Sorge um das Offene. Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater

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Julius Heinicke – Sorge um das Offene


Julius Heinicke Sorge um das Offene Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater Recherchen 148 © 2019 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Gerke Schlickmann Korrektorat: Sybill Schulte Gestaltung: Sibyll Wahrig Umschlagabbildung: © Can Stock Photo Inc. / Emir Simsek Printed in Germany ISBN 978-3-95749-196-1 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-249-4 (ePDF) ISBN 978-3-95749-250-0 (EPUB)


Julius Heinicke

Sorge um das Offene Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater

Recherchen 148


Inhalt

Zum Geleit Prolog Grenzen (auf) der Bühne: Wie geht Darstellung ohne Zurschaustellung?

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Theater mit Geflüchteten in Südafrika und Deutschland

Kapitel 1 Einleitung und Überblick Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater

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Ein südafrikanisch-deutscher Einstieg

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Rassismus und Blackfacing im Theater

27

Theater und Vielfalt in der Rainbow Nation

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Sichtbarmachung kolonialer Normen in Südafrika

31

„Männlich Weiß Hetero“: Ein Festival über Privilegien in Deutschland

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Wider binäre Dichotomien: Impulse der afrikanischen Kritik an westlichen Diskursen

35

Eine Metapher kolonial-binären Denkens: Hegels Herr und Knecht 37 Von Hegels kolonialer Metapher zur Ästhetik

39

Ästhetik in der afrikanischen Kritik

40

Rassistische Ästhetik im deutschsprachigen Theater: Die Schutzbefohlenen und Die Schutzlosen

45

Liminale Ästhetik/Aisthesis: Die Vreemdeling

49

Asymmetrische philosophische Ästhetik: Orpheus in der Oberwelt

52

Verknüpfungen von Ästhetik und Aisthesis, Asymmetrie und Liminalität, Autonomie und Anwendung: Theater als Verhandlungsraum zwischen den Welten

57

Die Sorge um das Offene: Vorüberlegungen zur Ästhetik der Entähnlichung

62

Kapitel 2 Unter Hegels Fittichen: Bürgerliche und koloniale Identität im Theater Brechungen und Neuinszenierungen einer bürgerlich-normativen Ästhetik: Das Berliner Maxim Gorki Theater

65

67


Inhalt

Verrücktes Blut I: Die Macht bürgerlicher Ästhetik

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Verrücktes Blut II: Verknüpfung von Theaterästhetik und Pädagogik

71

Theater als Wirkungsstätte der bürgerlich-kolonialen (Selbstbewusstseins- und) Herrschaftsbildung

74

Das Ich und das Andere: Der spekulative Prozess des bürgerlichkolonialen Selbstbewusstseins als Motor der kolonialen Herrschaft

77

Koloniales Begehren

80

Dialektik der Anerkennung: Dichotome Übertragungen von Herrschaft und Knechtschaft als gemeinschaftsstiftende und ausschließende Taktik

81

Versuche der Befreiung aus der Knechtschaft und aus der dichotomen Differenz

86

Hegels Ästhetik: Erfahrungsort der Differenz und das Ende der Kunst

92

Befreiungspotenziale und das Drama in Hegels Ästhetik

96

Rezente Ästhetikdiskurse unter Hegels Fittichen

100

Unter den Fittichen der Eule der Minerva: Potenziale der (Hegel’schen) Ästhetik

103

Kapitel 3 Vom postkolonialen Diskurs zur Ästhetik der Entähnlichung

107

Dekoloniale Strategien im Theater: In unserem Namen am Berliner Maxim Gorki Theater

108

Postkolonial-transkulturelle Vorbotin? Die Fiebach’sche Theatralität

117

Universalitätsansprüche postkolonialer Theorie

121

Abschied von der Semiotik und Hinwendung zum sozialgesellschaftlichen Kontext

126

Kulturelle Realitäten des Körpers versus Realismus im Theater

130

Interweaving Performance Cultures: Mistral von Susanne Linke und Koffi Kôkô

133

Verhandlungen von kultureller Vielfalt: Von der sozialen Theatralität über das postdramatische Theater zur Ästhetik der Entähnlichung

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Versionen von Freiheit

150

Der Weg des Ästhetischen ins Offene: Anne Imhofs Faust

154

Kapitel 4 Kulturpolitik als Sorge um das Offene

159

Kulturpolitik im Kontext gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt

160

Kulturpolitische Linien zur Förderung von kultureller Vielfalt in Deutschland seit der Jahrtausendwende

163

Wandelnde Formen von Kapital innerhalb der Kulturförderung

166

Kulturpolitik und kulturelle Bildung

169

Kunst oder Soziales? Überwindung von tradierten Grenzen

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Avantgardistische Reformen: Hildesheimer Thesen und der Paradigmenwechsel

175

Kompetenzvermittlung und künstlerische Freiheit: Tradierter Gegensatz oder vielversprechendes Tandem?

177

Applied Theatre als kulturpolitischer Hoffnungsträger?

180

Recherche und Feldforschung: Künstlerkollektive auf dem goldenen Mittelweg zwischen Kunst und Gesellschaft, Sozialem und Künstlerischem?

185

Ensembletheater und Intendanzsystem: Bremsen kultureller Vielfalt im Theater?

187

Vorbild Südafrika?

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Potenziale der Digitalisierung

192

Kulturpolitische Auswertung und Maßnahmen für den deutschen Kontext

195

Kapitel 5 Agentin kultureller Vielfalt oder Akteurin der „intercultural mafia“? Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis

203

Das Symposium „Theatre in Transformation“ in Südafrika

205

Kulturpolitik im Spannungsfeld: Das „Harare International Festival of the Arts“ in Zimbabwe (HIFA)

207


Mugabes repressive Kulturpolitik bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch

208

Die Weltoffenheit des Festivals als Konterpart zur reaktionären Politik des Regimes

211

„Enligh10ment“: Das Festival als Hoffnungsträger in politischökonomischer Krisenzeit

212

„The Engagement Party“: Das Festival zwischen politischenökonomischen Strategien und künstlerischer Unberechenbarkeit

214

Internationale Kulturpolitik als „Akteurin dazwischen“

216

Internationale Kulturpolitik und die Förderung von kultureller Vielfalt

217

Epilog Verschiedenheit als Gleichheit

223

Danksagung

225

Anhang

226

Theaterproduktionen, Performances und Festivals

227

Bibliographie

229

Endnoten

240



Zum Geleit -

Die darstellenden Künste verstehen sich, wenn man den jahrzehntelangen O-Tönen insbesondere aus den deutschen Stadt- und Staatstheatern Glauben schenken darf, als Hort und Ort der Selbstvergewisserung und Selbstverständigung in und mit der Gesellschaft. Aber wer ist die Gesellschaft? Auf welchen Strukturen fußt die Theaterlandschaft, und wohin bewegt sie sich in Anbetracht von Globalisierung und Digitalisierung, von Migration und Integration? Wie reagieren die Erscheinungsformen der darstellenden Künste in Inhalt und Ästhetik auf den demographischen Wandel? Wegen der umfänglichen öffentlichen Förderung des Theaters in Deutschland darf dabei die Rolle der Kulturpolitik als normative Kraft des Faktischen und im besten Falle als Konzeption für die Weiterentwicklung nicht unberücksichtigt bleiben. Julius Heinicke beschäftigt sich in seiner Habilitationsschrift vor allem mit der kulturellen Vielfalt als Schlüsselbegriff für die Perspektiven einer postkolonialen Theaterarbeit. „Obwohl seit einiger Zeit eine inter- und vermehrt auch transkulturelle Öffnung des Theaters propagiert wird, scheinen in deutschsprachigen Theaterprojekten (neo)koloniale Muster stets noch wirkungsmächtig zu sein“, stellt er bereits zu Anfang seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung fest und will sich diesem Dilemma stellen, um „mögliche Potenziale des Theaters für die Verhandlung kultureller Vielfalt auszuloten“. Programmatisch verbindet er den globalen Norden mit dem globalen Süden und untersucht deutsche und (süd-)afrikanische Theaterpraxis. Inszenierungen und Festivals stehen im Mittelpunkt der Beobachtungen. Analysen und Reflektionen der ästhetischen Ebene sind verbunden mit dem Blick auf die kulturpolitischen Rahmenbedingungen von Theaterprojekten. Forschung und Theorie will er mit Diskursen u. a. zur Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Achille Mbembes, entlang deren Phänomenologie des Geistes und der Kritik der schwarzen Vernunft anregen, mit einem Theater der Vielfalt koloniale Denkweisen zu überwinden. Er beschreibt die Diskurse um Diversität in Theorie und Praxis, wider binäre Dichotomien, in der Verknüpfung von Ästhetik und Aisthesis, Asymmetrie und Liminalität, Autonomie und Anwendung. Ihm geht es um die bürgerliche und koloniale Identität im Theater, um Herrschaftsbildung, die Dialektik der Anerkennung und um den Erfahrungs-

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Zum Geleit

ort der Differenz und führt den postkolonialen Diskurs zur Ästhetik der Entähnlichung von der sozialen Theatralität über das postdramatische Theater. Im Mittelpunkt der Erörterung steht eine Kulturpolitik als Sorge um das Offene; fokussiert wird auf dekoloniale Strategien, avantgardistische Reformen, kulturelle Bildung, künstlerische Arbeitsweisen und die Überwindung von tradierten Grenzen. Schließlich widmet er sich Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis und formuliert eine Reihe von Handlungsempfehlungen. Julius Heinicke ist ein kluger Chronist theaterpolitischer Entwicklungen, er ist ein ausgezeichneter Spezialist, wenn es um transkulturelles Theater geht, mit besten Kenntnissen in den deutschen und südafrikanischen darstellenden Künsten. Und er ist ein außerordentlich erfahrener Kulturwissenschaftler, dem es gelingt, eine weitere Begründung von Applied Theatre zu fundieren. Ihn interessiert der Einbruch des Anderen und des Fremden im Theater, er setzt auf eine soziale und pädagogische Wirksamkeit von Theater und weiß um die Wichtigkeit der Einbeziehung und Adressierung des Publikums, deren gesellschaftliche Wirkung durch die Öffnung des ästhetischen Raums. Mit den Begrifflichkeiten aus Mbembes Streitschrift, der „Sorge um das Offene“ und deren Prinzip von der „Entähnlichung“, bringt er neue Termini in die postkoloniale Debatte um ein Theater jenseits der Traditionen und der tradierten Strukturen, wider jene Gemeinschaftsbilder eines kolonial-dichotomen Differenzdenkens, die sich über Abgrenzung definieren. „Vielmehr sollen sie Vorstellungen favorisieren, in denen Gemeinschaft über die vielen Verschiedenheiten erschaffen wird, die schließlich jeder mit anderen teilt.“ Kritisiert wird eine Kulturpolitik, die eher polarisiert und nach dem künstlerischen Mehrwert fragt, offensichtlich aber ökonomische und marketingstrategische Zwecke meint. Immer wieder rekurriert Julius Heinicke bei seinen Interventionen in der Theaterlandschaft auf Hegel. Die gegenseitige Anerkennung, dass dieser vom Anderen und Europa gegenüber afrikanischen Ländern einfordere, sei geheuchelt, da sie die hierarchische Differenz zwischen Herr und Knecht nicht aufhebe, sondern die Spaltung in Schwarz und Weiß weiterspiele. „Die dichotome Differenzierung zwischen den beiden Wesen des Bewusstseins, die im Verhältnis von Herr und Knecht zutage tritt, ist so ein Grundmoment der westlich-bürgerlichen Identität und Motor des Kolonialismus samt dessen Degradierungsstrategien.“ Das Potenzial von Ästhetik sei noch lange nicht neu ausgelotet, weshalb Konzepte, die den asymmetrischen Blick auf Theater wagen, stärker auszuprobieren wären, weil sie ein Stück weit den kolonialen Gestus infrage stellen, im besten Falle zu thematisieren wissen und langfristig in

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Zum Geleit

System und Repertoire, in dekolonialen, feministischen und queeren Kontexten kulturelle Vielfalt im Theater verhandeln. Er spricht in diesem Zusammenhang gerne von Momenten des Unwissens, von einer Haltung der Entfremdung, vom Gestus der Entähnlichung. Mit solchen ästhetischen Erfahrungen „können womöglich Formen des Denkens entstehen: Denk- und Wissenschaftswesen, die sich aus kolonialen Kategorien herausgelöst und die Dichotomien des Abendlandes überwunden haben“. Julius Heinicke fordert, abgeleitet von den theoretischen Überlegungen, Innovationen und Veränderungsprozesse in der Praxis: Entscheidungsprozesse sollten zukünftig nicht mehr von hierarchischen Strukturen abhängen, das Intendantenmodell sei obsolet; Themenrecherchen müssten zum Produktionsprozess dazugehören, um sozial-kulturelle Partizipation zu ermöglichen; die Vernetzung mit gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen sei geboten, Theater dürfen nicht mehr die alleinigen Orte der Kunstelite bleiben; angepasste Förderkooperationen von Bund, Ländern und Kommunen sollten Freiräume für innovative Ideen schaffen; die Förderung von Kooperationen zwischen einzelnen Häusern, der Freien Szene und Festivals regional und bundesweit müssten kulturpolitischer Auftrag sein; es gelte zudem, die Auswahlverfahren an Schauspielschulen hinsichtlich kultureller Vielfalt anzupassen, um kulturelle Vielfalt auch im Personal abbilden zu können; und es wären Anreize zu geben, um die Überwindung von Stereotypen zu verhindern. Julius Heinicke plädiert für einen Strukturwandel innerhalb der Theaterlandschaft und fordert eine kulturpolitische Grundsatzstrategie für Theater als Verhandlungsort kultureller Vielfalt. Auf der Basis weiterer Vorschläge für Maßnahmen lautet seine Conclusio: „Eine nachhaltige Kulturpolitik sollte dafür Sorge tragen, dass viele dieser Räume und Sphären durch Kultur- und Theaterprojekte an vielen Orten der Welt entstehen.“ Die Sensibilisierung gegenüber vielfältigen Lebensentwürfen und Lebensgeschichten, das ist der Impetus, mit dem Julius Heinicke versucht, Theater neu zu denken. Und er bezieht sich kenntnisreich auf die Modelle aus der zeitgenössischen Praxis: Verrücktes Blut und In unserem Namen am Maxim Gorki Theater Berlin, Die Schutzbefohlenen nach Elfriede Jelinek am Thalia Theater Hamburg, Faust von Anne Imhof im Rahmen der Biennale in Venedig, Orpheus in der Unterwelt: Eine Schlepperoper von andcompany & Co. und Mistral von und mit Susanne Linke und Koffi Kôkô sowie das Festival „Männlich Weiß Hetero“ am Berliner HAU 2015 als Beispiele unter anderen aus

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Zum Geleit

Deutschland; Die Vreemdeling von Mark Fleishman am Magnet Theatre in Kapstadt, das „Harare International Festival of the Arts“ und die Tagung „Theatre in transformation“ der Universität Hildesheim und der Tshwane University of Technology 2016 in Pretoria und Soweto als Forschungsgegenstände von (süd)afrikanischer Seite. Julius Heinicke gelingt beeindruckend der theoretische Spagat über mehr als zwei Jahrhunderte Theater-Historie, Ästhetik-Diskurse und Kolonial-Geschichte. Er meistert dabei die Vermessung der darstellenden Künste am Puls der Zeit, mitten im Umbruch, an zentralen Stellen des Nachdenkens, vor allem der Versuche veränderter Praxis. Missverständnisse weiß er aufzuklären; indem er sie zur Diskussion stellt, hinterfragt und auch kritisiert. Den Bogen von Hegels Ästhetik von damals zur Praxis des Theaters heute spannt er pointiert und konfrontiert die postkoloniale Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis aus afrikanischen Kontexten. Der globale Süden zeigt sich demnach von zwei Seiten, in einer theatralen Praxis, die noch immer traditionelle Strukturen aus der Kolonialzeit zu pflegen weiß, und in einer philosophischen Theorie, die neue Strukturen für das Darstellen und Geschichtenerzählen zu schaffen imstande ist. Mit der Sorge um das Offene bereichert er die Debatte um ein neues Theaterverständnis als Kultur der Vielfalt, mit der „Entähnlichung“ den kulturpolitischen Auftrag jenseits von multi-, inter- und transkulturellen Entwicklungen in der Theaterlandschaft. Von großem Verdienst sind seine im Sinne angewandter Kulturpolitikforschung erarbeiteten Vorschläge für eine Cultural Governance, die ein Umsteuern in der öffentlichen Theaterförderung möglich machen könnten. Es geht Julius Heinicke um eine vielfältige Art und Weise, mithilfe von Theaterarbeit Sphären zu schaffen, in welchen diverse kulturelle Traditionen und Techniken genutzt werden, um die gesellschaftlichen Herausforderungen in politischer, in sozialer, vor allem in künstlerischer Hinsicht zu bestehen. Die Kunst der Verschiedenheit der Menschen könne im Theater entfaltet und als Gleichheit verstanden werden.

Prof. Dr. Wolfgang Schneider, Stiftung Universität Hildesheim

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Dieses Buch ist eine gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift, die an der Stiftung Universität Hildesheim eingereicht und von der Kommission als schriftliche Habilitationsleistung angenommen wurde. Einzelne Thesen und Beispiele wurden in früheren Veröffentlichungen bereits verwendet, hier jedoch in einen Gesamtzusammenhang gesetzt. Das betrifft insbesondere folgende Beiträge und Publikationen: Heinicke (2018): Post-Hegel, Heinicke (2017): Fallstricke; Heinicke (2017): Verstrickungen, Heinicke (2014): Die Toten, Heinicke (2012): How to Cook a Country. Die betreffenden Passagen sind gekennzeichnet. Der Prolog ist 2015 als Artikel in Theater heute veröffentlicht worden. The research leading to these results has received funding from the European Research Council under the European Union’s Framework Programme (FP7/2007 – 2013) / ERC grant agreement no 295759.

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Prolog Grenzen (auf) der Bühne: Wie geht Darstellung ohne Zurschaustellung? 1 Theater mit Geflüchteten in Südafrika und Deutschland -

Sie kommen aus dem Norden. Die Grenze ist löchrig, und Schlepperbanden besorgen den Rest: zu Fuß, über das Land, herunter vom Hochplateau, aus den angrenzenden Nachbarländern, Zimbabwe, Mosambik, Angola, aus Zentralafrika, dem Kongo, aber auch aus dem Nordwesten, Senegal, Elfenbeinküste. Sie kommen aus dem Süden. Zu Fuß, durch die Wüste, überqueren Landesgrenzen des Kontinents, aus Nord-, Ost- und Zentralafrika, Eritrea, Somalia, dem Sudan, ein lukratives Geschäft für die Schlepperbanden. Denn sie müssen weiter über das Wasser, das Meer der Toten, heutzutage die gefährlichste Route der Welt. Das Ziel derer aus dem Norden ist Südafrika. Sie leben in den Townships, deren Armut, Gewalt und Kriminalität. Dort nennt man sie „Aliens“. Sie sind die untersten in der menschenverachtenden Hierarchie, arbeiten hart und schicken das wenige Geld zu ihren zurückgebliebenen Familien. Sie werden gehasst, geschlagen und getreten. Das Ziel derer aus dem Süden ist Europa. „Asylanten“ – klingt wie „Aliens“, Schimpfworte. Manchmal dürfen sie weiterziehen, kommen von Auffanglagern in Flüchtlingsheime, sie werden eingepfercht, ausgegrenzt, malträtiert und beschimpft. Südafrika und Europa: Ein Land und ein Kontinent, beides Metaphern für Wohlstand und Traumlandschaften, deren Lobgesänge nicht verstummen wollen. Hier ist Arbeit, hier blüht das Leben, nämlich Wirtschaft und Export. Darauf ist man stolz, deswegen kommen sie vom Norden in den Süden und vom Süden in den Norden, aufwärts und abwärts wie die Ströme des Konsums, nur in entgegengesetzter Richtung. Wein, Früchte und Bodenschätze aus dem Süden, Autos, Waschmaschinen und Wertstoffe des Recyclings aus dem Norden. Routen der Globalisierung. In Südafrika erkennt man sie, weil sie anders sprechen. Offenkundig, wenn sie aus frankophonen Ländern Westafrikas kommen, doch auch die Menschen aus Zimbabwe, Mosambik und Malawi sprechen andere englische Akzente und fremde Sprachen wie Shona, Ndebele, Portugie-

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Grenzen (auf) der Bühne …

sisch, kein Xhosa, Afrikaans oder Zulu. Sie bringen selten Autos oder Waschmaschinen mit und werden verächtlich „Kwerekwere“ genannt, weil sie „Kauderwelsch“ sprechen, unverständliche Sprachen. Der Theaterautor Blessing Hungwe nimmt das onomatopoetische Schimpfwort in den Titel seines Theaterstücks auf. Burn Mukwerekwere Burn erzählt von den Gewalterfahrungen eines zimbabwischen Flüchtlings in Südafrika und richtet sich auf die grausamen Vorfälle der letzten Jahre, bei denen Geflüchtete im Großraum Johannesburg von blutrünstigen Mobs verfolgt und angezündet wurden. In der Inszenierung des Stücks integriert der Regisseur Giles Ramsay das Spielen zweier Instrumente, der mbira (Zupfidiophon) und ngoma (Trommeln). Der Geflüchtete wird von einzelnen Südafrikanern brutal massakriert. Die Fußtritte, die szenisch nur angedeutet sind, werden durch einzelne Trommelschläge markiert und verstärkt. Doch zwischen den Szenen der Gewalt erklingt das sanfte Zupfen der mbira. Es entstehen Momente, in denen der geschundene Mensch nicht nur zur Ruhe kommt und innehalten kann, sondern in denen Traurigkeit über den Hass, aber auch Hoffnung auf eine gemeinsame friedvolle Zukunft der unterschiedlichen ethnischen Gruppen erwächst. Da das Instrument im gesamten südlichen Afrika verbreitet ist, betont sein Einsatz gemeinsame kulturelle Hintergründe und Verwandtschaft zwischen Zimbabwern und Südafrikanern und ihre ähnlichen Erfahrungen wie Kolonisation und Apartheid. Das Gemeinschaftsgefühl wird verstärkt, indem die Darsteller, wenn sie musizieren, aus ihren Rollen heraustreten, die ihnen der Text vorgibt. In den Musikszenen stellen sie keine verfeindeten Protagonisten mehr dar. Die Inszenierung geht somit einen Schritt weiter als der Theatertext, der primär die Gewalt, den Hass und die Polarisierung der südafrikanischen und zimbabwischen Bevölkerung thematisiert. In Nicolas Stemanns Inszenierung der Schutzbefohlenen am Hamburger Thalia Theater scheint es genau anders herum zu sein. Auch im deutschsprachigen Raum widmen sich Theaterakteure der Flüchtlingsthematik, allerdings tut sich das Kunsttheater hierzulande schwer, eine angemessene Darstellungspraxis für diesen aktuellen „Stoff“ zu finden. Elfriede Jelineks Text versucht nicht nur, die Stimmen der Schutzbefohlenen als Chor in den deutschsprachigen Kanon zu integrieren, sondern verbindet diese mit den Mythenschichten vermeintlich westlicher Kultur. Der Rückgriff auf Aischylos’ Schutzsuchende, die Referenzen auf die danaischen Nachfahren der Io, die zum Schutz vor der eifersüchtigen Hera wegen ihrer Affäre mit Zeus von diesem zur Kuh verwandelt wurde und seitdem, das ist Heras Racheakt, von einer Bremse verfolgt über Landesgrenzen und Meere hinweg flüchtet, versinnbildlichen in

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Theater mit Geflüchteten in Südafrika und Deutschland

Jelineks Text – ähnlich dem mbira-Spiel in Burn Mukwerekwere Burn – die Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen und afrikanischen Protagonisten. Blicken wir auf die Antike samt ihren Ursprungsmythen, müssen wir feststellen, dass wir Europäer alle einmal kolonisiert wurden und Fremde waren, die dem abendländischen Kanon mit seiner christlichen Heilsbotschaft und seinem griechischen vollen phonetischen Alphabet einverleibt wurden. Was Jelinek als Text gelungen ist, nämlich die Kulturschichten und Lebensfäden miteinander zu verweben, wird in der Hamburger Inszenierung bewusst zerschlagen. Die bühnenerprobte Kunstsprache der einzelnen Schauspieler2 hebt sich deutlich vom Chor der Flüchtlinge ab und löst die kollektiven Intentionen des Jelinek’schen Textkanons auf. Die Inszenierung zelebriert in erster Linie die wichtige, aber folgenschwere Frage, wieso die Flüchtlingsdramatik das Kunsttheater an seine Grenzen führt. Die Regie will jedoch keine Antwort geben, sondern holt die betroffenen Menschen selbst auf die Bühne, die mit ihren Körpern die Realität nicht nur symbolisieren, sondern diese leibhaftig sind. Was gut gemeint ist, riecht verdammt schnell nach Exotismus. Das ist so gewollt, denn der Teufel kann hier wohl nur mit dem Beelzebub ausgetrieben werden, was Franz Wille folgerichtig die höhere Mathematik des Darstellungsrassismus getauft hat. Doch stellt sich die Frage, ob wir trotz jahrzehntelanger multikultureller, postkolonialer und neuerdings postmigrantischer Diskussionen keine anderen Darstellungsweisen gefunden haben? Hier lohnt sich ein Blick zurück auf die Inszenierung von Burn Mukwerekwere Burn. Wie in den Schutzbefohlenen stellen sich hier den Geflüchteten Mitglieder der Nation entgegen, in welcher die Menschen um Asyl bitten. Während die afrikanische Inszenierung jedoch eine Darstellungsweise gefunden hat, nämlich über die Musik eine Gemeinschaft zwischen zimbabwischen und südafrikanischen Protagonisten zu erschaffen, betont die deutsche Aufführung weniger die Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr die Differenz zwischen geflohenen und nicht-geflohenen, deutschsprachigen und nicht-deutschsprachigen Darstellern. Was in der Schriftsprache des Textes von Jelinek, also auf der Ebene der Symbole, gelingen mag, nämlich, dass die geflüchteten Menschen Teil des kollektiven Kanons werden, will die Bühne nicht einlösen, weil sie es offenbar (noch) nicht vermag. Vielleicht sollte hieraus gefolgert werden, dass die deutschsprachige Gesellschaft und ihr Theater sich hinsichtlich der Flüchtlingsthematik zunächst einmal mit sich selbst und ihren Ressentiments, Ängsten und Degradierungsbestrebungen beschäftigen will, bevor sie Methoden ent-

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Grenzen (auf) der Bühne …

wickelt, um die „Fremden“ und „Anderen“ in die Bühnen- und Rezeptionsästhetik aufzunehmen. Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper von andcompany&Co. zäumt das Pferd von hinten auf. In der Aufführung im Berliner HAU erscheinen keine Menschen, die um Asyl bitten, leibhaftig auf der Bühne, sondern werden von Schauspielern in Vogelkostümen repräsentiert, um der Absurdität von Grenzen Ausdruck zu verleihen. Im Zentrum stehen jedoch nicht die fliegenden und flüchtenden Protagonisten, sondern die Auseinandersetzung mit der abendländischen Kultur, ihrer Symbolik und den Mechanismen von Aus- und Abgrenzung. Die Schlepperoper ist voll von derlei Verweisen, das Bühnenbild ist überfrachtet mit Symbolen, und die Opernmusik von Monteverdi tut das Ihrige, um einen westlichen Gestus zu suggerieren. Doch es reicht nicht, dies zu sehen und sich selbstständig zu erschließen. Andcompany&Co. legen – allerdings überdeutlichen – Wert darauf, dass diese Referenzen verstanden werden, und dozieren und erklären vom Bühnenrand aus. So wähnt sich das Publikum auf einmal in einer Vorlesung der Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun: Die Geschichte des Abendlandes beginnt mit dem Alpha, dem ersten Buchstaben des Alphabets, das in seiner Ursprungsform zunächst die Hörner des Stiers, doch mit den Jahren den Ochsen und dessen Joch symbolisiert, was auf die Domestizierung der Männlichkeit im christlichen Abendland hindeutet. Ein cleverer Verweis, wird doch ersichtlich, dass so mancher Pegida-Demonstrant und Flüchtlingsgegner jenen Kompetenzverlust noch nicht überwunden hat und seine Aggression sich aus eben diesem nicht reflektierten Degradierungstrauma nährt. Hier funktionieren die Bezüge auf der Bühne, wenn auch nur mit Hilfe didaktischer Anwendung. Eine andere Herangehensweise, sich mit Flüchtlingen im Theater zu beschäftigen, hat eine oft von der hohen Theaterkunst belächelte Szene hervorgebracht. Viele Akteur*innen auf dem Feld des Applied Theatre arbeiten in Flüchtlingsheimen und Jugendzentren mit geflüchteten Menschen zusammen. Sie nutzen Theater, um mit ihnen in Dialog zu kommen, Grenzen und Ängste abzubauen und ihnen eine Stimme zu geben. Am Hamburger Hajusom erarbeiten jugendliche Geflüchtete und Migranten Theater- und Tanzstücke. Ende November zeigte das Theater auf seinem Festival „If we ruled the world – 15 Jahre Hajusom“, dass es jede Menge künstlerische Ansätze transnationaler Theaterarbeit gibt. Hajusom avancierte mit den Jahren zur Talentschmiede einer neuen vielversprechenden Generation Kunstschaffender. Im Berliner Haus der Kulturen der Welt hat der Refugee Club zusammen mit geflüchteten Menschen Letters Home auf die Bühne gebracht. Die Darsteller*innen

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Theater mit Geflüchteten in Südafrika und Deutschland

berichten ihren zurückgebliebenen Freunden und Verwandten über ihre Flucht und ihren Alltag in Deutschland. Im Publikum waren viele Menschen, die in Flüchtlingsheimen leben und in Bussen anreisten. Der Akt, gemeinsame Erfahrungen zu teilen, wurde jedoch abrupt abgebrochen. Die Performance überzog die Zeit, die Busse mussten fahren, bevor der Theaterabend zu Ende war, und diejenigen, die eben nicht frei sind, sondern auf die Busse angewiesen, mussten hektisch aufspringen und zurück in ihre Flüchtlingsheime, bevor sie applaudieren konnten. Applied Theatre ist eben eine besondere Theaterform. Die Akteure sind meist Laien. Sie sind verletzlich, denn die Geschichten, die hier verhandelt werden, sind mit der eigenen Biographie eng verknüpft. Angewandtes Theater ist stets mit gesellschaftlichen, politischen oder therapeutischen Zielsetzungen verbunden, welche, falls ein Publikum vorgesehen ist, auch an die Rezipienten gerichtet sind, sodass ein rein ästhetischer Kunstgenuss oft weniger im Vordergrund steht. Wie aber können diese Themen und Geschichten im Theater jenseits der Applied-Theatre-Szene verhandelt werden, ohne Zurschaustellung? Leonie Pichler hat mit dem Künstlerensemble Bluespot Productions in Augsburg mehrere Monate Geflüchtete begleitet und hieraus künstlerische Werke geschaffen, welche die Zusammenarbeit und Berührungspunkte repräsentieren. Ein kleines Büchlein unter dem Titel Ich bin „Un“Sichtbar.de zeugt davon. In Theaterstücken, Porträts, Liedern, Filmen, Kurzgeschichten, Dramentexten und Performances verarbeiten Künstler ihre Erfahrungen im Zusammentreffen mit Flüchtlingen. Doch auch ihnen wird von Kritiker*innen unterstellt, sie bereicherten sich an den Geschichten der Unterdrückten. „Am Anfang der Kampagne“, so schreibt die künstlerische Leiterin Petra Leonie Pichler, „kam oft der Vorwurf, wir würden die Flüchtlinge nur ausbeuten, um unser Kunstprojekt zu verwirklichen. Ich habe mich dann oft gefragt, wie man jemanden ausbeuten kann, der alles verloren hat?“ Tatsächlich entsteht in den einzelnen Projekten ein Gespür für das Miteinander; das gemeinsame Arbeiten geht über die künstlerische Arbeit hinaus in den Alltag. Der eine backt für den anderen, man unternimmt zusammen Ausflüge, ein erster gemeinsamer Anfang. Das Magnet Theatre im südafrikanischen Kapstadt folgt einem ähnlichen Ansatz und hat ausgefeilte Theatertechniken und Inszenierungsmethoden entwickelt. In einigen Produktionen stehen individuelle Geschichten von Geflüchteten im Mittelpunkt, die von professionellen Schauspielern auf der Bühne aufgeführt werden. Infolge der ausländerfeindlichen Attacken in den letzten Jahren produzierte das Theater mehrere Stücke, die sich mit Flucht, Migration und Xenophobie auseinan-

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Grenzen (auf) der Bühne …

dersetzen und hierzu innovative ästhetische Strategien nutzen. Every Year, Every Day, I am Walking erzählt die Geschichte einer Mutter und ihrer Tochter auf ihrem Weg aus einem zentralafrikanischen Land nach Südafrika. Im Mittelpunkt stehen jedoch die Verkörperungen dieser Geschichten jenseits der Sprache. Das Magnet Theatre, das seit 28 Jahren in den Townships von Kapstadt arbeitet und begabten Jugendlichen eine professionelle Ausbildung gibt, legt dabei den Schwerpunkt auf körperlichen Ausdruck. Das Hauptaugenmerk richtet die Trainingsleiterin Jennie Reznek darauf, ob die Verkörperung der Geschichte überzeugt. In einem Land mit elf Nationalsprachen, die Sprachen der Migranten nicht eingeschlossen, ist die Fokussierung auf die körperliche Darstellung nachvollziehbar. In der Inszenierung von Every Year, Every Day, I am Walking ergänzt der Regisseur Mark Fleishman die Dramaturgie der Fluchtgeschichte mit Tanz- und nonverbalen Ausdrucksszenen, welche die Bezüge zur Heimat und den dort gewohnten Ritualen schaffen, jedoch auch traumatische Gewalterfahrung thematisieren. Das Stück genießt großen Erfolg, sowohl im Ausland, wo es in 18 Ländern aufgeführt wurde, als auch in den Townships in Südafrika. Es scheint, als habe das Magnet Theater eine Bühnensprache gefunden, die in ihrer Symbolik und Form in den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten verständlich ist. Vielleicht auch aufgrund der langjährigen Erfahrungen mit vielfältigen Kulturen und den seit dem Ende der Apartheid stattfindenden Versuchen fairer, gleichberechtigter Aushandlungen ist Südafrika Deutschland offensichtlich einiges voraus. Andere Produktionen des Magnet Theatre spiegeln den fremdenfeindlichen Habitus, der einigen Ortschaften in Südafrika innewohnt, auf der Bühne wider. Die Vreemdeling (Der Fremde), das auf Afrikaans, dem ehemaligen „Kapholländisch“, aufgeführt wird, handelt von einer kleinen südafrikanischen Stadt, die sich zum Schutz vor fremden kulturellen Einflüssen von der Außenwelt abgeschottet hat. Doch auf einmal ist er da, die Vreemdeling, in Gestalt eines Protagonisten, dem Fremden, dem die Einheimischen zunächst mit Ressentiments und Vorurteilen begegnen, dessen Wissen und Erfahrungsreichtum im Verlauf des Stücks jedoch ebenso begrüßt und angenommen werden. Das Besondere der Produktion ist jedoch nicht der für Migrationsstücke eher typische Plot, sondern die Art und Weise, wie sich die Fremdheitserfahrung unabhängig von der Thematik des Stoffs durch das Theatersetting allein konstituiert. Die Bürger der kleineren Ortschaften, in denen die Produktion aufgeführt wurde, wie zum Beispiel Springbok, Leifontein und Citrusdal, hegen keine besonders große Affinität zum Theater. Da das Magnet

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Theater mit Geflüchteten in Südafrika und Deutschland

Theatre jedoch in Schulen und Jugendzentren und mit Workshops und anderen Veranstaltungen für die Produktion warb, waren die Aufführungen sehr gut besucht. Viele Zuschauer gingen zum ersten Mal und so mit einem Gefühl des Ungewohnten ins Theater, was sich im Verlauf des Stücks mit dem Fremdheitsgefühl gegenüber den unbekannten Traditionen und Ritualen des Protagonisten, die Vreemdeling, vermischte. Ob und inwieweit sich die Zuschauer nun im Laufe des Abends zu Theaterliebhabern gewandelt und Vorurteile gegenüber „dem Fremden“ überwunden haben, sei dahingestellt. Jedoch ist es bemerkenswert, wie es dem Magnet Theatre gelingt, Ressentiments gegenüber Menschen aus anderen Kulturen in Fremdheitsgefühle gegenüber Kunstpraktiken zu verwandeln, die der eigenen Kultur entnommen sind. Im Vergleich zu Südafrika ackern sich die deutschen Bühnen auffällig hartnäckig an der korrekten Darstellbarkeit der vermeintlich „Fremden“ ab. Denn die Frage, wer überhaupt geflüchtete Menschen darstellen kann und darf, betont, wie wir im Fall der Schutzbefohlenen gesehen haben, vor allem die Differenz zu ihnen. Die Blackfacing-Debatte hat zwar endlich den deutschsprachigen Theaterdiskurs erreicht, doch vermag sie auch, die Theaterpraxis und das Rezeptionsvermögen des Publikums zu wandeln? Um eigene Grenzen aufzubrechen, lohnt es sich, in andere Gewässer einzutauchen und den Blick woandershin zu wenden. Koproduktionen zwischen Theatern weltweit haben oft nicht nur zu neuen Erkenntnissen, sondern auch Praktiken geführt, sodass die Initiative der Bundeskulturstiftung TURN, afrikanisch-deutsche Kunstproduktionen zu fördern, vielversprechend ist. Bernhard Stengele, Schauspieldirektor der thüringischen Bühnen Altenburg und Gera, der bereits in seiner Würzburger Zeit international arbeitete, erhielt eine Förderung für das gemeinsame Theaterprojekt mit dem Carrefour International de Théâtre de Ouagadougou in Burkina Faso: Die Schutzlosen. Obwohl wenige Flüchtlinge in Europa aus Burkina Faso kommen, entpuppte sich die Thematik der antiken Schutzflehenden für beide Seiten als äußerst aktuell und dringlich. Die Adaption der Texte von Euripides und Aischylos verfasste Stengele mit dem burkinischen Autor Paul Zoungrana zum Teil auf der Insel Lampedusa, die mit dem Untergang eines Flüchtlingsschiffs mit Hunderten von Menschen kurz vor ihren Stränden im Jahr 2013 grausame Metapher für die vielen afrikanischen Toten im Mittelmeer geworden ist. Das Stück beginnt im Foyer der Bühne am Park in Gera. Eine Fotoausstellung von Lampedusa lenkt die Gedanken auf die Mittelmeerinsel, deren Badebuchten und Kliffe, die dunkelblaues Wasser umspült. Die

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Grenzen (auf) der Bühne …

Türen zum Saal öffnen sich, doch der Weg zu den Plätzen führt über die Bühne, entlang an Bauzäunen, hinter denen die Schauspieler um Hilfe betteln und sich flehend an die Gitterstäbe klammern. Eine bedrückende Situation, die umso bedrückender ist, da etwas wahr wird, was Stengele vorher prophezeit hat. Die Inszenierung funktioniert nur, wenn die Geflüchteten von den burkinischen Schauspielern dargestellt werden. Der blonden Schauspielerin nimmt man nämlich nicht nur das Betteln hinter den Gitterstäben nicht ab, sondern es ist das einzige Mal, in der sie in die Rolle eines Flüchtlings schlüpft. Zwei Schritte weiter fleht ihre Kollegin mit dunklen Haaren und dunkler Haut, und man ist betroffen, sie wird das ganze Stück lang Flüchtling sein. Vielleicht spielt sie einfach besser, oder ist man reingefallen auf die üble Schwarz-Weiß-Symbolik? Wieso nimmt man der dunkelhäutigen Darstellerin das Schauspiel eher ab als der hellhäutigen? Dies wirft uns wieder zurück auf die Frage, warum nicht nur in Gera, sondern auch in Hamburg, geflüchtete Menschen nicht von den eigenen Ensemblemitgliedern dargestellt werden, sondern die Rollen einmal mit echten Flüchtlingen, das andere Mal mit echten Afrikanern besetzt werden. Beide Inszenierungen lassen uns bei einer Antwortsuche im Regen stehen, weil sie es bewusst so wollen. Die Schutzlosen deuten auf den Rassismus in unserer Gesellschaft hin, der den burkinischen Schauspielern ganz alltäglich in Deutschland begegnet. Statt Gastfreundschaft legt man Fremdenfeindlichkeit an den Tag. Nicht nur die Bühne, sondern auch der Alltag legen hierzulande offenbar großen Wert darauf, die Differenz von Äußerlichkeiten zu betonen. Das ist eine der vielen ernüchternden und erschütternden Fakten, die das Ensemble mit Nachdruck schafft. Den Platz eingenommen, präsentiert das Stück eine Revue aus kurzen Szenen, in denen Statistiken, Erklärungen und Ausführungen über die Unzulänglichkeit und Abartigkeit unseres Asylrechts eingewebt sind. Man verspürt Unverständnis und Wut auf deutsche und europäische Behörden, deren Unzulänglichkeit, geflüchteten Menschen zu helfen, stattdessen den Banken und ihren BWL-Kumpels das Geld nachzuwerfen. Mit Fakten und Informationen gesättigt, hat der Zuhörende nun ein Ohr für die poetische Bildsprache Zoungranas. Wärmefolien werden zu Herrschermänteln, Papierbötchen gehen auf der Leinwand unter, und wieder ist es die Musik, bei der die Schauspieler Kämpfe und Rivalitäten beenden und zueinander finden. Doch je weiter der Abend rückt, umso mehr mischt sich König Pelasgos aus Aischylos’ Schutzflehenden ein und äußert seine staatsmännischen Bedenken gegenüber den geflüchteten Töchtern des Danaos, die um Asyl bitten. Das abstrakte Gesetz des Rechtsstaats, ungefähr zur gleichen Zeit entstanden wie die Tragödie, wiegt schwerer

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Theater mit Geflüchteten in Südafrika und Deutschland

als Humanität, welche die Schutzflehenden einfordern, schlimmer noch, es ist über die Jahrhunderte offensichtlich zum Naturgesetz geworden. Doch hier in Gera, wo die Wohnungen leer stehen, die Kinder wegziehen, Menschen gebraucht werden, spielen uns Die Schutzlosen vor, welch menschenverachtender und rassistischer Gestus diesen Gesetzen und unseren Sehgewohnheiten innewohnt. Für das deutschsprachige Kunsttheater ist es offensichtlich von Vorteil, Impulse aus anderen Kontinenten aufzunehmen. Vielleicht wird es irgendwann – wie in Every Year, Every Day, I am Walking am Magnet Theatre der Fall – keine Rolle spielen, welche Hautfarbe die Darstellerin der Frau hat, die aus dem Norden gen Süden geflohen ist.

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Kapitel 1 Einleitung und Ăœberblick

Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater


Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater

Ein südafrikanisch-deutscher Einstieg Dem Prolog – ein Artikel, der im Monatsmagazin Theater heute im Februar 2015 veröffentlicht wurde – liegen erste Beobachtungen zum Themenfeld Verhandlungen von Vielfalt mit und im Theater zugrunde. Er versteht sich als eine Art essayistisch gehaltene Umkreisung des Feldes und als Versuch, aus einem südafrikanisch-deutschen Vergleich wertvolle Impulse für die Diskussion in unseren Breitengeraden zu gewinnen. Die darin beschriebenen Theaterprojekte dienen als Material, auf welches nun die folgenden Überlegungen und theoretischen Verknüpfungen zurückgreifen werden. Noch vor dem Höhepunkt der sogenannten großen Flüchtlingskrise im Sommer 2015 hat das deutschsprachige Sprechtheater die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen der Fluchtbewegungen aufgegriffen und auf vielfache Art und Weise verhandelt. Gleichwohl verdeutlichen die Inszenierungen Die Schutzlosen in Gera und Die Schutzbefohlenen in Hamburg, dass das deutsche Stadt- und Staatsschauspiel hinsichtlich der Darstellung von Menschen anderer Kulturen vor einem Dilemma steht. Obwohl seit einiger Zeit eine inter- und vermehrt auch transkulturelle Öffnung des Theaters propagiert wird, scheinen in deutschsprachigen Theaterprojekten (neo)koloniale Muster stets noch wirkungsmächtig zu sein. Gleichzeitig wurde im Prolog insbesondere an Beispielen aus dem südlichen Afrika deutlich, welche innovativen Möglichkeiten die Kunst- und Kulturszenen entwickeln, sich dieser Hierarchien zu entledigen. Um sich diesem Dilemma zu stellen und mögliche Potenziale des Theaters für die Verhandlung kultureller Vielfalt auszuloten, widmet sich die folgende Untersuchung afrikanischer und deutscher Theaterpraxis auf dem Themenfeld der Verhandlung kultureller Vielfalt. Anhand verschiedener rezenter Projekte, Festivals und Inszenierungen geht sie zunächst dem kolonialen Erbe nach. Hegels Philosophie kommt hier eine Schlüsselfunktion zu, denn mit ihr lässt sich der koloniale Gestus des bürgerlichen Theaters in Europa und in Afrika präzise analysieren. Andererseits wird dem Theater in letzter Zeit aufgrund seiner postdramatischen Gestaltungsmöglichkeit ein hohes transkulturelles Potenzial zugeschrieben. Interessanterweise wird dieses ebenfalls in Hegels Ästhetik ansatzweise formuliert. Ausgehend von dieser paradoxen Situation abendländischen Denkens und ästhetischer Praxis, die bereits mit Blick auf Hegels Philosophie augenscheinlich wird, wird im Folgenden über eine Neuausrichtung der Ästhetik und ihrer Praxis nachgedacht. Mithilfe von Impulsen von Theaterprojekten aus dem süd-

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Rassismus und Blackfacing im Theater

lichen Afrika und Deutschland wird die Theorie einer Ästhetik der Entähnlichung vorgestellt, die abendländisch-europäische Vorstellungen, wie sie u. a. Joachim Fiebach, Erika Fischer-Lichte und Christoph Menke entwickeln, mit Diskursen aus dem afrikanischen Kontext, die u. a. Achille Mbembe jüngst vorgestellt hat, verknüpft. Im Zusammendenken dieser afrikanischen und europäischen Traditionen erschließt sich ein möglicher Weg, kulturelle Vielfalt im Theater nicht in kolonialer Tradition zu beschneiden, sondern gerade aus der Verschiedenheit heraus ein ästhetisches Erleben zu schaffen. Neben den ästhetischen Ebenen richtet sich der Blick auf die kulturpolitischen Rahmenbedingungen der Theaterprojekte, denn jene künstlerischen Neuanfänge, Überschreitungen und Gegenentwürfe von Gewohntem, Etabliertem und Tradiertem sind nicht möglich, wenn sie nicht von dieser Seite initiiert und unterstützt werden. Kulturpolitische Akteurinnen und Akteure sowie Organisations-, Management- und Förderstrukturen schaffen die strukturellen und strategischen Voraussetzungen für Theater- und Kunstschaffen im Feld kultureller Vielfalt. Bisweilen fordern sie vermehrt eine gesellschaftspolitische Ausrichtung und Öffnung der Theaterlandschaft in Richtung Transkulturalität, kulturelle Bildung und Vermittlung. So zeigen einige Beispiele im Prolog, dass im Kontext der zunehmenden gesellschaftlichen und kulturellen Diversität national und international ein Umdenken innerhalb der Theaterlandschaft erforderlich ist, welches kulturpolitische Entscheidungen und Strategien impliziert. So wird in den letzten beiden Kapiteln dem kulturpolitischen Potenzial nachgegangen, nationale und internationale Theater- und Kulturprojekte als Orte und Räume der Verhandlung kultureller Vielfalt zu erschaffen und zu etablieren.

Rassismus und Blackfacing im Theater Die Frage, wie nun eigentlich Geflüchtete auf der Bühne dargestellt werden sollen, nährt eine seit Monaten lodernde Debatte um Blackfacing, entflammt durch die provokative Aufführung von Brett Baileys Exhibit B während des Festivals „Foreign Affairs“ der Berliner Festspiele,3 aber auch durch andere Inszenierungen deutschsprachiger Regisseure wie Thalheimers Unschuld am Deutschen Theater in Berlin,4 deren Akteure sich für ihr Blackfacing naiv-unschuldig gaben,5 und Sebastian Baumgartens Die heilige Johanna der Schlachthöfe,6 in welcher das GanzkörperBlackfacing einer weißen Schauspielerin auf dem Plakat des Theatertreffens 2013 ganz offensichtlich mittels Provokation Öl ins Feuer gießen

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Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater

sollte. Joy Kristin Kalu stellt in dieser Art von Inszenierungen ein rassistisches Gebaren fest, da weiße Regisseure das sensible Zeichenrepertoire dunkler Hautfarbe nutzen: Resignifizierung und Dekonstruktion verletzender Zeichen sind vielmehr immer auch als politische Praxis zu verstehen, bei der die Möglichkeit der Umdeutung zuallererst bei ebenjenen liegt, die der Gewalt des Zeichengebrauchs ausgesetzt sind. Diese fehlten auf der Bühne und im künstlerischen Team von Baumgarten und hätten ansonsten vermutlich dessen rassistische Darstellungspraxis verhindert.7 Die Frage, wer „verletzende Zeichen“ inszenieren darf und wer nicht, wird kontrovers diskutiert. In der Londoner Barbican Gallery wurde Brett Baileys Projekt wegen heftiger Proteste vorzeitig von den Veranstaltern abgesetzt. Der weiße Südafrikaner argumentiert jedoch aus einer entgegengesetzten Position. Gerade, weil er ein weißer Mann mit burischen Vorfahren sei, inszeniere er in Exhibit B die rassistischen Degradierungen der Kolonialzeit und Apartheid.8 Die Produktion gleicht einer Ausstellung historischer Zeit, jedoch mit Schauspielerinnen und Schauspielern, deren körperliche und phänomenologische Zeichensysteme von dem rassistischen Schwarz-Weiß-Raster nicht abweichen und die als inszenierte Ausstellungsobjekte den Blicken der Betrachter leibhaftig ausgesetzt sind: Eine schwarze Frau sitzt halb nackt in einem Käfig, und es sind – zumindest in der Berliner Inszenierung – zum großen Teil weiße Zuschauer, welche diese begaffen. Zweifelsohne kann diesem Gebaren vorgeworfen werden, dass Bailey als weißer Regisseur, der die schwarze Schauspielerin als koloniales Objekt inszeniert, rassistisch handelt. In diese Richtung argumentieren die Proteststimmen gegen Exhibit B in Berlin und London. Die in die Kritik geratenen Künstler kontern mit der Freiheit der Zeichennutzung innerhalb des Kunstschaffens und werfen der Gegenseite vor, die Diskurshoheit mithilfe von Zensur einseitig zu beanspruchen.9 In Südafrika, der Heimat von Bailey und seinem Team, wurden die Aufführungen zwar kontrovers diskutiert, doch kam es zunächst nicht zu solch heftiger Kritik. Erst nach den Protesten in London schwappte die Welle der Kritik, so der Regisseur, zum afrikanischen Kontinent herüber.10 Sein Vorhaben wurde zunächst, so auch mein Eindruck in den Gesprächen, die ich in Südafrika führte, eher als „weiße Selbstkritik“ gedeutet, beziehungsweise als ein Anliegen, die grausame Geschichte der Apartheid und somit auch die Geschichte der Drangsalierten nicht zum Verschwinden zu bringen.11

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Theater und Vielfalt in der Rainbow Nation

Derlei unterschiedliche Reaktionen und Ansprüche auf die Inszenierung von Zeichen, die im rassistischen Denken eine Rolle spielen, verleiten zum Nachdenken und bestärken das Ansinnen, die rezenten Diskurse im deutschsprachigen Theater mit denen im südafrikanischen in Dialog zu bringen und Impulse aus dem Süden im Norden aufzunehmen, so, wie es im Prolog ansatzweise geschah. Die sich gegenwärtig in der deutschen Kunstszene abzeichnende Verhärtung der Fronten besorgt zunehmend, da die Offenheit des Verhandelns von Diskursen im Theater tendenziell bedroht scheint. Sicherlich, die gesellschaftliche Situation Südafrikas unterscheidet sich maßgeblich von der deutschen. Die Bevölkerungsgruppen sind von einer jahrhundertelang herrschenden kolonialen und rassistischen Ordnung gebeutelt und heutzutage mit einem sozialen und materiellen Ungleichgewicht konfrontiert, das mit den Herausforderungen hierzulande kaum vergleichbar ist. Gleichwohl, das verdeutlicht der Vergleich beider Länder im Prolog, sind sowohl Südafrika als auch Deutschland nicht nur von den gegenwärtigen Migrations- und Fluchtbewegungen sowie rassistischem Gebaren betroffen, sondern reagieren auf diese Herausforderungen mit und im Theater. Ein horizontüberschreitender Vergleich kann dazu beitragen, dass Diskussionen in den Theaterszenen nicht in polaren Fronten zu ersticken drohen.

Theater und Vielfalt in der Rainbow Nation Auf den ersten Blick schaut Theaterschaffen in beiden Ländern auf ganz unterschiedliche Traditionen und Bedeutungsgefüge zurück. Die präkolonialen Gesellschaften Südafrikas nutzten ein weitaus größeres Spektrum an performativen Traditionen als ihre europäischen Besatzer. Erstaunlicherweise oder vielleicht, um diesen im gegenseitigen Vergleich „begrenzt“ erscheinenden Theaterkanon der Eroberer zu kaschieren, wurde es von den Europäern als Mittel zur Kolonisation eingesetzt. Während afrikanische Performance-Traditionen aus den Gesellschaften verbannt wurden, erhielt jedes Städtchen ein Theater europäischer Provenienz, welches der weißen Minderheit vorbehalten war. Obwohl einige Häuser, wie das Market Theatre in Johannesburg, zu den Keimzellen der Antiapartheidbewegung zählen, gestaltete sich in der befreiten Republik nach 1994 Theaterarbeit im europäisch-klassischen Design zunächst äußerst ambivalent. Nur Schritt für Schritt avancierte es im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends mit bedeutenden Regisseuren wie Paul Mpumelelo Grootboom zu einem einflussreichen Ort gesellschaft-

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Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater

licher Verhandlung der Postapartheidgegenwart, das breite Publikumsgruppen erreichte. Heutzutage, ein Vierteljahrhundert nach Gründung der sogenannten Regenbogennation, hat der Frust über die junge Republik, nichts an den gesellschaftlichen Ungleichgewichten ändern zu können, auch das Theater erreicht. Auf der Tagung „Theatre in Transformation“ diskutierten im März 2016 einflussreiche Vertreter des südafrikanischen Sprechtheaters die aussichtslose Lage: Gleich zu Beginn der Tagung wurde die Hoffnung auf die Wirkungsmacht von Theater für gesellschaftlichen Wandel jedoch jäh zerschlagen. Der für seine Township Stories über die Landesgrenzen hinaus bekannte Autor und Regisseur Paul Mpumelelo Grootboom zeichnete mit Äußerungen wie „Theatre is not the spirit of our time“ und „We exaggerate the power of change through theatre“ eine düstere Bilanz seines Wirkens […].12 Solch pessimistische Grundstimmung spiegelten jedoch in erster Linie die Vertreter des Sprechtheaters wider, also der Produktionen, die meist auf den ehemaligen kolonialen Bühnen im klassisch-europäischen Gewand der Guckkastenbühne aufgeführt werden. Die Akteure der Applied-Theatre-Szene sahen dagegen große Chancen im Theaterschaffen und festigen den bereits im Prolog vermittelten Eindruck, dass es in den angewandten Szenen vielversprechende Ansätze gibt, sich den gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. In Südafrika ist die Grenze zwischen „applied“ und „Kunst“-Theater durchlässiger als in hiesigen Breitengeraden. Dies scheint für die deutschsprachige Diskussion von großer Relevanz, da – wie es die im Prolog vorgestellten Inszenierungen von den Schutzlosen und den Schutzbefohlenen offenbaren – die klassischen Kunstbühnen Deutschlands für das Themenfeld Flucht ebenfalls ihre Pforten öffnen und Akteur*innen des Applied Theatre einbeziehen. So kooperierte das Thalia während der Proben zu den Schutzbefohlenen eng mit Kampnagel und dessen sozialen Projekten mit geflüchteten Menschen. Ein wichtiger Impuls aus Südafrika wird sein, innerhalb der wissenschaftlichen Reflexion und Analyse theaterwissenschaftlich-ästhetische und theaterpädagogischgesellschaftliche Aspekte zusammenzudenken und miteinander in Dialog zu bringen, was bis dato eher selten geschieht.13

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Sichtbarmachung kolonialer Normen in Südafrika Ein weiterer Impuls, der von Südafrika hierzulande aufgenommen werden kann, ist die Art und Weise, mit der Theater Normen und Werte, die Rassismus und Stereotypisierungen des Fremden fördern, verhandelt und dekonstruiert. Das Magnet Theatre zeigt mit Die Vreemdeling, dass die symbolische Ordnung, die sich hinter den Bildern des „Fremden“ und den Fremdheitserfahrungen beim Publikum verbirgt, dem Kolonialismus zugrunde liegt. Das Stück macht diese koloniale Normsetzung anhand der Vorurteile gegenüber dem „Fremden“ sichtbar und erfahrbar. Blicken wir zunächst auf die Darstellung des Fremden in Die Vreemdeling, fällt auf – so zeigen es auch die anderen Beispiele aus Südafrika im Prolog –, dass sich Rassismus in Südafrika nicht auf Hautfarbe reduzieren lässt, sondern eine Strategie der Degradierung dessen ist, was von der kolonialen Norm abweicht, sei es die Sprache, ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung. Mit dem Ende der Apartheid war es der in vielen Teilen der Welt begrüßte Wunsch der Regierung unter Nelson Mandela, eine „Rainbow Nation“ zu gründen, die nicht nur der Vielfalt der ethnischen Gruppen, sondern auch der Vielfalt an Lebensweisen und sexuellen Orientierungen einen rechtlichen Rahmen gibt. Südafrika hat die gleichgeschlechtliche Ehe als eines der ersten Länder in seiner Verfassung verankert. Der Herausgeber der sich selbst als „panafrikanisch“ titulierenden Zeitung Chimurenga, Ntone Edjabe, beschreibt den Zeitgeist der jungen Republik, Rahmenbedingungen zum Leben von gesellschaftlicher Vielfalt zu schaffen: „In Südafrika herrschte nach Mandelas Freilassung totale geistige Freiheit. Alles wurde hinterfragt: Gott, Politik, Sex. Es waren Afrikas Flitterwochen mit der Zukunft.“14 Der gesellschaftspolitische Diskurs der Postapartheidära fordert nicht nur die Gleichstellung von Ethnien ein, sondern auch von allen gesellschaftlichen und sozialen Lebensentwürfen und Orientierungen, die ebenso zum großen Teil aus kolonialen und anderen traditionellen Normen herausfallen und Jahrhunderte lang degradiert wurden.15 Die Regenbogennation hat aus dem Rassismus der Apartheid die Konsequenz gezogen, ein Staat der kulturellen und gesellschaftlichen Vielfalt sein zu wollen und diese mit der Verfassung zu schützen. Sicherlich wurden und werden die verschiedenen Gruppierungen ganz unterschiedlich von den kolonial motivierten Degradierungsbestrebungen drangsaliert, es darf hier also nicht um „Gleichmacherei“ gehen. Vielmehr soll in der Einbeziehung dieser diversen, lange Zeit benachteiligten und degradierten Gruppierungen das koloniale Prinzip und dessen Wir-

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Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater

kungsmechanismen entlarvt werden. Mit einem vergleichenden Blick auf Südafrika soll der Frage nachgegangen werden, auf welche Art und Weise es in hiesigen Breitengraden wirkungsmächtig ist und wie Theaterarbeit sich ihm stellt.

„Männlich Weiß Hetero“: Ein Festival über Privilegien in Deutschland 21 Jahre nach dem Ende der Apartheid präsentiert das Berliner HAU 2015 ein Festival, das an die gesellschaftlichen Debatten zur Gründungszeit der Regenbogennation erinnert und der kolonialen Norm einen Namen gibt: „Männlich Weiß Hetero: Ein Festival über Privilegien“. Im Vergleich zu Südafrika also relativ spät, dafür mit einer gewissen Dringlichkeit, setzen sich in letzter Zeit Theaterfestivals hierzulande mit Themenfeldern auseinander, die weitestgehend innerhalb postkolonialer Diskurse zu verorten sind.16 Der Titel des Festivals am HAU gibt der kolonialen Norm eine Gestalt: der weiße, heterosexuelle Mann. Er beherrscht(e) nicht nur die ehemaligen Kolonien, sondern treibt, so argumentieren die kurzen Essays im Begleitheft, sein Unwesen ebenso in den europäischen Ursprungsländern der Kolonisten. Das vermeintlich Andere, das heutzutage in vielerlei Augen geflüchtete Menschen symbolisieren, wurde und wird seit Jahrhunderten dem Weiblichen, den Homosexuellen und den People of Color zugeschrieben. Auch heutzutage, so suggeriert die Trias Männlich-Weiß-Hetero, sei es von Vorteil, der kolonialen Norm entsprechend, ein weißer, heterosexueller Mann zu sein: Männer haben bessere Berufschancen als Frauen, weiße Menschen haben höhere Lebensstandards als schwarze, und heterosexuelle genießen jede Menge gesellschaftliche Vorteile gegenüber homosexuell lebenden Menschen. Mit Blick auf die Anhängerschaft radikaler nationaler Bewegungen, die zum Teil männlich und weiß sind und eher ein heterosexuelles Verhalten an den Tag legen, kann ein pauschaler Vorwurf der Privilegierung jedoch ebenso bezweifelt werden. Sind dem heterosexuellen, weißen Mann heutzutage wirklich die meisten Privilegien vergönnt? Die Autorinnen und Autoren des Programmhefts bejahen dies mit Nachdruck: Sie beschreiben die außerordentliche Machtposition einer Figur, die das Privileg besitzt, die standardisierte „Benutzeroberfläche“ westlicher Gesellschaften zu sein. Das Festival kreiert ausgehend von dem Standard des männlichen, weißen Heterosexuellen jede Menge Stereotype aus kulturellen Zuschreibungen, die dieser Norm und ihrer symbolischen Ordnung

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„Männlich Weiß Hetero“: Ein Festival über Privilegien in Deutschland

konträr gegenüberstehen. Die üblichen drei verdächtigen Gruppierungen sind, das stellt die Journalistin Özlem Topçu diesem Schema fraglos folgend fest: Frauen, Schwule und Migranten: Lange Zeit war der weiße Mann das Maß aller Dinge, die Norm, die Vergleichsgröße für alle anderen, der Babo unter den Menschen. Sein „westlich“ aufgeklärter Blick bestimmte, wie der Rest der Welt zu sein hatte, wie und was „der Orient“ etwa ist. Oder kleiner: Er saß (und sitzt vorwiegend) an den Schaltstellen von Kapital, Arbeitswelt, Gesellschaft und Politik und bestimmte, wer reinkommt. Wer eingestellt wird. […] So kommt es etwa, dass in Zeitungsredaktionen, Behörden, Ministerien oder […] kulturellen Institutionen zwar immer mehr (weiße) Frauen sitzen, Schwule auch, hier und da mal ein Ossi. Die Zahl der Migranten befindet sich jedoch weiterhin im unteren einstelligen Prozentbereich.17 Topçu reiht verschiedene, mehr oder weniger marginalisierte Gruppen aneinander: Frauen, Schwule, Ossis, Migranten. Obwohl sie betont, dass Migranten im Vergleich besonders benachteiligt sind, an „Schaltstellen“ zu gelangen, schließt ihre Definition marginalisierter Gruppen auch Vertreter der weiß-europäischen Mehrheitskultur mit ein. Gerade, weil nun auch der benachteiligte „Ossi“ nicht unbedingt homosexuell sein muss, vielmehr der „Problemstereotyp“ nationaler Gesinnung in ländlichen Gebieten Mittel- und Nordostdeutschlands sich die Tribute „Männlich-Weiß-Hetero“ zu eigen macht, scheint es nicht unproblematisch, Privilegien an der Trias Weiß-Männlich-Hetero festzumachen. Obwohl die Genderforschung überzeugend die Vorteile des weißen Mannes in der europäischen Kulturgeschichte benennt, zeigt Christina von Braun in ihren Forschungen, dass sich dahinter eine symbolische Geschlechterordnung verbirgt, die sich weitaus komplexer gestaltet: In der griechischen Klassik (mit der Verbreitung der vollen Alphabetschrift, in der auch die Vokale geschrieben werden) hatte sich eine symbolische Ordnung durchgesetzt, die Männlichkeit mit Geistigkeit und Weiblichkeit mit Leiblichkeit gleichsetzte. […] Die Vorstellung, dass Geist und Materie als Gegensätze zu betrachten sind und der Geist den Körper zu beherrschen habe, fand in der Geschlechterdifferenz ihren Ausdruck und „Beweis“ als sichtbare Wirklichkeit. Von dieser symbolisch/biologischen Differenz leiten sich wiederum viele andere Dichotomien ab wie etwa rational/irrational, gesund/krank, rein/unrein usw. Diese Denkstruktur zog sich von

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der Antike bis zur Moderne, und sie nahm dabei wechselnde Formen an, die sich in kirchlichen wie in politischen, in künstlerischen wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen zeigen.18 Gleichwohl wird in ihren Forschungen deutlich, dass die Reduktion der Geschlechterordnung auf die personifizierte Trias Männlich-WeißHetero das komplexe Machtgefüge des Abendlandes vereinfacht und so verfälscht. In dieser weitestgehend unreflektierten Vorteilsannahme wird die symbolische Geschlechterordnung ebenfalls wirkungsmächtig, da sie innerhalb der Dichotomisierungstaktik ihrer Denkstruktur zwangsläufig die Gegentrias Weiblich-Schwarz-Homosexuell entwirft. Hier zeigt sich die Gefahr solcher Art von kritischen Gegenbewegungen. Obwohl sie auf die binäre Ordnung des christlichen Abendlandes hinweisen, reproduzieren sie Stereotype des Privilegierten und der Unterprivilegierten, anstatt die Dekonstruktion der symbolischen (Geschlechter)Ordnung samt ihrer polaren Grundstruktur voranzubringen. Nikolaus Müller-Schöll beobachtet in Das Drama der Identität die gängige Praxis von Teilen der Mehrheitskultur, sich in dieser Tradition mit Federn einer Minderheit zu schmücken: Während sich Minderheiten auf der Basis eines kulturalistischen Identitätsbegriffs gegen die Zuschreibungen wehren, durch die eine Mehrheitskultur sie zum defizienten, unterentwickelten, abweichenden Anderen der Norm machte, berufen sich Rechte wie etwa die „Identitäre Bewegung“ auf einen essentialistischen Identitätsbegriff, der Identität an ethnische Herkunft, Blut, Boden oder Rasse bindet. So verändert, lässt sich die links klingende Rhetorik in proto-rassistische, nationalistische oder homophobe Argumentationslinien einbauen. Eine ähnliche Strategie lag auch Donald Trumps Wahlkampf zugrunde, der seinen rechtspopulistischen Anhängern beständig suggerierte, es gelte nun endlich, die von Minderheiten eingeforderte Gleichberechtigung auch für die unterdrückte Mehrheit, die weißen Männer, zumal jenen in den strukturschwachen Gebieten, einzufordern.19 Die Zeichen vor dichotomen Stereotypen und Mustern umzudrehen, erscheint so als ein leichtes Unterfangen. Im Angesicht der möglichen Vereinfachung und Verallgemeinerung bestimmter als privilegiert oder degradiert konnotierter Zeichen unterschiedlicher Art (wie weiblicher/männlicher Gestus, Hautfarbe, sexuelle Orientierung) und damit einhergehenden gegenseitigen Ausspielens dieser, schlage ich vor, den Diskurs von dichotomisierenden, binären und

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Wider binäre Dichotomien: Impulse der afrikanischen Kritik an westlichen Diskursen

reduzierenden Adjektiven wie weiß-männlich-hetero in ein komplexeres Feld zu manövrieren. Gerade in diesem Kontext erscheint ein Blick auf afrikanische Diskurse vielversprechend, da deren Theoretikerinnen die Dominanz der Dichotomie in der Wissenschaft bemängeln.20

Wider binäre Dichotomien: Impulse der afrikanischen Kritik an westlichen Diskursen Einige afrikanische – vornehmlich weibliche – Wissenschaftler kritisieren die binär-dichotome Grundstruktur wissenschaftlicher Theorien, die selbst in feministischen oder postkolonialen Diskursen deutlich zutage tritt und Kulturen jenseits abendländischer Prägung und Geschichte fehlerhaft und innerhalb verfälschender Kategorien analysiert. So argumentiert Nkiru Nzegwu in Feminismus und Afrika: Auswirkung und Grenzen einer Metaphysik der Geschlechterverhältnisse: Die in den Afrikawissenschaften vorherrschenden Definitionen von Geschlecht gingen zum größten Teil aus Disziplinen hervor, die innerhalb des westlichen Wissenskorpus angesiedelt sind. Oft sind sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht darüber im Klaren, wie sehr diese Definitionen durchdrungen sind von den Sitten und Normen der jüdisch-christlichen Tradition sowie den sozialen Konventionen europäischer und europäisch-amerikanischer Kulturen. Diese Auffassungen von Geschlecht bringen die politischen, sozialen und imperialistischen Historien ihrer Ursprungskulturen zum Ausdruck. Sie spiegeln gleichermaßen die binären Dichotomien, die der westlichen Epistemologie zugrunde liegen, in denen Frauen in Opposition zu Männern definiert werden, das heißt, mit gegenteiligen Attributen versehen werden.21 Nzegwu zeigt anhand der Forschungsarbeiten der nigerianischen Wissenschaftlerin Ifi Amadiume und der nordamerikanischen Wissenschaftlerin Martha Nussbaum zu Genderaspekten in der nigerianischen IgboKultur, dass, obwohl insbesondere Erstere großen Wert darauf legt, den spezifischen kulturellen Kontext ihres Forschungsfelds genau zu beachten, beide Forscherinnen sich in ihren Analysen an der westlichen Geschlechterordnung orientieren. Deren binär-dichotome Struktur jedoch missdeute kulturelle Praktiken Afrikas, was, so resümiert Nzegwu, in wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Gebiet keine Seltenheit ist:

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Abschließend möchte ich an dieser Stelle erneut vergegenwärtigen, dass es weitere Beispiele gibt, in denen es von Missdeutungen der kulturellen Praktiken nur so wimmelt, in denen die jeweiligen Annahmen über Geschlecht zu falschen Analogien führen, um soziale Rollen, Statushierarchien, Prozesse als auch die Logik verschiedener Praktiken zu erklären.22 Nicht nur in den Gender Studies, sondern auch in anderen wissenschaftlichen Feldern, die gemeinhin der antikolonialen und postkolonialen Theoriebildung zugeordnet werden, ist dieser Grundduktus auffällig. Weiter oben wurde bereits verdeutlicht, wie sehr diese westlich-dichotome Denkstruktur die Diskurse des Berliner Festivals „Männlich Weiß Hetero“ am HAU beeinträchtigte, doch sind ebenso die Arbeiten der einflussreichsten Vertreter der Négritudeund postkolonialen Bewegung, Aimé Césaires, Léopold Sédar Senghors und Frantz Fanons, von dieser, das wird sich später zeigen, durchdrungen. Es scheint, als habe sich die kolonial-westliche Struktur der binären Dichotomie derart in das wissenschaftliche Argumentieren und Denken eingeschrieben, dass selbst kritische Versuche der Dekolonisierung ihrer nicht Herr werden, sondern vielmehr von ihr geleitet werden. Derlei Beobachtungen stellen eine Forschungsarbeit zum Thema Vielfalt vor die ambivalente Herausforderung, auf der einen Seite das dichotome Wirken des abendländischen Denkens zu begreifen und zu beschreiben, gleichzeitig aber nicht dem Binären selbst zu verfallen. Überlegungen zur Verhandlung von kultureller Vielfalt im und mit Theater sollten einerseits ein methodisches Design zugrunde liegen, welches Vielfalt nicht allein aus dichotomen Gegensätzen zu bilden vermag, sondern einen wissenschaftlichen Weg findet, der sich der binären Einseitigkeit abendländisch-westlicher Diskurse bewusst ist und diese kritisch reflektieren kann. Andererseits erscheint es ebenso wenig weiterführend, die dichotom-binäre Denkweise ohne Weiteres ad acta zu legen, also den Motor abendländischen und kolonialen Denkens abzuwürgen, bevor seine Funktionsweise erschöpfend analysiert wurde. Die Wirkungsmacht dichotomen Differenzdenkens im westlich geprägten Theater und dessen Theoretisierung kann nur dann überwunden werden, wenn dessen Wurzeln und Handlungsweisen bestimmt worden sind. Warum und auf welche Art und Weise ist dieses Ordnungssystem so wirkungsmächtig, dass selbst Diskurse, welche sich tendenziell gegen den Kolonialismus richten, wie postkoloniale und feministische Studien, diesem anheimfallen?

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Eine Metapher kolonial-binären Denkens: Hegels Herr und Knecht In der Betrachtung der wissenschaftlichen Arbeiten, die sich beginnend mit der Négritude bis zum Postkolonialismus für die Befreiung aus kolonialen Strukturen einsetzen, fällt auf, dass sich die Autoren vergleichsweise häufig mit Hegels Phänomenologie des Geistes und insbesondere dem Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft“ auseinandersetzen. Trotz der Versuche, die kolonialen Zuschreibungen vom Herrn und vom Knecht aufzulösen, verharrt die Négritude und selbst postkoloniale Werke nahezu hilflos in den dichotomen Kategorien des Kolonialismus. Dies erweckt vielleicht den Eindruck, als müssten afrikanische Wissenschaftler sich auf diese Weise dem westlich-kolonialen Verständnis nach „salonfähig“ machen, zeitigt jedoch in erster Linie die perverse Struktur des Kolonialismus. Die Bezüge auf Hegels Phänomenologie des Geistes können als Teil Letzterer verstanden werden und verdeutlichen das absurde Ausmaß der Kolonisierung. Gleichwohl sollte überlegt werden, warum gerade Hegels Philosophie solch große Aufmerksamkeit in postkolonialen Arbeiten bis heute erfährt. Frantz Fanon beispielsweise titelt ein Unterkapitel in Schwarze Haut, weiße Masken „Der Neger23 und Hegel“24 und bezieht Hegels Theorie des dialektischen Dreischritts zum Selbstbewusstsein, welches dieser mit dem Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft“ veranschaulicht, direkt auf die gesellschaftliche Situation schwarzer Menschen seiner Zeit. Der gegenwärtig wohl meist beachtete Philosoph dieses Themenfeldes, Achille Mbembe, betitelt in Kritik der Schwarzen Vernunft25 ein Unterkapitel „Der Herr und sein Neger“, welches sich ebenfalls auf den „Kampf auf Leben und Tod“ von Hegels Herrn und Knecht bezieht. Obwohl Hegels Metapher vom Herrn und Knecht entscheidende Anstöße für Marx gab – immerhin wird dem Knecht das Potenzial zugestanden, sich gegen den Herrn aufzulehnen – und sich bekanntlich eine „linke“ Hegelschule etabliert hat, erscheint dessen Philosophie in Bezug auf Dekolonisierungsprozesse höchst ambivalent. Nicht nur der Evolutions- und Fortschrittsgedanke, der in seinem Denken den Motor der kulturellen und geistigen Entwicklung des Abendlandes darstellt, sondern auch der dialektische Dreischritt spiegelt, so die These, koloniale Handlungspraxis par excellence wider. Innerhalb des dialektischen Dreischritts benötigt das Bewusstsein im Prozess der Anerkennung immer ein Objekt, welches das „Andere“ darstellt und dessen Negation beziehungsweise „Aufhebung“ Ziel der Operation ist, um eine höhere Bewusstseinsstufe zu erreichen. In dieser Operation des Bewusstseins

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wird „das Andere“ als Knecht zum dichotomen Gegensatz des „Eigenen“, dem Herrn, gesetzt und in dieser metaphorischen Verknüpfung ein Verständnis von „westlichem Bewusstseinsfortschritt“ konstruiert, in welchem es immer einen „Knecht“ und „den Anderen“ geben muss, der zu unterdrücken und in der eigenen Herrschaft „aufzuheben“ ist. Die rassistische Brisanz der Metapher verschärft sich insofern, da die Entstehungsgeschichte des Kapitels „Herrschaft und Knechtschaft“, so argumentiert Susan Buck-Morss, in direktem Zusammenhang mit der Befreiung der Sklaven in Saint-Dominguez (heute Haiti) im Jahr 1791 steht. Buck-Morss zeigt in Hegel und Haiti überzeugend anhand von Notizen und handschriftlichen Seitenvermerken Hegels, dass dieser die Revolution der Sklaven verfolgte und auch dem Kolonialismus in Afrika kritisch gegenüberstand.26 In der Herr-Knecht-Beziehung, die Hegel in Jena zu der Zeit entwarf, in welcher die Sklaven auf Saint-Dominguez ihren Befreiungskampf erfolgreich beendeten, bleibt jedoch der Sieg des Knechts über den Herrn nur eine vage Option. Hegel wusste zwar, dass die koloniale Herrschaft ins Wanken geriet, doch hat er die sich abzeichnende Machtverschiebung in der Phänomenologie nicht berücksichtigt, sondern die Konstruktion des kolonialen Selbstbewusstseins untermauert, nach welcher der Herr zwar dem Knecht Respekt zollt, ihn jedoch immer wieder vernichtet beziehungsweise aufhebt und so für die Konstituierung des eigenen Selbstbewusstseins missbraucht. Allerdings lässt sich wiederum mit Slavoj Žižeks Deutung argumentieren, dass Hegel bewusst die Herr-Knecht-Metapher in einem jeden verortet, demnach jeder sowohl Herr als auch Knecht ist und somit eine Übertragung dieses Bildes auf koloniale Herrschaftsmuster in die Irre führen kann, da das Streben nach Negation einseitig auf diese Paarmetapher verteilt wird, während die Hegel’sche Vorstellung diese als gemeinsamen Akt der beiden Wesen in einem einzigen Subjekt begreift: „Kurz, das muss sich vollständig mit der Kraft identifizieren, die es zu vernichten droht. Was es in der Furcht des Todes fürchtete, war die negative Macht des Ich.“27 Infolge dieser Argumentation kann der Versuch, das Verhältnis vom Herrn und dem Knecht auf die Beziehungen unterschiedlicher Menschen, Gruppierungen, Ethnien, Länder, Kontinente zu übertragen, am Kern der Metapher vorbeigehen: „Der eigentliche Feind ist nicht der jeweilige Kriegsgegner, sondern die eigene Endlichkeit […]. Im Kampf mit dem äußeren Feind bekämpft man, wie Hegel zu sagen pflegt, (unwesentlich) das eigene Wesen.“28 Žižek weist mit der „antisemitischen Figur des Juden“29 zwar auf den Missbrauch dieses Kampfes für gesellschaftliche „Inkonsistenz“30, betont jedoch in erster Linie das Potenzial des Dreischritts in dessen Moment der Versöhnung:

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Von Hegels kolonialer Metapher zur Ästhetik

„[…] so funktioniert die Hegelsche Versöhnung – nicht als positive Geste einer Lösung oder Überwindung des Konflikts, sondern als die rückwirkende Einsicht, dass es eigentlich nie einen ernsthaften Konflikt gegeben hat, dass die beiden Widersacher schon immer auf derselben Seite standen.“31 Mit Blick auf die brutale Umsetzung der Metapher, wie sie die Négritude nachzeichnet, hat diese Argumentation einen sarkastischen Beigeschmack, deutet jedoch ebenso einen Weg an, die Faszination an Hegels Phänomenologie in diesem Diskurs zu verstehen. Die Ambivalenz in Hegels Denken und Wirken – auf der einen Seite den antihumanistischen Kolonialismus zu kritisieren, auf der anderen Seite nicht zu erkennen, dass sich hinter dessen grausamem Machtgebaren eine Denkstruktur verbirgt, die seine Philosophie zwar nicht zwangsläufig einfordert, aber hierfür reichlich Material und Metaphorik bereitstellt – scheint als Beispiel par excellence für die Zweischneidigkeit der Geisteswissenschaft nach der Aufklärung zu sein, zwar die Mündigkeit und Freiheit des individuellen Subjekts voranzubringen, diese jedoch nicht allen gesellschaftlichen Gruppen zuzugestehen. Hegels abfällige Bemerkungen über afrikanische Kulturen verdeutlichen dies ebenso, worauf noch später eingegangen wird.32

Von Hegels kolonialer Metapher zur Ästhetik Aus kunst- und kulturwissenschaftlicher Sicht erscheint es sinnvoll, die kritische Befragung der Phänomenologie des Geistes hinsichtlich kolonialer Mechanismen auf die Vorlesungen über die Ästhetik auszuweiten, was bis dato nicht geschehen ist.33 In den Vorlesungen werden Kunst und Kultur als Abbild des jeweiligen Entwicklungsstands des (Selbst)Bewusstseins einer Gesellschaft definiert. Sie begreifen Ästhetik als Scheinen der Idee, als Verkörperung des oszillierenden Selbstbewusstseins. Ästhetik wird so zur (kultur)politischen Messlatte. Obwohl Hegel wie viele seiner Zeitgenossen die griechische Klassik zum Ideal erhebt, deren gleichförmige Gesetzmäßigkeiten lange Zeit die Kultur in Europa als Norm maßgeblich bestimmt haben, entwickelt sich Kunst diesem Verständnis nach parallel zum Bewusstsein des Geistes weiter. Das Ästhetische ist somit Ausdrucksort des Hegel’schen fortschreitenden, sich weiterentwickelnden Geistes. Im Gegensatz zu anderen Überlegungen über das Kunstschöne seiner Zeit, aber auch zu gegenwärtigen Beobachtungen der Ästhetisierung der Lebenswelt, die ohne jegliche gesellschaftspolitische Verbindung oder Aussage auskommen können, sind Hegels Vorlesungen über die Ästhetik so gesellschaftspolitisch in hohem Maße relevant; insbe-

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sondere, da der Verfasser diese mit einer Subjektkonstitution kombiniert, welche deutlich koloniale Züge in sich trägt. Eine erneute Betrachtung von Hegels Phänomenologie des Geistes und seinen Vorlesungen über die Ästhetik erscheint so aus zweierlei Gründen sinnvoll: Einerseits sind in der Phänomenologie Strukturen eines kolonial-bürgerlichen Bewusstseinswerdens beobachtbar. Andererseits beziehen sich Vertreter der Négritude, aber auch postkoloniale und linke Theoretiker wie Fanon, Mbembe und Marx auf dieses Werk, da dem „kolonialen Objekt“, dem „Knecht“, immerhin das Potenzial zugesprochen wird, dieses Herrschaftsverhältnis ins Wanken zu bringen. Allerdings erschöpft sich diese Option des „Anderen“ in der dichotom-binären, unaufhörlich oszillierenden Struktur, welche dem Subjekt, dem Herrn, immer ein Objekt, den Knecht, zur Seite stellt. Diese Paradoxie äußert sich ebenso in den Vorlesungen, darauf wird später ebenfalls noch genauer eingegangen. Sie vermitteln eine Vorstellung von Kulturentwicklung und stellen ein Klassifizierungssystem vor, welches bestimmte Kunstformen beispielweise präkolonialer Zeit degradiert. Trotz alledem deuten die Vorlesungen auf die immense gesellschaftliche Bedeutung von Ästhetik als Handlungsfeld und Austragungsort diverser kultureller und politischer Vorstellungen. Sie lassen erahnen, warum Theater für die Verhandlung von kultureller Vielfalt eine entscheidende Rolle spielen kann. Ästhetik verortet sich hier inmitten eines Spannungsfelds zwischen tradierten kolonialen Phantasien, die den Kulturfortschritt der westlichen Welt als a priori setzen und alles andere diesem unterordnen wollen, und einer eher öffnend zu begreifenden Vorstellung, die Prozesse kulturell-gesellschaftlicher Verhandlung und Aushandlung favorisiert. Vor diesem Hintergrund mag Ästhetik Potenziale in sich bergen, dem Paradoxon des abendländischen Denkens auf den Grund zu gehen. Jedoch sollte vorher sorgfältig diskutiert werden, ob dieser Begriff mit seiner deutlichen philosophisch-kulturellen Verortung im Abendland für Überlegungen zu Vielfalt im Theater überhaupt ein sinnvolles Repertoire bieten kann.

