text in der Weise eines liturgischen Gesangs vortragen würde, ist meine Äußerung abstrakter, gehört auf die Gesangsseite und je stärker ich meiner Stimme einen klassischen, ausgebildeten Klang verleihen würde, desto mehr rückt die Äußerung nach oben links. Anderes Beispiel: Ein realistisch klingender Schrei kann zu einem abstrakten Ausdruck werden, wenn ich ihm einen Vibrato hinzufüge.26 B: Mhm… diese graduelle Einteilung macht natürlich das Nachdenken über verschiedene Theaterästhetiken und Schauspielstile etwas beweglicher. Aber irgendwie müssten die Pole auf der X- und Y-Achse noch anders benannt werden.
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A: Diese Erkenntnisse aus der Schauspielpraxis schließen an die kulturvergleichenden Praxisbeschreibungen der Theateranthropologie von Eugenio Barba27 an sowie an die phänomenologischen Beschreibungen von Philipp Zarrilli28. Als Theorie, die aus der künstlerisch-pädagogischen Praxis direkt generiert wurde, ist auch der Erkenntnisstatus von rein theaterwissenschaftlichen Arbeiten zu unterscheiden. Bei allen drei Autoren ist die Empirie der künstlerischen Praxis und die Empirie der Vermittlungspraxis leitend, wir haben es daher mit einer künstlerischen Forschung zu tun, die eine detaillierte Phänomenologie der menschlichen Fähigkeiten betreibt. B: Was sagen die denn eigentlich zum Kommunikationskonzept? Anlauf Nr. 7: Eine Analyse der Mikroprozesse in der Sprechbildung gibt Hinweise auf die mit dem Körperkonzept verbundene Kommunikationsvorstellung. B: Du monologisierst mehr und mehr. A: Hast du je geglaubt, dass ein Theoretisieren wirklich polyphon sein kann? B: Dein Schreibstil hat sich auch verändert. A: Ich wollte mit diesem Disput scheitern. B: Nein, du wolltest mit der Geste des Scheiterns scheitern. Du glaubst, dass es ein Leser nicht erträgt, wenn zu viele Gedankenfäden offen herumliegen. A: Ja, stimmt. Deshalb nehme ich jetzt die offenen Fäden und flechte daraus einen Zopf. Ich behaupte hiermit, dass bei allen unbefriedigenden Überlegungen, die bis hierhin angestellt wurden, ich nun den entscheidenden Beitrag leisten kann, indem ich wissenschaftlich, d. h. methodisch abgesichert und nachvollziehbar, die Realität und die echte und natürliche Praxis analysiere und damit einer Antwort auf die Frage zuarbeite: Wie können wir nun passende Sprechmethoden zu den verschiedensten Schauspielstilen finden? B: Na dann … Teil 2: Beobachtungen Im Folgenden möchte ich eine Situation aus den Videodaten des aktuell laufenden Forschungsprojekts vorstellen. Im Projekt Körperkonzepte in der Sprechbildung von Schauspieler/innen werden videografisch und qualitativ Unterrichtshandlungen in der Sprechbildung von Schauspielern an deutschsprachigen Schauspielschulen untersucht. Je sechs Unterrichtsstunden von Lehrerinnen und Lehrern, die sich einer der drei im Sampling ausgewählten pädagogischen Ansätze, nämlich dem gestischen
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Sprechen, der Sprechbildung nach Kristin Linklater oder der Lichtenberger Stimmphysiologie (u. a.), zuordnen, wurden videografisch begleitet und werden derzeit ausgewertet.29 Es zeigt sich, dass sich viele Unterrichtshandlungen nicht einer pädagogischen Schule zuordnen lassen, sondern allgemeinere künstlerische Prozesse angesprochen sind, die auch für die hier im Beitrag verfolgten Fragen von Interesse sein könnten. Begleitend dazu werden Interviews, wenn möglich auch mit den Gründungspersonen der Sprechbildungskonzepte, geführt und Schriftdokumente inhaltlich analysiert. Schwerpunkt der Auswertung bildet die interpretative Videoanalyse. Ein qualitatives Forschungsprojekt macht die Vorannahmen, auf die es aufbaut, explizit. Daher habe ich aus dem mir bis hierhin zugänglichen praktischen Wissen und den schriftlichen Aussagen, die drei pädagogischen Richtungen in ihrer Konzeption vom Körper im theoretischen Storyboard (10) bis (12) skizziert. Das leitende Forschungsinteresse ist jedoch nicht, ob und wie diese Richtungen von den Lehrenden ausgeführt werden, sondern zu erfassen, was überhaupt im Unterricht passiert, d. h., einzelne Momente werden zunächst für sich betrachtet und beschrieben. Im Unterricht hat man es sowohl mit etabliertem Lehrvokabular zu tun als auch mit spontanen und in der Situation generierten Anleitungen der Lehrenden. Beide Formen der Anleitungen verraten etwas über den Zugriff auf schauspielerische Tätigkeit und können Auskunft darüber geben, was genau die körperlich-geistige Arbeit ist, die hier angesprochen und ausgebildet werden soll. Im Fokus des Forschungsprojekts liegt genau dies: In welcher Weise wird das körperliche Selbstverhältnis in der Ausbildung angesprochen? Wie wird der Körper zum eigenen Gegenstand gemacht? Die Interaktion bei der Vermittlung von diesem Körperwissen sowie das Verständnis von diesem Wissen werden im Projekt theoretisch auf Grundlage der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners beschrieben, die als Alternative zur Phänomenologie andere Interpretationsmöglichkeiten bietet.30 Durch die Explikation der psychophysischen konkreten Arbeit und der analytischen Benennung des Selbstverhältnisses, das je kultiviert wird, kann – so ist die Annahme – ein Konzept vom Körper benannt werden, das in der Arbeit am Werk ist. Grundsätzlich ist die Interpretation von den Daten geleitet. Das heißt, trotz der Fragen, die vor dem Hintergrund der philosophischen Anthropologie formuliert sind, kann die Interpretation der Fragestellung und die Gewichtung einzelner Aspekte materialgeleitet abweichen und anderes in den Vordergrund holen.31 Die Analyse versteht sich als videografische Inhaltsanalyse der körperlichen und verbalen Interaktion. Es gibt verschiedene miteinander konkurrierende Auffassungen, was unter
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einer „Interaktionsanalyse“ bzw. einer videografischen, videobasierten oder multimodalen Interaktionsanalyse zu verstehen ist.32 Da in meinem jetzigen Interesse nicht die Ordnungsprinzipien der Interaktion im Fokus stehen, folge ich weniger eng der ethnomethodologischen Tradition, die auch in der Gesprächsanalyse Verbreitung gefunden hat, sondern halte mich an die Aufforderung, für jeden Gegenstand das passende Transkriptions-, Interpretations- und Darstellungsverfahren zu finden und diese Fragen als Teil des Forschungsprozesses zu begreifen33. Im folgenden Beispiel habe ich eine Transkriptionsform der computergestützten Inhaltsanalyse34 gewählt, die mit ausgewählten Zeitmarkierungen arbeitet. Nur diejenigen Zeitmarken tauchen im Transkript auf, die für Beschreibung oder Interpretation bzw. Diskussion eine Rolle spielen. Zur Veranschaulichung stelle ich, dem gängigen Verfahren der meisten Richtungen qualitativer Videoanalyse35 folgend, von mir nachgezeichnete Videostills dar und schreibe das Transkript nach inhaltsanalytischer Konvention. Eine Partiturschreibweise des Transkripts hingegen hat den Vorteil, den prozessualen Ablauf adäquater darstellen zu können, gegebenenfalls auch körperliche Interaktionen für den Leser leichter nachvollziehbar aufzuzeigen. Dieses Anliegen greife ich mit der grafischen Darstellung des Verlaufs der siebenminütigen Situation auf. Im Verbaltranskript arbeite ich stattdessen mit Beschreibungen körperlicher Aktionen. Zur Darstellung der gesamten Einheit ist eine schematische Grafik eingefügt. Die hier vorgestellte Situation ist unter dem allgemeinen künstlerischen Aspekt ausgewählt und interpretiert, nicht in erster Linie hinsichtlich einer Charakterisierung des sprechbildnerischen Ansatzes. Als Beispiel, das für sich alleine steht, ist es in diesem Beitrag lediglich dazu geeignet, das interpretative Vorgehen zu demonstrieren und eine Vorstellung davon zu geben, was über die beobachtbare Interaktion über Körper- und Kommunikationskonzepte erfahren werden kann. Ohne einen Vergleich zu anderen Situationen und ohne einen Vergleich zu Beobachtungen von Interaktionen und körperlich-geistiger Arbeit in Proben- und Aufführungssituationen kann natürlich keine Antwort auf die Frage gegeben werden, in welchem Verhältnis Sprechbildungspädagogiken und Theaterästhetiken mit den dazugehörigen Schauspielstilen zueinander stehen, geschweige denn, welche wie zueinander passen könnten. Die Interpretation und Diskussion ist als Zwischenergebnis der noch laufenden Forschungsarbeit zu verstehen. Der radikalste Schritt bei einer interpretativen Videoanalyse ist die Auswahl der wenigen Minuten, die betrachtet werden können. Die Auswahl bestimmt sich im
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ersten Schritt nach besonderer Dichte, d. h., wenn in der teilnehmenden Beobachtung bemerkt wurde – von den Handelnden und/oder der Beobachterin, dass hier etwas Besonderes passierte. Dabei kann das Besondere einen Erfolgsmoment, eine Krise, ein außergewöhnliches oder besonders typisches Geschehen darstellen. Im vorliegenden Beispiel ist eine ungewöhnliche Verständigungshürde über einen relativ langen Zeitraum dokumentiert, die deshalb aufschlussreich ist, da dadurch für die Lehrende notwendig wird – gewissermaßen verlangsamt –, einzelne Momente der Arbeit explizit zu machen. Besonders ist aber auch die beobachtete Veränderung der Qualität im Sprechausdruck. Das Beispiel ist also auch hinsichtlich eines besonderen Gelingensmoments und der Explikation ausgewählt. In der teilnehmenden Beobachtung, aber auch bei der Sichtung durch Fokusgruppen wurde zeitlich klar benannt, wann „etwas passiert“ und man in bestimmter Weise auch beim medial vermittelten Beobachten interessiert oder berührt ist. Bestätigt wurde das Gelingen auch durch die Beteiligten: Als herausgehobene Situation wurde die Situation von der Lehrerin später kommentiert mit „solche Stunden hat man nicht täglich“, von der Studentin direkt im Anschluss der Stunde mit „Ich kann es ja doch“. Im Zusammenhang dieses Beitrags muss darauf hingewiesen werden, dass der Satz, der wiederholt und entfremdet gesprochen wird, als losgelöstes Übungsmaterial genommen wird. Es handelt sich nicht um eine Inszenierungsarbeit, in der es um eine dem Text angemessene Äußerungsform zu finden, sondern um eine Grundlagenübung, in der der Text zu eigen gemacht werden soll. Worum es genau bei einem solchen Vorgang geht, wenn ein Text nicht abgelesen oder aufgesagt, sondern wirklich gesprochen werden soll, ist genau das, was es zu explizieren gilt. Die Sequenz ist für eine Videoanalyse ungewöhnlich lang, das Transkript im Sinne der Lesbarkeit hier gekürzt. Mit dem Beispiel möchte ich auf drei Aktionsebenen hinweisen: – erste Ebene: sprachliche Instruktion, – zweite Ebene: gestische Instruktion, – dritte Ebene: gestisches Feedback. Zunächst erfolgen eine Beschreibung und eine grafische Darstellung, anschließend das gekürzte Transkript. Daraufhin gehe ich direkt interpretativ auf die einzelnen Ebenen ein. Beschreibung: Mit einer Schauspielstudierenden des zweiten Studienjahrs findet Einzelunterricht Sprechen bei Gabriella Crispino an einer staatlichen Schauspielschule statt.36 Der Unterricht dauert knapp eine Stunde, die
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vorgestellte Sequenz ist räumlich-inhaltlich bestimmt, dauert etwa sieben Minuten und beginnt in Minute 43:17. In sitzender und hockender Position sind Lehrerin und Studierende und arbeiten an einem Satz bzw. mit ihm an der Körperangebundenheit im Sprechausdruck. Der Abschluss der Sequenz ist durch einen Positionswechsel der Lehrerin gekennzeichnet, sie steht aus dem Fersensitz auf. Zuvor wurde von der Studentin die letzten Male der Satz mit starker emotionaler Beteiligung gesprochen und die Lehrerin forderte dazu auf, im Text weiter zu gehen. Es wird an einem Satz gearbeitet, den Medea zu Jason spricht: „Bedeutet dieser Leib dir nichts mehr?“37, der zur Übung „lautlich entstellt“ wird, d. h., die Konsonanten sollen nicht gesprochen werden, die Vokale nur als geschlossene Vokale. Der Satz wird in der Sequenz auswendig gesprochen. Wie das in der Stunde vorbereitet wurde, soll hier noch kurz erläutert werden. Der Dialog, aus dem dieser eine Satz stammt, wurde von der letzten Stunde zur Eigenarbeit nach Hause mitgegeben. Nach einer Aufwärmungssequenz wird ab Minute 18 mit dem geschriebenen Text in einer „Leseprobe“ am Tisch gearbeitet, in der die Lehrerin den Gegenpart des Dialogs spricht. Schließlich wird die Position am Tisch verlassen und mit Text in der Hand in begleitende Körperarbeit im Raum gewechselt, z. B. der Text im Laufen gesprochen. In Minute 38 wählt die Lehrerin den einen Satz aus, an dem gearbeitet wird und begründet (38:33): „Woran wir heute weiterprobieren, ist, dass das, was wir hier suchen, zwischen Körper, Atem, Stimme und Text, dass das zusammenkommt. Und gerade in so Sätzen, wo sie das sagt: ‚Hier, das bin ich […] bedeutet das nichts mehr?‘ Wenn du einfach anfängst zu lesen, neigt es noch ein bissl dazu, dass du den Körper nicht mitnimmst.“ Ab diesem Zeitpunkt, bis zur detailanalysierten Sequenz wird mit diesem Satz gearbeitet – zunächst noch mit Papier in der Hand, in Minute 40 nimmt die Lehrerin der Studentin schließlich das Papier ab, sodass die Studentin nun ganz ohne Text in der Hand, in einer sich umarmenden Hockposition sprechen kann. In der teilnehmenden Beobachtung wirkte die Stunde zunächst zäh und in der ausgewählten Sequenz war auch für die Beobachterposition das Verständigungsproblem atmosphärisch unangenehm. Die Brisanz für die Beteiligten, dass irgendetwas hakte oder etwas auf dem Spiel stand, war zu spüren. Die Versionen, in denen der Text von der Studentin gesprochen wurde, waren eher leer und aufgesagt. Bis zu einem gewissen Punkt: Ich konnte in der teilnehmenden Beobachtung und auch auf dem Video benennen, wann auf einmal der Stimmausdruck wechselte und mich als Zuhörerin berührte – es ist der fünfte Versuch im
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letzten Abschnitt. Diese Wirkung wurde sehr klar von den Fokusgruppen bestätigt. Das Transkript endet nach dem sechsten Versuch. Die Studentin kommt dann in eine weinende Sprechweise, die Lehrerin fordert nach dem achten Versuch dann dazu auf, den Satz in normaler Sprache zu sprechen. Nach weiteren Vorschlägen beendet die Lehrerin die Situation in der Position des Fersensitzes, steht auf und holt den Text. Hier endet die analysierte Sequenz, die restlichen zehn Minuten der Unterrichtsstunde geht es dann weiter in der Textarbeit in sitzender Position auf Stühlen. Im Folgenden möchte ich einige Erklärungen zum Transkript anführen. Obwohl die gesamten sieben Minuten relevant sind, beginnt das Transkript aus Gründen der Übersicht erst ab Minute 46:46. Die hier nicht präsentierten dreieinhalb Minuten sind gekennzeichnet durch eine Verständigungshürde in der Aufgabenstellung bzw. ihrer Ausführung. Die Lehrerin leitet ein (43:17): „Dann sprich jetzt mal […] in der Position […] nur die Vokale und Diphtonge, die da drin sind. ‚Bedeutet‘ – Eoi-e -i-e-ai- i-i-e?“38 (Bedeutet dieser Leib dir nichts mehr?) Der Verständigungshürde wird auf verschiedene Weise begegnet: durch einen scherzhaften Wechsel in eine fremdsprachige Verständnissicherung, durch einen lauten Ausbruch der Studentin „Boah – mein Gehirn setzt grad aus“ (44:45), durch die Anweisung zum Positionswechsel in den Fersensitz. Mehrfach wird demonstriert und von der Studentin erfolgen Versuche, die richtige Lautfolge zu äußern. Diese Situation ist zur Interpretation ausgesucht, da ich vermute, dass der Fakt, an eine Grenze gekommen zu sein, relevant für das Bildungsgeschehen ist. Das Transkript setzt an der Stelle ein, an der die eigentliche Arbeitsphase durch die Lehrerin eingeleitet wird, d. h., ein neuer Umgang mit dem Körper „angebildet“ wird. Nachdem die Studentin in der Konzentration auf die Bewältigung der Lautfolge den Blick abgewendet hat, fordert die Lehrerin auf, parallel zur kognitiven Arbeit, „den Kontakt“ zu ihr als Ansprechpartnerin zu halten. In der Interpretation und Diskussion muss ich zum Teil auf Handlungen verweisen, die zeitlich vor dem hier abgedruckten Transkript liegen, jedoch zur ausgewählten Übungseinheit gehören. Grafische Darstellung der gesamten Sequenz: In der folgenden Grafik ist der Ablauf der Videosequenz dargestellt und in zwei große Teile bzw. sechs Abschnitte eingeteilt. Die erste Hälfte stellt die Verständigungshürde dar, mit den verschiedenen Umgangsweisen, die zweite Hälfte die darauf folgende kreative Arbeit. Die Anweisungen der Lehrerin sind in blauer Schrift zur Orientierung angedeutet,
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die Äußerungen der Studentin in grüner Schrift. Auch in der ersten Hälfte gibt es viele Versuche, die Lautabfolge zu sprechen, diese bestehen jedoch meist aus zwei bis drei Silben und sind nicht aufgeführt. In der zweiten Hälfte wird die Lautabfolge vollständig (wenn auch nicht immer korrekt) durch die Studentin gesprochen, was mit Pfeilen markiert ist. Die Dicke der Pfeile zu den einzelnen Sprechversuchen deutet jeweils an, wie sehr diese Phrasen durch Pausen oder Lautdehnung zeitlich ausgedehnt waren.
Transkript: Das Transkript weicht aus den oben dargestellten Gründen von der mittlerweile in der Sprechwissenschaft sehr verbreiteten gesprächsanalytischen Konvention ab. In der Schreibweise folge ich der von Kuckartz sowie Dresing und Pehl vorgeschlagenen Transkription für die qualitative Inhaltsanalyse.39 Zur Übersichtlichkeit finden sich jedoch nicht Zeitmarker hinter jedem Absatz, sondern allein an den Stellen, die Bezug auf die gezeichneten Videostills nehmen bzw. auf die in der Interpretation und Diskussion verwiesen wird. Zur einfacheren Orientierung findet sich auch bereits innerhalb des Transkripts eine Benennung der einzelnen Versuche der Studentin, also der Lautäußerungen, in denen die Lautabfolge vollständig gesprochen wird. Sie sind als „Phrasen“ bezeichnet und unterstrichen dargestellt und in der grafischen Übersicht als nummerierte vertikale Pfeile zu finden. Die Unterstreichungen in den Bildunterschriften markieren zum Bild den genauen Zeitpunkt der Äußerung.
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Sprechmethoden und Schauspielstile
Zur Transkription: Besonderheiten
Beispiel oder Beschreibung
Zeichen
Körperbewegungen
Wird vor oder nach dem
(nickt)
Gesprochenen in Klammern
(flüsternd)
Sprechausdruck
beschrieben, die Position
(Einatmer, dann)(dann Posi-
richtet sich nach der Lesbar-
tionswechsel)
keit. Sofern nicht anders angegeben – wie etwa in den beiden unteren Beispielen in der nächsten Spalte –, findet die Handlung parallel zur gesprochenen Sprache statt.
Sprechpausen
Bis zu drei (geschätzte)
(.)
Sekunden werden in Klam-
(..)
mern als Punkte gesetzt,
(…)
mehr (gemessene) Sekunden
(vier Sek.)
in Klammern angegeben
Überlappendes Sprechen
A: Wenn etwas gleichzeitig
//
//
//gesprochen wird// B: //also übereinanderlappend// A: Ja, dann werden doppelte Schrägstriche verwendet In Ergänzung zu Pehl/Dresing (2015) wird dies hier auch für Körperbewegungen notiert.
Sprechpausen
In die- diesem äh ja Beispiel,
In diesem Beispiel wird die
Verzögerungen
werden wird nicht jede Ein-
Grammatik leicht angepasst,
Grammatik
zelheit eam transkribiert.
Verzögerungslaute werden transkribiert, wenn kognitiv ein neues äh Konzept gesucht wird und dies durch die Verzögerung deutlich wird.
Zeitangaben
Sind zum Abgleich mit der Bild- (44:33) erfolge an bestimmten Stellen angegeben, z. B. 44. Unterrichtsminute und 33 Sekunden.
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(46:45) Studentin: E-oi-e (Blick nach links unten abwendend) Lehrerin: Guck mich, //auch wenn du jetzt sortierst und suchst,// (46:47) Studentin: //(lächelt, rückt sich in Position zurecht)// Lehrerin: Schau mal schon, den äh den //Kontakt zu mir zu halten// (46:50) Studentin: //Ok. Oi-e.// (46:47): Guck mich – auch wenn du jetzt sortierst
(46:50) Schau mal schon den äh den Kontakt zu mir zu halten.
1. Phrase Studentin: e-oi-e Lehrerin: Ja. (.) Wer? (beide Hände zeigen Richtung des eigenen Bauchs) Studentin: i-eLehrerin: Nimm Kontakt zu deinem Leib auf. (lächelnd) (47:00) Studentin: (lachend, mit Einatmer) i-e -ai- (erst rechte Hand, dann beide Hände an den Bauch) // –// Lehrerin: //(Geste: linke Hand in den Raum)// (47:07) Studentin: i-i-e. //(Geste der Lehrerin spiegelnd: rechte Hand in den Raum)// Lehrerin: (Nicken, große langsame Kopfbewegung) Entwickle das mehr und mehr aus dem Kontakt zu mir. (linke Handfläche nach oben, rechte Handfläche nach unten, Wellen- bzw. Bogenbewegung nach außen) (…) in deine wirklich existentielle Frage als Medea. Studentin: Mhm (bejahend) (47:00) „Nimm Kontakt zu deinem Leib auf“
(47:01)
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2. Phrase Studentin: e-oi-e-(.) i-e- (.) ai (.) i-i-e? (Gestenbewegung nur mit der linken Hand) Lehrerin: (…) (nickend, zunächst langsam, dann schneller nickend, sehr leise gesprochen) Vielleicht dann nochmal. Studentin: Ok. Lehrerin: Nee, also wir hören jetzt etwas ganz //Spezielles// (lauter, Gestenbewegung: rechte Hand nimmt etwas von linker Handfläche auf, linke Hand dann Fingerspitzen nach vorne mit Drehbewegung) Studentin: //Mhm (bejahend, Kopfnicken, Finger verschränkt, dann hochgenommen in Bewegung)// Lehrerin: Mach mehrere Vorschläge und lote das aus //für dich//, Studentin: //ok// Lehrerin: weil es ist – es kann sehr unterschiedlich sein. (Gestenbewegung: Fingerspitzen zusammen, nach oben zeigend, rhythmisch kreisend) 47:34 Nee, ne also i – wir hören jetzt ganz Spezielles.
47:36 Wir hören jetzt etwas ganz Spezielles.
47:38 Mach mehrere Vorschläge und lote das aus für dich.
3. Phrase Studentin: e-oi-e-(..) i-e-ai (.) I-i-e? (Fingerspitzen vollziehen kleine Bewegung, rechte Hand zur Partnerin bei den letzten Vokalen) Lehrerin: Ja. (.) Und du spürst glaube ich für dich selber, wie viele Dinge //dir jetzt anfangen auf diesem Weg zu begegnen.// (Fingerspitzen linker Hand zunächst Richtung Körper, dann nach vorne drehend) Studentin: //Jaa. Jaa.// (47:59)
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(47:59) Lehrerin: Du spürst, glaub ich, selber, wie viele Dinge //dir jetzt anfangen auf diesem Weg zu begegnen.// Studentin: //Jaa. Jaa// Lehrerin: (..) Mach vielleicht noch ein oder zwei (.), lass dich (.) weitertragen für dich. Studentin: (nickt) Lehrerin: Du könntest auch aufstehen, Position verändern, ja? Probier du für dich aus. 4. Phrase Studentin: (…) E-oi-e (.)-i-e-(.) ai-I-I-e? (Hände liegen auf den Oberschenkeln, Handflächen zeigen nach oben, Gestenbewegung wird klein vollzogen. Jetzt ändern sich Klang und Rhythmus) 5. Phrase Studentin: E-oi-e-i-e-ai-i-i-e? (gesteigertes Tempo, Geste wie in 4. Phrase, letzte drei Vokale nur rechte Hand) (48:41) 6. Phrase: Studentin: E-oi-e-ai-i-e-i-i-e? (Stimmklang auf letzten Vokalen verlagert, rechte Hand auf letzter Vokalgruppe) Interpretation und Diskussion der ersten Ebene: sprachliche Instruktion Die Veränderung im Sprechausdruck wird durch eine lange Anleitungssequenz erreicht, in der es einige Verständigungshürden zu überwinden gilt. Die Studentin zeigt an mehreren Stellen Unverständnis über die Aufgabenstellung: Ob es um Handlungsanleitung oder um Sinnhaftigkeit geht, ist nicht klar. Durch Wechsel in der Körperhaltung und durch den Wechsel in der Sprache kommt zum Ausdruck, dass es sich für die Interaktionspartnerinnen um eine schwierige Situation handelt, in der erst zu einer Übereinstimmung wieder gefunden werden muss. Der Wechsel in die scherzhafte Kommunikation markiert, dass die Situation brisant ist. Die Instruktion, dass nur Vokale gesprochen werden sollen, erfolgt in Minute 43, nochmals in 44, die Thematisierung von Vorsilben bzw. geschlossenen und offenen Vokalen erfolgt um die Minute 46, ansonsten leitet die Lehrerin vor allem durch Demonstration an, in ständigem Blickkontakt und mit langsam abgesetzten Gesten wird die Aufgabenstellung, nur die Vokale zu sprechen, gezeigt.
