Wer bin ich, wenn ich spiele? Fragen an eine moderne Schauspielausbildung

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Wer bin ich, wenn ich spiele? Fragen an eine moderne Schauspielausbildung Frank Schubert und Martin Wigger (Hg.)



Wer bin ich, wenn ich spiele?


Mit freundlicher Unterstützung der Hochschule der Künste Bern der Burgergemeinde Bern und der Ernst Göhner Stifung

Wer bin ich, wenn ich spiele? Fragen an eine moderne Schauspielausbildung Herausgegeben von Frank Schubert und Martin Wigger Recherchen 153 © 2021 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ­ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Nicole Gronemeyer Gestaltung: Tabea Feuerstein Umschlagabbildung: Martin Gremse Printed in Germany ISBN 978-3-95749-241-8 (Paperback) ISBN 978-3-95749-354-5 (ePDF) ISBN 978-3-95749-355-2 (EPUB)


Recherchen 153

Wer bin ich, wenn ich spiele? Fragen an eine moderne ­Schauspielausbildung Herausgegeben von Frank Schubert und Martin Wigger



Inhalt

Frank Schubert und Martin Wigger Vorwort 8 I Präludien 10 Florian Reichert Theater 13 Frank Schubert Fassungslos 18 Was braucht die Schauspielausbildung in einer sich rasant ­verändernden Gesellschaft? Frank Schubert und Martin Wigger Schauspielausbildung in Bern – zwischen den Welten 27 Über Autorschaft, Handwerk und Performance im »Berner Kosmos« II Lehren 32 Martin Wigger Das The- mit dem Theater 35 Variationen über Theorie im Schauspielunterricht »Eine Schule, die sich gerne neu erfindet – immer wieder« 51 Stephan Lichtensteiger im Gespräch über Improvisation und ­Projektentwicklung Julia Kiesler Merkmale eines performativen Umgangs mit dem Text 63 Beobachtungen aus der Probenprozessforschung »Wer bin ich, wenn ich spreche?« 74 Julia Kiesler im Gespräch über die Sprechausbildung »Eingeweiht sein in ein nicht mitteilbares Wissen« 83 Martin von Allmen im Gespräch über die musikalische Ausbildung »Give it to the character« 92 Regine Schaub-Fritschi im Gespräch über die Tanzausbildung »Just a little bit lockerer« 100 Nils Amadeus Lange im Gespräch über Embodiment

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Inhalt

Sibylle Heim Was macht dieser Master mit mir? 110 Der Master als Schnittstelle und Weiche III Das Grundlagenseminar 122 Manuela Trapp Wir entstauben die Erinnerungen, suchen nach Verstecktem und ­umarmen das Gefundene 125 Das Grundlagenseminar Teil 1 »Es wird alles groß sein auf der Bühne« 133 Die Studierenden Nanny Friebel, Jonathan Ferrari, Nola Friedrich, Marvin Groh, Lea Maria Jacobsen und Timo Jander im Gespräch Frank Schubert Es beginnt mit Shakespeare. What else? 140 Das Grundlagenseminar Teil 2 »Es wurde uns klar, wir müssen, dürfen, können Entscheidungen ­treffen« 177 Die Studierenden Jonas Dumke, Jonathan Ferrari, Nola Friedrich, Maria Heide Goletz, Marvin Groh, Lea Maria Jacobsen, Timo Jander, Antoinette Ullrich und Joshua Walton im Gespräch IV Projekte 182 »Es gilt, den freien Raum zu verteidigen« 185 Johannes Mager im Gespräch über die Projektarbeit 5 DEZI 195 Tabea Buser im Gespräch über ihr Master-Abschlussprojekt Nackt 206 Katharina Schmidt, Niken Dewers und Lena Perleth im Gespräch über ihr Studierendenprojekt AUSNAHME:ZUSTAND.komfortzonenkollisionen 217 Philip Neuberger im Gespräch über sein Bachelor-Abschlussprojekt norway.today von Igor Bauersima 225 Gabriel Noah Maurer, Leonie Sarah Kolhoff und Olivier Joel Günter im Gespräch über ihr Studierendenprojekt

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Inhalt

Die Lutherbibel 234 Marianne Oertel im Gespräch über fünf Tage und vier Nächte ­Nonstop-Lesung »What you can’t hide, show it with pride« 245 Dennis Schwabenland im Gespräch über die Zeit nach dem Studium »Freiheit und Kontrolle« 253 Ein Gespräch zwischen Frank Schubert und Martin Wigger über ­Theater als heiteren, vorrevolutionären Zustand Danksagung 258 Beiträgerinnen und Beiträger 259

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Vorwort Dieses Buch will aktuelle Überlegungen, Gedanken, Visionen zur Schauspielausbildung zusammentragen und jeweils für sich selbst sprechen lassen. Hier werden Erfahrungen ausgetauscht, Fragen gestellt, Themen verfolgt. Dabei gibt es einen bestimmenden Kontext: den Fachbereich Theater an der Hochschule der Künste Bern (HKB), aus dem immer mehr junge Künstlerinnen und Künstler hervorgegangen sind, die gerade in den letzten Jahren die Theaterlandschaft aktiv mitgestaltet haben. Wir stecken schon lange mittendrin. In der Sinnsuche. Und eine uralte Frage rückt wieder in den Mittelpunkt: Was ist am Theater eigentlich wichtig? Es mag viele Antworten geben. Aber eines steht uns auch in unserer widersprüchlichen Gegenwart deutlich vor Augen: der Live-Moment. Ganz so, wie die klassische Antike mit ihrem Theater ein umfassendes Nachdenken über ihre politische Gegenwart ermöglicht hat: Auge in Auge mit der Öffentlichkeit. Darum geht es. In jedem unserer Beiträge wird klar, dass wir nicht ein Theater als unterhaltende Dienstleistung zum Feierabend meinen. Und eine Ausbildung, die sich ganz in den Dienst eines bestehenden Marktes und seiner Protagonisten stellt, ist ganz sicher auch nicht gemeint. In Bern wurde der Begriff Autorschaft erstmals zu einem zentralen Begriff in der Ausbildung für das Theater. Heute ist er Bestandteil des Curriculums an vielen Schauspielschulen. Viele Beiträge lassen das erlebbar werden. Für uns Dozierende ist es die erste Aufgabe, unseren Studierenden dabei zu helfen, ihre eigenen Themen finden. Und wir sind dafür da, dass sie das notwendige Handwerk erhalten, um ihre Geschichten erzählen zu können. Nicht umgekehrt. Niemals umgekehrt! Das Buch umfasst vier Teile: Der erste Teil beschreibt einleitend den Raum, in dem sich das Berner Kollegium gemeinsam mit den Studierenden als lebendiger Körper permanent weiterentwickelt. Der zweite Teil wendet sich der praktischen Ausbildungsarbeit in Bern zu. Hier kommen Menschen zu Wort, die dem spezifischen »Berner Kosmos« bis heute ein Gesicht geben. Es sind bei Weitem nicht alle, die maßgeblich an den Entwicklungen beteiligt sind, aber sie machen beispielhaft deutlich, auf welcher Basis wir aufbauen und wie grundlegend wir auch bereit sind, bewährte Wege infrage zu stellen. Im dritten Teil wird ein zentrales Kernstück der Ausbildung in Bern vorgestellt und auch

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aus Sicht der Studierenden reflektiert, das Grundlagenseminar. Im vierten und letzten Teil des Buches stellen wir verschiedene Projekte vor, die in ihrer Auswahl unterschiedlicher nicht sein könnten; sie repräsentieren die Vielfalt der Ausbildungskontexte. Der Leser wird in diesem Buch weder Ratschläge noch Rezepte finden. Aber alle Reflexionen suchen nach Ideen, wie wir aus den Schauspielschulen heraus ein modernes Theater mitgestalten können, das sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist. Der »Berner ­Kosmos« atmet aus einer permanenten Neugierde, und mit den hier vorgelegten Beiträgen suchen wir die Verbindung zu Menschen, die ähnliche Ziele antreiben. Frank Schubert und Martin Wigger

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»Colors of Hope«, Inszenierung, Konzept und Ausstattung: Alexander Giesche. Foto: HKB


I PRÄLUDIEN

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Theater Florian Reichert Eine Kunst Eine Kunst mit starker schwer zu überbietender Konkurrenz Die Natur die Bäume und Wälder Ströme und Delten Weiten und Einsamkeiten Irgendwo weit in der Welt oder abgebildet in Atlanten auf Landkarten Und dann ein Raum so ein Raum ein so ein Raum in dem alles nicht ist in dem nichts ist damit darin alles Platz hat Ein Raum mit ohne der Welt mit der Welt vor der Schöpfung Vor Himmel und Erde Vor Dunkel und Licht Vor All das Gewusel zu Wasser und zu Lande Ein Raum in dem noch einmal alles von vorne beginnen könnte Ein Raum in dem all das Verbockte all das Leid noch einmal nicht gewesen sein könnte Welche Gottesversucher denken sich so etwas aus Stille ist und Leere ist und da stehst du Vor jeglichem Anfang Du kleiner Performer Du kleine Theaterfrau Im Foyer stehen die Menschen haben Eintritt bezahlt hoffen auf Ja da macht man nicht einfach so aus dem Steh und aus dem Greif Da hat man zuerst Respekt dann Angst dann Panik

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Da schreibt man die Sätze im Voraus auf schön einen nach dem anderen damit der Sinn der Sache abgemacht ist ein abgekartetes Spiel das Schauspiel Man will nix vermasseln der Text das Stück Theater das Theaterstück der Sinn die Erkenntnis nicht die vom Baum die auch Je toller die Pirouette desto schöner der Sturz Es reicht nicht dass du dir die Reihenfolge der Worte eintrichterst und wann du sprichst und wann du schweigst und den Zuhörenden mimst dem die im Saal beim Zuhören zuhören Nein Da ist auch noch der gute Ton und dann noch die Überraschung die leichter zu spielen ist wegen der ganzen Aufregung wegen dieser Überspanntheit als die Langeweile die selten den Schritt schafft von der Künstlichkeit zu Kunst Jetzt nur einfach besser sein als Gott und seine ganze verdammt gute Schöpfung Das kann doch so schwer nicht sein Der Baum egal welcher der am Waldrand der dahinter der im Wald der im Park der im Obstgarten 14


Die sind alle gut die sind frei und gut zu jeder Jahreszeit Knospen Blätter Blüten und sogar nackt im kalten Winter Bei Tag und bei Nacht am Morgen am Abend was für eine Präsenz Vom Wind zerrzaust vom Eisregen geprügelt von der Sonne verbrannt Fehlerfrei Text gelernt keinen Millimeter am Inhalt vorbei und voll der Untertöne Zärtlichkeit Drohung Stolz Erbarmen und so weiter Und auch alles fein abgewogen gemischt was darf’s denn sein Und dann stehst du da mit deinen Sätzen vorher aufgeschrieben vorgeschrieben und machst Kunst und schämst dich immerhin weil du weißt was du tust Oder schlimmer noch schämst dich nicht weil du nicht einmal weißt was du tust Du hast Apfel gegessen und seither weißt du dass du schlecht bist und auch wie und tust alles und immer wieder mal selten genug gelingt dir ein Moment Dann bist du ebenbürtig dem struppigen mitgenommenen trotzigen störrischen im Frühling duftenden im Wintereis knackenden im Sommerwind raschelnden dem Herbst sich ergebenden Apfelbaum Und dafür gibst du alles lässt tausend (1000!) Talente verkommen um eines zu pflegen wirst verlacht stellst dich immer wieder hinten an hinter die Besseren die es wie überall immer gibt 15


Du betrittst unterfinanzierte Spielstätten durch die Sparmaßnahme Hintereingang kommst mit dem Fahrrad mit rostigem Schloss und siehst gerade noch wie der 1. Rang seiner 1. Rängin aus dem Daimler hilft Das Programm ist Hochglanz für jedes Stück neu erdacht In der Kantine die Speisekarte seit Jahren in derselben fettigen Klarsichtfolie Neu nur dann wenn die Preise der Situation angepasst werden Wenn der Schreiner ein Bett macht und wenn das Bett so gut ist dass der Baum sagt »Das war die Mühe wert« KälteHitzeFrostNebelHagel und die Langeweile dazwischen dann ist etwas gut gegangen Aha Handwerk will er sagen Handwerk zuerst und dann die Kunst Regeln kennen Regeln brechen was Hänschen nicht lernt lernt Hans nimmermehr und was es da sonst noch so gibt Sagt er aber nicht Kunst beginnt dort wo sie mir die Sprache verschlägt wo ich vergesse wie der Vergleich geht weil es keinen gibt Weil die Sache für sich steht weil da eine zu sich steht wie sich da etwas von selbst versteht Obwohl es nicht selbstverständlich ist KörperTheorieSprechenSzeneDramaturegieMedienKreation interdiszikulturellerAustausch undImita undImagina undAmputa tion kill our darlings embrace your enemies celebrate your failures Und dergleichen mehr oder weniger F…! 16


Theater dieses Zusammensein unter verschärften Bedingungen mit diesem Krampf dass die einen das Beste geben wollen und die anderen das Beste haben wollen aber keiner weiß was das Beste ist Die brüllen wie gereiztes Wild im Licht Die schweigen wie begossene Pudel im Dunkel Das wird nix Tut euch zusammen im Raum und in der Zeit Techniker lass dein Design zu Hause Mach das Saallicht an und lass uns miteinander reden oder trinken oder tanzen Auch entspannt die Klappe halten ist gut Der Raum und die Zeit und der Mensch und die Welt im Proberaum B im Tanzsaal auf der Bühne in den Straßen Gassen Seitengassen Gässchen an der Currywurstbude am Kleinstadtbahnhof Dienstag Juli 9 Uhr abends im Holundergebüsch am Schuppen mit viel »das kann man noch brauchen« im Wald im Freibad an der letzten Raststätte vor die auch die erste ist nach Endlich: Experten des Alltags Endlich: ohne Alltag

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Frank Schubert Fassungslos Was braucht die Schauspielausbildung in einer sich rasant ­verändernden Gesellschaft? Theater befasst sich mit den Beziehungen des Menschen untereinander und zur Welt. Das war immer ein weites Feld. Fassungslos. In ihrem Buch Warum Liebe endet1 setzt sich die israelische Soziologin Eva Illouz mit den Gefühlen in Zeiten der Konsumgesellschaft auseinander. Sie stellt die für uns wenig überraschende These auf, dass auch unsere intimsten Gefühle gesellschaftlich bestimmt sind. Was denn sonst, frage ich, denn ich bin in der DDR mit der These aufgewachsen, das Sein bestimme das Bewusstsein. So wie der marktwirtschaftliche Wettbewerb die Qualität jeden Angebots gesteigert und verändert hat, so haben sich auch die Beziehungen der Menschen untereinander verändert und mit diesen ihr Paarungsverhalten. In vergangenen Zeiten baute sich erst langsam eine Beziehung auf, die Gefühle wuchsen und irgendwann kam es zum ersten Sex. Hielt die Beziehung, dachte man an eine gemeinsame Zukunft und Kinder. Nach Eva Illouz hat sich dieses Schema umgekehrt. Sex steht nun am Anfang. Der ist »ubiquitär« und austauschbar. Das Peinliche sind die Gefühle. Der Gedanke, wie man jemanden wieder loswird, ist wichtiger als jener, wie man ihn festhält. Die sozialen Medien bieten ein unendliches Spektrum von möglichen Partnern, Gelüsten und Verführungen. Warum sollten wir auf etwas verzichten? Es geht nicht um stabile Beziehungen. Es geht um die Aufrechterhaltung einer hedonistischen Lebensweise. Um dies zu erreichen, muss sie konsequent unverbindlich sein. Nach kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten haben sich neue Strategien entwickelt, um sich auf dem Beziehungsmarkt als attraktives Produkt und begehrenswerte Marke zu behaupten. Das Bild wird zentral. Die Konzentration auf das Äußerliche folgt logisch. Wir definieren uns zunehmend als »ökonomisches Selbst«. Wer leer ausgeht auf dem Markt, der fühlt sich auch so. Leer. Wer sich heute mit Schillers Kabale und Liebe und den dort verhandelten Werten beschäftigen will, braucht starke ­Argumente. Der Mathematiker Jonathan Touboul2 hat errechnet, dass sich gesellschaftliche Trends ebenso verhalten wie unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Kapitalanleger, Menschen im Stau oder eben auch Theatermacher und -zuschauer verhalten sich genau wie andere Viel-

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teilchensysteme oder auch Atome.3 Der Mathematiker hat erforscht, wie sich Informationen verbreiten und unser Handeln beeinflussen. Die Gesellschaft besteht einerseits aus Konformisten und andererseits aus jenem Teil, der anders sein will als alle anderen. Nonkonformes Verhalten liegt im Trend, bringt zwar immer wieder neue Ideen hervor, mathematisch als Phasenübergänge bezeichnet, doch dann synchronisieren sich die Akteure und mit ihnen ihr Publikum. Eine einzigartige Idee wird zur Maske, zur Marke. Nichts anderes ist auch in der Theaterwelt beobachtbar. Castorf hat die Strukturen zertrümmert, Marthaler ist langsam, Thalheimer lässt immer an der Rampe sprechen, bei Fritsch fallen die Figuren in schrägen Kostümen ständig auf die Nase. Und alle haben ihre Epigonen im Schlepptau. Trends, wie und warum auch immer sie entstanden sind, sind gesetzt und verlangen immer wieder nach Bestätigung. Wir suchen in unserer täglichen Arbeit nach Verbindlichkeit. Was sich in vielen Diskursen aber auflöst, ist der Spieler. Ob Repräsentation noch erlaubt ist, wird zu einer zentralen Frage. Darf ich als Heterosexueller einen Homosexuellen spielen? Darf ich mich als Atheist in einen Menschen christlichen, muslimischen oder jüdischen Glaubens hineindenken? Was fangen wir mit der Hautfarbe Othellos an? Und in der Ausbildung wird ernsthaft erörtert, ob wir zukünftig »genderneutrale« Szenen für die szenische Arbeit suchen sollten. Aber es gibt plötzlich auch wieder andere Tendenzen im Theater. In Basel gibt es unter der Leitung um Andreas Beck und Almut Wagner plötzlich Konzepte, in denen die Lust am Spieler und am sich verwandelnden Menschen wieder Sprengkraft bekommt. Auch formt sich ein neues Frauenbild jenseits jeden Fundamentalismus. Svenja Flaßpöhler stellt fest: »Aktion statt Reaktion. Positivität statt Negativität. Fülle statt Mangel. Anstatt dem Mann die Schuld für das Verharren in Passivität in die Schuhe zu schieben – beruflich, sexuell, existenziell –, kommt die potente Frau in die Lust. Sie begehrt und verführt, befreit sich aus der Objektposition, ist souveränes Subjekt auch der Schaulust. Anstatt die männliche Sexualität zu entwerten, wertet sie ihre eigene auf. Anstatt den Mann für seinen Willen zu hassen, befreit sie den ihren aus der jahrhundertelangen Latenz.«4 Und wir entdecken darüber auch, dass es noch viel mehr gibt als Männer und Frauen. Indem wir uns zu den spannenden Unterschiedlichkeiten bekennen, entdecken wir menschlichen Reichtum und mit ihm die Lust an der Verwandlung neu. Wir spielen mit politischen Behauptungen, Hautfarben, Glaubensbekenntnissen und Geschlechter-

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I Präludien

bildern. Wir spielen wieder miteinander und kehren damit zu Shakespeare zurück. Wunderbar! Braucht es da nicht dringend die frischen Ideen einer neuen Generation, die etwas anderes kreieren will als eine weitere erfolgreiche Marke? Braucht es nicht Menschen, die auch jenseits von Political Correctness Respekt und Mut definieren können und Nivellierungstendenzen klar von Diversität unterscheiden? Müssen wir nicht junge Menschen fördern, die die Verantwortung für einen unvermeidlichen Kulturwandel übernehmen? Wir propagieren heute Elektromobilität, Windkraftwerke und »alternative« Handarbeit. Das ist schick. Meist akzeptieren und zementieren wir damit aber weiter eine Gesellschaft des expansiven Konsums. Es sieht nur kultivierter aus. Reisen ist heute zum Statussymbol geworden. Dabei wird jede Menge Welt verbraucht. Wovor flüchten diese Bevölkerungsmassen weltweit? Kaum hatte uns ein Virus kurzzeitig auf uns selbst zurückgeworfen, bricht die halbe (reiche) Menschheit schon wieder auf, ohne zu reflektieren, was uns die Isolation auch für Möglichkeiten offerierte. Self-Tracking liegt im Trend! Unfassbare Datenmengen werden festgehalten, verbreitet, geteilt, gepostet und zerredet, nur damit wir uns noch produktiver ausbeuten können. Die Trumps und Murdochs klatschen vor Begeisterung in die Hände. Warum kann sich eigentlich heute kaum jemand eine Welt ohne Wachstum vorstellen? Warum werden mit Alternativen sofort Einschränkungen, Verzicht und Verbote assoziiert? Weil die meisten »modernen« Alternativen vom herrschenden Kulturbild ausgehen und es somit zementieren. Aber: »Mit steigender Produktivität und mit der höheren Effizienz der menschlichen Arbeit werden wir einmal in eine Phase der Entwicklung kommen, in der wir uns fragen müssen, was denn eigentlich kostbarer oder wertvoller ist: noch mehr zu arbeiten oder ein bequemeres, schöneres und freieres Leben zu führen, dabei vielleicht bewusst auf manchen güterwirtschaftlichen Genuss verzichten zu wollen.«5 Das hat kein Ökoaktivist gesagt. Das sagte Ludwig Erhard, der »Vater des ­deutschen Wirtschaftswunders« und der sozialen Marktwirtschaft, schon 1957. Wir wissen, wogegen wir eintreten. Aber heute brauchen wir alle auch etwas, WOFÜR wir kämpfen wollen. Die Kunst war immer eine Schmiede für neue Gedankenwelten, dringend gebrauchte Utopien und Träume. Abseits der Kunst erinnern wir uns an den legendären Ausruf »I have a dream!« von Martin Luther King. Noch heute läuft uns bei dieser Rede eine Gänsehaut über den Rücken. Für solche Emotio-

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Fassungslos

nen ist eigentlich die Kunst zuständig. Dafür bilden wir aus und kämpfen um die bestmöglichen Voraussetzungen für unsere Studierenden. Wesentliche Auseinandersetzungen finden in den Medien statt, und wegweisende Ideen entstehen oft in interdisziplinär arbeitenden Kompanien und lassen sich nicht einfach in ein Curriculum integrieren. Wie müssen wir heute also Ausbildung aufgleisen? Was für ein Handwerk müssen wir ausbilden? Welche Angebote können Reize setzen, die neue Ideen provozieren und nicht nur unsere liebgewonnenen Denkmuster und Ästhetiken zementieren? Im geschützten Raum der Schule können sich junge Studierende ausprobieren, mit ihren eigenen Themen und Mitteln in Sackgassen rennen und straffrei scheitern. Sie werden auf diesem Wege zu ihren Inhalten und zu ihrem individuellen Stil finden. Sie werden zu sich selbst finden, wenn wir ihnen den Raum geben und sie ihn auch selbstbewusst nutzen. Dann werden sie vielleicht nicht als Bittsteller mit einem dicken Koffer voller hervorragender Werkzeuge an die Türen der Theater klopfen, um sich einer möglichst etablierten und erfolgreichen Marke zuordnen zu dürfen. Sie werden mit ihren eigenen Ideen einfach eintreten. Soweit das Ideal. Vertreten wir aber diesen Gedanken tatsächlich, dürfen wir unsere Aufgaben an den Schauspielschulen mutig überdenken. Wir wissen, dass dies nicht einfach ist, denn wir stecken bereits mitten in diesem ­Prozess. Das Theater steht seit der Antike in der Tradition, ein Forum des öffentlichen und demokratischen Disputs über gesellschaftliche Entwicklungstendenzen zu sein. Diese Funktion wäre gerade heute, wo die Idee der Demokratie immer mehr an Boden verliert, wieder interessant. Die mehrtägigen Spiele in der Antike, für die alle mündigen Bürger bezahlten Urlaub bekamen, um die grundsätzlichen gesellschaftlichen Entwicklungen über künstlerische Angebote zu reflektieren, waren ein revolutionärer Gedanke, und das wäre er auch heute wieder. Eine umfassende gesellschaftliche Retraite, um grundsätzliche Themen zu debattieren, die über die tagespolitischen hinausreichen und niemanden ausschließen. Was für ein Gedanke! Ja, ich weiß, das ist völlig utopisch, und natürlich vergesse ich auch nicht, dass die meisten Frauen und alle unfreien Menschen, die die tägliche Drecksarbeit machten, damals ausgeschlossen waren. Aber wir könnten nach weit über 2000 Jahren ja auch ein wenig dazugelernt haben. Angesichts der Totalverblödung durch die Medien, flächendeckenden Überwachung und Klimakatastrophe. Wir wissen heute auch, dass das World Wide Web diese unglaubliche Chance gründlich verspielt hat. Aber eventuell hatte es die Chance auch nie. Vielleicht müssen sich die Menschen

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I Präludien

persönlich begegnen, um sich verstehen zu können. Das Theater wäre noch immer ein Ort, wo dies möglich wäre. Wir besitzen für eine moderne gesellschaftliche Debatte mit den Mitteln des Theaters wahrscheinlich alles, was Julia Kiesler in ihrer Auseinandersetzung mit dem Regisseur Laurent Chétouane beschreibt: »Eine offene Raumspannung, in der eine Verbindung zwischen den Akteur/-innen untereinander und zu den Zuschauer/-innen besteht, eine hohe körperliche Präsenz, die vor allem über die Öffnung der Wahrnehmung in alle Richtungen des Raums hergestellt wird, sowie ein hohes Reflexionsbewusstsein. Hinzu kommt die Fähigkeit, sich einer emergenten Situation vor und mit einem Publikum auszusetzen, in der sich Wirklichkeiten ereignen und sich der Text vergegenwärtigt.«6 Julia Kiesler umreißt damit ein erweitertes Spektrum von handwerklichen Anforderungen, vor die wir unsere Studierenden zu stellen haben. Es war einmal so einfach. Als ich in meiner Ausbildung steckte, war die Welt klar aufgeteilt. Es gab den Osten und den Westen. Innerhalb der DDR war der Feind definiert und das Theater bot Theatermachern und Publikum gleichermaßen eine subversive Plattform. Vieles musste verschlüsselt erzählt werden, und das war die Chance für interessante Formen, Strukturen und überraschende Mittel. Das kollektive Erlebnis war Treibstoff für den Alltag sehr vieler Menschen. Ich konnte sowohl mit dem statt-theater FASSUNGSLOS7 als auch im Schauspielhaus Dresden oder im Nationaltheater Weimar diese verbindende Energie zwischen »oben« und »unten« geradezu körperlich spüren. Es gab keine geteilten Fronten. Das kollektive Erlebnis war zweifellos ein Genuss. Für kurze Zeit konnte man der Faust in der Tasche frische Luft geben. Es dauerte eine ganze Weile, aber irgendwann steckten die Leute die Faust beim Verlassen des Theaters nicht mehr in die Tasche zurück. Das sollte dann zu einem sehr überraschenden Aufbruch werden. Und wieder war es die Kraft der Gruppe, die so viel Energie in jedem von uns freisetzte. So wichtig der westliche Individualismusbegriff auch war, er konnte mit dieser Kraft nicht mithalten. Die Freiheit des Einzelnen war und ist ein wichtiges Gut. Doch ich denke, Politik und Wirtschaft hatten und haben nach wie vor Grund, den Individualismus mit allen Mitteln zu fördern. Er vereinzelt Gedanken, Ideen und Kräfte. Und vereinzelt werden Menschen ungefährlich. Es ist sicher ein wunderbares Gefühl, wenn sich heute die vielen Schüler und Studierenden auf den Klimademos zusammenfinden. Wahr-

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scheinlich wundert es viele, dass dabei eine Kraft entfesselt wird, die die Welt tatsächlich verändern kann. Seit 1989 habe ich eine solche Kraft nicht mehr gespürt. Das ist allerdings auch einem Gegner zu danken, der sich immer mehr aus der Deckung traut und die Welt mit nationalistischem Gedankengut und Mauerdenken vergiftet. Die Welt teilt sich wieder, Fronten werden sichtbarer und die Kunst positioniert sich immer klarer. Mit der Globalisierung ist die Welt schon lange widersprüchlicher und komplizierter geworden, und mir scheint, schon längst ist eine tiefe Sehnsucht nach Lebens- und Arbeitskonzepten erwacht, mit denen man den Herausforderungen der Gegenwart gemeinschaftlich begegnen kann. Die Gesellschaft verändert sich tiefgreifend, und das Theater verändert sich mit ihr. Kollektive Arbeitsweisen, Stückentwicklungen und die damit einhergehenden Arbeitsmethoden sind auch im Stadttheater angekommen. Das Theater braucht heute junge Menschen, die sich in der vielschichtigen und weit gefächerten Theaterszene neu verorten und diese kreativ mitbestimmen. Auch an unseren Schulen bewegen uns sowohl der rechtsgerichtete Nationalismus als auch die Klimabewegung. Es irritiert uns, dass die Linke zu dieser Gegenwart offensichtlich nicht mehr viel zu sagen hat. Dafür greift die Genderbewegung tief in den Alltag ein, Verhaltensnormen verändern sich und manches führt zu Unsicherheiten und Irritationen. Gerade auch in der Schauspielausbildung, wo sich Menschen sehr nah kommen. Theater reißen sich heute zunehmend um gut ausgebildete Spieler und Spielerinnen, die nicht dem mitteleuropäischen Standard entsprechen, und die Klassen an den ­Schauspielschulen setzen sich nicht nur deshalb immer internationaler zusammen. Wir fühlen die Verpflichtung, eine Erinnerungskultur wachzuhalten, die um die Anbindung an unsere Vergangenheit ringt, um eine Gegenwart erklären zu können, die bereits eine Zukunft fühlbar macht, welche mit unserer vertrauten Gesellschaftsorganisation nicht mehr viel zu tun haben wird. Schon lange wissen wir, dass sich Regisseurinnen und Regisseure nicht mehr um die Entwicklung der Schauspielerinnen und Schauspieler kümmern wollen und können. Sie brauchen auf der Bühne Menschen, die ihre Figuren, Konzepte und Ästhetiken eigenständig mitentwickeln und vertiefen können. In einer Zeit, in der scheinbar alles möglich und erlaubt ist, steigt dabei die Verantwortung des Einzelnen. Was ist Mut in der Theaterarbeit? Wie viel Respekt braucht das Theater und wovor? Hat das Theater eine Verantwortung? Und wenn ja, welche? Hat das Theater einen Bildungsauftrag?

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I Präludien

Eine Entwicklung eilt dem Theater gerade indirekt zur Hilfe. Musik hat ein Millionenpublikum. Gerade ist durch die Medien gegangen, dass die Hitparaden weitgehend manipuliert sind, indem ein Möchtegernstar, bzw. sein überambitioniertes Management, Klicks im Netz kaufen kann, solange das Geld reicht.8 Das organisieren ihnen Hacker. Aus diesen manipulierten Zahlen werden dann die Hitparaden gemacht. Das Publikum ist zu Recht frustriert. Damit nicht genug. Jeder kann jede Musik gratis irgendwo herunterladen. Das WWW macht es möglich. Musiker verdienen kaum noch etwas an Tonträgern oder mit anderen medialen Veröffentlichungen. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass der Live-Act auch ökonomisch wieder an Bedeutung gewonnen hat. Das Live-Erlebnis erobert wieder eine bedeutendere Stellung im Konsumspektrum. Kann das Theater von dieser Tendenz profitieren? Wir erleben heute im Theater interdisziplinäre Arbeiten fast schon als Selbstverständlichkeit. Wo Musiker, Schauspieler, Tänzer und Medienkünstler sich gleichberechtigt treffen, entstehen auch auf alten Bühnen ungewohnte Angebote, die uns als Zuschauer produktiv herausfordern können. Das ist sowohl für Akteure als auch für die Zuschauer eine Lust. Diese Lust lässt kollektive Arbeitsweisen immer attraktiver werden. Längst haben sich unterschiedliche Arbeitsmodelle auch an vielen Theatern durchgesetzt, die früher nur der freien Szene vorbehalten waren. Auch hat das Nachdenken über kollektive Arbeitsweisen bereits in unsere Überlegungen über Ausbildungskonzepte Einzug gehalten. Zumindest bei uns in Bern. Diese Arbeitsweisen werden zunehmend zu einem zentralen Element und können die Theaterlandschaft weiter verändern. Mit ihnen finden andere Inhalte den Weg auf die Bühnen, die Mittel entwickeln sich, und die Probenmethodik verändert sich in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Beteiligten. Es gehört also zur Natur der Sache, dass die Vermittlung kollektiver Arbeitsweisen schwierig ist. Aber wir können Voraussetzungen schaffen, die solche Arbeitsweisen möglich machen. Sie können ausprobiert werden. Die Arbeitsweise verändert sich mit jeder Besetzung. Mischen sich die Genres, wird es nicht selten kompliziert. Unterschiedlichste Arbeitsweisen und -methoden treffen aufeinander und suchen einen gemeinsamen Weg. In der Arbeit mit Kay Voges treffen bereits in der ersten Probe die Darsteller auf die beteiligten Medienkünstler, Musiker und Tonspezialisten. Ist das nicht zu organisieren, beginnt Voges gar nicht mit der Arbeit. Alle sind gleichermaßen an jeder einzelnen Probe beteiligt. Er lässt sie, oft ohne Vorgaben und konkrete Zielsetzungen, frei aufeinandertreffen. Ganz sicher sind auch die Aufführungsergebnisse in

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Fassungslos

Inhalt, Form und Struktur untrennbar mit der kollektiven Vorgehensweise verknüpft. Dabei geht es nicht vornehmlich um demokratische Strukturen in den Arbeitsprozessen. Es geht nicht um ein politisches Ideal. Es geht um eine Unverwechselbarkeit in Inhalt und Ästhetik. Es ist eine Frage der Qualität. Sie ist von den unterschiedlichen Stärken, Schwächen und Kompetenzen der jeweiligen Beteiligten geprägt. Die unterschiedlichsten Perspektiven auf einen Gegenstand finden zueinander. Sinn und Ziel ist nicht die Aufhebung von Hierarchien oder die Suche nach immer neuen Arbeitsweisen, und doch verändern sich diese im Prozess fundamental. Auf unseren Bühnen reiben sich heute Mittel und Methoden aneinander, die vor noch nicht allzu langer Zeit schön geordnet unterschiedliche Räume besetzten. Der Dresdner Schauspieler und Liedermacher Dieter Beckert prägte einmal den Begriff der Brachialromantik: Performer schnitten sich ins eigene Fleisch, das rostige Rad vor der Volkbühne wurde zum kulturpolitischen Statement und eine Band wie Rammstein bewegte sich in einer Bildwelt zwischen Joseph von Eichendorff und Metropolis. Das alles lebt noch immer und trifft auf Memes, die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, auf 8kun und Incel. Und mittendrin erfreuen sich Shakespeare, Schiller und Heiner Müller bester Gesundheit. Die Kunstwelt ist reicher, aber auch widersprüchlicher geworden. Der Fachbereich Theater an der HKB war immer ein Schmelztiegel für die unterschiedlichsten Tendenzen. Bern hat für eine moderne Schauspielausbildung viel geleistet und auch an anderen Schauspielschulen hat sich bereits viel getan. Das eint uns. Nun brauchen wir Vertiefung! Eine weitere Frage bewegt mich als Lehrenden in diesen Prozessen immer mehr. Wie viel müssen und dürfen wir unseren Studierenden bieten? Mir wurde in meinem Studium an der damaligen Theaterhochschule »Hans Otto» in Leipzig selektives Lernen bescheinigt. Das war ein sehr kritischer Punkt. Auch heute reagieren wir auf so ein Lernverhalten vor allem ablehnend und verweigern die entsprechenden ETCS-Punkte. Aber warum sollen sich die Studierenden nicht auf Dinge konzentrieren können, die ihnen in diesem Moment wichtiger sind und uns vielleicht nichts angehen? Nimmt der verschulte Bewertungsund Belohnungsmechanismus die Studierenden wirklich ernst? Sollten wir ihnen nicht zeigen, dass sie jederzeit zu uns kommen können, wenn sie uns brauchen, und uns sonst viel stärker zurückhalten?

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I Präludien

­ ollten wir uns nicht darauf konzentrieren, dass sie weitgehend eigenS ständig arbeiten können? Unsere Aufgabe ist es weder mit ihnen zu üben noch ihnen unsere Theaterauffassungen überzustülpen. Wie bringen wir sie in die Lage, ihre eigenen Ideen praktisch umzusetzen? Das ist die Frage. Dafür müssen wir ihnen das nötige Handwerk an die Hand geben, die nötigen Voraussetzungen schaffen und das entsprechende Wissen vermitteln. Die Studierenden sollten nach sechs Semestern in der Lage sein, eigenständig künstlerisch zu arbeiten. Viele sind es heute ganz sicher nicht. Sie haben oft gehört, was eigenständige Arbeit bedeutet, haben es aber nie erlebt, haben es nie wirklich versuchen können. In der Samstagsausgabe meiner Tageszeitung lese ich in »Summa cum gaudi« von Nina Kunz: »Bologna ist super für Leute, denen man in den Hintern treten muss, aber es ist der Horror für alle, die ob diesem Reward-Mechanismus durchdrehen.«9 Wir sollten unsere Studierenden begeistern können, nicht kontrollieren. Wir sollten ihre Begeisterung mit unserer verschmelzen. Unser Beruf baut auf gemeinsame Begeisterung und die Kraft, die wir uns gegenseitig geben können. Begeisterung. Ist das ein schwammiger Begriff? Nein. Begeisterung bedeutet, etwas als sinnvoll zu erachten und lösungsorientiert arbeiten zu können. Begeisterung ist lern- und lehrbar und keine Charaktereigenschaft. Und wir wissen, dass Begeisterung ansteckend sein kann. Und schon im Grundlagenseminar lernen und lehren wir, wie das funktioniert. Gehen wir also an die Arbeit. 1 Eva Illouz: Warum Liebe endet, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 2 Jonathan Touboul ist außerordentlicher Professor an der Brandeis Universität in Waltham, Massachusetts. Er befasst sich u. a. mit der mathematischen ­Analyse dynamischer Systeme und mit stochastischen Prozessen. 3 Vgl. Patrick Illinger: »Der Hipster-Effekt«, in: Der Bund, 9. März 2019, S. 32. 4 Svenja Flaßpöhler: Die potente Frau, Ullstein Buchverlage, Berlin 2018, S. 44. 5 Ludwig Erhard: Wohlstand für alle, Econ Verlag, Düsseldorf 1957. 6 Julia Kiesler: Der performative Umgang mit dem Text. Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater, Recherchen 149, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2019, S. 237. 7 Das statt-theater FASSUNGSLOS, beheimatet in Dresden, war eine freie Kompanie aus spielenden, musizierenden und tanzenden Menschen, die vor allem in der Zeit zwischen 1984 und 2000 mit Stückentwicklungen und Adaptionen, die in kollektiver und interdisziplinärer Arbeitsweise entstanden, im deutschsprachigen Raum erfolgreich war. 8 Siehe hierzu: youtube.com/watch?v=qiqYuSQwkHo (letzter Zugriff am 12. Januar 2021). 9 Nina Kunz: »Summa cum gaudi«, in: Das Magazin. Beilage zur Tageszeitung Der Bund, 2. Februar 2019.

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Frank Schubert und Martin Wigger Schauspielausbildung in Bern – zwischen den Welten Über Autorschaft, Handwerk und Performance im »Berner Kosmos« Bern wurde von Beginn an ein freies Modell zugeschrieben. Die reiche Geschichte der Schule hatte immer eine vor allem sprengende Kraft. Schon in dem Dokumentarfilm In fremden Landen aus dem Jahr 1994 von Markus Baumann und Hugo Sigrist über eine Berner Absolventenklasse kann man diese Kraft spüren. Da gab es bereits starke Persönlichkeiten, die einen Gegenpart zu den üblichen Vorsprechsituationen bildeten. Persönlichkeiten mit starkem Widerspruchsgeist. Bern reagierte extrem früh auf das postdramatische Theater und die Performancekunst. Das Regietheater schien schon damals am Ende, man suchte nach neuen Formen, nach einer neuen Energie und auch nach einer anderen Körperlichkeit. Der Begriff Performance bedeutet wörtlich, dass man durch eine Form hindurchgeht, sie erlebt, um vielleicht zu einem wahren Subjekt zu kommen. Performancekunst ist auch Bestätigung eines Subjektes, Betonung einer Autorschaft. Die Idee der Autorschaft, gekoppelt an den Performancebegriff, war in Bern immer stark. Jetzt sind wir in einer Zeit angekommen, in der Autorschaft übergreifend durchgesetzt ist. Es wird nicht nur auf das Handwerk gesetzt, sondern vor allem auf die Persönlichkeit. Der Professionalisierungsprozess begann vor zwanzig Jahren. Solides schauspielerisches Handwerk rückte ins Zentrum der Ausbildung, ohne dass performative Tendenzen negiert wurden. Bis heute steht man an dieser Stelle zwischen den Welten. Mitunter werden kreative Freiräume zugunsten einer breiten Vermittlung unterschiedlicher Techniken und Methoden aufgegeben, die die zeitgenössische Praxis mit ihrer größeren Vielfalt an Spielweisen verlangt. Heute stehen wir vor der Frage: Wie lassen sich die notwendigen kreativen Freiräume weiter aufrechterhalten, ohne dass die Absolventen die Chance verlieren, von ihrer Arbeit zu leben? Bereits das Grundlagenseminar vereint die Welten in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit. Am Anfang stehen immer die unverwechselbare künstlerische Persönlichkeit, der individuelle Ausdruck und die persönlichsten Inhalte der Studierenden. Das schauspielerische

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I Präludien

Handwerk ist nur als Mittel zum Zweck zu sehen. Das führte zu völlig neuen Programmpunkten im Grundlagenseminar, die das klassische Programm ergänzten. So wurde eine Ausbildungsphilosophie praktisch konkret, die sich von anderen Schulen deutlich unterscheidet, obwohl sich nach wie vor einzelne Positionen im Curriculum decken. Wir legen vom ersten Studientag an die Basis für ein Bewusstsein, das in regelmäßigen Projektarbeiten und Laboren kontinuierlich vertieft wird und auch das klassische Szenenstudium nachhaltig beeinflusst. Ein Szenenstudium ist nicht nur szenisches Arbeiten mit dem Hauptziel der Vertiefung schauspielerischen Handwerks. Im Wortsinn studieren wir die Szenen. Das bedeutet, wir erforschen einen Autor, seine Figuren, seine Denkweise und den Text in seinen spezifischen Besonderheiten; das setzen wir dann möglichst persönlich ins Verhältnis zu unserer Gegenwart. In den höheren Semestern führt die Arbeit an den Figuren, den Vorgängen, Konflikten und an der Sprache direkt zu der Frage nach einer Spielweise, die uns aus der zementierten Identifikationsfalle führt. Welche Nähe oder Distanz zu einem Stoff ist nötig? Mit dieser Frage hat schon Brecht gekämpft. Es geht also nicht mehr zentral um die Verkörperung, sondern darum, sich persönlich und vertieft mit den von einem Autor vorgeschlagenen Konflikten auseinanderzusetzen. Und so landen wir auch immer wieder bei der Frage: Wer bin ich, wenn ich spiele? Die prozessorientierte Arbeit steht im Mittelpunkt, nicht die attraktive Präsentation. In »Intervisionen« werden Teilergebnisse klassenintern vorgestellt und diskutiert. Am Ende werden die Arbeitsergebnisse dann schulintern in »Werkgesprächen« zur Diskussion gestellt, bevor sie in einem »WorkOut« auch interessierten Freunden der Schule präsentiert werden. Die Studierenden sind dazu aufgerufen, einen gesellschaftlich relevanten Diskurs aufzunehmen oder zu entzünden. Mit einem solchen Prozess kommen wir neben der Regie, dem Spiel und dem Autor zu einem letzten Aspekt von Autorschaft: der Autorschaft des Publikums. Dieses will hinein in die Prozesse. Es will mitdenken. Es will ebenfalls Freiheiten. So können wir tatsächlich alles rund denken. Die Welt, die Bühne, das Theater und die Schauspielausbildung. Immer mehr Berner Absolventen behaupten sich in der Theaterpraxis gegenüber diesen Prozessen. Wir sehen, wie es beispielsweise Gina Haller in Johan Simons’ Hamlet in Bochum gelingt, sich den erfahrenen Kolleginnen und Kollegen zu stellen. Man spürt, sie will etwas wissen. Man staunt über eine Art von Selbstverständlichkeit, die

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Schauspielausbildung in Bern – zwischen den Welten

sich sowohl physisch als auch intellektuell zeigt. Auch Absolventen wie Kay Kysela und Maximilian Reichert, die fast schon zu Protagonisten am Schauspielhaus in Zürich wurden, geben ein besonderes Beispiel, was der »Berner Kosmos« auszurichten vermag. Und das sind nur einige Beispiele von vielen. Diese jungen Künstler haben etwas zu erzählen. Sie stellen sich in all ihren Eigenarten auf die Bühne und erzählen gerade dadurch sehr viel mehr als andere, die vor allem auf ihr Handwerk und ihr Können zurückgreifen. Handwerk als Mittel zum Zweck. Und der Zweck ist oft genug eine radikal persönliche Geschichte, die erzählt werden muss. So provoziert Tabea Buser in ihrem Projekt 5 DEZI den »Nunc stans«. Sie sucht diesen einen Moment, in dem die Zeit anhält, um in die Tiefe zu kommen – ein Moment vergleichbar mit einer ernst gemeinten Hochzeit, der bewusst erlebten Geburt eines Kindes oder dem Todesfall eines geliebten Menschen. Sie nennt es einen göttlichen Moment. Solche Momente suchen zwischen den Welten. Sie beschreiben eine Zwischenwelt, in der sich zwei verlorene Hälften treffen, die zueinander gehören. Der Gedanke erinnert an Platons Bild der Kugelmenschen. Wir suchen den »Nunc stans«, das Stehenbleiben, um zu einer Art von Bestandsaufnahme zu kommen. Immer wieder. Und heute findet diese Bestandsaufnahme in einer Zeit statt, in der sich das Theater auch in einer neuen Form physischer Auseinandersetzung befindet. Ein Virus hat unseren gesamten Rhythmus zerstört. Der Spielbetrieb der Theater, mit ihm die Spielpläne, die Räume, die physische Nähe von Darstellern und Darstellerinnen, Zuschauern und Zuschauerinnen und natürlich auch die Lehrpläne aller Schulen stehen auf dem Prüfstand. Was kann da entstehen? Und was entsteht aus einer Berner Schauspielausbildung für die Zukunft? Es bedeutet die vertiefte Suche nach einer Subjektivität, die das Subjekt noch gar nicht kennt. Es kann sehr produktiv sein, eine entstehende Leere zu füllen. Wir haben die Chance, den Rucksack tatsächlich neu zu packen, und besinnen uns darauf, dass am Berner Modell eine umfassende Direktheit auffällt. Unser Kollegium sucht die Momente, die aus der Gegenwart herausstechen. Zu einem Studium, auch zu einem Szenenstudium, gehört Forschungsarbeit, also die Suche nach dem, was wir noch nicht wissen. Und da schließen wir uns als Dozierende ausdrücklich mit ein. Das Studium einer Szene kann zu formal interessanten, sogar außergewöhnlichen Erfindungen führen. Zu Metaphern, Mitteln und Struktu-

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I Präludien

ren jenseits eines Planes. Das weckt eine große Lust an der Verwandlung und an ungewöhnlichen spielerischen Ausdruckformen. An den Berner Studierenden fällt auch immer wieder eine außergewöhnliche Bereitschaft auf, über Themen nachzudenken, die das Theater strukturell betreffen. Man weiß, dass man nicht unbedingt an ein klassisches Theater gehen muss. Man muss sich nicht einem Regisseur beugen, der einem sagt, was man zu denken und zu spielen hat. Die Fähigkeit, sich einer Autorität verweigern zu können, wird Teil unseres täglichen Lebens und Arbeitens. Sie hilft, Angst zu überwinden, und kann zu einer extrem optimistischen Grundhaltung führen. Immer erfolgreicher brechen viele der Berner Absolventen mit zementierten Konventionen. Sie verweigern sich produktiv der institutionellen Autorität des Theaters, ohne die Institution als solche infrage zu stellen. Melina Pyschny am Theater Aachen oder Julia Gräfner, die gerade aus Graz nach München gewechselt ist, nutzen die Institution auch für ihre eigenen Projekte und verändern diese damit produktiv. Es sind nur zwei Beispiele von vielen, die heute ein Denken fortsetzen, das sich schon vor Jahren durchzusetzen begann. Schon eine Künstlerin wie Ariane Andereggen, die in den 1990er Jahren in Bern studierte, verkörpert das Gesamtmodell einer Darstellerin, die im Schauspiel ebenso zu Hause ist wie in der Videokunst oder der Bildenden Kunst. Das Berner Modell will das Selbstbewusstsein und die Persönlichkeit stärken. Das entspricht der Emanzipation als Grundidee von Theater. Denkt man in der Geschichte zurück, hatte Theater nie eine andere Funktion. Mit einem eigenen körperlichen Ausdruck kann sich der Mensch im Theater von seinem bisherigen Verhalten emanzipieren. You can always think the opposite! Bern hat genau das immer wieder versucht, und wir dürfen in diesem Prozess nicht müde werden. Es ist dem Theater eingeschrieben, ständig über sich selbst hinauszudenken. Heute, da wir uns so oft zwischen Welten stehend wiederfinden, ist es schwierig geworden, sich zu positionieren. So funktioniert das eine Berufsmodell nicht mehr, auf das gängige Ausbildungskonzepte hingezielt haben. Wir leben in einer Zeit großer Zuschreibungen. Im Augenblick gehen weltweit Menschen gegen Rassismus auf die Straße und zeigen physische Präsenz. Darstellerinnen und Darsteller können viel mehr zum Ausdruck bringen, als es Menschen tun können, die nicht geschult sind in ihrem Auftreten. Die amerikanische Soziologin Judith Butler spricht in diesem Zusammenhang von Körperallianzen: Ein Mensch geht eine Allianz mit einem selbstbewussten Körper ein, vielleicht sogar mit den Leuten, die an Schauspielschulen ausgebildet wurden, um darüber die eigene physische Kraft zu potenzieren. Dafür

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brauchen wir die permanente intensive Verbindung zur Außenwelt, die für die Studierenden im Ausbildungsalltag gar nicht leicht aufrechtzuerhalten ist. Wir müssen uns verhalten. Theater war von seiner Geburtsstunde an nichts anderes als die Herausforderung, sich der Welt unter Einsatz des ganzen Körpers zu stellen.

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»Das Geheul« nach Allen Ginsberg, BA-Projekt von Timo Jander und Lea Jacobsen, Foto: Frank Schubert


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Martin Wigger Das The- mit dem Theater Variationen über Theorie im Schauspielunterricht 1. ANFANG

Am Anfang steht ein Ende Jeden Freitagnachmittag: sich sammeln für den Unterricht in Bern. Verbunden mit einer einstündigen Anreise aus einer anderen Schweizer Stadt. Spürbar über allem das schon nahe Wochenende. Wie oft habe nicht nur ich, sondern haben auch die Studierenden in den vergangenen Jahren, seit ich Theorie für Schauspiel an der HKB unterrichte, diese eine Frage gestellt: Warum ausgerechnet kurz vor dem Ende einer ereignisreichen Woche diese Disziplin? Warum nicht frisch zu Wochenbeginn, montags gegen 9 Uhr nach der ersten Stunde Qigong, eine wache Doppelstunde Theorie? Die Möglichkeit dazu hätte sicher bestanden. Bei entsprechender Nachfrage hätte auch die Departmentsleitung sich überzeugen lassen. Die Auseinandersetzung mit Theorie, in diesem Fall Schauspieltheorie, braucht wache Köpfe. Sie setzt das Gegenteil von Erschöpfung voraus. Und vor allem: Die Beschäftigung mit ihr muss überzeugen und natürlich auch Spaß m ­ achen. Aber eben: Verschoben wurde der Unterricht bis heute nicht. Denn irgendetwas scheint an seinem (späten) Zeitpunkt richtig zu sein. Gerade das spürbare Wochenende, der verstrichene volle Stundenplan, auch das Gefühl, sich noch einmal für einen gemeinsamen theoretischen Entwurf einzufinden, haben an dieser Stelle offenbar ihre Berechtigung. Man blickt im besten Fall zusammen zurück: auf persönliche Erlebnisse, auf Politik im Großen wie im Kleinen – und auf das Theater. Ist Theorie so rückwärtsgewandt? Im besten Fall fällt alles zusammen Der Einstieg in den Unterricht muss gelingen. Wenn es eine pädagogische Erkenntnis aus all den Jahren gibt, dann diese: Ist die These am Anfang nicht hoch gesetzt und überzeugt mich nicht, gelingt auch der ganze Rest nicht. Es ist wie eine Lunte, die ausgelegt werden muss. Ein Teaser, der überrascht und sich dann im Unterricht zu neuen Erkenntnissen ausrollt. Und ja, dieser Aufmacher zu Beginn des Unterrichts hat durchaus etwas mit einem Zurück zu tun.

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II LEHREN

In der Theorie geht es immer um das Schauen auf etwas – und da das, auf was man schaut, einer gegenwärtigen Überprüfung unterliegt, ist der Gegenstand der Betrachtung etwas Zurückliegendes. Aus der Vergangenheit speist sich die gegenwärtige Perspektive, aus der heraus sich wieder Künftiges entwickelt. Das klingt vielleicht beim Lesen komplex, dieser Vorgang ist aber tatsächlich nichts anderes als das Entwickeln von Theorie. Direkt aus einer Mitte heraus: dort der Gegenstand, hier der Betrachter, dort wiederum eine künftige Idee. Das ist der inhaltliche Kontext. Etymologisch hängt die Theorie sogar eng mit dem Theater zusammen. Wem es nicht bekannt ist: Das Präfix The- rührt vom altgriechischen Verb »theastai« her und bedeutet »anschauen«, »betrachten«. Es belegt sprachlich den oben beschriebenen Zusammenhang. Aus dem, was wir als Zuschauende im Theater betrachten, entwickeln wir anschließend eine entsprechende Auffassung unserer Betrachtung, zum Beispiel über die Schauspieler, ihren Spielstil, die Ästhetik oder das Theater im Allgemeinen. Die Setzung hier: Beim Theater nimmt in unserem – allein sprachlich definierten – Kulturverständnis eine erste Form von Theoriebildung ihren Ausgang. Diese erste Theorie ist eine sehr persönliche, weil sie eine individuelle Auffassung beschreibt, und erfährt, wenn sie ausgesprochen wird, sogleich eine Verallgemeinerung durch den Versuch, sie nach außen zu begründen oder abzusichern. Das Außen wird zur Relation, zu einer Differenzierung, zu einem Bezug innerhalb eines Rahmens, der größer ist als das, was man gesehen hat und nun beschreibt. Die Etymologie ist auch hier wieder interessant. Der antike Mensch benannte diesen Bezugsrahmen ebenfalls mit einem Wort, das mit The- beginnt. Es ist der Theos, die Bezeichnung für »Gott« oder besser die Götter, da es im antiken Athen ja viele davon gab. Theater, Theorie, Theos. Und zwar in dieser Reihenfolge. Am Ende kommt ein Anfang Bei all diesen Versuchen, einen ersten Grund zu legen – der interessanterweise den meisten Studierenden zu abstrakt und damit eher als Bestätigung der befürchteten Trockenheit von Theorie erscheint, mir persönlich aber als Ausgangspunkt im Sinne eines einsichtigen Zusammenhangs sehr gefällt –, ist die eigene Zeit, in der man sich gerade befindet und von der aus man seine Position entwickelt, unmittelbar wichtig. Bleiben wir bei Theater als behauptetem Anfang jeder guten Theorie aus eigener Anschauung, so erhält die Gegenwart eine große Bedeutung. Jede Theorie über das Theater bzw. das Schauspiel muss aus ihrer jeweiligen Entstehung heraus verstanden und gegenwärtig

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Das The- mit dem Theater

adaptiert werden. Wir verstehen Konstantin Stanislawski als immer noch gültigen modernen Vertreter von Theorie am besten aus seiner Zeit heraus: ein Plädoyer für hohe Emotionalität und Einfühlung mit dem auch politischen Ziel einer physisch spürbaren Zugehörigkeit zu einem auseinanderbrechenden Russland. Ebenso verhält es sich mit seinem Weiterdenker, längst nicht Gegenspieler und immer noch zweiten gültigen Theoretiker der Moderne, Bertolt Brecht, dessen Idee von Verfremdung und Ausbruch politisch den Folgen einer physisch entfremdenden Industrialisierung geschuldet war. Im Spiel wie in der Diskussion dieser beiden Theatertheoretiker, zwischen deren Polen sich bis heute unser Theater interessanterweise bewegt, egal ob realistisch, dokumentarisch oder performativ, müssen diese vergangenen Ansichten jeweils neu angeeignet werden. Dies ist kein Nachteil, sondern eher eine Chance, mit ihnen frei und selbstbewusst umzugehen und sich wie in einer Art Baukastensystem das für das eigene Spiel oder das eigene Denken Relevante herauszuziehen. Wo ist eigentlich ein dritter großer Theoretiker?

2. MITTE Und schon wieder sind wir am Anfang Nach meinem Plädoyer für die unmittelbar gegenwärtige Verhandlung und Aneignung von Theorie mag es überraschen, wenn ich gleich wieder auf die Antike zurückkomme. Aber dieser Schritt lohnt. Denn sich mit der Antike auseinanderzusetzen, gleichgültig in welchem Bereich, bedeutet wirklich, die Grundlagen von ihrem kleinsten, manchmal auch naivsten Nenner aus kennenzulernen. In unserem Fall lässt es konkret verstehen, dass Theater und Theorie strukturell eng miteinander zusammenhängen. Aristoteles – allein die Nennung seines Namens lässt die Studierenden eher erschrecken. Da ist man gerade am Beginn seines Studiums, möchte möglichst schnell losfliegen, und zwar nach vorn, und wird mit der Antike und einem ihrer größten Theoretiker konfrontiert. Und nicht nur das: Aristoteles stelle ich gern als den bis heute exzellentesten Denker über die Gesetzmäßigkeit von Theater vor. Apropos hoher Einstieg: Hier ist er besonders nötig. Lange Geschichten über die historische Entstehung von Theater lasse ich außer Acht. Auch die Behandlung von Masken, Kothurnen, Versmaß hat in diesem Kontext nichts zu suchen. Ich beginne mit der Architektur von Theater. Und damit wirklich mit Struktur, einer äußerst sichtbaren obendrein.

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II LEHREN

Das antike Theater war eigentlich ein Unglücksfall. Und dieser Einstieg ist nun wirklich hoch. Er rechtfertigt gleichzeitig den frühen Einsatz von Aristoteles, der mit seiner rein physischen Betrachtungsweise von Theater diese erste Dimension vollends verstanden hat. Die Dimension eines tragischen Unfalls, bei dem wegen völliger Überlastung die hölzernen Sitzbänke des ersten Theaters auf dem Marktplatz von Athen zusammengebrochen waren und offenbar auch Menschen starben. Frühe Augenzeugen berichten, dass es seinerzeit hoch herging bei diesem neuen, die Geburt der Demokratie begleitenden Medium. Da sitzt jemand vor dem Publikum und stellt etwas vor Augen, eine Art eigenes Denken, das sich erstmals von religiösen Vorgaben emanzipierte. Dieses laute Denken wird zu einem inneren Denken beim Publikum, und damit schon zu einer Theorie, die unmittelbar auf die Praxis der Aufführung angewiesen ist. Und lässt ganze Zuschauerreihen in sich zusammenbrechen. Just hier erfolgt der Zusammenschluss von Aristoteles und Architektur: Die hohe Emotionalität, die dieser Vorgang des nachvollziehenden Denkens damals ausgelöst hat (für uns heute nur noch bedingt nachvollziehbar, weil fast 2500 Jahre Kulturentwicklung dazwischenliegen), die Aristoteles komplex in ihrer Wirkungsweise mit dem Schlagwort der Katharsis beschreibt, führt zu einem einsturzsicheren, steinernen und völlig neuen Theater am Abhang der Akropolis. Dieser neuen Architektur liegt ein ausgeklügeltes Konzept zugrunde, allein sie ist schon wieder Theorie: Denn diese Architektur ist in Konzeption, Ausrichtung, Zuschaueranordnung, auch Akustik so ausgeklügelt, dass sich daraus ein komplexes System von Aufführungspraxis entwickelt hat, die, und das ist das Faszinierende, bis heute kaum Veränderungen erfuhr. Da baut man ein Theater, füllt es in den nachfolgenden Jahrhunderten mit immer neuen Stücken und Ideen, und ändert es eigentlich nicht in seiner Grundstruktur. Außer dass man es später überdacht hat. Und an Fürstenhöfe angeschlossen hat. Aber die äußere, auch die innere Struktur ist bis heute die gleiche. Was für eine erfolgreiche frühe Theorie von Theater! Theoretisieren heißt, die richtige Mitte zu finden Wenn wir die Antike im Unterricht als erste Folie nehmen, eine Theorie von Theater zu verstehen, fällt Aristoteles noch eine weitere Rolle zu, die die Position benennt, aus der heraus er denkt: Er ist mit Bezug auf das Theater sowohl beschreibend als auch normativ. Das ist kein von ihm selbst gewählter Vorsatz, sondern hat mit der Situation seines Schreibens zu tun. Er führt einfach vor, dass er durch eigene An-

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Das The- mit dem Theater

schauung von zahlreichen Theateraufführungen durchaus berechtigt ist, Verbindlichkeiten und Regeln zu definieren, die aus dem bislang Gesehenen weiter folgen könnten. Aus dieser Tatsache lässt sich nun für die Studierenden im Schauspiel eine parallele und ihnen zukommende Position festlegen: Eigene Ansichten und Auffassungen zu bisher gemachten Erfahrungen im Kontext von Theater, sei es aktiv oder passiv, ermöglichen entsprechende Schlussfolgerungen auf Künftiges. Das kann an diesem frühen Punkt von Auseinandersetzung mit Theorie beruhigend wirken, denn es zeigt, wie persönlich theoretische Standpunkte sind (weil immer an eigene Erfahrung gebunden) und wie verallgemeinerbar sie auch wiederum sein können. Aristoteles hat in vielen seiner Schriften eine Theorie der »Mitte«, die sogenannte Mesotes-Lehre, entwickelt. Erwähnen möchte ich sie, weil sie viel zu tun hat mit aktuellen Debatten über unsere Zeit und unsere Gesellschaft. Wir suchen zum Glück, auch in unserer Theaterarbeit, immer stärker nach der Idee von »community«, wir schreiben der Kunst einen »social turn« zu und wollen nicht nur »people of power«, sondern auch auf der Bühne »story of power«. Starke gesellschaftliche Zuschreibungen und Zuordnungen haben sich selbst ad absurdum geführt. Nicht mehr das einzelne Individuum, sondern Gemeinschaft und Zusammenhalt werden zu einer neuen Realität für gesellschaftliche wie künstlerische Debatten. Theorie und Unterricht standen schon immer in Verbindung Die ersten überlieferten theoretischen Auseinandersetzungen über Theater stammen tatsächlich von Aristoteles, sie finden sich heute als recht sperrige Lektüre in einem kleinen Büchlein mit dem später hinzugefügten Titel Poetik1. Sperrig ist dieses Büchlein allein schon deshalb, weil Aristoteles es nie zur Veröffentlichung bestimmt hat. Vielmehr hat er seine Gedanken, recht zusammenhanglos übrigens, wie Notizen zusammengeschrieben, um sie in seiner eigenen Philosophenschule mit einem Publikum zu diskutieren. Hier zeigt sich erneut, wie sehr Theorie an eine Öffentlichkeit gebunden ist, an eine gemeinsame Form von Auseinandersetzung, und damit eine Vielstimmigkeit braucht, um überhaupt erst hergestellt zu werden. Auch im Unterricht in Bern sind wir eigentlich permanent auf der Suche, wenn wir uns theoretisch mit einem Gegenstand beschäftigen. Bemerkenswert ist, wie sehr die Idee von gemeinsamem Spiel in der Theaterpraxis sich ebenso in der Theorie als grundlegend erweist. Es braucht das Miteinander in der Erörterung vorausgegangener gemein-

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samer Erfahrungen: Auch hier tritt nun, wie bei der Genese des Theaters, eine Person aus einer Gruppe heraus und bringt sich mit ihrem eigenen Wirken in das Gespräch ein. Theorie ist also wie das Theater an den unmittelbaren Augenblick des Vollzugs gebunden. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Phänomen, bedeutet es doch, dass es die eine Theorie nicht gibt, dass sie niemals fertig fixiert werden kann, sondern durch ständige Reflexion und Überprüfung weiter wächst. Die beste Theorie, das folgt aus Vorigem, ist die Theorie ohne Extreme. Aristoteles beschreibt im 13. Kapitel seiner Poetik einen Helden auf der Bühne, der zwischen den von ihm beschriebenen Möglichkeiten steht, einen Helden, der nicht zu gut und nicht zu schlecht sein darf. Denn in jedem anderen Fall hätte das Publikum seine Schwierigkeiten, diesem Helden im Sinne der von Aristoteles postulierten Glaubwürdigkeit zu vertrauen und ihm seine Geschichte abzunehmen. Das hat natürlich als Vorbedingung mit der aristotelischen Katharsis zu tun, es bestätigt aber erneut die Richtigkeit einer anzunehmenden »Mitte«, aus der heraus unsere Theaterarbeit erfolgt. Und es unterstreicht die Aktualität eines Aristoteles als Theoretiker, wenn wir ihn mit unseren derzeitigen Vorstellungen von Gesellschaft abgleichen.