Ästhetik in der afrikanischen Kritik Seit einiger Zeit steht der Begriff der Ästhetik in der Kritik, andere Kultur- und Wahrnehmungstraditionen zu überlagern, zu missverstehen oder schlichtweg nicht zu begreifen. Wieso sollte ein Konstrukt abendländischen Denkens auf performative Praktiken anderer Kulturen bezogen werden, die keinen Autonomieanspruch von Kunst einfordern, son-

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dern explizit gesellschaftliche Wirkungsversprechen formulieren? Oder mag diese Kontextualisierung gerade ratsam sein, da die klassische Kunstästhetik einem Denken entspringt, welches die Kolonisation nicht nur hervorgebracht hat, sondern deren Strukturen stetig untermauert? So kann ebenso der Vorwurf neokolonialen Gebarens laut werden, wenn Theater jenseits Europas und Nordamerikas nicht unter dem Terminus der Ästhetik beleuchtet und so ausgeschlossen wird, zumal Modelle des Ästhetischen – erzwungenermaßen durch die Kolonisation – seit Langem fester Bestandteil gegenwärtigen Kunstschaffens und deren wissenschaftlicher Reflexion in Afrika sind. Auch sollte die Frage in den Vordergrund rücken, ob die westlichen Theoretiker und Philosophen auf dem Feld ästhetischer Diskurse nicht eine Reihe von Impulsen und Ideen aus anderen Kulturen aufgenommen haben. Eine vielleicht gut gemeinte Verbannung der Ästhetik käme dem Akt einer neokolonialen Negation gleich. Neben der Suche nach Entlehnungen aus anderen Kulturen sollte der Blick auf Konzepte außerhalb Europas und Nordamerikas gerichtet werden, welche Theorien der Ästhetik bereits richtungsweisend überarbeitet haben, wie es beispielsweise im postkolonialen Afrika der Fall ist. In der Betrachtung rezenter Forschungen der afrikanischen Theaterwissenschaft springt zunächst die Kritik am zwanghaften Dichotomisieren innerhalb abendländisch geprägter Theaterdiskurse ins Auge. Der Vorwurf, dass andere, nicht-abendländische Theatertraditionen im westlichen Kontext als binärer Gegensatz gesetzt werden, erinnert an die Kritik an Hegels Herr-und-Knecht-Metapher. So resümiert der südafrikanische Theaterwissenschaftler Temple Hauptfleisch durchaus selbstkritisch: Thus the tendency for many Western-trained academics (myself included) to view the most obvious general distinctions between regional theatre systems (African and Western theatre, for instance) as a set of binary opposites (e.g. theatre as religious ritual as opposed to theatre as art, theatre as social ritual as opposed to theatre as entertainment, orality versus literacy, text versus performance, etc.) is perhaps a misreading of the history of performance over the centuries by people who have been trained to look for certain kinds of structures and expecting to find distinguishing signs of difference – and thus, inevitably, finding what they are looking for. Perhaps, if such apparent binaries do exist, then they are not so much binary opposites as two extreme but linked points on a continuum of meaning.34

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Kene Igweonu argumentiert in eine ähnliche Richtung und fordert die gegenwärtige Theaterforschung auf, binäre Gegensätze, nach dem Muster afrikanisch-europäisch oder kolonial-indigen gestrickt, weniger in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen: „We have rather endeavoured to move away from the imprecise tendency to construct indigenous and literary theatre traditions and practices in Africa as binaries, and instead offered them as a matrix of African theatre and performance.“35 Auch ich bin während meiner Forschungsaufenthalte im südlichen Afrika für meine Dissertation über Theater in Zimbabwe der zwanghaften Dichotomisierung auf den Leim gegangen. Angeregt von der kritischen Weißseinsforschung, meine Position in anderen Kulturen stets zu hinterfragen, habe ich als reflektierter Wissenschaftler während einer Unterrichtsstunde, die ich über Brecht am Theaterdepartment der Universität in Harare gehalten habe, die Studierenden gefragt, ob nicht die Anwendung von westlich tradierten Theateranalysemethoden im afrikanischen Kontext hinterfragt und differenziert werden müsse. Sie entgegneten mir, dass das eine typische Problemstellung eines Gastwissenschaftlers aus Europa sei und argumentierten, dass diese Techniken – gezwungenermaßen seit der Kolonisation – heutzutage ebenfalls Teil der afrikanischen Theaterkultur sind. Wieso solle hier die Differenz immer wieder betont werden, fragten sie.36 Meine „gut gemeinte“ Trennung von europäischen und afrikanischen Theaterwissenschaften ist kolonialen Ursprungs, auch wenn die Motivation hierzu dies zunächst nicht vermuten lässt. Nichtdestotrotz sollten in internationalen oder interkulturellen Forschungsarbeiten Begriffe und Termini wie „Ästhetik“, deren Entstehungsgeschichte primär einer bestimmten kulturellen Tradition zugeordnet werden, sorgfältig daraufhin überprüft werden, ob ihr Gebrauch sinnvoll ist beziehungsweise inwieweit sie für das jeweilige Untersuchungsfeld weiterentwickelt werden können. Bei Betrachtung der Theorie zu afrikanischem Theater fällt zunächst auf, dass der Begriff „Ästhetik“ von den Autoren weniger kritisch gesehen wird als zum Beispiel die Verwendung europäischer Sprachen in afrikanischen Theaterstücken.37 Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Positionen skizzieren. David Kerr vereidigt in einem eher rechtfertigenden Ton die Anwendung westlich geprägter Ästhetik-Terminologie, da sich Theorieschulen, die auf präkoloniale afrikanische Phänomene jenseits westlicher Diskurse rekurrieren, erst im Aufbau befinden: Eventually Africanists may develop a way of describing pre-colonial performing arts in Africa by reference to indigenous aesthetic terms. Until those terms are researched, agreed upon at a Pan-African level

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and widely understood, we have to make do with the European terms. This makes my omnibus adjective ‚pre-colonial‘ a necessary, but ahistorical imprecision.38 Osita Okagbue, Tanure Ojaide, Bayo Ogunjimi und Abdul-Rasheed Na’Allah verwenden in ihren Arbeiten zu African Performances dagegen ganz selbstverständlich ästhetische Terminologie.39 Wie bereits erwähnt, greifen afrikanische Kulturen auf ein breites Spektrum performativer Traditionen zurück, die in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten eingesetzt werden. Auffällig ist, dass die Autorinnen und Autoren das Vokabular des Ästhetischen nutzen, um einerseits die Räume und die Handlung der Performance vom alltäglichen Tun abzugrenzen und anhand dieser eine besondere Sphäre beschreiben, in welcher die unterschiedlichen Ebenen afrikanischer Kosmologie wirksam werden. So stellen Ogunjimi und Na’Allah in ihrem Schlusskapitel von Introduction to African Oral Literature and Performance (2005) fest: Whatever the debate or argument, this situation creates a forum for negating the Eurocentric perceptions of some foreign scholars, who do not accept the functional-aesthetic relevance of African orature. African cultural aesthetics as we argue in Section 1 has generic link with African cosmology. The aesthetic of African orature cannot be discussed without the functionality of the cosmic realm.40 Andererseits wird in dem Zitat offensichtlich, dass soziale, pädagogische und kulturpolitische Aspekte der Performances ebenfalls Teil des Ästhetischen sind. Das hier deutlich werdende breite Anwendungsspektrum zeigt sich bereits in der Verwendung der Pluralform „Aesthetics“, welche all diesen Werken gemein ist. Okagbue argumentiert ebenfalls, wie eng in afrikanischen Performances soziokulturelle, pädagogische und ästhetische Aspekte miteinander verzahnt sind und sich diese Formen deshalb nicht auf ein einzelnes ästhetisches Konzept reduzieren lassen.41 Sein letzter Satz in African Theatre and Performances verdeutlicht die besondere Funktion des Ästhetischen, sozial-gesellschaftliche Gefüge sowohl zu bewahren als auch zu wandeln: „They all still perform the aesthetic and social functions which they had always provided for their cultures; they have expanded their themes and increase their contexts, absorbed influences to cope with newer and changing realities and, in all this, they have held on to their aesthetic principles.“42 Ästhetik ist dieser Lesart folgend nicht nur als ein Scharnier zwischen Tradition und Neuerung zu verste-

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hen, sondern auch als ein politisch bedeutsamer Raum, der zwischen den Welten agiert. Dieser Tradition folgend, zeigt Mbembe, inwieweit künstlerisches Handeln in afrikanischen Gesellschaften einerseits tradiertes Wissen erlebbar macht, andererseits dieses aufbricht und neu auslotet: Es gehört zu den typischen Merkmalen künstlerischen Schaffens, dass sich am Ursprung des Schaffens stets eine gespielte Gewalt, ein gespieltes Sakrileg und eine gespielte Überschreitung finden, von denen man hofft, dass sie das Individuum und die Gemeinschaft aus der Welt, wie sie war und wie sie ist, heraustreten lassen. Diese Hoffnung auf die Freisetzung verborgener und vergessener Energien, die Hoffnung, dass sichtbare und unsichtbare Kräfte am Ende zurückkehren, dieser verborgene Traum einer Wiederauferstehung der Lebewesen und Dinge, genau das ist die anthropologische und politische Grundlage der klassischen schwarzen Kunst. In ihrem Mittelpunkt steht der Körper als wesentlicher Einsatz der Bewegung der Mächte, als privilegierter Ort der Enthüllung dieser Mächte und als Symbol par excellence für jede menschliche Gemeinschaft konstitutiven Schuld, die man erbt, ohne es zu wollen, und die man niemals vollständig abzulösen vermag.43 Auch hier wird dem Ästhetischen eine politische Funktion zugesprochen, indem es unmittelbar mit dem sozialen und metaphysischen Sein verknüpft wird und so eine bedeutende Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Verortung und Reflexion innehat: Denn für die Gemeinschaften, deren Geschichte so lange von Demütigung und Erniedrigung geprägt war, bildete das religiöse und künstlerische Schaffen oft die letzte Bastion gegen die Kräfte der Entmenschlichung und des Todes. Diese beiden Formen schöpferischer Tätigkeit hatten tief greifenden Einfluss auf die politische Praxis. Im Grunde waren sie stets deren metaphysische und ästhetische Hülle, gehört es doch zu den Funktionen der Kunst und der Religion, die Hoffnung auf einen Ausstieg aus der Welt, wie sie war und ist, zu nähren, dem Leben zu einer Wiedergeburt zu verhelfen und das Fest fortzuführen.44 Okagbue und Mbembe schätzen die westliche Herkunft ästhetischer Terminologie nicht als problematisch ein. Vielmehr verknüpfen sie in ihrer Definition bestimmte künstlerische, soziale, kulturelle, politische

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und religiöse Ebenen miteinander und geben dem Diskurs neue Impulse. Ästhetik kann besonders in Zeiten großer gesellschaftlicher Wandlungsprozesse eine bedeutende Rolle spielen, da mit ihr ein Verhandlungsmoment zwischen Traditionen, politischen Bedingungen und sozial-gesellschaftlichen Neuerungen erschaffen werden kann. Die komplexen Bedeutungsebenen ästhetischen Schaffens in Afrika können für die Analyse von Verhandlung von Vielfalt richtungweisende Impulse geben. Vergegenwärtigt man sich die Theaterproduktionen aus dem Prolog um das Themenfeld Flucht, so scheint eine Erweiterung des Spektrums des Ästhetischen um soziopolitische, kulturelle und pädagogische Aspekte, wie er in der Theorie zum afrikanischen Theater üblich ist, sinnvoll. Gerade im Verhandeln diverser kultureller Hintergründe, Geschichten und Traditionen ist eine Vorstellung von Ästhetik, die metaphysische, spirituelle, politische Ebenen gleichsam beinhaltet wie das Verfremden von Tradiertem, Möglichkeiten der Überschreitung, des Wandels und der Öffnung und Verknüpfen von Gewohntem und Nichtgewohntem, Bekanntem und Nichtbekanntem, vielversprechend. Mit Blick auf das deutsche Theater muss jedoch festgestellt werden, dass dieses Potenzial des Ästhetischen bei Weitem nicht erschöpfend genutzt wird.

Rassistische Ästhetik im deutschsprachigen Theater: Die Schutzbefohlenen und Die Schutzlosen Vor dem Hintergrund des Einsatzes vielfältiger performativer Traditionen in afrikanischen Kontexten sticht die Kreativlosigkeit und Einfältigkeit der Regisseure in der Darstellung von geflüchteten Menschen bei den beiden im Prolog vorgestellten Produktionen des deutschen Stadttheaters – Die Schutzbefohlenen und Die Schutzlosen – ins Auge. Sie haben keine anderen Möglichkeiten finden können, als geflüchtete Menschen mit real Geflüchteten (Thalia Hamburg) oder mit Schauspielern aus Burkina Faso (Gera) zu besetzen und so die Darsteller auf eine Hautfarbe beziehungsweise diese als Zeichen von Flucht zu reduzieren. Azadeh Sharifi argumentiert, dass solche Reduktion auf äußerliche Merkmale eines Menschen letztlich rassistisch motiviert ist.45 Obwohl die Schutzbefohlenen am Thalia Theater in Hamburg und die Schutzlosen in Gera keineswegs die ganze Breite des deutschen Stadttheaters repräsentieren, verdeutlichen sie die Herausforderung dieser Art von Theaterarbeit, kulturelle Vielfalt ohne Rassismen und Binaritäten darzustellen. Die künstlerische Beschränktheit hängt jedoch auch mit der besonderen Geschichte des deutschen Stadttheaters und dessen Ästhetik zusammen.

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Mit dem 18. Jahrhundert beginnt sich im deutschsprachigen Raum eine Theaterästhetik durchzusetzen, in welcher die Autonomie der Kunst in den Vordergrund rückt und das Publikum domestiziert wird. Der Zuschauer nimmt von nun an primär die Rolle des unbeobachteten Beobachters ein, der das Bühnengeschehen durch die vierte Wand hindurch verfolgt. Mit der „Guckkastenbühne“, die sich ungefähr zeitgleich mit dem Mikroskop ab Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte, wurde ein neues Dispositiv im Theater erschaffen, so argumentiert Eleonore Kalisch: Die Ferndistanz, die früher durchbrochen werden konnte, wird durch den Bühnenrahmen befestigt, der Zuschauer wird stillgestellt; in dieser Matrix wandelt sich der handelnde zu einem empfangenden Theatergänger. Doch auch die Illusion, die jetzt mit anderen Mitteln erzielt wird, verändert ihren Charakter. Es entsteht ein neues historisches Illusionsdispositiv: Der Bühnenvorgang, der jetzt ins Zentrum ungeteilter Aufmerksamkeit rückt, wird gleichsam „herangeholt“, als ob die Figuren in ihrem Beziehungsgewebe mikroskopiert würden. Der Ausschnitt wird kleiner, die Details werden vergrößert. Das Mikroskop wird zum dramaturgischen und skenopoetischen Dispositiv. […] Die Illusion wird nach einem neuen Code, dem Natürlichkeitscode, produziert. Insofern rahmt der Bühnenrahmen nicht einfach ein Bild, sondern eine Versuchsanordnung; die Figuren werden mikroskopiert, während an und mit ihnen experimentiert wird.46 Während nach dieser Anordnung die Schauspieler*innen die Zuschauenden im verdunkelten Publikum nicht oder nur vage erkennen können, wähnen sich Letztere in Sicherheit und können das „Experiment“ unter einem mikroskopischen Blick oder wie durchs Schlüsselloch ungeniert beobachten und so dem Gefühl des Kant’schen „Erhabenen“ frönen.47 Diese Konstellation von Beobachten/Betrachten und Beobachtet/Betrachtet-Werden im Theater entsteht zeitgleich mit einem Paradigmenwechsel in der europäischen Moderne, bei welchem das betrachtende Auge als Subjekt nicht nur Macht über das betrachtete Objekt erhält, sondern beide Positionen geschlechtlich codiert sind, so argumentiert von Braun: Der Blick war nicht mehr das Tor zur Sünde, sondern er wurde zur definitorischen Macht über die Erscheinung des Anderen. Allerdings hatte er auch hier sexuelle Konnotationen. Betrachten wurde zunehmend mit „Männlichkeit“ gleichgesetzt, während das Betrachtet-

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Werden als „weiblich“ galt. […] In den Naturwissenschaften wurde alsbald der weibliche Körper zum Symbol für das große Objekt der Betrachtung, der Natur. Mit Fernrohr und Mikroskop bewaffnet, eignet sich das koloniale Auge „die Welt“ an und „penetriert“ ihre tiefsten Geheimnisse.48 Vor dem Hintergrund von Kalischs und von Brauns Überlegungen wird ersichtlich, wie sehr die Inszenierungen Die Schutzbefohlenen und Die Schutzlosen in dieser Theatertradition stehen. Sie lassen sich als Versuchsanordnung beschreiben, in welcher die deutschen Zuschauer in Hamburg und Gera wie unter einem Mikroskop mit kolonialem Dispositiv das „authentische Anderssein“ der geflüchteten Laiendarsteller und der Gastschauspielerinnen aus Burkina Faso beobachten. Obwohl sich die Inszenierungen in vielen Punkten von der geschlossenen, naturalistischen Spielweise einer klassischen Guckkastenbühne entfernt haben, sind sie Letzterer im entscheidenden Punkt erstaunlich nah: In dem Versuch, geflüchtete Menschen darstellen zu können, greifen sie auf Darsteller zurück, deren Körper sich mit den stereotypen Vorstellungen decken, wie ein geflüchteter Mensch heutzutage auszusehen hat. Es wird also nicht nur mit Darstellern experimentiert, die als Laien den schauspielerischen Fähigkeiten ihrer professionellen Kollegen weitaus unterlegen sind wie im Fall Hamburg, oder als Gäste eines anderen Kontinents auch auf der Bühne als das Fremde stigmatisiert werden, was den Schauspielern in Gera auch real auf der Straße widerfahren ist. Auch darüber hinaus sind beide Stücke nach dem rassistischen Grundsatz gestrickt, Fremdheit lasse sich an Körpern erkennen. Die koloniale Macht dieses Experiments wird dadurch verstärkt, dass die Zuschauer der klassischen Gruppe der mehrheitlich weißen Theaterbesucher angehören, deren erhabene Position im Zuschauerraum in beiden Fällen nicht hinterfragt oder gar dekonstruiert wird. Welches ästhetische Prinzip verbirgt sich hinter dieser Art von Inszenierungen, die im Setting der Guckkastenbühnen und ihrem naturalistischen Code eine rassistische Grundkonstellation kreieren? Während der ersten Inszenierungen des bürgerlichen Schauspiels im 18. Jahrhundert wie beispielsweise Miss Sara Sampson taumelte der Zuschauer zwischen Mitleid und Empathie. Durch das mikroskopische Durchsschlüssellochgucken und der direkten Konfrontation mit den – dem Zeitalter der Empfindsamkeit geschuldeten – Gefühlsausbrüchen auf der Bühne jener Zeit wurde er in eine ungewohnte Situation manövriert, die Emotionen anderer öffentlich und hautnah mitzuerleben. Waren die Objekte solcher Experimente in den Stücken des bürgerlichen Trauer-

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spiels meist Frauen, sind es in unseren Beispielen, 260 Jahre später, geflüchtete und Gastschauspieler aus Burkina Faso. Folgt man von Braun, sind beide „Objekte“, welche der männliche Blick seit der europäischen Moderne traditionell betrachtet und penetriert. Das Theaterdispositiv der Guckkastenbühne beschert den Zuschauenden hier das Erlebnis des Erhabenen auf makabre Art und Weise: Die Wirkungsmacht des beobachtenden Blicks über die als „leibhaftig anders“ inszenierten Schauspieler manövriert das Publikum in eine dichotom aufgeladene Wahrnehmungsästhetik, deren Exotismus den Einzelnen irritieren mag oder vielleicht auch gefällt, doch ganz deutlich eine koloniale Hierarchie konstruiert. Diese Hierarchie westlich-kolonialer Tradition äußert sich jedoch nicht nur innerhalb der Zuschauer-Darsteller-Konstellation der jeweiligen Aufführung, sondern ebenso in der Regie beider Inszenierungen an sich. Die „definitorische Macht“ über ihre Darstellung auf der Bühne haben weder die geflüchteten Laien noch die Schauspieler aus Burkina Faso inne. In beiden Fällen oblagen sie einem weißen, deutschen Mann, der – laut der Angaben auf den Websites und den Programmheften – allein die Regie der Inszenierung innehatte. Deutsches Stadt- und Staatstheater wird häufig trotz der vielen anderen künstlerischen Akteure wie Bühnenbildner, Dramaturginnen und Schauspieler als Gesamtkunstwerk eines Regisseurs oder sogar das gesamte Theater als künstlerisches Werk eines Intendanten gesehen, der interessanterweise oftmals die Trias Männlich-Weiß-Hetero bedient. Blickt man im Jahr 2017 allein auf die großen Häuser Berlins, so sprechen die Intendanten Thomas Ostermeier, Frank Castorf, Ulrich Khuon und Klaus Peyman für sich. Eine Ausnahme bildet lediglich die kleinste und aufgrund der Raumstruktur am schwierigsten zu bespielende Bühne, das Gorki Theater, mit Shermin Langhoff als Co-Intendantin neben Jens Hillje. Alle vier anderen Intendanten bespielen die großen Bühnen ihrer Häuser meist mit Produktionen, die auf die Unabhängigkeit und Alleinherrschaft des Regisseurs und die Autonomie des Kunstwerks bestehen. Christopher Balme betitelt sie als nicht mehr zeitgemäße „Übermenschen“.49 An der besonderen Stellung der Intendanten offenbart sich vielleicht ein Mechanismus abendländischer Tradition, der auch das Verhandeln von kultureller Vielfalt auf deutschen Bühnen erschwert.50 Der Versuch, Überlegungen über Ästhetik aus dem Kontext afrikanischer Performancetheorie auf die Strukturen des deutschen Stadttheaters anzuwenden, scheint so auf mehreren Ebenen herausfordernd: Die Loslösung von sozialen und gesellschaftspolitischen Abhängigkeiten und die bisweilen hartnäckig eingeforderte Unabhängigkeit der Regie

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Liminale Ästhetik/Aisthesis: Die Vreemdeling

sind im afrikanischen Kontext ebenso unüblich wie die Rollenzuweisung des passiven Zuschauenden an das Publikum. Den direkten Kontakt zum Publikum schaffen im deutschen Schauspiel meist allein die Dramaturgen in den Einführungen oder die Theaterpädagoginnen in ihrer „begleitenden“ Arbeit, die von den Theaterleitern selten als Kunst, sondern eher als Vermittlung wahrgenommen wird. Insbesondere im Vergleich von Theaterpädagogik und Regiearbeit wird die Dichotomie des deutschen Stadttheaters zwischen autonomer Kunst und anwendungsorientierter Theaterarbeit als Nicht-Kunst offensichtlich. Dabei sticht nicht nur die männliche Dominanz innerhalb der Intendanz und Theaterleitung beispielsweise an Berliner Theaterbühnen ins Auge, sondern auch die weibliche Dominanz innerhalb deren theaterpädagogischen Abteilungen. Die abendländische Dichotomie männlich-weiblich hat das Theater fest im Griff und hat weitere Gegensätze hervorgebracht wie künstlerisch vs. pädagogisch, autonom vs. angewandt et cetera. So lässt sich nicht von ungefähr die These aufstellen, dass die augenscheinliche Herausforderung innerhalb des deutschen Theaters, einen Weg zu finden, Vielfalt jenseits rassistischer Repräsentation darzustellen, auf eine abendländische symbolische Ordnung dichotomer Ausrichtung zurückzuführen ist, die uns schon bei von Brauns Überlegungen begegnet ist. Deren Wirkungsmacht zeigt sich auch darin, dass selbst feministische und postkoloniale Theorien dieser nicht Herr werden. 51 Es wäre jedoch falsch zu behaupten, dass solche Vorstellungen von Theater und Ästhetik innerhalb der Kunstpraxis und der wissenschaftlichen Diskurse der westlichen Welt gar nicht dekonstruiert und hinterfragt werden. Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in Performances und der Theaterwissenschaft gibt es vielerlei Versuche und Herangehensweisen, die Dichotomien der westlichen Welt zu sprengen oder zu dekonstruieren. Sie bieten vielerlei Anknüpfungspunkte an die Studien zu afrikanischen Theaterformen und Performances und können für Überlegungen, wie Vielfalt mit und im Theater jenseits von Rassismen und kolonialen Strategien verhandelt werden kann, wertvolle Impulse geben.

Liminale Ästhetik/Aisthesis: Die Vreemdeling Matthias Warstat weist in seiner Habilitationsschrift Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters (2010) darauf hin, dass die dichotome symbolische Ordnung des Abendlandes bereits von amerikanischen

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„feministisch orientierten Performerinnen“, aber auch in Artauds Theater der Grausamkeit hinterfragt und dekonstruiert wurden: Wenn die scheinbare Distanz zwischen Täter und Opfer, Mensch und Tier, Freund und Feind, Liebe und Hass plötzlich aufgehoben wird, geraten die wahrnehmenden Subjekte in die bedrohliche Lage, sich neu orientieren und stabilisieren zu müssen. […] Die Gleichsetzung und sogar Identität von Signifikant und Signifikat, Körper und Sinn, Material und Bedeutung, die Artaud für seine neue Theatersprache anstrebte, wirkt deshalb so verunsichernd, weil auch sie einen Kollaps tief verwurzelter Oppositionen westlicher Kultur mit sich bringt.52 Der Strategie der Verunsicherung innerhalb der Aufführung widmet sich auch Erika Fischer-Lichte und zeigt, wie ästhetische Erfahrung heutzutage den Zuschauenden in Sphären von Liminalität zu leiten vermag: An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert liegen völlig andere Bedingungen vor. In Zeiten einer ständig weiter um sich greifenden Ästhetisierung der Lebenswelt, unter den Bedingungen einer Spaßund Eventkultur stellt „uninteressiertes und freies Wohlgefallen“ ganz sicher nicht die geeignete Empfindung dar, um das Subjekt in einen Schwellenzustand zu versetzen. Dazu bedarf es der Aufstörung sowohl der „Sinne“ als auch der „Vernunft“. Irritation, Kollision von Rahmen, Destabilisierung von Selbst-, Fremd- und Weltwahrnehmung, kurz: die Auslösung von Krisen scheint viel eher im Stande, dies zu vollbringen. Denn sie vermitteln zutiefst verstörende Erfahrungen, die daher auch zu einer Transformation dessen führen können, der sie durchläuft.53 Wird der Blick auf den ästhetischen Prozess gerichtet, der diese liminale Phase herbeiführt, treten Parallelen sowohl zu Mbembes weiter oben zitierter Definition von afrikanischem Kunstschaffen als auch zu der Inszenierung von Die Vreemdeling des kapstädtischen Magnet Theatre zutage, welches im Prolog vorgestellt wurde: Rückblickend lassen sich vor allem zwei Faktoren namhaft machen, die immer wieder liminale Erfahrungen bewirken: Autopoiesis und Emergenz sowie der Zusammenbruch von Gegensätzen. Bei den von ihnen ermöglichten Erfahrungen handelt es sich immer auch um

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Liminale Ästhetik/Aisthesis: Die Vreemdeling

Schwellenerfahrungen. Es scheint vor allem das Kollabieren des Gegensatzes von Kunst und Wirklichkeit sowie aller weiterer von ihm generierten Oppositionen zu sein, welches die Beteiligten in einen Schwellenzustand versetzt.54 Insbesondere das Kollabieren westlicher Dichotomien innerhalb des Theaterschaffens stellt für unseren Kontext eine entscheidende Thematik dar, da auch Fischer-Lichte argumentiert, dass in diesen performativen Prozessen des Zusammenbrechens Normen und Werte der Gesellschaft hinterfragt werden: Da dichotomische Begriffspaare nicht nur als Instrumente zur Beschreibung der Welt dienen, sondern auch als Regulative unseres Handelns und Verhaltens, bedeutet ihre Destabilisierung, ihr Zusammenbruch nicht nur eine Destabilisierung der Welt-, Selbstund Fremdwahrnehmung, sondern auch eine Erschütterung der Regeln und Normen, die unser Verhalten leiten.55 Die Inszenierung Die Vreemdeling erschafft diese zweifache Grenzerfahrung, welche nicht nur Wahrnehmungsebenen der Zuschauenden im Theater, sondern gleichfalls deren Normen- und Wertekanon betreffen, auf besondere Weise. Wie im Prolog beschrieben, führt hier die Krise zu einem kritischen Überdenken der eigenen Definition von Fremdheit und gibt zugleich Raum, Fremdheit innerhalb der vermeintlich eigenen Kultur zu erleben. Indem bei den Zuschauenden meist burischer Herkunft Fremdheitsgefühle gegenüber dem Theater aus dem eigenen Kulturkanon sich mit Fremdheitsgefühlen gegenüber Migranten überlagern, wird ein ästhetischer Wahrnehmungsraum konzipiert, der die klassischkolonialen Mechanismen traditionell-westlicher Bühnen dekonstruiert. Die Möglichkeit der Verunsicherung durch „das Eigene“ in direkter Verbindung mit der Verunsicherung durch Ungewohntes und Fremdes im Theater erscheint für das Verhandeln von Vielfalt großes Potenzial zu haben. Es ist allgemein bekannt, dass Artaud, Brecht und andere Vertreter der europäischen Avantgarde, die sich zum Ziel setzten, festgefahrene Denk- und Wahrnehmungsmuster der westlichen Welt aufzurütteln, Impulse aus anderen Kulturen aufgegriffen haben. Dass vielerlei dieser „Entlehnungen“ als „Eigenes“ markiert wurde und wird, zeugt vom kolonialen Gestus westlicher Kunstszenen, dem heutzutage kritisch begegnet werden sollte. Ein Blick zurück auf Mbembes Überlegungen verdeutlich einmal mehr, inwieweit Kunstschaffen in Afrika sui generis

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dominante Strukturen einer Gesellschaft konterkariert und lange vor der europäischen Avantgarde begonnen hat, Räume der Grenzerfahrungen zu erschaffen. Er unterstreicht das Potenzial afrikanischer Künste, nicht nur Liminalität zu gestalten, sondern auch religiöse, gemeinschaftsstiftende, aber ebenso ausgrenzende und degradierende Mechanismen im ästhetischen Erleben sichtbar und erfahrbar zu machen. Nach Mbembes Beschreibungen eröffnet Kunstschaffen in Afrika traditionell eine Sphäre, in welcher (meta)philosophische Diskurse weitergeführt werden. Gemäß dieser Auffassung afrikanischer Philosophie eignet sich der ästhetische Raum nicht nur dazu, gesellschaftlich-philosophische Themen und Überlegungen aufzugreifen und im Sinne der Aisthesis „wahrnehmbar“ zu machen, sondern auch auf komplexe Art und Weise philosophisch fortzuführen und zu „entgrenzen“.

Asymmetrische philosophische Ästhetik: Orpheus in der Oberwelt In letzter Zeit wurde das Potenzial des ästhetischen Raums, tradierte Grenzen des philosophischen Denkens zu sprengen, auch im deutschsprachigen Theaterschaffen entdeckt – häufig von Gruppen der Freien Szene, die als Kollektiv arbeiten und ohne einen einzelnen Regisseur auskommen. Im Prolog wurde die Produktion Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper von andcompany&Co. vorgestellt und gezeigt, dass in der Aufführung Diskurse des christlichen Abendlandes über das Fremde verhandelt und Wege gesucht werden, den üblichen Dichotomien zu entkommen. Die Art und Weise dieses Unterfangens gestaltet sich vielschichtiger als es in den meisten Produktionen und Texten dieses Themenfelds geschieht, die, wie anhand des Begleithefts des Festivals „Männlich Weiß Hetero“ am HAU gezeigt, binäre Oppositionen lediglich wiederholen. Das Stück kann durchaus als wissenschaftliches Experimentierfeld verstanden werden, auf welchem der philosophische Diskurs im Sinne einer „performance based research“ fortgeführt wird. Es steht jedoch auch in einer afrikanischen Tradition ästhetischer Arbeit, Philosophie, Kunst und Wissenschaft zu verknüpfen, wie Mbembe sie beschreibt. Andcompany&Co. bringt mit Orpheus in der Oberwelt ähnlich dem afrikanischen Kunstschaffen zwei Ausrichtungen der Ästhetik zusammen, die sich in Europa im Laufe des 18. Jahrhunderts voneinander getrennt entwickelt haben. So beschreibt Doris Kolesch den Werdegang der Ästhetik:

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Zum einen gilt die Ä[sthetik] seit 1750 als Teildisziplin der Philosophie, die sich mit den Künsten und dem Schönen beschäftigt. […] Zu ihrem Gegenstand zählen Erscheinungen der Künste in Geschichte und Gegenwart ebenso wie diesbezügliche theoretische Überlegungen und Reflexionen aus philosophischer, kunstwissenschaftlicher oder auch künstlerischer Perspektive. Zum anderen wird Ä[sthetik] insbesondere seit den 1970er Jahren im etymologischen Sinne der Aisthesis als sinnliche Wahrnehmung und Erkenntnis rekonzeptualisiert. Diese Erneuerung und Erweiterung von Ä[sthetik] […] erfolgte sowohl als Re-Orientierung an der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes Aisthesis als sinnlich vermittelte Wahrnehmung als durch die insbesondere im 20. Jahrhundert zu verzeichnende Ästhetisierung der Alltagswelt.56 Andcompany&Co. agiert in Orpheus in der Oberwelt nicht nur auf der Ebene der Aisthesis, sondern ebenso auf der theoretisch-philosophischen Ebene der Ästhetik und ihrer Diskurse. Mit Blick auf die philosophische Disziplin der Ästhetik sollte zunächst betont werden, dass diese sich von der Beschäftigung mit dem „Schönen“, „Symmetrischen“ und „Formvollendeten“ längst gelöst hat. Nach Hegels Ausruf des Endes der Kunst – womit das Kunstschöne gemeint ist –,57 haben eine Reihe von Philosophen Ästhetik als wissenschaftlichen Raum genutzt, Gesellschaft, Kultur und deren Geschichte durch einen „anderen“ Blick, auf eine asymmetrische, eben nicht ebenmäßige, sondern vielleicht verstörende oder aufrüttelnde Weise zu verhandeln. Obwohl der Austragungsort dieser Diskurse meist die Schrift ist, ähneln viele Texte einer Performance und entführen den Lesenden in ihrer Metaphorik und Struktur in einen sinnlich aufgeladenen Verhandlungsraum. Ähnlich dem Kunstschaffen afrikanischer Kulturen und europäischen Theateravantgarden sprengt diese philosophieästhetische Linie, die beispielsweise in Werken Nietzsches, Benjamins und Foucaults sichtbar wird, die Grenzen tradierter Systeme und somit in gewissem Maße auch die auf Dichotomien bauenden wissenschaftlichen Denktraditionen des Abendlandes. Renate Reschkes Antrittsvorlesung, die sie am 25. Mai 1995 infolge ihrer Berufung auf die Professur für „Geschichte des ästhetischen Denkens“ am Seminar für Ästhetik der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hat, spürt diesen außergewöhnlichen Weg der philosophischen Ästhetik nach. So zeigt sie aus historischer Perspektive, wie innerhalb des ästhetischen Denkens einzelner Philosophen asymmetrische Formen zutage treten, indem sie performativ aufgeladene Räume der Über-

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schreitung schaffen, welche tradierte, dichotomisierende und allein auf Differenzen setzende Strukturen des westlichen Denkens aufbrechen können. Erstaunlicherweise erinnern diese Werke an Orpheus in der Oberwelt und Mbembes Überlegungen zu afrikanischen Künsten, da sie Momente des Übergangs zwischen verschiedenen Welten und Denksystemen und den Wandel zwischen ihnen betonen. Die Asymmetrie des Ästhetischen versteht Ästhetik als ein philosophisches Denken und weniger als eine Reflexion über die schönen Künste. Vielmehr birgt sie ein Vermögen des anderen Blicks auf Geschichte und Kultur, das die symmetrischen Argumentationslinien des dialektischen, abendländischen Denkens konterkariert: Ästhetik ist nicht das Asyl fürs Geschichtlich-Soziale, wohl aber eines ihrer sichtlichen Refugien. Und sie weiß (philosophisch möglicherweise eher), dass auch das dominante Differenzdenken nur eine historische Gestalt der Reflexion aufs Geschichtliche ist. Wenn die Differenz nämlich nur noch die Leere, die leere Vermittlung ist, dann trifft die Macht dieser Leere auch die Reflexion. Alle kritische Analyse unterbleibt.58 Reschkes Plädoyer für die kritische Analyse der westlichen Kulturgeschichte wirft einen reflexiven Blick zurück auf die Geschichte des Denkens und ganz spezifisch auf die asymmetrischen Momente, welche die Ästhetik als Teil der Philosophie, spätestens mit der von Hegel aufgegriffenen antiken Metapher von der weisen Eule der Minerva, die ihren Flug der Erkenntnis in der Dämmerung beginnt, bereithält.59 Anhand der Schriften einflussreicher Philosophen des Abendlandes spürt sie diese auf und schafft einen (Denk)Raum des Ästhetischen, der zwar dem westlichen Denken entspringt und doch dessen Grenzen und Plattitüden aufspürt: „Ästhetik kann hier der Einspruch sein, das hölzerne Eisen, das Nietzsche empfohlen hat und vor dem er zugleich die Sklaven des ‚Moments, der Meinungen und der Moden‘ gewarnt hat, sie würden mit ihm nicht umzugehen wissen.“60 Diesen Einspruch zu erheben beziehungsweise geltend zu machen, erscheint auch heutzutage aus vielerlei Gründen für das Überwinden von Rassismen und kolonialen Dichotomien im wissenschaftlich-philosophischen Arbeiten und Argumentieren sinnvoll. In einer solchen Tradition philosophischer Ästhetik kann zum Beispiel Hauptfleischs und Igweonus Kritik an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit afrikanischem Theater gelesen, aber auch der Diskurs über Theater mit geflüchteten Menschen und Blackfacing sinnvoll weitergeführt werden. Reschkes

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Überlegungen weisen jedoch nicht nur auf diesen Weg abendländischer Philosophie, das Bekannte, Tradierte, Gewohnte und Normierte im reflexiven Rückblick auf die Geschichte zu hinterfragen, sondern – und das ist der spannende Moment für Theater- und Kulturwissenschaften – sie verdeutlicht die performative Aufladung dieser Schriften und somit deren aisthetische Wirkungsebenen im Hier und Jetzt des Lesens. Sie gibt so der Ästhetik als philosophische Teildisziplin ein Refugium innerhalb des philosophischen Denkens zurück, das in den letzten Jahrzehnten ein wenig in Vergessenheit geraten ist: Philosophische Ästhetik schafft Raum nicht nur für wissenschaftlich-argumentative, sondern auch für sinnliche Erkenntnis. Obwohl oder gerade, weil in letzter Zeit das Ästhetische als Aisthesis mit ihren vornehmlich kunstbeziehungsweise wahrnehmungsspezifischen Parametern überstrapaziert zu sein scheint, kann der philosophische Diskurs der Ästhetik und deren „Version“ der Geschichte des abendländischen Denkens für heutige Theaterformen, die kulturelle Zugehörigkeiten thematisieren und häufig an rezente gesellschaftliche Debatten geknüpft sind, ein sinnvolles Analyse- und Beschreibungsrepertoire bereitstellen. Da sie in der Philosophie, wie Reschke es beschreibt, das Asymmetrische, das „Andere“, nach westlichen Kategorien nicht symmetrisch Erscheinende in den Blick zu nehmen vermag, trägt sie womöglich das Potenzial in sich, auch Prozesse zu betrachten, die an der Schnittstelle von Aisthesis und Ästhetik, also sinnlicher Wahrnehmung und (kunst)wissenschaftlicher Philosophie, dem gängigen, normierten und tradierten westlichen Kanon entgegenstehen oder ihn aufzubrechen gedenken, was ebenfalls in manchen Theaterstücken der Fall ist, auch das setzen Orpheus in der Oberwelt und Die Vreemdeling in Szene. Der performative Grundgestus Reschkes Asymmetrie des Ästhetischen wird einmal in der Theaterdramaturgie ihres Textes erfahrbar, der an die Struktur von Jostein Gaarders Sofies Welt angelehnt ist, in welcher die Kulturgeschichte des Abendlandes von dem Erzähler als Theaterstück vorgestellt wird: „Vorhang auf, Sofie! Die Geschichte des Denkens ist ein Drama in vielen Akten.“61 Doch bleibt sie nicht in der klassischen Struktur des Dramas verhaftet, sondern zeigt anhand von Foucaults, Nietzsches, Hölderlins und Benjamins Schriften, inwieweit das Ästhetische nicht nur als metaphorisches Moment, sondern auch als philosophischer Geschichtsdiskurs dem kreativen Schaffen auf der Bühne ähnelt: Wenn die Geschichte durch ihre Ästhetisierung ortlos und nur (noch) als Aufführungsort von Jetzt-Performances akzeptiert wird

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(als Bühne für ein Denken, das nicht mehr sein will als „Tat, Sprung, Tanz“),62 was kann sie dann sein jenseits von Kontinuität und Chronologie, entlassen (oder befreit) aus geschichtsphilosophischer Reflexion, aus dem telos, von Aristoteles bis Hegel denkkonstituierend eingefordert?63 Insbesondere Foucault nutzt eine performativ aufgeladene Sprache, um jahrhundertelang tradierte Vorstellungen der abendländischen Kulturgeschichte zu dekonstruieren: In der Archäologie des Wissens hat Foucault ein Bild von Geschichte zerstört, in dem die Souveränität des Subjekts nicht nur denkbar, sondern für die Geschichte als fundamental galt. Andere Zugriffe, (ästhetisch aufgeladene) sollten gelten: Blitz, Taumel, Chaos, Differenz, Fragilität, Ereignis, Dokument, Archiv, Diskontinuität. In dem sich öffnenden Raum einer „Epoche des Simultanen“, „in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes, sich durch die Zeit entwickeltes Leben erfährt, sondern eher ein Netz (ist), das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt“,64 erweist sich Geschichtliches (nur noch) in fiktionalen Textkonstruktionen.65 Foucaults geradezu aisthetischen Zugriffe auf die europäische Kulturgeschichte erinnern an die von Mbembe beschriebenen Funktionen afrikanischer Kunst und deren Grenzen sprengende Kraft, jedoch auch Fischer-Lichtes Überlegungen zu Erfahrung von Liminalität im Theater. Gleichwohl verknüpft Reschke diesen performativen Entgrenzungsakt mit der philosophischen Ästhetik als Geschichte des abendländischen Denkens. Sie fordert, dass auch heutzutage das ästhetische Denken – zwar allein in der Sprache, aber dennoch mit performativen Metaphern – „wesentlich das Unerledigte der Philosophie thematisiert und dass in ihr die Nöte des Singulären, Konkreten und Individuellen Begriff, Bild und Denkraum besitzen“.66 Bemerkenswert in dieser Aussage ist das offensichtliche Potenzial an Offenheit für Änderungen, Neuerungen und Experimente, das mit Hegels Metapher der Eule der Minerva, die nämlich zum Flug der Erkenntnis erst in den Abendstunden und somit im Dunkelwerden ansetzt, zunächst noch in der Dämmerung des ästhetisch-abendländischen Denkens aufflackerte, doch in den letzten zwei Jahrhunderten durchgängig in der abendländischen Philosophie zutage tritt und sich insbesondere in einem performativen Gestus äußert. Obwohl Reschke den Schritt ins Theater allein in der performativen Gestik der Sprache der Texte vollzieht, flackert das Potenzial des

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Zusammenführens von performativ-künstlerischen Aushandlungen und philosophischen Diskursen für asymmetrische Denkprozesse zwischen den Zeilen auf: Wenn „das Unerledigte der Philosophie“ in dieser performativen Sprache verhandelt wird, dann eignet sich wohlmöglich der performative Raum samt seiner Techniken als Aushandlungsort des Unerledigten, zu welchem das wissenschaftliche Begreifen von Kulturen jenseits abendländischer Kategorien zweifelsohne gehört, vorzüglich. Obwohl Reschke dieses Unterfangen sicher nicht primär im Sinn hatte, sind wir an dieser Stelle den Überlegungen der performance based research beziehungsweise der practice as research erstaunlich nahe. So hat auch andcompany&Co. mit Orpheus in der Oberwelt ganz offensichtlich diesen Schritt zwischen den beiden Welten – künstlerische Erfahrung und wissenschaftlicher Diskurs – vorgeführt, indem sie philosophische-abendländische Diskurse über „das Andere“ und die symbolische Geschlechterordnung unverkennbar in der Aufführung einer Vorlesung beziehungsweise Lecture Performance gleich eingeworfen und dann performativ verhandelt, dekonstruiert und weitergesponnen hat. Im Kulturschaffen afrikanischer Gesellschaften hat das Modell, in einer Performance Geschichte er lebbar zu machen und Denkräume zu erschaffen, ebenfalls eine lange Tradition.

Verknüpfungen von Ästhetik und Aisthesis, Asymmetrie und Liminalität, Autonomie und Anwendung: Theater als Verhandlungsraum zwischen den Welten Afrikanische Kulturen verdeutlichen seit jeher, dass Philosophie weitaus mehr ist, als in linearer Abfolge Bücher und Texte zu schreiben und zu lesen, so argumentiert Okagbue hinsichtlich Performances der Igbokultur, die ihren Ursprung in präkolonialer Zeit haben: The indigenous forms are constantly reviewing and revising themselves in response to their ever-changing historical and cultural contexts. They withstood the concerted assaults of colonial politics and those of Christian and Islamic religions by engaging with, adapting and incorporating these intruding elements into their universe as a means of domesticating and coping with them. The Ijele masquerade of the Igbo, for example, exhibits an almost irreverent postmodernist appropriation of alien materials and threats in a process of discursive containment.67

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Neben der Ijele-Maskerade der Igbo gibt es auch in der Shona- und Ndebele-Kultur, welche mir durch meine häufigen Forschungsaufenthalte in Zimbabwe vertraut sind, verschiedene Beispiele, bei welchen in Tänzen und Ritualen unterschiedliche kulturelle Verweisebenen und Traditionen neu kombiniert und gedeutet werden. So sind Tanz- und Musiksequenzen mit mbira (Zupfinstrument), ngoma (Trommeln) und hosho (Rasseln) traditionell Teil religiöser Handlungen beispielsweise im Ritual kurova guva. Sie werden jedoch auch in anderen kulturellen und künstlerischen Kontexten eingesetzt und erlangen auf diese Weise weitere Bedeutungsebenen. Nach der Unabhängigkeit Zimbabwes nutzte sie der Staat, um ein nationales Gemeinschaftsgefühl zu erschaffen, während 30 Jahre später Kritiker des Regimes sie für Formen des Protests nutzten und ihnen so weniger religiöse, denn gesellschaftspolitische Bedeutungen beimaßen. Insbesondere in Theaterstücken der letzten 30 Jahre werden traditionelle Tänze und Rituale beispielsweise mit europäischen und asiatischen Theaterformen verbunden, um zu betonen, dass in afrikanischen Performances und deren Ästhetiken traditionell neue und andere Traditionen aufgenommen und verwandelt werden. Als Beispiele par excellence sei hier auf in meiner Dissertation bereits ausführlich dargestellte Produktionen hingewiesen wie Cont Mhlangas Workshop Negative, die Performancetraditionen aus afrikanischen, europäischen und asiatischen Kulturen kombiniert, um auf das Potenzial und die Herausforderungen der jungen Republik Zimbabwe in den 1980ern hinzuweisen, aber auch Giles Ramsays King Oedipus und Stephen Chifunyises Rituals, die beide Shona-Rituale nutzen, um das stetig zunehmende despotische Verhalten des Präsidenten Mugabe in den letzten 18 Jahren seiner Amtszeit im 21. Jahrhundert zu kritisieren. Wie bereits im Titel King Oedipus ersichtlich wird, kombiniert Ramsay die Shona-Rituale mit Elementen der griechischen Tragödie, was zum Zeitpunkt der Premiere 2009, dem Höhepunkt der wirtschaftlichen und politischen Krise in Zimbabwe, zu einer äußerst spannenden und aktuellen Neuinterpretation der verschiedenen Ritual- und Performancetraditionen geführt hat. Der griechische Chor bekam durch die ShonaRituale eine auch heutzutage sinnvoll erscheinende Funktion, und die Parallelen zwischen dem von der Pest und Ödipus’ Herrschaft gebeutelten Theben und einem von Cholera, Aids und Mugabes Führungsstil erschütterten Zimbabwe wurden im Zusammenbringen dieser verschiedenen Verweise nicht nur bestechend deutlich, sondern in gewisser Weise erfahrbar.68 Im südafrikanischen Kontext sind ähnliche Arbeitsweisen zu beobachten. So bestach jüngst die Produktion Animal Farm im Market Thea-

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tre Johannesburg und auf diversen Festivals, indem in die Erzähldramaturgie von George Orwells Klassiker traditionelle Rituale, Songs aus den Befreiungskämpfen und tradierte Szenen des Storytellings, aber auch Pantomime und Elemente des Physical Theatre eingebettet wurden. Die collagenartige Dramaturgie schaffte so einen ästhetischen Raum, in welchem unterschiedliche Traditionen zwar zum Teil erkennbar sind, jedoch in der Kombination verwandelt und so gänzlich neue Ausdrucks- und Wahrnehmungsebenen erschaffen. Diese Formen ästhetischer Collagen, die bewusst auf einen diversen Kanon von Traditionen und Techniken zurückgreifen und darüber hinaus auf Möglichkeiten einer transkulturellen Wissensgenerierung hindeuten (in dem Sinne, dass das unterschiedliche kulturelle und philosophisch-gesellschaftliche Wissen in verschiedenen Medien übersetzt und erfahrbar und somit grundsätzlich auch (kunst)wissenschaftlich interpretierbar wird), sind für Verhandlungen von kultureller Vielfalt und das Überkommen dichotomer, traditioneller Denkmuster richtungsweisend. In ihren verknüpfenden Momenten von Wahrnehmung und Philosophieren stellt Ästhetik hier – trotz ihrer westlichen Geschichte – ein sinnvolles Instrumentarium bereit, da sie einerseits von afrikanischen Wissenschaftlern genutzt wird, um außereuropäische kulturelle Phänomene zu beschreiben und andererseits in ihrer doppelten Funktion Möglichkeiten bietet, sowohl Festgefahrenes zu lösen, Tradiertes kritisch zu hinterfragen, Rassismen zu überwinden und Kulturen für neue Einflüsse zu öffnen, als auch die Kluft zwischen wissenschaftlichem und kreativ-künstlerischem Schaffen zu überbrücken. Diese Wirkungsebenen der Ästhetik nutzen ebenfalls die beiden Produktionen Die Vreemdeling in Südafrika und Orpheus in der Oberwelt in Deutschland auf ganz verschiedene Art und Weise. In Die Vreemdeling werden stereotype kulturelle Klischees des Anderen mit Fremdheitserfahrungen der eigenen Kultur im Theater überlagert, Orpheus in der Oberwelt stellt den philosophischen Diskurs im Abendland um Fremdheit und Stigmatisierung des Anderen diskursiv vor und verhandelt ihn daraufhin ästhetisch-künstlerisch weiter. Beide haben so Kulturtexte des Fremden sinnlich erfahrbar gemacht und vorangebracht, indem Grenzen gesprengt wurden. Resümierend lässt sich beobachten, dass beide Produktionen – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – die Erfahrung von Liminalität im ästhetisch-künstlerischen Ausdruck im Sinne Fischer-Lichtes (die Erfahrung von Fremdheit in der vermeintlich eigenen Kultur) mit der Bewusstwerdung von Asymmetrie im philosophisch-ästhetischen Diskurs im Sinne Reschkes (die scheinbar „symmetrischen“ Bilder des Fremden und deren Dekonstruktion) kombinieren.

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Die gesellschaftlich-philosophische Bedeutung ist von besonderem Interesse, da sie den Autonomierahmen der Kunst öffnet und das theaterwissenschaftliche Interesse auf ein gesellschaftlich-sozial relevantes Feld erweitert. Die vierte Wand negiert nicht nur den Zuschauer und suggeriert, dass das Bühnenspiel gänzlich ohne diesen auskommt, sondern schottet die Kunst des Theaters von jeglicher sozial-gesellschaftlichen Inanspruchnahme ab. Theater, das, um seine Wirkungsästhetik zu entfalten, außerhalb des Theatergebäudes agiert, also in Schulen, auf Marktplätzen, in Gefängnissen und anderen in erster Linie kunstfreien Räumen, wird immer noch von der „hohen Theaterkunst“ belächelt, nicht nur, weil es die heiligen Hallen verlässt, sondern, weil es seine Wirkung an gesellschaftliche, soziale und therapeutische Zwecke bindet. Obwohl die vierte Wand seit Jahrzehnten bröckelt, sind die Vorstellungen der Autonomie und sozialen Zweckfreiheit von Kunst nicht nur in der Praxis, sondern auch in den Diskursen dominant vertreten. Die Theatersemiotik ist Beispiel par excellence für ein Analysemodell, welches allein die Zeichensysteme auf der Bühne betrachtet, doch auch die Vorstellung, der Regisseur, der Dramatiker, der Bühnenbildner und die Schauspieler seien die einzigen Erzeuger der Theaterästhetik, wird vielerorts geteilt. Die Vremdeeling und Orpheus in der Oberwelt werden zwar „klassisch“ auf einer Bühne im Theater aufgeführt, doch tragen sie die vierte Wand im doppelten Sinn ab. Orpheus in der Oberwelt benötigt die Zuschauer nicht als direkten Adressaten der Lecture Performance, sondern setzt bewusst auf die gesellschaftspolitische Zielsetzung der Inszenierung. Die Vreemdeling kombiniert die Aufführung mit Workshops mit dem Publikum und setzt auf eine gesellschaftspolitisch relevante Wirkung. Das spannende Moment an beiden Inszenierungen ist die Kombination verschiedener Traditionen und Vorstellungen von Theater und seinen Ästhetiken. Wie gezeigt, weisen sie Parallelen zu afrikanischen Performances wie der Ijele-Maskerade in der Igbo-Kultur, zimbabwischer Protesttheaterproduktionen nach der Unabhängigkeit, klassischer europäischer Aisthesis des Theaters, philosophischer Ästhetik, aber auch dem gesellschaftlich-sozialen Wirkungsfeld von Applied Theatre auf. Wahrscheinlich mag diese Offenheit mit ihren multiplen Anknüpfungspunkten ein Grund dafür sein, neue Wege der Darstellung und Verhandlung von Vielfalt in und mit Theater gehen zu können. Warstat ist auf ein ähnliches Phänomen innerhalb der europäischen Avantgardebewegung gestoßen. Er beschreibt, wie deren Arbeiten ein Spannungsfeld zwischen dem Verständnis einer im reinen Kunstgenuss

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als autonom verstandenen Ästhetik und einem ziel- und zweckorientierten Wirkungsversprechen erschaffen: Eine an Kant anschließende Grundposition besagt nämlich, dass ästhetische Erfahrungen keinen praktischen Zwecken unterworfen sein dürfen. Ästhetische Erfahrungen sind dieser Position zufolge dadurch gekennzeichnet, dass sie sich jeglicher externen Instrumentalisierung entziehen. Was könnte aber ein vordringlicher, zwingenderer, ethisch verpflichtenderer Zweck sein als eben ein therapeutischer?69 Er zeigt anhand mehrerer Beispiele, dass Künstler der Avantgarde, „denen die Autonomie der Kunst wichtig war, zugleich Heilungschancen in der Kunst gesucht und erkannt haben“.70 Die künstlerischen Prinzipien, die sich hinter dieser neuen Richtungssetzungen von Ästhetik verbergen, nutzen allesamt, so argumentiert er weiter, Formen der Überschreitung: Denn die wirkungsbetonten Avantgardediskurse, von denen hier die Rede war, korrespondieren mehr mit einem anderen Zweck moderner Ästhetik, der mit therapeutischen Anliegen und Projekten leichter vereinbar ist als eine strikte Autonomieästhetik. Gemeint sind die vielfältigen Ästhetiken der Überschreitung, die im Theater des 20. Jahrhunderts eine starke Bastion hatten. Man denke an Theatermacher wie Filippo Tommaso Marinetti, Raoul Hausmann oder Antonin Artaud: Ihnen ging es um ein Theater, das die Grenzen der Vernunft, des Logos und der Moral gleichermaßen sprengen sollte.71 Die Überschreitung bezieht sich demnach nicht nur auf den ästhetischen Ausdruck, sondern auf die symbolische Ordnung des Abendlandes. Blicken wir auf Orpheus in der Oberwelt und Die Vreemdeling, so lässt sich eine Nähe zum Prinzip der Überschreitung innerhalb der Avantgarde finden, obgleich sie im Vergleich zu Marinettis, Hausmanns und Artauds Beispielen „zarter“ ausfallen. Die Sprengung von Grenzen scheint weniger im Vordergrund zu stehen, denn die Versuche des Öffnens des ästhetischen Raums, der Einbeziehung oder direkten Adressierung der Zuschauer*innen und der gesellschaftlich-sozialen Wirkung. In den beiden Inszenierungen wird besonders deutlich, dass nicht die grundlegenden abendländischen Kategorien Vernunft, Logos und Moral im Vordergrund der Dekonstruktion stehen, sondern das abendländische Prinzip der dichotomen Differenzierung des „Fremden“ als des

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„Anderen“ und die Position des Zuschauers, der dieses „Fremde“ bestaunt und mit seinem Blick auf das Fremde penetriert und erobert. Dieser Anspruch der Produktionen trägt ganz offensichtlich postkoloniale Züge.

Die Sorge um das Offene: Vorüberlegungen zur Ästhetik der Entähnlichung Im Verlauf dieser Arbeit wird eine Definition von Ästhetik vorgestellt und diskutiert, welche diese Formen kultureller Verhandlungen der Vielfalt möglicherweise beschreiben kann. Mbembe fordert in seinem schon mehrfach zitierten Buch die internationale Politik und Gesellschaft auf, „Sorge um das Offene“72 zu tragen. Um es an dieser Stelle einleitend vorwegzunehmen: In gewisser Weise den Zielen des Magnet Theatre und andcompany&Co. ähnlich, propagiert er ein Verständnis von Diversität, welches dem dichotomen Kategorisierungswahn des westlichen Denksystems überwunden hat. Differenzen sind nach dieser Auffassung für eine globale Gesellschaft notwendig und sollten verhandelt und ausgehandelt werden, jedoch ohne die Einverleibung und Aufhebung im Hegel’schen Sinne in ein koloniales Denksystem, das die dichotome Differenz zum Anderen für die Konstitution des Eigenen benötigt. Um diesem Mechanismus zu entgehen, bringt Mbembe das Prinzip der „Entähnlichung“ (désapparentement) ins Spiel, welches besagt, dass Differenzen nicht einander ähnlich gemacht werden, wie es beispielsweise die Phänomenologie des Geistes betreibt, nämlich die Differenz zum Anderen als Teil des Eigenen „aufzuheben“: Das „Andere“ wird so dem „Eigenen“ ähnlich gemacht, da es als direkte Opposition gesetzt und somit vereinfacht und in westliche Kategorien gedrängt wird. Die „Sorge um das Offene“ tritt einer Kategorisierung und Aufhebung anderer Traditionen und Denkweisen nach binären Mustern des Abendlandes entgegen.73 Die beiden Theaterprojekte aus Kapstadt und Berlin zeigen, dass Theater durchaus das Potenzial hat, den von Mbembe eingeläuteten Diskurs in der Praxis zu vollziehen. Forschung und Theorie zu einem Theater der Vielfalt sollte hier anknüpfen und Methoden und Termini finden – durchaus auch unter Einbeziehung der Überlegungen von Mbembe, Okagbue, Fischer-Lichte, Reschke und Warstat –, die koloniale Denkweisen zu überwinden vermögen. Bevor jedoch intensiv über diese gegenwärtigen Theorieentwicklungen und eine mögliche theater- beziehungsweise kulturwissenschaftliche

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Die Sorge um das Offene: Vorüberlegungen zur Ästhetik der Entähnlichung

Terminologie nachgedacht wird, welche den jüngsten Theaterarbeiten gerecht werden, die kulturelle Diversität konstruktiv verhandeln, wird sich zunächst der Frage zugewandt, warum und auf welche Art und Weise mittels Theater koloniale Strukturen sowie westlich-abendländische Ordnungen, seien es heteronormative Geschlechter- und Gesellschaftsbilder oder rassistische Dichotomisierungen, vorangebracht und vermittelt wurden und werden. So wird im nächsten Kapitel Theater zunächst kritisch nach seinen kolonialen Strukturen und Wirkungsweisen hinterfragt: Inwieweit werden hier traditionell rassistisch motivierte, aber auch homophobe und frauenfeindliche Degradierungen vollzogen? Nicht nur im Afrika der Kolonialzeit und Apartheid, sondern auch heutzutage im gegenwärtigen Europa, so offenbaren es nicht nur Die Schutzbefohlenen am Thalia in Hamburg, lässt Theater gesellschaftliche Vielfalt beschneidende Vorstellungen und Mechanismen leibhaftig werden. Auffallend ist einmal, dass das klassische-bürgerliche Theater, trotz seines viel beschworenen Impetus der Aufklärung, ein idealer Ort für dieses Gebaren ist: Die im Sinne europäischer Normen und Werte realistischen und naturalistischen Schauspielweisen und deren Schulen, ein europäisches bürgerliches elitäres Publikum, welches Randgruppen, Minderheiten und andere bewusst gar nicht erst in das Foyer hineinlässt, und Theatertexte, in welchen heterosexuelle und weiße Protagonisten das Maß aller Dinge darstellen, waren lange Zeit beziehungsweise sind teilweise noch für dieses grundlegend. Um das Spannungsfeld des europäischen Theaters nach der Aufklärung zu begreifen, welches die Emanzipation und demokratische Entwicklung des Bürgertums fördert und gleichzeitig jene Schatten wirft, wird Hegels Philosophie ins Spiel gebracht. Ähnlich dem bürgerlichen Theater steht diese in einer Tradition der Aufklärung und des deutschen Idealismus, die koloniales und rassistisches Gedankengut – trotz der damals viel beschworenen Kritik an der Sklaverei – voranbringt. Obgleich der Möglichkeit des Widerstands des Knechts in der Phänomenologie des Geistes, ist die Metapher von Herr und Knecht für die Denkweisen des Kolonialen beispielhaft. Es ist nicht verwunderlich, dass Werke afrikanischer Philosophen wie Fanon und zuletzt Mbembe sich mit Hegel auseinandersetzen. Aus diesen kritischen Überlegungen können Hinweise abgeleitet werden, gegenwärtige Ästhetiken zu begreifen, die sich mit Themen wie Flucht, Migration, Inter- und Transkulturalität, Homosexualität, Feminismus – kurz: der kulturellen Vielfalt – beschäftigen. Es wird darum gehen, Möglichkeiten zu finden, die Kluft einerseits zwischen der auf Wahrnehmung basierenden Aisthesis und der philosophischen Ästhetik und

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andererseits zwischen autonomer und anwendungsorientierter Kunst zu überbrücken. Anknüpfend an die letzten Unterkapitel soll ein ästhetischer Raum konzipiert werden, dem es gelingt, zwischen den künstlerischen, philosophischen und kulturellen Welten jenseits binärer Dichotomien zu agieren und Vielfalt so erlebbar zu machen. Hiermit wird sich das dritte Kapitel beschäftigen. Die Öffnung des Theaters zur Verhandlung von kultureller Vielfalt sprengt nicht nur klassische Theaterrollen, Schauspielweisen und Besetzungstaktiken. In letzter Zeit sind die Grenzen zwischen Kunsttheater und angewandtem Theater fließend.74 Auch dies wird im Prolog deutlich: Im Themenfeld rezenter kultureller Verhandlungen von Flucht, Migration und Diversität lässt sich in Südafrika und zunehmend auch in Deutschland eine klar formulierte gesellschaftliche Zielsetzung, ein soziales Wirkungsversprechen oder einfach eine politische Schwerpunktsetzung kaum vom Theaterschaffen trennen. Viele Akteurinnen und Akteure des Kunsttheaters verlassen dessen vermeintlich autonomes Refugium und hinterfragen das Kant’sche Modell des ästhetischen Genusses des geschlossenen Kunstwerks aus der distanzierten Beobachterperspektive des „Erhabenen“. Der Einbruch der „Anderen“ und „Fremden“ im Theater75 und die damit einhergehenden postkolonialen Diskurse haben eines heutzutage grundlegend verändert: Theaterschaffen hat gesellschaftliche Verantwortung mehr denn je, und den Beteiligten wird zunehmend eine gesellschaftspolitische Haltung abverlangt. Sie werden vermehrt aufgefordert, sich gesellschaftlich-sozial-brisanten Themen zu stellen, aber auch Narrenfreiheit und deren Autonomie, welche die Bühne traditionell bietet, nicht außer Acht zu lassen. Diese Anwendungsbezogenheit wird häufig kritisch als Aporie verstanden,76 andernorts wird ihr viel Potenzial zugesprochen. Arbeiten der Theaterpädagogik und des Applied Theatre bauen seit Langem auf die soziale, therapeutische und pädagogische Wirksamkeit von Theater. Akteure dieses angewandten Theaters sind, das wurde eingangs verdeutlicht und soll an dieser Stelle abermals unterstrichen werden, wichtige Impulsgeber für die Überlegungen in diesem Buch. Gleichzeitig sollten die gesellschaftlichen Bilder und Zielsetzungen, die Vorstellungen von Pädagogik, Erziehung, Bildung, die sich hinter den Wirkungsversprechen verbergen, ebenso kritisch hinterfragt werden, inwieweit diese nicht heutzutage im Sinne einer gesellschaftlichen Vielfalt problematisch erscheinende Konzepte wie etwa kolonialer, rassistischer und heteronormative Natur fördern und der Sorge um das Offene entgegenstehen. Auch diese einengenden Tendenzen lassen sich als ein Erbe des bürgerlichen und kolonialen Theaters begreifen.

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Kapitel 2 Unter Hegels Fittichen:

Bßrgerliche und koloniale Identität im Theater


Bürgerliche und koloniale Identität im Theater

In Inszenierte Wirklichkeit. Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen betont Joachim Fiebach die Bedeutsamkeit von Theater und theatralem Handeln für das Etablieren und Bewahren hierarchischer Strukturen in einer Gesellschaft: Dieses Buch mustert theatrale Praktiken, mit denen sich gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse realisieren und, besonders, zu legitimieren suchen, und denen sich, gleichsam auf der anderen Seite, Haltungen und Bewegungen manifestieren, die sich diesen Verhältnissen entziehen möchten oder gegen sie angehen. Anders beschrieben wären solche Tätigkeiten „inszenierte Wirklichkeiten“.77 Obwohl „Macht- und Herrschaftsverhältnisse“ in manchen Ohren ungewohnt klingt, wird mit ihrer Kontextualisierung eine weitreichende Komponente theatralen Schaffens deutlich: Es wird von den diskursanführenden Eliten genutzt, um ihre Vormachtstellung und deren Regularien zu untermauern. Fiebach beschreibt in Inszenierte Wirklichkeit in erster Linie theatrale Praktiken jenseits der klassischen Theaterbühnen, dort, wo Theatralität im Alltäglichen zur Kennzeichnung und Stabilisierung von Hierarchien Anwendung findet. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass die deutschen Staats-, Landes- und Stadttheater selbst Orte par excellence sind, an welchen Macht- und Herrschaftsverhältnisse öffentlich zelebriert und legitimiert werden. Die elitäre Haltung des bürgerlichen Publikums ist allseits bekannt. Trotz der vielen Versuche, die Theaterfoyers auch bildungsfernen und marginalisierten Gruppen zugänglich zu machen, wird insbesondere das Sprechtheater in erster Linie von einem klassisch-bourgeoisen Milieu besucht. So betont Birgit Mandel, dass Theaterfoyers ein Repräsentationsort traditioneller Eliten sind, und zeigt anhand jüngster Projekte der Zuschauerforschung, inwieweit sich innovative Theater einem breiteren Publikum öffnen wollen.78 Das Gorki Theater nimmt hierbei eine Vorreiterrolle ein. Ganz offensichtlich strebt es an, eine relevante Bühne auch für Gruppen mit jüngeren Migrationsgeschichten zu sein. Innerhalb dieser strukturellen Neuausrichtung bricht es bewusst mit klassischen Traditionen beziehungsweise inszeniert oder (de)konstruiert jene in einem „postmigrantischen“ Design. In einigen Aufführungen offenbart sich jedoch die seit dem 18. Jahrhundert tradierte und heutzutage höchst ambivalent zu sehende Rolle des klassischen Theaters, Ort der Bestärkung einer bestimmten bürgerlichen Identität und Selbstvergewisserung zu sein.

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Brechungen und Neuinszenierungen einer bürgerlich-normativen Ästhetik: Das Berliner Maxim Gorki Theater Auch die jüngste Geschichte der kleinsten der öffentlich geförderten großen Bühnen Berlins, des Maxim Gorki Theaters, offenbart die immense Herausforderung, die damit einhergeht, klassische Traditionen bürgerlichen Theaters zu brechen. Die symbolisch äußerst wirksame Verwandlung zur postmigrantischen Bühne, die von Shermin Langhoff co-geleitet wird, welche zwar in die bedeutende Regiedynastie eigeheiratet hat, doch eine Migrationsgeschichte vorweisen kann, wurde gemeinhin als ein hoch politischer Akt wahrgenommen. 2016 erhielt das Haus den Berliner Theaterpreis mit einer auffallend gesellschaftspolitisch gefärbten Begründung, so der Tagesspiegel am 23. Februar 2016: Sie haben es, so die Jury, „konsequent und radikal zu einer Spielstätte gemacht, die die Vielfalt der Stadtbevölkerung spiegelt, in seinem performativen und diskursiven Programm wie in seinem Ensemble: deutsche Schauspieler aus allen Teilen der Welt, die sich herausspielen aus Schubladen, Zuschreibungen und (Gender-)Eindeutigkeiten.“ Identität sei hier keine fixe Kategorie, „sondern die Möglichkeit, sich immer wieder neu zu betrachten und zu hinterfragen, im sozialen, künstlerischen und politischen Raum“.79 Tatsächlich bietet das Programm ein breites Spektrum unterschiedlicher Formen von Theaterschaffen an, um die Vielfalt der Stadtbevölkerung abzubilden. Yael Ronen, eine der gegenwärtig bekanntesten Regisseurinnen des Gorkis, erarbeitet ihre Inszenierungen meist kollektiv mit einem kulturell bunt gemischten Team. Die Stücke verhandeln in erster Linie Themen von Bürgerinnen eines international-migrantisch-globalen Berlins der Gegenwart. Die Kritik spart nicht an Lob über diesen zeitgemäßen Ansatz. The Situation, welches den Nahostkonflikt von Vertretern der jeweiligen Konfliktgruppen thematisiert, die allesamt in Berlin leben und somit mit der „Situation“ ganz anders umgehen müssen, wurde 2016 zum Theatertreffen eingeladen und avancierte zu einem Publikumsmagneten. Recht zwanglos präsentiert und persifliert es Eigenheiten und zuweilen auch komisch-groteske Situationen der meist in jüngster Zeit zugezogenen Menschen aus der Region des Nahen Ostens mit unterschiedlichen Kulturgeschichten in Berlin. Im Vergleich zum deutschen Tanztheater, das seit den 1970er Jahren mit internationalen Teams arbeitet, ist für das deutsche Sprechtheater ein solch heterogenes Ensemble ungewöhnlich. Die meisten Schauspie-

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ler haben nicht die klassischen deutschsprachigen Kunsthochschulen durchlaufen und unterscheiden sich so von deren traditioneller Sprechund Spielweise, oft sind sie des Deutschen nicht mächtig, sondern plaudern ganz selbstverständlich auf Englisch oder in anderen Sprachen. Im Gegensatz zur hiesigen Sprechtheaterszene ist derlei multikulturelles Schauspiel jedoch im anglophonen Raum nicht ungewöhnlich. Viele britische Bühnen wie das Globe Theatre in London oder das Fringe Festival in Edinburgh präsentieren im Sprechtheater eine ähnliche Vielfalt, was nicht zuletzt dem Commonwealth-Gedanken des ehemaligen Empire geschuldet ist und so im Vereinigten Königreich viele Produktionen vom afrikanischen Kontinent präsentiert werden. Das Gorki präsentiert nicht nur ein international orientiertes multinationales Theater, sondern (de)konstruiert und (de)chiffriert im doppelten Sinn – zuweilen bewusst, zuweilen unbewusst – traditionelle Hierarchien und Deutungshoheiten des deutschsprachigen Schauspiels. Auf den ersten Blick fällt die beachtliche Anzahl von Inszenierungen auf, die sich am klassischen europäischen Theatersetting orientieren beziehungsweise im wahrsten Sinne sich daran abarbeiten. Es entsteht der Eindruck, als ob postmigrantisches Theater zunächst ein Feld erobern und repräsentieren muss, von welchem seine Akteure lange Zeit ausgeschlossen waren. Um es vorwegzunehmen: Die entscheidende Frage wird sein, ob hier mit dem Rückgriff auf klassisches Material das von der Jury des Berliner Theaterpreises betonte „Herausspielen aus Schubladen“ gelingt, oder aber ob nicht vielmehr Stereotype und Klischees re-inszeniert und Machtverhältnisse, wenn überhaupt verändert, dann nur mit neuen Vorzeichen versehen werden. Diese Tücken haben sich im letzten Jahrhundert in Ländern, die der Kolonisation durch Europa zum Opfer fielen, immer wieder dem Wandlungswunsch entgegengestellt, wenn in postkolonialen Zeiten koloniales Material inszeniert wurde, um es zu adaptieren oder zu verfremden. Häufig, so betonten es Kritiker*innen, wurde damit die Dekolonisierung kaum vorangebracht, sondern eher koloniales Gedankengut weiter verfestigt, ~gı~ wa Thiong’o in Decolonising the Mind bereits in darauf weist Ngu den 1980er Jahren hin,80 aber auch Arbeiten von Theaterwissenschaftlern wie Sam Ukala betonen diese Problematik.81

Verrücktes Blut I: Die Macht bürgerlicher Ästhetik Nurkan Erpulat und Jens Hilljes Verrücktes Blut war schon am Ballhaus Naunynstraße erfolgreich und wurde mit seiner Wiederaufnahme am

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Verrücktes Blut I: Die Macht bürgerlicher Ästhetik

Gorki als „Klassiker“ des postmigrantischen Theaters deutschlandweit bekannt. Der große Erfolg rührt daher, dass die Inszenierung (post)migrantische Klischees in einem traditionellen europäischen Theatersetting verhandelt und so das klassische Publikum weder in liminale noch in asymmetrische Sphären getrieben wird, sondern sich auf seinem Platz im Parkett oder auf dem Rang sicher und erhaben fühlt. Die Aufführungen im Gorki Theater an Berlins geschichtsträchtigem Boulevard Unter den Linden treiben die doppeldeutigen, zuweilen ironischen Bezüge der Inszenierung zum klassischen europäischen Theater auf die Spitze. Dies geschieht jedoch ohne Peripetie bezüglich der tradierten Darstellungspolitik des bürgerlichen Theaters: Ein neues ästhetisches Format eines postmigrantischen Theaters wird mit Verrücktes Blut nicht vorgelegt, was darauf hindeutet, wie starr die klassischen Strukturen des städtischen Sprechtheaters sind. Der Schinkelbau der ehemaligen Singakademie wurde 1827 errichtet und repräsentiert einen Aufführungsraum klassisch-bürgerlicher Couleur, dem sich Verrücktes Blut bis auf einen kurzen Moment zum Schluss der Inszenierung – an welchem der Hauptprotagonist die Waffe in den Zuschauerraum richtet und somit das Publikum bewusst „anspricht“ – ganz und gar einschreibt. Die illusionistisch-realistische Spielweise zollt der Guckkastenbühne, der ansteigenden, festen Zuschauerreihung und des Einforderns eines domestizierten Publikums vollends Tribut. Selbst die Dramaturgie des Plots ist traditionell gestaltet, auch wenn der Inhalt ein (post)migrantisches „Milieu“ im gegenwärtigen Deutschland thematisiert. So spiegelt bereits der Ankündigungstext auf der Website die klassische Struktur wider. Zunächst wird die gesellschaftlich beachtenswerte Thematik des Stücks vorgestellt und eine dem klassischen Theaterpublikum wohlbekannte Ausgangssituation vorgelegt: Junge Männer mit Hintergrund versetzen die deutsche Gesellschaft im Kampf um die abendländische Zivilisation in Angst und Schrecken. Ihr Hintergrund ist meist ein migrantischer, muslimischer oder bildungsferner, oft mit türkischen oder arabischen Wurzeln. Dann zwingen diese Männer ihre Frauen, Kopftuch zu tragen und statt zu arbeiten oder sich zu bilden, zeugen die Integrationsverweigerer ununterbrochen weitere Kopftuchmädchen.82 Doch selbstverständlich richtet sich das Stück an ein reflektiertes Publikum, welches sich nicht allein mit Klischees abspeisen lässt, so vollzieht der Ankündigungstext bereits eine Kritik dieser Stereotypisierungen:

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Soweit die gängigen Klischees in der zeitgenössischen „Integrationsdebatte“. Die einzige Hoffnung auf Rettung vor dem Untergang richtet sich nun auf die gute alte deutsche Schule, also: Bildung, Bildung, Bildung!!!83 Nach dieser gesellschaftspolitischen Einordnung folgt die Vorstellung und Einführung in den einfachen Plot: Eine Lehrerin bekommt eines Tages eine einzigartige Chance: Sie versucht, ihren disziplinlosen Schülern gerade Friedrich Schillers idealistische Vorstellungen vom Menschen nahe zu bringen, als ihr eine Pistole in die Hände fällt, eine echte! Kurz zögert sie, dann nimmt sie ihre Schüler als Geiseln und zwingt sie mit vorgehaltener Waffe, auf die Schulbühne zu treten und zu spielen. Mit dieser Geiselnahme beginnt ein abgründiger Tanz der Genres vom Thriller über die Komödie zum Melodrama und die lustvolle Dekonstruktion aller vermeintlich klaren Identitäten.84 Verrücktes Blut unterscheidet sich zunächst kaum von einem Melodram eines beliebigen Theaters. Allein seine aktuelle politische Brisanz und das gesellschaftlich und ästhetisch relevante Versprechen im letzten Satz der Ankündigung setzen die Inszenierung in ein anderes Licht: „Die Dekonstruktion von vermeintlich klaren Identitäten“ ist eine bewusst politisch-gesetze Haltung. Die Konstruktion von bewährten kurzweiligen Plots inmitten gesellschaftlicher Klischees mit einem fast pädagogisch anmutenden Wirkungsversprechen erscheint als cleverer Schachzug: Zunächst wird die Latte für ein interessiertes klassisches Publikum relativ niederschwellig gehängt. Gleichzeitig suggeriert die Ankündigung, dass die angeworbene Produktion innerhalb des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses höchst relevant und innovativ ist. Die Rezensionen schlagen eine ähnliche Richtung ein, so resümiert Azadeh Sharifi: In „Verrücktes Blut“ zerfallen vermeintlich kulturelle Identitäten und bestehende Denkweisen werden aufgelöst. Die postmigrantischen Personen fühlen sich nicht einer Kultur zugehörig, sondern sind im Prozess einer Kultur- und Identitätsfindung, in der alte Traditionen angenommen und mit einer anderen Sichtweise neue präsentiert werden.85 All dies geschieht jedoch, indem ausschließlich Register des tradierten Theaters gezogen werden. Die Präsentation alter Traditionen in neuen

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Sichtweisen schafft das Stück allein auf einer musikalisch-ästhetischen Metaebene, ohne dass das Schauspiel an sich dekonstruiert oder gar das Publikum im Sinne von Fischer-Lichtes Liminalitätskonzept in einen Raum der Grenzerfahrung geführt wird. In diesen Interludien singen die Schauspieler, die in ihren Sprechakten stereotyp mit migrantischem Jargon Deutsch sprechen, einstimmig und akzentfrei wie die Wandervögel der 1920er Jahre deutsche Volkslieder. Dieser ästhetische Raum in der Singakademie repräsentiert in gewisser Weise eine deutsche Kulturtradition, die in der Verknüpfung mit dem Plot eine (post)migrantische Ausrichtung erfährt. Neben diesen Verflechtungen unterstreicht die Inszenierung die traditionell enge Verknüpfung von Theater und Pädagogik und entlarvt die Herrschaftssymbolik des Theaters, die Fiebach bereits dem Theatralen zugestanden hat.