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Sprechmethoden und Schauspielstile
Wie kann man die Aufgabenstellung und die sichtbare bzw. hörbare Entwicklung, die sie verursacht, begreifen? Ein Zugang ist die Selbstdeutung, also die Erklärung, die die Pädagogin gibt. Sie beschreibt, dass ihr die Arbeit mit den Vokalen aus der Linklater-Arbeit bekannt ist. Kristin Linklater sieht im Klangempfinden der Vokale einen Zugang zum sensorischen und emotionalen Empfinden. Ich möchte aber an dieser Stelle auf die kognitive Hürde, die zu nehmen ist, hinweisen und interpretiere sie als doppelte Entfremdung. Die normale Sprache wird ausgehebelt, denn die Konsonanten werden gestrichen – eine Lautäußerung bleibt. Dies wäre die erste Entfremdung. Die zweite Entfremdung beginnt durch die visuelle, graphemische Analyse – die geschriebenen Buchstaben sollen ausgesprochen werden, nicht die realen Vokalklänge. Die Laute, die es zu äußern gilt, sind offenbar orientiert an dem Schriftbild, nicht an dem ursprünglichen Klang der Vokale, obwohl der Text nicht abgelesen wird. Dies wird von der Lehrerin als eine mögliche Verständigungshürde begriffen, wenn sie in Minute (45:45) noch einmal erklärt: „E-‚be‘. Ah, vielleicht nochmal, nimm diese Vokale jetzt als geschlossene Vokale, ja? Also du kannst, wenn du jetzt eine Vorsilbe oder offene Vokale hast, diese Unterschiede brauchst du jetzt gerade nicht machen.“ Diese Interpretation wird auch unterstützt durch die redebegleitende Geste, in der zu den Worten in Minute (44:57) Folgendes gemacht wird: „Versuch mal den Text (beide Handflächen Richtung Gesicht) dir vorzustellen, in den Vokalen. (linke Hand fächert auf)“ Für einen kurzen Moment sind beide Handflächen ca. zehn Zentimeter vors Gesicht bzw. die Stirn gehalten, der Text wird gleichsam hochgehoben und vor dem inneren Auge präsent gehalten. Diese doppelte Entfremdung40 ist meines Erachtens der Moment, in dem der Sinn und die Worte durch die Studentin neu angeeignet werden müssen. Damit ist nicht gemeint, dass damit zu einer Interpretation gefunden wird, wie „der Text gemeint ist“, wie manche Erarbeitungsansätze es als Ziel formulieren würden. Ich meine hiermit schlicht, dass von der vorgegebenen und abgelesenen Worthülse nun durch die Entstellung und Entfremdung der Lautäußerung eine klare Intention gegeben werden muss. Es ist diese Entfremdung und NeuAneignung, in der offensichtlich etwas schauspielerisch Wertvolles passiert. Als solches möchte ich das Geschehen bezeichnen, da mir als teilnehmende Beobachterin sowie den Zuschauern der Videosequenz der Fokusgruppen der besondere Sprechausdruck auffällt und von den Teilnehmern der Fokusgruppen Aussagen wie „da hat sie mich“ oder „hier passiert irgendetwas“ diesen Eindruck auch medial vermittelt bestätigen. Nun bleibt die Frage, woran genau gearbeitet wurde und in welchem Bereich des schauspielerischen Handwerks man sich bewegt. Nahe lie-
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gen würde es, will man an die oben genannte Unterteilung schauspielerischer Tätigkeiten nach Kotte anschließen, die Sequenz als einer Arbeit an dem „Erleben“ zu verstehen. Man könnte sogar noch weiter gehen und denken, dass es um die schauspielerische Fähigkeit der „Einfühlung“ geht. Jedoch wird nur an einer Stelle die Rollenübernahme thematisiert (47:07) und es ist fraglich, ob dieser Hinweis einen Lern- oder Erfahrungsprozess auslöste oder ob nicht vielmehr andere Anleitungen konkreter und wirksamer waren, wie ich es aus dem Ablauf gleich deuten möchte. Als Arbeitsinhalt formuliert die Lehrerin selbst in der Stunde wie oben schon beschrieben (38:33): „(…) was wir hier suchen, zwischen Körper, Atem, Stimme und Text, dass das zusammenkommt“, was ich als Körperangebundenheit beschrieben habe. Hinzu kommt aber die beobachtete Wirkung auf Zuhörer, sodass eine besondere Form der Ansprache ebenso beteiligt zu sein scheint. In der Instruktion wird der Begriff „Kontakt“ benutzt, der zur Spielpartnerin und zum eigenen Körper bestehen soll. Meines Erachtens wird an drei bzw. vier unterschiedlichen und parallel zu bewältigenden Aufmerksamkeiten gearbeitet, die als Eigen-Partner-Selbstbeobachtungs-Bezug gelesen werden könnten. Die Vermutung, dass es hier um die Ausbildung von drei bis vier simultan aufgerufenen Aufmerksamkeitsebenen geht, möchte ich im Einzelnen noch ausführen. Wichtig scheint mir die Situation ab dem Fersensitz, in der es darum geht, mitten in der Krise und kognitiven Bewältigung die Lautfolge zu finden. Dreh- und Angelpunkt der erfolgreichen Anleitung des gesamten Prozesses scheint mir die Intervention der Lehrerin zu sein, als sie auf den sich abwendenden Blick der Studentin reagiert (46:46): „Guck mich, auch wenn du jetzt sortierst und suchst, schau mal schon, den äh den Kontakt zu mir zu halten.“ Das heißt, in die kognitiv zu bewältigende Aufgabe der entfremdeten Lautäußerung wird als erste Aufmerksamkeitsebene der Partnerkontakt aufgerufen. Durch die semantische Selbstkorrektur erhalten wir an dieser Stelle auch Einblick in den Sprechplanungsprozess der Lehrerin: Zunächst referiert sie auf den Blick, dann präzisiert sie aber das Gemeinte als „Kontakt“, verbunden mit einer Geste einer Verbindung auf Brusthöhe. Kurz darauf wird die zweite Aufmerksamkeitsebene benannt: „Nimm Kontakt zu deinem Leib auf“ (47:00), anschließend gibt es die Anleitung, auf den Prozess zu achten. Dies ist die dritte Aufmerksamkeitsebene, die man auch noch weiter ausdifferenzieren könnte und wie folgt formuliert wird: „Entwickle das mehr und mehr aus dem Kontakt zu mir“, „lote das aus“, „du spürst, glaube ich, für dich selber, wie viele Dinge dir jetzt anfangen, auf diesem Weg zu begegnen. (…) lass dich (.) weitertragen für dich.“ In diesen Äußerungen gibt es nun ein
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Changieren zwischen einem passiven und aktiven Tun („lass dich weiter tragen“ gegenüber „entwickle das weiter“, „lote das aus“) sowie die Aufforderung zur Selbstbeobachtung „Du spürst (…) selber, wie viele Dinge dir jetzt anfangen, auf diesem Weg zu begegnen“. Die dritte Aufmerksamkeitsebene beinhaltet also Selbstbeobachtung und eine aktive und passive Einstellung dem eigenen Tun gegenüber. Möglicherweise sind die Selbstbeobachtung und die passive/aktive Einstellung in zwei Aufmerksamkeitsebenen zu differenzieren, ich will sie aber hier zusammenfassen und somit postulieren, dass es um drei gleichzeitig aktivierte Aufmerksamkeiten geht, die eine bestimmte lautliche Ansprache erzeugen und in dieser Weise zur schauspielerischen Arbeit gehören: Grundlegendes Element schauspielerischer Arbeit scheint mir zu sein, verschiedene Aufmerksamkeitsrichtungen gleichzeitig zu verfolgen. Nach außen zu einem Mitteilungspartner, nach innen zur eigenen Leiblichkeit sowie gleichsam daneben, in aktiver-passiver Selbstbeobachtung. Nun wird es Sprecherzieherinnen und Sprecherziehern nicht als etwas Neues erscheinen, dass diese Ebenen aufgerufen werden. Selbstverständlich wird mit ihnen gearbeitet – doch diese Praxis-Selbstverständlichkeiten gilt es erst herauszuarbeiten. Worauf es mir hier ankommt, ist es, die Aufmerksamkeitsebenen für sich zu benennen und als kommunikative Ressource zu erfassen, ohne weitere Begründungskontexte, wie z. B. emotionales Erleben der Figur, Situationsbezug o. ä., anzuführen. Bestimmte Qualitäten einer Sprechhandlung sollten nicht nur für die künstlerische Praxis, sondern auch für andere Wissensbereiche benennbar werden. Interpretation und Diskussion der zweiten Ebene: gestische Instruktion Zur gestischen Instruktion im weiteren Sinne gehört die Anweisung, in einer bestimmten (Sitz-)Position zu sprechen, was hier die Rahmung der Sequenz darstellt. Unter gestischen Instruktionen verstehe ich aber auch sprachbegleitende Gesten. Diese begleiten die verbale Instruktion und werden z. B. in Minute 43 und 44 repetitiv eingesetzt, um die Aufgabe zu verdeutlichen, nämlich die innere Haltung und Ansprache des Gegenübers aufrecht zu erhalten, auch wenn die Worte entstellt sind. Begleitend zur sprachlichen Demonstration der Vokalreihe erinnert die zur Partnerin gerichtete Hand an die Anspracherichtung (dir) und das Subjekt des Satzes (Leib). Sprachbegleitend – und nicht illustrativ – verstehe ich sie, da sie nicht bewusst eingesetzt sind, also kein etabliertes „gestisches Lehrvokabular“ darstellen. Ebenso sind die Gesten aber in gewisser Hinsicht veranschaulichend, da sie unbewusst die Konzepte abbilden und so abstrakte Inhalte in den Raum geholt werden bzw. sie
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die Aufmerksamkeitsrichtungen darstellen. Ein Beispiel ist die Geste zur Äußerung: „Das ist Aufmerksamkeit pur“, in der die flache, seitlich gerichtete Hand mit den Fingerspitzen die Stirn berührt. Oder die Hand und Bewegung zur Spielpartnerin bei der Aufforderung (46:50): „(…) schau mal schon, den äh den Kontakt zu mir zu halten“, hier geht die Bewegung vom Brustbein aus recht weit in den Raum. Etabliert wird eine redebegleitende Gestik in der Situation des Fersensitzes (ab 46:57): Zunächst zeigen die Finger, gerade noch auf den Oberschenkeln liegend, zum eigenen Bauch, dann gehen sie, begleitend zu den Worten des Textes „dir nichts mehr“, in Richtung der Partnerin. Die Art und Weise der Übernahme der Gestik durch die Studentin zeigt, wie das Verstehen der Aufgabe verläuft, wann sie bereit ist, die redebegleitenden Gesten zu spiegeln, bzw. wann sie sich dann die Handbewegungen selbst neu aneignet. Zunächst wird die zur Partnerin reichende Geste zu den Vokalen von „dir nicht mehr“ spiegelnd, also mit der rechten Hand ausgeführt (Phrase 1), im nächsten Versuch (Phrase 2) findet ein Wechsel der Hand statt, nur die linke Hand ist aktiv, in den anschließenden Versuchen wird wieder die rechte Hand aktiviert, beide zeigen zum Körper, die rechte Hand begleitet dann die letzten Vokale. Ab Phrase 4 wird die Bewegung nur sehr reduziert ausgeführt, die Hände liegen auf den Oberschenkeln, die Fingerspitzen deuten nur leicht die Richtung zum eigenen Körper an, die rechte Hand löst sich nur wenig nach außen. Ein bewusstes Augenmerk auf die redebegleitenden Gesten, die von Lernenden übernommen werden, könnte ein zu entwickelndes didaktisches Werkzeug sein. Interpretation und Diskussion der dritten Ebene: gestisches und verbales Feedback Gestisches Feedback spielt eine große Rolle, die Lehrerin bestätigt während der Versuche durch Kopfnicken und Mimik in unterschiedlichem Ausmaß, was in der Darstellung gezeichneter Videostills nicht recht zur Geltung kommt. Dieser körperliche Rhythmus spiegelt die Dynamik der Situation, genau wie der Sprechrhythmus in der Interaktion. Ziel des Unterrichts ist es, zu einem körperangebundenen Sprechen zu kommen. In der Anleitung dazu gibt die Lehrerin Feedback, das durch Gesten begleitet ist. Diese Gesten informieren uns über das jeweilige Konzept oder Verständnis des verbal Geäußerten. Ein Beispiel dafür ist das Feedback auf die zweite Phrase um (47:34): „Wir hören jetzt etwas ganz Spezielles.“ Hier scheint für einen kurzen Moment das, was gehört wird, auf der linken Hand zu liegen, die rechte Hand greift darauf mit den Fingerspitzen, das zu Suchende und in der Übung im Ansatz Gefundene
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wird nach oben gewendet und zart in den Fingerspitzen gerieben und in der Luft verteilt oder bewegt. Die Hände verweilen oben und begleiten dann mit zusammengenommenen Fingerspitzen in kleinen Kreisen die Aufforderung, dies weiter auszuloten. Der Zuschauerin kommt die Assoziation von Blüten o. ä., zumindest von einer feinen Struktur, die von der Handfläche aufgenommen wird. Bestätigung erhält das Feedback, die Studentin, die bejaht – die Erfahrung, auf die die Lehrerin referiert, wird von ihr als existent bestätigt. Die Geste scheint die Art des Prozesses zu charakterisieren, d. h., es geht um eine bestimmte Einstellung zu dieser Übungssituation, man könnte auch sagen: auf den Fokus, der im Modus der Selbstbeobachtung eingestellt werden muss. Die Geste zielt offenbar nicht auf die Illustration eines Sprechausdrucks, eines konkreten körperlichen Vorgangs o. ä. Ein ähnliches Beispiel ist dann das Feedback auf die dritte Phrase: „Und du spürst, glaube ich, für dich selber, wie viele Dinge dir jetzt anfangen, auf diesem Weg zu begegnen.“ Hier zeigen die Fingerspitzen zunächst zum eigenen Körper, dann in einer Bewegung, die an ein Schlüsseldrehen erinnert, nach vorne. Diese Äußerung zur Selbstbeobachtung wird von der Studentin emphatisch bestätigt. Gesten haben hier die Funktion, das Tun, die Erfahrung und die Beobachtungen, die nur individuell erfahrbar sind, zu konkretisieren. Eine detaillierte Betrachtung der Gesten, die für die dritte Aufmerksamkeitsebene, der Beobachtung des Prozesses angebracht werden, wäre sicher im Weiteren interessant. Teil 3: zusammenführende Überlegungen In diesem Beitrag bin ich in verschiedenen Darstellungsweisen (fiktives Streitgespräch, theoretisches Storyboard und wissenschaftliche Analyse eines Beispiels) der Frage nachgegangen, wie sich das Verhältnis zwischen Sprechmethoden und verschiedenen Theaterästhetiken bzw. den mit ihnen verbundenen Schauspielstilen denken lässt. Dem möglichen Praxisanliegen nach Orientierung, letztlich um ganz konkret in der institutionellen Ausbildung pädagogisch ineinandergreifende Ansätze identifizieren und vermitteln zu können, konnte ich nicht entsprechen. Grundlegender kamen jedoch die allgemeineren Körper- und Kommunikationskonzepte in den Blick und es wurde der Versuch unternommen, sich einer konkreten künstlerischen Praxis durch eine empirische Analyse theoretisch anzunähern. Könnte man denn eine Orientierung in dieser Frage über eine Explikation der jeweiligen Vorstellungen vom Körper bzw. Körper-Konzepte gewinnen? Welche Vorstellung vom Körper gibt es? Eingangs formulierte ich die Frage allgemeiner, und
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zwar nach den verschiedenen Vorstellungen und Lehren vom Menschen, also den dahinter liegenden Anthropologien. Etwas enger gefasst, fragte ich dann nach den Vorstellungen vom menschlichen Körper: was er ist, was er kann und was er soll – und hier im theatralen Kontext bedeutet dies: was er können soll, was also als Handwerk des Schauspielens zu begreifen ist. Im fiktiven Gespräch zu den Verbindungslinien ging ich die Frage nach der Zugehörigkeit von Sprechmethoden und Schauspielstilen aus verschiedenen Richtungen an. Ich argumentierte, die Zugehörigkeiten sei 1.) durch die Selbstaussagen der Praktikerinnen und Praktiker zu verstehen, sie sei 2.) aus der Historie oder 3.) aus der Systematik ableitbar. Als dritte Komponente, über die sich Zugehörigkeit auffinden ließe, habe ich 4.) und 5.) die Kommunikationskonzepte ins Spiel gebracht, die übergreifend und im Hintergrund vorliegen und sich möglicherweise in die Tätigkeiten des Schauspielens Spielen, Zeigen, Erleben unterteilen lassen. Der Vorschlag unter 6.) schauspielerisches Tun im Rahmen von kulturellen Zeichensystemen zu verstehen, begreift das Kommunikationskonzept gewissermaßen aus Rezipientenperspektive. Übergeleitet wird dann 7.) auf das konkrete schauspielerische Tun als körperliche-geistige Handlungen, das dann im folgenden Teil zu den konkreten Beobachtungen aus der Videoanalyse des Sprechbildungsunterrichts beschrieben wird. Die Komponente, die sowohl hinter den Sprechmethoden als auch hinter den Schauspielstilen steht, sind in der empirischen Phänomenologie beschreibbar und an konkreten Handlungen in natürlichen Situationen zu untersuchen. Wie solch ein empirisches Vorgehen dann konkret aussehen könnte und was die detaillierte Analyse von Worten und Praxis an Einsichten freilegt, wird für die Seite der Sprechmethoden erprobt. Zu einem Kommunikationskonzept gehört eine Vorstellung vom Körper und umgekehrt. Im Gedankengang wird nun also auf die körperlich-geistige Tätigkeit fokussiert und um sie sichtbar zu machen, kommen die Anleitungen der Sprechbildnerin in den Blick. Das Beispiel steht für sich alleine und besagt für sich genommen noch nichts hinsichtlich einer Kategorisierung von Sprechmethoden oder hinsichtlich eines Verhältnisses zu einem Schauspielstil oder einer Theaterästhetik. Es zeigt aber, wie voraussetzungsreich künstlerische Praxis ist und wie konkret die schauspielerische Arbeit aussieht. Es wird herausgearbeitet, dass mehrere Aufmerksamkeitsleistungen gleichzeitig vollbracht werden, die den Partner, den eigenen Körper sowie den künstlerischen Prozess adressieren. Es wird die Überlegung ins Spiel gebracht, die in didaktischer Hinsicht interessant ist, ob die kognitive Hürde und Interaktionskrise möglichweise eine Ressource für das Aufschließen neuer körperlich-geistiger Fähigkeiten ist. Es wird des Weite-
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ren die Beobachtung gemacht, dass der Moment, in dem der Sprechausdruck der Studentin in besonderer Weise die Aufmerksamkeit auf sich zieht, in den Fokusgruppen weitgehend übereinstimmend wahrgenommen wird. „Da hat sie mich“ oder „Hier ist die Stimme im Körper“ sind etwa Beschreibungen von Expertinnen, denen das Video vorgespielt wurde. Interessant ist, dass hier noch unbestimmbar ist, um welche Emotion es sich handelt und dass sich der Sog der Zuschaueraufmerksamkeit offenbar eher an einer – vielleicht im Anschluss an Barba benennbaren „Prä-Expressivität“41 – festmacht, also an einer körperlichgeistig hergestellten stimmlichen Schauspielerpräsenz. Zurückgebunden an den theoretischen Ausgangspunkt, verschiedene Sprechbildungstraditionen in den Körper- und Kommunikationskonzepten beschreibbar zu machen, werden die Selbstdeutungen, also die eigenen Begründungen der Gründerin der Methode, zur Diskussion gestellt. Man ist geneigt, die Zugangsweise zu der theoretisch vorgestellten Tätigkeit des „Erlebens“ zuzuordnen, jedoch leiten die in der Analyse sichtbar gewordenen Details zur Zurückhaltung einer zu schnellen Kategorisierung und Bewertung. Linklater selbst begründet (allgemein) die Funktionsweise der Methode letztlich mit einem medizinischen Begriffssystem. Möglicherweise ist es aber sinnvoll, sich für die Beschreibungen, was genau in solchen in der Videodokumentation erfassten Momenten vor sich geht bzw. gearbeitet wird, zunächst einmal von medizinischem oder psychologischem Funktionsverständnis zu lösen, um dann gegebenenfalls später wieder das durch die beobachtete Interaktion beobachtete und präzisierte körperlich-geistige Geschehen aus dieser Perspektive zu beschreiben. Für die Frage, ob eine Unterscheidung im schauspielerischen Handwerk in Zeigen, Erleben und Spielen sinnvoll und gewinnbringend ist und ob sie sich als Arbeitsprinzipien sowohl in den Theaterästhetiken, Schauspielstilen und Sprechmethoden finden lassen und vor allem worin genau die körperlich-geistigen Tätigkeiten jeweils bestehen, müssten vergleichende Untersuchungen durchgeführt werden. Das beschriebene Beispiel soll darauf hinweisen, dass es aufschlussreich ist, die Mikroprozesse, die im Erlernen angesprochen werden, genau unter die Lupe zu nehmen. Das Analysebeispiel aus dem aktuellen Forschungsprojekt zeigt, wie sehr es im Sprechunterricht um Elementarprozesse der schauspielerischen Arbeit geht, die es weiter zu erforschen gilt. Welche Arten der Aufmerksamkeit werden in dieser schauspielerischen Arbeit sichtbar? Welche Differenzierungen lassen sich machen? Wie wäre es, eine schauspielerische Ausbildung noch weniger in Fächer aufzuteilen, sondern
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Elementarprozesse fächerübergreifend zu benennen und systematischer in den Blick zu nehmen, als es bisher geschieht? Wie wäre es, den Vorschlag McAllister-Viels aufzugreifen und das Sprechen nicht als Teil der Arbeit an der Rolle zu verstehen, sondern stattdessen als Gestaltung von „kulturellen Klangzeichen“? Wie wäre es, hinter einer dramaturgischen Absicht, wie es Baumbach historisch für die Schauspielstile vornimmt, die anthropologischen Kommunikationskonzepte zu formulieren? Wie wäre es, bisherige Sprechpädagogiken übergreifend zu befragen, was zum Sprechen als Zeigen, zum Sprechen als Erleben und zum Sprechen als Spielen gehört und dies weiter zu entwickeln – vielleicht als in sich kohärente, konstruierte pädagogische Ansätze, in denen es zu entwickeln gälte, wie man diese Zugänge fördern und ausbilden kann? Ansätze dazu gäbe es reichlich. Den allgemeinen künstlerischen Prozessen – im Gegensatz zu den Verfahren der Sprechbildungsrichtungen – auf die Spur zu kommen, wäre eventuell mit anderen Forschungsdesigns möglich, in denen die Wahrnehmung der Lernenden mehr ins Licht rückt. Sprechbildungsunterricht als Untersuchungsgegenstand ist auch dahingehend interessant, da er als Einzelunterricht immer eine Gelegenheit gibt, den Ausbildungsprozess zu reflektieren. Einzelne Erlebnisse werden geäußert und geben auf diese Weise Auskunft über das „Handwerk“, das gerade inkorporiert wird. Dies könnte man systematischer beobachten, etwa durch eine direkt an die Stunden anschließende Befragung von Lehrerin und Studentin über das gerade Vermittelte. Für mein Forschungsprojekt bleibe ich bei der Frage, wo die jeweilige Sprechpädagogik ansetzt, um sich als Mensch „in den Griff“ zu bekommen. Damit greife ich den Gedanken der philosophischen Anthropologie Plessners auf, der die menschlichen Kulturtechniken als Weisen versteht, in der der Mensch versucht, seinen Körper, der ihm nicht vollständig zur Verfügung steht, weiter zu gewinnen. „Er (der Darsteller) ist nur, wenn er sich hat“42, schreibt er. Die Frage ist, wie genau das angestellt wird, dass man bei dieser Arbeit seinen KörperGeist in den Griff bekommt, d. h., ihn beherrscht, indem man in loslassender Weise über ihn verfügt. In meiner weiteren Analyse im Forschungsprojekt werde ich versuchen, dies über das körperliche Selbstverhältnis der Doppeldeutigkeit zu explizieren, in der gezeigten Interpretation habe ich das angedeutet. Das auch kommunikationstheoretisch zu fassen, ist noch nicht in Sicht.
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[2] Hinter diesen steht … irgendwo … eine Auffassung vom eigenen Körper: was er ist, was er kann und soll und was er können soll ….
[6] …Manche werden in ein pädagogisches Konzept gegossen!
[10] Lesen wir doch, was sie schreiben! Kristin Linklater will die natürliche Stimme befreien, Blockaden und falschen Habitus abbauen …
[1] Es gibt bestimmte Arten, mit dem Körper eigenen Körper umzugehen, ihn zu gebrauchen: Körpertechniken (nach Marcel Mauss), Körperpraktiken …
[5] … und verdichtet …
[9] Wie kann man die Körperkonzepte in der künstlerischen Sprechbildung verstehen?
[11] Das Gestische Sprechen versteht Sprechen als Handlung und will in der sozialen Umwelt konkret wirken.
[7] Hinter der für die Pädagogik formulierten Praxis steht – spätestens jetzt – ein Körperkonzept! ....... (verwandt mit einem Dispositiv? Einer Ideologie?)
[3] Manche Körpertechniken werden von Körper zu Körper weitergegeben – manche sind Körperkünste.
[12] Die Lichtenberger Stimmphysiologie begreift den Körper physikalisch – als sich selbst organisierendes System.
[8] „Hey, wusstest Du eigentlich schon, dass Sprechen eine körperliche Angelegenheit ist?“
[4] Erfahrungen von und mit Körpern werden gesammelt …
Sprechmethoden und Schauspielstile
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[14] Und das Prinzip „Wahrhaftigkeit“?
[18] Beim Gestischen Sprechen … gab es die Theaterästhetik, eine Schauspielausbildung und den Auftrag, das passende Sprechtraining zu entwickeln …
[22] Es ist doch ein einfaches Kausalverhältnis: Von der Aufführungsform zum Bühnenhandwerk (und eine Teilmenge davon ist die Sprechmethode).
[13] Und welches Sprechen passt jetzt zu welchem Spiel? Prinzip „Menschen Bewegen“ gilt im Brecht’schen Theater wie im Gestischen Sprechen …
[17] Beispiel: Vocal Training des Odin Teatrets … hier ist alles in einem Wurf entstanden!
[21] Mhm …
[23] Oder umgekehrt?
[19] Beim Linklater Training gab es im Hintergrund eine bestimmte Auffassung von Schauspiel – aber das Training und die Tradierung entwickelten sich unabhängig …
[15] Oder kann man eine Körpertechnik einfach für jede Ästhetik gut einsetzen?
[24] Quatsch! Zu linear! Die Realität ist chaotisch und von Individuen bestimmt …
[20] Und das Lichtenberger Konzept kommt eigentlich aus der Gesangspädagogik, hat viel Einfluss in der Therapie; das Wechselverhältnis zum Theater entsteht erst ...
[16] Die Genese der Sprechmethoden: Wann haben sie sich mit anderen Praxisfeldern wie beeinflusst?
Eva Maria Gauß
[32] … Kommunikation?
[36] Im Rhetorischen Stil, zu dem z. B. auch das Brecht’sche Theater gehört, ist das Theater ein Zeichensystem, es wird gezeigt, dass etwas gezeigt wird.
[31] Und gehört zu diesen Schauspielerkörperlichkeiten nicht auch immer eine unterschiedliche Idee von …
[35] Eine Vereinbarung zur sozialen Situation „Theater“ gibt es immer. Im Veristischen Stil ist der Akteur bedeutungslos, er verschwindet hinter der Rolle.
[30] Aber ein Schauspieler macht das in einer bestimmten Körperlichkeit …. z.B. so … oder so … oder so …oder so,
[34] Klarheit über Schauspielstile aus der Geschichte – die Schematisierung nach G. Baumbach: tataaa!
[33] ? …. Wenn die Kommunikationskonzepte in der Körperpraxis …. … nun etwas mit dem Spiel zu tun haben …
[28] Es gibt eine theatrale Grundsituation, egal wie man sich nun das Theater denkt. So oder so oder so …etc.
[29] Es gibt Menschen, die zuschauen und jemanden, der spielt.
[27] hat irgendwas mit den anderen Wissensfeldern der Zeit zu tun. Aber gibt es dann in diesen Einzelpraktiken nicht doch „Zwiebelartige“ oder „Zahnradartige“?
[26] sich treffen und inspirieren lassen und eine Körpertechnik, ein Verständnis von Ästhetik usw. in ein anderes Feld mitnehmen! Das ist chaotisch und zufällig,
[25] … die hier oder dort von der einen oder der anderen Praxis geprägt sind,
Sprechmethoden und Schauspielstile
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[42] Nur einzelne Körperpraktiken, denen wir theoretisch gerecht werden müssen …
[41] Ach! Keine Kategorien!
[45] ENDE.
[38] Bringt uns das hier weiter? Worum geht’s? Ach! Das Verhältnis von Sprechmethoden zu Schauspielstilen …
[37] Im Commödien-Stil ist bereits in der sozialen Vereinbarung der Spieler verdoppelt: Als Akteur und als Kunstfigur. Auf der Bühne ein Spiel der Verwandlung.
[43] Wir sollten sie genau anschauen.
[39] Nächster Versuch nach McAllister-Viel: Stimme und Sprechen auf der Bühne sind kulturelle Klangzeichen, die wir nach Form und Funktion …
[44] Noch genauer.
[40] ... graduell in ihrer Unterschiedlichkeit erfassen können. Ausgestellte Künstlichkeit (abstrakt) oben, Realitätsnähe und Natürlichkeit (realistisch) unten …
Eva Maria Gauß
Sprechmethoden und Schauspielstile
1
In diese Richtung etwa schreibt Doris Kolesch im Artikel „Stimmlichkeit“, dass Stimmbildung und Sprecherziehung meist normative Anweisungen dafür vermittelten, was in einer historisch-kulturellen Situation jeweils als korrekte Artikulation und als angemessener Stimmeinsatz gelte. Während die Phänomenologie und Inszenierungen von Stimme und Sprechen auf der Bühne in ihrem Artikel großen Raum einnehmen, bleibt ein Blick auf die Phänomenologie der Arbeit mit und an der Stimme und dem Sprechen leider völlig aus. Mit dem Hinweis auf die Normen wird die Praxis leider schnell abgehandelt. Kolesch, Doris: „Stimmlichkeit“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris u. a. (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 317–320.
2
Diese Einschätzung begegnete mir etwa von einem Dramaturgen und Theaterwissenschaftler auf der Tagung „Ungeahnte Unfähigkeiten. Die Kehrseite körpersoziologischer Kompetenzorientierung“ der Sektion „Soziologie des Körpers und des Sports“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 17.–18. Mai 2018 in Reaktion auf die Projektvorstellung.
3
Praxisbetrachtungen dazu liefert Barba, Eugenio: Ein Kanu aus Papier. Abhandlungen über Theateranthropologie, Köln 1998. Gerade durch die Festsetzung enger Spielregeln oder Normen kann sich erst kreativer Raum öffnen. Das, was neu gefunden wird, ist nicht irgendwas, sondern präzise. Es bleibt zu überprüfen, ob diese Beobachtung aus Schauspielarbeit sich auch auf die künstlerische Sprechbildung übertragen ließe.
4
Dorothea Pachale beschreibt aus theaterwissenschaftlicher Sicht die Normierung und Standardisierung der „Sprechstimmbildung“. Ihre Dissertation bereitet der Sprechwissenschaft einen interessanten befremdeten Blick auf das eigene Fach. Pachale, Dorothea: Stimme und Sprechen am Theater formen: Diskurse und Praktiken einer Sprechstimmbildung ‚für alle‘ vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld, 2018.
5
Vgl. McAllister-Viel, Tara: Toward an intercultural/interdisciplinary approach to training actor’s voices. Thesis for the degree of PhD-Performance Practice, Exeter 2006 sowie dies.: „(Re)considering the Role of Breath in Training Actors’ Voices. Insights from Dahnjeon Breathing and the Phenomena of Breath“, in: Theatre Topics 19 (2009), S. 165–180 sowie dies.: „Voicing Culture. Training Korean Actors’ Voices through the Namdaemun Market Projects“, in: Modern Drama 52 (2009), S. 426–448 und dies.: Training actors’ voices. Towards an intercultural/interdisciplinary approach, Abingdon/Oxon/New York 2018.
6
Vgl. z. B. Klawitter, Klaus: „Gedanken zum Gestischen Sprechen“, in: Geißner, Hellmut/Gundermann, Horst (Hrsg.): Stimmen hören. 2. Stuttgarter Stimmtage, St. Ingbert 2000, S. 209–214; Klawitter, Klaus/Minnich, Herbert: „Sprechen“, in: Ebert, Gerhard/Penka, Rudolf (Hrsg.): Schauspielen. Handbuch der Schauspieler-Ausbildung, Berlin 1998, S. 257–273; Minnich, Herbert: „Sprechübungen für Schauspieler. Ein Arbeitskonzept aus der Hochschule für Schauspielkunst ‚Ernst Busch‘ Berlin“, in: Kutter, Uta/Wagner, Roland W. (Hrsg.): Stimme. Ergebnisse der DGSS-Arbeitstagung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart (27. –30.9.1990), Frankfurt/M. 1991; Minnich, Herbert: „Sprecherziehung an der Hochschule für Schauspielkunst ‚Ernst Busch‘“, in: Marko, Gerda (Hrsg.): Integration von Sprecherziehung, Liedgestaltung und Körpertraining in der Ausbildung zum Schauspieler. Dokumentation der Arbeitstagung der Bayerischen Theaterakademie München, 26. bis 29. März 1998, München 1998, S. 23–25. Schmidt, Viola: „Gestisches Sprechen“, in: Stegemann, Bernd (Hrsg.): Schauspielen: Ausbildung (= Lektionen 4), Berlin 2010.
7
Linklater, Kristin: Die persönliche Stimme entwickeln, München/Basel 2001; dies.: Freeing the natural voice. Imagery and art in the practice of voice and language, Hollywood/ Calif. 2007; dies.: „Vocal Traditions: Linklater Voice Method“, in: Voice and Speech Review 12 (2018), S. 211–220.
8
Coblenzer, Horst: „Atemrhythmus und Stimmökonomie beim Theaterausdruck“, in: Geißner, Hellmut/Gundermann, Horst (Hrsg.): Stimmen hören. 2. Stuttgarter Stimmtage, St. Ingbert 2000, S. 155–158; Coblenzer, Horst/Muhar, Franz: Atem und Stimme. Anleitung zum guten Sprechen, Wien 2006; Schürmann, Uwe: Mit Sprechen bewegen. Stimme und Ausstrahlung verbessern mit atemrhythmisch angepasster Phonation [mit DVD], München/Basel 2007.
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Eva Maria Gauß
9
Saatweber, Margarete: „Atmung – Stimme – Bewegung und ihre Wechselwirkung. Ein Arbeitsansatz nach Schlaffhorst-Andersen“, in: Kutter, Uta/ Roland W. Wagner (Hrsg.): Stimme. Ergebnisse der DGSS-Arbeitstagung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart (27.–30.9.1990), Frankfurt/M. 1991, S. 149–154; Lang, Antoni/Saatweber, Margarete: Stimme und Atmung. Kernbegriffe und Methoden des Konzeptes Schlaffhorst-Andersen und ihre anatomisch-physiologische Erklärung, Idstein 2011.
10
Rohmert, Gisela/Landzettel, Martin: Lichtenberger Dokumentationen. Erkenntnisse aus Theorie und Praxis der Physiologie des Singens, Sprechens und Instrumentalspiels, Bände 1–3, Lichtenberg 2015–2017.
11
Aufschlussreich nicht nur für die Darstellungskonventionen ist der Band Engelen, EvaMaria et al. (Hrsg.): Heureka. Evidenzkriterien in den Wissenschaften, Heidelberg 2010; allgemein zur Wissenschaftsrhetorik und dem Typus des Fachartikels Klüsener, Bea/Grzega, Joachim: „Wissenschaftsrhetorik“, in: Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Nachträge A–Z, Darmstadt 2012, Spalten: 1486–1508.
12
Den Begriff übernehme ich von Gerda Baumbach, vgl. Baumbach, Gerda: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs, Leipzig 2012. Ich benutze ihn jedoch nicht wie dort historiografisch, sondern eher im Sinne einer eingeprägten Körpertechnik, im Anschluss an Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellung, Körpertechniken, Begriff der Person, Frankfurt/M. 1978; vergleiche auch konkret zu den Körpertechniken des Schauspielens Zarrilli, Phillip B. (Hrsg.): Acting (re)considered. Theories and practices, London/New York 2002 und Barba, Eugenio/Savarese, Nicola: A dictionary of theatre anthropology: The secret art of the performer, London 2006.
13
Oft wird die Körperlichkeit bzw. das konkrete Tun als ein Gebiet der Schauspieltheorie aufgefasst, wie etwa Jens Roselt: „Schauspieltheorie“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris et al (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 286–296.
14
Minnich, Herbert: Sprecherziehung an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Vortrag gehalten auf der Arbeitstagung der Bayerischen Theaterakademie München, 26. bis 29. März 1998, Manuskript.
15
Minnich: „Sprecherziehung an der Hochschule für Schauspielkunst ‚Ernst Busch‘“, S. 23.
16
Linklater: „Vocal Traditions. Linklater Voice Method“, S. 212.
17
Website des Lichtenberger Instituts für angewandte Stimmphysiologie: „Fortbildung | Lichtenberger Institut für angewandte Stimmphysiologie“, www.lichtenbergerinstitut.de/seminare/fortbildung (letzter Zugriff 22. Oktober 2018).
18
Siehe Kotte, Andreas: Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln 2012.
19
Siehe dazu Barba, Eugenio/Savarese, Nicola: A dictionary of theatre anthropology; Güssow, Veit: Die Präsenz des Schauspielers. Über Entstehung, Wirkung und süchtig machende Glücksmomente, Berlin 2013.
20
Z. B. Ernst, Wolf-Dieter/Klöck, Anja (Hrsg.): Psyche – Technik – Darstellung. Beiträge zur Schauspieltheorie als Wissensgeschichte, München 2016; Klöck, Anja: Heiße Westund kalte Ost-Schauspieler? Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 (= Recherchen 62), Berlin 2008; Roselt, Jens (Hrsg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum postdramatischen Theater, Berlin 2009; Stegemann, Bernd (Hrsg.): Schauspielen – Theorie (= Lektionen 3), Berlin 2010.
21
Z. B. Zarrilli: Acting (re)considered; Hentschel, Ingrid et al (Hrsg.): Brecht & Stanislawski und die Folgen. Anregungen für die Theaterarbeit, Berlin 1997; Marko, Gerda (Hrsg.): Rollenunterricht, Sprecherziehung, Stimmbildung und Körperarbeit in der Ausbildung zum Schauspieler. Dokumentation der Arbeitstagung der Bayerischen Theaterakademie August Everding 27. bis 30. April 2000, München 2001; Stegemann, Bernd (Hrsg.): Schauspielen – Ausbildung (= Lektionen 4), Berlin 2010, hier anschlussfähig in mancher Hinsicht sind für meinen Ansatz insbesondere Hauß, Philipp: „Von Innen nach Außen“ (S. 228–244) und Sachser, Dietmar: „Theaterspielflow“ (S. 70–78), auch Gruber, Martin: „Formen bilden – Formen vernichten“ (S. 169–188).
148
Sprechmethoden und Schauspielstile
22
Baumbach: Schauspieler.
23
Kotte: Theaterwissenschaft.
24
McAllister-Viel: Training actors’ voices; dies.: Toward an intercultural/interdisciplinary approach to training actor’s voices.
25
McAllister-Viel: Toward an intercultural/interdisciplinary approach to training actor’s voices, DVD 3, button 3, sample 3, time 5:16, Übersetzung EMG.
26
Zur Grafik siehe auch McAllister-Viel: Toward an intercultural/interdisciplinary approach to training actor’s voices, S. 282.
27
Barba: Ein Kanu aus Papier; Barba/Savarese: A dictionary of theatre anthropology.
28
Zarrilli, Phillip B.: „Toward a Phenomenological Model of the Actor’s Embodied Modes of Experience“, in: Theatre Journal 56 (2004), S. 653–666.
29
Ich bedanke mich an dieser Stelle bei allen Kooperationspartnerinnen und -partnern für die Offenheit und das Vertrauen. Insbesondere hier bei Gabriella Crispino, deren Unterricht das hier gezeigte Beispiel entstammt.
30
Plessner schlägt vor, anhand konkreter Kulturpraktiken die sinnlich-geistige Organisation des Menschen zu untersuchen. Das doppeldeutige menschliche Selbstverhältnis, ein Körper zu sein, einen Körper zu haben und zugleich um diesen Widerspruch zu wissen, führt jeweils zu unterschiedlichen Umgehensweisen. Aus körpersoziologischer Sicht wäre Plessners philosophische Anthropologie als ein phänomenologischer Ansatz zu verstehen. Der Vorteil seiner Theorie gegenüber anderen Phänomenologien, wenn man dieser Zuordnung folgen mag, liegt meines Erachtens darin, dass die konkrete Arbeit mit dem Körper und sich selbst betrachtet wird, weniger Resultate davon, wie z. B. Atmosphären oder Zustände des Fühlens.
31
Angesprochen ist hier die Frage des Stellenwertes der Theorie in der Untersuchung von Körperwissen. Während aus Sicht einer Ethnografie oder Sozialanthropologie die theoretischen Leitfragen zu einschränkend und voreingenommen erscheinen mögen, möchte ich dem entgegenhalten, dass ohne klare Explikation der eigenen Prämissen für die Interpretation unreflektiert Alltagswissen herangezogen wird. Die Chance zur Selbstreflexion im Prozess der Erkenntnisgewinnung scheint mir in dem von mir gewählten Verfahren größer zu sein. Dies steht nicht im Widerspruch zur Offenheit einer qualitativen Analyse.
32
Z. B. Schmitt, Reinhold: „Positionspapier: Multimodale Interaktionsanalyse“, in: Dausendschön-Gay, Ulrich/Gülich, Elisabeth et al (Hrsg.): Ko-Konstruktionen in der Interaktion. Die gemeinsame Arbeit an Äußerungen und anderen sozialen Ereignissen, Bielefeld 2015, S. 43–51; verschiedene Beiträge in Cornelia Müller et al (Hrsg.): Body – language – communication. An international handbook on multimodality in human interaction, Berlin 2013–2014; vom Lehn, Dirk: Ethnomethodologische Interaktionsanalyse. Videodaten analysieren und die Organisation von Handlungen darstellen, Weinheim 2018; Tuma, René/Schnettler, Bernt/Knoblauch, Hubert: Videographie. Einführung in die interpretative Video-Analyse sozialer Situationen, Wiesbaden 2013.
33
So etwa Moritz, Christine: „‚Well, it depends …‘: Die mannigfaltigen Formen der Videoanalyse in der Qualitativen Sozialforschung. Eine Annäherung“, in: Moritz, Christine/Corsten, Michael (Hrsg.): Handbuch Qualitative Videoanalyse, Wiesbaden 2018, S. 4–37; trotz der Forderung nach Standardisierung spricht sich auch Singh für eine reflexive Rückbindung in der Forschung von Transkription und Darstellung audiovisueller Daten aus, siehe Singh, Ajid: „Zur Transkription und Repräsentation von Handlungskoordinierungen in Raum und Zeit. Am Beispiel von Wissenskommunikation im Trampolintraining“, in Moritz/Corsten: Handbuch Qualitative Videoanalyse.
34
Kuckartz, Udo: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung, Weinheim 2018 und ders.: „Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung“, in: www.qualitativeinhaltsanalyse.de (letzter Zugriff 12. August 2018).
35
Hierzu Hietzge, Maud Corinna (Hrsg.): Interdisziplinäre Videoanalyse. Rekonstruktionen einer Videosequenz aus unterschiedlichen Blickwinkeln, Opladen/Berlin u. a. 2018.
149
Eva Maria Gauß
36
Das Jahr wird aus Gründen der Anonymisierung der Studentin nicht genannt, stattdessen an dieser Stelle ein Zeitraum zur groben Einordnung: 2007–2017.
37
Müller, Heiner: „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“, ders.: Herzstück, Berlin 1983, S. 93.