3. GEGENWART Was Liebe mit Theorie zu tun hat Der Sprung aus der Antike, aus dem Gedanken einer Mitte heraus, geht recht schnell. Aristoteles musste herhalten für das Verständnis von Theorie als Prinzip. In Bern landen wir dann sogleich in der Gegenwart und bewegen uns auch fortwährend darin – vom ersten bis zum letzten Semester. Nun geht es an die Inhalte der Theorie. Nein, keine Texte über Theorie: Inhalte, um Theorie zu fassen. Der erste große Inhalt unserer Betrachtung von Theorie deckt sich mit dem ersten großen Inhalt des Theaters. Es ist die Liebe. Für die wir nicht nur jeden Morgen aufstehen (oder nachts ins Bett gehen), für die wir auch grundsätzlich ins Theater gehen (und auch wieder nach Hause). Die Liebe wäre auf der Bühne (wie auch im Leben) relativ unspannend, wenn sie überhaupt gelingen würde. Sie gelingt natürlich nur in seltenen Fällen – oder gar nicht. Dass nun gerade im Nichtgelingen das eigentliche Potenzial von Liebe liegt, hat das Theater in einer theoretischen Erkenntnis dem Leben längst voraus. Denn wo man über Seiten, wie im bekanntesten Liebesdrama unserer Weltliteratur, in Romeo

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und Julia von William Shakespeare, über bald vier Stunden Spielzeit Figuren in ihrer Liebessehnsucht kunstvoll einander verpassen lässt und die reale Begegnung der beiden Liebenden nur einen Bruchteil an Zeit einnimmt, besteht das reale Leben immer noch aus einer Flut von Beziehungsratgebern, die längst gefällte Erkenntnisse des (schon frühen) Theaters einfach ignorieren: Liebe ist und bleibt in ihrem Gelingen einfach schwierig, und das macht sie gerade spannend. Klar, an dieser Stelle gibt es im Unterricht Einwände von all den jungen Menschen, die ohne diesen romantischen Widerspruch vielleicht erst gar keinen Schritt auf die Bretter, die bekanntlich die Welt bedeuten, setzen könnten. Zugegeben, jede Vereinfachung auf »glückliche« oder »unglückliche« Liebe widerspricht auch dem Prinzip einer differenzierten theatralischen Auseinandersetzung. Aber wie sehr gerade eine theoretische Betrachtung in diesem Zusammenhang zu weiterreichenden Erkenntnissen führen kann, zeigt ein Text, auf den ich in all den Jahren meines Unterrichts in Bern nie verzichtet habe. Es ist ein Text des Dramaturgen Carl Hegemann, ein kurzer Text, dessen Überschrift nicht grundlos das ganze Buch betitelt, in dem er abgedruckt ist: Plädoyer für die unglückliche Liebe2. Auf nur vier Seiten beschreibt Hegemann (selbst erlebte) Konstellationen und Erfahrungen von Liebe, die gerade in ihrem Nicht-Gelingen keine Entschuldigung, nicht einmal eine Verteidigung, sondern ein Plädoyer hervorbringen. Und dies in radikaler Konsequenz wie überzeugender Leidenschaft. Ja, das ist Theorie, die um keinen Deut besser oder schlechter ist als das Theater, aber sie bereitet vor: auf das Theater. Oder bereitet nach: im Anschluss an das Theater. Das ist genau der (theoretische) Vorteil, den es hier zu begreifen gilt: Sich damit zu beschäftigen bedeutet, gut gewappnet zu sein gegenüber all dem, was uns auf der Bühne erwartet – und eben auch im Leben. Und damit würde ich persönlich, wenn es um ein Gelingen gehen soll, dieses Plädoyer von Carl Hegemann jedem Liebesratgeber vorziehen. A. verabschiedet sich von mir freundlich aber bestimmt, weil sie mich nicht liebt. B. verabschiedet sich auf ähnliche Art, weil sie mich liebt. Wenn sich jemand aus fehlender Liebe verabschiedet und wenn sich jemand aus Liebe verabschiedet, können sich diese Vorgänge tatsächlich bis in alle Einzelheiten gleichen. Es ist deshalb naheliegend, Abweisungen in geheime Liebeserklärungen umzuinterpretieren, um Kränkungen zu vermeiden. Wenn man dies tut, wird man keine Beweise gegen seine Interpretation finden, die nicht zu entkräften wären, wenn man es nicht will.3

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II LEHREN

Einfach mal benennen, was Kunst ist! Wir gehen im Unterricht weiter durch die Phänomene von Theorie. Ursprung, Prinzip und möglicher Inhalt sind benannt. Wie sieht es aber mit einer Methode aus, die beschreibt, wie man einen Gegenstand findet, der sich so allgemein greifen lässt, dass daraus überhaupt erst eine Theorie erfolgen kann? Aristoteles kannte seinerzeit diese Fragestellung nicht, denn er ging von einem wissenschaftlichen Interesse aus, sich Gedanken über eine Neuerfindung seiner Zeit zu machen: das Theater. Seine Theorie gleicht eher einer Gebrauchsanweisung denn einer Methode systematischer Erfassung. Auch Carl Hegemanns Plädoyer bezieht sich zwar auf ein breites nachvollziehbares Feld, wirkt aber mehr wie eine private Erfahrung. Es braucht an dieser Stelle einen neuen Beleg für größere Zusammenhänge. Wie kann ich den Studierenden vermitteln, dass ein Gebiet erst mal erfasst werden muss, damit darüber eine Theorie entstehen kann? Wir gehen zurück in eine heute kaum mehr vorstellbare Zeit eines traumhaften Amerikas und wecken entsprechende Fantasien, von einem New York voller Freiheiten und Selbstverwirklichungen, der Beat Generation, der jungen Patti Smith, Robert Mapplethorpe und Susan Sontag, der großen amerikanischen Intellektuellen und Theoretikerin, die wie keine andere der Kunst- und Kulturszene ihrer Stadt zugewandt war. Nicht zufällig erfuhren ihre bekannten Essays Krankheit als Metapher vor Kurzem eine Neuauflage. Darin untersucht sie den unmittelbaren Zusammenhang von auffälligen Erkrankungen mit den jeweiligen Zeiträumen, in denen diese gehäuft auftraten. Tuberkulose wird so bei ihr zu einer »Metapher« des Nicht-mehr-atmen-Könnens zwischen den Weltkriegen; Krebs nimmt das Bild des Aufgefressenwerdens in der neuen Wohlstandsgesellschaft an; AIDS gestaltet sich als bezeichnender Gegenpol zu einer sexuell komplett befreiten Gesellschaft. Susan Sontag wird zu einer ersten Theoretikerin der Moderne, mit einer Methodik, die bestimmte Erscheinungen zu zeitlich begründeten Metaphern für tiefere Ursachen werden und so ganz anders auf sie blicken lässt. Zu gleicher Zeit ist es der amerikanische Philosoph und Kunstkritiker Arthur Coleman Danto, der Kunst einzig und allein durch den Kontext bestimmt sieht und nach den jeweiligen Rahmenbedingungen fragt, unter denen Kunst entsteht. Es ist die Zeit des Endes der »schönen Kunst«, die nun unendlich auslegbar wird. Und Marcel Duchamps berüchtigtes Readymade, das Pissoir, schafft es in die Kunsthallen New Yorks. Das erste Mal passiert hier etwas ganz Neues: Nicht das Werk selbst verschafft sich den Status, sondern erst die theoretische Debatte darüber.

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In ihrem Essay Camp4 geht Susan Sontag sogar noch weiter und erörtert erst im Nachhinein einen Begriff für eine Kunstform, nämlich »Camp«, die sie auf eine »Sensibility« bezieht, die in New York in den 1960ern die Kultur- und in Teilen auch die Theaterszene bestimmt. Dieses Essay gilt heute als eines der ersten, das sich theoretisch mit moderner Ästhetik beschäftigte. Bemerkenswert ist auch hier, dass Theorie sich komplett von ihrem Gegenstand entfernt und völlig neue Erfahrungen zulässt, die die Bedeutung des Gegenstands im Nachhinein noch steigern. Die Moderne ermöglicht die Emanzipation der Theorie und lässt allein über das Denken Kunstwerke entstehen. Einzige Bedingung: Es muss auch für dieses Denken ein entsprechendes Publikum gewonnen werden. Vieles auf der Welt hat nie einen Namen erhalten, und vieles ist, selbst wenn man ihm einen Namen gegeben hat, nie beschrieben worden. Dazu gehört jene Erlebnisweise, die – unverkennbar modern, eine Variante des Intellektualismus, doch kaum identisch mit ihm – unter dem Kultnamen »Camp« bekannt ist. […] Die Camp-Erfahrungen basieren auf der großen Entdeckung, dass die Erlebnisweise der hohen Kultur keinen Alleinanspruch auf Kultur hat. Camp erklärt, dass guter Geschmack nicht einfach guter Geschmack ist, ja, dass es einen guten Geschmack des schlechten Geschmacks gibt. (Genet spricht davon in NotreDame-des-Fleurs). Die Entdeckung des guten Geschmacks des schlechten Geschmacks kann außerordentlich befreiend sein.5 Theater ist sowieso unmöglich Die amerikanische Befreiung und nun mögliche Autonomie einer Theorie gegenüber realen Vorgaben blieb vor allem auf die Bildende Kunst beschränkt – selbst der Ausflug zu »Camp« im Theater bei Susan Sontag eine Ausnahme. Gerade mit Blick auf das Theater sucht man, auch für den Unterricht, an diesem Punkt vergeblich nach Positionierungen, die einem Praxisstand nur annähernd voraus wären oder eine Debatte vorab beflügeln könnten. Vergeblich befragt man in diesem Kontext übrigens eine Theaterwissenschaft, die diesem Anliegen längst hätte nachkommen müssen. Ein letztes Postulat, das sich finden lässt, ist noch immer der alte Schlachtruf des »Postdramatischen Theaters« von Hans-Thies Lehmann, der lange Zeit einen Theaterdiskurs bestimmte, allerdings vor allem einen Status quo der deutschsprachigen Bühnen beschreibend, und der bis heute interessanterweise durch keinen anderen Begriff ersetzt wurde.

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Spätestens vor den Studierenden merke ich, in welche Verlegenheit ich komme, wenn ich nach einer aktuellen Theatertheorie gefragt werde. Seit Jahren eröffne ich fast jede Unterrichtsstunde mit der pädagogisch begründeten Aussicht, dass wir aus anderweitigen Materialien wie Interview, Zeitung oder Video eine eigene moderne Theorie erstellen müssten. Das spornt an, entlastet auch von der einen »gültigen« Position, macht aber andererseits den Freiraum im Umgang mit bisher Gedachtem möglich: Der Verweis auf das Baukasten-System gilt noch immer, um sich seine eigene Theorie für das eigene Spiel verlässlich zusammenzustellen. Bis dahin müssen wir abspringen von Aristoteles oder Hegemann oder Sontag, um im freien Fall, in dem wir uns vielleicht schon länger befinden, zu verharren. Eigentlich ein angenehmer Zustand, der der Kunst und ihrer Theorie durchaus zuträglich ist. Damit lassen sich sinnvoll ganze Semester füllen, ohne dass auch nur an einer Stelle Langeweile aufkäme, denn spannende Materialien zum sich permanent verändernden Theater im Sinne von Realismus, Performance oder Dokumentation gibt es genug. Im freien Fall landen wir unter anderem in der neueren Dramatik und wie selbstverständlich bei einem der bekannteren Autoren: bei Wolfram Lotz und seinen Stücken Der lange Marsch oder Einige Nachrichten an das All, in denen er fast beiläufig eine Theatertheorie über den Gegenpart zu Hegemanns propagierter unglücklicher Liebe entwirft, den bei ihm eher glücklichen Tod. Das Motiv zielt auch hier wie bei Hegemann auf genau das, was wohl nur Theater so leicht und spielerisch vorführen kann: die Auflösung, die Überwindung, das Denken über alles hinaus. Das Erkennen der eigenen Sterblichkeit wird bei Lotz zu einer Theorie: Theater macht den Menschen unsterblich, weil hier die Gesetze der Irrealität und der Fiktion gelten. Theater ist unmöglich – und lässt gerade deshalb uns alle überleben. Eine fast schon romantische Theorie und vielleicht sogar eine Theorie, die als Reflexion über das Theater die derzeit aktuellste ist. Und im Unterricht immer wieder Faszination auslöst. Wolfram Lotz konkretisiert sie in seiner »Rede zum unmöglichen Theater«. Es gibt einen Ort! Brüder und Schwestern, es gibt einen Ort! Ihr wisst, dass ich das Theater meine. Das Theater ist der Ort, wo Wirklichkeit und Fiktion aufeinandertreffen, und es ist also der Ort, wo beides seine Fassung verliert in einer heiligen Kollision. Das Theater ist der Berg Harmaggedon! […] Das unmögliche Theater ist möglich, trotz allem und gerade deshalb!

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Aber lasst uns nicht glauben, es könnte gelingen. Lasst uns nicht glauben, wenn es gelänge, dann sei es gelungen. Wenn es gelingt, die Wirklichkeit zu verändern, ist es wieder misslungen, ist es die Wirklichkeit, die überwunden werden muss, in die Ewigkeit hinein! Wir dürfen in unseren Entwürfen nicht so tun, als gäbe es ein Heil, das zu erreichen sei, auf das wir uns setzen könnten, wie auf eine Frotteewärmflasche. Das Unmögliche Theater ist die ewige Forderung! Das Unmögliche Theater ist das fortwährende Scheitern in eine bessere Zukunft hinein und vorwärts in die Vergangenheit! Das Unmögliche Theater ist für den Menschen, aber auch für meine Katzen und die anderen Tiere (große und kleine)! Es ist nicht, wie es ist! Es ist, wie wir wollen, dass es wird! So ist es! So ist es nicht!6

4. ZUKUNFT Oh nein, veganes Theater Und in Zukunft? Womit werden wir uns beschäftigen, wenn wir über Theater nachdenken? Kommt da noch etwas nach der von Wolfram Lotz herbeigesehnten Unsterblichkeit? Haben wir nicht gerade die Erfahrung gemacht, dass wir schneller sterben könnten, als wir es für möglich gehalten hätten? Das ganze letzte Jahrzehnt begann mit Protesten für politische Freiheiten auf dieser Welt und ging mit Protesten gegen den Klima-Untergang zu Ende. Das Theater hat dieses Jahrzehnt mit neuen ästhetischen Formen von Realismus begleitet. Wir waren neugierig, was danach käme – und wurden erst einmal lahmgelegt. Mit den 2020er Jahren beginnt ein neues biologisches Zeitalter, das nun ganz pragmatische Auswirkungen auf das Theater hat, allerdings nicht in Gestalt unseres Themas hier, der Suche nach kühnen Theorien, sondern durch sichere Abstandswahrung vor und auf der Bühne. Das Motto »power to the people« bekommt eine doppelte Bedeutung. Und braucht ein neues Nachdenken. Im Berner Unterricht fiel gerade in den letzten Jahren eine Verlagerung des Schwerpunktes hin zu neuen soziologischen Texten auf, die der Suche nach anderen Bildern von Mensch und Gesellschaft Rechnung tragen sollten. Diese Texte formten unsere Diskussionen, sie haben aber auch längst Eingang in einen öffentlich-wissenschaftlichen Diskurs über Theater ge-

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funden. Eine Vertreterin, die hauptsächlich dafür im Unterricht herhalten muss (bis heute), ist Judith Butler7, die nicht ganz leicht zu lesen ist, aber eine schöne Schnittmenge zwischen Politik und Theater findet. Ihre Texte halte ich für gelungene Theatertheorie, wenn auch mitunter völlig losgelöst von einer Praxis auf der Bühne. Ihr Einsatz für »power to the people« ist ein komplett physisch gedachter, wenn sie gegen die zunehmende Prekarisierung unserer Gesellschaft das Schlagwort von »Körperallianzen« verwendet. Diese Allianzen versteht sie ganz direkt, gerade unter performativen Aspekten. Wer über einen selbstbewussten Körper verfügt, wie beispielsweise Menschen auf der Bühne, kann diesen auch jenen zur Verfügung stellen, die eher eine geschwächte Stellung haben. In einer Bachelor-Thesis, in der die Studierenden in aller Regel ihre ersten eigenen theoretischen Entwürfe über das Theater wagen, geht Nikèn Dewers dem Widerspruch zwischen einem »ausgebeuteten« Bild von Körper auf der Bühne und einem gesunden im Alltag nach, das wir alle von der Ernährung bis hin zum täglichen Gang ins Fitness-Studio mittlerweile pflegen. Diesen Widerspruch analysiert sie als Schauspielerin und stellt just die Frage nach physischer Relevanz im heutigen Theater. Wie will man sich darstellen? Mit welcher Präsenz behauptet man sich körperlich in der Auseinandersetzung um Klimakrise oder auch wieder um Rassismus? Die Rückkehr an dieser Stelle, eben gerade in der Theorie, zu den Ansätzen eines über rein physische Funktionsweisen beschriebenen Theaters bei Aristoteles ist auffällig. Theater wird in seinen ersten Dimensionen noch einmal neu und durchaus politisch entdeckt. Mit Abschluss dieser Arbeit ist die Auseinandersetzung also längst noch nicht abgehakt: Hiermit plädiere ich für den offenen Diskurs und die fortschreitende Enttabuisierung eines schamlosen Rechts auf Selbsterhaltung und faire Arbeitsbedingungen im Theaterkontext. Mögen experimentelle Strukturen aufblühen und wir in Zukunft immer mehr lebendigen Beispielen begegnen, dass ein radikaler Kunstanspruch grundsätzlichen Respekt voreinander ebenso wenig ausschließt wie die Wahrung und Wertschätzung unserer menschlichen Unversehrtheit. Wir werden diese nicht für immer haben. Mögen wir also mit diesen Körpern, Bedürfnissen und Ideen in die Welt, auf die Straßen und Bühnen ziehen und mit allen Teilen unserer Selbst einstehen – für die Freiheit und ein lebbares Leben.8

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Will hier jemand jemandem den Mund verbieten? Und noch etwas ist passiert in der letzten Zeit: Die Theorie über das Theater hat sich verlagert, von den inneren Gegenständen auf die äußeren – von dem, was auf der Bühne passiert, hin zum Apparat Theater selbst. Und dieser Apparat ist, wir wussten es bereits und haben diese Strukturen viel zu lange als gegeben hingenommen, ein reiner Machtapparat. Nikèn Dewers weist in ihrer Darstellung darauf hin, und der Zusammenhang zu einer Debatte, was noch gesund und was schon ungesund ist, ergibt sich von selbst. Interessant auch hier wieder eine Rückkehr zu den Anfängen: Die Voraussetzung einer »guten« Architektur von Theater für entsprechend »gute« Inhalte in der aristotelischen Poetik will sich erneut bestätigen. Im Unterricht haben wir diesen Aspekt fast ein ganzes Semester behandelt, mit vielen Ausflügen zu aktuellen Analysen dieser Situation wie der gerade von Thomas Schmidt erschienenen umfangreichen Studie über Macht und Struktur im Theater, über Inszenierungen von René Pollesch und Falk Richter, die sich dieses Themas annehmen, bis hin zu neuen Foren wie Ensemble-Netzwerk oder Burning Issues. Hier hat sich mittlerweile ein komplexes und interessantes Forschungsfeld aufgetan, das offenbar zunächst nur theoretisch verhandelt werden kann, da der Apparat, um den es geht, sich seit der Antike immer fester zugemauert hat, ohne jemals wirklich infrage gestellt worden zu sein. Es passiert tatsächlich erst jetzt und wird weiterhin stark debattiert werden, bis entsprechende Veränderungen auch die Praxis betreffen. »Political Correctness« in seiner Angemessenheit und Notwendigkeit auf der Bühne ist denn auch das Thema in der Bachelor-Thesis der Berner Studentin Lena Perleth. Hier ist allein die zusammengetragene Faktenlage über unterschiedliche Quellen und Materialien beeindruckend. Und wenn Zukunftsforscher wie Matthias Horx behaupten, dass wir nun am Beginn anderer wichtigerer Auseinandersetzungen stehen, widerspricht Lena Perleth leidenschaftlich in ihrem eigenen theoretischen Entwurf: Ja, Theater kann nun einmal die Welt verändern. Und die Grundbedingungen der Theaterarbeit sind stete Auseinandersetzung mit einem Gegenüber und der Gesellschaft. Ergo kann das Thema von »Political Correctness« gar nicht von der Bühne verschwinden. Vielmehr sind hier nun endlich Sichtbarkeit, andere Reproduktion, Sensibilität und Offenlegung gefordert. Ähnlich der Diskussion um den Begriff »social distancing«, der ja e­ igentlich nichts damit zu tun hat, sich sozial zu distanzieren, sondern nur physisch, wäre es vielleicht sinnvoll,

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einen anderen Begriff zu gebrauchen, wenn man versucht, über das zu reden, was hinter PC steht – gerade in einem Kontext wie Theater, und auch im Hinblick darauf, dass der Begriff in seiner Geschichte zuerst von Vertreter*innen des Konzepts hauptsächlich ironisch und dann von Kritiker*innen als negativer Begriff gebraucht wurde. Auch wenn klar ist, dass es immer wieder neue Begriffe für etwas gibt, die dann auch wieder negativ konnotiert werden – einen Versuch ist es wert. […] Vielleicht braucht es dafür einen neuen Begriff, um angemessen über das zu diskutieren, worum es eigentlich geht. Fürs Theater bedeutet das, einen Begriff zu finden, der nicht durch die Wortwahl dem widerspricht, wofür Theater unter anderem steht. Aber was könnte ein neuer Begriff sein? Political sensibility wäre mein Vorschlag.9 Fummeln statt Leiden Die Regel im neuen Theater lautet jedenfalls: complete surrender. Aber die totale Hin- oder Aufgabe im Moment bedeutet keineswegs die Niederlage der kritischen Reflexion – und schon gar nicht der Theorie. Erleben und Nachdenken sind zeitlich gestaffelt, man kommt nicht sofort schlauer aus dem Theater raus. Es geht um den Prozess, der in Gang kommen soll, nicht um ein vorgekautes Resultat, wie es das Gegenwartstheater so gern auskotzt. Das alte Theater beschäftigte sich mit dem Horror der Geschichte, das neue mit dem Zwang zur Zukunft oder zumindest mit der Einsicht, dass wir keine andere Wahl haben, als Zukunft endlich wieder denken zu können. Es ist eine Generation, die die latente Besserwisserei des Theaters nicht mehr interessiert. Seine schlechte Laune erst recht nicht. Es geht beim neuen Theater allerdings nicht um Erlösung, es geht nicht um die Revolution, aber vielleicht um das ­Revolutionär-Werden. Das neue Theater von Susanne Kennedy, The Agency oder die Bühne des »Berghains« sind alles andere als widerspruchsfrei oder gar gemütlich. Die Räume signalisieren eine starke Künstlichkeit, sind sozial aber zunehmend homogen. Von der Diagnose, dass die soziale Ungleichheit eins der größten Probleme der Zukunft sein wird, nehmen sich diese Arbeiten selbst gar nicht aus.

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Sie wissen um ihre Verstricktheit und inszenieren sie mit. Sie sind selbst eine Art safe space, ein Schutzraum. Um es hart zu sagen: Diese Räume sind Avantgarde, im Club wie im neuen Theater sind sie im Kern elitär.10 Mit dieser, wie ich finde, treffenden Status-quo-Beschreibung eines gegenwärtigen Theaters, die sich nahtlos an das Fazit von Lena Perleth anschließt, haben wir in Bern einen der letzten Theorie-Unterrichte beendet. Sie stammt aus der Feder des Berliner Kulturjournalisten Tobi Müller, der als »Tanzopi Ende vierzig« nach einer Nacht im Berliner Club Berghain eine wache Erkenntnis hat: Clubkultur und Theaterkultur sind derzeit nicht mehr weit voneinander entfernt. Die elitäre Gegenwart neuer Theaterästhetiken ist vielleicht nur ein vorübergehender Zustand vor einer besseren Zukunft. Fummeln statt Leiden. Der »social turn« als neues Schlagwort in den Künsten geht nicht mit Krieg, eher mit guter Club-Musik einher. Und das ist auch gut so. Ist das schon postpolitisch? Oder in unserem Kontext nur posttheoretisch? Vielleicht müssen wir an dieser Stelle beide Fragen bejahen. Wir machen auch gerade im Unterricht völlig neue Erfahrungen. Waren bislang Theorie und Theater verschiedene Formen von Betrachtung, da Theorie systematisiert, Theater aber pointiert, fließt plötzlich alles ineinander. Es gibt keine Theorie mehr davor und keine Theorie d ­ anach. So wie es derzeit kein Theater mehr davor und keines mehr danach gibt. Für unsere Welt gilt das Gleiche. Mit Tobi Müller befinden wir uns auf einer großen Tanzfläche und auf einmal ist alles eins. Wir konstruieren uns eine völlige Synthese von Denken und Leben. Für eine Theorie des Theaters bedeutet dies, dass nun jede Form von Abgrenzung fehlt. Es gibt nicht mehr das Prinzip der Einfühlung oder Verfremdung, es geht nicht mehr um Einheit oder Vielfalt, vielmehr lassen wir die Schranken fallen. Und dies alle gemeinsam und gleichzeitig, wie in einem großen Club. Die neue Theorie lautet Community. Wir denken und tanzen gemeinsam die Zukunft. Und werden sehen, wie es weitergeht. (Freitagnachmittags in Bern)

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1 Aristoteles: Poetik, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, ­Reclam Verlag, Stuttgart 1994. 2 Carl Hegemann: Plädoyer für die unglückliche Liebe, herausgegeben von Sandra Umathum, Recherchen 28, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2005. 3 Ebd., S. 15f. 4 Susan Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹« (1964), in dies.: Ästhetik und ­Gesellschaft, herausgegeben von Andreas Reckwitz, Sophia Prinz und Hilmar Schäfer, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 5 Ebd., S. 229. 6 Wolfram Lotz: »Rede zum unmöglichen Theater«, in: Werner Matthei, Ann-Kathrin Rütte: Materialien zum unmöglichen Theater, Matthei&Rütte (books on demand) 2009. 7 Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, aus dem Amerikanischen von Frank Born, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 8 Nikèn Dewers: »Oh nein, veganes Theater«, Bachelor Thesis HKB Bern 2020, S. 24. 9 Lena Perleth: »Will hier jemand jemandem den Mund verbieten. Die Frage nach Angemessenheit und Notwendigkeit von Political Correctness auf der Bühne«, Bachelor Thesis HKB Bern 2020, S. 19. 10 Tobi Müller: »Fummeln statt Leiden«, in: Republik. Das digitale Magazin, 9. Februar 2019, www.republik.ch/2019/02/09/fummeln-statt-leiden (letzter ­Zugriff am 12. Januar 2021).

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»Eine Schule, die sich gerne neu erfindet – immer wieder« Stephan Lichtensteiger im Gespräch über ­Improvisation und ­Projektentwicklung Frank Schubert: Was muss die Ausbildung heute leisten, wenn wir eigenständig denkende, kreative Künstler fördern wollen? Stephan Lichtensteiger: Junge Menschen bewegen sich heute in einem ganz anderen Feld als wir vor zwanzig, dreißig Jahren. Der Rahmen der Konventionen ist viel offener, das Theater ist hybrider geworden, es gibt auch ganz andere Möglichkeiten der Vernetzung und Präsentation. Ich sehe eine Formenvielfalt und gestalterische Möglichkeiten, die ich früher nicht kannte. Die jungen Theaterschaffenden bewegen sich in einer Welt enormer Zersplitterung und Komplexität, ein Ort großer Verunsicherung. Da eine Position zu finden und auf die Themen der Zeit zu reagieren, ist nicht gerade einfach. Das macht natürlich auch die Ausbildung komplexer – was wäre denn heute das Zentrum, was heißt denn heute »Handwerk«? Die Antworten fallen sicher anders aus als vor zwanzig, dreißig Jahren. Das technische Grundhandwerk ist vielleicht ähnlich, das künstlerische ist ein anderes. Ich stelle mir die Ausbildung gerne als Bewegung in einem Spannungsfeld von sich kreuzenden Achsen mit den Polen Theorie – Praxis und Experiment – Elaboration vor. Es stellt sich die Frage, wie sich eine Institution in diesem Spannungsfeld bewegt. Wie extrem positioniert man sich darin und wie verbinden sich die Erfahrungen? FS: Nun hast du die »Labore« für Bern »erfunden«. Wie passen diese Arbeitsfelder in dein Koordinatensystem? SL: Super! Die Labore sind der Versuch der direkten, modellhaften Anwendung. Das praktisch Experimentierende ist angelaufen. Im Chorprojekt ist das am besten gelungen. Dort waren die Studierenden auch in der Reflexion spürbar. Sie haben was begriffen, im wahrsten Sinne des Wortes. Die persönliche Praxiserfahrung war mit dem theoretischen Blick verknüpft. FS: Es liegt also mit den »Laboren« ein weitgehend funktionierendes Beispiel für dein System vor. Im angesprochenen Chorprojekt beschäftigten sich die Sprechdozentin Julia Kiesler zusammen mit der Aikido-Trainerin Renata Jocic mit dem Prolog, den Martin Walser und Edgar Selge vor ihre Antigone-Bearbeitung gestellt haben. Die Studie-

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renden hatten in diesem Labor relativ wenig künstlerische Freiheit. Und dennoch war die Arbeitsweise stark von einem kollektiven Geist geprägt. SL: Eine Idee der Labore ist es, dass Dozierende und Studierende in ein anderes Verhältnis zueinander geraten. Beide verstehen sich als Experimentierende und machen neue Erfahrungen. Offenbar war das so, trotz klarer Leitung und dem Hinarbeiten auf ein Ergebnis. Grundsätzlich wünsche ich mir in den Laboren so viel Experiment wie möglich. Zuvorderst stehen Prozess und schnelle Skizze, die alle Beteiligten auf neue Ideen bringen können. In der Kreation sind wir doch immer ganz schnell bei den funktionierenden Elementen, von denen wir wissen, da geht wenig schief. Die Frage ist aber, wo wird Neues erzeugt, wo passiert etwas, von dem alle überrascht werden. FS: Das »Labor« sucht nach Methoden, wie neue Territorien entdeckt werden können? SL: Eine Methode ist das Aushebeln von Kontrolle. So ein »Labor« sehe ich eigentlich als eine Art Improvisation mit erweiterten Mitteln. Für mich ist Improvisation als Mittel der Kreation ein wesentliches Element. Schon bei der Konzeptionsfindung dürfen Intuition, Zufall, Kontrollverlust etc. als bewusst eingesetzte Instrumente mitspielen. Die Resultate eines Labors sollten dann aber auf eine theoretische Ebene transferiert werden. FS: Transfer in die Theorie. Was meint dieser Schritt? Diese Forderung ist doch für viele Schauspielstudierende eine Provokation. SL: Ich meine damit eigentlich zwei Dinge: Das eine ist, dass konkrete Ergebnisse einer distanzierten Betrachtung und Beschreibung unterworfen werden sollten. Gerne auch über die eigene Sparte hinaus. Vielleicht finden wir interessante Parallelen zu Kompositionsprinzipien von Satie oder der Renaissancemalerei? Solche Sachen festzustellen, kann befruchtend sein, meine ich. Das andere ist das Erkennen möglicher Bedeutungsebenen. Wir arbeiten immer induktiv-deduktiv. Wir gehen bei einer Kreation von etwas Konkretem aus und induzieren ins Allgemeine oder umgekehrt. Wir haben eine Botschaft und müssen diese in einen konkreten Vorgang verwandeln. Der Kreationsprozess ist ein ständiger Wechsel zwischen diesen Ebenen, die sich gegenseitig immer verändern. Eine Studierende hat’s mal auf den Punkt gebracht: »Öffnen, schließen, öffnen, schließen – etwas entwickeln ist wie atmen.« Ein Mensch geht über die Bühne. Nehmen wir an, das ist meine konkrete Idee am Anfang einer Projektentwicklung. Nicht gerade

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­ ppig, aber es ist ein Anfang. »Jedes Komma ist gut genug als Ausü gangspunkt für ein Abenteuer«, sagte Man Ray. Der Satz gefällt mir außerordentlich. Wenn ich das Konkrete als Metapher sehen kann, könnte der Gang über die Bühne für den gesamten Lebensweg stehen. Das Springen zwischen Handlungsebene und Bedeutungsebenen halte ich für zentral im bewusst geführten kreativen Prozess. Man muss Strukturen und Prinzipien sehen lernen. Wenn das gelingt, entstehen viele Möglichkeiten. Man kommt auf Probleme, die man vorher nicht sah, und damit dann auch auf Lösungen. Ich fordere die Studierenden auf, morphologisch zu denken. Ein Apfel als Ausgangslage. Was hängt da alles dran, bzw. was kann ich dranhängen? Farben, Formen, Gesundheit, Adam und Eva, Sorten, Höfesterben, Würmer, Nahrungsmittelproblematik, Umweltverschmutzung … FS: Was ist der Unterschied zum einfachen assoziativen Denken? SL: Keiner, es IST ein einfaches assoziatives Denken. Aber dieses Denken bereits in der Konzeption in alle möglichen Richtungen zu treiben, scheint schwierig zu sein. Vielleicht traut man sich nicht. Ist das eine Kernfrage? Was traue ich mich zu denken? FS: Wenn ich ein Stück lese und auf ein tolles Material stoße, setze ich mich nicht ins Verhältnis zu einem Apfel, sondern zu einem Ibsen oder Shakespeare. Wir suchen aber den Apfel. Von dort aus lesen wir dann das Stück neu. Das ist nicht so einfach. SL: Das ist sehr schwierig. Klar. FS: Auch in den Projekten steht meist ein großes Thema am Anfang der Arbeit. Migration beispielsweise. Das ist dann eine wahnsinnige Glocke. Es besteht also immer zuerst die Aufgabe, den Apfel zu suchen. SL: Man merkt sofort, ob jemand einen Kern gefunden hat. Dann wird es einfach und direkt. Das spricht aber absolut nicht gegen Vieldeutigkeit und Unschärfen! FS: Das Grundlagenspiel heißt also, ich habe einen Apfel und von diesem ausgehend assoziiere ich. SL: Es ist viel einfacher, du hast eine Nadel und machst einen Heuhaufen drumrum. Möglicherweise entstehen so auch persönlichere, sinnlichere Arbeiten. Die wirklich persönlichen Impulse sind vielleicht eher auf der Ebene der konkreten Idee zu finden als auf der Bedeutungs- oder Botschaftsebene. Ich habe ein Thema: Migration. Und ich wollte schon immer was mit fünf Paar gelben Socken machen. Wie kriege ich das Thema mit den Socken zusammen? Das setzt augenblicklich Fantasie frei. Das erzeugt etwas, wenn ich mich traue, so was zu denken.

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FS: Du kannst im Prinzip zwei beliebige Dinge zum Ausgangspunkt machen. SL: Genau. Das ist übrigens eine Kreativitätstechnik. Sie nennt sich Forced Connection. Ich bringe zwei Dinge zusammen, die vordergründig überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Was entsteht in diesem Spannungsfeld? FS: Ich zitiere gern meinen alten Lehrer Wolfgang Engel: Manche wollen die ganze Welt erzählen und raus kommt eine Küche. Und manche erzählen eine Küche und raus kommt die ganze Welt. SL: Ein sehr schöner Satz! FS: Das ist eine Erfahrung. SL: Und es ist ein Verfahren. Ich merke oft bei Studierenden, gerade in MTS (Mind To Stage), wie sie auf der reinen, konkreten Ideenebene steckenbleiben. Dabei gehen mitunter Fantasie und Intuition bachab. Das Denken in Analogien und Metaphern befreit. FS: Muss man das mühsam lernen? Muss man das schon in den Aufnahmeprüfungen testen? SL: Kommt auf die Ausrichtung der Schule an. Wenn das Eigenschöpferische, der Umgang mit dem genuinen Impuls zentrales Thema ist, warum nicht? FS: Sprechen wir darüber, wie man Kreativität befördern kann. SL: Kreativität kann man nicht lernen, das wissen wir. Man kann nur Bedingungen schaffen, in denen man sich traut, kreativ zu sein. Die Frage geht somit an die Institution, an deren Kultur und Atmosphäre, an deren geschriebene und ungeschriebene Regeln. Welche gedanklichen und emotionalen Räume darf man betreten und welche sind weswegen tabu? FS: Jetzt sind wir an einem Knackpunkt. Der Raum für Kreativität wird an den Schulen eher schmaler. SL: Da habe ich zu wenig Überblick, aber es würde mich erstaunen, wenn es anders wäre. FS: Und das liegt nicht immer nur daran, dass die Schulleitungen so engstirnig sind. Es liegt vor allem daran, dass die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Geldgeber immer stärker abrechenbare Effizienz verlangen. SL: Ich fürchte, du hast recht. FS: Meine Haltung zu dieser Entwicklung ist allerdings zwiegespalten. Die Stundenpläne werden immer voller und Erholungsphasen gibt es kaum noch. Die gedanklichen und emotionalen Räume verschwinden hinter gestapelten Unterrichtseinheiten. Es ist aber auch ganz klar zu beobachten, dass unsere Studierenden am Schluss heute

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schauspielerisch besser ausgebildet sind, als es früher der Fall war. Sie können professioneller arbeiten und sich besser organisieren. SL: Es ist das Programm der Institution, das die Kreation wichtig macht. Es geht nicht nur über die Erfahrung. FS: Eine frühere Studentin hat mir mal gesagt, von einer Schule erwarte ich Handwerk, kreativ sein kann ich mein Leben lang. SL: Tja, der Handwerksbegriff … Fähigkeiten wie Konzipieren, Experimentieren, Skizzieren, Komponieren, Reflektieren und Beschreiben gehören meiner Meinung nach heute zum künstlerischen Handwerkszeug. Wenn Studierende Kreierende sind, müssten sie ein Mindestmaß an Grammatik und Vokabular haben. Das geht über die direkten Mittel des Schauspiels hinaus. Die Labore sollen die Fantasie bewässern. FS: Das Labor als Teaser? SL: Eine zentrale Frage ist, ob der Teaser nachhaltig wirkt und wie die Erfahrungen Gedanken verknüpfen. Zwei Punkte sind dabei wichtig. Der eine ist, dass der Dozierende nicht nur der Wissende, sondern auch der Moderator zwischen den Möglichkeiten des Theaters und den Absichten der Studierenden ist. Der zweite betrifft das grundsätzliche Verhältnis zur Skizze. Wir sind sehr geprägt von der Idee, etwas »Fertiges«, etwas »Gutes« vorzustellen. Ich würde gerne von diesem Produktdenken in Richtung Prozess rutschen. Man kann sich angewöhnen, öffentlich zu arbeiten. FS: Kritik kann dann auch mehr bewirken? SL: Es ist extrem schwierig, jemandem etwas zu sagen, wenn er sechs Monate, ich übertreibe etwas, an einer halben Seite Kleist gearbeitet hat. Da bewegt sich kaum noch etwas. Das ist wieder so eine Klimafrage. Wir sollten aber öfter sagen, »kommt mal gucken«. FS: Die Studierenden müssen zuerst einmal lernen, etwas erzählen zu wollen … SL: Kann man »etwas wollen« lernen? Ich glaube eher nicht. »Ich soll etwas zu erzählen haben. Politisch, gesellschaftlich relevant, eine Wichtigkeit soll es haben!« Der Anspruch kann auch in ein Vakuum führen. »Hilfe, ich muss etwas Wichtiges zu erzählen haben und habe nichts!« Also schaffe ich mir irgendetwas an, das man für relevant halten könnte. Das hat keinen persönlichen Need. FS: Was brauchen wir also? SL: Das Bewusstsein, dass »Relevanz« lediglich ein Konstrukt ist, und die Möglichkeit der individuellen Schwerpunktsetzung. Es gibt definitiv Leute mit einem Mitteilungsdruck, die Inhalte in eine Form gießen können. Das sind aber nicht zwingend auch die Besten im Spiel

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auf der Bühne. Andere brauchen einen Inhalt als Vorgabe, um richtig abzugehen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass man nach einem Jahr zwei Richtungen anbietet. Die einen kriegen viel mehr vom rein schauspielerischen Handwerk mit – Tendenz Interpretation. Die anderen machen mehr Projekte – Tendenz Kunst. Mist wäre, wenn die einen das machen müssen, was sie nicht können, und die anderen das, was sie nicht wollen. FS: Würde das bedeuten, dass wir eine zweite Abteilung brauchen? SL: Nein, ich glaube nicht. Es geht lediglich darum, die vorhandenen Potenziale optimal zu fördern, indem man Schwerpunkte verlagert. FS: Wir wollen Studierende, die nicht nur etwas verkörpern. Ist das eine Illusion? SL: Nicht unbedingt. Ich denke, wir sind immer mal wieder ganz nah dran. Der Freigeist kommt für mich aus einer grundlegenden Kultur, die man nicht lehren kann. Ich sehe aber natürlich einen ständigen Konflikt zwischen Tradition und Innovation, zwischen dem Wunsch nach gestaltender Autorschaft und gleichzeitig brillantem Schauspielhandwerk. FS: Bewegen wir uns in Bern in einem schwierigen Raum der Zwitterhaftigkeit? SL: Die große Qualität von Bern ist, dass man sich dieser Schwierigkeit bewusst ist und sich ständig darum bemüht. So wird genau das zum Potenzial. Um das zu nutzen, braucht es entsprechende Studierende. Am besten hochgebildete, intellektuell begnadete, außergewöhnliche Spielerinnen und Spieler, die in Film und Theater genauso bestehen können wie auf Ballett- und Opernbühnen, die unglaublich innovative Performances machen, an den großen Häusern alle großen Rollen spielen, ihre eigenen Stoffe entwickeln, um die sich die Verlage reißen, und die ihre Produktionen auch noch selber auf die Beine stellen. FS: Machst du Witze? SL: Sicher! Aber es gibt tatsächlich solche, die sich diesem Ideal nähern. Manche vereinen sehr viel auf sich. Sie sind technisch gut, und was sie nicht können, schaffen sie sich einfach an. Sie sind zäh, intelligent und haben Fantasie. Sie können reflektieren, haben Abstraktionsvermögen und oft auch eine wunderbare Ausstrahlung auf der Bühne. Sie arbeiten mit Energie, Konzentration und Selbstständigkeit. Es gibt immer wieder diese Beispiele. FS: Dazu gehört, intuitiv Freiräume für Themen nutzen zu können, die nicht auf der Hand liegen.

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SL: Ja. Es sind aber nicht nur die Studierenden, die gefordert sind. Das sind die Dozierenden genauso wie die Institution an sich. Am Ende sind es Fragen von Zielen, Ressourcen und der Organisation. Das Zeitbudget ist klar, es gibt »Stammdozierende« und wechselnde Engagements, die Ausbildungsbestandteile gibt es und die Ziele und Möglichkeiten werden laufend diskutiert. Man versucht, das Optimum aus allem zu erreichen. In der Schule findet reales Leben statt, es wird gelacht, gelitten, geliebt, gekämpft, nicht bloß verwaltet. Dieses Leben und der Rahmen, in dem es stattfindet, klatschen oft auch schmerzhaft aneinander. FS: Wir müssen also nach innen eine Atmosphäre schaffen, die wir nach außen nur bereinigt vertreten können? SL: Wahrscheinlich ist es so. Die kreative Sphäre steht ständig unter Druck. Das verleitet zu Kompromissen. Das betrifft die Institution genauso wie die Menschen, die darin arbeiten. Studierende müssen etwas in einen Erwartungsrahmen hineinentwickeln. Und das tut wohl auch die Institution. Ich wünschte mir ein Klima, wo »Scheitern« kein Problem darstellt, sondern eine Chance ist. FS: Wie würde also deine Schule aussehen? SL: Boa! FS: Du hast die Mittel, die Zeit, die Unterstützung durch die Politik und du hast die Räume. Was würdest du tun? SL: Ich würde wahrscheinlich ein riesiges Haus mieten. Eines, in dem man auch zusammenwohnen kann. Ich würde eine Handvoll Leute verpflichten, zu denen ich fachlich und persönlich Vertrauen hätte. Forschende, die den Dialog suchen, neugierig sind und auch sich selbst entwickeln wollen. Das wäre mal ein Anfang. Eine sehr offene Diskussionskultur wäre grundlegend. Ach ja, immer wieder Skizzen machen, Halbfertiges auf den Tisch, bzw. auf die Bühne stellen. Eine wesentliche Grundhaltung wäre es, erst mal nichts auszuschließen. Auch keine Studierenden, die weit außerhalb der Norm liegen. Durchlässigkeit wäre ein Thema, in ständigem Kontakt zur realen Lebenswelt sein und bleiben. Meine Schule würde sich gerne ständig neu erfinden. Sie müsste sehr beweglich sein. – Wahrscheinlich wäre sie nach drei Jahren versenkt. FS: Warum? SL: Weil es nicht funktionieren würde. Komplette Überforderung nach allen Seiten. Chaos vorprogrammiert und ohne klaren Nutzen. Sowas darf man nicht, oder? FS: Manchmal sind wir, zumindest gedanklich, nicht weit weg von deinem Wunschbild.

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SL: Wir sind es gewohnt, in Rahmen und Aufgaben zu denken und zu arbeiten. Das ist attraktiv. Probleme vorzulegen ist ein inspirierendes Verfahren. Dazu gehört ein Rahmen, innerhalb dessen man die Probleme lösen muss. Sich selber eine Aufgabe und einen Rahmen zu geben, sind wir weniger gewohnt. FS: Das muss geübt werden. Wollen wir Künstler fördern, müssen sie begreifen, dass sie sich ihre Aufgaben selbst zu stellen haben. An diesen Aufgaben schärft sich das Handwerk. Für einen solchen Prozess stehen wir als Dozierende zur Verfügung. SL: Ohne Inhalte geht’s nicht. Aber komplexes Denken könnte rein theoretisch auch durch einen funktionalen Rahmen ausgelöst werden. Nehmen wir mal an, frisch aus dem Ärmel geschüttelt, man gibt den Studierenden irgendeinen Text und die Aufgabe, nach 30 Sekunden muss das Publikum lachen und nach 46 Sekunden mucksmäuschenstill sein. Auch wenn das kühle Wirkungsmechanik ist, stößt es einen auf handwerkliche Aspekte. Wie macht man es, ­damit es funktioniert? Aha, es braucht Brüche. Wie spiele ich diese? Das kann ich brauchen, wenn ich später einen Inhalt transportieren will. Mich selber interessiert die unmittelbare, wahre, tiefe Berührung und wohin mich das führt. Wie und womit man das hinbekommt, ist für mich eher sekundär. Mir scheint jedenfalls klar, dass es dazu eine große Offenheit braucht und die Bereitschaft, in eine Verletzbarkeit zu geraten. FS: Also, wer bin ich, wenn ich spiele? SL: Für mich gibt es zwei Spieltypen. Solche, die dir die Gnade erweisen, ihnen zuschauen zu dürfen, wie brillant sie ihr Handwerk ausüben. Das interessiert mich nicht. Und dann gibt’s diejenigen, die mit mir als zuschauendem Beteiligten einen wahren, einzigartigen Moment erschaffen. Diese tun wirklich etwas für mich. Durch die fließt etwas durch, das hat sozusagen mediale Qualitäten. FS: Haben wir an der Schule diesen Punkt vernachlässigt? SL: Nein, ich glaube nicht. In der Ausbildung steht zuallererst die Frage: Wer bin ich überhaupt? Das ist absolut zentral und fundamental. Da führt kein Weg dran vorbei. FS: Ist die Frage nach den eigenen Themen nicht genau darum so unglaublich wichtig? An einer Schauspielschule kümmerst du dich jeden Tag vor allem um deine Muskulatur, deinen Kehlkopf, dein Zwerchfell, den mittleren Zungenrücken oder um deine Füße auf dem Boden. Den größten Teil deiner Zeit verwendest du … SL: … auf dich. Und dann grad nochmals auf dich.

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FS: Deshalb darf es nicht nur darum gehen, uns einen fremden Stoff »zu eigen« zu machen. Schon in jedem einzelnen Szenenstudium und jedem Projekt geht es darum, etwas persönlich und unbedingt erzählen zu wollen. SL: Und somit etwas Bedeutsames. Wer bin ich, wenn ich spiele? In meinem Improvisationsseminar gibt’s eine Sequenz mit Solos. Es gibt nichts als die leere Bühne, einen Stuhl, das Publikum und nur vier Regeln. Die Wichtigste: Du darfst alles tun, aber tue es für uns. Die Solos dauern 15 bis 45 Minuten. Manchmal wird der Spielraum voll ausgenutzt und es wird wirklich persönlich. Sie erzählen, tanzen, greifen zu. Manche verschließen sich komplett und gleiten weg. Bei den Feedbacks stehen meist zwei Punkte im Zentrum: Ist Neues zutage getreten? Sind wir mitgenommen worden oder wurden wir alleingelassen? Dieser zweite Punkt ist mir der wichtigste. FS: Was ist die übergeordnete Aufgabenstellung? SL: Inhaltlich gibt es keinen Rahmen: Was immer du tust, tue es für uns! Folge deinen Impulsen, nimm aber auch unsere Bewegungen wahr und arbeite damit. FS: Wann machst du das? SL: Das ist im zweiten Jahr. Im dritten Semester. FS: Was entstehen für Geschichten? SL: Es sind meist keine linearen Geschichten. Es sind eher Assoziationsfelder, in denen die Zuschauenden ihre eigenen Geschichten finden. Ganz wichtig ist die Erfahrung, was sie mit sich selbst auf der Bühne erleben, was für Zustände durchgemacht werden. Panik, Trotz, Lust, Hemmungen etc. »Ich habe dich noch nie so gesehen« – wenn es gut läuft, ist das der Tenor beim Feedback. Etwas Neues entsteht eigentlich immer. Sehr oft ist es so, dass Masken abgelegt werden, dass Images aufbrechen und dass es dafür positive Bestätigung gibt: »Du warst wie nackt« oder »das war superschön«, »ich musste weinen, weil ich begriffen habe, dass du xyz bist«. FS: Kommen wir an dieser Stelle auf den Punkt der Verantwortung zurück. »Ich mache es für euch.« Das ist das Zentrum. Ist den Studierenden klar, dass sie damit auch eine Verantwortung übernehmen? Thematisiert ihr das im Impro-Seminar? SL: Ja, immer wenn es um Potenziale von Situationen geht, vor allem aber bei diesen Solos. Wenn im Feedback herauskommt, dass es niemanden im Zuschauerraum etwas anging, kommen sofort die heißen Fragen: Warum tust du das? Warum müssen wir dir zugucken? Wolltest du uns was erzählen? Das landet dann auch wieder schnell bei der Frage: Wer bin ich, wenn ich spiele?

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FS: Denken wir das jetzt mal einen Schritt weiter. Ich sitze auf diesem Stuhl und habe einen Text von Schiller. Ich stelle mich vollständig zur Verfügung. Im Zentrum meiner Arbeit stände dann noch immer die Verantwortung für mein Publikum, für das ich mich, gemeinsam mit Schiller, an einem Inhalt reibe. Das ist für Studierende am Anfang ein schwieriger Punkt. Je früher ich das vermittle, umso selbstverständlicher wird es später. Also fange ich sofort damit an. Schon im ersten Semester. SL: Ja. Du bist Schillers Übersetzer, sein Transmitter, der Alchemist, der Schiller mit deinen Mitteln in mein Leben bringt. FS: Sind wir in unserer Arbeit an dem Punkt? SL: Man arbeitet sich hin. Manche sind immer schon da, manche kommen da hin und andere kommen nie dahin. Ich glaube, man kann das nur beschränkt beherrschen. In der letzten Arbeit an den Tschechow-Szenen hat es einen Moment zwischen zwei Spielerinnen gegeben, da ist richtig etwas passiert. Sie haben wirklich etwas zugelassen und uns – na ja, mich – vollständig mitgenommen. Da wusste ich plötzlich wieder, ah, so ist das gedacht mit dem Theater! Das kann es, darin liegt die große Kraft. Das war ein Glücksmoment. In diesem Stadium der Ausbildung kannst du doch auch einfach froh sein, wenn etwas halbwegs so stattfindet, wie es gearbeitet ist. Das aber ging bereits viel weiter. FS: Was sind die Voraussetzungen für einen solchen Moment? SL: Die beste Vorbereitung ist keine Garantie für das, was ich meine – einen zutiefst erotischen Theatermoment. Erotik kann man nicht herzaubern. Du kannst lediglich Bedingungen schaffen, ihr die Tür öffnen, eintreten muss sie dann wohl selber. Erzwingen und beherrschen kann ich sie nicht, weil die Erotik ja zwischen »oben« und »unten« passiert. Drei Idioten in der ersten Reihe können reichen und es ist aus. FS: Und doch haben wir in diesen Prozessen viel in der Hand. SL: Für mich stellt sich erneut die Frage nach der Grundhaltung. Arbeiten wir eher experimentell forschend oder bewahrend konstituierend? Ist das Klima eher diskursiv oder belehrend? Was sind unsere Ziele, was sind Dogmen und Glaubenssätze? In meinem Mind-to-Stage-Seminar stelle ich anfangs die Frage, wer sich für kreativ hält. Oft dauert es recht lange, bis jemand die Hand hebt. Der Begriff ist also durchaus auch negativ besetzt. Ich gelte schnell als überheblich, wenn ich mir zugestehe, ein kreativer Mensch zu sein. Das ist doch eine Katastrophe – wir müssen als Schule auch viel niederreißen, nicht nur aufbauen. Es ist ein schwieriges Feld, eine

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Atmosphäre aus wirklich freiem und forschendem Schaffen und dem Streben nach fundiertem Handwerk zu kreieren. Das ist hochkomplex. Man greift dabei zu allerhand Methoden und Werkzeugen – Feedbackmodelle werden probiert, Skizzenformate implementiert, es wird reflektiert, beschrieben, gefordert … Die Mischung macht’s. Das ist ein ständiges Ringen, Entwickeln und Reflektieren in einem dynamischen Prozess. Es gibt sehr viele Rahmen, die zusammenspielen. Wechselrahmen, die mal so, mal so bestückt werden. Kurz und gut: Es lebt. FS: Und alle versuchen, ständig wechselnden Kriterien zu ­genügen. SL: Ich habe mit einer Berner Studierenden ihr Abschlussprojekt gemacht. Sie hatte eine wunderbare persönliche Geschichte über ihre Mutter. Angefangen hat sie mit Videoprojektionen und ich weiß nicht mit was noch allem. Ich fragte, warum machst du das? Was willst du damit? Sie antwortete, ich bin doch hier an einer Kunstschule, da braucht es doch jetzt Video auf der Bühne. Das macht man doch heute so? Dazu hatte sie einen fetten theoretischen Exkurs. Schlussendlich hat sie einen Kehrbesen genommen und ihn geritten wie ein Pferd. Immer im Kreis herum. Dazu hat sie ihre Geschichte erzählt. Das war fantastisch. Darum geht’s! Den »Dreck« auszuspülen und zu sich selbst zu finden. Jenseits aller Theorie. Die Theorie soll stützen und öffnen, nicht verbauen und versperren. FS: Wir könnten sagen, vergiss den ganzen Kram außerhalb deiner selbst … SL: … aber sei dir bewusst, dass du ein Teil davon bist. Wer bin ich, wenn ich spiele? Ich diskutiere ganz wenig über inhaltliche Aussagen von Studierenden. Ich teile meine Position mit, stelle aber keinen Inhalt infrage. Es sind ihre Wahrheiten und Glaubenssätze. FS: Weil Inhalte nur ihre Kraft durch die Persönlichkeit des Künstlers entfalten. SL: Richtig. Und diese drückt sich auch in der Form aus. Was sind deine Ziele? Welche Bedeutung hat es für dein Publikum? Wenn es dein Ziel ist, die Kunst umzukrempeln, dann musst du das tun, aber verzweifle nicht, wenn dir niemand folgen kann. Vielleicht wirst du ja posthum geehrt. Vielleicht war es aber auch kein gutes Ziel, die Kunst umzukrempeln. Vielleicht solltest du lieber deinem Publikum was erzählen. FS: Sind das Fragen an eine moderne Schauspielausbildung? SL: Ich denke, ja. Grundsätzlich ist alles eine Frage der Ziele. Wollen wir Schauspielgöttinnen mit einem ebenso göttlichen Handwerk, oder wollen wir moderierende Vermittler, die mit den Mitteln des The-

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aters auf die Fragen der Zeit reagieren, auch wenn es dabei etwas holpert? Das sind zwei sehr unterschiedliche Ziele, die sich keineswegs ausschließen. Am liebsten möchten wir wohl beides.

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Julia Kiesler Merkmale eines performativen Umgangs mit dem Text Beobachtungen aus der Probenprozessforschung Ausgangspunkt Das zeitgenössische Theater bringt Umgangsformen mit Texten und gesprochener Sprache hervor, die eine veränderte Perspektive auf Prozesse des Darstellens und Sprechens auf der Bühne ermöglichen. Um diese Veränderungen methodisch aufzuarbeiten und für die Schauspielausbildung nutzbar zu machen, habe ich an der Hochschule der Künste Bern zwischen 2014 und 2017 ein Forschungsprojekt durchgeführt, das sich der Beobachtung verschiedener Probenprozesse ­widmete. Untersucht wurde der Erarbeitungsprozess von Texten innerhalb von fünf verschiedenen Probenprozessen. Ich habe u. a. Arbeitsweisen unter die Lupe genommen, die keine realistische Spiel- und Sprechweise hervorbringen, sondern sich einer performativen Spielpraxis zuordnen lassen. Das Ziel meiner Untersuchung war es, Ansätze der Textarbeit, wie sie heutzutage in der Theaterpraxis zum Einsatz kommen, exemplarisch zu beschreiben und methodisch als »performative Ansätze der Textarbeit« herauszuarbeiten.1 Außerdem bin ich der Frage nachgegangen, vor welchen Herausforderungen auch unsere Studierenden angesichts einer performativen Spielpraxis stehen werden und welche Rückschlüsse daraus für die Schauspielausbildung und Sprecherziehung zu ziehen sind. Für die Untersuchungen habe ich mich ins Feld der Probenprozessforschung begeben und die drei folgenden Probenprozesse teilnehmend beobachtet. Untersuchungsgegenstand 1.  Workshop des Regisseurs Laurent Chétouane zum Thema Shakespeare-Sonette mit Masterstudierenden des Fachbereichs Theater an der Hochschule der Künste Bern, 2.  Probenprozess zur Inszenierung Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch in der Regie von Volker Lösch am Theater Basel,

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3.  Probenprozess zur Inszenierung Faust. Der Tragödie Erster Teil von Johann Wolfgang von Goethe in der Regie von Claudia Bauer am Konzerttheater Bern. Meine Kollegin Claudia Petermann, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin ebenfalls in das Forschungsprojekt involviert war, beobachtete und untersuchte: 4.  Probenprozess zur Inszenierung Warum läuft Herr R. Amok? nach dem Film von Rainer Werner Fassbinder in der Regie von Susanne Kennedy an den Münchner Kammerspielen, 5.  Probenprozess zur Inszenierung Wut von Elfriede Jelinek in der Regie von Nicolas Stemann an den Münchner Kammerspielen. Ich möchte im Folgenden einen zusammenfassenden Einblick in meine Untersuchungsergebnisse geben und erläutern, was ich unter einem »performativen Umgang mit dem Text« verstehe.2 Zum Begriff »performativ« In Bezug auf den Begriff »performativ« greife ich zum einen auf die »Theorie des Performativen« zurück, wie sie insbesondere Erika F ­ ischer-Lichte in die theaterwissenschaftliche Diskussion eingebracht hat, zum anderen auf eine Spielweisenklassifikation von Bernd ­Stegemann. Fischer-Lichte leitet den Begriff des Performativen von John Austins Sprechakttheorie ab und bezeichnet kulturelle Prozesse, insbesondere Aufführungen, dann als performativ, wenn sie wirklichkeitskonstituierend und selbstreferenziell wirken. Außerdem wird der Begriff für die Beschreibung von Darstellungsformen benutzt, die sich von realistischen und epischen Spielweisen abgrenzen. Innerhalb performativer Darstellungsformen geht es nicht mehr um die Erzeugung einer fremden Wirklichkeit wie im realistischen Spiel, sondern – wie Stegemann schreibt – um die Erzeugung von Spielsituationen, »in denen der Spieler sich selbst darstellt, seine Situation vor Zuschauern problematisiert und die Frage nach dem Realitätsgehalt der sich hier ereignenden Spiele thematisiert«.3 Das Spiel der Schauspieler verliert hier sozusagen »den Charakter des ›Als ob‹«.4 Ich habe den Begriff für verschiedene Zugänge der Texterarbeitung genutzt und möchte hier in Kürze beschreiben, wie sich ein »performativer Umgang mit dem Text« charakterisiert.5

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Merkmale eines performativen Umgangs mit dem Text

Merkmale eines performativen Umgangs mit dem Text A)  Verschiedene Figurenkonzepte Ein performativer Umgang mit dem Text ist zunächst einmal geprägt durch Figurenkonzepte, in denen der Schauspieler oder die Schauspielerin ein distanziertes Verhältnis zur Figur einnimmt. Hier tritt eher die persönliche Präsenz des Schauspielers hervor, als dass eine geschlossene Figurenidentität verkörpert wird. In den drei Produktionen, die ich beobachtet habe, waren Figurenkonzepte zu finden, wie: a)  Figurenfragmentierung: Eine Figur wird durch mehrere Schauspieler gespielt und der einer Figur zugehörige Text wird auf mehrere Schauspieler aufgeteilt. Eine geschlossene Figurenidentität wird dadurch aufgehoben. b)  Mehrfachbesetzungen: Ein Schauspieler spielt mehrere ­Figuren. c)  Chor-Figuren. d)  Meta-Figuren: Diese entstehen durch Dekonstruktionstechniken, wie z. B. durch die Trennung von Spiel und Sprache bzw. Körper und Stimme. e)  Figuren als Nebenprodukt: Diese Formulierung stammt von Laurent Chétouane und deutet auf Figurenkonzepte hin, die sich zwischen Figurenfragment und Schauspielerpersönlichkeit bewegen. Der Schauspieler steht hier mit seiner Persönlichkeit im Fokus. Eine Figur kann dabei aus dem Prozess des Spielens und Sprechens entstehen, aber eher in den Köpfen der Zuschauer. B)  Aspekte einer performativen Situationsanordnung Es werden im Rahmen eines performativen Umgangs mit dem Text Spielsituationen hergestellt, in denen –   die gemeinsame Anwesenheit von Spielenden und Zuschauenden innerhalb der realen Theatersituation betont wird, –   in denen die Art und Weise des Spielens und Sprechens im Prozess des Spielens selbst thematisiert wird, –   und in denen Prozesse des Probierens und Entwickelns ausgestellt werden und damit die Arbeitssituation des Schauspielers thematisiert wird.