Verrücktes Blut II: Verknüpfung von Theaterästhetik und Pädagogik Die Lehrerin in Verrücktes Blut lässt ihre Schüler mit türkischem Migrationshintergrund Schillers Räuber vortragen. Nicht nur ihre Aussprache sollen die Jugendlichen mithilfe der Rezitation schulen, sondern auch den freien Geist der Aufklärung und die moralische Tugendhaftigkeit deutscher Kultur im Nachspielen einzelner Szenen erleben und erfahren. Das Stück rekurriert auf die Wirkungsmacht des Kunsttheaters sowohl hinsichtlich der ästhetischen Form als auch in Bezug auf dessen pädagogische Funktion, die in der deutschen Klassik als ästhetische Erziehung Einzug in die Theater gehalten hat. Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, dass Schillers Schriften auch heute noch eine wichtige Referenz der Theaterpädagogik darstellen, so konstatiert Ulrike Hentschel: Bereits Friedrich Schiller, der in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen (1795) die Bedeutung von Kunst bzw. künstlerischer Tätigkeit für den Bildungsprozess erstmalig diskutiert, weist jede Form der Indienstnahme zurück, denn „[…] nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüt eine bestimmte Tendenz zu geben“.86 Seitdem hat der von Schiller begründete Topos der Ästhetischen Bildung zahlreiche Umformulierungen erfahren. Mit diesen Umdeutungen geht eine erstaunliche Kontinuität der vielfältigen Versprechungen des Ästhetischen im (kunst-)pädagogischen Kontext einher.87

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Mit den Szenenübungen aus Schillers Räuber werden in Verrücktes Blut diese eigentlich intentionslosen erzieherischen Weisen der deutschen Klassik offensichtlich. Die pädagogische Wirkungsmacht ästhetischer Ebenen zeitigt sich in der Vorführung und Einstudierung einer „einwandfreien“ Aussprache und Gestik durch die Lehrerin, die sich zudem mit den klassischen Schauspiel- und Sprechweisen des Sprechtheaters deckt. Es scheint, als würden nicht nur die Protagonisten Hochdeutsch lernen, sondern auch die internationalen Schauspieler klassische Sprecherziehung genießen. Ästhetik hat hier das pädagogische Ziel, eine Gestik und eine Aussprache zu erlernen, die vom deutschen Bürgertum favorisiert wird. Darüber hinaus verkörpern die Protagonisten Standpunkte, die sich mit den Charakteren des Sturm und Drangs des 18. Jahrhunderts decken, wenn auch sprachlich im neo-patriarchalen türkisch-deutschen Migrationsslang verfremdet. Das machohafte Gebaren so mancher Vertreter (post)migrantischer Subkulturen, das auf der Bühne zelebriert wird, deckt sich mit den nach Macht und Anerkennung strebenden männlichen Protagonisten der Räuber. In beidem wird mit aller Gewalt an einer traditionell patriarchalen Rollenverteilung festgehalten. Solch zuweilen stereotypisiertes Vorführen starr-dichotomer Geschlechterbilder steht in gewissem Maße in der Tradition der Inszenierungen des bürgerlichen Theaters, die im Zuge der Aufklärung nicht nur ein moralisch intendiertes Theater hervorbrachten, sondern klare Regeln des sozialen und familiären Miteinanders vorschrieben, welche die vielfältigen Vergnügungen feudalen Prunks radikal zugunsten eines rechtmäßigen Arbeits- und Ehelebens beschnitten. Fiebach weist mit Rückgriff auf Foucault auf die radikalen Disziplinierungsversuche dieser Epoche, die sich im Theater und der Domestizierung des Publikums ebenso niederschlugen wie auch in den Inszenierungen selbst: „Die ‚vierte Wand‘ untersagte dem Besucher spontanes, ‚ir-rationales‘ Eingreifen in die wohlgeordneten ‚wirklichkeitsgetreuen‘ Darstellungen. Sie galten wie die Welt, die sie abbildeten, als unantastbar.“88 Unantastbar waren auch die „wohlgeordneten“ Protagonisten, ihr Habitus, ihre Kostüme, ihre Hautfarbe und ihre geschlechtliche Identität: Allesamt heteronormativ und natürlich weiß. Hier jedoch bricht Verrücktes Blut mit der Darstellungspraxis bürgerlichen Theaters. Die Vertreter eines klassisch-deutschen Milieus werden durch Protagonisten mit migrantischer Geschichte ersetzt. Der pädagogische Anspruch bleibt jedoch wie die klassische Spielweise erhalten, und es wird schnell deutlich, dass sein Impetus auf ein traditionell-weißes Publikum gerichtet ist: Vorurteile und Stereotype gegenüber

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jungen Menschen mit Migrationshintergrund sind allgegenwärtig, Verrücktes Blut ist somit für so manchen Zuschauenden eine „wirklichkeitsgetreue“ Darstellung einer Schulklasse mit hohem Migrationsanteil, deren angebliche Realitätsnähe allein durch die musikalischen Interludien aufgebrochen wird. Das Programmheft verspricht das Aufbrechen und Hinterfragen von Klischees und Vorurteilen, doch kann dies überhaupt mit derlei in erster Linie deutsch-tradierten Darstellungs- und Spielweisen gelingen? Wenn Ästhetik und Pädagogik so eng miteinander verzahnt sind, dann öffnet eine Inszenierung, die ästhetisch derart traditionell gestrickt ist, wenig Spielraum, ihren pädagogischen Impetus zu revolutionieren. Die Frage stellt sich, ob Pädagogik grundsätzlich überhaupt Traditionen und Normen hinterfragen kann oder vielmehr traditionelle Systeme und Ansichten stabilisiert? Im provokativ konsequenten Anwenden des Schiller’schen Modells ästhetischer Bildung wirft Verrücktes Blut ebenso die Frage auf, was das gesellschaftskritische Potenzial von Theaterpädagogik überhaupt sein kann. Auch der Konstanzer Intendant Robert Nix befragt im Titel seines Aufsatzes „Theaterpädagogik oder müssen wir nicht erst einmal die herrschende Pädagogik infrage stellen“ recht kritisch heutige erzieherische Modelle und fordert eine erneute Rückwendung zu den Zielen ästhetischer Bildung der deutschen Klassik: „Kehren wir noch einmal zurück in das Europa des 18. Jahrhunderts. Es ist das Europa der Revolution, der Literatur und der Aufklärung. Es ist das Zeitalter, in dem das heutige Theater erfunden wurde und alles, was wir über Erziehung sagen, seinen Anfang nahm.“ 89 Gegenwärtige Erziehungspraxis, so folgert er weiter, mache diese „revolutionären“ Grundfeste klein. Kritische Skepsis im Geiste der Aufklärung sei auch bei vielen Eltern nicht erwünscht, da der häusliche Frieden gefährdet sein könnte. Risiken würden nicht in Kauf genommen, auch nicht vom angewandten Theater: „Die Theaterpädagogik schwimmt so mit, behauptet von sich, anders zu sein, nur weil sie darstellendes Spiel macht, theatrale Formen nahe bringt, Theater als Lebensinhalt.“ 90 So kommt Nix ebenso zu dem Schluss, dass Theater nicht per se ein unabhängiges, freies, aufgeklärtes Denken fördere, sondern vielmehr sorgfältig geprüft werden muss, ob Theater in Verbindung von Pädagogik überhaupt Grenzen sprengen oder auf gesellschaftliche Missstände wirkungsvoll reagieren kann. Doch stellt sich ebenso die Frage, wie frei und revolutionär die Aufklärung tatsächlich war, beziehungsweise welche gesellschaftlichen Gruppen Nutznießer und welche ausgeschlossen waren.

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Mit Blick auf die Herausforderungen unserer gegenwärtigen Gesellschaft erscheint es heutzutage ratsam, die Symboliken und Mechanismen, welche sich hinter den Praktiken von Theater und Pädagogik verbergen, daraufhin zu befragen, inwieweit sie tradierte Pfade beschreiten, anstatt neue Wege einzuschlagen. Verrücktes Blut verdeutlicht: Theater kann umgeschrieben und neu besetzt und ausgerichtet werden, Konzepte der Aufklärung sind immer noch hoch aktuell und können weitergeführt werden. Die klassischen Strukturen erweisen sich jedoch als äußerst hartnäckig. Besonders mit Blick auf die Frage nach kultureller Vielfalt sollte die symbolische Ordnung der Aufklärung, in deren Zeitdekade Nix den Ursprung unseres gegenwärtigen Theaters und Bildungsverständnisses setzt, sorgfältig analysiert werden. Der Prolog und das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit erörterten anhand einiger Beispiele, inwieweit die Stadttheaterszenen sich schwer tun, ihre Bühnen zu öffnen, ihre Schwarz-Weiß-Symbolik zu überdenken und Darstellungspraktiken einzuführen, welche der Pluralität der gegenwärtigen Gesellschaft angemessen erscheinen.91 Dies hat zu einem großen Teil mit den Manifesten des bürgerlichen Stadt- und Staatstheaters des 18. und 19. Jahrhunderts und den Herrschaftssystemen, die sich dahinter verbergen, zu tun.

Theater als Wirkungsstätte der bürgerlich-kolonialen (Selbstbewusstseins- und) Herrschaftsbildung Die Form bourgeoisen Theaters par excellence, das bürgerliche Trauerspiel, hat entscheidende Impulse aus dem britischen Kontext, der Culture of Sensibility des 18. Jahrhunderts, bekommen. Im viktorianischen Zeitalter des 19. Jahrhunderts wurde das Theater jedoch von der dortigen gesellschaftlichen Elite eher als gefährlich eingeschätzt: In Großbritannien mieden ehrfürchtige Viktorianer Theatralität als eine äußerste betrügerische Mobilität. Sie bedeutet nicht nur Lüge, sondern Unstetigkeit des Charakters (fluidity of character), die die konstante Integrität des Ichs zersetzte. Das Theater, der Paria in der Viktorianischen Kultur, stand für das ganze gefährliche Potential der Theatralität, die die Authentizität auch der besten Individualität antasten konnte.92 Interessanterweise kehrt sich diese Bedeutung von Theater in den britischen Kolonien gänzlich um. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde tradi-

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tionell klassisches Theater von den Kolonistinnen und Kolonisten eingesetzt, um „ihrer“ Kultur zu frönen. In vielen Siedlerstädtchen entstanden Theater, welche jedoch moderne-avantgardistische Kunsttendenzen bewusst außen vor ließen: „The type of drama performed in the expatriate theatre clubs was significant. Plays at the colonial ‚little theatres‘ were very rarely from the avantgarde or radical European tradition, but were either pretentious productions from the classical canon, or middleclass domestic dramas.“93 Im Gegensatz zum biederen Viktorianer nutzte der Kolonist das bürgerliche Theater bewusst zur kulturellen Selbstvergewisserung. Die kolonialen Theaterbauten waren nur den weißen Eroberern vorbehalten und beliebte Treffpunkte der europäischen Öffentlichkeit, auch die dort gespielten Stücke wurden beispielsweise in den britischen Kolonien aus Europa importiert und sollten das besetzte Land zur eigenen kulturellen Heimat umgestalten. Die bewusste Fokussierung klassischer bürgerlicher Stücke, die nicht, wie die Avantgarde es bevorzugte, Grenzen sprengen und liminale Räume eröffnen wollten, verdeutlicht den Wunsch der Besatzer, ihre kulturellen Traditionen zu verfestigen. Die von Fiebach erwähnte viktorianische Angst vor der „Fluidity of Character“ tritt in den Hintergrund zugunsten des Wunsches, auf der Bühne bekannte und tradierte Charaktere und Handlungskontexte des eigenen Kulturkanons sehen zu können, die der Welt außerhalb des Theaters und deren Kulturgeschichte nahezu konträr gegenübergestellt wurden. Dies ging damit einher, dass traditionelle afrikanische Figuren und Performancetraditionen entweder verbannt oder aber degradiert wurden.94 So präsentieren beispielsweise Formate des sogenannten Theatre for Development, welche in unterschiedlichen sozialen und pädagogischen Kontexten eingesetzt wurden und zum Teil noch werden, afrikanische Typen und Figuren wie den Heiler oder Trickster als dümmlich, unwissend oder gar flunkernd und stellten sie antithetisch den westlichen gegenüber, wie etwa dem Doktor, der als gebildet und wissend daherkommt. Eine Degradierungstechnik, die übrigens ebenso einigen Figuren der Commedia dell’arte widerfahren ist. Auch die Zanni wurden nach der Aufklärung zu derben, tölpelhaften Flunkernden stilisiert und passten, wie es Johann Christoph Gottscheds Ausführungen oder die Verbannung des Hanswursts durch Friederike Caroline Neuber zeigen, eben nicht mehr in das damalige Gesellschaftsbild.95 Im Vergleich der Schicksale afrikanischer Trickster und europäischer Zanni auf den Theaterbühnen offenbaren sich die Parallelen von bürgerlichem und kolonialem Theater: In beiden werden nicht nur Figuren, die in das sittliche und moralische Gefüge nicht zu passen scheinen, degra-

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diert, sondern als Gegenbild zur „Vernunft und de[m] guten Geschmack“ (Lessing)96 dargestellt. Die dichotomische Struktur der abendländischen Denkgeschichte hat das Theater fest im Griff, und es wird sich zeigen, dass in dieser performativen Konstruktion von „sittsamem Charakter“ und „flunkerndem Typ“, „Gebildetem“ und „Tölpelhaftem“ binäre Eigenschaften aufgeführt werden, welche für die Konstitution des kolonialen „Ichs“ grundlegend sind. Das bürgerliche Theater ist Stätte par excellence, in welcher dieses „Ich“ sich seiner Überlegenheit gegenüber dem dichotomen Anderen, seines „guten“ Geschmacks und seiner Sittsamkeit stets selbst vergewissert, indem es sich von dem „tölpelhaften“, „lügnerischen“ Anderen, dem Trickster des afrikanischen präkolonialen Theaters, dem Diener der Commedia in Europa, aber auch den „ungebildeten“ Schülern mit Migrationsgeschichte, wie es Verrücktes Blut zeigt, abhebt. Der Blick auf das „Theatre for Development“ und andere pädagogische Inanspruchnahmen von Theater in kolonialen Schul- und Bildungskontexten hat verdeutlicht, wie stark mithilfe von Theaterschaffen nicht nur afrikanische pädagogische Konzepte überlagert und verdrängt, sondern andere, von der westlichen „Norm“ abweichende ethnische und kulturelle degradiert wurden und werden. Es scheint daher angebracht, einerseits die Wurzeln der binär strukturierten Funktionsweise der Charaktergestaltung im bürgerlichen und kolonialen Theater offenzulegen und zu erforschen, auf welche Art und Weise hier Aufführungstechniken, Schauspielweisen und die Strukturen und Rahmungen klassischen europäischen Schauspiels dabei zum Einsatz kommen. Andererseits verbergen sich hinter ihnen, darauf weisen sowohl Verrücktes Blut als auch die postkoloniale Kritik am Einsatz von Theater in der Kolonialzeit hin, pädagogische Strategien, die sowohl im Kunsttheater, aber in hohem Maße auch in den Formen des angewandten Theaters zutage treten. Auch hier wird zu untersuchen sein, welche Mechanismen diese Handlungsweisen und Konzepte beeinflussen und sich im Theaterschaffen niederschlagen. Um diese vielfachen Verstrickungen von Pädagogik, Aufführungstechniken und Herrschaftsbildung zu verdeutlichen, lohnt sich der Blick auf Modelle europäischer Subjektbildung nach der Aufklärung. In der Einleitung konnte bereits die Verschränkung von der Unterwerfung des Anderen in Hegels Phänomenologie mit kolonialen Degradierungsbestrebungen gegenüber afrikanischen Ethnien nachgegangen und Parallelen zwischen einer rassistischen Ästhetik und den Vorlesungen zur Ästhetik sichtbar gemacht werden. Im Folgenden sollen diese Verbindungen, welche die Fäden afrikanischer postkolonialer Tradition von

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Fanon und Mbembe aufgreifen, abermals in den Fokus gerückt und detailliert analysiert werden. Es wird sich zeigen, dass nicht nur Hegels Phänomenologie des Geistes sich der antithetischen Grundkonstellation des Herrn und Knechts bedient, sondern auch spätere europäische Modelle von Subjekten, wie beispielsweise Jacques Lacans Spiegelstadium, in dieser Tradition stehen.

Das Ich und das Andere: Der spekulative Prozess des bürgerlichkolonialen Selbstbewusstseins als Motor der kolonialen Herrschaft Der Herr bezieht sich auf den Knecht mittelbar durch das selbstständige Sein; denn eben hieran ist der Knecht gehalten; es ist seine Kette, von der er im Kampfe nicht abstrahieren konnte, und darum sich als unselbstständig, seine Selbstständigkeit in der Dingheit zu haben, erwies. Der Herr aber ist die Macht über dies Sein, denn er erwies im Kampfe, dass es ihm nur als ein Negatives gilt; indem er die Macht darüber, dies Sein aber die Macht über den Andern ist, so hat er in diesem Schlusse diesen andern unter sich. Ebenso bezieht sich der Herr mittelbar durch den Knecht auf das Ding; der Knecht bezieht sich, als Selbstbewusstsein überhaupt, auf das Ding auch negativ und hebt es auf; aber es ist zugleich selbstständig für ihn, und er kann darum durch sein Negieren nicht bis zur Vernichtung mit ihm fertig werden, oder er bearbeitet es nur.97 Die symbolische Ordnung und ihre Mechanismen, die sich hinter dem Selbstbewusstsein des europäischen Bürgertums und der kolonialen Elite verbergen, offenbaren sich besonders deutlich in Hegels Phänomenologie des Geistes. Obwohl Hegels Thesen schon zu Lebzeiten kontrovers diskutiert wurden, gilt sein geisteswissenschaftliches Erbe für unterschiedliche philosophische Strömungen richtungweisend, da er eine dem westlichen Abendland immanente Struktur und Vorliebe in besonderer Weise hervorhebt: Wie kaum ein anderes Werk offenbart die Phänomenologie des Geistes mit ihren in dialektischen Dreischritten vollzogene Entwicklung des Geistes zum Selbstbewusstsein den Fortschrittsgedanken des abstrakten Denkens des Abendlandes, das sich linear mit dem Laufe der Zeit stets weiter bis hin zum reinen Wissen entwickelt und dann im Stadium des Absoluten von allen begrifflichen Bestimmungen befreit ist. Die Dialektik ist innerhalb des Prozesses des gegenseitigen Anerkennens der Motor des voranschreitenden Geistes: Das Bewusstsein verdoppelt sich, beide Teile treten sich entgegen und

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werden schließlich in der Synthese des gegenseitigen Anerkennens im Selbstbewusstsein aufgehoben. Die Struktur dieses „dialektischen Dreischritts“ ist Grundidee jeglicher Selbstreflexion, aber auch wissenschaftlicher Argumentation westlich-abendländischer Färbung von These, Antithese und Synthese: Ich unterscheide mich von mir selbst, und es ist darin unmittelbar für mich, dass dies Unterschiedene nicht unterschieden ist. Ich, das Gleichnamige, stoße mich von mir selbst ab; aber dies Unterschieden, Ungleich-Gesetzte ist unmittelbar, indem es unterschieden ist, kein Unterschied für mich.98 Das Unterscheiden und Nichtunterscheiden des Ichs vom Ich wird in Hegels Philosophie dabei als spekulativer Prozess begriffen, der unaufhaltsam zwischen den Momenten der Objekt- und Subjekterfahrung, zwischen Gegenstand und Begriff oszilliert und somit den entscheidenden Part für das Entstehen des Selbstbewusstseins spielt, so Annette Bitsch: Im Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft“ fugiert Hegel das zentrale Sujet der Phänomenologie, den in dialektischen Dreischritten verlaufenden spekulativen Prozess hin zum Selbstbewusstsein oder absoluten Wissen. Dieser Prozess verläuft über die verschiedenen Etappen der immer wieder restituierten Beziehung zwischen Fürsich und Ansich, zwischen Unmittelbarkeit des Gegenstands und Begriff. […] In „Herrschaft und Knechtschaft“ facettiert Hegel diesen Prozess der Aufhebung als Aufhebung von zwei entgegengesetzten Wesen: die bewusstseinsimmanente Differenz zwischen Gegenstand und Begriff wird dargestellt als Differenz zwischen den einem und den anderem.“99 Die Geschichte des Abendlandes hat zahlreiche Beispiele hervorgebracht, in welchen die „bewusstseinsimmanente Differenz zwischen den einem und den anderem“ sich in gesellschaftliche Hierarchisierungsprozesse einschreibt und so wahrhaftigen Ausdruck findet. Wie schon weiter oben gezeigt, weist Žižek auf die antisemitische Figur des Juden im christlichen Abendlandes hin, der nach diesem Muster konstruiert wurde.100 Auch hat der Verweis auf von Brauns Überlegungen im letzten Unterkapitel verdeutlicht, dass „das Andere“ oftmals als weiblich konnotiert oder im Kontext der Diskussion um Zanni und Trickster, als das Unbegreifbare, nicht nach dem Muster der Logik der Aufklärung Fassbare, wurde. Diese Differenz zwischen männlich und weiblich, afrika-

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nisch und europäisch, Wissen und Unwissen / Dummheit spiegelt die dialektischen Momente in Hegels Prozess zum Selbstbewusstsein wider, so deutet es Buck-Morss in Hegel und Haiti zumindest an: Was inspirierte Hegel eigentlich zu seiner Vorstellung zum Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft? […] Niemand hat es bislang gewagt, die Hypothese vorzuschlagen, Hegel könnte in den Jenaer Jahren 1803 bis 1805 auf diese Metapher gestoßen sein, als er Berichte in Zeitungen und Zeitschriften las. […] Uns bleiben also nur zwei Alternativen: Entweder war Hegel der blindeste unter all den blinden europäischen Philosophen der Freiheit, ein Denker, der selbst Rousseau und Locke um Längen übertraf, was die Fähigkeit anbelangte, die Realität vor der eigenen Nase auszublenden […]; oder Hegel wusste Bescheid, wusste, das reale Sklaven erfolgreich gegen ihre realen Herren aufbegehrten und entwickelte die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft ganz bewusst innerhalb dieses zeitgenössischen Kontexts.101 Allerdings ändert die Befreiung der Sklaven in Haiti nichts an der privilegierten Vormachtstellung des Herrn. Der Herr bleibt der Überlegene, und das den Knechten und Sklaven zugesprochene Potenzial, sich zu befreien, verliert in Hegels weiteren Werken nach und nach an Bedeutung. So geben sich die diffamierenden Äußerungen über afrikanische Länder südlich der Sahara in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte102 und in seiner Schrift Die Vernunft der Geschichte103 mit zunehmendem Alter Hegels verheerend rassistisch: Hegel wiederholte seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte zwischen 1822 und 1830 im Turnus von zwei Jahren und fügte immer wieder empirisches Material hinzu, das er durch die Lektüre europäischer Experten für Weltgeschichte gesammelt hatte. Es liegt eine Ironie in der Tatsache, dass Hegels Vorlesungen immer weniger aufgeklärt und bigotter wurden, je genauer sie das gängige akademische Wissen über die afrikanische Gesellschaft widerspiegelten.104 Wohl zum einen aufgrund der Paradoxie zwischen dem deutlich werdenden Potenzial der Befreiung aus der Kolonisation einerseits und den gleichermaßen despektierlichen und diffamierenden Äußerungen über afrikanische Kulturen andererseits, setzen sich afrikanische Philosophen seit der Négritude-Bewegung mit Hegels Werken und insbesondere mit Herrschaft und Knechtschaft auseinander.

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Koloniales Begehren Nicht nur Marx und Engels greifen im Kommunistischen Manifest,105 das im Arbeitspotenzial des Knechts ein Überlegenheitsmoment gegenüber dem Herrn sieht und somit das Spannungsverhältnis als Motor des Klassenkampfs begreift, auf Hegels Metapher zurück. Auch Intellektuelle der Négritude, des Panafrikanismus, Multikulturalismus, Postkolonialismus und zuletzt Žižek beziehen sich auffallend häufig darauf; allerdings äußert sich hierin eher eine postkoloniale Ambivalenz, bisweilen auch Resignation. Auf den ersten Blick liegen die Parallelen zwischen den Unabhängigkeitskämpfen gegen die Kolonisierung und Apartheid mit dem „Kampf um Leben und Tod“ des Hegel’schen Herrn und Knecht auf der Hand, allein schon in der Vergegenwärtigung der von Buck-Morss herausgearbeiteten zeitlichen und inhaltlichen Nähe von dessen Entstehungsgeschichte zum Aufstand in Haiti. Neben dieser historischen Korrelation scheint der rege Rückbezug auf Hegel zudem einleuchtend, da dieser den Zusammenhang zwischen global-kolonialem Welthandel und der zunehmenden Genuss- und Raffgier der westlichen Welt auf „Kolonialwaren“ und exorbitanten Reichtum aufzeigt, was gleichzeitig zum Ausbluten und Ausschlachten ganzer Kontinente, deren Bevölkerungen und Ressourcen führte: In den Jenaer Schriften bezieht sich der zentrale Hegelsche Begriff der „Entäußerung“ auf die ganz alltägliche menschliche Arbeit; „Negation“ ist Hegelianisch für die Begierde des Genusses; und historisch erzeugte Bedürfnisse (die im Gegensatz stehen zu natürlichen Notwendigkeiten) werden dargestellt am Beispiel der gesellschaftlichen Nachahmung im Bereich der Mode. Das System der Bedürfnisse verbindet Fremde, die nicht voneinander wissen und sich nicht füreinander interessieren. Die unersättliche Begierde der Verbraucher produziert zusammen mit der „unerschöpflichen“ und „ins Unendliche fortgehende[n] Vervielfältigung“ dessen, „was die Engländer ‚comfortable‘ nennen“,106 die grenzenlose „Bewegung des Dinges im Tausch“.107 Was Hegel hier, als erster Philosoph überhaupt, beschreibt, ist der deterritorialisierte Weltmarkt des europäischen Kolonialsystems.108 Offenbar eignet sich die Metapher vom Herrn und Knecht vorzüglich, die Strukturen von Kolonialismus und Weltmarkt zu beschreiben. Nicht ohne Scharfsinn für „große“ gesellschaftliche Fragen seiner Zeit macht Hegel die Sklaven zu den Knechten der Herren, die jedoch, spinnen wir

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den Vergleich weiter, um der Abhängigkeit dieser von ihnen Selbst und ihren Ressourcen wissen. Die Herren dagegen sind ebenso Knechte ihrer (Konsum)Begierde und kommen aus diesem Kolonial-Waren-System nicht eigenständig heraus. Bestechend an diesem Beispiel sind die Konkretheit und gleichzeitig die abstrakte Systematik: Hegel beschreibt das europäische Kolonialsystem sowohl in seiner allgemeinen Funktionsweise als liberalen Welthandel als auch als zwei seiner Hauptprotagonisten: den Herrn und den Knecht. Žižek argumentiert in eine ähnliche Richtung und spielt die Metaphorik auf den Ebenen eines extravaganten Kulturkonsums durch: Es ist daher falsch zu sagen, dass der Herr, weil er nicht arbeitet, auf der natürlichen Stufe steckenbleibt, denn das, was die Produkte des Knechts befriedigen, sind nicht bloß die natürlichen Bedürfnisse des Herrn, diese werden vielmehr in ein endloses Begehren nach exzessivem Luxus umgewandelt, der im Wettstreit mit dem Luxus anderer Herren zur Schau gestellt wird – der Knecht bringt dem Herrn seltene Delikatessen, Luxusmöbel, teuren Schmuck und so weiter. Der Herr wird so zum Knecht seines Knechts, denn er braucht diesen nicht zur Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse, sondern zur Bedienung seiner hochkultivierten künstlichen Bedürfnisse.109 Neben Luxus- und Konsumgütern können hochkultivierte und hochkulturelle Ereignisse wie Theater ebenso Teil dieser Spirale der Macht werden, man denke nur an exotistische Darstellungen des Anderen auf deutschsprachigen Bühnen oder die hiesige Sammelleidenschaft nach Exponaten anderer Kulturen.

Dialektik der Anerkennung: Dichotome Übertragungen von Herrschaft und Knechtschaft als gemeinschaftsstiftende und ausschließende Taktik Auf der anderen Seite schlägt sich die Metaebene des Herr-undKnecht-Verhältnisses in der Phänomenologie des Geistes ebenfalls in einer ganz bestimmten Art der Gemeinschaftsbildung nieder, die ganz und gar in der dialektisch-dichotomen Tradition des Abendlandes samt dessen Fortschrittsgedanken steht. Die Abwertung des Körperlichen zugunsten des Geistigen, der stete Wunsch, eine höhere, abstraktere Geistesebene zu erreichen, sind exemplarisch für dieses Kollektiv aus Subjekten, deren Grundkonstellation sich aus der Begierde auf

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und gegen das Andere nährt: „Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem und dadurch, dass es für ein Anderes an und für sich ist, d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ 110 Zwar unterstreichen einige westliche Geisteswissenschaftler, so zuletzt Axel Honneth in Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, 111 zu Recht, dass zumindest Frankreich, England und Deutschland ganz unterschiedliche Prozeduren und Ebenen des Anerkennens nach der Aufklärung durchlaufen haben, doch weisen alle drei Länder auffallend einhellig dem afrikanischen Kontinent eine bestimmte Rolle im Prozess des Anerkennens zu. 112 Ob in der Philosophie oder Psychologie, ob selbstreflexiv oder zwischenmenschlich, werden afrikanische kulturelle Gruppen entweder als nicht ebenbürtig anerkannt oder aber müssen im Prozess der Anerkennung als Knecht herhalten. Auch Honneth beobachtet in seinem jüngsten Werk, dass in der Ideengeschichte der Anerkennung, obwohl diese spätestens mit Johann Gottlieb Fichte die Gleichheit der Autorität ihrer Akteure betont, bestimmte Gruppierungen auf ganz „natürlich“ daherkommende Art und Weise degradiert werden und das staatliche europäische System bestimmte Gruppen aus Kalkül benachteiligt: So ließe sich etwa die individuelle Selbstzurechnung zu einer durch „natürliche“ Merkmale definierten Gruppe, sei es des „Geschlechts“ oder der „Rasse“, als Looping-Effekt einer politisch instrumentierten und über einen gewissen Zeitraum hinweg ausgeübten Klassifikationspraxis begreifen; oder aber man könnte darangehen, […] derartige Prozesse der „Naturalisierung“ zugeschriebener Eigenschaften als subjektiven Niederschlag einer gesellschaftlich hegemonialen Sprachpraxis aufzufassen, in der im Interesse der Bewahrung von sozialen und ökonomischen Privilegien an äußerliche Merkmale (Hautfarbe/Geschlecht) charakterliche Verhaltenszüge geheftet werden, die die Fortdauer der Benachteiligung der schlechtergestellten Gruppen rechtfertigen können sollten.113 Die Literatur- und Afrikawissenschaftlerin Flora Veit-Wild erörtert am Beispiel europäischer Literatur und Psychoanalyse darüber hinaus, wie diese dichotomen Eigenschaften in der abendländischen Geschichte nicht nur als „natürliche“ verinnerlicht wurden, sondern ausgehend von den Phantasien der Kolonisten, die Metapher des Anderen innerhalb der Prozessen der Subjektkonstitution nach dem Hegel’schen Modell auf den afrikanischen Kontinent übertragen wurde:

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Für die Surrealisten war die folie, der Wahn, ein Reich der Befreiung der Sinne. In der europäischen Moderne aber fungierte oft Afrika als Ort/Hort des Wahnsinns, so in Joseph Conrads berühmten Heart of Darkness (1902), in Doris Lessings Afrikanischer Tragödie (1959) und in veränderter Form auch in den Abenteuerromanzen Rider Haggards, die im viktorianischen England sich großer Beliebtheit erfreuten. Ähnlich wie für C. G. Jung verkörpern für Conrads Erzähler Marlowe die schwarzen „Wilden“ den archaischen, primordialen Menschen in uns selbst, ist die bedrohliche Wildnis des Urwalds und seiner Bewohner die umfassende Metapher für das Dunkle, Böse, Abgründige im europäischen Menschen. Sich dieser Wildnis hinzugeben, sich von ihr vereinnahmen zu lassen, heißt, die hehren Ideale der europäischen Aufklärung, die Ideen von Ratio, Fortschritt und Zivilisation aufzugeben, eben dem Wahn verfallen, den bösen Trieben des Körpers und der Seele – personifiziert durch Afrika.114 Unbestreitbar hat nicht nur die lichtdurchflutete Aufklärung ihr Gegenbild im dunklen Kontinent gefunden, sondern auch der moralisch-rechtschaffene, erhellte Bürger hat seinem inneren Gegenspieler, der dem Trieb und der Lust verfallen ist, leibhaftige Gestalt gegeben. Diese „dunkle“ Seite des Ichs gilt es von nun an in Schach zu halten. Die Verbannung von Trickstern und Zanni von den europäischen Bühnen des Bürgertums weist in diesem Kontext abermals auf die Bedeutung der Bühne für die bourgeoise Subjektbildung und ihre Selbstreflexion. Was nicht nach den Kategorien der Aufklärung erklärbar, was nach dem Kodex der vorherrschenden Moral verwerflich oder zu fleischlichgetrieben erscheint, wird verbannt, der Lüge bezichtigt oder exotisiert. Die Tragweite dieses kolonialen Musters äußert sich nicht nur in der Literatur und im Theater Europas, sondern ebenso in den Schriften afrikanischer Intellektueller. So beschreibt Fanon die Situation der Sklaven ebenfalls in Hegels Metaphorik: „Als Sklave ist der Neger auf dem Kampfplatz erschienen, auf dem sich die Herren befanden. Gleich jenen Domestiken, denen man ein Mal im Jahr erlaubt, im Salon zu tanzen, sucht der Neger nach einem Halt. Der Neger ist kein Herr geworden. Wenn es keine Sklaven mehr gibt, gibt es auch keine Herren.“115 Ähnlich der marxistischen Lesart betont er die Abhängigkeit der Kolonisten von der Arbeit der Kolonisierten, was zudem auf die Abhängigkeit der westlichen Welt vom Rohstoffmarkt Afrikas und der Ausbeutung der dortigen Arbeitskräfte übertragen werden kann. Die Begierde der Kolonisten, den Kontinent, seine Arbeitskräfte und Rohstoffe in ihrem „Fürsichsein“ aufzuheben, im wahrsten Sinne des Wortes, sich an kolo-

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nialen Gütern und Reichtümern „satt zu fressen“, wird in Fanons Rückgriff auf Hegels Phänomenologie gestochen scharf beschrieben. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, weiß doch die westliche Welt der Kolonialzeit, dass sie ihren Lebensstandard nur mit der Ausbeutung und Degradierung anderer Menschen halten kann. Letztlich kulminieren alle Perversitäten und Rassismen der Kolonialzeit und Apartheid in dieser der kolonialen Struktur immanenten Rivalität: Rassengesetze, Segregation und der Ausschluss ethnischer Gruppen aus der Öffentlichkeit und bestimmten gesellschaftlichen Räumen erschafft die künstliche Linie und Zuordnung zwischen dem einen und dem anderen, dem Grundmoment der Konstruktion des europäisch-kolonialen Herrschaftsdenkens. Fanon jedoch bleibt nicht in dieser Rivalität verhaftet, sondern führt Hegels dialektischen Dreischritt und den Prozess der „Anerkennung“ fort. In der Übertragung des Modells auf Kolonialisierung und Sklaverei deckt er die Perfidität kolonial-bürgerlicher Strukturen auf, die sich auch heutzutage im Umgang Europas mit Afrika und der vermeintlichen „Entwicklungshilfe“ offenbaren. Dem Hegel’schen Herrn wird bewusst, dass der Kampf gegen den Knecht nur dann gewonnen werden kann, wenn diese Begierde als Teil des eigenen spekulativen Prozesses anerkannt wird, der Knecht somit als Personifizierung der eigenen Lust im Herrn aufgehoben wird. Fanon beginnt das Kapitel „Der Neger und Hegel“ mit dem oben angeführten Zitat aus der Phänomenologie: „Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem und dadurch, dass es für ein Anderes an und für sich ist, d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.“116 Demzufolge kann das Selbstbewusstsein nur eine höhere Stufe erreichen, wenn der Gegner als Teil des eigenen Selbst anerkannt wird. Diese Erkenntnis gewinnt das Bewusstsein jedoch nur im Angesicht des Todes, so Bitsch: In der Antizipation des drohenden Todes erkennt sich das Individuum als ein sterbliches Individuum und ineins damit relativiert es die totalisierende Beziehung zum anderen. […] Es geht […] nicht um das den realen oder faktischen Tod, nicht um das biologische Ableben eines Individuums. Der Tod fungiert als Chiffre, als Symbol des Unbenennbaren, es ist ein symbolischer Tod, der den dritten Hegelschen Moment der Synthese, der Anerkennung konstituiert.117 Auch hier argumentiert Fanon, dass es nicht die Sklaven waren, die diesen Prozess der Anerkennung vorangebracht haben, sondern dass allein die Kolonisten um ihrer selbst willen, aus ihrer eigenen Todesangst heraus, den Kampf aufgehoben haben:

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So haben die weißen Herren – murrend zwar, denn immerhin war es hart für sie – beschlossen, Menschen-Maschinen-Tiere in den höchsten Rang von Menschen zu erheben. In keinem Land darf es mehr Sklaven geben. Die Umwälzung hat den Schwarzen von außen erreicht. Der Schwarze ist agiert worden. Werte, die nicht seinem Tun entsprangen, Werte, die nicht aus dem systolischen Andrang seines Blutes erwuchsen, haben begonnen, um ihn herum ihren Reigen zu tanzen.118 Der Reigen ist nach den Vorgaben der Kolonisatoren entworfen, die Anerkennung des Anderen ist ebenso gemäß deren Konstruktion gebaut, nämlich allein, um sich selbst und das eigene Selbstbewusstsein zu feiern: Die erschaffenen Demokratien nach der Unabhängigkeit sind somit nur Feste der westlichen Welt, welche deren Konsum- und Herrschaftsbegierden stillen. Doch Hegels dialektischer Dreischritt weist ebenso darauf hin, dass mit der Anerkennung des Anderen, seiner Aufhebung im Eignen, der spekulative Prozess nicht ein Ende findet. Obwohl der Kontinent wehrlos den westlichen Bedingungen ausgeliefert ist, afrikanische Diktatoren und nicht ihre kolonialen Vorgänger vor dem Menschenrechtshof in Den Haag zitiert und dort verurteilt werden, kurz, der Andere dem eigenen System unterworfen wird, soll dieser immer wieder als das Fremde und als Differenz erscheinen. Dieses Paradoxon abendländischer Logik hat sich ebenfalls in deren Subjektkonstitution eingeschrieben, so Bitsch weiter: Hegel präfiguriert das gespaltene Subjekt der Freud/Lacanschen Psychoanalyse. Hegels Selbstbewusstsein und deren Nachkommen, die Subjekte Freuds und Lacans, sind Prozeduren, in Begriffen oder Signifikanten ablaufende Prozeduren, ihr Medium ist die Sprache, und sie erkennen nicht, sondern sind als Versprachlichte, als Mediatisierte Anerkennungen der Differenz.119 An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu Veit-Wilds Beobachtungen in der Auseinandersetzung mit Afrika in europäischer und kolonialer Literatur. In ihren folgenden Ausführungen zeigt sie, in welch perfide Rolle der afrikanische Kontinent innerhalb des psychiatrischen Diskurses des bürgerlichen Selbstbewusstseins gedrängt wird: Wie die Ausführungen über koloniale Literatur verdeutlichen werden, war der „schwarze Kontinent“ für den Europäer immer ein Hort von Gefahr, von Wahnsinn, von irrationalen Kräften, gegen die er sich zu schützen suchte. Ein Mittel, dies zu tun, war die koloniale

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Psychiatrie, die Geist und Körper des „Wilden“ unter Kontrolle bringen sollte. […] Wenn aber der Mensch des Orients, sprich der Afrikaner, schon immer der Andere ist, wie kann er dann noch einmal ausgegrenzt werden als der Irre? […] Um welche Brechungen des schwarzen Körpers geht es also im psychiatrischen Diskurs, oder besser, in den diversen Diskursen, wenn der Afrikaner schon a priori als koloniales Subjekt ausgegrenzt ist? [Megan] Vaughan behauptet, es sollte dafür gesorgt werden, dass er auch „der Andere“ bleibt,120 d.h. dass derjenige als wahnsinnig, nämlich Abweichler eingestuft wird, der dem Europäer zu nahe kommt, sein Anderssein versucht aufzugeben, die Grenzen überschreitet.121 Afrikanerinnen und Afrikaner symbolisieren im Konstitutionsprozess des kolonialen Selbstbewusstseins nicht nur das Andere, das im Prozess der Anerkennung als Eigenes aufgehoben wird, sondern sind in dieser kolonialen Machtbildung dazu verdammt, in der Position des Anderen, des Hegel’schen Knechts zu verharren, da die gespaltene bürgerliche Subjektkonstitution diese Spiegelfläche um ihrer selbst willen benötigt. Deshalb wurden in der kolonialen Psychiatrie Menschen afrikanischer Ethnien für krank erklärt, welche die Hegel’sche, Lacan’sche und Freud’sche Differenz des Anders- oder Knechtseins zu überwinden versuchten. Die „gegenseitige Anerkennung“, die das Hegel’sche Selbstbewusstsein vom Anderen und Europa heutzutage gegenüber afrikanischen Ländern einfordert, ist somit eine geheuchelte, da sie die hierarchische Differenz zwischen Herr und Knecht nicht aufhebt, sondern die Spaltung zwischen Schwarz und Weiß, Europa und Afrika, zivilisiert und wild erbarmungslos weiterspielt. Für die Herausforderungen, die sich in der Repräsentation von kultureller Vielfalt auf deutschen Bühnen zeigen, ist diese Feststellung entscheidend: Wenn Afrika innerhalb der Konstitution des gespaltenen Subjekts lange Zeit das Andere repräsentiert, dann knüpfen rassistische Darstellungspraktiken gegenwärtigen Theaters wie etwa Blackfacing oder der Chor der Geflüchteten im Thalia Theater daran zweifelsohne an.

Versuche der Befreiung aus der Knechtschaft und aus der dichotomen Differenz Fanon beobachtet jedoch eine Tendenz im postkolonialen Kontext, welche dem Prozess der Hegel’schen Anerkennung ebenfalls entschieden entgegentritt und bestrebt ist, die Differenz zu bewahren:

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Für den französischen Schwarzen ist die Situation unerträglich. Da er nie genau weiß, ob der Weiße ihn als Bewusstsein an und für sich betrachtet, wird er ständig darauf bedacht sein, den verborgenen Widerstand, die Opposition, den Protest zu entdecken. Eben dies geht aus einigen Passagen des Buchs von Mounier über Afrika hervor. Die jungen Schwarzen, die er dort kennenlernte, wollten ihr Anderssein bewahren. Ein Anderssein des Bruchs, des Gefechts, des Kampfs.122 Der lauernden Gefahr seitens des kolonialen Selbstbewusstseins, das Andere in sich aufzuheben und somit seiner Herrschaft zu unterwerfen, sind sich Vertreterinnen der führenden afrikanischen Eliten in postkolonialer Zeit bewusst. So setzt die Kulturpolitik Robert Mugabes in Zimbabwe in den letzten zwanzig Jahren auf die kollektive Konstruktion des „African Spirits“, der sich als Konterpart Europas und der rhodesischen und britischen Kulturpolitik gebärdet. In der gegenwärtigen Debatte um Blackfacing in Deutschland und der Frage, wer entscheiden darf, was auf der Bühne gezeigt oder zensiert wird, ist bisweilen eine ähnliche Tendenz sichtbar, eine binäre Andersheit von People of Color zu betonen. Fanon problematisiert die innerhalb solcher Gegenbewegungen oftmals entstehende Herausforderung, wenig an der dichotomen Grundstruktur ändern zu können, sondern lediglich die Rollen von Herr und Knecht zu vertauschen. Er spricht sich vielmehr dafür aus, den spekulativen Prozess der bürgerlich-kolonialen Subjektkonstitution zu durchbrechen. Eindringlich beendet er das Unterkapitel mit der Weisung: „Den Menschen dazu zu bewegen, aktiv zu sein und dabei die Achtung von Grundwerten zu bewahren, die eine menschliche Welt ausmachen, dies ist die vordringliche Aufgabe desjenigen, der, nachdem er nachgedacht hat, sich anschickt zu handeln.“123 Dieses Handeln spezifiziert er im letzten Satz seines Buches Schwarze Haut und weiße Masken: „O mein Leib, sorge dafür, dass ich immer ein Mensch bin, der fragt.“124 Angesichts der dichotomen Sackgasse, in welche, folgt man Annette Bitschs oben angeführte Verweiskette, das Hegel’sche, Freud’sche und Lacan’sche gespaltene Subjekt die Menschen führt, kann womo ̈ glich das kritische, gesetzte Strukturen hinterfragende Ich ein Ausweg sein. Auch dies mag ein entscheidender Hinweis für rezentes Theaterschaffen sein, das sich mit dem Thema kultureller Vielfalt beschäftigt. Mehr als 60 Jahre nach Erscheinen von Fanons Peau noir, masque blancs setzen sich philosophische postkoloniale Überlegungen immer noch mit der Hegel’schen Herr-und-Knecht-Metapher auseinander.

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Mbembe widmet in Kritik der schwarzen Vernunft der Herr-undKnecht-Metapher ebenfalls ein Unterkapitel. „Der Herr und sein Neger“ beschreibt wie einleitend bereits angeführt das rassistische Grundmoment dieser Beziehung an der Bedeutung und Funktion des N.-Wortes: Der Name „Neger“ steht übrigens in einem Zusammenhang mit einer Unterwerfungsbeziehung, einem Unterjochungsverhältnis. Im Grunde gibt es den „Neger“ nur in seiner Beziehung zu einem „Herrn“. […] Der Herr verleiht dem Neger seine Form, und dieser nimmt durch die Zerstörung und Sprengung seiner früheren Form erst Form an. Außerhalb dieser Dialektik des Besitzens, des Gehörens und der Formung gibt es keinen „Neger“ als solchen.125 Mbembe weist hiermit deutlich auf die bürgerlich-koloniale Selbstbewusstseinsbildung bei Hegel, das seinen inneren Kampf in der Sklaverei und der kolonialen Unterwerfung und Degradierung anderer ethnischer Gruppen Ausdruck verleiht. Mbembes und Fanons Spiegelung des Sklaven auf den Hegel’schen Knecht entlarvt darüber hinaus die Scheinheiligkeit europäischer Philosophen, die sich im Geiste der Aufklärung verorten, sich der Mechanismen des Kolonialismus jedoch nicht entledigen. Selbst Hannah Arendts eindrückliche gesellschaftliche Vision einer politischen Freiheit, welche die Unterschiede und Pluralität wahrt, ist auf diesem Auge vielleicht nicht blind, sieht aber äußerst eingeschränkt die kulturelle Vielfalt, indem sie sich auf eine idealisierte Form der griechischen polis bezieht, in welcher beileibe nicht alle kulturellen Gruppen diese Freiheit genossen.126 Hegel und seine Mitstreiter lehnten zwar die Sklaverei ethisch und politisch ab, doch zeigt sich, dass sich hinter ihrer Philosophie koloniale Mechanismen verbergen und sie so das Gedankengut der Kolonisten philosophisch untermauern. Es verwundert nicht, dass heutzutage zwar einige gesellschaftsphilosophische Erklärungen und Überlegungen mit einer ähnlichen „Scheinheiligkeit“ glänzen, doch die herrschende Elite diese koloniale Ungerechtigkeit für die Erhaltung der eigenen Macht immer noch benötigt: In einer hierarchisch geordneten Welt, in der die Idee einer gemeinsamen conditio humana zwar Gegenstand frommer Erklärungen, aber weit entfernt von jeder praktischen Umsetzung war, hatten diverse Formen der Apartheid, des an den Rand Drängens und der

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strukturellen Benachteiligung die alten, im eigentlichen Sinne kolonialen Teilungen ersetzt. Zumeist im Gefolge der globalen Prozesse der Akkumulation durch Enteignung hatten sich neue Formen von Gewalt und der durch ein immer brutaleres Weltwirtschaftssystem geschaffenen Ungerechtigkeit ausgebreitet und den Weg für zahlreiche neue Formen prekärer Lebensverhältnisse geebnet, die es vielen sehr schwer machen, Herr ihres eigenen Lebens zu bleiben. Aber Fanon heute erneut lesen heißt vor allem, sein Projekt genau zu verstehen, um es besser fortsetzen zu können.127 Wie schon Buck-Morss stellt Mbembe in der Kritik der Schwarzen Vernunft die Verbindung zwischen Kolonialismus und Kapitalismus her und warnt somit vor kolonialen Strukturen und rassistischem Gebaren im globalen Handel. Zweifelsohne hat sich der Kapitalismus des Westens nur mithilfe der Sklaverei und der Ausbeutung anderer Kontinente durchsetzen können. Mbembe betont zudem, dass auch nach Abschaffung der Sklaverei und des Kolonialismus der Kapitalismus weitere Tribute ähnlicher Struktur fordert. Dies zeigt sich insbesondere in einer gewissen „Universalität“ des Widerstands der Gruppierungen, die von der kolonialen Gesetzmäßigkeit beeinträchtigt wurden und werden: Wie die Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts oder die Kämpfe der Frauen wird unsere moderne Zeit verfolgt von dem Wunsch nach der Abschaffung der Knechtschaft, den die Sklaven vorangetrieben hatten. Diesen Traum setzten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die großen Kämpfe für die Dekolonisierung fort. Sie erreichen von Anfang an eine globale Dimension. Ihre Bedeutung beschränkte sich niemals aufs Lokale – sie war immer universell. Auch wenn diese Kämpfe lokale Akteure mobilisierten, in einem bestimmten Land oder einem genau umgrenzten nationalen Territorium, waren sie doch auch immer Auslöser transnationaler und globaler Solidarität. Diese Kämpfe ermöglichten letztlich immer wieder die Ausweitung oder Universalisierung von Rechten, die bis dahin das Vorrecht einer Rasse gewesen waren.128 Die Metapher vom Herrn und Knecht weist bereits auf die Herausforderung globaler Solidarität hin, die später Charles Taylor in Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung aufgreift. 129 Sie ist insofern bemerkenswert, da sie die perfide Struktur der Herrschaft des westlich geprägten Bürgertums zu Zeiten des Kolonialismus und auch des Kapitalismus offenbart. Obwohl die Phänomenologie des Geistes auf das

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Recht der gegenseitigen Anerkennung der Kontrahenten pocht, um in dieser Synthese eine höhere Stufe des Selbstbewusstseins zu erreichen, setzt dieser Prozess zunächst die Setzung von Herr und Knecht voraus und somit eine dichotome Differenz beziehungsweise die Konstitution zweier a priori ungleich mächtiger Wesen, die miteinander konkurrieren. Obwohl der Knecht auf den ersten Blick das Potenzial zu haben scheint, über den Herrn zu siegen, da er ihn und dessen Konsum durch seine Arbeit und seine Güter in der Hand hat, ermöglicht das dialektische System von Kolonialismus und Kapitalismus – auch das zeigt die Phänomenologie des Geistes auf bemerkenswert nüchterne Weise – diesen Machtwechsel nicht. Buck-Morss hat die weitreichende Frage aufgeworfen, warum Hegel, obwohl die Sklaven in Haiti gegen die Kolonisatoren gewonnen hatten, in seinem theoretischen Werk den Sieg trotz seiner Kritik an der Sklaverei ignoriert. Vielleicht kam Hegel in seiner Analyse jedoch zum Schluss, dass dieser Sieg am System des Kolonialismus und des westlichen Selbstbewusstseins nichts ändern kann, da dieses schon viel zu weit vorangeschritten ist. Das von Hegel vorgestellte gespaltene Selbstbewusstsein benötigt die Setzung eines Anderen, das, so zeigt es die abendländische Geschichte, in realitas ganz bestimmte Gruppierungen wie Sklaven, Frauen, Juden, Homosexuelle und Menschen anderer Hautfarbe symbolisieren. Auch wenn Jürgen Habermas und Susan Wolf in Bezug auf Taylors Politik der Anerkennung zu Recht die verschiedenen Kontexte und Erfahrungen dieser verschiedenen Gruppen betonen, ist es mit Blick auf diese abendländische Struktur des Selbstbewusstseins notwendig, zunächst einmal auf diese Parallelen hinzuweisen.130 Die Unausweichlichkeit dieser systematischen Degradierung und Stereotypisierung bestimmter gesellschaftlicher, ethnischer, sozialer Gruppen begründet sich darin – das zeigen Hegels Überlegungen mehr als deutlich –, dass die Differenzsetzung zu ihnen für die Konstituierung der abendländischen Subjektnorm notwendig ist, die, wie es das HAU prognostiziert, „männlich, weiß und hetero“ zu sein scheint. Die zwanghafte Begierde dieser Norm an der Differenzsetzung gegenüber dem anderen Geschlecht, der anderen Hautfarbe und der anderen sexuellen Orientierung äußert sich beispielsweise darin, dass Frauen lange das Vermögen von Logik und Wissenschaftlichkeit abgesprochen und ihnen der Zutritt zu Universitäten versagt wurde, Menschen dunkler Hautfarbe, sobald sie sich einen westlichen Gestus aneigneten, von den Kolonisten für psychisch krank erklärt und eingesperrt wurden, oder Homosexualität bis 1992 bei der WHO als Krankheit geführt wurde und noch heute in vielen Ländern strafbar ist. Die Besonderheit der bürgerlich-kolonialen Differenzie-

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rung liegt in deren dichotomer Struktur. Sicherlich benennt jede gesellschaftliche, soziale, kulturelle oder ethnische Gruppierung Differenzen zu anderen, doch sind diese Setzungen selten so dichotom angelegt wie hier. Die Vielfalt an geschlechtlichen, ethnischen und sexuellen Identitäten wird auf binäre Paare heruntergebrochen, weil das abendländische Subjekt dieser kolonial-bürgerlichen Tradition eben nur über diese polare Spannung zwischen These und Antithese, männlich und weiblich, schwarz und weiß, hetero und homo, Herr und Knecht konstituieren kann. Die dichotome Differenzierung zwischen den beiden Wesen des Bewusstseins, die im Verhältnis von Herr und Knecht zutage tritt, ist so ein Grundmoment der westlich-bürgerlichen Identität und Motor des Kolonialismus samt dessen Degradierungsstrategien. Differenz bedeutet hier keine Vielfalt, sondern die binäre Unterscheidung des Einen vom Anderen. Mbembe zeigt, inwieweit die Differenz nicht nur in der Begierde des kolonialen Subjekts und den Mechanismen seiner Machterhaltung zutage tritt, sondern längst ins alltägliche Leben übernommen wurde und so als ein universelles Gesetz agiert: Die Differenz ist in den meisten Fällen das Ergebnis der Konstruktion eines Verlangens. Sie ist auch das Ergebnis einer Arbeit des Abstrahierens, Klassifizierens, Aufteilens und Ausschließens – eine Arbeit der Macht, die internalisiert und im Tun des alltäglichen Lebens reproduziert wird, sogar von den Ausgeschlossenen selbst. Oft entsteht das Verlangen nach Unterscheidung genau dort, wo eine Erfahrung des Ausschlusses besonders intensiv erlebt wird. Unter diesen Umständen ist die Proklamation der Differenz die verkehrte Sprache des Verlangens nach Anerkennung und Inklusion.131 Hier offenbart sich der perfide Mechanismus der Kolonisation. Der Differenzierungszwang ist nicht nur Teil der Konstitution des Selbstbewusstseins des Kolonisators, sondern wurde auch vom Kolonisierten verinnerlicht, da sich dessen Identität nun ebenfalls aus der Differenz nährt, was Hegel in Herrschaft und Knechtschaft vorspielt. Wie schon Fanon warnt auch Mbembe den postkolonialen Widerstand davor, der dichotomen Differenz abermals anheimzufallen, welche auch die von Taylor in Politik der Anerkennung vorgestellte Politik der Differenz färbt, so „verlangt die Politik der Differenz, die unverwechselbare Identität eines Individuums oder einer Gruppe anzuerkennen, ihre Besonderheit gegenüber allen anderen.“132 Auch in dieser Vorstellung wird das Andere zwar „geschützt“, jedoch gleichzeitig als kollektive kulturelle

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Differenz markiert. Mbembes Plädoyer für die Konstitution einer Weltgemeinschaft wendet sich gegen diese allgemein an bestimmte Kulturen beziehungsweise kollektiv geknüpften kulturellen Eigenschaften und schlägt das schon im ersten Kapitel kurz vorgestellte Prinzip der Entähnlichung vor, welches später wichtige Hinweise liefern wird, wie gesellschaftliche Vielfalt mit und im Theater verhandelt werden kann. Um sich der Frage nach der Bedeutung des Theaters für solch entscheidende gesellschaftliche Prozesse zu nähern, soll zunächst überlegt werden, inwieweit die Konstruktion des kolonial-bürgerlichen Selbstbewusstseins sich in der Hegel’schen Ästhetik widerspiegelt. Am Anfang des Kapitels wurde anhand der Produktion Verrücktes Blut des Berliner Gorki Theaters gezeigt, auf welche Art und Weise das bürgerliche Theater als Bühne zur Selbstvergewisserung der bürgerlichen Norm diente und das koloniale Subjekt Theater für den eigenen Machterhalt nutzte. In diesem Zusammenhang stellt sich zwangsläufig die schon in der Einleitung diskutierte Frage, ob nicht gerade westliche Vorstellungen von Ästhetik kolonial-bürgerliche Strategien untermauern. Hier lohnt sich abermals der Blick auf Hegel, der nicht nur die aufschlussreiche Metapher von Herr und Knecht erschaffen hat, sondern in seinen Vorlesungen über die Ästhetik die Entwicklung des abendländischen Selbstbewusstseins anhand der Kunst beschreibt.

Hegels Ästhetik: Erfahrungsort der Differenz und das Ende der Kunst Obwohl Hegel mit seinen Überlegungen zur Ästhetik oftmals als „Vordenker einer modernen, autonomen Kunst“, als „Vorvater der marxistischen Auffassung der Kunst als Motor gesellschaftlichen Fortschritts bzw. der neomarxistischen Bestimmung der Kunst als Gesellschaftskritik“133 betitelt wird, ist deren Rezeption im (post)kolonialen Kontext relativ dünn. Dies erstaunt, da die Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie von Fanon bis Mbembe in vielen Diskursen prominent ist und seine Vorlesungen über die Ästhetik auf dieser fußen. Hegel hat die Vorlesungen jedoch selbst nicht mehr veröffentlicht. Nach seinem Tod fasste Heinrich Gustav Hotho seine eigenen Mitschriften und die seiner Kommilitonen zu einer systematischen Ästhetik zusammen, legte dabei jedoch auch selbst Hand an. In den letzten 20 Jahren werden diese Eingriffe in Hegels in Berlin gehaltenen Vorlesungen vermehrt reflektiert. Hotho hatte in erster Linie die Herausgabe eines Gesamtwerks zum Ziel, dem Widersprüche und kritische Passagen in den Originalvorle-

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sungen zum Opfer fielen. Sein Ansinnen, so argumentiert GethmannSiefert, „war zwar ohne Zweifel ‚gut gemeint‘, provoziert aber jenes lakonische Diktum Brechts: ‚Das Gegenteil von gut ist gut gemeint‘“134: Das zeigt sich besonders deutlich an der Aufbesserung der kritischen Punkte, nämlich der These vom Vergangenheitscharakter der Kunst und der den Klassizismusvorwurf provozierenden Konzentration auf die schöne Kunst. Bereits Hegels Schüler wussten nur zu genau, dass die zuerst genannte These einer positiven Rezeption und damit der zukünftigen Wirkung im Wege stehen würde. Daher versuchte Hotho in der Bearbeitung der Ästhetik, insbesondere diesen neuralgischen Punkt – soweit das eben möglich war – zu verschleiern. Die These vom Ende der Kunst wird unter Beiwerk versteckt, wogegen die Konzentration auf die Schönheit Hotho selbst gar nicht als Problem erschien, da sie dem Zeitgeist und seiner eigenen Vorliebe entsprach.135 Für den postkolonialen Diskurs mögen Überlegungen zum abendländischen Kunstschönen vielleicht zunächst zweitrangig erscheinen. Doch folgt man Gethmann-Sieferts Weg und betrachtet Hegels These vom Ende der Kunst aus heutiger Warte, insbesondere auch die Absicht seiner Schüler, diese zu verschleiern, offenbart sich ein ganz bestimmter gesellschaftspolitischer Diskurs von Kunstschaffen in Hegels Vorlesungen und dessen Rezeption. Hier wird nicht nur das Potenzial von Ästhetik für das Durchsetzen kolonialer Machtstrategien sichtbar, sondern Hegels Überlegungen erhalten möglicherweise eine Schlüsselfunktion innerhalb der postkolonialen Ästhetikdiskussion. Über die These des Endes der Kunst hat die einschlägige Wissenschaft bereits ausgiebig diskutiert. Obwohl Hotho wohl diese These in seiner Niederschrift „versteckt“ hat, offenbart sie sich im Beginn der von Hegel definierten romantischen Kunstform: Der Fortgang und der Schluss der romantischen Kunst […] ist die innere Auflösung des Kunststoffes selber, ein Freiwerden seiner Teile, mit welchem umgekehrt die subjektive Geschicklichkeit und die Kunst der Darstellung steigt und je loser das Substantielle wird, um desto mehr sich vervollkommnet.136 Das Ende der Kunst und deren damit einhergehender Vergangenheitscharakter deuten auf den Übergang, dass die Idee einer Gesellschaft nicht mehr gänzlich im Kunstwerk erscheint – wie es nach Hegel in der klassischen Skulptur der Antike der Fall war –, sondern sich in der „sub-

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jektiven Geschicklichkeit“ des Einzelnen auflöst, demnach nicht mehr als Gesamtheit der Idee erscheint. Dieser Schlussakt deutet jedoch auf einen Befreiungsakt hin, der in Korrelation mit Hegels Freiheitsbegriff tatsächlich als Befreiungsschlag aus den Fesseln des Kunstschönen verstanden werden kann.137 Das Spektrum an ästhetischen Kunstformen nimmt mit dem „Freiwerden der Teile“ des klassischen „Kunststoffs“, also der Loslösung dieser von der Idee einer Gesellschaft seit der romantischen Kunst nicht nur stetig zu, sondern die ästhetischen Kategorien überkommen tradierte Normen angeblicher Symmetrie und Schönheit in klassischer Tradition. Allerdings spricht Hegel den Künsten mit dieser recht offenen Ästhetik das Vermögen, gesellschaftliche Relevanz zu entfalten, ab und attestiert ihnen einen Vergangenheitscharakter: „In all diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als dass sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höheren Platz einnähme.“138 Grundsätzlich offenbart sich in dieser Argumentationslinie jedoch eine heutzutage oft vergessene gesellschaftspolitische Bedeutung der Hegel’schen Vorlesungen. Hegel konturiert Ästhetik als künstlerischen Ausdrucksort bestimmter Gemeinschafts- und Subjektvorstellungen einer Gesellschaft, indem sie deren Sittlichkeit und Moralität darstellt.139 Allerdings zeitigt dies eine äußerst (neo)koloniale Vorstellung von Gemeinschaft, die so homogen erscheint, dass sich deren sittlich-moralischer „Geist“ – womit abermals die vorrangige Bedeutung des „Geistigen“ in dieser Denktradition gegenüber dem „Körperlichen“ zutage tritt – im Kunstwerk eine Gestalt erhält, so argumentiert Gethmann-Siefert: „Der Geist des Volkes wird also im Handeln einer Gemeinschaft, und zwar nicht nur im Handlungsvollzug, sondern letztlich auch in Handlungsresultaten manifestiert. Daher geht Hegel davon aus, dass der Geist eines Volkes sich immer in einem Werk erfassen lässt.“140 Dass diese Vorstellung von Ästhetik trotz aufklärerischen Grundgedankens Wasser auf die Mühlen der Kolonisation gießt, zeigt sich zudem darin, dass Kunst und deren „sinnlicher Schein“ bei Hegel weniger als „autonom“ begriffen werden, sondern eine ganz bestimmte gesellschaftlich-kulturelle Funktion innehaben: Diese Art der Sinnlichkeit passt zum Zweck der Kunst, nämlich zur Vermittlung eines Geistigen, zur Vermittlung eines geschichtlichen Selbst- und Weltverständnisses. […] An die Stelle der These der Autonomie der Kunst […] setzt Hegel die Frage nach der Bedeutung der Kunst „für uns“, für den geschichtlichen Menschen.141

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Hegels Ästhetik: Erfahrungsort der Differenz und das Ende der Kunst

Hieraus erschließt sich das gesellschaftspolitische Ausmaß der Gesamtstruktur der Vorlesungen über die Ästhetik: „Hegel zeigt an unterschiedlichen Gestaltungsweisen der Kunst und an den verschiedenen Künsten, auf welche Weise dem Menschen durch die Kunst geschichtliches Selbstbewusstsein vermittelt wird.“142 Kunst soll demnach ein bestimmtes „geschichtliches Selbstbewusstsein“ fördern, welches allein in der kreativen Produktion des Menschen entsteht. In diesem Sinne werden bei Hegel das Kunstschöne und die menschliche Vernunft aneinander gekoppelt, was, so Gethmann-Siefert weiter, ein entscheidender Schritt für die Umsetzung der Aufklärung darstellt: Die Begründung dieser Konzentration auf das Kunstschöne erscheint als zunächst lapidar, ist aber letztlich revolutionär, weil sie die radikale Konsequenz der Aufklärung zieht: die Konzentration auf den Menschen, auf die menschliche Vernunft als den letztgültigen Bezugspunkt und das Fundament der Begründung des Wissens und der Handlungsorientierung.143 Wenn sich in der Hegel’schen Definition das „ideale Selbstbewusstsein“ in einer „idealen Kunst“ spiegelt, die gemäß europäischer Vorstellungen der Aufklärung als „kunstschön“ definiert wird, muss als Umkehrschluss gefolgert werden, dass nur das „schön“ ist, was den politischen und moralischen Kategorien der Aufklärung entspricht. Problematisch wird dieser Ansatz insbesondere dann, wenn künstlerische Traditionen verschiedener Kulturen gegeneinander ausgespielt werden und die Definition von Kunst und schöner Kunst an gesellschaftspolitische Strategien geknüpft ist. In den letzten Kapiteln hat sich mehrfach zum Beispiel anhand der Schicksale der Trickster und Zanni gezeigt, auf welche Art und Weise Vertreter von Gruppierungen und Kulturen, die nicht der Norm der Aufklärung entsprechen, als unmoralisch und unästhetisch und ihre Bewegungen und Gesten als unschön-tölpelhaft klassifiziert werden. Allerdings gestaltet sich Hegels Verständnis von Ästhetik weitaus komplexer als es in der im letzten Unterkapitel vorgestellten Verknüpfung mit der Phänomenologie erkennbar wird, was nun besonders deutlich anhand seiner These vom Ende der Kunst wird. Unbestritten ist für Hegel das Kunstschöne ein Ideal der Ästhetik, gleichwohl wird dies in erster Linie mit der Kunst der Antike und deren Gesetzmäßigkeit in Verbindung gebracht und nicht per se mit dem Kunstschaffen des Abendlandes gleichgesetzt. Hegel stellt in den Vorlesungen eine abendländische Kunstgeschichte samt Systematisierung unterschiedlicher

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Kunstgenres vor, die praktisch auf einer „Abstiegstreppe der Relevanz“ vom Ideal der Antike herunterschreitet, je weiter die europäische Gesellschaft voranschreitet. Der Abstand zum Ideal vergrößert sich so stetig, was für Hegel jedoch kein wertendes ästhetisches Urteil darstellt. Er spricht Kunstwerken selten wenig Qualität zu, betont vielmehr deren gesellschaftliche Spiegelfunktion. Obwohl Hegels Verständnis von Kunst zwar in gewisser Weise in der Kant’schen Tradition von Autonomie steht, schlägt er einen neuen Weg ein. Die Definition des Kunstschönen betreffend, orientiert er sich zwar am „Ideal“ des Kunstwerks der Antike, da hier Subjekt (Geist) und Objekt (Kunst) zusammenfallen. Die von Hegel erkannte gesellschaftlich-kulturelle Funktion von Kunst löst sich jedoch aus den üblichen Ästhetikdiskursen des „Naturschönen“ und „Kunstschönen“. Ästhetik ist in Hegels Verständnis der Ort, in welchem sich die Gesellschaft kulturell verortet. In ihr spiegelt sich deren „geistiger Fortschritt“ wider, demgegenüber schafft sie jedoch Rahmenbedingungen für Prozesse, mit welchen sich die Gesellschaft öffnen, wandeln und neu definieren kann, was für das ästhetische Potenzial einer Verhandlung von Vielfalt entscheidend ist. Hegels These vom Ende der Kunst trifft für dieses Wandlungspotenzial eine folgenschwere Vorkehrung: Das Ende der Kunst leitet die Unvereinbarkeit des ästhetischen Schaffens mit dem klassischen Ideal der Antike ein und löst jenes aus dessen einschränkender Aufgabe, eine homogene Gesellschaft abzubilden beziehungsweise deren Idee im Kunstwerk scheinen zu lassen. Diesen Übergang innerhalb der Ästhetik beschreibt er unter anderem anhand des Dramas.

Befreiungspotenziale und das Drama in Hegels Ästhetik Für Überlegungen zu Theater ist es zunächst bemerkenswert, dass das Ende in den Vorlesungen über die Ästhetik das Drama markiert, welches nicht nur ein sehr zeitgemäßes Genre im 19. Jahrhundert darstellt, sondern eine entscheidende Stufe innerhalb der Hegel’schen Systematik erklommen hat: Das Drama muss, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden. Denn den sonstigen sinnlichen Stoffen, dem Stein, Holz, der Farbe, dem Ton gegenüber, ist die Rede allein das der Exposition des Geistes würdige Element und unter den besonderen Gattungen der redenden Kunst wiederum

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Befreiungspotenziale und das Drama in Hegels Ästhetik

die dramatische Poesie diejenige, welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik in sich vereinigt, indem sie eine in sich geschlossene Handlung als wirkliche, ebenso sehr aus dem Inneren des sich durchführenden Charakters entspringe als in ihrem Resultat aus der substantiellen Natur der Zwecke, Individuen und Kollisionen entschiedene Handlung in unmittelbarer Gegenwärtigkeit darstellt.144 Hegel definiert hier das klassische Drama nicht nur als Text, sondern in der Betonung der „Rede“ und der „unmittelbaren Gegenwärtigkeit“ auch als Aufführung. Vor dem Hintergrund der Darstellbarkeit von „Vielfalt“ wird zwar das Potenzial von Theater deutlich, unterschiedliche Charaktere und deren Meinungen zu verhandeln, gleichsam jedoch auch dessen Beschränktheit: Die Betonung der „Rede“ setzt voraus, dass alle Akteure der gesprochenen Sprache mächtig sind und die Wirkungsmacht des Theaters sich allein in der Sprache und der Argumentation manifestiert. Hegel entwirft in seinen Vorlesungen ein Theatermodell, das auf der höchsten Stufe der Kunst steht, weil im Hier und Jetzt einzelne Protagonisten, die handeln und miteinander agieren, zu Wort kommen und aus sich selbst heraus Taten vollbringen. Die herausragende Stellung des Dramas verdeutlicht Hegel zunächst anhand des dialektischen Spiels zwischen dem einen „guten“ und dem anderen „bösen“ Protagonisten, demnach anhand einer Grundstruktur, die er schon in „Herrschaft und Knechtschaft“ favorisiert. Gleichwohl verdeutlichen seine Überlegungen zu Shakespeares Werken, dass die Vertreter beider Pole einander ästhetisch „vollwertig“ begegnen: Ja, je mehr Shakespeare in der unendlichen Breite seiner Weltbühne auch zu den Extremen des Bösen und der Albernheit fortgeht, um so mehr gerade, wie ich schon früher bemerkte, versenkt er selbst auf diesen äußeren Grenzen seine Figuren, nicht etwa ohne den Reichtum poetischer Ausstattung in ihrer Beschränktheit, sondern er gibt ihnen Geist und Phantasie; er macht sie durch das Bild, in welchen sie sich in theoretischer Anschauung objektiv wie ein Kunstwerk betrachten, selber zu freien Künstlern ihrer selbst und weiß uns dadurch, bei der vollen Markigkeit und Treue seiner Charakteristik, für Verbrecher ganz ebenso wie für die gemeinsten, plattesten Rüpel und Narren zu interessieren.145 Der „platte Rüpel“ und der „Verbrecher“, die „Extremen der Albernheit“, welche von Gottsched und der Neuberin von der Bühne verbannt

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oder im kolonialen Afrika mit traditionellen Figuren verknüpft werden, sind für Hegel zwar nicht moralisch, doch ästhetisch gleichwertige Protagonisten, die einander jedoch – ganz selbstverständlich – wie der Knecht und der Herr antithetisch gegenüber stehen. In der auf den Passagen zu Shakespeare folgenden Auseinandersetzung mit den Werken Schillers und Goethes sticht eine ähnliche dichotome Grundstruktur ins Auge, die sich jedoch nicht zwischen „bösen“ und „guten“ Charakteren, sondern zwischen einem Protagonisten und der ihn umgebenden Welt manifestiert. So resümiert Gethmann-Siefert Hegels Schlusskapitel: Im modernen Drama ist es nicht mehr möglich, die Wirklichkeit (im Sinne der Wirksamkeit) von Vernunft und Freiheit in die Sittlichkeit einer Gemeinschaft durch das „schöne“ Handeln der dramatischen Personen darzustellen. Die Personen stehen nämlich nicht mehr für eine zwar nur für bestimmte Bereiche legitime sittliche Orientierung, die aber letztlich in der Gemeinschaft akzeptiert wird. Sie sind stattdessen Individuen, die sich um der Realisation der Freiheit willen durch ihr Handeln gegen die Gemeinschaft stellen müssen.146 Hegel kommt zum Schluss, dass für den außerordentlichen Stellenwert des modernen Dramas nicht nur das Kunstschöne als Kategorie aufgehoben wird, sondern sich die Individuen gegen die Gemeinschaft stellen. Das menschliche Handeln gegen die sie umgebende Ordnung ist nicht mehr „schön“, jedoch „erhaben“. In der Kunstgeschichte der Vorlesungen über die Ästhetik erreicht das moderne Drama seinen Höhepunkt, weil sich das sinnliche Scheinen der Idee des Geistes von der Materie (Stein, Holz, Sprache) gelöst hat und nicht nur vom Menschen dargestellt wird, sondern aus seinem Handeln und Agieren heraus erzeugt wird.147 Das Ende der Kunst beginnt mit dem Moment, an welchem im Theater die dialektischen Momente, der Herr und der Knecht, nicht mehr Repräsentanten einer mächtigen Weltordnung sind, in welcher dem Herr und dem Knecht ihre dichotomen Rollen zugewiesen werden, sondern die Protagonisten sich gegen diese Ordnung stellen und somit der Held der Knecht ist, der gegen den Herrn angeht. So schließen die Vorlesungen über die Ästhetik mit der Feststellung: Denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern mit der Befreiung des Geistes vom Gehalt und den Formen der Endlichkeit, mit der Präsenz und Versöhnung des Absoluten im Sinnlichen und Erscheinenden, mit einer

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Entfaltung der Wahrheit zu tun, die sich nicht als Naturgeschichte erschöpft, sondern in der Weltgeschichte offenbart, von der sie selbst die schönste Seite und den besten Lohn für die harte Arbeit im Wirklichen und die sauren Mühen der Erkenntnis ausmacht.148 In der „dramatischen Poesie“, die den Schluss der Vorlesungen bildet, wird der Handlungsvielfalt des Protagonisten eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Das Ende des Kunstschönen eröffnet somit dem System der Ästhetik einen ungeahnten Handlungsspielraum, da diese nicht länger mehr von der „Naturgeschichte“, sondern einer „Weltgeschichte“ abhängig ist, dessen Hauptakteur der Mensch ist. An diesem Punkt wird abermals die Nähe zwischen Hegels Ästhetik und der Phänomenologie deutlich. Mit Blick auf die Ausführungen Gerhard Gramms über die Innovation des Hegel’schen Denkens, der Dialektik, wird ersichtlich, wie diese im Drama einen Ausdruck findet: Von dieser Dialektik hatte die traditionelle Erkenntnistheorie, der es vor allem um die Aufklärung von Subjekt und Gegenstand ging, noch keine Ahnung. Hegel stellt heraus, dass unsere kognitiven und praktischen Selbst- und Weltbezüge durch bestimmte (soziale) Konflikte präfiguriert sind; sie lassen sich aus der philosophischen Analyse der formalen Bedingungen unseres Erkennens und Handelns nicht ausklammern. Philosophieren heißt nicht, sich zur eigenen Erbauung einer höheren Welt oder Wahrheit zuzuwenden, sondern die historischen und sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen aufzuklären, die konstitutiv sind für die Erfahrung, die wir in und mit der Welt machen.149 Diese Art des Philosophierens spiegelt sich im ästhetischen Schaffen und verdeutlicht noch einmal die weitreichende gesellschaftsreflexive Bedeutung, die Hegel diesem zugesteht. Jedoch ist er selbst in einem Gesellschaftsbild gefangen, welches nur Menschen bestimmter Gruppierungen diese Handlungsfreiheit zugesteht, und kann das Potenzial, das er am Ende der Vorlesungen eröffnet, nämlich das Ästhetische aus dem binären Protagonistenpaar „Herr und Knecht“ zu befreien und es als Verhandlungsort kultureller Vielfalt zu etablieren, nicht in Gänze fassen. Wie es auch die Stücke der deutschen Klassik verdeutlichen, sind für Hegel die entscheidenden Protagonisten stets Vertreter der westlicheuropäischen Klasse; Akteure anderer Kulturen, wie beispielsweise die Befreier auf Haiti, welche diese „Weltgeschichte“ zu Zeiten Hegels entscheidend prägten, bleiben unerwähnt.