38
Zum Forschungsdesign gehört die dialogische Reflexion mit den Lehrkräften, was an dieser Stelle nicht ausgewertet, sondern nur benannt werden soll. Crispino formuliert in einer an ein Gespräch anschließenden E-Mail-Konversation: „Der erste Schritt in dieser Übung ist das Filtern und Unterscheiden zwischen Konsonanten und Vokalen, um die Denkspannung bis zum Ende des Satzes zu erhalten. Die Studierenden reagieren auf diese Übung sehr unterschiedlich. Manchen fällt der Zugang über die graphemischen Zeichen äußerst schwer. Die Vokale sollten auch nicht für sich stehend gesprochen werden, sondern gebunden, wie in einer Art Gibberish. Die Notwendigkeit der Veräußerung und auch die Unabdingbarkeit des Mitzuteilenden, seine innere Beteiligung, müssen sich erhöhen. Das führt zu Grenzüberschreitungen von Mustern und Gewohnheiten. Um die Aufgabe zu erleichtern, wird vorerst auf verschiedene Vokalqualitäten verzichtet und auf die geschlossenen Vokale beschränkt. Fortgeschrittene können im zweiten Schritt die Laute und Lautbewegungen, wie beispielsweise dem Schwa-Laut, in ihrer Vielfalt aufsuchen. Dann wird die Übung zur phonetischen Kunstform.“ Crispino im Dezember 2018, aus dem Datenmaterial der Verfasserin.
39
Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung; Dresing, Thorsten/Pehl Thorsten: Praxisbuch Interview, Transkription & Analyse. Anleitungen und Regelsysteme für qualitativ Forschende, Marburg 2018.
40
Der Deutung der „doppelten Entfremdung“ steht gegenüber die Erklärung der Lehrerin (s. Endnote 38), die das Vorgehen didaktisch mit einem stufenweisen Aufbau begründet.
41
Barba/Savarese: A dictionary of theatre anthropology, S. 187.
42
Plessner, Helmuth: Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt/M. 2016, S. 409.
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Christina Laabs
DIE ZEITGENÖSSISCHEN SPRECHWEISEN IM LEHRKONZEPT DER SPRECHERZIEHUNG Methodisch-didaktische Überlegungen -
Die Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater sind vielfältig. Im Rahmen des postdramatischen Theaters haben sich innovative Ausdrucksformen und Sprechweisen herausgebildet. Besonders die Ästhetik des Performativen1 veränderte den Umgang mit der gesprochenen Sprache auf der Bühne. Der Schwerpunkt verlagerte sich von der semiotischen und referentiellen Funktion eines Textes hin zu seinem performativen Potential im sprecherischen Vollzug. Dabei verweist das Sprechen nicht auf eine fiktive Wirklichkeit, sondern fokussiert sich auf den Sprechakt selbst. Die performativen Sprechweisen sind seit rund zwanzig Jahren gängige Praxis auf den Bühnen und werden sowohl bei postdramatischen als auch bei klassischen Dramentexten angewendet. Schon bald wurden sie auch in Projekten und Szenenstudien an den Schauspielschulen den Studierenden abverlangt. Aktuelle Positionen der Sprecherziehung Auf der Tagung 2010 an der Züricher Hochschule der Künste mit dem Titel Wirkungsmaschine Schauspieler. Vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielemacher wurde ein Appell an die Schauspielschulen formuliert, die zeitgenössischen performativen Spiel- und Sprechweisen in die Ausbildung zu integrieren. Gefordert wurde ein „Paradigmenwechsel des Schauspielens“. Auf der Tagung der DGSS (Deutsche Gesellschaft für Sprechwissenschaften und Sprecherziehung) 2015, die sich u. a. dem Thema Sprecherziehung in der Schauspielausbildung widmete, stand die Frage im Raum, inwiefern die zeitgenössischen Spiel- und Sprechweisen ein neues Curriculum erfordern. Heute sind wir nicht zuletzt durch das Forschungsprojekt Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater2 ein großes Stück weiter. Genaue Beschreibungen und Analysen verschiedenster Sprechweisen liegen mittlerweile vor und auch künstlerische Verfahren zu ihrer Erarbeitung wurden offengelegt.3 Die Frage heute ist nicht mehr, ob, sondern wie die performativen Praktiken des Sprechens mittlerweile in den Sprechunterricht integriert werden.
151
Christina Laabs
Bei der Recherche für diesen Vortrag wurden Sprecherzieherinnen und Sprecherzieher von zehn europäischen Schauspielschulen gefragt: „Wie gehen Sie mit den performativen Sprechweisen im Fach Sprechen um? Welche Praktiken des Sprechens unterrichten Sie?“4 An den im Folgenden zitierten Antworten lassen sich die unterschiedlichen Positionen exemplarisch ablesen. 1. „Nur, was unbedingt nötig ist!“ 2. „Die Sprecherziehung hat sich eigentlich in den letzten zwanzig Jahren nicht verändert!“ 3. „Die performativen Sprechweisen? Wenn die Studierenden gut ausgebildet sind, dann lernen sie diese neuen Praktiken sehr schnell! Die eignen sich das selber an.“ 4. „Bringt man alles gar nicht mehr unter! Jeder Regisseur hat da auch seine Spezialität. Dafür ist ja die Sprecherzieherin am Theater da!“ 5. „Der sich selbst ausbildende Schauspieler! Es gibt kein vorgeschriebenes Konzept. Wer sich für diese Schule entscheidet, interessiert sich nicht für klassisches, traditionelles Sprechtheater!“ 6. „Sind die nicht handwerklich ausgebildeten Kollegen und Kolleginnen heute nicht schon weiter als die ausgebildeten?“ Drei Lehr-Modelle Die unterschiedlichen Positionen lassen sich in drei Modellen zusammenfassen: Modell A: Bekennen und Festhalten an der handwerklichen Ausbildung zum schauspielerisch-gestischen Umgang mit einem Text. Der Sprechunterricht erfolgt kontinuierlich und baut auf einem transparenten methodisch-didaktischen Konzept auf. Darüber hinaus werden die Studierenden bei Bedarf in performativen Sprechweisen gecoacht. Modell B: Pragmatisches Nebeneinanderstellen und Anbieten von gleichberechtigten Techniken, Tools, die es zu erlernen gibt. Vielfältige methodische Ansätze und ästhetische Praktiken werden in Workshops, die meist ein oder zwei Wochen dauern, angeboten. Häufig laufen Workshops auch parallel, sodass die Studierenden auswählen können und müssen, welche Tools sie erlernen wollen. Die Workshops bauen nicht aufeinander auf. Modell C: Fokussierung auf Performance und postdramatische Ästhetik. Ausbildungsstätten, die konsequent und radikal auf den kreativen Prozess setzen, ohne ein übergeordnetes methodisch-didaktisches Konzept. Keine
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Die zeitgenössischen Sprechweisen im Lehrkonzept der Sprecherziehung
handwerkliche Technik und kein ästhetisches Ideal sollen den künstlerischen Ausdruck vorwegnehmen oder beeinflussen. Die Arbeit an Stimmund Lautbildung ist experimentell und nicht textgebunden. Ziel ist die Un-Erwartbarkeit des individuellen künstlerischen Ausdrucks. Den beschriebenen Modellen liegen verschiedene Ausbildungskonzepte zugrunde, die ihre Berechtigung haben und die Vielfalt der Theaterformen widerspiegeln. Jedes Ausbildungskonzept erfordert ihren jeweiligen Bedürfnissen angepasste spezifische Organisationsstrukturen. Heutzutage existieren in der Ausbildungslandschaft diese verschiedenen Ausbildungskonzepte nebeneinander. Modell A ist insofern von besonderem Interesse, weil es die zeitgenössischen Praktiken des Sprechens mittlerweile in die traditionelle Sprechausbildung integriert oder zumindest partiell abdeckt. Zudem sind die meisten staatlichen Schauspielschulen im deutschsprachigen Raum dem Modell A zuzuordnen. Sie basieren auf einem Curriculum, das im Detail einsehbar ist und den methodisch-didaktischen Aufbau des Studiums beschreibt. Dem Studium liegt ein Ausbildungsgedanke zugrunde, der auf die Vermittlung und Erlernbarkeit eines Handwerks setzt. Daher soll im Folgenden das Modell A genauer untersucht werden. Die unter Modell A formulierten Positionen der Sprecherzieherinnen und Sprecherzieher belegen, dass 1. die Dozierenden die zeitgenössischen Praktiken des Sprechens bereits punktuell in ihr methodisch-didaktisches Konzept integrieren. Sie verfügen offenbar über eine Coaching-Kompetenz. 2. viele Studierende in der Lage sind, sich die performativen Sprechweisen im Lauf eines Probenprozesses selber anzueignen. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Ist das Vertrauen der Sprecherzieherinnen und Sprecherzieher in ihr probates methodisch-didaktisches Konzept gerechtfertigt? Hat es sich gar bestätigt? Wie erklärt sich die offensichtliche Kompetenz der meisten Dozierenden bezüglich der performativen Sprechweisen? Und wie erklärt sich die Fähigkeit vieler Studierender, sich die performativen Sprechweisen selber im Probenprozess anzueignen? Meine These dazu lautet: In der traditionellen Sprecherziehung ist alles im Kern angelegt und muss nur weiterentwickelt werden! Deswegen braucht es kein neues Curriculum, sondern das Herausfiltern der spezifischen gestalterischen Elemente. Die traditionelle Sprecherziehung für Schauspielerinnen und Schauspieler orientiert sich am realistischen Theater. Das Sprechen wird hier als Teil der gesamtschauspielerischen Leistung betrachtet. Die einzelnen Ausdrucksmittel werden in der Regel nicht isoliert angewendet.
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Christina Laabs
Handwerklicher Grundstock der traditionellen Sprechausbildung5 Stimm- und Sprechtechnik Eine tragfähige, belastbare, resonanzreiche Stimme, die sehr variabel und überaus modulationsfähig ist, – Sprechen in unterschiedlicher Bühnenarchitektur, – eine hohe artikulatorische Präzision und Geschmeidigkeit (Geläufigkeit), zum Teil auch große Plastizität einzelner Laute zur Ausdruckssteigerung, – Beherrschen der Hochlautung sowie der verschiedenen Formstufen (Umgangssprache, Verschleifungen, Dialekte, Soziolekte, Akzente), – Einsatz von Kraftstimme, auch unter körperlicher Belastung, – Fähigkeit, den Atem als Ausdrucksmittel einzusetzen, – eine genaue und hohe Denk-Sprechgeschwindigkeit, – Sprechausbildung berücksichtigt die individuellen Besonderheiten der Sprecherpersönlichkeit und nutzt sie für unverwechselbaren Ausdruck, – alle Ausdrucksformen der Stimme werden in den sprecherischstimmlichen Ausdruck miteinbezogen (Schreien, Flüstern, Lachen, Weinen), – Entwickeln der Stimme als Instrument mit unterschiedlichen Klangqualitäten, – Mikrofonsprechen Textgestaltung Fähigkeit, aus einer Dramenvorlage eine Situation, physische Handlungen sowie die darauf basierenden Sprechhandlungen und möglichen Haltungen herauszulesen = schauspielerisch-gestischer Umgang mit dem Text, – Sprechen als Form des sozialen Handelns, situations- und partnerbezogen, – Fähigkeit, im Rahmen von fiktiven Situationen zu einem Erleben zu kommen und dieses u. a. stimmlich und sprecherisch zum Ausdruck zu bringen, – Fähigkeit, bewusst sprecherische Haltungen einzunehmen, diese zu wechseln oder zu brechen, – Widersprüche im Text aufspüren und für Haltungswechsel nutzen, – Übereinstimmung von Körper- und Sprechgestus, – Arbeit mit Subtexten, – Sprechen aus der Perspektive einer Figur heraus = identifikatorisches Sprechen, das auf der Individualität der Figur basiert,
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Die zeitgenössischen Sprechweisen im Lehrkonzept der Sprecherziehung
– – – – –
– –
– –
persönlicher, direkter Ton im Sprechakt, Text auf Sinnverständnis hin sprechen, Gedankenbögen erkennen und sprecherisch spannen, Durchdringung und Aneignung von Fremdtext, auch bei komplexer Syntax und Grammatik, Beherrschen der klassischen sprecherischen Gestaltungsmittel: Akzentuierung, Pausensetzung, prosodische Gestaltungsmöglichkeiten, rhythmisches Sprechen, Beherrschen der unterschiedlichen Intensitäts- und Lautstärkestufen (Sprechausdrucksmerkmale), Klänge, Spiel- und Sprechrhythmen vom Partner abnehmen, Aufmerksamkeitsteilung zwischen den Partnern auf der Bühne und dem Publikum, beide Ebenen bedienen und beide Räume offen halten, Verssprache: Metren erkennen und sprecherisch gestalten/umsetzen, chorisches Sprechen: in den meisten Curricula ein fester Bestandteil oder in den Gruppenunterricht integriert
Sprachliche Verfremdungsstrategien – das Zeigen/Ausstellen/Überzeichnen des Gestus einer Figur, – das Aus-der-Rolle-Treten einer Figur zum Kommentieren oder Referieren von Handlungen oder Ereignissen, – direkten Kontakt mit dem Publikum herstellen und es ansprechen, – Spaltung der Figur in Erzähler und Spieler (Erzähler als Reflexionsebene), – das Herstellen unterschiedlicher Kommunikationsräume und Kommunikationsebenen auf der Bühne, – bewusstes Ausstellen der Diskrepanz zwischen Reden und Handeln, – fantasievolle Wortschöpfungen, Spiele mit der Sprachnorm und ihren Abweichungen, Wortspiele und ihre sprecherische Ausgestaltung Betrachtet man diesen beachtlichen Katalog von sprecherischen Gestaltungsmitteln, so stellt man fest, dass alle Elemente, die in den performativen Praktiken des Sprechens abverlangt werden, sich dort als Bausteine in Teilbereichen finden. Die mögliche Einbettung der spezifisch performativen Elemente in die aufgeführten Teilbereiche wird im Folgenden ausgeführt. Spezifika der performativen Sprechweisen Die performativen Sprechweisen lassen sich in zwei Kategorien einteilen: in die Formalisierungen des Sprechens sowie in das moderierende/ diskursive Sprechen.6
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Formalisierungen a) Sprache in ihrer lautlichen Qualität: Die Lust und Freude am LautWerden steht zu Beginn jeder Sprecherziehung. Man geht zurück in die kindliche Entwicklung zu den Laut-, Geräusch- und Stimmerkundungen, die bar jeder Semantik und (noch) nicht zielgerichtet sind. Der Vorgang des Lautproduzierens und Lautschmeckens steht im Vordergrund.7 Laute, Silben, Wörter, Texte werden lustvoll geschmeckt und als Spielmaterial begriffen (vergrößert, verkleinert, intensiviert). Den Text als Klanggewebe über Vokalfarben und konsonantische Hindernisse zu erarbeiten, ist in der Lyrik ein häufig angewandter Textzugang. Denn nicht alle Bedeutungsschichten erschließen sich über den rein semantischen Zugriff. Klang-Räume können über bestimmte Klangqualitäten bewusst definiert und von anderen Klangräumen abgegrenzt werden. Ungewöhnliche Lautsequenzen, wie sie in Lautgedichten des DADA anzutreffen sind, rufen Assoziationen und Bilder hervor, die weit über die reine Wortmitteilung hinausgehen. Die Erarbeitung von Lautgedichten gehört ebenfalls zum Standardrepertoire in der Sprecherziehung. Die Arbeit mit Lautgesten, die den Laut über Körperbewegungen in den Raum setzt, präzisiert nicht nur die Artikulation, sie lässt die Lautproduktion selbst zu einem ästhetischen Ereignis werden. Lautmalen muss sich nicht notwendigerweise auf Onomatopoetika beschränken. Sie kann auch als actionpainting mit Worten ekstatische Wort- und Textbilder generieren. Eine sinnliche Erarbeitung von Texten, jenseits intellektueller Planbarkeit, bietet auch „Sound and Movement“, das Aufbautraining von Kristin Linklater. b) Sprache als Musik: Die Möglichkeiten der Musikalisierung von Sprache liegen auf der Hand. Rhythmus und Tempo führen zur Ver-dichtung von Sprache. Verssprechen, klassische und moderne Lyrik sowie die sprechkünstlerische Gestaltung von rhythmischer Prosa gehören zum Kanon der Sprechausbildung für Schauspieler. Dabei geht es grundsätzlich darum herauszufinden, wie inhaltliche Aussage und formale Gestaltung zusammengehören. Ungewöhnlich und für Studierende irritierend ist jedoch die Anwendung musikalischer Parameter unabhängig vom Text und seiner inhaltlichen Aussage. Die Texterarbeitung, die gerade nicht die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Text sucht und fordert, sondern das Heraushören der musikalischen Qualitäten eines Textes. Die Texterar-
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beitung erfolgt durch den Einsatz und das Experimentieren mit musikalischen Parametern: Rhythmus, Tempo, Dynamik sowie Intonation und Klangfarbe. Solche Herangehensweise kann über den Einsatz von Medien sehr gut vermittelt werden. Bälle und Stäbe gehören zur Grundausstattung jedes Technikraums für das Fach Sprechen. Ihr Einsatzbereich ist vielfältig. Die Arbeit mit Stäben eignet sich im Wechselspiel von Wurf und Zugriff besonders gut, um Rhythmus und Dynamik von Texten zu erarbeiten. Bälle lassen sich im Prellen sehr gut differenzieren und dienen der genauen Akzentuierung. Der Bewegungsrhythmus überträgt sich automatisch auf den synchron gesprochenen Text. Laufen oder Gehen im Raum steht am Beginn der meisten Warmups. Wird dieses Laufen rhythmisiert und dynamisiert, dann wird der dazu gesprochene Text automatisch musikalisiert. Die Variationsmöglichkeiten sind enorm und verführen geradezu zu extremer Ausgestaltung in Bezug auf Tempo und Rhythmus. Im fortgeschrittenen Stadium lassen sich auch das Sprechen im Off-Beat und Synkopen im Gehen mit einbeziehen. c) Ausstellen stimmlicher Qualitäten: Die stimmliche Ausbildung der Sprechstimme braucht Zeit und ein kontinuierliches Training. Je besser eine Stimme ausgebildet ist, je größer ihr Spektrum ist, desto lustvoller wird der Sprecher mit ihr experimentieren und auch vor Extremlagen nicht zurückscheuen. Der Einsatz des Mikrofons fördert durch die Unaufwendigkeit der Stimmgebung das Ausprobieren extremer StimmModi. d) Fremdmachen von Texten: Eine Möglichkeit des Fremdmachens ist das zeigende Erzählen als Verfremdungsstrategie aus dem epischen Theater. Ein typischer Weg des Fremdmachens eines Textes führt über das Fremdmachen der Figur, die spricht. Ein Beispiel aus dem Puppenspiel: Jemand spricht für einen Gegenstand, z. B. einen Stein. Wer weiß schon wie ein Stein „wirklich“ spricht und denkt. Durch die Wechselwirkung von Material und Spieler im Sprechakt entsteht eine Fremdheit im Sprechen. e) Das tonlose Sprechen: Das tonlose, monotone Sprechen reduziert die stimmlichen Mittel extrem. Fast scheint es, als werden alle Mittel weggelassen. Tatsächlich werden das Melos, die Intonation, die Resonanz und die Artikulationsintensität extrem reduziert und eingeebnet, sodass der
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Eindruck der Monotonie und Tonlosigkeit entsteht. Oftmals gekoppelt mit dem sogenannten Offen-Lassen des Textes durch die Verweigerung einer klar identifizierbaren Satzintonation. Stattdessen schwebt die Satzintonation oder ein immer nur leicht variiertes, minimalistisch gestaltetes Intonationsmuster wird fortlaufend wiederholt. Das Imitieren von Intonationspattern ist für musikalisch begabte Schauspielstudierende spontan, intuitiv möglich. Wer das nicht vermag, kann durch genaues Heraushören und Analysieren dem Original zumindest nahekommen. Letzteres ist eine sehr gute Hörschulung. Im Gruppensprechen wird häufig über das Tonabnehmen gearbeitet. Das chorische Sprechen setzt diese Fähigkeit voraus. Das moderierende Sprechen Kennzeichnend für das moderierende Sprechen ist, dass der Sprecher das Gesagte nur zur Verfügung stellt. Es gibt keine situativen oder formalen Hindernisse. Der Sprecher handelt nicht mit Sprache, er verfolgt keine Intention. Er moderiert bzw. vermittelt den Text nur.8 Während in der Ausbildung die Texte gezielt auf Widersprüche hin untersucht werden, um darüber Haltungen zu entwickeln, geht hier der Sprecher einen Schritt zurück. Die Widersprüche werden bewusst negiert, ignoriert oder geglättet. Während im gestischen Sprechen von einer konkreten, aber fiktiven Situation ausgegangen wird, nutzt das moderierende Sprechen die reale Bühnensituation für die Ansprache des Publikums wie im epischen Theater der Erzähler. Während im Sprechhandeln gezielt die Verbindung von der Figur zu dem verhandelten Gegenstand oder zur Situation hergestellt wird, wird hier auf eben diese Verbindung verzichtet bzw. wird sie bewusst gekappt. Während im Sprechhandeln die Figurenpsychologie eine entscheidende Rolle spielt, entsteht beim moderierenden Sprechen der Effekt, als würde der Sprecher „gesprochen werden“. Ein Effekt, der durch die Widerstandslosigkeit verstärkt wird. Manche Studierenden erreichen das mühelos durch die Vorstellung einer konkreten, losplappernden Person, die aus ihnen herausspricht. Das spielerische Playback-Verfahren hat einen ähnlichen Effekt und führt ebenfalls zum widerstandslosen Drauflosreden. Das diskursive Sprechen Kennzeichnend für das diskursive Sprechen ist, dass es selbstreferentiell ist. Es hebt ab zu fulminanten Gedankenflügen, versteigt sich in theoretischen Erörterungen, verheddert sich in Widersprüchen und zieht die
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Zuschauer bewusst in einen labyrinthischen Gedankenstrudel hinein. Weitere Merkmale sind Ironie und Verspieltheit. Hier ist ein Höchstmaß an Konzentrationsvermögen gefordert, um die langen, oftmals mit theoretisch-philosophischen Einschüben durchsetzten Textflächen gedanklich zu bewältigen. Die komplizierte Syntax der theoretischen Texte verlangt Erfahrung in der Analyse komplexer Satzstrukturen. Da die Textflächen häufig in einem sehr hohen Tempo gesprochen werden, setzen sie eine äußerst geläufige Artikulation und exzellentes Denksprechen voraus. Der spielerisch-ironische Umgang mit einem Text gelingt nur, wenn der Sprecher eine Distanz zum Gesprochenen herstellen kann. Das heißt, nach der genauen gedanklichen Durchdringung des Textes, mit ihm jonglieren zu können, was tatsächlich eine Methode darstellt, um zu einer Leichtigkeit in der Textbehandlung zu kommen. Weitere Merkmale der zeitgenössischen Praktiken des Sprechens Polyperspektivisches Sprechen ist ein Spiel der Ich-Standpunkte. Haltungen und Standpunkte werden eingenommen und sofort widerrufen, aufgegeben. In der Erarbeitung erweist sich das tatsächliche Standpunktwechseln als hilfreich. Bei der Figurenfragmentierung werden die Figuren angerissen und sofort wieder fallen gelassen, um nicht mit sich ident zu werden. Man zappt quasi nur kurz in eine Figur hinein. Gefordert sind hier blitzschnelle Haltungs- und Perspektivwechsel. Die Chor-Figur tritt nicht in kommentierender Funktion auf, sondern als Spielpartner. Als Kollektiv-Figur kann sie unisono oder vielstimmig sprachlich agieren. Voraussetzung ist das Beherrschen des chorischen Sprechens. Sound- und Rhythmusstrukturen werden sowohl dramatischen wie postdramatischen Texten übergestülpt.Verssprache wird nicht gebunden, sondern mit umgangssprachlichem Sprechgestus gesprochen. Die Verse werden bewusst gestört. Das laienhafte Sprechen auf der Bühne ist eine sehr hohe Kunst! Hier werden die unausgebildete Stimme und der ungeschulte Sprechausdruck imitiert bei gleichzeitigem professionellen Vermögen, den Bühnenraum akustisch zu bedienen. Texte, die nicht fürs Theater geschrieben wurden, werden theatralisiert. Das erfordert von den Schauspielern, eigenständig performative Entscheidungen zu treffen. Raffinierte Verschiebungen der Erzählperspektive gehen von der ersten zur dritten Person und wieder zurück. Hier entsteht eine komplexe
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Verbindung von Zeigen und Erzählen. Voraussetzung hierfür ist das mühelose Switchen zwischen Sprechhandeln und Erzählen. Verwischen der Gattungs- und Genregrenzen. Das Aufspüren dieser Grenzen ist inspirierend für die sprechkünstlerische Gestaltung. Oftmals gibt es scheinbar keinen Konflikt in den Texten. Dabei ist der Konflikt nur nicht über ein klar identifizierbares Feindbild konstruiert. Nur wer in der Textarbeit erfahren ist und in die Tiefenstruktur eines Textes vordringen kann, entdeckt ihn. Sinnverschiebungen entstehen durch die Auslassung von Interpunktion. Dieses Schreibverfahren findet sich schon bei Heiner Müller. Die Sprechgeschwindigkeit wird automatisch verlangsamt und durch grammatisch ambivalente Momente entstehen (die) Sinnverschiebungen. Ein Verfahren, das Elfriede Jelinek weiterentwickelt hat, allerdings mit dem gegenteiligen Effekt. Der Drive ihrer Texte führt zu einem hohen Sprechtempo, die Sinnverschiebungen werden erst gesprochen, danach vom Sprecher realisiert. Der Moment des Sich-den-Text-Aneignens oder das dauerhafte Kämpfen mit dem Text wird bewusst gezeigt. Was manche Studierende mehr oder weniger gekonnt in den Szenenstudien zu kaschieren suchen, hier wird es als spielerisch-sprecherisches Hindernis genutzt. Das ausgestellte Ich der Schauspielerpersönlichkeit wird eingesetzt, um Authentizität zu behaupten. (Notabene: Die Schauspieler von René Pollesch bekennen freimütig, dass sie mit ihren Bühnen-Kunstfiguren auftreten.) Ein privates Sprechen auf der Bühne funktioniert nicht, weil es schlicht nicht trägt. Die Bühnenarchitektur verlangt eine ausgebildete, tragfähige Stimme. Die eigentliche Kunst besteht darin, unplugged einen ganz direkten, persönlichen Ton anzuschlagen. Monologe werden mit formal experimentierenden Texten zusammengeschnitten, Dialoge werden mit Prosa vermischt, Zitate und theoretische Texte werden eingeschoben. Die Genres und ihre jeweilige Sprachstilistik werden gesampelt. Ausblick Die hier aufgeführte Zusammenstellung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie zeigt die Vielfalt der zeitgenössischen Praktiken des Sprechens auf und sie benennt die Bausteine, aus denen die performativen Sprechweisen zusammengesetzt sind, wovon sie sich ableiten und erarbeiten lassen. Das reibungsvolle Spiel zwischen dramatischen, postdramatischen und den performativen Sprechformen setzt handwerklich sehr gut ausgebildete, selbstständig denkende und eigenständig arbeitende Schau-
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spielerinnen und Schauspieler voraus. Sie können entscheiden, wie sie etwas sprechen, ob sie einen Text zum sinnlichen Ereignis werden lassen, mit Sprache handeln oder erzählen, etwas referieren oder zur Diskussion stellen. Sie können wählen und selbst entscheiden, weil sie über die entsprechenden Mittel verfügen.
1
Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 31 ff.
2
Forschungsprojekt Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater an der Hochschule der Künste Bern, 2014–2017, Projektleitung: Julia Kiesler.
3
Vgl. u. a. Kiesler, Julia: „‚Jede Szene ist ein neues Glück.‘ Verfahren der Texterarbeitung innerhalb des Probenprozesses ‚Faust‘ (J. W. Goethe) in der Regie von Claudia Bauer am Konzerttheater Bern“, in: Unger, Angela (Hrsg.): Sprechen in unterschiedlichen Kontexten: Radio, Wirtschaft, Theater, Fremdsprachenunterricht, Beiträge zum 2. Doktorandentag der Halleschen Sprechwissenschaft, Reflexionen des Gesellschaftlichen in Sprache und Literatur, Hallesche Beiträge Band 5, Halle 2016, S. 51–72, online abrufbar unter: http://digital.bibliothek.uni-halle.de/pe/content/titleinfo/2422792 (letzter Zugriff 6. November 2018).
4
Die Befragung wurde von Christina Laabs teils mündlich, teils schriftlich im Zeitraum von April bis Juli 2017 durchgeführt.
5
Der Katalog wurde von Christina Laabs zusammengestellt und stammt aus dem aktuellen Curriculum vom Thomas Bernhard Institut, dem Schauspieldepartment am Mozarteum in Salzburg.
6
Stegemann, Bernd: Kritik des Theaters, Berlin 2013, S. 195.
7
Schmidt, Viola: „Gestisches Sprechen. Die sprecherzieherische Ausbildung von Schauspielstudierenden an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch“, in: Stegemann, Bernd (Hrsg.): Lektionen 4. Schauspielen Ausbildung, Berlin 2010, S. 159.
8
Stegemann: Kritik des Theaters, S. 195 ff.
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CHOR DER ZUKUNFT Für Rettungen danach -
Der folgende Text, ein Ausschnitt aus einem umfangreicheren Entwurf, beginnt mit dem Wort Wir, bezeichnend den Hauptdarsteller dieses Textes/ Stücks, den Chor der Zukunft. Er definiert sich als „Randchor, Behauptungs- oder Versuchschor“, der sich formieren will zu dem, was er noch nicht ist und noch nicht sein kann. Durch lautes, öffentliches Überlegen ruft er auf, widerlegt zu werden, damit etwas in ihn hineingeht, wovon er selbst noch keine Auskunft geben kann. Der Chor der Zukunft ist auch der Versuch einer Entleerung der Gegenwart, um einer anderen Zukunft Platz zu machen. Er entleert sich, in dem er spricht bzw. handelt. Dabei geschieht ihm oft das Sprechen, es geht durch ihn hindurch, zieht ein in ihn. Er muss warten, erdulden, ertragen, dass alles hindurchgezogen oder aufgerufen worden ist. Dieser Chor ist ein morphender, sich selbst auseinandernehmend und zusammenbauend. Er tendiert ins Gestaltlose. Das Ich, als Komplementär des Chors steht als Splitter-Ich – ebenfalls wachstumsbedürftig – dem Chor gegenüber. Als kaum noch definierbar, ist es den Sprachströmen ausgeliefert wie der Chor, gleiche Themen prägen ihn. Das Ich sucht zu sich wie zum Chor zu kommen. Eine Bewegung analog des Chors. Die Aufnahme des Ichs in den Chor ist, nimmt man die Antike als Deutungshintergrund an und folgt man der Interpretation Einer Schleefs, ein explosiver, Opfer fordernder Vorgang. Der Raum/die Landschaft trägt alles in sich, Hinter- wie Vordergrund. Er ist zusammengefasst auf ein „Hier“, das alles in sich aufbewahrt und doch keine Ausdehnung hat. Aufstellungen verschwinden im Halbschatten, Vorgetretenes wird überblendet. Das Bild zerbricht, unter Druck gesetzt, in leuchtende Einzelteile, auch: in Kristalle. Der Chor, so Einar Schleef, komme aus der Landschaft, ja, sei Landschaft. Diese ist durch die Sprachen aufgeworfen, planiert insgesamt: strukturiert. Der Aufstand des Chors, den der Text verfolgen möchte, ist einer gegen seine eigene Gestalt in seiner eigenen Landschaft. Er muss sich nach Innen und Außen zugleich wenden.
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ich, der chor der zukunft „Was man dagegen wahrnimmt, ist, daß der Chor, die Masse zur Bühnenlandschaft gehört, selbst Landschaft ist.“1
Szene: Einzelteile vor Ausschnitten moderner Landschaften. Dahinter flimmert altes Land. Figuren/Sprecher: Der Chor der Zukunft Ichs 1. der zentrumschor, harmlos. (antikes und löchriges zuschauerrund im hintergrund. halber chor im halbdunkel) 1.1 ich und die krise. 1.2 über das wort altar und über den altar. 1.3 über das da und hier sein, eine randbemerkung. 1.4 von außen nach innen. 2. arbeiten heute. (landschaft: straßen, straßenfragmente, stadtfragmente oder ähnliches. in ihnen über bildschirme laufende szenen) 2.1 ich gehe zur arbeit. 2.2 arbeit, meine? 2.3 arbeite. 3. unvollständig, unbefriedigt. (in wechselnden lichtern, keine hintergünde mehr) 3.1 durchfahrt. 3.2 abgeben, vortreten. 3.3 gerettet. 3.4 keine berührung mehr. 3.5 nicht stillbar.