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C)  Die Behandlung des Textes als Material Ein weiteres Kennzeichen für einen performativen Umgang mit dem Text ist die Behandlung einer Textvorlage als Material. Das heißt, ein Text wird nicht als »geschlossenes Werk« betrachtet, das es werkgetreu »umzusetzen« gilt, sondern als Material, das bearbeitet wird und in das sich Regieteams und Schauspieler als Co-Autoren einschreiben. Hierzu zählen Arbeitsprozesse, die durch Kontingenz geprägt sind, d. h. in denen z. B. die Textauswahl, die Textreihenfolge oder die Textzuschreibung nicht festgelegt sind. Auch intertextuelle Arbeitsweisen gehören hierzu, die eine Stückvorlage dekonstruieren und mit Texten aus anderen Quellen ergänzen. Volker Löschs Produktion arbeitete beispielsweise damit. Hier wurden zusätzliche Texte generiert, z. B. durch Interviews, durch Diskussionen, durch das Erfinden von Geschichten oder durch Aufgabenstellungen. Diese zusätzlich generierten Texte wurden während der Probenarbeit in einem aufwendigen Prozess kodiert, gekürzt und in die Stückvorlage Biedermann und die Brandstifter montiert. Auf diese Weise entstand eine Textfassung mit einer intertextuellen Struktur, die verschiedene Perspektiven auf ein Thema warf, in diesem Fall das Thema »Migration«. Es ging hier weniger um die »Umsetzung« des Stückes von Max Frisch als vielmehr um das Hervorbringen einer vielstimmigen, multiperspektivischen Wirklichkeit. Eine Textvorlage als Material zu behandeln, kann auch heißen, sie in eine musikalische Partitur zu setzen. In diesem Zusammenhang habe ich Kompositionsprozesse beobachtet und beschrieben, die u. a. mit der chorischen Textarbeit bzw. mit einer musikalischen Arbeit am Text in Verbindung standen. Zum Beispiel wurden die Interviews, die für die Biedermann-Produktion von Volker Lösch mit Migrantinnen und Migranten geführt wurden, für eine chorische Erarbeitung rhythmisiert und instrumentiert. Zunächst gab es den aus den Interviews transkribierten ­Prosatext: Beispiel für einen Kompositionsprozess Ich hab im Kopf den Geruch vom Keller in meiner Kindheit. Wenn man an der Kellertüre vorbeiging, da kam eine angenehme Kühle, ein schimmeliger Geruch. Ich habe das so geliebt. Hier, wenn man vorbeigeht, schmeckt es nach Waschmittel. Die ganze Straße, weil dort meistens die Waschkeller sind, das ist so was von ekelhaft. Es ist Wahnsinn, Erinnerungen werden von Gerüchen

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wahnsinnig gefördert. Ein altes Ehepaar wohnt unter uns, richtige Schweizer. Ich versuche immer herauszufinden, was sie gekocht haben. Aber ich kann es nicht rausfinden. In Ungarn roch das ganze Haus nach Gulasch, da kam man nach Hause, aah, ja, der Schneider hat das gekocht, und hier rätsle ich immer. Das ist so komisch.6 Dieser Text wurde im weiteren Probenverlauf dekonstruiert, mit anderen Interviewpassagen kombiniert sowie rhythmisiert und instrumentiert. D. h., es wurden Zäsuren und Pausen festgelegt und einzelne Textpassagen auf verschiedene Stimmgruppen aufgeteilt: Daraus ergab sich folgende »Partitur«: 1 Frauenstimme ein altes ehepaar wohnt unter uns, richtige schweizer. ich versuche immer herauszufinden, was sie gekocht haben. alle Frauen aber ich kann es nicht. 1 Frauenstimme ich hab im kopf / den geruch vom keller / in meiner kindheit. wenn man an der kellertüre vorbeiging, da kam eine angenehme kühle, ein schimmliger geruch. ich habe das so geliebt. Hier, wenn man vorbeigeht, schmeckt es nach / waschmittel. alle Frauen in ungarn / roch das ganze haus nach gulasch. 1 Männer-, 2 Frauenstimmen obwohl ich eingebürgerter schweizer bin, fühle ich mich fremd, noch immer fremd. alle ich kam im dezember hier an. viel licht, und alles sehr hübsch. aber leer / und kalt. es ist, als ob keiner in diesen häusern / wohnt. es ist, als ob die leute nicht leben.7 Interessant sind derartige Kompositionsprozesse u. a. für die chorische Textarbeit. Die Analyse dieser Prozesse zeigt methodische Wege auf, wie sich ein Chor z. B. rhythmisieren und instrumentieren lässt. Aus diesen Prozessen der Textbearbeitung ergaben sich schließlich auch Ansätze der Texterarbeitung, die insofern zu einem »perfor-

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mativen Umgang mit dem Text« gezählt werden können, als dass sie eine Wirklichkeit weniger darstellen, als vielmehr herstellen. D)  Musikalisierungsprozesse: musikalische Arbeit am Text und chorische Textarbeit Hierzu gehören zum einen Musikalisierungsprozesse, die ich im Zusammenhang mit einer musikalischen Arbeit am Text sowie mit der chorischen Textarbeit beschrieben habe. Sie bringen vielstimmige Erscheinungsformen hervor wie das polyphone Sprechen oder das chorische synchrone Sprechen. Innerhalb einer musikalischen oder auch chorischen Arbeit am Text werden sprecherisch-stimmliche Mittel festgelegt. Hier wird ein Text eher rhythmisch-musikalisch als nach Sinnschritten gegliedert. Dadurch treten in der Realisationsform bestimmte sprecherisch-stimmliche Mittel als auffällig hervor. In allen drei Produktionen, die ich untersucht habe, sind Sprechweisen entstanden, in denen Parameter wie der Sprechrhythmus, die Sprechgeschwindigkeit, die Pausengestaltung oder der Stimmklang in den Vordergrund der Wahrnehmung rücken. Die sprechkünstlerischen Gestaltungsmittel werden hier nicht primär in ihrer expressiven Funktion gebraucht, sondern phänomenal, d. h. sie treten in ihrer Materialität hervor. Diese phänomenal in Erscheinung tretenden sprechkünstlerischen Mittel habe ich als sprechkünstlerische Phänomene beschrieben. Sie brechen zwar mit der Norm eines text- bzw. sinngerechten Gebrauchs, sind aber in der Lage, einen ästhetischen Erfahrungsraum zu öffnen und Inhalte für die Zuschauer nicht nur darzustellen, quasi auszudrücken, sondern erfahrbar und erlebbar werden zu lassen. Eine musikalische oder chorische Arbeit am Text erfordert die Fähigkeit eines musikalischen Sprechdenkens und Hörverstehens. Hier kann nicht allein »die Konkretheit der Gedanken«, wie Aderhold sagt, als Maßstab für die Gestaltung eines Textes gelten.8 Die Schauspieler müssen in der Lage sein, sich in eine musikalische Partitur einzufügen, die vom Sinn des Textes bzw. von einer semantischen gedanklichen Gliederung abweichen kann. E)  Intervokale Herangehensweisen Weiterhin zähle ich intervokale Herangehensweisen zu einem performativen Umgang mit dem Text. Diese stehen im Zusammenhang mit Monologisierungsprozessen, aus denen ein intervokales Sprechen hervorgeht. Intervokales Sprechen meint, dass nur eine Schauspielerin oder ein einzelner Schauspieler mit unterschiedlichen Stimmen spricht

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und damit verschiedene abwesende Figuren markiert. Diese Sprechweise steht in Verbindung mit dem Zitieren von Sprechweisen und Stimmcharakteren. Sie kann sich sowohl auf das Zitieren konkreter Personen beziehen als auch auf das Zitieren bestimmter Klischees. Die Theaterwissenschaftlerin Helga Finter bezeichnet diese Zitierpraxis in Anlehnung an den Begriff der »Intertextualität« als »Intervokalität«.9 Intervokales Sprechen ist in den von mir und meiner Kollegin untersuchten Probenprozessen z. B. entstanden, weil ein Ensemble Sprecherinstanzen für eine Textfläche gesucht hat, die ohne Figurenangaben auskommt oder weil dialogisch angelegte Szenen monologisiert wurden. Die Agierenden erzeugen durch eine intervokale Sprechweise Vielstimmigkeit. Sie benötigen dafür eine wandlungsfähige Stimme, den Mut zum »Verstellen ihrer Stimme«, was einem authentischen Sprechen widerspricht, die Fähigkeit zum Überzeichnen und Parodieren sowie die Fähigkeit zur Imitation und Nachahmung. Gleichzeitig benötigen sie ein Bewusstsein für Prozesse der Reduktion. Denn szenische Vorgänge werden hier nicht mehr auf der Bühne, sondern erst im Kopf der Zuschauer »durchgespielt«. F)  Synchronisationsprozesse / Trennung von Spiel und Sprache Weiterhin zähle ich Synchronisationsprozesse zu einem performativen Ansatz der Textarbeit. Sie gehen mit einer Trennung von Spiel und Sprache, von Körper und Stimme einher und arbeiten mit dem Einsatz von Audio- und Videotechnik. Beispielsweise entstand innerhalb der Faust-Produktion von Claudia Bauer aus der Trennung von spielerischer Darstellung auf der Videoebene und sprachlicher Live-Synchronisation auf der Vorderbühne sowie durch einen technisch erzeugten Pitch-Effekt eine Art dritter Stimmkörper, der nicht an die sichtbaren Körper auf der Bühne gekoppelt blieb. Eine Figur konstituierte sich hier auf einer Meta-Ebene. G)  Sprechen auf der Basis von Nicht-Wissen Schließlich zähle ich zu einem performativen Ansatz der Textarbeit Verfahren, die Bedeutungen offenlassen und eindeutige Lesarten und Interpretationen vermeiden möchten. Hierzu zählen Darstellungsund Sprechformen, die auf der Basis von Nicht-Wissen und Unvorhersehbarkeit entstehen. Beispielsweise wurden die Shakespeare-Sonette in der Probenarbeit von Laurent Chétouane nicht auf der Basis einer Situations- und Figurenanalyse erarbeitet, sondern aus einem Zustand des Nicht-Wis-

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sens. Es wurde nicht festgelegt, wer wann welchen Text auf welche Art und Weise spricht. Im Zentrum stand die immer wieder neue Begegnung des Schauspielers mit einem Text und die Erfahrung, die der Schauspieler im Moment dieser Begegnung macht. Der Umgang mit dieser Unvorhersehbarkeit (Emergenz) verlangte von den Schauspielern ein hohes Maß an Offenheit, Flexibilität, Wahrnehmungsfähigkeit und Eigenständigkeit. Diese Fähigkeiten sind bekannter Bestandteil jeder Schauspielausbildung. Sie erweisen sich im Rahmen performativer Spielpraktiken jedoch in noch höherem Maße als Voraussetzung, damit sich ein gemeinsamer Erlebnisund Erfahrungsraum öffnen kann. Definition für einen performativen Umgang mit dem Text Zusammengefasst lassen sich unter einem »performativem Umgang mit dem Text« Ansätze der Textarbeit subsumieren, die nicht auf eine Abbildung, Nachahmung von Wirklichkeit zielen, sondern auf die Konstitution einer Wirklichkeit. Ein performativer Umgang mit einem Text fragt weniger danach, wie eine Wirklichkeit dargestellt werden kann, als vielmehr danach, wie sie hergestellt bzw. für die Zuschauer erfahrbar und erlebbar werden kann. Dabei zähle ich zu einem »performativen Umgang mit einem Text« nicht nur den Prozess der Texterarbeitung, sondern auch Prozesse der Textgenerierung bzw. ­Textbearbeitung. Rückschlüsse für die Schauspielausbildung Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesen Beobachtungen und Erkenntnissen für die Schauspielausbildung ziehen? 1.  Die Schauspielausbildung muss sich mit verschiedenen Figurenkonzepten auseinandersetzen! Es ist heute nicht nur notwendig, eine Figur ganzheitlich zu verkörpern, sondern auch selbstreferenziell zu agieren, den Status von Figurenfragmenten anzunehmen und sich als Teil einer dekonstruierten Figurenkonzeption zur Verfügung zu stellen. 2.  Die Schauspielausbildung muss sich mit wechselnden Situationsund Raumkonzepten auseinandersetzen! Es braucht die Fähigkeit, auch innerhalb einer performativen ­Situationsanordnung agieren zu können, die sich von repräsentativen

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Situations- und Raumkonzepten einer realistischen Spielpraxis unterscheiden. 3.  Die Schauspielausbildung muss die Autorschaft fördern! Weiterhin muss die Autorschaft gefördert werden. Schauspieler und Regieteams schreiben sich durch intertextuelle Arbeitsweisen oder durch Kompositionsprozesse als Co-Autoren in eine erst während des Probenprozesses entstehende Textfassung ein. Intertextuelle Arbeitsweisen und vielstimmige Ansätze der Texterarbeitung sind zum einen interessant in Bezug auf die Erarbeitung postdramatischer Texte. Auch hier findet man intertextuelle Strukturen wieder. Die Stücke von Elfriede Jelinek z. B. oder auch von Heiner Müller kennzeichnen sich durch vielstimmige Bezüge zu anderen Quellen, zu anderen Texten und Autoren. Anzustreben wäre eine Erarbeitung dieser Texte, ohne dass deren Vielstimmigkeit und Mehrdeutigkeit verloren geht. Hier helfen vielstimmige Ansätze wie die chorische, musikalische oder intervokale Textarbeit weiter. Außerdem können kompositorische Verfahren, wie z. B. die Instrumentierung eines Textes für die Personenzuschreibung einer solchen Textfläche nutzbar gemacht werden. Zum anderen eignen sich intertextuelle Arbeitsweisen für eigenständige Projektarbeiten von Studierenden. In der Projektarbeit steht meist nicht die Erarbeitung eines bereits geschriebenen Stückes im Vordergrund, sondern ein Thema, zu dem Texte überhaupt erst generiert werden müssen. Die von den Studierenden hier geforderte Autorschaft erfordert Recherchefähigkeiten, Fähigkeiten in der Generierung von Textmaterial, also mitunter auch Schreibkompetenzen sowie die Fähigkeit, Montagetechniken, Zitierverfahren, Prozesse des Kodierens und Reduzierens oder auch Kompositionstechniken anwenden zu können. Ich finde es sehr wichtig, den Studierenden heutzutage innerhalb einer Schauspielausbildung Methoden der Textgenerierung und Textbearbeitung zu vermitteln, nicht nur, weil auch am Theater diese Autorschaft immer mehr gefordert wird, sondern auch, um auf den immer größer werdenden Wunsch von Studierenden oder auch Schauspielern im Beruf zu reagieren, in der freien Szene zu arbeiten.

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4.  Das Bewusstsein für verschiedene Spiel- und Sprechweisen und deren Brüche muss ausgebildet werden! Es ist notwendig, ein Reflexionsbewusstsein für die Unterscheidung von realistischen, epischen und performativen Darstellungsformen zu besitzen, um sich dieser bedienen zu können. Die Studierenden sollten die Fähigkeit erlangen, Prozesse des Tuns und Nicht-Tuns zu reflektieren ebenso wie das Brechen von Darstellungs- und Sprechkonventionen und Erwartungsnormen. 5.  Die Schauspielausbildung muss Kompetenzen für einen ­performativen Umgang mit Texten und gesprochener Sprache ausbilden! Hierzu gehören Fähigkeiten im Chorsprechen, ein handwerkliches Bewusstsein für den musikalischen Gebrauch von Sprache, das Bewusstsein für Techniken des Fragmentierens und Dekonstruierens von Texten, Erfahrungen im Umgang mit der technisch bearbeiteten Stimme, Fähigkeiten im Umgang mit Emergenz ebenso wie im Umgang mit Vielstimmigkeit. Die Frage, die sich natürlich aufdrängt, lautet: Wann und wie soll das alles in einer drei- bis viereinhalbjährigen Schauspielausbildung Platz haben? Und wie bilden wir diese Dinge aus? Dazu möchte ich sagen, dass es sicher nicht darum gehen kann, dass ein Schauspieler oder eine Schauspielerin alles kann! Ebenso wenig, dass eine Schauspielausbildung alles vermittelt. Die Ausbildung sollte den Studierenden aber ein Spektrum bieten, innerhalb dessen sie sich ausprobieren dürfen und spezialisieren können. Es müssen Experimentierfelder geschaffen werden, in denen sowohl verschiedene Arbeitsweisen und Methoden als auch das selbstständige Kreieren der Studierenden im Zentrum stehen. 1 Vgl. Julia Kiesler: Der performative Umgang mit dem Text. Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater, Recherchen 149, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2019. 2 Vgl. hierzu auch: Kiesler: Der performative Umgang mit dem Text sowie Julia Kiesler, Claudia Petermann: »Zwischen Virtuosität und Persönlichkeit. Perspektiven für eine gegenwärtige Schauspielausbildung«, in: dies. (Hrsg.): Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater, Recherchen 141, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2019, S. 10 – 40. 3 Bernd Stegemann: »Drei Formen des Schauspielens«, in: Anton Rey, Hajo ­Kurzenberger, Stephan Müller (Hrsg.): Wirkungsmaschine Schauspieler – vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielemacher, Alexander Verlag, Berlin 2011, S. 107. 4 Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Transcript Verlag, ­Bielefeld 2012.

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5 Für beispielhafte und ausführlichere Erläuterungen vgl. Kiesler, Der ­performative Umgang mit dem Text, 2019. 6 Bernd Freytag, Christoph Lepschy, Volker Lösch: Textmaterial des Chores 1. Stand: 10.01.2014 / 14.01.2014 / 17.01.2014 / 23.01.2014. Unveröffentlichtes Erhebungsmaterial. 7 Freytag, Lepschy, Lösch: Unveröffentlichtes Erhebungsmaterial vom 23.01.2014. 8 Egon Aderhold: Sprecherziehung des Schauspielers, Henschel Verlag, Berlin 2007, S. 219. 9 Vgl. Helga Finter: »Intervokalität auf der Bühne. Gestohlene Stimme(n), gestohlene(r) Körper«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.): Stimmen Klänge Töne. ­Synergien im szenischen Spiel, Schriftenreihe Forum Modernes Theater Band 30, Narr Verlag, Tübingen 2002, S. 42.

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»Wer bin ich, wenn ich spreche?« Julia Kiesler im Gespräch über die ­Sprechausbildung Frank Schubert: Du hast deinen Schauspielstudierenden im fünften Semester die Aufgabe gegeben, sich für die Arbeit im Sprechunterricht einen Text von Elfriede Jelinek, Heiner Müller oder René Pollesch auszusuchen. Julia Kiesler: Freiwahltexte mache ich immer wieder. Aber im dritten Studienjahr arbeite ich gern mit Autoren, die postdramatische Texte geschrieben haben. Von Heiner Müller waren natürlich die Intermedien dabei, die man in Zement findet. Eine Studierende hat sich den Prosatext Traumtext Oktober 1995 ausgesucht, den Müller kurz vor seinem Tod geschrieben hat. Zwei Studierende haben sich einen Monolog von Pollesch ausgesucht und die meisten Frauen haben Texte von Elfriede Jelinek gewählt. Da wurde auf Wolken.Heim., Rein Gold, Rechnitz (Der Würgeengel) und Ulrike Maria Stuart zurückgegriffen. FS: Welche Intentionen stehen hinter dieser Aufgabenstellung? JK: Mich interessiert, die Studierenden mit postdramatischen Texten Erfahrungen machen zu lassen. Ich finde in diesen Texten nicht mehr unmittelbar eine Figurensprache wieder. Jelineks Texte sind stark von Vielstimmigkeit und Intertextualität gekennzeichnet. Sie stellt Bezüge zu anderen Texten und anderen Autoren her. Sie zitiert. Das wird auch kenntlich, ohne dass sie Zitate nach- oder ausweist. Ihre Texte sind gespeist von ganz unterschiedlichen Stimmen. Die Herausforderung ist, wie ich damit schauspielerisch oder eben auch sprechgestalterisch umgehe. Was mache ich daraus? Wie gehe ich mit dieser Mehrstimmigkeit, mit dieser Vielstimmigkeit um? Im Theater wird oft chorisch gearbeitet. Die Texte eignen sich dafür natürlich hervorragend. Aber mich interessiert auch, wie die einzelnen Schauspieler mit dieser Vielstimmigkeit, mit dieser intertextuellen Struktur umgehen. Viele der Texte sind eher diskursiv. Gerade bei Jelinek. Die sind auch nicht so einfach zu verstehen. Was macht man damit? FS: Es geht nicht um eine Figur. JK: Nein, zumindest nicht in erster Linie. Ein Text wie Ulrike Maria Stuart ist schon monologisch. Er stellt einen Bezug zu konkreten Personen her. Hier lässt sich beispielsweise die Perspektive der Ulrike Meinhof einnehmen, die auch figürlich erarbeitet werden kann. Andere Texte beinhalten viele Stimmen. Rein Gold ist so ein Beispiel. Das

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ist eine Textfläche, die ohne Figurenangaben arbeitet, in der sich aber viele Figuren bzw. Stimmen finden. Es ist die erste Aufgabe, diese Stimmen herauszuarbeiten. Wir gucken, wer hier eigentlich was spricht und welche Stimme wem zuzuordnen ist. Wir instrumentieren den Text. In dem Textausschnitt, den sich eine Studierende ausgesucht hat, gibt es eine Brünhilde, die mit ihrem Vater spricht, es gibt einen Herrn und eine Frau Gibbich und einen Beamten, der dieses Ehepaar verhört. In der Herangehensweise helfen mir Ansätze, die ich in meiner Forschungsarbeit beschrieben habe. Das sind z. B. musikalische Herangehensweisen. Die Rhythmisierung und die Musikalisierung eines Textes kann hilfreich sein. FS: Was heißt, Musikalisierung und Rhythmisierung eines ­Textes? JK: Am Beispiel der chorischen Textarbeit kann man das gut erklären. Im Chor spricht nicht nur einer. Es sind viele. Die musst du irgendwie zusammenkriegen. Es ist also notwendig, dass der Text zuerst rhythmisiert wird. Das heißt, ich lege Zäsuren fest, definiere Pausen und bestimme, wo die Akzente gesetzt werden. Ich muss den Sprechrhythmus festlegen. Das kann durchaus auch von einem Denk-SprechProzess oder einer Haltung ausgehen. Je nachdem, wie man einen Text chorisch arbeiten möchte. Bei der Arbeit am Faust, am Konzerttheater Bern, ging es der Regisseurin Claudia Bauer beispielsweise darum, den Zustand Fausts herauszuarbeiten. Diese ewige Mühle, in der sich Faust befindet. Das sollte durch einen gleichförmigen Rhythmus deutlich gemacht werden, der auch immer wieder vom Sinn des Textes abwich. Zur Musikalisierung gehört eine Instrumentierung. Chor heißt ja nicht nur Synchronität. Instrumentalisierung meint die Verteilung des Textes auf verschiedene Stimmen. Aber auch wenn ich als einzelne Schauspielerin einen Text vor mir habe, der aus verschiedenen Stimmen besteht, instrumentiere ich diesen. In Jelineks Rein Gold wird ein Teil von Brünhilde gesprochen, ein anderer von Herrn Gibbich oder vom Beamten. Ich muss mir überlegen, welche Stimme gebe ich diesen »Sprecherinstanzen«, wie in der Theorie gesagt wird. Und letztlich gehören zur musikalischen Arbeit am Text die sprecherisch-stimmlichen Mittel, die wir auch als prosodische Mittel bezeichnen. Dazu gehört alles, was mit Lautstärke, Dynamik und Sprechgeschwindigkeit zu tun hat. Arbeite ich nach einem klassischen Denk-Sprech-Prozess, mache ich mir darüber nicht vordergründig Gedanken. In einem gestischen Sinne ordnen sich die prosodischen Mittel meiner Haltung, meinem Gestus, der Absicht des Sprechens und meiner Figur unter. In einer musikalischen Arbeit mit dem Text werden sie auf eine höhere Bewusstseinsebene gehoben. Sie werden festgelegt. Wie in der ­Musik.

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Wie in einer Partitur, wo der Komponist festlegt, wo forte und wo p ­ iano gespielt wird. Das wird in einer musikalischen Arbeit am Text auch festgelegt. FS: Du hast gerade die Arbeit am Faust von Claudia Bauer erwähnt. In deinen Probenbeobachtungen beschreibst du, dass viele Schauspieler durchaus Probleme mit solchen Arbeitsweisen hatten. JK: Ja. Beim Faust war das zu beobachten. Die Figuren und auch die großen Faustmonologe wurden auf mehrere Stimmen verteilt. Es gab meist vier Stimmen und einen Schauspieler, der auf einer Video-Ebene spielte. Die Monologe wurden musikalisiert. Sie wurden in einen bestimmten Rhythmus gebracht, der etwas mit dem Zustand Fausts zu tun hatte. Die Texte überlagerten sich auch teilweise. Es gab die verschiedensten Musikalisierungsstrategien. Das war natürlich ungewohnt, weil sich alle der Partitur unterordnen mussten. Die Texte wurden also nicht auf Basis eines konkreten Denk-Sprech-Vorgangs erarbeitet, den ein Schauspieler normalerweise gewohnt ist. Hier mussten sich alle einem Rhythmus unterordnen. Das war durchaus eine Schwierigkeit. Einerseits aufgrund einer mangelnden Musikalität – es fiel ihnen schwer, die Texte musikalisch zu denken –, andererseits wurde nicht einfach akzeptiert, dass es hier nicht um eine Figurenverkörperung ging, sondern um eine vielstimmige, multiperspektivische Figur, die überhaupt erst aus dem Musikalisierungsprozess hervorging. Man musste musikalisch hören können und einen vorgegebenen Rhythmus halten und ausagieren, und es brauchte ein inhaltliches Bewusstsein für diese Prozesse. Wofür ist das gut? Was ist die Intention dahinter? Was heißt das für mich auf der Bühne? Es war schwer, nicht immer wieder in einen klassischen Denk-Sprech-Vorgang zu rutschen. Alle hatten noch nie zuvor so gearbeitet. FS: Deine Arbeit mit Studierenden könnte also auch ein Link zum Verständnis solcher Arbeitsweisen am Theater sein. JK: Ja. Ich glaube schon. Das eine soll ja nicht das andere ersetzen. Es ist natürlich erst mal das Schwierigste, einen Text denken zu lernen, so zu sprechen, dass er als Figur dem eigenen inneren Denkvorgang entspringt. Das ist die Grundvoraussetzung. Aber es sind Verfahren und Ausdruckmöglichkeiten hinzugekommen, über die man im Studium nicht nur reflektieren sollte. Die Studierenden sollten diese auch kennenlernen. Es gehört heute chorisches Sprechen zum Lehrplan. Genauso sollten auch solche Musikalisierungsverfahren dazugehören. FS: Wann sollten solche Themen im Plan erscheinen? JK: Das ist schwierig zu beantworten. Die Studierenden brau-

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chen erst mal eine gewissen Grundlage und sollten über gewisse Mittel verfügen. Ich würde in der Ausbildung damit nicht unbedingt anfangen. Da kann auch sehr schnell etwas falsch verstanden werden. Man kommt dann zu schnell ins Formale. Die Studierenden sollten zuerst ihre sprecherischen Mittel kennen. Wie eigne ich mir einen Text leibhaftig an? Wie verhalte ich mich mit einem Text gestisch? Solche Grundlagen müssen gelegt sein. Aber dann kann man damit loslegen. Es ist ja auch immer die Frage, in welchem Rahmen das geschieht. Mache ich im zweiten Studienjahr einen Chorworkshop, dann kommt es dort schon zum Tragen. So geschieht es bei uns in Bern in den Laboren. Die finden im dritten Semester statt. Das ist kein schlechter Zeitpunkt. Auch in den Projekten tauchen solche Arbeitsweisen durch die Studierenden selbst immer wieder auf. Die gehen ja ins Theater und sehen, was in der Praxis passiert. Sie sind auf der Suche nach Formen und Mitteln. Da kann man sie von Anfang an bestärken und begleiten. FS: Sollten wir nach einer Ausbildungsstruktur suchen, die die unterschiedlichen Herangehensweisen an einen Text gleichberechtigt nebeneinanderstellt? JK: Darauf habe ich keine abschließende Antwort. Das kann man nur ausprobieren. Es kann nicht darum gehen, parallel die verschiedensten Formen auszuprobieren. Dagegen spreche ich mich entschieden aus. Es ist immer alles an Inhalte gebunden. Ich brauche eine Intention. Ich muss wissen, warum ich das mache. Als Dozentin hat man natürlich eine gewisse Vorstellung über den Aufbau des Lehrplans. Da bin ich sicher noch sehr klassisch unterwegs. Ich würde die postdramatischen Texte nicht gerade an den Anfang des Studiums legen. Aber wenn eine Studentin im zweiten Semester zu mir kommt und unbedingt an einem Jelinek-Text arbeiten will, werde ich das nicht verhindern. Dann kommen wir natürlich auf solche Themen zu sprechen. Oder wenn sie in einem Projekt im zweiten Studienjahr chorisch arbeiten wollen, na klar, dann kommen wir auch an solche Themen. Ich glaube, da muss man flexibel und offen bleiben. Grundsätzlich glaube ich, da stimme ich auch mit Bernd Stegemann überein, das Schwierigste ist die nachahmende Darstellung eines Menschen. Die glaubhafte Verkörperung einer Figur. Hier ist erst mal die meiste Arbeit zu investieren. Wichtig ist aber auch, dass ein Studierender von Anfang an begreift, es gibt nicht nur das eine. Im Theater werden sie immer wieder auf Arbeitsweisen treffen, mit denen sie noch nie zu tun hatten. Da hilft Offenheit und Neugier. FS: Offenheit allein reicht aber nicht. JK: Natürlich bringe ich sie auf eine bestimmte Spur. Aber auch

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für mich ist das ein Experimentierfeld. Ich habe eine Arbeit darüber geschrieben, habe Probenprozesse untersucht und über die Beobachtungen verschiedene Arbeitsweisen entdeckt und beschrieben. Die Frage, die mir immer wieder gestellt wird, ist, wie kommt das in die Lehre? Es geht nicht darum, meine Probenbeobachtungen zu kopieren. Aber die Reflexion der beobachteten Arbeitsweisen hilft mir, wenn ich mich mit einem vielstimmigen Text befasse. Eine Studentin setzte sich mit Wolken.Heim. auseinander. Das ist ein älterer Text von Jelinek. Er wurde schon 1987 geschrieben. Und dieser Text besteht weitgehend aus Textfragmenten anderer Autoren. Sie zitiert die großen deutschen Dichter und Denker wie Hölderlin, Hegel, Heidegger und thematisiert auf diese Weise den Umgang der deutschen Kultur mit dem kulturellen Erbe und auch die Gefahr, die dahintersteckt. Es wird ja immer wieder thematisiert, dass diese Dichter und Denker u. a. den Grund für die nationalsozialistische Sprache gelegt haben. Nun kann man das dem Hölderlin nicht vorwerfen, aber Jelinek will auf Mechanismen aufmerksam machen, die auch in der Sprache liegen. Sie entwickelt in Wolken.Heim. ein kollektives WIR, das in den Stimmen der toten Dichter brodelt und als Gefahr wieder an die Oberfläche kommt. Auf solche Sachen macht Jelinek aufmerksam. Und im Unterricht fragen wir uns dann natürlich, was machen wir mit diesen vielen Stimmen? Ich komme da szenisch-situativ mit einer Figurensprache nicht weiter. Das funktioniert nicht. Schon allein, weil der Text aus einem WIR heraus spricht. Da helfen dann musikalische Ansätze weiter. Und wir können nur ausprobieren, wie das aussehen bzw. hörbar werden kann. Die besagte Studentin hatte vorher an einem Projekt gearbeitet, in dem eine Band gegründet wurde. Hier wurde wirklich mit Instrumenten und Gesang gearbeitet, aber auch mit technischen Mitteln wie einer Loop-Station. Dadurch wurden Stimmenvervielfältigungen und -überlagerungen möglich. Sie hat diese Erfahrung auf die Arbeit am Jelinek-Text übertragen. Ich lasse die Studierenden eigenständige Angebote erarbeiten. Da sind sie sehr kreativ. Was die Technik angeht, sind sie meist sowieso versierter. So experimentieren wir gemeinsam und kommen zu ganz erstaunlichen Ergebnissen. Eine Arbeitsweise, die ich in meiner Forschungsarbeit auch herausgearbeitet habe, ist die sogenannte »intervokale Herangehensweise«. Hier greife ich auf einen Begriff von Helga Finter zurück. Sie bezeichnet Intervokalität als das Zitieren von Sprechweisen und Stimmcharakteren, die auf reale Personen zurückgehen oder auch auf bestimmte Klischees. Ein Beispiel ist die Arturo Ui-Inszenierung von Heiner Müller, in der Martin Wuttke sehr stark in dieser Hitler-Sprech-

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weise interagiert. Das bezeichnet Helga Finter als Intervokalität. Er zitiert, so wie er spricht, eine reale Person. Man kennt es auch aus Pollesch-Inszenierungen. Dort zitieren die Schauspieler oft bekannte Klischees von Charakteren. Auch bei Stemann haben wir das in unseren Probenbeobachtungen gesehen. Dort geht es nicht unbedingt um eine Figurenverkörperung und eine authentisch-psychologische Sprechweise, bei der die Art und Weise, wie ich spreche, aus dem gedanklichen und emotionalen Prozess einer Figur heraus entsteht. Es werden Vorbilder zugrunde gelegt, das können auch reale Personen sein, dann höre ich mich als Schauspielerin in diese Sprechweise ein. Ich höre mir die Charakteristik dieser Sprechweise an oder auch bestimmte Ausspracheformen und kopiere das. Oder besser gesagt: Ich zitiere es. Das hat letztlich auch etwas mit Nachahmung zu tun. Eine Studentin hat sich einen Text aus Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek ausgesucht. In diesem Monolog spricht die tote Ulrike Meinhof aus ihrer Gefängniszelle, kurz nachdem sie sich aufgehängt hat. Da haben wir auch überlegt, wie wir das machen. Der Text würde sich ganz im klassischen Sinne als Monolog anbieten. Aber irgendwie stimmte das nicht. Es brauchte ein Mittel, das die Schauspielerin in Distanz zu den beschriebenen Vorgängen bringt. Wir haben dann ausprobiert, über diese Intervokalität zu arbeiten. Die Studentin hat sich Videos von Ulrike Meinhof angeschaut. Die Studentin hatte die Aufgabe, sich die Sprechweise anzuhören. Wir fragten danach, ob sie eine bestimmte Charakteristik herausarbeiten kann. Wie spricht die Meinhof? Was fällt uns an ihrer Sprechweise auf? Das kann man wunderbar analysieren. Das ist auch gut fürs Hören und funktionelle Nachvollziehen. Die Studentin musste heraushören, was die Meinhof mit ihrer Sprechmelodie machte. Wie färbte sie bestimmte Vokale? Was für ein Sprechtempo hatte sie? Wann sprach sie schnell? Wann sprach sie sehr langsam? So erarbeitete sich die Studentin eine Sprechweise. Sie versuchte, bestimmte Elemente zitierend auf den Monolog zu legen. Das gab ihr eine gewisse Distanz. Sie versuchte, mit dem Text auf diese Weise arbeitend, die Meinhof hörbar werden zu lassen. FS: Es geht also nicht um ein simples Nachmachen. Eine andere Ebene ist wichtig. JK: Im Fall der Meinhof ging es gar nicht um die Verkörperung. Es ging eher um ein Hörbarwerden der Meinhof und dieses Textes. Der Text stand viel mehr im Vordergrund. Das, WAS gesagt wurde. Was Jelinek schreibt. Das steht eher im Vordergrund als die interpretatorische Sicht der Schauspielerin. Der Text thematisiert auch noch viel mehr. Da geht es um Vertuschung und den Umgang mit der RAF innerhalb

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der deutschen Geschichte. Auch darum wollen wir diesen Text hörbar machen. Was für Formen finden wir auf der Bühne, damit die Schauspielerin nicht einfach die Meinhof verkörpert? Das ist unglaubwürdig. Das wird auch dem Text nicht gerecht. Das sind Experimente, mit denen ich mich immer wieder beschäftige. Während der Corona-Zeit kam uns speziell für diesen Text auch die digitale Form zugute. Die Studentin schnitt Videos zusammen, in denen verschiedene Bilder bzw. Szenen von Ulrike Meinhof zu sehen waren, setzte sie in Zeitlupe und legte sie über den gesprochenen Text. Auch diese Ebene eröffnete eine Distanz zur Figur bzw. stellte Bezüge her und ließ vor allem den Text sprechen. Jede Arbeit ist anders, aber das Verfahren ist für vielstimmige Texte universell. FS: Musikalität ist nicht neu und steht schon immer mit dem Theater in Verbindung. JK: Ja. Musikalisierungsprozesse sind in den letzten Jahren nur sehr auffällig geworden. Mich hat in meiner Forschungsarbeit interessiert, warum das so ist. Mich haben in meinen Untersuchungen auch die Intentionen der Regisseure interessiert. Was steckt dahinter? Und das ist auch ein wichtiger Punkt, wenn ich solche Verfahren in meinen Unterricht einbaue. Nicht jeder Text ist auf diese Weise zu erarbeiten. Auch ich bin von einer gewissen Intention getragen. Ein Aspekt in den von mir beobachteten Proben war, wie Zustände sinnlich erfahrbar werden. Mir wurde noch beigebracht, es darf nie um Zustände gehen. Eine Figur hat immer eine Entwicklung durchzumachen. Bloß keine Zustände auf der Bühne! Auch hier sind Veränderungen zu beobachten. Um nicht in eine zuständliche Gefühlsduselei zu rutschen, versucht man, sie beispielsweise durch Musikalisierung sinnlich erfahrbar zu machen. Zustände werden auf diese Weise sinnfällig. FS: Das funktioniert meist auch über eine Verschiebung des Sinns. JK: Genau. Der Zuschauer wird dazu gebracht, nicht nur über das Verstehen, über einen hermeneutischen Zugang zu arbeiten, sondern auch über das Hören. Etwas klingt plötzlich ganz anders als gewohnt. Es wird mit Wahrnehmungsverschiebungen gearbeitet. Die Ausbildung kann solche Möglichkeiten begreifbar machen. Sie kann ein Verständnis dafür und vielleicht sogar die Fähigkeit eines hohen Musikalisierungsbewusstseins entwickeln. Und da kommen wir zu einer Fähigkeit, die Schauspielstudierende schon bei der Bewerbung mitbringen sollten. Musikalität. So wie Theater heute funktioniert, ist das eine essenzielle Voraussetzung, auf die viel zu wenig geschaut wird. Weiterführend kommen wir zu der Frage, wie ich im Studium Musi-

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kalität ausbilde. Reicht der klassische Gesangsunterricht? Auch in der Sprecherziehung wird funktionales Hören ausgebildet. Das ist Teil der klassischen Sprechbildung. Aber hier geht es noch einen Schritt weiter und ich finde, wir haben in Bern wirklich produktive Gefäße geschaffen. Nicht nur die Projekte, sondern auch die Labore, die den Dozierenden im zweiten Studienjahr für insgesamt fünf Wochen die Möglichkeit bieten, auf solche Aspekte und auch auf bestimmte performative Mittel einzugehen. Ich habe zum einen gemeinsam mit meiner Kollegin Renata Jocic, unserer Dozentin für Aikido, ein Chorlabor gemacht und jetzt werde ich ein Labor zusammen mit der Vokalperformerin Franziska Baumann durchführen. Dort ist die Frage, welche Mittel Musikern zur Verfügung stehen, die auch für Schauspielerinnen und Schauspieler interessant sind. Wir haben den Kurs »Potenziale des Musikalischen im sprachlichen Kontext« genannt. Wie weit kann ich Musikalisierungsprozesse denken? Wie kann der Zustand einer Figur auf Basis eines Textes musikalisch-sinnlich erfahrbar gemacht werden? Wie arbeiten wir die Situation, in der sich die Figur befindet, auf diese Weise heraus? Für die Bearbeitung solcher Fragen sind diese Gefäße hervorragend geeignet. Diese Themenstellungen sind ja nicht unbedingt Teil meines regulären Unterrichts. Ich glaube aber, man kann auf sehr einfache Art und Weise Strukturen und Unterrichtsgefäße schaffen, in denen wir uns in solche Experimentierfelder begeben und die Studierenden in diese Felder mitnehmen. FS: Das Bewusstsein für das Zusammenspiel der Mittel und Möglichkeiten kann entscheidend geschärft werden. JK: Und es kann auch erweitert werden. Ja. Da aber manche Studierende diese Aspekte sehr schnell reflektieren, einordnen und mit ihnen umgehen können und andere damit große Mühe haben, gehört die Reflexionsfähigkeit zu den entscheidenden Grundlagenthemen. Da sind wir als Dozierende herausgefordert. Hier kann nicht jeder einfach denken und arbeiten wie er will und das dann als andere Arbeitsweise verkaufen. Es muss eine Reflexionsebene geschaffen werden, auf der etwas kontextualisiert und für die Studierenden aufgearbeitet werden kann. Dieses Reflexionsbewusstsein müssen wir als Dozierende schaffen. FS: Früher ging es zentral um Denk-Sprech-Prozesse, Figurenverkörperung und Rollenstudium. Ein wirklich neues Bewusstsein muss davon ausgehen, dass keine Herangehensweise wichtiger ist als eine andere. JK: Das ist ein schwieriger Punkt, weil es etwas mit unterschiedlichen Perspektiven zu tun hat. Es sind auch viele Perspektiven dazuge-

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kommen. Wir versuchen, eine Ordnung zu finden. Die Klassifizierung von Spielweisen, wie bei Stegemann, ist so eine Möglichkeit. Da sind die realistischen Spielweisen, zu denen ich das dramatische Theater zähle. Wir haben epische Spielweisen, das gestische Prinzip würde ich dort einordnen. Und wir haben performative Spielweisen, die selbst­ referenziell und wirklichkeitskonstituierend arbeiten. So fasst die Definition den Begriff. Mir hilft diese Klassifizierung, weil ich dann zumindest eine Orientierung habe. Und letztlich helfen mir auch die 7 Ws weiter. Die W-Fragen kann ich sowohl für die realistischen als auch die performativen Spielweisen beantworten. Ich kann mir immer die Frage stellen, als WER bewege ich mich WO. In welcher Situation befinde ich mich? Ist es eine szenische Situation, die in einem imaginierten Raum spielt, der eine andere Realität behauptet, oder befinde ich mich im Hier und Jetzt auf der Hauptbühne am 25. April um 11 Uhr morgens. Wer sind meine Spielpartner? Ist es das Publikum oder ist es in erster Linie meine Spielpartnerin, die eine Figur verkörpert? Was wann im Lehrplan dran ist, spielt am Ende vielleicht gar keine Rolle. Viel wichtiger ist, dass wir reflektieren können, auf welcher Ebene wir uns befinden. Das Reflexionsvermögen muss von Anfang an trainiert werden.

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»Eingeweiht sein in ein nicht mitteilbares ­Wissen« Martin von Allmen im Gespräch über die ­musikalische Ausbildung Frank Schubert: Ich habe dich als Künstler kennengelernt. Kompromisslos. Du bist ein Suchender, ein Experimentierer. Und wenn ich es richtig verstanden habe, wolltest du eigentlich nie Lehrer sein. Martin von Allmen: Dieser Bogen lässt sich ungefähr so zusammenfassen: Erst erlernte ich als Kind vom Land das Geigespielen, lernte den Olymp der klassischen Musik kennen, studierte Dirigieren, später Gesang. Elisabeth Glauser, meine Gesangslehrerin, erkannte, dass ich vom Wesen her gar kein Sänger bin, sondern eher ein Musiker, der singt. Diese Beschreibung benutze ich noch heute. Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, dann war dies vielleicht die Initiation der ersten Kurve in meiner musikalischen Biografie. Es war der Anfang der Loslösung vom rein klassischen Weg. FS: Und die Hinwendung zu den performativen Künsten? MvA: So einfach war das nicht. Ich war damals mit dem Vokalensemble Jacqueline Kroll viel unterwegs, war Gymnasiallehrer und Kirchenkantor mit drei Chören und habe überall »Scholas« gegründet, also gregorianisch gesungen. Das war zu viel. FS: Andere wählen in einem solchen Moment den Erfolg und perfektionieren die einmal gefundene Nische. MvA: Ich war damals schon auf der Suche nach dem Sinn von Handwerk. Wie Handwerk definiert wurde, war aus meiner Sicht völliger Quatsch! Das Schulsystem ist immer noch eine Vorbereitung auf den industrialisierten Menschen. Es geht aber um den Dialog! Um den inneren Zugang. Den kann man lernen, aber man kann ihn nicht überprüfen. In einer Prüfung können wir nur sagen, ob etwas zu hoch oder zu tief ist. Aber ein Intervall zu empfinden, wäre viel wichtiger. FS: Dennoch bist du an einer Schauspielschule gelandet. MvA: Paul Roland von der Schauspielschule Bern rief mich an, ob ich Interesse hätte, mit den Schauspielstudierenden chorisch zu singen. Klar war ich interessiert. Paul ließ mir freie Hand. Also begann ich, mit den Studierenden chorische Sätze einzustudieren. Die Sinnhaftigkeit dieser Arbeit stellte ich jedoch schon bald infrage. Ich begann den Begriff Musikalität jenseits klassischer Konditionierung zu befragen. Es war eine einsame Zeit, denn ich hatte hüben, in der Musikerwelt, wie auch drüben, in der Theaterwelt, keine Gesprächspartner:

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Erstere interessierten sich nicht für Fragen außerhalb des klassischen Kanons, Letztere waren vielleicht interessiert, konnten mir aber auf der Suche nach Übersetzungen musikalischer Parameter für die schauspielerische Veräußerung nicht behilflich sein. Ich stellte mir die Frage, was Musikalität im Theater bedeutet. Was für ein Handwerk braucht das Theater wirklich? Wie lässt sich die Empfindung für musikalische Parameter im Schauspiel darstellen und weitergeben? Ich erinnere mich, als Student das Fach Harmonielehre gehabt zu haben. Nach bestandener Abschlussprüfung ging ich zurück in den Unterricht bei meinem Dirigierlehrer Martin Flämig. Er fragte mich, ob ich die Prüfung bestanden habe. Ich bejahte und er sagte: »Gut, dann fangen wir jetzt mit der Harmonielehre an.« Er begann aber mit der Funktionslehre. Beim funktionalen Denken ist ein Ton oder ein Akkord nicht nur ein Ton oder ein Akkord. Es kommt eine musikalische Bedeutung hinzu, eine inner-musikalische Funktion. Nehmen wir als Beispiel die große Terz. Diese große Terz ist nicht nur eine große Terz, wenn sie funktional gesehen wird. Als Leitton über der Quinte hat sie eine andere Funktion, als sie es als Geschlechtston des Grundakkordes hat. Sie ist Trägerin einer anderen Funktionalität. Was heißt aber musikalische Funktion? Ein anderes Beispiel: Je tiefer ich eine Akkordverbindung beschreibe und definiere, desto eindeutiger legt sie die Hörweise fest. Die Funktion der Kadenz ist es beispielsweise, ­keine anderen Möglichkeiten des Hörens mehr zuzulassen. Wenn wir nur einen Akkord hören, wissen wir nichts. Der Akkord könnte funktionstechnisch gesetzt sein oder auch modal. Selbst bei zwei Akkorden, die einander folgen, ist das Verhältnis der Akkorde zueinander noch nicht klar. Wir sind immer noch in einem offenen Akkordempfinden, vielleicht funktional, vielleicht in einer Art Modalität. Erst wenn wir drei Akkorde haben, die eine subdominantische, eine dominantische und eine tonikale Funktion zueinander aufweisen, gibt es keine Offenheit mehr. Die Art des Hörens ist festgelegt. FS: Du entschuldigst, kannst du das einem Schauspieler nachvollziehbar erklären? MvA: Ich kann sagen, du singst die große Terz korrekt, aber du singst sie nicht als Leitton. Ein Leitton ist eine Art Wegweiser. Er steht nicht für sich, er zeigt woandershin. Wenn ich denselben Ton als Grundton spiele oder singe, genügt er sich selbst. Er zeigt nirgendwohin. Die Empfindung ihm gegenüber ist eine andere. Ich habe gemerkt, dass es für Schauspielstudierende wichtig ist, diese Empfindung kennenzulernen, dieser Empfindung Raum zu geben und sie ernst zu nehmen. Das könnte der musikalischen Schauspielausbildung durchaus

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dienlich sein. Ich rede also von Herangehensweisen. Dafür ist es nicht einmal wichtig zu wissen, was eine große Terz ist. Eine große Terz zu singen ist keine Kunst. Sie zu empfinden ist die Kunst. Ich erinnere mich an das Erlebnis, als ich zum ersten Mal in meinem Leben elektroakustische Musik hörte. Der Komponist, der mir sein Stück vorspielte, saß hinter dem Rechner, drückte die Leertaste zum Starten des Stückes und – schloss einfach die Augen. Er hörte. Es gab keine Partitur, in der man mitlesen konnte. Es gab auch nichts zu korrigieren. Und wenn doch, dann auf einer ganz anderen Ebene und mit anderen Kriterien als den Richtig-Falsch-Parametern. Ich dachte, als Dirigent und Musiker sehr gut hören zu können. Nun begann ich, auf ganz neue Weise zu hören. Ich spürte, wie sehr mir der Zugang fehlte, wertfrei zu hören, ausschließlich den Tönen, Klängen und Geräuschen zu lauschen. FS: Meine Beobachtung ist, dass es dafür ein paar Jahre Erfahrung braucht. MvA: Da sind wir uns nicht einig. Ich bin der Überzeugung, die Reihenfolge ist falsch. Zuerst die Technik und dann die Kunst. Vom Kleinen zum Großen, vom Leichten zum Schweren. Immer schön kontinuierlich. Warum eigentlich? Ich habe erst spät herausgefunden, was üben bedeutet. Da war ich ungefähr vierzehn Jahre alt. Als ich als Kind Geige lernte, stand ich vor dem Notenständer und habe auf die Noten geguckt. Dann lernte ich das überprüfende Hören: falsch, richtig, zu hoch, zu tief, zu kurz. Es brauchte lange Zeit, bis ich zum ersten Mal gelernt habe, nicht wertend zu hören. Hör die Musik! Hör die Klänge! Hören, was der Ton, der Klang oder das Geräusch erzählen will, ob er eventuell für mich Bedeutung hat. Tatsächlich lernen wir zuerst: Fehlervermeidung. Ich bin oft verzweifelt, wenn ich von Studierenden Sätze höre wie: Ich kann halt nicht singen. Oder auch: Ich verstehe eben nichts von Musik. Überzeugungen sind schwer aufzulösen. Kriterien für Musikalität wurden auf objektivierbare Größen reduziert. Stimmgerät, Sampler/Synthesizer, Klavier und das Metronom zeigen an, ob etwas richtig oder falsch ist. Ich drehe die Reihenfolge um und setze andere Maßstäbe: Zuerst kommen die Empfindung und das Verständnis für den Ton, eine Musik und einen Rhythmus. Danach kommen das Üben, Wissen und Können. Üben an sich ist keine Kunst; wer wirklich etwas können möchte, der wird sich damit beschäftigen, das tun bereits Kinder. Richtig üben, den richtigen Zugang und einen Bezug zum Klang zu entwickeln, ist schon eher eine Kunst. Das hat mit Wollen, aber auch mit I­ magination

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zu tun. Ich arbeite daran, zuerst in Beziehung zu mir selbst zu kommen. Ich baue meinen inneren Maßstab auf. Ich erarbeite mir das Vertrauen in die eigene Empfindung, in das eigene Urteil. Die Grundlagen sind Feinfühligkeit, Aufmerksamkeit, Empathie und Aufnahmebereitschaft. Der eigentliche Boden ist also der Bezug zu mir selbst. Es ist einfach falsch, wenn die Angst vor einem Fehler größer ist als die Freude zu performen. Es ist wichtig, Musikalität zuerst als ein Miteinander-in Beziehung-Stehen kennenzulernen. FS: Die Struktur eines Studiums verlangt noch immer Benotungen. Das wird hier schwierig. MvA: Ich kann das Benoten natürlich nachvollziehen, weil es vermeidet, dass die Willkür Einzug hält. Wenn ich sage, ich höre, du empfindest diesen Ton nicht, dann behaupte ich das. Ich kann es nicht beweisen. Dann kann der Prüfling, der die Prüfung nicht besteht, die Bewertung angreifen. Darum suchen wir Kriterien, die für alle nachvollziehbar sind. Ich verstehe das System. Es ist trotzdem falsch. Eine Lehrstunde, die ich von meinem Patenkind erhielt, als es gerade mal fünf Jahre alt war: Es war im Winter, wir unternahmen eine kleine Wanderung durch den Wald und standen plötzlich mitten auf einer kleinen Lichtung. Es war kein Weg mehr zu erkennen, nur eine weiße, unberührte Schneefläche um uns herum. Ich frage sie, in welche Richtung wir weitergehen wollten. Da steht dieser kleine Mensch vor mir, wird ganz still, schließt die Augen und tut für ein paar Sekunden – nichts. Dann, plötzlich, öffnet sie die Augen und zeigt entschieden mit ausgestrecktem Arm in eine Richtung. Ich war verblüfft und fragte überrascht, was sie gerade gemacht habe. Sie erwiderte, ihre Kindergärtnerin habe gesagt, wenn wir nicht wüssten wohin, müssten wir einfach nur die Augen schließen und unser Herz befragen. So einfach war das! Umso konsternierter war ich wenige Jahre später, als ich sie in einer ähnlichen Situation fragte, ob sie denn nicht mehr ihr Herz befrage. Wie verächtlich sie abwinkte und das Vergangene als Kinderkram abtat, stimmte mich traurig. FS: Natürlich haben wir den Impuls in uns, Fehler zu vermeiden. In Grundlagenübungen geht es noch leicht. Aber sowie die Arbeit auf ein mögliches Ergebnis hinausläuft, geht viel Freiheit verloren. MvA: Jeder kann ein Baaa singen und diesem Baaa zuhören. Keine Bewertung, keine Interpretation. Es ist, als sagte ich zu dir, spüre das Spiel deiner Finger. Du spielst die ganze Zeit mit deinen Fingern, ich kann das im Augenwinkel sehen. Ich kann nun sagen, spiel weiter mit den Fingern und nimm das Spiel gleichzeitig bewusst wahr. Das ist im Grunde genommen alles. Es gibt im Gehirn eine kleine Weiche,

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die du dann anders stellst. Als Musiker kann ich einfach auf den Klang hören, ihm meine volle Aufmerksamkeit schenken – und auf eine Art selbstvergessen werden. Dann bin ich bei der Sache. Diese Arbeitsmethode fußt auf einer Stille. Wenn ich mit dieser Aufmerksamkeit verbunden bin, kann ich alles tun, ohne mein Können beweisen zu müssen. Etwas zu können ist nicht das Ziel. Etwas zu können ist eine Konsequenz aus dem Prozess, etwas herausfinden zu wollen. FS: Der entscheidende Wert ist also kein äußeres Ziel, das man erreicht und abrechnen kann. MvA: Genau. Ich spreche vom Bewusstsein als Kernvokabel. Bewusstsein ist kein Können. Es ist nicht mitteilbar, da seine Aneignung ausschließlich eine erleb- und erfahrbare Aktivität im Innern ist: eingeweiht sein in ein nicht mitteilbares Wissen. FS: Ich arbeite oft mit einer Methode, die darauf beruht, dass ein Gedanke nicht vorgedacht wird. Ich schicke ihn vielmehr zuerst in den Raum, um ihm dann nach zu denken. MvA: Wie in Kleists Aufsatz »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«. FS: Radikaler. Ich spreche eine Vokabel oder einen Satz, ohne ihn zu denken. Dann denke ich ihm nach und das macht etwas mit mir. Am Ende ist der Unterschied für den Zuschauer wahrscheinlich kaum beschreibbar, aber mir öffnen sich eventuell neue Fenster. MvA: Ja! Es geht doch um die Suche nach Möglichkeiten, wirklich zu berühren und darüber etwas zu erfahren. Wenn ich guten Leuten zuhöre und zusehe, dann frage ich mich doch, was es ist, das mich berührt. Ich frage mich das nicht als Musiker. Als Musiker interessiert mich vielleicht die Machart oder die Technik. Ich will mich im Zuhören und Zusehen selbst spüren und eine Erfahrung machen. Und ich glaube, dass ich dies den Studierenden als etwas letztlich Simples und Handwerkliches auch zeigen kann. Es ist vermittelbar. Es ist das Handwerk, sich eine nach innen anwendbare Referenzgröße zu erarbeiten. Diese Referenzgröße ist nicht statisch. Sie ist etwas Lebendiges. Doch diese Art von Handwerk ist nicht überprüfbar, denn wir reden über ein Handwerk der Kunst. Herkömmliche Gesangsübungen haben vielleicht mit Fertigkeit zu tun, aber nichts mit Kunst. Es sind nur muskuläre Aufbauübungen. Sie sind eine Oberfläche. Das eigentliche Handwerk setzt woanders an. Die Musik ist prädestiniert dafür, dass ich auf einer nicht kognitiven Ebene einen Zugang finde und dieser vertraue. An einer Schauspielschule versuche ich, das Vertrauen in diese nicht-kognitive Ebene aufzubauen. Ich versuche in diesem Zusammenhang, auch ein konsequentes Verhältnis zum Studierenden

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durchzuhalten. Ich frage, möchtest du dies oder jenes wirklich können? Dann setze dich hin und übe. Trainiere deine Muskeln. Du möchtest etwas wissen? Setze dich hin und lese, recherchiere, surfe im Netz. Und komm erst zu mir zurück, wenn du Gelesenes nicht verstehst oder nicht weißt, wie du üben sollst. Erst wenn du selber an deine Grenzen stößt und nicht weiterkommst, komm zurück und wir tauschen uns aus. Der Unterricht ist dafür da, an Dingen zu arbeiten, die du nicht üben und auch nicht googeln kannst. Eine Empfindung kann nicht erlesen und erübt werden. Dafür braucht es jemanden, der Fragen stellt. Intervall heißt wörtlich »Zwischen dem Tal« oder auch »Zwischen den Pfählen«, je nachdem, ob wir »valles« oder »vallum« annehmen. Die Bedeutung ändert sich aber nicht. Es bezeichnet das »Dazwischen«, ein »Es«, ein »Drittes«, das hinzukommt. Eins plus eins gleich drei quasi. Es bedeutet nicht den Abstand zwischen zwei Tönen oder zwischen zwei zeitlichen Ereignissen, sondern den Raum dazwischen. Der Abstand kann gemessen werden, der Raum ist jedoch nur zu erfahren. Ein Intervall zu singen, einen Klang zu erzeugen und nicht nur zwei Töne, die wie ein Intervall klingen, ist eine reine Bewusstseinsangelegenheit. Das Gehör ist auf das »Dazwischen« zu schulen. Selbst ein Laie kann Interferenzen und Schwebungen wahrnehmen. Hörbares »Dazwischen«. Schwieriger wahrzunehmen sind entstehende Ober- oder Untertöne. In einem schauspielerischen Dialog geht es auch nicht nur um den Text des einen und um den Text des anderen. Es geht um den Dialog. Es geht um das In-der-Mitte, um die Energie dazwischen. Diese Empfindung wahrzunehmen, sie persönlich kennenzulernen, mit ihr zu arbeiten, ist das Fundament. Mit und über dieser Empfindung Wissen anzuhäufen und Können aufzubauen, ist eine gute Reihenfolge. In Der Prozess nach Kafka, einer Produktion des Theaters Regensburg, gibt es zwei Lieder von mir, an denen ich für eine Neuinszenierung mit Studierenden der ZHdK nochmals arbeitete. Ich wollte, dass die Beteiligten etwas mehr alla breve denken. Ich gab ihnen ein einfaches Bild und sofort klang es anders. Sie wissen ja nicht, was das ist – alla breve. Sie hatten mit dem Bild nur die Aufmerksamkeit verändert. Nichts weiter. Der Blickwinkel war anders. FS: Die Schule soll Handwerk vermitteln, kreativ sein kann man den Rest des Lebens. Diesen Satz höre ich nach wie vor sehr oft. Doch dieser Weg hat nichts mit künstlerischen Prozessen zu tun. MvA: Nicht einmal mit menschlichen! Man sagt einem Kind ja auch nicht, geh’ Vokabeln und Grammatik lernen, dann spreche ich mit dir. Nein! Ein Kind lernt sprechen, indem es einfach mit den Erwachsenen spricht. Von Anfang an. Und das funktioniert auch, wenn

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die Erwachsenen nicht immer diese doofe Kindersprache sprechen. FS: Hier würde ich gern auf eines deiner Hauptthemen kommen: das Rudel. MvA: Die musikalische Improvisation könnte für Schauspieler ein guter Weg sein. Jedes gesprochene Wort ist verbunden mit einem Klang. Es hat eine Länge, eine Höhe und eine Lautstärke. Fertig. Das ist wichtig für Schauspieler. Und wenn ich über Improvisationsarbeit rede, dann funktioniert das nur im Rudel. Wenn du das allein machst, wäre es eine ganz andere Übung. Ein Rudel ist etwas anderes als ein Team, eine Gruppe oder eine Mannschaft. Es kommt etwas ­Archaisches hinzu. Afrikanische Wildhunde, sie sind etwas kleiner als Schäferhunde. Sie sollen Löwen jagen können, obgleich sie weder sehr schnell sind noch über starke Gebisse verfügen, wie zum Beispiel Hyänen. Wie ­können sie also Löwen jagen? Indem sie wie eine Einheit auftreten. Sie sind ein Rudel mit einer hohen Energie und Flexibilität. Es gibt keinen Führer. Der eigentliche Führer ist das Rudel selbst. Es entsteht ein Bewusstsein des Zusammenwirkens, das alle Individuen wahrnimmt und einschließt. Die Individuen dienen dieser Energie und werden gleichermaßen von ihr gelenkt. FS: Im Rudel entsteht ein Netz zwischen den Agierenden, das sich während der Improvisation zwar immer wieder verändert, aber alle zusammenhält. MvA: Ja. Aber das hat auch Grenzen. Du musst immer in der Lage sein, das Rudel zu spüren. FS: Das heißt, die Personenzahl ist begrenzt. MvA: Ja. Mit mehr als fünf oder sechs Akteuren wird es unüberschaubar. In der Musik ist es viel einfacher als im Theater, eine »Geschichte« zusammenzubauen. Ein Rudel entwickelt ein eigenes »Regelwerk« im Augenblick. Plötzlich kommt beispielsweise ein Groove auf. Ein Rhythmus. Ich spüre das und ich treffe die Entscheidung, ob ich ihn unterstützen will oder eben nicht. Wir sind in einem echten Kreationsmodus. Das Wesen des Rudels ist es, eine Geschichte aufzubauen, ein Regelwerk zu erkennen, es zu unterstützen oder eben auch nicht. Ich komme also sehr schnell auf grundlegende künstlerische Funktionalitäten. Das Thema berührt eines meiner Lieblingsthemen: die Vokalpolyphonie. Nicht zu verwechseln mit der Homophonie, die eine Art vielstimmige Einstimmigkeit darstellt. Dort schwebt das Primat der vordefinierten Harmonie, des Dreiklangs, über allem und zwingt die einzelnen Stimmen in einen Wohlklang. Die Grundidee der Polyphonie hingegen basiert auf der Eigenständigkeit jeder einzelnen Stimme. Jede Stimme ist für sich »komplett« und in sich

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»­vollkommen«. Kommt eine zweite Stimme hinzu, ist die Musik nicht besser, sondern anders. Kommt eine dritte hinzu, ist es ebenso. Nicht besser, nur anders. Wenn zwei oder drei Personen ein Gespräch führen, ist das eine auch nicht besser oder schlechter als das andere. Es ist nur ein anderes Gespräch. Die Harmonie ist eine Konsequenz aus dem Miteinander selbstständiger Stimmen. Mit einer Art »angewandter Polyphonie« arbeitet beispielsweise der Film Birdman von Alejandro González Iñárritu. Der Soundtrack, komponiert von Antonio Sanchez, ist ein durchgehendes eigenständiges Schlagzeugsolo. Ohne einen einzigen Schnitt erzählt die Musik eine eigene Geschichte, gleichberechtigt neben der Geschichte der Bilder. Auch Heiner Goebbels arbeitet mit solchen Strukturen auf der Bühne. John Cage soll auf die Frage, ob das Zuschlagen einer Tür auf der Bühne Musik sei oder nicht, geantwortet haben: »If you’re celebrating it, it is.« Ob die Geschichte wahr ist, weiß ich nicht. Aber sie gefällt mir. Die akustische Ebene könnte an einer Schauspielschule tatsächlich einen größeren Stellenwert bekommen, weil ihr Potenzial das schauspielerische Vokabular ergänzt. Für ein Ausbildungsmodul in Zürich habe ich ein Setting gefunden, mit dem wir in unserer gemeinsamen Arbeit an der Winterreise auch oft gearbeitet haben. FS: Dabei sind die Mittel zur Klangerzeugung nicht sichtbar. Also auch nicht die Menschen, die da singen oder Geräusche produzieren. Du stellst eine Stellwand in den Raum, jemand improvisiert hinter dieser Wand und die Gruppe hört zu. Das ist im Theater ungewohnt. Ich werde auf die akustische Ebene reduziert. Was bekomme ich dafür? MvA: Könnte ich mit dir am Bewusstsein für dieses Veräußerungsmittel längere Zeit arbeiten, wärst du in deinen akustischen Möglichkeiten reicher. Ganz einfach. FS: Die Schauspielstudierenden haben diese Arbeit als große ­Befreiung erlebt. Sie mussten nicht gut aussehen bei der Arbeit. Energie und Fantasie konzentrierten sich auf einen Punkt. Haben wir später die Wand weggenommen, konnten wir oft Unglaubliches beobachten. Nicht nur die stimmliche Sicherheit war gewachsen, alle ließen auch den Körper frei und hemmungslos gewähren. Sie haben versteckt gelernt, Kontrolle abzugeben. Es war eine Entdeckung. Vor allem für Studierende, die mit dem Thema Vergrößerung zu kämpfen hatten. MvA: Und dann kam der nächste Schritt. Die Bewegung im Raum. FS: Alle bewegten sich nun im Rudel improvisierend im Raum. Die Reaktionen auf die akustischen Reize, die ja aus allen Richtungen kommen, provozierten immer neue Arrangements.