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Rezente Ästhetikdiskurse unter Hegels Fittichen Auch heutzutage deuten wissenschaftliche Auseinandersetzungen, die Hegels Philosophie für gegenwärtige Theater- und Ästhetikdiskurse heranziehen, dieses Potenzial der Hegel’schen Ästhetik zwar an, unterstützen jedoch in erster Linie die bürgerlich-koloniale Dimension seines philosophischen Denkens. Oftmals bleiben sie im dialektischen System der Phänomenologie des Geistes stecken und betonen nicht die Weltoffenheit, auf welche die Vorlesungen über die Ästhetik mit dem Ende der Kunst und der Reflexion über die „dramatische Poesie“ hindeuten. Theater wird als ein Ort verstanden, an welchem im real scheinenden und nach dem dialektischen Modell strukturierten Handeln und Argumentieren der Protagonisten gesellschaftliche Fragen reflektiert werden. Hinterfragt wird dabei weder der Universalitätsanspruch dieses dialektischen Systems noch die rein abendländische Verortung der Darsteller. Bernd Stegemann unternimmt im Lob des Realismus (2015) den Versuch, Theater aus den avantgardistischen Schlingen, welche seiner Meinung nach die Hegel’sche Wirkungsmacht des Erhabenen bedrängen, zu befreien, und fordert eine Rückbesinnung auf einen im Ästhetischen wirkenden Realismus, der jedoch außereuropäische Einflüsse ignoriert und den tradierten kolonialen Machtanspruch westlicher Wissenschaften untermauert. Zunächst betont er die dialektische Grundstruktur realistischer Kunst: Will man aber auch heute noch die wesentliche Bestimmung realistischer Kunst ernst nehmen, so muss der Begriff zuerst aus seiner postmodernen Gefangenschaft befreit werden. Realismus soll hier nicht all das heißen, was irgendwie eine eigene Realität hervorbringt oder den Effekt einer solchen hervorzurufen vermag. Mit Realismus ist hier immer eine dialektische Kunst gemeint, die gemeinsame Erfahrung von Realität provoziert. […] In der realistischen Kunst werden die Widersprüche der Gesellschaft und der Mensch anders anschaubar gemacht, als die Realität von sich aus gestattet. […] Die pure Widerspiegelung ist ebenso wenig realistisch wie die formale Verfremdung. Die eine bestätigt das naive Verständnis der Welt, während das andere die postmoderne Zersplitterung wiederholt. Erst wenn die Details erkannt werden und zugleich einen Zusammenhang begreifen lassen, der mehr ist als die Details, wird die Realität wieder realistisch gesehen.150 Interessanterweise berücksichtig Stegemann in seiner Analyse rezente Stücke des Maxim Gorki Theaters wie Verrücktes Blut, die Beispiele par

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excellence für die von ihm proklamierte realistische Ästhetik und deren Dekonstruktion sind, nicht. Vielmehr fokussiert und problematisiert er zunächst avantgardistische Tendenzen im Theater. Zu dieser Kritik gesellt sich eine Ablehnung gegenüber den Agent*innen der Political Correctness, die bekanntlich in den letzten Jahren das deutschsprachige Theater erobert und bisweilen auch zensiert haben. Stegemann stellt die durchaus interessante These auf, dass sowohl die Avantgarde als auch die Political-Correctness-Bewegung sich aus anfänglich kritischen Gegenbewegungen des gesellschaftlichen Systems der westlichen Welt zum Spielball desselben entwickelt haben, indem sie ihre Position nicht argumentativ, sondern ontologisch als „wahr“ verstehen, und zwar sowohl auf der ästhetischen als auch auf der poltisch-gesellschaftlichen Ebene. Im Vergleich seiner kritischen Schlussfolgerungen über beide „Bewegungen“ verblüffen die Parallelen, wenn er zunächst schreibt: „Die Avantgarde begibt sich immer weiter in eine undialektische Opposition zur Realität, indem sie sich selbst zur Realität zweiter Ordnung erklärt.“151 Über 80 Seiten später wirft er dann den Vertretern der Political Correctness eine ähnliche Taktik vor, nämlich die eigene Oppositionsrolle als ontologische Wahrheit zu begreifen: Der Widerspruch besteht also in der Gleichzeitigkeit der Forderung nach einer nicht essenzialistischen, sondern kulturell hervorgebrachten Identität und der Begründung der eigenen Position des Opfers in einer unhintergehbaren, also essenzialistischen Wahrheit.152 Stegemanns Erkenntnis, die ästhetische Bewegung der Avantgarde und die gesellschaftspolitische Bewegung der Political Correctness formulieren einmal einen Realitäts- und zum anderen einen Wahrheitsanspruch, der von vornherein als essenzialistisch beziehungsweise ontologisch gesetzt ist, erscheint durchaus beachtenswert. Gleichwohl sind die Schlussfolgerungen, die er aus dieser Erkenntnis zieht, zu kurz gedacht. Die Grundursache für diese essenzialistische Selbstermächtigung sieht Stegemann darin, dass beide Bewegungen sich nicht an das dialektische Prinzip des Erkenntnisgewinns halten, sondern versuchen, dieses auszuhebeln. Die emanzipierte Frau beispielsweise gebe dem Mann nicht das Recht, über Emanzipation zu sprechen, da er nie die Erfahrungen als unterdrückte Frau gemacht habe. Ähnliches betreibt die Avantgarde mit der Realität, so Stegemann: Der Gegenstand ist real, aber er bekommt durch den anderen Kontext eine neue Bedeutung und damit einen anderen Charakter von

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Realität. Der damit eröffnete Prozess ist unendlich und muss von jedem Beobachter selbst durchlaufen werden. Die möglichen Erfahrungen sind komplex und einzigartig, sie sind aber in keinem Fall mehr die des Realismus. Denn sie ermöglichen gerade nicht mehr die Gemeinschaft derjenigen, die aufgrund eines ästhetischen Erlebens die reale Umwelt mit anderen Augen sehen.153 Stegemann bedenkt hier jedoch nicht den entscheidenden Punkt, dass sowohl die Political-Correctness-Bewegung als auch die Avantgarde das dialektische Prinzip des Realismus aushebeln, weil dieses jene nicht erfasst, beziehungsweise wenn, dann degradiert. So eröffnet Stegemann sein Schlusskapitel mit dem Hegel-Zitat: „Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr.“154 Er argumentiert abschließend, dass nur mit der Dialektik, dem Grundprinzip der Phänomenologie des Geistes, das Subjekt sich in einer ästhetischen Form reflektieren kann: Mit der Rückeroberung der Dialektik wird die Darstellungskraft der dramatischen Situation in ihren jeweiligen historischen Ausprägungen wieder denkbar. Und mit dem dialektischen Denken bekommt die Position des Subjekts, das sich denkend und handelnd in der Welt bewegt, einen anderen Blick auf sich selbst.155 Liest man diese Argumentation unter dem Hegel-Zitat, welches Stegemanns Schlusskapitel übertitelt, muss zwangsläufig gefolgert werden, dass alles, was nach dem dialektischen Prinzip nicht „begriffen werden kann, nicht mehr [ist]“. Stegemann knüpft so an eine Tradition an, welche nur das als wahr und darstellungswürdig begreift, was nach dem System abendländischer Logik und dialektischer Erkenntnis erfasst und beschrieben werden kann. Die Gefahr dieses Erbes, auf die Fanon, Mbembe, Buck-Morss, VeitWild, von Braun, der Blick auf die koloniale Theatergeschichte und der Exkurs zu den Trickstern und Zanni aufmerksam gemacht haben, wird ignoriert. Wenn das, was nicht begriffen werden kann, nicht mehr ist, also das, was nicht nach den Kategorien westlichen Denkens systematisiert und innerhalb des dichotomen Systems von Mann und Frau und Schwarz und Weiß kategorisiert werden kann, kein Recht auf Darstellung hat, dann fordert Stegemann zwangsläufig die Verbannung ästhetischer Formen vieler Kulturen und Gruppierungen von der Bühne. Wenn überhaupt, dann erscheinen diese „Anderen“ als Gegenspieler zum herrschenden Subjekt der Bühne und deren Realität, zum Knecht, der a priori dem Herrn untergeordnet ist. Dieses Spiel findet keinesfalls auf Augenhöhe statt. Andere Kulturen und Lebensentwürfe werden dann im besten Fall exotisiert.

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Vonseiten diverser Kritikströmungen, ob postkolonialer, feministischer, postmigrantischer oder queerer Art, wird den Inszenierungen an klassischen deutschen Bühnen des realistischen Theaters der sogenannten Hochkultur bescheinigt, dass deren Ästhetik primär eine Gemeinschaft widerspiegelt, deren Norm sich an der weißen, heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft orientiert.156 Die Abstraktion innerhalb dieses Modells von Ästhetik verfremdet oder reflektiert die Realität der Gesellschaft in erster Linie vor dem Hintergrund der Diskurse der eigens gesetzten Norm. Alles Andere, Anormale, aus dieser Rolle Fallende wird, wenn überhaupt beachtet, als Antithese, Travestie oder Exotik markiert, um es in der Synthese des Hegel’schen dialektischen Dreischritts aufzuheben; es ist innerhalb dieser Tradition aber selten Subjekt der Abstraktionsbewegung. Es erscheint folgerichtig, dass Vertreter dieser „Gruppierungen der Anderen“ versuchen, das dialektische Prinzip der Logik auszuhebeln, indem ihre Belange eben nicht über das dialektische System im Sinne Stegemanns zum Ausdruck gebracht werden können, nach dessen Regelwerk – denkt man an die Gesetze, die Homosexuelle, Frauen oder Mitglieder anderer ethnischen Gruppen oder Zugehörigkeiten ausschließen oder ausgeschlossen haben – sie stigmatisiert und degradiert werden. Vielmehr versuchen diese Bewegungen wie etwa die Avantgarde, dem westlichen Realismus andere Wahrheiten und Wirklichkeiten jenseits der Dialektik entgegenzusetzen, die selbstverständlich künstlich konstruiert und darauf bedacht sind, bestimmte Machtansprüche zu legitimieren. Der „Realismus“, wie Stegemann aufbauend auf das dialektische Denken nach dem Hegel’schen Prinzip definiert, bietet vor diesem Hintergrund wenig Spielraum für das Erschaffen einer Ästhetik, die die heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen und vielseitigen kulturellen Hintergründe unserer Zeit widerspiegeln und deren Komplexität jenseits ihrer dichotomen Struktur erfassen kann.

Unter den Fittichen der Eule der Minerva: Potenziale der (Hegel’schen) Ästhetik Das Kapitel abschließend lässt sich zusammenfassen: Auf der Suche nach Möglichkeiten einer Theoretisierung einer Ästhetik für das Theater der kulturellen Vielfalt unserer Zeit sind die Bezüge zu Hegels Schriften und Überlegungen erhellend, da in Hegels Philosophie und Ästhetik die Ambivalenz im Verhältnis von Kunstschaffen und Herrschaft seit der Aufklärung und der Kolonisierung deutlich zutage tritt. Das Kapitel begann mit einem historischen Blick auf das koloniale und bürgerliche

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Theater, um zu verdeutlichen, inwieweit Theater für politische-gesellschaftliche Strategien (aus)genutzt wurde und welche abendländische Systematik der dichotomen Differenz sich dahinter verbirgt. Der Hinweis auf die Verbannung der Trickster und Zanni von den kolonial-bürgerlichen Bühnen hat gezeigt, inwieweit alles, was sich nicht nach dem logos und der ratio der Aufklärung und ihrem Erkenntnismodell beschreiben und begreifen lässt, systematisch als das Andere degradiert wird. Diese Denk- und Dichotomisierungsweisen – welchen der westliche Fortschrittsgedanke ebenso immanent ist – lassen sich exemplarisch mit der Hegel’schen Phänomenologie, insbesondere mit dem Modell des Herrn und Knecht, beschreiben. Es verwundert demnach nicht, dass afrikanische Philosophen im Zuge der Dekolonisierung sich besonders intensiv mit seiner Philosophie auseinandersetzen. Unter anderem Mbembe und von Braun zeigen, dass sich die treibende Kraft sowohl des abendländischen Fortschritts- als auch des Degradierungsgedankens aus dem dialektischen Denkmodell dichotomer Grundstruktur nährt, denn auch die Trias im dialektischen Dreischritt ist polar konstruiert, damit die Antithese im dritten Moment „aufgehoben“ werden kann. Dieser Mechanismus liegt ebenfalls Hegels Vorlesungen über die Ästhetik zugrunde. Gleichwohl stellt Hegel in den Vorlesungen erste Ansätze vor, wie einer kulturellen Vielfalt innerhalb des Kunstschaffens richtungweisend begegnet werden kann, indem die dialektische Opposition überwunden wird. Diese sind auch in der Phänomenologie angelegt, denn die gegenseitige Anerkennung der beiden Wesen Herr und Knecht ist Grundlage der Existenz des Subjekts. Žižek weist auf die Schwierigkeiten dieses Anerkennens für die heutige Zeit hin, dass auch hier nur bestimmte Gruppen in dessen Genuss geraten: „Die Antwort der Liberalen auf die Herrschaft lautet Anerkennung. […] Die Subjekte der Anerkennung sind keine Klassen. […] Subjekte der Anerkennung sind Rasse, Geschlecht et cetera – die Politik der Anerkennung bleibt innerhalb des Rahmens der bürgerlichen Zivilgesellschaft, sie ist noch keine Klassenpolitik.“157 Wenig später argumentiert er, dass dieses gegenseitige Anerkennen immer noch Teil eines kolonial-westlichen Denkens ist: „Das gesamte Feld wird auf sein Symptom reduziert – ‚bürgerliche‘ Freiheit und Gleichheit sind unmittelbar und ausschließlich kapitalistische ideologische Masken der Herrschaft und der Ausbeutung, die ‚allgemeinen Menschenrechte‘ sind unmittelbar und ausschließlich Mittel zur Rechtfertigung imperialistisch-kolonialer Eingriffe etc.“158 In dieser Paradoxie der Hegel’schen Philosophie, auf der einen Seite das kolonial-westliche Herrschaftsdenken zu untermauern, auf der anderen Seite jedoch erste Schritte aus dem dialektischen System und

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ihrer dichotomen Differenzen zu finden, liegt womöglich der entscheidende Zugang zu der Frage, wie und auf welche Art und Weise heutzutage rassistische und koloniale Strategien im Theaterschaffen noch wirkungsmächtig sind. Im Vergleich rezenter Werke zur Ästhetik, die sich auf Hegel beziehen, zeigt sich, dass sowohl im Kunsttheater als auch im angewandten Theater der Wunsch offensichtlich wird, Kunst als Ausdrucksort der Mehrheitsgesellschaft zu verstehen und alles, was nicht deren Norm entspricht, als Differenz zu kennzeichnen, sei es als unrealistisch, nicht gesellschaftlich relevant, exotisch oder als Sonderrealität, Travestie und Blackfacing. Mit dem Rückgriff auf Hegels Vorlesungen über die Ästhetik soll ferner das Ansinnen dieser Arbeit unterstrichen werden, den philosophischen Diskurs des ästhetischen Denkens in einen sich gegenseitig verknüpfenden Dialog mit den in den letzten Jahrzehnten zunehmenden Untersuchungen zur Ästhetik als Feld der Wahrnehmung im Sinne der aisthesis zu bringen. Vor dem Hintergrund der verschiedenen Kulturtraditionen, die in der Verhandlung kultureller Vielfalt im Theater zutage treten, scheint eine Theorie von Ästhetik, die aufgrund einer kritischphilosophischen Herangehensweise auch andere Kulturkontexte und deren Ausdrucksformen theoretisch mit einzubeziehen vermag, eine sinnvolle Ergänzung zu den in erster Linie auf subjektive Wahrnehmungen beziehenden Feldern der aisthesis. Wie kann also Mbembes Prinzip der Entähnlichung mit Ästhetik auf ihren philosophischen, phänomenologischen und wahrnehmungsbezogenen Ebenen verknüpft werden? An dieser Stelle soll an Reschkes Antrittsvorlesung mit dem Titel Die Asymmetrie des Ästhetischen erinnert werden, auf deren Kombination von wahrnehmungsbezogen-performativer und philosophisch-theoretischer Ebenen im Ästhetischen bereits im ersten Kapitel einleitend eingegangen wurde. Reschke argumentiert, dass die asymmetrischen Momente des ästhetischen Denkens mit Hegel ihren Anfang nahmen: Hegels berühmter Satz von der Eule der Minerva, die erst nach dem Einbruch der Dämmerung ihren Flug beginnt, vereinigt die Zugkraft des Metaphorischen mit der Distanz zum Geschichtlichen, die in die Lage versetzt, die Geschichte als definitorischen Teil in das philosophische Selbstverständnis zu integrieren und dieses zugleich ästhetisch zu modellieren. Die Ästhetik, die am programmatischen „Ende der Kunst“ aktiv wird und ihre Einsichten formuliert, kündete nicht nur von ihrer Geschichtsmächtigkeit, sondern auch von der Aussagekraft des Metaphorisch-Asymmetrischen. Die kluge Eule kommt zu ihren Erkenntnissen gegen jede systematisierende Einseitigkeit

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und vorbei an den Sicherheiten begrifflicher Fixierungen. In ihrer asymmetrischen Bildmächtigkeit artikuliert sich die Geschichtsmächtigkeit des Denkens mehr als es eine systematische Begründung je vermöchte. Die Metapher ist klüger als ihr Autor.159 Im asymmetrischen Potenzial der Ästhetik, das sowohl die dialektische Begrifflichkeit als auch symmetrische Normierungen zu hintergehen vermag, findet sich womöglich ein Zugang zu einer Theaterästhetik, die sich der kulturellen Vielfalt annehmen kann. Es scheint, als könne sie in ihrer asymmetrischen Metaphorik rückblickend Hegels dialektische Denkstruktur überwinden und uns einen Weg weisen, wie sich eine Ästhetik der Entähnlichung gestalten könnte. Das nächste Kapitel soll diesem Potenzial von Ästhetik weiter auf den Grund gehen und zunächst Konzepte beleuchten, die den asymmetrischen Blick auf Theater wagen und ihm ein Stück weit den kolonialen Gestus zu nehmen vermögen. Derlei Bestrebungen sind zum großen Teil aus dekolonialen und postkolonialen, aber auch feministischen und queeren Kontexten entstanden. Es wird sich einmal die Frage stellen, inwieweit Ästhetik ein sinnvolles System und Repertoire bieten kann, und welche Möglichkeiten, Herausforderungen und Fallstricke ausgelotet werden können, kulturelle Vielfalt im Theater zu verhandeln.

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Kapitel 3 Vom postkolonialen Diskurs zur Ă„sthetik der Entähnlichung


Vom postkolonialen Diskurs zur Ästhetik der Entähnlichung

Der asymmetrische Blick setzt eine Symmetrie voraus. In der deutschen Klassik war ein Ideal dieser Grundordnung zweifelsohne die griechische Antike. Deren Kunst und Architektur gaben nicht nur für Hegel Normen und Maße vor. Das klassische französische Theater brachte mit der „doctrine classique“ eine symmetrische Ordnung für Dramen und ihre Aufführungen hervor, an welcher sich das bürgerliche Theater – Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung – lange orientierte. Einerseits zeigt Reschke, dass innerhalb der europäischen Kulturgeschichte seit der Aufklärung eine Vielzahl von Schriften verfasst wurde, welche das symmetrische System kritisch betrachten und verkehren. Andererseits orientieren sich – das zeigt der Prolog mehr als deutlich – eine Vielzahl von Produktionen des Stadttheaters, die sich mit kulturellen Herausforderungen unserer Zeit befassen, auffällig eng an die „klassischen“ Vorgaben der Symmetrie. Stücke wie das zu Beginn des letzten Kapitels beschriebene Verrücktes Blut am Berliner Gorki Theater gebärden sich symmetrisch gemäß der doctrine classique und betreten – im abendländisch-westlichen Sinne – in einem realistischen Gewande die Bühne: Protagonisten mit türkischer Migrationsgeschichte werden von Schauspielern mit eben dieser gespielt, die Einheit des Ortes und der Zeit des Geschehens sind ebenso gegeben. Doch nicht nur das Geschehen auf der Bühne, sondern das gesamte Theatersetting entspricht der klassischen Theatersymmetrie: Der verdunkelte, ansteigende Zuschauerraum, ein schweigendes domestiziertes Publikum, eine Handlung mit der vierten Wand orientieren sich an Ritualen für eine Aufführung, wie wir sie seit Hunderten von Jahren kennen und wie es sich die Abonnementzuschauer*innen wünschen.

Dekoloniale Strategien im Theater: In unserem Namen am Berliner Maxim Gorki Theater Das letzte Kapitel hat sich in erster Linie damit befasst zu zeigen, dass sich hinter der vermeintlichen Symmetrie ein System der dichotomen Differenz verbirgt, was sich gleichsam in kolonialen Bestrebungen als auch in der Hegel’schen Phänomenologie offenbart. Die Vorlesungen über die Ästhetik haben dieses System ebenso vor Augen, und auch rezente theaterwissenschaftliche Diskurse – blickt man beispielsweise auf Stegemanns Lob des Realismus – vermögen diese nicht in Gänze zu überwinden. Gleichwohl konnte gezeigt werden, dass Hegels Vorlesungen trotz alledem Ansätze darbieten, das dialektische Prinzip der dichotomen Differenz im ästhetischen Schaffen zu überwinden. Mbembe

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argumentiert in seiner Kritik der Schwarzen Vernunft, dass mit der postkolonialen Kritik ein Diskurs in der globalen Wissenschaftslandschaft begonnen hat, den kolonialen Dichotomisierungszwang zu dekonstruieren, obgleich er anhand Saids und Fanons Werken feststellt, dass die postkoloniale Praxis häufig ebenso in dichotomen Differenzen denkt, nur unter entgegengesetzten Vorzeichen: Andererseits ist das Verlangen nach der Differenz auch nicht notwendig das Gegenteil des Projekts der Gemeinsamkeit. Für jene, welche die Kolonialherrschaft ertragen haben oder denen ihr Anteil an der Menschlichkeit irgendwann in der Geschichte geraubt worden ist, erfolgt die Wiedererlangung dieses Anteils an der Menschlichkeit oft über die Proklamation der Differenz. Aber wie wir in einem Teil der modernen schwarzen Kritik sehen, ist die Proklamation der Differenz nur ein Moment eines umfassenden Projekts – des Projekts einer kommenden Welt, einer vor uns liegenden Welt, deren Bestimmung universell ist; eine Welt, die befreit ist von der Last der Rasse und des Ressentiments und des Wunsches nach Rache, die jeder Rassismus auslöst.160 Am Ende seiner Kritik entwickelt er anhand des Begriffs „Entähnlichung“ einen gesellschaftspolitischen Ansatz, nach welchem Ressentiments und Rassismen kolonialer Tradition und ebenso der Wunsch nach Rache und Vergeltung postkolonialer Zeiten überwunden werden können. Dies geht nicht mit einer Dekonstruktion oder Negierung jeglicher Differenz einher, die Andersheit eines jeden wird jedoch nicht über die Differenz zu einem Anderen konstruiert, was tendenziell zu einer dichotomen Grundstruktur führt, vielmehr soll das Grundmotiv der „Sorge um das Offene“, der Einsicht, dass wir in gewisser Weise uns alle unähnlich und verschieden sind, das koloniale Prinzip ablösen. Mbembe deutet dieses gesellschaftspolitische Vorgehen in der Kritik jedoch nur an und bringt hier auch nicht das Ästhetische ins Spiel, obwohl er, darauf wurde im ersten Kapitel hingewiesen, insbesondere in Bezug auf präkoloniale afrikanische Kulturen die Besonderheit deren ästhetischen Schaffens hervorhebt. Im Vordergrund steht für ihn, die weitreichende Wirkungsmacht des kolonialen Prinzips politisch-philosophisch zu verdeutlichen, wobei er den Schwerpunkt auf dessen Verbindung mit dem Kapitalismus und der Weltwirtschaft legt. Aus diesem Grunde ist das Vorhaben, dichotome Differenzen als Ursprung für rassistische und koloniale Degradierungsbestrebungen zu verstehen und diese zu überwinden zu versuchen, zwar nicht neu, aber in Bezug auf

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den rezenten gesellschaftlichen Kontext erhellend. Dieses Kapitel wird sich mit der Frage befassen, inwieweit das Ästhetische die Dekonstruktion dichotomer Differenzierung und rassistischer Degradierung unterstützen und so den gesellschaftlichen Wandel in Richtung einer grundlegenden Akzeptanz von Vielfalt begleiten kann. Mit Blick auf Philosophie, Kultur- und Kunstwissenschaften der letzten Jahrzehnte kann festgestellt werden, dass einige Arbeiten des Poststrukturalismus wie beispielsweise Derrida mit dem Begriff der „différance“ und seiner Kritik an Heideggers abendländischen Dichotomien, Deleuze mit seiner antihegelschen Neuausrichtung des Begriffs in Differenz und Wiederholung oder der kritischen Theorie der Frankfurter Schule wie Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung das Prinzip der Dialektik und Differenz ausführlich analysiert und größtenteils dekonstruiert haben. Diese Fäden greifen seit Langem postkoloniale, queere und feministische Autorinnen auf – wie beispielsweise Homi K. Bhaba, Gayatri Chakravorty Spivak und von Braun – und entwickeln sie weiter. Unbestreitbar hat die künstlerische Theaterpraxis beginnend mit der Avantgarde über das Tanztheater bis hin zum postdramatischen und postmigrantischen Theater dieses Ansinnen ebenso praktiziert. Auf den nächsten Seiten werden die Erkenntnisse dieser Projekte und Untersuchungen gebündelt und dahingehend ausgewertet, auf welche Art und Weise sie für gegenwärtige Herausforderungen der Darstellung und Verhandlung kultureller Vielfalt richtungsweisend sind. Es ist jedoch erstaunlich, dass sich trotz der lange etablierten kritischen, poststrukturalistischen und postkolonialen Theorie die koloniale Strategie der dichotomen Differenzierung immer noch sowohl in der Wissenschaft als auch auf der Bühne behaupten kann. Wie oben gesehen stellen selbst Produktionen des postmigrantischen Theaters, das sich bewusst in eine postkoloniale Tradition stellt, oftmals eine Ästhetik her, die sich an der kolonial-bürgerlichen Theaternorm orientiert. Hier steht jedoch nicht mehr der Prototyp des europäischen Theaters – „Weiß, Männlich, Hetero“ (HAU) – im Zentrum des Geschehens, sondern Stereotypen mit Migrationsgeschichte. Diese Art von Dekonstruktion, die sich in einer „Umbesetzung“ gemäß eines umgedrehten (neo)kolonialen Schwarz-Weiß-Musters äußert, knüpft an die Tradition der Dramatiker der ersten Generation im postkolonialen Afrika wie Julius Nyerere oder Ola Rotimi an, die in ihren dramatischen Texten griechische Tragödien adaptieren und die Grundstruktur dieser übernommen haben. Das Berliner Gorki Theater weist jedoch eine weitaus breitere Palette an Dekonstruktionstechniken auf, die nicht am Bühnenrand –

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das unterscheidet sie von vielen früheren postmodernen und postdramatischen Praktiken – haltmachen. Mit Blick auf die letzten Jahre spricht das Theaterhaus nicht nur ein Publikum mit Migrationsgeschichte an und entwickelt einen Stückekanon, der dessen spezifische Traditionen, Fragen und Erfahrungen verhandelt. Vielmehr hat sich aus dieser neuen Fokussetzung ein Bestreben herauskristallisiert, die Festen des kolonialbürgerlichen Theaters grundsätzlich ins Wanken zu bringen und etablierte Strukturen wie die Trennung von Bühne und Zuschauerraum, Darstellungspraktiken, Sehgewohnheiten, Texte und deren jeweiligen Diskurshoheiten und Hierarchien zu dekonstruieren. Als Beispiel par excellence für dieses Vorhaben mag die Produktion In unserem Namen gelten, die Jelineks Schutzbefohlene adaptiert und ergänzt und 2015 am Gorki Theater ihre Premiere feierte: Für die Aufführung werden alle Sitzreihen im geschichtsträchtigen Theatersaal entfernt.161 Der so entstandene freie Raum – das Parkett – wird nun als Aufführungsort genutzt. Am ehemaligen Bühnenrand ist eine Sitztreppe angebracht. Die dort verweilenden Zuschauer*innen gucken auf den Publikumsraum, die anderen sitzen oder stehen an dessen übrigen drei Wänden oder auch mittendrin. Sie müssen sich jedoch vor springenden und laufenden Schauspielern in Acht nehmen, denn diese agieren mitten unter ihnen. Die üblichen Sitz- und Sehgewohnheiten der Zuschauenden werden so aufgebrochen und neue Sicht- und Wahrnehmungsachsen geschaffen. Ähnliches geschieht mit Jelineks Text. Die Inszenierung unterbricht und erweitert ihn collagenhaft um Passagen einer Anhörung des deutschen Bundestages zum Thema Bleiberecht.162 Für die Darstellerinnen mit unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Hintergründen stellten sowohl die Jelinek’sche Text- als auch die deutsche Verwaltungssprache eine Herausforderung dar: Der Probenprozess war stark geprägt vom Vorgang des Übersetzens: Die Beteiligten übersetzten sich gegenseitig Jelinek und Aischylos in und aus verschiedenen Sprachen, sie bemühten sich, die juristische Fachsprache zu verstehen. Die Übertragungsvorgänge zwischen verschiedenen Sprachen und Erfahrungen, zwischen Politik und Wirklichkeit wurden zum zentralen Anliegen der Arbeit – mit jedem weiteren Versuch des Verstehens und sich verständlich Machens wurde das Dilemma der Distanz zur gesprochenen Sprache offensichtlicher.163 Nicht nur während der Proben, auch auf der Bühne wurde der diskursive Befragungsprozess fortgesetzt, gegen Ende auch das Publikum miteinbezogen, indem gleich dem Konzept „World Café“ jede Schauspiele-

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rin und jeder Schauspieler einen der vielen Verweise und Themen des Stücks vor kleinen Publikumsgruppen vorstellte und zur gemeinsamen Diskussion einlud. Die komplexen Mythen- und Kulturschichten des Jelinek’schen Textes wurden befragt und dessen ästhetische Eigenständigkeit zugunsten eines gemeinsamen Verstehens und Gestaltens aufgehoben. Diese Schlussszene ‚vereinigte‘ Zuschauer und Darsteller aus unterschiedlichen kulturellen Gruppen – ausländische Gäste, Asylsuchende, Geflüchtete, Deutsche mit und ohne Migrationsgeschichte – in ihrem „Nichtwissen“ und dem gemeinsamen Versuch, die vielfältigen Kulturtexte, jedoch auch die komplizierte Auslegung des deutschen Bleiberechts zumindest teilweise zu verstehen.164 Ein jeder ist nicht nur Teil dieses gemeinsamen Diskurses des Fragens, sondern wird ebenso in das Spektakel der leiblich-wahrnehmbaren aisthetis hineingezogen. Die Bühnenhandlung bricht leibhaftig in den Publikumsraum hinein. Oft müssen sich Zuschauende zur Seite bewegen, weil sie im Weg stehen, oder werden an den Rand gedrängt, weil beispielsweise ein Mikro wie ein Lasso mitten durch den Raum geschwungen wird. Das Publikum wird nicht nur zu einer philosophisch-inhaltlichen Auseinandersetzung – also auf der Ebene der Ästhetik im Sinne eines Denkraums –, sondern ebenso ganz offensichtlich auf der Ebene der physischen Wahrnehmung der Ästhetik im Sinne der aisthesis gedrängt. In der Aufführung werden so mehrere gängige Strukturen und deren Hierarchien dekonstruiert. Einmal wird die Autonomie des Kunstwerks gebrochen, indem das Stück bewusst „zerpflückt“ und inhaltlich befragt und das Publikum in diesen Prozess mit einbezogen wird. Zum anderen wird die Expertensprache aus der Anhörung des Bundestages kritisch „zerlegt“ und die Interpretationshoheit über das Stück selbst, die meist nur regelmäßigen Theaterbesuchern, Wissenschaftlerinnen und Kritikern obliegt, an alle Teilnehmenden übertragen: Sie haben im letzten Teil des Stücks die Möglichkeit, Fragen zu stellen, Interpretationen darzulegen, Impulse zu geben. Im Vergleich mit den Inszenierungen von den Schutzbefohlenen in Hamburg und den Schutzlosen in Gera fällt auch auf, dass In unserem Namen keinerlei dichotome Differenz heraufbeschwört. Obwohl das Stück die Situation von Geflüchteten in Europa thematisiert und die Differenz zwischen Menschen mit und ohne Fluchtgeschichte schon in dieser Ausgangssituation unweigerlich an die Pforte klopft, gelingt es der Inszenierung, weder eine stete Differenz zwischen Darstellern und Zuschauern, noch zwischen geflüchteten und nicht geflüchteten Menschen zu konstruieren. Jelineks Text ähnlich verschwimmen die Grenzen zwischen „Wir“ und den „Anderen“, denn ein jeder kommt immer

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wieder in die Situation des „Wir“ und des „Anderen“, der Verstehenden und der Nicht-Verstehenden, werden ins Zentrum des Geschehens hineingesogen oder an den Rand gedrängt. Ein jeder ist mal Zuhörer, dann Fragender oder auch Erzählender. Oft rätseln die Zuschauenden, ob ihr Nachbar ebenso wie sie Teil des Publikums oder eine Darstellerin ist. Das Stück durchziehen vielerlei Momente von Differenzerfahrungen auf den unterschiedlichsten Ebenen, sodass Dichotomisierungen, die ganze Gruppen oder kulturelle Hintergründe einander binär gegenüberstellen, keine Chance haben. Das Ansinnen von In unserem Namen erinnert an die performativen Konzepte beziehungsweise Techniken von Liminalität, Überschreitung und Asymmetrie, welche im ersten Kapitel anhand der Inszenierungen Orpheus in der Oberwelt von andcompany&Co. und Die Vreemdeling vom Magnet Theatre vorgestellt wurden. Ähnlich der Orpheus-Inszenierung überwindet In unserem Namen Grenzen zwischen dem ästhetischen Denkraum der philosophischen Vortragsweise und der autonomen Wahrnehmungsästhetik des Bühnengeschehens (aisthetis), jedoch geht die liminale Strategie über das Bühnengeschehen und der Einzelerfahrung des Zuschauenden im Publikumsraum hinaus. Die Grenzüberschreitung weitet sich auf den Theaterraum, den Text, die Inszenierung als autonomes Werk, der Profis vor und hinter der Bühne und die Positionen des Publikums, demnach auf die gesamte gängige ästhetische Verfahrensweise des europäisch-bürgerlichen Theaters aus. Obwohl Die Vreemdeling ähnlich wie Orpheus in der Oberwelt die klassische Theatersituation der Inszenierung nicht aufbricht, rüttelt es ebenso an den Grundfesten kolonial-bürgerlichen Theaters. Ähnlich wie In unserem Namen kreiert es einen Raum, in welchem konventionelle Mechanismen der Differenz zwischen dem Wir und den Anderen gestört werden. Im ersten Kapitel konnte hervorgehoben werden, dass sich bei den Besuchern von Die Vreemdeling das Gefühl von Fremdheit im Theater der burischen Mittelschicht der kleinen Städtchen im Nordwesten Südafrikas, in denen das Stück aufgeführt wurde, mit dem Gefühl der Fremdheit gegenüber den Kultur- und Kunstpraktiken der Migrantinnen und Migranten, welche die Inszenierung thematisierte, überlagerte. Interessanterweise haben die Besuchergruppen mit burischer Geschichte häufig kaum noch Bezüge zu dem Theater, obwohl dieses traditionell als Symbol par excellence ihrer europäischen Herkunft fungiert. So stellt der Regisseur der Inszenierung Mark Fleishman fest: In Die Vreemdeling, it is the performance even itself, in its mobile and migrant form, which produces the ‚stranger encounter‘. Some-

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thing unfamiliar – the theatre – appears in a space that is familiar but this space is then reconfigured as somewhere strange, a playful space of fantasy and fable.165 Indem sich nun die Fremdheitsgefühle gegenüber dem vermeintlich Anderen mit den Fremdheitsgefühlen gegenüber dem vermeintlich Eigenen vermischen, entlarvt sich der Imaginationscharakter des Fremden. Fleishman argumentiert weiter mit Rückgriff auf Sarah Ahmeds The Cultural Politics of Emotion,166 dass in dieser Verkettung ersichtlich wird, dass der „Fremde“ erst in dem Moment konstruiert wird, indem er oder sie als Fremder wahrgenommen wird. Die Existenz des „Fremden“ ist ähnlich der Hegel’schen Konstruktion des Anderen einzig eine Konstruktion des Eigenen, das sich mithilfe dieser Imagination des Fremden von diesem absondern will, um sich als Subjekt zu identifizieren.167 Diese Absurdität, dass der Fremde eigentlich nur mithilfe des beziehungsweise im eigenen Ich existiert, wird, so Fleishman, in der Inszenierung erfahrbar: In the play the figure of the stranger is ambiguous. It is unclear whether the stranger exists at all or is simply a construct of community’s imagination, so that when they turn on the stranger they are in fact turning on themselves. What this suggests is that there is no stranger until the stranger is produced by the community, through an embodied encounter with the self or with the ‚other‘, if the other exist at all.168 Die Dekonstruktion der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden beziehungsweise die Frage, wie diese Differenz überhaupt geschaffen wird, überlagert sich in der Inszenierung mit dem Verschwimmen der als fremd wahrgenommenen Ästhetik ungewohnter „fremder“ Kulturen mit dem Gefühl des ungewohnten Erlebens einer vermeintlich eigenen Kulturpraxis, dem klassischen Theater und dessen ästhetischen Raum. Theater scheint sich also besonders dafür zu eignen, einerseits ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu erschaffen und andererseits eine Strategie zu betreiben, bestimmte gesellschaftliche Gruppen gezielt außen vor zu lassen und diesen ein Gefühl des Nichtdazugehörens oder „Fremdelns“ zu vermitteln. Auch das äußert sich in den Zuschauerreaktion von Die Vreemdeling: Ästhetische Wahrnehmung ist nicht nur eine Frage von nationaler oder kultureller Zugehörigkeit, sondern auch eine Frage der gesellschaftlich-sozialen Herkunft. Die Vreemdeling offenbart so einen Umstand, der nahezu in allen Kontexten des Theaters bürgerlich-kolonialer Tradition zu finden ist.

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Nur ein verschwindend kleiner Anteil der Gesellschaft besucht Theateraufführungen. Dies gilt ebenso für den deutschsprachigen Kontext. So zeigt Birgit Mandel, dass die Schwelle zum Theatergebäude für viele gesellschaftlichen Gruppen heutzutage immer noch eine Hürde darstellt: „Das Image von Theatern als Ort der Hochkultur gilt als nicht passend für die eigene peer group. Es besteht die Sorge, die Rituale dieses Ortes nicht zu kennen, die Inszenierung nicht zu verstehen und sich zu langweilen.“169 Unter Berufung auf das „Interkulturbarometer“ betont sie zudem, dass die soziale Herkunft für den Besuch beziehungsweise das Fernbleiben von Kultureinrichtungen entscheidender ist als die ethnische, zeigt jedoch auch, dass die Schwelle von klassischen Kultureinrichtungen für Gruppen mit Migrationsgeschichte besonders hoch ist: „Allerdings liegen die jeweiligen Besucheranteile der klassischen Kultureinrichtungen, anders als die privatwirtschaftlichen, unterhaltungsorientierten Kunstformen, bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund um etwa zehn bis 20 Prozent unter denen der deutschstämmigen Bevölkerung.“170 Hier zeigt sich abermals, wie sehr das klassische Bildungsbürgertum samt seiner Diskurse und Wahrnehmungsvorlieben das „Hochkultur“Theater nicht nur prägen, sondern ebenso Ausschlusskriterien gegenüber anderen ethnischen und sozialen Gruppen schafft. Das, was auf der Bühne abgebildet und verhandelt wird, scheint nur diesen kleinen Teil der Gesellschaft zu repräsentieren. Allerdings ist die Distanz zum Theater der jeweiligen ausgeschlossenen Gruppierungen unterschiedlich hoch. Mandels Hinweis, dass sich die höchste Hürde im deutschen Kontext für gesellschaftliche Schichten mit Migrationsgeschichte stellt, rückt die Inszenierung von In unserem Namen in ein besonderes Licht. Aus diesem Blickwinkel beleuchtet, kritisiert die Inszenierung die Dominanz der spezifisch bildungsbürgerlichen Ausrichtung des Theaters auf mehreren Ebenen: Die komplexe Sprache des Jelinek-Textes ist für viele Nicht-Muttersprachler schwer verständlich, ebenso können die vielen mythologischen Verweise nicht entschlüsselt werden. Jelinek adressiert ganz eindeutig ein deutschsprachiges Bildungsbürgertum. Die Fachsprache der zitierten Anhörung im Bundestag richtet sich gleichsam an Expert*innen deutschen Rechts und lässt die Betroffenen außen vor. Diese sprachlichen Hürden werden jedoch auf die gesamte Inszenierung übertragen und klassische Rituale des europäischen Theaters dekonstruiert. Wie beschrieben, sind die üblichen Sitz- und Sehgewohnheiten des Publikums, das stille Beobachten im verdunkelten Raum, die Guckkastenbühne samt dessen autonomer Handlungen nicht mehr vorhanden und somit die entscheidenden Grundpfeiler ästhetischer Wahr-

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nehmung im klassischen Theater umgestoßen. Die von Mandel beschriebene „Sorge, die Rituale dieses Ortes nicht zu kennen“ wird so auf das gesamte Publikum (mit und ohne Migrationsgeschichte) übertragen. Zugegeben, eine derartig gestrickte Dekonstruktion stellt das ästhetische Erleben des traditionellen Theaterpublikums auf den Kopf. Schaffte Verrücktes Blut jede Menge Anknüpfungspunkte an die Gewohnheiten der Berliner Theatergemeinde, so kam es hier sicherlich zu so manchen Enttäuschungen. Ich selbst freute mich auf das Erleben der Jelinek’schen Sprache, was mir aber nur in kurzen Sequenzen zuteil und von Diskussionen unterbrochen wurde, deren Sprache ich oftmals nicht verstand und die mich theaterästhetisch nicht sehr in den Bann zogen. Ebenso entsprach der Zuschauermodus, durch das Parkett gehetzt zu werden, beileibe nicht meinen Erwartungen an Theater, mir Raum zu geben, mich „geistig“ auf das Stück so weit einzulassen, dass ich mich, entspannt im Theatersessel sitzend, ganz ins Bühnengeschehen vertiefen kann und mal für ein, zwei Stunden nicht sprechen oder sofort auf etwas reagieren muss. Was unterscheidet dieses Theater, mag man fragen, von einer gewöhnlichen Kundgebung oder Diskussionsveranstaltung? An diesem Punkt wird gleichsam sichtbar, wie es der Produktion gelingt, westlich geprägtes Theater zu dekonstruieren und danach zu fragen, für wen es relevant ist und für wen es relevant werden könnte. In unserem Namen stellt im Großen die Grundsatzfrage postkolonialer Überlegungen: Wie könnte Theater für eine Gesellschaft der kulturellen Vielfalt aussehen? Diese Frage ruft unweigerlich den Begriff der Ästhetik aufs Parkett. Die äußerst komplexen Konstruktionen und Vorstellungen von Ästhetik und aisthesis – des Denkens, Verhandelns, Fühlens und Wahrnehmens – sind eng mit dem Theater und seinen westlichabendländischen Kodierungen verbunden. Obwohl es immer wieder Gegenbewegungen innerhalb der Ästhetik gab, wie es die Denkfigur der Asymmetrie des Ästhetischen (Reschke) oder die Wirkungsästhetik der Avantgarde (Warstat) offenbaren, stellt In unserem Namen offenkundig die Frage, wie weit solche Gegenbewegungen getrieben werden müssen, damit sich das Theater heutigen Herausforderungen kultureller Vielfalt stellen kann. In postkolonialer Zeit haben sich bereits verschiedene künstlerische und wissenschaftliche Arbeiten mit dieser Frage beschäftigt. Wie kann sich Theater und seine Formen wandeln, um nicht allein die Themen und Muster der westlichen Welt zu präsentieren, sondern sich auch den kulturellen Herausforderungen der Gegenwart stellen und für ein breiteres Spektrum divers-kultureller Gesellschaften interessant werden zu

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können? In unserem Namen fordert hierbei eine grundsätzliche Befragung und Dekonstruktion von Ästhetik: Kann sie heutzutage ein sinnvolles Repertoire bieten oder erweitert werden, um den Forderungen nach einem transkulturellen, Koloniales überwindenden Theater gerecht zu werden? Im postkolonialen Diskurs wurden diese Fragen immer wieder gestellt, jedoch sind sie, das deuten Stücke wie In unserem Namen an, noch nicht hinlänglich beantwortet worden beziehungsweise haben sie das Theaterschaffen in unseren Breitengraden nur teilweise erreicht. Auf den nächsten Seiten werden für die Beantwortung der Fragen von Verhandlung kultureller Vielfalt weiterführende Überlegungen postkolonialer Art vorgestellt, miteinander in Beziehung gesetzt und daraufhin beleuchtet, welche blinden Flecken beziehungsweise (neo)kolonialen Muster eventuell auch hier zutage treten. Auf welche Art und Weise kann die postkoloniale Kritik sinnvoll weitergeführt werden? Welche Rolle kann hier die Ästhetik samt ihrer asymmetrischen und liminalen Momente spielen?

Postkolonial-transkulturelle Vorbotin? Die Fiebach’sche Theatralität Eine der ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die verschiedene Theaterkulturen auf neue Art und Weise vergleicht, ist Joachim Fiebachs Die Toten als die Macht der Lebenden, das 1980 im Ostberliner Hentschel-Verlag erschien. Wie schon an anderer Stelle in „Die wiederentdeckte Theatralität: Eine Rückbesinnung auf die Toten als die Macht der Lebenden“171 argumentiert, verknüpft Fiebach afrikanisches und europäisches Kunstschaffen, ohne dass ein System das andere dominiert. Er agiert so auf eine äußerst postkoloniale Weise, ohne dies selbst so zu benennen oder sich zu verorten. Um diese Besonderheit in Fiebachs Arbeiten zu verdeutlichen und das Potenzial des Theatralitätskonzepts für Verhandlungen von Vielfalt im und durch Theater abzuleiten, lohnt ein erneuter Blick auf sein Werk. Auch Jörg Bochow sieht in Die Toten als die Macht der Lebenden eine wichtige theoretische Grundlage für Fiebachs Verständnis von Theatralität: Der Kern der Fiebach’schen Theatertheorie aber erschien früher und gleichsam versteckt in seinen Texten über das Theater in Afrika, gebündelt in Die Toten als die Macht der Lebenden. Zur Theorie und Geschichte von Theater in Afrika. Darin gibt es so an die vierzig dichte Seiten, die eine Theorie historischer Theatralität ausmachen,

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wie sie überraschender kaum sein konnte. Aus dem Beobachten theatraler Prozesse in afrikanischen Ritualen, Spielen und politischen Interaktionen wirft Fiebach den Ball zurück, spiegelt das europäische Theaterverständnis im Geschauten und wird fortan immer mit diesem gewendeten Blick agieren.172 Tatsächlich setzen sich Die Toten auf eine Art und Weise mit Theatralität und Theater auseinander, die der Komplexität afrikanischer Theater und deren Kunstfertigkeiten wie kein anderes wissenschaftliches Werk begegnen und gesellschaftlich verorten.173 So führt Mineke Schipper aus, wie in Die Toten Theatralität in präkolonialen Gesellschaften eine komplexe Rolle spielt: He analyzes how and why communication of different segments of life in precolonial society was structured in theatrical and symbolical ways, in other words, why nonartistic theater had such an essential function that it was often performed as of vital importance. Of course, this idea has been presented by a number of scholars before him, but mostly from an anthropological perspective and rarely in such a coherent and systematic way. Fiebach as a theatre specialist discusses theatrical behavior as such in social and cultural communication, on the one hand, and its relations with the whole of artistic theatre, on the other hand, putting them in their concrete historical contexts and presenting their mutual and constant links in sub-Saharan Africa.174 Die Toten waren ihrer Zeit weit voraus, indem sie verschiedene performative Phänomene afrikanischer und europäischer Provenienz auf Augenhöhe miteinander verhandelten, was den jeweiligen Kunstformen auf gar transkulturelle Weise neue Bedeutungsebenen bescherte, wie im Fall der Trickster und Clowns: Parodierende Doppelgänger, die das Lächerliche der hohen offiziellen Wesen aufdecken und dabei selbst Gegenstände des Lachens werden, zerstörerisch-schöpferische Clowns und Trickster sind nicht nur hervorragende Elemente afrikanischer Tradition. Sie waren, in unterschiedlichen Formen gewiss, wesentlich für europäische Kulturen bis zum 16. Jahrhundert, und sie blieben als diskriminierte, verfolgte und schließlich in Subkulturen abgedrängte Phänomene bis ins 18. Jahrhundert sehr wirksam. Radin vergleicht Trickstergestalten mit denen Rabelais’.175

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Auch in späteren Aufsätzen verknüpft Fiebach Theaterphänomene unterschiedlicher Epochen und Kulturen mit seinem Konzept von „übergreifender Theatralität“: Given the fundamental structural characteristics of the vast range of aesthetically dominated theater forms, „theatricality“ should be taken, and consequently used, as a concept that relates to virtually any type of socially communicative, constructed („dramatized“) movements and attitudes of one or more bodies and/or their audiovisual „replicants“ – or their representations, such as masks or technologically objectified images. They have the potential to become semantically charged practices-symbolic actions – and in most cases they do actualize this potential. As communicative, ostended practices, they address someone else or a „public,“ either deliberately or inadvertently. Thus a practically infinite number of such phenomena can be considered theatrical.176 Fiebach begründet seine Fokussierung auf Theatralität mit seiner persönlichen Erfahrungsgeschichte als Theaterwissenschaftler. Hauptgrund ist sein Bestreben, die seines Erachtens bis in die 1960er Jahre hinein vorherrschende Meinung, dass das europäische weltweit das „höchst entwickelte“ Theater sei, zu durchkreuzen. So betont er, dass einerseits die Theater der Avantgarde von Craig bis zu Brecht verschiedene neue Konzepte von Theater erschufen, die über das klassische Theater hinausgingen, andererseits auch die junge Theatergeneration der 1960er neue Wege für ihr Schaffen suchte. Den dritten Impuls – und das macht sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal für Fiebachs Bedeutung im diversitätskulturellen Diskurs aus – erhielt er aus seinen Forschungen in Ostafrika in den 1960ern und 1970ern. Hieraus entwickelt er sein Konzept von Theatralität, das praktisch in jeder Gesellschaft als kulturpolitische Ausdrucksebene gelesen werden kann, in welcher sich Machtstrukturen offenbaren, selbstverständlich nur dann, wenn die Phänomene in dem jeweiligen kulturellen Kontext kritisch reflektiert werden: Pertinent studies should focus on historically significant cases of theatricality and thus address issues that are important to a critical understanding of cultural and sociopolitical realities, past and present. I cannot expand here on the problem that any approach to societal phenomena is to a greater or lesser degree socio-politically interest-governed, and directed by a specific worldview, philosophy, and value system.…] I can only point to my own philosophical inte-

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rest – the critical analysis of those cases of theatricality that are instrumental in maintaining power structures and blatant social disparities, on the one hand, and, on the other, attempts at resisting, subverting, and, perhaps, altering those realities.177 Die postkoloniale – das heißt, koloniale Wissensgenerierung überwindende – Gestik äußert sich in Fiebachs Ansinnen, dass zum einen Theatralität in jeder Gesellschaft und jeder Kultur zu finden ist, und zum anderen, dass deren Komplexität meist nur in der jeweiligen sorgfältigen kulturellen Kontextualisierung möglich ist. Auf diese Art und Weise begegnen sich unterschiedliche Kulturen hinsichtlich ihrer Theatralität auf Augenhöhe, was als entscheidendes Grundmotiv für postkoloniales Denken gelten kann. Es wird später noch zu fragen sein, ob es sinnvoll erscheint, Fiebachs Konzept, das ja sehr weite Bereiche der Gesellschaften auch jenseits bewusst künstlerisch definierter Praktiken einschließt, auf Theaterformen, die im Kontext dieser Untersuchung betrachtet werden, anzuwenden. Grundsätzlich erscheint der Gestus des genauen Beobachtens, des offenen-assoziierenden Vergleichens und eben nicht des starren Kategorisierens, was Fiebachs Forschungen und die Herausbildung seines Konzepts von Theatralität ausmacht, als eine hinsichtlich der Betrachtung kultureller Vielfalt richtungsweisende Methodik. Zudem betonen Fiebachs Arbeiten, dass ein zunächst abendländisch-konnotiertes Konzept wie Theatralität durchaus von nicht-westlichen Kulturkontexten her erschlossen werden kann. So verdeutlicht er, dass sich viele Ebenen europäischer Kunstformen wie die Commedia dell’arte erst durch eine Kontextualisierung mit afrikanischen Kulturtraditionen, wie zum Beispiel der Yoruba, sichtbar werden. Obligatorisch hierfür ist der stete Versuch, die eigenen westlichen Kunstkategorien nicht von vornherein als Rasterschablone festzulegen, sondern einen Fokus aus dem Verständnis anderer Traditionen zu entwickeln, was zweifelsohne auch nicht frei von Vorurteilen, Pauschalisierungen und Stereotypierungen ist, jedoch einen offeneren Blick auf das Untersuchungsfeld ermöglicht. Trotz Fiebachs Rückgriff auf vielerlei ethnologische Untersuchungen, von deren eurozentrisch-universellen Perspektive auch seine Forschung nicht immer frei ist, tritt eine gewisse Offenheit seiner Methode im Vergleich mit späteren postkolonialen Theatertheorien westlicher Provenienz zutage. So scheint sich der postkoloniale Theaterdiskurs in westlichen Akademien zunächst darauf zu konzentrieren, die Dekolonisation im Theaterschaffen an sich zu beobachten und zu analysieren, jedoch weniger die eigenen Konzepte und Kategorien einer kritischen Reflexion zu

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unterziehen, obwohl Rustom Bharucha bereits zu Beginn der 1990er Jahre in Theatre and the World: Performance and the Politics of Culture178 auf die kolonialen Gefahren postkolonialen Theaterschaffens hinweist und vor diesen innerhalb der theoretischen Auseinandersetzung warnt.

Universalitätsansprüche postkolonialer Theorie Bharuchas Kritik am interkulturellen Theater, das mit Regisseuren wie Peter Brook und Ariane Mnouchkine in den 1970er Jahren einen regelrechten Aufschwung erfuhr, erscheint im Rückblick als eine der entscheidenden Publikationen, die zu einer zwar langsamen, doch mit den Jahren spürbar wachsenden postkolonialen Reflexion im Theaterbereich führten. Theatre in the World: Performance of Politics of Culture ist eines der ersten Werke, in welchem sich eine postkoloniale Kritik innerhalb internationalen Theaterschaffens richtungsweisend offenbart. Bharucha kritisiert in erster Linie die westlich-abendländische Dominanz in interkulturellen beziehungsweise internationalen Theaterproduktionen: If interculturalism in the theatre is to be more than a vision, there has to be a fairer exchange between theatrical traditions in the East and the West. At the moment, it is westerners who have initiated (and controlled) the exchange. It is they who have come to countries like India and taken its rituals and techniques (either through photographs, documentation, or actual borrowings). The sheer poverty, if not destitution, of most performers in India clearly minimizes their possibilities of travelling to the West. Only a few Indian gurus and dancers have had opportunity to visit European and American countries for lecture-demonstrations and classes.179 Neben diesen ungleichen primär strukturellen Ausgangspositionen zeigt er, inwieweit international arbeitende und angesehene Theaterakteure indische Performances und Kulturtraditionen vordergründig für ihre Zwecke nutzen und so deren Bedeutungen und Kontexte verfälsch(t)en: Gordon Craig, Richard Schechner und Jerzy Grotowski eint nach Ansicht Bharuchas, dass ihr Verständnis von Interkulturalität sich aus einer rein euronordamerikanischen Perspektive konstituiert, welche nicht-nordamerikanisch-europäische Diskurse und Praktiken unterordnet: Schechner claims that he is attempting to locate the particulars of Indian, Japanese, South East Asian, native American, and Euro-

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American performance, within a single performance theory. Perhaps it would be more fruitful for us to know something of substance about the diverse traditions of Indian theatre functioning within states as varied as Kerala, Manipur and Maharaslitra, before speculating about the intercultural possibilities of ‚the Indian theatre‘.180 Tatsächlich erinnert Schechners „single performance theory“ unweigerlich an Claude Lévi-Strauss’ Forderung eines „universellen Gesetzes“, an welcher von Braun das Bestreben des Abendlandes, andere Kulturen der eigenen symbolischen Ordnung unterzuordnen, verdeutlichte.181 Doch neben der Kritik an westlichen wird auch eine Kritik an indischen Akteuren laut. Eine internationale Orientierung kann, so Bharucha, nur dann wertvoll sein, wenn die indische Szene auf ein Wissensfundament der eigenen Traditionen bauen kann. Die postkoloniale Kritik betont trotz unterschiedlicher Strömungen und Schwerpunksetzungen nachdrücklich den Verlust an Wissen und Praktiken präkolonialer Kulturen. Folgerichtig konzentrierte sich der postkoloniale Diskurs in erster Linie auf die Sichtbarmachung und Rekonstruktion dieser vom Kolonialsystem systematisch verdrängten, degradierten und negierten Traditionen und weniger auf die Rahmenbedingungen dieser Vorhaben, dessen kolonial-westlicher Grundgestus meist nicht thematisiert, geschweige denn kritisch reflektiert wurde. Christopher Balme schlägt in seiner Habilitationsschrift einen ähnlichen Weg wie Bharucha ein.182 Er kritisiert ebenfalls die dichotomisierenden und exotisierenden Felder des Verständnisses von Interkulturalität der 1980er und frühen 1990er und versucht, sie in seiner eigenen Analyse zu umschiffen: Der grundlegende Unterschied des hier untersuchten synkretischen Theaters zum westlichen interkulturellen Theater besteht darin, dass bei der synkretischen Vermischung verschiedener kultureller Elemente nicht das Fremde im Mittelpunkt steht, sondern die Theatralisierung des eigenen Kulturmaterials. Das interkulturelle Theater westlicher Prägung lebt von einer Dialektik von Fremdem und Eigenem, und daher sind auch die seriösesten Experimente eines Peter Brook oder einer Ariane Mnouchkine vom Geruch des Theatersynkretismus nie gänzlich frei. Beim synkretischen Theater ist der Ausgangspunkt ein anderer. Die Exponenten dieser Theaterform arbeiten auf der Grundlage einer durch die Kolonialerfahrung geschaffenen Situation der Bi- oder sogar Multikulturalität. […] Die Aufgabe für diese Theaterkünstler besteht nicht darin, andere Kultu-

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ren auf der Bühne darzustellen, für sie geht es eher um eine Auseinandersetzung mit der Theaterform selbst.183 Mit Rückgriff auf den Begriff Synkretismus entwickelt Balme ein Konzept, welches komplexe postkoloniale Theaterformen und deren diverse Performancetraditionen fassen kann, ohne dabei der dichotomen Polarität aus kolonialen Zeiten anheim zu fallen: Theatersynkretismus im heutigen Verständnis setzt daher eine Sichtund Gestaltungsweise voraus, die kulturelle Dichotomien überbrückt. Beide Traditionen werden darin, frei von ästhetischen Hierarchien und präskriptiv-normativen Regeln, als gleichwertiges Rohmaterial betrachtet, aus dem neue Werke entstehen können.184 Fast zur gleichen Zeit veröffentlichten Helen Gilbert und Joanne Tompkins Mitte der 1990er Jahre ihr Post-Colonial Drama: Theory, Practice, Politics, in welchem sie ebenfalls der Aufdeckung, Entlarvung, Betonung oder Aufhebung kolonialer Machtstrukturen und Subtexte in postkolonialen Theaterproduktionen nachgehen: To this end, we are particularly concerned with the intersection of dramatic theory with theories of race in post-colonial contexts; in the varieties of feminisms, including many forms of third world feminism through which the gendered body can be described; in the body, the voice, and the stage space as sites of resistance to imperial hegemonies […].185 Tompkins und Gilbert kombinieren feministische, kultur-, literatur- und theaterwissenschaftliche Diskurse, um die Strategien des postkolonialen Theaters zu analysieren. Sie zeigen, auf welch perfide Art koloniale Machtstrukturen allein auf den unterschiedlichen Ebenen des Theaters wirksam sind. Ihre Untersuchung betont ebenfalls die politische Bedeutung des synkretistischen Theaters in postkolonialen Kulturen: „The syncretic combination of indigenous and colonial forms in the post-colonial world contributes to the decentring of the European ‚norm‘.“186 Doch mehr als 20 Jahre nach dem Erscheinen dieser Grundlagenwerke postkolonialer Theaterwissenschaft stellt sich die Frage, ob allein die Beobachtung und die Feststellung des Synkretistischen im postkolonialen Theater tatsächlich die kolonialen Strukturen aufheben kann und die europäische Norm jenseits des Zentrums rückt. Zunächst fällt in beiden Werken die globale, nahezu weltumfassende Spannbreite des Unter-

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suchungskorpus auf. Gemäß der Ausdehnung des ehemaligen britischen Imperiums betrachten Balme, Gilbert und Tompkins Theaterproduktionen in Ländern, die zeitweise zu den britischen Kolonien gehörten. Einerseits überzeugt der Ansatz, da er die weltweite Beeinträchtigung durch den britischen Kolonialismus aufdeckt, birgt aber andererseits die Gefahr, dass die diversen Kulturpraktiken aus präkolonialer Zeit unter diesem Fokus vereinfacht werden oder lokale Besonderheiten und Diskurse mit dem Analyseinstrumentarium – trotz des synkretistischen Ansatzes – aufgrund des global-imperialen Fokus nicht erschlossen werden. Bharuchas Kritik lässt sich nicht nur auf das interkulturelle Theaterschaffen, sondern auch auf die theoretische Auseinandersetzung mit Theater im postkolonialen Diskurs ausweiten. Zwangsläufig konnten die ersten Werke zu Beginn des postkolonialen Booms nicht eine Dekolonisierung auf beiden Ebenen betreiben, der Untersuchung an sich und ihrer theoretischen Metaebene, die gemäß westlicher Kategorien und Prinzipien konzipiert wird, weswegen heutzutage ein Rückblick auf diese frühen wichtigen Werke aufschlussreich erscheint. Der postkoloniale Diskurs jenseits des Theaters setzt sich seit den 1990er Jahren zunehmend mit dieser Ambivalenz auseinander. So wird den drei breit rezipierten Autoren Eduard W. Said, Gayatri Charkravorty Spivak und Homi K. Bhaba eine zu große Nähe zu marxistischen und/oder poststrukturalistischen Ansätzen vorgeworfen, denen allesamt in erster Linie ein eurozentrischer Gestus innewohnt, da sie sich insbesondere aus dem westlichen Diskurs nähren und sich auf dessen Klassen- und Subjektsysteme beziehen. Dabei favorisieren sie die Struktur der westlichen Akademie, was insbesondere die Dominanz poststrukturalistischer Ansätze verdeutlicht, so eine jüngere Studie von Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan: Die Privilegierung poststrukturalistischer Theorie innerhalb postkolonialer Studien und der damit einhergehende Ausschluss anderer theoretischer Herangehensweisen postkolonialer Kritik stellen ein weiteres Motiv anhaltender Kontroversen dar. Es ist, als existiere eine informelle Hierarchie postkolonialer Studien, bei der nur die zur Kenntnis genommen werden, die auf poststrukturalistischen Konzepten und Theorieelementen – seien sie in der Anwendung auch noch so eklektisch – aufbauen.187 Gleichwohl weisen die Autor*innen darauf hin, dass Bhaba, Said und Spivak stets die Problematik einer universell gültigen Theorie beziehungsweise dessen Deutungshoheit angesprochen haben. Andererseits

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wird in den zahlreichen unterschiedlichen Verweisen auf diese Grundlagenwerke postkolonialer Theorie deutlich, dass Spivaks „Subalterne“, Bhabas „Hybridität“ und „Dritter Raum“ sowie Saids „Orientalismus“ in den unterschiedlichsten Kontexten Anwendung finden. Nahezu jedes einschlägige Werk, das sich im weitesten Sinne mit interkulturellem Theaterschaffen beschäftigt, verweist auf einen der drei Autoren. Insbesondere Spivak sieht die Inanspruchnahme des Begriffs des „Subalternen“ für diverse Gruppierungen, die marginalisiert oder unterdrückt werden, kritisch, da so der spezifischen Situation der „subalternen“ Frau in Regionen des globalen Südens, deren besonders schwerwiegende Ausbeutung und imperiale Gewalterfahrung sie betont, durch eine Gleichsetzung mit anderen marginalisierten Gruppen „verwässert“ oder gar verharmlost werden kann.188 In den letzten Jahren häufen sich die kritischen Stimmen innerhalb des postkolonialen Diskurses, dass die hier generierte Theorie einen universalen Anspruch entfaltet, was jedoch nicht grundsätzlich die Absicht der postkolonialen Autoren ist und war, die meist spezifische kulturelle Gruppen und Orte analysieren. Allerdings werden diese Diskurse für Untersuchungen beispielsweise im Bereich der Feminismus-, Intersektionalität- und Queer-Studien herangezogen. Vor dem Hintergrund, dass das koloniale Degradierungsbestreben seinen Ursprung in der symbolischen Geschlechterordnung des christlichen Abendlandes hat, die – wie es in Kapitel 2 gezeigt wurde – auch andere Gruppierungen wie Frauen, Juden und Homosexuelle degradiert, sind diese Verknüpfungen durchaus aufschlussreich und lohnenswert. Mit Blick auf die Kritik an der Verwertung regionaler postkolonialer Überlegungen für diese Kontexte kann jedoch ein entscheidender Gefahrenpunkt solcher Unternehmungen abgeleitet werden. Dem Universalitätsanspruch der kolonialen symbolischen Ordnung kann nicht mit einer Theorie begegnet werden, die einen ebensolchen Anspruch für sich definiert. Zwar kann diese womöglich die Perfidität der Kolonisation aufdecken, jedoch an deren Grundmuster wie etwa dem Hang zur Dichotomisierung und Strukturierung nach abendländischen Kategorien beileibe wenig ändern. Der postkoloniale Diskurs selbst rekurriert zudem in seiner Struktur der Erkenntnis- und Ergebnisorientierung primär auf abendländische Muster der Theoriebildung, obwohl er diesen gleichzeitig kritisch gegenübersteht. So stellen do Mar Castro Varela und Dhawan fest, dass im postkolonialen Diskurs neben der poststrukturalistischen eine in erster Linie marxistische Erkenntnisweise angewendet wird:

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Theoretisch zeigt sich der Postkolonialismus vor allem stark durch marxistische und poststrukturalistische Ansätze beeinflusst. Während poststrukturalistische Herangehensweisen zur Kritik an westlichen Epistemologien und zur Theoretisierung einer eurozentrischen Gewalt beigetragen haben, schafft die marxistische Perspektive eine Basis für eine Kritik, welche die internationale Arbeitsteilung und die aktuellen Prozesse des Neokolonialismus und der Rekolonisierung in den Blick nimmt. Postkoloniale Theorie gilt als die kontinuierliche Verhandlung dieser beiden scheinbar gegensätzlichen Erkenntnismodi.189 Bemerkenswert ist zum einen, dass sich Vertreter beider Modi (zum Beispiel sowohl Lacan als auch der Neomarxismus) sich auf Hegels Philosophie beziehen, die, wie im zweiten Kapitel gezeigt, auch einen wichtigen Bezugspunkt sowohl in der kolonialen Subjektbildung als auch deren Dekolonisierung darstellt; zum anderen, dass beide Perspektiven, die marxistische und die poststrukturalistische, einen Universalitätsanspruch für sich behaupten. Abschließend stellt sich die Frage, ob wissenschaftliches Forschen und Arbeiten sich überhaupt dieser Tendenzen entledigen kann oder ob es nicht gerade auch Sinn und Zweck akademischen Denkens ist, universal nachvollziehbare Schlüsse und global orientierte Vergleiche zu ziehen. Solche Krux lässt sich wohl heutzutage kaum zufriedenstellend bewältigen, allerdings können Forschungs- und Analysemethoden in diesem Kontext kritisch und reflektiert eingesetzt werden, für dieses Bewusstsein hat der postkoloniale Diskurs auch im Kontext der Theater- und Kulturwissenschaften einiges bewirkt, was sich beispielsweise in der abnehmenden Bedeutung der Theatersemiotik zugunsten einer sozial-gesellschaftlichen Kontextualisierung niederschlägt, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Abschied von der Semiotik und Hinwendung zum sozial-gesellschaftlichen Kontext Aus heutiger Sicht ist eine der wichtigsten Errungenschaften der postkolonialen Kritik der Versuch, den universalen und tendenziell verallgemeinernden Gestus der westlichen Wissenschaft zugunsten einer kulturellen und regionalen Kontextualisierung in den Hintergrund zu stellen. So geriet innerhalb der Theaterwissenschaft die Semiotik in die Kritik, da ihre Verfahren zunächst von sehr homogenen Bedeutungsgefügen ausgehen, beziehungsweise die durchführenden der jeweiligen semioti-

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schen Analyse Zeichen, die sie nicht kennen, da sie beispielsweise einem anderen Kulturkanon entnommen sind, nicht oder falsch entziffern oder aber als „Fremdes“ exotisieren. Allerdings stellt Marvin Carlson in „Intercultural Theory, postcolonial theory, and semiotics: The road not (yet) taken“190 fest: Somewhat surprisingly, however, as theoretical interest in intercultural performance and subsequently in post-colonial performance grew, most theorists in working in these areas did not, like Case191 or Brewer192 within feminist studies, continue to acknowledge the debt their work owed to the semiotic enterprise, nor, even more seriously, was much attention given to how semiotics might be revisited to provide and important critical approach to these new areas of investigation.193 Dennoch haben Fischer-Lichte und Balme zwei Werke vorgelegt, welche explizit zum Ziel haben, semiotische Verfahrensweisen an die interkulturellen Herausforderungen anzupassen. Nach der Analyse interkultureller Arbeiten von Ariane Mnouchkine, Peter Brook, Tadashi Suzuki und Thed Hughes überarbeitet Erstere ihr in den 1980ern vorgelegtes Konzept des Theatralen Kodes, der bis dahin als ‚Masterkode‘ eine Inszenierung in Gänze fassen sollte und so auf ein sehr homogenes Zeichensystem rekurriert: In den interkulturellen Inszenierungen, die wir untersucht haben, bewirkt die Dialektik von Kode und Botschaft aufgrund der produktiven Rezeption von Elementen aus fremden Theatertraditionen Veränderungen des zugrunde liegenden theatralen Kodes, die wir als Erweiterung und Auflösung des Kodes sowie als Konstitution eines neuen klassifiziert haben.194 Gleichwohl hält sie hier noch daran fest, dass sich eine Inszenierung auf die Existenz beziehungsweise die Auflösung eines Kodes reduzieren lässt, bezieht sich also auf geschlossene und in gewisser Weise auch im Grundduktus homogene „klassische“ Theateraufführungen, was heutzutage – schon allein mit Blick auf die Eingangsbeispiele in diesem Kapitel – oftmals nicht der Fall ist. Balme dagegen nutzt die semiotische Verfahrensweise in seiner postkolonialen Studie weniger, um einen theatralen Kode herauszuarbeiten, sondern vielmehr, um einzelne Aspekte der Aufführungen beschreiben zu können:

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Dem Untersuchungsansatz lag eine semiotische Methodik zugrunde. Sie wurde gewählt, um eine möglichst neutrale Wissenschaftssprache zu garantieren. Bei aller zum Teil berechtigten Kritik an der Semiotik hinsichtlich ihrer Kategorisierungsexzesse hat sie doch ein Vokabular entwickelt, das wertneutrale Kulturvergleiche ermöglicht.195 Carlson greift diese Verfahrensweise auf. Er plädiert dafür, sich der semiotischen Verfahrensweise insbesondere im interkulturellen Kontext wieder anzunähern, damit unterschiedliche kulturelle Kontexte und Verweise benannt, verglichen und analysiert werden können: One of the things that makes semiotic analysis so potentially important for the study of modern intercultural analysis is that if it considers the entire process of sign usage, both its production and its interpretation, it can deal precisely and clearly with this sort of multiple, even contradictory signifying operation. […] The important thing now is not to arbitrarily limit the usefulness of this tool, as Balme’s approach threatens to do, but allow it the freedom to explore the highly intricate and challenging patterns of signification offered by the modern multicultural work, with its constantly shifting configurations of audience, artists, and cultural contexts.196 In Carlsons Forderung, nur einzelne Aspekte der postkolonialen, interkulturellen Inszenierungen zu entschlüsseln, äußert sich ähnlich wie in Balmes Ansatz ein entscheidendes postkoloniales Bestreben, die Mehrdeutigkeit und die je nach Verortung verschiedenen kulturellen Kodierungen einer Inszenierung aufzuzeigen. Diese Lesart geht zwangsläufig davon aus, dass die Singularität eines theatralischen Kodes eine Annahme ist, welche die mannigfaltigen Verweise auf der Bühne beschneidet. Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, ob überhaupt das System von Signifikat und Signifikant universell anwendbar – oder, wenn, dann nur in einer klassischen Theaterrahmung als theaterwissenschaftliches Analyseinstrument partiell einsetzbar ist. Bei der Betrachtung des Anfangsbeispiels dieses Kapitels, der Inszenierung In unserem Namen am Gorki Theater, wird die Suche nach Signifikaten schwer, da nicht deutlich wird, wer und was überhaupt die Darstellerinnen und Signifikanten sind. Mit Blick auf die südafrikanische Inszenierung Die Vreemdeling, wird ebenfalls ersichtlich, dass das entscheidende Wirkungsziel, das vermeintliche Gefühl gegenüber den „Fremden“ mit einer Fremdheitserfahrung gegenüber vermeintlich „eigener“ Kulturtraditionen zu überlagern, mit einem semiotischen Analyseverfahren nicht zu begreifen ist.197

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Die Herausforderung der zunehmenden kulturellen Vielfalt, mit welchem die Wissenschaft in Bezug auf Theaterschaffen mehr und mehr konfrontiert wird, lässt sich jedoch nicht allein mit der Frage, welches Analyseinstrumentarium sinnvoll einsetzbar ist, begegnen. Auch die Formen von Theater und deren Rahmungen haben sich in den letzten Jahren gewandelt. So geht der Band Theater als Intervention: Politiken Ästhetischer Praxis198 der Beobachtung nach, dass insbesondere sozialgesellschaftliche Wirkungsfelder und Versprechen das Theaterschaffen der hiesigen Kunstlandschaft verändern: International sind Theaterformen auf dem Vormarsch, die unter Begriffen wie social theatre, community theatre oder eben applied theatre einer sozialen, pädagogischen oder therapeutischen Agenda folgen. Projekte, die sich diesen wechselnden Etiketten zuordnen lassen, verändern in ihrer Massierung die globale Theaterlandschaft: Dort, wo vorher kommerzielle Theatersysteme dominiert haben, schaffen sie einen beträchtlichen Non-Profit-Sektor. Wo hingegen – wie in Deutschland – ein kunstaffines Stadt- und Staatstheater vorherrschend war oder noch ist, bedeuten die neuen Formen eine Herausforderung für das angestammte Autonomie-Ideal, weil sie von explizit definierten Zwecken ausgehen.199 Im Kapitel „Methoden“ dieses Bandes werden Hinweise formuliert, auf welche Art und Weise diese sozial-gesellschaftlich gerahmten Projekte aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive analysiert werden können. So wird vorgeschlagen, das klassische Methodendesign um diskursive, dispositivanalytische sozial- und kulturwissenschaftliche Verfahren zu erweitern und neben der Aufführung auch die Vorbereitungsund Probenphasen der Projekte, den gesellschaftspolitischen Kontext, das Publikum, die Öffentlichkeitsarbeit, die Finanzierung und schließlich auch Rezeptionen und Evaluationen mit einzubeziehen.200 Mit Blick auf die sich in den letzten Seiten herauskristallisierenden Herausforderungen, welche sich den postkolonialen Diskursen innerhalb des Theaterschaffens stellen, erscheint auch auf diesem Feld eine diskursive, sozial-gesellschaftliche und kulturelle Kontextualisierung sinnvoller als vordergründig semiotische Verfahrensweisen. Denn Theaterprojekte, die sich im inter- und transkulturellen Bereich ansiedeln, rekurrieren nicht nur auf unterschiedliche kulturelle Verweise und nutzen verschiedene Traditionen, vielmehr beziehen sie sich auf gesellschaftliche, kulturelle und soziale Kontexte und Erfahrungswelten, die sich nach gängigen westlichen Mustern nicht ohne Weiteres erschließen

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lassen. Allein die Frage, welche Realität ein realer Körper auf der Bühne repräsentiert beziehungsweise überhaupt darstellen kann, lässt sich nicht so leicht beantworten.201 Da Theater hierzulande jahrzehntelang ein Ort europäisch-semiotischer Zeichenverfahren war, tut es sich schwer, auf neue Verweise, andere Traditionen, Spielweisen und deren sozial-gesellschaftlichen und kulturellen Ebenen einzugehen. Wie in den letzten Kapiteln gezeigt werden konnte, neigt es eher dazu, dieses „Andere“ dem eigenen System oder universalen Kode zu unterwerfen, wovon auch viele postkoloniale Ansätze nicht ganz frei sind, was ebenso deutlich wurde.