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1 der zentrumschor, harmlos. (antikes und löchriges zuschauerrund im hintergrund. halber chor im halbdunkel) chor wir sind ein harmloser und unproblematischer randchor und haben so gut wie kein thema außer uns: wir fragen uns was sollen wir als chor der zukunft: das ist unser potential, uns zu formieren als das was wir noch nicht sind und noch nicht sein können, da fangen wir an, also misslingen würde ich hier sagen: wir müssen misslingen will ich hier behaupten, einmal hinstellen, so als behauptungschor, als versuchschor, harmloser art, das ist uns wichtig, wir sind uns harmlos und unwichtig. wir sind unwichtig, zunächst einmal eine gute basis um bedeutend zu werden, denn bedeutend zu werden, wichtig zu sein, das ist nicht nur im blick des chores, sondern auch im blick eines jeden werkes, das werk gibt es nicht mehr höre ich sagen und es ist gut so, so dass wir wieder frei überlegen können bis wir widerlegt worden sind durch uns, wir überlegen also laut und öffentlich um widerlegt zu werden, wir sind ein reiner sound chor ohne inhalt, das will ich wohl meinen dürfen, wir sind so leer, alles ginge herein in uns: dafür sind wir angetreten, die zukunft ins gesamt zu entleeren, leere sei bei uns. leere sei mit uns, zu leeren was der teufel uns lehrte. als ein solcher chor überdauerten wir nicht denn wir sind harmlos und befristet, ein befristeter chor dessen frist abläuft 1.1 ich und die krise. (musik) ich (leise) – wenn ich denke, es wird um mich herum aussichtsloser, denke ich auch diese krise, auch diese krise hilft uns ein stück weiter, wir kommen heraus
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aus ihr mit neuen erfahrungen. eine krise ist eine grundströmung, ohne die wir nicht lernen. eines tages wird es keine krise mehr geben, deswegen häufen wir sie an. mir bangt vor dem tag, an dem sie weg ist, sie ist weg (lautsprecher: fortsetzung ich und die krise) das tableau hat sich gedreht. die einrichtung hat sich gedreht. die figur ich hat gewartet. die figur ich ist abgestellt worden. (tanz am rande der szene) 1.2 über das wort altar und über den altar. (in der orchestra) ich – hier hat alles begonnen, hier hat der beginn sich fortgesetzt bis heute: hier hat man geopfert, wo heute das rednerpult steht spricht es worte aus fleisch, da spricht das wort. da bewegt es worte aus fleisch als handelnde worte. hier wird täglich bewiesen worte sind fleisch, fleisch welches ich vor langer zeit in stücke geschnitten ungerecht verteilt sehe worte sind ungerechtigkeitsschnitter im auftrag eines oder mehrerer herren. der herr ist das große kapital gewesen und ist es unsichtbar noch immer: mag auch der pool des einen reichen größer werden können, als der pool des anderen reichen: wir können nicht sehen wie unermesslich die schätze sind, die unsichtbar, die allen verborgen, denn sie sind immer unterwegs: wollen wir sie fassen, geht es uns wie mit den worten, sind sie ausgesprochen, verlassen vom worthalter fleisch: fleisch verbraucht die worte inflationär: nichts geben sie zurück. ein wort finde in mir halt und also hat es halt gefunden und es wächst in mir, was ich brauche um zu dauern das haltbare fleisch: die großen kapitalien sind nicht sichtbar es ist still geworden im kreis, die abgeordneten fehlen (tanz am rande)
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1.3 über das da und hier sein, eine randbemerkung. (im eingang zur orchestra, ein passant) ich – ich bin froh, dass die weltgemeinschaft ermöglichen kann das alte wiederherzustellen durch neues: ich bin froh irgendwie, ich weiß nicht warum. wenn ich es will, kann ich mich auf den weg machen und schnell da sein, ich könnte sofort da sein, wo wir, ich weiß nicht genau, was mit dem wort gemeint ist, obwohl ich es oft benutzte, da sein: da sind. wenn es so ist wie oben skizziert – warum sollte ich hier sein in dem sinne, dass das hier sein einen unterschied aufweisen kann zu dem dort sein, ich hätte gar keinen wunsch mir was anzusehen. – jahr für jahr wird mehr rekonstruiert. den wunsch muss ich nicht mehr haben, denn ich bin dort wie hier. über das wort hier muss ich weiter nachdenken, bestimmt auch in der beziehung zum raum, der in dem hier vielleicht keine ausdeh nung haben muss, aber alles in sich trägt, vielleicht, und also wäre das alte genauso leicht wiederherzustellen wie auch abzuschaffen, und das abschaffen ist so unmöglich hier wie das erscheinen –; ich gebe zu, ich müsste das alles, wenn ich es plausibler sagen wollte müsste es noch einmal wiederholen, nachdem ich es durchdacht habe anderes durchdacht habe, gründlicher, für etwas neues und klares (kein tanz. das antike rund ist in den hintergrund verschwunden) 1.4 von außen nach innen. (auf einer steinbank, halbdunkel) ich – wir müssen mit mehr kraft von einem außen, von hier aus in ein innen vordringen, mehr kraft: es reicht nicht aus immerzu in die mitte kommen zu wollen, wir müssen mit kraft in die mitte sausen, jetzt aber kann jemand mir sagen wie man das macht, uns fehlt am ende das richtige gedankengut: von seiner hohen und tiefen warte aus machten wir uns auf, die wir uns be reits im zentrum wähnten, noch tiefer in das zentrum hinein: es wird ein flug werden wie in das innere der erde, es wird ein flug der treuen werden: ich sehe den
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stoff der blusen flattern um uns herum, die wir als synchrone, vollkommen synchron unterwegs in das zentrum sind, wo unsere ahnen wohnen: sie warten seit langem auf uns, diese unsere ahnen, denen wir, wir den nötigen respekt entgegenbringen der sie am leben hält und uns das leben in glorreicher art und weise offen vor uns –; während wir fliegen ausgebreitet: da sind wir, letzte und erste vögel im zentrum des saales 2. arbeiten heute. (landschaft: straßen, straßenfragmente, stadtfragmente oder ähnliches. in ihnen über bildschirme laufende szenen) 2.1 ich gehe zur arbeit. ich – ich gehe morgens durch eine straße wie diese zur arbeit, wie sie habe ich eine frau oder einen mann und bin aufgestanden mit ihr oder ihm: ich lege mich hier fest: mit ihr. ich bin mit ihr morgens aufgestanden, sie ist zur arbeit mit mir gegangen, wir zwei sind überall kaum zu erwähnende arbeitnehmer, ich weiß nicht wo wenn ich die anderen sehe, ohne sie geht es nicht: ohne die anderen kann ich mich nicht zusammenreißen geh jetzt los: ich geh jetzt los, so sagt sie und war durch die türe, wir leben zusammen: ich gehe mit ihr oder so dicht nach ihr, ein dritter würde mich mit ihr vielleicht verwechseln können, er ist zur gleichen zeit aus dem haus gegangen jetzt gehen wir aus dem haus die straße hinunter uns zu treffen – wer teilt uns die zeit zu fragen wir
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uns auf dem weg zur arbeit, die frage vergessen wir arbeitend auf dem weg zur arbeit: erinnern uns nicht als was und wo wir ge arbeitet haben, wir kamen zurück wie anfangs beinahe beschrieben wir kommen die treppen herauf ich alleine und sie und ein an derer verwechselte uns mit sich, er sagt wir sind zur gleichen arbeit zur gleichen zeit zurückgekommen 2.2 arbeit, meine? (sein doppelgänger) ich – wer sollte mich wirkungsvoll fragen wie es um mich und meine arbeit steht: wen sollte es nicht interessieren als seine eigene, sein eigenes nicht interesse an sich selbst wohin soll es gehen in mir mit der frage oder der antwort was sollte sie bewirken als mich einfach befragen, sich selbst zu beantworten wenn ich zu gleichem verhalten an gesetzt haben würde: wie geht es ihnen oder mir in meiner arbeit und oder privat. eine solche frage lässt sich sehr leicht beantworten, rasch sollte es sein um über die tücken von frage und antwort hinwegzu kommen, um im fluss zu bleiben. wann trat ich neben mich ungerührt und sah mir mich begütigend zu bei dem was ich arbeit oder privat
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nenne: manchmal dreh ich den kopf privat oder in arbeit und seh zu mir neben mir und bedank mich herzlich für seine freundschaft. 2.3 arbeite. chor – die arbeit, sag ich, als ich mir die frage stelle wo arbeitest du, sag ich, ich trage sie mit mir herum, und sehe mich auf dem weg zur arbeit hier heißt das: herunter gehen an den resultaten von arbeit vorbei. hier leben sie in niedrigen häusern zum beispiel und ich sage nicht so ge mütlich, das sei die arbeit, sag ich mir, denk ich hier heruntergehend und wenn ich herunter ge gangen bin überquere ich eine straße, auch ein produkt von arbeit, sag ich mir, eine breite straße, in der die autos von rechts und links schnell angefahren kommen. jedes der worte hier, das ist wieder zurückgekommen in das ap partement, richte dich ein in ihm, lass dich in ihm nicht eingerichtet sein, lass dein gut, dein strandgut nicht verstreut sein sondern fest am ort, hier, in der leihwohnung, herabgehend –; die arbeit hab ich dabei, hab sie dabei, sage sie sich selbst, ich arbeite an mir und als ich an dem glä sernen gebäude nicht, der front, dem vestibül dem gläsernen vorbeikam, da sah ich noch im mer sehr beschäftigt, auf drei bildschirmen wie mich gehen mir entgegen und von mir weg in einer fußgängerzone vielleicht und vielleicht wurde ich in diesem augenblick die arbeit ab gelenkt, sie verließ mich und ich lief leer gewor den, ich werd leer sagte ich noch zu mir, ich bin jetzt leer, probierte ich als ich an der ampel stand
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und übersetzte, die ampel überquerte ich und sah mich unter unzähligen am bahnhof entlang gehen – und dann seien wir so viele, ausgesondert aus uns, erahnend uns als solche, wir könnten uns er ahnen – und die anderen, die früheren kommen zu uns hinzu, sie sind schon bereitgestellt, längst nicht mehr da, als körper, als leben, aber als was sind wir bereitgestellt, früher, und in der zu kunft warteten wir, wenn wir so uns absondern können von uns, als wollten sie eines tages alle in anderen körpern wieder erscheinen, als die neuen ausgangspunkte, als verwirklichte nach ihnen – 3. unvollständig, unbefriedigt. (in wechselnden lichtern, keine hintergründe mehr) 3.1 durchfahrt. ich – man muss in mir ein und ausfahren, wie es gebraucht wird und nicht wie ich es will, da heißt es aufmachen, aufmachen und bitte rein und bitte raus: bloß nicht klemmen bloß nicht blockieren anhalten oder aufhalten, dann droht verschluss was fährt ein in mir und wieder heraus, kann es nicht wissen, aber wir können es wissen wie wir hindurch ziehen durch mich: wohin geht es wo geht es hin wollte ich uns zurufen, rufen wir uns zu und ziehen singend hindurch (lied. chor dazu u. darüber) ich – wichtig. da setzt es jedes mal aus: wenn das wort mir unter läuft: wichtig: ich bin unfähig prioritäten zu setzen. wie hilflos.
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chor – helft ihm auf, irgendeiner möge ihm aufhelfen zur selbsthilfe. 3.2 abgeben, vortreten. (zurückgesetzt, rufend) ich – warum gebe ich nicht ab: jeden tag könnt ich mehr abgeben. das quält mich; ich habe angst und deswegen spare ich und lege an für die zukunft, die ist jetzt und jetzt, das alter kann so lange dauern, hör ich und dann hab ich abgegeben was ich hätte sparen können heutzutage sind die zinsen negativ, lebe jetzt, lebe: trinke, esse, kaufe ein, so still ich mich sag ich, bis nichts mehr da ist und dann – (lichtwechsel zu einem anderen ich) ich – vortreten: wohin vortreten. durch das land zu fahren meint doch nicht mit jedem zurückgelegten kilometer trat ich etwas mehr vor: vor meint wohin: vor das angesicht: ja (lautsprecher) – treten sie ein! ich – man möchte nicht aufgefordert werden vorzutreten vor gericht, vor eine menge, vor einen einzelnen, (lautsprecher) – zeigen sie sich, lassen sie sich ansehen! ich – treten sie vor als würden sie aus etwas heraus von irgendwoher, jetzt sind sie vor meinen augen, jetzt sind sie, ja, wer? – treten sie vor!
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3.3 gerettet. (halb im schatten) ich – wir begannen mit der arbeit im täglichen jetzt zu verändern, also wir veränderten unser bewusstsein: wir waren nicht länger eine art bewusstloser zustand, der uns von hier nach dort brachte, obwohl wir hier bleiben wollten, dies müsst’ ich konkret formulieren, damit eingehe was ich jetzt tue zu unserer rettung danach, ja, alles was ich jetzt anstelle oder tue oder erledige, tue, stell ich an in hinblick auf eine rettung, rettung das ist keiner katastrophe nachgehen, die wir machen. kann ich dies ableben verhindern, kann ich meinen anteil an meinem ableben gegen null fahren 3.4 keine berührung mehr. (unter dunklen oder halbdunklen schirmen) ich – ich brauche keine berührung mehr, hab nie eine berührung nötig gehabt, das sag ich mir als schutz, als einen panzer aus worten, behauptungen die um mich noch immer liegen, als ausglühender panzer – ich brauche keine berührung mehr, endlich kann ich alleine liegen und nichts ruft mich zu dir oder zu dir, riefe mich auf zu mir – je älter ich werde, desto deutlicher seh ich mich in einer blase schwimmen, mit ruhigen schwimmzügen die blase unaufhaltsam durchqueren ohne atem nötig zu haben, noch eine blasenmutter – je älter ich werde heißt, ich falle langsam ab von mir und übrig bleibt die blase, die ich atemlos durchschwommen habe
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3.5 nicht stillbar. chor – dass ich den kanal nicht vollkriege, ist ja klar ich kann ihn nicht vollkriegen, denn ich bin wir: wir können uns nicht selbst beschränken wir nicht: anderswo ist das vielleicht möglich möglich aber ist hier die frage zu stellen, ist uns die selbstbeschränkung möglich. warum sollten wir uns beschränken, fragen wir uns damit wir die welt retten – warum sollen wir nicht untergehen, fragen wir uns, weil nichts in der natur freiwillig untergeht. wir sind ja keine blumen, die nichts dagegen tun können dass sie untergehen. wir gehen auch unter, ja aber wir können etwas dagegen tun, wir sind eines tages so weit, und bis dahin müssen wir überlebt haben um dann für immer zu leben ich bin sehr zufrieden, wenn ich leben bleibe wenn ich den tod noch nicht abschaffen kann dann will ich wenigstens so rein wie möglich gelebt haben: das reine leben, das stört anderes leben nicht, deswegen möchte ich es erreichen
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Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal, Frankfurt/M. 1997, S. 276.
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Hans Martin Ritter
SCHAUSPIELKUNST – IHRE PRAXIS UND IHRE VERMITTLUNG Ein Ort produktiver Widersprüche -
Vorbemerkungen Um einzuordnen, was ich zur Sache zu sagen habe, ist es vielleicht aufschlussreich, einige biografische Momente vorauszuschicken, die die Reichweite meiner Ausführungen und Vorschläge umreißen und zugleich relativieren können. Ich komme aus den Zwischenzonen zwischen Musik und Theater, war lange praktisch-konzeptionell in der Theaterpädagogik tätig und zuletzt über zehn Jahre in der Schauspielausbildung – in den Bereichen Stimme/Sprechen/Singen, szenische Arbeit und Schauspieltheorie, trat selbst immer wieder als Bühnensprecher und -sänger auf, als Soloschauspieler, auch als Pianist und Liedbegleiter. Meine Konzeptionen zum Schauspiel, zum Sprechen auf der Bühne, zum Umgang mit Musik habe ich aus der künstlerischen und künstlerisch-pädagogischen Praxis entwickelt. Das gilt für eher theoretische Untersuchungen zu Bertolt Brecht, zum Lehrstück, zum gestischen Prinzip, zu Brechts Liedern aus der Hauspostille wie für die Schriften zur Bühnenpraxis, etwa zum Sprechen auf der Bühne oder zum Bühnenlied: Sie sind Ansätze zu künstlerisch-wissenschaftlicher Forschung.1 Im gegebenen Zusammenhang interessieren mich – durch lange Beschäftigung mit Brecht – vor allem der Gestus des Handelns und Sprechens, die Situation und die Bezüge zwischen Wort und Wirklichkeit. Dieser Blick aus der Praxis – auch im Theoretischen – erklärt vielleicht gewisse Reserven einer text- und aufführungsanalytisch orientierten Theaterwissenschaft gegenüber, sobald sie stilprägende Ambitionen zur Ästhetik des Theaters entwickelt, und meine Nähe zu den Schauspieltheorien von Konstantin S. Stanislawski bis Bertolt Brecht oder Antonin Artaud, Michael Tschechow oder Lee Strasberg. Diese komplexen Theorien zeigen ebenfalls dieses Denken aus der Praxis für die Praxis oder sind – etwa bei Artaud – Visionen einer solchen Praxis. Die Theaterwissenschaft bezeichnet sie etwas herablassend als „Künstlertheorien“, als subjektive, außerwissenschaftliche Theoriegebäude. Ich halte sie für wichtige Ansätze künstlerischer und künstlerisch-wissen-
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schaftlicher Forschung. Sie betrafen auch nicht nur die je eigene Theaterarbeit, sondern führten zu neuen Formen der Begegnung und der Wechselwirkung von Kunst und Gesellschaft und forderten nicht zuletzt neue Ausbildungskonzepte heraus. Interessant ist, dass in den jeweiligen Neuansätzen das Vergangene und konzeptionell Kritisierte in wesentlichen Momenten immer erhalten geblieben ist – in der Weiterentwicklung der Stanislawski-Schule etwa bei Jewgeni B. Wachtangow, Wsewolod E. Meyerhold oder Michael Tschechow, in Brechts Auseinandersetzung mit Stanislawski, in der Neu-Akzentuierung des körperlichen Moments und der unmittelbaren Wirkung des agierenden Menschen bei Artaud und letztlich auch in der am Biografischen ansetzenden Methode Strasbergs. Dabei haben mich weniger die überkommenen Theaterästhetiken interessiert als Momente, die das Bewusstsein im Handeln auf der Bühne betrafen. Mir ging es auch nicht um eine Synthese konzeptioneller Momente – wie in der obligatorischen Fusion der Stanislawski- und der Brecht-Methode in der offiziellen Theaterästhetik und den Ausbildungskonzeptionen der DDR, die von einem übergreifenden (sozialistischen) Realismusbegriff bestimmt waren. Es ging mir eher um Analogien und fruchtbare Widersprüche. Schon mein Vortrag bei den Brechttagen 1991 in Augsburg, Bertolt Brecht unterm Strasberg begraben? Abwicklung oder Entwicklung der Brechtschen Theatertheorie?, suchte den Dialog dieser Künstlertheorien auszuformulieren.2 Die neuen „magischen“ Begriffe sind – seit der „performativen Wende“ der Theaterwissenschaft – das Performative, die gelegentliche Annäherung des Theaters an Modelle der Performance, und das Postdramatische.3 Beide Begriffsbildungen sollten allerdings vor allem analytische Funktion haben, sie abstrahieren die Prozesse – mit Hans-Thies Lehmanns Worten: „Aufgabe der Theorie ist es, das Gewordene auf Begriffe zu bringen.“4 Dieser Grundsatz folgt nicht zuletzt der Position Theodor W. Adornos, Ästhetik solle „nicht über Kunst von oben her und ihr äußerlich urteilen, sondern ihren inwendigen Tendenzen zum theoretischen Bewußtsein verhelfen“5. Allerdings gilt auch: Die Kunst müsse „die Reflexion sich einverleiben, daß sie nicht länger als ein ihr Äußerliches, Fremdes über ihr schwebt“6. Inzwischen sind die Begriffe des Performativen und des Postdramatischen – allerdings ohne einschlägige neue Künstlertheorien – fast zu Leitbegriffen der Theaterpraxis geworden. Analysierende Nachschriften der Wissenschaft scheinen zu Vorschriften für die Praxis zu werden. Theaterwissenschaft beschäftigt sich jedoch mit den Prozessen des Theaters nicht aus der Position der Akteure, sondern aus der der Zuschauer, bestenfalls aus dramaturgi-
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schen Blickwinkeln. Wer mit künstlerischer Praxis zu tun hat, sollte sich daher weder begrifflich noch faktisch von der Wissenschaft bevormunden lassen. Die Aspekte beider Begriffe spiegeln auch weder die aktuelle Theaterlandschaft noch das schauspielerische Handeln generell – auch nicht die Textvorlagen aktueller Autoren, wie die Autorentheatertage des Deutschen Theaters Berlin zeigen. Die alten Formen leben weiter: das Dramatische im Post-Dramatischen wie die Moderne in der PostModerne. Hans-Thies Lehmann etwa bezeichnet das post-dramatische Theater pointiert auch als post-brechtsches Theater: Es situiert sich in einem Raum, den die Brechtschen Fragen nach Präsenz und Bewußtheit des Vorgangs der Darstellung im Dargestellten und seine Frage nach einer neuen ,Zuschaukunst‘ eröffnet haben.7 Es lässt nur „den politischen Stil, die Tendenz zur Dogmatisierung und die Emphase des Rationalen“8 hinter sich. Ähnliches ließe sich von fast allen theaterästhetischen Ansätzen der Neuzeit sagen. Sie lassen sich ablösen von ehemals vordringlichen Zielsetzungen. Schauspieler und Schauspielerinnen aber müssen heute letztlich über alles verfügen, was je an Ästhetik oder Technik entwickelt wurde. Das gilt auch für die Ausbildung. Und Neuentwicklungen – etwa die Ansätze Einar Schleefs, Robert Wilsons oder Frank Castorfs – wurden bezeichnenderweise immer von Schauspielerinnen und Schauspielern mitentwickelt und -gestaltet, die dafür nicht spezifisch ausgebildet waren. Konfliktzonen Die Akteure auf der Bühne werden jedoch nicht nur in der Praxis mit neuen Herausforderungen und Widersprüchen konfrontiert, sondern auch von theoretischen oder journalistischen Positionen her. Das enthält naturgemäß Konfliktpotential. Diese Konflikte zeigen sich etwa in den Kontroversen um die Münchner „Kummerspiele“ oder die „neue“ (inzwischen schon wieder abgewickelte) Berliner Volksbühne als „Event-Schuppen“. Ein bezeichnender Schlagabtausch zum Thema „Theater und die Sprache“ ereignete sich bei den Autorentheatertagen des Deutschen Theaters Berlin 2015. Das Stichwort „Sprech-Krise“ lieferte der Sprecher der Jury, der Kritiker Peter Michalzik: Es gehört zu den unaufgelösten Knoten im gegenwärtigen Theater, dass es sich gerade mit dem Sprechen auf der Bühne schwertut. Zu oft klingt das Gesagte banal, weil zu alltäglich, oder es klingt pein-
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lich, weil zu artifiziell. […] Die Krise des Sprechens im Theater […] ist eine Krise der Bühnensprache, der Kunstform Theater, vielleicht auch des öffentlichen Sprechens überhaupt.9 Der Schauspieler Ulrich Matthes wehrte sich heftig und nannte diese Thesen ein „binsenweises, allgemeines, schlecht gelauntes Blabla“: „Man könne über dieses Spannungsverhältnis (zwischen Theater und Sprache) in der Tat nachdenken und sich auch darüber streiten, ohne ,eine Krise herbeizuquatschen‘.“10 In dieser Kontroverse fällt allerdings eine undifferenzierte Verwendung der drei begrifflichen Umschreibungen Sprache des Stücktextes – Sprache auf der Bühne – Sprechen auf der Bühne auf. Sie bezeichnen etwas Unterschiedliches und es bedarf im Streit darüber durchaus unterschiedlicher Kompetenzen. Das Sprechen auf der Bühne ist das des Schauspielers, nicht das des Autors. Eine Äußerung Erika Fischer-Lichtes macht eine ähnliche Kompetenzkluft sichtbar. Sie spricht von der: „Priorität der Aufführung vor den Texten“ und: Schauspieler sprechen in Konfrontation mit neuen Texten oder in neuen Inszenierungen so, „dass das, was sie sagen, hinter dem zurücktritt, wie sie es sagen“11. Allerdings ist das Wie seit je zentraler Gegenstand schauspielerischer Arbeit: Im Wie erscheint, was sie sagen. Und die Umsetzung einer Textvorlage, das Wie, ist zugleich Gegenstand der Inszenierung, die als „Ereignis“ im Grunde immer den Text als „Vorlage“ dominiert. Wichtiger für den Schauspieler Ulrich Matthes ist vermutlich: Wie komme ich von geschriebenen zu lebendigen Worten, zur Äußerung? Heiner Müller kommentiert: „Theater braucht den Widerstand der Literatur.“ Aber: „Drama findet nur statt zwischen Bühne und Zuschauerraum.“12 Die Theaterlandschaft ist vielfältig. Manche Theater – vergleicht man in Berlin etwa das Deutsche Theater, die alte Volksbühne Castorfs, das Berliner Ensemble, das Maxim Gorki Theater oder auch die Schaubühne – verstehen bzw. verstanden sich jeweils als Gegenpole mit eigener Ästhetik und einem eigenen Verständnis der gesellschaftlichen Funktion von Theater. Das gilt oder galt im Übrigen auch von der Konzeption der (nun ehemals) neuen Volksbühne in Berlin. Demonstrativ präsentierte sie sich zum Start als eine Spitze der aktuellen von der Performance durchsetzten Theaterbewegung, und zwar mit drei BeckettStücken (Inszenierung: Walter Asmus), die sie durchaus mit einigem Recht als frühe Vorläufer „der Performance Art“ anbot, die „die Schnittstelle vom ‚Text-Erzählen‘ zum heutigen ‚Bild-Erzählen‘ markieren“13. Aber Becketts Stücke Nicht-Ich/Tritte/He, Joe sind hier – abgesehen von dem roten redenden Mund Anne Tismers im dunklen Raum,
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ihren wiederkehrenden Schrittfolgen und Morten Grunwalds, des durch die Fernsehserie Die Olsenbande bekannt gewordenen dänischen Schauspielers, groß projiziertem kaum bewegten alten Gesicht – doch vor allem ein „Text-Erzählen“. Entsprechend könnten auch die „Textflächen“ Elfriede Jelineks eher als eine Überwucherung performativer Möglichkeiten durch den Text gesehen werden, gegen die sich das Performative oft mühsam und gelegentlich blind zur Wehr setzt. Exkurs I: Handeln und Betrachten Einer meiner frühen theoretischen Aufsätze in der Mitte der 1970er Jahre kreist um die beiden Begriffe Handeln und Betrachten.14 Der Begriff des Betrachtens schließt die sinnliche Wahrnehmung von Handeln und die Reflexion seines Zusammenhangs und Sinns ein. Der Begriff eröffnet gegenüber dem des bloßen Zuschauens zwei Richtungen der Aufmerksamkeit. Die eine verweist auf Innenräume der Beteiligten, die andere auf Außenräume außerhalb der Theatersituation, auf die die Innenräume ihrerseits verweisen. Dieser Wechselbezug von Innenräumen und Außenräumen bestimmt den Theatervorgang und seine Sinnstruktur wesentlich mit. Es ist die Welt der Erfahrungen und Vorstellungen, die der Theatervorgang umkreist und umgekehrt. In einem Aphorismus bringt schon Novalis diesen Gedanken begrifflich auf den Punkt: Theater ist „thätige Reflexion des Menschen über sich selbst“15. Ähnlich lautet Brechts „Vorschlag“, die „jungen Leute durch Theaterspielen zu erziehen“, um sie „zugleich zu Tätigen und Betrachtenden zu machen“16. Der Doppelaspekt von Handeln und Betrachten spielt aber in fast allen Denkansätzen zum Theater eine zentrale Rolle. Und das Betrachten im Handeln als eine besondere Bewusstseinsspur macht die Figur immer auch zu einem Gegenüber, das im Handeln zugleich „be-handelt“ wird. Das wird in der Betrachtung des szenischen Vorgangs noch deutlicher – auch dieser wird zum Gegenüber: So findet Stanislawski in seinen Überlegungen, komplexe Vorgänge zu gliedern, die Abschnitte und Aufgaben. Hier steht der Schauspieler handelnd und betrachtend dem Vorgang gegenüber, wird zur inneren Vorwegnahme von Handlungsschritten aufgefordert. Auch das gestische Prinzip Brechts zielt auf ein solches Trennen und Verknüpfen „ab-sonderbarer“17 Vorgänge. Bei Brecht entsteht zusätzlich eine Art Dreieck des Handelns und Betrachtens, in dem auch der Zuschauer eine Rolle spielt. Drei Gedichte aus dem Messingkauf machen das anschaulich. In den ersten beiden wird der Vorgang gerahmt durch das Bewusstsein: Das Handeln verläuft in den Rhythmen und Pausen gestischer Schritte – sie markieren die Pointen. Im Augen-
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blick vor der Handlung: gilt das Moment des Betrachtens dem inneren Vorgang, der als Impuls zum Handeln schon wartet: Dies ist die Übung: vor ihr zeigt, wie / Einer Verrat begeht, oder ihn Eifersucht fasst / […], blickt ihr / Auf den Zuschauer, so als wolltet ihr sagen: / Jetzt gib acht, jetzt verrät dieser Mensch, und so macht er es / So wird er, wenn ihn die Eifersucht fasst.18 Zweitens ist da der Augenblick des Nachhorchens. Das Moment des Betrachtens gilt dem äußeren Vorgang, der sich eben ereignet hat und sich anschickt, zum inneren Vorgang des Zuschauers zu werden: Meine Sätze spreche ich, bevor / Der Zuschauer sie hört; was er hört, wird / Ein Vergangenes sein. Jedes Wort, das die Lippe verlässt / Beschreibt einen Bogen und fällt / Dann ins Ohr des Hörers, ich warte und höre / Wie es aufschlägt.19 Die dritte Übung zielt auf bewusste Ausführung eines ganzen Vorgangs oder eines Details: Das Moment des Betrachtens durchzieht die Handlung als Aufmerksamkeit der eigenen Sache gegenüber – angesichts der Aufmerksamkeit des Zuschauers: „Immer vollführe ich / Jede Bewegung wie vor der Versammlung / Die darüber befinden wird.“20 Mich interessiert an diesen Texten hier weniger Brechts Theaterästhetik als das sich immer neu ausdifferenzierende Verhältnis von Handeln und Betrachten. Zunächst betrachtet der Schauspieler die Handlungen der Figur und blickt auf den Zuschauer, um ihn auf etwas aufmerksam zu machen. Dann betrachtet er die Handlung der Figur im Rückblick und sieht zugleich auf den Zuschauer, um zu erfahren, wie sie bei ihm ankommt. Schließlich betrachtet der Schauspieler die „Bewegungen“ der Figur mit durchgehender Aufmerksamkeit: Er weiß, dass der Zuschauer ihm und den Aktionen der Figur aufmerksam zugewandt ist, um die „Wahrheit“ zu erfahren. In diesem Bezugssystem von Handeln und Betrachten wird also immer zugleich auf Erfahrungen außerhalb des Theaters verwiesen, auf Empfindungen und Gefühle, die aus anderen Räumen stammen. Erst dieser Wechselbezug zwischen Handeln und Betrachten stiftet den Dialog zwischen Bühne und Publikum und dieser ist immer zugleich ein Dialog über die Wahrheit von Bildern im Theater. Dem Zuschauer wird die kritische Kompetenz dabei gleichsam als „Rolle“ zugewiesen. Das ist nicht nur eine Herausforderung für den Schauspieler und die Genauigkeit seines Spiels, sondern auch eine für das Publikum und seine
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„Kunst des Zuschauens“. Ein Beispiel: In Jürgen Goschs Inzenierung Die Möwe von Anton Tschechow im Deutschen Theater Berlin spielt sich das Geschehen vor einer kahlen Wand ab. Akteure, die nicht im Spiel sind, stehen seitlich am Bühnenrand oder sitzen auf einem Absatz vor der Wand. Sie reagieren auf die Vorgänge mit Anteilnahme, mit Erstaunen, Sorge oder Widerwillen. Auf der Bühne entsteht so ein Binnenraum der Betrachtung, der zum Modell des Zuschauens für das Publikum wird. Das ins Stück eingefügte Spiel-im-Spiel, das neue Drama Kostjas mit Nina als Protagonistin, gibt der internen Betrachtung zusätzlich eine situative Form. Es entstehen so drei ineinander verwobene Räume: der szenische Raum, der Binnenraum der Anteilnahme und der Aufmerksamkeitsraum zwischen Bühne und Publikum. Exkurs II: Der ästhetische Raum Peter Brook beginnt seine Schrift Der leere Raum mit dem Satz: Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.21 Gehen wir von dieser Setzung aus, so existieren im Moment dieses Gehens allerdings schon mehrere Räume: zunächst der leere gegebene, dann der aus der betrachteten Handlung erschlossene vorgestellte Raum: Er etabliert sich in dem gegebenen und gegen ihn und entsteht im Zusammenfluss beobachteter Handlungen und der Assoziationen des Zuschauers, der sie mit Vorgängen vergleicht, die er kennt. Drittens existiert der Raum, den der Akteur vorab für sein „Gehen“ entstehen lässt. Wir schauen ihm ja nur zu, weil wir unterstellen, dass er uns etwas zeigen will – u. a. den Raum, in dem er handelt, und der Akteur weiß das. Sein Gehen signalisiert den gedachten Raum. (Bühnenarbeiter würden wir bei ihrem Gang nicht betrachten.) Der Akteur sucht in der Betrachtung des eigenen Tuns also seinem Handeln Sinn-Raum zu geben, der Zuschauer sucht den Sinn zu ergründen und den Raum zu definieren. Stanislawski hat für dieses Phänomen der Aufmerksamkeit des Schauspielers für sich und sein Handeln den Begriff der Aufmerksamkeitspunkte und -kreise geprägt: Sie geben dem Akteur Bezugspunkte, -linien und -räume für sein Handeln.22 Auch hier verschmelzen für den Akteur äußere und innere Räume. Zugleich sind diese Aufmerksamkeitskreise Räume, in denen die Aufmerksamkeiten des Schauspielers und des Zuschauers sich treffen und die sie gemeinsam erschaffen und
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beleben. Überformt werden die Aufmerksamkeitskreise und -räume des Akteurs auf der Bühne also durch den großen Aufmerksamkeitskreis, der Bühne und Publikum umschließt: den Raum des Dialogs zwischen Bühne und Parkett. Ähnlich sind die drei Gedichte Brechts Ansätze zur Bildung solch gemeinsamer Aufmerksamkeitskreise und -räume. Sie machen deutlich, dass nicht zuletzt Momente minimaler zeitlicher Verzögerung diesen Treffpunkt der Aufmerksamkeit zuwege bringen – musikalisch gesprochen: die zeitliche Rhythmisierung der Aktion im Raum. Ein zentraler Aspekt dieser Räume ist das Spannungsverhältnis von ästhetischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit, der Metapherncharakter von Bühnenvorgängen und -äußerungen: das Gegenüber zur Welt. Der Blick in die Welt und die Erfahrung der Welt gehen dem ästhetischen Prozess voraus. Ästhetisches Handeln ist eine reflektierende Antwort darauf, die wieder neue Fragen aufwirft. Je vielfältiger oder schattierter der Spielraum der Bedeutungen ist, je offener für unterschiedliche Wirklichkeitserfahrungen, desto „wirklicher“ ist die ästhetische Wirklichkeit, desto dichter gespannt das Gewebe der Aufmerksamkeit und der Deutungen im Rhythmus des Denkens und Erlebens der Einzelnen und der vielen, die da mit bestimmten Erwartungen an diesem Ort versammelt sind. Dieses stumme Gewebe aus gleichzeitigem Denken, Vorstellen, Erinnern und Vergleichen, das sich über die ästhetische Aktion und die Gruppe der Wahrnehmenden legt und beides als Einheit erfahren lässt, dieses Phänomen nenne ich den ästhetischen Raum: den EchoRaum, den Raum, der sich zwischen Handeln und Betrachten auftut. Das genannte Beispiel aus der Inszenierung Jürgen Goschs etwa zeigt diesen Raum in mehreren Überschichtungen. Es ist nicht zuletzt ein Raum der Stille und der inneren Bewegungen. Dieser Raum setzt die Wirklichkeit des ästhetischen Vorgangs wie die Erfahrungs-Wirklichkeiten aller voraus. Friedrich Schiller spricht da von dem „ästhetischen Schein“23 der Handlungen, der im Gegensatz zum täuschenden Schein das Wirkliche und im Wirklichen Verborgene aufdeckt. Das ist nicht so sehr weit von Brechts Forderung entfernt, im Theater die „Vorgänge hinter den Vorgängen“24 aufzudecken. Exkurs III: Die dialektische Beziehung von Prozess und Produkt Barbara Gronau spricht von einer aktuellen Tendenz im Theater: Inszenierungen werden zu „Projekten“, das Produkt „tritt in den Hintergrund“ oder „Werke“ werden „in performative Prozesse aufgelöst“ 25. Die Auflösung der „Werke“ in „performative Prozesse“ erscheint auf zwei Ebenen: In der Dekonstruktion der Stücke gestaltet