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Eingeweiht sein in ein nicht mitteilbares Wissen

MvA: Das ist Sichtbarmachen von Konzentration, von Aufmerksamkeit. In einer Performance dürfen wir Menschen bei der Arbeit erleben. Das meine ich im Sinne des Austauschs. Ich bin sicher, dass alle Menschen das Verlangen spüren, über die einfache Wahrnehmung hinauszugelangen. Die fünf Sinne zeigen uns die Welt nur begrenzt. Um diese Grenzen zu durchbrechen, geht der eine in die Kirche, der andere in die Bar, der dritte wird süchtig. Alle verbindet das menschliche Verlangen nach Ausdehnung. Klar, viele bleiben auf diesem Weg in Auerbachs Keller hängen. Um es poetisch auszudrücken. Die Versuche der Bewusstseinserweiterung vollziehen sich auf konstruktivere oder weniger konstruktive Weise. Aber das Verlangen ist da und man kann es nicht mit handelbaren Produkten stillen. Ich bin einmal für ein Unterrichtsbild dem Begriff Wesen etymologisch nachgegangen, da ich Töne und Klänge gerne als Wesenheit bezeichne. Wesen oder Wesenheit heißt: verweilen an einem Ort. Ich finde das großartig. Jeder Ton verweilt an einem Ort. Und sei es nur für einen Bruchteil einer Sekunde. Mir gefällt das Wort verweilen. Das ist weder warten, noch eilen. Töne laden uns auf der Gefühlsebene direkt ein. Ich bin auf einer Wahrnehmungsebene, die das Denken ausschließt. Das ist kein künstlerischer, aber auf jeden Fall ein methodischer Zugang. FS: Das Schauspiel beschäftigt sich mit einer ganzen Reihe von Verfahren und Methoden, um nach immer neuen Sinnebenen zu suchen. MvA: Darum glaube ich auch an die Zukunft der performativen Berufe. Die alte Vokalpolyphonie folgt einem tonnenschweren Regelwerk. Will man dieses begreifen, kann man jahrelang daran studieren. Aber was für eine Revolution muss es gewesen sein, als die Menschen vor 800 Jahren zum ersten Mal polyphon hörten! Ich habe manchmal das Gefühl, dass genau so eine Revolution in den performativen Künsten ansteht.

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»Give it to the character« Regine Schaub-Fritschi im Gespräch über die Tanzausbildung »Tanzt! Tanz! Tanzt! Ja, tanzt, damit ihr etwas Wesentliches in euch wiederentdeckt.« Maurice Béjart Frank Schubert: Du hast eine eigenwillige Philosophie für den Bewegungsunterricht ins Curriculum eingebracht und begleitest in einem sehr individuellen Stil viele Bachelor- und Masterprojekte. Ich arbeite jetzt schon lange mit dir zusammen und schwanke oft zwischen Begeisterung, Verunsicherung und Ungeduld. Am Schluss steht aber immer die Begeisterung. Deine Methodik speist sich aus einer reichen Biografie. Durch was und wen wurdest du zu der Dozentin, die du heute bist? Regine Schaub-Fritschi: Was und wer mich geprägt hat, ist mir eigentlich erst während der Arbeit mit den Studierenden nach und nach bewusst geworden. Ich bin als Kind ins Ballett geschickt worden, weil man als Mädchen damals eben Ballettunterricht nahm. Meine ­Eltern hatten sich keine Gedanken darüber gemacht, was für ein Frauenbild da vermittelt wurde. Anmut für ein Mädchen fanden sie sehr erstrebenswert. Ich wusste allerdings bereits in der ersten Ballettstunde: Ich will tanzen und nichts anderes. Schwanensee und Giselle waren die ersten Stücke, die ich gesehen hatte. Noch heute erinnere ich mich genau an die Atmosphäre im Opernhaus Zürich, an das Einstimmen des Orchesters, an das Knarren der Holzbestuhlung, die flirrende, warme und dicke Luft, an mein blaues Samtkleid mit weißem Spitzenkragen. An die Szenen, wie Zauberer Rotbart die Schwäne verzaubert, hoch oben auf einem Felsen seinen Mantel schwingend, oder wie Giselle aus Liebeskummer wahnsinnig wird und sich dann mit einem Dolch ersticht. Später sah ich die Neunte Sinfonie und den Bolero von Maurice Béjart in einer Sporthalle in Brüssel. Das war das Totale Theater. Da wurde nicht nur getanzt, es wurde gebrüllt, gekämpft und Schweiß floss über nackte Haut … Das sind die ersten Theatererlebnisse, die mich geprägt haben. Béjart leitete nicht nur das Ballet du XXe siècle, er gründete auch eine Schule: die Mudra. Da habe ich meine Ausbildung gemacht. Es war eine sehr innovative Schule, unter anderem hatten wir auch Darstellungsunterricht, was eher außergewöhnlich in einer Tanzaus-

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bildung ist. Als Erstes arbeiteten wir uns an den Elementen Feuer, Wasser, Erde, Luft ab; danach kamen Gegenstände wie Steine, Löffel, Stühle, Lampen, Pflanzen, Bäume. Und so ging es weiter über Tiere bis zum Menschen. Das Wesen der Dinge sollten wir erfassen und in Ausdruck bringen, umsetzen mit Körper und Stimme oder mit welchen Mitteln auch immer. Ich glaube, was ich in diesen Stunden erfahren habe, beeinflusst bis heute alles, was ich tue. Die Mitstudierenden kamen aus vielen anderen Kulturen. Zum Beispiel gab es drei Studentinnen aus Japan, und ich konnte nie erkennen, was sie präsentierten. Das heißt, ich konnte durch ihren so ganz anderen kulturellen Kontext ihre Codes nicht lesen, auch wenn sie aus gleichen Empfindungen entstanden. Wir lernten auch trommeln: Wir standen ein Jahr lang nur an einem langen Holzbrett und übten, wie man einen Trommelschlegel fallen lässt: é-boum-é-é-boum! »é« stand für Spannung, »boum« für Entspannung / Loslassen. Das »é« musste so tief wie möglich im Becken beginnen. Da begriff ich, wirklich erst fast am Ende des Jahres, dass zwischen dem Ein- und dem Ausatmen das Wesentliche passiert, der Moment vor dem Impuls, vor der Absicht. Diese Erfahrungen prägten mich in Brüssel mehr als der Tanzunterricht. Durch ein Stipendium konnte ich dann noch in New York studieren. Da bin ich David Howard begegnet, einem Meister. Er hatte in seinem Training einen kinästhetischen Ansatz. Du hattest plötzlich das Gefühl, deine Bewegungen gehen einmal um die Erde und zurück. Bei ihm wurde alles leicht, alles floss und kreiste und der Körper vibrierte. Dabei hat er kaum etwas gesagt. Er hatte eine Vision, die sich übertragen hat. Sein Credo war, dass die Form aus dem Gefühl entsteht. Üblicherweise wird im Tanz »Form« unterrichtet und dann wird erwartet, dass wie durch eine höhere Macht das Gefühl dazukommen soll. Ich arbeite daran, so unterrichten zu können wie er, das Training so aufzubauen, dass die Studierenden unausweichlich die Verbindung zu ihrem Körper und ihren Emotionen finden. Tja, was prägt, was treibt einen an? Als ich elf Jahre alt war, habe ich ein Making-of über Ingmar Bergmans Zauberflöte gesehen: An einer Stelle legte er seine Arme um die Darsteller und redete mit ihnen über die Figuren. Etwa zwanzig Jahre später stieß ich zufällig auf einen Artikel und ein ähnliches Foto von Kresnik und mir in der DDR-Frauenzeitschrift Sibylle. Da dachte ich, vielleicht war es viel mehr die Sehnsucht nach Nähe, die mich getrieben hat, und hätte ich dieses Foto nicht zufällig zu Gesicht bekommen, wäre es mir je bewusst geworden? Die Begegnungen mit Hans Kresnik waren aufregend und aufwühlend. Wir waren damals am Theater der Stadt Heidelberg und

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hatten alle Freiheiten und viel Zeit, um Stücke zu entwickeln. Es waren paradiesische Zustände. Wir probten in einem alten, verkommenen Jugendstil-Schwimmbad. Kresnik schenkte uns volles Vertrauen. Er sagte, macht mal was, und er griff unsere Angebote auf. Nie mehr später bin ich jemandem begegnet, der so intuitiv gearbeitet hat, der so eine unglaubliche und lebendige Fantasie besaß, der so radikal im Denken war und in szenischen Umsetzungen tabulos. Ich kam an meine Grenzen. William Forsythe hat einmal gesagt, klassisches Ballett ist wie ein Tattoo. Ich musste die Form wieder loslassen, die sich so tief in meinen Körper eingeschrieben hat. Ich fing dann an, mich mit Michael Tschechow zu beschäftigen. Zwischen den Spielzeiten im Sommer besuchte ich Strasberg-Seminare. Die Sense-Memory-Übungen schlugen bei mir ein wie ein Blitz. Über Sinneswahrnehmungen zu arbeiten fiel mir leicht. Der Zugang zu den Emotionen über die Sinne war eine tiefgreifende Erfahrung, und ich fand auch im Tanz zu einer ganz anderen Fantasie. Das versuche ich jetzt weiterzugeben. Tanzen und Bewegen evoziert Emotionen – und drückt gleichzeitig ein Gefühl aus. Sich von ihnen überraschen, bespielen zu lassen, sie zu greifen und schließlich fürs Spiel zu nutzen – das versuche ich zu vermitteln. Vermitteln kann ich irgendwie nur, was ich selbst durchlebt und erfahren habe. FS: Es geht darum, Dinge herauszufinden, die ich eben noch nicht weiß. Aber man muss auch die Fähigkeit haben, es zu tun. Der Körper muss es ja nicht nur denken und fühlen, er muss es auch tun können. RSF: Ja, natürlich muss man an Beweglichkeit, Koordination, an den inneren Körperverbindungen arbeiten, an der Beziehung zum Boden und dem Raum usw. Ich arbeite aber auch da über die Sinne und mit Bildern. Auch die Vorstellungskraft ist ein »Muskel«, der trainiert werden muss. Vorstellungskraft und Fantasie brauchen die Studierenden ja auch, wenn sie bei euch im Darstellungsunterricht eine Situation imaginieren müssen. Manchen fällt es leicht, sich von der Vorstellung übernehmen zu lassen. Manche sind erst mal froh über eine formale Übung und finden leichter innerhalb einer Form ihre Freiheit. Du hast bestimmt schon mitbekommen, wie beliebt bei den Studierenden Kundalini ist. Kundalini ist eine Meditationspraxis, die mir in einem Strasberg-Seminar begegnet ist. In den ersten 15 Minuten schüttelt man sich, dann wird 15 Minuten frei getanzt, dann Stille und nachhorchen. Da wird viel freigeschüttelt auf muskulärer Ebene und auf emotionaler Ebene. Da bricht oft viel auf. Auf diesen inneren Reisen erleben die Studierenden Unerwartetes, Überraschendes, und sie

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werden oft überschwemmt von Emotionen. Der Körper lügt nicht. Er sagt immer die Wahrheit. Wie gesagt: Bewegung evoziert Emotionen. Ich ermutige sie, diesem eigenen Material zu trauen, es nutzbar fürs Spiel und ihre Projekte zu machen. Mit Material meine ich jetzt nicht nur Bewegungsmaterial, sondern die Bilder und Emotionen, die aus der Tiefe des Körpers auftauchen. FS: Was ist dein System? RSF: Wenn ich Körpertraining gebe, beziehe ich mich primär auf das System von Irmgard Bartenieff. Der Fokus liegt bei ihr auf dem Zusammenspiel zwischen funktionaler und expressiver Bewegung. Die Bewegungsmuster in ihrem System liegen allen Bewegungen zugrunde und sind, soweit sowas überhaupt möglich ist, neutral, also zeitlos. Früher unterrichtete man auf Schauspielschulen klassisches Ballett und Fechten. Heute ist man mit der Frage konfrontiert, was für Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit vermittelt werden. Das ist ein Dschungel! Ballett geht nicht mehr, aber geht Hip-Hop? Ja, im Verhältnis zum Körper spiegelt sich die Gesellschaft. Ich habe mich an unserer Hochschule sehr für das allgemeine tägliche Morgentraining eingesetzt, weil ich weiß, es dauert, bis der Körper zur Verfügung steht, bis es selbstverständlich ist, dass man wirklich dastehen, den Boden spüren und den Raum aufnehmen kann. Das muss man konsequent jeden Tag üben. FS: Es ist sicher eine Sackgasse, wenn man versucht, einer Mode nachzulaufen. Damit erweisen wir unseren Studierenden einen Bärendienst. Die Aufgabe ist, seinen Körper wirklich zur Verfügung zu haben. Das geht viel tiefer. Das ist modern. RSF: In der Wiederholung liegt eine große Qualität. Aber das muss man erst verstehen lernen, erst dann kann man sich wirklich ganz darauf einlassen. Erzwingen kann man das nicht. Wenn ich unterrichte, gebe ich ganz klar an, auf was man sich jeweils fokussieren soll. Und dann braucht es Zeit. Wenn man den Sinn nicht gleich begreift, muss man es halt aushalten. Und ich sage auch, jeden Morgen sollte man einmal alles »rauskotzen«. Alles raus! Das ist auch eine Übung. Wenn ich mich täglich einmal ausschreie, aussinge oder austobe, beginne ich danach viel besser mit allem anderen. Viele haben es sehr gern, wenn es anstrengend wird, aber zehn Liegestützen nützen gar nichts. Also nicht für unseren Beruf. Eigentlich ist es ganz simpel: Ich muss mich von den Zehenspitzen bis in die Fingerspitzen spüren. Und wenn ich an dem Punkt angelangt bin, kann ich mit meiner Energie, mit meiner Vorstellung durch Wände, denn ich bestimme den Raum. Aber das alles braucht Zeit.

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Hier kann ich dir etwas vorlesen, das sich mit meinem Ziel und meiner Philosophie deckt: »Die kleinste Veränderung im Inneren eines lebendigen Systems hat zur Folge, dass andere Teile dieses Systems in Mitleidenschaft gezogen werden, dass auch sie sich verändern. Wenn ein Mensch, angeregt durch seine Vorstellungskraft, ein Gefühl spürt, so geschieht tief in seinem Inneren eine winzige Schwingung. Die Emotion schlägt Wellen, berührt damit möglicherweise den Atem, die Durchblutung des Gesichts oder auch die Magennerven. Das ›System Schauspieler‹ muss ein so feinfühliges Instrument sein, dass diese kaum wahrnehmbare Schwingung in den gesamten Organismus übergeht und nach Außen wahrnehmbar wird. Der Körper der Spielenden muss also so trainiert sein, so diszipliniert, so geschmeidig, dass er keinen Widerstand leistet und dem Ausdruck der psychischen Impulse keine Schranken setzt.« [Aus Michèle Clees: Schauspieltraining – Die Entwicklung des schöpferischen Prozesses vor der Arbeit an der Rolle, Echternach 1998] FS: Das ist natürlich ein hehres Ziel. Woran liegt es, dass der Transfer von körperlichen Fähigkeiten ins Schauspiel oftmals so schwer erfolgt? In der Szene bleibt es zu oft nahezu körperlos beim gesprochenen Wort. Es siegt immer wieder das Gefühl, dass man sich an dem Ort der Handlung nicht viel bewegen muss. Warum soll ich mich bewegen, wenn die beiden Figuren doch nur miteinander reden? Diese Frage kommt immer wieder. Es würde sich unnatürlich anfühlen. RSF: Aber was auf der Subtextebene geschieht, kann man doch ganz konkret in Bewegungen übersetzen. Was ich mit dem Körper ausdrücken kann, ist auch auf der Textebene möglich. Man muss natürlich wissen, was ich vom anderen will. Ich kann mit einem Text jemanden mit der gleichen Intensität berühren, wie ich ihn physisch berühren würde: Ich kann ihn mit Worten berühren, streicheln, antreiben, stoßen, schlagen. Wie fühlt es sich an, wenn ich jemanden streichle? Das kann ich auch imaginieren. Aber dafür muss man natürlich wissen, was man vom anderen will. Aber um noch einmal auf deine Frage zurückzukommen, was mein System ist. Wenn ich Projekte mentoriere, greife ich auf keine Systeme oder Methoden zurück. Da beginne ich wirklich immer bei null. Da taste ich mich heran und versuche zu erfassen, was die Studierenden suchen, warum sie dieses Thema wählen. Dann wühle ich mich selbst in das Thema, versuche, die Nerven zu behalten und so lange zu warten, bis etwas auftaucht, an dem man anknüpfen kann. Ich verstehe den Wunsch nach einem System, aber ich glaube nicht wirklich, dass es das gibt. Unsere Arbeit ist immer aufs Neue

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eine Jagd, und jeder Findungsprozess verläuft anders. Das einzig Bleibende: Man muss es aushalten können, das gehört zum Beruf. Ich war schon oft unten im Marianengraben, an diesem kaum auszuhaltenden toten Punkt. Dieser Prozess ist aber für eine echte Kreation unabdingbar. Ganz selten wird einem etwas geschenkt. Es geht ja darum, Dinge herauszufinden, die man vorher nicht weiß. FS: Du bist eine Kollegin, die den Leuten zuerst nur konsequent zuschaut. Du sammelst, suchst, lässt entstehen und erst sehr spät verhältst du dich zu den Angeboten. Für diese Arbeitsweise braucht es viel Geduld. RSF: Ja. Ich muss wirklich erst zuschauen. Ich weiß, es macht all die Kollegen und manchmal auch die Studierenden sehr nervös. Auch mich. Ich komme mir oft vor wie ein Tier, das geduldig auf Beute lauert. FS: An dieser Stelle möchte ich auf dein letztes Projekt kommen, Nackt. Drei junge Frauen thematisieren das Nacktsein sowohl direkt als auch im übertragenen Sinne. Diese Arbeit spielte auch mit den Hemmschwellen der Zuschauer. RSF: Ja, sie spielten aber auch mit ihren Hemmschwellen und ihren Grenzen. Das Projekt war sowas wie eine große Mutprobe. Kann ich unbefangen und ohne Scham nackt vor einem Publikum stehen? Habe ich den Mut, etwas noch nie Ausgesprochenes zu veröffentlichen, preiszugeben? Es ging nicht nur um die körperliche Nacktheit. FS: Ausziehen tun sich manche schon im ersten Monolog im ersten Semester. Darum ging es also nicht wirklich. RSF: Nacktheit kann man ja auch wie ein Kostüm tragen, nackt ist nicht immer nackt. Lena hat gleich am ersten Probentag genau dies erfahren: Sie hat ein Kleidungstück nach dem anderen ausge­ zogen, zusammengefaltet und auf einen Stuhl gelegt, dann fing sie an zu tanzen und erst beim Tanzen kam die Unsicherheit. Sie beschrieb, dass es nicht das körperliche Nacktsein gewesen ist, die sie verunsichert hat, aber sie hatte keine Choreografie, also keine Form zur Verfügung, hinter der sie sich hätte verstecken können. Das hat sie verunsichert und da hat sie sich plötzlich »nackt« und verletzlich gefühlt. FS: Gerade junge Leute wollen Emotionen erleben. Sie wollen sich austesten. Sie wollen sich hingeben. Diese Sehnsucht ist sehr groß. Aber diese Sehnsucht zu einem Weg zu machen, um zu Inhalten zu kommen, ist viel mehr, als sich nur auszuziehen. RSF: Ja, Grenzerfahrungen, sich verausgaben, da kommt man sich bekanntlich selbst am nächsten. Vor jeder Probe haben die drei Studentinnen eine halbe Stunde lang nackt getanzt.

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Kurz vor der Arbeit an diesem Projekt fand das Performancemodul mit Nils Amadeus Lange statt. Das hat sie sehr inspiriert und aufgewühlt und sie haben Übungen und Fragespiele daraus in den Probenprozess eingebunden. Eines dieser Fragespiele hat es bis in die Präsentation geschafft. Das Publikum durfte dann die Fragen stellen. Lena hatte also keinen vorbereiteten Text und genau diesen Moment der Verunsicherung, des Risikos des Auf-sich-selbst-geworfen-Seins auf der Bühne, hat sie gesucht. Aufregend für den Zuschauer ist der Moment vor der Antwort, vor der Entscheidung. In dem Moment ist man »nackt« und bei sich selbst. Diesen Moment der Überraschung, in dem man auf sich selber geworfen ist – eben keine Choreografie zur Verfügung hat – dieses Abenteuer suchten die drei. FS: Der Weg über Spiele, Übungen und auch die körperliche Nacktheit hat offensichtlich dazu geführt, dass auch seelische Nacktheit erreicht und produktiv gemacht werden konnte. RSF: Aber genauso wichtig war die Erkenntnis, dass es bei persönlichen und intimen Geschichten befreiend und beflügelnd ist, wenn man das persönliche Material unter fiktivem tarnt. Niken hat die Geschichte ihrer Herkunft so geschickt mit realem und fiktivem verwoben, dass man bis heute nicht weiß, was wahr und was erfunden war. Dadurch war ihr ein wahrhaft persönlicher und existenzieller Moment möglich geworden, der authentisch und nicht privat war. Niken kam also eines Tages mit Bildern von Frauen auf die Probe, die ihr verblüffend ähnlich sahen. Sie erzählte dann, dies sei ihre Großmutter, dies ihre Mutter, hier seien sie auf dem Reisfeld und auf einem anderen Bild würden sie gerade Opfergaben zum Tempel bringen. Ich habe das für einen Moment tatsächlich geglaubt, dabei war alles fiktiv. Aber sie hatte in diesen Bildern ihre eigene Geschichte wiedergefunden. FS: Nackt wäre sicher nicht möglich gewesen, wenn ein Mann Mentor gewesen wäre. RSF: Hm … Ein großes Thema oder vielleicht der Angelpunkt war natürlich der männliche Blick, die Sexualisierung des Frauenkörpers und einhergehend die Frage, wie sehr sind sie, die drei Studierenden, von diesen Bildern und Rollenzuschreibungen geprägt. Wie sehr spuken diese Bilder noch herum – oder sind sie präsent wie eh und je? Es entstand eine Szene, in der Lena einen Zuschauer aus dem Publikum auf die Bühne bat, um Modell für ein Porträt zu sitzen. Der Zuschauer wusste nicht, auf was er sich einließ. Sie steckte sich einen Pinsel in die Vagina, ließ den Malerkittel fallen, malte und unterhielt sich dabei ungezwungen und unbefangen mit dem männlichen Modell. (lacht) Also, wenn du wieder einmal einen Frauenakt siehst, den mit fast hun-

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dertprozentiger Sicherheit ein angezogener Mann gemalt hat, denk an diese Szene. Lena konnte übrigens auf diese Weise erstaunlich gut malen. Ich habe ihr auch einmal Modell gesessen und schon nach den ersten Pinselstrichen konnte ich mich erkennen. Wichtige Voraussetzung war schon, dass Lena eine große Unbefangenheit und Natürlichkeit mitgebracht hatte, die ihre Handlungen als Selbstverständlichkeit erscheinen ließen. Ist nämlich jemand auf der Bühne verspannt, werde auch ich als Zuschauer verspannt sein. In dem Nackt-Projekt war die Auseinandersetzung mit dem Thema eine Herzensangelegenheit und eine Notwendigkeit. Es ging um die Frage, wann der Körper sexualisiert ist, wann nicht, und wie es zustande kommt. Für die Studierenden war das ein großes Thema. Sie möchten als Person wahrgenommen werden und nicht als Sexualobjekt, sogar wenn sie nackt auf der Bühne sind. Man muss mit Inhalten arbeiten, denn nur der Inhalt kann den Boden bereiten. Der Inhalt muss möglichst viel persönliches Material enthalten und sich aber in einen größeren sozialen und psychischen Kontext einordnen lassen. Daraus entsteht das, was wir dann Figur nennen. Strasberg hat gesagt: »Give it to the character.« Dieser Satz hat mich sehr beeinflusst. Und eigentlich arbeite ich alles über diesen Satz. Egal, was passiert. Wenn die Grenzen zwischen agierender Person und Figur zu verschmelzen beginnt. Bin das ich? Ist das die Figur? Das ist der magische Moment auf der Bühne.

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»Just a little bit lockerer« Nils Amadeus Lange im Gespräch über ­Embodiment Frank Schubert: Theater arbeitet heute vielfach wirklichkeitskonstituierend. Hat sich das Performative im Theater zu einem zentralen ­Aspekt entwickelt? Nils Amadeus Lange: Strenggenommen nicht. Das Theater sollte meiner Meinung nach das Darstellende nicht verlieren. Allein die Architektur des Theaters verbietet es uns oft, gemeinsame Realerfahrungen zu teilen. Dies erschwert es natürlich, wahrhaft performativ zu sein. Ich beobachte, dass das Theater immer größeres Interesse an dieser Direktheit, an der echten Situation bekommt. Und in gewissen Ansätzen gelingt das sehr gut. Es wird jedoch nur als Stilmittel verwendet und soll im Gegensatz zur wahren Performance natürlich wiederholbar sein. FS: Was treibt dich? NAL: Ich habe anfänglich immer aus mir selbst geschöpft. Meine Biografie, meine Erlebnisse, meine Ängste. Ich habe eine sehr subjektive Sichtweise bzw. Leseweise von Themen und Stücken. Das habe ich zum Thema gemacht. Das macht natürlich sehr angreifbar. Über die Jahre habe ich gelernt, Performances zu entwickeln, die sich mit einem mir fremdem Thema oder Material auseinandersetzen. Wenn ich nur das Material benutze, was mir persönlich wichtig ist, bedeutet das, dass ich mich immer in die Schussbahn begebe und wirklich verletzt werden kann. Ich mache das zwar immer noch, aber nicht nur. Für die Kunsthalle Basel habe ich eine Arbeit produziert, in der zwei Minions auftreten und eine Originalzeichnung von Bruce Nauman sowie eine Fotografie von Candida Höfer an der Wand hängen. Also, ich hasse die Minions. Ich kann damit nichts anfangen. Aber durch die Arbeit mit diesem Material, mit dieser Limitierung, konnte ich virtuos werden. Ich konnte etwas über mich erzählen, ohne meine Biografie zum Thema machen zu müssen. Es war ein wirklich bemerkenswerter Moment. Es sind viele Dinge aufeinandergeclasht. Performance ist eben doch sehr virtuos, manchmal vielleicht ein bisschen weniger dekorativ als das Theater. FS: Du hast eine klassische Schauspielausbildung. Wir haben zusammen Iwanow gearbeitet. NAL: Ich komme ganz klar vom Theater. Im Gegensatz zu den Performances, die aus der Fine-Arts-Ecke kommen, beruhen meine

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Arbeiten oft noch auf Text, Rhythmus, einem dramaturgischen Bogen und zum Teil auch auf der Arbeit mit einer Rolle. Das Interessante an der Ausbildung in Bern ist, dass ich mich vertieft mit Performance und Performancetheorie auseinanderset­ z­en konnte und trotzdem ein sehr klassisches Schauspiel-Handwerk ­erlernt habe. Auch wenn ich oftmals aktiv versuche, dieses Handwerk nicht zu benutzen, sitzt es tief in meinen Zellen. FS: Jetzt lehrst du auch. In Basel an der Hochschule für Gestaltung und Kunst und an der HKB. Du gibst auch Grundlagenkurse. Was machst du da? NAL: Als mich Wolfram Heberle anfragte, überlegte ich natürlich lange, was ich den Studierenden anbieten könnte. Ich habe mir die Frage gestellt, was mir als Student fehlte. Da fiel mir zuerst das Vokabular ein, das ich oft nicht verstand. Vieles klingt nur verständlich. Ich hörte immer: »Du musst durchlässiger werden.« Das Wort ist klar. Aber ich habe nie kapiert, was das wirklich heißt. Oder: Körperlichkeit. Ich habe dann versucht, mich in meinen Rollen viel zu bewegen. Aber das war natürlich nicht die Körperlichkeit, von der alle sprachen. Ich versuche, diese Begriffe mit den Studierenden zu hinterfragen. Wir suchen Fallbeispiele für die Begrifflichkeiten. Es ist mir wichtig, dass wir unser Vokabular schärfen, genau hinschauen, Fragen stellen und gemeinsam voneinander lernen. Ein weiterer zentralerer Begriff in meiner Lehre ist – Mut. Den Mut, Behauptungen aufzustellen. Den Mut, zu scheitern. Oft sind alle so verkopft, dass ihnen der Mut fehlt, auf ihre Instinkte und ihren Körper zu hören. Ich nenne das: bereit sein. Bereit sein aufzustehen, um Iwanow zu spielen. Egal, wo wir uns befinden, ob wir ein Kostüm tragen oder nicht, ob wir auf einer Bühne stehen oder in einer Küche. Es geht um den Mut, sofort ins Spiel zu kommen. Ein weiterer Teil, wahrscheinlich der größte Teil meiner Lehre, besteht natürlich darin, den Studierenden Strategien für das Generieren von performativem Material nahezulegen. Und dann muss immer wieder überprüft werden, ob das gelernte Handwerk anwendbar ist. Ob es effektiv ist. Immer wieder müssen alte Muster zerschlagen und durch ein effektiveres Handwerk ersetzt werden. Der Begriff der Neuroplastizität wird in der Forschung immer wichtiger. Ich finde, er sollte auch im Künstlerischen Gehör bekommen. Wie verändere ich meine Hirnstrukturen, um mich von alten Mustern zu befreien? FS: Vielleicht verändert schon die Einsicht die Hirnstrukturen, dass es neben den bekannten Denk-Sprech-Prozessen noch andere Wege gibt.

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NAL: Embodiment ist das Wort der Stunde. Die Körperhaltung und die Psyche funktionieren im Wechselspiel. Ich kann allein über meinen Körper, über die Aufrichtung, die Verkrampfung oder meine Kopfhaltung Emotionen erzeugen. Aber bei allen Techniken ist es mir nach wie vor wichtig, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Technik darf von jedem anders verstanden werden. Ich hasse universelle Dinge. FS: Viele gestandene Schauspieler haben Sehnsucht danach, sich öffnen zu können, ohne sich mit einer Rolle zu maskieren. NAL: Sich öffnen. Sich hingeben. Das ist für mich schwierig. Da bekomme ich fast Angst. Nein, ich möchte die Kontrolle behalten bzw. mich kontrolliert in Gefahr bringen. Und vor allem möchte ich Dinge tun, die fernab der Technik liegen. Ich möchte unlogisch sein. FS: Die Suche nach einer Verfremdung. NAL: Das ist mein Schutz. FS: Es geht dir also nicht um Hingabe, es geht um präzise Zeichensysteme. NAL: Genau. So funktionieren die meisten meiner Arbeiten und auch ein Teil meiner Lehre. Ich möchte der Zeichenhaftigkeit auf den Grund gehen. Ich stelle zwei Zeichen nebeneinander und schaue, ob eine Spannung entsteht. Ich kann einer Sache den Sinn entziehen und dieser durch unterschiedliche Kombinationen mit anderen Elementen einen neuen Sinn verleihen. So arbeite ich auch in meinen Kursen. Wir stellen z. B. eine Flasche Wasser auf die Bühne, schauen sie uns an und dann stellen wir eine Mülltonne daneben und gucken, was passiert. Wir überprüfen scheinbar unlogische Schlüsse und schauen, ob so eine Narration entsteht. FS: Zur Frage der Materialgenerierung: Dazu muss jeder irgendwann seine individuelle Technik entwickeln. Wenn du das Problem aber mit Studierenden thematisierst, machst du ihnen deine Methode zum Angebot. Wie sieht die aus? NAL: Ich arbeite mit verschiedenen Methoden, die ich über die Jahre entwickelt habe. Es geht vor allem darum, mutige Entscheidungen zu treffen. Wenn man sich einmal entschieden hat, kann man sich auch wieder umentscheiden. Daher ist die erste Entscheidung inhaltlich oft nicht so wichtig. Sie schafft nur eine Basis. Es ist wie mit der Angst vor dem leeren Blatt. Wenn ich aber einzelne Phrasen vorformuliert habe, fällt es leichter. Ich arbeite zum Teil mit einem Fragenkatalog, der simple Aufgaben katalogisiert. Ich mache das immer auf Englisch, weil das schon das Gehirn limitiert, nicht in der Muttersprache der Studierenden. Ich liebe Limitierungen! Ich muss sofort umdenken in einer anderen Sprache. Also: Show me a secret part of

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Just a little bit lockerer

your body. Oder solche Sachen wie: Sing ein Lied in einer unerwarteten Position. Sei ehrlich. Finde ein schockierendes Ende. Geh in die Ecke, mach zehn verschiedene Sprünge und sprich dabei einen Text. Sehr einfache Aufgaben. Ich gebe ihnen zehn Aufgaben zur Auswahl und dann haben alle zwanzig Minuten Zeit, um ein fünfminütiges Solo zu entwickeln. Die Dinge mit Potenzial bekommen einen Titel und werden auf Karteikarten geschrieben. Es ist wichtig, der Sache einen Titel zu geben. Über all die Wochen sammelt sich dann tolles Material. Die Karteikarten kann man dann am Tisch in eine Chronologie oder in Überschneidung bringen. So entscheiden wir relativ schnell den Ablauf einer Performance. Wenn ein Baustein nicht funktioniert, versuchen wir, eine andere Version dieses Bausteines zu entwickeln. Beispielsweise ein Lied in der Kopfstimme oder in einer extremen Position zu singen. Wir können den Ablauf, die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Ebenen, die Übergänge und die Längen der einzelnen Szenen visualisieren. Der Rhythmus allein kann die Geschichte erzählen, kann Emotionalität erzeugen oder den dramaturgischen Bogen bilden. Wenn die Studierenden durch Limitierung einen Weg finden, kann das Ergebnis viel schärfer und präziser werden und die Agierenden entwickeln ohne sture Regeln eine hohe Virtuosität. Es gibt natürlich noch weitere ­Methoden. Ich arbeite auch mit Peinlichkeiten oder krassen Zeitlimitierungen. Aber alles hat immer mit Entscheidungen zu tun. Zeitlimitierung ist spannend. Ich gebe gerne die Aufgabe, dass sich die Studierenden fünf Minuten Zeit nehmen, um ein dreißigminütiges Solo zu entwickeln. Das ist großer Stress. Es bedeutet, in kürzester Zeit über alle Ebenen einer Performance nachzudenken. Publikumssituation, Spielfläche, Sound, Kostüm, Licht, Rolle und Text. Am Anfang flüchten viele in bekannte Muster. Man erkennt sofort die Theatertöne. Die meisten stellen sich am Anfang in die Mitte des Raumes, als würde gleich ein Botenbericht beginnen. Bevor sie überhaupt angefangen haben, ist das ganze Geheimnis schon verraten. Das ändert sich aber ganz schnell. Ich versuche, so politisch wie möglich zu sein. Mein Körper ist politisch. Das, was ich tue, ist politisch. Das finde ich spannend. FS: Aber was gibt diesem Material diese politische Dimension? Ich erinnere mich an deine Performance, in der du dich tätowierst. NAL: Das erste Mal wurde ich von jemand anderem tätowiert. Mittlerweile mache ich es selbst. Das Publikum entscheidet dabei, was ich mir tätowiere, und alle müssen basisdemokratisch zu einer Entscheidung kommen. Wenn ich mir dann die Tinte unter die Haut jage, trifft die Wirklichkeit das Publikum auf krasse und unwiderrufliche Weise.

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Es war meine Master-Abschlussarbeit. Ich hatte mir wahnsinnig lange Fingernägel aus Acryl machen lassen, habe während der Performance viel zu viel Wodka getrunken und vor Aufregung gezittert. Als ich zur Tattoo-Maschine greifen wollte, realisierte ich, dass das mit den Nägeln gar nicht möglich war. »Mach’s nicht«, sagte meine Mutter, die im Publikum saß. Ich fragte sie dann vor allen Leuten, ob wir wirklich darüber diskutieren sollen, es sei schließlich meine Abschlussarbeit. Sie erwiderte dann mutig: »Ja! Mach’s einfach nicht!« Ich hab’s am Ende natürlich doch getan. Ich mag daran, dass die Zuschauer die Wirklichkeit konstituieren. Sie entscheiden schließlich, was ich tätowiere. Sie diskutieren, wägen ab und stehen mir in diesem Moment, der meinen Körper für immer zeichnen wird, zur Seite. Das ist politisch! Hans Thies-Lehmann hat mal den schönen Vergleich von einer mitgeteilen und einer geteilten Erfahrung gemacht. Die mitgeteilte Erfahrung ist, wenn ich Informationen mitteile. Eine geteilte Erfahrung ist, wenn Zuschauende und Agierende eine gemeinsame Erfahrung teilen. So ist das beim Tätowieren. Alle sind in die Entscheidung involviert. FS: Wenn Kunst sich als eingreifende Kunst beschreibt und nicht nur Realität abbilden will, geht es darum, wie du dich einer Frage zur Verfügung stellst. NAL: Ja. Das betrifft auch die Aufgaben, die ich in meinen Kursen gebe. Ich bringe die Leute in Stress. Etwas Persönlicheres gibt es nicht. Das sind Momente, in denen ich so nackt bin, so entblößt, dass ich fast aufgebe. Das ist ein Riesengenuss. FS: Dieses Sich-Einlassen, dieses Sich-Öffnen ist eigentlich nicht dein Ding. Das sagtest du. Beschreibt das nicht einen solchen Prozess? NAL: Nein. Mein Modus ist immer noch: Ich bin hier und du sitzt da auf dem Stuhl. Ich kann mich entblößen und eine so peinliche Situation entstehen lassen, dass wir beide die gleiche Erfahrung machen. Jetzt. In diesem Augenblick. Du schämst dich. Ich schäme mich. Aber trotzdem bin ich Herr der Dinge. Ich bin in keinem Modus, aus dem ich erst mal wieder zurückfliegen muss, wenn die Show vorbei ist. Das ist mein Handwerk. Ich liebe das. FS: Peinlich zu sein, braucht auch viel Mut. Oder? Was ist Mut auf der Bühne? NAL: Ich habe durch Peinlichkeit und Scheitern meinen Mut aufgebaut. Ich habe zum Beispiel an der ZHdK in Zürich einen Workshop gegeben, der sich mit Peinlichkeit und Scham auseinandersetzte. Als ich die Studierenden gebeten hatte, etwas Peinliches zu tun, kamen meist sehr harmlose Dinge zum Vorschein. In der Nase bohren oder die Füße entblößen. Ich hatte Angst, dass ich mit dem Workshop

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gegen die Wand fahre. Die Studierenden wurden unruhig und haben mich gebeten, etwas Peinliches zu zeigen. Ich gab ihnen mein Telefon und bat sie, den Nachrichtendialog mit meinem damaligen Freund zu lesen. Wir hatten gerade eine Beziehungskrise und hatten uns wirklich böses Zeug geschickt. Danach habe ich sie gebeten, den Fotoordner »X« zu öffnen, in dem sich meine Nacktbilder befanden. Diese Situation brachte das Eis zum Schmelzen. Es hat uns als Gruppe zusammengebracht, weil ich meine größten Geheimnisse entblößte. Alle hatten in dieser Situation das gleiche Gefühl. Dadurch entstand innerhalb von Sekunden ein Grundvertrauen. Ich liebe das. Es gibt natürlich auch andere Wege. Ich hatte zu Schauspielschulzeiten die schlimmste Angst vorm Singen. Ich schien so unmusikalisch. Genau das habe ich zum Thema gemacht. In einer Arbeit habe ich mich so nah wie möglich ans Publikum gestellt und »Der Krieg ist aus« von Rio Reiser gesungen. Die Energie war umwerfend. Es war ein autobiografischer Akt und ein Wendepunkt in meinem Leben. FS: Das verlangt Selbstvertrauen. NAL: Was Selbstzweifel angeht, ist die Schauspielschule eine Katastrophe. Das ist gefährlich. Das Bewegendste ist, Studierende zu sehen, die an sich selbst zweifeln, aber den Mut entwickeln, es immer wieder zu versuchen. Sie wachsen an sich selbst. Das größte Problem besteht meiner Meinung nach darin, dass es immer den Anschein hat, sie dürften experimentieren und »jeden Scheiß« machen, und dann ernten sie am Ende doch ein vernichtendes Urteil. Ich glaube daran, dass Studierende sehr wohl fähig sind, selbst ein Verständnis für die eigene Bühnenwirkung zu entwickeln. Sie spüren immer, was funktioniert und was nicht. Wir müssen sie in den Feedbacks mit offenen Fragen bestärken, tiefer zu graben und präziser zu werden. Sie sollen über sich selbst ins Staunen kommen. Die meisten produzieren schon so, als müssten sie damit morgen in die Öffentlichkeit. Viele der Studierenden kommen nach einem erfolgreichen Experiment zu mir und haben Angst, weil sie nicht wissen, wie sie das in ein Szenenstudium übertragen können. FS: Es ist aber auch besonders frustrierend, den Link nicht zu ­finden. NAL: Das ist anfänglich leider wahr, aber ich glaube fest daran, dass die Experimente, die wir im Studium machen, in allen Bereichen Früchte tragen werden. Es ist immer die Frage, wie persönliche Erfahrungen im Spiel anwendbar gemacht werden. FS: Ja. Ohne Zweifel. Auch Kleist und Schiller interessieren mich in genau diesem Zusammenhang immer mehr. Mein langjähri-

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ger Freund und Dramaturg Thomas Potzger meinte, wir strecken uns solchen Autoren entgegen und holen sie gleichzeitig ein Stück zu uns heran. Es bleibt aber immer eine Distanz. Die macht das Geheimnis aus. Im praktischen Spiel überbrücken wir sie mit Technik, mit schauspielerischem Handwerk. NAL: Ich musste in einem Szenenstudium einmal auf die Knie fallen und zwei Mal »oh Gott« sagen. Das war die schlimmste Erfahrung. Heute sage ich: Sage es einfach! Das steht so im Text. Sage es und gucke, was passiert. Das ist der Weg. FS: Die vielen »Ach«, die oft nur den Vers auffüllen müssen … NAL: Das »Ach« ist auch für den Tanz interessant. Es ist der Moment, an dem uns die Emotion überwältigt. Wenn es jemand schafft, dieses »Ach« messerscharf auf den Punkt zu bringen, geben Körper und Sprache vor Schmerz auf. FA: Der semantische Aspekt in der Sprache und die Genauigkeit in der Semiotik spielen in deinen Arbeiten eine große Rolle. Die Klarheit des Zeichens geht offensichtlich mit der Befreiung von gängigen Strukturen einher. NAL: Es ist vielleicht so, dass ich an diesem Von-innen-nach-Außen zweifle. In Bern gab es ein paar Situationen, in denen ich merkte, dass ich dem entkommen kann, wenn ich klare Behauptungen aufstelle. Ich hatte etwas angeboten, das den anderen meine Sichtweise auf ein Thema klarer machte. Eine Behauptung ist für mich das Spiel zwischen dem Material und der Sicht des Schauspielers. Die Sachen, die am besten ankamen, waren jene, die körperlich entschieden waren. Die Emotionen sind dann der Körperlichkeit gefolgt. Nicht umgekehrt. Die Bilder waren gedacht, die Emotionen wurden nur über den Körper erzählt. Das Weinen. Das Schreien. Alles Zeichen. Von außen behauptet. Der Text ist meiner Logik gefolgt, weil ich ihn behauptet und verfremdet habe. Brecht, auch wenn es verstaubt klingt, ist für mich dahingehend sehr zeitgenössisch. FS: Du sagtest, die Projektphasen in Bern waren es, die dich ­deinen Weg haben finden lassen. NAL: Ja. In Kombination mit dem Handwerk. Unbedingt. Die Projekte allein hätten mir nichts gebracht. In den Projekten konnte ich den Verzicht aufs Handwerk erproben. Ich konnte beweisen, dass Emotionalität und all das auf unterschiedlichen Wegen zu erzeugen ist. Das war auch der Weg zu einer eigenen Handschrift. FS: An welchen Punkt muss man kommen, um eine Weiche nehmen zu können, die auf einen eigenen Weg führt?

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NAL: Ich war von vielem fasziniert. Damals wurde »Tanz in Bern« von Roger Merguin kuratiert. Es war ein atemberaubendes Programm und hat meine Sichtweise auf Theater, Tanz und Performance verändert. Ich kannte das alles nicht. Dazu kam, dass wir im Studium neben Theatertheorie auch Performancetheorie hatten. Ich fand das spannend, hatte aber nie eine Umsetzung des Erfahrenen gesehen. Also habe ich es selbst gemacht. Dann hatte ich das große Glück, Performance-Ikonen wie Janet Haufler und Norbert Klassen kennenzulernen, die ich sehr bewunderte. Ich konnte mich mit ihnen anfreunden und aus ihnen alle Informationen über Performance rausquetschen. Und das Wichtigste war, dass ich früh begriffen habe, wie wichtig es ist, von anderen Studierenden zu lernen. FS: In deinem Jahrgang gab es viele, die sich gegenseitig sehr befruchtet haben. Viele eurer Ideen bekamen gerade dadurch Sprengkraft. Das ist sicher auch eine Stärke unserer Schule. Wir suchen nach diesen Verbindungen. NAL: Ja, Bern ist stark darin, Menschen mit verstecken Talenten zu erkennen und ihnen die Chance zu geben, Schauspiel zu studieren. Viele von uns wären an keine andere Schule gekommen, weil unsere Talente verschobener schienen. Leute mit starken Meinungen. Charakterköpfe eben. Und ein paar von solchen Leuten in einer Klasse können das Wasser zum Kochen bringen. FS: Was würdest du anders machen, als du es erlebt hast? NAL: Nichts. Auch hier kommt wieder das große Wort MUT. Ich kann in den Projekten zeigen, wer und was ich bin. Ich kann Varianten von mir anbieten, die sonst vielleicht nicht zum Vorschein kämen. Ich muss eigene ästhetische Entscheidungen treffen. Ich bin ungeschützt und kann dies nur mit Mut kompensieren. Ich mochte diese langen Phasen der Projektentwicklung. Sie waren das perfekte Gefäß, das Erlernte zu reflektieren und zu hinterfragen. Ich mochte auch den Stress. Durch diesen Stress entstand auch eine Art Gleichberechtigung zwischen den Lehrenden und den Studis. Alle wollten zusammen was reißen! Das war für mich eine sehr spannende Zeit. Ich erinnere mich an jedes Projekt, als wäre es gestern gewesen. Es war im wahrsten Sinne des Wortes magisch. Ich musste ein eigenes Vokabular entwickeln, das ich bis heute nutze. Bei meinen Projekten hatten auch die Räume einen großen Einfluss. Mir macht das heute schon ein wenig Angst. Diese sauberen Räume. Die große Bühne. Die ordentliche ­Organisation. FS: Ein noch nicht erwähntes zentrales Thema ist die Kopie.

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NAL: Ja klar. Ich will Magie entschlüsseln. Manchmal sind die Leute wegen ihrer speziellen Aura einfach gut. Aber manche Leute ­haben ihre Tricks, die kann man entschlüsseln und auch kopieren. FS: Das Kopieren ist sehr verpönt. NAL: Bei mir nicht. Kopieren! Kopieren! Kopieren! Ich habe gerade den Antrag für meine Dissertation geschrieben. Thema: Postau­ thorship. Über das Kopieren lernen wir viel. Die Kunst besteht darin, das Material zu seinem eigenen zu machen. Das Original darf natürlich nicht erkennbar sein. Auch hier muss der Ursprung so lange gefeilt werden, bis er zu etwas Eigenem wird. FS: Wie definierst du Autorschaft? NAL: Wie ich es auf jeden Fall nicht definiere, ist, dass Autorschaft meint, dass man eine Idee selbst geboren haben muss. Es kann auch sein, dass ich ein Material durch sampeln, loopen und durch Dekonstruktion zu meinem eigenen mache. FS: Elfriede Jelinek hat diese Kunst zur Meisterschaft gebracht. Wenn es andere probieren, frage ich mich oft, ob wir uns nur Bilder und Strukturen »leihen«, weil wir keine eigenen Bilder für unsere Gegenwart finden. NAL: Damals war beispielsweise die Shakespearearbeit bei mir ganz kritisch. Ich hatte alles gelesen, was ich dazu finden konnte. Das hat mich gekillt. Natürlich. Da war die Autorschaft weg. Heute kann ich etwas lesen und weiß, dass ich das nicht so sehe. Das ist oft schwierig. Gerade wenn es ein Buch ist, das in der zwanzigsten Auflage überall zu Hause liegt. Ich sehe aber oft Leute, die Stücke auf Teufel komm raus zerpflücken. Sie haben die Arroganz, einfach was kaputtzumachen. Das habe ich selbst damals mit Kleist gemacht. Diese Arroganz brauche ich jetzt nicht mehr. Die Sätze sind so gut geschrieben! Wenn ich es geschafft hätte, so einen Satz gut zu sprechen, wäre allein das toll gewesen. FS: Das Zerschlagen der Gallionsfiguren ist sicher immer mal ­nötig. Wichtiger ist die Schaffung eines Bewusstseins für das eigene Material. Dafür muss ich erfahren, dass nicht nur meine Stärken, ­sondern auch meine Schwächen etwas wert sind. NAL: Ja. Wichtig! Ich lasse oft Kursteilnehmer gegenseitig lobende Briefe schreiben. Die Briefe können mit nach Hause genommen und in Ruhe gelesen werden. Alle haben ein Talent. Aber das Talent muss man auch benennen. JA, ICH BIN DARIN GUT, UNLOGISCH ZU SEIN. Beispielsweise. Eine Kommilitonin aus meinem Jahrgang wusste lange nicht, warum sie oft sehr gut war. Irgendwann hat sie rausgefunden, dass sie einfach die Beste darin war, Brüche zu spielen. Ganz

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einfach. Aber solange man das nicht weiß, schwirrt Können im Raum wie ein Geist, der mal kommt und mal nicht. FS: Hast du als junger Student nicht oft mit der Stadt Bern gehadert? NAL: Es war mein großes Glück, in Bern studiert zu haben. Die Schule und die Stadt stehen einerseits in einer großen Performancetradition und andererseits wird ein striktes Handwerk vermittelt. Ich war und bin von beidem fasziniert. Der strenge Sprechunterricht hat mein ganzes Leben verändert. Es bestimmt bis heute maßgeblich den Rhythmus meiner Performances und hilft mir dabei, Spannung zu erzeugen und Dinge auf den Punkt zu bringen. Auch hat mich die Geografie Berns geprägt. Die Isolation der Kleinstadt, die Auseinandersetzung mit der gewaltigen Natur, der kalten Aare, diese andere Sprache und das Aufrechterhalten von Traditionen haben mich definitiv radikalisiert. Ich hätte das in Berlin nicht erreicht. Es gab einen ständigen Kampf zwischen mir und der Stadt, eine Spannung zwischen mir und der Tradition. Ich musste mich radikalisieren, um mich positionieren zu können. Ich bin durch das Theater in der Performance stark geworden. Das sehe ich bei vielen, die einen ähnlichen Weg gegangen sind. FS: Was kommt? NAL: Vielleicht kommt die Post-Autorschaft. Ich find es wichtig, dass sich Bern empfänglich macht für Neues. Die Methode Bern ist jetzt überall angekommen. Alle reden von Autorschaft und alle arbeiten projektbezogen. Was kann unser nächstes Ziel sein?

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Sibylle Heim Was macht dieser Master mit mir? Der Master als Schnittstelle und Weiche PROLOG Bologna schreibt es vor: Nach dem Bachelor kommt der Master. Mit der Bologna-Reform bin auch ich an die Hochschule der Künste gekommen, als Assistentin für eben diesen neuen Master-of-Arts-Studiengang Theater. Nach nun mehr als zehn Jahren im Dienste dieses MA-Studiengangs, nach einem umfangreichen Akkreditierungsprozedere, mehreren kleineren und größeren Curriculumsentwicklungen, vielen Gastdozierenden, die einmalig oder wiederkehrend hier unterrichtet haben, und noch mehr Studierenden, deren Weg durch den Master ich begleiten durfte, ist es durchaus legitim, einmal innezuhalten und darüber nachzudenken, was ein solcher Master ist, war und sein kann. Es liegt in der Natur der Sache, dass ich in meinen Überlegungen auf das Bezug nehme, was ich kenne. Und das ist der Master Expanded Theater der Hochschule der Künste in Bern. Wozu ein Master? Die Theaterlandschaft befindet sich schon lange im Umbruch. Eine klare Trennung zwischen Stadttheater und freier Szene, zwischen Tanz, Theater und Performance gibt es vielerorts nicht mehr oder zumindest nicht mehr so ausgeprägt. Kollektive Arbeitsstrukturen mit flachen Hierarchien sind gerade bei jüngeren Theaterschaffenden eher die Regel als die Ausnahme. Das zeigen zum Beispiel die Eingaben beim Schweizer Nachwuchspreis PREMIO1 für Theater und Tanz. Insgesamt halten Arbeitsweisen, die zuvor vornehmlich in der freien Szene zu finden waren, zunehmend auch im Stadttheaterbetrieb Einzug. All diese Überlegungen spielten bei der Konzipierung des Masterstudiengangs in Bern mit, als er 2008 – damals noch unter dem Titel Scenic Arts Practice – startete. Unterdessen hat der Studiengang nicht nur eine neue Bezeichnung bekommen, sondern sich auch inhaltlich ständig weiterentwickelt. Die Grundidee ist geblieben: Der Master in Bern soll im Gegensatz zum Bachelor Theaterschaffende aus unterschiedlichen performativen Disziplinen ermöglichen, eigene künstlerische Ideen zu entwickeln und umzusetzen – auch außerhalb vorhandener Konventionen und Grenzen der eigenen Disziplin. In einem solchen Master kann nicht mehr die Arbeit am disziplinären Handwerk im Vordergrund stehen. Das bedeutet aber auch, dass ein

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fundiertes Handwerk eine wesentliche Voraussetzung bzw. Bedingung für einen solchen Master ist. Es soll und muss ein professionelles Fundament vorhanden sein, das erweitert, hinterfragt, ergänzt, aber auch verändert werden kann. Diese Mannigfaltigkeit wird durch den Master Campus Theater Schweiz noch einmal erweitert. Damit wird die Kooperation der Schweizer Theaterhochschulen bezeichnet, die sich aus der Hochschule der Künste Bern, der Zürcher Hochschule der Künste, der Manufacture in Lausanne und der Accademia Teatro Dimitri in Verscio zusammensetzt. Damit treffen im MA Studierende aus den Bereichen Schauspiel/Performance, Regie, Bühnenbild, Dramaturgie, Theaterpädagogik und Physical Theater aufeinander. Es gibt ein gemeinsames Curriculum, das den Studierenden erlaubt – und sie auch dazu verpflichtet – Kurse an den anderen Hochschulen zu besuchen. Solche Begegnungen auf dem Campus haben nicht nur zu gemeinsamen Abschlussarbeiten, sondern auch zu erfolgreichen Zusammenarbeiten geführt, die über das Studium hinausreichen. Ein Potenzial, das noch weiter ausgeschöpft werden könnte.

INTERMEZZO In jedem Semester findet zu Beginn eine sogenannte Campus-Woche statt, die rotierend von einer der vier Partnerhochschulen organisiert wird und in der die Studierenden von allen vier Hochschulen gemeinsam eine Woche verbringen. Im letzten Semester waren wir an der Reihe. Die Organisation dieser Woche droht jedes Mal die Kapazitäten der Schule zu sprengen. So haben wir uns entschieden, mit den Studierenden in das Kulturzentrum Holdenweid (www.frequenzwechsel.ch) zu fahren. Ein riesiges Gebäude, ehemals Klinik für psychiatrische Langzeitpatienten, das jahrzehntelang leer stand und jetzt zu einem Kulturzentrum um- und aufgebaut werden soll. Ein Gebäude zwischen Baustelle, Kunstraum, Museum, Ruine und Rumpelkammer. In einem Raum hängen ein Konferenztisch sowie die Stühle an langen Gurten von der Decke, sodass man wie auf kleinen Schaukeln am schwebenden Tisch sitzen kann. Wunderbar für die Gruppe. Nicht luxuriös (die hauseigene Quelle war bereits am zweiten Tag überlastet, sodass vorübergehend kein Wasser zur Verfügung stand), aber anregend. Als Dozierende hatten wir unter anderen Onno Faller mit dabei – eine der immer wiederkehrenden Gastdozierenden bei uns. Sie ist Leiterin des Bioversum und Museums Jagdschloss Kranichstein und hat mit einer Gruppe jeweils das Abendessen zubereitet. Im Zentrum stand das Kochen als Kunstform. Es ging also darum, wie Speisen gebaut, Geschmäcker, Farben oder Konsistenzen zueinander in Beziehung gesetzt werden, welcher

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Dramaturgie ein mehrgängiges Menü folgen muss, um an die Sinne des ­Publikums zu appellieren. Denn auch Kochen – wie jede Kunst – richtet sich an ein Publikum. Die Idee einer Dramaturgie der Speisefolgen wurde von der Gruppe weitergedacht, sodass am letzten Abend die Studierenden in Gruppen durch das Gebäude geführt wurden. Jeder Gang wurde in einem extra dafür eingerichteten Zimmer unter speziellen Bedingungen zu sich genommen. In einem anderen Workshop sind die Studierenden unter der Leitung des bildenden Künstlers Ralf Samens mit der Aufgabe »finden – nicht suchen« durch das Haus gegangen. Es sollten Gegenstände gefunden werden – ohne sie zu suchen –, um mit diesen weiterzuarbeiten. Die Regel war folgende: Immer nur eine Person agiert, indem sie einen Gegenstand neu hinzufügt, etwas wegnimmt oder neu arrangiert. Und es darf dabei nicht gesprochen werden. Einer der teilnehmenden Studierenden beschrieb seine Erfahrung dabei wie folgt: »Etwas, das sich mir eingeprägt hat, ist die Erfahrung, dass Gruppenprozesse dann gut funktionieren, wenn der eigentliche Prozess nicht untereinander diskutiert werden muss, sondern die Anlage die Kommunikation bedingt.«2 Fast ebenso wichtig wie die Inputs durch die Kurse war in dieser Woche aber das schlichte Zusammensein an einem Ort, an dem gearbeitet, geschlafen, gegessen und gefeiert wurde, sodass (Frei-)Räume für Austausch und Diskussionen unter den Studierenden, aber auch mit den Dozierenden entstehen konnten. Der Master, das sind die anderen Im MA Expanded Theater treffen verschiedene Welten aufeinander: Studierende aus verschiedenen Disziplinen, verschiedenen Kulturen, unterschiedlichen Alters. Es mischen sich Studierende, die den MA direkt an den BA anschließen, mit solchen, die bereits langjährige Erfahrungen aufweisen können oder sogar schon eine erfolgreiche Karriere hinter sich haben. Es sind zunehmend internationale Studierende, die sich bewerben und auch hier studieren. Das Spektrum reicht von Israel über die Türkei nach Brasilien, Argentinien bis nach Indien oder Malawi. Diese Heterogenität sehen wir in unterschiedlicher Hinsicht als Bereicherung. Jüngere Studierende profitieren von der professionellen Haltung erfahrener, diese wiederum werden von den jüngeren in ihren Mustern hinterfragt. Studierende aus unterschiedlichen Genres kommen miteinander ins Tun, ohne zuerst Haltungsfragen zu klären. Und nicht zuletzt treffen sehr unterschiedliche Theatertraditionen und -vorstellungen aufeinander, was zum Beispiel einmal zu einem Projekt geführt hat, das Frischs Andorra mit indischen Theaterelemen-

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ten kombiniert hat. Diversität ist eines der wichtigsten Potenziale dieses Masters.

INTERMEZZO Es gibt sie, diese besonderen Konstellationen, in denen die Zusammensetzung der Studierenden wie ein Beschleuniger wirkt. Eine solche Konstellation fand sich, als wir uns während einer Umbauphase in einem Provisorium befanden. Die Bedingungen waren alles andere als ideal. Es geschah in diesem Zeitraum vieles, das wir gar nicht mitbekommen haben; Räume und Ecken wurden zu Laboren und Spielstätten, die eigentlich gar nicht dafür vorgesehen waren. Unter diesen Bedingungen trafen u. a. ein Opernsänger aus der Schweiz, eine Tänzerin aus Österreich und ein Dramaturg aus Israel aufeinander. Auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen und neuen Impulsen für die eigene Arbeit begann unter diesen Studierenden ein intensiver Austausch. Das ist ein wesentlicher Punkt in unserer Idealvorstellung von einem Master. Die Sinnfrage Die Diversität der Studierenden macht Haltungsfragen deutlich. Verschiedene Realitäten treffen aufeinander. Studierende, die bereits seit drei Jahren an der gleichen Institution studieren, alle Freuden und Leiden kennen, treffen beispielsweise auf einen Studenten aus Malawi, wo Theater keinerlei Ansehen genießt und politische Zensur dazu führen kann, dass er von der Bühne weg verhaftet wird. Dieser Student musste mit Hilfe einer Crowdfunding-Aktion das Geld für das erste Semester mühselig zusammentragen. Die Arbeit von solchen Studierenden ist in der Regel von Dankbarkeit und großem Engagement getragen. Sie wundern sich, mit was für Problemen sich hiesige Studierende herumtreiben, lassen sich aber von den hiesigen Theaterformen und -ästhetiken inspirieren. Durch solche Begegnungen wird die Sinnfrage von Theater und Kunst für alle immer wieder zentral. Von Manifesten und Laboren Diese nun vielgepriesene Heterogenität ist auf der anderen Seite manchmal schwer zu fassen. Zwar erfährt man im Verlauf der Eignungsprüfung einiges über die Studierenden, aber wo sie konkret stehen, bleibt oftmals vage. Deshalb haben wir entschieden, dass sich alle neuen MA-Studierenden zu Beginn des Studiums künstlerisch positionieren müssen. »Solo-Manifesto« nennt sich das Format. Die

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Studierenden befassen sich drei Wochen lang mit verschiedenen künstlerischen Manifesten und erhalten den Auftrag, ihr eigenes Zehn-Punkte-Manifest zu schreiben. Auf dieser Basis erarbeiten sie ein Solo von 15 Minuten, in dem ihre individuelle Auffassung von Kunst sinnlich erlebbar wird. Sie sind aufgefordert, Stellung zu beziehen. Einerseits wird ihre Arbeit laufend mentoriert und andererseits bleiben die neuen MA-Studierenden in intensivem Austausch. Der Einstieg ins Studium provoziert einen intensiven Reflexionsprozess und liefert konkrete Anknüpfungspunkte für das folgende individuelle Studium. Ein anderes Format setzt einerseits auf individuelle Vertiefung und andererseits thematisiert es das Thema Feedback: das MA-Labor. Es geht um Recherche für ein praktisches Try-out, um die Erprobung unterschiedlicher Arbeitsmethoden oder die Auseinandersetzung mit einem möglichen MA-Projekt. Es gibt einen gemeinsamen Beginn, bei dem die Vorhaben vorgestellt werden, eine Zwischenpräsentation und eine Endpräsentation. Der Fokus liegt jedoch auf dem Prozess und nicht auf dem Ergebnis. Sowohl in der Zwischenpräsentation wie auch in der Endpräsentation gibt es im Anschluss klar geführte Feedbackrunden. Auch diese Prozesse werden mentoriert.