Kulturelle Realitäten des Körpers versus Realismus im Theater Im Zuge der zunehmenden postkolonialen Befragungen von Theaterschaffenden gibt es jedoch insbesondere im afrikanischen Kontext vielerlei Ansätze, den Universalitätsanspruch westlicher Kategorien aufzubrechen und die Unabhängigkeit und Unterschiedlichkeit afrikanischer Performanceformen von europäischen zu verdeutlichen. Samuel Ravengai bedauert in „The dilemma of the African body as a site of performance in the context of Western training“,202 dass beispielsweise das Schauspieltraining im südlichen Afrika sich allein auf europäische Konzepte bezieht, welche die Erfahrungskontexte und Verständnisse von Realität vieler Studierender, die jenseits der Hauptstadt Harare in ländlichen Gebieten aufgewachsen sind, nicht berücksichtigt: My hypothesis is that the psycho-technique is a culture-specific system that arose to deal with the heavy realism of Ibsen, Chekhov, Strindberg, Odets and others. I believe that there is a Western realism, which can be differentiated from an African realism. […] Consequently the psycho-technique tends to favour a Western-groomed body and seems to disorientate any other differently embodied body.203 Ravengai geht von der Annahme aus, dass Realismus, wie ihn westlicheuropäisches Schauspiel versteht, oft wenig mit dem ländlichen sozialen-gesellschaftlichen Alltag Afrikas und dessen performativen Repräsentanz zu tun hat. Während in Zimbabwe Schauspielstudent*innen, die in den Metropolen wie Harare aufgewachsen sind, ganz selbstverständlich von westlich codierten Vorstellungen von Körper und Realität ausgehen, greifen diejenigen, die ihre Kindheit und Jugend in den „rural

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areas“ verbracht haben, so Ravengai, auf ganz andere Vorstellungen und Erfahrungen zurück: For a coterie of students who still follow tradition the physiological agility was a result of numerous rituals that punctuate Zimbabwean rural life. In Zimbabwe there are ritual dances to mark birth, marriage, death, seasons and harvest. […] This is a lifelong process where the performer no longer thinks of the art of dancing. […] The body finally carries an aura around it that acts as an „image-text“ that can be read as a belonging to an individual as well as a given cultural group. This is what I call the cultural body.204 Der „cultural body“ repräsentiert hier eine äußerst komplexe Vorstellung von Realität, die sich auch im realistisch ausgerichteten afrikanischen Theater niederschlägt: „When these strange realities, fabulous and fantastical events are included in the dramatic narrative that otherwise maintains the reliable tone of an objective realistic report, the work of art comes across as magic realism.“205 Ravengai bedauert nun, dass westliche Trainingsmethoden realistischen Theaters, die sich beispielsweise auf Stanislawskis Psychotechnik beziehen, diese Realität nicht darstellen können: The social portraiture that comes with the physical fitness is not necessarily required by the psycho-technique. In other words, the rural performer must give up his cultural body in order to be a good performer. The expressiveness and gestures that are socially learnt hinder the full delineation of a psychological character in the Western sense.206 Zimbabwische Theaterschaffende und Autoren wie Tsitsi Dangarembga oder Stephen Chifunyise zollen dieser Diversität an Realitäten in ihren Stücken Tribut. Chifunyises erstmals 2010 in Harares Theatre in the Park aufgeführtes Rituals präsentiert neben dem typischen Erzählungsplot eben jene Körperlichkeit und Rituale, die aus Sicht eines westlichgeschulten Blicks übertrieben oder „unbedacht“ erscheinen mögen, tatsächlich aber eben den zimbabwischen „cultural body“ präsentieren. Die Produktion, die dazu aufrief, den politisch motivierten Gewalttaten durch das Mugabe-Regime mit Versöhnungsritualen zu begegnen, um einen Friedensprozess in der gespaltenen Gesellschaft zu unterstützen, wurde von der politischen Elite um Mugabe kritisch beäugt und Aufführungen von Polizei und anderen Regierungsorganen abgebrochen und untersagt. Diese vergleichsweise recht hohe Aufmerksamkeit rührt daher, dass im Gegensatz zu vielen westlich orientierten Theaterproduktionen, Chifu-

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nyises Stück die Realität der zimbabwischen Bevölkerung samt der komplexen kosmologischen Ebenen miteinbezogen und dargestellt hat.207 Chifunyises Stück präsentiert eine zimbabwische Lebensrealität, die für Nichtkenner der Shona- und Ndebele-Kulturen, die den Hauptanteil der Bevölkerung ausmachen, kaum – auch diskursiv nicht – zu erschließen sind. Ravengai betont aus diesem Grunde, dass der Körper beziehungsweise dessen in leiblicher Kopräsenz erfahrbare Präsenz mit gängigen westlichen Schauspieltechniken nur begrenzt darstellbar und fassbar ist. Die Kritik richtet sich jedoch nicht nur an das Schauspieltraining realistischen Theaters, sondern auch an die Theorie des Realismus im Theater. Wie in Kapitel 2 beschrieben, verfolgt Stegemann in Lob des Realismus208 das Ansinnen, „den Realismus“ aus der postmodernen Gefangenschaft zu befreien, in welche ihn, so der Autor, die künstlerischen Avantgarden und andere relativistische Ansätze gebracht haben: Ausgangspunkt ist ein Interesse an der Realität als einer unabhängig vom Subjekt bestehenden Wirklichkeit. Daraus folgt die Möglichkeit einer Beschreibung der Realität als einer von hierarchisch organisierten Widersprüchen bestimmten Gesellschaft. Und schließlich bedarf es der Anerkennung der subjektiven Position als einer historisch gewordenen Form, deren Realität im Klassenbewusstsein begriffen werden kann. Für realistische Kunst braucht es also Interesse an Welt, dialektisches Denken und Klassenbewusstsein.209 Mit Blick auf Ravengais Kritik und Chifunyises Rituals wird jedoch ersichtlich, dass diese drei Parameter eines Realismus im Theater beileibe nicht ausreichen. Sowohl „dialektisches Denken“ als auch „Klassenbewusstsein“ vermögen nicht die Realitäten afrikanischer Gesellschaften zu fassen, sondern drängen diese eher in koloniale Dichotomien und Kategorien zurück. Dabei leuchtet grundsätzlich Stegemanns Ansinnen ein, das Potenzial des Theaters wieder in den Blick zu nehmen, wie er es am Schluss seines Buchs beschreibt: „Das Theater müsste sich seiner einzigartigen Qualität, mit seiner Gegenwart zu spielen und damit Welt vorspielen zu können, nicht länger schämen, sondern es könnte sie für die Spekulation einer anderen Realität gebrauchen.“210 Hier stellt sich jedoch die Frage, welche „Realität“ und welche „Welt“ gemeint sind. Insofern muss sich gegenwärtiges Theater im inter- und transkulturellen Kontext zwangsläufig von dem Realismus, wie er hier als Ergebnis dialektischen Denkens verstanden wird, verabschieden, was schon die Avantgarden des 20. Jahrhunderts insbesondere nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs verstanden haben. Trotz alledem wird deutlich,

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welch großes Potenzial Theater und Performance zu eigen ist, gerade diese Zunahme an Realitäten und kulturellen Vorstellungen nicht unbedingt in Gänze sichtbar, aber deren Vielfalt und Verschiedenheit erfahrbar zu machen.

Interweaving Performance Cultures: Mistral von Susanne Linke und Koffi Kôkô211 In ihrer Einführung zu The Politics of Interweaving Performance Cultures: Beyond Postcolonialism (2014) schlägt Fischer-Lichte einen Weg ein, der zum Ziel hat, eine Theorie von Theater zu entwickeln, die den verschiedenen Realitäten gerecht werden könne. Wie der Untertitel bereits suggeriert, geht dieses Unterfangen auch mit einer Loslösung vom postkolonialen Diskurs einher. Für Fischer-Lichte ist dabei interkulturelles Theater das Beispiel par excellence, in welchem sich die westliche Dominanz konzeptuell und performativ manifestiert: Thus, the concept of ‚intercultural theatre‘ – a heuristic tool developed mainly in Anglo-American theatre and cultural studies departments, that is, an element of Western discourse – reveals itself as deeply contradictory. On the one hand, it proclaims equality between the theatrical traditions of all cultures as well as multiple modernities and denies all former hierarchies established by colonialism and cultural imperialism. On the other, it hails culture as a fixed, stable, and homogeneous entity.212 Einen Grund für diesen Widerspruch sieht sie ebenfalls in der Diskurshoheit dichotomer Kategorisierungen, die sich im Begriff Interkulturalität niederschlagen: „Binary categories are generally inadequate tools for understanding the process that occurs in contemporary productions of combining elements from different cultures. The concept of ‚intercultural theatre‘ implies a sharp division between ‚our‘ and the ‚other‘ culture.“ Um dieser Krux westlichen Denkens zu entgehen, stellt FischerLichte das Konzept der „Interweaving Performance Cultures“ vor, welches kulturelle Vielfalt und somit auch unterschiedliche Realitätsvorstellungen im Theater fassen soll: In Performance, new forms of social coexistence may be tried out, or they simply emerge. In this sense, processes of interweaving performance cultures can and quite often do provide an experimental fra-

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mework for experiencing the utopian potential of culturally diverse and globalized societies by realizing an aesthetic which gives shape to unprecedented collaborative policies in society.213 Diese „utopischen“ und „transformatorischen“ Sphären und Räume können, das ist Fischer-Lichtes These, in einem Theater, das verschiedene Performancekulturen miteinander verflicht, generiert werden. Die Art und Weise dieses Verflechtens unterscheidet sich dabei grundlegend sowohl vom interkulturellen Theater als auch vom postkolonialen Diskurs: Both theoretical approaches, postcolonial theory as well as intercultural performance, ignore the specific forms of utopian and transformative aesthetic experiences. The concept of interweaving performance cultures, by contrast, aims to examine them, both from the perspective of the artistic processes that allow for their emergence in performance as well as from that of their ethical, social, and political implications in and beyond performance. In so doing, the concept ultimately aims to explore the varieties of ways in which performance of interweaving cultures offer their participants experiences beyond postcolonialism.214 In ihren Augen ist das Konzept des „Afropolitanism“, wie Mbembe es im Folgenden beschreibt, ein eindringliches Beispiel für eine solche transformative Wirkung: African forms of creativity and innovation have always been the result of migration, of displacement, the traffic of religions, the crossing of forms and boundaries. […] Cultural expression, creativity, and innovation today are less about clinging on dead customs than about negotiating multiple ways of inhabiting the world. That is what some of us have called ‚Afropolitanism‘.215 Im Vergleich zeichnen sich afrikanische Gesellschaften zum Teil erzwungenermaßen durch Kolonisierungsprozesse, aber auch aufgrund verschiedener Migrationsprozesse durch eine Vielfalt und Offenheit an kulturellen Deutungsmustern und Herangehensweisen aus, was sich, so beschreibt es Okagbue, auch im traditionellen afrikanischen Theater widerspiegelt: They all still perform the aesthetic and social functions which they had always provided for their cultures; they have expanded their the-

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mes and increased their contexts, absorbed influences to cope with newer and changing realities and, in all this, they have held on their aesthetic principles.216 Afrikanische Performancetraditionen unterstützen demnach seit jeher die Darstellung verschiedener Realitäten und Kulturen und konstituieren sich schon lange Zeit nach dem Prinzip der Interweaving Performance Cultures, obwohl Okagbues Feststellung, dass sie die „aesthetic principles“ nicht verändert haben, ebenso von einer recht rigiden Struktur traditioneller Performances zeugt, die zwar neue Themen und Praktiken aufgreift, aber ihren grundsätzlichen Annahmen treu bleibt. Während Okagbue also betont, dass trotz der vielen häufig in der Kolonialzeit aufgezwungenen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Einflussnahmen auf Theaterschaffen die Ästhetik traditioneller Performances von diesen relativ unberührt und über die Jahre stabil bleibt, setzt Fischer-Lichte auf das transformative Potenzial des Ästhetischen und somit auch auf die Möglichkeit der Wandlung beziehungsweise Offenheit ästhetischer Kategorien, wobei sie hierauf nicht weiter eingeht. Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen stehen jedoch nur dann in einem Widerspruch, wenn beide Verständnisse einen Universalitätsanspruch behaupten. So stellt sich die Frage beim Verflechten verschiedener kultureller Traditionen, ob die einzelnen Stränge und Fäden im gemeinsamen Muster ihre eigene Struktur und Wirkung verlieren und sie nur noch zusammen wirken, oder ob nicht gerade die transformatorische Kraft in einem „Sowohl-als-auch“ liegt: Sie wirken einzeln und zusammen. Eine derartige Verflechtung von europäischen und afrikanischen Performancekulturen schaffen die deutsche Tänzerin Susanne Linke und der beninische Tänzer Koffi Kôkô in Mistral.217 In dem gemeinsam erarbeiteten Duett treffen auf der einen Seite zwei Vertreter spezifischer kultureller Tanztraditionen und auf der anderen Seite Akteure einer global und international agierenden Tanzszene aufeinander: Susanne Linke, als Vertreterin der Tanzmoderne von Mary Wigman und des Deutschen Tanztheaters, trifft auf die jahrhundertealte „Körperbibliothek“ des zeitgenössischen afrikanischen Performers Koffi Kôkô: Eingeschrieben in die Körper zweier Ausnahmetänzer, begegnen sich Moderne und Traditionen. Tänzerische Präsenz, Körpergedächtnis, Technik, kultureller Kontext und Geschlecht werden zu Ausgangspunkten einer einzigartigen Begegnung von performativem Wissen und gesellschaftspolitischen Fragen. Und

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das in einer radikalen Gegenüberstellung: Susanne Linke und Koffi Kôkô führen einen Dialog darüber, wie das Wissen großer Tanztraditionen zwischen Kulturen und über Generationen hinweg zu vermitteln ist.218 Ohne Sprache, allein im Tanz begegnen, fremdeln und finden sich die Tänzerin und der Tänzer in ihren Bewegungen. Zu Beginn des Stücks schreiten sie gemeinsam eine Zigarre rauchend über die Bühne und werden kurz darauf aus dem Paradies der zweisamen Einigkeit hinausgeworfen. Beide beginnen, sich zunächst voneinander getrennt zu finden, suchen ihren Ausdruck in ihren reichhaltigen Bewegungsgedächtnissen und deren kulturellen Verortungen: Koffi Kôkô, in Benin geboren, ist Voodoo-Priester und einer der bekanntesten Vertreter des afrikanischen zeitgenössischen Tanzes. Seine Bewegungssprache entwickelte er aus Ritualen und Tanztraditionen Westafrikas heraus. Susanne Linke ist eine der führenden Vertreterinnen des europäischen Solotanzes. Sie verbindet Traditionen des deutschen Ausdruckstanzes von Mary Wigman und Dore Hoyer mit Positionen des modernen Tanzes aus der Folkwang-Tradition (Kurt Jooss, Hans Züllig, Pina Bausch). Beide kombinieren in ihrem Schaffen diese Traditionen mit zeitgenössischen Interpretationen und Bewegungsformen, doch sind die Wurzeln ihres Tanzes in diesem Teil der Aufführung stets erkennbar. Sie experimentieren mit ihrem jeweiligen kulturellen Gedächtnis und unterschiedlichen Positionen, Bewegungsformen, aber auch Konflikten mit sich selbst und der eigenen kulturellen Verortung. Auf der Bühne eröffnen sie einen ästhetischen Raum, der, obwohl es ein und dieselbe Bühne ist, zwei ganz unterschiedliche Rhythmen, Bewegungsfolgen und ebenso spirituelle Wirkungsfelder erschafft. Doch diese beiden Spannungsfelder kommen aufeinander zu und geraten in einen Dialog, so schreibt Sandra Luzina: Er lässt seine Hände sprechen und lädt den Raum mit seiner Energie auf. Sie bewegt sich leichtfüßig über die Bühne und strahlt bei aller Fragilität eine große Stärke aus. Wunderbar, wie die beiden, die auf der Bühne zu alterslosen Figuren werden, zueinander finden: Sie nähern sich mit Neugier und gegenseitigem Respekt. Ein Höhepunkt ist das heitere Duett zu afrikanischen Trommelrhythmen: Koffi Kôkô prescht vor, Susanne Linke greift die Bewegungsmotive auf, interpretiert sie aber auf ihre eigene Weise. Beiden fassen sich an den Händen und setzen mit großer Zartheit einen Fuß vor den anderen – stets sensibel des Grunds gewahr, auf dem sie schreiten.219

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Doch nicht nur der Respekt gegenüber dem anderen und ihrem beziehungsweise seinem jeweiligen Bewegungsrepertoire ist in dieser Inszenierung bemerkenswert. Der Umgang mit dem unterschiedlichen Geschlecht und der verschiedenen Hautfarbe spielt manchmal eine Rolle und dann wiederum nicht. Das in heutigen Tagen auf deutschen Bühnen brisante Thema „Schwarz-Weiß“ wird nicht nur über die Hautfarbe der beiden Tänzer angedeutet, sondern spiegelt sich in deren Anzugsfarbe wider. Sie sind mal beide weiß, mal beide schwarz, mal die eine schwarz, mal der andere weiß. Auch Machtverhältnisse geschlechtlicher Art treten an einer Stelle in den Vordergrund, dann wiederum verschwimmen sie. Spannungen und Konflikte zwischen den Geschlechtern und ethnischer Zugehörigkeit werden so nicht überspielt, bekommen jedoch immer nur einen bestimmten Raum und werden überwunden oder finden sich in einem Dialog zusammen. Mistral macht deutlich, dass hier nicht ein schwarzer Mann aus Afrika und eine weiße Frau aus Europa aufeinandertreffen, sondern zwei Tänzer mit diversen, vielschichtigen kulturellen Hintergründen und Tanzpraktiken, die selbstverständlich häufig mit Geschlecht und Herkunft einhergehen, aber nicht immer. Ihre tänzerischen Statements sind mal stabil, mal wandelbar, mal gegensätzlich, mal divers und mal vereint. Linke und Kôkô verknüpfen auf diese Weise unterschiedliche Performancekulturen, betonen aber auch, dass sie jeweils ein Geflecht unterschiedlicher Traditionen verkörpern. Obwohl die Ausgangssituation auf den ersten Blick dichotom aufgeladen ist (Mann und Frau, Schwarz und Weiß), wird diese Binarität zugunsten der Darstellung einer Vielfalt aus kulturellen Traditionen, Verortungen und Kodierungen immer wieder aufgehoben. Kulturelle Differenzen werden dabei nicht aufgelöst, Unterschiede bleiben bestehen, aber bewegen sich auf diversen Ebenen und werden neu verhandelt, überdacht, gemeinsam präsentiert. Trotz der Diversität an Differenzen, die sich ebenso innerhalb des jeweils eigenen Tanzrepertoires ergeben, da beide aus verschiedenen zeitgenössischen und traditionellen Formen und Bedeutungsebenen schöpfen, scheint kein Körper und keine Technik die andere durchgängig zu dominieren. Linke und Kôkô präsentieren ihre Bewegungsformen mal selbstbewusst, mal vorsichtig, mal übernimmt der eine die Form des anderen, mal stehen sie sich in ihrer Verschiedenheit gegenüber. Dabei entsteht ein ästhetischer Raum, der sowohl Okagbues Stabilität in der gegenseitigen Abgrenzung als auch Fischer-Lichtes transformative Kraft im gemeinsamen Dialog und zaghaften Zusammenfinden beinhaltet. Beide Tänzer verfolgen eine Dramaturgie von Interweaving Performance Cultures, die sich darin äußert, dass sie ihre

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Vielschichtigkeit im Verlauf des Stücks herausarbeiten und miteinander in Dialog bringen. Mistral verortet sich „beyond postcolonialism“ (Fischer-Lichte), da Linke und Kôkô zwar mit den üblichen (post)kolonialen Dichotomien spielen, jedoch immer wieder aufheben und schon allein an ihren jeweiligen körperlichen Tanzgedächtnissen verdeutlichen, dass diese nicht einer bestimmten Tradition zuzuordnen sind, sondern bereits verschiedene Kulturen miteinander verflechten. Entscheidend für die Besonderheit dieses Verfahrens ist jedoch das „Sowohl-als-auch“, die Betonung des Eigenen, des Gemeinsamen, der Verschiedenheit zu sich selbst und zu den anderen. Der ästhetische Raum, den Kôkô und Linke kreieren, zeugt von Wandel und Stetigkeit, Authentizität und Klischee, wiederkehrenden Mustern und Neuerungen, Vereinzelung und Gemeinsamkeit, Konflikt und Dialog. Es scheint an der Zeit für diese, etwas ambivalent erscheinende Sphäre, ein Konzept zu finden, denen sich nun mit Überlegungen zu einer Ästhetik der Entähnlichung angenähert wird.220

Verhandlungen von kultureller Vielfalt: Von der sozialen Theatralität über das postdramatische Theater zur Ästhetik der Entähnlichung Sollte der Begriff Ästhetik im Kontext von kultureller Vielfalt Anwendung finden? In den letzten Kapiteln wurde einerseits das Feld des Ästhetischen problematisiert, da viele Konzepte nicht nur von einem primär westlichen Verständnis ausgehen, sondern andere Kunsttraditionen negieren oder der eigenen Systematik einverleiben. Andererseits wurden weitreichende Wandlungsprozesse in Theater- und Performanceproduktionen und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Theoretisierung beobachtet. Soziale, gesellschaftliche und kulturelle Kontextualisierungen und Besonderheiten rücken deutlich in den Vordergrund und verweisen auf die Unzulänglichkeit verallgemeinernder und Universalität beanspruchender Vorstellungen von Realismus, Ästhetik und Theater, die meist im westlichen Kontext formuliert wurden. Aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt ist davon auszugehen, dass Theater und Performances, die sich dieser Vielfalt annehmen, nicht in Gänze entschlüsselt und von allen Teilnehmenden verstanden werden können. Theater und Performance kann auf diesem Feld nicht mehr als Stätte der Selbstvergewisserung beziehungsweise Festigung einer bestimmten kulturell-gesellschaftlichen Identität zum Tragen kommen, vielmehr kann es seine Wirkungs-

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macht in der Erfahrung von Verschiedenheit, Anderssein, Wandel und Vielfalt entfalten. Vor diesem Hintergrund ist Fiebachs Ansinnen, Theatralität der Ästhetik als Konzept vorzuziehen, nachvollziehbar. Für seine internationalen Forschungen scheint der Begriff der Ästhetik mit seinem „Stallgeruch“ nach Aufklärung und Autonomie wenig Sinn zu machen. Ihn interessieren vielmehr theatrale Momente, das heißt, performativ gesetzte Gesten im Künstlerischen, doch vornehmlich im Alltäglichen und dessen gesellschaftliche Bedeutungsebenen. Geschickt umgeht er auf diese Weise apodiktisch wirkende Differenzen zwischen den Kulturen, da theatrales Handeln Teil jeglicher menschlichen Kommunikation ist. Allerdings wird es ein schwer zu bewerkstelligendes Unterfangen, Räume, die bewusst als Orte künstlerischen Schaffens definiert werden, mittels des Konzepts der Theatralität zufriedenstellend zu erfassen, da dieses mit seinem breiten Fokus die besondere Situation des künstlerischen Rahmens nicht präzise genug vom Alltäglichen abgrenzen kann. Darüber hinaus suggeriert das Konzept der Theatralität im Kontext kultureller Vielfalt tendenziell zunächst eher „assimilierende“, denn „entähnelnde“ – also die Verschiedenheit betonende – Aspekte. In der Hinwendung zum Alltäglichen, so könnte man argumentieren, werden Formen von Theatralität selbst in einer Gesellschaft, die sich aus verschiedenen Kulturen zusammensetzt, zwangsläufig einander assimilieren und angleichen, zumindest als gegenseitig „bekannt“ von den jeweils anderen kulturellen Gruppen verstanden werden. In einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft werden theatrale Handlungen anderer dieser Gesellschaft zugehörigen Kulturen meist nicht als Fremdes wahrgenommen. So betont Warstat in seiner jüngsten Studie Soziale Theatralität: Die Inszenierung der Gesellschaft, dass sich die Theatralität einer Gesellschaft von Cultural Performances unterscheidet: Die Theatralität einer Gesellschaft erschöpft sich nicht in jenen (eben als Cultural Performances bezeichneten) Festen, Ritualen und Veranstaltungen, in denen sich die Mitglieder der Gesellschaft ihrer kulturellen Orientierungen versichern. Solche kollektiven kulturellen Äußerungen sind nicht unbedingt der Ort, an dem sich Gesellschaft zeigt, denn Gesellschaft und Kultur sind zweierlei.221 Dieser Lesart folgend überwinden in einer Gesellschaft als theatral wahrgenommene Handlungen kulturelle Dichotomien und Kategorisierungen beziehungsweise betonen diese nicht primär. Mehr noch, thea-

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trale Ereignisse werden überhaupt nur dann, so argumentiert er am Ende seiner Studie, erkannt beziehungsweise als solche dechiffriert, wenn sie aus einer Distanz und somit in einer bestimmten Situation des Sich-Zeigens erfahren und interpretiert werden: Anders als für die theatrale Handlung gilt für das theatrale Ereignis, dass es in der Wahrnehmung der Betrachterin oder des Betrachters stattfindet. Theatrale Ereignisse sind Momente der Ostentation, des Sich-Zeigens, der Enthüllung, in denen sich Struktur, Funktionsprinzipien und Konflikte einer Gesellschaft entfalten. […] Im allgemeineren Sinne unterstreicht das, dass soziale Theatralität ein Distanzphänomen ist. Diese Distanz muss nicht zeitlicher Natur sein. Auch ein Besuch in einer fremden Stadt, der man sich aus räumlicher Entfernung nähert, kann in großer Zahl theatrale Ereignisse initiieren.222 Warstats Neuakzentuierung von Theatralität als Inszenierung der Gesellschaft verdeutlicht das Potenzial theatralen Handelns, kulturelle Vielfalt erlebbar zu machen, ebenso jedoch die Komplexität, welche der Begriff Theatralität von dieser Warte aus mit sich bringt. Streng genommen würde eine Gesellschaft der kulturellen Vielfalt die verschiedenen kulturellen Handlungen nicht als etwas Anderes oder Fremdes, sondern als Teil des eigenen gesellschaftlichen Agierens wahrnehmen, wenn auch theatral „hervorgehoben“ und möglicherwiese so auf Vielfalt verweisend.223 Eine Gesellschaft, die sich als kulturell vielfältig begreift, muss demnach ein hohes Maß und zugleich ein breites Spektrum an Theatralität kennzeichnen, welches die unterschiedlichen kulturellen Handlungen zwar theatral sichtbar macht, aber als der Gesellschaft zugehörig begreift. Wie hoch die gesellschaftliche Theatralität nun in der gegenwärtigen südafrikanischen oder deutschen Gesellschaft ist, wäre eine andere Frage, die hier nicht beantwortet werden kann. Doch kann vor diesem Hintergrund durchaus behauptet werden, dass künstlerische Verfahren, die kulturelle Vielfalt sichtbar und erlebbar machen, einen Weg in eine vielversprechende Richtung einschlagen: Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Theatralität, die, wie Warstat zeigt, stets von übergreifenden, kollektiveren Strukturen hervorgebracht wird, werden künstlerische Produktionen zwar von einzelnen Personen erschaffen, betonen aber ebenso „Momente der Ostentation und der Enthüllung“, führen demnach in gewisser Weise theatrale Ereignisse vor und verhandeln sie. Mittels dieser performativen Schaustellung werden kulturell-performative Gesten nicht nur sichtbar gemacht, verhandelt, verfremdet oder

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dekonstruiert, sondern können mit der Zeit als theatrale Handlungen von der Gesellschaft übernommen und so „integriert“ werden. Die Verhandlungen kultureller Vielfalt im und mit Theater, denen sich die in dieser Studie vorgestellten Produktionen widmen, setzen – und das ist der entscheidende Unterschied zu den Inszenierungen der Gesellschaft, die Warstat anhand der „Sozialen Theatralität“ analysiert – einen künstlerischen Rahmen voraus. Mit der bewussten Theatersetzung durch die künstlerischen Urheber*innen wird zwangsläufig ein Raum erschaffen, der weniger als theatraler, vielmehr als ästhetischer konzipiert und wahrnehmbar ist und wenn, dann nur theatrale Handlungen als Ereignis ausstellen kann. Obwohl Ästhetik auf eine lange Begriffs-, wenn nicht sogar Kulturgeschichte im christlichen Abendland zurückschauen kann, wie Doris Kolesch im Metzler Lexikon für Theatertheorie verdeutlicht, betonen doch Warstat, Reschke, Okagbue oder FischerLichte die asymmetrische, transformative, Grenzen sprengende, jedoch auch die stabilisierende, gemeinschaftsstiftende, selbstreflexive Wirkung von Ästhetik. Ob philosophisch, kunst- oder kulturwissenschaftlich, die Zugänge zum Begriff der Ästhetik sind so vielfältig, dass er gegenwärtig als Wirkungskategorie ein ungemein breites Spektrum beinhaltet. Die hier vorgestellten Arbeiten über Ästhetik gehen jedoch, trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, davon aus, dass Ästhetik im weitesten Sinne mit Kunst beziehungsweise künstlerischem Schaffen verknüpft ist. Auf der einen Seite erweist sich Ästhetik hinsichtlich ihrer Wirkungsebenen als disparat und vielfältig und auf der anderen Seite hinsichtlich der Abgrenzung zum Alltäglichen, An- und Nichtästhetischen im Vergleich zur Theatralität als eng. Im Kontext der Verhandlung von kultureller Vielfalt wird Ästhetik als eine Sphäre definiert, die bewusst als ein künstlerisches Produkt erschaffen oder sich in der Wahrnehmung zunächst von alltäglichen Erfahrungen absetzt. Der Moment des „Absetzens“ wird zwar nicht immer, jedoch einige Male in der philosophischen Ästhetik sichtbar, in dem Sinne, dass sich hier entwickelte Denk- und Wahrnehmungsweisen von tradierten, gängigen Pfaden „absetzen“. Jedoch wird die These unter Vorbehalt aufgestellt, da im Vergleich der Definitionen von Fischer-Lichte und Okagbue, wie oben gezeigt wurde, eine Differenz zutage tritt, die im Kontext von kultureller Vielfalt problematisch werden könnte, wenn es darum geht, ob Ästhetik stabilisiert oder transformiert. Um diesem Entweder-OderPrinzip entgegenzutreten, bedarf es einer Kombination. Das Duett Mistral von Linke und Kôkô nimmt an dieser Stelle eine Schlüsselfunktion ein, weil es ein Sowohl-als-auch-Prinzip favorisiert

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und so auch den Freiraum der Bühne unterstreicht. Im Verlauf der letzten Kapitel konnten immer wieder Formen von Theater und Ästhetik aufgezeigt werden, die diesen freien Raum nutzen: Warstats Überlegungen zu den Grenzen sprengenden Kräften der Avantgarde und Reschkes Überlegungen zur Asymmetrie des Ästhetischen seien an dieser Stelle nochmals genannt. So sieht auch Hans-Thies Lehmann in der Formenvielfalt des postdramatischen Theaters dieses ungeheure Potenzial von Theater, sich Neuerungen – wie etwa kultureller Wandel und Vielfalt – zu stellen.224 Bei genauer Lektüre des Postdramatischen Theaters 225 wird deutlich, dass erste Ansätze dieser Gattung schon in Hegels Vorlesungen zu finden sind, obwohl dessen Theorie wiederum auch als exemplarisch für den abendländisch-kolonialen Gestus einer idealistischen Ästhetik stehen kann, wie es in Kapitel 2 verdeutlicht wurde. Lehmann macht diese Doppeldeutigkeit Hegels, welche Reschke anhand der Metapher der Eule der Minerva erläutert, ebenfalls sichtbar: Die klassische idealistische Ästhetik verfügte über das Konzept der „Idee“: Entwurf eines begrifflichen Ganzen, das die Details konkretisieren (zusammenwachsen) lässt, indem diese sich, zugleich in der „Realität“ und im „Begriff“, entfalten. Jede historische Phase einer Kunst konnte so von Hegel als konkrete und spezifische Entfaltung der Idee von Kunst betrachtet werden, jedes Kunstwerk als besondere Konkretisation des objektiven Geistes einer Epoche oder „Kunstform“. […] Wenn das Vertrauen in derartige Konstruktionen – etwa des Theaters, von dem dann das Theater einer Epoche eine spezifische Ausfaltung wäre – schwand, so zwingt der Pluralismus der Phänomene dazu, das Unvorhersehbare und „Plötzliche“ der Erfindung, den unableitbaren Moment der Intervention anzuerkennen.226 Wie Gethmann-Siefert sieht auch Lehmann in Hegels These vom Ende der Kunst das Konzept des ausgestalteten Entwurfs der Idee ad acta gelegt. Das Theater repräsentiert bei Hegel allerdings schon seit der Antike diese Loslösung vom Kunstschönen: Wenn Hegel das Kunstschöne als eine vielschichtige „Versöhnung“ der Gegensätze, insbesondere des Schönen und des Sittlichen versteht, so kann man in der Tat behaupten, dass unter dem Begriff des „Dramatischen“ Hegel jene Züge am Ästhetischen zur Geltung bringt, die den Anspruch auf Versöhnung scheitern lassen.227

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Lehmann bezieht sich hier auf Christoph Menke, der wenige Jahre zuvor in Die Tragödie im Sittlichen228 feststellt: „Das Drama ist bei Hegel, auch schon in seiner griechischen Gestalt, auf dem Weg zu einer nicht mehr schönen Kunst. Im Drama beginnt das Ende der Kunst, in der Kunst.“229 Die Besonderheit des Theaters in der Hegel’schen Kunstgeschichte und die damit einsetzende Befreiung der Kunst aus den Fesseln des Kunstschönen verdeutlicht sich in der „doppeldeutigen“ Rolle der Schauspieler, einerseits hinter der Maske „nur“ eine vorgegebene Rolle zu spielen, und gleichzeitig zu beanspruchen, ein Individuum zu sein, das selbst entscheidet, diese Maske zu tragen: „Die Schauspieler spalten sich von sich als sittlicher Charakter, als Mitglied des Gemeinwesens, und depotenzieren ihn zu einer Maske, durch die nicht sie bestimmt sind, sondern die an- und abzulegen sie, als ‚wirkliche Subjekte‘, die Macht und Freiheit haben.“230 Hegel gesteht so dem Ästhetischen im Theater eine äußerst bedeutsame Rolle für die ethische und gesellschaftliche Reflexion zu. Das Ästhetische wird mit Hegel zu einem Ort, an welchem der denkende Mensch frei aus der Sittlichkeit herausgeht und im Spiel neue Wege gehen kann. So argumentiert Lehmann: Das theatrale Spiel insgesamt stellt im Grunde eine Undenkbarkeit für die Philosophie des Geistes dar: das an sich wesenlose subjektive Spiel des Spielenden, der Zeichen künstlich produziert, dieses bloße einzelne Ich, erfährt sich als Gründer und Stifter des Wesentlichen, der sittlichen Gehalte, Schöpfer der dramatis personae als in sich bereits Schönheit und Sittlichkeit vereinenden Gestalten.231 In seinen Vorlesungen über die Ästhetik formuliert Hegel eine Art Ahnung oder gar Vermächtnis, dass sein Gebäude des dialektischen abendländischen Denkens, der Weg des spekulativen Prozesses zum absoluten Geist, keinen universalen Anspruch haben kann. Zum Schluss der von Hotho aufgezeichneten und herausgegebenen Vorlesungen, just am Ende seiner Überlegungen zur Komödie, macht er diese Wende nochmals deutlich: Doch auf diesem Gipfel führt die Komödie zugleich zur Auflösung der Kunst überhaupt. Der Zweck aller Kunst ist die durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige, Göttliche, an und für sich Wahre in realer Erscheinung und Gestalt für unsere äußere Anschauung, für Gemüt und Vorstellung geoffenbart wird. Stellt nun aber die Komödie diese Einheit nur in ihrer Selbstzerstörung dar, […] so tritt die Gegenwart und Wirksamkeit des Absoluten

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nicht mehr in positiver Einigung mit den Charakteren und Zwecken des Daseins hervor, sondern macht sich nur in der negativen Form geltend, dass alles ihm nicht Entsprechende sich aufhebt und nur die Subjektivität als solche sich zugleich in dieser Auflösung als ihrer selbst gewiss und in sich gesichert zeigt.232 Hegel ahnt, dass die Komödie eine Wirklichkeit beziehungsweise Subjektivität hervorbringt, die sein Modell des absoluten Geistes nur noch in einer negativen Form, in einer Art des Auflösens und Aufhebenden, begreifen kann. Das heißt, dass er die Zukunft der Kunst nicht in einer Identitätserfahrung sieht, in dem sich das „Göttliche“ offenbart, sondern in der Selbstzerstörung dieser Einheit. Er macht so indirekt für die ästhetische Erfahrung eine folgenschwere Prognose: Die Zukunft liegt nicht in einer gemeinschaftlichen Versöhnung vom Einzelnen mit dem Ewigen, Göttlichen, der Idee der Gemeinschaft, sondern in der Auflösung. So enden seine Vorlesungen mit einem Wunsch: Möge meine Darstellung Ihnen in Rücksicht auf diesen Hauptpunkt Genüge geleistet haben, und wenn sich das Band, das unter uns überhaupt und zu diesem gemeinsamen Zwecke geknüpft war, jetzt aufgelöst hat, so möge dafür, das ist mein letzter Wunsch, ein höheres, unzerstörliches Band der Idee des Schönen und Wahren geknüpft sein und uns von nun an immer fest vereinigt haben.233 Dieses neue Band, das sich so also nicht mehr in der schönen Erscheinung des absoluten Geistes konstituieren kann, erschafft sich aus dem Wissen, dass diese „durch den Geist hervorgebrachte Identität“ – zumindest in der Kunst – nicht mehr darstellbar scheint. Hegel deutet am Ende seiner Vorlesungen über die Ästhetik also an, was In unserem Namen am Gorki Theater in die Tat umsetzt: Der Geist einer Gesellschaft beziehungsweise Epoche lässt sich schon zu Hegels Zeiten nicht mehr als etwas Singuläres darstellen, vielmehr liegt das neue ästhetische Vermögen in der Aufhebung, Negation oder negativen Form. In unserem Namen vollzieht diese negative Form oder auch Negation anhand des Aufbrechens klassischer europäischer Theaterbedingungen. Allerdings lässt sich mit Blick auf Mistral und Mbembes Überlegungen Hegels Ahnung weiterentwickeln und ein Potenzial im Ästhetischen erkennen, welches über die negative Form und die Auflösung hinausgeht: Linke und Kôkô betonten, dass eine Vereinigung ihrer Tanztraditionen nur über das Hervorheben von Verschiedenheit und Pluralität möglich ist. Sie schaffen einen ästhetischen Raum der Unter-

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schiedlichkeit, Konflikte und des Auseinandersetzens, aber auch des Dialogs und Zusammenkommens in diversen Momenten der Aufführung. Mbembe verfolgt in der Kritik der schwarzen Vernunft eine ähnliche Strategie, die er als „Sorge um das Offene“ bezeichnet und deren Prinzip er mit dem Begriff der „Entähnlichung“ zu fassen versucht: Die Frage der universellen Gemeinschaft stellt sich daher per definitionem in Begriffen des Im-Offenen-Wohnens, der Sorge um das Offene – was etwas ganz anderes ist als ein Vorgehen, das in erster Linie darauf zielt, sich abzuschließen und eingeschlossen in dem zu bleiben, was gewissermaßen mit uns verwandt, was uns ähnlich ist. Diese Form der Entähnlichung ist das genaue Gegenteil der Differenz.234 Er fordert von den Gesellschaften, dass sie nicht – gemäß des kolonialdichotomen Differenzdenkens – Gemeinschaftsbilder schaffen, die sich über die Abgrenzung zum „Anderen“ definieren. Vielmehr sollen sie Vorstellungen favorisieren, in denen Gemeinschaft über die vielen Verschiedenheiten erschaffen wird, die schließlich jeder mit anderen teilt. Die „Sorge um das Offene“ betont den Moment der aktiven Öffnung von Traditionen und tradierten Mustern. Beide Produktionen In unserem Namen und Mistral betreiben hinsichtlich ihrer ästhetischen Praxis eine Sorge um das Offene und betonen in dieser Heterogenität, dass eine Aufführung nach einer spezifischen ästhetischen Tradition oder Form, in welchem die Zuschauenden ein Gemeinschaftsgefühl im Gesamtkunstwerk erfahren, heutzutage besonders im internationalen Kontext nicht mehr praktikabel erscheint. Entähnlichung, als ein Prinzip wie Mbembe es definiert, das Vielfalt und Differenzen zulässt und sich ums Offene sorgt, ohne dichotome Ausrichtung und binären Grundgestus, ist so ein vielversprechendes Motto für ein ästhetisches Verfahren. Insbesondere bei der Frage, wie die zunehmende kulturelle Vielfalt im Theater dargestellt und verhandelt werden kann, erscheint diese Ausrichtung von Ästhetik vielversprechend. Das Magnet Theatre in Kapstadt befragt seit über 25 Jahren in seinen Produktionen, wie verschiedene kulturelle Hintergründe und Alltagserfahrungen in Performances verhandelt werden können. Schon Nelson Mandela forderte diesen Umgang mit kultureller Vielfalt, und die Verfassung der Regenbogennation garantiert dies grundsätzlich, aber – mit Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umstände Südafrikas – eher noch abstrakt. Die künstlerischen Produktionen gehen auf die

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Suche, welche performativen und ästhetischen Formen für die Darstellung von diversen Kulturen und ihren Realitäten genutzt werden können, so auch die bereits erwähnte Performance Every Year, Every Day I am Walking. Zwei Darstellerinnen mit verschiedener Hautfarbe befinden sich auf der Bühne. Beide sind Südafrikanerinnen, stellen jedoch die Fluchtgeschichte einer kongolesischen Familie zum Kap dar. Während der Performance wechseln sie ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre ethnischen Zugehörigkeiten: Sie sind mal Kind, mal Mann, mal Frau, mal Kongolesin, mal Südafrikaner. Die Darstellerinnen präsentieren mit Rhythmen, Symbolen, Musik und Körperbewegungen die Diversität an kulturellen Traditionen des Kontinents. Sie nutzen den Körper und weniger die Sprache als Schauplatz verschiedener Kulturkontexte, so beschreibt es der Regisseur der Produktion Mark Fleishman: From the late 1980s and into the first decade of democracy in Southern Africa, physical theatre was proposed as a way of overcoming the vast language diversity that exists in the country. Today, however, physical theatre and dance are increasingly proposed of attempts to engage with a world of unspeakable violence.235 Neben der Überwindung der Mehrsprachigkeit der ethnischen Gruppen fungiert der Körper zudem als Symbol der vielfachen Gewalterfahrungen von Migrantinnen und Migranten in Südafrika, eine Vielseitigkeit an Verweisebenen, die auch einzelne Requisiten ausmachen, so Fleishman weiter: This sense of estrangement is further enhanced through the use of object manipulation, particularly the manipulation of shoes, doubling at points for the characters, in a constant ballet of walking, across multiple material surfaces, in the air and on the performers’ bodies. Shoes also stand in for characters not represented by the performers, including male authority figures, a rapist and, most importantly, the haunting presence of the second daughter, left behind in the burning ruins of the family home.236 Mit Rückgriff auf verschiedene Performanceformen und -ebenen wird eine Ästhetik erschaffen, die den Wandel und die Komplexität an kulturellen Verweisen verdeutlicht, doch ebenso klare Bezüge zu kulturellem Wissen und alltäglichen Erfahrungskontexten herstellt. Every Year, Every Day I am Walking verdeutlicht die Vielfalt an kulturellen Verortungen, aber auch die Möglichkeit, sie einander zu präsentieren und in

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einer Performance zu vereinen, ohne sie in einer Form oder Tradition aufzuheben. Der südafrikanische Künstler Mandla Mbothwe arbeitet ebenfalls mit einem vielfältigen Verweismaterial und kombiniert in seinen Stücken collagenhaft unterschiedliche kulturelle Performancetraditionen, Rituale und spezifische Alltagskontexte diverser sozialer und gesellschaftlicher Gruppierungen. So auch in Isivuno Sama Phupha (Ernte der Träume), einer Kooperation mit Jugendlichen aus dem Township Khayelitsha: Mbothwe’s concern for the dislocation of township youth and the unsettling nature of migratory experience has led to the creation of a very distinctive aesthetic […]. He uses elements of ritual such as recognisable symbols, the elements of earth, water and fire, ritual anointment and cleansing of the body, and heightened language, to create both a sense of awe and communitas. He draws on inherited African values through the concept of Ubuntu, through the use of his mother tongue, Xhosa. Equally he is influenced by and uses contemporary performance ideas melding physical theatre with visual representations, and working collaboratively in all aspects of production.237 Die vielseitigen Verweise lassen sich dabei nicht auf einen bestimmten Alltagskontext reduzieren, obwohl Mbothwe spezifische Rituale und Erfahrungen sozialer und gesellschaftlicher Gruppen wie „Dislocation“, Reinigungsrituale und den Gebrauch einer bestimmten „mother tongue“ zitiert. Vielmehr verdeutlichen die unterschiedlichen Formen der Darstellung, Sprachen und Referenzrahmen, welche Vielfalt die gegenwärtige südafrikanische Gesellschaft ausmacht, die eben nicht in einem Stereotyp oder Klischee und auch nicht in einer biographischen Erfahrung eines Darstellers aufgeht, und längst nicht alle kulturellen Verweise von den Zuschauenden bestimmten Gruppen zugeordnet und verstanden beziehungsweise entschlüsselt werden können. Die unterschiedlichen Formen der Darstellung, Sprachen und Referenzrahmen deuten einmal auf die Komplexität afrikanischer Gesellschaften hin und zum anderen auf die Absicht der Künstler*innen, diese Vielfalt darzustellen und nicht aufzuheben. In ihrer Verschiedenheit neben- und miteinander dargestellt, „entähneln“ sich die mannigfaltigen Formen in einem einzigen ästhetischen Raum und einem einzigen Darstellerkörper. Diese Offenheit steht im Kontrast zu einem Realismus im Theater, der die ästhetische Form einer spezifischen kulturellen Grup-

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pierung zuordnet und suggeriert, dass Realität in dieser homogenen Spiegelung darstellbar ist. Anders auch als es der Hegel’sche Dreischritt einfordert, nämlich, damit kulturelles (Selbst)Bewusstsein erlangt werden kann, das „Andere“ als binärer Gegenpart gesetzt werden muss, um dessen Aufhebung in der Synthese zu erreichen, geht das Kulturverständnis der Entähnlichung von Vieldeutigkeit aus, die sich nicht über dialektische Prinzipien erschließen lässt. Diese Vieldeutigkeit führt jedoch nicht zu einem Nebeneinander, sondern einem Miteinanderagieren, Aushandeln, aber auch Differenzenzeigen und -leben. Auch Menke arbeitet, aufbauend auf Überlegungen zu Hegels Ästhetik, der er sich bereits in Die Tragödie im Sittlichen widmet, am Potenzial des Ästhetischen für gegenwärtige Zeiten weiter. In der Kraft der Kunst238 interpretiert Menke das Ästhetische in der postHegel’schen Geschichte des Abendlandes als einen politischen Ort, an welchem die Menschen sich ihrer Gleichheit bewusst werden: Dass wir gleich sind, erfahren wir in der ästhetischen Transgression unserer sozialen und kulturellen Existenz. […] Die Gleichheit ist ein ästhetischer Effekt: ein Effekt der Ästhetisierung im Zuschauen. Und wenn ästhetisches Zuschauen ein Tun ist, dann machen wir uns ästhetisch gleich. Oder: Im ästhetischen Tun des Zuschauens machen wir uns gleich.239 Das Prinzip der Menke’schen Gleichheit im Ästhetischen steht auf den ersten Blick Mbembes Überlegungen über die Zukunft einer „gemeinsamen“ Welt konträr gegenüber. Streng genommen sieht Mbembe in dem Wunsch nach Gleichheit eine große Gefahr für das gesellschaftliche Zusammenleben und stellt dieser Praxis das Prinzip der „Entähnlichung“ gegenüber. Im Gegensatz zur Assimilation, die Gleichheit einfordert, kann Entähnlichung verstanden werden als „Sorge um das Offene“ vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass Verschiedenheit das Gemeinschaftsstiftende unserer Zeit ist. Die Einsicht der Unterschiedlichkeit setzt einen anderen Schwerpunkt als die ästhetische Erfahrung der Gleichheit, wie Menke sie beschreibt. Gleichwohl geht der Gleichheit im ästhetischen Tun beziehungsweise Denken eine Krisenerfahrung voraus, die auch Momente einer Entähnlichung evoziert: Das ästhetische Denken der Politik besteht darin, unsere politische Gleichheit so zu verstehen, dass sie ihren Anfang und ihre Bedingung in einer Gleichheit hat, die wir – nur – im ästhetischen Zuschauen erfahren; denn nur die ästhetisch erfahrene Gleichheit ist

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als Krise oder Grenze ebenso unseres natürlichen wie sozialen Seins eine wahrhaft universale Gleichheit: eine Gleichheit vor den Unterschieden, die jedes natürliche oder soziale Vermögen bestimmt.240 Während Menke die Gleichheit betont, tritt in Mbembes Forderung nach Entähnlichung die Verschiedenheit in den Vordergrund. Beides jedoch sind Phasen des ästhetischen Erfahrens. Denn um das Wissen über die Gleichheit der Menschen untereinander zu erlangen, muss die Krise beziehungsweise Grenze des natürlichen und sozialen Seins im ästhetischen Zuschauen erfahren werden, was Menke als „Kraft“ der Kunst bezeichnet: „Nur weil alle Menschen Kräfte haben, die sich im Spiel entfalten, weil alle Menschen darin gleich sind, können sie Vermögen erwerben, in deren Ausübung, Maß und Auslegung sie sich unterscheiden und entzweien.“241 Sowohl die südafrikanischen Theaterproduktionen als auch In unserem Namen am Gorki und Linkes und Kôkôs Mistral finden für diese Grenzerfahrung eine ästhetische Form: Da sie vielfältiges performatives und kulturelles Material wählen, wird sich der Zuschauende der Verschiedenheit seines Erfahrungshorizonts zu anderen bewusst und erfährt gleichzeitig mit den anderen, denen es nicht anders geht, eine Gleichheit, die nicht auf Assimilation beruht, sondern auf Entähnlichung. Diese ästhetische Erfahrung setzt zwar auch auf gemeinschaftsstiftende Gleichheit, jedoch wird diese durch einen Prozess des Ungleich- und Nichtähnlichseins hervorgebracht. 242 Die Akzentuierung des Nichtähnlichseins in der Gleichheit ist jedoch entscheidend, um den Herausforderungen der kulturellen Wandlungsprozesse jenseits von Radikalisierungen zu begegnen. Dieses Konzept des Einander-gleich-Fühlens erteilt populistischen Gemeinschaftsvorstellungen, wie sie jüngst rechte Positionen – so etwa Caroline Sommerfeld-Lethen – formulieren,243 die auf ein Gemeinschaftsgefühl setzen, welches über essenzialistische und beschränkende Metaphern, Assoziationen und Gefühle einer Gleichheit im Einander-Ähnlichsein vorgaukelt, eine Absage. Vielmehr setzt das hier vorgeschlagene Modell auf eine Gemeinschaftsvorstellung, die davon ausgeht, dass jedes Mitglied eine so facettenreiche Biographie und vielfältige Erlebnisgeschichte hat, mit der es niemals stets im homogenen Einklang sein kann, sondern sich über ständige Erfahrungen des Nichtwissens, Nichtkennens und Unähnlichseins konfiguriert. Die Sorge um das Offene soll diese Momente betonen, und hierfür eignen sich, wie es die vorgestellten Produktionen gezeigt haben, besonders ästhetische Formate. Zudem verweisen die Performances auf einen Gestus des Übergangs, die in Mbembes gegenwärtigen Überlegungen zunehmend eine Rolle

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spielen, führen ihn jedoch nicht in Gänze durch, sondern deuten ihn nur an: Obwohl sie vielfältige performative und kulturelle Bilder und Traditionen kombinieren, verfremden und auch dekonstruieren, stützen sie sich zu großen Teilen in den Performances auf Passagen, die von den Zuschauenden wenn nicht erkannt, so zumindest kategorisiert werden können. Somit wird der Gestus der Entähnlichung, also das Gefühl, etwas zu erleben, das den eigenen Erfahrungen nicht ähnlich ist und trotzdem wahrgenommen wird und in diesen ästhetischen Momenten persönliche Erfahrungen der Entfremdung wiedererkennt beziehungsweise erahnt, nur punktuell an einigen Stellen spürbar.

Versionen von Freiheit Mbembe greift in Politik der Feindschaft244 den Begriff der Entähnlichung zwar nicht auf, gibt aber entscheidende Hinweise, in welche Richtung sich dessen philosophische Dimension entfalten kann, aufgrund derer dann ästhetische Überlegungen abgeleitet werden können. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass im gegenwärtigen Denken, „alles, was nicht man selbst ist, für nichts erachtet“ wird.245 Aus dieser Grundannahme heraus dienen die Grenzen der gegenwärtigen Welt, so führt er weiter aus, mehr der Abschottung denn der Überquerung. Mbembe spiegelt die Situation der Menschen wider, die sich ohne Visum nicht nur nicht frei bewegen können, sondern schlimmer noch, aufgrund zum großen Teil kolonialer Strategien, Kriege oder anderer Katastrophen ihre Länder verlassen müssen und an nicht überwindbaren Grenzen gnadenlos zum Scheitern verurteilt sind. Er erhebt seine Stimme für diejenigen, die das Land ihrer Geburt verlassen müssen und denen oftmals Tradition und Kultur im Zuge der Kolonialisierung genommen wurden, und folgert: „Unter diesen Umständen könnte es sein, dass man im Grunde Bürger gar keines bestimmten Staates ist.“246 Diese Staatenlosigkeit geht allerdings – so folgert er weiter – mit einer Freiheit einher, die jedoch einen radikalen Tribut einfordert, nämlich das Land, in welchem man geboren wurde, nicht nur zu verlassen, sondern sich diesem auch zu „entäußern“, ein Schritt, den jeglicher Migrant und Geflüchteter willentlich oder unwillentlich gegangen ist. Die mit diesem Verzicht entstehende Freiheit steht in enger Korrelation mit dem Moment der Entähnlichung, da sie davon ausgeht, dass der Mensch sich auch von seinem Geburtsland entähnelt und beständig auf der Reise ist, wie es die Produktion des Magnet Theatre Every Year, Every Day, I am Walking inszeniert. Der Grundgestus dieses Seins hat

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jedoch keinen Platz im System der gegenwärtigen Welt: „Aber was würde aus ihm, wenn er nicht heimkehrte, sondern seinen Weg fortsetzte, bei Bedarf umkehrte, sich aber stets außerhalb seines Geburtsorts bewegte, ohne deshalb den Status eines ‚Flüchtlings‘ oder ‚Migranten‘ zu beanspruchen und erst recht nicht den eines ‚Staatsbürgers‘ oder Einheimischen – eines angestammten Landmanns?“247 Die Gegenwart kann diese Frage noch nicht beantworten, denn diese Subjektkonstitution fordert eine neue Welt: „Ein Mensch in der Welt zu werden, ist keine Frage der Geburt und keine Frage der Herkunft oder Rasse. Es ist eine Sache des Weges, der Zirkulation und der Verwandlung.“248 Und somit bleibt Mbembes Schlussplädoyer ein Blick in die Zukunft: „Wieder zum Leben erweckt und gerade dadurch verschieden vom erniedrigten Körper des kolonisierten Daseins, wird dieser neue Leib eingeladen, Mitglied einer neuen Gemeinschaft zu werden. Sich nach seinem eigenen Plan entfaltend, wird er seinen Weg nun gemeinsam mit anderen Körpern gehen und dadurch die Welt neu erschaffen.“249 Politik der Feindschaft erscheint für den Diskurs um die Verhandlung von kultureller Vielfalt weiterführend, da Mbembe nicht nur die Position seitens einer kolonisierten Gruppe einnimmt, sondern einen Weg jenseits kolonialer Denk- und Handlungsmuster sucht. Der gemeinsame Weg der Menschen ohne Grenzen mit Mut zu Verwandlungen zeigt noch einmal mehr die Perfidität der Kolonisation und die Ignoranz gegenwärtiger westlicher Demokratien, einzig das vermeintlich Eigene zu schützen, und das Dilemma der Menschen, die auf dem Weg sind, nirgendwo ankommen zu können, so lange diese Vorstellung von Welt ihnen keinen Platz und keinen Status gewährt. Noch einmal mehr scheint es Aufgabe ästhetischer Verfahren und Handlungen zu sein, diesen Bewegungen, Suchen und Verwandlungen einen Raum zu geben. Bevor das Potenzial dieses Verständnisses einer Ästhetik der Entähnlichung abschließend beschrieben wird, soll das Feld vonseiten der westlichen Demokratien, also der ursprünglichen Kolonisatoren, betrachtet werden, und zwar mit Rückgriff auf Juliane Rebentischs Die Kunst der Freiheit. 250 In der Fokusverschiebung wird die philosophischpolitische Dramatik der gegenwärtigen Gesellschaft, der zurzeit wohl nur im Ästhetischen sinnvoll begegnet werden kann, mehr als deutlich. Mit Blick auf Rebentischs Diskurs an der Schnittstelle von praktischer Philosophie und ästhetischen Wirkungsfeldern fällt zunächst eine andere Schwerpunktsetzung ins Auge. Sie geht der Form der Freiheit in gegenwärtigen Demokratien nach, genauer stellt sie die Frage, „was mit der ethisch-politischen Zurückweisung des Ästhetischen genau auf dem Spiel steht“.251 Die Zurückweisung des Ästhetischen hat im Abendland

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eine gewisse Tradition, welche in jüngsten Jahren aufgrund der „Ästhetisierung der Lebenswelt“ wieder Hochkonjunktur hat. Im Mittelpunkt dieser Diskurse steht die Beobachtung, dass das Potenzial der Selbstverwirklichung mittels ästhetischer Kategorien in der gegenwärtigen westlichen Welt ein Schwindel ist: Auf dem Weg in diesen Albtraum sind die Demokratien in dem Maße, wie sie den Abstand zwischen dem Ort der Macht und dem der Gesellschaft schwinden lassen, um an die Stelle politischer Bestimmungen von Gleichheit die Gleichheit der Voraussetzungslosigkeit eines falschen Freiheitsmodells zu setzen. Die sich über ihre eigene Ohnmacht legitimierende Macht identifiziert sich dann tendenziell mit dem Bild einer – nun allerdings neoliberal verstandenen – klassenlosen Gesellschaft, die noch den ärmsten Schlucker einschließt, indem sie ihm das Potential zur kreativen Selbstverwirklichung zuspricht.252 Der „andere“ Blick Rebentischs zeigt sich nicht in der Kritik an der heutigen Gesellschaft, die ja wie Mbembe vor einer Verschleierung ungleicher sozialer Grundbedingungen warnt, sondern vielmehr in der Position der Verfasserin, die sich als Philosophin im Schreiben selbstverständlich vom armen Schlucker und den Verlierern abhebt. Makaber erscheint die Feststellung, dass hinter dem Sich-ständig-neu-Entwerfen im Selbstverwirklichungswahn des westlichen Subjekts ein ideologischer Albtraum des Neoliberalismus vermutet wird, wo sich andere auf den Weg machen, ihr gewohntes Leben zu verlassen, um Selbstverwirklichung und eine wie auch immer definierte Freiheit außerhalb des Landes der eigenen Geburt zu finden. Ein Geflüchteter oder eine Migrantin sind wahrscheinlich froh, zu den „armen Schluckern“ zu gehören, wenn ihnen die Möglichkeit der Selbstverwirklichung überhaupt zugesprochen wird. Hier zeigt sich das philosophische Gebaren einer traditionell kolonisierenden Gesellschaft, die davon ausgeht, auf der Seite der Richtungweisenden zumindest innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses zu stehen. Dieser kolonisierende Gestus westlichen Denkens und Philosophierens ist schwer auflösbar, ebenso ein Manko für das Verfassen dieser Arbeit, solange versucht wird, zu einem klaren, eindeutigen Ergebnis zu kommen. Während Rebentisch zwischen „falsch“ und „richtig“ unterscheidet und unmissverständlich zu einem eindeutigen Schlussergebnis kommt, stellt Mbembe auch am Ende seiner Abhandlung Fragen und bleibt in seinem Schlussplädoyer offen.

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Versionen von Freiheit

Gleichwohl tendieren beide inhaltlich in eine ähnliche Richtung, doch eben mit unterschiedlichen Haltungen in ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis. Sie betonen gleichsam die für die Subjektkonstitution wichtigen Momente der Entfremdung und Verwandlung. Rebentisch favorisiert einen „Begriff von Selbstbestimmung, der die Erfahrungen des Mit-sich-uneins-Seins, und das heißt unter Umständen eben auch: der Entfremdung aus den gesellschaftlich gestützten Bildern des eigenen Selbst, für eine Emanzipation aus diesen Bildern nutzt“.253 Mbembe dagegen betont, seine Studien abschließend: „Ich hätte natürlich gerne eine erschöpfende Antwort auf all diese Fragen gegeben. Aber hier muss der Hinweis genügen, dass das kommende Denken notwendig ein Denken des Übergangs, der Überfahrt und des Verkehrs sein wird. Es wird ein Denken des fließenden Lebens sein“.254 Die Entfremdung bezieht sich hier nicht nur auf die gesellschaftlich gestützten Bilder, sondern auf das Denken an sich. Obwohl beide Werke ein ähnliches Ziel vor Augen haben, nämlich die Freiheit des Menschen auch zukünftig mittels des Vermögens zu sichern, eine distanzierte Sicht auf sich selbst, die eigene Geschichte und zugedachte Rolle zu haben, also auch tradierte, sich selbst stabilisierende Ordnungen zu hinterfragen, finden sie schlussendlich nicht zusammen. Vermutlich ist der Akt der Kolonisierung, die einstige Teilung der Welt in Kolonisierende und Kolonisierte noch zu wirkungsmächtig. Die Sprache und das Denksystem unserer derzeitigen Wissenschaft hat die Kolonisierung vorangebracht, was Mbembe hinterfragt, während Rebentisch dagegen innerhalb des tradierten philosophischen Wissenschaftskanons operiert und kritische Fragen beispielsweise nach fest etablierten, zum Teil mit einem kolonialen Gestus daherkommenden Mechanismen einer eingebildeten Diskurshoheit nicht stellt. Die Unvereinbarkeit beider Sichtweisen innerhalb der Wissenschaft kann jedoch womöglich im Ästhetischen einen Ort des Zusammenkommens finden. Ergänzend zu Rebentischs sorgfältiger Herleitung ihrer Thesen in der Philosophie des Abendlandes von Platon bis Rancière, soll an dieser Stelle nochmals auf ein gewisses Unvermögen dieser philosophischen Tradition hingewiesen werden, das Hegel am Ende seiner Vorlesungen unmissverständlich ausspricht. Der neue Bund, der nach dem Ende der Kunst in der Kunst auftaucht, den er jedoch weder zu benennen noch näher zu beschreiben vermochte, dieses schwer Fassbare oder nach seinen Kategorien Beschreibbare, mag auf ein besonderes Vermögen des Ästhetischen hindeuten. Nämlich dort, wo sich Kunst vom System einer Gesellschaft beziehungsweise Kultur lösen kann, einen Raum für Wandlungen, Veränderungen, Unverständnis, Nicht-Wissen bereit-

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Vom postkolonialen Diskurs zur Ästhetik der Entähnlichung

stellt, können Menschen mit verschiedenen Hintergründen, Lebenswegen, Geschichten sich in ihren Momenten der Entfremdung gemeinsam treffen und Neues und Anderes erfahren, was in gängigen philosophischen und wissenschaftlichen Sprachen (noch) nicht beschrieben werden kann. Die Produktion In unserem Namen am Gorki hat durch die Dekonstruktion des Theaterraums und des Textes von Jelinek zu gemeinsamen Momenten des Unwissens geführt. Es ging nicht darum, diese gemeinschaftlich zu erfahren, denn jeder Zuschauende wird diese an unterschiedlichen Stellen erlebt haben. Vielmehr stand die jeweilige Haltung, eine Distanz zu sich, dem eigenen Wissen zu gewinnen und sich gleichzeitig darauf einzulassen, etwas Neues zu erfahren im engsten Sinne der ästhetischen Erfahrung im Vordergrund. In unserem Namen fordert vom Publikum, eine Haltung der Entfremdung gegenüber der eigenen Erfahrungs- und Wissenswelt beziehungsweise der eigenen kulturellen oder gesellschaftlichen Gruppe einzunehmen, die Rebentisch in ihren Überlegungen stark macht. Dies ist wiederum eine Grundvoraussetzung, um Momente des Übergangs und der Überfahrt, wie Mbembe sie beschreibt, zu erspüren. Solches Geschehen lässt sich als ein ästhetischer Akt im Gestus der Entähnlichung verstehen, weil das Publikum gerade nicht in Versuchung geführt wird, das Bühnengeschehen seinem eigenen Erfahrungswissen anzupassen, sondern – zumindest ansatzweise – in ungewohnte Sphären zu tauchen, die nicht der eigenen Geschichte ähnlich gemacht, „assimiliert“ werden. In dieser ästhetischen Erfahrung, die, falls sie sich drauf einlassen, allen Zuschauenden möglich wird (weswegen in dieser „Gleichheit“ die „Kraft der Kunst“ im Menke’schen Sinne wirkungsmächtig wird), können womöglich ungewohnte Formen des Denkens entstehen: Denk- und Wissenschaftsweisen, die sich aus kolonialen Kategorien herausgelöst und die Dichotomien des Abendlandes überwunden haben. Der Weg bis dahin ist weit, und es ist fraglich, ob das Ziel erreicht werden kann.

Der Weg des Ästhetischen ins Offene: Anne Imhofs Faust Dennoch blitzt die Vision einer kommenden Weltgemeinschaft der Verschiedenheit und Vielfalt in rezenten Kunstproduktionen immer wieder auf, und es wird die Aufgabe der Kunst- und Kulturwissenschaften sein, diese Impulse der ästhetischen Praxis im wissenschaftlichen Denken und Forschen aufzugreifen. Über Anne Imhofs Faust auf der Biennale in Venedig im Jahr 2017 ist in den letzten Monaten viel geschrieben worden. Einhellig wird das Aufbrechen tradierter Grenzen von Kunstgen-

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Der Weg des Ästhetischen ins Offene: Anne Imhofs Faust

res, das gelungene Verweben von abendländischen Stoffen mit gegenwärtigen Herausforderungen, von Innen und Außen, und insbesondere der in verschiedene Richtungen sich stets neu konstituierende Erfahrungs- und Aufführungsraum gefeiert.255 Tatsächlich schafft Imhof einen Rahmen, in welchem die Zuschauer*innen verschiedene Phasen erleben, die als grundlegend und zukunftsweisend für die ästhetische Erfahrung der Entähnlichung gelten können. Die Besucher schweifen auf dem historischen Giardini-Gelände von einem Pavillon zum nächsten, sie sind Passanten, welche die aktuellen Positionen ausgewählter Länder und Künstler begutachten. Das Äußere des deutschen Pavillons verstört zunächst und lässt tagespolitischen Assoziationen freien Lauf. Ein großes Gitter wie ein Zwinger umgibt Teile des Gebäudes, in ihm wachen zwei deutsche Dobermänner. Läuft gerade eine aktuelle Performance, drängen Massen in das Gebäude, sonst tröpfeln einzelne Besucher in den Pavillon hinein und sind gespannt, was passiert, wenn sie den Glasboden betreten, der ungefähr einen Meter über dem Boden des Gebäudes angebracht ist. Es ist ein vorsichtiges Schreiten, eine Suche nach Orientierung, die vor lauter Glas gar nicht so einfach ist, aber auch, weil man ständig auf der Hut ist, dass irgendwo eine besondere Performance beginnt, die nicht verpasst werden will, entweder im kleinen Raum zwischen Glas und Boden oder in den Teilen des Pavillons, die gleich der Struktur eines Zoos vom Besucherraum abgetrennt ist. Die Performances können überall stattfinden, meist werden sie „erkennbar“, wenn die Masse handyzückend einen bestimmten Ort fokussiert und sich sammelt, doch jederzeit kann am anderen Ende des Raums etwas Neues beginnen. Imhof manövriert die Besucher somit in eine ungewohnte Position, sie wissen nicht, wo das Spektakel beginnt, und sind gleichzeitig Teil der Performance. Sie beobachten nicht nur, sondern werden beobachtet, auch von Imhof selbst, die Anweisungen an ihr Team über ihr Smartphone gibt. Sie sehen Bilder, manchmal sexuell konnotiert oder auch voller Aggression, hören hämmernde oder melancholische Musik. Kleine Szenen werden inszeniert, beispielsweise ein kleines Feuer unter dem Glasboden angezündet. Alles scheint zunächst ohne Sinn und nachvollziehbare Dramaturgie, und dennoch ist die Situation höchst emotional aufgeladen, gerade, weil niemand so recht weiß, was passiert, sondern nur, dass etwas passiert, meist ohne Sprache, vornehmlich in Bewegungen der Künstler und somit auch mit den Zuschauenden, die folgen und mit ihren Smartphones versuchen, das Hier und Jetzt in eine Beständigkeit einzufangen. Besonders einprägsam erscheinen die Momente der Verunsicherung, diesen gläsernen Boden zu

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betreten und dann in den Fluss der Gruppe und Performance zu gelangen, sich mit ihm im gemeinsamen Erstaunen zu bewegen, während die Themen „Grenzen und Macht“, „Nähe und Distanz“, „Innen und Außen“ allgegenwärtig sind: Das Innen des eigenen Smartphones, das unter der Glasoberfläche vieles lenkt, die Künstler unter dem Boden, die gefangen scheinen, Objekte der Lust und Gewalt, und doch die Welt von unten anders sehen und plötzlich ausbrechen können, ohne Schwierigkeiten aus einem Ausgang in die Giardini hinein entschwinden und dort beinahe entspannt zwischen den Besuchern untergehen. Faust lässt sich als Inszenierung der Verunsicherung, des Übergangs, der Verwandlung und des Flusses begreifen, es ist nicht klar, wer welche Rolle wann spielt, nur dass dieses Unwissen von allen gemeinsam erfahren wird; selbst Imhof weiß nicht, wie die Besucher agieren werden und ihre Performance weitergeht: „In dem Moment, in dem die Anderen dazukommen, wird fraglich, wer eigentlich was formt und entscheidet? Wer ist der, der führt, und wer ist der, der folgt? Alle sind in einem Raum zusammen, und nur deswegen erscheint es.“256 Diese Momente generieren ein großes Potenzial an Freiheit in der Wahrnehmung, im Assoziieren und im Denken, denn man weiß gar nicht so recht, wohin. Unterschiede werden nicht aufgehoben, sondern bekommen einen gemeinsamen Ort. Imhof erschafft somit eine Ästhetik der Entähnlichung im erfahrbarsten Sinne, denn sie bewegt die Zuschauenden zwangsläufig in Situationen des Übergangs in etwas Offenes, das sich zwischen Verunsicherung und Unwissen etabliert, aber von allen – selbst von der Regisseurin – im Moment gemeinsam erfahren wird. Allerdings zeigt sich, wie schnell der ästhetische Raum, der die von Mbembe proklamierte Sorge um das Offene betreibt, an Grenzen stößt. Die Besucherin darf nicht beim Eingang hinaus, sondern muss den Ausgang am anderen Ende des Pavillons nehmen und kann dann nicht mehr zurück, das Security-Personal lässt eine Abweichung vom vorgegebenen Weg nicht zu. Draußen angekommen, schweift der Blick über den Zwinger mit den Dobermännern, und es stellt sich die Frage, wer eigentlich an diesem Spektakel teilnehmen darf? Die Biennale-Tickets sind teuer, die Kunstwelt gibt sich stets noch als eine relativ elitäre Gemeinschaft mit lange tradierten Kodes und Verhaltensregeln – zweifelsohne von internationaler Couleur, doch inwiefern kann hier angesichts der Exklusivität wirklich von einem Potenzial kultureller Vielfalt ausgegangen werden? Entscheidend für eine Ästhetik der Entähnlichung scheint an diesem Punkt das Heraustreten aus eigenen Mustern im Sinne der von Rebentisch und Mbembe beschriebenen Versionen von Freiheit zu sein, was im

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Fall von Faust als gleichheitsstiftender Akt interpretiert werden kann. Darüber hinaus sind für das Ausschöpfen des transkulturellen Potenzials der ästhetischen Entähnlichung die politischen und strukturellen Rahmenbedingungen gefragt: Welche kulturellen Geschichten und Hintergründe werden aufgegriffen, wer nimmt an den Projekten teil, und was wird gefördert? Vor diesem Hintergrund ist die Sorge um das Offene ebenso eine Aufgabe der Kulturpolitik. Sie beeinflusst in hohem Maße, welche gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen und Geschichten in die Theaterprojekten einbezogen werden und entscheidet so zweifelsohne mit, auf welche Art und Weise sich das ästhetische Potenzial konstituiert.

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Kapitel 4 Kulturpolitik als Sorge um das Offene


Kulturpolitik als Sorge um das Offene

Nicht nur innovative künstlerische Konzepte benötigen eine Ästhetik und Strategie der Entähnlichung, um Erfahrungen von Gleichheit durch Vielfalt zu schaffen, sondern auch kulturpolitische. So kommt es nicht von ungefähr, dass häufig Institutionen, Kollektive und Künstler*innen, welche unter unkonventionellen Rahmenbedingungen organisiert sind, zurzeit an vorderster Front stehen, wenn es um Fragen kultureller Vielfalt geht. Dem Gorki Theater in Berlin, dem Magnet Theatre in Kapstadt, der von Johannes Odenthal initiierten Koproduktion von Linke und Kôkô und Imhofs Werk auf der Biennale ist gemeinsam, dass sie sich in ihrer Struktur offensichtlich von klassischen Produktionen etablierter Kunstinstitutionen unterscheiden: Magnet und das gegenwärtige Gorki gründeten sich in einer bewusst gesetzten Abgrenzung zu den tradierten Theaterinstitutionen in Südafrika und Deutschland. Mistral entstand in einer gemeinsamen Arbeit von zwei Vertretern gänzlich unterschiedlicher Tanztraditionen und deren Verweisebenen, und Faust bricht mehr als deutlich Genregrenzen, nicht nur zwischen Ausstellung und Performance. All diese Neuanfänge, Überschreitungen und Gegenentwürfe von Gewohntem, Etabliertem und Tradiertem wären jedoch nicht möglich gewesen, wenn sie nicht von den kulturpolitischen, somit auch organisatorischen und Manager-Ebenen unterstützt worden wären. Shermin Langhoff wurde gemeinsam mit Jens Hillje Co-Intendantin in Berlin, weil der Senat es so entschied, Mistral wurde von der Akademie der Künste finanziell unterstützt, und auch das Magnet kann seine Arbeit nur aufgrund einer bestimmten Förderstruktur in Südafrika durchführen. Imhofs Faust wurde ermöglicht, weil ihre Arbeit zu dem internationalen Festival nach Venedig eingeladen wurde. Um eine Ästhetik der Entähnlichung überhaupt zu erschaffen, braucht es eine Kulturpolitik und Organisations- und Managementstrategien, die Sorge für Rahmenbedingungen tragen, welche die Offenheit im künstlerischen Prozess garantieren. Mbembes politische Forderung nach der „Sorge um das Offene“ kann auch als ein Appell an die kulturpolitischen Akteure und somit auch Kulturmanager und Entscheidungsträger umgedeutet werden.