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sich die Vorlage, das Werk, im Prozess der Aufführung gleichsam neu. Das Stück wird zum Steinbruch, Entwicklungen werden gerafft, die Kontinuität der Geschichten oder Bildfolgen zerfällt. Und: Im performativen Prozess verwischen sich Umrisse von Figuren, sie werden fragmentiert oder sind gar nicht angedacht. Ästhetisch zu relativieren wäre also die Orientierung an der durchgehenden Figur und vielleicht durch das „Produkt des Agierens“ zu ersetzen. Dieses Produkt träte also nicht in den Hintergrund, sondern käme erst richtig in den Blick. Denn: Performative Prozesse enthalten immer auch produkthafte Momente. Sie gehören zum Kernbestand des Agierens vor anderen. Sie – nicht die fließenden Prozesse – sind es auch, die im Gedächtnis bleiben: die Pointen, tableau-artige Bilder, in denen prozesshafte Momente pointiert in einer Gedanken-Fermate und ihrem emotionalen Nachhall sich treffen – ein überraschender Blick, ein vorübergehendes Anhalten der Aktion, ein Moment der Verlangsamung. Das „unterbrechende“ Auge gibt ihnen den „Rahmen“. Das gilt auch für das Moment des Betrachtens in der schauspielerischen Aktion – die Gedichte Brechts sprechen davon. Zu relativieren wäre also auch die Orientierung an durchgehenden Prozessen. Walter Benjamin sieht das als eine dialektische Beziehung: Mit Blick auf Brechts gestisches Prinzip spricht er von der „Rahmung“ des Vorgangs. „Diese strenge, rahmenhafte Geschlossenheit jedes Elements einer Haltung, die doch als ganze in lebendigem Fluss sich befindet, ist sogar eines der dialektischen Grundphänomene der Geste.“ 26 Diese Rahmung steigert die Aufmerksamkeit für eine Aktion: in der Genauigkeit des Vollzugs und in der Wahrnehmung des Zuschauers. Damit entsteht – auch in dieser Sicht – im performativen Prozess das Produkt. Ihrer Funktion nach sind diese produkthaften Momente die Orte des Denkens und der Sinn-Assoziation. Sie produzieren die dichteste Nähe zwischen Akteuren und Zuschauern und ihres Dialogs. An diesen „Tableaus“ (Benjamin) setzt – eben weil sie Prozesse anhalten oder verzögern – immer wieder die Sinnsuche der Zuschauenden an und mit ihr die „Vibration“ zwischen ästhetischen und sozialen Wirklichkeiten. Hans-Thies Lehmann verweist zwar auf mögliche, „affektiv“ bedingte Abwege des Denkens, wenn sich „das Performative vordrängt“: Da indessen die Wahrnehmung nicht aufhört, nach Sinn im Sinne von Verknüpfungen und Assoziationen an Realitäten zu fahnden, wird der sinnlichen Wahrnehmung die Erfahrung unumgänglich, dass […] sie den Daten subjektiv determinierte Bedeutungen zuschreibt.27
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Das ist wohl wahr und könnte zu einem Prozess wechselseitigen Verfehlens führen – allerdings nur scheinbar. Denn es geht im Ästhetischen auf beiden Seiten immer um subjektive Wirklichkeiten: um subjektive „Verknüpfungen und Assoziationen an Realitäten“ und daher immer um je eigene „Vibrationen“ zwischen ästhetischen und sozialen Wirklichkeiten. Missverstehen ist insofern nicht notwendig in Opposition zum Verstehen zu denken, sondern eher als dessen konstituierendes Teilelement.28 Je komplexer und brüchiger das Performationsangebot ist, desto komplexer und vielschichtiger gestaltet sich die Suche nach Sinn – im Handeln wie im Betrachten. In jedem Figurenrest erscheint das Gegenüber der Welt, jede fragmentarische Äußerung oder Haltung fordert dazu auf, eine Gestalt, eine Ganzheit zu entwerfen. Auch wo performative Elemente sich „vordrängen“, erscheint die Referentialität stets schattenhaft neben oder in ihnen – als Vorschein eines möglichen Sinns. Und selbst da, wo Schauspieler vorgeben, nichts zu sein als sie selbst, sind sie für den, der zuschaut, immer zugleich ein Bild für etwas, eben weil sie agieren, weil sie da sind. Selbst rein artistische Aktionen wie Jonglieren oder Balancieren finden ihren Weg in die Sprache als Metapher. Das Referentielle ist dem Performativen – zum Glück – nicht auszutreiben, weil wir, wo wir ästhetisch handeln, Theater machen oder sehen, immer auch leben. Das Referentielle bildet sich im Performativen und umgekehrt – selbst wenn der Sinn rätselhaft, schillernd oder widersprüchlich erscheinen sollte: Das ist das Dialektische an diesen Verhältnissen.29 Theater ist und bleibt Meta-Praxis. Und – wie Heiner Müller sagt: Die Metapher ist „immer klüger als der Autor“30, eben vielschichtiger, tiefsinniger auch als der einzelne Zuschauer. Sie eröffnet mehr, als ein Einzelner denkt oder denken kann. Dem entspricht das vielfältig verflochtene Sinngewebe des ästhetischen Raums. Figurenfragmente und chorische Arbeit Die Dramaturgie scheinbar figurenloser Stücke oder Theaterereignisse oder auch die Arbeit mit Figurenfragmenten schließt im Schauspielerischen an das an, was Brecht das „Zusammenfügen widersprechender Züge“ beim „Aufbau der Figur“31 nennt. Das mehrschichtige Zusammenfügen der Einzelelemente ist insofern eine nicht ganz neue, aber eine in neuen Zusammenhängen neu herausfordernde Aufgabe. Auch das Sprechverhalten geht damit von widersprüchlichen Aktionsimpulsen aus. Das erfordert ein Spiel in der Diskontinuität zwischen Fragmenten von Figuren und Vorgängen, oft in abruptem Wechsel, auch mit Schnitten zwischen der eigenen Person und der Figur – eine sprunghafte und
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vor allem sprungbereite Grundhaltung also dem Material gegenüber. Das gilt ebenso für die Situation. Ihre Auffächerungen reichen von der grundlegenden Konfrontation der Akteure mit dem Publikum, auch mit dem Schritt ins Publikum in der Ansprache als reale Person, über die innerszenische Situation, das Miteinander auf der Bühne, einschließlich des künstlerischen Akts selbst mit und vor anderen, der Situation des Gestaltens, des Produzierens. Sie reichen damit weit über die gewohnte Situation der verdeckten Konfrontation im Handeln von Figuren: die dramatische Situation hinaus. Auch diese Widersprüche, die Brüche und Schnitte und der womöglich sprunghafte Umgang mit ihnen, der jeweils wechselnde Gestus, sind neue Herausforderungen. Gerade monologisch oder offen konzipierte Textvorlagen oder Textflächen etwa von Heiner Müller oder Elfriede Jelinek stellen solche Herausforderungen dar. In der frühen – auch von der Autorin hochgerühmten – Hamburger Inszenierung von Elfriede Jelineks Wolken.Heim (Regie: Jossie Wieler) etwa war die Lösung, den figuren- und situationslosen Text durchweg bestimmten Figuren, einem Ensemble von Offizierswitwen, zuzuordnen und die Grundsituation und die Situationen im Detail szenisch neu zu erfinden.32 Ein anderes Beispiel einer weitgehend situations- und dialogfreien Vorlage ist Heiner Müllers Hamletmaschine. Das Textmaterial geht hier immer nur phasenweise in einer Figur auf, erscheint als Sammlung fragmentarischer Figurenreste, als Gefüge verschiedener Figuren oder mehrerer – zeitlicher oder psychischer – Schichten einer Figur auf wechselnden Denk- und Handlungsebenen, einschließlich der Position des Schauspielers. Die Textvorlage zeigt einen sprunghaften Wechsel des Gestus, der Situationen und der äußeren und inneren Orte. Noch radikaler bruchstückhaft liest sich Heiner Müllers Verkommenes Ufer: See bei Straußberg Verkommenes Ufer Spur Flachstirniger Argonauten Schilfborsten Totes Geäst DIESER BAUM WIRD MICH NICHT ÜBERWACHSEN Fisch leichen Glänzen im Schlamm Keksschachteln Kothaufen FROMMS ACT CASINO Die zerrissenen Monatsbinden Das Blut Der Weiber von Kolchis SCHLAMMFOTZE SAG ICH ZU IHR DAS IST MEIN MANN STOSS MICH KOMM SÜSSER
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Bis ihm die Argo den Schädel zertrümmert das nicht mehr gebrauchte Schiff Das im Baum hängt […]33 Von „Textfläche“ zu reden, wäre hier zu harmlos: Es ist unwegsames Textgelände. Heiner Müllers Momentaufnahmen zeigen verstörte Lebenswelten: Banalitäten, versetzt mit Brutalitäten und mythologischen Fundstücken. Im Zusammenstoß bekommt das Banale mythische Dimension und umgekehrt. Der Autor wünscht sich in seinen Hinweisen bemerkenswerterweise einen „Naturalismus der Szene“ für den Text, darüber hinaus macht er den jeweiligen Ort der drei zusammengehörigen Textteile (VERKOMMENES UFER/MEDEAMATERIAL/ LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN) gleichsam austauschbar und spricht von einer „Gleichzeitigkeit der drei Textteile“, die auch „beliebig dargestellt werden“ kann.34 Das könnte die Bruchstücke von Figuren und die Brüche in den situativen Aufsplitterungen – und damit die innewohnenden Herausforderungen – noch markanter und unversöhnlicher im Neben- und Zwischeneinander machen. Frank Raddatz spricht hier von einem „offenen Raum des Gewesenen“ und von vertikalen Strukturen – in einer Art Absetzung von der Brechtschen Tradition des „linearen Erzählens“ – und sieht Korrespondenzen zu den Vorstellungen Walter Benjamins: Die Transformation des epischen Theaters in ein Konzept der Vertikale, wie es das Müller’sche Theatermodell darstellt, verdankt sich Benjamins Reserve gegenüber allzu mechanistisch-linearen Erklärungsmustern.35 Eine Umsetzung solcher Texte – gerade des oben zitierten Textes – ließe sich aufgesplittert in einzelne Worte, Äußerungen oder Textballungen mit emotionalen Brüchen in monologischen oder auch chorischen Gruppenaktionen denken, welche die äußeren und inneren Orte, die Situationen und ihre Schichtungen sichtbar und erfahrbar machen könnten. Dimiter Gotscheffs Inszenierung im Deutschen Theater Berlin allerdings wich dieser Herausforderung aus und ließ die zerstückten Räume, die Brüche und Wundstellen des Verkommenen Ufers in einem ruhigen, langsam vorrückenden Frontal-Chor dreier Akteure nahezu im Situationslosen verschwinden.36 In meiner eigenen Arbeit mit Studierenden fand die Auseinandersetzung mit Fragmenten oder Überschichtungen von Figuren ihren natürlichen Ansatz in der Gruppenarbeit – so etwa in den Shakespeare-Split-
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tern: Diese Arbeit mit szenischen Fragmenten Shakespeares zielte auf gestisch-situative Miniaturen in je besonderen Zuwendungen oder Haltungen – Julias Monolog mit Schlaftrunk und Dolch etwa („Lebt wohl … Gott weiß, wann wir uns wiedersehn …“) wurde aufgeteilt auf mehrere Spielerinnen, in unterschiedlicher innerer emotionaler Verfassung und äußerer Orientierung: jeweils gerichtet auf Mitspieler oder Dinge im Umkreis, auf Romeo, den Grafen, die Amme, den Mönch, das Grabgewölbe, den Schlaftrunk, den Dolch – in einer Ausstellung des gespaltenen inneren Orts, aber immer auch in wechselseitiger Zuwendung.37 In dem Projekt Shakespeares Narren (1986/87) trafen Narren aus verschiedenen Stücken Shakespeares – auch aus Stücken, in denen es im Original keine Narren gibt, auf einer „Narreninsel“ zusammen – nach dem Vorbild alter Narren-Akademien. Im Spiel „szenischer Zitate“ konnten alle Figuren Shakespeares auftreten, immer aber im Gestus, im Zerrspiegel der Narren.38 Der Sprechchor hat eine eigentümliche Wiederauferstehung erlebt – aktuell war er als Sprech- und Bewegungschor in den 1920er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Auch der Chor in Brechts Lehrstücken ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Seit Schleef ist er wieder in aller Munde: Beim Schauspielschultreffen 2012 in Berlin ließ kaum eine Gruppe diese Aktionsform aus. In aktuellen Inszenierungen heute ist chorisches Sprechen schon fast zwanghaft – ein Muss. In Brechts Lehrstücken ist der Chor der Funktion nach Gruppenreflexion – das gilt etwa auch für die Maßnahme, ein Gruppen-Resümee, dem die Diskussion vorausgeht oder folgen sollte. Castorfs Inszenierung in der Volksbühne Berlin (2012) wich davon aufschlussreich ab. Schon die Komposition Hanns Eislers macht ja den Chor zu einer musikalisch übergeordneten, unanfechtbaren Instanz. Die Musik, so schön sie sein mag, übermalt so die ursprüngliche Funktion: den Diskurs. Das verstärkt sich hier durch das Moment des Dirigierens. Der Dirigent – hier live und zugleich in Großprojektion sichtbar – wird zum Theaterelement: einer ordnenden herrscherlichen „Figur“.39 Eine ähnliche Erfahrung machte ich in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen in der Regie Michael Thalheimers (bei einem Wiener Gastspiel 2015 im Deutschen Theater Berlin): Während der emotionalen chorischen Anklage der Schutzbefohlenen, im Wasser stehend, spürte ich – in der letzten Reihe sitzend – heftig zuckende Bewegungen hinter mir. Mich umwendend, sah ich in der Beleuchterklause einen Mann zackig akzentuierend vor sich hin dirigieren – den Spielern sicher per Bildschirm präsent. Dieses ver- bzw. so ent-deckte Dirigieren machte die emotionale Anklage rückwirkend fast zu einem exerzierten „Auftrag“. Diese Sprechchor-Dirigate sind – im
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Gegensatz zu solchen komplexer musikalischer Abläufe – zumeist ein rein rhythmisches Taktieren (ähnlich dem in Laienorchestern), das eine Gruppe dazu zwingt, sich gleichförmig zu verhalten und zu sprechen. Im Theater führt dirigiertes Chorsprechen – so könnte man zugespitzt sagen: zur „Enteignung“ schauspielerischer Tätigkeit; es legt die Austauschbarkeit der Akteure nah und reduziert individuelle gedankliche Hintergründe weitgehend zugunsten kollektiven Verhaltens. Ist der Dirigent im Bühnengeschehen sichtbar, wird er zu einer dominanten Figur. Das relativiert sich, wenn die Chorgruppe sich sichtbar selbst dirigiert, allerdings nur graduell. Für mich wäre die Arbeit mit chorischen Elementen dagegen immer zugleich eine situative und eine gestische: eine aus Haltungen bestimmter Menschen und ihrer Intentionen entwickelte Aktionsform in einer von allen mitgestalteten Situation. Ein nachhaltiges Chorerlebnis in diesem Sinn war für mich der Chor der Männer in Peter Steins Orestie an der Schaubühne (1980), eine aufgeregte wirre chorisch gesplitterte Diskussion alter Männer, die immer wieder (scheinbar spontan) zu gemeinsamen Ausrufen und Anrufen zusammenfand. Die eigene Arbeit mit Chören orientierte sich in manchem daran. Sie fand wie die Arbeit mit Figurenfragmenten ihren Ansatz in der Gruppenarbeit, oft als zunächst stumme Gruppenübung – etwa durch Figuren im Gruppengestus: In Kleists Amphitryon etwa (I/1) wird die Sosias-Figur – eine Lichtung betretend – in ihrem Eingangsmonolog zur Gruppe in widersprüchlichen Haltungen und Emotionen und wechselnder Ausrichtung der Blicke und Zuwendungen. Die Äußerungen, aufgeteilt dem Textverlauf folgend, stoßen zusammen oder bündeln sich: „Heda! Wer schleicht da? Wenn der Tag anbräche, wär’s mir lieb …“40 Oder: Eustache in Kleists Familie Schroffenstein (III/2) wird zur Frauengruppe in einer FrauenMauerschau. Am Fenster stehend, beobachten sie einen Lynchmord und suchen einen Mann zu bewegen, dagegen einzuschreiten: „Um Gottes Willen! Rette, rette – Alles / fällt über ihn – Jeronimo! das Volk / mit Keulen …“41 Oder: die Beschimpfungen Kents in Shakespeares König Lear (II/2) werden zur frontalen Aggression einer Gruppe gegen einen Einzelnen mit verteilten oder auch kompakten Textelementen: „Ein Schurke bist du, ein Tellerlecker, ein niederträchtiger, eitler, hohler, bettelhafter, grobstrümpfiger Schurke!“42 Oder: Mörikes Feuerreiter wird zum situativen Sprechchor. Die Sprechimpulse kommen unmittelbar aus den „gesehenen“ Vorgängen oder Berichten. Der Grundgestus der Gruppe orientierte sich dabei an Modellen der Mauerschau, der Gerüchteküche, des Botenberichts, der Legendenbildung – sie variieren die Art des chorischen Miteinanders je nach Anlass und situativem Impuls.43
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Selbstverständlich kann Musik die Wirkungen von Sprechchören stimulieren, wenn der Sprechvorgang ihr folgt und zugleich (im Sinne Brechts) auch nicht folgt, sondern den sozialen Gestus realisiert. In dem Versuch zu Brechts Mahagonny (1987/88) etwa wurden Gesangsensembles zu rhythmisierten Sprechchören – so die „Brandmarkung“ Paule Ackermanns, angestachelt von Witwe Begbick, dem Dreieinigkeitsmoses und Willy dem Prokuristen (Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny/9): „Das sind die Paules, Paules, Paules aus Alaska schon / Die hatten’s schlimmer dort als selbst die Toten / und wurden reich davon! Und wurden reich davon.“ Der Sprechchor bringt die emotionale Schärfe, die skandierte Aggression echter Spottchöre wieder in den Vorgang ein, die ein Gesangsensemble häufig verliert. Ähnlich scharf und aggressiv klingt auch die neue Verhaltenslehre (Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny/11): „Wenn es etwas gibt / Was du haben kannst für Geld / Dann nimm dir das Geld! / Wenn einer vorübergeht und hat Geld / Schlag ihm auf den Kopf und nimm dir sein Geld! / Du darfst es!“ Dem Sprechchor, im Original-Rhythmus instrumental begleitet und auch im Sprechton durchaus orientiert an der Weillschen Musik, fehlt ein wenig die Süffigkeit der Musik, aber auch die fast unvermeidliche „Verhübschung“ der Situation durch ausgesungene Stimmklänge. Die Schärfe entsteht aus einem – nicht dirigierten – kollektiven Gestus der Aggression, der aus dem gleichgerichteten Gestus Einzelner sich herausbildet. Das wiederkehrende Schlussbekenntnis „Du darfst es!“ wurde – abweichend von Weill – in freien atonalen Akkorden ausgesungen.44 Das charakteristische Moment des Chorischen ist in diesen Beispielen also nicht das exakt Dirigierte, sondern das aus der Situation, dem Gestus, dem Miteinander der Blicke und Vorstellungen immer wieder neu Entstehende. In dem Projekt Artaud (1984) wiederum wurde mit freien, nicht dirigierten Chören in musikalisch-choreografischen Strukturen bis hin zu Chorpartituren gearbeitet. Material waren Tagebücher, Briefe, Gedichte und programmatische theaterästhetische Prosa Artauds.45 Das Individuum Artaud erschien als aufgesplitterte Diskurs-Gruppe nach dem Modell eines Literatencafés, als ästhetischer Diskurs, als Ideenproduktion in Widerspruch und Korrespondenz. Spezifische Formen waren der Kanon oder auch der Igel – Rücken an Rücken in einer Art Verteidigungsposition –, die Textstacheln chorisch nach außen gerichtet, oder resignierend: der zerfallende Igel. Oder dies: Die Spieler, verstreut im Raum, sprechen vor sich hin, kommen über Blicke und körperliche Zuwendungen zu gemeinsamen Äußerungen, schließlich in immer dichteren Aktionseinheiten zu einer Art „Gruppenexplosion“:
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Schauspielkunst – ihre Praxis und ihre Vermittlung
Wer bin ich, woher komme ich Ich bin Antonin Artaud Und wenn ich es sage, wie ich es sagen kann Werden Sie auf der Stelle Meinen jetzigen Körper zersplittern Und sich unter zehntausend notorischen Aspekten Einen neuen Körper zusammenraffen sehen In dem Sie mich nie mehr vergessen können. Ähnlich ausagiert wurde die Miniatur „Eine Idee wird Programm“. Es sind auch in dieser programmatischen Selbstverständigung ausschließlich die Blicke und körperlichen Zuwendungen der Spieler, die den chorischen Gestus zuwege bringen: Alles muss haargenau in eine tobende Ordnung verwandelt werden! Die komplexeste chorische Form des Projekts ging aus von einer chorischen Sprechpartitur, die mit vorgegebener Textaufteilung in gestischer Zuwendung ausagiert wurde. Das Grundmodell ist auch hier der gemeinsame Diskurs, eine Situation des gemeinsamen Denkens und Redens. Momente des zersplitterten Chorklangs entstehen aus der Zustimmung, der Bestätigung, der schnellen Aufnahme, Momente des synchronen oder geballten Chorklangs aus der plötzlichen Gleichzeitigkeit eines Gedankens, einer Vorstellung, einer von allen bejahten Idee. Die Situation kann in ein realistisches Diskussionsambiente, ein Literatencafé etwa, oder in einen abstrakten Spielraum gebettet sein. Es können sich kleine Gruppierungen, Führungsfiguren herausbilden, der Redeton kann wechseln von kühler Intellektualität, Witz, Vision zu fiebriger Hitzigkeit. Entsprechend dem Charakter des Manifests muss der gruppeninterne Diskurs immer wieder umschlagen in eine Wendung an die Öffentlichkeit, an die „Welt“. Die Vorgaben der Partitur können letztlich – nach einer eher „strengen“ Vorlaufphase – auch in freiere improvisierende Formen des Miteinanders übergehen:
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Hans Martin Ritter
Das Theater und die Pest – Manifest des Theaters der Grausamkeit 1 Das Theater 2 ist der Zustand 3 der Ort 4 die Stelle 5 wo die menschliche Anatomie begriffen 6 und durch diese das Leben geheilt und regiert werden kann. 1 Die Sprache der Bühne wird ihrem Wesen nach zerstörerisch sie wird das Chaos beschwören 2 bedrohlich sie wird das Chaos beschwören 3 anarchisch sein sie wird das Chaos beschwören 4 sie wird das Chaos beschwören 5 sie wird das Chaos beschwören 6 sie wird das Chaos beschwören 1 und auf gleicher Stufe mit dem Leben auch die Zerstörung des Lebens 2 auch die Zerstörung 3 auch die Zerstörung 4 und auf gleicher Stufe mit dem Leben auch die Zerstörung 5 auch die Zerstörung des Lebens. 1 Zahnarzt 2 Zahnarzt 3 Zahnarzt 4 Zahnarzt 5 Zahnarzt 6 Von da an wird der Zuschauer ins Theater gehen wie zu einem Chirurgen oder Zahnarzt 1 wie bei einer Polizeirazzia 2 wie bei einer Polizeirazzia 3 wie bei einer Polizeirazzia 4 wie bei einer Polizeirazzia 5 In demselben Geisteszustand wie bei einer Polizeirazzia 6 oder wie bei einer Polizeirazzia.
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Schauspielkunst – ihre Praxis und ihre Vermittlung
1 Wie die Pest ist das Theater eine Krise, die mit dem Tod oder der Heilung endet. 2 die mit dem Tod oder der Heilung endet 4 eine Krise – die mit dem Tod oder der Heilung endet. 1 nichts übrigbleibt als der Tod 2 nichts übrigbleibt als der Tod 3 Und die Pest ist ein höheres Leiden, 4 weil sie eine vollständige Krise ist 5 nach der nichts übrigbleibt als der Tod … 1 Oder eine Läuterung ohne Maß 4 Oder eine Läuterung ohne Maß 6 So ist auch das Theater ein Leiden 2 Es lädt den Geist zu einer Raserei ein – 4 Steigerung seiner Energien 5 zu einer Raserei ein, die zu einer Steigerung seiner Energien führt 6 zu einer Raserei ein, die zu einer Steigerung seiner Energien führt. 1 Wie die Pest ist also das Theater ein mächtiger Anruf von Kräften 2 mächtiger Anruf von Kräften, die den Geist wieder an den Ursprung seiner eigenen Konflikte zurückführen. 3 den Geist an den Ursprung seiner Konflikte zurückführen 6 Wenn das wesentliche Theater wie die Pest ist, so nicht deshalb, weil es ansteckend wirkt, sondern weil es wie die Pest die Offenbarung 1 das Hervorbrechen – Grausamkeit 2 Grausamkeit 3 Grausamkeit 4 die Offenbarung – Grausamkeit 5 die Herausstellung – Grausamkeit 6 das Hervorbrechen einer latenten Tiefenschicht an 6 einer Tiefenschicht an Grausamkeit bedeutet, durch die sich in einem Einzelwesen oder in einem ganzen Volk alle perversen Möglichkeiten des Geistes lokalisieren. (…) 1 Und deshalb: schlage ich ein Theater der Grausamkeit vor 2–6 schlage ich ein Theater der Grausamkeit vor. 191
Hans Martin Ritter
Epilog Einige Anmerkungen zu der Hamburger Uraufführung von Elfriede Jelineks Am Königsweg im Herbst 2017 könnten meine Ausführungen zusätzlich erläutern. Die Inszenierung von Falk Richter, auch eingeladen zum Theatertreffen 2018 in Berlin, lässt – in Analogie und zugleich im Widerspruch zu Erika Fischer-Lichtes Wahrnehmungen – zwar die performativen und visuellen Mittel explodieren, besteht aber zugleich auf direkten Verweisen auf die Wirklichkeit – vielleicht allzu direkten (Trump/Populismus), um in Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit noch als Metapher gelten zu können. Charakteristisch an der Inszenierung ist, dass die „Textflächen“ Elfriede Jelineks hier kaum ein Ensemblespiel, ein wechselndes Miteinander der Akteurinnen und Akteure zuwegebringen, sondern überwiegend Einzelaktionen – mit zum Teil virtuos überdrehten Figurenansätzen – oder auch mikrofonverstärkte Deklarationen von Meinungen über das Publikum hinweg oder Popsongs. Fast könnte man in Anlehnung an die alte Opernästhetik von politisch aufgerauten „Arien“ an der Bühnenrampe sprechen, auch die gute alte „Rampensau“ zeigt sich in neuem Licht. Einzig eine Stimme findet in ihren Soli als Alter Ego Elfriede Jelineks einen menschlichen Ton, der nicht das Publikum als „Block“ nur überfährt und beeindrucken will, sondern von Gefühlen und Gedanken eines einzelnen Menschen spricht und damit Gefühle und Gedanken auch in den einzelnen zuhörenden und zuschauenden Menschen anspricht und auslöst. Da entsteht in den Pausen des Gesagten, in der Stille des Nachdenkens, des Erinnerns, des Vergleichens und inneren Nachfragens, was für ein Mensch das ist, der da spricht, so etwas wie ein geheimer Dialog, eine gemeinsame Situation: der von mir so benannte „ästhetische Raum“. Die Pressereaktionen zur Uraufführung in Hamburg – eindeutig und dennoch gespalten – enthalten den wiederkehrenden Verweis auf die überraschende Wirkung gedachter und erlebter Worte und Haltungen dieser Schauspielerin ebenfalls. Michael Laages nennt im Deutschlandfunk die Aufführung „ein theatrales Ballerspiel […] bis zum Abwinken“: „Doch dann nimmt sich […] Ilse Ritter des Textes an – und veredelt Richters spektakulären Kraftakt endgültig zum Ereignis.“46 Falk Schreiber spricht auf nachtkritik.de von einem „Kindertheater des Grauens, mit Teufels-Handpuppe“ und von einem „bühnentechnischen Overkill […] mit Freude daran, […] aus allen Rohren zu feuern“. Aber auch bei ihm wird diese Schauspielerin ein Gegenpol: Es ist schon sehr klug, hier eine Autorin zu zeigen, die sich im Zustand der Selbstauslöschung befindet: „Lasst von mir ab, das
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Schauspielkunst – ihre Praxis und ihre Vermittlung
macht ihr ohnedies, lasst von mir ab, denn ich bin krank und verstehe nichts.“47 Und Irene Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Das schlechte alte Poptheater gibt Gas wie bekloppt, verliert jedoch bald die Orientierung und kracht halt- wie hirnlos gegen die undurchdringlich düstere Denkwand dieses Dramas. […] Nur eine ist an diesem Regiehöllenfahrtskommando nicht beteiligt, obwohl sie mittendrin steckt: die große Ilse Ritter: […] ein ätherisch-gefasster Fels in der Regiebrandung, klug und wissend, humorvoll im Untergang und theatralisch in konzentrierter Zurücknahme, ganz ruhig, ganz klar den Satzmäandern folgend und deren Sinn erspürend: „Mein Wort ist verrückt geworden, wahrscheinlich, weil es glaubte, mich verloren zu haben, aber ich verliere keine Worte, bitte seien Sie mir nicht böse und hören Sie lieber nicht auf mich!“ Umgekehrt: in Falk Richters nichtssagender Inszenierung ist es wirklich am besten, Ilse Ritter zuzuhören, zuzuschauen – und zu danken für die paar Momente von Stille und Lauterkeit, von schwereloser Intensität und künstlerischer Wahrhaftigkeit.48 Insgesamt gesehen, zeigt sich in diesen Reaktionen eine wiederkehrende – letztlich durchaus positiv zu wertende – Erfahrung von Brüchen und Widersprüchen zwischen performativ sich selbst genügenden und sprachlich-gedanklichen Momenten, zwischen Bühnenexzessen und Stille. Ein Resümee nicht nur in dieser Sache könnte sein, dass ein Publikum notwendig immer wieder nach einem metaphorischen Blick auf die Wirklichkeit verlangt, um über das Staunen, die Verblüffung oder auch – postiert an der Außenkante der Ereignisse – über die Faszination durch ein Spektakel hinaus in einen gemeinsamen Raum der „Reflexion über sich selbst“ (Novalis) hineinzufinden. Oder – mit Heiner Müller zu sprechen: „Wenn die Diskotheken verlassen und die Akademien verödet sind, wird das Schweigen des Theaters wieder gehört werden, das der Grund seiner Sprache ist.“49 Das Statement Harald Müllers im Anschluss an meinen Vortrag wiederum verwies zu Recht auf eine notwendige Neubewertung und Sichtung der aktuellen Gegenstände und der Ästhetik von Theater über die steuernden Modebegriffe der Theaterwissenschaft – das postdramatische wie das performative Dogma – hinaus. Ein neuer „Realismus“ – vgl. die neue Realismus-Diskussion50 – kann allerdings weder ausschließlich in einer politisch korrekten Abbildung aktueller sozialer und politischer Situationen und Konflikte beste-
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hen, gegebenenfalls unter Einbeziehung „Betroffener“, noch in der Bebilderung politisch ideologischer Begriffe wie Populismus, Neoliberalismus, Postkolonialismus, Critical Whiteness oder Diversität oder auch der Fakten von Flucht und Migration, die häufig vor allem der Markierung des je eigenen richtigen Standpunkts im theatralen Geschehen dienen. Realismus im Theater ist letztlich nicht nur eine Frage aktueller Gegenstände und ihrer „korrekten“ Widerspiegelung im Ästhetischen, ist vor allem nicht im monologischen oder chorischen Diktat der Meinungen von Okkupanten der Wahrheit und des richtigen Standpunkts zu suchen und zu finden, sondern wesentlich in der „Realität des Augenblicks“, der übergreifenden Situation eines Dialogs zwischen Bühne und Parkett, eines Dialogs der im Frage- und Deutungsraum des Ästhetischen sich abspielt – und dabei nicht „Realität heuchelt“, wie es Schiller ausdrückt,51 sondern das im Wirklichen Verborgene aufzudecken sucht oder (mit Brecht) die „Vorgänge hinter den Vorgängen“. Die aktuelle Schauspielausbildung wäre herausgefordert, gerade dieses Moment einer dialogischen Existenz auf der Bühne verstärkt zu entwickeln und darin mit den ästhetischen Widersprüchen produktiv umzugehen.
1
Das Gestische Prinzip erschien in der Vorfassung als graue Publikation PH Berlin 1975, endgültig unter dem Titel Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht, Köln 1986, Ausgangspunkt: Brecht – Versuche zum Lehrstück, Recklinghausen 1980, Dem Wort auf der Spur, Köln 1989, Spiel- und Theaterpädagogik als Modell, Berlin 1990. Durch die theoretische und praktische Beschäftigung mit Brechts eigenen Liedkompositionen, den Liedern der Hauspostille kam es 1974 auch erstmals zur Zusammenarbeit mit Hans-Thies Lehmann – vgl. Lehmann, Hans-Thies/Lethen, Helmut: Bertolt Brechts „Hauspostille“. Text und kollektives Lesen, Stuttgart 1978. Die Schriften zur Schauspielausbildung und zur Bühnenpraxis erschienen später: Wort und Wirklichkeit auf der Bühne, Münster 1997, Sprechen auf der Bühne, Berlin 1999, Der Schauspieler und die Musik, Berlin 2001, ZwischenRäume. Theater-Sprache-Musik, Milow 2009, Nachspielzeit, Berlin 2014.
2
Ritter, Hans Martin: „Bertolt Brecht – unterm Strasberg begraben. Abwicklung oder Entwicklung der Brechtschen Theatertheorie in der Schauspielausbildung“, in: Silberman, Marc/Tatlow, Antony/Voris, Renate/Weber, Carl (Hrsg.): Der andere Brecht I. Das Brecht Jahrbuch 17, Wisconsin 1992, S. 63–74.
3
Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, auch: FischerLichte, Erika: „,Ah, die alten Fragen …‘ und wie die Theatertheorie heute mit ihnen umgeht“, in: Nickel, Hans-Wolfgang (Hrsg.): Symposion Theatertheorie, Berlin 1999, und: Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999/2001 (2. Auflage).
4
Lehmann: Postdramatisches Theater (2001), S. 27.
5
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 525.
6
Ebd., S. 508.
7
Lehmann: Postdramatisches Theater (2001), S. 48.
194
Schauspielkunst – ihre Praxis und ihre Vermittlung
8
Ebd.
9
Michalzik, Peter: „Sprechkrise“, in: Deutsches Theater Berlin: Autorentheatertage 2015, Programmheft, S. 1.
10
Vgl. den Pressebericht über die Eröffnung der Autorentheatertage im Deutschen Theater Berlin von Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung vom 15. Juni 2015.
11
Fischer-Lichte, Erika: „,Ah, die alten Fragen …‘ und wie die Theatertheorie heute mit ihnen umgeht“, in: Nickel, Hans-Wolfgang (Hrsg.): Symposion Theatertheorie, Berlin 1999, S. 25.
12
Müller, Heiner: Theater ist kontrollierter Wahnsinn, hrsg. v. Detlef Schneider, Berlin 2014, S. 24 und 47.
13
Volksbühne Berlin: Programmheft November 2017.
14
Ritter: Handeln und Betrachten, graue Publikation PH Berlin 1975, gekürzt in: Fragstein, Thomas/Ritter, Hans Martin (Hrsg.): Handeln und Betrachten. Beiträge zu einer Theorie der Spiel- und Theaterpädagogik, Berlin 1987, Theaterpädagogik 6 (Hochschule der Künste Berlin), S. 10–13.
15
Novalis: Schriften, Bd. 3, Stuttgart 1960, S. 681.
16
Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke, Bd. 17, Frankfurt/M. 1967, S. 1023.
17
Ebd.: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 753. Ein entscheidender Bedeutungsaspekt in dieser Brechtschen Bezeichnung „absonderbar“ ist der Akzent: nicht „absonderlich“, sondern „isolierbar“ ist gemeint, daher hier der Hiatus „ab-sonderbar“. Vgl. Ritter: Das gestische Prinzip, S. 22.
18
Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 778.
19
Ebd., S. 787.
20
Ebd., S. 788.
21
Brook, Peter: Der leere Raum, Berlin 1983, S. 9.
22
Vgl. Stanislawski, Konstantin S.: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Teil I. Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens, Berlin 1981, S. 91–117.
23
Vgl. Schillers Begriff des „ästhetischen Scheins“ in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 26. Brief: Die Kunst des Scheins, in: Schiller, Friedrich: Werke in 2 Bänden, Bd. I, S. 581–585.
24
Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 256–259.
25
Gronau, Barbara: „Kunst als Projekt und als Verschwendung. Zum Verhältnis von Theater und Ökonomie“, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik Heft 64 (2014), S. 12.
26
Benjamin, Walter: Versuche über Brecht, Frankfurt/M. 1966, S. 9.
27
Lehmann: Postdramatisches Theater (2001), S. 193.
28
Ritter: „Theater und Denken“, in: Ritter: ZwischenRäume. Theater-Sprache-Musik. Grenzgänge zwischen Kunst und Wissenschaft, Milow 2009, S. 225 f.
29
Vgl. Ritter: „Rolle und Figur. Überlegungen zu Grundfragen einer Sprecherziehung des Schauspielers und zur Diskussion des Ästhetischen in der Sprechwissenschaft“, in: Ritter: ZwischenRäume, S. 41. Vgl. auch Ritter: „Streifzüge zwischen Theater und Performance“, in: sprechen. Zeitschrift für Sprechwissenschaft Heft 60 (2015), S. 52–63.