INTERMEZZO Die Vorhaben, die in diesen Laboren umgesetzt werden, sind so unterschiedlich wie die Studierenden selbst. Ein Student hat drei Wochen lang ausprobiert, wie verschiedene Qualitäten von Rauch auf der Bühne hergestellt werden können. Die größte Herausforderung war der jeweilige Sprint zum Rauchmelder, damit ein Ausrücken der Feuerwehr verhindert wird. Eine Studentin hat sich die Aufgabe gestellt, mit einer analogen Fotokamera jeweils ein einziges Bild pro Tag zu machen. Den Prozess hat sie dokumentiert und im Rahmen einer Fotoausstellung präsentiert. Die Exklusivität der einzelnen Bilder in chronologischer Folge eröffnete Freiräume für die unterschiedlichsten Geschichten. Ein Student aus dem Physical Theater nahm sich vor, innerhalb von drei Wochen auf Spitzenschuhen gehen oder gar tanzen zu lernen. Allein Spitzenschuhe in der Größe 45 zu finden, war ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Die Präsentation im Luftschutzkeller der Schule, auch Bunker genannt, hat schließlich dazu geführt, dass er im Handstand mit den Spitzenschuhen die Neonröhre zertrümmerte. Es war ein wunderbarer theatraler Moment mit teuren Folgewirkungen.

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Längst sind nicht alle Vorhaben der Studierenden gleich »außergewöhnlich«. Aber immer geht es darum, sich mit den Resultaten aus einer selbst gewählten Aufgabe zur Diskussion zu stellen. Neben diesen freien Formaten, bei denen die Studierenden ihre eigenen Projekte verfolgen, gibt es viele Inputs in Form von Workshops und Kursen, vor allem praktischer, aber auch theoretischer Art. Es geht darum, neue Arbeitsweisen kennenzulernen, verschiedene Zugänge und Blickwinkel auf die performativen Künste zu erhalten und praktisch auszutesten.

INTERMEZZO Eine Woche vor Beginn ihres Kurses fragte Florentina Holzinger, ob wir an der Schule Boxhandschuhe haben. Haben wir nicht. Sie brachte selbst welche mit. Für die Studierenden in diesem Kurs bedeutete das, den Vormittag jeweils mit einem intensiven körperlichen Training zu verbringen, das nicht nur Boxen, sondern auch Elemente aus Tae Bo, Kung-Fu oder Ballett beinhaltet und zwischen Kraft-, Ausdauer-, Koordinations- und Konzentrationselementen wechselt. Die Studierenden kamen körperlich an ihre Grenzen, haben aber auch gelernt, gerade durch das Boxtraining, im Moment »exakt und fokussiert« zu sein. Beeindruckt waren sie vor allem von der verspielten Art und Weise, wie Florentina Holzinger sich in ihrer Arbeit aufgeladenen Themen wie #MeToo annäherte und es schaffte, einen gemeinschaftlichen Prozess entstehen zu lassen. »Auffällig war, dass Florentina Holzinger in ihrer unkonventionellen Arbeit Hierarchien verschwinden lassen konnte und immer mehr eine Kollektivarbeit entstand, die sie koordinierte und von der sie Teil war. So konnte sie ein hohes Maß an Motivation in der Gruppe erreichen. Entscheidungsprozesse waren transparent, Entscheidungen wurden in der Gruppe getroffen. Die Art und Weise, wie innerhalb einer Woche ein Kollektiv entstand, hat mich sehr beeindruckt und beeinflusst meine aktuelle Arbeit. Immer wieder seine eigenen Grenzen zu hinterfragen bzw. an diesen zu arbeiten ebenfalls.« Eine Studentin. Ein anderes Beispiel: Der Tänzer und Choreograf Sebastian Matthias erkundet, seiner Groove Space-Reihe folgend, zusammen mit den Studierenden den »Groove« der Stadt Bern. Sein Ansatz ist ein forschender. Er unterzieht die Bewegungen

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einer Stadt und der darin agierenden Menschen einer choreografischen Analyse, um dann nach Möglichkeiten zu suchen, diese Dynamiken künstlerisch erfahrbar zu machen. Vor allem für die Studierenden aus dem Schauspiel war dieser Ansatz nicht leicht zu verstehen, wirkte aber befreiend, sobald es ihnen gelang, sich auf die Arbeitsweise von Sebastian Matthias einzulassen. »Mit meinem konventionellen Theaterhintergrund bin ich es gewohnt, eine Arbeit auf Emotionen, Psychologie und einer narrativen Handlung aufzubauen. In Groove Space gingen wir den Weg über das Erlebnis von Physik. Wir suchten nach Choreografien, um dieses Erlebnis für ein Publikum vermittelbar zu machen. Ich genoss es sehr, zur Abwechslung sehr ›trocken‹ zu arbeiten, ohne mir Gedanken über Emotionen und Psychologie zu machen. Es ging ausschließlich um den Umgang mit dem Raum und wie man die spürbare Physik in einem Raum mit dem eigenen Körper verändern kann.« Eine Studentin. Was macht dieser Master mit mir? »Eine Warnung! Was macht dieser Master mit mir? Was für eine Schauspielerin bin ich nach diesem Master? Wie erhalte ich mir meine handwerkliche Qualität und finde spielerisch eine neue Qualität, aufbauend auf den Erfahrungen, die ich im Master gemacht habe? Achtung an alle, die es wagen, in der ZAV-Vorbereitung mit mir zu arbeiten: Ich bin nicht mehr die Gleiche! Wagt es nicht, in mir dieselbe Person zu sehen, die ihr im Bachelor verabschiedet habt!!!« Melina, eine Studentin. Diese vehementen Worte stammen von einer Studentin, die an der Hochschule in Bern sowohl den BA wie auch den MA gemacht hat. Die Vielfalt an unterschiedlichen Inputs geht nicht spurlos an den Studierenden vorbei. Schon gar nicht an denjenigen, die konsekutiv studieren und vom geregelten Stundenplan im BA in die offene Portfoliostruktur im MA wechseln. Teilweise müssen hart erarbeitete Prinzipien und Methoden hinterfragt oder gar verworfen werden. Das kann zu Verunsicherungen führen oder auch ganz neue Energien freisetzen.

INTERMEZZO »Cut this gesture, it is senseless« ist wohl einer von Ivo Dimchevs meistgesagten Sätzen in seinem Workshopformat »Do yourself a favour«. Ivo Dimchev ist in seiner Art direkt und begegnet den Studierenden weniger als Dozent denn als Künstler und fordert von den Studierenden wiederum eine

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professionelle Haltung. Nicht alle können mit seiner Art umgehen. Es gab immer wieder Konflikte und Studierende, die den Kurs abbrachen. Aber er hat viele unserer Studierenden nachhaltig beeinflusst. Immer wieder beziehen sich ehemalige Studierende auf ihn, wenn sie in Dossiers ihre Arbeitsweise oder ihre Einflüsse beschreiben. Die zwei Wochen mit Ivo Dimchev sind intensiv, direkt und fordernd – aber die Studierenden haben am Ende einen Rucksack an Tools, den sie aus dem Kurs mitnehmen. Beispielsweise Methoden zur Materialgenerierung, ohne ein festes Thema zu haben. Die Formen sind spielerisch, es werden Listen erstellt, Sätze weitergedacht, Texte nach der Methode des automatischen Schreibens erstellt, Gedankenspiele schriftlich festgehalten. Ausgehend von diesem Material müssen die Studierenden jeden Tag zwei Präsentationen erarbeiten. »Bei der zweiten Präsentation brach er mich ab und fragte mich, was das soll, dass ich mein Haar streichle und spiele, dass ich ein schönes Mädchen bin. Das sei keine Choreografie, das sei schlechtes Schauspielen.« Eine Studierende In Ivo Dimchevs Arbeitsweise geht es darum, die einzelnen Bereiche wie Choreografie, Stimme, Raum und Text getrennt voneinander zu erarbeiten. Ein Objekt soll miteinbezogen und die Möglichkeiten erforscht werden, Bewerbungsmaterial aus der Beziehung zu diesem Objekt zu entwickeln. Die Studierenden lernen von Dimchev aber auch, ihr Material zu lieben und dem Publikum zur Verfügung zu stellen. Der Master und das Vorsprechformat Einige Studierende, die nach dem BA in Schauspiel in den MA wechseln, stehen dem MA zwiegespalten gegenüber. Viele haben Lust auf diesen Master. Für einige ist es ein notwendiges Übel, denn das Intendantenvorsprechen liegt im Master. Und da beginnt eine gewisse Schizophrenie: Wie können sie sich auf diesen MA einlassen und gleichzeitig an ihren spielerischen Kompetenzen weiterarbeiten? Wie lassen sich all die neuen Inputs, Spielweisen, Formate mit den Anforderungen eines Vorsprechprogramms verbinden? Diese Fragen beschäftigen nicht nur die Studierenden, sondern auch uns, die den Master planen und weiterentwickeln. Vor allem aber auch die Dozierenden, die die Studierenden auf das Vorsprechen vorbereiten. Der Master macht was mit den Studierenden, er geht nicht spurlos an ihnen vorbei. Wie lässt sich das nutzen und ein Vorsprechen neu denken? Eine Frage, die wahrscheinlich nicht nur uns umtreibt.

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Die Kunst und die ECTS »(Aber uff, diese Klammer würde ich am liebsten gar nicht aufmachen aber … dann kommt wieder die Gedankenschlaufe des: Warum soll ich den Workshop überhaupt fertigmachen? Warum eilt es so mit dem Punktesammeln? Geht es nicht darum, etwas zu lernen, statt das Pflichtprogramm schnellstmöglich zu verschlingen, egal, was es ist?)« Studierender Manchmal scheint mir, einen Master zwischen den Bedürfnissen der Kunst und den Forderungen einer Hochschule zu konzipieren ist ein Ding der Unmöglichkeit. Auf der einen Seite sehe ich die künstlerischen Prozesse, die Freiräume brauchen und auch scheitern dürfen, auf der anderen den Hochschulalltag, der Regeln vorgibt und mit ECTS-Punkten Leistungen abrechnet. Mir scheint, diesem Problem können wir uns nur annähern. Mehr nicht. Es ist aber auch für die Studierenden nicht immer einfach, mit dem Spannungsfeld zwischen den Freiräumen der Kunst und den Anforderungen der Hochschule umzugehen.

INTERMEZZO Wieder dient eine Campus-Woche als Beispiel. Die Manufacture in Lausanne hat in der von ihr organisierten Woche mit dem Non-Profit Kunstkollektiv Zooscope zusammengearbeitet. Unter dem Titel OBEY – Gehorsam wollten sie eine antidisziplinäre Erfahrung schaffen. Wann und wie gehorcht man, arbeitet man zusammen, rebelliert man, unterwirft oder emanzipiert sich? Welche Haltung nehme ich im Kräftegleichgewicht dieser Elemente mit meiner schöpferischen Tätigkeit ein? Die Studierenden sind in ein großes Gebäude geführt worden, in dem es neben elementaren Dingen wie einer Küche und einer Toilette auch eine Bar, eine Werkstatt, ein Atelier zum Basteln, einen Raum für Besprechungen, eine Filmecke, die gleichzeitig auch als Bewegungsraum genutzt werden kann, und einen Raum mit Computern gibt. Gleichzeitig waren vier Kameras installiert und ein Regiepult für einen Live-Stream vorhanden, über den man die Aktivitäten in diesem Hause von außen verfolgen konnte. Die Studierenden haben nach einer kurzen Einführung in die Räumlichkeiten achtzig Schweizer Franken Verpflegungsgeld für die Woche bekommen. Mehr Informationen hatten sie nicht. Die Studierenden teilten sich das Gebäude mit einer Gruppe von Flüchtlingen, einem Clown, der einen Kinderspielnachmittag durchführte, und einem DJ, der am Abend African Musik und Dance Hall auflegte.

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Auch alles, was sonst in diesem Gebäude stattfand, lief weiter, ohne dass die Studierenden darüber informiert wurden, ohne Trennungen oder sepa­ rate Räume. Einige Studierende haben sich der Kochgruppe angeschlossen, andere sind ausgewichen und haben die Stadt besichtigt. Mit dieser Offenheit in der Anlage sind die Studierenden sehr unterschiedlich umgegangen. Viele waren zu Beginn ratlos. Einige haben die Campus-Woche bereits am ersten Tag wieder verlassen, andere sind ihnen in den nächsten Tagen gefolgt. Diese Studierenden waren von der Offenheit überfordert, gelangweilt oder wurden wütend. Diejenigen, die zurückgeblieben sind, waren sehr aktiv, voller Tatendrang und haben diese Freiräume zu nutzen gewusst. So hat diese Woche bei den Teilnehmenden sehr unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen: »Ja, irgendwas sollte wohl produziert werden. Am Mittag war ich dann so wütend über diese Dekadenz, vier Tage lang mit Menschen einfach das zu tun, was einem gerade Freude bereitet, dafür Geld zu bekommen und sich dann Künstler zu nennen. Als ich mich wieder beruhigt hatte, habe ich auch verstanden, dass es möglicherweise darum geht, aus dem Nichts und ohne am Ende ein Produkt abzuliefern, gemeinsam Etwas zu erschaffen. Aber dieses Etwas war für mich bloß die panische Angst, dass mit dem Master nun auch die Zeit der Existenzängste beginnt. Ich war psychisch nicht in der Lage, dort in diesem Raum und mit diesen Menschen etwas herzustellen oder anzugehen. Gemüse schnippeln ging.« Studierender »Ich frage mich, warum Studierende plötzlich wütend werden, wenn sie Unterkunft, Verpflegung, Räume, Material, sprich alles haben, was sie brauchen, um kreativ zu arbeiten und keiner Anweisungen gibt? Warum fällt es so viel leichter, einem Regisseur oder einer Demokratie hörig zu sein?« Studentin Freiheit und Verschulung Die Beobachtung, dass es den Studierenden oft schwerfällt, sich im System zwischen Kunst und Hochschule zu positionieren, zieht sich durch das ganze Studium. Sind viele Studierende nicht in der Lage, mit Freiräumen umzugehen, weil sie sich daran gewöhnt haben, verplant und verschult zu werden? Oder verschulen wir immer mehr als Reaktion auf die Unfähigkeit der Studierenden, mit den Freiräumen umgehen zu können? Als Portfoliostudiengang haben die Studierenden im Master einen gewissen Gestaltungspielraum, was ihr Studium betrifft. Dieser Freiraum wird auch weitgehend geschätzt. Trotzdem gibt es Vorgaben

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II LEHREN

und Pflichten, die erfüllt werden müssen, damit die im Modul- und Studienplan vorgegebenen Ziele erreicht werden. Das kann zu Situationen führen, in denen Lust und Motivation beschnitten werden: »… ›It’s the pupil that makes the lesson‹, stand ganz am Anfang meines Cello-Lehrbuchs. Somit liegt’s klar auch an mir; ich könnte mich ewig beklagen, aber ich könnte auch die Initiative ergreifen und das Beste aus diesen Stunden machen.« Studentin Was wäre wenn Als wäre dieser letzte Satz Programm, stehen wir plötzlich alle vor einer Situation, die sich niemand selbst gewählt hat: Eine neue Realität bricht über uns herein. In diesem Fall in Form eines Virus. Einerseits bringt er die Blase Theater und all die Gedanken, die man sich dazu gemacht hat, erst einmal zum Platzen. Andererseits führt diese Situation dazu, grundsätzlich darüber nachzudenken, was wir mit dem Theater eigentlich anrichten wollen. Wir versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Aber: Es ist und bleibt nicht dasselbe. Also denke ich den Master weiter. Möglichst in der besten aller Welten. Wie könnte ein MA aussehen ohne äußere Beschränkungen, ohne auf gegebene Ressourcen und strukturelle Rahmenbedingungen Rücksicht nehmen zu müssen?

EPILOG Ich stelle mir den Master als ein großes Labor vor. Internationale Studierende aus verschiedenen performativen Disziplinen treffen aufeinander, die auf der Suche nach ihrer künstlerischen Handschrift und persönlichen Ausdrucksform sind oder neue Inputs, Anregungen und Arbeitsmethoden brauchen, um ihre bereits bestehende Praxis zu hinterfragen und zu erweitern. Die Studierenden sind da, weil sie diese Auseinandersetzung wollen, weil sie den Austausch suchen. Ich stelle mir den Master als ein Angebot vor, das verschiedene Zugänge zum Prozess des Kreierens ermöglicht – einerseits durch Inputs von Künstlerinnen und Künstlern aus der Praxis und andererseits durch eigenes Tun. Die Studierenden können sich ausprobieren, stellen ihre Ergebnisse zur Diskussion und kommen darüber ins Gespräch. Es entsteht eine Kultur des Austauschs, die es ermöglicht, auch die Arbeiten anderer zu verfolgen, sich gegenseitig zu unterstützen und voneinander zu lernen. Ich stelle mir den Master als Ort des praktischen und reflektierenden Diskurses über die performativen Künste vor, wo Theorie und Praxis mit dem Ziel, sich mit der eigenen Kunst zu positionieren, eine Einheit bilden.

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Was macht dieser Master mit mir?

Ich stelle mir den Master als Ausbildungsstätte vor, die die Studierenden als Künstlerinnen und Künstler ernst nimmt und umgekehrt auch von den Studierenden ernst genommen werden kann. Ich stelle mir den Master ohne großen bürokratischen Überbau vor, damit mehr Raum für die Kunst bleibt. 1 PREMIO ist ein von Migros Kulturprozent organisierter Nachwuchspreis für Theater und Tanz, der jedes Jahr im Rahmen eines Wettbewerbs vergeben wird. Das Ziel von PREMIO ist die Förderung junger Theater- und Tanz-Compagnien sowie deren Vernetzung mit freien Theaterhäusern und Festivals, siehe: premioschweiz.ch (letzter Zugriff am 12. Januar 2021). 2 Alle Zitate in diesem Text stammen aus Modulreflexionen von MA-Studierenden. Diese Modulreflexionen sind zum einen dafür da, dass die Studierenden am Ende eines Workshops oder Kurses für sich noch einmal festhalten, was sie aus diesem Workshop mitnehmen, und zum anderen auch rückmelden, was für sie funktioniert hat und was nicht. Und nicht zuletzt sind diese Modulreflexionen auch einfach ein Schreibanlass, um die Studierenden ins Schreiben zu bringen. Die Veröffentlichung der Zitate wurde von den betreffenden Studierenden genehmigt.

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»Krieg und Frieden« nach William Shakespeare, Grundlagenprojekt / 1. Semester, Foto: Martin Gremse


III Das Grundlagenseminar

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Manuela Trapp Wir entstauben die Erinnerungen, suchen nach Verstecktem und ­umarmen das Gefundene Das Grundlagenseminar Teil 1 »To learn is difficult, but it is rewarding. Try again, and start again tomorrow and cry if you have to. Learn to learn. Do you like to learn? Are you good at it? Do you get there? Learn for the sake of learning for itself, be crafty at it. Do you have the knack to learn to discover, to uncover, to turn upside-down and side-up again. To deconstruct and reconstruct, to make sense out of the unlikely [...] You learn for yourself not for the others, not to show off, not to put the other one down. Learning is your secret; it is all you have. It is the only thing you can call your own, nobody can take it, and remember ignorance is no excuse, you better learn or else.«1 Louise Bourgeois Theater ist eine soziale Kunstform und die Arbeit auf der Bühne ein kollektiver Prozess. In meinem Grundlagenseminar lernen die Studierenden die Notwendigkeit einer strukturierten Zusammenarbeit kennen. Veränderung und Bewegung kommen nur dann zustande, wenn wir uns aus der Sicherheit hinausbegeben und den Schritt ins Ungewisse wagen. Ich biete ein Forum, in dem die Studierenden das Ungewohnte erforschen, die persönliche Kreativität und Fantasie entdecken und das eigene Instrument – sich selbst – kennenlernen. Anhand schauspielerischer Übungen werden diese Themenbereiche untersucht und in szenischen Versuchsanordnungen sichtbar gemacht. Mir ist wichtig, dass die Studierenden ein Bewusstsein für das eigene, unverwechselbare schöpferische Potenzial entwickeln. Reichtum und Chaos Schauspielstudierende sind zu Beginn der Ausbildung hungrig nach neuen Erfahrungen. Und je sinnlicher diese sind, desto tiefer schreiben sie sich in das Gedächtnis ein. Am ersten Unterrichtstag führe ich die Studierenden an eine große Tafel, auf welcher sich die unterschiedlichsten Lebensmittel befinden. Süßes liegt neben Scharfem, Salziges neben Bitterem und Ekliges neben Angenehmem. Nebst bekannten Lebensmitteln, die von den meisten geschätzt werden, wie zum Beispiel Gemüse, Früchte, Brot oder Süßwaren, finden die Studierenden auch Unbekanntes vor. Kaum jemand ist gewohnt, getrocknete Mehl-

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III Das Grundlagenseminar

würmer oder Grillen zu essen. Die Neugierde bringt die Studierenden dazu, auch das Ungewohnte zu probieren. Es soll und darf mit allen Sinnen untersucht, kombiniert, gemischt und getrennt werden. Man darf staunen und genießen. Die Tafel ist reich gedeckt. Auch wenn alles noch ungeordnet und chaotisch vor einem zu liegen scheint, steht sie sinnbildlich für jede Persönlichkeit zu Beginn der Ausbildung. Eins ums andere wird untersucht, um alles zu verknüpfen, zu ordnen, zu benutzen oder auch wieder im Chaos versinken lassen zu können. In diesem Sinne dient die Tafel als Metapher für die ganze Ausbildung. In den letzten Jahren habe ich den Studierenden in einem zweiten Schritt den dänischen Film Babettes Fest von Gabriel Axel gezeigt. Das ist ein außergewöhnlich langsamer und ruhiger Film. Eine Herausforderung für junge Leute, die gewohnt sind, temporeich geschnittene Filme anzuschauen. Inhaltlich zielt der Film auf ein großes Mahl, zu welchem Babette die ganze Dorfbevölkerung einlädt. Es geht um Liebe, vergebliche Avancen, um Kommunikation, um Kunst, Großzügigkeit und Demut. Der Film erzählt über die Kunst des Durchhaltens. Dieser Punkt ist mir besonders wichtig. Die Entwicklung einer Methode Für mein zehnwöchiges Grundlagenseminar habe ich eine Methode entwickelt, die der Auseinandersetzung zwischen Kreativität und Professionalität Rechnung trägt. Im Folgenden beschreibe ich ihre wichtigsten Schwerpunkte. 1.  Der Tisch Vor einigen Jahren habe ich mit meinem Kollegen Tomas Flachs ein jahrgangsübergreifendes Projekt mit dem Titel Der Tisch – Life is Art and Art is Life vorgeschlagen. Der Schwerpunkt des Vorhabens lag nicht auf der Bewältigung schauspielerischer Aufgaben im herkömmlichen Sinne, er lag vielmehr darauf, durch kreatives Handeln und Gestalten die eigene künstlerische Praxis zu befragen und sie anschließend durch das Erschaffen einer sozialen Plastik zu manifestieren. In der Diskussion mit den Studierenden entwickelte sich der Wunsch nach einem Projekt, bei welchem sie die Rolle der Gastgeber und das Publikum die Rolle der Gäste einnehmen sollten. Es wurde unter anderem ein Mahl geplant, die Zutaten eingekauft, gekocht und serviert. Das gemeinsame Essen sollte das künstlerische Ereignis sein. Theater hat immer auch den Anspruch, Gesellschaft zu reflektieren und gestaltend auf diese einzuwirken. In Anlehnung an Joseph Beuys’ erweiterten Kunstbegriff wurde das gemeinsame Mahl zu einer Sozialen Plastik.

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… und umarmen das Gefundene

Das Publikum nahm wie gewohnt auf der Zuschauertribüne des großen Theaterraums am Zikadenweg seinen Platz ein. In freudiger Erwartung, einem unterhaltsamen Theaterabend beiwohnen zu können. Zu diesem Zeitpunkt wusste das Publikum nicht, dass es an diesem Abend kein herkömmliches Bühnenschauspiel sehen würde. Es wusste nicht, dass es als Teil einer Installation selbst zum Akteur werden sollte. Auf der Bühne saßen alle Projektbeteiligten auf einem großen, roten Sofa und schauten schweigend in das Publikum, das einem von uns vorproduzierten pseudowissenschaftlichen Vortrag über das Diktat von Effektivität und Effizienz zuhörte. Gegen Ende des Vortrages öffnete sich der eiserne Vorhang und gab den Blick auf einen weiteren Raum frei, dort stand eine große, reich gedeckte Tafel. Aus der Ferne hörte man Händels Feuerwerksmusik. Das Publikum wurde von diesem Ereignis magisch angezogen. Es verließ ohne weitere Aufforderung die Zuschauertribüne und bewegte sich in Richtung Tafel. Nach anfänglichem Staunen über die Schönheit dieser mit köstlichen Speisen bedeckten Tafel und nach langem Zögern wagten die ersten Hungrigen zuzugreifen. Ab diesem Moment war die Trennung von Kunstschaffenden und Alltag aufgehoben. Der künstlerische Vorgang war in ein größeres Ganzes eingebettet und die Nahrungsaufnahme wurde zu einem vielschichtigen Austausch. Diese Plastik, von uns ins Leben gerufen, diente sowohl dem Gemeinwohl als auch dem eigenen künstlerischen Schaffen. Die Studierenden mochten besonders, dass sie als Gruppe schauspielerischer Individualisten zu einem solidarischen Ensemble zusammengewachsen sind. Diese Erkenntnis machte mich hellhörig. Mir wurde klar, dass ein solches Projekt am Anfang des Studiums den Zusammenhalt und die gegenseitige Verantwortung innerhalb des Jahrgangs auf ganz einfache Weise herbeiführen würde. Und so habe ich das Projekt Der Tisch in leicht abgewandelter Form in mein Grundlagenseminar integriert. Dem Leitgedanken Life is Art and Art is Life bin ich treu geblieben. Die Erfahrung aus der Projektarbeit hat mir gezeigt, dass die Vermittlung von schauspielerischem Handwerk nicht nur auf das Trainieren von bestimmten Fähigkeiten abzielen kann, sondern vielmehr den gesamten Menschen in seiner Kreativität, seiner Fantasie, seinem Schaffen, seiner Selbstbestimmung und seiner Selbst- und Mitverantwortung umfasst. Der Tisch findet im Grundlagenseminar jeweils am Freitagmittag statt. Studierende, Dozierende, die Leitung und alle Mitarbeitenden sind eingeladen, daran teilzunehmen. Den Studierenden des

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III Das Grundlagenseminar

1. ­Jahrganges stehen fünf Stunden zur Verfügung, um für eine reichhaltige Suppe einzukaufen und diese zu kochen, den Raum einzurichten, zu servieren, eine Stunde mit den Gästen am Tisch zu verbringen, alles wieder abzubauen, abzuwaschen, aufzuräumen und zuletzt das Ereignis gemeinsam auszuwerten. Das ist ein anstrengendes Programm. Es sind zwischen dreißig und fünfzig Gäste zu bewirten. Das verlangt den Studierenden einiges ab. Gute Zusammenarbeit und Disziplin sind dabei sehr wichtig. Ich begleite die Gruppe bei einem ersten internen Probekochen und -essen. Wir sprechen über das Kochen als Kulturtechnik; ich gebe Hinweise, zum Beispiel, wenn die Studierenden Fragen zur Mengenberechnung haben, und berichte von den Erfahrungen früherer Jahrgänge. Danach halte ich mich zurück. Wenn Fragen auftauchen, bin ich da, aber grundsätzlich gehört das Feld den Studierenden. Ich übergebe ihnen die Verantwortung: »Ihr seid Gastgeber und Gastgeberinnen und ihr empfangt Gäste. Die Infrastruktur der Schule steht euch zur Verfügung, ebenso der Requisitenfundus. Geld für Extras gibt es keines. Der Tisch ist selbsttragend.« Die Gruppe entwickelt selbst eine Strategie, wie sich das Essen finanzieren lässt. Meistens geschieht das über einen kleinen Betrag, den jeder Gast beisteuert. Es ist der Gruppe freigestellt, nur einen Mittagstisch zu organisieren oder ihn auch thematisch zu umrahmen. Sie können den Raum gestalten und vielleicht kleine performative Interventionen entlang des Themas zeigen. In den letzten Jahren haben sich die Gruppen in ihren Tisch-Präsentationen regelmäßig übertroffen und mit einfachsten Mitteln großartige Räume und Interventionen geschaffen. Anfangs waren sowohl Studierende als auch Dozierende skeptisch. Heute ist die nachhaltige Wirkung unbestritten. Die Studierenden lernen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Die Gruppe entwickelt sich auf spielerische Art und Weise zu einem Ensemble, und dieses Ensemble betritt die Bühne ohne Angst. Die Studierenden entwickeln ein Gespür für ein Setting, erkennen den Wert von Requisiten und entdecken, was es bedeutet, eine Atmosphäre zu schaffen. Zugleich hat die Arbeit viel mit Timing und Organisation zu tun, und alle erleben, was es heißt, Gäste zu bewirten. Ich behaupte, dass Der Tisch für alles steht, was wir im Theater brauchen. Das betrifft die Arbeit in einem Ensemble, die Partnerarbeit, die Improvisation, das Timing, den Geschmack, die Ästhetik, die Kommunikation, den Gemeinsinn und die Solidarität. Die Arbeit Tisch schärft die Aufmerksamkeit und fördert ein verantwortliches Miteinander im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Professionalität.

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2.  Die Soli 1 + 2 Parallel zum Tisch und zum Programm aus Übungen und Spielen bekommen die Studierenden zwei zentrale Aufgaben, ich nenne sie Solo 1 + 2. Diese werden weitgehend selbstständig erarbeitet. Für die Erarbeitung der Soli haben die Studierenden jeweils drei Wochen Zeit. Am Anfang steht die Identitätsfrage: Wer bin ich? Ich erlebe immer wieder, dass viele der Studierenden zu Beginn der Ausbildung von festgefügten Theaterbildern geprägt sind und es ihnen schwerfällt, sich davon zu verabschieden. Was also zeichnet meine Persönlichkeit aus? Ich muss mich und mein Material kennenlernen, das Offensichtliche und das Versteckte entdecken. Jeder trägt ein Archiv aus Erlebtem und Erinnertem in sich. Wir entstauben die Erinnerungen, suchen nach Verstecktem und umarmen das Gefundene. Diese Soli bilden einen weiteren Schwerpunkt in meinem methodischen Konzept. Ziel ist es, den Transfer von der Persönlichkeit des Schauspielers und der Schauspielerin zur Persönlichkeit der Figur bewusst zu machen. Im Solo 1 liegt das Augenmerk auf der Person und im Solo 2 wird die Persona ergründet. Die aus den Übungen und Spielen gewonnenen Erfahrungen werden von den Studierenden in den Soli 1 + 2 auf ihre Praxistauglichkeit überprüft. Die allgemein üblichen Handwerksbegriffe in der Schauspielausbildung vermeide ich vorerst, meines Erachtens brennen diese sich sehr schnell ins Bewusstsein der Studierenden ein und vermitteln ihnen die trügerische Sicherheit eines Rezeptes. Im Solo 1 treten die Studierenden in einen Dialog mit sich selbst. Daraus entsteht eine maximal fünfminütige theatrale Umsetzung, in der sie selbst im Mittelpunkt stehen. Ich stelle die Aufgabe so, dass sich die Studierenden Gedanken darüber machen müssen, welchen Aspekt ihrer Persönlichkeit sie zeigen möchten. Ich ermutige sie, sich selbst zu befragen. Zum Beispiel: Wer bin ich? Wer möchte ich gerne sein? Was beschäftigt mich? Wie gehe ich damit um? Formal ist in diesem Solo alles möglich. Die Studierenden müssen aber für die Präsentation physisch vor Publikum anwesend sein; es reicht also nicht, nur ein Video einzuspielen. Publikum sind ausschließlich die Mitstudierenden des Jahrgangs und ich. Vertrauen in darstellerische Aufrichtigkeit will gelernt sein. Niemand stellt sich gerne bloß. Zu wissen, dass alle in der Gruppe im gleichen Boot sitzen, gleichermaßen Mut fassen und sich überwinden müssen, stärkt die Einzelnen in ihrem Tun. In der anschließenden Reflexion über die Arbeit geht es nur um eine respektvolle Beschreibung des Gesehenen. Es geht nicht um

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III Das Grundlagenseminar

­ ewertung. Es gibt nichts zu kritisieren, aber man kann und darf sich B berühren lassen, und das kann man beschreiben. Lernen durch Ermutigung. Im direkt anschließenden Solo 2 geht es um das Entdecken der Figurenpersönlichkeit. Die Studierenden wählen eine Theaterfigur aus der dramatischen Literatur, egal, ob Haupt- oder Nebenfigur, mit der einzigen Einschränkung, dass das ungefähre Alter der Figur dem realen Alter der Studierenden entspricht. Auch dieses Solo soll nicht länger als fünf Minuten dauern. Im Solo 2 beschäftigen sich die Studierenden mit einem Ereignis aus dem Leben dieser Figur. Diese Begebenheit muss nicht zwingend im Stücktext beschrieben sein. Interessant sind auch Ereignisse, die der Figur vor dem Stückbeginn oder nach dem Ende des Stückes zugestoßen sein könnten. Die literarische Vorlage dient den Studierenden lediglich als Ausgangspunkt, als Quelle der Inspiration. Nach der genauen Lektüre des Originaltextes befragen die Studierenden wieder sich selbst, aber diesmal gezielt aus der Figurenperspektive. Meine Aufgabenstellung führt sie zu einer Innensicht der Figur, weg von einem Blick von außen. Die bekannten Fragen – Wer bin ich?, Wie geht’s mir?, Was beschäftigt mich?, Wo bin ich?, Warum bin ich hier?, Was tue ich hier? usw. – verlagern sich auf die darzustellende Figur. Für dieses Solo wird kein Originaltext verwendet. Die Figur veräußert lediglich ihre vielleicht geheimsten Gedanken, und diese stehen nicht im Stücktext. Die Soli werden wieder nur klassenintern präsentiert und in einer Feedbackrunde besprochen. Für das Solo 2 wird die Feedbackmethode jedoch erweitert. Während sich in Solo 1 die Rückmeldungen der Zuschauenden darauf beschränken, was an den einzelnen Arbeiten besonders beeindruckt hat, wird nun auch benannt, was zum Verständnis des Solos noch fehlt. Was muss zusätzlich eingesetzt werden? Was brauchen die Zuschauenden, um das Gesehene zu verstehen? Kritische Gedanken werden mit Blick nach vorne, als Forderungen für die Weiterarbeit formuliert. Eine Diskussion über Geschmacksfragen wird dadurch vermieden. Die Studierenden bekommen nun die Aufgabe, ihr Solo auf Grundlage des Feedbacks zu erweitern oder zu vertiefen. Dafür arbeiten sie nun in Zweierteams; während der eine an seinem Solo arbeitet, hilft ihm die andere als außenstehende Beobachterin mit Rückmeldungen. Im nächsten Schritt zeigen die Studierenden das Resultat ihrer Weiterarbeit, und nun arbeite ich mit ihnen an dem Solo. Allerdings nicht wie in einem Szenenstudium. Ich stelle nur Fragen. Die Studierenden sollen ein Gefühl dafür bekommen, was es alles braucht,

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um eine Szene aufbauen zu können. Woran muss man arbeiten? Worauf muss das Augenmerk verstärkt gelenkt werden? Bei der dritten und letzten Präsentation sind dann auch Dozierende eingeladen, die ebenfalls mit dem Jahrgang arbeiten. 3.  Mentale Karte Während es bei den Soli um Selbstbeobachtung geht, so geht es bei der Mentalen Karte um die Wahrnehmung und Beobachtung der Umgebung. Bei diesem Aspekt meiner Methode liegt das Augenmerk auf der Wahrnehmung, der Imagination und der Fantasie in all ihren Facetten. Auch hier versuche ich, den Transfer vom Wahrgenommenen, Beobachteten, Erlebten hin zu einer möglichen theatralen Umsetzung bewusst zu machen. Die Hochschule liegt mitten im belebten Berner Industrie- und Gewerbequartier »Galgenfeld«. Zum Quartier gehört auch ein großer Friedhof. Eine ruhige Oase. Friedlich, wie es schon im Namen anklingt. Im Gegensatz dazu sind Industriezonen fürs Auge a priori wenig reizvoll oder einladend. Die Unterschiedlichkeit ist für die Arbeit jedoch sehr interessant. Die Studierenden erhalten einen Lageplan des Quartiers. Auf diesem ist eine Route eingezeichnet, welcher sie mit offenen Sinnen folgen. Auf ihrem Weg durch das Quartier notieren sie stichwortartig, was sie beobachtet haben, warum ihnen dieses oder jenes aufgefallen ist und was sie damit assoziieren. Beispielsweise: Ich sehe einen Hydranten und assoziiere damit den Brand in unserem Dorf. Oder zum Hydranten wird eine Spielzeugfigur assoziiert. Was ins Auge springt, was zu riechen oder zu hören ist, wird aufgeschrieben. Spätestens nach zwei Stunden trifft sich die Gruppe wieder und alle erzählen von ihren Erlebnissen. Es wird nur erzählt, nichts weiter. Im nächsten Schritt zeichnen die Studierenden mit Hilfe der Notizen eine eigene Karte auf ein großes Blatt Papier. Die ästhetische Qualität der Zeichnung ist unwichtig. Wichtig ist der Vorgang des Erinnerns und die sinnliche Umsetzung der Erinnerung durch das Zeichnen. Schließlich haben alle eine ganz persönliche Karte von Erinnerungen vor sich. Reihum wird nun die Karte erzählt. Alle hören zu. Man entdeckt Gemeinsamkeiten und vergleicht seine eigenen Eindrücke mit denen der anderen. Anschließend werden die Karten in drei Gruppen geordnet. Kriterien sind zum Beispiel: ähnliche Erlebnisse, Assoziationen und Geschichten, Übereinstimmungen von Objekten oder Symbolen, düstere oder heitere Stimmungen, Farben und verschiedene Phänomene.

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III Das Grundlagenseminar

Die Studierenden der jeweiligen Kartengruppen bilden jetzt ein Team. Jedes Team sucht nun anhand des vorliegenden Kartenmaterials nach geeigneten Verknüpfungen des assoziierten Materials. Die Quintessenz des Kartenstapels wird anschließend szenisch oder performativ umgesetzt. Die Gruppen haben dafür zwanzig Minuten Zeit, und es gibt keine Vorgaben. Die Teams assoziieren, verknüpfen, und manchmal finden sie sogar eine Geschichte. Es entstehen spontane und oft sehr witzige kleine Arbeiten. In dieser Arbeit wird den Studierenden bewusst, dass überall wichtiges Material für künstlerisches Arbeiten zu finden ist. Lernen als Haltung Das eingangs eingeführte Zitat inspiriert mich. Lernen ist eine Lebenshaltung. Lernen inspiriert. Lernen hört nie auf. Wie schon erwähnt, ist die Arbeit auf der Bühne ein kollektiver Prozess. Auch das Lernen in der Gruppe ist ein kollektiver, manchmal schwieriger Weg. Meine eigens dafür entwickelte Methode zielt darauf ab, ein Lernumfeld zu schaffen, in welchem individuelles Streben und Autonomie gefördert werden. Es ist mir ein Anliegen, angesagte Meinungsbilder über das Theater zu hinterfragen und mit den Studierenden zu überprüfen. Von Anfang an suche ich mit ihnen nach Verknüpfungspunkten, um ihnen die Komplexität in den schauspielerischen Prozessen bewusst zu machen. Wir untersuchen die einzelnen Puzzleteile, um sie dann Stück für Stück zu einem Ganzen zusammenzufügen. 1 Louise Bourgeois: The View from the Bottom of the Well, Portfolio with 9 drypoints. sheet (each): 13 x 10 1⁄4” (33 x 26 cm), Peter Blum Edition, New York 1996. Der Blick vom Grunde des Brunnens: »Lernen ist schwierig, aber lohnend. Versuche es noch einmal, und fange morgen noch wieder neu an. Und weine, wenn dir danach zumute ist. Lerne zu lernen. Lernst du gerne? Bist du gut darin? Schaffst du das? Lerne um des Lernens willen. Sei gerissen darin. Hast du das Talent zu lernen, zu entdecken, aufzudecken, alles auf den Kopf zu stellen und wieder zurechtzurücken, zu dekonstruieren und rekonstruieren, dem Unwahrscheinlichen einen Sinn zu geben? […] Du lernst für dich selbst, nicht für die anderen. Du lernst nicht, um dich in deinem eigenen Glanz zu sonnen oder um andere schlecht zu machen. Das Lernen ist dein Geheimnis, es ist alles, was du hast. Es ist dein einziger Besitz, niemand kann ihn dir nehmen, und denk daran: Unwissenheit ist keine Entschuldigung, also lerne.« (Übersetzung: Manuela Trapp).

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»Es wird alles groß sein auf der Bühne« Die Studierenden Nanny Friebel, Jonathan ­Ferrari, Nola Friedrich, Marvin Groh, Lea Maria Jacobsen und Timo Jander im Gespräch »Komplizen sind Mittäter, sie fassen gemeinsam einen Entschluss, ­planen eine Tat miteinander und führen diese zusammen aus. Diese drei ­Faktoren müssen bei einer echten Komplizenschaft erfüllt ­werden.« Strafrecht 1 Verbrechenslehre Lea Maria Jacobsen: Die erste Woche verbrachten wir auf dem Land in einem Pfadiheim. Wichtig war dort nicht nur das Schauspiel, sondern viele alltägliche Dinge. Manches war speziell. Aber wir wollen auch einen speziellen Beruf. Jonathan Ferrari: Ich hatte nach der Woche das Gefühl, wir kennen uns schon ewig. Marvin Groh: Nach der Landwoche standen wir zusammen auf der Begrüßungsfeier und ich wusste, ich kenne mehr als die Gesichter. Das war stark. JF: Und das hängt wirklich damit zusammen, dass man sehr Intimes zusammen gemacht hat, Zähne putzen zum Beispiel. MG: Oder gemeinsam um 6 Uhr am Morgen joggen. LMJ: Und es ging immer pünktlich los. Nola Friedrich: Und wer um 6.30 Uhr nicht da war … holla, die Waldfee … Da hat sich keiner getraut, zu spät zu kommen. MG: Wir sind dann alle in so einem kleinen Pulk los … Nanny Friebel: … und weil es noch dunkel … LMJ: … und vereist und glatt war … NoF: … sind sicher alle mal auf die Fresse geflogen. Timo Jander: Ist das alles Zufall? Wenn es hier bei uns so gut funktioniert und wir treffen auf Leute aus anderen Schulen, die vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben, dann ist es vielleicht wie mit passenden A- und B-Anschlüssen. Dann können alle ganz gut connecten. Auch später am Theater auf der Bühne. Frank Schubert: Ich halte eine starke Gruppe für sehr wichtig. Immer und überall. Und mir gefällt die Haltung der Dramaturgin und Kuratorin Felizitas Stilleke sehr: »Wir müssen Vertrauen und Freundschaft zur offensichtlichen Grundlage allen zwischenmenschlichen Handelns machen […] Sonst sind wir verloren, an die Aasgeier des

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III Das Grundlagenseminar

­ etriebs, an die Diktatur des Verstands, an die Seelenlosigkeit der SysB teme.«1 Auch ich glaube an diese Kraft. Und ich kann nur dazu raten, eine solche Kraft zu suchen und ihr zu vertrauen, wenn ihr sie gefunden habt. Sie kann die Theaterlandschaft formen, und sie kann starken Inhalten, überraschenden Mitteln und Methoden auf die Bühnen verhelfen. Wir können das schon jetzt vielerorts beobachten. LMJ: Das kann ich persönlich gut nachvollziehen. Ich habe auch nicht das Gefühl, durch dieses Gruppen- oder Ensembleding Freiheit einbüßen zu müssen. Die Freiheit, die ich mir nehmen möchte, kann sehr gut in diesem Gruppenverband existieren. Ich habe das Gefühl, dass sich das wirklich gut vereinen lässt. »Es ist keine Lage, wo Sinnlichkeit und Verstand, in einem Genusse vereinigt, so lange fortgesetzt und so oft mit Wohlgefallen wiederholt werden können, – als eine gute Mahlzeit in guter Gesellschaft.« Immanuel Kant FS: Ihr seid sehr früh mit der Idee eines Tisches konfrontiert worden. Was waren eure ersten Gedanken dazu? JF: Mein erster Gedanke war: Wie soll es funktionieren, über Wochen immer wieder neue Ideen zu haben und alles zu organisieren? LMJ: Meine erste Angst war, dass es nur ums Kochen geht, weil ich nicht kochen kann. Dann wurde alles so fantasievoll und einfallsreich. Wir saßen zusammen und auf einmal wurden Ideen reingeworfen wie: »Lass uns mal bei ’nem Bauern ein Schaf mieten.« Das war ein cooler Gedanke. Das war auf einmal unser Studium. NF: Ein bisschen verkleiden, ein bisschen was kochen. Ich habe gedacht, ja, eine coole Idee, aber warum? MG: Das heißt ja, dass wir am Freitag kein Grundlagenstudium machen. TJ: Wir sind jetzt hier! Wir haben um 10.30 Uhr angefangen und hatten dann 2,5 Stunden Zeit. Dann musste das Ding stehen. Das war dann wirklich stark. JF: Man hatte auch eine direkte Publikumsreaktion. LMJ: Wir waren Gastgeber einer Veranstaltung, für die wir in jeder Hinsicht verantwortlich waren. In jeder Hinsicht. Wir waren auch dafür verantwortlich, eine Atmosphäre zu kreieren. Es lag in unserer Hand, welche Stimmung man auf den Weg bringen möchte. NF: Schön war dieser gemeinsame Wille. Wir haben wirklich viel Energie reingesteckt. MG: Wie viel man aber auch ausprobieren darf! Wir haben mit den unterschiedlichsten Themen gespielt.

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Es wird alles groß sein auf der Bühne

FS: »Von einer Schule verlange ich Handwerk, kreativ sein kann ich den Rest meines Lebens.« Über diesen Satz einer Rostocker Studentin denke ich immer wieder nach. Ganz wegzudiskutieren ist er nicht. Ich glaube aber, dass heute die Definition von Handwerk weiter gefasst werden muss. Der Tisch war vor ein paar Jahren fast ein Skandal. Es gab großen Widerstand. Wie seht ihr dieses Format im Kontext der Ausbildung? LMJ: Ich glaube, bei mir haben all diese Projekte bewirkt, dass mir mehr und mehr klar wurde, was man alles darf. In der Kunst. Im Schauspiel. In dem, was unser Beruf sein wird. Ich bin mit der Einstellung hergekommen, alles sehr richtig und korrekt machen zu wollen. Wenn ich Vorsprechrollen erarbeitet habe, hatte ich immer das Gefühl, ich darf keinen Millimeter von der Textgrundlage abweichen. Hat der Autor das so gemeint? Wie kommt es bei den Prüfern an? Jetzt habe ich festgestellt, dass man natürlich eine ganze Menge darf. Klar konnte im Grundlagenprojekt Othello ein Fußballer sein, und man kann die Geschichte trotzdem ganz wunderbar erzählen. Zu dieser Erkenntnis haben mich, glaube ich, all diese Projekte im ersten Semester geführt. TJ: Ich habe eigentlich von Anfang an entschieden, dass ich alles machen darf und dass das für mich Theaterarbeit ist. Beim Tisch habe ich erkannt, dass ich noch viel mehr draufhabe als ich dachte. Was kann ich an Konzepten einbringen? Und wie kann ich diese durchsetzen? Wie läuft mein Nachdenken über die Konzeptideen der anderen? Das wusste ich vorher nicht. Nun stand ich vor der Frage: Was ist mein Thema? Was ist unser Thema? Darüber hatte ich nie nachgedacht. FS: Weil Schauspiel für dich vor allem bedeutete, etwas zu verkörpern, was andere sich ausgedacht haben? NF: Ja. Es war auch gut zu erleben, dass man sich zu zehnt auf ein Thema einigen kann. Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach ist, wie es meistens war. JF: Hier kommt das Teambuilding schon sehr ins Zentrum des Unternehmens. Ich muss auch checken, wie ich mich verhalten muss, damit es in der Gruppe funktioniert, keine komplette Anarchie herrscht und jeder an seinem eigenen Projekt arbeitet. MG: Darum ist es für mich tatsächlich schwierig zu sagen, inwiefern ich beim Tisch meine Freiheiten entdeckt habe. NF: Einmal in der Woche konnte der Kreativität einfach freier Lauf gelassen werden. Sonst ist schon alles sehr überlegt. LMJ: Es war etwas, mit dem wir uns regelmäßig präsentierten. Es war aber immer noch Unterricht. Wenn es mal danebengegangen wäre, wäre es wie eine Unterrichtsstunde gewesen, die mal nicht so gut läuft.

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III Das Grundlagenseminar

JF: Für mich war auch sehr wichtig herauszufinden, wie ich mit Zeitdruck umgehe. Und ich habe tatsächlich festgestellt, dass es mich viel produktiver macht, wenn ich mir kleine Zeitspannen setze, um etwas zu schaffen. Der Tisch war das beste Beispiel dafür. Freitags musste er einfach stehen. TJ: Für mich war es innerhalb der Ausbildungswoche auch so ein »Erholungsmoment«. Na ja, ich konnte beim Aufbau, beim Essen und beim Abbau reflektieren, was die Woche gebracht hat. Dadurch konnte ich alles verarbeiten. LMJ: Mit dem Tisch wurde man schon so ein bisschen auf Leute losgelassen. Man war nicht ein Semester lang im Kämmerlein eingeschlossen. NoF: Und über solche Sachen kommt man viel eher mit den anderen Jahrgängen ins Gespräch. NF: Ich war immer gut gelaunt. Es hat die Gruppe extrem gestärkt und das hat man dann auch in anderen Arbeiten gespürt. MG: Es hat in mir auch so ein Denken geöffnet. Was machen eigentlich die anderen? Wie sehr bringe ich mich ein? Was nehme ich als selbstverständlich hin? Wie wichtig ist es, dass alle an einem Strang ziehen? JF: Aber nach dem Tisch war dann noch diese Theoriestunde angesetzt. Von der habe ich wirklich sehr wenig mitgenommen. Wir waren noch so in unserer Welt. Ja, das war für Jonny ein bisschen viel. »Meine Wirklichkeit ist nicht, was ich in dieser Sekunde bin, was ich vor zehn Jahren war oder in zehn Tagen sein werde. Es ist die Gesamtreihe der Positionen dieses Mobiles, das ich bin.« Maurice Blondel FS: Nach der kollektiven Arbeit kam dann das Solo 1. TJ: Das war für mich wie eine Granate. Ich hatte so unglaublich Bock drauf. Und dann kam der Punkt, oh, wo ich dachte, das ist ja verdammt schwierig. NoF: Wir hatten am Anfang überhaupt kein Vertrauen in dieses Solo. JF: Ich glaube, wenn die Aufgabe klar ist und man weiß, dass es irgendwohin führt, dann ist es auch gut, dass ein gewisser Druck existiert. Aber wenn man so gar kein Ziel hat … MG: Na ja, ich weiß, bei manchen war auch der Druck groß, gut genug für die Gruppe zu sein. Das ist nochmal was anderes. Die Frage, wie etabliere ich mich in der Gruppe, ist doch hart. So wohlwollend man auch aufgenommen wurde.

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Es wird alles groß sein auf der Bühne

LMJ: Eine Idee zu haben, geht ja noch. Aber sich dann hinzustellen und zu sagen, es ist das Beste, was ich in fünf Minuten präsentieren kann, ist schon hart. NoF: Weil es ja auch so wenig Einschränkungen gab. Ich wusste nicht, ist das jetzt zu persönlich? Oder ist es nicht persönlich genug? TJ: Ich habe es geliebt, dieses Solo 1. FS: Was hast du daran geliebt? TJ: Freiheit. Genau das war es. Was ich schon zum Tisch gesagt hatte, stimmt hier noch wesentlich stärker. Ich habe gelernt, was ich kann und wo meine Schwächen sind. Das alles konnte ich selber feststellen. NF: Ich war am Anfang wirklich ein bisschen überfordert. Mein Gott, ich kann jetzt alles machen. Ich weiß gar nicht was. Im Nachhinein weiß ich, ich hätte mir gar keinen Stress machen müssen. Es muss gar nicht so groß sein. Es wird alles groß sein auf der Bühne. NoF: Ich habe dieses Gefühl der Freiheit im Solo 1 erst entdeckt. Das habe ich vorher unterdrückt oder mir nicht erlaubt. LMJ: Ich wurde genau vor die Punkte gestellt, die mich noch überfordert haben. Ich musste mich stellen. Von Anfang an. Ich musste da nicht einfach nur durch, ich WOLLTE da durch mit allem, was ich hatte. Ich habe es genossen. MG: Ich habe auch sehr früh gewusst, was ich mache wollte. Dann habe ich extrem viel Zeit damit verbracht, Musik zu schneiden. Ich fragte mich, ob es sinnvoll ist, drei Viertel der Zeit damit zuzubringen, Musik zu schneiden und alles darauf zu choreografieren. Aber am Schluss sind so tolle Sachen entstanden. Und ich dachte, guckt mal, was alles passieren kann, wenn ihr mich einfach nur ­machen lasst! Dieses Vertrauen in mich zurückzugewinnen war extrem wichtig. NoF: Da gab es dieses eine Wochenende in der Schule, alle waren da und immer saß jemand im Hof: Ich habe keine Ahnung! Ich weiß nicht, ob es geht. Marvin rannte immer zwischen Probebühne und Klo mit seinem Schokopudding hin und her und sagte nur, ich bin so drin, ich bin so drin … Es war so schön, diese Euphorie zu sehen. Und so einen Moment hatten wir alle. TJ: Ja. Es war wie ein Sog. Wir machten Kunst! Da wunderte einen wirklich nichts mehr. FS: Was war die konkrete Aufgabenstellung? NoF: Mach was Persönliches. LMJ: Das kam aus Stanislawskis Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst.

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III Das Grundlagenseminar

MG: Manuela Trapp sagte, ihr könnt euch hinsetzen und was über euch erzählen, oder ihr könnt das alles tanzen. Mehr war es wirklich nicht. NoF: Irgendwie hat es mich zur Weißglut gebracht. TJ: Das Solo 1 hatte auch etwas von einem Verarbeitungsprozess. Man setzt sich intensiv mit einem sehr persönlichen Thema auseinander. Das war für mich ganz wichtig. Auch der Zeitpunkt, an dem das stattfand. LMJ: Ja. Man kam wahrscheinlich gar nicht drum herum, intuitiv das Thema zu wählen, das an erster Stelle stand und abgehandelt werden musste. Ich habe mich tatsächlich nochmal hingesetzt und eine Themenliste gemacht, aber kein Thema hatte einen so dringlichen Bezug zu mir wie die erste Idee. NF: Ja. Ich habe wirklich versucht, meinen ersten Gedankenblitz zu verwerfen. Aber das ging gar nicht. Jeder Gedanke, der dann kam, ging in einer Spirale zu diesem ersten Thema zurück. NoF: Es war auch das Erste, was wir voneinander gesehen haben. NF: Es war schön, wie sehr wir uns voreinander öffnen konnten. Das habe ich aber erst zur Präsentation gemerkt. Es ging auch sehr stark darum, ob ich gut genug für diese Gruppe bin. JF: Ich finde schön, dass das für euch so war, für mich war es ein bisschen anders. Für mich war es einfach ein Muss. Ich war sehr mit dem Gedanken beschäftigt, dass ich was zeigen muss. Im Nachhi­ nein fand ich es toll. Da hat es Spaß gemacht. Aber der Prozess vorher war nicht befreiend. Ich war sehr festgefressen in diesem Müssen. Ich habe das dann tatsächlich auch in meinem Solo thematisiert. TJ: Für mich war es auch ein mutiger Schritt. Es klingt pathetisch, aber nach dieser Woche auf der Hütte und dem Anfang an der Schule war es auch so was wie ein Dankeschön an die Gruppe. Ich wollte zeigen, wie sehr ich euch schon vertraue. Und von hier aus arbeiten wir jetzt zusammen weiter. FS: Es kam nach dem Solo 1 dann etwas später das Solo 2 und mit ihm die Auseinandersetzung mit einem literarischen Text und einer Figur. MG: Also, ich mochte die Arbeit an den Monologen sehr. Darum will ich ja auch diesen Beruf machen. Mich hat allerdings sehr aufgeregt, dass wir uns wieder selbst Monologe suchen mussten. Und wieder hat niemand mit mir daran gearbeitet. NoF: Ich war an einem Frustpunkt, als klar wurde, dass wir wieder nicht mit einem Dozierenden an den Monologen arbeiten werden. Aber ich war schon froh, dass wir etwas mit einem Stück machen konn-

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Es wird alles groß sein auf der Bühne

ten. Ich habe etwas gemacht, was ich für ein Vorsprechen niemals so hätte machen können. Wir haben uns viel mehr Freiheiten genommen. Keine Ahnung woher das kam, aber wir sind sicher alle auf Ideen gekommen, auf die wir vorher nie gekommen wären. LMJ: Ich habe es von Anfang an geliebt, weil ich sofort wusste, was ich machen wollte. Es war mir ein sehr dringliches Anliegen, weil es schon immer meine Lieblingsrolle war und ich sie mir nie zugetraut hatte. Das war die Ophelia. Es fiel mir auch deutlich leichter, mich in einer Rolle zu präsentieren. Ich wurde sehr viel mutiger. Es machte mir auch deutlich mehr Spaß. Ich wusste sofort, dass ich die Rolle gern nass spielen würde. Das hätte ich in einem Vorsprechen nie gemacht. Jetzt machte man das halt einfach. Es ist unterbewusst sicher auch viel Autobiografisches eingeflossen. Ich habe keinen Originaltext verwendet, sondern den Text dazu selbst geschrieben. Es war ein intuitiver Zugriff. NF: Ich habe von Anfang an mich selbst in der Figur gesehen. Es war nicht so, dass ich mein ganzes Material der Figur geben wollte. Die Figur lässt mich so sein, wie ich bin. Das war das Gefühl. Darum fiel mir diese Arbeit auch irgendwie ganz leicht. Ich konnte einfach ich sein. MG: Es hatte schon viel mit mir zu tun. Mir war aber klar, ich habe hier eine Rolle und ich habe eine Geschichte und die zeige ich jetzt. NoF: Ich habe versucht, zu Gefühlen einen Zugang zu kriegen. Aber es hatte mit meinem Leben wenig zu tun. Es war eine Rolle. LMJ: Der Gedanke ist doch, sich einer Rolle zur Verfügung zu stellen. Wenn man das intensiv betreibt, steckt man am Ende selbst am meisten drin. Glaube ich. Wenn man was oberflächlich macht, kann man eher etwas vortäuschen. Wenn man wirklich verstehen möchte, ist man doch sehr involviert. 1 Felizitas Stilleke: »Klüngeln für eine bessere Welt«, Eröffnungsimpuls auf dem Hamburger Freie-Szene-Festival »Hauptsache Online«, nachtkritik, 15. ­April 2020, nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17960: freundschaft-als-kuratorisches-prinzip-hoffnung-felizitas-stillekeseroeffnungsimpuls-auf-dem-hamburger-freie-szene-festival-hauptsacheonline&­catid=101 (letzter Zugriff am 12. Januar 2021).

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Frank Schubert Es beginnt mit Shakespeare. What else? Das Grundlagenseminar Teil 2 »Und es bleibt dabei: Das Grundlagenseminar ist die vielleicht schwerste und wichtigste Etappe der Ausbildung. Vergleichbar der ersten Liebe. Sie kann beglücken oder deprimieren. Auf jeden Fall geht es weiter …« Prof. Bernd Guhr, Leipzig Im Zentrum steht das Grundlagenprojekt. Es wird sich aus »Szenen, die der Autor nicht schrieb« zusammensetzen. Der Autor ist auch in diesem Jahr William Shakespeare. Ich habe in den letzten Jahren auch Versuche mit anderen Autoren unternommen, aber er hat sich als lustvollster und sinnlichster Spielpartner erwiesen. Es beweist die Qualität seiner Texte, dass sie seit ihrer Entstehung immer wieder zur Spielkiste für unterschiedlichste Überschreibungen geworden sind. Es zeigt auch, dass sie nicht zu sperrigem Herbstlaub vertrocknet sind, das man erst mühevoll aufweichen muss. Shakespeare ist Sex und Verbrechen, Show und Philosophie in einem. Die Geschichten erschöpfen sie nicht in klugen Vokabeln und Satzkonstruktionen, sie sind Musik. Überall klingt Rock’n’Roll durch, der im freien Fall der Sinne auch romantisch und schwebend sein darf. Orgien und wilde Fantasien ploppen immer wieder in seinen Texten auf und öffnen fantastische Türen, die unser Bewusstsein erweitern. Durch sinnlich-pulsierende Feuchtgebiete führt er uns in ungeahnte Gefilde. Und es kann so unglaublich viel Spaß machen, ihn an unserer Seite zu wissen. Darum komme ich immer wieder auf Shakespeare zurück, wenn ich Stoffe für unser Grundlagenseminar suche. Der zweite Teil des Grundlagenseminars baut auf den Erfahrungen aus dem ersten Teil auf. Ich darf bereits auf diese besondere Lust zurückgreifen, die etwas mit Fliegen zu tun hat. Den Samen für diese Lust legte meine Vorgängerin Manuela Trapp. Die eigene kreative Kraft konnte bereits entdeckt werden, die Lust an der Rolle einer Gastgeberin oder eines Gastgebers wurde mit dem Tisch geweckt und alle mussten sich mit der Frage beschäftigen, die die Studierenden wahrscheinlich durch ihr gesamtes Berufsleben hindurch begleiten wird: Wer bin ich, wenn ich spiele? In den Soli wurden sie mit voller Wucht auf sich selbst zurückgeworfen. Manuela Trapp hat ihnen zur Verfügung gestellt, was sie dafür brauchten, aber gehen mussten sie den

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Weg allein. Gnadenlos. Für manche war diese Forderung ein Schock, aber sie haben begriffen, dass Schockiertsein nichts bringt. Auch der heikle Vorgang, etwas sehr Persönliches zu veröffentlichen, wurde bereits erfahren. Wesentliche Hemmschwellen sind abgebaut, wenn die Gruppe auf mich trifft. Hier schließe ich direkt an. Viele Elemente meines Grundlagenseminars sind weder neu noch ungewöhnlich. Kollegen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, können manches getrost querlesen. Wie bei allen Kollegen ist auch in meinem Seminar alles über Jahre gewachsen und es haben sich zu jeder Übung zig Variationen entwickelt. Von vielen Übungen kenne ich den Ursprung nicht mehr. Viele habe ich selbst auf der Grundlage anderer Übungen »erfunden« und immer wieder variiert. Alles was ich versuche, basiert aber vor allem auf Gerhard Ebert und Rudolf Penka, Lee Strasberg und Sanford Meisner. Auf seiner Methode basiert auch einer meiner Leitsätze: Alles kommt vom Partner, alles geht zum Partner. Das kennen wir so oder so ähnlich aus den Grundlagenseminaren aller deutschsprachiger Schauspielschulen, wäre da nicht ein »Unterbau«, der auf jede einzelne Übung ein besonderes Licht wirft. Die Treibmittel hießen in diesem Jahr unter anderem Othello, Desdemona, Troilus und Cressida. Am Anfang steht die Lust auf diese Figuren, die Lust auf Konflikte und Geschichten. Am Anfang steht die Lust, sich selbst in diesen Figuren zu finden und zu zeigen. Am Anfang steht das Vertrauen, dass die Übungen und Spiele die Möglichkeit eröffnen werden, aus dieser Lust kraftvolle Bühnenrealität werden zu lassen. Die Studierenden lernen ganz »nebenbei« die anspruchsvolle Sprache über lebenspralle junge Figuren kennen. Sie müssen sie noch lange nicht benutzen und beherrschen. Aber sie suchen in dieser Sprache Bezugspunkte zu sich selbst. Sie suchen die Schnittflächen zwischen den Figurenbiografien und ihren eigenen Erfahrungen. Shakespeare wird zum Ratgeber, zum Gesprächspartner und zum Komplizen. So werden weitere Hemmschwellen abgebaut, Spannungsfelder zwischen der Literatur und den eigenen Geschichten werden produktiv und Autorschaft als einer unserer Grundpfeiler in der Schauspielausbildung bekommt einen konkreten Erfahrungsinhalt. Auch das ist Grundlagenarbeit. Alle diese Gedanken sollte die geneigte Kollegin oder der neugierige Leser im Hinterkopf behalten, wenn ich dazu einlade, Teilen meines Arbeitsprotokolls zu folgen.