Kulturpolitik im Kontext gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt Mit Blick auf die rezenten kulturpolitischen Rahmenbedingungen von Theaterschaffen lässt sich feststellen, dass sich diese recht divers und komplex gestalten. Allein im deutschen Kontext werden Produktionen mal von Stadt-, Landes- und Staatstheatern hervorgebracht und unterliegen lokalen Entscheidungsträgern, andere werden für regionale oder

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Kulturpolitik im Kontext gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt

bundesweite Festivals organisiert und von unterschiedlichen öffentlichen und privaten Förderern gesponsert. Manche wiederum sind Teil der internationalen Kulturpolitik und unterliegen deren Förderagenda. Zudem wird gesellschaftlich und sozial engagiertes Theater vermehrt von Firmen und Unternehmen als Marketing- und Branding-Strategie genutzt und u. a. aus diesem Grunde finanziell unterstützt. Aufgrund dieser vielfältigen Verflechtungen kulturpolitischer Wirkungsfelder auf diversen politischen, unternehmerischen, institutionellen und gesellschaftlichen Ebenen bringen Tobias Knoblich und Oliver Scheytt den Begriff „Cultural Governance“ im deutschsprachigen Kontext ins Spiel: Cultural Governance ist der Versuch, Aufgaben der Trägerschaft, der Finanzierung und der gesellschaftlichen Entwicklung von Kultur zu lösen und den Kulturstaat durch unterschiedliche, auch sektoral übergreifende Bündnisse gemeinsam herzustellen. […] Im Leitbild des „aktivierenden Kulturstaates“ verbirgt sich keine Staatsgläubigkeit, sondern der Versuch, Kulturpolitik in die Mitte der Gesellschaft zu führen, sie stärker als bisher zum gemeinsamen Anliegen unterschiedlicher Akteure zu machen.257 All diese verschiedenen Akteur*innen und ihre Strukturen beeinflussen auf vielfältige Art und Weise die ästhetischen und künstlerischen Ebenen, öffnen Freiräume oder schmieden Abhängigkeiten, entscheiden über Publikum und Veranstaltungsorte, Medien- und Öffentlichkeitswirksamkeit. Sie spielen hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Projekte eine entscheidende Rolle, gehen demnach unweigerlich Hand in Hand mit den künstlerischen Ebenen. Mehr noch, Kulturpolitik, Kunst und Ästhetik treffen sich in einem Spannungsfeld, was durch rezente gesellschaftliche Anforderungen und damit einhergehende philosophischästhetische Fragestellungen zunehmend polarisiert wird: Welcher Output rechtfertigt eine Förderung, künstlerische Freiheit oder doch ein sozial-gesellschaftliches Wirkungsversprechen? Welche Bevölkerungsgruppen profitieren von diesem Kunstgenuss? Welche Strategien verfolgen Städte und Kommunen und welche die internationale Kulturpolitik? Ist der künstlerische Mehrwert messbar? Falls ja, wie kann dieser für wirtschaftliche oder marketingstrategische Zwecke genutzt werden? In den einschlägigen kulturpolitischen Diskussionen spielt das gesellschaftlich-soziale Potenzial ästhetischen Schaffens vermehrt eine entscheidende Rolle. Bezugnehmend auf die Überlegungen, die in den letzten Kapiteln angestellt wurden, kann gesellschaftliche Relevanz von Kunstproduktionen sich beispielsweise darin äußern, dass Sorge für das

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Kulturpolitik als Sorge um das Offene

Offene getragen wird, indem die Hervorbringungen von Ästhetiken der Entähnlichung unterstützt werden. So können außerkünstlerische Ebenen und Strukturen von Theaterschaffen daraufhin analysiert werden, inwieweit sie diese Prozesse um kulturelle Vielfalt fördern. Gleichwohl sollte eine thematische Rahmung unter dem Begriff der Entähnlichung die Diskussion aus herkömmlichen Kategorien des betriebswirtschaftlichen Mehrwerts herausmanövrieren, da letztlich nur ein Projekt, welches sich auf bewährte und tradierte Zuschauergruppen richtet, von diesen bewertet werden kann. Ein Projekt dagegen, welches sich der Entähnlichung und Offenheit verschrieben hat, zielt darauf, eine Diversität an kulturellen Verortungen anzulocken und zu verhandeln, was von herkömmlichen betriebswirtschaftlichen Statistiken nicht positiv erfasst werden kann, denn es spricht nicht vordergründig die Mehrheitsgesellschaft an und muss neue Zuschauergruppen erst noch erreichen. Projekte, die, weil sie immer schon erfolgreich waren und die Kunstelite in ihrer Vorherrschaft beglücken, fördern dagegen häufig weder Entähnlichung noch Vielfalt oder gar eine Sorge um das Offene, wohl aber ausverkaufte Häuser. Die Kulturpolitik befindet sich derzeit somit an einem Scheideweg: Fördert sie mehr oder weniger ausverkaufte Häuser für das etablierte Abonnementpublikum oder Formate für viele, die jedoch zum großen Teil noch nicht im Theater angekommen sind? Aufgrund der Vielzahl der in den letzten Kapiteln vorgestellten Produktionen, deren Wirken den Weisen einer Ästhetik der Entähnlichung nahekommen, kann jedoch durchaus behauptet werden, dass Kulturpolitik beziehungsweise Cultural Governance in den letzten Jahren einige Strukturen geschaffen haben, Formen künstlerischer und kultureller Vielfalt Raum zu geben. Doch auch hier lauern (neo)koloniale Fallstricke, die gut gemeinte Förderpolitik zum Stolpern bringen können. Die Ausrichtung von kulturpolitischen Entscheidungen, Finanzierungs- und Fördermodellen, Managementstrategien und auch Evaluationsrichtlinien internationaler beziehungsweise inter- und transkulturell ausgerichteter Theaterproduktionen tragen häufig immer noch imperiale Züge. Während in den letzten Kapiteln ersichtlich wurde, wie im Zuge der postkolonialen Kritik die Dominanz der europäischen Ästhetik entlarvt wurde, befasst sich die Wissenschaft bis dato jedoch auffallend zurückhaltend mit der Frage, inwieweit die Ebenen der Kulturpolitik und der Cultural Governance mit einem kolonialen Gestus handeln. Eine Ausnahme bildet hier unter anderem das Hildesheimer Institut für Kulturpolitik, das neue Tendenzen innerhalb der einschlägigen For-

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Kulturpolitische Linien zur Förderung von kultureller Vielfalt …

schung etabliert und internationale Stimmen verlauten und gehört werden lässt. So wurden in den letzten Jahren eine Reihe an kritischen Studien über die Rahmenbedingungen internationaler, trans- und interkultureller und in jüngster Zeit auch postmigrantischer Kulturpolitik und Kulturarbeit veröffentlicht. 258 Der 2012 etablierte UNESCO-Chair baut kontinuierlich ein Netzwerk vielfältiger Diskussions- und Verhandlungsräume für eine kulturpolitische Neuausrichtung dieser Felder auf. Auf der vom Lehrstuhlinhaber Wolfgang Schneider einberufenen südafrikanisch-deutschen Tagung „Theatre in Transformation“259 entstand die Idee, vielversprechende Ansätze aus dem südlichen Afrika für verantwortungsvolle Formen der Kultur- und Theaterpolitik aufzugreifen und im theoretischen Kontext einer Ästhetik der Entähnlichung zu diskutieren. Mein 2017 veröffentlichter Aufsatz „Koloniale Fallstricke erkennen und meiden: Perspektiven für die interkulturelle Theaterarbeit von der Finanzierung bis zur Evaluation“ stellt erste Überlegungen auf diesem Terrain vor und greift Mbembes „Sorge um das Offene“ als kulturpolitische Strategie auf. Es mag vielleicht zunächst irritieren, warum traditionell außerhalb des künstlerischen Prozesses liegende Ebenen der politischen Entscheidungen, der Finanzierungsstruktur und somit auch des Managements vor dem Hintergrund einer philosophisch-ästhetischen Theorie, wie sie in den letzten Kapiteln vorgestellt wurde, verhandelt werden sollten. Doch diese – häufig unabhängig voneinander untersuchten – Ebenen von Theaterarbeit bedingen einander, sodass ein Forschungsdesign, welches diese gemeinsam beleuchtet, zu fruchtbaren Ergebnissen führen kann. Am Anfang eines jeden Projekts steht meist nicht nur die künstlerische Idee. Vielmehr müssen auch die Rahmenbedingungen, diese überhaupt zu verwirklichen, gegeben sein. Deren Planung und Festlegung obliegt der Kulturpolitik.

Kulturpolitische Linien zur Förderung von kultureller Vielfalt in Deutschland seit der Jahrtausendwende Unbestritten hängt die Ausrichtung der Theaterlandschaft von kulturpolitischen Planungen ab. Die Politik entscheidet nicht nur über Budgets, sondern mischt sich vermehrt in die Ausrichtung der Projekte ein, was von Künstlerinnen und Künstlern oftmals kritisch gesehen wird. Die geldgebenden Institutionen der Cultural Governance betreten ein Terrain, welches zumindest im westlichen Verständnis gemeinhin als Freiraum definiert wird. Kunst ist vielleicht eine Frage des Geschmacks,

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Kulturpolitik als Sorge um das Offene

aber sollte politisch weder zensiert noch aufgrund politischer Interessenlagen in eine bestimmte Richtung gefördert werden, so die weit verbreitete Meinung. Nichtsdestotrotz scheint der Wandel in der Kulturförderung, die gesellschaftliche und politische Wirksamkeit von Kunst zu betonen und zu fördern, kaum aufhaltbar, und mit Blick auf den südafrikanischen Kontext wird deutlich, dass andernorts eine zumindest gesellschaftliche oder soziale Relevanz von Kunstpraxis von den Förderern erwartet wird. Die Diskurshoheit über die Ausrichtung und Verpackung der Relevanz obliegt dort jedoch zum Teil auch den Künstler*innen und deren Kreativität und Phantasie – dieser Trumpf der Kunst findet in der Diskussion hierzulande wenig Beachtung. Die einschlägigen Akteure bewerten die Tendenzen unterschiedlich. Schneider beschreibt in „Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft“ einige gegenwärtige Sichtweisen und plädiert selbst dafür, die europäische Perspektive zu betonen, da diese sich divers gestalten lässt: „Die europäische Theaterlandschaft verfügt über unterschiedliche Ansätze: Staatstheater und Stadttheater, Landesbühnen und Theateragenturen, Freie Theater und private Theater, Musicalbühnen und Theaterhäuser, mit und ohne Ensemble, institutionalisiert oder projektorientiert, Spielpläne im Repertoirebetrieb oder en suite.“260 Deutschland mag als Musterland des Theaters gelten, repräsentiert es doch alle diese Ansätze in einer vergleichsweise ausgeprägten Art und Weise. Doch legten, so argumentiert der Aufsatz weiter, die Grundsteine für die gegenwärtig auffallende Vielfalt nicht unbedingt die tradierten klassischen Institutionen und Festivals der 1990er Jahre. Hamburgs Kampnagel, Berlins Hebbel, das Festival d’Avignon oder Zürichs Glessnerallee avancierten zu „Produktionszentren“261, in denen Künstler aus ganz Europa neue Wege gingen, und zwar im avantgardistischen Stil. Es scheint kein Zufall zu sein, dass sich auch die Theaterwissenschaft in den 1990er Jahren intensiv mit der Theateravantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat.262 Die Forschungen jener Zeit betrachten jedoch vordergründig die ästhetischen und phänomenologischen Ebenen und analysieren künstlerische Modelle, gehen jedoch weniger darauf ein, dass dieser Neuausrichtung der Theaterlandschaft ein entscheidender Schritt in den Rahmenbedingungen vorausgegangen ist, was Schneider – auf die Situation heutzutage blickend – betont: So avantgardistisch die Inszenierungen, so alternativ sind ihre Entstehungszusammenhänge. Die Künstler- und Theaterhäuser sind nicht mit den Tankern der großen Bühnen vergleichbar, ihre Struktur unterscheidet sich von den großen Apparaten, sie sind durch Fle-

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Kulturpolitische Linien zur Förderung von kultureller Vielfalt …

xibilität gekennzeichnet und passen sich den Produktionsbedingungen an, die die projektbeteiligten Künstler brauchen.263 Die flexible Struktur macht sich insbesondere innerhalb der Förderstruktur für Theaterprojekte und Festivals bemerkbar, die seit einigen Jahren bewusst für die Kulturlandschaft außerhalb der tradierten Stadt-, Landes- und Staatstheaterbühnen etabliert werden. Aus ihnen heraus ist es nun auch möglich, innereuropäische und internationale Produktionsschmieden zu entwickeln. Mit dem rot-grünen Regierungswechsel 1998 nahm nicht nur das politische Interesse an Kulturförderung sichtbar zu, welches sich einerseits in der Gründung mehrerer „Kulturinstitutionen“ des Bundes wie der Bundeskulturstiftung (2002) oder dem Hauptstadtkulturfonds (2007) niederschlug, was zu gegenwärtig immer noch anhaltenden intensiven Debatten zwischen Bund, Ländern und Kommunen um den Hoheitsanspruch von Kulturförderung und Kulturpolitik führt. Im gleichen Zuge erhielt die Kulturpolitik der Bundesrepublik nicht nur eine internationale, sondern auch vermehrt eine interkulturelle Ausrichtung. So fasst Claudia Burkhard in ihrer sorgfältig recherchierten Studie Kulturpolitik als Strukturpolitik? Konzepte und Strategien deutscher und italienischer Kulturpolitik im Vergleich zusammen: „2007 ratifizierte Deutschland – auch mit Blick auf die GATS-Verhandlungen – die UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und zeigt seitdem verstärkte Aktivitäten in diesem Bereich.“264 Burkhard stellt aber ebenso eine Neuausrichtung interkultureller Art fest: „Etwa seit der Jahrtausendwende setzt sich die Erkenntnis durch, dass Migrationen als Herausforderung für die Kulturpolitik ernst genommen werden müssen, sodass der interkulturelle Dialog z. B. durch Initiativen wie den Nationalen Integrationsrat oder auch den Fonds Soziokultur verstärkte Aufmerksamkeit erfährt.“265 Die gesellschaftspolitische Bedeutsamkeit beziehungsweise der Paradigmenwechsel, der sich hinter der Erschließung dieses neuen Feldes der Kulturförderung verbirgt, wird besonders deutlich in der Betrachtung des Wertes, dem Kunst in der westlichen Welt zugestanden wird. Der Preis, den die Gesellschaft für Kunstschaffen in Deutschland zahlt, spiegelt sich im besonderen Verhältnis von Kunst und Geld hierzulande wider. Forderungen nach kultureller Vielfalt und inter- und transkultureller Öffnung von Kunstproduktion fordern auch von diesem Verhältnis ihren Tribut, das gesellschaftliches Umdenken erfordert, welches jedoch durch kulturpolitische Entscheidungen unterstützt werden kann.

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Kulturpolitik als Sorge um das Offene

Wandelnde Formen von Kapital innerhalb der Kulturförderung Kultur stellt nicht nur eine Form von Kapital im Sinne Pierre Bourdieus dar, 266 sondern sie wird in Form von Kunst in der Geschichte des Abendlandes immer wieder als Währung gehandelt. In Der Preis des Geldes: Eine Kulturgeschichte267 widmet sich Christina von Braun in einem kurzen Exkurs dem besonderen Verhältnis zwischen Kunst und Geld. Insbesondere in der Figur des Sammlers sieht sie Parallelen zu den Akteuren der Finanzwirtschaft der letzten Jahrzehnte: Mit der Zentrierung auf das Selbst präfiguriert der Sammler die Gestalt des Unternehmers, der mit der freien Marktwirtschaft zur Leitfigur der Ökonomie wird. […] Auf der anderen Seite sind Sammler aber auch Asketen – vergleichbar Max Webers Kapitalisten, die im Zeichen protestantischer Ethik handeln: Die Sammler verzichten auf ‚Genüsse‘, die ihnen das Geld verschaffen könnten, zugunsten der Investitionen in die immateriellen Genüsse von Kunstwerken.268 Nun sei dahingestellt, ob ein Theaterabend ein Genuss ist oder nicht, doch wird ersichtlich, inwieweit Kunst im Sinne der Ökonomie funktioniert. Das Sammeln von Kunstwerken ist im Kontext des Abendlandes auch zu verstehen als ein Bedürfnis, der Flüchtigkeit oder auch Abstraktion des Kapitals einen kulturellen Wert – ein Stück weit im Sinne von Bourdieus kulturellem Kapital – entgegenzuhalten. Von Braun argumentiert ferner, dass nicht nur dem Sammler dieser Mechanismus innewohnt, auch die Nation beziehungsweise der Staat selbst nutzt Kunst, um ihrer beziehungsweise seiner abstrakten Gestalt eine erlebbare Form zu geben: Mit der Entstehung der modernen Staaten, die viele Funktionen der Herrscherhäuser wie der Kirche übernommen haben, wurde das Sammeln zu einer Aufgabe der öffentlichen Hand. Die modernen staatlichen Museen dienen nicht weniger als Selbstdarstellung als private Sammlungen – nur geht es hier um die Selbstdarstellung des kollektiven Ich.269 Sicherlich fungiert Theater in seiner Flüchtigkeit anders als Kunstsammlungen, dennoch sind dessen Institutionen spätestens mit der Entstehung der Nationaltheater Räume der Repräsentation der Bürger und somit von der öffentlichen Hand zu fördern. Oftmals mitten in den

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Wandelnde Formen von Kapital innerhalb der Kulturförderung

Stadtzentren gelegen oder in ehemaligen Herrscherhäusern ansässig, waren und sind sie Ort der bürgerlichen Selbstbestätigung und Machtausübung.270 Mehr noch als die Museen sind sie zudem eine Stätte, in der „Öffentlichkeit“ auch im politischen Sinne generiert wird, so Stefan Hulfeld: Aus dem Denken bzw. aus dem Versuch, es schrittweise in Institutionen eines liberal-bürgerlichen Staates umzusetzen, bezieht der Begriff Öffentlichkeit seine Aura. In Deutschland avancierte er im Vormärz zu einer emphatischen Bedeutung und zwar gerade in Bezug auf Theater. Beispielsweise, wie im Vorwort des Allgemeinen Theater-Lexikons (1839) als Substitution einer politischen Öffentlichkeit: „Die Bühne ist für uns Deutsche außer der Kirche fast die einzige Stätte der Öffentlichkeit. In ihrer Betrachtung und Anerkennung vereinigen sich alle Stämme, Staaten und Provinzen des deutschen Volkes, sie ist der Mittelpunkt der intellektuellen und geselligen Einheit Deutschlands […] und demnach ein unabweisbares Aggregat des gesellschaftlichen Lebens.“271 Aus kulturpolitischer Sicht wohnen dem Theater im deutschsprachigen Kontext demnach zwei grundlegende Funktionen inne: Einmal repräsentiert und bestätigt es als Institution mit seinem spezifischen Kanon deutschsprachige Kultur. Obwohl es keinen finanziellen Mehrwert erzielt, funktioniert es nach ähnlichen Gesetzen der ökonomischen Logik: Es wird finanziell gefördert, weil es der Abstraktion des Finanzund des Aktienmarktes, dem Schwinden von Reichtum in Papierscheinen und digitalen Zahlen einen kulturellen Wert entgegenzusetzen vermag. Zudem dient Theater seit der Entstehung der Nationalstaaten als Garant der öffentlichen Debatte und somit der gesellschaftlichen Reflexion des Bürgertums. Als Treffpunkt der Elite wird es wie andere Institutionen der zwar immer weniger so genannten, doch stets noch wirkungsmächtigen „Hochkultur“ öffentlich gefördert. Klaus von Beymes Beobachtung, dass deutsche Stadträte vornehmlich diese tradierten Stätten fördern, findet in dieser Tradition eine mögliche Ursache: Je mehr sich Kulturpolitik in postmoderne Beliebigkeit der „Kulturbahnhöfe“ verliert, umso geiziger werden die Stadtväter, die über die finanzielle Ausstattung der Kultureinrichtungen zu entscheiden haben. Die Staatstheatergesinnung einiger Eliten ist kulturpolitisch meist immer noch konsensfähiger als die Unterstützung von PopKonzerten oder Multi-Kulti-Bazars.272

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Kulturpolitik als Sorge um das Offene

Die „Staatstheatergesinnung“ unterstützt in erster Linie die Vormachtstellung der traditionellen Elite, der die „Stadtväter“ meist angehören. Nichtsdestotrotz kann in den letzten Jahren beobachtet werden, dass sich hier ein Wandel vollzieht. Sozialpolitische Projekte oder Kunst der „Kulturbahnhöfe“ werden vermehrt gefördert und führen zu einer neuen öffentlichen Debatte, welche auch anderen kulturellen und gesellschaftlichen Gruppen der Bundesrepublik Bestätigung und Repräsentation verschafft. Dieses Paradigmenwechsels, der den Wandel von der Vorstellung einer homogenen deutschen Kultur zu einer heterogenen Kulturlandschaft impliziert, muss sich eine nachhaltige Kulturpolitik bewusst sein und Strategien schaffen, der sich wandelnden Kulturlandschaft mithilfe öffentlicher Förderung und anderen Anreizen zur finanziellen Unterstützung nachhaltig gerecht zu werden. Kulturelles Kapital liegt zukünftig vermehrt im Vermögen, kulturelle Vielfalt zu fassen und verhandeln zu können. So fragt auch Christoph Nix in seiner Studie Theater_Macht_Politik: Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert: „Kultur für alle“ steht immer noch auf der Tagesordnung der unerledigten Hausaufgaben, setzt aber auch voraus, dass Stadtpolitik sich ganz nüchterne Fragen stellt. Etwa wo zwischen Ghetto und Zentrum etwas entsteht, das heute nicht mehr mit Sozio-Kultur, als sozialpädagogische Inselwelt erklärt werden darf. Sozio-Kultur ist nicht das öffentlich geförderte Jugend-Kultur-Zentrum, sondern eine „Eine-Welt-Empathie“, die in den Städten virtuelle und reale Zentren künstlerischer Begegnung schafft.273 Im Zuge dieser von Nix beschriebenen Bewusstwerdung setzt die Kulturpolitik auf Programme der kulturellen Teilhabe und kulturellen Bildung, deren Arbeitsweisen zweifelsohne im Mischgewässer von Kultur und (Sozial)Pädagogik fischen, jedoch zunehmend auch Programme entwerfen, die nicht nur „reale Zentren künstlerischer Begegnung“ schaffen, sondern sich nicht allein auf soziale Maßnahmen reduzieren lassen. Vielmehr deuten sie selbstbewusst darauf hin, dass Kunstschaffen sich seit jeher an der Schnittstelle zwischen Kultur und Bildung bewegt; auch das erscheint ein wichtiger Punkt für zeitgemäße kulturpolitische Zielsetzungen und innovative Förderstrategien zu sein. Das Kapital der Kunst findet sich nunmehr nicht allein in der Repräsentation und Selbstbestätigung der Mehrheitsgesellschaft einer Nation beziehungsweise Stadt und deren tradiertem Kunsterbe. Vielmehr definieren die vielfältigen neuen Programme und Akteure der

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Kulturpolitik und kulturelle Bildung

kulturellen Bildung, Kulturvermittlung und Soziokultur den mithilfe von Kunst erschaffenen „Kollektivkörper“ neu, der sich selbstverständlich nicht mehr als homogener Leib, sondern eher als etwas Gestaltendes, sich im Fluss und Übergang Befindendes, Offenes, wenn nicht gar Entähnelndes begreifen lässt.274 Der „Staat“ zeichnet sich von nun an durch eine gesellschaftliche Vielfalt aus, was sich auch in den imaginierten Vorstellungen des Kollektivkörpers niederschlagen sollte. Hierbei spielen Theater und bildende Kunst eine entscheidende Rolle, da sie traditionell Räume erschaffen können, den abstrakten, sich wandelnden Vorstellungen der Gesellschaft sinnlich-wahrnehmbare und erlebbare Gestalt zu geben und auf diese Weise kulturelles Kapital generieren. Den ein oder anderen mag jedoch irritieren, dass sich die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer Vielfalt nicht mehr kollektiv nach altbekannter Art und Weise der traditionellen Hochkultur abbilden oder erfahren lässt. Mehr noch, gerade vor dem Hintergrund, dass die Vorstellung einer „homogenen Hochkultur“ heute nicht mehr zu halten ist, ist die Auflösung der Grenzen zwischen Hochkultur und kultureller Bildung beziehungsweise Soziokultur nicht mehr aufhaltbar. Mithilfe der kulturellen Bildung wird vielerorts versucht, die vielfältigen Gruppen am Kunstschaffen und auf diese Weise an der Bildung der (imaginierten) Vorstellung einer diversen Nation teilhaben zu lassen, was damit einhergeht, dass ebenfalls neue Formen kulturellen Kapitals entstehen. Allerdings geht dieser in den letzten Jahren begonnene Paradigmenwechsel mit heftigen Debatten um und im deutschen Kultursektor und unter den Akteuren der Kulturpolitik einher.

Kulturpolitik und kulturelle Bildung Teilhabe an Kultur ist in hiesigen Breitengraden seit jeher ein wichtiges nicht nur kulturelles, sondern auch politisches und pädagogisches Gut. So haben Kulturinstitutionen in Deutschland seit Jahrhunderten eine bedeutende Funktion hinsichtlich (politischer) Bildung inne. Damit Kultur ihr Kapital im Sinne Bourdieus entwickeln kann, geht mit ihr das Schaffen von Bildung einher: Theater-, Museums- und Konzertbesuche sind für das Bürgertum nicht nur unverzichtbare Rituale. Bei näherer Betrachtung des Begriffs „Bildungsbürgertum“ wird zudem deren hoher Stellenwert innerhalb der deutschen Gesellschaft für den Bereich Bildung sichtbar. So spielen für die Definition und das „Erlernen“ von Bildung Kulturinstitutionen eine bedeutende Rolle: Nicht nur Theater-

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aufführungen gelten seit langer Zeit als Lernort bürgerlicher Etikette, sondern auch Konzerte und Ausstellungen sind für den Bildungssektor hoch geachtete Reflexions- und Erfahrungsräume. Die „Kultusministerien“ der Länder sind meist auch für Bildung und Wissenschaft zuständig, beziehungsweise fallen Kultur und Bildung oftmals in einem Ministerium zusammen. Georg Bollenbeck zeigt in Bildung und Kultur: Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, inwieweit innerhalb des deutschen „Sonderwegs“275 „‚Bildung‘ und ‚Kultur‘ […] als Besitz [erscheinen], als sozialreputative Aktivposten, mit denen man sich schmückt.“276 In dieser Tradition lässt sich die Forderung nach „kultureller Bildung“ verorten, die nach der PISA-Misere kurz nach der Jahrtausendwende als rettender Engel am Horizont erschien und seitdem zu vielerlei Förder- und Forschungsprogrammen geführt hat. Kulturelle Bildung erscheint als das ideale Mittel, so führt Gerd Taube in das Handbuch Kulturelle Bildung277 ein: „Kaum eine kultur- oder bildungspolitische Debatte kommt in den letzten Jahren ohne den Verweis auf die Kulturelle Bildung aus. Seit ‚PISA 2001/2002‘ […] ist das Thema auch medial stark präsent.“278 Die Herausgeberinnen des Bandes, Hildegard Bockhorst, Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss und Wolfgang Zacharias, betonen ebenfalls die wachsende Aktualität des Themenfeldes: „Kulturelle Bildung hat Hochkonjunktur. Die Akteure im Feld entwickeln zunehmend in Theorie und Praxis programmatisch produktive Strukturen mit kreativen Institutionen und Qualitätsentwicklungen – so lautet zumindest die allgemeine und plausible Feldeinschätzung im Horizont der letzten Jahrzehnte und insbesondere in den letzten Jahren.“279 Mit Blick auf das Verhältnis von Bildung und Kultur scheint sich der „sozialreputative Aktivposten“ innerhalb der kulturellen Bildung weiter fortzuschreiben, allerdings lässt sich mit Blick auf Bollenbecks Definition eine leicht übersehbare, doch grundlegende Verschiebung innerhalb des Wirkungskreises feststellen: Gemeint ist damit das gesamte Feld in der Schnittmenge von Kultur und Bildung: In der Bezüglichkeit und Wechselwirkung von „Ich“ und „Welt“, also der subjektiven und objektiven Seite von Bildung, meint Kulturelle Bildung einerseits den subjektiven Bildungsprozess jedes einzelnen wie auch die Strukturen eines Bildungsfeldes mit seinen zahlreichen Angeboten. Kulturelle Bildung bezeichnet also immer ein Praxisfeld, aber eben auch einen biografisch individuellen Bildungsprozess in, mitten und durch die Künste, eine Haltung oder sogar ein spezifisches Verständnis von Pädagogik.280

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Die Betonung des „biografisch individuellen Bildungsprozesses“ ist eine Neuakzentuierung der kulturellen Bildung innerhalb des traditionellen Wirkungsfeldes von Kultur und Bildung. Tatsächlich steht die Fokussierung auf biographische Erlebnisse, soziale Herkunft, Migrationsgeschichte et cetera in der Tradition pädagogischer Strömungen seit den 1970er Jahren, der Vielfalt an individuellen Erfahrungshintergründen mit Theater- und Kunstschaffen im sozialen Feld zu begegnen, und es verwundert nicht, dass die Akteurinnen und Akteure der kulturellen Bildung sich oftmals in den Kontexten von sozialer Arbeit und Pädagogik verorten lassen. Allerdings finden diese Spielarten von Bildung und Kultur oftmals außerhalb der Institutionen der „Hochkultur“ und jenseits von deren Erzählungen und Diskursen statt. Auch wenn Theater und Museen sich zum Beispiel mit der Einstellung von Theater-, Musik- und Museumspädagog*innen den Wirkungsfeldern der kulturellen Bildung geöffnet haben, bleiben die tatsächlichen „Sphären“ der traditionellen Hochkultur, die Theater-, Konzert- und Museumssäle, vielen sozial-gesellschaftlichen Gruppen immer noch verschlossen. Obwohl der Begriff „Hochkultur“ heutzutage kaum noch Verwendung findet, entlarvt das Präfix „hoch“ doch das Selbstverständnis der regelmäßigen Besucher jener Institutionen, die sofort mit dem Begriff assoziiert werden: Oper, Sprechtheater, Konzerthaus und Museum. So stellt Mandel in ihrer Publikation Teilhabeorientierte Kulturvermittlung fest: Das Ziel, eine breite, sozial diverse Bevölkerung in die öffentlich bereitgestellten, institutionellen kulturellen Angebote, v.a. die Theater, Konzerthäuser und Museen zu involvieren, ist bis heute unerreicht. Nach wie vor werden in Deutschland die Angebote dieser Kultureinrichtungen vor allem von den höher gebildeten und sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen wahrgenommen.281 Wie der Titel bereits andeutet, schlägt Mandels Publikation den Sektoren der Hochkultur vor, verstärkt auf teilhabeorientierte, partizi pative Strategien zu setzen, wie sie im Bereich der kulturellen Bildung und Kulturvermittlung entwickelt werden. Das Berliner Gorki Theater hat mit der Fokussierung auf Gruppierungen mit Migrations geschichte diesen Weg eingeschlagen und gibt für die deutsche Theaterlandschaft richtungweisende Impulse, für die es mehrfach ausgezeichnet wurde.

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Kunst oder Soziales? Überwindung von tradierten Grenzen Der Schachzug des Gorkis, als erste „vollwertige“ Bühne mithilfe des Adjektivs „postmigrantisch“ Gruppen mit Migrationsgeschichte einen künstlerisch anerkannten Ort zu geben, ist ein erster Erfolg dieser vor allem an strukturelle und finanzielle Zuwendungen geknüpften Strategien kultureller Teilhabe. Allerdings sind die Vorbehalte seitens vieler etablierter Kunstszenen und deren Akteure nach wie vor enorm. Das mag daran liegen, dass sich die Kulturpolitik seit Langem an einer Polarisierung zwischen Sozialem und Künstlerischem abarbeiten muss und dass die Erreichung und Etablierung neuer gesellschaftlicher Gruppen im Theater vornehmlich als „soziales Projekt“ gehandelt wird. Auch von Beyme fragt am Ende seiner Bestandsaufnahme zur Kulturpolitik in Deutschland: „Welche Rolle kann staatliche Kulturpolitik zur Integration von Alt- und Neubürgern spielen?“282 und stellt wenig später fest: Angesichts der Knappheit der Ressourcen entsteht keine Harmonie im normativen Anspruchsbereich der verschiedenen Kulturwissenschaften. Die Politikwissenschaft ist in ihrer Zielkultur weniger festgelegt. Je nach dem Fokus Gemeindepolitik bis zur Weltpolitik kann ihre kulturpolitische Präferenz anders aussehen. Gleichwohl sind beide Brennpunkte mit der Herausstellung der partikularen SozioKulturen vereint. Beide unterliegen einem Demokratisierungsparadoxon: der Versuch, breite Schichten durch Soziokultur zu erfassen, ist immer nur von sehr partiellen Erfolgen gekrönt.283 Der ausbleibende Erfolg liegt – so argumentieren Luke Boltanski und Ève Chiapello in einem Gespräch mit Yann Moulier Boutang im Jahr 2000 – daran, dass die Akteure der Kunstkritik und die der Sozialkritik aus unterschiedlichen Lagern kommen: Einige unserer LeserInnen haben übrigens den Namen „Künstlerkritik“ nicht verstanden. Dennoch haben wir an ihm festgehalten, denn die Lebensweise vieler KünstlerInnen sowie der Typ von Aktivitäten, denen sie sich widmen und die für kreativ und frei von Zwängen gehalten werden, fungieren als lebendige Alternativen, die die Arbeitsbedingungen der großen Mehrheit anzufechten erlauben – ganz so wie die sozialistischen und kommunistischen Verwirklichungen als Alternative für die Sozialkritik fungieren. Diese Unterscheidung erlaubte uns zu verstehen, dass im Kontext von 68 die StundentInnen die Themen der Künstlerkritik vorbrachten, wäh-

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rend die ArbeiterInnnen der Sozialkritik nahe standen. In Wirklichkeit werden diese beiden Kritiken zumeist von unterschiedlichen Trägergruppen hervorgebracht, auch wenn sie für eine Weile Allianzen miteinander eingehen können; das hat hauptsächlich mit dem Umstand zu tun, dass sie miteinander weitgehend unvereinbar sind […].284 Nix argumentiert ebenfalls, dass die Sozialkritik eher die politische Ökonomie kritisiere, währenddessen die Künstlerkritik sich dem „Dilemma um die Entfremdung des Menschen“ widme.285 Seine gegenwärtigen Beobachtungen innerhalb der öffentlich geförderten Bühnen in Deutschland spiegeln diese Tendenz wider. In seinen Schlussfolgerungen rekapituliert er, dass seit 1994 Markstrategen und Kulturmanager die „Regulierung des Kulturmarktes“ fordern und „Kämmerer und Bürgermeister“ dem „Marktgedanken“ folgen würden, demnach der „kulturelle Sozialstaat“ von der politischen Elite infrage gestellt worden sei.286 Die Zunahme an marktstrategischen und betriebswirtschaftlichen Aspekten der Kulturbetriebe in den letzten zwei Jahrzehnten ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Gleichwohl vernebelt diese Polarisierung zwischen Sozialem und Künstlerischem die Realität der Kunstschaffenden. Mitglied der Kunstelite zu sein, heißt noch lange nicht, jenseits prekärer Lebensverhältnisse zu leben. Kreativ-künstlerische und prekär-soziale Milieus liegen nicht voneinander getrennt nebeneinander, vielmehr verläuft die Grenze der Gewinner und Verlierer des neoliberalen Marketings mitten unter diesen Gruppen, so argumentiert Maurizio Lazzarato: Die Gräben verlaufen nicht zwischen in Medien, Werbung, Theater, Fotografie arbeitenden Individuen einerseits sowie den ArbeiterInnen, Beschäftigten, Prekären und Arbeitslosen andererseits. Die Gräben durchqueren die freien Berufe, denn ein Teil der Individuen, die in ihnen arbeiten, ist ganz einfach prekär, arm, nicht abgesichert. Man könnte dasselbe von fast allen Berufen sagen, die von den AutorInnen angeführt werden, insbesondere von den WissenschaftlerInnen und der Universität, die die AutorInnen am besten kennen sollten.287 Das Dilemma, vor welchem heutzutage die Kulturpolitik steht, scheint also einmal in der zunehmenden marktstrategischen Ausrichtung des Kulturschaffens zu stehen, in welchem sich Kulturinstitutionen ver-

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mehrt dem neoliberalen Wettbewerb ausgesetzt sehen, und andererseits in der prekären finanzielle Lage der Kulturschaffenden, die nicht einmal so abgesichert sind, wie es sich der Sozialstaat einst von seinen ärmsten Gliedern wünschte. Nix gibt jedoch in gewissem Maße auch den Kunstschaffenden die Schuld, diesen neoliberalen Zwängen nicht entgegenzutreten: „Aber mehr denn je braucht es in einer Welt des perfekt verschleierten Kapitalismus eine Haltung, eine Haltung der Theatermacher, der Theaterpolitik und der Schauspieler und Regisseure: An einer philosophisch-politischen Haltung aber mangelt es.“288 Mit Blick auf die rezenten postkolonialen Diskussionen und die Akteure des postmigrantischen Theaters kann jedoch beileibe nicht allen Kunstschaffenden das Fehlen einer philosophisch-politischen Haltung vorgeworfen werden, gleichwohl haben jedoch die Vorwürfe und Kritik der People-of-Color- und Queer-Bewegungen und die Blackfacing-Debatte gezeigt, wie oft es bei Theaterleitungen an dieser Art von Haltung fehlt. Die fehlende Haltung und das Ausbleiben von dementsprechenden Veränderungsprozessen in den Chefetagen des Theatergeschäfts mag das Autorenkollektiv aus einflussreichen Akteuren der Kulturpolitik und des Kulturmanagements – Haselbach, Klein, Knüsel und Opitz – unter anderem dazu bewegt haben, die Situation der hiesigen Kulturlandschaft mit dem Titel Der Kulturinfarkt: Von allem zu viel und überall das Gleiche289 scharf zu kritisieren. Das Werk bemängelt ein Überangebot von Kultur nach konformer Gestaltung, die sie insbesondere in der strukturellen Schwerfälligkeit der etablierten Institution sehen. Demgegenüber führen sie folgende Änderungsvorschläge an: „Abschied vom autoritären Werturteil, Rückbau der Institutionen, Investitionen in das unabhängige Schaffen, Wechsel in die digitale Distribution, Nachfrageorientierung vor allem durch höhere Wertschöpfung am Konsumentenmarkt, Aufbau einer Wertschöpfenden Kulturwirtschaft.“290 Mit Blick auf die Wandlungsprozesse innerhalb der hiesigen Kulturförderung, der Zunahme an Programmen wie „Projektfonds Kulturelle Bildung“ oder Entwicklungen an der Berliner Volksbühne, die sich nach und nach vom Ensembletheater verabschiedet und als ein weiteres Haus für Festivals, Co- und Gastspiele in der Tradition von HAU und Berliner Festspiele etabliert, muss festgestellt werden, dass die Kulturpolitik diesen Weg bereits eingeschlagen hat. Doch bedarf es einer weiteren Zerschlagung der traditionellen Kulturinstitutionen? Besteht dann nicht die Gefahr, dass in der Vielzahl an Programmen und Öffnungsversuchen und im Abbau etablierter Institutionen das kulturpolitische Fundament verloren geht beziehungsweise an Sichtbarkeit verliert?

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Avantgardistische Reformen: Hildesheimer Thesen und der Paradigmenwechsel Ungefähr zur Zeit des Erscheinens vom Kulturinfarkt veranstaltete das Hildesheimer Institut für Kulturpolitik eine Ringvorlesung zum „Reformbedarf auf der Baustelle Theater“ in Deutschland. Die hier präsentierten Hildesheimer Thesen formulieren aus unterschiedlichen Blickwinkeln Kritik an der gegenwärtigen Kultur- und Theaterlandschaft und äußern Vorschläge. Schneider, der die Auftaktvorlesung hielt, fordert ein grundsätzliches Umdenken, das jedoch weniger die Zerschlagung der Institutionen impliziert: Das Prinzip dabei muss sein, kulturelle Vielfalt zu gewährleisten, nämlich verschiedene Formen und auch verschiedene Strukturen von Theater. Ein kulturpolitisches Kriterium einer solchen Theaterentwicklungsplanung wäre Interdisziplinarität. Das jetzige System ist diesbezüglich völlig überholt. Wo gibt es das noch, dass wir vom Sprechtheater reden, dass das Musiktheater ein eigener hermetischer Komplex ist genauso wie das Ballett, das Tanztheater und irgendwo auch das Kinder- und Jugendtheater sowie das Figurentheater. Gerade die Avantgarde arbeitet von jeher interdisziplinär und selbstverständlich auch am Stadt- und Staatstheater. Mehr davon!291 Das künstlerische Prinzip der Avantgarde erscheint dieser Argumentation folgend ebenso wünschenswert für die Organisation und Struktur der Theaterlandschaft. Flexibilität, um Interdisziplinarität zwischen den Genres zu leben, kann das Motto eines zeitgemäßen Theaters sein. Dem wirtschaftlichen Mehrwert im neoliberalen Sinn erteilt Schneider ebenso eine Absage: Theaterförderung ist auch Risikoprämie. Wer öffentliche Mittel erhält, erhält auch die Lizenz zum Scheitern. Das unterscheidet auch die Begrifflichkeiten: Investitionen einer Kulturpolitik in Theater müssen nicht die Marktfähigkeit der Darstellenden Kunst erzeugen – wie etwa Subventionen einer Wirtschaftspolitik! Aber auch Investitionen bedürfen der Konzeptionen.292 Schneider fordert, dass Kulturpolitik Rahmenbedingungen zum Erschaffen eines kreativen Raums bereitstellen muss, in welchem Theaterarbeit auf die wandelnden Anforderungen der Gesellschaft reagieren kann – ohne den tradierten Gesetzen der Wirtschaftspolitik anheim zu

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fallen. Bemerkenswert an dieser Forderung ist die Doppelmatrix des Theaterkonzepts: Der Bildungsauftrag ist diesem Ansinnen ebenso immanent wie das künstlerische Konzept der Avantgarde. Es treffen also Strategien zwischen „Theater mit Auftrag“ und „Theater als Freiheit“ aufeinander, deren Potenzialerkennung im gemeinsamen Zusammenwirken erst noch Einzug in die einschlägige Forschung und Praxis halten muss. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheint es also mehr als angebracht, den Forderungen nach einem Strukturwandel innerhalb der Theater- und Kulturlandschaft nachzugehen. Hinter den von den kritischen Autoren gegenüber herkömmlicher Kulturpolitik vorgeschlagenen Änderungen verbirgt sich ein gesellschaftlicher Wandel, der bereits mehrfach aufgegriffen wurde und sich insbesondere auch in der Diskussion um „Cultural Governance“ zeitigt. Der Begriff wird insbesondere in der internationalen Kulturpolitik angewendet und betont neben der Vielzahl der Akteure unterschiedlicher Nationen ebenso die transkulturellen Verstrickungen und Wirkungsebenen.293 Die Zunahme an Lebensentwürfen und kulturellen Geschichten und Hintergründen in unserer Gesellschaft fordert von den Akteur*innen der Kulturpolitik ein Umdenken in eine ähnliche Richtung. Es wird abermals deutlich, dass das tradierte koloniale Kulturmodell, das Kulturerleben mithilfe des Prinzips der Dichotomisierung als Gemeinschaftserfahrung des Eigenen in der Abgrenzung zum Anderen zu konstruieren und somit etablierte Traditionen und Denkmuster zu manifestieren, nicht mehr zeitgemäß erscheint. Dabei wird nicht nur anhand der Diskussion in den Hegel’schen Vorlesungen über die Ästhetik sichtbar, dass dieses Modell lange schon hinterfragt wird. Vielmehr äußert sich sowohl in der Forderung nach kultureller Bildung und Teilhabe als auch in einer Zunahme an Interdisziplinarität der Kunstsparten der Wunsch, das etablierte Modell von Kunst als „Hochkultur“, die in erster Linie von einem sehr eingeschränkten Kreis der Gesellschaft – einer Kulturelite aus Kritikern, Kunstbeflissenen und Kunstbesuchern – gewürdigt, bewertet und genutzt wird, zu öffnen und weiterzuentwickeln. Auffallend ist zunächst, dass innerhalb der Forderungen einer Neuausrichtung Kultur sowohl als kulturelles Kapital als auch als Bildungsgut gesehen wird, was jedoch – und das ist der springende Punkt, der zu Unbehagen in der einschlägigen Szene führt – vermehrt mit der Forderung einhergeht, dass dies messbar und belegbar sein sollte beziehungsweise mit einem bestimmten im Vorfeld formulierten „Auftrag“ einhergeht. Dieser „Auftrag“ äußert sich nicht nur in der Forderung nach Teilhabe verschiedener gesellschaftlicher und kultureller Gruppen, son-

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dern ebenso in der Förderung bestimmter Kompetenzen, die für die Mitglieder der Gesellschaft heutzutage wichtig erscheinen. Um kulturpolitische Rahmenbedingungen reflektieren zu können, ist es zunächst sinnvoll, die ins Felde geführten Kompetenzen dahingehend zu befragen, worauf sie gründen, welche Werte- und Gesellschaftsvorstellungen sich hinter ihnen verbergen und welche Rolle hier Kunst spielen kann. Um es vorwegzunehmen: Die Kompetenzen, welche wohl am geeignetsten für die Vermittlung durch Kunst erscheinen, lassen sich im Kontext einer Strategie der Entähnlichung im Sinne einer bewussten Reflexion und Akzeptanz von kultureller Vielfalt verorten. Diese Kompetenzen – wie etwa Ambiguitätstoleranz, Teamfähigkeit und Kommunikationsvermögen – stoßen auf ein Terrain, welches in den Kunstwissenschaften ebenfalls diskutiert und dessen Themen vermehrt zum Tragen kommen: In den letzten Kapiteln konnte u. a. mit Rückgriff auf Fischer-Lichtes, Reschkes und Warstats Überlegungen gezeigt werden, dass Kunst in ihrer Ästhetik einen asymmetrischen Reflexionsraum schaffen kann. Schneiders Überlegungen – die Verbindung von Avantgarde und Bildungsauftrag – deuten den möglichen Brückenschlag zwischen beiden Modellen an. Gemeinhin werden solch zunächst disparat wirkenden Ansätze jedoch gegeneinander ausgespielt. Während Vorstellungen einer autonomen Ästhetik die Freiheit der Kunst betonen und diese als Garant des Status „Hochkultur“ bewerten, wird die kulturelle Bildung oftmals als Mittel zum sozialpolitischen Zweck degradiert. Anders gefragt: Ist die Forderung nach Kompetenzerwerb grundsätzlich als Gegenspielerin der künstlerischen Freiheit zu bewerten, oder stellt sie mit einem „Sowohl-alsAuch“ eine mögliche Alternative für zeitgemäße Kunstproduktion dar?

Kompetenzvermittlung und künstlerische Freiheit: Tradierter Gegensatz oder vielversprechendes Tandem? Mit Blick auf die Debatte um „Hochkultur“ und „kulturelle Bildung“ fällt auf, dass von den Institutionen Ersterer vermehrt erwartet wird, sich den Strategien Letzterer zu öffnen. Gleichwohl sollten nicht nur die öffentlich geförderten Institutionen der „Hochkultur“ von Kooperationen profitieren, auch der Sektor kulturelle Bildung könnte im gegenseitigen Austausch seine pädagogischen und gesellschaftlichen Zielsetzungen kritisch reflektieren und erweitern. In erster Linie werden als Ziele der kulturellen Bildung eher subjektive Kompetenzen wie die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen genannt. Eckart Liebau fordert eine

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Abkehr von dieser einseitigen Auslegung des Kompetenz-Begriffs nach PISA: Aber der Kompetenz-Begriff hat nicht zufällig die schöne Doppelbedeutung von Fähigkeit und Befugnis – was in der gesamten PISAund PISA-Folgen-Diskussion systematisch ausgespart bleibt. Dort wird der Kompetenz-Begriff nur psychologisch, nur subjektiv verstanden, also nur auf die Fähigkeiten bezogen. Aber er hat immer auch eine gesellschaftliche, also soziologische Seite.294 Der Diskussion um Schlüsselkompetenzen beziehungsweise Schlüsselqualifikationen nahm ihren Anfang in den 1970er Jahren und erreicht ihren Höhepunkt mit der Bologna-Reform. Tatsächlich sind die Konturen beider Begriffe unscharf, werden jedoch im Bildungskontext sowohl als Zielsetzungen als auch als abrufbare Kriterien beispielsweise für die Beschäftigungsfähigkeit („Employabiltiy“) von Absolvent*innen eingesetzt. Inhaltlich geht es bei Kompetenzen um die Fähigkeiten zur meist situativen Bewältigung von komplexen Herausforderungen der gegenwärtigen globalen Gesellschaft. Die Europäische Kommission setzt 2007 zudem Schlüsselkompetenzen als Maßgabe für die Bildungspolitik ein: Schlüsselkompetenzen, die Menschen in einer Wissensgesellschaft für persönliche Entfaltung, aktive Bürgerschaft, sozialen Zusammenhalt und Beschäftigungsfähigkeit benötigen, seien demnach muttersprachliche Kompetenz, fremdsprachliche Kompetenz, mathematische Kompetenz, Computerkompetenz, Lernkompetenz, soziale Kompetenz und Bürgerkompetenz, Eigeninitiative und unternehmerische Kompetenz sowie Kulturbewusstsein und kulturelle Ausdrucksfähigkeit.295 Alexander Winzlik beschreibt die zunehmend einflussreiche Rolle der kulturellen Bildung für den Kompetenzerwerb: Für den Erwerb solcher und einer Vielzahl weiterer Kompetenzen, die alle unter dem Sammelbegriff Schlüsselkompetenzen zusammengefasst sind, wird der Kulturellen Bildung zunehmend eine besondere Rolle zugemessen. In der Seoul Agenda, einem der prominentesten Beispiele für den hohen Stellenwert, der der Kulturellen Bildung für den Einzelnen im Umgang mit den gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen beigemessen wird, wird als eines von drei Hauptzielen formuliert, dass Prinzipien und Praktiken

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künstlerischer und Kultureller Bildung anzuwenden sind, um zur Bewältigung der heutigen sozialen und kulturellen Herausforderungen beizutragen. Durch künstlerische und Kulturelle Bildung soll das kreative und innovative Potential der Gesellschaft gesteigert werden.296 Leopold Klepacki und Jörg Zirfas zeigen anhand der „theatralen Bildung“, wie entscheidend das enge Zusammenspiel von subjektiver Erfahrung und diskursiv-gesellschaftlicher Reflexion ist: Der ideale theatrale Lernprozess würde sich dann letztendlich in folgenden Komponenten konstituieren: Im Erkennen und Erfahren dessen, was Theater als Handlungsform bedeutet bzw. bedeuten kann, in der Arbeit an körperlich-leiblich-präsentativen artifiziellen Handlungsvollzügen, in der spielerisch-essayistisch-improvisatorischen Auseinandersetzung mit subjektiv zu präsentierenden szenischen Inhalten, in deren ereignishafter Aufführung vor Publikum und – parallel dazu – in der diskursiven Reflexion dessen, was an Handlung stattfindet.297 Hinsichtlich der Darstellung und Verhandlung kultureller Vielfalt erscheint Klepackis und Zirfas’ Hinweis auf das Potenzial von Theater, Handlungsvollzüge zu erleben, zu erlernen und diese zu reflektieren, wertvoll. Auch zeigt Jens Roselt in der „Phänomenologie von Erfahrungen im Theater“, welch wichtige Impulse Theateraufführungen mittels „kreativen Zuschauens“ bieten können und tradierte Muster wie zum Beispiel die Subjekt-Objekt-Dichotomie hinterfragt werden.298 Liebau argumentiert anhand des Einsatzes von „kultureller Bildung“ an Schulen, dass die Vermittlung von Handlungsvollzügen nur dann dem Bildungsauftrag gerecht werden kann, wenn sie in einem engen Zusammenspiel von Kunstpädagogen und Künstlerinnen, angewandter Kunst und Kunstdiskurs vonstattengeht: „Wie die wissenschaftsorientierten Fächer (etwa die Naturwissenschaften oder, in Reinform, die Mathematik) ihren fachlichen Horizont an der Entwicklung der jeweiligen Wissenschaft gewinnen, so die kunstorientierten Fächer an der Entwicklung der Künste. Nur dann können sie dem Bildungsinteresse der Schüler gerecht werden.“299 Nach dieser Lesart ist es besonders wichtig, dass sich die kunstorientierten Fächer ebenso an der kulturellen Öffnung der Künste orientieren und nicht nur tradierte und lange etablierte Formen in den Blick nehmen. Innerhalb der Theaterarbeit andere kulturelle Formen zu erleben,

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ist nicht nur eine „Fähigkeit“, die von den unterschiedlichen Akteur*innen erlernt werden kann, sondern ebenso eine Frage der „Befugnis“, diese – für die meisten vielleicht ungewohnten Formen – präsentieren zu können. Beides ist seit jeher Teil des Theaterschaffens. Die Bühne war in der Geschichte oftmals ein Ort der Freiheit und Ermächtigung für ungewöhnliche, andere und neue Sichtweisen. Künstlerische Freiheit und die Vermittlung von kultureller Kompetenz können so in Bezug auf kulturelle Vielfalt ein vielversprechendes Tandem sein: Angesichts der Tradition der Künste neue und ungewohnte Refugien zu betreten, stellt eine Orientierung an diesen im Bildungskontext – beispielsweise über Kunstfächer in Schulen – großes Potenzial bereit, einen reflektierten Umgang kultureller und gesellschaftlicher Vielfalt zu erlernen. Allerdings haben die vorherigen Kapitel verdeutlicht, dass innerhalb der Künste die Entscheidung darüber, was präsentiert und verhandelt wird, einem kleinen Kreis an Experten, Kritikern und Kunstbeflissenen vorbehalten ist. Insofern erscheint es hinsichtlich der Frage, inwieweit Theater für die Vermittlung von Kompetenzen im Umgang mit der zunehmenden kulturellen und gesellschaftlichen Vielfalt eine Rolle spielen kann, vielleicht paradox, dass die Öffnung der Bühne für andere Sichtweisen und Kulturformen oftmals im Kontext des Applied Theatre entstanden ist, das per definitionem die Freiheit des Theaters mit einem sozialen, gesellschaftlichen oder politischen Auftrag „einschränkt“. Ist also die Freiheit des Theaters, neue kulturelle Ausdrucksweisen zu präsentieren und zu verhandeln, nur in dessen „eingeschränkter“ Form, innerhalb des Applied Theatre, wirkungsmächtig geworden? Das würde kulturpolitische Pläne, die eine stärkere Verknüpfung von Theater und pädagogischen, sozialen und gesellschaftlichen Konzepten beziehungsweise Wirkungsversprechen fordern, in ihrem Ansinnen bestärken.

Applied Theatre als kulturpolitischer Hoffnungsträger? Projekte des Applied Theatre, die nach dem Grassroot-Prinzip an der sogenannten Basis entstehen, verweisen oft auf ihr Potenzial, den Stimmen und Bewegungen, die innerhalb von Gruppen jenseits der Mehrheitskultur initiiert werden, eine Öffentlichkeit zu geben. Sie verweisen auf ihre vielseitigen Möglichkeiten, marginalisierten Gruppen Präsentationsräume zu verschaffen, was für kulturpolitische Strategien im Kontext der Verhandlung kultureller Vielfalt wertvoll sein kann. James Thompson argumentiert jedoch, dass Applied Theatre meist in die dominierenden politischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen eingebunden ist:

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Applied Theatre operiert natürlich immer innerhalb der und gleichsam durch die widerstreitenden Diskurse der Situationen, in denen es praktiziert wird. Partizipatives, Workshop-basiertes Theater mag darauf abzielen, einzelnen Personen oder Gruppen dabei zu helfen, eine Kritik der Machtstrukturen zu generieren, innerhalb derer sie leben, aber Institutionen und die in ihnen betriebenen Praktiken sowie das Kommen und Gehen des Applied Theatre werden stets in übergreifende diskursive, politische und kulturelle Prozesse eingebettet sein.300 Seine jahrelange Praxis – insbesondere in Sri Lanka – hat ihn zu der Erkenntnis geführt, dass Applied-Theatre-Projekte an politischen und gesellschaftlichen Ungleichgewichten wenig ändern können: „Eine Frage, die man dennoch stellen sollte, ist die, ob die Wahrscheinlichkeit, dass die Aktivitäten des Projekts sich in die dominanten Diskurse selbst einfügen (selbst jene, die gegenseitig antagonistisch sind), größer ist als die, dass sie unsichtbar werden.“301 Thompsons Frage lässt sich auch auf die Forderung nach Kompetenzvermittlung innerhalb der kulturellen Bildung und Theaterarbeit übertragen. Zwar mögen diese wichtige, vielleicht gar notwendige Fähigkeiten für die Mitglieder der Gesellschaft fördern. Doch dienen sie tatsächlich der Selbstermächtigung marginalisierter Gruppen oder der kritischen Reflexion dominanter gesellschaftlicher Diskurse? Dem Applied Theatre räumt Thompson das Potenzial ein, den Teilnehmenden Fähigkeiten zu vermitteln, die gleichsam den hierzulande geforderten Kompetenzen eine Art Zurechtfinden mit den gesellschaftlichen Herausforderungen fördern. Doch fehle meist die Vermittlung eines Verständnisses, dass diese Teil einer politischen Strategie sind. Gerade diese Erkenntnis mache aber das gesellschaftliche und politische „Mündigsein“ aus: So hegen beispielsweise viele partizipative Theaterprojekte bei der Arbeit mit marginalisierten, isolierten oder unterdrückten Gruppen die Hoffnung, sie könnten gemeinsam mit der jeweiligen Community strategisches Handeln generieren, obwohl sie in Wirklichkeit allenfalls auf taktischer Ebene tätig werden können. AppliedTheatre-Projekte mögen ihren Teilnehmern ja gute und vielfältige Möglichkeiten vermitteln, um mit den schlimmsten Aspekten eines Kontexts zurechtzukommen und diesem auf subtile Weise zu widerstehen, sie können Menschen aber nur selten dazu befähigen, diesen Kontext zu transzendieren.302

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Thompson bezieht sich allerdings auf Projekte, die losgelöst von künstlerischen Produktionen an öffentlichen Bühnen stattfinden. Die fehlende Befähigung, den politischen Kontext, in denen die Strategien des Applied Theater eingebettet sind, zu transzendieren, gründet sich zum großen Teil an der Abhängigkeit der Projekte vom gesellschaftlich sozialen Auftrag beziehungsweise Mehrwert, dem jedoch die klassischen Kultur- und Kunstinstitutionen nicht, oder wenn, dann nicht in solch hohem Maße unterliegen. Insofern stellt eine Verknüpfung von Applied Theatre – also Projekten der Theaterpädagogik und kulturellen Bildung – mit klassischen Kunstproduktionen und deren ästhetischer Freiheit der Bühne in Gestaltung, Sinn und gesellschaftspolitischem Mehrwert eine Möglichkeit dar, die gesellschaftspolitischen Kontexte zu reflektieren. In diese Richtung argumentiert ebenfalls Geesche Wartemann in der achten Vorlesung der Hildesheimer Thesen, die sie wie folgt schließt: Vermittlung im Theater soll auch in Zukunft auf möglichst vielfältige Weise möglichst vielen den Zugang zu den hier praktizierten Theaterkünsten eröffnen. Umgekehrt kann das Theater seine Zeitgenossenschaft gerade im Austausch mit jungen und allen anderen mit Theater nicht vertrauten Menschen behaupten. Für entsprechende Projekte braucht es mehr personelle und finanzielle Kapazitäten.303 Eine enge Kooperation von Theaterproduktionen beispielsweise mit Bildungseinrichtungen, um Jugendlichen früh Zugänge zum Kunsterleben zu ermöglichen, entpuppt sich für beide Seiten als gewinnbringend. Wartemann betont die Möglichkeit für Theaterschaffende, über den hier entstehenden engen Bezug zu jungen Menschen zeitgenössisch und somit relevant zu sein. Dem kann hinzugefügt werden, dass Aufführungen und andere Kunstereignisse tendenziell stets gesellschaftliche und politische Diskurse befragen und reflektieren. Das Theater gilt seit jeher als Stätte der Kritik herrschender politischer Strukturen. Zweifelsohne eignen sich etablierte Kulturstätten mit ihren über Jahrhunderte reichenden Kanon, Erzählungen und Formaten, die Inhalte und Methoden der kulturellen Bildung gesellschaftlich zu rahmen und in einen kritisch-reflektierten Kontext zu setzen. Insofern können pädagogische und gesellschaftspolitische Zielsetzungen und Haltungen der Bildungspolitik und deren Institutionen von Jugendlichen während der eigenen Theaterpraxis kritisch befragt und somit auch transzendiert werden, wie Thompson es

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fordert. Was sagt beispielsweise ein Hamlet zu Ambiguitätstoleranz? Wie werden Selbstkompetenzen wie Flexibilität und Kritikfähigkeit in antiken Stoffen verarbeitet? Welche Techniken hält die Avantgarde für Vorkommnisse und Katastrophen bereit, die kaum beschreibbar sind? Was kann Shakespeares Werk für Erfahrungswerte in Bezug auf Transkulturalität vermitteln? Viel intensiver als heutzutage üblich, können nicht nur rezente Themen, sondern auch allgemein geforderte Fähigkeiten und Kompetenzen („skills“) zur kritischen Reflexion in die großen Erzählungen der Kunstinstitutionen eingebettet werden. Auch die Rezeption dieser wird davon profitieren, denn ihre dichotome Interpretation in der Geschichte des Abendlandes kann auf diese Weise hinterfragt werden: Wie es Jelinek beispielsweise in den Schutzbefohlenen vorspielt, kann der westliche Kanon unter Aspekten von gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt auf andere Arten und Weisen interpretiert werden. Gleichsam mögen sich die Akteur*innen des Kunsttheaters die Frage stellen, inwieweit die eigenen Produktionen von der gegenwärtigen Gesellschaft geforderte Kompetenzen verhandeln. Theaterpädagoginnen – wie Uta Plate lange Zeit an der Berliner Schaubühne – greifen beispielsweise die Themen der Produktionen auf und vermitteln sie den Teilnehmenden in ihren Workshops. Die Laienschauspieler erschließen sich die Diskurse, die in den Stücken verhandelt werden, mithilfe theaterpädagogischer Praxis. In die Unabhängigkeit des künstlerischen Prozesses der Kunstproduktion wird nicht eingegriffen, da diese Aneignungen der Theaterpädagogik meist erst im Nachhinein oder höchstens im gemeinsamen Prozess mit der Regie oder Dramaturgie entstehen. Allerdings können Produktionen so von ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen jenseits der üblichen Kunsteliten und deren Kulturkanon erschlossen werden, die mithilfe der Vermittlungsarbeit ganz eigene Zugänge entwickeln. Welche kulturpolitischen Forderungen folgen hieraus? Wartemann kritisiert die fehlenden Kapazitäten und finanziellen Mittel für derlei Kooperationen. Sicherlich reicht eine Stelle für den Bereich Kulturvermittlung/Theaterpädagogik an einem Theater keinesfalls aus, um diese Schnittstelle zukunftsweisend zu etablieren und auszubauen. Das Feld der Dramaturgie kann in Richtung Kulturvermittlung und kulturelle Bildung ausgeweitet und Intendanten verpflichtet werden, dass ein bestimmter Anteil aller Produktionen mit gesellschaftlichen, sozialen oder kulturellen Gruppen – sei es im Vorfeld, während oder nach dem Probenprozess – kooperiert. Dies erfordert jedoch die Etablierung und personelle und finanzielle Ausstattung eines Schnittstellenbereichs, der

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sich zwischen Theaterpädagogik, Dramaturgie, Regie, Öffentlichkeitsarbeit und Intendanz ansiedelt. Außerhalb der Theater und Kulturinstitutionen fehlen jedoch ebenso Fachleute, welche an dieser Schnittstelle tätig werden. Es scheint ratsam, an Bildungs- und Sozialeinrichtungen Stellen für diesen KulturSozial-Gesellschafts-Transfer zu schaffen, die als Ansprechpartner, Initiatoren und Koordinatoren fungieren. Diese können die Belange und Themen der Mitglieder der Einrichtungen und Institutionen bündeln und auswerten. Sie garantieren so, dass die hier abgebildete kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt auch in den klassischen Kunstinstitutionen verhandelt werden können. Mit Blick auf die verschiedenen existierenden Formate, welche die Vielfalt unserer Gesellschaft – oft auch marginalisierte Gruppen – mit Theaterpraktiken verhandeln, erscheint explizit die Kooperation und eben nicht die Vermischung zwischen Künstlern und Akteuren der kulturellen Bildung von Vorteil. Denn nur so kann die von Schneider geforderte Doppelmatrix zwischen Bildung und Avantgarde – beziehungsweise einer künstlerischen Auseinandersetzung und Abstraktion der Themen in der Kunst wie es u. a. in Kapitel 3 mit Menke und Lehmann beschrieben wurde – garantiert werden. Auf diese Weise wären die Institutionen von Kunst, Kultur, Bildung und Sozialem auf einem Weg, in welchem Kulturen der Vielfalt in einer Ästhetik der Entähnlichung widergespiegelt und verhandelt werden können. Damit jedoch Theater eben nicht Klischees, Stereotype und Milieus präsentiert, sondern eine Form findet, Vielfalt als die „Norm“ der Gegenwart abzubilden, sind weitere kulturpolitische Konsequenzen auch innerhalb der Theaterlandschaft zu ziehen. Denn die Produktionen, welchen es gelingt, zwischen Gesellschaft, Sozialem und Kunst zu agieren, finden auffallend häufig außerhalb des tradierten Systems Staats-, Landes- und Stadttheater statt. Intendanten, Regisseure, Dramaturgen und Stückentwickler Letzterer gehen traditionell auffallend selten in die Felder außerhalb der Kunstszenen hinaus, beispielsweise in Bildungsinstitutionen oder gesellschaftliche, kulturelle oder soziale Kontexte marginalisierter Gruppen, und suchen oder entwickeln von dort heraus ihre Stoffe. Seit wenigen Jahren ändert sich dies jedoch. Insbesondere an der Schnittstelle zum sogenannten Freien Theater gehen häufig Akteur*innen zur „Recherche“ oder zur „Feldforschung“ hinaus in die Welt oder präsentieren ihre Kunst direkt in Räumen außerhalb des Theaters. So wird Theater nicht einer Vielfalt erst im Nachhinein vermittelt, sondern entsteht aus der Vielfalt der sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Gruppen heraus.

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Recherche und Feldforschung: Künstlerkollektive auf dem goldenen Mittelweg zwischen Kunst und Gesellschaft, Sozialem und Künstlerischem? Künstlerkollektive wie She She Pop, andcompany&Co., Wochenklausur, Fräulein Wunder AG oder hannsjana recherchieren in gesellschaftlichen und sozialen Feldern und entwickeln hieraus ihre Stoffe. Oft entstehen diese Produktionen außerhalb der traditionellen Staats-, Stadt- und Landestheaterlandschaft mithilfe von Projektförderungen oder im Kontext von Festivals.304 Viele dieser Produktionen entgehen der Polarisierung gesellschaftlich-sozial-pädagogischer Auftrag versus künstlerische Freiheit von vornherein, vielmehr überwiegt ein Zusammendenken beider Aspekte: Ihr Verständnis von Kunst umfasst ebenso gesellschaftliche, soziale und politische Kritik. Die weiter oben anhand der Beobachtungen von Boltanski und Chiapello beschriebene Kluft zwischen Kunst- und Sozialkritik ist hier nicht spürbar, vielmehr sind feministische, postkoloniale oder soziale Diskurse Teil des künstlerischen Ausdrucks. Darüber hinaus kann in vielen solcher Art gestrickten Produktionen beobachtet werden, dass sie bewusst in bestimmten sozialen und gesellschaftspolitischen Kontexten entstehen. Fräulein Wunder AG siedelt sich mit Power of the Pussy beispielsweise genderkritischen und feministischen Kontexten an, She She Pop thematisiert in Schubladen ostdeutsche und westdeutsche Biographien, und Wochenklausur arbeitet meist mit sogenannten sozialen Randgruppen, wie beispielsweise mit Obdachlosen und Drogenabhängigen. Das südafrikanische Magnet Theatre arbeitet, so zeigt es der Bericht im Prolog, seit vielen Jahrzehnten mit dieser Produktionsweise. Das Thema Xenophobie, welches beispielsweise in Die Vreemdeling auf die Bühne kommt, wurde in Workshops in kleinen Städten im Northern Cape, die von einem besonders hohen Grad an Fremdenfeindlichkeit geprägt sind, mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen diskutiert und kreativ verhandelt. Aus diesen Prozessen entwickelten dann professionelle Schauspieler das Stück, zu dessen Aufführungen begleitend ebenfalls Workshops angeboten wurden, die Raum zur Diskussion eröffneten. Die Verzahnungen von Aufführungen mit Kontexten außerhalb des Theaters eröffnen nicht nur der Theaterlandschaft neue Wirkungsräume, sondern fordern ebenso Neuerungen in der Analyse, Bewertung und Einordnung von performativen Prozessen. Annemarie Matzkes Studie zur Arbeit am Theater: Eine Diskursgeschichte der Probe kommt zu der auch für diese Arbeitsprozesse wichtigen Erkenntnis, dass Prozesse jenseits der eigentlichen Aufführung bereits als Teil dieser zu verstehen sind:

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Das heißt, die Proben sind nicht nur Aufführung als ein Vor-Spiel, ein Vor-Scheinen der ‚eigentlichen‘, der ‚folgenden‘ Aufführung, sondern sie sind Aufführungen von Arbeitsinszenierungen. Als Inszenierung eines bestimmten Arbeitsvorgangs arbeiten sie mit Festlegungen: Wer schaut von wo aus zu? Wem ist welcher Raum zugewiesen? Welche Rollen innerhalb des Prozesses werden übernommen, welche Aufgaben ausgeführt? Einer Probe beizuwohnen – als Regisseurin, Schauspieler oder auch Theaterwissenschaftlerin – heißt, Zuschauer und Teilnehmer einer Aufführung zu sein.305 Auch wenn die Recherche im Feld nicht von vornherein als „Arbeitsinszenierung“ betrachtet werden kann, werden hier ebenfalls bestimmte Rollenbilder übernommen, Muster abgeschaut und Stimmungen beobachtet und nachgefühlt, die später Teil der Inszenierung werden. In gewisser Weise entstehen Prozesse des Zuschauens und der Teilnahme an einer Art von Aufführung oder Inszenierung, in welcher die Akteure des jeweiligen sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen Feldes einen einflussreichen Part spielen. Denn die Besonderheit dieser Produktionen liegt in der Erarbeitung des künstlerischen Prozesses außerhalb des Theaters und mit Gruppen aus den jeweiligen sozial-gesellschaftlichen oder auch kulturellen Feldern. Die „Schnittstelle a priori“ zwischen Theaterschaffenden und vielfältigen sozialen und kulturellen Gruppen scheint dahingehend vielversprechend, da einerseits die vielseitigen Themen im Theater verhandelt werden, andererseits aber auch das Interesse von theaterfernen Gruppen an Kunstinstitutionen auf diese Weise geweckt wird. Welche kulturpolitischen Forderungen folgen hieraus? Es sollte grundsätzlich gefordert werden, dass ein bestimmter Prozentsatz der Inszenierungen auch an den etablierten Häusern auf diese Art und Weise ihre Stücke erarbeiten und die Aufführungen mit Workshops außerhalb der Theaterräume verknüpfen. Da die oben beschriebenen Projekte häufig außerhalb der klassischen Theaterbühnen und deren Ensembles entstehen, stellt sich hier die Frage, ob ihre gegenwärtigen Hauptakteur*innen diese Öffnungen in die Räume außerhalb des Theaters überhaupt wünschen und die festen Ensemble- und Produktionsstrukturen eines Stadt-, Staats- und Landestheaters dies grundsätzlich ermöglichen können.

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Ensembletheater und Intendanzsystem: Bremsen kultureller Vielfalt im Theater? Im Sommer 2017 ging ein regelrechter Aufschrei in Form einer Petition durch die deutsche Theaterlandschaft, der Verfasser war selbst einer der 99 Erstunterzeichner. Auf der Plattform change.org startete Evelyn Annuß am 30. Juli die Kampagne, da der designierte Intendant der Volksbühne Chris Dercon in seinen Planungen weder einen Repertoirebetrieb noch ein Ensemble vorgesehen hatte: Vor diesem Hintergrund fordern wir den zuständigen Kultursenator Klaus Lederer auf, die Erfüllung des auch vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller immer wieder unterstrichenen Auftrags (dauerhafte Ensemblestrukturen mit vor Ort erarbeiteten Produktionen, eigenes Repertoire) zu überprüfen und unter Einbeziehung der Stadt die Diskussion um die Zukunft der Volksbühne neu zu führen, um einen entsprechenden Spielbetrieb an einer der wichtigsten Berliner Bühnen sicherzustellen.306 Auffällig war die sehr schnell wachsende Anzahl an namhaften Persönlichkeiten aus den Kultur- und Theaterwissenschaften. Christina von Braun, Joachim Fiebach, Hans-Thies Lehmann, Christoph Menke, um nur einige zu nennen, waren spontan bereit, sich diesem grundlegenden Strukturwandel an der Volksbühne entgegenzustellen: „Kein Ensemble mehr? Kein Repertoire? An der Volksbühne? Unvorstellbar!“, mag vielen durch den Kopf gegangen sein. Denn das traditionelle Ensembletheater, welches zumindest einigen wenigen Schauspielern für ein paar Jahre soziale Sicherheit verschafft, der einzigartige Repertoirebetrieb deutscher Bühnen, sind die Grundfesten deutscher Theaterlandschaft, für die man sich gerne mit Nachdruck einsetzt. Doch bei genauerem Hinsehen muss festgestellt werden, dass auch unter Frank Castorfs Führung die Volksbühne sich zwar als Repertoirebetrieb gab, jedoch über ein weitaus kleineres fest angestelltes Ensemble verfügte als gedacht. So argumentiert Dercon in einem Leserbrief, dass in den letzten Jahren Castorf selbst das Ensemble von 27 auf elf Stellen reduziert habe. 307 Viele namhafte und erfolgreiche Regisseure wie Herbert Fritsch arbeiteten und engagierten für ihre Produktionen eigens Schauspieler*innen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Manche mussten, da Stücke zuweilen nur zwei oder drei Mal im Monat aufgeführt wurden, ihren Lebensunterhalt mit Nebenjobs finanzieren.

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Thomas Schmidt fordert in seinem jüngsten Buch die Stärkung der Ensemblestruktur. So nennt er als einen entscheidenden Reformpunkt für eine zeitgemäße Theaterlandschaft die Ensemblepflege: „Wenn Künstler wieder ein Ensemble bilden, das sieben, zehn, zwölf, vielleicht sogar 20 Jahre zusammen spielt, und ihm der Makel der schnellen Vergänglichkeit genommen worden ist, wird der Imagegewinn und der Zuspruch der Zuschauer wachsen, womit wiederum die Personalarbeit gerechtfertigt wird.“308 Zu fragen ist, ob eine solche feste Ensemblestruktur sich den zunehmenden Forderungen der gesellschaftlichen Vielfalt tatsächlich stellen kann oder ob es sinnvollerweise feste Kerngruppen geben sollte und flexiblere Gaststellen, die jedoch ebenfalls abgesichert und gleich entlohnt, aber nicht allein an ein Ensemble gebunden sind. Das Berliner Gorki verfügt beispielsweise zwar über ein relativ großes festes Ensemble, arbeitet jedoch auch mit „Stammgästen“ und vielen weiteren Gastschauspielern zusammen. So auch einige Gruppen, die kein festes Haus haben, wie She She Pop, andcompany&Co. oder Rimini Protokoll. Mit Blick auf diese gerade bei unkonventionellen Publikumsgruppen relativ erfolgreichen und für eine Gesellschaft der Vielfalt wie mehrfach gezeigt zeitgemäß arbeitenden Produktionskollektive stellt sich die Frage, ob die Flexibilität in der Struktur und Ensemble ein Schlüssel dieses Erfolgs hinsichtlich der Verhandlung kultureller Vielfalt ist. Man mag ebenso ins Felde führen, dass in der Flexibilität zwischen festem Kreis und Gästen die Vielfalt der Gesellschaft eher repräsentiert werden kann, obgleich diese Fährte in die Richtung der Bezeugung von Authentizität auf der Bühne führt, wie sie in einer Ästhetik der Entähnlichung eben gerade vermieden werden soll, 309 gleichwohl ein steter Wechsel von Teilen des Teams zu neuen Impulsen und Interessenslagen führen und neue Erfahrungs- und Wissensschätze bereithalten kann. Aus diesem Grunde scheint eine Mischung aus Nachhaltigkeit und Flexibilität für die Theaterlandschaft und ihrer Ensemblestruktur als entscheidende innovative Kraft, den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen begegnen zu können und auch zukünftig ein wichtiger Verhandlungs- und Reflexionsort zu sein. Es kommt nicht von ungefähr, dass einen ähnlichen Hinweis bereits vor vielen Jahren die Enquete-Kommission gab, welche weiterhin die Förderung von festen Ensembles und Repertoire empfahl, „aber auch, alle anderen Strukturen – etwa die des freien Theaters – zu nutzen, um eine Vielfalt der Produktionsformen zu gewährleisten.“310 Schneider, welcher auf diese Empfehlung verweist, kritisiert in „Theater (möglich) Machen: Kulturpolitische Anmerkungen zur Förderung der darstellenden Künste“, dass sich Länder und Kommunen sich kaum in diese Richtung bewegt haben:

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Ensembletheater und Intendanzsystem: Bremsen kultureller Vielfalt im Theater?

Die Entdeckung der Theaterlandschaft steht also noch aus, die Vermessung dieser Welt hat noch nicht stattgefunden. Denn allzu oft sind es die großen Apparate, die die Lufthoheit in der Kulturpolitik geltend machen, allzu wenig wird ein Zusammendenken gepflegt oder gar ein Zusammentun ausprobiert. Die Kommunen klagen über klamme Kassen, kennen nur noch Kennzahlen und fordern Platzauslastung – an die Strukturen wagt sich die Kulturpolitik nicht heran. Die Länder fördern, was immer schon gefördert wurde, von Haushalt zu Haushalt – Korrekturen sind längst überfällig.311 Der Einsatz des Bundes mithilfe der Bundeskulturstiftungsprogramme „Heimspiel“, „Doppelpass“ und „Wanderlust“, weist, so Schneider weiter, auf diese Baustellen der Stadttheater hin. Auch er sorgt sich über den Zustand, dass trotz der gesellschaftlichen Vielfalt heutzutage in „unserem Kulturstaat […] das Schauspiel aber ziemlich deutsch geblieben“ ist. 312 Seine Bestandsaufnahme fordert von den traditionellen Strukturen der Stadt-, Staats- und Landestheater radikales Umdenken ein. Bis auf wenige Ausnahmen repräsentieren die etablierten Bühnen kaum die geforderte Transparenz und kulturelle Vielfalt. Dies hängt insbesondere auch mit der hierarchisch organisierten Leitung der Häuser zusammen. Wie kann in einem System, in welchem ein Einzelner solch weitreichende Kompetenzen wie ein Intendant hat, überhaupt Vielfalt gelebt werden? Christopher Balme stellt in der Süddeutschen Zeitung ausgehend von den Debatten um die Castorf-Nachfolge gar die These auf, dass die etablierten Theater von einer Art „Übermenschen“ geleitet werden: Die dringende Frage an die Theater lautet nun, wie diese den Übergang von einem Übermenschen zum anderen gestalten. Und was passiert, wenn dieser Prozess, wie jetzt in Berlin, infrage gestellt wird? Diskussionen über die Nachfolge von einem Übermenschen zum anderen sind nicht unüblich. Dafür gibt es sogar einen Begriff, den des Intendantenkarussells, der andeutet, dass ein fast unveränderlicher Satz an Personen die gleichen Stellen immer wieder unter sich aufteilt. Wie aber wird die Amtsübertragung genau geregelt? Und ist sie transparent?313 An jeglicher Transparenz fehlt es, so Balme weiter, bei der Neubesetzung von Intendanten. „Als könne die Übertragung des Amts nur außerhalb der Öffentlichkeit stattfinden, um die Wahrung des Charismas zu sichern.“ Es ist, so resümiert er, „eine Rückkehr zum Regieren durch Geheimhaltung, einem Grundzug feudal-absolutistischer Herr-

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schaft und damit die Antithese zu modernen transparenten Regierungsformen“.314 Demgegenüber erscheinen die Finanzierungsentscheidungen über Einzelproduktionen oder die kurzzeitigen öffentlichen Förderungen der Freien Szene um einiges transparenter. Sie müssen ihren künstlerischen und häufig auch gesellschaftlichen Mehrwert öffentlich – zumindest der Jury und den Gremien gegenüber – darstellen. Wäre es demnach nicht ein Leichtes, den Autoren des Kulturinfarkts recht zu geben, die Theaterlandschaft und ihre festgefahrene Leitungsstruktur zu zerschlagen? Nimmt man an dieser Stelle wieder einmal Südafrika in den Blick, ist in dessen Theaterlandschaft ein mögliches Szenarium seit einigen Jahren zu beobachten.