30
Heiner Müller im Gespräch mit Erdmut Wizisla über die Svendborger Gespräche zwischen Brecht und Benjamin, in: Benjamin und Brecht. Denken in Extremen, hrsg. von Erdmut Wizisla, Berlin (Akademie der Künste, Berlin, Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung) 2017, S. 132.
31
Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 398–04.
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Hans Martin Ritter
32
Vgl. Theater heute. Jahrbuch 1994.
33
Müller, Heiner: Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, in: Müller, Heiner: Herzstück, Berlin 1983, S. 91.
34
Ebd., S. 101. Vgl. dazu auch: Ritter: „Räume im Fluss“, in: Kilger, Gerhard (Hrsg.): Szenogragfie in Ausstellungen und Museen VI, Essen 2014, S. 22 f., auch (bearbeitet) in: Ritter: Nachspielzeit, S. 122.
35
Vgl. Raddatz, Frank-M.: „(Brecht+Kafka) x Benjamin = Müller“, in: Benjamin und Brecht. Denken in Extremen, hrsg. von Erdmut Wizisla, S. 131 und 144 f. Raddatz stellt eine Verbindung her zwischen Walter Benjamins „vertikalem Blick“ auf die Bühne und Heiner Müllers „Traum von einem Theater der Vertikale“.
36
Vgl. Ritter: Räume im Fluss, S. 25 f., auch in: Ritter: Nachspielzeit, S. 127 f.
37
Vgl. ebd.: Sprechen auf der Bühne, Leipzig 2009 (2. Auflage), S. 181–202.
38
Vgl. ebd.: „Theater und Musik“, in: Ritter (Hrsg.): Spiel- und Theaterpädagogik als Modell, Berlin (Hochschule der Künste) 1990, S. 131–134.
39
Vgl. dazu Ritter: „Schwesterliche Zuneigung – schwesterliches Fremdeln. Theater und Musik und das Moment der Verfremdung. Eine Spurensuche mit Blick auf aktuelle Aufführungen“, in: Hillesheim, Jürgen (Hrsg.): Verfremdungen. Ein Phänomen Bertolt Brechts in der Musik, Freiburg 2013, S. 420–422, auch in: Ritter: Nachspielzeit, S. 102–104 (bearbeitet).
40
Ritter: Sprechen auf der Bühne, S. 50 f. und 143–145.
41
Ebd., S. 145 f.
42
Ebd., S. 186.
43
Ebd., S. 258–263.
44
Vgl. ebd.: Theater und Musik, S. 136–139, auch: ebd.: Der Schauspieler und die Musik, S. 170–175. Zu atonalen gleich-rhythmisierten akkordischen Chorklängen, die als „musikalisches Gebrüll“ eine bestimmte emotionale Verfassung von Gruppen ausdrücken können, vgl. ebd., S. 82–84.
45
Vgl. ebd.: Theater und Musik, S. 123–130, auch: Ritter: Sprechen auf der Bühne, S. 263– 272.
46
Deutschlandfunk, 29. Oktober 2017.
47
Schreiber, Falk: „Am Königsweg – Elfriede Jelineks Trump-inspiriertes Stück als hochtourige White-Trash-Horror-Show am Deutschen Schauspielhaus Hamburg von Falk Richter uraufgeführt“, in: nachtkritik, 29. Oktober 2017.
48
Bazinger, Irene: „Lieber nicht zuhören“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. November 2017.
49
Müller zit. nach: Raddatz: (Brecht+Kafka) x Benjamin = Müller, S. 145.
50
Vgl. Stegemann, Bernd: Lob des Realismus, Berlin 2015, Gronemeyer, Nicole/Stegemann, Bernd (Hrsg.): Lob des Realismus. Die Debatte, Berlin 2017.
51
Schiller: Ästhetische Erziehung des Menschen, Werke, Bd. I, S. 584.
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Leo Hofmann
FLÜCHTIGKEIT UND FIXIERUNG Die Stimme im Theater aus Sicht eines Medienkünstlers -
„Der Sinn der technischen Welt verbirgt sich“ Martin Heidegger1 Theater ist für mich ein Ort der Begegnung. Einer Begegnung allerdings, die nicht nur zwischen Menschen auf der Bühne und der Tribüne stattfindet, sondern auch zwischen Dingen und Räumen – fassbaren wie unfassbaren: Begegnungen, die im Rahmen des Theaters in ihrer Flüchtigkeit bejaht und dadurch intensiviert werden. Nun haben seit einiger Zeit Video- und Audio-Technik Einzug in das zeitgenössische Sprechund Musiktheater gehalten und fordern deren Selbstverständnis als Ort von Unmittelbarkeit und Flüchtigkeit heraus. Dies verdeutlicht sich insbesondere an der Einbindung der menschlichen Stimme in medientechnische Apparate. Die Theaterbesucherin und der Theaterbesucher des 21. Jahrhunderts dürften mit vielen Formen medientechnischer Mittel vertraut sein, doch obschon sich deren Einsatz in den letzten Jahrzehnten umfassend etabliert und normalisiert hat – und nicht zuletzt in neuen Konventionen und ausdifferenzierten Handschriften mündete –, geht mit dem Einsatz von reproduzierter Stimme im Sprech- und Musiktheater noch immer eine formale Unruhe einher – die sich wiederum kreativ nutzen lässt. Aber ist eine Begegnung mit medientechnischen Apparaten möglich? In meiner Arbeit als Komponist und Hörspielmacher bin ich ständig mit den Problemen und Potentialen von Stimme in medientechnischen Zusammenhängen konfrontiert. Im Folgenden möchte ich einige wiederkehrende Beobachtungen und Eindrücke anhand eigener künstlerischer Arbeiten beschreiben und zugleich auf einige hierin verfolgte ästhetische Strategien aufmerksam machen. Meine Fokussierung auf die akustischen Medien ergibt sich nicht nur aufgrund des Profils meiner Praxis, sondern auch, weil gerade im ephemeren Medium des Klangs die Auseinandersetzung zwischen medialer Fixierung und körperlicher (Ko-)Präsenz in Bezug auf ein Nachdenken über das Medium des Theater besonders vielversprechend erscheint. Ich propagiere mit meinen Ausführungen keine allgemeinen Regeln, da ich in meiner Arbeit einige
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Leo Hofmann
sehr spezifische ästhetische Präferenzen setze. In meiner künstlerischen Praxis suche ich beispielsweise immer wieder nach Möglichkeiten, Intimität über maschinelle Verschaltungen herzustellen, oder aber jenseits von standardisierten Verfahren der Vergrößerung oder Erweiterung Medien-Konstellationen zu entwerfen, die Nähe und Distanz verhandeln. Der Hinterraum der Stimme Wer spricht wie und was und in wessen Namen zu wem? Diese Frage zu stellen, ist nicht nur im Theaterraum ein komplexes Unterfangen. Der Kultur- und Medienwissenschaftler Boris Groys erläutert, dass sich jede Stimme in einem Spannungsfeld von Autorschaft und Medialität befindet.2 In seinem Buch Unter Verdacht führt er aus, wie wir hinter der profanen Welt einen „submedialen Raum“ vermuten, der sich hinter den Zeichen verbirgt.3 Aufgrund der unbeweis- und unwiderlegbaren Existenz dieses Hinterraums können wir nie sicher sein, ob sich eine Stimme für ihren Sprecher oder ihrer Sprecherin äußert oder etwas durch sie hindurch Botschaften an uns sendet. Auch wenn sie von „sich“ spricht, könnte dies ein Agent eines anderen Sprechers (oder eines Geistes) sein. Einzig die Behauptung, den Status eines Mediums oder eben eines Autors innezuhaben, allein die (Selbst-)Zuschreibung lässt sich sicher feststellen. Der Anspruch, nun ein Medium oder eben ein Autor zu sein, stellt somit in Konsequenz eine rhetorische Figur dar; ihr tatsächlicher Status ist letztlich nicht beweisbar. In dem Moment, wo eine Lautsprecherstimme auf einer Theaterbühne erklingt, schwingt diese Ununterscheidbarkeit von Autorschaft und Medialität immer mit. Die Anrede, die Akklamation aus der Membran, führt uns die theatrale Dimension eines vermeintlich selbst-identischen „Ichs“ vor Augen. Bei Groys ist die Konsequenz dieser Ununterscheidbarkeit zu guter Letzt ein politisches Moment: Die Entscheidung, ob ein Medium oder ein Autor spricht, gerät zu einer Frage nach politischer Verantwortung.4 Um Verantwortung zu tragen, um antworten zu können oder Antwort einzufordern, braucht es das politische Subjekt, das als Autor seines Lebens agiert. In einer einfachen Übertragung hieße dies, dass der Text eines Autors oder einer Autorin durch ein Medium – eine Schauspielerin oder einen Schauspieler – auf der Bühne offenbar wird. Darstellende sind nicht Schöpfer der Worte und nicht für sie verantwortlich, aber sie könnten die Botschaft verfälschen, sich sprechend zwischen die Zeilen schreiben. Postdramatische Sprech- und Spieltechniken und die Verwendung medientechnischer Möglichkeiten versuchen nun verstärkt, Momente der Autorschaft auf der Bühne zu installieren
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Flüchtigkeit und Fixierung
und somit vielfältigere Begegnungen zu ermöglichen – zwischen Stimmen, Körpern, Text, Lautsprechermembranen. Im Ausloten des Hinterraums – der dadurch zugleich ausgedehnt wird – verorte ich das Moment der Begegnung. Verkörperung, Entkopplung, Spiel Wenn man beim Theater von der Widerständigkeit des präsenten Körpers gegenüber einem fixierten Text spricht, so überträgt sich dieser Widerstand bei reproduzierten Stimmen auf den ausführenden Apparat und seine Bedienung. Für eine Reihe mehrerer Klang-Performances habe ich eine Apparatur entwickelt, in der ich mit Hilfe von Bewegungssensoren Klänge und Stimmaufnahmen steuere. Mit Hilfe eines Sensoren-Interfaces an meinem Handgelenk spielen Gesten und Gebärden Sprach-Samples ab oder kontrollieren musikalische Parameter. Über die Gestaltung der Bewegungen versuche ich den selbst errichteten Apparat – wie eine Textvorlage – zu interpretieren, ihn außerhalb seiner (un-)geschriebenen Bedienungsanleitung zu verwenden und in ein Spiel mit Optionen zu bringen, die ihm selbst nicht eingeschrieben sind. In der ersten dieser Klang-Performances An die verehrte Körperschaft setzt eine weibliche Stimme ein Bewerbungsschreiben auf.5 Dabei versucht sie, den Balance-Akt zwischen einer notwendigerweise standardisierten Sprache und individuellen, originellen Sätzen zu meistern, welche die Textsorte des Bewerbungsschreibens einfordert. Wie nun Stimme und Gesten koexistieren, scheint eine ebenso wacklige Angelegenheit zu sein wie der Tonfall der Bewerbung. Die choreografierten Gesten stehen eng mit diesem Text in Verbindung; in Rhythmus und Emphase laufen Stimme und Gesten häufig parallel. Beim „Ich“ der Stimme deute ich als Performer mit dem Zeigefinger auf mich; an anderer Stelle lasse ich „Tropfen“ pantomimisch von meinen Fingerspitzen „herabregnen“, wie es die Stimme simultan beschreibt. Die Gesten untermalen, kommentieren und imitieren die Stimme. Doch über die Sensorensteuerung kommt eine weitere, eine pseudoinstrumentale Dimension ins Spiel, in der die Verhältnisse umgedeutet werden: In der Steuerungslogik des Apparats folgt die Stimme eindeutig den Bewegungen. Diese Steuerung findet mit einer Verzögerung im Bereich weniger Millisekunden statt. In Bezug auf die menschliche Wahrnehmung kann man also von Echtzeit sprechen. Dies ist entscheidend, weil Simultanität darüber entscheidet, ob eine Kausalität zwischen Bewegung und Stimme evoziert wird. Gleiche Bewegungen an der Bratsche werden vergleichbare Klänge hervorbringen. Doch die kurzfristig aufblitzende Logik von Vergleichbarkeit und Gleichzeitigkeit, wie sie
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beim Instrument gegeben ist, erweist sich im Steuerungsapparat der Körperschaft rasch als löchrig. Denn elektronische Interfaces können zeitdiskret verschaltet werden, wodurch das Prinzip der Ähnlichkeit ausgehebelt wird; gleiche Bewegungen „erzeugen“ unterschiedliche Worte und umgekehrt. Die Bewegungen des Stücks beschränken sich somit nicht allein in der Ökonomie eines Instrumentalspiels, sondern gehen über den Bedienvorgang hinaus. Die Logikangebote erweisen sich also langfristig als instabil und nicht synchronisierbar. In rascher Folge wechseln sich Pantomime, Imitation und Steuerung ab und vermischen sich. Dabei ist das Mittel der Synchronizität und Ähnlichkeit entscheidend dafür, einen Apparat in seiner Plausibilität darzustellen, und die Diskontinuität dazu, sie wieder aufzulösen. Einem Wunsch nach Einsicht hinter die Kulissen oder hinein in die Verästelungen der Silizium-Wunderkammer wird zwar immer wieder kurz nachgekommen. Doch gerade in der Unreinheit dieser Logikangebote möchte ich einen Interpretationsraum schaffen, in dem ich meinem Apparat begegnen kann. Jede vermeintliche medientechnische Logik auf der Theaterbühne ist ein fiktionales Geschäft, ein kurzfristiger Deal, dessen Halbwertszeit in den fortlaufenden Verhandlungen zwischen Zuschauern und Bühne rasch zu verfallen vermag. Ich versuche somit die vermeintliche Logik des medientechnischen Dispositivs in seiner versteckten Theatralik freizulegen. Entkoppelte Ebenen von Stimme und Geste, von Klang und Visuellem sind nicht rein, aber auch nicht „invalide“. Sie gehen Komplizenschaften miteinander ein und bilden hybride „Körperschaften“. In der unreinen Vermischung wird das technische Setting als teildeterminierte Wirklichkeit und Umgebung bejaht. Darin suche ich Begegnungen, die psychische, physische und semantische Komplexitäten zulassen. https://vimeo.com/leohofmann/koerperschaft
Aufnahme, Intimität, Richtung In einem Tonstudio wird ein Mikrofon aufgestellt. Geplant ist die Aufnahme von Stimmen, die weiterbearbeitet werden sollen, um später auf einer Theaterbühne zu erklingen. Die Herausforderung für die Sprecherin oder den Sprecher in dieser Situation besteht nun darin, das Sprechen
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auf eine unbekannte Situation hin zu gestalten; den Klang der Stimme zu modifizieren, nicht in den akustischen Raum hineinzuhören, sondern dem Echo eines noch zu errichtenden Terrains zu lauschen. Aber wie kann man eine unbekannte Zukunft adressieren? Wie eine möglicherweise noch unklare Aufführungskonstellation mitdenken, sich an unbekannte Theatergängerinnen und Theatergänger richten, die kein Gesicht und keinen Namen haben – und dabei dennoch versuchen, den „richtigen Ton“ zu treffen? Die Aufnahmesituation im Studio funktioniert wie eine Art invertierter Soufflierkasten: Bei diesem fungiert der Souffleur als eine Art Administrator, der die Transformation einer fixierten Schriftlichkeit in einen konkreten Sprechakt sicherstellt. Beim „Aufnahmekasten“ transformiert sich der Sprechakt in eine maschinelle Schrift. Aus dem Nachsprechen wird ein „Hinterher-Hören“ in die Materialität der Aufnahme hinein. Man lauscht ihr wie einem Echo nach, dessen auslösender Ruf unhörbar in unserer Lunge steckenbleibt. Alle Sprechakte in Medienkonstellationen wollen geübt sein. Vom Telefongespräch über die Radiomoderation bis hin zum Einsprechen eines Hörbuchs. Menschen mit Medienkompetenz sind jene, die den Reporter vor ihrer Nase ausblenden können, ihrem Sprechen eine spezifische Richtung verleihen und den Sprung durch die technische Übertragung miteinbeziehen können. Aber während des Übertragungsflugs ist die Stimme in einem medialen Zustand: Von ihrer Sprecherin oder ihrem Sprecher gelöst, just im Moment nachdem die Schallwellen ausgeformt sind und sich vom Ort ihrer Erzeugung trennen, führen sie ein Eigenleben. Autonom können sie sich weiter übersetzen, in maschinelle Schrift, auf Magnetbänder oder in Schichten von Silizium, sind offen für neue Autoren und Geister, können sich verfremden und modifizieren. Sprache und Sprechstile ändern sich, Aufnahmetechnik, -ästhetik und -kontext setzen der Botschaft der Stimmkonserve zu. Das Moment der Richtung, der Adressierung erweist sich jedoch bei aller Autonomie als erstaunlich zäh und bildet vielleicht die beständigste Komponente der Stimme in diesem Eigenleben. Diese dem Sprechakt immanente rhetorische Ausrichtung kann auf ihrem Weg unablässig uminterpretiert und umgelenkt werden auf Bahnen, die ihrer Quelle möglicherweise widersprechen. Aber der Ruf und die Wahrnehmung des Selbst im Sprechakt bleiben diesem als Richtung eingeschrieben. Mich beschäftigt die Unwahrscheinlichkeit und Absurdität dieses vermeintlichen Routinevorgangs einer Sprachaufnahme immer wieder von Neuem. Oft versuche ich deshalb bei Sprachaufnahmen, mich der Ausrichtung sehr bewusst zu widmen, versuche, zwischen dem hier und jetzt der Aufnahme und einer womöglich vollkommen anderen Situa-
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tion im Theaterraum zu vermitteln und diesen Kommunikationsvorgang als Unmöglichkeit zu ermöglichen. Ein in diesem Sinn strategisches Sprechen vermag es, die Besitzansprüche einer Stimme dadurch zu verlängern, indem es eine Souveränität im Moment des Sprechens ausbildet und sich von weiterer verfremdender Verwendung zu immunisieren sucht. Statt mich an die imaginären Theaterbesucherinnen und Radiohörer zu richten, fokussiere ich die reale Situation im Studio oder der Besenkammer in ihren akustischen und sozialen Eigenschaften und versuche diese zu ästhetisieren, räumlichen Hall über die Lautstärke zu erzeugen, beim Sprechen zu rennen, derweil ich einen Recorder in der Hand halte, mich trotz Höhenangst auf einen Funkturm zu begeben, um meine Stimme als beruhigende Selbstvergewisserung zu gebrauchen. Alles, um eine konkrete Situation zu schaffen, die meinem Sprechen eine Richtung verleiht und den Sprachakt in eine Handlung einbindet. Eine weitere spezifische Sprechart, auf die ich häufig zurückgreife, ist die Hingabe an das Sich-selber-Hören: Ich höre in das Flattern meiner Stimmbänder hinein und streichle den Mikrofonkorb mit Schall. Die Richtung des Sich-selber-Hörens beschreibt einen Kreis, der sich um die Sprecherin oder den Sprecher legt und dabei umhüllt. Obwohl nicht hermetisch, kann diese Kreisbewegung ausscheren, sich vergrößern und vielleicht später auch einen ganzen Saal umfassen in ihrer Ausdehnung. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben für diese kreisförmige Ausdehnung der Stimme den Begriff „Ritornell“ geprägt und erläutern diesen in seiner territorialen Dimension: Ausdehnung und Abschottung entstehen kraft der gleichen kreisförmigen Dynamik.6 In jenem Sich-selberHören und der darin stattfindenden Selbstvergewisserung findet die Stimme einen selbstgeschaffenen Raum, eine Ausdehnung und bleibt dennoch flexibel in ihrer Ausrichtung. Aufnahmen, die dieser Figur des Ritornells folgen, erweisen sich im weiteren Verlauf der medientechnischen Bearbeitung überraschend flexibel, obwohl sie eine Absage an eine Neutralität oder „Reinheit“ der technischen Aufnahme darstellen. Gerade weil im Moment der Aufnahme das Anwesende adressiert wird, mag das Fiktionale sich später leichter dazugesellen, ist die Richtung des Sprechakts leichter umzudeuten und etwas Abwesendes kann wieder dazu stoßen. Je stärker die Richtung schon im Sprechakt einen (unwahrscheinlich) direkten Weg einschlägt, desto gefährdeter ist dieser. Eine neuere Arbeit von mir, das Stück The Reply für Video, LiveElektronik und Performer, greift viele dieser Elemente auf.7 Das Gegenüber des Performers ist diesmal nicht eine Sprechstimme, sondern eine per Videotechnik lebensgroß projizierte Performerin. Die Beiden sehen sich frappant ähnlich und werden im Rahmen der Aufführung häufig für
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dieselbe Person gehalten. Den Blick nach außen auf die Zuschauenden fixiert, stehen reale Person und virtuelles Konterfei nebeneinander. In diesem Setting mischen sich Stimmen vom Band und eine per Mikroport verstärkte Live-Stimme, die Laute und Silben improvisiert. Per Kopfhörer-Monitoring können die beiden einander hören und sich mittels Lauten und Bewegungen verständigen. Lag in meinen früheren Gesten-Stücken der Fokus auf der Interaktion mit einem medientechnischen Apparat, findet in The Reply der Versuch statt, die intime Selbstbelauschung einer Aufnahmesituation möglichst unbeschadet in eine öffentliche Darstellungsform zu transferieren. Die Qualität der zugespielten elektronischen Klänge und Geräusche unterstreicht jenes Moment, in dem eine Stimme ansetzt zu sprechen, aber noch nichts sagt. In Blicken, in Gemurmel und Geflüster entspinnt sich eine Folge von Aktionen und Reaktionen zwischen den beiden. Sie fixieren ein Gegenüber in ihrem Blick – mutmaßlich einander; doch über die frontale Aufstellung von Leinwand und Performer wird dieser Blick um neunzig Grad umgelenkt – in die Zuschauenden. Die Ausrichtung der Stimmen in The Reply findet keinen Adressaten und beschwört dabei die Fiktion eines Dialogs zwischen anwesendem Menschen und einem Hologramm. Die (Un-)Möglichkeit des Kontakts und das Geheimnis zwischen den beiden; die Frage, ob die Projektion eine Live-Übertragung ist oder ob es sich bei beiden doch um dieselbe Person handelt, wird an die Zuschauenden zurückgespielt. Die Kommunikationsleistung kann nur durch die Komplizenschaft des Publikums erfolgen, das sich zum Medium von Performer und Hologramm machen muss, indem es die Richtung der Stimmen durch sich hindurch lenkt. https://vimeo.com/leohofmann/the-reply
Quelle, Verortung, Zuspiel Ein weiteres Spannungsverhältnis von Flüchtigkeit und Fixierung ergibt sich im Moment des Zuspiels von Stimmkonserven. Auch die Abspielgeräte selber können zu Medien der Präsenz werden, wenn z. B. ihr modell-spezifisches Verhalten hörbar wird oder ihre positions- und ortsspezifische Anordnung die konkrete Verortung im Raum betont. Diesen Ansatz verfolge ich besonders im Zusammenhang mit kleinen,
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Leo Hofmann
mobilen Lautsprechern, die zudem durch ihre handliche Bauart Eigenresonanzen in das reproduzierte Stimm-Material legen. In dem Musiktheater Abhängigkeitserklärung für extrem gemischten Chor erklingen aus vier kleinen, mobilen Funkboxen Stimmen und elektronische Klänge, die durch verschiedene Mikrofone live von der Bühne gespeist werden.8 Durch die begrenzte Lautstärke und das spezifische Abstrahlverhalten schaffen die Boxen begrenzte „Hörinseln“ im Raum. Während einige der Performerinnen und Performer in die Mikrofone sprechen und singen, tragen andere die mobilen Boxen mit den darauf übertragenen Stimmen zu verschiedenen Positionen im Raum und reichen sie zuweilen durch die Zuschauerreihen. Die hör- und spürbare Vibration der Boxen verhilft den Stimmen zu einer eigenen physischen Präsenz, obschon der Stimm-Klang keineswegs naturalistisch anmutet. So sind beispielsweise Frequenzgang und Abstrahlverhalten überhaupt nicht illusionistisch. Warum die Präsenz der Anrede durch die Lautsprecher in dieser Konstellation dennoch funktioniert, führe ich darauf zurück, dass das Verhältnis von Autorschaft und Medialität im ostentativen Präsentieren der Box transparent gemacht wird: Ein Performer hält die entkoppelte Stimme „in den Händen“ und hört ihr genauso zu wie ein Zuschauer, sein Gesicht ersetzt und kommentiert die Stimme; bewertet sie, grenzt sich von ihr ab und verortet sie dadurch zugleich. Die Haptik der Box, das Handliche an ihr, erzeugt eine eigene Körperlichkeit, mit der die Sprecherinnen und Sprecher an den Mikrofonen wiederum umgehen. Im Zusammenspiel des Ensembles werden jene komplexen Überlagerungen von Autonomie, Kooperation und Verantwortung sichtbar, die im Titel des Stücks anklingen. https://vimeo.com/leohofmann/ae-full
Eine allgemeine Tendenz beim Eindruck von Stimmaufnahmen liegt meiner Auffassung nach darin, dass sich die Attribute „konkret“ und „abstrakt“ häufig gegenseitig vertauschen lassen: Eine stärker verortete Stimme ließe sich z. B in ihrer Präsenz als konkretes Klang-Ereignis beschreiben. Ihre Präsenz zeugt zugleich vom Grad ihrer technischen Vermittlung. Ihr konkretes Er- und Verklingen im Raum stellt ihre technische Reproduktion aus. Ihre Souveränität als abstrakte, technische
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Schrift birgt das Geheimnis ihrer Aufnahmesituation. Je mehr die Konserve konkret im Raum kontextualisiert wird, desto fiktionaler wird wiederum die Anrede durch etwas Abwesendes. Im konkreten Schallereignis vollzieht sich eine Interpretation des technisch fixierten Sprechakts, das den Hinterraum der Stimme vergrößert und einen Überschuss für Begegnung im Raum freilässt. Weil in der Stimme die Ununterscheidbarkeit als Hinterraum immer mitschwingt – und gewissermaßen als Gefäß und Inhalt zugleich fungiert –, sind Gegenstände, Stimmkonserven, Lautsprecher und Menschen gleichermaßen als Subjekte aktiv. So können wir einer Lautsprecherstimme auch als Autorin begegnen: Jede Lautsprecherbox birgt in sich einen Theaterraum, eine akustische Guckkastenbühne. Der Lautsprecher ist ein Theater, das Theater ist ein Lautsprecher. Der Schauspieler ist ein Lautsprecher und der Lautsprecher ist ein Schauspieler, dem eine Schauspielerin souffliert. Jede Instanz ist Medium und Autor zugleich. Die Stimme konstituiert sich weniger über eine Körperidentität, vielmehr im unauflöslichen Spiel zwischen Autorschaft und Medialität. Die Ununterscheidbarkeit, ob eine Stimme „für sich“ oder etwas „durch sie“ spricht, verleiht ihr jenen Hinterraum, der das Geheimnis birgt, der den Verdacht schürt, uns ins Theater und vor die Lautsprecheranlage treibt. Wir können die Stimme nicht dekonstruieren – ihr Ruf bleibt unbeschadet und erhält sich selbst in einer Gleichzeitigkeit von Mittel und Zweck. In meiner Arbeit versuche ich, diese Gleichzeitigkeit zu vermitteln: Strategien der Verortung, der Ausrichtung und Synchronisierung ermöglichen die Aktivierung und Auslotung dieses Raums und schaffen Platz für neue Begegnungen.
1
Heidegger, Martin: Gelassenheit, Pfullingen 1979, S. 23.
2
Vgl. Groys, Boris: Im Namen des Mediums, Köln 2004, Track 1.
3
Vgl. Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000, S. 20–25.
4
Vgl. Groys: Im Namen des Mediums, Track 3.
5
Hofmann, Leo: An die verehrte Körperschaft, https://vimeo.com/leohofmann/koerperschaft, 2012.
6
Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 423–479.
7
Hofmann, Leo: The Reply, https://vimeo.com/leohofmann/the-reply, 2016.
8
Hofmann, Leo: Abhängigkeitserklärung, https://vimeo.com/leohofmann/ae-full, 2018.