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III Das Grundlagenseminar

Die erste Woche – ein Protokoll Montag, 20. Mai Ich, der Partner und der Raum. Die Sensibilisierung der Sinne. Der Start ins Grundlagenprojekt. Zug um Zug und die Gruppe als zentrale Kraft. 16.30 Uhr Ich begegne der Gruppe erstmalig in der Arbeit. Gehen im Raum eröffnet ab jetzt unsere tägliche Arbeit. Das inhaltliche Dreieck Ich-PartnerRaum steht dabei wie immer im Mittelpunkt. Die Studierenden bringen die Konzentration in den eigenen Körper, öffnen dann den Fokus für den Raum und anschließend für die Gruppe in diesem Raum. Dann folgt die wechselnde Konzentration auf einzelne Mitspieler. Es gibt unzählige Übungen und Variationen für diese Anfangsphase. Die Gruppe muss wacher werden. Lösungsprozess und Impuls. Die Gruppe bewegt sich im Raum und immer wieder finden sich zwei in einer Berührung. Mit dieser gehen beide in einem möglichst vollständigen Lösungsprozess gemeinsam zu Boden. Es folgt ein knackiger Impuls nach oben und beide gehen wieder getrennt weiter. Nach einer Weile erweitere ich das Spiel. Fällt ein Paar, fallen alle. Es folgt wieder der gemeinsame Impuls zum Aufspringen. 17.00 Uhr Eines der vielen Blindenspiele soll weiter die Sinne öffnen. Gespielt werden alle folgenden Übungen nonverbal. Auch der Leprawald ist eine Grundübung, von der es unzählige Varianten gibt. Alle Spieler bewegen sich blind im Raum, sollen aber jede Berührung mit anderen vermeiden. Alle Sinne müssen dafür mobilisiert werden. Als Hilfe gibt es eine Imaginationsaufgabe: Ich bewege mich in einer Gruppe von hochansteckenden Leprainfizierten. Jede Berührung ist gefährlich. Das Spiel macht Spaß. Die Studierenden beginnen sich zu spüren, Energie überträgt sich. Um die Gruppe weiter zu sensibilisieren, lasse ich noch ein verwandtes Spiel folgen. Beim Vampirspiel bewegt sich die ganze Gruppe wieder blind im Raum. Jemand wird durch meine Berührung zum blinden Vampir und der sucht nun seine Opfer. Erwischt er jemanden mit einem kräftigen Griff, stirbt dieser einen »qualvollen« Tod. Das »Opfer« öffnet die Augen und verlässt die Bühne.

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Es beginnt mit Shakespeare. What else?

18.00 Uhr Ich lasse die Gruppe zur Ruhe kommen. In einem ersten Gespräch lernen wir uns ein wenig besser kennen. Alle berichten von ihren bisherigen Studieneindrücken. Wirklich spannend für mich ist, wie sie über ihre erste Zeit an der Schule berichten. Sie können auch mir alle Fragen stellen. Auch private. Ob ich sie beantworten will, behalte ich mir natürlich vor. Und jetzt erwarten alle den ganz großen Kick. Das ersehnte PROJEKT. Im Zentrum wird aber weiter die Grundlagenarbeit mit all ihren Themenbereichen, Spielen und Übungen stehen, die jetzt langsam und schrittweise in konkrete Vorgänge, Situationen und Szenen überführt werden. Von Kollegen weiß ich, dass wir von unseren neuen Erstsemestlern viel fordern dürfen. Ich habe mich also nicht für die einfachsten Shakespeare-Stücke entschieden und fünf Paarkonstellationen festgelegt: Maß für Maß – Isabella / Angelo Antonius und Kleopatra – Cleopatra / Antonius Othello – Desdemona / Othello Macbeth – Lady Macbeth / Macbeth Troilus und Cressida – Cressida / Troilus Ich kenne die Klasse noch nicht. Wie sollte ich Paarungen »bauen« können? Also ziehen einfach alle einen Umschlag mit dem entsprechenden Gender-Symbol, in dem sie die Aufgabenstellung finden:

SZENEN, DIE DER AUTOR NICHT SCHRIEB Es beginnt die letzte Phase Eures ersten Semesters. Ihr werdet Eure handwerklichen Mittel schärfen, trainieren und anwenden. Bewusst! Wer bin ich, wenn ich spiele? Was mache ich wo, wie, wann, warum und wozu? Die gleichen Fragen stellt Ihr immer wieder in der Erarbeitung schauspielerischer Vorgänge. Es geht aber auch darum, dass Ihr nach der großen und der kleinen Welt greift. Nach Themen greift, mit denen Ihr Eure kleine und große Welt bewegen wollt. Es gehört zum Handwerk zu begreifen, dass Ihr eine Verantwortung für diese Welt übernommen habt. Nichts weniger. Darüber muss niemand erschrecken. Ihr seid keine Politiker. Es ist ein lustvoller Vorgang, dem Ihr Euch mit vollem Herzen, mit Hirn und Emotionen stellen dürft. Vor allem aber – ohne Vorsicht. Dafür müssen Eure Figuren in ihren Konflikten gelesen werden. Das ist fundamentale Grundlagenarbeit.

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III Das Grundlagenseminar

Foto: HKB MACHT UND ZÄRTLICHKEIT Das ist unser Thema. Das Wortpaar ist für die schauspielerische Arbeit als Widerspruch zu lesen. Dieser ist produktiv für Euer Spiel zu machen. Das ist bereits ein wesentlicher handwerklicher Aspekt. Die kommende Arbeit schließt direkt an Eure Soloarbeiten im ersten Teil des Grundlagenseminars an. Der Schwerpunkt wird nun aber vor allem auf das Partnerspiel gelegt. Wie in den Soli werdet Ihr eine kleine Szene kreieren. Nun zu zweit. Sie spielt vor, während oder nach der Handlung im geschriebenen Stück, ist aber vom Autor nicht geschrieben. Ihr könnt etwas vom Originaltext verwenden oder eigene Texte generieren. Es können auch stumme Szenen sein. Worte sind einzigartig. Verschwendet sie nicht. Und vor allem: Handeln ist Sprechen. Sprechen ist Handeln. Handeln an sich selbst und dem Partner. Du beschäftigst Dich mit: WILLIAM SHAKESPEARE MASS FÜR MASS Deine Figur: ANGELO Du suchst: ISABELLA WIE GEHT IHR VOR? DAS STÜCK LESEN / DIE GESCHICHTE BEGREIFEN / DIE FIGUR KENNENLERNEN. DIE KONFLIKTE, IN DENEN DIE FIGUR STECKT, SINNLICH, PERSÖNLICH UND KONKRET ERFASSEN.

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Stellt alle möglichen Fragen zur Figur, um sie kennenzulernen: Lebt die Figur zurückgezogen oder lebt sie die Gemeinschaft? Ist die Figur reich oder arm? Was liebt die Figur? Was hasst die Figur? Ist die Figur gebildet oder ungebildet? Ist sie neugierig und mobil oder eher ein Couch-Potato? Tausend mögliche Fragen. Ihr findet Antworten im Stück, oder Ihr werdet sie aus dem Stück heraus selbst assoziieren können. Dann überlegt, was dies alles mit einem Menschen macht. WIE liebt die Figur? WIE hasst die Figur? WIE bewegt sich die Figur? WIE läuft, sitzt, isst, trinkt die Figur? Tausend mögliche Fragen. ZEICHNET DIE FIGUR IM KOPF MÖGLICHST GENAU UND ­PERSÖNLICH. PRAKTISCH AUSPROBIEREN! GEHT IN EINEN PROBENRAUM! Bewegt Euch in der Figur. Ihr könnt in der Figur beispielsweise Selbstgespräche führen. Das erleichtert dann später auch den Zugang zu Untertexten. Bleibt dabei einfach und konkret. VERBUNDEN MIT DIESEN FRAGESTELLUNGEN SIND NATÜRLICH DIE GLEICHEN FRAGEN ZUR PARTNERFIGUR ZU STELLEN. VIEL SPASS! Die Studierenden haben nun eine Woche Zeit, um einen möglichst persönlichen Zugriff auf ihre Figur zu finden. Bis dahin sollen alle ihre Figurenaufgabe geheim halten. Das erhöht die Neugierde. In fünf Tagen werden sich alle auf der Bühne begegnen und ihren Partner oder ihre Partnerin in einem Spiel finden. Überraschungen sind also vorprogrammiert. 19.00 Uhr Wir kommen wieder spielerisch ins Tun. Es gibt zwei Spiele, die ich Pascha I und Pascha II nenne. Beim Pascha I sitzt ein Spieler mit geschlossenen Augen auf einem stabilen Stuhl, der wegen der Griffigkeit möglichst Holzbeine haben sollte. Die Gruppe lässt nun den Stuhl »fliegen«. Sie greifen zu und wollen sofort loslegen. Das kann nichts werden und ich breche ab. Bevor die Gruppe zugreift, sollte sie sich finden, einen gemeinsamen Atem entwickeln und den gemeinsamen

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III Das Grundlagenseminar

Impuls zum Anheben des Stuhls vorbereiten. Dann »fliegt« der Stuhl mit dem blinden »Pascha«. Tempovariationen und Richtungswechsel machen die Sache spannend. Pascha II ist etwas komplizierter, denn er läuft durch die Luft, wie es ihm passt, und die Gruppe ermöglicht es ihm. Der Spieler darf nur unter den Füßen und Handflächen gestützt werden. Er setzt einen Fuß, eine Hand und wieder einen Fuß in beliebiger Richtung in die Luft. Die Gruppe reagiert auf den konkreten gesetzten Fuß oder die Hand, die es zu stützen gilt. So läuft er durch die Luft. Auf und ab, in wechselnden Richtungen, den Blick in die Weite gerichtet. Mit etwas Übung funktioniert das sehr gut. 19.20 Uhr Ich stelle der Gruppe einen fundamentalen »Klassiker« in der Grundlagenausbildung vor. Die Übung Zug um Zug findet sich schon bei Gerhard Ebert und Rudolf Penka in Schauspielen, dem ewig aktuellen Handbuch der Schauspielausbildung. Sie beschreiben die Übung folgendermaßen: Die Bühne wird an neun Punkten markiert, vorn, in der Mitte und hinten von links über die Mitte nach rechts jeweils drei Punkte. Zwischen diesen Punkten können sich die Spieler Zug um Zug bewegen. Zwei Studenten gehen auf die Bühne. Jeder wählt sich einen Ausgangspunkt. Entweder nach Absprache oder aus der Situation beginnt einer mit dem ersten Zug, das heißt, er bewegt sich von einem markierten Punkt zu einem anderen markierten Punkt. Ist dies geschehen, reagiert der andere Spieler mit seinem Zug, und so geht es weiter Zug um Zug. Aus den Partnerbeziehungen, die sich herstellen, entsteht ein Vorgang, eine gestische Beziehung zwischen Menschen. (Gerhard Ebert, Rudolf Penka: Schauspielen, Berlin 1989, S. 70) Und genau so spielen auch wir diese Übung. Ich sage zu Anfang allerdings nichts über den Sinn und das Ziel des Spiels. Das erste Paar agiert Zug um Zug und manchmal wissen die beiden nicht, wozu sie gebeten sind. Lassen sich zwei wirklich auf das Setting ein, begreifen sie sehr schnell, worum es geht, es macht ihnen Spaß und es entstehen sehr interessante Beziehungen und Vorgänge. Das Spiel ist beendet, wenn die Zug-um-Zug-Regel durchbrochen wird, indem ein Spieler die Bühne verlässt oder auf den Punkt geht, auf dem schon die andere Spielerin steht. Ich spreche nicht darüber, dass es hier um »konkretes Re-

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agieren« geht, um »gestisches Handeln« und um die Entwicklung von »Haltungen«, »Vorgängen« und »Drehpunkten«. Wir analysieren auch noch nicht den Zusammenhang von spontan entstehenden »Figuren«, »Figurenbeziehungen« und »Arrangements« im Raum. Auf nichts weniger bereitet uns dieses scheinbar einfache Spiel vor. In den nächsten Wochen, also auch Zug um Zug, sprechen wir über all diese Themenbereiche anhand von immer neuen und immer komplexeren Trainingsvarianten zum Zug-um-Zug-Prinzip. 21.00 Uhr Wir haben unser heutiges Treffen längst überzogen. Da wir im Stundenplan meist die zweite Tageshälfte füllen, können wir am Abend ohne Druck überziehen. Ist die Lust groß, weitet sich nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit. Es fehlt noch ein Abschlussspiel: Wolf und Schafe. Eine Spielerin ist der Wolf, sie steht in der Mitte der Bühne. Die Gruppe wechselt als »Schafherde« nun immer wieder die Seite. Im Mittelfeld lauert der »Wolf« auf seine »Opfer«. Mit einem festen Griff »reißt« er »Schaf« um »Schaf«. Die »gerissenen Schafe« bleiben liegen und halten die Augen unbedingt geschlossen. Alle müssen zusammenhalten, können auch taktisch denken, und dennoch kämpft jeder für sich allein. Die »toten Schafe« bleiben mit geschlossenen Augen auf dem Boden und können die Jagd nur noch hören. Das wird dann in der obligatorischen Feedbackrunde als starker Eindruck beschrieben. Dienstag, 21. Mai Sender und Empfänger / Magische Kreise / Der Impuls. Die Arbeit von innen nach außen. Hilf mir! – Harmoniebedürfnis gehört nicht auf die Bühne. Ich bin kein Freund von Pausen. Alltagskram besetzt schnell die Hirne und die Konzentration geht verloren. Deshalb mache ich nur kurze Pausen, um etwas zu trinken oder auf die Toilette zu gehen. Der Raum soll möglichst nicht oder nur kurz verlassen werden. Es hat sich erwiesen, dass dies auch die Lust an der Arbeit steigert. Ich versuche, meine Proben so aufzubauen, dass die Konzentration nie abreißt. Auch für die notwendigen Entspannungsphasen gibt es wunderbare Übungen und Spiele. Alles baut aufeinander auf, ergänzt sich, entwickelt sich eins aus dem anderen. Das lässt uns tief in die Materie eindringen und wird meist als extrem lustvoll beschrieben. Natürlich bleiben es Übungen mit unterschiedlichen Themenstellungen. Am Schluss eines

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III Das Grundlagenseminar

­ reffens soll aber alles als Geflecht von einander bedingenden TheT menkreisen begriffen werden. 14.00 Uhr Dem obligatorischen Gehen im Raum folgt das Übereinanderrollen. Die Gruppe legt sich auf Tuchfühlung auf den Boden. Wie Heringe in der Dose. Nun rollt der äußerste Spieler über die gesamte Gruppe. Es folgt die nächste. So geht es weiter durch den gesamten Raum. Alle sollen dabei weich bleiben, das Gewicht abgeben bzw. aufnehmen. Das anfängliche Gekicher hört bald auf und alle genießen den Vorgang. 14.30 Uhr Ich lasse die Gruppe einen möglichst großen Kreis bilden. Ich schließe einem Spieler die Augen, indem ich ihm mit der Hand über die Augen fahre. Ohne weitere Erklärungen nehme ich ihn an den Schultern und schicke ihn mit einem zielgerichteten Impuls durch den Raum zu einem anderen Mitspieler. Dieser empfängt ihn mit beiden Händen, dreht ihn und schickt ihn weiter durch den Kreis. Blind durch den Kreis ist eines meiner Lieblingsspiele, weil es einfach ist und viel von dem vereint, worauf es ankommt. Konkretes Senden, Empfangen, »blinde« Hingabe und die sinnliche Erfahrung von Raum, Entfernung und Zeit. Ich konzentriere mich auf einen Partner, den ich durch den Kreis schicken will, und stelle Kontakt zu einem »Empfänger« her. »Sender« und »Empfänger« gehen eine gemeinsame Verantwortung für ihren »blinden« Mitspieler ein. Alle entstehenden Kontakte unterscheiden sich voneinander. Als Steigerung schicke ich einen zweiten, dritten und vierten Spieler gleichzeitig durch den Kreis. Durch vorausschauendes Denken müssen nun Zusammenstöße unbedingt vermieden werden. Wenn alle einmal dran waren, reduziere ich die Zahl der »Blinden« im Kreis wieder. Am Schluss verbleibt nur noch eine Spielerin im Kreis, der sich nun kontinuierlich verengt, bis alle Schulter an Schulter stehen. Die Spielerin soll sich nun fest wie ein Baumstamm machen. Mit einem kleinen Impuls fällt sie als solcher, wird aufgefangen und weitergeworfen. Bald wird sie angehoben und durch den Raum getragen, bis sie wieder abgestellt wird. Die Hände lösen sich von ihrem Körper und sie öffnet die Augen. Nach diesem Spiel ist die Feedbackrunde meist aufgeregt und alle wollen gleichzeitig reden.

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15.15 Uhr Ich mache den IMPULS zum inhaltlichen Schwerpunkt. Die Magischen Kreise bereiten das nächste Spiel vor. Auch das ist immer wieder eine überraschende Entdeckung, obwohl wir im alltäglichen Leben ständig mit diesen »Kreisen« umgehen. Meist gibt es bei etwa drei bis vier Metern Abstand zwischen zwei Menschen den ersten »magischen Punkt«. Das Verhältnis zueinander verändert sich. Die Spieler spüren deutlich, dass sie hier in eine Distanz eintreten, in der man sich nicht zu nah, aber doch nah genug fühlt, um ohne Anstrengung kommunizieren zu können. Dann nähern sie sich weiter an. Meist bei weniger als einem Meter überschreiten sie die Grenze zur Intimität. Auch diesen Punkt kann man deutlich wahrnehmen. Er variiert auch bei sehr unterschiedlichen Menschen nur wenig. Wir kennen diesen Punkt auch aus dem Alltag. Angenehm ist es, wenn zwei diese intime Nähe suchen. Es kann aber auch als übergriffig empfunden werden. Es gibt in manchen Fernsehsendungen Moderatoren, die höchsten Druck auf ihre Gesprächspartner durch so extreme Nähe ausüben. Für Annähern – Entfernen ist eine konstante Neugierde aufeinander eine wesentliche Voraussetzung. Auch dieses Spiel wird nonverbal gespielt. Variante 1: Zwei stehen sich gegenüber und nähern sich Zug um Zug an. Jeder Schritt des einen ist der Auslöser für einen weiteren Impuls beim Partner. Beide erspielen miteinander den Punkt, wo sich das Blatt wendet und sie wieder Schritt für Schritt die Distanz suchen. Es gibt viel zu entdecken. Spannung, Aufmerksamkeit, Provokation oder Verführung machen Lust auf mehr. So entscheide ich mich zu einer erweiterten Runde. Variante 2: Es gibt mehr Freiheit. Die Spielpartner dürfen sich jetzt nahekommen, berühren, mehrmalig annähern oder entfernen, und sie sollen einen gemeinsamen Abschluss finden. Alle in der ersten Variante erfahrenen Möglichkeiten können frei variiert werden. Aus der Impulsübung wird heute ein sehr sinnliches Spiel. Lea und Antoinette näherten sich über zwanzig (oder mehr) spannende Minuten einander an, um zu einem sinnlichen Kuss zu kommen. Die Trennung wird dann Schritt für Schritt zur Tortur. Technisch entwickelte sich eine unendliche Folge immer neuer Impulse. Jeder Augenaufschlag der einen wurde von der anderen spielerisch genutzt. Die gegenseitige Neugierde führte zu einer hohen Präzision und Lesbarkeit. Beide begannen frei auf dieser spielerischen Welle zu surfen. Sie kamen in den oft beschworenen Flow, der so schwer erreichbar ist.

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III Das Grundlagenseminar

Das Besondere allerdings war, wie präzise die beiden Studentinnen diese Vorgänge im Anschluss reflektieren konnten. Eine weitere Runde war danach kaum möglich. Eine Ernüchterung wäre vorprogrammiert gewesen. Auch das könnte eine wichtige Erfahrung sein, ich entschied mich in diesem Fall aber dagegen. 16.00 Uhr Ich konfrontiere die Gruppe mit Hilf mir. Zwei Spieler stehen sich gegenüber. Sie strecken die Hände so weit zueinander aus, dass nur wenige Zentimeter zwischen den Fingerspitzen verbleiben. Der Blick soll sich über die gesamte Übung nicht voneinander lösen. Ein Spieler geht nun leicht in die Knie. Zur Verabredung gehört die Imagination, dass dieser Spieler am Rande eines tiefen Abgrundes steht, und wenn er fällt, fällt er ins Bodenlose. Alle wissen, dass diese Haltung nicht ewig gehalten werden kann. Irgendwann werden die Oberschenkel müde, und der Körper ist nicht mehr zu halten. Wann und so oft er möchte, kann dieser Spieler die Worte »Hilf mir« an den aufrecht stehenden Partner richten. Zur Verabredung gehört allerdings auch, dass dieser nicht helfen darf. Das Spiel baut auf einer extrem einfachen und nüchternen Anordnung auf. Und es tut immer weh. Auch den Zuschauenden. Es kann nichts passieren, es kann sich niemand verletzen, die Gefahr besteht einzig in der imaginierten Situation. Dennoch kämpfen beide, und es wird fast unerträglich. Irgendwann fällt der eine. Mein Leipziger Schauspiellehrer und späterer Kollege Bernd Guhr formulierte den Sinn dieser Elementarübung folgendermaßen: »Dringend notwendig ist es, Aggressionspotenziale des Studenten ausfindig zu machen – durchaus mit Vorsicht, manchmal gegen seinen anfänglichen ›Protest‹, um zielgerichtet Hemmungen überwinden zu helfen, dem Partner auch ›wehzutun‹. Harmoniebedürfnis gehört in der Regel nicht auf die Bühne.« Tatsächlich entsteht bei vielen ungeahnte Wut oder gar Hass statt Hilflosigkeit oder Angst. Beide Spielpartner erleben meist ungeahnte emotionale Berg- und Talfahrten. Sie ertappen sich bei der Lust, den anderen leiden zu sehen, oder hassen sich selbst, wenn sie spüren, dass sie sich an die Anweisung halten, nicht helfen zu dürfen. Oft brauchen die Studierenden nach diesem Spiel Zeit, um wieder anzukommen. Sie brechen manchmal in Tränen aus, können kaum fassen, was da passiert ist, umarmen sich, halten sich fest, sind aber in der Regel sehr glücklich und auch stolz, diesen Weg gegangen zu sein. Eine ausführliche Feedbackrunde ist hier Pflicht.

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Die Erfahrungen aus diesem Spiel können nachhaltig nutzbar gemacht werden. Das werden wir schon in der nächsten Woche erleben, wenn die Arbeit an den Shakespeare-Szenen konkret wird. 17.00 Uhr Nun ist Entspannung geboten. Die Gruppe freut sich auf eine neue Runde Pascha. Anschließend versuchen wir, einfache innere Prozesse nach außen durchschlagen zu lassen. Süß, sauer, scharf ist ein sehr einfaches Experiment. Drei oder vier Spieler stehen im Raum. Zuerst sollen sich alle ihren Lieblingsgeschmack im Mund vorstellen. Dieses wunderbare Aroma soll, von Mundhöhle und Zunge ausgehend, den ganzen Körper ausfüllen. Ich gebe dann einen anderen Geschmack rein, der sich langsam durchsetzen soll. Es könnte sauer sein, oder es könnte scharf folgen. Eventuell verbindet sich mit dem einen oder anderen Geschmack eine weitere Eigenschaft. Klebrig, schleimig, hart, eiskalt oder angenehm warm. Es soll nichts »gespielt« werden. Die Frage ist, wie ich etwas imaginieren kann, was mich bewegt, und wie sich dies beschreibbar veräußert. In einem weiteren Durchgang werden wir Vergrößerungen probieren. Dabei wird man schnell spüren und auch sehen, wann ein Versuch zu einer äußerlichen Aktion wird. In einer Variation dieser Übung soll der Körper als hohl empfunden werden. Die Studierenden versuchen, warmen Wind im hohlen Körper zu imaginieren. Dann soll sich dieser bis zu einem ungemütlichen Sturm mit starken Böen entwickeln und den Körper entsprechend bewegen. Diese Übung braucht Zeit und ist auch eine gute Konzentrations- und Konditionsübung. 17.45 Uhr Ich lasse einen Imaginationsklassiker folgen. Das »erste« Requisit: Der Brief. Auch dies ist eine komplett nonverbale Übung. Auf einem Stuhl liegt ein gefaltetes, leeres Blatt Papier. Das ist der Brief. Eine Spielerin findet den Brief und »liest« ihn. Der Inhalt spiegelt sich in den körperlichen Reaktionen. Es ist hilfreich, wenn die Studierenden dafür eine starke persönliche und emotionale Erinnerung wählen. Diese muss niemals veröffentlicht werden, aber es wird leichter, innere Prozesse zu provozieren, die sich nach außen durchsetzen. Später werden wir über den emotionalen Fundus (nach Stanislawski) sprechen und auch darüber, dass man sich auf der Bühne mit persönlichem Material niemals »nackt« macht, weil man dem Schutz der Bühne vertrauen kann. Ob das eigene Spiel etwas mit den Assozia-

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III Das Grundlagenseminar

tionen der Zuschauer zu tun hat, kann dann jeder selbst in der Feedbackrunde einschätzen. Auch diese Übung kann man natürlich variieren und auch zu einer Partnerübung ergänzen. 19.00 Uhr Mit Senden – Empfangen schließt wieder eine Übung an, die blind funktioniert. Diese komplexe Übung setzt die Sensibilisierung der Sinne und eine wache Wahrnehmungsbereitschaft voraus. Vier Spieler sitzen mit geschlossenen Augen auf Stühlen im Quadrat. In der ersten Runde schicken alle in unregelmäßiger Folge ein »DU« möglichst zielgenau zu einem Partner. Wer sich angesprochen fühlt, hebt die Hand. So können wir von außen überprüfen, wie es funktioniert. Anfangs funktioniert es nie. Wird das Ziel nur gedacht, wie konkret auch immer, wird der »Ball« nicht ankommen. Visiere ich auch körperlich meinen Adressaten an, funktioniert es eventuell besser, aber noch lange nicht gut. Erst wenn der ganze Körper, vor allem die Atemsäule, wie eine »Wurfmaschine« genutzt wird, wird die Information dort ankommen, wo sie hinsoll. Das funktioniert dann mit verblüffender Genauigkeit und immer weniger Aufwand. Alle sind von sich begeistert. Die zweite Runde beginnt wie die erste. Nun werden aber nicht mehr die Arme gehoben, wenn man sich angesprochen fühlt. Dies war nur eine Hilfe für die Beobachter. Nun kann sich jeder frei im Raum bewegen. Fühlt man sich von einem »DU« angezogen, kann man sich anziehen lassen. Fühlt man sich abgestoßen, reagiert der Spieler ebenfalls nach eigener Entscheidung. Gesendete Sprache bewegt. Die Studierenden improvisieren frei. Es entstehen Beziehungen. Es ist für die Zuschauenden beeindruckend, wie konkret die Impulse im Körper sichtbar werden. Da im blinden Spiel die Sinne extrem geschärft sind, sind die Spieler auch »automatisch« offen für das, was wir »geteilte Aufmerksamkeit« nennen. 20.00 Uhr Zum Abschluss folgt ein letztes Spiel und gut gelaunt verabschieden wir uns zu später Stunde. Mittwoch, 22. Mai Forschende Berührungen und blindes Vertrauen. Körpergedächtnis und Raumgefühl. Entscheidungen zwischen Tür und Angel. Die Kraft des Schwarms.

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14.00 Uhr Wir beginnen mit einigen Vorbereitungsspielen. In Wer ist mein ­Partner? bewegen sich alle im Raum. Kommt es zu Begegnungen, darf der Partner blind erforscht werden. Wie fühlen sie die Haare an, die Textilien, die Haut? Die Nähte des T-Shirts, die Fingernägel oder das Ohrläppchen? Wie riecht mein Partner, wie geht der Rhythmus seines Atems oder wie feucht oder trocken sind seine Hände? Die Studierenden müssen sich einerseits zur Verfügung stellen und andererseits aktiv werden. Geben und nehmen. Es entsteht ein Dialog, in dem sich die Partner füreinander sensibilisieren. 15.00 Uhr Tanzen blind im Kreis sorgt für ausgelassene Entspannung. Ich spiele Musik ein, die unbedingt in die Beine muss. Ein Spieler tanzt blind im Kreis, den die anderen bilden. Mit jedem Wechsel der Musik wechselt jemand anderes in die Mitte. Alle tanzen raumgreifend, denn sie wissen, dass sie von jemandem aus dem Kreis aufgefangen werden. Dadurch kommt es immer wieder zu kurzen Begegnungen. Es entstehen Miniduette. 15.30 Uhr Wir kümmern uns um Körpergedächtnis und Raumgefühl. Selbstwahrnehmung und Realität klaffen oft weit auseinander. Jedenfalls am Anfang von Sich Finden im Raum. Zwei Partner stehen sich in einer möglichst großen Distanz gegenüber. Sie gehen nun offenen Auges aufeinander zu, umarmen sich kurz und gehen rückwärts an den Ausgangspunkt zurück. Nun schließen sie die Augen und versuchen das Gleiche blind. Nonverbal, ohne Geräusche und andere Hilfen. Es ist nicht schlimm, wenn einige Studierende erfahren müssen, dass sie bereits im blinden Vorwärtsgang total die Richtung verlieren. Es ist eine Erfahrung. Im blinden Rückwärtsgang wird es dann für die meisten kompliziert. Viele verlieren völlig die Orientierung. Mit etwas Übung wird es besser. Die weit geöffneten Arme fangen den Partner wie in einem Trichter. Nun gibt es eine kleine Steigerung. Die Paare sollen sich in der Mitte nur noch zu einem Shakehands treffen. Wieder wird die Annäherung sehend probiert. Der Körper soll lernen, wie es sich anfühlt, wenn es funktioniert. Dann blind. Es ist natürlich schwierig, in der richtigen Distanz stehen zu bleiben, sich die Hand zu reichen, sich wieder zu trennen und rückwärts den Ausgangpunkt zu erreichen. Und dennoch haben alle nach einigen Versuchen Erfolgserlebnisse.

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III Das Grundlagenseminar

16.00 Uhr Ich kehre ich zur gestrigen Übung Annähern – Entfernen zurück, bei der die beiden Spielerinnen eine so spannende Begegnung kreierten. Es ist allerdings auch einen Tag später noch schwierig, sich von den gestrigen Eindrücken zu befreien. Viele suchen zu ambitioniert nach der ersehnten Intensität. Auch das ausgeprägte Harmoniebedürfnis dieser Gruppe ist nicht hilfreich. Das Spiel heißt definitiv nicht Tausend Wege zum Kuss. Das fällt der Gruppe schwer. 17.30 Uhr Die Gruppe bewegt sich im Schwarm zu groovender Musik nach dem Vorbild von Vögeln oder Fischen mit ihren überraschenden Richtungsund Tempowechseln im Raum. Die Gruppe arbeitet ohne Führung, ausschließlich mit gemeinsamen Impulsen. Immer wieder passiert es natürlich, dass bei einem Richtungswechsel jemand aus der Gruppe fällt. Derjenige kreiert im Augenblick ein kurzes Solo und integriert sich dann wieder in die Gruppe. Fallen mehrere heraus, wird aus dem Solo ein Duett oder Terzett. Ich liebe die Arbeit mit Musik, verwende sie aber im Grundlagenseminar sehr selten. Sie beeinflusst stark und kleistert Vorgänge schnell zu. Hier gibt die Musik einerseits einen helfenden Rhythmus, andererseits wird die Freude an der Bewegung, den Partnern und dem eigenen Körper verstärkt. Konzentrierte E ­ ntspannung. 18.00 Uhr Nun geht es um schnelle Assoziationen, Entscheidungen und Rhythmus. Wir spielen die Dreiervariante von Bilder ergänzen. Ein Spieler beginnt: »Ich bin das Meer.« Er legt sich auf den Boden und macht eine Wellenbewegung. Ein weiterer Spieler ergänzt den ersten: »Ich bin der Leuchtturm.« Pose. Ein dritter Spieler ergänzt das nun entstehende Bild: »Ich bin die Möwe, die den Leuchtturm umkreist.« Tut es. Nun löst der erste Spieler auf: »Ich bin das Meer und nehme die Möwe mit.« Beide verlassen die Bühne. Der verbleibende Spieler beginnt neu: »Ich bin der Leuchtturm.« Das Tempo wird im Verlauf erhöht und alle wollen sich mit Ideen übertrumpfen. Die Genauigkeit sollte allerdings bei allem Spaß niemals verloren gehen. Im Feedback stellen Studierende fest, dass keine Entscheidung falsch sein kann, wenn sie konkret und selbstbewusst behauptet wird. Aber jedes Zögern, jede Unsicherheit oder Unentschlossenheit im Augenblick des Tuns macht den Spieler auf der Bühne klein, beschädigt den Rhythmus und die Ausdruckskraft geht ­verloren.

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18.30 Uhr Anschließend folgt eine komplexe Improvisationsaufgabe. Die Tür wird nonverbal und in der ersten Variante als Solo gespielt. Eine Bühnentür steht im Raum, und so können zwei Räume assoziiert werden. Ein Spieler kommt aus einem Raum hinter der Tür und geht in den Raum vor der Tür. Wie er aus dem hinteren Raum kommt, lässt die Zuschauer assoziieren, was dies für ein Raum ist und was er darin getan haben könnte. Im vorderen Raum fällt ihm etwas ein, das ihn zurück in den hinteren Raum zwingt. Er erledigt dort das Notwendige und verlässt durch den vorderen Raum die Bühne. Soweit das Setting. Klare Vorgänge und einfache Widersprüche sind hilfreich für die Lesbarkeit des Spiels. Ich möchte Assoziationen auslösen. Es ist zuerst wichtig, was die Räume IN mir auslösen. Höchstmögliche Konkretheit heißt nicht, dass jedes Detail für den Zuschauer beschreibbar werden muss. Zur Aufgabe gehört ein Drehpunkt. Im vorderen Raum kommt es zu einem Punkt, an dem der Spieler begreift, dass er zurückmuss. Floh er gerade aus seinem Schlafzimmer, in dem er seine Frau mit einem Liebhaber erwischt hat, und entscheidet sich nun, diesen zu ermorden? Er geht zurück in den hinteren Raum, und wenn er wieder in der Tür auftaucht, werden wir assoziieren können, was hinter der Tür passiert sein könnte. Anfangs sehen wir sehr einfache Geschichten. Ich gehe aus dem Haus, stelle auf der Straße erschrocken fest, dass ich meine Geldbörse vergessen habe, gehe zurück, hole sie und gehe dann entspannt meiner Wege. Später finden hinter der Tür Partnertrennungen, Entlassungsgespräche oder Sportveranstaltungen statt. Die Studierenden kommen dann durch die Tür und wollen fliehen, weinen sich die Augen rot oder sind nach einem verlorenen Sportereignis fix und fertig. Die Lust an immer komplexeren Geschichten ist verständlich. Es wird in den Feedbacks aber auch sehr schnell deutlich, was zu viel, unkonkret oder verwirrend war. Die Studierenden haben in dieser Übung einen Vorgang gespielt, aus dem sich ein Drehpunkt entwickelte, dem ein neuer Vorgang folgte. Das ist viel. 20.30 Uhr Wieder schließt ein Abschlussspiel unser Treffen ab. Donnerstag, 23. Mai Der Körper bringt mich in die Fantasie, in der Gruppe darf sie blühen und mich zu meinen Partnern führen.

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III Das Grundlagenseminar

17.00 Uhr Auf ein paar Vorbereitungsspiele folgen Körperwellen. Diese kann ich an jedem Punkt anhalten. Jede Haltung eröffnet unterschiedliche Perspektiven, aus denen ich nun die »Welt« betrachte. Halte ich die Welle weiter unten an, gehe ich gebückt wie ein alter Mann mit krummem Rücken und es fällt mir schwer, nach oben zu schauen. Oder ich halte die Bewegung in der Streckung an, betrachte nun die Welt von oben herab. Es liegt nahe, dass ich arrogant über viele hinwegschaue. Die Körperhaltung macht etwas mit uns und unseren Assoziationen. Die Aufgabe wird dann erweitert. Es werden kleine Begegnungen erspielt. Nach drei oder vier Begegnungen wird mit einer neuen Körperwelle die Perspektive gewechselt. 17.45 Uhr Ich wechsle nahtlos zu Tauziehen ohne Seil. Die Gruppe kennt das Spiel. Nun aber lasse ich die skurrilen »Figuren« aus der letzten Übung zwei Gruppen bilden und ein imaginäres Seil aufnehmen. Sie können die Aufgabe mit der merkwürdigen Körperlichkeit aus der letzten Übung gut verbinden. Das Tauziehen gerät zu einer schweißtreibenden Aktion. Irgendwann »verliert« eine Gruppe und purzelt übereinander, während die »Sieger« jubeln. 18.00 Uhr An den Händen erkennen wird an diesem Abend zu einem regelrechten Hit. Die Gruppe steht in einem engen Kreis und jeder streckt seine rechte Hand in die Mitte. Dort steht ein Spieler, der blind eine der Hände auswählt. Er darf nur die Hand und das Handgelenk ertasten und soll dessen Besitzer erraten. Während des Vorgangs beschreibt er mit größter Detailgenauigkeit, was er ertastet. Konkret und ohne lange Pausen. Mit der Zeit werden dafür immer fantasievollere Vergleiche und aussagekräftige Bilder für die Charakterisierung der Hand herangezogen. Irgendwann muss eine Entscheidung fallen. Wird der Besitzer der Hand erkannt, wechselt nun dieser in den Kreis. Wer den Besitzer der Hand nicht richtig benennen kann, bekommt eine zweite Chance, und die wollen alle nutzen. So nimmt die Übung mehr Zeit in Anspruch als geplant. 19.00 Uhr Wir wiederholen nochmals die grundlegende Übung Zug um Zug im Originalsetting. Das geschieht auf Wunsch der Studierenden. Sie hatten sich mit Kommilitonen älterer Semester ausgetauscht. Es wurde

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der Eindruck weitergegeben, dass man bei dieser Übung besonders viel gelernt habe. Ich gehe gern auf den Wunsch ein, weise aber darauf hin, dass diese Übung auch in jeder anderen Improvisationsübung steckt. 20.00 Uhr Wir kommen auf Die Tür vom Vortag zurück. Auch jetzt wird nonverbal gespielt. Alle kennen das Setting, und ich lasse die Übung beginnen. Während sich der erste Spieler hinter der Tür vorbereitet, schicke ich nun aber eine weitere Studierende vor die Tür. Der Spieler öffnet die Tür und trifft überraschend auf die Mitspielerin und – steigt sofort aus. Alle lachen und ich breche ab. Irrtum. Die beiden protestieren. Ihr Lachen könnte doch zum Teil des Spiels gemacht werden. Weiter geht’s. Der erste Spieler benutzt nun viele pantomimische Bewegungen, um »seinen« Raum möglichst eindeutig zu erklären, und sie zeigt ihm mit Gesten, wann sie ihn verstanden hat. Die Situation geht verloren. Ich bin sehr dankbar für dieses Angebot. Sie haben alles gemacht, was ich nicht sehen möchte. In der Feedbackrunde beschreiben sich die Studierenden, was nicht funktioniert hat. Der Vorgang des ersten Spielers muss konkret verfolgt werden. Ist die Partnerin aufmerksam, wird sie immer reagieren können. Die beiden bekommen eine zweite Chance. Der Spieler tritt durch die Tür, schaut ertappt die neue Mitspielerin an, schaut zu Boden, dann wieder in ihre Augen. Sie wartet ab. Er geht auf sie zu, schaut sie an und möchte sie umarmen. Sie verweigert die Umarmung und wartet weiter ab. Der erste Spieler bietet ihr nun einen Platz an und versucht es mit einem Lächeln. Sie erwidert das Lächeln nicht. Er nimmt eine imaginäre Tasse aus einem imaginären Hängeschrank, gießt langsam ein, immer wieder zu der Mitspielerin schauend. Es ist jetzt klar, dass sie sich in einer Küche befinden. Er gießt den Kaffee sehr langsam ein. Er verzögert offensichtlich den Vorgang. Er überlegt. Er will Zeit gewinnen und ist sehr unsicher. Immer wieder schaut er zur Tür. Hat er Angst vor dem, was sich hinter der Tür befindet? Nun löst sich die Spannung bei der Mitspielerin. Sie geht zu ihm, nimmt ihm lächelnd die Tasse aus der Hand und trinkt einen Schluck. Er schaut sie dankbar an. Sie streichelt sein Gesicht und ermutigt ihn, zurück durch die Tür zu gehen. Er traut sich nicht. Sie öffnet ihm die Tür und er tritt auf die Schwelle. Wieder ermutigt sie ihn. Nun geht er durch die Tür und schaut sich unsicher um. Nach einer Weile entschließt sie sich, mit ihm durch die Tür zu gehen. Sie schließen die Tür und bleiben eine Weile im hinteren Raum. Dann geht die Tür wieder auf. Beide kommen Hand in Hand zurück. Er ist offensicht-

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lich erschüttert. Sie umarmt ihn. Sie tröstet ihn. Sie verlassen Hand in Hand die Bühne. Es entstehen an diesem Abend noch viele sehr spannende Geschichten, wir überziehen die geplante Zeit wieder einmal stark und alle gehen glücklich nach Hause. Freitag, 24. Mai Der Tag, an dem Geheimnisse gelüftet werden. Die Paare für das Grundlagenprojekt finden sich. Die große Vorstellungsrunde. 8.30 Uhr Mir dröhnt harte Musik entgegen. Die Gruppe tobt sich warm. Aus der Musik heraus gehen wir nahtlos in zielgerichtete Gänge. Ich lasse aus der Bewegung heraus zwei Gruppen bilden, die sich in der Westside Story gegenüberstehen. Zug um Zug agieren nun die zwei Gruppen mit wechselnden Drohgesten gegeneinander. Ein wilder Rhythmus entsteht, bevor die Gruppen wieder ruhiger agieren, den individuellen Blick öffnen und den konkreten Kontakt zu Augenpaaren in der gegnerischen Gruppe suchen. Nach einer Weile kommen alle zu einer spannungsvollen Ruhe. Nicht mehr unversöhnliche Gruppen stehen sich gegenüber, sondern einzelne Menschen, die sich distanziert und skeptisch taxieren. So mancher in der gegnerischen Gruppe erscheint nun gar nicht mehr so unsympathisch und bald mischen sie sich die beiden Gruppen. 9.15 Uhr Es folgt Mein schönstes Körperteil. Ganz hinten auf der Bühne stehen vier Spieler den Zuschauern gegenüber. Im Gang auf uns zu bauen sie die notwendige Konzentration auf, um uns nonverbal ihr liebstes Körperteil vorzustellen. Episode: Ein Spieler stellt offensichtlich sein Geschlechtsteil aus. Es frustriert ihn, dass die schlichte Hand eines Spielers neben ihm viel interessanter zu sein scheint. Bei diesem reichen ein paar Akzente, um Begeisterung für seine Hand zu entfachen. Auf der anderen Seite begeistert eine Spielerin das Publikum mit kleinen Andeutungen für ihre Brüste. Dazwischen nun der Spieler mit seinem »besten Stück«. Es muss ihm etwas einfallen. Er zieht die Jogginghose herunter. Auch das reicht nicht. Er bleibt aber offensiv und versucht verschiedene Haltungen, Berührungen und Bewegungen. Es nützt nicht viel. Schließlich zieht er sich auch die letzte Hose herunter und präsentiert nun

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nackt und ohne Scham sein »bestes Stück«. Viele kichern, schauen, sind überrascht, aber die Aufmerksamkeit geht dann doch wieder sehr schnell zur Hand und zu den Brüsten rechts und links neben ihm. Beide erzeugen Aufmerksamkeit mit wenigen Akzenten und spielen mit der Fantasie der Zuschauer. Das funktioniert natürlich viel besser. 10.00 Uhr Es beginnt ein von allen mit Spannung erwartetes Treffen auf der Bühne. Nun werden alle erfahren, mit wem sie eine Szene erarbeiten werden, die Shakespeare nicht schrieb. Alle haben in den letzten vier Tagen parallel zu allen Unterrichten ihre Stücke gelesen und möglichst viel über ihre Figuren und über ihre potenziellen Partnerfiguren herausgefunden. Sie haben sich ein eigenes Bild gemacht. Und alle haben dichtgehalten. Niemand weiß, wer sich mit welcher Figur befasste. Alle sind gut vorbereitet. Manche haben Kostümteile, jemand trägt schwere Stiefel, andere sind barfuß, manche haben kleine Requisiten bei sich, andere haben nichts dabei. Alle versuchen, sich in der vorbereiteten Figur zu bewegen und aus dieser heraus die anderen zu beobachten. Sie haben die Aufgabe, diejenigen anzusprechen, die ihnen potenziell als Partner oder Partnerin passend erscheinen. Dabei vermeiden sie konkrete Namen, Orte und Stückinhalte. Sie konzentrieren sich auf Fragen nach dem sozialen Umfeld oder den persönlichen Vorlieben. Bist du ein Partylöwe? Hast du studiert? Lebst du noch zu Hause bei deinen Eltern? Bist du sportlich? Hast du ein fettes Bankkonto? Auch ich weiß nicht, wer am ersten Tag welche Figur mit seinem Umschlag gezogen hatte. Es ist auch für mich ein spannender Prozess. Irgendwann finden sich die Paare und verlassen die Bühne. In vielen Gesichtern spiegelt sich glückliche Entspannung und ab zu spürt man auch ein wenig Enttäuschung. Nun stellen sich die Paare gegenseitig vor und es brechen sofort die ersten Konflikte auf. Spontan entstehen Flirts, Streits oder Ratlosigkeit. Manchmal kollidieren die Bilder. Die Partnerfigur ist so ganz anders als gedacht.

Zu Maß für Maß haben sich Maria Heide Goletz (Isabelle) und Timo Jander (Angelo) gefunden: TJ: Sie würde alles tun, um ihren Bruder zu retten. SEXY! MHG: Ich hatte einmal die Hoffnung. Und du … TJ: Wodurch entsteht Hoffnung? MHG: Wenn ich eine Nacht mit dir verbringe …

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Zu Antonius und Cleopatra arbeiten Nola Friedrich (Cleopatra) und Jonas Dumke (Antonius): NoF: Du hast mir die ganze Verantwortung zugeschoben. JD: Ja … NoF: NUR MAL SO! Mit Othello beschäftigen sich Nanny Friebel (Desdemona) und Marvin Groh (Othello) NF: Ich weiß nicht, was du denkst, weil du so verdammt geheimnisvoll bist … und so anders … MG: Ja! Jetzt kommt wieder die ganze Negerscheiße. NF: Du weißt, dass ich dich akzeptiere, wie du bist. SO WIE DU BIST! Macbeth ist die Aufgabe von Antoinette Ullrich (Lady Macbeth) und Jonathan Ferrari (Macbeth): AU: Auch im Bett bin ich dominanter. Da bringst du gar nichts mehr. JF: Kaum waren wir oben, hat nichts mehr gestimmt bei dir. AU: Ich weiß nicht mehr, warum ich mich in dich verliebt habe. Weißt du überhaupt, wie es mir geht? Morde, die wir nicht mehr rückgängig machen können … Ich weiß gar nicht, wie damit umgehen … JF: Die Tat war DEINE Idee! Eine Szene, die Shakespeare in Troilus und Cressida nicht geschrieben hat, werden Lea Maria Jacobsen (Cressida) und Joshua Walton (Troilus) kreieren: LMJ: Warum hast du mich gehen lassen? Warum hast du NICHTS unternommen, als man mich verhandelte wie eine Ware? JW: Du bist die Tochter eines Verräters. LMJ: Ich will nicht nur anklagen. Ich weiß, dass ich mich schuldig gemacht habe. JW: Du bist zur Schlampe geworden! Die Dialoge spiegeln bereits erlerntes und trainiertes Handwerk. Das spüren alle und es befördert das Selbstbewusstsein. Wir trennen uns nach diesem Vormittag mit der Hausaufgabe, bis zum kommenden Mittwoch ein erstes szenisches Angebot zu erarbeiten. Heute ist Freitag. Es ist also nicht viel Zeit.

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Die zweite Woche – Zusammenfassung Szenen entstehen, die der Autor nicht schrieb. Handwerkliche Übungen werden mit der szenischen Arbeit verknüpft. Handwerk wächst an den Inhalten. Gruppenübungen wechseln mit solistischen, Partnerübungen werden komplexer und Wiederholungen in den unterschiedlichsten Varianten vertiefen die Fertigkeiten. Fast täglich lasse ich die Studierenden während einer einfachen Erwärmungsübung auch die aktuellen »Baustellen« benennen, die in den anderen Fächern auf der Tagesordnung stehen. Was ist im Bewegungsunterricht Thema? Was beschäftigt in Sprechen? Alle teilen sich mit klaren Aussagesätzen mit und diese will ich hören und verstehen, auch wenn alle im Raum durcheinanderlaufen. Ich möchte, dass alle »senden«. Von Anfang an. Wir vertiefen weiter alle wesentlichen Themenbereiche, die in einem Grundlagenprogramm behandelt werden, mit den unterschiedlichsten Übungen und Spielen, kombinieren diese und vertiefen Wahrnehmungsprozesse, die zu Wertungsprozessen und Entscheidungsprozessen führen, auf die Handlungsprozesse folgen. Wir lassen vor allem den Körper »sprechen« und immer wieder heißt es: Folge deinen Impulsen! Sei im Augenblick! LASS DICH TREFFEN! Mittwoch, 29. Mai Erste szenische Angebote. Shakespeare wird zum Gesprächspartner, Ideengeber, Mitstreiter. Heute werden die Paare ihre ersten szenischen Angebote vorstellen und wir werden neben den Übungen und Spielen zunehmend an diesen Angeboten arbeiten. Ich freue mich darauf. Ich werde aber die Studierenden weder inszenieren noch vorteilhaft verkaufen. Ich möchte, dass die Studierenden einen Dialog mit dem Autor führen, auch wenn dieser schon sehr lange nicht mehr lebt, und aus diesem heraus ihre eigenen Geschichten entwickeln. Gelingt dies, werden sie über die Power staunen, die sie auf der Bühne entfesseln können. Am Rand stehen Möbelstücke bereit, Kostümteile hängen über Stühlen und Requisiten warten offensichtlich auf ihren Einsatz. Ich habe mitbekommen, dass alle aus der Klasse mehr oder weniger das gesamte letzte Wochenende in den Proberäumen der Schule verbracht haben. Nach ein paar Vorbereitungsübungen kommen wir zum zentralen Punkt des heutigen Tages. Die Aufgabenstellung war, dass die Paare einen Konflikt ins Zentrum stellen. Hier die kurzen Zusammenfassungen der ersten ­Angebote:

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Lea und Joshua befassen sich mit Troilus und Cressida. Die Bühne ist leer. Troilus beginnt seilzuspringen. Er stürzt sich in ein einsames Workout. Cressida überrascht ihn. Es folgen vor allem Dialoge über Verrat, Eifersucht und Enttäuschung. Ja, sie hat sich auf andere Männer eingelassen und – es war merkwürdig schön für sie. Sie lässt einen großen inneren Aufbruch spüren. Troilus hält am traditionellen Treuebegriff fest. Doch lieben sich beide noch immer und können sich diesem Gefühl nicht entziehen. Antoinette und Jonny befassen sich mit Macbeth. Ein großes, schwarzes Bett-Podest steht im Mittelpunkt. Schwarze Hosen und Lederjacken charakterisieren die beiden Figuren. Lady Macbeth wartet auf ihren Mann. Er kommt, zieht sich frustriert aus, begrapscht seine Frau und will offensichtlich Sex. Sie wehrt sich. Noch ist sie sich ihrer Macht über ihn bewusst und straft ihn ab. Er emanzipiert sich aber immer stärker von ihr. Das treibt sie in den Wahnsinn, und er verliert seine einzige Verbündete. Nanny und Marvin befassen sich mit Othello. Wir sehen ein Sofa, einen roten Klappstuhl und eine Rolle mit Kunstrasen. Desdemona, sexy gekleidet, versucht, Othello, den Profifußballer, sexuell zu reizen, doch dieser flüchtet sich immer wieder ins Training. Es steht etwas zwischen ihnen. Cassio ist natürlich der Stein des Anstoßes. Othello trägt sein Stigma nicht auf der Haut und dieses gibt der Szene eine überraschende Wendung. Sie erkennt, dass er in Cassio verliebt ist. Doch ein schwuler Fußballer ist durch die Öffentlichkeit nicht tolerierbar. Sie garantiert ihm ein überzeugendes maskulines Image, wenn er ihr gibt, was sie sexuell braucht. Das wirft ihn in eine tiefe ­Krise. Kann er ihr weiter trauen? Nola und Jonas befassen sich mit Antonius und Cleopatra. Nola und Jonas haben einen chorischen Anfang aus Originaltexten gebaut, der eine politisch heikle Ausgangslage markiert. Nun wechselt der Ton auf die private Ebene. Eifersucht, Angriff und Verteidigung eskalieren. Es kommt zu einem handfesten Krach in der »Politikerehe«. Sie lieben sich abgöttisch, aber ausweglos. Maria und Timo befassen sich mit Maß für Maß. Die Bühne ist leer. Ein glitzerndes, kleines Podest markiert seine Machtposition und ihr glitzernder Kragen einen gewissen Wohlstand. Angelo ist unsicher und zerrissen zwischen Machtgenuss und Liebes-

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sehnsucht. Sie liebt ihren Bruder und will ihn vor Angelo retten. Er will Sex als Gegenleistung. Sie macht ihm nur ihre Verachtung klar und signalisiert ein großes Selbstbewusstsein. Die anschließende Feedbackrunde fällt natürlich ausführlicher aus. Ich möchte, dass am Ende alle wissen, woran sie arbeiten müssen. Zuerst beschreiben die Studierenden, was sie gesehen haben und darüber hinaus assoziieren. Im Zentrum steht immer wieder die Frage nach den Figuren. Was für ein Problem haben die Figuren? Was wollen die Figuren? Was ist das für ein Mann? Was ist das für eine Frau? Es dreht sich alles um die Frage nach den Antrieben. MACHT UND ZÄRTLICHKEIT steht als Überschrift über unserer Arbeit. Ich möchte damit ein Konfliktpotenzial aufreißen. Heute stellen wir fest, dass zwar viel über Macht und Gewalt nachgedacht wurde, diese aber nicht losgelöst von unbefriedigten Sehnsüchten und Liebesbedürfnissen zu betrachten ist. Der Konflikt braucht beide Seiten! Die fünf Autorenpaare müssen gründlich über die Bücher. Die dritte Woche – Zusammenfassung Johann Sebastian Bach und Rammstein stoßen zum Team. Die Kopie schafft die methodische Möglichkeit zur Materialgenerierung. Die ersten Durchläufe eröffnen jedem Paar neuen inhaltlichen Sprengstoff. Die Szenen verbinden sich zur schlagkräftigen Faust. An den folgenden Tagen arbeiten wir wechselnd an verschiedenen Übungen und an den fünf Szenen. Während ich mit einem Paar an ihrer Szene arbeite, probieren die anderen Paare parallel in eigenen Räumen. Wir haben in Bern das Glück, genügend Räume zur Verfügung zu haben. Manche Paare brauchen zuerst Zeit für sich, ehe sie zu mir kommen. Andere brauchen zuerst einen Input, bevor sie allein weiterarbeiten können. Nach diesen Bedürfnissen richtet sich meine Planung. Montag, 3. Juni Zwei Chöre / eine Hausaufgabe / erste szenische Proben 16.30 Uhr Wir beginnen das Treffen nicht wie üblich. Schon in der letzten­ Woche entstand die Idee, zwei Chöre zu integrieren. Bachs Choral »Wer nur den lieben Gott lässt walten« kannte ich aus dem Gesangsunterricht der Klasse. »Ohne dich« von Rammstein drängt sich inhaltlich auf und löst in der Gruppe geschlossene Begeisterung aus. Wir be­

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schließen, auch diese Nummer mehrstimmig a cappella zu probieren. Die Gesangsdozentin Alexandra Schmid nimmt den Wunsch auf und sie braucht nicht lange, um einen dreistimmigen Chorsatz mit einer ­Solostimme anzulegen. Schon der erste Eindruck ist überzeugend. Gemeinsam treffen wir die Entscheidung, beide Lieder verbindlich einzubauen. Die Lieder sollen als szenisches Material betrachtet werden. Wir singen die Lieder nun täglich frei im Raum und oft aus der Bewegung heraus, mit oder ohne eine szenische Anbindung. Sie werden auch zum Material für unterschiedliche Grundlagenübungen. Auf Genauigkeit werden sie im Gesangsunterricht gearbeitet. Ich suche während der Übungen immer wieder nach Überraschungen, die die Aufmerksamkeit zusätzlich schärfen. Bei einer Übung führt ein sehender Partner einen »blinden« nur über die Verbindung der Fingerspitzen der rechten Zeigefinger. Ich lasse die führenden Partner heimlich und möglichst fliegend wechseln. Nachdem die Paare einen Abschluss gefunden haben, öffnen alle die Augen. Die Überraschung ist groß und lautstark. Manche sind wirklich schockiert, als sie feststellen müssen, dass sie den Wechsel ihrer Führenden nicht bemerkten und Unterschiede zwischen den Führenden nicht wahrnahmen. Nach dem offiziellen Ende des Gruppenunterrichts biete ich allen Paaren an, jeweils dreißig Minuten an den Shakespeare-Szenen zu arbeiten, und alle nehmen an. Im Zentrum steht die Klarheit der Konflikte und der Absichten der Figuren. Es zeigt sich, dass viele zu kompliziert denken, sich zu viel vornehmen und Differenzierung mit dem Einbau verwirrender Details verwechseln. Es gibt eine zusätzliche Hausaufgabe: Die Kopie Alle Studierenden sollen in den nächsten Tagen eine Person beobachten und eine kurze, möglichst genaue Kopie erstellen. Es kann eine einfache Alltagshandlung irgendwo an der Bushaltestelle oder in einem Café sein. Es ist auch egal, ob die kopierte Person alt oder jung, dick oder dünn, weiblich oder männlich ist. Die Aufgabe verlangt nur die sehr genaue Kopie eines beobachteten Vorgangs. In ein paar Tagen werden wir dann mit diesen Kopien arbeiten. In diesem Zusammenhang erhalten alle noch einen kleinen klassischen Gedanken mit auf den Weg.

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Die Kunst der Beobachtung nach Brecht Die »Kunst der Beobachtung« und die »Kunst der Einfühlung« (nach Brecht) ist auf das »Außen« unter Einbeziehung des eigenen »Innen« gerichtet. Die Reduktion auf eine der beiden Seiten schließt sich aus. Spielen bedeutet, beobachtete Sachverhalte infrage zu stellen. Spielen ist also »subversives« Verhalten auf der Grundlage von erkannten, sich ergebenden oder sich entwickelnden, auf jeden Fall auszutragenden Widersprüchen. (Ihr kennt den Gedanken: Probleme lösen.) Spiel ist eine »unendliche« Folge kleiner und großer Entscheidungen auf der Basis von lösbaren oder unlösbaren Widersprüchen. Du musst vor allen anderen Künsten die Kunst der Beobachtung beherrschen. Nicht wie du aussiehst ist wichtig, sondern was du gesehen hast und zeigst. Wissenswert ist, was du weißt. Man wird dich beobachten, um zu sehen, wie gut du beobachtet hast. Menschenkenntnis erwirbt nicht, wer nur sich selbst beobachtet. Allzu viel verbirgt er vor sich selbst. Und keiner ist klüger als er selbst. Eure erste Schule ist eure Wohnung, euer Stadtviertel, die Straße, Bus und Tram und der Supermarkt. Beobachtet Fremde, als seien sie Bekannte und Bekannte, als seien sie euch fremd. Die Schauspielerin ebenso wie der Schauspieler beobachtet den Mitmenschen detailgenau mit all seinen Muskelbewegungen in einem Akt der Nachahmung, welcher zugleich ein Denkprozess ist. Bei bloßer Nachahmung käme höchstens das Beobachtete heraus, was nicht genug ist, da das Original »mit zu leiser Stimme spricht«. Vieles bleibt zu klein, zu zufällig, zu verwaschen. Um von einem Abklatsch zu einer wirklichen Abbildung zu kommen, sieht die Schauspielerin oder der Schauspieler auf die Leute, als machten sie ihm vor, was sie machen. Es ist, als empfählen sie ihm, was sie machen – zu bedenken. Diese distanzierte Empathie fordert Brecht auch grundsätzlich für die Arbeit an einer Figur. Was Brecht hier empfiehlt, ist wieder: nicht einfach hinnehmen, was die Leute machen, sondern »zu bedenken«, den »fremden Blick des großen Galilei« zu entwickeln. Es geht um das Eigentümliche, Besondere, es geht um das »der Untersuchung Bedürftige« in den alltäglichen Vorgängen. Dienstag, 4. Juni Othellos Fußballschuhe. Oder: Es ist manchmal schwer zu begreifen, dass Figuren vor allem gegen sich selbst kämpfen müssen.

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Was sind die Antriebe der Figuren? Sind sie stark genug, um lustvoll ins Spiel zu kommen? Was wird offen verhandelt und was gedeckelt? Was für Mittel wähle ich? Was macht mir Spaß? Was für Ideen erwachsen aus dem Spiel und was ist ausgedacht und konstruiert? Viele Proben werden zum reinen Impulstraining oder zur Assoziations- oder Imaginationsübung. Auch soll sinnlich erlebbar werden, wie wichtig Rhythmuswechsel für die Lesbarkeit der Vorgänge sind. »Austeilen und sich treffen lassen« wird zum Dauerthema. Und alles muss durch den Körper. Hier greifen dann immer wieder die unterschiedlichsten Grundlagenübungen. Es ist manchmal schwer zu begreifen, dass Figuren vor allem gegen sich selbst kämpfen müssen und viele Hemmschwellen in ihnen selbst liegen. Und immer wieder muss thematisiert werden, dass niemand auf der Welt zwei Dinge gleichzeitig spielen kann. Ein Paar hatte die Idee einer chorischen Passage. Sehr leicht sind Studierende von einer formalen Idee begeistert und müssen erst erfahren, dass es auf der Bühne nicht dabei bleiben kann. Alle Elemente brauchen eine inhaltliche Anbindung. Wie gehe ich mit tänzerischen oder musikalischen Ideen um? Werden politische Reden gehalten, kann eine Karikatur kurzzeitig Spaß machen, oft geht dabei aber der psychologische Spielvorgang verloren. In der Othello-Szene versucht die Darstellerin eine möglichst überzeugende Verführung. Will die Darstellerin eine Tanznummer daraus machen oder verwendet die Figur tänzerische Elemente? Der Unterschied muss begriffen werden. Und im Mittelpunkt steht immer die Frage nach dem WARUM und dem WOHIN. So spielen in allen Prozessen immer wieder die W-Fragen eine wichtige Rolle. Wie gehe ich mit Requisiten um? Othello putzt in der Szene seine Fußballschuhe. WIE er das tut, resultiert aus dem WARUM. Wir arbeiten lange an diesem einfachen Vorgang. Wir haben es mit fundamentalen Gefühlen zu tun. Liebe, Hass, Wut, Trauer. Immer wieder werden die Beziehungen befragt. Ist es eine reine Liebe, die durch gesellschaftliche oder politische Umstände auf die Probe gestellt wird? Basiert eine Beziehung auf unterschiedlichen Machtpositionen oder gar auf Erpressung? Was bindet zwei aneinander? Und immer wieder entdecken die Talentiertesten, wie wunderbar eine ganze Palette an Gefühlen erspielbar ist, wenn der Vorgang möglichst einfach gehalten wird.