Vorbild Südafrika? Seit dem Ende der Apartheid verfügen die Theaterhäuser wie zum Beispiel das State Theatre in Pretoria, das Soweto Theater und das Market Theatre in Johannesburg, das Baxter-Theatre oder das Art Centre in Kapstadt über kein festes Ensemble. Die Theaterleitung hat hier in erster Linie die Funktion der Geschäftsführung und das Management von Gastspielen beziehungsweise Koproduktionen inne. Theaterstücke werden nicht von einem festen Haus-Ensemble erarbeitet, sondern entstehen in Zusammenarbeit mit anderen Theaterhäusern und Festivals und werden meist mittels Mischförderung aus öffentlicher Hand, Stiftungen und Unternehmen finanziert. Die von Balme beklagte Übermacht der Intendanz bleibt ebenso aus, wie das Fehlen an Transparenz, da durch das Multiförderkonzept vieles den unterschiedlichen Finanziers offengelegt werden muss. Auch werden die Prinzipien transparenter Gleichbehandlung und Gleichstellung bei öffentlichen Förderungen innerhalb der Regenbogennation äußerst ernst genommen. In solch einer Struktur hat es die Etablierung von Übermenschen schwer, und Produktionen sind, da landesweit aufgeführt, nicht nur flexibel, sondern sollten, um landesweit Zuschauer anzulocken, auch überregionale Themen verhandeln. Wäre dies nicht ein ideales Setting für die hiesige Theaterlandschaft? Länder und Kommunen sparen mit der Abschaffung von festen Ensembles eine Menge Geld, Intendanten verlieren an Macht, und Performance-Kollektive wie andcompany&Co., She She Pop und Rimini Protokoll könnten neben HAU, Sophiensälen und Kampnagel jede Menge neuer Räume bespielen. Gruppen könnten sich temporär für einzelne Produktionen flexibel zusammensetzen und Jurys, welche die Vielfalt

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Vorbild Südafrika?

der Bevölkerung widerspiegeln, über die Vergabe der öffentlichen Gelder transparent entscheiden. Diese Flexibilität ändert jedoch wenig an der prekären Situation der Kunstschaffenden. Wie in der Freien Szene der Fall, müssten sich die Kunstschaffenden von einem Projekt zum nächsten hangeln. Die Kürze der Projektlaufzeiten ist heutzutage in Südafrika ein ernstzunehmendes Problem. Zwar wurde nach Ende der Apartheid aufgrund einiger Korruptionen im Kultursektor 1997 das National Arts Council als öffentliche Förderinstitution gegründet, doch reicht dessen Budget bei Weitem nicht aus, eine nachhaltige und unabhängige Theaterlandschaft zu etablieren und Ensembles über die einzelnen Projektlaufzeiten hinaus, beispielsweise für die Recherche und Entwicklung neuer Stoffe, zu unterstützen. Vor einigen Jahren beschrieb die südafrikanische Theaterkritikerin Adrienne Sichel die düstere Situation des Theaters: Südafrika verfügt auch in der Nach-Apartheid-Zeit noch über kein einziges staatlich subventioniertes Theaterensemble. Schauspielabsolventen können keine Praxiserfahrung sammeln, sondern landen direkt in den Seifenopern des Fernsehens oder haben ein Auskommen im Bereich des kommerziellen Unternehmenstheaters. Aufträge von Festivals sind zur Rettungsleine sowohl für Autoren und Regisseure als auch für Schauspieler geworden, denen es ernst ist mit der Bühne. Angesicht dieser Sachlage ist es ein Wunder, dass das Theater in Südafrika erhobenen Hauptes dastehen kann.315 Obwohl Südafrika über vielerlei beeindruckende Theaterbauten verfügt, reichen die Mittel innerhalb dieser Förderstruktur nicht aus, sie vielseitig zu bespielen. Selbst in Soweto, wo ein neues Theatergebäude entstanden ist, spiegelt sich diese ernüchternde Beschreibung wider. Der bunte Prachtbau wirkt wie ein steriler, abgezäunter Fremdkörper, der kaum von der Bevölkerung genutzt wird, doch auch das Arts Centre in Kapstadt oder das State Theatre in Pretoria wirken wie Festungen, an denen das bunte Treiben der Städte zerschellt. Innovatives Theaterschaffen findet meist in anderen Stätten statt, in alternativen Häusern wie dem Magnet oder Market Theatre, in Schulen oder anderen Bildungsinstitutionen. Allein das Bereitstellen von Theaterräumen und die Etablierung von Festivals reichen nicht aus, um eine innovative, aber nachhaltige Theaterlandschaft zu erschaffen. Die Herausforderung in Südafrika scheint sich gerade eben auch an der fehlenden Ensemblestruktur festzumachen, was ja Sichel anmahnt. Nur innerhalb längerfristig angelegter Strukturen können sich künstlerische Teams ohne kurzfristigen Ver-

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kaufs- und Erfolgsdruck (er)finden und nachhaltige Beziehungen zu ihren verschiedenen Publikumsgruppen entwickeln. Die Erfahrungen in Südafrika setzen die oftmals geforderte Flexibilisierung und künstlerisch-personelle Entschlackung der deutschen Theaterlandschaft in ein ambivalent gefärbtes Licht. Auf der einen Seite erscheinen seit Jahrzehnten eingefahrene Strukturen der Betriebe und ihrer Ensembles – insbesondere auch mit Blick auf die rezenten Wandlungsprozesse hinsichtlich gesellschaftlich-kultureller Vielfalt – nicht mehr zeitgemäß. Auf der anderen Seite zeichnet die Dichte an längerfristig zusammenarbeitenden Ensembles nicht nur die Besonderheit, sondern auch eine gewisse Unabhängigkeit des Theaters aus.

Potenziale der Digitalisierung Nicht nur die Zunahme an Lebensentwürfen und Kulturgeschichten erfordert neue kulturpolitische Strategien innerhalb der Theaterlandschaft. Entschlossen hält auch die Digitalisierung Einzug in das kulturelle Feld, fordert gleichwohl einen Tribut, welcher womöglich transkulturellen Strategien eine gewisse Entfaltungsmöglichkeit verschaffen vermag, was Simon A. Franks Schlussplädoyer in Kulturmanagement und Social Media316 andeutet: Social Media eröffnet neue Möglichkeiten der Kunstproduktion – und das, was nun technisch möglich ist, wurde seit rund hundert Jahren von Philosophen und Künstlern vorgedacht. Das Social Web kann deshalb den Raum bereitstellen, der für Kunst, Theater und Literatur im aktuellen Diskurs gefordert wird, da sich zeigte, dass „alte“, ursprünglich als utopische geltende Forderungen an Kunst, mit den „neuen“ Medien realisierbar sind. Die bisherigen Formen der Präsentation von Kunst, etwa der Museumsbau oder das Theaterhaus, werden dadurch nicht obsolet, sondern können durch eine Fusion von realen und virtuellen Welten nur gewinnen.317 Allerdings sieht sich Frank hier zunächst mit vielerlei Kritik seitens der Kunstwissenschaften konfrontiert. Kritische Überlegungen gegenüber der digitalen Welt stützen sich in der Tradition Horkheimers und Adornos, so Frank, in erster Linie auf den potenziellen Konsummissbrauch und den Vorwurf der Massenunterhaltung. Allerdings zeigt er im gleichen Zuge, dass sich das Kunstverständnis heutzutage verändert hat und die digitale Welt hier einiges an Möglichkeiten bereithält:

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Potenziale der Digitalisierung

Das Social Web wäre für Horkheimer und Adorno nur dann begrüßenswert, wenn in diesem „ästhetische Sublimierung“ möglich ist, also „Erfüllungen als gebrochen darzustellen“ und nicht – wie die Kulturindustrie – zu unterdrücken.318 Hier könnte man argumentieren, dass nun der Massenbetrug durch die Kulturindustrie nicht mehr in der Form wie in dem bisherigen Massenmedium Fernsehen möglich sei, da die Inhalte des Social Web enorm vielfältig sind und nicht mehr von zentraler Stelle gesteuert werden können. Dadurch, dass theoretisch jeder relativ unkompliziert im Social Web publizieren kann, wird die zentrale Steuerung durch die „Kulturindustrie“ ausgehebelt. Das Social Web könnte also als der Raum gesehen werden, in dem – zumindest in Nischen – eben gerade eine „Sublimierung im Digitalen“ möglich ist.319 Die utopischen Forderungen können nicht nur auf die gewünschte Wirkungskraft von Kunst in der Tradition einiger abendländischer Philosophien von Benjamin bis Brecht bezogen werden, sondern auch auf die in diesem Buch formulierte Vision, dass Theater einen idealen Raum für die Verhandlung kultureller Vielfalt gestalten kann. Frank verweist hier auf die Arbeitsweise der Software-Entwicklung und schlägt den Akteur*innen der Kulturproduktion vor, sich hieran zu orientieren: Somit könnten die Schwerpunkte der agilen Software-Entwicklung als Leitgedanken für die Umsetzung des Umbaus zu usergenerated culture fungieren: – offen für Änderungen statt Festhalten an alten Plänen; – eher ergebnisorientiert als prozessorientiert; – „Miteinander darüber reden“ statt „gegeneinander arbeiten“; – eher Vertrauen statt Kontrolle; – Bottom-up etablieren statt Top-down diktieren. Wie dieses Konzept der agilen Software-Entwicklung im Detail für den Umbau der Kulturproduktion zu nutzen wäre, müssen weitere Forschungsarbeiten klären.320 Franks Analyse zeigt einen Weg auf, einerseits die digitale Welt im Theater zu verhandeln und andererseits die Arbeitsweisen der digitalen Industrie innerhalb der Kulturpolitik zu nutzen. Eine „usergenerated culture“ kann sicherlich dann wichtige Impulse geben, wenn sie im Gegensatz zu den herkömmlichen, eher elitären Zielgruppen die Vielfalt der Gesellschaft im Sinne der Entähnlichung aus ihrer Unterschiedlichkeit abbildet. Gleichwohl stellt sich die Frage, wer die „user“ überhaupt sind und wie sich diese in kulturpolitische Entscheidungsprozesse ein-

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binden lassen. So nehmen kritische Stimmen am Partizipationsgedanken durch digitale Medien einerseits im Kontext der zunehmenden zuschauerorientierten Politik der Kulturinstitutionen, andererseits aufgrund der antidemokratischen, populistischen Tendenzen in der digitalen Welt zu. Auch wenn Frank zu Recht betont, dass eine „usergenerated culture“ nicht von zentraler Stelle gesteuert werden kann, zeigen die Diskussionen um Facebook der letzten Monate, dass auch eine vermeintlich divers gestaltete Plattform nicht nur undemokratisch und tendenziös agieren kann, sondern extreme, rassistische und manipulative Absichten bestimmter Gruppierungen darin wirkungsmächtig werden. Die Kunst in der Zukunft wird es sein, nicht nur digitale Medien für das Erreichen potenzieller Ziel- und Zuschauergruppen und der Analyse und Befragung möglicher Themen dieser einzusetzen, sondern darüber hinaus den „Usern“ im Allgemeinen Kompetenzen zu vermitteln, dieses Missbrauchspotenzial der digitalen Welt reflektieren und kritisch begegnen zu können. Die ästhetischen-entähnelnden Räume des Theaters können hierbei eine entscheidende Rolle einnehmen. Umfragen und Kommentare innerhalb digitaler Netzwerke, KulturApps und so weiter erreichen weite und diverse Kreise potenzieller Theaterbesucher, die mit Sicherheit einige Ideen generieren und Vorschläge kommentieren, gutheißen oder kritisieren. Manipulationen welcher Art auch immer können digitale Medien bis dato jedoch genauso wenig entgegentreten wie anonymen und/oder ausfallenden Kommentaren. Das Theater kann aufgrund seiner besonderen Stellung ebenso „frei“ Behauptungen formulieren und darstellen, doch steht es dabei in unmittelbarem Bezug zur Außenwelt: Es tut dies im Angesicht eines Publikums, welches darauf reagiert, sich einmischt und die Verantwortlichen zur Rede und Diskussion in der Öffentlichkeit stellen kann. Die Debatten um Blackfacing haben in den letzten Monaten gezeigt, dass ein kritisches Publikum Berge versetzen kann. Theater kann in Zukunft als digital-leibliche Schnittstelle fungieren, als Korrektiv, welches nicht nur Behauptungen und Tendenzen des world wide web zu befragen vermag, sondern den „user“ zwischen digitaler und realer Welt hin- und herführt und beide Räume miteinander verknüpft. Eine Ästhetik der Entähnlichung hat nicht nur zum Ziel, die kulturelle und gesellschaftliche Verschiedenheit zu zeigen, sondern auch, dieser Respekt zu zollen und einen verantwortlichen Umgang mit ihr zu pflegen. Letzteres wird nur in einer engen Verknüpfung von leibhaftigen und digitalen Momenten der Erfahrung möglich sein, wozu eine zukünftige Kulturpolitik Sorge zu tragen hat. Hierbei wird die Überlappung von ästhetischen und kulturpolitischen Handlungsfeldern stetig zunehmen.

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Kulturpolitische Auswertung und Maßnahmen für den deutschen Kontext Die letzten Kapitel zeigen, dass zurzeit allerlei Bewegung in der Theaterlandschaft ist, welche die konventionellen Strukturen, wenn nicht in Gänze erschüttern, so doch zunehmend ins Wanken bringen. So beklagen sich verstärkt jüngere Generationen Theaterschaffender über die schlechten Arbeitsbedingungen und eine fehlende Werteorientierung im Kunstalltag.321 Schneider verdeutlicht dies anhand der Initiative „art but fair“, 322 die eine Art Selbstverpflichtung für Kunstschaffende darstellt, sich gegen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, für mehr Solidarisierung untereinander, eine Auseinandersetzung mit Werten und Haltungen und die aktive Gestaltung der Wertekultur im Alter und Chancengleichheit beziehungsweise Gleichbehandlung einzusetzen.323 Für Theaterleitende und Produzierende hat die Initiative ebenfalls eine Selbstverpflichtung verfasst, welche zudem die Partizipation der Beteiligten im Entscheidungsprozess und eine bestimmte Unternehmenskultur im Kunstschaffen einfordert: „Fürsorglichkeit, soziale Verantwortung, Transparenz und Loyalität sollen wesentliche Merkmale der angestrebten Unternehmenskultur sein.“324 Unter anderem in diesen Forderungen Kunstschaffender sieht Schneider den Beginn eines nachhaltigen Wandels: Und sie bewegt sich doch, die Theaterlandschaft! Theatermacherinnen und -macher melden sich zu Wort, sie kennen sich aus und sie wollen ihn gelingend gestalten. Außerdem wollen sie davon leben. Eine Bevölkerung, die sich allzu gerne als Kulturstaat geriert, ist gefordert, auch die Förderung der darstellenden Künste auf den Prüfstand zu stellen und Maßnahmen wider die Prekarisierung des Theatermachens zu ergreifen.325 Auch Nix setzt an die Stelle eines Schlussworts eine „konkrete Utopie“ einer zukünftigen Stadttheaterlandschaft, welche in die Richtung von Schneiders Forderungen geht. Neben einer – in diesem Fall jedoch begrenzten – Öffnung der etablierten Leitungsstruktur, fordert er ebenfalls interdisziplinäre Arbeitsweisen zwischen den Genres und Kunstsparten untereinander: In den Städten werden sich „produzierende Gemeinschaften“ bilden, die zu einer institutionellen Öffnung der Stadttheater führen werden, Abteilungspräsidenten oder -direktoren werden sich einem

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gemeinsamen Verwaltungsintendanten unterordnen; so werden mehr intermediale Projekte entstehen. Die darstellende Kunst wird dadurch nicht ärmer in ihren Sehgewohnheiten werden, denn freie Kultur, performative Experimente, tanztheatrale Ereignisse werden die Spielpläne verändern.326 Schmidt fordert in diesem Kontext zwar weniger eine genreübergreifende und über die Grenzen des Theaters hinausgehende Strategie ein, jedoch eine stärkere Vielfalt in den Produktionsprozessen. Er entwickelt ein „Mixed-Stagione-Prinzip“, das aufgrund von „kombinierten Zuschaueranalysen“ und nachfrageorientierter Planung risikoorientierte und teure Produktionen mit gut laufenden Stücken im Repertoirebetrieb kombiniert. Zudem fordert er eine engere „Zusammenarbeit mit der freien Szene.“327 Folgt man diesen Vorschlägen, welche die Mauern des Theaters und die Grenzen der Genres und Strukturen aufbrechen und wandeln wollen, dann stellt sich weniger die Frage, ob das altbekannte System zerschlagen werden sollte. Vielmehr wird der Ruf einer Erweiterung und Umstrukturierung der Theaterlandschaft hörbar. Denn es gibt sie ja, die unterschiedlichen regionalen, landes- und bundesweiten Förderungen, und doch scheinen die Akteure vor lauter Fördertöpfen, Sparten, Genres und Abgrenzungen zwischen Freiem und Ensembletheater offenbar wenig Spielraum zu sehen, grundsätzliche Wandlungsprozesse einzuläuten. Verschiedene inhaltliche Direktoren, wie Nix es vorschlägt, die zur Zusammenarbeit verpflichtet sind, könnten mit Sicherheit bei so mancher Undurchsichtigkeit und Hierarchie bestimmter Entscheidungen Abhilfe schaffen. Doch dann entstehen möglicherweise wieder Eliten und interne Zirkel, die versuchen, sich von der Welt außerhalb der „Feste Stadttheater“ abzuschirmen und die eigenen Vorteile zu schützen. Mehr noch: Das Stadttheater droht unterzugehen, weil schlichtweg das Publikum ausbleibt und die Themen, die von den gegenwärtigen Kunsteliten verhandelt werden, für einen großen Teil der Gesellschaft uninteressant bleiben. Theater würde seinen entscheidenden Vorteil verlieren, in der Mitte der Städte gelegen, die Fragen, Sorgen, Freuden und Herausforderungen der sie umgebenden gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen verhandeln zu können. Aus diesem Grunde soll an dieser Stelle – ergänzend zu den oben angeführten kulturpolitischen Entwicklungsvorschlägen – das Potenzial zur Verhandlung kultureller Vielfalt, das dem Theater grundsätzlich zu eigen ist, aber noch intensiver und wirksamer genutzt werden kann, in den Mittelpunkt gerückt werden. Eine Ausrichtung der Kulturpolitik

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Kulturpolitische Auswertung und Maßnahmen für den deutschen Kontext

im Sinne der Sorge um das Schaffen von künstlerisch-kulturellen Räumen, in welchen die Verschiedenheit der Menschen als Erfahrung der Gleichheit in der Vielfalt erlebt, einander zugestanden und diskutiert wird, fordert weitere entscheidende Innovationen und Veränderungsprozesse ein. Die letzten Seiten haben gezeigt, inwieweit Öffnungen der Theaterlandschaft hin zu flexibleren Ensemblestrukturen, Freien Gruppen und Koproduktionen mit sozialen und gesellschaftlichen Institutionen außerhalb des klassischen Theaters Verhandlung von Vielfalt stärken. Mit Blick auf die Produktionen, die eine Ästhetik im Sinne der Entähnlichung erschaffen haben, fällt auf, dass diese nicht in klassischen Stadttheaterstrukturen entstanden sind, sondern eher in einem Wirkungsfeld, welches diese zu überwinden versucht: In unserem Namen, Faust und Mistral sind allesamt außerhalb des tradierten Theatersettings deutscher Bühnen entwickelt worden, und hier stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Strukturen des etablierten Theaters, wenn es sich der gesellschaftlichen Vielfalt annehmen möchte, überhaupt geeignet sind, oder ob sie um innovative Formen erweitert werden sollten. Hegels neuer Bund, den er am Ende der Vorlesungen über die Ästhetik aufflackern sieht, und Mbembes Vision eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, welches koloniale und rassistische Muster überwunden hat, deuten auf einer ästhetisch-philosophischen Ebene an, dass für diesen Wandel neue Formen des Sprechens, Denkens und Handelns gefunden werden müssen, wofür sich der ästhetische Raum mit seinem asymmetrischen Potenzial traditionell zweifelsohne eignet. Gleichwohl wäre es nur konsequent, wenn sich die Akteure des Theaters auf die Frage besinnen, wie gesellschaftliche Vielfalt als Gleichheit im Ästhetischen empfunden werden kann. Anders ausgedrückt: Wenn Menke die Kraft der Kunst im Ästhetischen in der grundlegenden Erfahrung von Gleichheit sieht, dann sollte Theater im Kontext von kultureller Vielfalt fragen, wie es Anreize und Strukturen schaffen kann, dass ein breites Spektrum an gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen diese erfährt. Der Kulturpolitik obliegt für solche Prozesse die entscheidende Steuerung. Sie kann Modelle und Fördermöglichkeiten schaffen, mit welchen die Akteur*innen des Theaters sich dieser neuen und richtungsweisenden Prozesse annehmen können. Ziel ist weniger, alle Häuser dem gleichen Strukturwandel zu unterwerfen, sondern eher, Anreize für Länder, Städte und Kommunen zu schaffen, das jeweilige Kapital kultureller Vielfalt auszuloten und hierbei neue Wege einzuschlagen. Häuser, die nicht von einer Schließung bedroht sind, sondern von der Bevölkerung rege genutzt werden, können mithilfe ergänzender Förderangebote innovative Projektideen ausprobieren, während Häuser, die mit rückläu-

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figen Zahlen zu kämpfen haben, unterstützt werden sollten, grundlegendere Eingriffe in Richtung kultureller Vielfalt zu vollziehen. Auch sollte diskutiert werden, ob ein Haus wie die Berliner Volksbühne, welches unbestritten einen neuen Weg einschlagen muss, nicht als Pilotprojekt von heranwachsenden Künstlergenerationen – Absolventen und jungen Kunstschaffenden – als interdisziplinäres und erweitertes Ensemblehaus genutzt werden kann, mit der Auflage, sich das Motto einer Sorge um gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt zu eigen zu machen. Die vielseitigen Veränderungsprozesse fordern kulturpolitische Neuausrichtungen und kulturpolitische Maßnahmen, die ich wie folgt vorschlagen würde: Entscheidungsprozesse: Das gegenwärtige Dilemma, einen großen Teil der Bevölkerung nicht zu erreichen, beginnt bei den Entscheidungsträgern. Kann eine alleinige Person – wie beispielsweise der Intendant – oder eine kleine Gruppe im Stadtrat überhaupt entscheiden, welche kulturelle Vielfalt der Spielplan verhandeln sollte? Innerhalb vieler Bereiche der Kunst- und Kulturförderung – besonders bei Förderungen der Freien Szene – werden heutzutage Jurys eingesetzt, welche über die Zuwendung beraten. Insbesondere in Großstädten werden diese vermehrt divers kulturell besetzt. Maßnahme: Bund, Länder, Städte und Kommunen sollen Theaterbeiräte der Vielfalt ins Leben rufen, die sich aus Künstlern, Politikern, Interessensvertretern und Bürgern, welche die unterschiedlichen kulturellen und sozialen Gruppen in den Blick nehmen, zusammensetzen. Die Gremien beraten über grundsätzliche Entscheidungen wie die Intendanz und die Ausrichtung eines Hauses, nicht jedoch über einzelne Produktionen oder künstlerische Arbeit, deren Autonomie gewahrt werden muss. Ergänzend sollen Konzepte digitaler Befragungs- und Inputprozesse eingesetzt werden, welche gezielt verschiedene soziale, gesellschaftliche und kulturelle Gruppen einbeziehen. Themenrecherche im Umfeld: Bei der Entwicklung der Spielpläne kommt oftmals die künstlerische Recherche in sozialen und kulturellen Feldern und die Partizipation dieser Gruppen zu kurz. Künstlerkollektive wie Wochenklausur, She She Pop oder Fräulein Wunder AG treiben intensive Recherchen in der Außenwelt, um die Themen ihrer Produktionen zu bestimmen und auszuhandeln. Auch die Initiative TRAFO der Bundeskulturstiftung fördert punktuell mit der vorübergehenden Finanzierung von Mitarbeitern diese Ausrichtung.

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Kulturpolitische Auswertung und Maßnahmen für den deutschen Kontext

Maßnahme: Das Prinzip der Themenrecherche im sozial-kulturellen Feld wird auf die gesamte Theaterlandschaft erweitert, indem den Theatern Kapazitäten zugesichert werden, in ihrer Region zu recherchieren, welche Themen und Herausforderungen kultureller Vielfalt hier brennen. Dramaturgen, Regisseure und Theaterpädagogen arbeiten hier interdisziplinär zusammen und entwickeln gemeinsam Themenschwerpunkte für die jeweilige Spielzeit. Vernetzung mit gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen: Theater werden immer noch als Orte der Kunstelite erlebt und kooperieren – außer mit Schulen – selten mit sozialen und gesellschaftlichen Organisationen in der Region, obwohl diese jede Menge Felder aufzeigen könnten, in denen kulturelle Vielfalt gelebt, aber auch als herausfordernd wahrgenommen wird. Maßnahme: Theater werden verpflichtet, einen bestimmten Teil ihrer Produktionen in Kooperation mit gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen durchzuführen. Das kann sich auf das Feld der Recherche beziehungsweise auf Workshop-Angebote im Kontext der Kulturvermittlung beschränken, aber auch auf Proben- und Aufführungsprozesse erweitert werden. Der andere Teil der Produktionen bleibt von diesen Verpflichtungen unberührt. Angepasste Förderkooperationen von Bund, Ländern und Kommunen für innovative Ideen: Um die Förderung von kultureller Vielfalt den unterschiedlichen Bedingungen und diversen Ausgangsvoraussetzungen der Theater und der Freien Szene anzupassen, ist ein breitgefächertes, aber dennoch übersichtliches Förderprogramm notwendig, welches die Aufhebung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern voraussetzt. Ziel ist es, den etablierten Theatern Freiräume für das Entwickeln von Ideen jenseits des Drucks um Auslastungszahlen als auch den Gruppen in der Freien Szene mehrjährige Planungssicherheit zu geben. Maßnahme: Ein Gremium aus Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen entwickelt für die vielseitige Theaterlandschaft verschiedene Strategien zur Förderung kultureller Vielfalt am Theater, die auf Bundes- (zum Beispiel Bundeskulturstiftung), Landes- und kommunaler Ebenen ausgeschrieben werden. Zum einen können Theater sich mit innovativen Projektideen oder Spielzeitmottos bewerben, zum anderen können Projekte der Freien Szene über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren gefördert werden. Auslastungszahlen dürfen hier zunächst keine Rolle spielen.

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Kulturpolitik als Sorge um das Offene

Förderung von Kooperationen zwischen den einzelnen Häusern, der Freien Szene und Festivals regional und bundesweit: Das Berliner Theatertreffen ist eines der wenigen Festivals, bei denen Stadttheaterproduktionen zusammenkommen, selten werden Produktionen der Freien Szene eingeladen, während auf anderen Festivals wie das Impulse Festival in Nordrhein-Westfalen Stadttheaterproduktionen gleichsam rar sind. Da im Kontext kultureller Vielfalt einige Produktionen in verschiedenen Kommunen und Städten relevant erscheinen, sollen verstärkt Anreize geschaffen werden, überregionale, Freie und Stadttheaterszene-übergreifende Projekte zu entwickeln und durchzuführen. Maßnahme: Je nach Kooperationskomplexität (Anzahl der kooperierenden Stadt-, Landes-, Staatstheater und Gruppen der Freien Szene) stellt der Bund Fördervolumen für Kooperationen im Themenfeld kultureller Vielfalt zur Verfügung. Der Bund übernimmt beispielsweis Drei-Jahres-Verträge für Künstler, Koordinatoren und Produktionsgelder. Über bestimmte thematische Vorgaben der jeweiligen Ausschreibungen wie zum Beispiel Bürgerengagement, gesellschaftliche Radikalisierung, Flucht und Migration, demographischer Wandel sollte ebenso diskutiert werden, eventuell in Kooperation mit den Bildungs- und Sozialinstitutionen, welche die Stimmen vieler gesellschaftlicher Gruppen, die in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen oder überhört werden, vertreten könnten. Auswahlverfahren an Schauspiel- und Kunsthochschulen hinsichtlich kultureller Vielfalt anpassen: Mit Blick auf die gegenwärtige Theaterlandschaft fällt auf, dass ein großer Teil der Theaterschaffenden (wie zum Beispiel Schauspieler, Regisseurinnen, Dramaturgen, Bühnen- und Kostümbildner), insbesondere in der Freien Szene und in Theaterkollektiven, nicht von den traditionellen Kunsthochschulen hervorgebracht werden. Zudem beklagen Künstler mit Migrationsgeschichte oder aus Queer- und PoC-Gruppen, dass sie in den Auswahlverfahren der tradierten Schulen benachteiligt sind, da sie hinsichtlich des klassischen Theaterkorpus Minderheiten repräsentieren. Geschlecht, Hautfarbe und sexuelle Orientierung sind Merkmale, die keine Rolle spielen dürfen, denn die Freiheit des Theaters liegt gerade in der Möglichkeit, dass jede jeden darstellen kann. Eine große Aufgabe der Kulturpolitik wird es sein, hier die richtigen Weichen zu stellen. Maßnahme: Die Theaterbeiräte der Vielfalt erarbeiten auf Landesund Bundesebene ein Leitbild, welches die traditionellen Vorstellungen von Kunsthochschulabsolventen grundsätzlich überarbeitet und an den

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Kulturpolitische Auswertung und Maßnahmen für den deutschen Kontext

kulturellen und gesellschaftlichen Wandel anpasst. Die Kunsthochschulen werden ermuntert, ihre Auswahlverfahren diesem anzupassen. Anreize zur Überwindung von Stereotypisierung: Neben der Forderung nach mehr Sichtbarkeit in den Ensembles kritisieren im gleichen Zuge Akteure verschiedener marginalisierter Gruppierungen, nur aufgrund ihrer kulturellen oder gesellschaftlichen Herkunft oder Orientierung, beispielweise als Quotentürke, Schwuler oder Mensch mit Behinderung engagiert zu werden. Am Ende des ersten Teils der Arbeit wurde deutlich, dass gerade in der zu großen Übereinstimmung von Biographie und Bühnendarstellung die von Menke beschriebene Kraft der Kunst ausbleibt, da die Freiheit, das Asymmetrische der Ästhetik, begrenzt wird. Diese Beschränkung bezieht sich umgekehrt aber auch auf die Repräsentanten der Mehrheitskultur: Wenn der Held immer von einem weißen, heterosexuell auftretenden Mann repräsentiert wird, wird die Kraft der Kunst ebenso wenig wirken. Wenn etwas unsere Gesellschaft heutzutage kennzeichnet, dann ist es das Aufbrechen tradierter Stereotype und Rollen, und hier sollte Theater eine Vorreiterrolle einnehmen. Maßnahme: Bewusste Förderung von Stücken, Projekten und Workshops, die sich mit der Dekonstruktion von Stereotypisierungen auseinandersetzen. Das Augenmerk liegt hierbei nicht auf das Erreichen einer möglichst hohen Auslastung, sondern vielmehr auf der Schaffung innovativer, tradierte Grenzen überschreitender ästhetischer Verfahren und Workshops. Kulturpolitische Grundsatzstrategie für Theater als Verhandlungsort kultureller Vielfalt: Kulturpolitik und Ästhetik als Sorge um das Offene fördern Strategien, dass niemand auf eine Hautfarbe, ein Geschlecht, eine Orientierung oder eine Behinderung reduziert werden darf. Obwohl das klassische europäische Theater jahrzehntelang die Mehrheitskultur repräsentierte, hat es das Vermögen, die Prozesse einer Gleichberechtigung und Gleichheit in einer Gesellschaft kultureller Vielfalt zu unterstützen. Es sollte demnach eine grundlegende Aufgabe der Kulturpolitik auf kommunaler, regionaler Landes- und Bundeseben sein, Theater als den Ort und die Strategie für die Verhandlung kultureller Vielfalt gesellschaftlich zu etablieren. Maßnahme: Bund, Länder und Kommunen erarbeiten in Zusammenarbeit mit den Theatergremien für Vielfalt einen Masterplan, der Leitlinien und Förderprogramme zur Unterstützung von Wandlungsprozessen innerhalb der Theaterlandschaft zur Verhandlung kultureller Vielfalt beinhaltet. Mithilfe dieser Anpassungsprogramme kann die

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Kulturpolitik als Sorge um das Offene

deutsche Theaterlandschaft ihr Alleinstellungsmerkmal und Besonderheit, eine tragende Säule innerhalb der Gesellschaft zu sein, weiterhin für sich beanspruchen. Die beschriebenen Maßnahmen fördern einen Strukturwandel innerhalb der Theaterlandschaft, der zwar nicht das System schlagartig dekonstruiert und umorganisiert, jedoch – mit ganz unterschiedlicher Ausprägung je nach Region – grundlegend sein wird. Die oben beschriebenen Beobachtungen rezenter Diskussionen und Beschreibungen des status quo deuten auf den Wunsch vieler Theaterakteur*innen, insbesondere der nachwachsenden Generationen, neue, der gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt angemessener erscheinende Wege einzuschlagen. Der Erfolg wird sich höchstwahrscheinlich zunächst nicht an Auslastungszahlen festmachen, denn grundlegende Veränderung braucht seine Zeit. Kulturpolitik sollte sich jedoch der Sorge um das Offene annehmen, damit Kultur und ihre vielfältigen Institutionen auch in Zukunft prägende und maßgebliche Orte der gesellschaftlichen Verhandlung und Aushandlung bleiben. Der Wunsch nach Veränderung macht jedoch nicht vor den deutschen Grenzen halt. Vielmehr sind wichtige Impulse für die vorangegangene kulturpolitische Diskussion in internationalen Kontexten und Diskursen entstanden, so zum Beispiel im Dialog mit Akteuren aus dem südlichen Afrika. Es gibt weit mehr Länder und Kontinente, welche der hiesigen Theaterlandschaft entscheidende Fragen stellen, Ideen aufwerfen und Praktiken vorführen. Erinnert sei nur, welch tragende Bedeutung die Festivals der Reihe „Foreign Affairs“ am Haus der Berliner Festspiele von 2012 bis 2016 für die postkolonialen und antirassistischen Diskurse an deutschen Bühnen gespielt haben. Die internationale Kulturpolitik verfügt hier über entscheidende Netzwerke, Räume und Erfahrungswerte, die für Sorge um das Offene grundlegend sind. Ihr wird sich das nächste Kapitel widmen und abschließend fragen, welche Rolle Kulturpolitik zukünftig spielen sollte, um auf diesem Feld Sorge um das Offene zu tragen.

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Kapitel 5 Agentin kultureller Vielfalt oder Akteurin der „intercultural mafia“ ? 328

Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis


Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis

International ausgerichtete Kulturpolitik bestimmt nicht nur die politischen Meilensteine für weltweite Kulturförderung, sondern setzt diese mit der Bewilligung öffentlicher Mittel ebenso um. Mit Blick auf internationale Kulturfestivals kann durchaus behauptet werden, dass Deutschland ein nicht unbedeutender Akteur in der globalen Kulturökonomie ist. Neben Regierungs- und Kulturorganisationen aus Schweden, Norwegen, Großbritannien und den USA sind auf den Websites, Bannern und Programmheften von weltweiten Veranstaltungen im internationalen Kontext die Label von Goethe-Institut, Auswärtiges Amt, BMZ, Institut für Auslandsbeziehungen oder DAAD unübersehbar. Deutschland fördert ideell, aber eben auch finanziell mit verschiedensten Programmen und Projekten eine Vielzahl an (Ko)Produktionen von Kunst und Kultur im internationalen Kontext. Der Glaube an die gesellschaftliche und politische Wirkungsmacht dieses Engagements nimmt bei den regierenden Entscheidungsträgern stetig zu, wenngleich Kunst und Kultur als sanfte Methoden auswärtiger Politik gehandelt werden. Vielfältige Abkommen der letzten Jahre mit unterschiedlichen Regierungen lassen auf einen je nach Region spezifischen Einsatz von Kulturförderung schließen, so Enzio Wetzel: Völlig unterschiedlich sind dagegen die Zielorientierung der Projekte und ihre zeitliche Perspektive. Während beispielsweise das Kulturabkommen zwischen Deutschland und Ägypten aus den siebziger Jahren stammt und unter der Wahrnehmungsschwelle der Politik alle Regierungswechsel bis heute überdauert hat, ist die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit immer an konkrete, maximal einige Jahre dauernde Vorhaben gebunden. Diese werden zudem jährlich neu auf Regierungsebene ausgehandelt.329 Wetzel, Leiter des Goethe-Instituts in Sofia, nennt jedoch auch Kehrseiten dieser Medaille: „Die programmatische Freiheit der Kulturangebote, der Akteure, Aktivisten und Besucher kann in Gefahr geraten, wenn sich hier Kultur und Entwicklung unversehens zu nahe kommen“ und fragt daraufhin „Wie kann es trotzdem zur Aufnahme fruchtbarer Beziehungen kommen?“330 Ergänzend kann also gefragt werden: Fördert internationale Kulturpolitik kulturelle Vielfalt oder leiten Verknüpfungen mit Strategien der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit diese in einseitig (beispielsweise in kolonialer Tradition in westlich) gefärbte Gewässer? Einschlägige Institutionen internationaler Kulturförderung – so etwa das Institut für Auslandsbeziehungen – beschäftigen sich seit einiger Zeit mit diesen Fragen. Das Team um den UNESCO-

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Das Symposium „Theatre in Transformation“ in Südafrika

Lehrstuhl am Hildesheimer Institut für Kulturpolitik greift diese Debatten ebenfalls auf, diskutiert sie jedoch in den Ländern, in denen die Förderungen ankommen und deutschsprachige Kulturpolitik in Aktion tritt.

Das Symposium „Theatre in Transformation“ in Südafrika 2016 lud der UNESCO-Lehrstuhl unter dem Titel „Theatre in Transformation“ zu einer Tagung in die südafrikanischen Städte Pretoria und Johannesburg ein. Südafrikanische und deutsche Künstler*innen tauschten sich in Produktionen, Wortbeiträgen und Panels nicht nur aus, sondern es ging zum Teil hoch her. „Don’t talk, act!“, forderte zum Beispiel eine junge Künstlerin die Herren der Theaterleitung des Soweto Theatre auf, welche wie viele andere in die Jahre gekommene Befreiungskämpfer eine eher durch Korruption, denn durch politische Erfolge glänzende Elite Südafrikas repräsentieren. In dem erst vor wenigen Jahren eröffneten Theater mitten in den South Western Townships Johannesburgs (Soweto) kam der Frust der heranwachsenden Künstlergenerationen zum Ausdruck, die aufgrund vieler Fehlentscheidungen der Regierung für ihr Schaffen keine Perspektive sehen.331 Der Konflikt, der sich hier entlud, schwelt seit einiger Zeit in der gesamten Theaterlandschaft Südafrikas, so argumentiert Schneider in Politik und Kultur: „Weiße und Schwarze, Junge und Alte streiten um Wege, Inhalte und Ästhetik“.332 Doch neben diesen nationalen Konflikten brachen auch internationale auf: Warum finanziert eine deutsche Initiative ein Format, in welchem Streitigkeiten zwischen südafrikanischen Künstlern und Kulturpolitikern zutage treten? Äußert sich da etwa koloniales Gebaren? Dieses wurde den Organisatoren allein schon deshalb unterstellt, weil die Tagung ihren letzten Akt im Soweto Theatre abhielt, natürlich mit vorheriger Tour durch den weltbekannten Township. Eine delikate Angelegenheit zwischen Exotismus und ernstgemeintem Interesse, denn hätte es nicht ebenfalls zu Unmut geführt, wenn europäische Gäste im Soweto Theatre tagen, ohne das Hector-Pieterson-Mahnmal zu besuchen, welches an die Gewalt gegenüber demonstrierenden Schülern während des Aufstandes in Soweto 1976 erinnert? 333 Das Symposium, mit Geldern des UNESCO-Lehrstuhls finanziert und in Südafrika abgehalten, verdeutlicht nur zu gut die ambivalente Situation internationaler Kulturpolitik, weist aber auch auf die spezielle politische Wirkungsmacht von Kulturschaffen hin. Den internationalen,

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Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis

meist europäisch und nordamerikanischen, Gebern wird schnell unterstellt, sie fördern unter dem Deckmantel der Kultur ihre eigenen Interessen, wollen als Gutmenschen anerkannt und hofiert werden und spielen koloniale Hierarchien nach. Da Kultur – und in Südafrika insbesondere auch Theater – als perfides Mittel der Kolonisierung eingesetzt wurde – man denke an die nur Weißen vorbehaltenen Theatergebäude und die Verdrängungsversuche präkolonialer Kulturtraditionen seitens der Kolonisatoren –, sollte die internationale Geberschaft kritische Stimmen ernst nehmen und reflektiert vorgehen, was nicht immer geschieht.334 Bharucha weist auf diese koloniale Schlagseite bereits in den 1990er Jahren im indischen Kontext hin: „Most of the ‚international‘ workshops in India have been organized by bureaucrats and cultural businessmen, who want to be connected to the power structures in the Euro-American cultural scene. Performers are merely pawns in this game controlled by the intercultural mafia.“335 Andererseits erschafft diese „Mafia“ europäisch-nordamerikanischer Provenienz Räume, welche in den jeweiligen Ländern durch nationale Kulturförderung meist nicht generiert werden. So haben nahezu alle teilnehmenden Künstler und Theaterleiter aus Südafrika betont, dass sie vorher nie gemeinsam auf einem Symposium über die Lage der südafrikanischen Theaterlandschaft diskutiert haben, weil diese Art von Austausch von nationaler Seite bis dato nicht gefördert wurde. Dabei kann nicht behauptet werden, dass die National Theatre Organisation über keine Mittel verfügt, vielmehr scheinen die Interessen oder Dringlichkeiten woanders zu liegen. An dieser Leerstelle entfaltet internationale Kulturpolitik jedoch großes Potenzial: Da sie meist mit einer Initiative von außen verbunden ist, nimmt sie Themen anders in den Blick als vielleicht Akteure vor Ort. Sieht man zunächst von den üblichen NordSüd-Hierarchien und der Dominanz des Westens ab, so eröffnet internationale Kulturpolitik die Chance, dass die Beteiligten einen anderen Blick auf die Dinge werfen können. Man mag einwenden, dass Kunst und Kultur diese ungewohnten Perspektiven grundsätzlich einnehmen, doch auch – so zeigt es die Kulturgeschichte – tendieren diese nicht selten dazu, über lange Zeiträume in ihrer eigenen Ästhetik zu schmoren. Genau an diesem Punkt greift internationale Kulturpolitik ein und kann somit in den einzelnen Ländern das Hervorbringen kultureller Vielfalt innerhalb ästhetischer Praxis maßgeblich unterstützen. Aufgrund all dieser mal deutlich zutage tretenden, mal subversiv wirkenden Verflechtungen zwischen Politiken und Künsten, Kulturen und Gesellschaften, jedoch ebenso aufgrund der Unvorhersehbarkeit ihres Wirkungsfeldes – dem Kunst- und Kulturschaffen – scheint inter-

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Kulturpolitik im Spannungsfeld …

nationale Kulturpolitik heutzutage wichtiger denn je. Gesellschaftliche Wandlungen, Migrations- und Fluchtprozesse, kulturelle Radikalisierungen, aber auch die Globalisierung strapazieren die kulturellen Verortungen der Mitglieder einer Gesellschaft. Wie kann internationale Kulturpolitik ohne koloniales Gebaren hier nachhaltig wirksam werden? Wo genau verbergen sich (trans)kulturelle Potenziale, wo lauern neokoloniale Gefahren?

Kulturpolitik im Spannungsfeld: Das „Harare International Festival of the Arts“ in Zimbabwe (HIFA) Das „Harare International Festival of the Arts“ in Zimbabwe, das in seiner Hochphase zwischen 2008 und 2015 zu den größten Kunstfestivals des afrikanischen Kontinents zählte, mag als Beispiel par excellence gelten, in welchem die vielseitigen, konträr diskutierten Aspekte der Kulturpolitik wirkungsmächtig werden.336 Das Festival wurde 1999 von Manuel Bagorro ins Leben gerufen und wuchs parallel zu Mugabes zunehmend despotischer werdenden Regierungsstil. Es avancierte im Verlauf des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zu einer der letzten öffentlichen Sphären, in welcher in Zimbabwe internationaler Austausch möglich schien. Theater und Spoken-Word-Performances nahmen verstärkt eine politische Rolle ein, sodass das Festival vermehrt vom Regime kontrolliert und einzelne Stücke zensiert wurden. Dies wiederum führte dazu, dass die Opposition, aber auch die internationale Geberschaft und Teile der Wirtschaft das Festival als Ort der Gegenöffentlichkeit zum Mugabe-Regime förderten. Künstlerinnen und Künstler übten in ihren Arbeiten politische Kritik und entwickelten in ihrem Schaffen neue künstlerische Taktiken, die Zensur zu umschiffen. In den Jahren 2009 bis 2013, während der Zeit des Government of National Unity, in welcher Mugabes ZANU-PF und die Oppositionspartei MDC gemeinsam regierten, 337 spiegelte das Festival die absurde Situation des Landes wie keine andere Veranstaltung wider: Einerseits gab sich Zimbabwe weltoffen und international, andererseits wurde Kritik am Präsidenten nicht geduldet. Einerseits wurde mit der Finanzierung der zimbabwischen Produktionen durch das Festival ein Großteil der jährlichen Arbeiten des Kunstsektors des Landes gefördert, andererseits mehrten sich kritische Stimmen, dass einheimische Künstler im Vergleich zu internationalen geringere Gagen erhielten und die Bevölkerung aufgrund der hohen Eintrittspreise keinen Zugang hatte. Dieser Kritik folgend schottete sich das Festival als Treffpunkt der internatio-

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Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis

nalen Kultur- und NGO-Elite von den regionalen Herausforderungen und deren Akteuren ab. Kurzum: Eine genauere Betrachtung des Festivals scheint lohnenswert, denn hier lassen sich die Wirkungsweisen der internationalen Kulturpolitik diskutieren.

Mugabes repressive Kulturpolitik bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch Im Verlauf der 1990er Jahre konnte das wirtschaftliche Debakel Zimbabwes, in welches die Mugabe-Regierung das Land manövriert hatte, kaum noch geleugnet werden. Die mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) geschlossenen Verträge und Strukturanpassungsprogramme entpuppten sich als neokoloniales Desaster, die hohen Gehälter und Pensionen der „Commrades“, ehemaliger Befreiungskämpfer, hochrangiger Militärs und einflussreicher Unterstützer Mugabes und der ZANU-PF, ließen die öffentlichen Kassen zudem ausbluten. 1998 erhielt das National Arts Council Zimbabwes zum letzten Mal Geld von der Regierung, erst 2012 wurden Zahlungen wieder aufgenommen. Im Jahr 2000 startete Mugabe die folgenschwere Landreform, mit welcher die weißen Farmer sukzessive enteignet wurden, worauf die westliche Welt mit harscher Kritik und Bestürzung reagierte, ein Großteil der Bevölkerung dagegen die nun zu erwartende „gerechte“ Verteilung des Landes begrüßte. In diesen turbulenten Jahren initiierte und etablierte der gebürtige, jedoch größtenteils in New York lebende Zimbabwer, Manuel Bagorro, das „Harare International Festival of the Arts“. Die kulturpolitischen Bedeutungen und deren Folgen für die Gesellschaft werden innerhalb dieses kurzen Zeitraums bestechend deutlich. Kunst und Kultur waren für Mugabe mit Beginn seiner Präsidentschaft 1980 ein hohes und förderwürdiges Gut. So attestiert Jane Plastow in African Theatre and Politics dem Land zu Beginn der 1990er Jahre eine blühende Theaterlandschaft mit mehr als 20 festen Theatergruppen.338 Die Regierung etablierte die „Zimbabwe Association for Community Theatre“, um einerseits der noch aus rhodesischer Zeit stammenden „National Theatre Organisation“ und deren primär den britischen Kanon favorisierenden Repertoire ein Programm entgegenzusetzen, welches den „African Spirit“ repräsentiert und der Nation zu einem neuen, afrikanischen Selbstverständnis verhelfen sollte. Dies spiegelt sich in der Definition von „wahren zimbabwischen“ PerformanceTechniken wider, die Samuel Ravengai erläutert:

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Mugabes repressive Kulturpolitik bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch

The performance techniques used to narrate the nation in the autho~gı~ wa Mı~riı~ prescribes rised version are replete with difficulties. Ngu dance, mime, song, drama and gestures. As an advocate of the autho~gı~ wa Mı~riı~ argues that these perrised version of theatre Ngu formance techniques „point to the only genuine direction for a true Zimbabwean theatre“.339 […] The nativist topology of traditional/western makes ZANU-PF administration hypersensitive to western master narratives. The romantic streak, a tenet of the old negritude, is smuggled back through the back door.340 Gemäß der Polarisierung kolonialer Traditionen sollte Kulturschaffen somit der „neuen“ Politik der Nation nicht nur ein Gewand geben, sondern die Rechtmäßigkeit Mugabes als wahren afrikanischen Präsidenten und die zunehmenden politischen Ressentiments gegen die westliche Welt beglaubigen. In der Gegenüberstellung von afrikanisch-traditioneller und westlich-kolonialer Kultur, die in der Priorisierung bestimmter Theatertechniken ihren Ausdruck findet, wird Kulturschaffen somit eine wirkungsvolle politische Strategie. In dieser Tradition äußerte Mugabe 1995 auf der internationalen Buchmesse in Harare, dass Homosexualität eine Krankheit des Westens und Schwule schlimmer als Schweine und Hunde seien.341 Das Wettern gegen angebliche Kultureinflüsse des Westens und die Rückbesinnung auf wahre afrikanische Kunsttechniken wurden zur wichtigsten Maßnahme des Präsidenten, die Schuld an der Misere des Landes den Europäern und Nordamerikanern zu geben, was letztlich in der Enteignung der weißen Farmer einen Höhepunkt fand. Kultur wurde zum Spielball einer Politik, die sich im Verlauf der ersten Amtsjahre radikal änderte: Zunächst war es Mugabes Ansinnen, eine friedliche und alle Bevölkerungsgruppen des Landes verbindende Politik zu etablieren. Doch mit den ausbleibenden Erfolgen und dem Wirtschaftsdesaster radikalisierte er sich und erschuf die westliche Welt als Feindbild, dem er wiederum mithilfe seiner kulturpolitischen Agenda zum Leben verhalf.342 Bemerkenswert hieran ist die Bedeutsamkeit von Kultur sowohl für die Durchsetzung als auch die Beglaubigung von politischen (auch sich in relativ kurzer Zeit wandelnden) Strategien. Denn mit der Berufung auf afrikanische Traditionen verlieh Mugabe seiner neuen anti-westlichen Ausrichtung die Rechtmäßigkeit, allein die Ziele eines wahren afrikanischen „Spirits“ zu verfolgen. Afrikanische Kultur wird hier als etwas Natürliches, immer schon „Dagewesenes“ dargestellt, was jedoch von den Kolonisatoren zerstört und unterdrückt wurde und nun mit der Politik wieder in den Kanon zurückgeholt wird. Absurderweise wird in

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Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis

dieser Argumentation Kultur als etwas „Festes“ und „Beständiges“ dargestellt, obwohl auch in präkolonialer Zeit afrikanische Kulturen ständigen Wandlungsprozessen unterlagen. Dieses Vorhaben, eine bestimmte Kultur als naturgegeben zu setzen, diskutiert Christina von Braun in ihrer jüngsten Publikation Blutsbande343 anhand des wandelnden Verständnisses von Geschlecht und Gender: Dennoch ist unbestreitbar, dass sich derzeit auf der Ebene von biologischem Geschlecht wie von Gender (der sozialen Konstruktion von Geschlecht) eine tiefgehende Umwälzung vollzieht. Die Änderung brachte überhaupt erst die Erkenntnis, dass die ‚Natur‘ schon immer die Verkleidung der Kultur war. Eben diese erklärt die hohe Emotionalität, mit der über den Wandel der Geschlechterordnung debattiert wird. Wenn sich sogenannte Naturgesetze als Glaubenssätze erweisen, so rührt dies an existenzielle Bedingungen, die nicht nur das Geschlecht des Einzelnen, sondern auch andere Kategorien angehen und die Gemeinschaft überhaupt in Frage stellen. Hierin liegt die Gemeinsamkeit von Homophobie, Antifeminismus, Antisemitismus, Rassismus und Xenophobie: Alle haben einen ‚Fremdkörper‘ im Visier, der einerseits gehasst, andererseits aber auch zur Vergewisserung der eigenen Norm gebraucht wird.344 Ähnlich wie es die Kolonisten hinsichtlich westlicher Normen vorgespielt haben, erklärte das Mugabe-Regime ab den 1990er Jahren traditionell-afrikanische Normen und Werte zu den „natürlichen“ und die westliche Welt zum Fremdkörper der Nation. Kultur wurde zur Legitimation dieser extremen Politik gebraucht und Kunstschaffen – so zeigen ~gı~ wa Mı~riı~ – es die Äußerungen von Mugabes Kulturadvokat Ngu diente nicht nur zur ästhetischen Kreation von Erfahrungsräumen, in welchen jene erlebt werden konnte, sondern mit der Rückkopplung an den traditionellen „African Spirit“ avancierte diese zur Technik der Selbstvergewisserung von Mugabes Nationskonzept schlechthin. In diesem Wechselspiel von Kultur und Politik, in welchem Erstere Letzterer einen Anstrich von Naturgegebenheit verleiht, verdeutlicht sich eine ungeheure Wirkungsmacht von Kulturpolitik.

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Die Weltoffenheit des Festivals als Konterpart zur reaktionären Politik des Regimes Mit der zunehmenden wirtschaftlichen Krise verabschiedete sich Mugabe und seine Regierung jedoch von der Kulturförderung. Der aktive politische Einfluss auf die Gestaltung des Kulturschaffens nahm dementsprechend ab, und es kam wohl nicht von ungefähr, dass nun Bagorro, der seinen Lebensmittelpunkt größtenteils nach New York verlagert hat, der Stadt, welche Ende der 1990er Jahre das Symbol der westlichen Welt war, mit der Gründung des „Harare Festivals of the Arts“ zunächst einen Großteil der Finanzierung von Kunstproduktionen in Zimbabwe übernahm. Zweifelsohne verfolgte er eine ganz anders gelagerte Kulturpolitik, die zwar an die Politik der Vielfalt anknüpfte, welche die Regierung Zimbabwes bereits in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit 1980 präferierte, aber in gewisser Weise vornehmlich auch die Interessen der westlichen Welt und ihrer Wirtschaft förderte. Mugabes Politik der friedlichen Versöhnung und gemeinsamen Zukunft der verschiedenen kulturellen Gruppen in den ersten Amtsjahren hatte nicht nur international zu Anerkennung geführt. Kunst-, Kulturschaffende und Menschen mit alternativen Lebensentwürfen kamen in das südafrikanische Land. Neben den Theatern wuchsen in Zimbabwe weitere Künste wie etwa Literatur, Malerei und Skulptur zu bedeutenden Szenen mit internationaler Reputation. Die German Zimbabwean Society und das Goethe-Zentrum in Harare wurden Anfang der 1980er gegründet, und Kulturinstitutionen anderer Länder wie das British Council und die Alliance Française, aber auch nationale Organisationen wie die Gallery Delta und das Book Café entwickelten sich zu bedeutenden, auch international agierenden Kulturinstitutionen. Die hier gepflegte Kulturpolitik förderte traditionelle afrikanische Kunstformen, doch ebenso den internationalen Austausch. Sie verstand sich als offen, innovativ, weltgewandt, zum Teil als Avantgarde. Mugabes im Laufe der 1990er Jahren stets reaktionärer werdendes Kulturverständnis wirkte demgegenüber nicht nur äußerst eng und rückwärtsgewandt – und es verwundert nicht, dass er seine Hetze gegen Homosexuelle ausgerechnet auf der internationalen Buchmesse in Harare kundtat – , sondern verkehrte die anfänglich offene Kulturpolitik seiner Regierung in das komplette Gegenteil und wurde zum Konterpart der international agierenden Kulturszene. Das „Harare International Festival of the Arts“ wird seit seiner Gründung in enger Zusammenarbeit mit diesen Stätten, Institutionen und Organisationen durchgeführt. Es präsentiert ein Zimbabwe, das

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Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis

Traditionen zurückerobert, neue Formate entwickelt, internationale Gäste einlädt und einen regen und vielfältigen Kulturaustausch fördert. Im Zuge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise, der Landreform, der Zensur und Gewalt durch das Regime verhandelte das Festival im Verlauf des neuen Jahrtausends zunehmend politische Themen und geriet auf diese Weise immer mehr in das Visier des zimbabwischen Geheimdienstes und der Zensurbehörde.345 Da Mugabes Politik sich vermehrt isolierte und sich die Situation für politische Organisationen und NGOs immer schwieriger und brisanter gestaltete, wurde das Festival für die westliche Welt zu einer wichtigen Plattform. Interessanterweise erschien diese Art von Kulturförderung zunächst den politischen Akteuren als eher unbedenklich: Trotz der Versuche Mugabes, ein bestimmtes Verständnis der zimbabwischen Gesellschaft zu fördern sowie der westlichen Welt über die Kulturinstitute das eigene Land und dessen Kunstschaffen zu repräsentieren, waren die politischen Interessen zunächst weniger ausschlaggebend als die kulturellen. Die Zuspitzung der Krise im Jahr 2008 schien jedoch beide Seiten von der politischen Schlagkraft kulturpolitischer Initiativen auf dem Kunstfestival zu überzeugen. Inwieweit kann jedoch Kulturpolitik tatsächlich eine spezifische politische Agenda verfolgen? Machen nicht gerade Momente des Unvorhersehbaren und des außerhalb jeglicher Strategie Liegenden kulturpolitische Wirksamkeit aus? Diese Fragen lassen sich besonders gut anhand der Festivals in den Jahren von 2009 bis 2014 erörtern, da sie in einen Zeitraum fallen, in welchem das Land nach einer folgenschweren Krise unter dem Einfluss verschiedenster politischer und wirtschaftlicher Interessen stand: Der wirtschaftliche Kollaps, die hohe politische Gewalt und schließlich das Government of National Unity, ein erster Lichtblick des Landes, der nicht lange währen sollte, bestimmten maßgeblich die Lebensumstände der zimbabwischen Bevölkerung.

„Enligh10ment“: Das Festival als Hoffnungsträger in politisch-ökonomischer Krisenzeit Im Laufe des Jahres 2008 brach die Wirtschaft Zimbabwes zusammen. Die Inflation erreichte einen unvorstellbaren Rekord von sechseinhalb Oktodizillionen Prozent. Mit der Operation „Murambatsvina“, in welcher die Townships in Harare – Keimzellen der politischen Opposition – im Auftrag der Regierung wortwörtlich dem Erdboden gleich gemacht wurden und die Menschen aus diesen Ballungsräumen über das ganze

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„Enligh10ment“: Das Festival als Hoffnungsträger in politisch-ökonomischer Krisenzeit

Land verteilt, das heißt separiert, wurden, fand die Despotie und Brutalität einen weiteren Höhepunkt, und der Westen verhängte Sanktionen; das Festival blieb jedoch verschont. Dieses zeigte der Welt, dass Zimbabwe trotz Krise ein imposantes Event auf die Beine zu stellen vermochte. Durch das über die Jahre geschaffene Netzwerk von lokalen und internationalen Partnern aus den Kunst- und Kulturszenen und Institutionen verfügte das Festival über jede Menge tatkräftige Unterstützer und Befürworter. Da es sich auf den ersten Blick um kein politisches Engagement, geschweige denn um eine Unterstützung des Regimes handelte, froren die internationalen Geber ihre Gelder in diesen Fällen nicht ein, sondern, im Gegenteil, unterstützten das Festival 2009 mit renommierten Künstlern. Als deutsche Beiträge wurden die Bayerische Bläserband LaBrassBanda und die internationale Playback-Theatre-Gruppe Familie Flöz eingeladen, die gesellschaftspolitisch nicht verfänglich und doch wirkungsmächtig schienen. Zwischen ironisch-niederbayerischem Heimatkitsch und hoher musikalischer Kunst agierend, wurden die Aufführungen von LaBrassBanda zu einem Publikumserfolg, weil sie vielerlei regionale deutsche Eigenheiten präsentierten, die jedoch auf einer Bühne mitten unter Palmen und violetten Jacarandabäumen eine gute Portion globaler Brechung erfuhren. Familie Flöz’ zuweilen groteskes Pantomimenspiel ohne Worte kam von sich aus weltgewandt und für jedermann nachvollziehbar daher und füllte mehrfach das große Reps Theatre. Beide Produktionen erfüllten gerade in ihrem internationalen Gewand, welches jedoch auf vortreffliche Art und Weise eine Verbindung mit dem regionalen Stimmungsbild einging, eine wichtige Funktion für die zimbabwische Bevölkerung jener Zeit. Im Jahr 2009, in welchem zwar durch die Abschaffung der nationalen Währung – von da an wurde offiziell mit US-Dollar oder südafrikanischen Rand bezahlt – die Supermärkte langsam wieder mit Waren gefüllt wurden und das Government of National Unity seine Arbeit aufnehmen konnte, steckte die Krise der letzten Monate der Bevölkerung noch in den Knochen. Das Festival setzte mit oben genannten Produktionen in erster Linie auf Genuss, Lachen und Freude an der Kunst, die zum Teil mit ironischen und grotesken Zuspitzungen die Lage des Landes karikierte. Hierin zeitigt sich eine der wichtigen Aufgaben von Kulturpolitik: Räume des Genusses und der Entspannung zu schaffen, jenseits von Konflikten und tristen Lebensbedingungen oder in der ironisch-grotesken Perpetuierung über diese hinaus. In krisengeschüttelten Regionen ist oftmals diese Notwendigkeit von Kulturerleben spürbar, die den Alltag und die Politik in den Hintergrund manövriert oder karikiert. 346

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In diesem Sinne stand das HIFA 2009 unter dem Motto „Enligh10ment“ und setzte zum zehnjährigen Bestehen des Festivals in Zimbabwe ein kulturpolitisches Zeichen, so der künstlerische Leiter Bagorro: „We urge you to come together in a spirit of enlightened solidarity and to reveal in the power of the arts to engage our hearts and minds in many different ways.“347 Wenn Politik und Wirtschaft am Boden sind, ist Kulturschaffen – so zeigt es zumindest dieses Beispiel – die letzte Bastion, in der sich die Gesellschaft zusammenfinden kann. Die etwas prosaisch klingende „Power of the Arts“ entstand nicht nur durch die oben genannten künstlerischen Verfahren zum Zwecke der „Entspannung“, sondern auch dadurch, dass Kulturschaffende aufgrund ihrer oftmals unsicheren oder gar prekären ökonomischen Verhältnisse und ihrer Bereitschaft für Kreativität und Offenheit relativ krisenerprobt sind (wie oft wird das Schaffen eines Kunstwerks oder Projekts als Krise erlebt). Aus diesem Grunde funktionieren die Vernetzungen innerhalb der Kulturlandschaft anders als politische oder wirtschaftliche Verbünde. Sie bauen auf künstlerische, nicht selten private Kontakte, sind nicht unbedingt vordergründig politisch gefärbt, sondern werden in erster Linie auf ästhetischen Ebenen geschlossen. Die Akteure treffen sich auf verschiedenen internationalen Festivals, bei Stipendienaufenthalten und Projekten in den unterschiedlichen Kulturinstitutionen und Ländern. Mit Blick auf dieses Festival hat das regional-globale Netzwerk internationaler Kulturpolitik und seine Akteure Früchte getragen. Nicht nur internationale Kulturinstitutionen waren maßgeblich involviert, sondern auch die Botschaften einer sehr großen Anzahl von Ländern in Zimbabwe. 348 Durch diese Verknüpfung von lokalen und internationalen Netzwerken war es trotz der schwierigen Rahmenbedingungen möglich, ein internationales Festival zu organisieren.

„The Engagement Party“: Das Festival zwischen politischenökonomischen Strategien und künstlerischer Unberechenbarkeit In den darauffolgenden Festivals werden jedoch Schattenseiten sichtbar, an denen sich die Gratwanderung internationaler Kulturpolitik abzeichnet. Die besondere Strahlkraft, welche das Festival nicht nur im Titel „Enligh10ment“, sondern aufgrund der Wirkungsmacht der Kunstproduktionen auf dem Festivalgelände, den Bühnen und in den Kunsträumen, den Zimbabwerinnen und Zimbabwern Licht am Ende des Tunnels leuchten ließ, lief in den Folgejahren Gefahr, politisch und wirtschaftlich instrumentalisiert zu werden. So verortet das Grußwort der

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„The Engagement Party“ …

geschäftsführenden Leiterin Maria Wilson das Festival 2010 in einem ökonomisch-politischen Spannungsfeld: The Zimbabwean corporate community, desperately trying to understand a confusing economic future, has yet again shown that its commitment to the community cannot be doubted and has come forward to support the Festival unequivocally. The Diplomatic and Donor community has once more shown a desire to „face“ the Zimbabwean people head on, in a way that we understand and appreciate – through cultural exchange in the most effective and visible fashion.349 2011 stand das Festival unter dem Motto „The Engagement Party“ und positionierte sich in der Eröffnungsveranstaltung „Treasure“ äußerst regimekritisch. Der Präsident und seine Frau wurden als raffgierige Diamantendiebe karikiert, woraufhin die Festivalleiter von der Polizei vorgeladen wurden und – zuverlässigen Quellen zufolge – 30 000 US-Dollar für ihre Freilassung bezahlen mussten.350 Die von der internationalen Geberschaft finanzierten Projekte unterstützten zum großen Teil die Polarisierung zwischen Mugabe und dem Westen, ermöglichten jedoch auch Räume der offenen Diskussion, die sonst im Land aufgrund der politischen Zensur meist nicht möglich war. Das British Council förderte mit Rituals351 und The Harare Files352 zwei Stücke, die sich sehr kritisch beispielsweise mit der Operation „Murambatsvina“ auseinandersetzten und zu regen Debatten führten. Doch auch andere Stücke der Festivals 2010 und 2011 wie Black Jesus / We Cannot Escape Our Love353 entpuppten sich als unberechenbare Büchsen der Pandora: Der Titel Black Jesus erregte im Vorfeld aus Angst vor Blasphemie so viel Aufsehen, dass er vor der Premiere zu We Cannot Escape Our Love umgewandelt wurde. Trotzdem wusste die Öffentlichkeit bis zur Premiere nicht, was hier politisch wie verhandelt werden würde, somit war die Spannung und Angespanntheit sehr groß: Die Produktion webte die Diskussion um die Absetzung des Stücks in den Plot ein, der sich mit der Einsetzung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission in Zimbabwe beschäftigte. Bei derartig kurzfristigen Änderungen steht zwar meist nicht die künstlerische Qualität im Vordergrund, wohl aber die Unberechenbarkeit, welche Kunst ermöglicht. Mit Blick auf die Förderbedingungen der westlichen Geldgeber lässt sich ebenfalls sagen, dass für die Bewilligung der Förderung weniger die künstlerische Qualität, denn das gesellschaftspolitische Wirkungsversprechen ausschlaggebend war.354 Insgesamt erweckten die Produktionen dieser Jahre jedoch den Eindruck, dass die Kunstschaffenden die Förderziele der Geldgeber als eher sekundär betrachteten. In erster Linie woll-

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Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis

ten sie zur politischen und gesellschaftlichen Lage ihres Landes Stellung nehmen und die Chance ergreifen, endlich ein Plenum dafür zu haben. Die Freiheit des künstlerischen Prozesses gab dieser Offenheit und Nichtkontrollierbarkeit der Produktionen den nötigen Spielraum. Gleichzeitig stieg mit der Zeit das wirtschaftliche Interesse an dem Festival. Das Gesamtbudget von 1,9 Millionen US-Dollar (im Vergleich dazu lag es 1999 bei mehreren Zehntausend) wurde größtenteils von Sponsoren der globalen Wirtschaft getragen, nach denen jeweils ein ganzer Festivaltag benannt wurde: BancABC Day, Cabs Day, Stanbic Bank Day, Lion Lager Day, Coca-Cola Day, Alliance Insurance Day. Diese weltweit agierenden Großkonzerne sind auf einen Zug aufgesprungen, der von den internationalen Kulturinstitutionen ins Rollen gebracht worden war und dann, indem die Unternehmen einen Großteil des Festivals finanzierten, von diesen vollends in Fahrt gebracht wurde. Das Hand-in-Hand-Spiel von internationalen Kulturinstitutionen und den Großkonzernen überrascht keineswegs. Die oben aufgeführten Hauptsponsoren der Wirtschaft sind allesamt „global player“, welche nach den Prinzipien des freien Marktes funktionieren und ihr Vermögen zum großen Teil außerhalb des subsaharischen Afrikas anhäufen. Ob diese noch der westlichen Welt zugeordnet werden können, ist jedoch fraglich. Die Eliten und Orte, die von den Ökonomien der Großkonzerne profitieren, decken sich längst nicht mehr mit Hauptsponsoren des kulturpolitischen Sektors.355 Sind Kulturinstitutionen demnach Wegbereiter neoliberaler Wirtschaftsbeziehungen? Werden unter dem Deckmantel eines Kunstfestivals neue Märkte erschlossen und undurchsichtige Großkonzerne gefördert? In gewisser Weise muss hier zugestimmt, im gleichen Zuge aber festgehalten werden, dass die Sponsoren der Wirtschaft den Künstlern keinerlei Vorgaben gesellschaftspolitischer oder ästhetischer Art machten. So sponserte der Internetanbieter ZOL das gesamte Theaterangebot 2010, die Stücke wurden dabei von einem unabhängigen Team des HIFA ausgewählt. Vielerlei Aktionen der internationalen Kulturinstitutionen, welche die kulturelle Teilhabe und Bildung verschiedenster Bevölkerungsgruppen im Land stärken sollten, wurden ebenfalls von den Großkonzernen unterstützt.

Internationale Kulturpolitik als „Akteurin dazwischen“ Der Blick auf die Konferenz in Südafrika und das Festival in Zimbabwe verdeutlicht das komplexe Spannungsfeld aus ökonomischen und politischen Interessen und künstlerischen Taktiken, in welchem sich internationale Kulturpolitik bewegt. Das HIFA zeigt alljährlich, inwieweit sie

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Internationale Kulturpolitik und die Förderung von kultureller Vielfalt

ein wichtiges Instrumentarium der Außenpolitik darstellt, gerade, weil sie auf der einen Seite zwischen unterschiedlich gelagerten Interessen verschiedenster Förderer und Akteure agiert und auf der anderen Seite mit der Fokussierung von Kunst und Kultur ein Terrain betritt, welches zum großen Teil eine Autonomie und Unabhängigkeit des künstlerischen Prozesses in sich birgt. Die Besonderheit der Kulturpolitik liegt in diesem Wechselspiel zwischen Strategie und Unberechenbarkeit: Im Fall HIFA nutzte der Westen die ökonomische Förderung vermeintlich autonomer Kunst, um das Regime zu kritisieren und eine politische Strategie zu verfolgen. Die Wirtschaft verwandelte den Erfolg der Kunst in ökonomische Strategien, und das Mugabe-Regime übte Zensur, da es selbst über keine anderen Mittel verfügte, um den Inhalt des Festivals zu bestimmen. Die Bedeutung des Festivals für die zimbabwische Öffentlichkeit erklärt sich in diesem Wechselspiel der Akteure, das unter dem Schirm von Kunst beziehungsweise Kultur ein Wirkungsfeld schuf, welches den jeweiligen Strategien keineswegs freies Spiel zugestand. Internationale Kulturpolitik changiert nicht nur zwischen Interessen der Geberländer, die zweifelsohne mafiöse Züge tragen können, und dem Wunsch der Förderung kultureller und demokratischer Vielfalt. Wie ersichtlich wurde, reiht sie sich zudem in den ökonomischen Fluss der Weltwirtschaft teilweise ohne Widerspruch ein. Dass dies mehrere Seiten einer Medaille sind, ist keine neue Erkenntnis, doch ist es die Medaille selbst, der Umstand, dass öffentliche Fördergelder Festivals, Artefakten und Kulturzentren Leben einhauchen und das Wechselspiel zwischen unvorhersehbarem Kunsterleben und politischen und ökonomischen Strategien bewusst unterstützen, der deutlich macht, dass Kulturpolitik heutzutage wichtiger denn je ist: Der Unmut der jungen Künstler*innen in Soweto bekam auf dem Festival nicht nur eine Stimme, sondern auch den nötigen Raum, und die Diskussion um Zensur, Freiheit und Gerechtigkeit konnte in Zimbabwe wohl nur auf einem Kunstfestival vonstattengehen. Eben, weil Kulturpolitik zwischen politischen, kulturellen, ökonomischen und künstlerischen Ebenen und Interessenlagen agiert, entsteht dieser besondere, losgelöste und zugleich politisch relevante Raum, der eben auch eine wichtige Rolle für die Förderung und Verhandlung kultureller Vielfalt spielt.

Internationale Kulturpolitik und die Förderung von kultureller Vielfalt Die Beispiele aus Südafrika und Zimbabwe zeigen die sehr komplexen und in viele Richtungen wirkungsmächtigen Handlungsfelder von inter-

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Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis

nationaler Kulturpolitik auf. Die politische Agenda, die hinter den jeweiligen Aktionen und Programmen steht, gibt wichtige Rahmenbedingungen vor, der sich die jeweiligen Akteure bewusst sein sollten. Es wurde deutlich, wie nachhaltig die auf Tagungen, Konferenzen und während der Durchführung von Kulturprojekten und Workshops entstehenden Räume in den jeweiligen Ländern wirken, aber auch, wie schnell sie von politischen Interessen und Schnellschüssen beeinflusst beziehungsweise instrumentalisiert werden können. Die Frage stellt sich, ob Kulturpolitik sich weiterhin von politischen Schlagworten westlicher Provenienz wie etwa „Demokratisierung“ leiten lassen oder nicht als Motto die Förderung von kultureller und gesellschaftlicher Vielfalt auf ihre Fahnen schreiben sollte, denn auf diese Weise können die einzelnen Aktionen auf der einen Seite offener und auf der anderen Seite passgenauer auf das jeweilige Land zugeschnitten werden. Mit einer derartig gestrickten Offenheit agiert zum Beispiel der DAAD. Dieser arbeitet an einem zukunftsfähigen Modell für „Regionalstrategien“ und startete 2014 die Afrikastrategie, welche versucht, regionale und globale Akteure und deren Potenziale und Zielsetzungen miteinander zu verknüpfen, so Helmut Blombach: DAAD-Programme und die in ihrem Rahmen geforderte EZ-Aktivität der Hochschulen funktionieren anders als die bilaterale deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Diese basiert auf den zwischenstaatlichen Vereinbarungen mit derzeit 50 Partnerländern über eines oder mehrere Schwerpunktthemen, Ziele und Instrumente der Kooperation. Umgesetzt werden die meisten Vorhaben von der GIZ und der KfW-Bankengruppe auf der Basis einer Auftragsvergabe durch das BMZ. Die Stipendien und Projektförderungsprogramme, die der DAAD mit Mitteln des BMZ durchführt, sind dagegen thematisch und regional von größerer Offenheit und Flexibilität und nicht Gegenstand zwischenstaatlicher Verhandlungsprozesse. Das kommt dem Selbstverständnis der Hochschulen entgegen, die sich als „autonome“ Kooperationspartner sehen, die selbst über die Themen und Modalitäten ihrer Kooperationen entscheiden möchten. Diese (relative) Unabhängigkeit der Partner von staatlichen Vorgaben kann, wenn Hochschulen ihre zivilgesellschaftliche Rolle ernst nehmen, eine besondere Stärke und wichtige Ergänzung der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sein.356 Die thematische Entwicklung der Programme und Kooperationen obliegt den einzelnen Hochschulen und ihren Partnern, und auf diese Weise wird eine Vielfalt an Themen und Interessen garantiert.

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Internationale Kulturpolitik und die Förderung von kultureller Vielfalt

Ein besonderes Pfund, welches die Kulturpolitik noch stärker nutzen könnte, stellt das Netzwerk zwischen Künstlern, NGO-Aktivisten, Stiftungsmitarbeitern, Kulturmanagern und anderen Akteuren dar. Wie es die Beispiele in Südafrika und Zimbabwe zeigen, sind es insbesondere deren Kontakte und Kooperationen, welche die vielfältigen Programme entwickeln und zustande bringen. Auf Festivals und Tagungen werden stets neue Verbünde und Kontakte geschlossen, und es entstehen neue Ideen. Nur fehlt es häufig an Spontanität der Förderer einerseits und an Langfristigkeit andererseits, hier nachhaltig dieses „Know-how“ nutzen zu können. Die Goethe-Institute, die Regionalbüros der GiZ und des DAAD und die Kulturabteilungen der Botschaften fungieren bereits als zentrale Schnittstellen. Doch werden auch sie von Kürzungen und kurzfristigen Mittelbewilligungen bedroht, anstatt sie weiter auszubauen. An all diesen Orten werden Projekte entwickelt und durchgeführt, die meist regional verankert sind, aber nicht unbedingt voneinander wissen. Wieso sollte Kulturpolitik überhaupt eine Aufgabe der öffentlichen Hand sein und die Mittel auch noch hochgeschraubt werden? Die letzten zweihundert Seiten haben verdeutlicht, auf welch vielfältige Art und Weise mithilfe von Theater- und Kulturarbeit Sphären geschaffen werden, in welchen diverse kulturelle Traditionen und Techniken miteinander agieren können, aber auch den gesellschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen begegnet werden kann. Die ästhetische Freiheit, das konnte mithilfe Menkes und Mbembes Überlegungen gezeigt werden, steht nicht nur als Gleichheit vor den Unterschieden. Vielmehr kann in der Kunst die Verschiedenheit der Menschen untereinander gelebt werden und als Gleichheit verstanden werden. Ein Teil der vorgestellten Theaterproduktionen wie In unserem Namen am Gorki, Mistral von Susanne Linke und Koffi Kôkô und Every Year, Every Day, I am Walking am Magnet Theatre arbeiten an der Schnittstelle von internationalen Kulturbegegnungen und zeigen, wie im ästhetischen Verhandeln kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt präsentiert und die damit einhergehenden Herausforderungen diskutiert werden können, ohne sie einem bestimmten kulturellen Kode zu unterwerfen noch sie in kolonialer Tradition dichotom einander gegenüberzustellen. Ein solch ästhetisches Erleben eröffnet Mbembes Weltgesellschaft, die für das Offene sorgt und sich dem Prinzip der Entähnlichung verpflichtet fühlt, einen Erfahrungsraum. Das bedeutet nicht, dass jeder so lebt, wie er will, und auf die Toleranz der anderen bauen kann. Vielmehr geht es darum, zunächst die Verschiedenheit von uns allen als grundlegend für eine globale Gesellschaft zu verstehen und dieses als Gemeinsamkeit zu erfahren.