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IM DIALOG Einblick in die Probenarbeit des Regisseurs Laurent Chétouane mit Studierenden der Hochschule der Künste Bern mit anschließendem Publikumsgespräch Vorbemerkungen (Julia Kiesler) Text so zu sprechen, dass er als fremde Entität gegenüber dem Schauspieler bleibt. Text bleibt immer fremd, wird nie „verschluckt“ oder so verinnerlicht, dass er mit dem Schauspieler eins wird. Es geht darum, Text zu praktizieren, und nicht darum, Rollen zu spielen. Es geht darum, einen Zugang zur Poesie des Textes zu öffnen, und nicht nur den möglichen Inhalt. Der Text soll sprechen, nicht der Schauspieler. Text und Schauspieler begegnen sich. Der Text ist der Coyote (Heiner Müller). Man soll damit ringen. Wenn der Text stark genug ist. Ein Text denkt. Und der Schauspieler tritt in einen Dialog mit dem Text. Schauspiel ist diese Begegnung. Die Studierenden beschäftigen sich mit Texten ihrer Wahl von Sarah Kane, Friedrich Hölderlin, Johann Wolfgang von Goethe, Heiner Müller, Heinrich von Kleist, Molière. Mit diesen Worten wurde die öffentliche Probe des Regisseurs Laurent Chétouane und eines kleinen Studierendenensembles der Hochschule der Künste Bern im Programmheft des Forschungsworkshops Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater, der am 29./30. November 2017 an der Hochschule der Künste stattfand, angekündigt. Der Regisseur arbeitete Ende November 2017 für eine Woche mit Masterstudierenden des Studiengangs Expanded Theater der Hochschule der Künste Bern und ermöglichte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forschungsworkshops einen Einblick in seine Arbeitsweise. Zum Zeitpunkt dieser offenen Probe hatten die Studierenden gerade eineinhalb Tage mit dem Regisseur gearbeitet. Er hatte sie darum gebeten, verschiedene Texte der oben genannten Autoren auszuwählen, mit denen sie Lust hätten, zu arbeiten. Die Texte, die auf dieser Probe zu Gehör gebracht werden, wurden noch nicht erarbeitet, wir befinden uns also auf einer Art Leseprobe. Es geht, so Chétouane, um den „Prozess der Erkundung eines Textes“1, es komme darauf an, wie der Text einen Studierenden inspiriert.2 Die fünf Studierenden sitzen auf Stühlen in einem Halbkreis dem Publikum gegenüber, der Regisseur sitzt an der Seite des Halbkreises. Er
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fordert niemanden konkret auf, einen ausgewählten Text zu lesen, er fragt in die Runde, wer lesen möchte. Über einen Zeitraum von einer dreiviertel Stunde arbeitet Chétouane mit insgesamt drei Studierenden, die sich jeweils einen Textauszug aus Sarah Kanes Stück 4.48 Psychose, den berühmten Faust-Monolog aus Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil sowie aus der Erzählung Lenz von Georg Büchner herausgesucht hatten. Schon beim Lesen und Hören der Textauszüge wird spürbar, dass es Chétouane nicht um eine Gestaltung der Texte geht, sondern um eine Begegnung zwischen dem Schauspieler oder der Schauspielerin mit dem Text und dem Publikum. Im Zentrum steht das persönliche Erleben und Erfahren eines fremden Textes und das, was dieser im Lesenden wie Zuhörenden auslöst. Sich Zeit lassen für das einzelne Wort, einzelne Wörter in ihrer Tiefe ergründen, hören, was der Text sagt, nichts kommentieren oder beurteilen, vielmehr realisieren, was der Sprecher oder die Sprecherin gesagt hat, einzelne Wörter oder gedankliche Fragmente in ihrer Bedeutung „spüren“ – daran arbeitet Chétouane während dieser dreiviertel Stunde mit den Studierenden. Der folgende Ausschnitt aus dem sich anschließenden Publikumsgespräch spiegelt einige Arbeitsprinzipien des Regisseurs ebenso wie die Erfahrungen der Studierenden mit Chétouanes Arbeitsweise wider. Das Publikum setzt sich aus Sprecherziehern, Sprechwissenschaftlern, Schauspielern, Darstellungsdozierenden und Studierenden verschiedener Fachrichtungen, hauptsächlich aus den Bereichen Schauspiel und Sprechwissenschaft zusammen. Publikumsgespräch Publikum: Handelt es sich um das Prinzip, beispielsweise beim Faust, erst einmal prima vista zu lesen und die Stimmung herauszuhören, wie bei diesem Wort „ach“3, für sich erst einmal den Grundtonus zu bestimmen und dann jeweils die Verben etc. weiter zu behandeln? Chétouane: Das hängt von den Texten ab. Bei Lenz würde ich den Text von Beginn an Wort für Wort durchgehen. Beim Monolog, wie in Faust, versuche ich zu merken, wo eigentlich der Tonus im Text von Goethe gegeben ist, den man einfach durchziehen kann. Und da merkt man: Ah, hier hält er das nicht weiter durch und da müssen wir herausfinden, wo der Punkt ist. Ich finde, es gibt im Faust immer so ganz klare Momente im Vers, die einfach den Affekt geben. Das „ach“ kann man dann anders deuten. Man kann ihm verschiedene Färbungen geben. Aber wenn man das richtige Wort, also hier das „ach“ findet, das zieht sich durch. Und danach kann man genauer untersuchen. Aber es ist wichtig, dass man merkt, beim Sprechen kommt man weiter. Und man stolpert nicht über
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jedes Wort. Es ist wie ein Boden, den es gibt, aus dem man die Verse weiter intonieren, weitersprechen kann. Publikum: Wie unterschiedlich war es jetzt für euch, hier im öffentlichen Raum zu proben oder im geschlossenen Raum, also unter euch? Gab es da einen Unterschied? Musstet ihr euch mehr auf uns konzentrieren als auf den Text? Studierende 1: Man hat natürlich schon stärker das Gefühl, dass über einen geurteilt wird, was mehr Stress auslöst. Es ist ein bisschen stressiger. Studierender 2: Wenn man in einer Gruppe ist, kann man sich schneller und leichter öffnen und vor Publikum ist das natürlich immer etwas anderes. Studierende 3: Ich habe versucht, euch irgendwie auszublenden, weil ich genau diese Konzentration, die wir die letzten zwei Tage hatten, behalten wollte. Ich wollte nicht, dass es jetzt plötzlich zu einer Präsentation wird. Publikum: Laurent Chétouane, die Studierenden haben jetzt ihre Texte selber mitgebracht, ausgewählt und ihr habt kurz zusammen besprochen, was vorgestellt wird. Wie ist das als Arbeit bei Ihnen? Sie konnten die Texte ja in dem Sinne nicht vorbereiten, kennen sie wahrscheinlich, aber haben sie nicht alle gleich präsent. Was passiert jetzt, wenn Lenz vorgelesen wird, entsteht die Anweisung oder Überlegung im Moment, in Interaktion mit der Studierenden? Oder ist es relativ unabhängig von den Studierenden schon da und Sie wissen schon, wie der Text gesprochen werden soll? Chétouane: Lenz habe ich inszeniert, deswegen habe ich einen gewissen Zugang zum Text. Aber es gibt andere Texte, die wir gestern z. B. gemacht haben, die ich nicht behandelt habe. Und dann hört man zwei Sachen: Man hört, der Student spricht und in welche Richtung es gehen kann und auch wie der Text funktioniert. Und ich glaube, es geht um diese Begegnung letztendlich. Ich bin ein Regisseur, der immer extrem vom Text abhängig ist. Für mich gibt es zuerst den Text, nicht den Schauspieler. Der Schauspieler im Verhältnis zum Text wird auch vorkommen, aber zuerst ist der Text da, nicht der Schauspieler. Publikum: Ich fand es sehr auffällig, wie schnell die Anweisungen hin und her gehen. Und ich habe das Gefühl, das funktioniert sehr gut, wenn man solche Leseproben macht, wo man mit einem einzelnen Schauspieler oder einer einzelnen Schauspielerin arbeitet. Ich fand es auch sehr auffällig, dass nie zu viel gesprochen wurde. Auch die Anweisungen gingen ja immer in die Richtung, nicht zu viel zu kommentieren. In diesem Zusammenhang würde mich interessieren, wie gearbeitet
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wird, wenn man nicht mehr in einer Leseprobe wäre, sondern in einer Ensembleprobe, wo die Kommunikation auch unter den Spielern stattfindet und nicht nur zwischen zweien? Chétouane: Also in einer Szene mit mehreren Schauspielern, vier, fünf? Es ist eigentlich nicht viel anders. Ich glaube, das Schwierige am Beginn ist, dass alle einen gemeinsamen Nenner finden und dass man merkt: Okay, es geht um diese Art, und dann funktioniert das eigentlich auch sehr gut. Ich glaube, das ist sogar stimulierend für die anderen, zu hören, weil sie lernen beim Hören, was man jemandem sagt. Das heißt, sie können die Informationen integrieren und merken den Unterschied. Die Unterschiede werden wahrgenommen. Es gibt manchmal Schauspieler, die sagen: „Ich höre den Unterschied gar nicht.“ Und dann machen wir das nochmal und eines Tages merke ich einen Unterschied. Vielleicht weil der Unterschied besser gemacht wird oder weil man sich auf etwas einlässt. Es ist für den Schauspieler schon sehr eingreifend, auch in der Art, wie er normalerweise gestalten will. Die Gestaltung kommt zurück, aber viel später. Wenn es ein Ensemblestück ist, dann arbeite ich auch mit jedem Einzelnen allein, ohne die anderen, ich habe nicht immer alle zusammen. Publikum: Wir haben letztes Jahr zusammen gearbeitet. Eine Szene von Molière, da habe ich eine Szene mit zwei Kollegen gespielt. Ich weiß nicht, ob wir zehn oder 14 Tage gearbeitet haben. Es war sehr intensiv, auch sehr anstrengend. Aber wenn es ein Spielpartner schafft, diesen Zugang zu finden, dann kommt es bei mir wesentlich mehr an. Es trifft mich und ich kann dann daraus wieder agieren und damit arbeiten. Es ist ein ganz anderes Zusammenspiel möglich. Ich habe gespürt, was für ein Unterschied dabei ist. Publikum: Wie fühlt sich dieser Unterschied denn an? Studierende 3: Man merkt ganz deutlich, wenn man irgendwie auf diesem Fluss vom Text drauf ist. Also einerseits muss ich mich zurücknehmen, aber andererseits bin ich vielmehr drin. So hat sich das angefühlt für mich. Und es geht dann über diesen Punkt der Scham. Man merkt, dass man an einen Punkt bei sich selber kommt, wo es persönlich wird. Und das hat viel mit Scham und Intimität zu tun, das merkt man. Publikum: Ich fand das eine sehr sensible Art, den Text abzutasten, könnte man sagen, was er selbst sagen will. Und zu verhindern, dass man vorschnell einen Affekt draufsetzt, der mit dem Text zunächst gar nichts zu tun hat, sondern mit der Person, die meint, dieser Effekt müsste jetzt erzielt werden. Und das war für mich also ganz besonders bei Lenz und bei Sarah Kane nachvollziehbar, dass man gerade bei diesen Texten sehr schnell dabei ist, sie zu demonstrieren. Wenn man sie
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Im Dialog
erst einmal in sich „reintrinkt“, könnte man beinahe sagen, dann kommt das heraus, was vorhin gesagt wurde: dass der Text etwas mit einem macht und dann bestimmte Emotionen herauslockt, die vielleicht noch schlafen. Dass man zu einem „echten“ Ton nicht kommt, dadurch, dass man anfängt darzustellen, sondern dass man dieser Begegnung mit dem Textfluss oder mit dem, was er für Eigenbewegungen hat – gerade bei dieser Bergwanderung, wie das Wasser da kommt und dann springt es über den Weg –, folgt. Das ist ja nicht etwas, das ich sehe, sondern etwas, das der Text mir zunächst einmal sagt. Und interessant fand ich auch den Bezug bei dieser Faust-Geschichte, dass man dem Text folgen kann, indem mit so einem Stöhn-Laut „ach“ im Grunde viel gesagt ist, was aber erst allmählich herausgeblättert wird. Dann kommt es zu der Verbalisierung, die eigentlich dahinter steckt: „Wir wissen nichts.“ Ich würde das nicht als eine neue Sprechweise bezeichnen, sondern eben als die gut gemachte Sprechweise, die wir alle auch von früher kennen. Die also nicht gestorben ist, sondern die ein ganz wichtiger Weg in einen Text hinein ist. Wenn man dann dazu kommen will von diesen Impulsen, die der Text gegeben hat, zu anderen Formen zu kommen, die man dann in ganz verschiedener Weise entfalten kann. Realistisch, artifiziell oder wie auch immer. Aber der Text gibt sozusagen den Impuls vor. Publikum: Ist es Ihnen wichtig, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler den Text erst einmal mitbringen, ohne ihn schon auswendig sprechen zu können, damit da auch nichts im Weg steht? Chétouane: Ja, Schauspieler, die oft mit mir gearbeitet haben, wie Fabian Hinrichs oder Devid Striesow, sagen: „Um mit dir zu arbeiten, muss man den Text auswendig können.“ Die Souffleure fühlen sich immer sehr nutzlos in meiner Arbeit in den Proben. Denn ich finde den Prozess des Nichtwissens, des Lochs im Text sehr wichtig für diese Art, Texte zu behandeln. Es ist auch kein Zufall, wenn ein Schauspieler an einer gewissen Stelle ein Loch hat. Und dass nicht sofort unten „äh“ gesagt wird, sondern: „Nein, suche!“ Und wenn er den Text haben will, fragt er mich oder den Assistenten. Ich möchte nicht, dass jemand die Texte immer professionell reingibt, sondern ich finde, dieses Loch ist Teil der Arbeit. Es geht auch immer darum, zu hören, wie ein Schauspieler auf einen Text reagiert, und ihn kennenzulernen. Es gab in dem Workshop gestern z. B. eine Person mit dem Wort „sterben“, plötzlich kommt das Wort nicht ganz raus und das sagt schon viel darüber, wie der Text in einem Prozess mit der Person ist oder wie wir damit umgehen, ob dieser Text für die Person auch geeignet ist. Weil die Figur entsteht, wenn überhaupt eine Figur entsteht, also das wissen wir nicht. Als ich Iphigenie auf Tauris von Goethe mit Fabian Hinrichs gemacht habe,
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habe ich mit Fabian nie von Figuren geredet, wie man eine Frau darstellt. Du hast zwar ein Kleid an, aber du bleibst Fabian Hinrichs und wir arbeiten an diesem Text. Es gab mehrere Zuschauer, die mir danach sagten, sie hätten Iphigenie so vor sich gesehen, dass sie sich vergewissern mussten, dass es doch keine Frau ist. Sie guckten regelmäßig auf seinen Busen, ob Fabian doch eine Brust hat. Wir haben nie probiert, wie man eine Frau spielt. Das passierte mehr und mehr durch die Proben, sein Gang hat sich verändert, die Art, wie er in diesem Kleid spielte, musste ich ihm nicht sagen. Aber den Text haben wir ganz genau gearbeitet. Publikum: Ich bin noch gar nicht sicher, wie ich das formulieren möchte, weil das sehr persönlich ist. Ich glaube, ich habe das letzte Mal vor 25 Jahren gespielt und längere Zeit bin ich damit konfrontiert worden, „den Text fremd zu lassen“. Mich hat viele Jahre sehr beschäftigt, was das wohl bedeutet, den Text fremd zu lassen. Und ihr habt das doch jetzt am Beginn versucht. Und meine Erinnerung an die Zeit vor dreißig Jahren mit Regisseuren und daran, „den Text fremd zu lassen“, als es aufkam, dies so zu benennen, das war eine sehr gewaltige Geschichte. Ich bin da nie rangekommen, weil das war – wie als wir heute über das Dekonstruieren von Figuren gesprochen haben, wo Frau L. sagte, wir müssen ja erst einmal etwas konstruieren, bevor ich es dekonstruieren kann. So schnell Texte fremd zu lassen, bevor ich überhaupt in Berührung komme, das war der Punkt, an dem ich dann irgendwann mal dachte: Ich verstehe hier etwas ganz grundsätzlich nicht. Und irgendwann bin ich dann tatsächlich in die Stimme und in die Sprecherziehung gegangen und habe angefangen, selber zu suchen. Es berührt mich jetzt in diesem kurzen Moment von euch allen dreien, die ich hören durfte, dass das doch eigentlich eine neue, sensible Erfahrung zum Thema Fremdlassen ist, zum Umgang mit dem Fremden. Und ich danke euch jetzt einfach für dieses Reinblickenkönnen in diesen Umgang. Chétouane: Das Fremde oder die Fremde ist ein Thema, das mich auch im Theater oder im Tanz extrem beschäftigt. Und ich glaube eigentlich, je intimer ein Text wird: erst wird er fremd und die Erfahrung der Intimität hat mit Fremde zu tun. Wenn ich mit Schauspielern arbeite, kommt eine Produktion immer zu dem Punkt, wo ich sage: „Realisiert, dass unsere eigene Sprache uns selbst fremd ist.“ Wir haben sie von außen bekommen, wir haben sie uns angeeignet, angepasst. Aber Sprechen, Sprache ist eigentlich ein fremdes Element, das uns von außen durch Mutter, Vater, Familie, Gesellschaft gegeben worden ist. Und ich glaube, man tendiert dazu, das zu vergessen. Wenn man an diesen Punkt des Fremdseins mit seiner eigenen Stimme kommt, hat man mit solchen
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Im Dialog
Texten oder dieser Art der Behandlung nicht so ein Problem. Ich finde auch das Bild von Lacan über Sprech-Sprache wunderschön. Es hat mich immer beschäftigt, im Sinne davon, „einen Text zu teilen“. Lacan nimmt das Beispiel der Vögel: Es gibt eine Sorte von Vögeln, am Nordpol, glaube ich, die einfach einen Fisch nimmt und sich den Fisch von Mund zu Mund, also von Schnabel zu Schnabel übergibt, aber nicht isst, als gesellschaftlichen Vorgang. Und Lacan sagt: Die Sprache ist dieser Fisch. Man teilt diese Sprache. Publikum: Ich möchte nur noch eine ganz kleine Anmerkung machen. Der Text spricht hier letztlich durch ein gestisches Moment. Das haben Sie jetzt nicht so genannt, aber das „ach“ ist ein grundgestisches Moment – Sie nennen das jetzt vielleicht Tonus –, aber für mich ist es das gestische Moment, das hier den Text berührt und dadurch den Text einfach sprechen lässt. Publikum: Ich habe eine Frage an die Studierenden vom letzten Jahr, die diesen Workshop mit Laurent Chétouane gemacht haben: Wie war eure Erfahrung danach mit eurem Sprechunterricht? Gab es Konfrontationen dadurch? Publikum: Ich war auch in diesem Workshop und danach, ehrlich gesagt, ziemlich verzweifelt. Ich habe eigentlich alles in Frage gestellt. Man sagt ja, dass in diesem Kurs nichts anderes passiert als im Grundlagenunterricht. Aber für mich stimmt das nicht, weil ganz viel mit mir passiert ist. Also danach wollte ich eigentlich nur noch arbeiten wie Laurent Chétouane. Aber das ging natürlich nicht. Es war extrem schwierig, beides zusammen zu bekommen. Man rutscht dann doch schnell wieder in das Alte, weil das gar nicht möglich ist, sich diesen Raum zu nehmen. Oder was ganz auffällig für mich war: Ich hatte das Gefühl, ich durfte viel mehr so sein, wie ich bin, das klingt jetzt ein bisschen komisch. Aber ich hatte das Gefühl, in der Rollenarbeit immer dagegen zu arbeiten, wie ich eigentlich bin. Bei ihm konnte ich viel mehr Persönliches zulassen. Publikum: Ich glaube, ich bin total fasziniert, dass diese Arbeit eine gewisse Reife braucht. Also auch eine gewisse Erfahrung. Ich bin davon überzeugt, dass man eine gewisse Erfahrung braucht, um auf diese sensible Art und Weise in einen Text reinzugehen. Und ich bin total fasziniert und auch ganz berührt, dass ihr aus eurer Erfahrung wiedergebt: Es hat was mit mir zu tun, es hat mich berührt, ich durfte ich sein. Obwohl ihr in der Arbeit im Sekundentakt unterbrochen werdet und korrigiert werdet dabei. Weil ich eine unglaubliche Sehnsucht und einen Drang spüre, in den Fluss, in das Wesen eines Textes hineinzukommen und dem nachzugehen. Das finde ich unglaublich mutig, hochsensibel und ganz spannend.
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Publikum: Ich glaube, wir haben das alle natürlich individuell wahrgenommen und erlebt. Und ich glaube, dass es auch vielen gelungen ist, in den Sprechunterricht einzusteigen, oder dass es uns nicht gehindert hat, Dinge, die wir das davor drei, vier Jahre gemacht haben, dann weiterzumachen oder da weiterzuarbeiten. Ich glaube einfach nur, dass es einen ganz anderen Punkt geöffnet und eröffnet hat. Und der auf ganz vielen verschiedenen Arbeitsweisen mir dann auch wieder das Neue gezeigt hat. Ich weiß, das ist eine ganz unmittelbare Arbeit, die sich auch ganz viel mit Aufregung, mit Scham, mit Nervosität auseinandersetzt und mit einem selbst. Ganz viel Unterricht macht einen ja so selbstbewusst oder es geht um ein Selbstbewusstsein auf der Bühne. Und das nochmal wegzulegen, zurückzukommen und dann wieder in diese Arbeit einzusteigen – ich fand das total bereichernd. Eben durch die Verunsicherung bereichernd. Publikum: Man braucht eine gewisse Offenheit oder, wenn man so will, sogar eine radikale Offenheit, sich den Einflüssen eines Textflusses auszusetzen. Und das betrifft eben auch diese Momente – ich empfinde mich plötzlich als ich selber, weil ich nichts mache im besten Falle, sondern der Text geht durch mich durch und kommt heraus als der Text, der er eigentlich ist. Und gleichzeitig ist es dann meins. Chétouane: Also der Text wird schon beeinflusst. Es gibt plötzlich eine Rückkopplung. Publikum: Durch die Individualität? Chétouane: Ganz genau, der Text performiert den Sprecher, aber der Sprecher performiert auch den Text. Also es gibt plötzlich einen Dialog. Publikum: Aber das Primäre ist für mich, dass ich mich dem Text so öffne, dass er aus mir herauskommt, als wäre es mein Text. Chétouane: So ist es auch im Leben.
1
Chétouane, Laurent in: Transkriptionsprotokoll der öffentlichen Probe vom 30. November 2017 auf dem Forschungsworkshop „Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater“ der Hochschule der Künste Bern, unveröffentlichtes Manuskript.
2
Vgl. ebd.
3
Die Äußerung „ach“ bezieht sich hier auf die Verszeile aus Goethes Faust: „Habe nun, ach!“, vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie Erster Teil, Stuttgart 2000, S. 13.
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Florian Reichert
SICH GEHÖR VERSCHAFFEN Eine kurze Reflexion über den Partner der Sprache: das Gehör -
Wenn ich eine Stecknadel fallen lasse, hören Sie die Stecknadel fallen … … oder. hören Sie deren Aufprall auf dem Boden? Wenn der Call für Beiträge zum Forschungsworkshop Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater mit dem Satz beginnt: „Der Umgang mit gesprochener Sprache hat sich auf der Bühne des zeitgenössischen Theaters grundlegend verändert“, so ist Folgendes klar: 1. Ohne das Zuhören, das Gehör, das Ohr ist solch eine Aussage nicht zu treffen. 2. Wenn sich der Umgang mit gesprochener Sprache auf der Bühne des zeitgenössischen Theaters grundlegend verändert hat, so haben sich in einer Wechselwirkung oder auch unabhängig davon mit Sicherheit auch unsere Hörgewohnheiten grundlegend verändert, denn: 3. Am Entstehen von (theatraler) Realität ist Sprechen und Hören gleichermaßen beteiligt. 4. In jeder künstlerisch-gestalterischen Arbeit geht es immer auch um die Auseinandersetzung mit dem Bezugspaar Ausdruck und Wahrnehmung bzw. Ausdrucksmittel und Wahrnehmungsgewohnheiten. Sprechen an sich ist einfach, wenn man es einmal kann. Wie eine Vielzahl anderer Fertigkeiten erlerne ich es, während ich heranwachse: Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, wie Sprechen geht. Ich habe einen Gedanken. Diesen will ich mitteilen und ich spreche zu jemandem, der mir zuhört. In der Folge hat dieser Jemand (oder diese Jemandin) ebenfalls einen Gedanken und spricht diesen aus. Man nennt das auch „antworten“. Dabei muss ich nur für den Gedanken denken, dazu noch für die Worte, die den Gedanken einigermaßen verständlich wiedergeben, nicht aber für das Sprechen. Das Formen der Worte mit dem Mund ist ganz einfach – manchmal sogar zu einfach. Komplex ist der Vorgang von Worten und Antworten aber dennoch: Mit meinem Sprechen ist beispielsweise nicht „gesagt“, ob meine eigenen Worte wirklich meine Gedanken verstanden haben,
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ob der andere meine Worte verstanden hat, ob und wie seine Gedanken meine Worte verstehen, und schließlich, ob seine „Ant-worte“ seine Gedanken verstehen. Das sind also nur einige von vielen weiteren Möglichkeiten, durch die Kommunikation schiefgehen kann. Dabei handelt es sich bis hierhin nur um den Austausch von Gedanken durch Worte und „Ant-worte“. Dann sind da auch noch Gefühle, Absichten und Ziele, solche, die ich äußere, und andere, die ich nicht äußere, und darüber hinaus noch jene, derer ich mir gar nicht bewusst bin. Nicht einmal in einem Selbstgespräch kann ich davon ausgehen, dass ich mich nicht hintergehe, mir nicht das Eigentliche verschweige oder mir alles ehrlich sage, mich aber trotzdem nicht verstehe. Doch manchmal scheitert Kommunikation an viel banaleren Gründen: Es gibt Gespräche, Dialoge, Erzählungen, Theaterstücke, da ist von Anfang an der Wurm drin, ein Fehler in der Ausgangssetzung, der dann auch im Fortgang des Gesprächs, des Stücks, der Erzählung nicht mehr zu beheben ist. Oft sind solche Fehler in der Exposition geradezu der Motor für alles, was danach geschieht. Ein Beispiel dafür ist die Schöpfungsgeschichte (Genesis, Kapitel 2 bis 5). Eigentlich wären wir ja im Paradies, würden Beeren verspeisen und mit Löwen Ringelreihen tanzen. Dass wir nicht dort, sondern hier sind, ist eben einem solch fatalen Fehler in der Geschichte der Schöpfung zuzuschreiben. „Am Anfang war das Wort.“1 Das ist für alle, die sich von Berufs wegen mit Sprache auseinandersetzen ein starker Einstieg: bei der Schöpfungsgeschichte dabei sein und das nicht irgendwo, sondern – wenn schon, denn schon – ganz vorn! In Interpretationen des Bibeltextes wird das vor allem von anderen Berufsgruppen immer wieder relativiert. Der Grundtenor lässt sich wohl so zusammenfassen: „Das steht nur für etwas, ist ein Bild, eine Metapher. Gemeint ist Logik, aber auch wieder nicht wirklich, eher der Beginn der Kausalität, das Denken an sich, Ursache und Wirkung …“, oder auch: „Das ist schlicht ein Fehler in der Übersetzung.“ Aber es steht so da, schwarz auf weiß. Der Logenplatz von Wort und Sprache in der Schöpfungsgeschichte ist als Tatsache zu akzeptieren und um Einiges spannender als manches, was da später noch geschieht: Zum Beispiel diese gestalterische Arbeit mit Lehm und Ton hat meines Erachtens etwas ausgesprochen Therapeutisches. Nein! Das Wort ist zweifelsohne wichtig. Wenn es das Wort nicht gibt, dann können die Erscheinungen auch nicht voneinander unterschieden werden. Die Welt existiert dadurch, dass sie mit Begriffen begriffen werden kann, dadurch, dass es Begriffe gibt,
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eben: Worte. Wenn man das Land vom Meer trennen will, ist es durchaus nützlich, Worte wie „Land“ und „Meer“ zur Verfügung zu haben. Es lohnt sich aber aus ganz anderen Gründen, die Schöpfungsgeschichte genauer anzuschauen. Und zwar als Geschichte. Man könnte sagen: Da hat die Dramaturgie nicht aufgepasst. Aber: Eine Dramaturgie hat es damals noch nicht gegeben. Gott, selbst überzeugter Monotheist, wollte ja alles alleine machen – und hat gepatzt! Umso unberechtigter, dass er dann so empfindlich auf die Sache mit dem Apfel, also auf einen Missgriff anderer, reagiert, vor allem auch, weil das von ihm ausgesprochene Verbot jeder nachvollziehbaren Grundlage entbehrt. Der Mensch ist noch nicht einmal ganz trocken, da schmeißt er ihn auch schon aus seinem Paradies. Weil er nicht ge-horcht, nicht auf ihn hört. Es wird also zu Beginn der Schöpfung auf die Wichtigkeit des Wortes ausdrücklich hingewiesen. Aber nicht darauf, dass dieses ohne Gehör keinen Sinn hat. Man kann nun einwenden: Das muss man auch nicht extra sagen. Das ist ja evident. Das zeigt aber in der Folge nur, dass es äußerst leichtfertig ist, sich auf Evidenzen zu verlassen. Mindestens bei Schöpfungsgeschichten ist es besser, etwas ausführlicher zu sein, als Wichtiges wegzulassen. Zudem konnte es ja so etwas wie Evidenz noch gar nicht geben! Woher auch? Es war ja alles noch ganz neu. So oder so ist es erstens schlicht unseriös, sich für so etwas wie die Schaffung der Welt grade mal sieben Tage Zeit zu nehmen. Da ist Schlamperei schon eingeplant und zweitens: Wenn die ganze Geschichte der Welt von einigen Setzungen abhängt, egal ob man diese für sinnvoll hält oder nicht, beispielsweise ob man einen bestimmten Apfel isst oder nicht, dann muss man doch mindestens ein performatives Setting schaffen, in dem diese wichtige Botschaft wahrgenommen und erfasst werden kann. Bei schlampigem Umgang mit den Regeln einfachster Kommunikation kann das nur aus dem Ruder laufen. „Am Anfang war das Wort“2 und dann immer wieder: „Und Gott sah …“, „und Gott sprach …“3, aber: Hört denn da auch jemand zu? Erst viel später im Bibeltext, im Neuen Testament, wird man auf diese Schieflage aufmerksam und schreibt: „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“4 Ich möchte jetzt niemandem zu nahe treten, aber die Ursache für die Entgleisung Adams und Evas liegt bei der Dramaturgie, nicht bei „den Sprechern“. Erstens ist schon die Setzung: „Kein Apfel von diesem Baum“, eine vollkommen willkürliche. Es ist schwer, sich Sachverhalte einzuprägen, die bar jeder logischen Grundlage sind. Und zweitens: Da sind Himmel und Meer, Erde, Sonne, Mond und die ganzen anderen Sterne und Planeten, Wind und Wetter und darüber hinaus ein unheim-
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liches Gewusel von Tieren und Pflanzen. Alles ist neu. Keiner kennt sich aus und dort hinein kommt dann der Mensch und soll als erstes vollkommen absurde Anweisungen verinnerlichen. Das ist wirklich kein Rahmen für aufmerksames Zuhören, sondern ganz schlechte Dramaturgie gepaart mit der Ermangelung didaktischer Grundkenntnisse. Herr Gott nochmal! Die etwas öde „Und-dann-Dramaturgie“ der Schöpfungsgeschichte kann ich hinnehmen. Das hat etwas Klassisches. Aber wenn, dann doch wenigstens etwas durchdachter: – –
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Erde und Licht und Dunkel, also Himmel, das zuerst, ok! Von mir aus auch Wasser, ein leichtes Grundrauschen im Hintergrund. Aber dann muss sofort der Mensch her, mit allen Sinnen oder mindestens Sehen und Hören. Man erklärt ihm in Ruhe, worum es hier geht. Und da doch alles sehr neu und ungewohnt ist, sollte er etwas Zeit haben, sich umzuschauen und Fragen zu stellen. Da muss man Geduld haben, auch wenn man dann eben nicht in sieben Tagen durch ist, sondern noch etwas dranhängen muss. Danach wäre ein Spannungsmoment möglich. Die Leserin, der Leser denkt: Das war’s, zwei Menschen auf dem Acker und im Hintergrund das Meer …, man bleibt etwas enttäuscht, klappt das Buch zu und dann legt Gott erst richtig los …, ein Tier, Pflanzen, wieder andere Tiere … Jetzt kennen wir die, aber damals waren das ja ausnahmslos Fabelwesen! Die zwei Menschen an der Seite, indem sie aufmerksam, erstaunt, mit Grauen oder Entzücken das Schöpfungsspektakel verfolgten, geben dem Ganzen einen zusätzlichen Fokus. So müsste das ablaufen.
Aber unter Gottes planlosem Vorgehen am Anfang aller Tage leiden wir bis heute. Wenn am Anfang die Setzung nicht stimmt, dann kriegt man das im Stück nicht geradegebogen. Es bleibt Gebastel. Ich behaupte, dass nur deshalb das Theater erfunden wurde: ein leerer Raum. Wenigstens im kleinen bescheidenen Rahmen noch einmal diesen leeren Raum vor Beginn des Schöpfungsdebakels herstellen, um immerhin davon zu träumen, wie es eigentlich hätte ablaufen können, einzelne Defizite der Schöpfung und deren Folgen aufzeigen … „Familienaufstellung expanded“ also – Theater. Deshalb gehe ich so gerne ins Theater, denn ich zahle den Eintritt nicht nur für das, was da geschieht, sondern auch für das, was da nicht geschieht, dass da jedes Mal neu der Versuch gemacht wird, zu
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entscheiden, welche Klänge, welche Bilder, welche Worte da rein dürfen und welche nicht. Es wird immer wieder eine neue Auswahl getroffen. Nicht immer gerade meine, aber immerhin! Dafür liebe ich Theater! So hätte es also mit der Schöpfung laufen müssen, damit ein Verbleib im Paradies möglich gewesen wäre: Zuerst das Gehör, dann das Wort, dann ein paar klare Anweisungen in übersichtlichen Rahmenbedingungen, bevor das ganze Schöpfungsgewusel kommt. Alles wäre übersichtlich und wohlorganisiert abgelaufen und wir würden jetzt von der Hand in den Mund leben, Orangen oder Bananen pflücken und, während wir sie verzehren, Löwen, Schlangen und Vogelspinnen streicheln. Die Erfindung des Theaters hätte sich erübrigt, vielleicht hätten wir es trotzdem gemacht, einfach so zum Spaß: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt!“5 Aha: Herr Reichert, wohnhaft in einer ziemlich vollgestellten Bergregion, Leiter des kleinen Fachbereichs Oper/Theater der Hochschule der Künste Bern, gibt Herrn Gott Inszenierungsvorschläge für das große Welttheater und belehrt ihn über die Auswirkung von schlechten Rahmenbedingungen für reibungslose Kommunikation. Geht’s auch kleiner? Es geht: Auch der Schweizer Poet, Liedermacher und Jurist Mani Matter (1936–1972) weist in seinem Lied Dr Alpeflug auf das Problem hin, dass Sprache nur dann Wirkung erzeugt, wenn dem Gehör entsprechende Rahmenbedingungen zugestanden werden: S’sy zwee Fründen im ne Sportflugzüg En Alpeflug ga mache, Flügen ufe zu de Gipflen und Z’dürab de Gletscher nache. Hinde sitzt dr Passagier Dä, wo stüüret, dä sitzt vor Und es ratteret und brummet Um sen ume dr Motor. Da rüeft dä, wo hinde sitzt: „Lue, ds Bänzin geit us, muesch lande!“ „Wie? Was seisch?“, rüeft dr Pilot, „Los, i ha di nid verstande“ „Wie? Was hesch gseit?“, rüeft dä hinde, „Warum landisch nid sofort?“ „Red doch lüter“, rüeft dä vorne,
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„I versta’s nid“, rüeft dä hinde „Warum machsch’s nid? Bisch drgäge?“ „I versta’s nid“, rüeft dä vorne, „Muesch mer’s würklech lüter säge!“ „Wie? Was seisch?“, rüeft dise, „lue Dr Tank isch läär, du flügsch nümm wyt!“ „Los, bi däm Mordstonnerslärme“, Rüeft dä vorne, „ghör i nüt.“ „Aber los doch“, rüeft dä hinde „Gottfridstutz mir hei nid d’Weli“ „Tue nid ufgregt“, rüeft dä vorne, „Red doch lüter, gottverteli!“ „Los“, rüeft dise, „we mir jitz nid lande Gheie mir i ds Tal!“ „Ghöre gäng no nüt“, rüeft äine, „Los begryf doch das emal!“ So het im Motorelärme Dr Pilot halt nid verstande, Dass ihm jitz ds Bänzin chönnt usga Und dass är sofort sött lande. Da uf ds mal wird’s plötzlech still, Nämlech wil ds Bänzin usgeit Und jitz wo me’s hätt verstande Hei si beidi nüt meh gseit.6
https://vimeo.com/146826555 Einige könnten nun sagen, dass das eine Sprache sei, die man einfach nicht verstehen könne. Andere behaupten, das sei überhaupt keine Sprache. Beides ist unwahr. Pilot und Passagier sprechen dasselbe Idiom, könnten sich also bestens verstehen. Nur auch hier: Ungünstige Rahmenbedingungen beeinträchtigen die Wirksamkeit der Sprache. Nicht immer ist eine falsche Anordnung von Klang, Sprache und Stille gleich tödlich. Dennoch: Beim Alpenflug von Mani Matter müssen wir von einem Ende mit Schrecken sprechen, während Gottes Schöp-
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fungsgeschichte ein Schrecken ohne Ende zur Folge hat. Wie dem auch sei: Wir können aus diesen Beispielen auf jeden Fall ableiten, dass eine Reflexion über den Umgang mit Sprache die Reflexion über das Hören „nicht aus den Augen“ verlieren sollte. Mit der schon erwähnten Erfindung des Theaters haben wir nun einen Raum, in dem Sprechen und Hören in seiner Bezogenheit aufeinander und in seiner Wirkung analysiert, künstlerisch eingesetzt, überprüft und reflektiert wird, auch um in Zukunft Fehlleistungen wie die soeben beschriebenen zu vermeiden. Wir besitzen ein Spielfeld, ein Labor, in dem keine endgültigen Resultate erarbeitet werden müssen. Wir spielen dort Theater und wie bei jedem guten Spiel sind auch hier die Spielmöglichkeiten endlos. Ein Blick in die Vergangenheit, der wenig mit Theater, wohl aber mit Sprache zu tun hat, zeigt vielleicht am ehesten, dass der Blick, den wir heute auf die Dinge haben, morgen schon wieder ganz anders sein kann: Franz Joseph der Erste, Kaiser von Österreich (1830–1916), sagte im Jahr 1903: Erfreulich ist es, die Fortschritte zu verfolgen, welche im Laufe der letzten Jahrzehnte das Ineinandergreifen von Wissenschaft und Technik erzielte. So ward unter anderem die Zeichensprache des Telegraphen durch die hörbare des Telephons ergänzt und nun gelang es auch, im Phonographen gesprochene Worte bleibend festzuhalten und sie selbst nach vielen Jahren jedweden Geschlechtern wieder vorzuführen. Wohl sind die Konstruktionsschwierigkeiten des letzterwähnten Apparates noch nicht vollständig überwunden, doch wird es dessen ungeachtet von Interesse sein, auch in dieser nicht ganz vollkommenen Weise die Stimmen hervorragender Persönlichkeiten auf längere Zeit hin zu vernehmen und deren Klang und Tonfall, sowie die Art des Sprechens gewissermassen als historisches Dokument aufbewahrt zu erhalten, ähnlich wie in anderem Sinne Statuen und Portraite es bisher waren. Und wenn, wie ich höre, die Akademie der Wissenschaften jetzt daran geht, sämtliche Sprachen und Dialekte unseres Vaterlandes phonographisch zu fixieren, so ist das eine Arbeit, die sich in der Zukunft sicherlich lohnen wird. Es hat mich sehr gefreut, auf Wunsch der Akademie der Wissenschaften meine Stimme in den Apparat hineinzusprechen und dieselbe dadurch der Sammlung einzuverleiben.
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https://www.youtube.com/watch?v=G1B4EdrHirU Wer wird in Zukunft wann, wo und warum über uns lächeln? Wir wissen es nicht. Stellen wir uns folgende Situation vor: Zwei Menschen sitzen in einem abgedunkelten Raum und werden dort von grellen Scheinwerfern angestrahlt. Sie schreien einander an. Sie sagen einander wüste Dinge. Der eine schlägt den anderen zu Boden. Der bleibt dort zusammengekrümmt liegen. Dann tritt Stille ein. Eine Folterkammer? Ein Theater? Eine Folterkammer ist nie ein Theater, aber ein Theater kann eine Folterkammer sein. Sicher ist: Die Stille „tritt nicht ein“. Die Stille ist immer da. Unter der Sprache. Sie begleitet die Sprache, ist deren Grundlage. Beginnt die Sprache, ist sie nur nicht mehr so gut zu hören, aber weg ist sie deshalb nicht. Unter der Zeichnung ist das weiße Blatt. Zwei „Selbstgespräche“, ein musikalisches und szenisches, verdeutlichen vielleicht am ehesten, was damit gemeint ist: ein Satz – Stille – ein Wort – Stille – ein Wort – Stille …, vielleicht wieder Sätze … Beide Selbstgespräche sind von einer tastenden Unsicherheit geprägt, haben einen Weg gemacht, bis sie sich „festgefahren“ haben. Sie sprechen über der Stille, hören sich selbst zu, denken nach und versuchen es wieder. Tasten sich weiter und finden einen Weg: 1. Franz Schubert, Streichquintett C-Dur op. post.163 D 956, Takt 57–64
Klangbeispiel: 2. Satz, Adagio
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https://www.youtube.com/watch?v=p5hPdIhTrd4 7’20“ und folgende.