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Mittwoch, 5. Juni Cressidas peinliche Fantasien und ein Durchlauf ohne Grundlage. Die Proben nehmen immer öfter einen begeisternden Verlauf. Die Vorgänge werden klar und kraftvoll und der leidige Mechanismus der Selbstzensur verliert immer mehr an Raum. Die Gruppe gewinnt an Selbstvertrauen. Da es um Liebe und Macht geht und die Vorgänge aus den Köpfen und Herzen engagierter junger Menschen stammen, wird die Arbeit schweißtreibend. Es ist sehr warm in diesem Juni und im Probenraum ist es heiß. Die Atmosphäre ist ansteckend. Joshua und Lea haben eine Szene geschrieben, in der sie eine Cressida spielt, die im Austausch gegen einen Offizier an die Gegenseite verschachert und dadurch von der Seite ihres Geliebten Troilus gerissen wurde. Kaum dort angekommen, gibt sie sich einem anderen Mann hin, wahrscheinlich auch vielen Männern. Sie hatte es weder geplant noch gewollt, aber ihre Gefühle sind explodiert. Es war keine schlechte Erfahrung für die Tochter eines Priesters. Der Darstellerin fehlt es weder an Fantasie noch an Mut, aber das Spiel bleibt vage und halbherzig. Sie muss sich auf der Bühne weder entkleiden noch heikle Themen »verkörpern«. Aber sie muss Fantasien in die Auseinandersetzung mit Troilus tragen, deren Veröffentlichung der Darstellerin peinlich sind. Hier stößt sie auf eine Hemmschwelle. Ihr schauspielerisches Leistungsvermögen ist kein Hindernis. Nur ihr Denken ist es. Sie möchte springen, doch der Sprung ist weiter als gedacht. Sie behauptet, in ihrer »guten Erziehung« festzustecken. Aber sie kommt auch nicht aus einem Rollenbild heraus, das der Frau­ einen offensiven Umgang mit der Lust verweigert. Und schon stecken wir mitten in einer aktuellen Debatte. Nach Svenja Flaßpöhler ist das Begehren selbst der Dreh- und Angelpunkt: »Für #metoo ist kennzeichnend, dass Frauen sich libidinös gesehen eine rein passive Rolle zuschreiben – zielt die Bewegung doch letztlich auf Strategien ab, wie mit männlicher Lust umzugehen, wie sie zu bekämpfen, wie die Frau effektiv vor ihr zu schützen sei. Auffällig leer jedoch bleibt in dieser Bestrebung die Position des Weiblichen selbst; nichts, rein gar nichts erfahren wir über das Begehren der Frau.« (Svenja Flaßpöhler: Die potente Frau, Berlin 2018, S. 18f.) Für die Studentin sollte in dieser Szene die Autonomie der weiblichen Lust zentrale Triebkraft werden und sie macht diese zur Grundlage ihrer szenischen Idee. Cressida fordert von ihrem Freund Troilus, ihr Begehren offen leben zu können, und lädt ihn zur aktiven Teilnahme ein. Der Schock für ihn ist fundamental und

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der Konflikt explodiert. Die Szene wird dadurch stark, doch der Weg dahin ist manchmal weit. Nicht nur Cressida schaut in Troilus’ Augen. Auch Lea schaut in die Augen ihres Partners Joshua. Wer bin ich, wenn ich spiele? Wo sich diese Frage auftut, kann sie auch verunsichern. Jede Szene wurde heute eine Stunde lang gearbeitet. Da steht eine spontane Idee im Raum: ein Durchlauf in der Reihenfolge der heutigen Arbeit, ohne Unterbrechungen. Die Gruppe soll geschlossen auf der Bühne verbleiben und das jeweils spielende Paar durch ihre Aufmerksamkeit unterstützen. Es soll auch keine »ordentlichen« Übergänge geben. Wenn ein Paar den Impuls hat, kann es bereits in den Schluss der vorherigen Szene hineinspielen. Das gehört zur Verabredung. Natürlich sind die Szenen nicht fertig und alle wissen, dass es noch viele weiße Flecken in der Landschaft gibt. Und dennoch ist der Eindruck umwerfend. Eine hohe Energie wird von Paar zu Paar weitergegeben, und es gelingt eine zwar hitzige, aber überraschend klare Gesamtsituation, die den Arbeitstitel MACHT UND ZÄRTLICHKEIT verdient. Donnerstag, 6. Juni Die Kopie als Methode zu Materialgenerierung. Offene Fragen suchen nach Antworten. Immer wieder entkoppeln wir auch verschiedene Übungen vollständig von den Shakespeare-Szenen. Die Kopie war eine Hausaufgabe. 1. Variante: Die Kopien werden gezeigt. Es sind kurze Eindrücke, die als Loop gespielt werden. Man kann sehr genau sehen, ob sich die Studierenden etwas ausdenken oder ob sie wirklich genau kopieren. 2. Variante: Jeweils vier Studierende bewegen sich mit ihren Kopien im Raum. Sie haben die Aufgabe, über den beobachteten Vorgang hinauszugehen und das Körpergefühl in weiterführende Vorgänge mitzunehmen. Gelingt dies, können sie auch Kontakt mit anderen aufnehmen. 3. Variante: Ich bitte nun die Studierenden, sich an einen gelernten Text zu erinnern. Das könnte ein Monolog aus der Eignungsprüfung sein. Sie gehen in ihre Kopie und lassen diesen Text »aus dem Mund fallen«. Der Text soll weder gestaltet noch gedacht werden. Wichtig ist, dass die Körperlichkeit der Kopie erhalten bleibt. Wir haben schon mehrfach ähnliche Erfahrungen gemacht. Es ist eine immer wieder verblüffende Erfahrung, wie

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stark die Körperlichkeit die Stimme, die Sprache, sogar das Denken beeinflusst. Auch heute stehe ich wieder jedem Shakespeare-Paar zusätzlich für dreißig Minuten zur Verfügung. Alle Studierenden haben die Möglichkeit, eine konkrete Frage zu klären. Wir arbeiten wieder parallel in unterschiedlichen Räumen und wieder beginne ich mit den Szenen, die am meisten Support brauchen. Ein paar Beispiele: »Wie kann ich diese unglaubliche Anspannung am Anfang spielen, ohne als Schauspielerin zu verkrampfen? Ich bekomme dann fast keine Luft mehr.« Oder: »Ich muss meine Position ja nur behaupten. Aber dann stehe ich nur rum. Wie schaffe ich es dennoch, in Bewegung zu kommen?« Lasse ich mich von Inhalten treffen, bin ich bewegt. So ähnlich sagte das einmal Pina Bausch. Und auch Sanford Meisners Grundgedanke ist hilfreich: Alles kommt vom Partner, alles geht zum Partner. Wenn die inhaltlichen Grundlagen für einen Vorgang gelegt sind, muss ich nichts mehr erfinden. Ich muss nur reagieren. Ich lasse mich bewegen. Natürlich beziehen sich viele Fragen auf die konkreten Szenen: »In einem Moment begreift Lady Macbeth, dass ihr Mann ihrem Einfluss unwiederbringlich entgleitet. Wie kann ich so viel in einen einzigen Moment packen?« Niemand kann alles gleichzeitig spielen. Ein Prozess besteht aus vielen Schritten, die aufeinander aufbauen, sich widersprechen oder auch negieren. Schritt für Schritt. Zug um Zug. Dieser Moment braucht unter Umständen einfach mehr Zeit als gedacht. Eine Darstellerin hat ein eindeutiges Frauenbild, und dieses lässt keine Schwäche zu. Sie hält dieses Bild für authentisch. Die Figur bleibt distanziert und lässt weder Hilflosigkeit noch Tränen zu. Sie trägt keine Widersprüche in sich. Das bleibt natürlich langweilig, und das spürt sie. Aber Stärke muss erkämpft werden. Dafür braucht es schwache Momente. Arbeite ich nicht mit Widersprüchen, bekomme ich Probleme auf der Bühne. Der Darsteller des Othello zweifelt an seiner eigenen Idee. Sein Othello ist kein schwarzer Krieger, sondern ein schwuler Fußballprofi. »Lese ich meinen Othello total gegen den Strich? Ist das am Ende nur eine total platte Übersetzung? Ist das interessant?« Es ist hier nicht Aufgabe, den Originaltext zu »verkörpern«. Ich weiß, seine Ideen entstammen keiner leichtfertigen Haltung dem Material gegenüber, sondern einer sehr persönlichen Problemstellung. Wir gehen nicht nur seine Szene durch, sondern viele Punkte im ge-

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samten Originaltext und stellen fest, seine Lesart geht auf. Damit können wir uns eine zwar eigenwillige, aber durchdachte und schlüssige Variante bestätigen. Freitag, 7. Juni Produktive Verunsicherung und Wochenendvorbereitung. Alle spüren, wir haben ein Ass im Ärmel. Also suche ich am Ende der Woche eine produktive Verunsicherung. Ein Durchlauf als Zwischenbilanz ist jetzt wichtig. Alle Studierende werden am Wochenende eigenständig weiterarbeiten und sollen die Zeit produktiv zu nutzen wissen. Wir wissen, die Szenen werden nahtlos verzahnt. Wir wissen, dass alle auf der Bühne bleiben und die jeweils laufenden Szenen aus der Situation heraus supporten werden. Wir wissen, am Anfang wird der Bach-Choral stehen und am Schluss wird Rammsteins »Ohne dich« die Schlussaussage setzen. Ich falte fünf Zettel mit den Zahlen eins bis fünf und jedes Paar zieht. Somit ist die heutige Folge der Szenen im Ablauf festgelegt. Aus dem Fluss heraus muss jede Szene gegriffen und behauptet werden. Es wird ein spannender Durchlauf mit allen Höhen und Tiefen, die dem Stand der Arbeit entsprechen und es folgt eine ausführliche ­Feedbackrunde. Nach der Probe fasse ich in einem Brief an die Studierenden die wichtigsten Details für jedes Paar zusammen und formuliere verschiedene Aspekte für die weiterführende Arbeit. Dabei werden einige Punkte immer zentral bleiben: Es wird in den Texten noch immer zu viel erklärt. In der Reduktion liegt die Kraft. Niemand darf darauf warten, dass etwas »entsteht«. Kein Schaufühlen! Widersprüche nutzen! Sprechen ist Handeln! Ein zentrales Thema bleibt: Sich treffen lassen! Alle Studierende erhalten von mir individuelle Fragen, die in der selbstständigen Arbeit zu beantworten sind. Und – es braucht auch Pausen! Die vierte Woche – Zusammenfassung Eine Geige, ein Bass und ein Klavier erweitern die Ausdrucksmöglichkeiten. MACHT UND ZÄRTLICHKEIT gewinnt Kontur. Ab jetzt bereitet die Gruppe alle Proben selbstständig vor, organisiert das Aufwärmprogramm und plant die Proben. Auch in dieser P ­ hase

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helfen immer wieder neue und alte Grundlagenübungen, um den Szenen weiter Kontur zu geben und Vorgänge lesbarer zu machen. Ich ­stelle vor allem Fragen und helfe, Antworten zu finden. Die Gruppe arbeitet konzentriert und zielgerichtet. Zu den Tagesabläufen gehört nun auch, dass gemeinsam gekocht und gegessen wird. Das Wetter lädt zum Verweilen auf dem Hof ein. Uns wird der Luxus täglich neu bewusst, ausreichend Probenräume für die eigenständige Arbeit an den Szenen besetzen zu können. Täglich schließt ein Durchlauf den Probentag ab. Die Ergebnisse sind manchmal ernüchternd und alle begreifen, die Szenen spielen sich nicht von allein. Neben unserer Gesangskollegin Alexandra Schmid und der Sprechdozentin Marianne Oertel arbeitet nun auch unsere Tanzkollegin Kiri Haardt mit der Gruppe. Es geht ihr aber nicht um Tänze oder Choreografien. Allen körperlichen Aspekten wird Aufmerksamkeit geschenkt, die das Gefühl für den Raum und das Bewusstsein für den eigenen Körper stärken – Voraussetzungen für eine starke Präsenz. Zu den beiden Liedern sind einige Stellen mit Klavier, Bass und Violine dazugekommen. Die Gruppe erweist sich zunehmend als sehr musikalisch. Jonas spielt hervorragend Klavier, Jonny lernt den Bass lieben und Nanny entdeckt ihr improvisatorisches Talent auf der ­Violine. Ich gehe davon aus, dass Musik eine Form der Bühnensprache ist. Für ein paar Szenen experimentieren wir nun verstärkt mit den In­ strumenten. Die Idee ist, mit dem Grundmotiv von Rammsteins »Ohne dich« zu arbeiten. Manchmal sind es nur Fragmente der Basslinie, an anderer Stelle improvisiert die Geige mit der Melodie. Manchmal arbeiten Geige und Bass zusammen und an einer Stelle sind es das Klavier und der Bass. Viele Ideen brauchen immer wieder eine neue Chance. So entwickelt sich diese Ebene in den nächsten Tagen noch entscheidend weiter. Am Mittwoch wird die Bühne technisch eingerichtet und alle szenischen und musikalischen Proben müssen in kleineren Studios parallel stattfinden. Jeweils vier Studierende helfen unserem Techniker beim Aufbau der Zuschauertribüne. Die Vorfreude auf die Präsentation wächst mit der Bühne. Freitag. Frauenstreik in der gesamten Schweiz. Ein großer Tag. Überall finden die unterschiedlichsten Veranstaltungen statt und auch u ­ nsere

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Kolleginnen ordnen sich dem Thema zu. Beispielsweise lädt unsere Sprechdozentin Julia Kiesler alle Interessierten zu einem Frühstück ein, liest und diskutiert Svenja Flaßpöhlers Streitschrift Die potente Frau. Ich beobachte mit Genugtuung ein steigendes politisches Engagement unter den Studierenden. Die direkte Demokratie in der Schweiz lädt alle dazu ein, doch es krankt an der Wahlbeteiligung der jungen Generation. Das thematisieren wir immer wieder und zumindest unsere Schweizer Studierenden lassen die Wahlen und Abstimmungen immer seltener ungenutzt verstreichen. Doch auch heute will die Gruppe nicht auf einen Durchlauf verzichten. So treffen wir uns bereits um 8.30 Uhr. Studierende übernehmen die Erwärmung und das Einsingen. Alle arbeiten gemeinsam, motiviert und zielstrebig. Eine Studentin muss die Stimme schonen, eine andere prellt sich schmerzhaft den Finger und wir hoffen, dass er nicht gebrochen ist. Die Gruppe kommt langsam an die Grenze ihrer Kräfte. Um 10.30 Uhr beenden wir die Probe und alle schwärmen in die Stadt aus, um an diversen Veranstaltungen zum Frauenstreik teilzunehmen. Sonntag, 16. Juni Die Endproben beginnen. Wir suchen den Flow und können ihn nicht finden. Am kommenden Mittwoch werden wir unsere Arbeit zeigen. Die Vorfreude ist groß. Es ist für alle selbstverständlich, dass wir auch am Sonntag arbeiten. Endprobenzeit. Man spürt, alle sind in der Lage, sich immer wieder konkrete Aufgaben für die Durchläufe und die Einzelproben selbst zu stellen. Mir als Dozenten gibt das ein gutes Gefühl. Eine Stärke der Gruppe ist die ausgeprägte Reflexionsfähigkeit in den Feedbackrunden. Wir suchen den Flow. Es ist wie in der Musik. Beim Blues hängt der Groove meist etwas »hinten drin« und beim Swing »treibt« er, doch bleibt der Takt immer genau. Alle versuchen, sich dem Swing hinzugeben, im Augenblick zu sein und nicht darüber nachzudenken, was in zwei Minuten passieren soll. »Immer weiterspielen!«, rufe ich ihnen zu. »Sich auf die Äste wagen«, »Keine Angst davor, aus der Kurve zu fliegen« sind Sprüche, mit denen viele sehr lange nichts anfangen können. Es ist wie beim Radfahren. Du fährst mit Lust einen Hang hinunter, genießt den Wind im Gesicht und ganz unten bremst du NICHT. Du legst dich in die Kurve und lässt es einfach laufen. Das sollte man auf dem Rad sicher nicht versuchen. Auf der Bühne ist das aber ein aufregendes

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Gefühl. Genau das suchen wir. Eine Voraussetzung dafür sind fließende, konkrete und sehr einfache Untertexte. Alles muss in Bewegung bleiben. Etwas muss »wackeln«, der Körper nimmt das Denken mit. Auch das ist ein Weg. »Wer länger als fünf Sekunden ohne Grund auf den Boden schaut, ist tot.« Diesen Spruch meines damaligen Leipziger Lehrers Bernd Guhr werde ich nicht vergessen. Die letzten Tage Isabella kotzt, während Angelo sie begrapscht. Kleopatra und Antonius schlagen sich und knutschen. Desdemonas Lust kann Othello nicht entzünden. Lady Macbeth’ Glut verdampft am emanzipierten Mann. Cressidas Fantasien versteinern Troilus. In diesem Format gelingt es den Studierenden jedes Jahr eindrücklich, sehr persönliches Material produktiv zu machen und den Figuren zur Verfügung zu stellen. Es erforderte Mut. Und Mut wird meist belohnt. Ich erinnere mich an einen Hamlet und erlebe nun einen Othello, bei dem der Transfer von autobiografischem Material besonders eindrücklich gelungen ist. Es handelt sich um Studierende am Ende des ersten Semesters. Sie stehen erst ganz am Anfang ihrer Ausbildung, und schauspielerisches Handwerk ist noch lange nicht gefestigt. Sie haben weder Spielerfahrung noch können sie in den Szenen auf Theatermittel zurückgreifen, die über ihre eigenen Fähigkeiten hinausgehen. Und doch erleben wir als Zuschauer immer wieder Szenen, die uns in ihrer Tragweite berühren. Die Studierenden erleben, dass sie durch die Bühne und die Figur geschützt sind. Das gibt weiteren Mut und Lust auf die Verwandlung. Und Shakespeare erweist sich als wunderbarer Komplize beim Wurf emotionaler Handgranaten mitten ins Zentrum sinnlicher Auseinandersetzungen. Am Anfang von MACHT UND ZÄRTLICHKEIT steht der Bach-Choral. Alle stehen in ihren Figuren bereit zur Auseinandersetzung. Sensibilität, Kraft und Aufmerksamkeit tragen diesen Anfang. Wenn das gelingt, wird es »flimmern«. Die Blicke sind gesenkt. Dann gehen die Augen nach oben. Die »Scheinwerfer« blenden auf. Wir haben lange an dieser einfachen Stelle gearbeitet. Der Augenblick muss durch den ganzen Körper gehen. Die Darstellerin der Isabelle aus Maß für Maß sprengt die Konzentration mitten in der Schlusspassage des Chorals. Isabella hält es nicht mehr aus. Sie muss ihren Bruder vor Angelos staatsterroristischem Regime retten. Das ist die Initialzündung.

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Foto: Frank Schubert Mittwoch, 19. Juni Das Mahl ist angerichtet. Der Tisch ist gedeckt. Willkommen sind die Gäste. Machen wir die Suppe scharf! Heute ist DER Tag. Präsentation. Wie alle Projektpräsentationen an unserer Schule sind es keine öffentlichen Vorstellungen. Es werden keine Karten verkauft. Eingeladen sind aber alle Familienangehörigen, Freunde und Bekannte sowie Menschen, die an unserer Arbeit interessiert sind. Wir wissen, es wird voll werden. Aber noch wichtiger ist wahrscheinlich, dass sich die Klasse erstmalig zeigt. Die Studierenden der Schule und die meisten Dozierenden haben noch nichts von der Klasse gesehen. Es ist für viele der erste Eindruck. Und wie schon ein Sprichwort sagt, ist der nicht unwichtig. Weil der Tag so aufgeladen ist, beginnen wir ruhig. Um 14 Uhr treffen wir uns und bereiten einen »italienischen Durchlauf« vor. Das heißt, alles wird möglichst im doppelten Tempo gespielt, wobei alle Details erhalten bleiben sollen. Geläufigkeit wird trainiert. Genauigkeit steht im Zentrum, Aufmerksamkeit und die unbedingte Verbundenheit im Spiel. Treffen und sich treffen lassen, aufnehmen und abgeben. Kein Druck! Alles soll leicht und unaufwendig bleiben. Bitte keinen ­Kraftakt! Um 17.45 Uhr beginnen sich alle individuell vorzubereiten, und kurz darauf gibt es ein paar Gruppenspiele. Es folgt ein Einsprechen und ein Einsingen. Um 19.30 Uhr ist der Saal voll und alle Zuschauer halten voller Erwartung unseren Programmzettel in der Hand. Es wird die erfolgreichste Präsentation der letzten Jahre. Das schafft Selbstvertrauen. Und es macht allen Kollegen und den Studierenden der anderen Jahrgänge große Lust, in Zukunft mit den »Neuen« zu arbeiten.

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MACHT UND ZÄRTLICHKEIT SZENEN NACH WILLIAM SHAKESPEARE, DIE DER AUTOR NICHT SCHRIEB MASS FÜR MASS ISABELLA: MARIA GOLETZ / ANGELO: TIMO JANDER Isabellas Bruder Claudio wurde zum Tode verurteilt, weil er Sex vor der Ehe hatte. Isabella versucht, den stellvertretenden Herzog Angelo umzustimmen. Angelo hat andere Pläne … ANTONIUS UND CLEOPATRA CLEOPATRA: NOLA FRIEDRICH / ANTONIUS: JONAS DUMKE Der römische Politiker und Feldherr Marcus Antonius und die Königin Cleopatra von Ägypten sind ein Liebespaar. Nach der verlorenen Schlacht auf See kommen beide nicht mehr klar und versuchen, ihre politische Macht zu erhalten und ihre Beziehung in den Griff zu bekommen. OTHELLO DESDEMONA: NANNY FRIEBEL / OTHELLO: MARVIN GROH Othello ist eifersüchtig. Er denkt, seine Frau Desdemona betrügt ihn mit Cassio, einem Mannschaftskollegen, den er gefeuert hatte. Seinen Verdacht, den er ihr gegenüber nie äußerte, sieht er darin bestätigt, dass Desdemona ihr Taschentuch, ein Hochzeitsgeschenk und Erbstück seiner Mutter, nicht auffinden kann. MACBETH LADY MACBETH: ANTOINETTE ULLRICH / MACBETH: JONATHAN FERRARI Der Feldherr Macbeth tötet König Duncan und wird dadurch selbst zum schottischen König. Hinter dem Mord steht seine Frau Lady Macbeth. Kaum ist er an der Macht, eskaliert die Situation. Mord folgt auf Mord. Das Machtverhältnis zwischen Macbeth und Lady Macbeth verschiebt sich.

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TROILUS UND CRESSIDA CRESSIDA: LEA JACOBSEN / TROILUS: JOSHUA WALTON Es herrscht Krieg zwischen den Trojanern und den Griechen. In ­Troja verliebten sich die Priestertochter Cressida und der Königssohn ­Troilus. Cressidas Vater lief zu den Griechen über und sie wurde im Austausch gegen einen trojanischen Feldherrn zu den Griechen geschickt. ­Cressida und Troilus schworen sich ewige Treue, doch ­Cressida ging schnell fremd. Nun treffen sich die beiden zum ersten Mal wieder.

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»Es wurde uns klar, wir müssen, dürfen, können Entscheidungen ­treffen« Die Studierenden Jonas Dumke, Jonathan ­Ferrari, Nola Friedrich, Maria Heide Goletz, Marvin Groh, Lea Maria Jacobsen, Timo Jander, Antoinette Ullrich und Joshua Walton im ­Gespräch Antoinette Ullrich: Ich war sehr froh, dass die Partner zugelost wurden. Ich war von meiner Konstellation ein wenig überrascht. Wir sind einfach so unglaublich unterschiedlich. Wie soll das funktionieren? Ich habe mir so viele Gedanken in der ersten Woche gemacht, in der wir unsere Stücke gelesen und über unsere Figuren nachgedacht haben. Ich wusste ja in dieser ersten Woche noch nicht, wer mein Partner sein wird. Den haben wir ja erst später in einem Spiel gefunden. Dann war ich aber von diesen Gegensätzen sehr positiv überrascht. Bevor wir unsere Szene geschrieben haben, haben wir tatsächlich so lange über das Stück diskutiert, bis wir auf einem gemeinsamen Nenner waren. Wir wollten oft nicht in die gleiche Richtung. Ich fand das sehr s­ pannend. Lea Maria Jacobsen: Wir wussten relativ schnell, das ist unser Konflikt und das ist jetzt unsere Aufgabe. Das Stück wurde uns zugelost, der Partner wurde uns zugelost und jetzt liegt es an uns, das zu vertreten, was da verhandelt wird. Wir wussten, wir müssen jetzt die bestmögliche Form finden, diese Figuren zu verteidigen. Joshua Walton: Wir haben Troilus und Cressida gelesen und das Stück hat uns nur eine Möglichkeit gelassen. Das Wiedertreffen nach dem Fremdgehen. Alles klar. Alles gut. Dann haben wir viel darüber geredet, wie wir uns die Situation vorstellen. Wo das stattfindet, wie der Raum aussieht, und dann hatten wir noch ein paar inszenatorische Schnapsideen. Der könnte Boxer sein. Ja, das ist gut. Der soll zu irgendeinem dummen Lied tanzen, weil das mal ihr Song war. Ja, das ist super. Dann haben wir den Text geschrieben, am nächsten Tag geprobt, und dann haben wir es gezeigt. LMJ: Die eigentliche Arbeit ging dann durch Schuberts einfache Frage los: Was ist das für eine Frau? Und was löst das in ihm aus? Da haben wir eigentlich erst richtig angefangen darüber nachzudenken, was der Konflikt braucht. Unser erster Vorschlag war ja noch sehr schwammig, und ich wusste noch nicht, was ich da überhaupt mache. Es wurde uns klar, wir müssen, dürfen, können Entscheidungen tref-

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fen. Ich darf festlegen, was das für eine Frau ist. Das muss man für sich geklärt haben. Jonas Dumke: Also, ihr wart sicher ein Sonderfall. AU: Ein krasser Sonderfall! JD: Ich kann nur sagen, dass ich gelernt habe, zu akzeptieren, anzunehmen und ausprobieren, was ich mir nicht vorstellen kann. Bei uns sind zwei Welten aufeinandergetroffen. Wir haben uns irgendwann nur noch angeschrien. Wir haben uns gehasst in den Proben. Wir haben uns wirklich richtig gestritten. AU: Wirklich? JW: Oh, Gott! Das hast du mir nie erzählt! Nola Friedrich: Für mich war wichtig, dass man nicht gleich das große Ganze betrachtet, sondern überlegt, was im Kopf der Figur abgeht. Wenn sich das nicht erschließt, kann man wahrscheinlich auch den Rest vergessen. JD: Ja. Aber irgendwann sind wir an einem Punkt gewesen, da haben wir gesagt, es kann jetzt drei Wochen so weitergehen oder wir hören uns jetzt gegenseitig zu. Wir hatten dann die Stunden mit Schubert, wo wir immer ziemlich froh waren, weil er allem eine Form gegeben hat. Wenn jemand draufguckt, vor allem ein Dozent, dann sind beide sofort ruhig. Und auf einmal waren wir beide total cool. Es war gut, dass wir es geschafft hatten, zu sammeln und auszuprobieren. Dann wurde mit dem probiert, was wir hatten. Es war ein wichtiger Prozess, sich der Partnerin gegenüber zu öffnen, alles zu geben, aber auch alles anzunehmen und daraus das Bestmögliche zu formen. Das war der Weg. Das war der Schlüssel zum Erfolg. NoF: Unsere Kraft kam auch aus einer unfassbaren Lust. Das war der Schlüssel. Maria Heide Goletz: Ich hatte zu dem Zeitpunkt keinen Bock mehr, etwas allein zu entwickeln. Es ist heute total absurd, aber ich wollte, dass jemand sagt, das ist das Stück, ihr lernt diesen Text auswendig und den spielen wir. Und am besten wäre es gewesen, wenn mir auch noch jemand gesagt hätte, wie ich das zu spielen habe. Ich wollte weder eigenproduktiv noch kreativ sein. Aber ich habe mir dann gesagt, Maria, du hast ja einen Partner. Das war für mich erstmal wirklich cool. Es wäre für mich der Horror gewesen, wieder allein dazusitzen. Aber dann hast du diesen Menschen vor dir und fragst dich, was wir jetzt machen. Wir haben wahnsinnig konzeptionell gearbeitet und da ist dann eine ganz eigene Gedankenwelt entstanden. Wir hatten Maß für Maß und waren plötzlich bei der Antifa-Bewegung. Wir landeten im Irgendwo. Das Stück war ganz anders verortet, und nun mussten

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wir uns darüber einigen, was wir überhaupt spielen wollen. Wir haben dann den Text geschrieben. Text ist wichtig. Ja. Irgendwie aber auch nicht. Mit dem Text sind wir dann in die Proben gegangen. Und dann war ich lost. Die Einzelproben waren zu kurz. Es war so … nur Vorspiel und dann kein Sex. Für mich war das schwierig. Ich hatte auch einen Partner, den ich echt schätzte, mit dem ich mich aber unheimlich schwergetan habe. Wir hatten einfach keine Möglichkeit gefunden, uns gegenseitig mit unseren Ideen zu befruchten. Und dann hat sich bei mir alles verschlossen. Ich war selten so wenig in meinem Körper. Ich blieb in meinem Tunnel und habe überhaupt nichts mehr gesehen. Also, ich bin heute auf einem ganz anderen Dampfer. Marvin Groh: Ich habe mein Stück gehasst. Ich habe immer gedacht, was sind das für dumme Menschen in diesem Stück. LMJ: Was? Ich liebe Othello! MG: Ja, aber ich fragte mich immer, wie es dazu kommt, dass dieser blöde Konflikt überhaupt entsteht. Und dann hatte Nola noch eine ganz andere Übersetzung gelesen als ich. Das führte dazu, dass ich sie in der Kennenlernrunde überhaupt nicht erkannte. Dann saßen wir da mit unseren zwei Übersetzungen und mussten erstmal auf einen Nenner kommen. Doch dann wollten wir diese Geschichte. Mit welchen Mitteln auch immer. NoF: Das wurde gar nicht infrage gestellt. Wir haben uns einfach hingesetzt und es ging los. MG: Ich habe mir nicht zugetraut, einen schwarzen Soldaten zu spielen. Er trägt sein Diskriminierungsmerkmal auf der Haut. Das fand ich erstmal ganz schön hart. Blackfacing war auch nicht die Lösung. Wie finde ich meinen Zugang? Der lag dann aber für mich relativ schnell auf der Hand, und ich sagte mir, du nimmst jetzt alle Mittel, die du zur Verfügung hast, um möglichst nah an das Problem zu kommen. Das hat dann wieder Bock gemacht. Da sind dann tausend Wege entstanden. Auch bei Desdemona. Wir fragten uns, wie finden wir Mittel und Wege, damit sie am Schluss nicht wie ein Häufchen Elend nur Ja und Amen betet. Es war eine gute Erfahrung, ein Stück zu bekommen, von dem man denkt, MIST!, und dann doch etwas zu entwickeln, hinter dem man voll stehen kann. Ein tolles Gefühl. Das wird nicht zum letzten Mal passieren, glaube ich. Das ist wirklich cool. AU: Wir haben auch erstmal versucht, einen Text zu schreiben. Aber es hat überhaupt nicht funktioniert, weil wir uns inhaltlich überhaupt noch nicht geeinigt hatten. Dann mussten wir erstmal improvisieren und gucken. Wir haben uns dafür dieses große Bett geholt. Das war irgendwie klar.

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JW: Wie habt ihr die Improvisationen angelegt? Habt ihr einfach gesagt, ich bin jetzt Macbeth und du bist Lady Macbeth und ich finde dich … AU: Nein, es gab schon eine Struktur. Wir hatten tatsächlich sehr viel über dieses Stück diskutiert. Wir haben gewusst, wie die Szene anfangen könnte, und wir wussten auch, wie sie aufhören könnte. Auch die Genderdebatte war ein großes Thema. Und wir hatten zwei, drei Sätze, über die wir uns einig waren. Damit haben wir dann gearbeitet. Ich habe bei diesem Projekt gemerkt, dass ich nicht immer meinen Willen durchboxen kann. Man schreibt die Szene eben nicht allein, sondern zu zweit. NoF: Wir haben uns aber auch immer wieder gegenseitig getrieben. An diesem einen freien Montag haben wir uns in der Schule getroffen und haben miteinander von elf bis zwanzig Uhr an den Szenen gearbeitet. Da war das auf einmal wirklich ein Ensembleprojekt. LMJ: Das war echt wunderbar. Ich bin immer noch so dankbar für den Moment, als wir uns wegen meiner Szene so angeschrien haben. Ich weiß das so sehr zu schätzen, dass ihr euch über eine Szene, die ja nicht eure war, so aufgeregt habt. Der Konflikt, ob ich jetzt auf dieses Bett zugehe oder nicht, war auf einmal auch für euch so dringend, dass es eskalierte. Wir sitzen an einem freien Tag in der Schule und treiben uns auf solche Höhen. Das habe ich so noch nie erlebt. Das zeigt ja auch, wie sehr wir für das Projekt als Ganzes brannten. Jonathan Ferrari: Ich muss allerdings schon sagen, dass Schubert uns da massiv reingepusht hat. Mir fallen da zwei Dinge ein. Er sagte, dass es sicher hart wird in den nächsten Wochen, wir aber unbedingt davon ausgehen müssen, dass wir alle das Beste voneinander und füreinander wollen. Das hat mir sehr geholfen. Dann war es die erste Probe an unseren Szenen mit ihm. Das war so ein Wow-Moment. Ein ganzes Semester haben wir nur allein an kleinen Projekten gearbeitet und plötzlich ist so eine ganz andere Power da. Weil er so hart einsteigt. Ich bin aus der Probe mit so einer neuen Lust auf das ganze Ding rausgelaufen und daraus ist so viel entstanden. NoF: Ja, alle kamen an diesem Tag immer so freudestrahlend aus der Studiobühne. Verschwitzt, mit hochrotem Kopf und glücklich. Timo Jander: Das sind ja auch so geile Gefühle. Momente … NoF: … für die man lebt. TJ: Da wird man schon beim Erzählen total körperlich. An diesem Tag, glaube ich, haben wir sogar noch einen Durchlaufversuch gemacht. Wir hatten die Probenzeit um Stunden überzogen. NF: Es hat niemand Nein gesagt.

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TJ: Natürlich nicht. LMJ: Niemals. NoF: Ich wusste, das ist bekloppt, aber super. TJ: Ein Nein kam nicht infrage. Im Gegenteil. LMJ: Manches ging mir in dieser Zeit so auf. Sich treffen lassen. Beispielsweise. Was das für eine enorme Rolle spielt. Brülle ich einen Satz, weil ich ihn brüllen soll, oder brülle ich, weil die andere Figur mich unfassbar wütend macht. Ich habe den Unterschied so stark gespürt. Der Grund dafür liegt nicht im Trojanischen Krieg. Der Grund muss mich persönlich treffen.

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»YES! (maybe)«, BA-Projekt von Jeanne Le Moign, Milli Vikanis und Marc Scheufen, Foto: HKB


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»Es gilt, den freien Raum zu verteidigen« Johannes Mager im Gespräch über die ­Projektarbeit Frank Schubert: Was ist ein Projekt? Johannes Mager: Ein künstlerisches Projekt. Das Adjektiv würde ich davorsetzen. Wir sind eine Kunstschule und versuchen, jungen Künstlern vier oder fünf Jahre lang Raum zu geben, damit sie ihren Weg finden können. Das ist etwas sehr Persönliches. Eine Hochschule muss ein Programm bieten. Aber ein Projekt ist eigentlich etwas, das die Studierenden mitbringen dürfen. Sie sollten ein Anliegen haben, wofür sie die Institution benutzen wollen. FS: Dieser Raum, von dem du sprichst, bietet zuerst die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was sie eigentlich zu erzählen haben. Viele denken in diesem Freiraum erstmalig darüber nach. JM: Wer sich bei uns bewirbt, hat neben den konventionellen Vorsprechmonologen auch die Möglichkeit, sich mit eigenen Formaten vorzustellen. Das können beispielsweise selbstgeschriebene Texte sein oder auch kleine Bewegungsprojekte. Dieser Vorgang provoziert das Nachdenken über den Ausbildungsraum, den sie sich erobern wollen, schon beim ersten Aufeinandertreffen in der Aufnahmeprüfung. Wir kommen schon bei den Aufnahmeprüfungen nicht umhin, auch nach den Motiven zu fragen, warum sie an so eine Schule wollen. Es muss einen Grund geben, warum ich aus meinem Kosmos heraus mit künstlerischen Mitteln in Beziehung zur Gesellschaft treten will. Hier sind die Antriebe zu suchen. Was wir im Curriculum anbieten, wird immer komplexer. Das Bedürfnis, etwas Eigenes erzählen zu wollen, darf im Kontext dieser Ausbildung nicht verloren gehen. Und weil sich der Großteil des Angebotes ständig weiter professionalisiert, ist dieser Freiraum so unglaublich wichtig und wir müssen darauf insistieren. FS: Unser Absolvent und heutiger Kollege Nils Amadeus Lange hat das Handwerk geliebt, die Projekte aber auch dafür genutzt, um sich gegen das Handwerk zu wehren. So hat er seinen ganz individuellen Weg gefunden. JM: Das ist ein steiniger Weg. Und es muss Programm sein, dass diese Steine nicht weggeräumt werden. Da geht es bei uns Dozierenden auch ans Eingemachte. Das merkt man immer wieder im Semesterablauf. Es kracht am meisten in dieser Projektzeit. In diesen Projekten können wir nicht die Experten sein. Wir suchen gemeinsam mit

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den Studierenden Wege zu einem Thema. Das ist mein Anspruch an ein Mentorat. In diesem Freiraum werden die Studierenden ermuntert, weniger kontrolliert. Das ist natürlich anspruchsvoll, weil es immer wieder die Strukturen infrage stellt. FS: Es hängen ja konkrete Themenbereiche an der Projektarbeit. Autorschaft, Recherche und Materialgenerierung sind nur einige Stichworte. JM: Es geht um die Chronologie in der Ausbildung. Wie wachsen Bedürfnisse, wie bekommen diese ganz individuellen Themen Sauerstoff? Der freie Raum provoziert bei den Studierenden die Auseinandersetzung mit dem eigenen Thema und dem Bedürfnis, es für andere erfahrbar zu machen. Was braucht es für Mittel und Wege für diesen Prozess? Die ersten Proben eröffnen Blickwinkel mit neuen Erkenntnissen, die zu Vertiefungen und Adaptionen, vielleicht auch zu Umwegen, Abbrüchen, zu Neubeginn oder Umkehr führen. Du hast einen geheizten Raum mit Scheinwerfern, ein oder zwei Coaches, denen du natürlich auch was schuldig bist und die über Beschreibungen einen speziellen Input geben. Aber es gibt in diesem Raum kein von der Schule vordefiniertes Programm, dem sich die Studierenden unterwerfen müssen. Wirklich kein Programm! Es gibt auch kein Notprogramm, auf das man zurückgreifen kann. Dafür gibt es den anderen Teil der Ausbildung mit verbindlichen Methoden und der konkreten Vermittlung und Anwendung dieser Methoden. Dort gibt es eine detaillierte Zielstellung, über die eine konkrete Bewertbarkeit der künstlerischen Ergebnisse möglich wird. Das sind dann die Szenenstudien, Monologe etc. Das geht in den Projekten nicht so einfach. Hier braucht es nicht die schnelle Autobahn, hier braucht es den steinigen Weg, auf dem den Studierenden nichts übergestülpt werden darf. Aus dem persönlichen Need des Studierenden wird eine Arbeitsmethode für den jeweiligen Inhalt entstehen. Das kann auch ganz schnell scheitern, und diese Unfälle müssen betreut werden. Sie dürfen aber nicht zu Konsequenzen wie etwa negativen Bewertungen führen. FS: Es ist unsere Aufgabe in der Projektarbeit, den Umgang mit dem Unbekannten, dem Unerwarteten, produktiv zu machen. Das gilt auch für uns selbst. Wir haben als Coaches mehr Erfahrung und gehören zu einer anderen Generation. Das führt zu anderen Blickwinkeln auf den Gegenstand. Aber in Bezug auf das jeweilige Thema sind wir nicht unbedingt klüger als die Studierenden. Dieser Fakt prägt auch das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden an unserer Schule. JM: Ja. Erfahrener sind wir, aber das bedeutet nichts an diesem Punkt. Es geht auch immer um das Finden neuer Wege und Mittel. Das

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klingt so groß. Aber wirklich Neues können nur die jungen Leute erfinden. Wir sind verantwortlich für die dafür notwendigen Freiräume. In allen anderen Bereichen der Ausbildung legen wir die Linien. In den Projekten müssen die Studierenden entscheiden, welche Wege, Mittel und Methoden für ihre Inhalte tauglich sind. Es sind ja aus diesen Prozessen heraus schon Gruppen entstanden, deren Arbeitsweise mit nichts vergleichbar ist, was wir ihnen angeboten hatten. Es ist sicher auch ein Anspruch unserer Schule, dass uns solche Sachen nicht durch die Lappen gehen. Und solche Möglichkeiten entstehen oft nur aus Niederlagen und Umwegen. Und die müssen wir mittragen. Die Reflexion der eigenen Sehgewohnheiten ist auch für uns Dozierende ein anspruchsvoller Prozess, den ich in der Projektarbeit mit den Studierenden nicht vernachlässigen darf. Sonst entsteht nichts Neues und wir geraten auf diese glatten Produktionsautobahnen aus Ästhetik und Methoden. Das nennt man dann professionell, und das mag oft auch gut sein. Aber es kann nicht die Projektlinie unserer Schule prägen. FS: Regine Fritschi wurde als Mentorin des Projektes Nackt, das für dieses Buch auch besprochen wurde, oft mit Sachen konfrontiert, bei denen ihr die Spucke wegblieb, um es salopp zu sagen. Sie ist eine Mentorin, die zuerst nur zuschaut. Sie kann unglaublich viel aushalten, zulassen. Sie kann Freiräume geben. Sie findet in dieser Phase aber auch zu einem Einstieg in Gedankenbereiche der Studierenden, die nicht auf der Hand liegen, die da sind, aber freigelegt werden müssen, die von allen Beteiligten erst entdeckt werden. Auf dieser Basis kann sie dann vom Gedanken der Relevanz aus einsteigen. Da scheidet sich ganz schnell die Spreu vom Weizen. Sie setzt diesen Vorgang aber extrem spät in Gang. Sie gibt vorher jeder Idee die Möglichkeit der Entwicklung und Vertiefung und schafft ganz nebenbei ein extrem vertrauensvolles Arbeitsklima. Es geht lange nicht um Wertungen und schon gar nicht um Geschmacksfragen. JM: Das wird natürlich auch dadurch möglich, dass sich Teams nicht zufällig finden. FS: In diesem Fall kannten sich die Studentin Katharina, die das Projekt beantragte, und Regine, die Mentorin, aus einer anderen sehr autobiografisch geprägten Arbeit. Sie suchten und fanden sich. JM: Das ist ein produktiver Aspekt. Da ist dieses Vertrauen von Anfang an da. Das ist der ermutigende Raum, in dem etwas entstehen kann. Man erträgt auch viel in diesem Raum. Und es entsteht eine Energie, die weiterträgt. Sie ist nicht von Erfolg oder Misserfolg abhängig. Darauf vertraue ich. Da kann ein Ensemble entstehen, das künstlerische Inhalte miteinander verteidigen kann. Dazu gehört auch eine

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gewisse Demut. Das ist eine Theatererfahrung, die in so einer Ausbildung unbedingt angestrebt werden darf. FS: Nicht selten lernen sich auch die Kollegen in der Projektarbeit neu kennen, erweitern ihre eigenen Möglichkeiten und finden zu sehr kreativen Teams zusammen. Renata Jocic ist in unserem Fachbereich Aikido-Dozentin. Sie besitzt als erste Frau in Europa den 6. Dan Aikikai Tokyo, ist also wirklich eine große Meisterin ihres Faches. Das würde für viel Vertrauen und Respekt reichen. Doch als Projektleiterin, als Mentorin in Projekten und Laboren, betritt sie Arbeitsfelder, die sich aus den Schnittmengen ihrer Kompetenzen und den individuellen Themenstellungen der Studierenden immer wieder neu definieren. Für alle Kollegen ist das projektbasierte und problemorientierte Arbeiten auch ein Feld für eigene Entdeckungen. Die Dozierendenteams, die sich für ein Projekt finden, setzen sich immer anders zusammen. Das ist produktiv. Es kann sein, dass die Aikido-Trainerin gemeinsam mit der Gesangsdozentin, die ja auch eine eigene künstlerische Biografie hat, ein Projekt coacht. Es treten Kompetenzen in Beziehung, die sonst nicht unbedingt zusammenfinden. Diese reiben und befruchten sich nicht selten auf sehr überraschende Weise. Wir wachsen miteinander aneinander. Das kommt dann den Studierenden zugute. Diese Prozesse sind für die Entwicklung des Lehrkörpers extrem wichtig. Es gibt beispielsweise auch keine oft beschriebenen Reibereien zwischen Schauspiellehrern und Sprechdozenten. Das hat auch seine Gründe in der hohen Kommunikationsqualität in der Projektarbeit. JM: Durch die Schaffung eines Projektpools, in dem alle Dozierenden gleichberechtigt vorkommen, haben sich auch Hierarchien aufgelöst. Das ist produktiv für alle. Keiner kann sich auf seine Position zurückziehen. Jeder hat gleichermaßen die Verantwortung für ein Projekt. Da entstehen dann auch ganz andere Gespräche. FS: Und es gibt die unterschiedlichsten Motivationen. Tabea Buser suchte in 5 DEZI das »stehende Jetzt«, weil sie ihr eigenes Rasen durch die Zeit unterbrechen wollte. Heraus kam eine Installation. In Nackt versuchten die drei Studentinnen, etwas über sich selbst herauszufinden, Ängste zu thematisieren und offensiv eine öffentliche Debatte ausgehend von persönlichsten Themen anzuregen. Es entstand ein sehr performativer Akt. Bei norway.today sagte ein Student, dass er so schnell wie möglich, mit so viel Bühnenzeit wie möglich, so viel Handwerk wie möglich inhalieren wollte. Gezeigt wurde eine nahezu klassische Inszenierung. In den Projekten können die Studierenden ihre Bedürfnisse, Sehnsüchte und Interessen finden und vertiefen.

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JM: Ja. Um aber von dieser Wellness-Tour ausgehend einen Schritt weiterzukommen, würde ich immer auch eine nachvollziehbare Relevanz einfordern. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner. An dem muss man nicht ersticken. Aber es macht keinen Sinn, Künstler zu sein, wenn du nicht ans Publikum denkst. Und dieser Weg führt bei unseren Studierenden immer wieder zu einer sehr eigenen Präsenz mit einer Dringlichkeit, die das Potenzial besitzt, ein Publikum berühren zu können. FS: Klar ist, dass man Kreativität nicht ausbilden kann. Aber unsere Aufgabe ist es, einen Raum zu schaffen, in dem Kreativität wachsen kann, sofern sie in unseren Studierenden angelegt ist. JM: Und dieses Pflänzchen haben wir gesehen, als wir zu einem Bewerber oder einer Bewerberin Ja gesagt haben. Da hatten sie die Eintrittskarte, und zu der bekennen wir uns auch, wenn die ersten beiden Projekte richtig den Bach runtergehen. FS: Das müssen wir aushalten, damit diese geflügelten Worte von der »Notwendigkeit des Scheiterns«, des »Sich auf die Äste Wagens«, des »Aus der Kurve Fliegens« nicht zu hohlen Phrasen werden. Auch Dozierende geben immer wieder Projekte ein. Früher mehr als heute. Das war auch für uns ein Experimentierfeld. Heute gibt es das neue Format der Labore, die diese Funktion komprimierter übernommen haben. Dort experimentieren wir als Dozierende gemeinsam mit Studierenden in einer definierten Versuchsanordnung. Dabei kann es beispielsweise um Spielweisen oder um Aspekte der Sprachbehandlung gehen. Es ist eine kürzere Arbeitsphase mit einer kompakteren Aufgabenstellung, die dennoch freies Arbeiten erlaubt und ohne Produktionsdruck auskommt. Es muss kein präsentables Ergebnis abgerechnet werden. Darum ist es für mich im Augenblick ganz logisch, dass ich vor allem Studierendenprojekte favorisiere und mit meinen eigenen Projektideen zurücktrete. Diese Haltung ist Ergebnis einer komplexen Entwicklung. Das mag man bedauern, aber wir können nicht alles haben. FS: Am Anfang steht ein Projektantrag. Die Leute überlegen sich, was sie aufgleisen wollen, und das müssen sie aufschreiben. Du gehörst zu den Ersten, die diese Anträge auf den Tisch bekommen. JM: Ich betrachte mich in der Runde dieser ersten Antragsleser als einer, der nach besagter Pflanze sucht. Mich interessiert nicht so sehr, ob das ein toller Antrag ist. Ich benutze ihn nur, um diesen Schwerpunkt herauszufiltern. Aber im Team sind ja immer auch andere Sichtweisen vereint. So kann ich mir diesen Blickwinkel erlauben. Ich schaue wirklich nur darauf, ob ich diesen Need finde, gepaart mit

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dem Bedürfnis, ihn zu teilen. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner für die Relevanz, die so eine Idee haben darf. Wir schicken natürlich auch immer wieder Anträge zurück, weil wir diesen Need noch nicht spüren können. Diese sollen dann vertieft und konkretisiert werden. Aber die Anträge haben meist schon ein gewisses Niveau, weil sie nicht aus dem luftleeren Raum kommen. Sie wurden teilweise schon von jemandem aus der Theorie oder von Stephan Lichtensteiger gecoacht. FS: Mit ihm sprach ich auch für dieses Buch. Er ist jemand, der Studierenden das Vertrauen in die eigenen Ideen vermitteln kann. Diese Art Betreuung ist ein wichtiger Aspekt in diesen Prozessen. Die Ideen der Studierenden, so konfus und abstrus sie manchmal daherkommen, werden wirklich ernst genommen. Das ist die Grundhaltung. JM: Drei Wochen später werden dann die Anträge auf dem »­heißen Sofa« vorgestellt. Da haben die Antragsteller dann die potenziellen Projektteilnehmenden vor sich. Manchmal sind es zwanzig, manchmal dreißig Studierende aus allen Jahrgängen. Die kann man dann von diesem Sofa aus mit seiner Konzeption »entzünden«. Das ist nach wie vor ein sehr realer Raum. Hier lernen alle unglaublich viel, ohne jedes Einschreiten von Dozierenden. Sie treten in diesem Augenblick untereinander in eine produktive Konkurrenz. Alle Beteiligten werden hier von allen sieben Todsünden bespielt. Neid, Eifersucht … alles, was Konkurrenz ausmacht. Aber es ist ein lustvoller und meist sehr heiterer Prozess, in dem alle relevanten Fragen, die sich Künstler stellen dürfen, für die Studierenden greifbar werden. FS: In welches Projektangebot soll man sich einschreiben? Was interessiert mich mehr als anderes? Was sind meine Bedürfnisse? Mit wem wollte ich schon immer zusammenarbeiten und mit wem auf keinen Fall, obwohl mich ein Thema rasend interessiert? Da brechen sehr komplexe Vorgänge aus. Geschürt wird dieser Prozess auch durch die simple Information, wie viele Mitstreiter für die jeweiligen Projekte gebraucht werden. Die Zahl der Plätze in einem Projekt ist also immer auch begrenzt. JM: Es ärgern sich in diesem Moment auch viele, nicht selbst ein Projekt eingegeben zu haben. Auch das ist produktiv. Das schürt massiv das Bedürfnis, in der nächsten Runde in die Offensive zu gehen. Das alles ist auch für das Team der Schule, für das gesamte Ensemble, immer wieder ein prägender Augenblick. FS: Dann werden die Anträge ausgehängt und jeder kann sich nach eigener Wahl einschreiben. Dieser Prozess klingt erstmal nur praktisch und wenig spektakulär. Aber auch hier geht ein wilder

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­ rozess los. Die Studierenden sehen, wer sich bereits wo eingeschrieP ben hat, Allianzen werden geschmiedet, unliebsame Verbindungen vermieden, Bedürfnisse gegeneinander abgewogen und Themen werden nochmals abgefragt und diskutiert. Von diesem Prozess bekommen wir als Dozierende kaum etwas mit. Das alles findet in der Studierendenküche oder in den WGs statt. Und dann kommt es natürlich auch immer wieder zu der Katastrophe, dass sich in das eine oder andere Projekt niemand einschreibt. JM: Ja. Ein kleiner Praxisschock steht schon dahinter. FS: Und der Witz ist, dass uns Dozierenden das genauso passieren kann. Ein Dozierender hat, wie alle anderen Antragssteller auch, an einem Konzept gearbeitet, Zeit und Herzblut investiert, und jetzt stellt sich heraus, es interessiert niemanden. Das kann schon demütigend sein. JM: Das zwackt uns immer hart. Ganz klar. FS: Aber, wenn wir ehrlich sind, tut es uns sehr gut. Das wissen wir, wenn wir die Enttäuschung überwunden haben. JM: Wir sehen dadurch auch, wie anschlussfähig unsere Programme an diese Generation sind. Da können wir uns schlecht auf unsere Pfründe zurückziehen. Wir müssen unsere Programme so vermitteln, dass die Studierenden angezündet werden. Und das ist ja eigentlich in jedem Unterricht unser Job. FS: Dann sitzt du zusammen mit anderen wieder am Tisch und hast die Projekte mit den eingeschriebenen Kandidaten vor dir. Nun geht der Prozess der Umverteilung, Korrektur und Bestätigung los. Das ist ein mitunter schwieriger regulativer Prozess. JM: Ja. Manche müssen von einem anderen Projekt überzeugt werden, weil sich beispielsweise zu viele in ein Projekt eingeschrieben haben. Das muss nach inhaltlichen Kriterien passieren und kann nicht gegen den Willen der Studierenden geschehen. Natürlich gerät hier manchmal der Luxus der Wahl mit der Realität einer Institution in Reibung. Aber es gibt eine große Diversität im Kollegium. Wir wissen, wer wofür Expertin oder Experte ist. FS: Dann gibt es natürlich die Diskussion um die Räume und um die Probenzeiten. Auch wenn wir eine sehr gute Raumsituation haben, gibt es natürlich immer etwas Gerangel. Das gehört einfach dazu. Jedes Projekt kann auch über ein kleines Budget verfügen, und so können wirklich alle entspannt in die Proben gehen. Die Präsentationen sind dann offen für Freunde, Familien, Bekannte und interessierte Menschen. Es wird eine Kollekte für den Studierendenfonds gesammelt, der notleidenden Studierenden zugutekommt.

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Zu guter Letzt stehen wir dann vor einem Programmpunkt, über den wir immer wieder neu nachzudenken haben: Das Feedback. Bei allem Bemühen um eine bestimmte Objektivität bleiben die Projekte sehr persönliche Unternehmungen. Und es gibt eigentlich keine starren Kriterien. Darauf hast du vorhin als Stärke und Notwendigkeit hingewiesen. Hier stehen wir immer wieder neu vor einer alten Frage: Welche Kriterien sind hilfreich für eine Bewertung? JM: Da bin ich, ehrlich gesagt, ratlos. Dieser Raum muss frei sein. Auch frei von Erwartungshaltungen. Welche Art von Feedback braucht es? Muss es nicht auch einen freien Raum für das Feedback geben? Das muss man aushalten. Auch die Art des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses macht die Sache heikel. Schwierig ist auch, dass die Leute kaum darauf vorbereitet sind, eine ungefilterte Kritik einstecken zu müssen. Und der Vorgang muss produktiv bleiben. Der Diskurs und die Art, miteinander zu reden, sind anspruchsvoller geworden und auch vorsichtiger. Das hat viele positive Seiten, aber an bestimmten Punkten überlegt man immer wieder, wie man seine Meinung klar und deutlich äußern soll, damit sie produktiv aufgenommen werden kann. Es bleibt über das gesamte Berufsleben eine Herausforderung, produktiv auszuteilen und einzustecken. Dem muss man sich immer wieder neu stellen. Jeder Arbeitsprozess verlangt eine spezielle Sorgfalt. Genormte Feedbacksysteme können hilfreich sein, müssen aber permanent produktiv hinterfragt, ausgebaut und erweitert werden. FS: Der kleinste gemeinsame Nenner ist dabei die gesellschaftliche Relevanz. JM: Wenn wir an dieser Schule Diversität wollen, wäre es unklug, diese nicht auch in den Feedbacks zu berücksichtigen. Mit den unterschiedlichsten Sichtweisen auf einen Gegenstand werden auch die Widersprüche deutlich, und die machen die Qualität aus. Da muss man als erfahrener Mensch über den Tellerrand gucken können. Das ist eigentlich nicht kompliziert. Wir fragen: Was wurde erzählt? Wie wurde es erzählt? Waren die gewählten Mittel dafür tauglich? Hier müssen auch die unterschiedlichsten Wertungen gleichberechtigt aufeinanderprallen dürfen. Mit der Auswertungsrunde ist der Prozess auch nicht beendet. Wir geben keine Kurse und machen uns danach vom Acker. Es ist ein kontinuierlicher Prozess, dem wir uns zusammen aussetzen, und darin liegt eine große Chance. FS: Und wir können diese Auseinandersetzungen langfristig führen. Über Pleiten und Erfolge hinweg. Da steht ein stabiles Team in einem sich vertiefenden Prozess. Setzen sich Ausbildungsprozesse

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beispielsweise aus Kursen zusammen, die sich die Studierenden so oder anders zusammenbauen können, wird sich zumindest erheblich schwerer ein solches Team zusammenfinden können. Auch würde ein solches System vom ersten Tag an extrem selbstständige Studierende voraussetzen, die ich in der dafür notwendigen Dichte nicht sehen kann. Für die meisten Studierenden bedeutet das nur die Illusion der individuellen Wahl, die eine Selbstständigkeit vorgaukelt und zu Wohlfühlentscheidungen führt. Das halte ich nicht für produktiv. Solche Systeme laufen auch sehr schnell Gefahr, zu einem Reflex auf das aus der Ökonomie entlehnte Angebot-und-Nachfrage-System zu verkommen. Die Verantwortung für künstlerisch arbeitende Menschen darf ganz sicher nicht dem scheinmodernen Begriff »Human Resources« zugeordnet werden. Wir sind in unserem Beruf »gesellschaftliche Multiplikatoren«. Dem sind wir verpflichtet. Und dieses Bewusstsein müssen wir an unsere Studierenden weitergeben. JM: Ich habe etwas zu erzählen. Ich habe etwas zu veräußern. Dieser Need darf wachsen. Der Empfänger wird etwas herauslesen können. Diesen Prozess würde ich als politisch bezeichnen. Ich kann auch über die große Weltpolitik Theater machen, aber das Zentrum ist und bleibt die individuelle Botschaft, die ich als Sender einem Empfänger überbringe. Ein umfassender und sehr individueller Erkenntnisstand zu den Begriffen Botschaft, Sender, Empfänger wird durch den »freien« Raum für die künstlerische Projektarbeit provoziert. Das gibt den verlässlichen Boden für die gemeinsame Arbeit. JM: Für die spätere Praxis ist es notwendig, einen Antrag schreiben zu können. Man muss ein Kulturamt oder andere Geldgeber überzeugen. Das ist harte Arbeit auf dem Papier. Hier trennt sich schnell die Spreu vom Weizen. Mich beschäftigt die Frage, ob das immer das Papier sein muss. Dringliche Gründe für ein Projekt gehen oft in diesen Phasen verloren. Lange vor einer ersten Probe. Das erlebe ich oft. Man lässt sich von Förderrichtlinien korrumpieren und ganz schnell denke ich mein Projekt anders. Die Formulare und Begründungen verändern und verwässern meine ursprüngliche Intention. Es muss auch andere Möglichkeiten geben, meine Projektidee zu präsentieren. Es könnte auch gleich mit einem »heißen Sofa« beginnen. Oder mit einer kleinen Performance. Oder mit einem thematischen Spaziergang. Viele Künstler brauchen andere Möglichkeiten als hochspezialisierte Onlineformulare. In diesen liegt die große Gefahr der Verfälschung. Man hat am Ende so lange an den eigenen Gedanken rumgebogen, bis die eigene Initialzündung verschüttet wurde. Das beschäftigt mich auch für unsere Schule. Wir bekommen oft nicht das zu lesen, was die Studierenden

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eigentlich meinen. Dadurch bleiben uns sicher auch künstlerische Wege verborgen. Es gilt für diese frühe Phase, in der ein Projekt aus einem konkreten Bedürfnis entsteht, neben der Verschriftlichung auch andere Eingabeprozesse zu entwickeln. Da gibt’s noch viel lohnenswerte Arbeit. Täglich, heiter und gemeinsam.

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5 DEZI Tabea Buser im Gespräch über ihr Master-Abschlussprojekt 5 Räume / 5 Weine / 5 Geschichten / eine Kreisbar / eine performative Installation Ein Glas Wein ist mehr als ein Glas Wein. Ein Glas Wein sind ­ iebesgeschichten, Konversationen, Gerüche, Bilder, GeschmäL cker, Farben, Musik, Landschaften und Emotionen. In 5 DEZI darf das Publikum ein »Durchatmen« genießen, welches die Sinnlichkeit hochleben lässt. Wer ist die Hauptfigur? Der Wein oder der Raum, das Publikum oder die Gastgeberin? Es ist das Zusammenspiel aller Elemente! Und die Menschen, die genießen wollen, sind frei. Sie können gehen, wenn sie genug haben, und können bleiben, solange sie wollen. »Abgesehen davon wünsche ich mir einen »Nunc stans«-Moment. Jetzt und nichts anderes. Einen Moment der absoluten Glückseligkeit. Eine ›göttliche Erfahrung‹ in der Auflösung von Raum und Zeit. In einer Welt, in der wir überschwemmt werden von der Schnelllebigkeit der Zustände, in der wir von Informationen und Aufmerksamkeit leben, wo wir dem Druck von Müssen, Wollen, Tun und Selbstoptimierung kaum standhalten, ist der Wunsch nach einem Gefühl der Vollkommenheit schon fast krankhaft. Ich wünsche mir, dass wir dem Stress eine kleine Pause gönnen: ein kleines, stehendes Jetzt. Der ›perfect match‹ eines Momentes. Die absolute Vollkommenheit dieser fünf oder zehn Minuten, welche möglicherweise einen kurzen Augenblick der Glückseligkeit auslösen könnte. Ich weiß, dass ich den Moment des ›Nunc stans‹ nicht erreichen kann. Aber die Annäherung an diesen Moment des ›stehenden Jetzt‹ halte ich für eine schöne Aufgabe.« Tabea Buser, Auszug aus dem Masterkonzept vom 9. November 2018 Frank Schubert: Was ist eine göttliche Erfahrung? Tabea Buser: (lacht) Es ist so absurd, dass ich dieses Wort überhaupt benutze. Göttliche Erfahrung. Ich bin so gar nicht gläubig.