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Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis

Aus diesem Grunde erscheint es nicht nur notwendig, die Theaterstrukturen in Deutschland zu öffnen und möglichst viele Gruppen an den unterschiedlichsten Orten an diesen ästhetischen Prozessen der menschlichen Freiheit und Zusammenkunft teilhaben zu lassen. Auch für die internationale Politik kann die Etablierung solcher Räume und Sphären weltweit entscheidend sein. Sicherlich, Krisen werden nicht primär durch ästhetische und theatrale Praktiken gelöst. Letztere können jedoch der ein oder anderen Spannung frühzeitig begegnen und so manchen Konflikt verhindern. In einer Weltgemeinschaft, die auf der einen Seite immer stärker durch Globalisierung und Digitalisierung vernetzt wird, auf der anderen Seite die Konflikte aufgrund der zunehmenden Vielfalt in den Regionen zunehmen, konservative und reaktionäre Kräfte weltweit Aufschwung erfahren, scheint die real-leibhaftige Erfahrung von Entähnlichung vielversprechend. Eine nachhaltige Kulturpolitik sollte dafür Sorge tragen, dass viele dieser Räume und Sphären durch Kultur- und Theaterprojekte an vielen Orten der Welt entstehen. Folgende weiterführenden kulturpolitischen Maßnahmen schlage ich vor: Regionale Workshops mit den Stakeholdern vor Ort: Es erscheint als grundlegende Maßnahme sinnvoll, regelmäßig regionale Workshops einzuberufen, in welchen die Akteur*innen in der Region zusammenkommen und Strategien und Pläne für Kultur- und Theaterprojekte entwerfen, die sich nicht einem politischen Aspekt unterordnen, sondern versuchen, eine möglichst große Vielfalt an kulturellen und gesellschaftlichen Aspekten und Themen zu eruieren und hier Räume auf den verschiedensten Ebenen der regionalen Gesellschaft zu gestalten. So können umfassende Programme für die jeweiligen Regionen langfristig mit den diversen Mittelgebern eingeworben und Förderbedarf weitergegeben werden. Entwicklung und Koordination von langfristigen Programmen durch ein international besetztes Gremium zur Förderung kultureller Vielfalt: Ähnlich des Vorschlags auf nationaler Ebene sollten auf internationaler Ebene Beiräte für die Förderung kultureller Vielfalt aus Vertreter*innen der (Kultur)Politik gesellschaftlicher, kultureller und sozialer Institutionen und Organisationen, der Wissenschaft und der Wirtschaft ins Leben gerufen werden, welche die internationalen Fördervorhaben für bestimmte Regionen entwickeln und koordinieren. Sie stehen im engen Austausch mit den regionalen Akteuren und greifen die Impulse der regionalen Workshops auf. Das Gremium sorgt für ein breites und langfristiges Spektrum an Fördermöglichkeiten und die Abstimmung und

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Internationale Kulturpolitik und die Förderung von kultureller Vielfalt

Koordination der Partner untereinander. Grundsätzlich versteht sich das Gremium nur insofern als politischer Akteur, als dass es kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt fördert und sichtbar macht. Verabschiedung einer kulturpolitischen Agenda zur Förderung von kultureller Vielfalt: Das Leitbild kultureller Vielfalt und die kulturpolitische Agenda sollen deutlich machen, dass internationale Kulturpolitik mit dem Schwerpunkt auf Vielseitigkeit versucht, kolonialen und imperialen Gefahren vorzubeugen. Sie hat zum Ziel, dass sich die Akteur*innen, die weltweit unterstützt werden, in einer Gleichheit in ihrer kulturellen Verschiedenheit treffen und dass das Zeigen dieser Verschiedenheit als Gleiches grundlegend ist für demokratische Aushandlungs- und Verhandlungsprozesse. Gleichheit in der Verschiedenheit bedeutet nicht, dass imperiale, rassistische, homophobe, frauenfeindliche oder patriarchale Bewegungen unterstützt werden, oder als „Anderssein“ geduldet werden. Da diese reaktionären Denkmuster andere als nicht-gleich betrachten, verschließen sie sich dem Moment der Gleichheit in der Vielfalt von vornherein und sollten nicht gefördert werden, was auf die letzte Maßnahme, die Evaluation beziehungsweise Bewertung, deutet. Bewertung und Evaluation von Kultur- und Kunstprojekten als Förderer kultureller Vielfalt: Die Bewertung eines Kultur- und Kunstprojekts, kulturelle Vielfalt zu fördern beziehungsweise als förderfähig zu gelten, hängt von dem Maße ab, in dem es die Verschiedenheit und Vielseitigkeit von Kulturen in der künstlerischen Praxis hervorbringt und reflektiert. Entscheidend hierbei ist die Reflexion darüber, dass Vielfalt nur dann möglich ist, wenn diese gezeigt, aber auch die der anderen gelebt werden kann. Das bedeutet auch, dass andere ausgrenzende oder marginalisierende kulturelle Praktiken grundsätzlich kein Potenzial in diesem Sinne bergen, gleichwohl danach gefragt und gesucht werden kann, ob diese seit jeher als Mittel zur Aus- und Abgrenzung genutzt wurden oder nicht andere Schichten und Geschichten freigelegt und im Sinne einer Vielfalt oder einer Ästhetik der Entähnlichung neuinterpretiert werden ko ̈ nnen. Neue Wege der wissenschaftlichen Auseinandersetzung finden und gehen: Bewertungen und Evaluation richten sich meist nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden. Diese Arbeit ist auf diesem Feld immer wieder an ihre Grenzen gestoßen, da es bis dato noch keine zufriedenstellenden wissenschaftlichen Methoden gibt, Kunst im Sinne kultureller Vielfalt zu beschreiben und zu analysieren. Das gegenwärtig nutzbare Instrumentarium legt nach wie vor primär ein westliches Wissenschafts-

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Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis

verständnis zugrunde. Allerdings erkannte bereits Hegel, dass dieser alte Bund von einem neuen abgelöst werde sollte. Sicherlich bedeutet dies nicht, das wissenschaftliche Instrumentarium in Gänze über Bord zu werfen, doch mit Sicht auf die Vielseitigkeit von Erkenntnis weltweit lässt es sich befragen, verändern und erweitern. Ein möglicher Weg ist, diese neuen Denkprozesse aus dem Ästhetischen heraus zu finden. Denn nicht nur Hegel, auch Reschke, Warstat, Fischer-Lichte, Okagbue und viele andere Wissenschaftler*innen haben ebenso wie die vorgestellten Theater- und Performanceprojekte von In unserem Namen über Mistral bis zu Faust gezeigt, wie im Ästhetischen asymmetrische, neue Denkformen zutage treten. Wissenschaft sollte von diesen ausgehend neue Pfade betreten.

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Epilog Verschiedenheit als Gleichheit –

Was bleibt am Ende der Überlegungen über die Verhandlungen von Vielfalt mit und im Theater? In erster Linie geht es um Sensibilisierung gegenüber vielfältigen Lebensentwürfen, Lebensgeschichten und kulturellen Traditionen: Die gegenwärtige Gesellschaft zeichnet eine ungemeine Zunahme an kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Kontexten und Hintergründen aus, weshalb zunächst der Respekt und das Wissen darüber im Vordergrund stehen sollte. Theater spielt hierbei eine entscheidende Rolle, denn es vermag diesen verschiedenen Traditionen, Geschichten, Mustern, Weisen und Erfahrungen Möglichkeiten des Darstellens, Zeigens und Präsentierens, doch ebenso des Hinterfragens, Kombinierens, Verknüpfens und Verfremdens zu geben. Die Vorschläge für kulturpolitische Maßnahmen, die in den letzten beiden Kapiteln formuliert wurden, greifen diese Beobachtungen auf: Es geht weniger darum, bestimmte Quoten für verschiedene Gruppierungen festzulegen, sondern vielmehr um ein geschärftes Bewusstsein um kulturelle, gesellschaftliche und soziale Pluralität. Für künstlerische Arbeit, die Vielfalt darstellen und verhandeln soll, ist die Recherche und die Verknüpfung mit diesen Feldern nahezu obligatorisch, dabei gibt es ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Umsetzung: Sicherlich sprechen viele Gründe dafür, auf Vertreter*innen der verschiedenen Gruppen in den unterschiedlichen Entscheidungs- und Handlungsebenen von Theater(arbeit) rückgreifen zu können. Doch haben die jüngsten Diskussionen gezeigt, dass niemand sich auf seine kulturelle, soziale oder gesellschaftliche „Besonderheit“ reduzieren lassen sollte und eine derartige Vielfalt feste Regelungen a priori ausschließt. Allerdings sollte die klassisch-konventionelle Vorstellung darüber, wer wen wie und was im Theater repräsentiert, weiter flexibilisiert und geöffnet werden. Es kann nicht sein, dass Menschen, die nicht einer angeblichen Mehrheitsnorm entsprechen, keinen Platz im Theater haben, hier müssen sich Theater und Theaterschaffen wandeln, um auch in Zukunft einen Platz in der Gesellschaft zu haben. An dieser Stelle rückt eine weitere entscheidende Erkenntnis der ersten drei Kapitel ans Licht. Ästhetik bietet einem Umgang mit Vielfalt ideale Rahmenbedingungen, wenn ihr asymmetrisches und grenzüber-

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Epilog – Verschiedenheit als Gleichheit

schreitendes Potenzial in den Vordergrund gestellt wird: Im Ästhetischen können nicht nur verschiedene Welten und Traditionen miteinander verbunden, gezeigt oder dekonstruiert werden, sondern die Zuschauerin oder der Teilnehmende vermag im Ästhetischen, ihre oder seine eigene Vielseitigkeit und Unwissenheit zu erleben und zu erspüren, sich zu öffnen für neue Erfahrungswelten oder sie mit eigenen zu verknüpfen. Im Ästhetischen kann der Einzelne eine sinnliche Ahnung von etwas erfahren, was eine Gemeinschaft der Vielfalt bedeuten könnte. Zunächst wird es darum gehen, die Gesellschaft nicht als homogene Gemeinschaft zu erfassen, sondern als eine Sphäre des Offenen, in welchem die gemeinsamen Lebensbedingungen verhandelt werden müssen. Die Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft, die Minderheiten schützt und Rassismus und Ausgrenzung nicht duldet, ist zunächst das Wissen und die Erfahrung, dass ein jeder sich in vielen Punkten von anderen unterscheidet und diese Verschiedenheit des Selbst zu anderen schützen möchte. Dies ist ein Erfahrungsmoment der Entähnlichung, welcher Forderungen nach Assimilation entgegentritt und das Verschiedensein und das Sich-nicht-ähnlich-Machen als Garant für ein friedliches Zusammenleben bestärkt. Sobald jeder diese Erfahrung der Entähnlichung gegenüber sich und den anderen macht, sind wir gleich in der Verschiedenheit. Diese Gleichheit ist die Grundlage für die Umsetzung eines demokratischen, humanitären und einander respektierenden Miteinanderlebens und eine erste Knüpfung des neuen Bundes, den Hegel schon am Ende seiner Vorlesungen über die Ästhetik andeutet, wenn auch nicht in dessen Ausmaß und Gänze erkannt hat.

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Danksagung –

Die Arbeit ist zu großen Teilen während meiner Zeit im ERC-Projekt „The Aesthetics of Applied Theatre“ unter der Leitung von Matthias Warstat am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin entstanden, das mir zudem die vielen Reisen ins südliche Afrika ermöglichte. Meinen damaligen Kollegen Matthias Warstat, Florian Evers, Kristin Flade, Jule Gorke, Joy Kristin Kalu, Fabian Lempa, Janina Möbius, Natascha Siouzouli, Lilian Seuberling und Lisanne Wiegand möchte ich für die wunderbare, gemeinsame Zeit, ihre kritischen Anmerkungen und Dialoge danken. Wolfgang Schneider danke ich für seine kulturpolitischen Visionen, Gedanken und Inspirationen, denen es an innovativer und kritischer Schärfe nie fehlte und die mich stets dazu ermuntert haben, meine kulturpolitischen Überlegungen zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Ebenso danke ich den Müttern und Vätern meiner akademischen Entwicklung, deren Einfluss mitunter in dieser Arbeit sichtbar wird: Christina von Braun, Joachim Fiebach, Christa Hasche, Eleonore Kalisch, Renate Reschke und Flora Veit-Wild. Gerke Schlickmann danke ich sehr für ihre kritischen Gedanken und ihr hilfreiches Lektorat und Erik Zielke stellvertretend für Theater der Zeit für die gute Zusammenarbeit. Auch meiner Familie großen Dank für all ihre Unterstützung. Meinem Partner Grischa – Worte reichen manchmal nicht aus – und meiner Mutter Friedegard. Stellvertretend für meine Freundinnen und Freunde danke ich Nataly Savina, der wunderbaren Autorin, die mich im Schreiben ermuntert und mit ihrer Sprache immer wieder inspiriert. Gewidmet ist das Buch meinem Vater Andreas, der seit jeher meine wissenschaftlichen Überlegungen mit großer Freude mit mir diskutiert und mir stets neue Denkanstöße gab, jedoch die letzten Züge der Arbeit nicht mehr miterleben konnte.

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Anhang


Theaterproduktionen, Performances und Festivals -

A Dance of the Forests (Text und Regie: Wole Soyinka), Premiere anlässlich der Feierlichkeiten der Unabhängigkeit Nigerias in Lagos (1960). Animal Farm (Text: George Orwell, Regie: Neil Coppen), Premiere: Market Theatre Johannesburg (2015). Black Jesus/We Cannot Escape Our Love (Regie: Andreas Lustgarten), Premiere: „Harare International Festival of the Arts“ (2010). Burn Mukwerekwere Burn (Text: Blessing Hungwe, Regie: Giles Ramsay), Premiere: „Harare International Festival of the Arts“ (2011). Die heilige Johanna der Schlachthöfe (Text: Bertolt Brecht, Regie: Sebastian Baumgarten), Premiere am Schauspielhaus Zürich (2012); eingeladen zum Theatertreffen Berlin (2013). Die Vreemdeling (Regie: Mark Fleishman), Premiere: Magnet Theatre Cape Town (2011). Die Schutzbefohlenen (Text: Elfriede Jelinek, Regie: Nicolas Stemann), Premiere: Thalia Theater Hamburg (2014). Die Schutzlosen (Text: Paul Zoungrana, Bernhard Stengele, Regie: Bernhard Stengele), Premiere: Thüringische Bühnen Altenburg und Gera (2014); Théâtre de Ouagadougou (2015). Every Year, Every Day, I am Walking (Regie: Mark Fleishman), Premiere: Magnet Theatre Cape Town (2008). Exhibit B (Regie: Brett Bailey), Deutsche Premiere: Festival „Foreign Affairs“, Haus der Berliner Festspiele (2012). Faust (Künstlerische Leitung: Anne Imhof), Premiere: Biennale Venedig (2017). If we ruled the World – 15 Jahre Hajusom. Festival „Hajusom“, Kampnagel Hamburg (2014). In unserem Namen (Text: Sebastian Nübling, Ludwig Haugk, Julia Pustet, unter Verwendung von Aischylos Die Schutzflehenden und Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen, Regie: Sebastian Nübling), Premiere: Maxim Gorki Theater Berlin (2015). Isivuno Sama Phupha (Regie: Mandla Mbothwe), Premiere: Magnet Theatre Cape Town (2008/2011). King Oedipus (Text: Sophokles, Regie Giles Ramsay), Premiere: „Harare International Festival of the Arts“ (2009). Letters Home (Refugee Club Berlin), Premiere: Haus der Kulturen der Welt Berlin (2014).

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Mistral (Choreografie: Susanne Linke, Koffi Kôkô), Premiere: Akademie der Künste Berlin (2014). My Right is My Weapon (Text und Regie: Lovejoy Mwawoneka), Premiere: Assitej Minifest, „Harare International Festival of the Arts“ (2015). Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper (Text: Alexander Karschnia & Co., Künstlerische Leitung: andcompany&Co., Nicola Nord, Alexander Karschnia, Sascha Sulimma & Co.), Premiere: Hebbel am Ufer Berlin (2014). Power of the Pussy (von und mit Fräulein Wunder AG: Anne Bonfert, Melanie Hinz, Verena Lobert, Vanessa Lutz, Malte Pfeiffer, Carmen Waack), Premiere: LOFFT Leipzig (2009). Rituals (Text: Stephen Chifunyise, Regie: Daves Guzha), Premiere: Theatre in the Park Harare (2011). Schubladen (von und mit She She Pop: Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Barbara Gronau, Annett Gröschner, Fanni Halmburger, Alexandra Lachmann, Katharina Lorenz, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Peggy Mädler, Ilia Papatheodorou, Wenke Seeman, Berit Stumpf, Nina Tecklenburg), Premiere: Hebbel am Ufer Berlin (2012). The Harare Files (Text: Tonderai Munyebvu, Sara Norman, Regie: Sara Norman), Premiere: Mannenberg Jazz Club and Theatre Harare (2011). The Situation (Regie: Yael Ronen), Premiere: Maxim Gorki Theater Berlin (2016). Unschuld (Text: Dea Loher, Regie: Michael Thalheimer), Premiere: Deutsches Theater Berlin (2011). Verrücktes Blut (Text: Nurkan Erpulat, Jens Hillje und Jean-Paul Lilienfeld, Regie: Nurkan Erpulat) Premiere: Maxim Gorki Theater Berlin (2013), Ballhaus Naunynstraße Berlin (2010). Workshop Negative (Text und Regie: Cont Mhlanaga), Premiere: Stanely Hall Bulawayo (1986).

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Bibliographie -

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239


Anhang

1

Prolog ist erschienen in: Theater heute 2 (2015), S. 27 – 31.

2

Um eine geschlechtergerechte Sprache zu nutzen, jedoch ebenso eine gute Lesbarkeit zu garantieren, wechselt die Arbeit zwischen männlichen und weiblichen Formen, was zu Irritationen führen kann und somit bewusst auf geschlechterfaire Sprache aufmerksam macht.

3

Deutsche Premiere am 29. September 2012 während des Festivals „Foreign Affairs“ im Haus der Berliner Festspiele.

4

Premiere am 29. September 2011 am Deutschen Theater Berlin.

5

So hat sich die Regie nach zunehmender Kritik entschlossen, die Darsteller nicht mehr „schwarz“ zu schminken, sondern als Zeichen des Auseinandergehens und Lernens die Hauptdarsteller „weiß“ geschminkt.

6

Premiere am 29. September 2012 am Schauspielhaus Zürich; eingeladen zum Theatertreffen Berlin 2013 (Text: Bertolt Brecht).

7

Kalu, Joy Kristin: „Dein Blackface ist so langweilig! Was das deutsche Repräsentationstheater von den Nachbarkünsten lernen kann“, in: Nachtkritik, online veröffentlicht am 26. November 2014, https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view= article&id=10271:in-sachen-blackfacing-zwischenruf-zu-einer-andauernden-debatte& catid=101:debatte&Itemid=84, Zugriff: 13. August 2018.

8

Vgl. Brett Bailey im Interview mit Douglas Herbert auf France24 am 8. Dezember 2014, http://www.france24.com/en/20141208-interview-brett-bailey-theatre-maker-exhibit-bparis-centre-104-protests-racism/, Zugriff: 25. November 2016.

9

Auch ich äußere mich an anderer Stelle kritisch zu Baileys Arbeit: „Anders als die komödiantischen Verweise in Okavango Macbeth lässt Bailey koloniales Gebaren und dessen Rassismen in ihrem historischen Gewand erscheinen. Seine Produktion Exhibit B wurde auf dem Festival „Foreign Affairs“ der Berliner Festspiele präsentiert und erhitzt diskutiert (siehe Theater heute 12/12). Bedenken angesichts eines ‚Re-Staging‘ kolonialer Abartigkeit wie der Zurschaustellung von Vertretern indigener Bevölkerungsgruppen lassen sich nicht von der Hand weisen. Baileys Praxis scheint in der Tradition einiger weißer Theaterschaffender am Kap zu stehen, wenig von Mitteln der Verfremdung oder Abstraktion zu halten, was schon bei Master Harold auffiel.“ (Heinicke, Julius: „Brennende Migranten, stupide Europäer und korrupte Politiker: Kapstadts Theater verhandeln Südafrikas Konflikte“, in: Theater heute 3 (2014), S. 46.

10

Vgl. Bailey im Interview mit Herbert.

11

Vgl. Heinicke: „Brennende Migranten“, S. 45.

12

Heinicke, Julius: „Theatre in Transformation: Was Deutschland von Südafrika lernen kann“, in: Theater heute 5 (2016), S. 75.

13

Ausnahmen machen in erster Linie Arbeiten aus dem theaterpädagogischen Bereich, wie etwa Mira Sack (vgl. Dies.: Spielend denken. Theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens, Bielefeld 2011). Auch der erste Band des ERC-Projekts „The Aesthetics of Applied Theatre“ versucht, die Grenzen durchlässiger zu machen, und öffnet bewusst den theaterwissenschaftlichen Fokus für sozial-, gesellschaftswissenschaftliche und pädagogische Aspekte: Warstat, Matthias/Heinicke, Julius/Kaul, Joy Kristin/ Möbius, Janina/Siouzouli, Natascha (Hg.): Theater als Intervention: Politiken ästhetischer Praxis, Berlin 2015.

14

Edjabe, Ntone im Interview mit Tim Neshitov, in: Süddeutsche Zeitung, veröffentlicht am 30. März 2015, http://www.sueddeutsche.de/kultur/afrika-serie-teil-panafrikanismusewige-flitterwochen-mit-der-zukunft-1.2416638?reduced=true, Zugriff: 6. Dezember 2016.

15

Hier unterscheidet sich Südafrika auch von anderen afrikanischen Staaten wie Uganda und Zimbabwe, in denen Homosexualität bestraft wird und von den Staatsoberhäuptern, beispielsweise Robert Mugabe, als Krankheit des Westens bezeichnet wurde. (Vgl. Heinicke, Julius: „How to Cook a Country: Theater in Zimbabwe im politisch-ästhetischen Spannungsfeld“, Trier 2013 (LuKA Literaturen und Kunst Afrikas, Bd. 6, S. 76 – 81). Auch Franziska Dübgen und Stefan Skupien argumentieren: „So wird die Homosexuali-

240


Endnoten

tät einerseits als Modeerscheinung und Zeichen der Dekadenz des Westens gedeutet, andererseits gilt die Homophobie ebenfalls als ein Import des Kolonialismus und der vorrangig von den USA vorangetriebenen homosexualitätsfeindlichen Missionierung. Dass jegliche Praktiken, die von der heterosexuellen Matrix abweichen, weiterhin vielerorts als ‚unafrikanisch‘ stigmatisiert werden, verdeutlicht die medienwirksame Initiative in Uganda, Homosexualität unter schwere Strafen zu stellen.“ Dübgen, Franziska/Skupien, Stefan: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Afrikanische politische Philosophie: Postkoloniale Positionen, Berlin 2015, S. 42. 16

Neben Themen aus dem Bereich der Gender und Queer Studies kommen vermehrt Diskurse aus den Critical Whiteness Studies hinzu. Da diese Theorien insbesondere die westliche heteronormative Herrschaftsstruktur kritisieren, haben sie meines Erachtens allesamt Anknüpfungspunkte an die Postcolonial Studies. Wie sich im Verlauf des Buchs zeigen wird, äußert sich diese Struktur im Begriff „colonial“ oder in der kolonialen Norm besonders deutlich, sodass Kritik an den europäisch-westlichen Geschlechterordnungen, aber auch die kritische Weißseinsforschung stets Überlegungen zum Postkolonialen in sich tragen.

17

Topçu, Özlem: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“, in: HAU (Hg.): Männlich, Weiß, Hetero: Ein Festival über Privilegien, Programmheft, Berlin 2015, S. 25.

18

Braun, Christina von: „Der Frauenkörper als Norm und Anomalie des Gemeinschaftskörpers“, in: Dies./Dietze, Gabriele (Hg.): Multiple Persönlichkeit: Krankheit, Medium oder Metapher?, Frankfurt am Main 1999, S. 62.

19

Müller-Schöll, Nikolaus: „Das Drama der Identität“, in: Theater heute 10 (2017), S. 47.

20

Allerdings sollte nicht der Eindruck entstehen, dass die Abwendung von der Dichotomie auch eine Abwendung von den Degradierungserfahrungen impliziert, die Didier Eribon mit dem Adjektiv „inferiorisiert“ kategorisiert: „Schwul zu sein (und das Gleiche gilt für andere inferiorisierte „Kategorien“: Lesben, Transgender, Schwarze, Juden …) bedeutet, jederzeit verwundbar, jederzeit Beleidigungen oder Aggressionen ausgesetzt zu sein.“ (Eribon, Didier: Gesellschaft als Urteil, aus dem Franz. von Tobias Haberkorn, Berlin 2017, S. 48) Vielmehr deutet das auf die Wirkungsmacht der Dichotomisierung hin, die so leibhaftig spürbar bzw. in die Körper eingeschrieben wird.

21

Nzegwu, Nkiru: „Feminismus und Afrika: Auswirkung und Grenzen einer Metaphysik der Geschlechterverhältnisse“, in: Dübgen, Franziska/Skupien, Stefan (Hg.): Afrikanische politische Philosophie: Postkoloniale Positionen, Berlin 2015, S. 201.

22

Ebd., S. 216.

23

Es gibt einleuchtende Gründe, das N.-Wort in seiner gekürzten Form zu benutzen. Andererseits betonen Frantz Fanon und Achille Mbembe im häufigen Gebrauch dieses Begriffs ohne Abkürzung, wie wichtig es ist, die Bezeichnung nicht zu zensieren, sondern anhand eines reflektiert-kritischen Gebrauchs und einer deutlichen Kontextualisierung das perfide Muster der Kolonialisierung stetig ins Gedächtnis zu rufen und auf diese Weise dessen rassistische Wirkungsmacht zu durchbrechen. Auf der anderen Seite scheinen die Argumente der Kritiker des Aussprechens des N.-Wortes ohne Abkürzung insofern nachvollziehbar, dass der Begriff in ausgeschriebener Verwendung seine koloniale Wirkung nicht unbedingt einbüßt. Gleichwohl sollen hier weder Fanons noch Mbembes Text zensiert werden, denn gerade diese Praxis prangern beide an.

24

Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, aus dem Franz. von Eva Moldenhauer, Wien 2015 (Original: Peau noire, masque blancs, 1952).

25

Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, aus dem Franz. von Michael Bischoff, Berlin 2014 (Original: Critique de la raison nègre, 2013).

26

Vgl. Buck-Morss, Susan: Hegel und Haiti, aus dem Englischen von Laurent Faasch-Ibrahim, Berlin 2011 (Original: Hegel, Haiti, and Universal History, 2009), S. 29 – 32. Siehe auch das Unterkapitel „Das Ich und das Andere“.

27

Žižek, Slavoj: Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Frankfurt am Main 2016 (2014), S. 274.

241


Anhang

28

Ebd., S. 276 – 277.

29

Ebd., S. 277 – 278.

30

Ebd., S. 277.

31

Ebd., S. 283.

32

So argumentiert Hegel in Band 1 der Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte: Die Vernunft der Geschichte: „In diesem Hauptteile Afrikas kann eigentlich keine Geschichte stattfinden. Es sind Zufälligkeiten, Überraschungen, die da aufeinanderfolgen. Es ist kein Zweck, kein Staat da, den man verfolgen könnte, keine Subjektivität, sondern nur eine Reihe von Subjekten, die sich zerstören.“ (Herausgegeben von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955 [1822/23], S. 216) Aufgrund dieses angeblichen Mangels an Staatlichkeit und Subjektivität in weiten Teilen Afrikas folgert Hegel, dass Sklaverei in diesen Gebieten „heimisch“ sei: „In allen afrikanischen Reichen, mit denen die Europäer in Bekanntschaft gekommen sind, ist die Sklaverei heimisch. […] Die Lehre, die wir aus diesem Zustande der Sklaverei bei den N. ziehen, und welche die allein für uns interessante Sache ausmacht, ist die, welche wir aus der Idee kennen, dass der Naturzustand selbst der Zustand absoluten und durchgängigen Unrechts ist.“ (Ebd., S. 225 – 226).

33

Anders als die „Phänomenologie des Geistes“ existieren die „Vorlesungen über die Ästhetik“ nur als Mitschrift des Hegelschülers Heinrich Gustav Hotho, der diese gleichfalls überarbeitet hat. So sind die Vorlesungen stets unter gewissen Vorbehalten bzw. mit einigen Korrekturen verwendbar. Vgl. Kapitel 2 und Gethmann-Siefert, Annemarie: Einführung in Hegels Ästhetik, München u. a. 2005 sowie Dies./Fehér, István M. (Hg.): Hegels Ästhetik als Theorie der Moderne, Berlin 2013.

34

Hauptfleisch, Temple: „Foreword“, in: Kene Igweonu (Hg.): Trends in Twenty-First Century African Theatre and Performance, Amsterdam 2011, S. 13 – 14; Hervorhebungen im Original.

35

Igweonu, Kene: „Striding Out: Emergent Trends in Twenty-First Century African Theatre and Performance“, in: Ders. (Hg.): Trends in Twenty-First Century African Theatre and Performance, Amsterdam 2011, S. 31.

36

Diese Szene beschreibe ich ebenfalls in meiner Dissertationsschrift, vgl. Heinicke: How to Cook a Country, S. 7.

37

~ ~ So argumentiert Ngu gı wa Thiong’o, dass aufgrund der symbolischen und linguistischen Wirkungsmacht Dekolonisierung nur möglich ist, wenn nicht-koloniale, afrikanische Sprachen mit präkolonialem Ursprung in Literatur und Theater verwendet werden. ~ ~ gı wa Thiong’o: Decolonising the Mind: The Politics of Language in African Litera(Ngu ture, London, Portsmouth 1986)

38

Kerr, David: African Popular Theatre, London 1995, S. 1.

39

Bei Ojaide wird dies bereits im Titel sichtbar: Ojaide, Tanure: Theorizing African Oral Poetic Performance and Aesthetics, Trenton u. a. 2009.

40

Ogunjimi, Bayo/Na’Allah, Abdul-Rasheed: Introduction to African Oral Literature and Performance, Trenton, Asmara 2005, S. 242.

41

Okagbue, Osita: African Theatre and Performances, London 2007, S. 20.

42

Ebd., S. 193.

43

Mbembe: Kritik, S. 317, Hervorhebungen im Original.

44

Ebd., S. 316, Hervorhebung im Original.

45

Die Thalia-Inszenierung der Schutzbefohlenen wurde in der Keynote von Azadeh Sharifi während des „Camps“ am 14. Mai auf dem Berliner Theatertreffen 2015 „Wer sind wir in der weißen Welt? – Theater und Postkolonialismus“ scharf aufgrund deren rassistischen Habitus kritisiert.

46

Kalisch, Eleonore: Von der Ökonomie der Leidenschaften zur Leidenschaft der Ökonomie: Adam Smith und die Actor-Spectator-Kultur im 18. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 132.

242


Endnoten

47

Am Beispiel eines Bergsteigers, der aus sicherer Distanz die Gewalt der Natur – wie Gewitter, mitreißende Flüsse, Wasserfälle und Vulkanausbrüche – beobachten kann, beschreibt Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) das „Erhabene“: „Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.“ (Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (Werke Bd. 10, Hg. v. Wilhelm Weischedel), Frankfurt am Main 1977, S. 184 – 185).

48

Braun, Christina von: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich 2001, S. 27.

49

Balme sieht die Ursache dieses deutschen Sonderfalls an der Macht des Intendanten im Hoftheater des 19. Jahrhunderts und dessen charismatischer Wichtigkeit zur Zeit der Nationalsozialisten. Die Verknüpfung beider Einstellungsvoraussetzungen (künstlerische und institutionelle Leitung) ist, so argumentiert er, nicht mehr zeitgemäß: „In der Figur des Regie führenden Intendanten hat sich ein besonderes und wohl anachronistisches Verhältnis zwischen Ästhetik und Institution herausgebildet. Die Machtfülle des Amtes hat wohl in der NS-Zeit ungeahnte Ausmaße erreicht, endete aber nicht mit der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten.“ (Balme, Christopher B.: „Unter Übermenschen“, in: Süddeutsche Zeitung, online veröffentlicht am 31. August 2016: http://www.sueddeutsche.de/kultur/charismatische-herrschaft-in-der-kunst-unter-uebermenschen-1.3143348, Zugriff: 28. August 2018).

50

Vgl. Kapitel 4.

51

Nzegwu: „Feminismus und Afrika“, S. 216.

52

Warstat, Matthias: Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters, München 2011, S. 141.

53

Fischer-Lichte, Erika: „Stichwort ästhetische Erfahrung“, in: Dies./Kolesch, Doris/ Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2014 (2., aktualisierte und erweiterte Auflage), S. 103.

54

Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 307.

55

Ebd., S. 309.

56

Kolesch, Doris: Stichwort „Ästhetik“, in: Fischer-Lichte, Erika/Dies./Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 6.

57

Vgl. Kapitel 2.

58

Reschke, Renate: „Die Asymmetrie des Ästhetischen“, öffentliche Vorlesung am 25.5.1995, Berlin: Humboldt-Universität (Öffentliche Vorlesungen, Heft 95) 1995, S. 25.

59

„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main 1972, S. 14).

60

Reschke: Asymmetrie, S. 25.

61

Vgl. Reschke: Asymmetrie, S. 3.

62

Foucault, Michel: „Der Ariadnefaden ist gerissen“, in: Barck, Karlheinz/Gente, Peter/Paris, Heidi/Richter, Stefan (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990, S. 406.

63

Reschke: Asymmetrie, S. 9.

64

Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz/Gente, Peter/Paris, Heidi/Richter, Stefan (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990, S. 34.

243


Anhang

65

Reschke: Asymmetrie, S. 9 – 10.

66

Ebd., S. 25.

67

Okagbue: African Theatre, S. 10.

68

Vgl. Heinicke: How to Cook a Country, S. 150 – 169.

69

Warstat: Krise und Heilung, S. 213.

70

Ebd.

71

Ebd., S. 213 – 214, Hervorhebung im Original.

72

Mbembe: Kritik, S. 331 – 332. Das Unterkapitel „Verhandlungen von kultureller Vielfalt“ in Kapitel 3 geht auf Mbembes Entähnlichung noch ausführlich ein.

73

Ebd.

74

Vgl. Warstat et al.: Intervention.

75

Vgl. Fischer-Lichte: Das eigene und das Fremde Theater, Tübingen u. a. 1999 sowie Balme (Hg.): Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart, Tübingen u. a. 2001.

76

Vgl. Warstat et al: Intervention, S. 158 – 177 sowie Hentschel, Ulrike: „Ästhetische Bildung im Spiegel empirischer Forschung: Brauchen wir eine Kultur-PISA?“, in: Siemens Arts Program (Hg.): Theater in und neue Dramatik in der Schule, München 2007, S. 5 – 13.

77

Fiebach, Joachim: Inszenierte Wirklichkeit. Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen, Berlin 2007, S. 6.

78

Mandel, Birgit: Interkulturelles Audience Development. Zukunftsstrategien für öffentliche Kultureinrichtungen, Bielefeld 2013; Dies. (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung, Bielefeld 2016.

79

Tagesspiegel: „Shermin Langhoff und Jens Hillje gewinnen den Theaterpreis“, veröffentlicht am 23. Februar 2016 auf http://www.tagesspiegel.de/kultur/berliner-theaterpreis2016-shermin-langhoff-und-jens-hillje-gewinnen-den-theaterpreis/13004658.html, Zugriff: 8. November 2016.

80

~ ~ Ngu gı wa Thiong’o: Decolonising.

81

Ukala, Sam: „Politics of Aesthetics“, in: Banham, Martin/Gibbs, James/Osofisan, Femi (Hg.): African Theatre: Playwrights and Politics, Oxford 2001, S. 29 – 41.

82

Maxim Gorki Theater Berlin: „Ankündigung Verrücktes Blut“, veröffentlicht auf http://www.gorki.de/de/verruecktes-blut#, Zugriff: 16. November 2016.

83

Ebd.

84

Ebd.

85

Sharifi, Azadeh: „Postmigrantisches Theater“ in: Schneider, Wolfgang (Hg.): Theater und Migration, Bielefeld 2011, S. 41 – 42.

86

Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke (Band V), Stuttgart 1989, S. 640.

87

Hentschel: „Theaterspielen“, S. 65.

88

Fiebach: Inszenierte Wirklichkeit, S. 190.

89

Nix, Christoph: „Theaterpädagogik oder müssen wir nicht erst einmal die herrschende Pädagogik infrage stellen“, in: Ders./Sachser, Dietmar/Streisand, Marianne (Hg.): Theaterpädagogik (Lektionen 5), Berlin 2012, S. 48.

90

Ebd., S. 50.

91

Vgl. Heinicke: „Verstrickungen zwischen Alltag und Kunst“.

244


Endnoten

92

Fiebach: Inszenierte Wirklichkeit, S. 196.

93

Kerr: African Theatre, S. 21.

94

Auf diese koloniale Taktik und den Vergleich zur Commedia dell’arte gehe ich ausführlicher in folgender Arbeit ein: Heinicke, Julius: „Koloniale Fallstricke erkennen und meiden: Perspektiven für die interkulturelle Theaterarbeit von der Finanzierung über die Ästhetik bis zur Evaluation“, in: Warstat, Matthias/Evers, Florian/Flade, Kristin/Lempa, Fabian/Seuberling, Lilian (Hg.): Applied Theatre: Rahmen und Positionen, Berlin 2017, S. 113 – 120.

95

Gottsched, Johann Christoph: Erste Gründe Der Gesamten Weltweisheit, Darin alle Philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden, Zum Gebrauch Academischer Lectionen, Leipzig 1733. „Der alte und der neue Geschmack“ ist ein nicht als Text überliefertes allegorisches Vorspiel von Friedrike Caroline Neuber, das 1738 in Leipzig aufgeführt wurde und den Hanswurst von der Bühne verbannte.

96

Lessing: Beyträge zur Historie, S. 1 – 2.

97

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (Werke Band 3), Frankfurt am Main 2017 (1986), S. 151.

98

Ebd., S. 134 – 135.

99

Bitsch, Annette: „Auf Leben und Tod. Das Gesetz bei Hegel und Lacan“, in: Berz, Peter/Dies./Siegert, Bernhard (Hg.): FAKtisch. Festschrift für Friedrich Kittler, München 2003, S. 314.

100

Žižek: Weniger als nichts, S. 277.

101

Buck-Morss: Hegel und Haiti, S. 73 – 75.

102

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke Band 12), Frankfurt am Main 2010 (12. Auflage), S. 120 – 122.

103

Hegel: Vernunft der Geschichte, S. 220 – 222.

104

Buck-Morss: Hegel und Haiti, S. 103 – 104.

105

Marx, Karl/Engels, Friedrich: „Das Kommunistische Manifest“, in: Marx/Engels: Die Frühschriften (hg. v. S. Landshut), Stuttgart 1953, S. 525.

106

Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §191, S. 349.

107

Hegel: Jenaer Systementwürfe III, S. 208; S. 227.

108

Buck-Morss: Hegel und Haiti, S. 20 – 21.

109

Žižek: Weniger als nichts, S. 1343 – 1344.

110

Hegel: Phänomenologie, Bd. 3, S. 145.

111

Honneth, Axel: Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2018.

112

So argumentiert Honneth, dass in der französischen Geschichte von Rousseau über Sartre bis Lacan eine eher kritische Einstellung gegenüber dem Prozess der Anerkennung zutage tritt, während im britischen Kontext mit Hume ein anderer Weg eingeschlagen wird: „Wird der Mensch bei Rousseau dadurch, dass er nach sozialer Wertschätzung strebt, in einen unheilvollen Strudel des epistemischen Zweifels über sein eigenes Selbst gerissen, so wird er bei Hume durch dasselbe Streben heilsam dazu angetrieben, seine Absichten fortan zugunsten des allgemeinen Wohls dem Richtspruch eines unparteilichen Beobachters zu unterziehen.“ (Ebd., S. 97) Deutschland schlägt spätestens mit Hegel einen dritten Weg ein: „Wollten Rousseau, Hume oder Smith das Bedürfnis nach Anerkennung mit je eigenen Akzentsetzungen als sinnliches Verlangen verstanden wissen, [...] so versucht Hegel, hier ganz Sprössling des Deutschen Idealismus, darunter ein Interesse unserer Vernunft an sich selbst, an ihrer Verwirklichung zu verstehen.“ (Ebd., S. 178) Er sieht bei Hegel in der Tradition Fichtes eine Betonung der Ebenbürtigkeit der Wesen im Prozess der Anerkennung, allerdings gilt dies wie es Buck-Morss an anderen Schriften Hegels ja deutlich gemacht hat, nicht unbedingt für Menschen aus afrikanischen Kulturen.

245


Anhang

113

Ebd., S. 225 – 226.

114

Veit-Wild, Flora: „Gebrochene Körper, Körperwahrnehmung in der kolonialen und afrikanischen Literatur“, in: Gernig, Kerstin (Hg.): Fremde Körper: Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin: 2001, S. 342 – 343.

115

Fanon: Schwarze Haut, S. 185.

116

Hegel: Phänomenologie, Bd. 3, S. 145.

117

Bitsch: Auf Leben und Tod, S. 316.

118

Fanon: Schwarze Haut, S. 185, Hervorhebungen im Original.

119

Bitsch: Auf Leben und Tod, S. 318.

120

Vaughan, Megan: Curing their Ills. Colonial Power and African Illness, Cambridge 1991.

121

Veit-Wild: „Gebrochene Körper“, S. 338 – 339.

122

Fanon: Schwarze Haut, S. 187.

123

Ebd., S. 188.

124

Ebd., S. 197.

125

Mbembe: Kritik, S. 280.

126

Arendt, Hannah: Vita Activa oder vom Täglichen Leben, München 1981, S. 192 u. S. 246; Dies.: Was ist Politik?, München 2003, S. 41 u. S. 106.

127

Mbembe: Kritik, S. 294 – 295, Hervorhebungen im Original.

128

Ebd., S. 314 – 315.

129

Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, aus dem Engl. von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 1993, (Original Multiculturalism and „The Politics of Recognition“).

130

So betonen sowohl Susan Wolf als auch Jürgen Habermas in ihren Taylors Essays angehängten Kommentaren, dass trotz der Ähnlichkeit der „Wurzeln“ des nicht-Anerkennens dieser unterschiedlichen Gruppen, deren verschiedenen Erfahrungskontexte und Formen der Nicht-Anerkennung nicht vergessen werden sollten. Sicherlich sind diese Hinweise einer angemessenen Differenzierung richtig, doch sticht meines Erachtens in Taylors Essays die Betonung nicht nur des Universalitätsanspruchs, sondern auch das weitreichende Gebaren kolonialen Denkens im „westlichen Liberalismus“ ins Auge. Ebd., S. 79 – 109 u. S. 147 – 196.

131

Ebd., S. 332.

132

Taylor: Multikulturalismus, S. 29.

133

Gethmann-Siefert: Einführung, S. 26 – 27.

134

Ebd., S. 22.

135

Ebd., S. 23.

136

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik III (Werke Band 15, 9. Auflage), Frankfurt am Main 2014 (1986), S. 197.

137

Vgl. hierzu insbesondere den von Klaus Vierweg, Francesca Iannelli und Federico Vercellonen herausgegebenen Band: Das Ende der Kunst als Anfang freier Kunst, Paderborn 2015. Insbesondere Klaus Viewegs Beitrag „Die romantische Kunst als Anfang freier Kunst – Hegel über das Ende der Kunst und Das Ende der Geschichte“ (S. 15 – 32) erörtert die Bedeutung der These für die Hervorbringung der Kunst der Freiheit, die vielfältige Möglichkeiten auch des Scheiterns und des Verfehlens des Schönen bereithält.

138

Hegel: Ästhetik I, S. 25.

246


Endnoten

139

Vgl. Gethmann-Siefert: Einführung, S. 74 – 76.

140

Ebd., S. 78.

141

Ebd., S. 261 – 262.

142

Ebd., S. 263.

143

Ebd., S. 257.

144

Hegel: Ästhetik III, S. 474.

145

Ebd., S. 562 – 563.

146

Gethmannn-Siefert: Einführung, S. 328.

147

Gethmann-Siefert argumentiert, dass diese „freien“ Handlungsintentionen sich beispielsweise in Schillers Dramen, jedoch ebenfalls an den institutionellen Rahmenbedingungen abarbeiten: „Schiller thematisiert in seinen Dramen ein Handeln, das sich selbst als Realisation von Vernunft und Freiheit in vorgegebenen menschlichen Lebensformen, nämlich unter den Bedingungen der Institutionen des modernen Staates entwirft. Durch diese „Situation“ kann das im Drama dargestellte exemplarische Handeln kein „schönes“ Handeln bleiben, und auch die Versöhnung bleibt letztlich aus. Das Drama demonstriert folglich die Notwendigkeit des Scheiterns einer legitimen und allgemein akzeptablen Handlungsintention an der Realität. Während in der antiken Tragödie die immanente Schönheit der Handlung dadurch erhalten bleibt, dass die Versöhnung durch den religiösen Kontext, den Schicksalsglauben möglich bleibt, tritt im modernen Drama die Diskrepanzgestalt des Erhabenen an die Stelle des Schönen.“ (Ebd.)

148

Hegel: Ästhetik III, S. 573.

149

Gramm, Gerhard: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes“, in: Ders./Schümann, Eva (Hg): Von Platon bis Derrida, Darmstadt 2005, S. 180.

150

Stegemann, Bernd: Lob des Realismus, Berlin 2015, S. 12.

151

Ebd., S. 18.

152

Ebd., S. 99.

153

Ebd., S. 20.

154

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Frühe Schriften: Die Verfassung Deutschlands (Werke 1), Frankfurt am Main 1971, S. 461.

155

Stegemann: Lob, S. 202.

156

Sharifi: „Postmigrantisches Theater“, S. 41 – 42; Schrödel, Jenny: „Gender Trouble, once again“, in: Cairo, Milena/Hannemann, Moritz/ Haß, Ulrike/Schäfer, Judith (Hg.): Episteme des Theaters, Bielefeld 2016, S. 609 – 618; Dies.: „Travestie ≠ Drag. Geschlechterwechsel in der Hoch- und Subkultur“, Vortrag auf dem Queer Up Festival 2014 im Maxim Gorki Theater Berlin.

157

Žižek: Weniger als nichts, S. 1365.

158

Ebd., S. 1367.

159

Reschke: Asymmetrie, S. 7.

160

Mbembe: Kritik, S. 332, Hervorhebungen im Original.

161

Die folgenden vier Absätze wurden bereits veröffentlicht in Heinicke, Julius: „Verstrickungen zwischen Alltag und Kunst: (Inter)kulturelles Potential oder Beschränkung ästhetischer Freiheit?“, in: Ders./Kalu, Joy Kristin/Warstat, Matthias: Alltag und Ästhetik (Paragrana 26, Heft 2), Berlin 2017.

162

Laut Programmflyer handelt es sich um eine Anhörung juristischer Sachverständiger zum Entwurf der Bundesregierung zu einem Gesetz der Neuregelung des Bleiberechts und

247


Anhang

der Aufenthaltsbeendigung, die im Rahmen der 42. Sitzung des Innenausschusses der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages am 27. März 2015 stattfand. 163

Gorki Theater Berlin: „In unserem Namen“ (Programmflyer), Premiere 13. November 2015.

164

Ende der bereits veröffentlichten Passage.

165

Fleishman, Mark (Hg.): Performing Migrancy and Mobility in Africa, Houndmills, Basingstoke 2015, S. 31.

166

Ahmed, Sarah: The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh 2004.

167

Ebd., S. 21.

168

Fleishman: Performing Migrancy, S. 31.

169

Mandel: Kulturvermittlung, S. 25 – 26.

170

Ebd., S. 24.

171

Heinicke, Julius: „Die wiederentdeckte Theatralität: Eine Rückbesinnung auf die Toten als die Macht der Lebenden“, in: Budde, Antje (Hg.): Fiebach. Theater. Wissen. Machen., Berlin 2014, S. 25 – 33.

172

Bochow, Jörg. „und/oder“, in: Budde: Fiebach, S. 109.

173

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Fiebachs Die Toten wurde bereits veröffentlicht, vgl. Heinicke: „Die wiederentdeckte Theatralität“, S. 25 – 33.

174

Schipper, Mineke: „Die Toten als die Macht der Lebenden: Zur Theorie und Geschichte von Theater“, in Afrika Research (Book Review)“, in: African Literatures 19 (1988), No. 3, S. 433.

175

Fiebach: Die Toten, S. 104.

176

Fiebach, Joachim: „Theatricality – From Oral Traditions to Televised ‚Realities‘“, in: SubStance 31 (2002), No. 2&3, S. 29 – 30.

177

Ebd., S. 26.

178

Bharucha, Rustom: Theatre and the World: Performance and the Politics of Culture, London 1993.

179

Ebd., S. 38.

180

Ebd., S. 40.

181

So argumentiert von Braun: „Schließlich wird auch die Realität anderer Kulturen geleugnet, indem man ihre Gesellschaftsordnung nach einem Raster interpretiert, die von der (künstlich geschaffenen) Realität abendländischer Gesellschaftsverhältnisse abgeleitet ist. ‚Man muss eine Art universelles Gesetz ausarbeiten‘, so lautet die bescheidene Forderung von Claude Lévi-Strauss, der dieses Gesetz durch eine systematische Anwendung mathematischer Methoden auf die Sozialwissenschaften zu formulieren versucht.“ Braun, Christina von: Nicht Ich: Logik, Lüge, Libido. Frankfurt am Main 1985, S. 118.

182

Balme, Christopher B.: Theater im postkolonialen Zeitalter: Studien zum Theatersynkretismus im englischsprachigen Raum, Tübingen 1995.

183

Ebd., S. 236.

184

Ebd., S. 237.

185

Gilbert/Tompkins: Post-Colonial Drama, S. 12.

186

Ebd. S. 294.

187

Do Mar Castro Varela, Maria/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie: Eine Kritische Einführung, Bielefeld 2015 (2. Auflage), S. 295.

188

Spivak, Gayatri Chakravorty: A Critique of Postcolonial Reason. Towards a History of the Vanishing Present, Calcutta, New Delhi 1999, S. 310.

248


Endnoten

189

Do Mar Castro Varela/Dhawan: Postkoloniale Theorie, S. 13.

190

Carlson, Marvin: „Intercultural Theory, postcolonial theory, and semiotics: The road not (yet) taken“, in: Semiotica 168, No. 1/4 (2008), S. 129 – 142.

191

Case, Sue Allen: Feminism and Theatre, London 1988.

192

Brewer, Mary: Race, Sex, and Gender in Contemporary Women Theatre, Brighton 1999.

193

Carlson: „Intercultural Theory“, S. 132.

194

Fischer-Lichte, Erika: Das eigene und das fremde Theater, Tübingen 1999, S. 185.

195

Balme: Theater im Postkolonialen Zeitalter, S. 236.

196

Carlson: „Intercultural Theory“, S. 141.

197

Gleichwohl kann durchaus argumentiert werden, dass auch für viele interkulturelle Inszenierungen, die insbesondere auf die Zeichenhaftigkeit der Bühne setzten, diese Verfahren durchaus Sinn machen. Ziel jedoch sollte dabei nicht sein, die Inszenierung unter dem Blickwinkel eines einzelnen Kodes zu betrachten, sondern gezielt die Vielfalt einzelner Signifikanten aufzuzeigen und somit der Komplexität interkultureller und postkolonialer Aufführungen gerecht zu werden.

198

Warstat et al.: Intervention. Der Band wurde von einem Teil des Teams des Forschungsprojekts „The Aestehtics of Applied Theatre“ (Institut für Theaterwissenschaft, FU Berlin, 2012 – 2017) herausgegeben.

199

Ebd., S. 9.

200

Ebd., S. 152 – 154.

201

Vgl. Heinicke, Julius: „Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell? Überlegungen zu einer Ästhetik der Entähnlichung“, in: Kovacs, Teresa/Nonoa, Koku G. (Hg.): Postdramatisches als transkulturelles Theater, Tübingen 2018, S. 42 – 64.

202

Ravengai, Samuel: „The dilemma of the African body as a site of performance in the context of Western training“, in: Igweonu, Kene (Hg.): Trends in Twenty-First Century African Theatre and Performance. Amsterdam 2011, S. 35 – 60.

203

Ebd., S. 35 – 36.

204

Ebd., S. 41.

205

Ebd., S. 51.

206

Ebd., S. 47.

207

Eine ausführliche Analyse zu Rituals, die auch auf die Diskussion um Ritual und Theater eingeht, habe ich in meiner Dissertation angestellt. Vgl. Heinicke: How to Cook a Country, S. 160 – 168.

208

Stegemann: Lob.

209

Ebd., S. 202.

210

Ebd., S. 205.

211

Einige Gedankengänge und Beispiele dieses Unterkapitels sind – teilweise verändert – bereits in folgenden Aufsätzen veröffentlicht: Heinicke, Julius: „Verstrickungen zwischen Alltag und Kunst: (Inter)kulturelles Potenzial oder Beschränkung ästhetischer Freiheit?“ in: Ders./ Kalu, Joy Kristin/Warstat, Matthias (Hg.): Kunst und Alltag. Paragrana – Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie 2, (2017), S. 42 – 56 und Ders.: „Post-Hegel“.

212

Fischer-Lichte, Erika: „Einleitung“, in: Dies./Jost, Torsten/Jain, Saskya Iris: The Politics of Interweaving Performance Cultures. Beyond Postcolonialism, London 2014, S. 9.

213

Ebd., S. 11.

214

Ebd., S. 13, Hervorhebungen im Original.

249


Anhang

215

Mbembe, Achille: „After Post-Colonialism: Transnationalism-or-essentialism?“ TATE; http://www.tate.org.uk/context-comment/video/after-post-colonialism-transnationalism-or-essentialism-video-recordings (Part 2), Zugriff: 2. August 2017.

216

Okagbue: African Theatre, S. 193.

217

Die Premiere fand im Oktober 2014 in der Akademie der Künste am Hanseatenweg in Berlin statt.

218

Pressemitteilung Mistral, online veröffentlicht 2014, www.susanne-linke.de, Zugriff: 1. Oktober 2017.

219

Luzina, Sandra: „In der Bewegung vereint: Tanzerlebnis Mistral mit Susanne Linke und Koffi Kôkô“, in: Tagesspiegel, online veröffentlicht am 20. Oktober 2014, http://www.tagesspiegel.de/kultur/tanz-erlebnis-mistral-mit-susanne-linke-und-koffikoko-in-der-bewegung-vereint/10860034.html?, Zugriff 4. April 2018.

220

Ende der Passage mit bereits veröffentlichten – teils veränderten Passagen.

221

Warstat, Matthias: Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft, Berlin 2018, S. 28.

222

Ebd., S. 262 – 263.

223

So weist Warstat an anderer Stelle darauf hin, dass Theatralität die Handlungen des Alltags unterbricht und so weitere – beispielsweise diese alltäglichen Routinen konterkarierende – Ebenen öffnet: „Eine wie auch immer geartete theatrale Praxis wird ebenso wenig wie das Fest umhinkommen, alltägliche Routinen zu konterkarieren. Schon durch die bloße Ostentation, die theatereigene Zur-Schau-Stellung, werden alltägliche Praktiken wesentlich transformiert: Sie erfahren eine Hervorhebung, die ihnen ihre Alltäglichkeit nimmt.“ (Warstat, Matthias: „Ästhetik der Anwendung“, in: Heinicke et al.: Kunst und Alltag, S. 31 – 32.)

224

Einige Gedankengänge und Beispiele dieses Unterkapitels sind – teilweise verändert – bereits in folgenden Aufsätzen veröffentlicht: Heinicke: „Verstrickungen“ und Ders.: „Post-Hegel“.

225

Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 2015 (6. Auflage).

226

Ebd., S. 17 – 18, Hervorhebungen im Original.

227

Ebd., S. 65.

228

Menke, Christoph: Die Tragödie im Sittlichen, Frankfurt am Main 1996.

229

Ebd., S. 45.

230

Ebd., S. 185 – 186.

231

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 70.

232

Hegel: Ästhetik III, S. 572 – 573.

233

Ebd., S. 573 – 574.

234

Mbembe: Kritik, S. 332, Hervorhebungen im Original.

235

Fleishman, Mark: „Dramaturgies of Displacement in the Magnet Theatre Migration Project“, in: Ders.: Migrancy and Mobility, S. 23.

236

Ebd., S. 23.

237

Barnes, Hazel: „Mandla Mbothwe in South Africa“, in: Fleishman: Migrancy and Mobility, S. 74 – 75.

238

Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Frankfurt am Main 2013.

239

Ebd., S. 172, Hervorhebungen im Original.

240

Ebd., S. 174, Hervorhebungen im Original.

250


Endnoten

241

Ebd., S. 171, Hervorhebungen im Original.

242

Ende der Passage mit bereits veröffentlichten – teilweise veränderten – Gedankengängen und Beispielen.

243

So versucht Caroline Sommerfeld-Lethen in ihren diversen Einträgen auf Sezession.de, Wirklichkeit und Realität mithilfe einer ausschließenden Gleichheit im Sinne eines Einander-Gleichseins suggerierender Begriffe wie Rasse und Volk zu konstruieren. Dass diese Begriffe historisch schon immer ein Ähnlichsein vortäuschen, darauf gehen derlei Überlegungen nicht ein.

244

Mbembe, Achille: Politik der Feindschaft (aus den Französischen von Michael Bischoff), Frankfurt am Main 2017 (Original: Politiques de l’ininmitié, Paris 2016).

245

Ebd., S. 11.

246

Ebd., S. 228.

247

Ebd., S. 231.

248

Ebd.

249

Ebd., S. 235.

250

Rebentisch, Juliane: Die Kunst der Freiheit: Zur Dialektik demokratischer Existenz (2. Auflage), Frankfurt am Main 2014.

251

Ebd. S. 10.

252

Ebd. S. 371 – 372.

253

Ebd. S. 373.

254

Mbembe: Feindschaft, S. 22.

255

Vgl. Oberender, Thomas: „Welt ohne Außen. Anne Imhofs Faust im Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig als Scripted Space“; in: Theater der Zeit 10 (2017), http://www.theaterderzeit.de/2017/10/extra/35505/, Zugriff: 1. August 2018.

256

Anne Imhof im Interview mit Susanne Pfeffer, in: Pfeffer, Susanne (Hg.): Faust. Anne Imhof, London 2017, S. 24.

257

Knoblich, Tobias J./Scheytt, Oliver: „Zur Begründung von Cultural Governance“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitschrift das Parlament) 8, 2009, S. 39.

258

Auf dem Feld des Kulturmanagements sei auf Birgit Mandels Forschungen, die wichtige Handlungsempfehlungen für innovative Gestaltungsprozesse insbesondere innerhalb des Audience Development gibt, und Bernhard M. Hoppes und Thomas Heinzes Einführung in das Kulturmanagement hingewiesen, welches ein ganzes Kapitel dem Kulturmanagement in der pluralen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts widmet. Beide Studien befassen sich durchaus kritisch mit der Rolle des Managements in der inter- und transkulturellen Kulturarbeit: Vgl. Mandel: Audience Development; Hoppe, Bernhard M./Heinze, Thomas: Einführung in das Kulturmanagement. Wiesbaden 2016. Hinsichtlich des Kulturmanagements in Deutschland gibt es ebenfalls einige richtungweisende Forschungen, an die angeknüpft werden kann: Klein, Armin: Der exzellente Kulturbetrieb, Wiesbaden 2011 (3. Auflage); Ders. (Hg.): Taten.Drang.Kultur: Kulturmanagement in Deutschland 1990 – 2030, Wiesbaden 2011; Henze, Raphaela (Hg.): Kultur und Management. Eine Annäherung, Wiesbaden 2014 (2. Auflage).

259

Die Tagung fand vom 11. bis 13. März 2016 in Pretoria und Soweto/Johannesburg in Südafrika statt und wurde von Wolfgang Schneider, der den UNESCO-Chair für „Cultural Policy for the Arts in Development“ an der Universität Hildesheim innehat, und seinem Team initiiert und koordiniert.

260

Schneider, Wolfgang: „Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft“, in: Brauneck, Manfred (Hg.): Das Freie Theater im Europa der Gegenwart, Bielefeld 2017, S. 618 – 619.

251


Anhang

261

Ebd., S. 619.

262

Vgl. Fischer-Lichte, Erika (Hg): TheaterAvantgarde: Wahrnehmung – Körper – Sprache, Tübingen, Basel 1995.

263

Schneider: „Theaterlandschaft“, S. 620.

264

Burkhard, Claudia: Kulturpolitik als Strukturpolitik? Konzepte und Strategien deutscher und italienischer Kulturpolitik im Vergleich, Frankfurt am Main 2015, S. 150.

265

Ebd., S. 150.

266

Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main 1984 (3. Aufl.).

267

Braun, Christina von: Der Preis des Geldes: Eine Kulturgeschichte, Berlin 2012.

268

Ebd., S. 284.

269

Ebd., S. 284 – 285.

270

Vgl. Balme, Christopher B.: The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014; Fiebach, Joachim: Inszenierte Wirklichkeit.

271

Hulfeld, Stefan: „Öffentlichkeit“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 226 – 227.

272

Beyme, Klaus von: Kulturpolitik in Deutschland. Von der Staatskulturförderung zur Kreativwirtschaft, Wiesbaden 2012, S. 297 – 298.

273

Nix, Christoph: Theater_Macht_Politik: Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert, Berlin 2016., S. 185 – 186.

274

Vgl. Sasse, Sylvia/Wenner, Stefanie (Hg.): Kollektivkörper: Kunst und Politik in Verbindung, Bielefeld 2002.

275

Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur: Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1996, S. 20.

276

Ebd., S. 27.

277

Bockhorst, Hildegard/Reinwand, Vanessa-Isabelle/Zacharias, Wolfgang: Handbuch Kulturelle Bildung. München 2012.

278

Ebd., S. 18.

279

Ebd., S. 21.

280

Ebd., S. 22.

281

Mandel: Kulturvermittlung, S. 19.

282

Von Beyme: Kulturpolitik, S. 297.

283

Ebd., S. 297 – 298.

284

Boutang, Yann Moulier: „Luc Boltanski und Eve Chiapello im Gespräch mit Yann Moulier Boutang“, übersetzt von Stefan Nowotny, veröffentlicht im November 2000 auf http://eipcp.net/dlfiles/boltanskichiapello-de, Zugriff: 15. März 2018.

285

Nix: Theater_Macht_Politik, S. 12.

286

Ebd., S. 197.

287

Lazzarato, Maurizio: „Die Missgeschicke der „Künstlerkritik“ und der kulturellen Beschäftigung“ auf der Website des Instituts für progressive Kulturpolitik, veröffentlicht 2007 auf http://eipcp.net/transversal/0207/lazzarato/de/#_ftn1, Zugriff: 1. Februar 2018.

288

Nix: Theater_Macht_Politik, S. 206.

289

Haselbach, Dieter/Klein, Arnim/Knüsel, Pius/Opitz; Stephan: Der Kulturinfarkt: Von allem zu viel und überall das Gleiche, München 2012.

252


Endnoten

290

Ebd., S. 12.

291

Schneider, Wolfgang: „Under Construction“, veröffentlicht am 24.10.2012 auf Nachtkritik: https://www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=7389:reformbedarf-auf-derbaustelle-theater&option=com_content&Itemid=84, Zugriff: 15. März 2018.

292

Ebd.

293

Vgl. Knoblich/Scheytt: „Cultural Governance“, S. 8; Schmitt, Thomas M.: Cultural Governance: Zur Kulturgeographie des UNESCO-Weltkulturerberegimes, Stuttgart 2011.

294

Liebau, Eckart: „Schulkünste“, in: Ders./Zirfas, Jörg (Hg.): Die Kunst der Schule: Über die Kultivierung der Schule durch die Künste. Bielefeld 2009, S. 62.

295

Schubarth, Wilfried/Speck, Karsten: Employability und Praxisbezüge im wissenschaftlichen Studium, (Fachgutachten der HRK), Immenstadt 2014, S. 55.

296

Winzlik, Alexander: „Schlüsselkompetenzen in der Kulturellen Bildung“, veröffentlicht 2012 auf https://www.kubi-online.de/artikel/schluesselkompetenzen-kulturellen-bildung, Zugriff: 27. Februar 2018.

297

Klepacki, Leopold/Zirfas, Jörg: „Ästhetische Bildung: Was man lernt und was man nicht lernt“, in: Liebau/Ders. (Hg.): Kunst der Schule, S. 135 – 136.

298

Roselt, Jens: „Kreatives Zuschauen: Zur Phänomenologie von Erfahrung im Theater“, in: Theaterdidaktik, 2, 2004, S. 46 – 56. Vgl. auch Ders.: Phänomenologie des Theaters, München 2008.

299

Liebau: „Schulkünste“, S. 58.

300

Thompson: „Ein Hauen und Stechen“, in: Warstat, Matthias//Evers, Florian/Falde, Kristin/ Lempa, Fabian/Seuberling, Lilian (Hg.): Applied Theatre: Rahmen und Positionen, Berlin 2017, S. 162.

301

Ebd.

302

Ebd., S. 173.

303

Wartemann, Geesche: „Hildesheimer Thesen VIII – Die Zukunft der Theatervermittlung“ veröffentlicht 2012 auf https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view= article&id=7554:hildesheimer-thesen-vi-die-zukunft-der-theatervermittlung&catid= 101:debatte&Itemid=84, Zugriff: 31. Januar 2018.

304

Auch hier mag das Berliner Gorki als Vorreiter gelten, insbesondere der gesellschaftlichen Vielfalt – zumindest in Kontexten von Migration, aber auch von Queerness – Räume und Stimmen zu geben. Doch daneben gibt es eine Reihe von Häusern wie das Hamburger Kampnagel, das Berliner HAU oder das Frankfurter Theater am Turm, welche eine Reihe von Produktionen dieser Art fördern.

305

Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater: Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S. 114.

306

Die von Evelyn Annuß initiierte Online-Petition „Die Zukunft der Volksbühne neue verhandeln“ wurde veröffentlicht unter: https://www.change.org/p/zukunft-der-volksb% C3%BChne-neu-verhandeln, Zugriff: 12. Februar 2018.

307

Dercon, Chris: „Dementi“, veröffentlicht auf https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2017/ 09/volksbuehne-berlin-stellen-ensemble-dercon-dementi.html, Zugriff: 12. Februar 2018.

308

Schmidt, Thomas: Theater, Krise und Reform: Eine Kritik des deutschen Theatersystems, Frankfurt am Main 2017, S. 401.

309

Vgl. in Kapitel 3 das Unterkapitel: Kulturelle Realitäten des Körpers versus Realismus im Theater.

310

Deutscher Bundestag (Hg.): Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquete-Kommission, Regensburg 2008, S. 165.

253


Anhang

311

Schneider, Wolfgang: „Theater (möglich) Machen: Kulturpolitische Anmerkungen zur Förderung der darstellenden Künste“, in: Ders./Speckmann, Julia: Theatermachen als Beruf, Berlin 2017, S. 206.

312

Ebd., S. 206.

313

Balme: „Unter Übermenschen“.

314

Ebd.

315

Sichel, Adrienne: „Die ungleichen Brüder“, in: Hemke, Rolf. C (Hg.): Theater südlich der Sahara, Berlin 2010, S. 175.

316

Frank, Simon A.: Kulturmanagement und Social Media, Bielefeld 2017.

317

Ebd., S. 235.

318

Vgl. Adorno, Theodor W./Horckheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1995 (1947), S. 148.

319

Frank Kulturmanagement, S. 222 – 223.

320

Ebd., S. 255. Allerdings deutet Frank auch auf die Gefahr einer von kunstwissenschaftlichen und ästhetischen Instrumenten „losgelösten“ Arbeitsweise mit digitalen Medien im Theater hin: „Die zu Beginn des Abschnitts gestellte Frage, inwieweit Theater im virtuellen Raum möglich sei, lässt sich also dahingehend beantworten, dass im realen Raum das Social Web fur darstellende Kunst nur dann zum Einsatz kommen sollte, wenn es mit einer kunsttheoretischen beziehungsweise theaterwissenschaftlichen Position begru ̈ ndet werden kann. Im virtuellen Raum ändern sich die Parameter so vielfältig, dass für die darstellende Kunst eine neue Form gefunden werden muss, um nach Brecht eine ‚gesunde‘ Kunstproduktion zu erreichen (vgl. Abschnitt 4.7).“ (Frank, S. 235).

321

In den Seminaren, die ich regelmäßig an der Theaterakademie der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg gebe, werden zunehmend „klassische“ Strukturen der Theaterlandschaft infrage gestellt, wie zum Beispiel die meist undurchschaubare Besetzung von Intendanzen, die Stückauswahl und der Umgang mit Assistenten und Hospitanten und die Hierarchie beispielsweise zwischen Intendanz, Regie und Dramaturgie.

322

Schneider: „Theater (möglich) Machen“, S. 208.

323

Art but fair: „Selbstverpflichtung für Kunstschaffende“, online veröffentlicht unter http://selbstverpflichtung.artbutfair.org/wp-content/uploads/2014/07/Selbstverpflichtung11.pdf, Zugriff: 1. März 2018

324

Ebd.

325

Schneider: „Theater (möglich) Machen“, S. 210.

326

Nix: Theater_Macht_Politik, S. 210.

327

Schmidt: Theater, Krise und Reform, S. 384 – 385.

328

Mit „intercultural mafia“ beschreibt Rustom Bharucha die europäisch-nordamerikanische Kulturpolitik hinsichtlich einiger in Indien geförderter Projekte. Vgl. Rustom: Theatre and the World, S. 40.

329

Wetzel, Enzio: „Die Aufnahme produktiver Beziehungen – Kultur und Entwicklung“, in: Maaß, Kurt-Jürgen (Hg.): Kultur- und Außenpolitik (3. Alg.), Baden-Baden 2015, S. 194.

330

Ebd., S. 195.

331

Vgl. Heinicke: „Theatre in Transformation“, S. 75.

332

Schneider, Wolfgang: „Die darstellende Kunst als eine soziale Kraft“, in: Kultur und Politik 3 (2016), S. 10.

333

Der zwölfjährige Hector Pieterson wurde während der Demonstration durch den Kugelhagel der Polizei, der sich gegen die demonstrierenden Schüler richtete, erschossen.

254


Endnoten

334

Vgl. Heinicke: „Koloniale Fallstricke“.

335

Bharucha: Theatre and the World, S. 40.

336

Für meine Doktorarbeit habe ich mehrere Forschungsaufenthalte in Zimbabwe verbracht. Ausführliche Beschreibungen zum „Harare International Festival of the Arts“ und darüber hinaus auch tiefergehende Analysen der dortigen Theaterszenen etc. sind veröffentlicht in Heinicke: How to cook a Country. Die Bedeutung des Festivals für die Erörterung von Strategien der internationalen Kulturpolitik wurde dort jedoch nur am Rande diskutiert und hier in einen neuen Gesamtzusammenhang gesetzt, gleichwohl wurden einige Aspekte, Zitate und Thesen zum Festival und zur politischen Situation in Zimbabwe, die im Folgenden angeführt werden, dort bereits veröffentlicht.

337

Der Zimbabwe National Unity – Patriotic Front regiert seit 1980 das Land, von 2008 bis 2013 zusammen mit der vorherigen Oppositionspartei MDC (Movement for Democratic Change). Von 1980 bis 2017 war Robert Mugabe Präsident und Parteivorsitzender und wurde 2017 von Emmerson Mnangagwa abgelöst.

338

Plastow: African Theatre and Politics, S. 240 – 241.

339

~ ~ Ngu gı wa Mı~riı~: „People’s Theatre“, in: Chifunyise, Stephen/Kavanagh, Robert Mshengu (Hg.): Zimbabwe Theatre Report I, Harare 1988, S. 40.

340

Ravengai, Samuel: „Political Theatre, National Identity and Political Control: The Case of Zimbabwe“, in: African Identities 2010, 8 (2), S. 170.

341

Shaw, Drew: „Queer Inclinations and Representations: Dambudzo Marechera and Zimbabwean Literature“, in; Veit-Wild, Flora/Naguschewski, Dirk (Hg,): Body, Sexuality and Gender: Versions and Subversions in African Literatures, Amsterdam 2005, S. 90.

342

Diesen politischen Wandlungsprozess Mugabes stellt die Journalistin Heidi Holland, die Mugabe mehrfach als Befreiungskämpfer und später als Präsident interviewt hat, dar. Holland, Heidi: Dinner with Mugabe, Johannesburg 2008.

343

Braun, Christina von: Blutsbande: Verwandtschaft als Kulturgeschichte, Berlin 2018.

344

Ebd., S. 12 – 13.

345

Das erste Stück, welches offiziell in Zimbabwe von der Zensurbehörde verboten wurde, war die Aufführung von Raisedon Bayas Präsidentensatire Super Patriots and Morons 2004 auf dem HIFA. Vgl. Heinicke: How to cook a Country, S. 52 – 53; Ravengai, Samuel: „Censorship in Zimbabwe“ (Masterarbeit University of Zimbabwe), 2008, S. 24 – 26; Zenenga, Praise: „Censorship, Surveillance, and Protest Theatre in Zimbabwe“, in: Theater 38, 3 (2008), S. 67 – 83.

346

So spielen insbesondere in den Theaterstücken jener Zeit Humor und Lachen eine wichtige Rolle. Vgl. Heinicke: How to cook a County: Unterkapitel „Präsidentensatiren“, S. 96 – 102 und „Komik und Groteske“, S. 123 –131; Heinicke, Julius: „Pizza oder Hähnchenbein. Theater in Zimbabwe zwischen Widerstand und Innovation“, in: Theater heute, 6 (2013), S. 50 – 54.

347

Bagorro, Manuel: „Greeting“, in: Harare International Festival of the Arts 2009: Enligh10ment, (offizielles Programmheft), S. 7.

348

Förderer der internationalen Geberschaft waren u. a. Africalia Belgium, die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Harare, das Goethe-Zentrum Harare, die German Zimbabwean Society, Pro Helvetia Arts Council of Switzerland, Alliance Française, Ambassade de France au Zimbabwe, Norwegian Embassy, Foreign & Commonwealth Office London, Hivos, UNICEF, Embassy of Sweden Harare, United States Embassy, Embassy of the Republic of Austria, Embassy of India, Embaixada de Portugal. (Vgl. Harare International Festival of the Arts 2009: Enlight10ment (offizielles Programmheft), S. 4.)

349

Wilson, Maria: „Greeting“, in: Harare international Festival of the Arts 2010: Eye (offizielles Programmheft), S. 7.

350

Diese Information hat der Autor von zuverlässigen Quellen unmittelbar am Tag der Verhaftung bekommen. Ursprünglich sollten für die Freilassung 50 000 USD bezahlt werden.

255


Anhang

351

Regie: Daves Guzha; Text: Stephen Chifunyise.

352

Regie: Sarah Norman; Text: Sarah Norman, Tonderai Munyebvu.

353

Regie: Andreas Lustgarten.

354

Heinicke: How to Cook a Country, S. 49 – 51.

355

Ende der Passage zum HIFA, von der einzelne Thesen, Beispiele und Argumentationsgänge bereits veröffentlicht wurden.

356

Blombach, Helmut: „Engagement für Entwicklung“, in: DAAD (Hg.): 90 Jahre DAAD, Bonn 2015, S. 105.

256


RECHERCHEN 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 140 Thomas Wieck . Regie: Herbert König 139 Florian Evers . Theater der Selektion 137 Jost Hermand . Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers Brecht-Studien 135 Flucht und Szene Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 133 Clemens Risi . Oper in performance 132 Helmar Schramm . Das verschüttete Schweigen 131 Vorstellung Europa – Performing Europe Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 130 Günther Heeg . Das Transkulturelle Theater 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 128 Torben Ibs . Umbrüche und Aufbrüche 127 Günter Jeschonnek. Darstellende Künste im öffentlichen Raum 126 Christoph Nix . Theater_Macht_Politik 125 Henning Fülle . Freies Theater 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig 123 Hans-Thies Lehmann . Brecht lesen 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft Leipziger Vorlesungen 116 Kathrin Röggla . Die falsche Frage Vorlesungen über Dramatik 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 113 Die Zukunft der Oper zwischen Hermeneutik und Performativität 112 Parallele Leben . Ein Dokumentartheaterprojekt 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit Dokumentarisches Theater 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 108 Horst Hawemann . Leben üben – Improvisationen und Notate


RECHERCHEN 107 Roland Schimmelpfennig . Ja und Nein Vorlesungen über Dramatik 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit 105 Wie? Wofür? Wie weiter? Ausbildung für das Theater von morgen 104 Theater im arabischen Sprachraum 103 Ernst Schumacher . Tagebücher 1992 – 2011 102 Lorenz Aggermann . Der offene Mund 101 Rainer Simon . Labor oder Fließband? 100 Rimini Protokoll . ABCD 99

Dirk Baecker . Wozu Theater?

98

Das Melodram . Ein Medienbastard

97

Magic Fonds – Berichte über die magische Kraft des Kapitals

96

Heiner Goebbels . Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater

95

Wolfgang Engler . Verspielt Essays und Gespräche

93

Adolf Dresen . Der Einzelne und das Ganze Dokumentation

91

Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm

87

Macht Ohnmacht Zufall Essays

84

B. K. Tragelehn . Der fröhliche Sisyphos

83

Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters Essays

82

Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch

81

Die Kunst der Bühne – Positionen des zeitgenössischen Theaters Essays

79

Woodstock of Political Thinking . Zwischen Kunst und Wissenschaft Essays

76

Falk Richter . TRUST Inszenierungsdokumentation

75

Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Diskussionen

74

Frank Raddatz . Der Demetriusplan Essay

72

Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute Aufsätze

71

per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Essays

70

Reality Strikes Back II – Tod der Repräsentation Aufsätze und Diskussionen

67

Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Aufsätze

66

Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur Brecht-Tage 2008

65

Sabine Kebir . „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht

64

Theater in Japan Aufsätze

63

Vasco Boenisch . Krise der Kritik?

62

Anja Klöck . Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler?

61

Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Essays

60

Elisabeth Schweeger . Täuschung ist kein Spiel mehr Aufsätze

58

Helene Varopoulou . Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater

57

Kleist oder die Ordnung der Welt

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de


RECHERCHEN 56

Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Essay und Gespräch

55

Martin Maurach . Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 – 1945

54

Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Essays

52

Angst vor der Zerstörung Tagungsbericht

49

Joachim Fiebach . Inszenierte Wirklichkeit

48

Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Vorträge und Diskussion

46

Sabine Schouten . Sinnliches Spüren

42

Sire, das war ich – Zu Heiner Müllers Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Werkbuch

41

Friedrich Dieckmann . Bilder aus Bayreuth Essays

40

Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Aufsätze

39

Stefanie Carp . Berlin – Zürich – Hamburg Essays

37

Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Tagungsdokumentation

36

Politik der Vorstellung . Theater und Theorie

32

Theater in Polen . 1990 – 2005 Aufsätze

31

Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Vorträge und Diskussionen

30

VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze

28

Carl Hegemann . Plädoyer für die unglückliche Liebe Aufsätze

27

Johannes Odenthal . Tanz Körper Politik Aufsätze

26

Gabriele Brandstetter . BILD-SPRUNG Aufsätze

23

Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Vorträge und Diskussionen

22

Falk Richter – Das System Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“

19

Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk

15

Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Aufsätze

14

Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR

13

Manifeste europäischen Theaters Theatertexte von Grotowski bis Schleef

12

Hans-Thies Lehmann . Das Politische Schreiben Essays

11

Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Vorträge und Diskussionen

10

Friedrich Dieckmann . Die Freiheit ein Augenblick Aufsätze

9

Gerz . Berliner Ermittlung Inszenierungsbericht

8

Jost Hermand . Brecht-Aufsätze

7

Martin Linzer . „Ich war immer ein Opportunist…“ Gespräche

6

Zersammelt – Die inoffizielle Literaturszene der DDR Vorträge und Diskussionen

4

Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Vorträge und Diskussionen

3

Adolf Dresen . Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Aufsätze

1

Maßnehmen . Zu Brechts Stück „Die Maßnahme“ Vorträge und Diskussionen





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