Die Anlage dieses Satzes basiert einerseits auf Klangflächen, die untermalt sind von rhythmischen Strukturen und über denen Ansätze von Melodieentwicklungen schweben, die aber immer wieder in einzelne Bruchstücke zerfallen, bevor dann erneut nichts als eine durch Modulationen stukturierte Klangfläche übrig bleibt. Auch diese wird letztendlich brüchig (im obigen Notenbeispiel umrandet), sodass der Eindruck entsteht, dass nicht die Pause den Klang unterbricht, sondern dass eigentlich Stille hörbar gemacht werden soll, dadurch, dass wenige übriggebliebene Akkorde wie letzte Eisschollen auf einem Meer der Stille treiben. 2. William Shakespeare (1564–1616), Hamlet, Klangbeispiel: Monolog Hamlets, 3. Akt, 1. Szene, nach der Übersetzung A. W. Schlegel (1767– 1845) Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage: Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern Des wütenden Geschicks erdulden oder, Sich waffnend gegen eine See von Plagen, Durch Widerstand sie enden? Sterben – schlafen – Nichts weiter! Und zu wissen, daß ein Schlaf Das Herzweh und die tausend Stöße endet, Die unsers Fleisches Erbteil, ’s ist ein Ziel, Aufs innigste zu wünschen. Sterben – schlafen – Schlafen! Vielleicht auch träumen! …7
Klangbeispiel Gesprochen von Josef Kainz (1858–1910) https://www.youtube.com/watch?v=E3oUZ9Z8bv4
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Sätze. Worte. Schweigen. Sprechen und Hören in einem kollegialen Miteinander. Das meine ich mit: Die Stille tritt nicht ein, wenn der Klang endet. Die Stille wird nicht unterbrochen, wenn der Klang beginnt. Sie ist immer da. Das ist kein irgendwie originelles Gedankenspiel. Es bedeutet etwas für den Umgang mit Klang und dessen Ausformung in der Sprache und es bedeutet etwas für die Art, Klang/Sprache zu hören. Für das Verstehen eines Inhalts braucht es diese Stillen zwischen den Worten (Pausen zwischen den Klängen) nicht: Sterben schlafen träumen, das ist schnell verstanden. Es braucht die Pause, um den Weg, der zwischen diesen Worten liegt, gemeinsam zu gehen. Der Sprechende, der sich selbst zuhört und dem die Zuhörenden zuhören, wie er spricht und sich selbst dabei zuhört. Die Musik, die sich selbst zuhört und der die Zuhörenden zuhören, wie sie ihrem Klang zuhört. Trotz des starken Gewichts, das dem Hören in diesen Beispielen zugedacht ist, könnte man immer noch davon ausgehen, dass die Sprache das auslösende Element sei und die Stille deren Echoraum. Heinrich von Kleist (1777–1811) geht einen Schritt weiter: In einem Brief an den Freund Otto August Rühle von Lilienstern schreibt er Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden: Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen. […] Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen halb ausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganz andere Hälfte desselben. […] Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites mit ihm parallel fortlaufendes Rad an seiner Achse.8 Wie auch in anderen seiner Schriften sagt Kleist hier in wenigen Sätzen das Eigentliche: Ihm, der wie wenige seiner Zeit die Wirkung der Sprache nutzte, geht es hier nicht um die Kraft der Sprache, sondern um die Kraft des Zuhörens und darum, was diese mit dem Sprechenden macht. Er gibt dem Hörenden eine Verantwortung am Entstehungsprozess von Gedanken und Bildern und das gilt, so behaupte ich, nicht nur für das
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traute Zwiegespräch – er führt eine Unterhaltung mit seiner Schwester als Beispiel an –, es gilt auch für das „Labor Theater“. Jede Schauspielerin, jeder Schauspieler kennt das: die letzten Proben vor der Premiere. Es ist alles da und doch kann es nie das werden, was es zu sein hat. Weil da niemand ist, der zuhört. In der Folge ist die Premiere eine Erlösung: Leben, Geben und Nehmen, Sprechen und Zuhören! Allerdings werde ich als Publikum immer wieder Teil eines Theatererlebnisses, eines performativen Akts, bei dem man mir die zuhörendmitarbeitende Fähigkeit, wie Kleist sie beschreibt, nicht zutraut. Ich sitze dann da und schaue dabei zu, wie sich die Akteure des Abends in eine Einsamkeit hineinspielen, in der sie hoffnungslos verloren sind. Sie wollen, aus welchen Gründen auch immer, mein Zuhören, das Zuhören des Publikums nicht hören. Kleist weist in seiner Schrift auf die Kreativfunktion hin, die dem Zuhören in einem Prozess zukommen kann. Wie eingangs erwähnt, wohnt jedem Artefakt immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Bezugspaar Ausdruck und Wahrnehmung inne. Eines der radikalsten Beispiele einer solchen Auseinandersetzung ist wohl das Werk 4’33’’ von John Cage (1912–1992), uraufgeführt 1952. In der Setzung eines Konzerts (Saal mit Publikum und Bühne mit Konzertflügel und Pianist) spielt der Pianist vier Minuten und 33 Sekunden lang: nichts. Die Stille selbst ist der Klang, den das Publikum hört. Sie bekommt in dieser Setzung die ihr eigene Wertigkeit und kann bewusst wahrgenommen und genossen werden. Dabei teilt Cage die 4’33’’ dauernde Stille in einen ersten, einen zweiten und einen dritten Satz auf. Er weist außerdem darauf hin, dass die Stille nicht unbedingt die eines Konzertflügels sein müsse. Es kann also ebenso gut die Stille eines Streichquartetts, eines Sinfonieorchesters oder einer Pauke zur Aufführung kommen. Mit dieser Anweisung öffnet Cage die Tür zu einem Nachdenken darüber, ob den unendlichen vielen Möglichkeiten der Klangerzeugung nur eine einzige Möglichkeit der Stille gegenüberstehe. Die ausdrückliche Erlaubnis von Cage, das Stück 4’33’’ mit unterschiedlichen Besetzungen zu interpretieren, kann in zwei Richtungen gedeutet werden: a) Es ist John Cage egal, welche Instrumente (nicht) spielen, da die Stille ja immer die gleiche ist. b) Gerade der ausdrückliche Hinweis auf diese Offenheit, deutet darauf hin, dass Cage der Meinung ist, dass es durchaus sinnvoll ist, 4’33’’ mit unterschiedlichsten Instrumenten aufzuführen, weil eine Stille eben gerade nicht einer anderen gleicht, auch wenn ein akustisches Messgerät dieselben Messwerte angeben würde.
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Dass Stille ebenso vielfältig ist wie die Möglichkeiten der Erzeugung von Klang, lässt sich meines Erachtens sehr gut nachweisen am Beispiel einer „geräuschlosen“ Kunst. Es ist in den bildenden Künsten von der Bildsprache die Rede. Wenn es eine solche Bildsprache gibt und wenn jedes Bild seine ihm eigene Sprache spricht, muss es in der Folge logischer Weise auch ein Bildhören geben.
Sandro Botticelli Venus und Mars
Agnolo Bronzino Allegorie mit Venus und
(Ausschnitt) um 1485
Cupido (Ausschnitt) um 1540 bis 1550
Diese Beispiele einander gegenüberzustellen, kann durchaus als plakativ bezeichnet werden: ein schlafender, also nicht aktiver Mensch neben einem wachen Menschen in höchster Erregung. Ein gleichmäßiges Atmen steht einem Schrei der Verzweiflung gegenüber. Wie nehmen wir aber den Klang der folgenden Bilder wahr?
Hans Holbein der Jüngere
Anthony van Dyck Equestrian Portrait of
Die Gesandten (Ausschnitt) um 1533
Charles I (Ausschnitt) um 1637
Hans Holbein der Jüngere Christina von
Pierre-Auguste Renoir Les Parapluies
Dänemark (Ausschnitt) um 1538
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Alle vier dargestellten Personen schweigen. Alle vier zeichnet zudem ein Gesichtsausdruck des Lächelns aus. Nimmt der Betrachter vier gleiche Stillen wahr oder hat jede Stille ihren eigenen Klang? Nehmen wir einen Unterschied des Klangs wahr, wenn anstatt einem zwei oder mehrere Menschen auf dem Bild zu sehen sind? Gibt es einen Unterschied zwischen der Stille im Allgemeinen und der Stille zwischen zwei Menschen, die als Schweigen bezeichnet wird?
Thomas Gainsborough The
Théophile Robert Sans Titre
Vladimir Dubossarsky Merry
Painter’s daughters with a cat
1927 © Neues Museum Biel
Christmas! 2014 © Ausstellung Balagan/Momentum 2015, Berlin
(Ausschnitt) um 1760
Natürlich ist mit Bildsprache nicht gemeint, die abgebildeten Menschen als Ursache von Klangereignissen, als Sprechende zu sehen und deren Worte dann zu imaginieren, so als wären die Bilder Comic-Zeichnungen ohne Sprechblasen. Auch Gemälde, in denen keine sprechenden Gesichter oder ausschließlich Gegenstände abgebildet sind, unterscheiden sich, so behaupte ich, in einem (nicht messbaren) Klang:
Hans Holbein der Jüngere
Willem Claesz. Heda
Joseph Beuys Infiltration for
Christina von Dänemark
Prunkstillleben 1638
Piano 1966
(Ausschnitt) um 1538
In den „zeitgebundenen“ Künsten, in Musik und Theater, ist die Stille weniger einsam, als die der Bilder und Gemälde. Es gibt ein Vorher und ein Danach. Entsprechend der Rahmung, welche die Stille umgibt, entfaltet diese ihre jeweilige ganz besondere Kraft, die nicht mit einem Mikrofon einzufangen ist. Wie kein Satz dem anderen gleicht, so ist auch
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eine Stille zwischen zwei Sätzen, zwei Klangereignissen nie dieselbe. Und doch gibt es etwas Gemeinsames, etwas, das jeder Stille eigen ist. Sie ermöglicht wieder neu das Zuhören. Die Stille birgt immer auch die Möglichkeit des Aufhorchens. Eine Stille ist eine Öffnung, nach der eine Handlung, ein Musikstück verschiedene Richtungen einschlagen kann, und ähnelt so immer auch einer Frage, einem Fragezeichen. Dieses Fragezeichen fragt nicht nur nach der Antwort, die die Stille beenden wird. Die Stille befragt auch, was vor ihr war. Selbst wenn es als Gewesenes gar nicht mehr verändert werden kann, so kann es in der Stille doch immer noch seine Bedeutung für den Ablauf des Gesamten ändern. Victor Turner, Ethnologe und Anthropologe (1920–1982), beschäftigte sich mit Umbrüchen, bei denen Individuen oder Gruppen einen Zustand mit bestimmten, wie auch immer gearteten Regelwerken verlassen und einen neuen Zustand und dessen Regelwerke entweder anstreben oder dazu gezwungen werden. Die Erfahrung als solche ist uns bekannt, jeder und jedem auf seine Weise. Zwischen diesen beiden Zuständen, also einem Vorher und einem Nachher, liegt, so Turner, ein Schwebezustand, den er Liminalität nennt. Alte Regeln gelten nicht mehr und neue Regeln gelten noch nicht. Jedes Klangereignis (also auch ein Satz) ist ein Vertrag zwischen dem, der ihn veräußert, also spricht, und dem, der ihn verinnerlicht, also hört. In diesem Sinne kann der Sprechakt als ein Mikrokosmos der Theorie Turners verstanden werden: Satz/Regelwerk à Stille oder Pause/liminale Phase à Satz/neues Regelwerk … Die eigentliche Veränderung, das Bewegende, die Umwälzung, geschieht analog zu Turners Theorie zwischen zwei Sätzen. Die Stille zwischen zwei solchen Klangereignissen ermöglicht das Entstehen eines: „Und nun?“ Sie kennzeichnet diesen Schwebezustand, in dem Bewegung möglich ist und der andauert, bis ein erneutes Klangereignis wieder stabile Verhältnisse herstellt. In diesem Muster ist also die Stille der Raum für das Mögliche, im weitesten Sinne der Raum, der besteht zwischen „sein oder (und) nicht sein“, also der Raum, in dem sich unser gesamtes Leben abspielt. In der Literatur, in Theater und Film, in der Musik gibt es unzählige dieser Momente, in denen das Eigentliche, die Bewegung, die Umwälzung in der Stille, der Pause zwischen zwei Vorgängen geschieht, so als würde dort das Hören den Rezipienten in andere Bereiche und endlose Vorstellungswelten führen. Die Umsetzung der Kreuzigung Jesu in der Matthäuspassion (BWV 244) von Johann Sebastian Bach (1685–1750) sei hier als eines vieler Beispiele genannt. Filmregisseure wie Federico Fellini (1920–1993) und Jacques Tati (1907–1982) erfinden immer wieder neue Möglichkeiten, wie der Umgang mit Klang und somit das Hören auf die Gesamtwirkung einzel-
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ner Szenen Einfluss nehmen kann. Im Film Playtime, den Jacques Tati 1967 gedreht hat, spielt eine Szene in einem futuristisch anmutenden Krankenhaus. Über einer gespenstischen Stille werden einzelnen Vorgängen in der Eingangshalle Geräusche zugeordnet, die aber alle knapp neben dem Geräusch liegen, das wir als Zuschauende und Zuhörende erwarten: eine abstrakte Komposition, die so raffiniert von der Realität abweicht, dass wir sie doch komplett als Tonspur für den Film akzeptieren, obwohl nichts so klingt, wie es klingt. Eine eigenartige Distanz und Kälte entsteht, die unterstützt wird von einer immer nur angedeuteten Stilisierung der Bewegungen der einzelnen Protagonisten. Mitten in diese Situation hineingepflanzt sitzt – immer wieder miteinander sprechend – ein älteres Ehepaar. Man versteht kaum, was die beiden älteren Menschen im Detail zueinander sagen. Man spürt nur: Da halten sich zwei Menschen in einer Welt, die ihnen vollkommen fremd und unheimlich ist, an der Sprache fest. Die Frau sucht Heimat in ihren Worten und Fragen des Alltags und er in seinen griesgrämigen Repliken. Trotz dieser Verstimmtheit scheinen beide froh, dass ihnen die Möglichkeit eines Dialogs geblieben ist in dieser Umgebung, der sie sonst gänzlich und einsam ausgeliefert wären. Zwei ganz unterschiedliche Klangwelten laufen hier parallel, sodass der Eindruck von zwei ebenso parallel laufenden Stillen entsteht. Es ist, als täten die beiden älteren Menschen nichts anderes, als uns durch ihre Sprache in dieser feindlich durchorganisierten Welt (des Krankenhauses) zu verteidigen. Ludwig Wittgenstein (1889–1951) beendet seinen Tractatus logicophilosophicus mit den gewohnt kategorischen Worten: „Worüber man nicht sprechen kann, soll man schweigen.“9 Das klingt gut. Scharf. Präzise. Kompromisslos. Dennoch möchte ich widersprechen, auch wenn dies die Sache der Kommunikation nicht gerade vereinfacht: Es gibt auch Dinge, über die kann man zwar nicht sprechen, aber man sollte es wenigstens versuchen, denn es könnte ja sein, dass eine Zuhörende oder ein Zuhörender weiterhilft. Und: Es gibt Dinge, über die kann man sehr wohl sprechen, aber man kann es durchaus auch sein lassen. Hören Sie den Aufprall der Stecknadel? … oder hören Sie deren Fall? 228
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1
Bibel, Johannesevangelium 1;1.
2
Ebd.
3
Ebd.
4
Bibel, Matthäusevangelium 10;15.
5
Schiller, Friedrich von: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 2. Teil, 10. bis 16. Brief, in: Schiller, Friedrich von (Hrsg.): Die Horen, 2. Stück. Tübingen 1795, S. 88.
6
Matter, Manni: „Dr Alpeflug“, in Matter, Mani: Warum syt dir so truurig?, Zytglogge Verlag Basel 2011; Songtext online abrufbar unter: www.songtexte.com/songtext/manimatter/dr-alpeflug-43c68f0f.html (letzter Zugriff 8. November 2018): Der Alpenflug: Zwei Freunde unternahmen in einem Sportflugzeug / Einen Alpenflug, / Fliegen zunächst empor zu den Gipfeln / Und dann die Gletscher entlang wieder nach unten. / Hinten sitzt der Passagier / Der, der steuert, sitzt vorn / Und um sie herum / Rattert und brummt der Motor. // Da ruft der hinten Sitzende: / „Schau, das Benzin geht aus, du solltest landen.“ / „Wie? Was sagst du?“, ruft der Pilot, / „Horch, ich hab dich nicht verstanden.“ / „Wie? Was hast du gesagt?“, ruft der hinten, / „Warum landest du nicht sofort?“ / „Rede doch lauter!“, spricht der vorne, / „Ich verstehe dich nicht wegen des Lärms.“ // „Ich verstehe nicht“, ruft der hinten, / „Warum landest du nicht? Bist du dagegen?“ / „Ich versteh dich nicht“, antwortet der vorne, / „Du musst es mir wirklich lauter sagen.“ / „Wie? Was sagst du?“, ruft dann jener, „schau, / Der Tank ist leer, du fliegst nicht mehr weit!“ / „Horch bei diesem Getöse“, / Ruft der vorne, „höre ich nichts.“ // „Aber hör doch auf mich!“, ruft der hintere / „Himmelherrgottnochmal, wir haben keine andere Wahl“ / „Jetzt rege dich nicht auf“, ruft der vorne, / „Rede halt lauter, Potzblitz!“ / „Horch“, ruft der andere, „wenn wir jetzt nicht landen, / Dann fallen wir ins Tal!“ / „Ich höre nach wie vor nichts“, ruft dann jener / „jetzt begreif das doch einmal?“ // So hat im Motorenlärm / Der Pilot eben nicht verstanden, / dass ihm jetzt das Benzin ausgehen könnte / und dass er deshalb umgehend landen sollte. / Dann auf einmal wird es still, / Da eben nun das Benzin ausgeht, / Und jetzt, wo man es verstanden hätte, / Haben beide nichts mehr gesagt.
7
Shakespeare, William: Hamlet, herausgegeben von Dietrich Klose, übersetzt von A. W. Schlegel, 3. Aufzug, 1. Szene, Stuttgart 1990, S. 73.
8
Kleist, Heinrich von: Werke und Briefe in vier Bänden, herausgegeben von Siegfried Streller, Frankfurt/M. 1986, Bd. 3, S. 722 f.
9
Wittgenstein, Ludwig: [Tractatus logico-philosophicus], in: ders.: Ein Reader, Stuttgart 1996, S. 45.
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AUTORINNEN UND AUTOREN -
Franziska Baumann ist Sängerin, Improvisatorin/Komponistin und Klangkünstlerin. Als Solistin, aber auch in verschiedenen Formationen und mit interdisziplinären Projekten gab sie international zahlreiche Konzerte. Als Vokalistin hat sie das expressive Potential der Stimme enorm erweitert und zu einem eigenen Instrument entwickelt. Am STEIM Amsterdam entwickelte sie ein elektronisch interaktives Instrumentarium – einen Sensorhandschuh, der ihr erlaubt, Stimm-, Klangund Raumartikulationen gestisch in Echtzeit zu kontrollieren. Ihr Repertoire als Komponistin umfasst Raumklangprojekte und Stimminszenierungen, elektroakustische und notierte Kompositionen und interdisziplinäre Arbeiten. An der Hochschule der Künste Bern unterrichtet sie zeitgenössische Stimmpraxis und Improvisation/Komposition. Sie war Mitarbeiterin bei den BFH-Forschungsprojekten Klang (ohne) Körper (2007/17) und Gesture Performance/Gestik als künstlerische Impuls (2009). www.franziskabaumann.ch Laurent Chétouane absolvierte nach seinem Diplom als Chemieingenieur einen Bachelor in Theaterwissenschaft an der Sorbonne und ein Studium der Theaterregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt. Seit 2000 entstanden zahlreiche Inszenierungen, u. a. in Hamburg, München, Weimar, Köln, Athen, Oslo und Zürich. Daneben verantwortet er seit 2007 tänzerische Projekte mit internationalen Gastspielen. Er erhielt die Wild Card der RUHR.2010 und 2008 den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für hervorragende junge Künstler. Außerdem war er künstlerischer Leiter des Master-Studiengangs Dramaturgie am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Gastprofessor in Gießen, Berlin und Bochum sowie Gastdozent in Oslo, Frankfurt, Hamburg, Leipzig und Fredrikstad (Norwegen). Gabriella Crispino studierte von 1979 bis 1985 Neuere und Ältere deutsche Literatur, Linguistik und Sport in München, ab 1987 Schauspiel in Berlin. Im Anschluss arbeitete sie zehn Jahre als freie Schauspielerin und Performerin, u. a. in Bonn/Bad Godesberg, an der Volksbühne Berlin und am Hebbel-Theater Berlin. Sie choreografierte u. a. für das Gefängnistheater aufBruch geschlossene wie öffentliche Räume (u. a. den Alexanderplatz in Berlin) und erarbeitete Sprechchöre mit
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lebenslänglich Inhaftierten der JVA Tegel in Berlin. Auf ihrem kontinuierlichen Weg der Erforschung von Imagination, Atem, Bewegung und Stimme lernte sie maßgeblich von Frieda Goralewski (Tradition Elsa Gindler), Kristin Linklater (Designation in Teaching, DLT) und Jurij Vasiljev. Sie unterrichtete Puppenspieler an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Filmschauspieler an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ (Babelsberg), Performer am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim, das Exil Ensemble am Maxim Gorki Theater Berlin. Seit 2000 lehrt sie Stimme und Sprechen an der Universität der Künste Berlin in der Abteilung Schauspiel. Bernd Freytag hat im ersten Jahrzehnt seines Theaterlebens vor allem an den Arbeiten Einar Schleefs und Frank Moritz’ mitgewirkt: als Chordarsteller, Chorleiter, Schauspieler und Regieassistent. Des Weiteren hat er für Inszenierungen von Bernarda Horres, Thomas Thieme, Volker Spengler Chöre einstudiert. Mehr als zehn Jahre arbeitete er im Team von Volker Lösch. Auch hier war er hauptsächlich für die Chorgestaltung verantwortlich. Seit einigen Jahren übernimmt er vermehrt Regiearbeiten und widmet sich der Veröffentlichung seiner Texte, die er parallel zu den Theaterarbeiten verfasst. Textlicher Arbeitsschwerpunkt ist dabei Lyrik. Zusätzlich unterrichtet er jährlich chorisches Sprechen für Regie- und Schauspielstudierende an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin sowie an der Universität der Künste Berlin. Eva Maria Gauß studierte Philosophie und Theaterwissenschaft in Bielefeld, Wien und Leipzig sowie Sprechwissenschaft in Halle. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin (Sprechwissenschaft) an der Universität Marburg und betrieb theoretische und praktische Forschung zur Philosophie des Körpers und der Stimme. Von 1996 bis 2006 war sie an freien (Körper-)Theaterproduktionen in den Bereichen Schauspiel, Dramaturgie, Regie mit zahlreichen internationalen Auftritten beteiligt. Seit 2006 gibt sie Lecture-Performances als „performative Sinnerfassungsmaßnahmen“ (auch unter dem Double-Namen Petra Lum). Von 2005 bis 2010 war sie im Programmbereich der Kulturstiftung des Bundes (Fonds Neue Länder) tätig. 2011 gründete sie das Festival für performative Philosophie [soundcheck philosophie] und Expedition Philosophie e. V. Sie lehrt an verschiedenen Universitäten und Einrichtungen (u. a. Philosophie und Performance, Sprecherziehung, Rhetorik).
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Autorinnen und Autoren
Heiner Goebbels ist Komponist und Regisseur. Er studierte Soziologie und Musik. Er arbeitete zahlreiche szenische Konzerte, Hörstücke, Kompositionen für Ensemble und großes Orchester. Seit Beginn der 1990er Jahre schuf er u. a. die Musiktheaterwerke Schwarz auf Weiss (1996), Max Black (1998), Eislermaterial (1998), Landschaft mit entfernten Verwandten (2002), Eraritjaritjaka (2004), Stifters Dinge (2007), I went to the house but did not enter (2008), When the Mountain changed its clothing (2012), mit einem Namen aus einem alten Buch (2018), Everything That Happened and Would Happen (2018), Klang- und Videoinstallationen (Documenta 1987/97, London 2012, Lyon 2014, Dresden 2016, Moskau 2017, Gießen 2018 etc.), CD-Produktionen bei ecm-records und die Anthologie Ästhetik der Abwesenheit. Er erhielt internationale Hörspiel-, Theater- und Musikpreise (u. a. Prix Italia, Europäischer Theaterpreis, International Ibsen Award) und war Composer in Residence beim Lucerne Festival, Mitglied mehrerer Akademien, Honorable Fellow des Dartington College of Arts und der Central School of Speech and Drama, London sowie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin (2007/08). Von 1999 bis 2018 war er Professor am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-LiebigUniversität Gießen, von 2006 bis 2018 Präsident der Hessischen Theaterakademie. Als Intendant der Ruhrtriennale war er von 2012 bis 2014 tätig; seit 2018 ist er erster Inhaber der Georg-Büchner-Professur der Justus-Liebig-Universität Gießen. www.heinergoebbels.com Leo Hofmann kreiert und spielt musiktheatrale Stücke, Klang-Performances und experimentiert mit hörspielartigen Formen. Seine Arbeiten setzen sich spielerisch mit Stimme, Bewegung und Technik auseinander und wurden auf diversen internationalen Festivals in Deutschland, England, Dänemark, Griechenland, Österreich, Kenia und der Schweiz gezeigt. Seine künstlerische Arbeit umfasst ferner Klanginstallationen, Hörspiele und Musik für Theaterproduktionen. Seit Abschluss seines Master-Studiums Contemporary Arts Practice an der Hochschule der Künste Bern 2013 erhielt Hofmann diverse Auszeichnungen und Förderungen, darunter die Residenz „Studio Roma“ des Instituto Svizzero di Roma, den Giga-Hertz Förderpreis für elektronische Musik des ZKM Karlsruhe, die Residenz des Fleetstreet Theater Hamburg sowie das Klangkunst-Stipendium des Landes Niedersachsen. Zusammen mit Benjamin van Bebber und Leonie Böhm gründete er 2015 das Institut für angewandtes Halbwissen; eine künstlerische Forschungs- und Produktionsgemeinschaft, die im Musiktheater nach Qualitäten und Sensibilitäten jenseits von Opulenz sucht.
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Autorinnen und Autoren
Julia Kiesler studierte von 1997 bis 2002 Sprechwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Anschließend arbeitete sie als Sprecherzieherin in der Abteilung Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig und am Theater Chemnitz sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sprechwissenschaft und Phonetik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2005 ist sie Dozentin für das Fach Sprechen im Studienbereich Theater der Hochschule der Künste Bern. Von 2012 bis 2017 war sie als Forschungsdozentin an der HKB tätig und leitete das vom Schweizerischen Nationalfond geförderte Forschungsprojekt Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater. Neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit ist sie künstlerisch als Sprecherin aktiv und trat u. a. mehrfach mit dem Berner Symphonieorchester auf. Anja Klöck ist Professorin für Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Sie arbeitete in den Bereichen Regie, Schauspiel, Performance und Dramaturgie. In ihren Publikationen und ihrer Forschungsarbeit beschäftigte sie sich mit Schauspielausbildung und Kalter Krieg in Deutschland 1945–1989, Schauspiel- und Darstellungstheorien seit der frühen Neuzeit, der historischen Avantgarde, Theater und Politik und Gegenwartstheater. Zuletzt erschienen „Acting on the Cold War: Imperialist Strategies, Stanislavsky, and Brecht in German Actor Training after 1945“ (in: Balme, Christopher/Zymanski-Düll, Berenika (Hrsg.): Theatre, Globalization and the Cold War) und „Geste, Gestus, und das Prinzip des gestischen Sprechens in Schauspieltheorie und -praxis“ (in: Rora, Constanze/Sichardt, Martina (Hrsg.): Gesten gestalten – Spielräume zwischen Sichtbarkeit und Hörbarkeit). Christina Laabs studierte Slawistik an der Freien Universität Berlin und legte ihr staatliches Examen als staatlich geprüfte Atem-, Sprechund Stimmlehrerin ab. Sie arbeitete als Stimmtherapeutin in der Phoniatrie der Charité Berlin bei Wolfram Seidner. 2000 wechselte sie in die künstlerische Sprecherziehung. Sie arbeitete als Lehrbeauftragte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin und an der Universität der Künste Berlin, wo sie 2009 eine Gastdozentur erhielt. Seit 2010 hat sie eine Professur an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in der Abteilung Puppenspielkunst. 2015 nahm sie den Ruf als Professorin für Sprecherziehung an das Thomas Bernhard Institut der Universität Mozarteum Salzburg an.
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Autorinnen und Autoren
Claudia Petermann studierte von 1997 bis 2002 Diplom-Sprechwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nach ihrem Studium unterrichtete sie an den Hochschulen für Musik in Weimar und Dresden sowie der Universität der Künste Berlin als Dozentin für das Fach Sprecherziehung im Bereich Gesang/Musiktheater und in der Schauspielausbildung an der Theaterakademie Mannheim. Als Sprecherzieherin arbeitete sie mit dem Schauspielensemble des Theaterhauses Jena und betreute verschiedene Opernproduktionen am Nationaltheater Mannheim. Von 2014 bis 2017 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater an der Hochschule der Künste Bern. Derzeit ist sie als selbstständige Sprechtrainerin tätig. Florian Reichert ließ sich im Anschluss an sein Musikstudium in Wien und Graz (Hauptfach Violoncello) an der Accademia Teatro Dimitri in Verscio (Physical Theater) ausbilden. Von 1987 bis 1997 war er am Compagnia Teatro Dimtri, Landestheater Tübingen, Schillertheater Berlin und Düsseldorfer Schauspielhaus tätig. Außerdem tourte er mit eigenen Produktionen (u. a. Der Stuhl hat vier Beine – oder: von einem, der auszog, die Wirklichkeit anzufassen, Gebrüder Beinhardt – Leichter Leiden mit Musik). Gastspiele führten ihn gemeinsam mit dem Tangotrio Tango Fusion durch Europa und nach Buenos Aires. An der Accademia Teatro Dimitri lehrte er Theaterimprovisation; von 1997 bis 2007 gehörte er dort der Direktion an und verantwortete die Transformation der Accademia Teatro Dimitri zur vom Bund anerkannten Hochschule für Physical Theater. Seit 2007 leitet er den Fachbereich Oper/Theater an der Hochschule der Künste Bern. In dieser Funktion ist er Mitglied der Departementsleitung. Hans Martin Ritter war langjährig Professor an der Universität der Künste Berlin (Theaterpädagogik/Szenisches Lied) und der Hochschule für Musik und Theater Hannover (Schauspielausbildung). Er trat als (Solo-)Schauspieler, Bühnensprecher und -sänger, als Pianist und Klavierbegleiter auf. Seinen Forschungsschwerpunkt bildet Brecht. Zu seinen wichtigsten Buchpublikationen zählen Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht (1986), Wort und Wirklichkeit auf der Bühne (1997/2014 3. Auflage), Sprechen auf der Bühne (1999/2018 4. Auflage), Der Schauspieler und die Musik (2001), ZwischenRäume – Theater und Musik. Grenzgänge zwischen Kunst und Wissenschaft (2009). Darüber hinaus veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze und
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Autorinnen und Autoren
hielt Vorträge und Workshops an diversen Institutionen und Hochschulen in der Schauspielausbildung, Theaterpädagogik und Sprechwissenschaft/Sprecherziehung. www.hansmartinritter.de
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RECHERCHEN 147 Res publica Europa 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 144 Gold / L’Or 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 140 Thomas Wieck . Regie: Herbert König 139 Florian Evers . Theater der Selektion 137 Jost Hermand . Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers Brecht-Studien 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 135 Flucht und Szene Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 133 Clemens Risi . Oper in performance 132 Helmar Schramm . Das verschüttete Schweigen 131 Vorstellung Europa – Performing Europe 130 Günther Heeg . Das Transkulturelle Theater 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 128 Torben Ibs . Umbrüche und Aufbrüche 127 Günter Jeschonnek. Darstellende Künste im öffentlichen Raum 126 Christoph Nix . Theater_Macht_Politik 125 Henning Fülle . Freies Theater 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig 123 Hans-Thies Lehmann . Brecht lesen 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft Leipziger Vorlesungen 116 Kathrin Röggla . Die falsche Frage Vorlesungen über Dramatik 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 113 Die Zukunft der Oper zwischen Hermeneutik und Performativität 112 Parallele Leben . Ein Dokumentartheaterprojekt 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit Dokumentarisches Theater 109 Reenacting History: Theater & Geschichte
Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de
RECHERCHEN 108 Horst Hawemann . Leben üben – Improvisationen und Notate 107 Roland Schimmelpfennig . Ja und Nein Vorlesungen über Dramatik 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit 105 Wie? Wofür? Wie weiter? Ausbildung für das Theater von morgen 104 Theater im arabischen Sprachraum 103 Ernst Schumacher . Tagebücher 1992 – 2011 102 Lorenz Aggermann . Der offene Mund 101 Rainer Simon . Labor oder Fließband? 100 Rimini Protokoll . ABCD 99
Dirk Baecker . Wozu Theater?
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Das Melodram . Ein Medienbastard
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Magic Fonds – Berichte über die magische Kraft des Kapitals
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Heiner Goebbels . Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater
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Wolfgang Engler . Verspielt Essays und Gespräche
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Adolf Dresen . Der Einzelne und das Ganze Dokumentation
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Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm
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Macht Ohnmacht Zufall Essays
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B. K. Tragelehn . Der fröhliche Sisyphos
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Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters Essays
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Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch
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Die Kunst der Bühne – Positionen des zeitgenössischen Theaters Essays
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Woodstock of Political Thinking . Zwischen Kunst und Wissenschaft Essays
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Falk Richter . TRUST Inszenierungsdokumentation
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Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Diskussionen
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Frank Raddatz . Der Demetriusplan Essay
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Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute Aufsätze
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per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Essays
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Reality Strikes Back II – Tod der Repräsentation Aufsätze und Diskussionen
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Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Aufsätze
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Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur Brecht-Tage 2008
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Sabine Kebir . „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht
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Theater in Japan Aufsätze
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Vasco Boenisch . Krise der Kritik?
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Anja Klöck . Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler?
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Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Essays
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Elisabeth Schweeger . Täuschung ist kein Spiel mehr Aufsätze
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Helene Varopoulou . Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater
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Kleist oder die Ordnung der Welt
RECHERCHEN 56
Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller
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Martin Maurach . Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 – 1945
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Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Essays
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Angst vor der Zerstörung Tagungsbericht
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Joachim Fiebach . Inszenierte Wirklichkeit
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Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Vorträge und Diskussion
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Sabine Schouten . Sinnliches Spüren
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Sire, das war ich – Zu Heiner Müllers Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Werkbuch
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Friedrich Dieckmann . Bilder aus Bayreuth Essays
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Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Aufsätze
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Stefanie Carp . Berlin – Zürich – Hamburg Essays
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Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Tagungsdokumentation
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Politik der Vorstellung . Theater und Theorie
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Theater in Polen . 1990 – 2005 Aufsätze
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Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Vorträge und Diskussionen
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VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze
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Carl Hegemann . Plädoyer für die unglückliche Liebe Aufsätze
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Johannes Odenthal . Tanz Körper Politik Aufsätze
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Gabriele Brandstetter . BILD-SPRUNG Aufsätze
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Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Vorträge und Diskussionen
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Falk Richter – Das System Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“
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Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk
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Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Aufsätze
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Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR
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Manifeste europäischen Theaters Theatertexte von Grotowski bis Schleef
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Hans-Thies Lehmann . Das Politische Schreiben Essays
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Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Vorträge und Diskussionen
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Friedrich Dieckmann . Die Freiheit ein Augenblick Aufsätze
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Gerz . Berliner Ermittlung Inszenierungsbericht
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Jost Hermand . Brecht-Aufsätze
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Martin Linzer . „Ich war immer ein Opportunist…“ Gespräche
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Zersammelt – Die inoffizielle Literaturszene der DDR Vorträge und Diskussionen
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Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Vorträge und Diskussionen
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Adolf Dresen . Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Aufsätze
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Maßnehmen . Zu Brechts Stück „Die Maßnahme“ Vorträge und Diskussionen
Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de
Das zeitgenössische Theater bringt neue Umgangsformen mit Texten und gesprochener Sprache hervor. In den Beiträgen dieses Tagungsbandes, der auf Basis eines Forschungsworkshops an der Hochschule der Künste Bern entstand, reflektieren Theaterpraktiker, Sprechwissenschaftler sowie Pädagogen der Schauspielausbildung über künstlerische Strategien des Sprechens und des Einsatzes der Stimme im Theater der Gegenwart. Darüber hinaus wird über methodische Ansätze der Sprechausbildung von Schauspielerinnen und Schauspielern nachgedacht und auf ihre aktuellen Herausforderungen hin diskutiert. Mit Beiträgen u. a. von Heiner Goebbels, Hans Martin Ritter und Laurent Chétouane.
ISBN 978-3-95749-197-8
www.theaterderzeit.de