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Nun, ich habe meinem Patenonkel von diesem Projekt erzählt. Er hat mir zugehört und dann gesagt, das ist ein Nunc-stans-Moment. He? Noch nie gehört? Was soll das? Check ich nicht. Und dann hat er »stehendes Jetzt« mit »göttliche Erfahrung« übersetzt. FS: Was hat das »stehende Jetzt« mit einer göttlichen Erfahrung zu tun? TB: Wir sind in einer Zeit, wo alles so schnelllebig ist und es nur darum geht, jede Sekunde zu nutzen, um einen Schritt weiterzukommen. Was auch immer »Weiterkommen« bedeutet. Aber – es ist sehr stressig. Auch in der Kunst, finde ich. Es ist alles extrem vergänglich. Es werden kaum noch Texte geschrieben, die längere Zeit halten. Weil es immer darum geht, diesen einen kurzen Moment in die richtigen Worte zu fassen, um dann direkt weiter zum nächsten zu gehen. Ich muss immer krass aktuell sein, aber morgen ist die Aktualität schon wieder vorbei. Das stresst. Man muss immer so »on point« sein. FS: Ich wollte unser Gespräch mit deinem Begriff der »göttlichen Erfahrung« eines »stehenden Jetzt« beginnen, weil ich glaube, dass diese Sehnsucht wichtig ist. Dir geht es um einen Moment des Genusses. »Genuss« wird unterschiedlich definiert. Dein Projekt meint den »göttlichen Moment« des Stillstands. Das JETZT. Das Anhalten der Zeit. Du hast in deinem Konzept geschrieben, du stellst dir vor, dass die Leute fünf Minuten in einem Raum bleiben. Ich glaube, das war … TB: … knapp gedacht … FS: … sehr knapp gedacht. TB: Die meisten Leute waren fast zwanzig Minuten in einem Raum. Ich bin ja auch so schnelllebig. Und ich mag das ja auch. Du kennst mich ja, ich bin brrrrrr … Dieser Stress … ich mag’s! Aber gleichzeitig … Ich habe Rückenschmerzen, ich habe Beinschmerzen, überall Schmerzen, weil ich alles so schnell mache, viel zu intensiv. Ich nehme mir für viele Dinge keine Zeit mehr. Wenn ich als Zuschauerin im Theater sitze, dann sollte es doch ein Moment sein, in dem ich mir Zeit nehme. Für mich selbst oder für andere, zur Weiterbildung oder für den Spaß. Um berührt zu werden. Ich gehe oft ins Theater und finde es ganz grauenhaft. Und dann hocke ich da drin. Zwei Stunden. Ich kann auch nicht rausgehen, weil ich dann über die Bühne gehen müsste, weil der Ausgang genau im Zentrum des Bühnenbildes ist und ich dann sowohl Publikum als auch die Akteure störe. Ich bin dann da drin und denke mir: voll NICHT »stehendes Jetzt«, sondern stehender Stress. Ich werde gezwungen zu gucken, und alles ist so wichtig. Ich habe manchmal das Gefühl, wir versuchen, einen heiligen und nicht ersetzbaren Ort herzustellen, dabei empfinde ich vieles als irgendwie

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so hingeschmissen. Es ist gar keine Zeit mehr da, um leidenschaftlich zu produzieren. Und ich kann da gar nicht mehr offen reingehen, weil ich von Anfang an weiß, dass ich es doof finden werde. Auch blöd. Museum. Das ist auch so ein Beispiel. Ich gehe ins Museum, und es ist alles so elitär. Man steht ganz lange vor diesem Bild, man darf aber auch nicht zu nah ran. Da steht gleich jemand in Uniform und guckt. Dann steh ich da und alle stehen da und ich denke, ich könnte schon lange weiterlaufen, aber weil alle so dastehen, stehe ich auch. Das ist alles so – Kunst. So kontrolliert. Das hat mich auf dieses Degustieren gebracht, was ja auch wieder so wichtigtuerisch ist. Irgendwie. Da steht eine Person und sagt mir, was »man« schmeckt. Absurd. Stress. FS: Als ich deine Konzeption las, musste ich an Charles Bukowski denken. Er besuchte mal seine Verwandten in Deutschland. Da saß dieser geschundene Mann an einer weiß gedeckten Kaffeetafel. Alles ordentlich und sauber. Feiner Kuchen, die Tassen auf Untertassen, ein kleiner Löffel daneben. Ihn beeindruckte das sehr. Er sagte, das wäre wie eine »Pause im Daseinskampf«. Dieses Bild prägte sich mir sehr ein. Wie eine »Pause im Daseinskampf« habe ich auch dein Projekt empfunden. Du bist jetzt im Master. Dein erstes Semester im Bachelor begann mit dem Tisch. Gemeinsames Kochen, Tisch decken, sich etwas ausdenken, anrichten, für andere und für sich selbst servieren und dann dieses Erlebnis des gemeinsamen Essens. TB: Im ersten Jahr habe ich das nicht so konzeptionell mitgeschnitten. Stimmt aber. FS: Ich finde in deiner Weindegustation ebenso diese »Pause im Daseinskampf«, wie im Tisch des ersten Semesters. Da sind alle Hierarchien aufgehoben. Du sprichst in deiner Konzeption davon, als Künstlerin in einem bewussten theatralischen Akt von der Machtposition des Künstlers zurückzutreten. TB: Ich glaube nicht unbedingt, dass ich das hingekriegt habe. Also ich hatte ganz klar die Macht, weil ich die Räume gestaltet und die Weine ausgelesen hatte. Ich habe auf jeden Fall etwas vorgegeben. FS: Du gabst aber auch die Freiheit … TB: … dass jede und jeder seinen oder ihren Weg gehen und die Dramaturgie selbst gestalten kann … FS: … und du gibst die Freiheit, den von dir ausgesuchten Wein auszuspucken und nach einer Minute den Raum zu verlassen oder ihn gar nicht erst zu betreten. TB: Ja, man könnte auch einfach im Hof den Wein trinken und plaudern. Auch in Ordnung. FS: Selbst das. Genau.

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TB: Ich hoffe, das Publikum hatte das Gefühl, dass es sich frei bewegen und sich den Abend selbst zusammenstellen konnte. Ich war richtig nervös an den beiden Tagen. Als Schauspielerin kann ich ausweichen oder korrigieren, wenn ich etwas anders mache als geplant. Hier stand ich aber auf dieser Studiobühne in der Kreisbar, habe den Wein ausgeschenkt und wusste gar nicht, was die Leute erleben. Ich konnte auch nicht testen, wie sich das alles zusammenfügt, ob es sich überhaupt zusammenfügt. Wenn ich auf der Bühne stehe, habe ich den direkten Austausch mit dem Publikum. Das liebe ich ja auch so. Jetzt hatte ich zwar auch einen Austausch an der Bar, war aber nicht dabei, wenn sie die Räume erlebten. Ich musste so … abgeben. Als es losging, war alles getan. In diesem Moment hatte ich alles dem Publikum überlassen. Das ist im Theater ja ungewöhnlich. FS: Du hast deinen Gästen einen Wein eingeschenkt, hast ihnen viel Spaß gewünscht, und nachdem sie die Geschichte zu diesem Wein gelesen hatten, sind sie in den entsprechenden Raum entschwunden. Das wiederholte sich in der Regel weitere vier Mal. Was für einen Eindruck haben die Leute innerhalb dieser Reise auf dich gemacht? Du hast sie ja jeweils nach insgesamt fünf Erlebnissen an deinem Tresen erlebt. TB: Es war ganz unterschiedlich. Aber die meisten hatten wohl sehr viel Freude. Dieses »Stehende Jetzt«, was könnte das für ein Gefühl sein? Ich habe ganz oft ans Kindsein gedacht. Ich darf heute nicht einen Tag auf der Couch sitzen. Weil »man das nicht macht«. Dann ist man »eine langweilige Person«. Da fängt es schon an. Alle erwarten etwas. Ich muss Rechnungen bezahlen. Ich muss auch ready sein zum Wandern, weil das gut für mich ist. Ich muss auch gärtnern, weil man das heute so macht. Ich muss auch ganz oft joggen gehen. Ich muss immer ganz viel für mich machen. Aber tatsächlich habe ich das Gefühl, ich mache das alles nicht ansatzweise für mich. Kindsein darf nicht stattfinden. Das find ich traurig. Dabei sind Kinder doch die ehrlichsten Figürchen dieser Welt. Und Ehrlichkeit ist toll. Und sie wundern sich. Tagelang. Und ich habe an diese Schnitzeljagd gedacht, bei der ich selber etwas rausfinden darf. Für mich. Ich hatte schon das Gefühl, das alles in den Augen der Leute zu sehen, und habe es gern beobachtet. FS: An mir selbst habe ich beobachtet, dass ich mir mit jedem Wein und jedem weiteren Raum immer mehr Zeit nahm. Schon spannend, wie eine Erfahrung einfährt, mit der man nicht gerechnet hatte. Jetzt bleibst du hier einfach länger sitzen, sagte ich mir. Ich habe es genossen, so eine Entscheidung fällen zu können. Kannst

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du jeden Raum kurz beschreiben, und woher kamen die einzelnen Ideen? TB: Fangen wir beim Rosé an, das war der »Burbero«. Dieser Raum war eine Kaugummiwelt, Alice im Wunderland. Da gab es einen großen grünen Teppich auf dem Boden mit einem kleinen Zaun drumrum, überall Blümchen, Erdbeeren, zwei weiße Hasen, Lotta und Fee, ein Hasenschloss in Hellblau, ein pinker Ballon und eine Prinzessin mittendrin, die die Hasen fütterte. Dazu Vogelgezwitscher und der Gesang eines Mannes, in einer Sprache, die wahrscheinlich niemand verstand. Als ich den »Burbero« das erste Mal getrunken hatte, kam mir als Erstes Erdbeer-Pannacotta in den Sinn. Das hat mich an eine Erfahrung aus meiner Kindheit erinnert. Als ich sieben oder acht war, bin ich mit meiner Familie drei Wochen lang von Basel nach Genf gewandert. Von Bauernhof zu Bauernhof, und wir haben immer im Stroh geschlafen. Dieser Wein erinnerte mich an »Schlafen im Stroh«. Dieses Kindheitsgefühl mit diesem Erdbeer-Pannacotta-Kitsch. Und dieses Lied, das ist mein Papa, der das singt, das hat er mir immer zum Einschlafen gesungen, als ich klein war. Es ist eigentlich ein griechisches Abschiedslied. Der Rosé »Burbero« war eine Hommage an meine Kindheit. Dann der »Ladiv«. Das war ein Weißwein. Als ich den getrunken habe, war ich gleich auf der Autobahn. Tankstellen, Nagellackentferner. Trotzdem ist er einer meiner Lieblingsweine. Er ist mir stundenlang ganz hinten im Gaumen hängen geblieben. Ich konnte fast nicht einschlafen, weil ich immer diesen Ladiv-Geschmack präsent hatte. In der Tiefgarage meines Mundes. Das hat so gut gepasst. Diese Tiefgarage. Deshalb wollte ich den Wein in einer Tiefgarage platzieren. Wir hätten ja in der Schule eine gehabt, aber da durfte ich nicht rein. Ich habe also einen ganz cleanen, grauen Raum gesucht, der mich an eine Tiefgarage erinnert. Im Keller unserer Schule riecht es schon so ein bisschen nach Auto. Das war der richtige Platz. Und dann sind da noch so viele Honigkomponenten in diesem Wein. Ich habe ein Chemielabor eingerichtet und Honig in einem großen, runden Kolben gekocht. Ich wollte mal ausprobieren, was mit diesem Raum geschieht. Der Geruch war krass. Die Tiefgarage und das Labor. Diese beiden Komponenten waren für mich eine angenehm schlichte Übersetzung dieses ungewöhnlichen Weines. FS: Ich fand diesen Wein auch sehr gewöhnungsbedürftig. TB: Ja, auch noch mit diesem Pupsgeruch. FS: Hm, zumindest war es der einzige Wein, den ich nicht ausgetrunken habe.

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TB: Ja, es ist ein gewöhnungsbedürftiger Wein. Aber unter den Naturweinkennern ist er scheinbar der Hit schlechthin. FS: Für einen Lieblingswein hättest du einen Wohlfühlraum bauen können. TB: Aber der Wein gibt mir kein Wohlgefühl. Ach, es gab zum Beispiel vom selben Winzer den »Autin« von 2001, der Rotwein in diesem Slow-Motion-Tanzraum. Das ist mein Herz-Raum. Dieser Wein hat viel weniger Säure als die anderen Weine. Den habe ich getrunken, und ich war so fasziniert von der Sanftheit im Mund. Ich war richtig weggeblasen. Wenn ich sonst Naturweine trinke, sind sie immer ein bisschen herber, rustikaler, eben ursprünglicher, weil die meisten nur einjährig und darum noch sehr säurehaltig sind. Je älter ein Wein ist, umso weicher wird er. Das war ein Naturwein von 2001 aus dem Fass. Das ist unglaublich. Das macht eigentlich selten jemand, weil viele davon ausgehen, dass ein Naturwein irgendwann kippt. Dieser Winzer meinte nur: »Du musst eben sehr sorgfältig arbeiten. Dann geht das schon.« Das war ein sehr alter und fein gearbeiteter Wein, und deshalb war er so zart und sanft. Ich habe sofort an Leidenschaft gedacht. Auch weil er so dunkelrot ist. Dann habe ich mich gefragt, was für mich Leidenschaft ist. Es gibt doch diese klassische, immer wiederkehrende Filmszene, bei der die Hauptdarstellerin oder der Hauptdarsteller in einem Club tanzt. Meist in Zeitlupe. Ich bin dann immer so berührt. Ach, schön. Dann gehe ich selbst tanzen und alles ist ein bisschen schäbig. Aber in diesen Filmen ist alles so wunderschön gezeichnet. Dieses Zeitlupentanzen. Da werden Menschen in einem Moment der Freiheit festgehalten. Noch schöner: Menschen, mit denen ich etwas verbinde, in einem Moment der Freiheit festzuhalten. Dann habe ich meinen Freund gefragt, meinen Papa, meine beste Freundin, meinen Mitbewohner und eine Bekannte, mit der ich gerade ein Stück gemacht hatte und zu der ich innerhalb weniger Wochen eine ganz enge Beziehung aufgebaut hatte. Ich habe die fünf gefragt, ob sie nicht Lust hätten, zu ihrer Lieblingsmusik zu tanzen, während sie von Robin, einem Filmemacher, gefilmt werden. Alle haben zugestimmt. Und dann hatten wir einen megaschönen Nachmittag alle zusammen. Jede Person ist allein mit Robin in den Raum gegangen, hat Lieblingsmusik aufgelegt und dann wurde getanzt. Da sind dann diese wunderschönen Aufnahmen entstanden. Aus den einzelnen Musiken hat dann Lukas, der Musiker, diesen wunderbaren Klangteppich gebastelt, der einen abtauchen lässt. Das war für mich Leidenschaft. Ein Wohlfühlraum mit diesem Wohlfühlwein.

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FS: Dieser zuletzt beschriebene Raum hat mich besonders beeindruckt. Es hatte auch mit der Enge des Raumes zu tun. Fünf Projektionsflächen standen eng um mich herum. Auf den Projektionsflächen sah ich die fünf Menschen tanzen. Ich stand mit ihnen quasi auf Tuchfühlung. Ich war umringt von Bewegung. Die fünf genossen offensichtlich ihren Tanz und dieser Genuss übertrug sich mit ganzer Energie auf mich. Zusätzlich packte mich dieser Sound und bewegte mich buchstäblich. Es gab für mich nur die Möglichkeit der Hingabe. TB: Dann weiter zum »Sbaraglio«. Das war dieser Magenta-Glitzer-Nebel-Raum. Der Wein kommt von einem Weingut, das mich krass berührt hat. Da herrschte eine Offenheit der Welt gegenüber, den Menschen gegenüber, den Tieren gegenüber, den Lebewesen, den Pflanzen, dem ganzen Planeten gegenüber. Offenheit und Hilfsbereitschaft. Ein Geben, ohne an ein Nehmen zu denken. Wir wurden begrüßt von Eseln und Hunden. Das mit den Eseln ist auch so eine Geschichte: Die Frau kriegt von ihrem Mann eine trächtige Eselin geschenkt. Was ist das für ein Geschenk? Daraus entsteht eine Leidenschaft für Esel, und sie versucht, alle armen Esel zu retten. Und jetzt betreibt sie das größte Eselhilfsprojekt in Italien. Es kommen im Sommer Kinder aus der Stadt auf den Hof. Sie sollen wieder mit der Natur und mit den Tieren in Kontakt kommen. Mit dem Kauf vom »Sbaraglio« unterstützt man ein Hilfsprojekt in Ecuador. Sie kaufen dort mit den Einkünften der Weine Esel, damit die Menschen ihre Feldarbeit machen können. Dann haben sie einen Wein, den sie aus den Abfallprodukten ihrer anderen Weine produzieren. Also ein Food-Saving-Projekt. Und alles mit so viel Liebe. Ich war da echt weggeblasen von diesen Menschen. Ich wollte einen Raum in der Farbe dieses Weins. Mit dem Sprudel dieses Weines und dieses Weingutes. Es wurde also ein pinker Raum, mit Disco-Glitzer-Kugeln, lautem Sprudel-Sound im ganzen Raum und viel Nebel. So viel, dass man sich im Raum verlieren durfte. Ich wollte einfach einen schönen, nie endenden Raum kreieren. FS: Es war mein zweiter Raum, den ich besuchte. Ich begriff, hier kannst du verweilen. TB: Genau. Man kann herumgehen, sich auf den Boden legen oder hinsetzen. Was auch immer. Und den Wein trinken. Ein ­Verweilen. Der letzte Raum war im Bunker der Schule. »Ottavio Funk« hieß der Wein. Das war der »funkigste« Wein von allen. Dieser Wein kommt von einer Frau, die am liebsten keinen Wein für den Verkauf produzieren würde. Sie ist total crazy und würde es lieben, nur rumzutüfteln und ihre Säfte zu gären. Ich durfte all ihre superfrischen Weine aus den

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Tanks probieren. Und ich sagte immer: »Geil, den nehme ich.« Und sie: »Nein, den kannst du nicht kaufen, ich habe da keine Flaschen mehr.« Und ich fragte irgendwann: »Ah, o. k., kann ich denn irgendeinen Wein hier kaufen?« Sie: »Ne.« Und ich: »Häää? Jetzt habe ich alles probiert und keinen Wein …?« Und dann hat sie mir irgendwie vier verschiedene Weine zur Auswahl gezeigt, und ich hatte keinen davon probiert und war ganz verwirrt. Wie soll ich denn jetzt einen Wein auswählen? Dann hat sie mir diesen »Ottavio Funk« empfohlen. Das ist eigentlich ein normal gegärter Wein, abgefüllt in Flaschen, in denen er dann eine zweite Gärung erfährt, also eine Flaschengärung durchgemacht hat. Deshalb wurde er so megafunky. Der Wein schmeckt nach rohem Fleisch, nach Salami. Je länger der Wein offen ist, umso intensiver wird dieser Salami-Nachgeschmack. Als ich ihn getrunken hatte, hat es mich an einen Raum erinnert, in dem gerade zwei Menschen Sex hatten. Menschen, Fleisch und Schweiß … aber auch Johannisbeere. An den Wänden im Bunker hingen Bildercollagen. Auf ihnen waren Retro-Pornobilder, verschiedene Früchte, Fleischmotive und Tiere zu sehen. Es hingen essbare Salametti von der Decke und es lief Metal-Musik, viel zu laut. Ich wollte einen Raum kreieren, der diesen Überschuss an widersprüchlichen Informationen zeigt. Deshalb auch im unangenehm kalten kleinen Bunker, den ich mit gemütlichen Teppichen und Plüschsofas ausgestattet hatte. FS: Das war mein erster Raum. Ich hatte also einen sinnlichen Eröffnungsschock. Es stellte sich heraus, dass dies ideal für meinen weiteren Abend war. Es hat sich in der Folge eine sehr interessante Dramaturgie entwickelt. Es waren die Kontraste. Hast du dir eine Wirkungsstrategie überlegt? TB: Nein. Schlussendlich hatte ich alles einfach geschehen lassen. Musste ich auch. Von den vier Projektwochen habe ich eine Woche im Piemont Weine probiert. Davor wusste ich nichts. Mir war klar, wenn ich zurückkomme, muss ich wissen, was das für Räume sein werden, sonst würde die Zeit nicht reichen. Ich musste mir da vertrauen. Lass mal sacken, sagte ich mir, die Ideen werden kommen. Ich hatte eine Vorstellung davon, wie dieses Projekt ungefähr aussehen könnte, aber dass es tatsächlich aufgehen würde, habe ich erst während der Produktionsphase realisiert. Ich wusste dann, dass alle eine eigene Dramaturgie haben werden. Wenn ich Theater gucke, muss die Dramaturgie stimmen, damit das Publikum am Ball bleibt. Aber hier habe ich darauf vertraut, dass jeder Wein seine eigene Geschichte und Wirkung mitbringt, aber auch die »Konsumierenden« das tun. Da kann ich dann auch nicht mehr mitreden. Wollte ich auch nicht. Alle

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bringen eigene Assoziationen und Geschmacksnerven mit und das ist auch gut so. FS: Der Wein ist die Brücke, um zu mir selbst zu kommen. Du gibst uns mit deinen Installationen etwas sehr Persönliches. Ganz im theatralen Sinne findet ein Dialog zwischen der Künstlerin und ihrem Publikum statt. Der Wein als Medium ist ein sehr altes Kulturgut. Wein ist berauschend. Es ist eine Art Kulturdroge. Er steht auch beim Abendmahl seit Jahrhunderten auf dem Altar. War dir von Anfang an das konzeptionelle Verhältnis zwischen Authentizität und Abstraktion bewusst? Du sprichst das in deiner Masterthesis an. Du schreibst über Ästhetik, Lebensweisen, Lebensrhythmen, die Natur und die menschliche Sinnlichkeit. Es geht um nichts weniger als das menschliche Leben. Du kommst zu Räumen von hoher symbolischer Kraft. Ich muss die Räume lesen können. Ich muss mich einlassen. Am Ende erlebe ich eine Geschichte. Es findet ein Wirkungsmechanismus statt, den wir uns im Theater alle wünschen. Das interessiert mich auch formal. Diese semiotische Qualität öffnet Fenster zur Fantasie. Das ist interessant. TB: Ja, ich habe darüber nachgedacht. Ich möchte, dass meine Erfahrungen erlebbar werden und die Menschen so ansprechen, als wären es ihre eigenen. Ohne vorzugeben, was man in diesem Moment erleben und fühlen soll. Schön, wenn die Leute etwas fühlen, was ich auch fühle. Wenn nicht, fühlen sie eben was anderes. Auch gut. Ich hatte von Anfang an keine Lust, Theater im herkömmlichen Sinne zu machen. Ich hatte keine Lust, dazustehen, angeguckt und beurteilt zu werden. Ich hatte Lust, ich zu sein und mich auf einen Weg zu begeben, den ich noch nicht kenne. Ich kannte mich nicht mit Weinen aus. Du hast in meinem Text gelesen, dass ich eine Leidenschaft dafür entwickelt habe. Das hat mich auf eine neue Ebene gebracht. Ich konnte das jetzt an der Schule ausprobieren. Ich wusste, ich komme dann vermutlich an ein Stadttheater, und dort ist es mit diesem freien Produzieren erstmal vorbei. Irgendwie »scheißt« mich das an, aber irgendwie suche ich es auch gerade … Ich wollte also etwas fernab vom »Theater«, was aber im weitesten Sinne doch theatralisch funktioniert. In meinem Projektantrag hatte ich einige Performanceideen vorgeschlagen, aber nur, weil ich Angst hatte, dass es sonst nicht als Schauspielprojekt durchgehen könnte. Aber eigentlich wusste ich von Anfang an, dass ich Räume kreieren und keine Performances will. Ich wollte Räume und Weine, die ganz für sich sprechen dürfen. Diese Freiheit und diese Authentizität musste ich mir schaffen. Ohne die Angst, jemand könnte etwas gegen das Projekt sagen.

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FS: In jedem Raum gab es jemanden, der zum Raum gehörte. Wer waren deine Mitstreiter? TB: Ich habe das Glück, einen tollen und künstlerisch begabten Freundeskreis zu haben. Eine Freundin studiert gerade Szenografie in Zürich. Sie war eine Woche da und hat mir beim Bauen und Basteln geholfen. Dann habe ich einen guten Freund, der ist Sounddesigner und studiert Fine Arts an der HKB. Er hat die Musik produziert. Ein weiterer Freund ist Kameramann. Er hat die Videoaufnahmen gemacht. Eine andere Freundin hat gerade Modedesign abgeschlossen. Sie saß im weißen Kostüm in diesem kalten Raum beim »Ladiv«. Auch alle anderen studieren Modedesign und haben bei der Einkleidung geholfen. FS: Das sind die, die bei Nils Amadeus Lange in Basel an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Erfahrungen gemacht haben? TB: Ja. Ich war gerade bei der Show am Samstag, die Nils betreut hat. Und dann gab es noch so viele andere tolle Menschen, die mir geholfen haben. Da bin ich sehr dankbar! FS: Ich hatte den Eindruck eines Ensembles, in dem wirklich jeder involviert war. TB: Vor jedem Raum sollte es eine Betreuungsperson geben. Wir sind gemeinsam durch alle Räume gegangen, haben über den Inhalt, die Kostüme und ihre Aufgaben geredet. Sie waren performativer Teil des jeweiligen Raumes. FS: Sie gaben der Präsentation einen geschlossenen Charakter. TB: Genau. Ich wollte beispielsweise auch keine bekannte Person von unserer Schule dabeihaben. Es hätte alles entzaubert. FS: »Beim Wein sag lieber Nein, es könnte gefährlich sein.« TB: Wo habe ich das geschrieben? FS: Das ist ein Zitat aus deiner Thesis. TB: Das sagt man doch so. Oder? Alkohol. Ab 16 darfst du Bier und Wein trinken, ab 18 harten Alkohol. Es ist eine Droge. Es gibt einen Rausch. FS: »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins« braucht einen leichten Rausch? TB: Manchmal. Glaube ich. Schon immer. Wenn du in der Geschichte zurückgehst, berauschen sich alle. Irgendwie. Aber Rausch entsteht ja nicht nur in Kombination mit Alkohol und Drogen. Dieser kann auch durch Emotionen in Fahrt kommen. FS: Mit Sex oder Wein … TB: … oder als Kind. FS: Für dieses Projekt war es sicher nicht unwesentlich, dass du im Theater gut unterwegs bist. Du hast dir diese Freiheit selbst erspielt.

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Ich behaupte, dass so eine Idee in das Konzept eines jeden Theaters passen könnte. TB: Ja, man muss sich einfach nur trauen und ein Angebot machen. FS: In deiner hervorragenden Masterthesis-Auswertung schreibst du: »Ich habe versucht, eine Parallelwelt zwischen Mund, Nase, Raum und Geschichten zu kreieren und ich behaupte, dies erreicht zu haben. Ich hatte eine riesengroße Freude an den Ergebnissen und bin stolz auf meine Umsetzungen.« TB: Ich wollte ein insgesamt funktionierendes Ding machen. Also der Wein hätte auch Schokolade sein können, Käse oder Brot. Ich wünsche mir, dass der Mensch nicht nur als Betrachter und Konsument auf dieser Erde ist, sondern sich mit ihr und den kleinen, aber wichtigen Dingen verbindet und sich auf Augenhöhe auf eine Beziehung einlässt. Dafür muss er der Welt und ihren Wundern offen begegnen und sie persönlich kennenlernen. Ich wollte ein verbindendes Erlebnis schaffen. FS: Und über dieses Gefühl und diese Räume … TB: … passiert vielleicht ein »Stehendes Jetzt«.

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Nackt Katharina Schmidt, Niken Dewers und Lena ­Perleth im Gespräch über ihr Studierendenprojekt drei Stühle / drei Frauen / eine Vagina-Künstlerin / wähle eine Seite in ihrem Tagebuch / Tassel-Twirl-Tanz mit Nippelquasten / lauschen wir dem Orgasmus der Frau, die vor uns steht? / sie wachst sich den Intimbereich / sie zieht langsam ein langes Samtkleid aus / ich bin schön und dadurch privilegiert / das Essen einer Papaya ist Erotik / sie tanzt nackt und findet zu ihrem Körper zurück / nackt im öffentlichen Raum / familiäre und kulturelle Prägungen Frank Schubert: Bei den Treffen der deutschsprachigen Schauspielschulen kann man darauf warten, dass sich die Studierenden auf der Bühne ausziehen. Das scheint ein großes Bedürfnis zu sein. Ihr habt euch entschlossen, es vertieft zu beleuchten. Lena Perleth: Irgendwann wird eventuell von mir erwartet werden, dass ich nackt auf der Bühne stehe. Das war bei mir im Hinterkopf. Und ich war neugierig. Wie gehe ich damit um? Darin liegt auch ein Reiz. Niken Dewers: Es stand für mich nicht um Vordergrund, dass ich da körperlich nackt sein werde. Es war für mich nicht das Bedürfnis. Ich wollte etwas zum Thema Körper machen. Katharina Schmidt: Der Sinn des Projekts war nicht, dass am Schluss eine Performance herauskommt. In meinem Projektantrag ging es mir darum, einen Lernraum zu schaffen, um meine Grenzen austesten zu können. Ich spürte, ich kann lange darüber nachdenken, aber ob es eine Grenze ist, werde ich erst wissen, wenn ich es gemacht habe. Ich wollte an dieser Schule die Gelegenheit mit Leuten nutzen, denen ich vertraue. Ich wusste, es wird keine schlimmen Folgen haben, wenn ich zu weit gehe, und ich kann alles in aller Ruhe verarbeiten. Nachdem wir mehrere Tage nackt getanzt und uns immer wieder einander gezeigt haben, war das erste Bedürfnis aber befriedigt. Es war dann keine Grenze mehr, die es zu überschreiten galt. Es ging gleich weiter. Sich auszuziehen ist gar nicht so schlimm. Es gibt sehr viel schwierigere Sachen. Und das ist für jeden wahnsinnig unterschiedlich. Ein Betrachter kann gar nicht abschätzen, was für mich besonders schwierig ist. Es war viel schwieriger, vor Leuten meinen Orgasmus als Tonkonserve abzuspielen. Sowas. Was macht das mit mir? Es ging dann um die Frage: Weshalb? Warum ist das so schwierig? Wo

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liegt eigentlich das Problem? Ist es die Art und Weise, wie wir aufgewachsen sind? Sind das Ängste, die gar nicht uns gehören? Wir haben viel ausprobiert, nur um zu sehen, was es mit uns macht. Was ist eigentlich sexy? Ich probierte, sexy zu sein. Da hat man ganz schnell gemerkt, Klischees funktionieren gar nicht. ND: Ich hatte früher immer die Wunschvorstellung, an einer Kunsthochschule meinen Körper als Werkzeug benutzen zu können. In unserer Arbeit war der Blick auf den weiblichen Körper ein starkes Thema. Das ist einfach was anderes als der Blick auf den nackten männlichen Körper. Es war die Frage, wie kann man die Sexualisierung aufheben, wegnehmen. Und wollen wir das überhaupt? Macht man sich nicht auch was vor, wenn man sagt, das ist nur mein Körper und das ist jetzt gar nicht erotisch. Was ist erotisch? Geht es für mich, nackt auf der Bühne zu sein und mich nicht als Sexobjekt betrachtet zu fühlen? Ich hatte den großen Wunsch, das herauszufinden. Man hat nicht so viel Einfluss darauf, wie Leute schauen. Und ein nackter Körper ist ein nackter Körper. Man muss sich von der Frage befreien, wie ich bewertet werde. KS: Die Betrachtung von außen und die Bewertungen, die wir schon längst in uns manifestiert haben und von denen wir uns lösen müssen. Im Nachhinein war das das Thema, an dem wir uns ständig abgearbeitet haben. FS: Was meinst du für Bewertungen? KS: Ich möchte nicht sexualisiert werden, wenn ich mich gerade selber nicht sexy finde. So. Das ist schon mal so eine Sache. Wenn ich nackt auf der Bühne stehe, und ich fühle mich nicht sexy, und ich will auch nicht sexy sein, dann will ich ja auch nicht sexualisiert werden. Wir haben aber gemerkt, das ist nicht ganz so einfach. Man kann niemandem verbieten, dich zu sexualisieren. Man weiß ja auch nicht, ob jemand total darauf abfährt, wenn man ein Nonnenkostüm anzieht. Über Folgendes muss ich mir klar werden: Das bin ich. Das sind meine Grenzen. Das ist mein Raum. Das ist das Publikum. Alles andere kann ich nicht beeinflussen. ND: Für mich war es am Ende auch ein sehr befreiendes Gefühl, ganz nackt zu sein. Ich habe mich stark darin gefühlt. In einem figurbetonten Kleid und in hohen Schuhen hätte ich mich vielleicht viel verletzlicher gefühlt. LP: Wenn man ganz nackt ist … ND: … ist das auch entwaffnend. LP: Es hat kein Geheimnis mehr. Wir hatten so eine Übung von Regine Fritschi, unserer Mentorin, bei der wir die Zuschauer verführen

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sollten. Ich war merkwürdig berührt. Na ja … Ich will das Publikum verführen. Das war diese persönliche Nacktheit. Was zeige ich von mir, wenn alle dasitzen und denken: Das soll jetzt sexy sein? KS: Du bist noch sehr viel nackter, wenn du merkst, es springt jetzt wirklich niemand drauf an. Megapeinlich! Wir haben manchmal zu Liedern gesungen. Es ist so viel peinlicher und nackter, wenn du etwas zu einem Song performen musst und den Text nicht kannst. LP: Wir haben auf dem Weg aber vieles ausprobiert, von dem mir klar war, dass ich das auf der Bühne nicht machen will. Katha, du hast aus deinen Tagebüchern gelesen. Das habe ich auch ausprobiert … aber … nein … das wäre mir einfach … nein. Wir haben viele persönliche Erfahrungen gemacht. Für mich gab es zwei wichtige Aspekte: unsere eigenen Erfahrungen und etwas Gutes auf der Bühne zu zeigen. Die beiden Aspekte hatten zuerst nichts miteinander zu tun. KS: Wir haben im Probenprozess gemerkt, was für uns besonders kritisch ist. Wir haben auch gemerkt, was wir brauchen. Hier brauche ich noch einen Schutz, da brauche ich Regeln und hier werden meine Grenzen einfach zu weit überschritten. Das mache ich dann nicht. Das, was am Schluss gezeigt wurde, war nicht pur. Das war kein öffentliches Selbstentdecken. Es war durchdacht. Und zwar genau mit den Erkenntnissen, die wir auf dem Weg gemacht haben. Es ging auch darum, wie ich mich auf der Bühne schützen kann. Wie ich meine Grenzen trotz allem bewahren und mit ihnen umgehen kann. FS: Es war sicher wichtig, dass es ein Ergebnis zu sehen gab. Und es war ein Glücksfall für die Diskussion innerhalb eines Ausbildungsprozesses. Was ihr gezeigt habt, war größer als ihr selbst. Ich behaupte, ihr habt einen Emanzipationsprozess deutlich gemacht, ohne ihn in Worte fassen zu müssen. Das ist nicht so leicht. Klar. Und ihr habt damit auch provoziert. LP: Ich behaupte, wir haben in allen Geschichten viel mehr als nur Nacktheit erzählt. ND: Es ging nicht darum einzuklagen, mein Körper gehört mir, sondern es einfach zu leben. Diesen Schritt konnten wir auch dank der Schritte anderer Frauen vor uns gehen. Wir müssen uns nicht mehr so radikal und hart in die Selbstbehauptung stellen. Wir können uns das Recht einfach nehmen und von ihm Gebrauch machen. KS: Gerade eben habe ich gemerkt, dass unsere Performance hochgradig feministisch war. Es ging ja darum, dass der Mensch einfach ein Mensch ist. Es gibt nichts zu bevorzugen oder zu unterdrücken. Und gleichzeitig ist jeder Mensch ein Mensch mit Bedürfnissen, Instinkten und einem Sexualtrieb. Das kann man nicht einfach weg-

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demonstrieren. Die ganzen Themen, die gesellschaftlich und politisch im Raum stehen, haben wir ständig diskutiert. Das auf der Bühne praktisch in Bilder zu fassen ist dann was ganz anderes. Kann ich auf der Bühne einfach ich sein? Ist das überhaupt möglich? Deshalb hatte ich zum Beispiel mal die Idee, nackt ein Tier zu spielen. Ist es möglich, wirklich nur das Tier zu sehen? Wir haben Tiere entdeckt, da fiel es leicht, einfach nur ein Tier zu sehen: Huhn, Affe, Hase, Schaf … Ein Hund hatte merkwürdigerweise etwas sexuell Aufgeladenes. Es stellt sich eine hin und sagt, ich muss nicht meine Beine rasieren, ich habe Haare. Und dann kommt jemand und sagt, ja gut, aber vielleicht willst du ja deine Beine rasieren. Bist du dann weniger eine Frau? Es geht nicht darum, eine Seite zu wählen. Wir SIND einfach. ND: Durch die offene Form hatten wir auch mehr Chancen, ans Publikum ranzukommen. Dadurch hat eine Sensibilisierung stattgefunden. Es war eher ein Sinneschärfen. Wie wir den nackten Körper sehen, spiegelt so viel. Es strahlt in alle Lebensbereiche aus. KS: Du liest ein Buch, du liebst dieses Buch und sagst den Leuten einfach, lies dieses Buch. Du verteidigst es nicht. Wir haben unsere Bücher und unsere Quellen offengelegt. Wir haben im gewissen Sinne auch ausgenutzt, dass das Publikum uns ausgeliefert war. Sie konnten sich kaum entziehen und danach hatten sie den Salat. Den Rest müsst ihr allein klären. LP: Ja, viele meinten, hinterher wäre eine Gesprächsrunde gut gewesen. KS: In einer Gesprächsrunde fragen die doch nur: Ist diese Audiodatei mit dem Orgasmus wirklich echt? Ist das wirklich dein Tagebuch? Darum geht es doch nicht. Die Leute haben angefangen zu diskutieren. Das glaubt man gar nicht. Das ist toll. FS: Ihr sagt, dass sich die konkrete Arbeitsweise erst im Arbeitsprozess entwickelt hat. Wie kann ich mir das vorstellen? KS: Ich habe mich nicht von anderen inspirieren lassen. Ich hatte eine Idee, habe überlegt, wie ich das machen kann, und habe das dann gezeigt. Unsere Experimente liefen immer gleich ab: Jemand zeigte etwas, erzählte dann, wie man sich dabei gefühlt hat, und dann gab es Feedback von außen. Wir konnten den Abgleich machen und es entstanden neue Ideen, die wieder neue Diskussionen entfachten. Darüber entstand ein Prozess. Was habe ich eigentlich gemacht? Wie wirkt das? Wie wirke ich auf der Bühne? Ich hatte jeden Tag diesen unerbittlichen Spiegel vor mir. So, als würde ich mich selbst jeden Tag aufnehmen und mir danach das Video angucken. Davor haben viele wahnsinnig

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Angst. Ich habe diese theatralen Elemente gesammelt und jedem in der Gruppe zur Verfügung gestellt. Das wurde dann zu Allgemeingut. Jeder konnte darüber reden. Es gehörte plötzlich der Gruppe. FS: Wie weit hat euch die Meinung eurer Partnerinnen beeinflusst? KS: Wenn etwas toll beschrieben wurde und man wollte es dennoch nicht zeigen, dann wurde es nicht gezeigt. Jeder war dafür selbst verantwortlich. FS: War das immer so klar? Lob beeinflusst doch sehr. Oder? ND: Na ja, die Dinge, die ich eingebracht habe, war ich auch ­bereit zu zeigen. FS: Manchmal ist es schwieriger, etwas anzuschauen und zu beurteilen. ND: Ja, manchmal war ich skeptisch, habe es dann aber durch den Kontext verstanden. Zum Beispiel der Tanz mit den Nippelquasten. Den habt ihr immer zu zweit gemacht. Ich habe immer gedacht, warum machen wir das? Im konkreten Kontext dachte ich dann, so ein tolles Element! Da will ich unbedingt dabei sein. Es war für mich immer die Frage, ob eine Geschichte wirklich zu etwas führt. Aber es gab keine Geschichte, von der ich grundsätzlich gesagt hätte, das mache ich nicht. KS: Wir haben uns drei Wochen Zeit genommen, nur um zu experimentieren. Wir haben uns gegenseitig viel gezeigt, haben komische Videos angeguckt oder nackt Lieder gesungen. Nach drei Wochen, in einer der ersten Proben auf der Hauptbühne, haben wir alles, was wir hatten, nochmal ausprobiert. Einfach alles. Dann hat man gesehen, dies funktioniert in dem großen Raum, oder nein, das funktioniert nur in einem kleinen Raum, oder nein, das will ich nicht zeigen. Manchmal haben wir die Abfolge der Geschichten ausgewürfelt. Wir haben ganz zufällige Folgen durchgespielt. Dadurch waren Geschichten, die wir am Anfang vermuteten, plötzlich am Schluss und umgekehrt. FS: Ihr habt wirklich gewürfelt? KS: Ja. Wir hatten einen Tag, da haben wir vier Durchläufe gemacht. Jeder von uns hatte eine Reihenfolge gewürfelt. Die letzten zwei Wochen haben wir nur noch geprobt. LP: Ich war zu diesem Zeitpunkt relativ entspannt, weil ich wusste, wir haben die Elemente. Wenn wir jetzt nicht die optimale Reihenfolge finden, dann hängen wir einfach alles irgendwie aneinander und zeigen das. Es wird stimmen.

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FS: Ihr habt einfach gemacht. Ich mache oft die Beobachtung, dass Studierende in den Unterrichten zuerst einmal die Sinnfrage stellen und reden wollen. LP: Ja, bei uns war das nicht so. Nie. Es lag an der Atmosphäre. Ich habe auch viel unvorbereitet gemacht. Mein »Body-Function 2«, woraus dann dieses Vaginamalen entstanden ist, hatte ich mir vorher mal überlegt. An einem Tag hatte ich nichts anderes zu zeigen und dann habe ich das eben gemacht. Es musste alles erstmal keinen Sinn erfüllen oder etwas aussagen. Ich war mir auch sicher, dass hinterher nicht alles gleich totgeredet wird. Du konntest auch jeden Bullshit machen. KS: Du hast nie Bullshit gemacht. LP: Also, mein »Body-Function 2« … KS: … war hochgradig interessant und toll! LP: Na ja, ich habe nur versucht, Funktionen meiner Vagina aufzuzeigen, woraus dann das Malen entstanden ist. Ich hatte drei Sachen. Ich habe Möhrensalat geraspelt … KS: … und die Möhre war zu groß. Dann mit einem Besen … LP: Das war kompletter Bullshit. Ich habe zu Hause, nachts um halb zwölf, probiert, ob es funktioniert und … es war nichts. Aber dann haben wir weitergearbeitet. KS: Manchmal wusstest du nicht, wie etwas gehen soll. Dann hast du irgendwas geredet, damit die Zeit überbrückt wird. Und genau das waren fast die interessantesten Momente. Da warst du besonders nackt. Man gerät eben schnell in Sachen, über die man keine Kontrolle mehr hat. Das war großartig. Ganz toll! LP: Im Szenenunterricht habe ich jetzt oft das Gefühl, dass Dozierende gegen dieses Prinzip arbeiten. Sie sagen, mach was, biete was an, probiere aus und unterbrechen dich nach jedem Satz. KS: Oder es wird immer gleich alles bewertet. LP: Dadurch lernst du Technik. Auch gut. Das ist aber kein Arbeiten, wo ich voll loslassen kann. ND: Im Projekt habe ich mich wendig und frei gefühlt. Wie ein Fisch im Wasser, der überall langschwimmen konnte. FS: Gibt es etwas, worauf ihr in der Arbeit konkret aufbauen konntet? KS: Regine Fritschi und ich hatten ja im gewissen Sinne einen Vorlauf. Im Sommer letzten Jahres habe ich mit ihr ein kleines Projekt für ein Stipendienvorsprechen erarbeitet. Ich hatte im Bewegungsunterricht die Idee für ein Tanzprojekt. Ich wollte mich auf sehr körperliche Weise mit meinem Vater auseinandersetzen. Ich habe ein Gespräch mit ihm aufgezeichnet und mich dazu bewegt. Damit bin ich zu

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Regine gegangen. Wir saßen zusammen und fragten uns, was wir jetzt damit machen. Dann gab es ein ganz freies Mach mal! Was macht es mit dir? Fühl mal. Es war einfach ein Ausprobieren. Ein Entwickeln. Diesen Vorlauf hatte ich für Nackt. FS: Auf dem »heißen Sofa« warst du noch sehr unkonkret in deinen Absichten. KS: Ich wusste, es wird nicht ganz einfach. Ich habe von mir und meinen künstlerischen Bedürfnissen erzählt und darauf gehofft, dass sich Leute finden, die das Thema auch beschäftigt. Ich hätte eigentlich auch gern einen Mann dabeigehabt. Ich habe dann Regine als Mentorin bekommen und die Besetzung mit drei Frauen hat zu einer Reise geführt, die ich mir nicht hätte ausdenken können. FS: Wie seid ihr zum Projekt gestoßen? LP: Katharina hatte mir schon vor dem »heißen Sofa« von der Idee erzählt und ich hatte mich schon mit ähnlichen Themen befasst. ND: Ich redete früher mal mit irgendjemandem über das Thema Nacktheit. Dann hörte ich von Katharinas Projekt und sprach sie an. Das war noch vor dem »heißen Sofa«, bei irgendeinem Abendessen. Ich hatte schon in Hannover sowas wie biografisches Theater gemacht. Da hatte ich auch die Beziehung zu meinem Vater thematisiert. Es ging um das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen. Mein Vater lebt in Indonesien, und seit dem 9. Lebensjahr bin ich ohne ihn aufgewachsen. Das habe ich da verarbeitet. LP: Wir haben sehr persönlich gearbeitet. KS: Extrem! LP: Auch in den letzten Arbeiten im Studium ging es verstärkt darum, persönliche Sachen mit in die Arbeit zu nehmen. Ich weiß, ich brauche für diese Vorgänge die klare Trennung zwischen Bühne und Nicht-Bühne. Das ist ja nicht schwierig. Wir hatten Scheinwerfer. Die haben wir angemacht, und das war dann die Bühne. So einfach funktionierte das. Dann konntest du deine tiefsten Geheimnisse erzählen. Es ging nie um privaten Kram. Regine war als Mentorin total professionell. Sie sagte ganz klar, warum etwas interessant war, oder warum etwas nicht funktionierte. Wir haben uns auch einen Unterbau aus Gesprächen, Themen, Büchern und Filmen, Wirkungsweisen und zig Beispielen geschaffen. Es war ja nicht so, dass wir nur »gemacht« ­hätten. ND: Ne, aber wir hatten dieses Prinzip des »Hinwerfens«. Es gab einen hohen Auswurf von Möglichkeiten, an dem nicht rumgefeilt wurde. Alles wurde zwar professionell beschrieben, aber nie eingreifend.

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FS: Im Programm mischen und ergänzen sich die unterschiedlichsten Bilder. Dieser Tanz mit diesen kleinen Quasten beispiels­ weise … LP: Du meinst den Tassel-Twirl-Tanz mit den Nippelquasten. FS: So heißen die? Also dieser Tanz war an sich eine lustige Nummer. Sehr einfach. Doch anschließend konfrontiert ihr euch sofort wieder auf ganz andere Weise mit euch selbst. Katharina spielt ihren Orgasmus ein. Dabei steht sie frontal vor dem Publikum und stellt sich dem Augenblick. Mehr passiert nicht, aber das Lachen erstirbt im Publikum. In solchen Momenten begreift jeder, hier wird das Grundthema ausgelotet. Nackter ging es nicht. Ihr zelebriert dafür auch Alltagshandlungen. Den Vorgang des Rasierens beispielsweise. Mit Wachs? ND: Zucker. FS: Es bleibt auf der Bühne formal die Alltagshandlung. Die Nummer wird nicht theatralisch aufgewertet. Du rasierst dich einfach. Im Umgang mit euren Körpern schafft ihr ein verblüffendes Spiel mit gesellschaftlichen Normen und kreiert daraus mitunter auch skurrile Momente. Man darf nicht nackt in die Öffentlichkeit, also klebt ihr ein bisschen Gaffatape auf die heikelsten Körperstellen und setzt euch ganz selbstverständlich ins Publikum. Später erlebe ich Familiengeschichten, weiß aber nie, was davon wahr oder nicht wahr ist. Sie werden sogar ganz nebenbei zu einem Stück Kulturgeschichte. Es wird nichts versteckt, oder vorgegaukelt, aber man bleibt als Zuschauer immer verunsichert. Jedes Bild reißt im Kontext komplexe Themen an, ohne selbst kompliziert zu werden. Ihr arbeitet grundsätzlich selbstreferenziell und habt eine astreine performative Spielweise gefunden. War das ein erklärtes Ziel von euch? LP: Wir waren alle im Performancekurs von Nils Amadeus Lange. Der Kurs hat für mich ganz neue Räume aufgemacht. Möglichkeiten, an die ich vorher nie dachte. KS: Bei Nils war mir die Übung neu, einfach auf die Bühne zu gehen und was zu machen. Punkt. Das war es eigentlich. Hingehen. Ohne Vorbereitung. Machen. Was gerade in diesem Augenblick passiert. So, wie es kommt. Irgendwann begriff ich, dass in einem Punkt das Theater der Kunst hinterherhinkt: In der Bildenden Kunst muss ein Bild schon längst nicht mehr »verstanden« werden. Theater ist noch nicht ganz so weit. Das habe ich bei Nils begriffen. Ich mache etwas. Das ist ein Wert. FS: Na ja. Da entsteht natürlich die Frage nach der Qualität. Wenn ich auf deine Vaginabilder zurückkomme, Lena, dann ist die Aktion die eine Sache, Gewicht bekommt der ganze Vorgang aber da-

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durch, dass diese Bilder tatsächlich gut sind. Es entstehen vor meinen Augen Porträts. Es bleibt also nicht bei der Überraschung, dass du mit einem Pinsel in der Vagina malst. Das Ziel der Szene ist, ein Porträt zu schaffen. Und genau dieses Ziel wurde auf ungewöhnliche Weise erreicht. Das muss man können. Es bleibt nicht beim Mut oder der Provokation. KS: Ja. Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte die Nummer es sicher auch nicht ins Programm geschafft. Die Frage ist doch immer, ob etwas auch nach dem sechsten Versuch noch etwas erzählt. ND: Es war diese Hingabe, mit der Lena den Vorgang professionalisiert hat. Sie ist mit dieser Art des Malens ja nicht auf die Welt gekommen. KS: Wir fragten uns immer, inwiefern bin das jetzt wirklich ICH. Es ist persönlich. Ich bin damit verbunden, und es bedeutet mir etwas. Vielleicht ist es das, was bei uns am meisten mit dem Performativen zu tun hat. FS: Ich sehe, dass ihr auf der Bühne alles im Griff habt. Zumindest scheinbar. ND: In meinem Tanz mache ich tatsächlich immer etwas anderes, und dennoch bleibt es genau dieser Tanz. FS: Ich unterstelle dir aber, dass du tanzen kannst. Die Nummer ist professionell. Man spürt in jedem Detail die tänzerische Vorbildung. ND: Ich kann keine Choreografien tanzen. Ich habe Karate gemacht und Capoeira. Ich habe keine tänzerische Vorbildung. Ich habe schon mehrmals auf der Bühne getanzt, denke dabei aber nie ans Tanzen. Ich weiß einfach, wo ich mit dem Körper langwill. Dann gehe ich da lang. FS: Das verlangt ein hohes Maß an Selbst-Bewusstsein. Das ist eine andere Art von Handwerksaneignung. Man verwechselt ja oft Handwerk mit einem Kochrezept. KS: Ich habe mich in meinem letzten Szenenstudium mit Elektra auseinandergesetzt und begriffen, was Handwerk eigentlich ist. Ich muss mich so vorbereiten, dass ich mir im Moment des Handelns keine Sorgen mehr darüber machen muss, was ich mit dem Raum anstelle und was ich mit meiner Stimme mache. Ich konnte nur noch als Elektra handeln. FS: Seid ihr nach dieser Projektarbeit besser auf zukünftige Aufgaben vorbereitet? KS: Ja. LP: Teils, teils. Ich brauche einfach eine sehr vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre.

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ND: Mir hat diese Arbeit schon viel Selbstbewusstsein gegeben. Ich bin befreiter. Ich hatte jetzt nochmal eine Situation, wo ich nackt auf der Bühne war. Es hat sich in mir so ein Gefühl etabliert, dass ich meinen Körper auch vor anderen Menschen so bewohne, wie ich ihn zu Hause in meinem Zimmer bewohne. FS: In vielen Theaterhäusern findet man nicht immer eine so vertrauensvolle Atmosphäre, wie man sie sich für die Theaterarbeit wünscht. LP: Man muss diesen Raum und die Geborgenheit in sich selbst finden. Zurzeit könnte ich das noch nicht. KS: Ich fühle mich besser vorbereitet. Ja. Ich habe mich in dieser Arbeit sehr viel besser kennengelernt und kann besser einschätzen, was mir zu weit geht und was nicht. Ich habe auch begriffen, wie wichtig Raum zur Reflexion ist. FS: Ihr geht mit hochsensiblem autobiografischem Material um. Der Transfer auf die Bühne ist dann ein durchaus komplizierter ­Prozess. LP: Wir hatten mit Regine Fritschi auch eine sehr gute Dozentin an der Seite. KS: Ich wollte Regine, weil sie eine tolle Schatzmeisterin ist. Man kommt mit dem, was man hat, zeigt ihr, was man ist, sie nimmt das alles an, sie bewertet nichts, sie bewahrt es auf. Sie erzählt nur, wie es auf sie wirkt, und du kannst dir sicher sein, dass sie davon nichts preisgibt. LP: Sie hat diese Ahnung. Was funktioniert und was nicht? Ich hatte Vertrauen in ihre Beschreibungen. Wir haben einen Haufen Wolle hingelegt und sie hat die Fäden gezogen. ND: Aber erst ab einem bestimmten Zeitpunkt. Es wurde lange alles hingeworfen und sie rief immer: Toll, toll, toll! Und dann kam plötzlich der Punkt, den kündigte sie auch an: Jetzt geht’s los. KS: Sie ist der beste Spiegel. Darüber bekommst du ein Gespür dafür, was du eigentlich machst und was deine Mittel sind. LP: Es hat mir viel gegeben, dass Regine eine Frau ist, die viel performt und auch viel nackt performt hat. Sie hat sich mit diesen Themen viel beschäftigt. ND: Es hat es leichter gemacht, bei sich anzukommen und bei sich zu bleiben. KS: Es ist auch wichtig, dass man zusammen essen geht und gemeinsame Erlebnisse hat. Wir haben das Studium im Grundlagenseminar mit dem Tisch begonnen. Das war exemplarisch. Gemeinsam kochen, essen, Leute einladen. Gastgeber sein. All das bereitet dich darauf vor, wie du eine Szene arbeiten oder ein Projekt aufziehen kannst.

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FS: Eine verschworene Gemeinschaft als Boden für Qualität? ND: Das funktioniert ja nicht so linear. Wir haben noch nicht erzählt, dass ich für zwei Wochen aus dem Projekt ausgestiegen bin und für mich allein gearbeitet habe. An einem Punkt kam ich nicht mehr damit klar, immer zu dritt zu arbeiten. Ich hatte Schwierigkeiten, mich auf dieses Alles-ist-Möglich einzulassen. Für mich selbst wusste ich schon, wo ich langmöchte, aber ich hatte das Gefühl, ich kann nicht an den Sachen dranbleiben, an denen ich gern arbeiten würde. Ich hatte einfach eine andere Stimmung und spürte, ich komme viel weiter, wenn ich mich in einem verschlossenen Raum darauf besinne, warum ich dieses Projekt so nötig finde. Ich habe in der Zeit viel geschrieben. KS: Und nach einer gewissen Zeit haben wir gesagt, übermorgen zeigen wir uns was. Bist du dabei? Und dann warst du dabei und hast gezeigt, was du in der Zeit gemacht hast. FS: Wie hast du in die Gruppe zurückgefunden? ND: Allein zu arbeiten war gut. Ich habe auch viel nachts gearbeitet. Ich habe mich da sehr frei gefühlt. Und das Zurückkommen war irgendwie … Ja, ich hatte das Gefühl, meine Sachen wurden verstanden. Da war es für mich dann sehr leicht, mich der Gruppe wieder anzuschließen. Ich konnte sehen, dass alles zusammenkommen kann. LP: Wir alle drei mussten uns dann erstmal neu definieren. Das hat Tiefe gebracht. ND: Wir waren eine vertraute Gemeinschaft, in der jeder seine Individualität bewahrt hat. KS: Aber am Anfang stand dieses Thema. Das hat uns verbunden.

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AUSNAHME:ZUSTAND.komfortzonenkollisionen Philip Neuberger im Gespräch über sein ­Bachelor-Abschlussprojekt Ein Schauspieler / viele Personen / Eigen- und Fremdmaterial / vom Cartoon zur Maske / AUSNAHME:ZUSTAND / Guy-Fawkes-Masken / musikalische, tänzerische und textliche Zitate / statische versus ­dynamische Bilder / Fließtexte und Leerräume Frank Schubert: Ich beginne mit einem schönen Zitat von dir: »Wohin denn, wenn alle mir reinreden, mich / aus dem Reinen reden?« Ich habe dich zu diesem Gespräch eingeladen, weil ich und nicht nur ich dein Projekt zu den interessantesten Arbeiten der letzten Jahrgänge zähle, die Jury aber die schlechteste Note deines Jahrgangs vergab. Diese Diskrepanz zeigt ein Dilemma. Wir ringen jedes Jahr neu um verlässliche Bewertungskriterien. Was wäre geschehen, wenn du auf alle die gehört hättest, die dir reinreden wollten? Philip Neuberger: Ich bin hin- und hergerissen. In der Ausbildung suchte ich am Anfang händeringend nach einem Richtig oder Falsch. Ich habe mich während der Ausbildung oft dazu gezwungen, mich auf das, was andere sagen, einzulassen – selbst wenn ich eigentlich andere Vorstellungen hatte. Ich ging aber immer mit dem Vorsatz in die Arbeit, mich einzulassen und mitzunehmen, was ich mitnehmen kann. Man sucht ja auch nach Führung. Universum, du wachsender Teller in drei Dimensionen dich dehnend, du passt so schön in mein Modell, dass ich lieber nicht frag was dahinter. FS: Unsere Schule ist bekannt für die künstlerische Freiheit, die wir unseren Studierenden geben, die wir aber auch von den Studierenden verlangen und erwarten. Das ist der eine Punkt. Wir haben aber auch immer den Widerspruchsgeist unserer Studierenden herausgefordert. PN: Ich habe auch den Eindruck, dass das manchmal ein zweischneidiges Schwert ist: Gerade weil die Schule so viel Wert auf freies Denken, freies Mitdenken und eigene künstlerische Entfaltung legt, ist man sich manchmal eben auch ein bisschen zu cool für alles. Mich persönlich hat das nicht selten verunsichert. Eine gute, klare Anleitung

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kann auch etwas sehr Schönes sein. Gestern bin ich mit einer Freundin zum Yoga mitgegangen. Der Atemrhythmus war festgelegt und das Tempo war so hoch, dass ich einfach mitgerissen war. Obwohl ich seit Jahren kein Yoga gemacht hatte, konnte ich gut mithalten, eben weil ich in diesem Einfach-Machen-Modus war. Das habe ich an der Schule nicht oft genug erlebt. Trotzdem gab und gibt es immer wieder Trainings, wo die Stimmung einfach stimmt, wo eine sehr konzentrierte Atmosphäre aufkommt und keine Pausen entstehen. Da hinterfragst du nicht sofort, was du erlebst. Das waren meine wertvollsten Erfahrungen. Das merkt man aber vielleicht erst viel später. Wer hat eigentlich die Liebe erfunden welche Liebe meine Liebe nein die Liebe an sich die Liebe wie wir sie kennen […] wars vielleicht Hollywood die haben jedenfalls das […] mit dem Flugzeug erfunden dass man zwölfhundert Dollar für ein Ticket ausgibt um der Zeitlupenperson noch vor dem Abflug zu sagen ich liebe dich ich flieg auf dich ab damit die nicht abfliegt denn wenn die Zeitlupenperson auf die du abfliegst abfliegt ist die Liebe so wie wir sie kennen nicht möglich […] aber sind das Geschichten die das Leben schreibt oder verdrehte Ausgeburten von Drehbuchautoren die sich in unsere Lebensplanung einschreiben und wenn ja wenn nein ist das die Liebe so wie wir sie kennen? FS: Dein Projekt AUSNAHME:ZUSTAND lebt von dieser Atemlosigkeit. Von einer Fülle von Bildern. Weitermachen. Weiterdenken. Springen. Ich als Zuschauer bin gefordert. Ich spürte sehr schnell, dass ich meine eigene Fantasie mobilisieren muss, um die Bilder mit dir gemeinsam zu entwickeln. Für mich ist so ein Prozess ein Genuss. Ich kann aber auch gut verstehen, wenn das nicht alle aushalten, mehr »verstehen« wollen und nach mehr »Struktur« rufen, weil man bei den Sprüngen nicht mithalten kann. Da scheiden sich die Geister. Deshalb vorab die Verständnisfrage: Worum geht es in AUSNAHME:ZUSTAND.komfortzonenkollisionen? PN: Das Thema war das Verhältnis von Individuum und Masse. Das sind große Worte. Eventuell kann man auch sagen, es geht um das Verhältnis zwischen ICH und WIR, um Minderheit und Mehrheit. FS: Das Projekt basierte auf dem von dir geschriebenen Text camera obscura. Warum hast du ihn geschrieben? Wo kommt der her? PN: Ich habe vor etwa sechs Jahren die Situationsidee von diesem Aussteiger gehabt, der auszieht, um sich selber kennenzulernen. Ganz konkret hatte ich das Bild von jemandem, der in einem Camping­

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wagen im Nirgendwo sitzt. Ein bisschen wie Robinson Crusoe. Der Text war wie ein Logbuch. Er sitzt an einem Campingtisch. Gegenüber steht ein zweiter Stuhl, der eigentlich keinen Sinn hat, weil er allein ist. Er fängt dann an zu reden. Einfach so. Ins Blaue. Aber sprechen, ohne jemanden zu haben, mit dem man spricht, macht ja eigentlich keinen Sinn. Und dieser Sinnlosigkeit fällt er dann zum Opfer. Er erfindet sich jemanden auf dem leeren Stuhl und baut sogar eine sehr innige Beziehung zu der nicht existenten Figur auf. Am Ende merkt er, dass er dadurch an seinem Vorhaben, unabhängig zu sein, gescheitert ist. Er macht den Stuhl kaputt. Der Text hat einen krassen Weg genommen. Ich habe den Text immer mehr in eine Künstlichkeit getrieben. FS: Du schreibst in deiner Theoriearbeit, dass ein lyrischer Text rausgekommen ist, der philosophische Fragen stellt, ohne diese zu beantworten. Deine unterschiedlichen Figuren, die du spielst oder oft auch nur zitierst, stellen die Frage nach dem Künstler in der Gesellschaft. PN: Zum Beispiel. Ja. Das wäre die Ebene, die mich persönlich betrifft. Aber es ist eine generelle Frage. Wo verorte ich mich zwischen dem ICH, wie ich mich sehe, und meiner Umgebung. so denken muss ich sehe nicht ein dass ich einfach nur so denken will und deshalb so denke ich freu mich wenn ich nicht sagen muss dass ich so denke wie ich FS: Es gibt einen Satz in deinem Stück: »Wenn die Mehrheit bei uns immer Recht hat / wie das ja in einer Demokratie so sein sollte / Das haben wir uns so ausgesucht / Wieso sollte ich, einfach, alleine, es überhaupt erst versuchen?« Das beschreibt ein Debakel. Und du beschreibst es mit viel Humor. PN: Als ich den Text geschrieben hatte, war der Ausgangspunkt ein ganz konkretes Bild von jemandem, der aussteigt, um sich selbst zu finden, und daran scheitert. Das ist ja ein ewiges literarisches Motiv: Peer Gynt, das Märchen »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« … Es gibt so viele Geschichten. Das Scheitern war mir wichtig, die Einsicht, dass man sich nicht unabhängig von den anderen definieren kann. Das fand ich spannend in einer Gesellschaft, die so sehr auf Individualismus setzt, auf Selbstoptimierung und die Entfaltung der eigenen Bedürfnisse, die manchmal ja gar keine echten Bedürfnis-

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se sind. Das ist auch ein ganz persönliches Dilemma, in dem ich oft stecke. Gerade für einen Schauspieler ist es ja immer ein Thema: Bin ich drin oder schaue ich von außen drauf? Als Schreibender bin ich in einer totalen Außenposition. Und als Schauspieler finde ich es erforderlich, dass ich total drin bin. FS: Wer bin ich, wenn ich spiele? Das Problem zieht in deinem Projekt eine Spielweise nach sich, die, vom alten Brecht kommend, etwas mit Distanz zu tun hat und mit Elementen, die wir aus dem Fundus des postdramatischen Theaters kennen. Die Trennung von Spieler und Text beispielsweise. Du findest unterschiedliche Lösungen zwischen Demonstration und Hingabe. Das war ein erkennbarer Weg. War der Text vor Probenbeginn fertig? PN: Ja. FS: Der Text war fertig und dein Partner, der später ausstieg, brachte die Idee des Comics ein. PN: Genau. FS: War diese Idee von Anfang an eine fruchtbare Reibungsfläche? PN: Sie war auf jeden Fall ein großes Glück im Unglück, als ich am Schluss allein zurückblieb. Ich hatte schon im Projektantrag geschrieben, dass mich diese Idee aus meiner eigenen Gedankenwelt ein Stück weit herausholt. Ich habe dann viel recherchiert, viele Comics gelesen. Ich hatte mich vorher nie für Comics interessiert. Ihre Wirkungsweise ist interessant: In deinem Kopf entsteht ein bewegtes Bild, weil du zwei statische Bilder siehst, die nebeneinanderstehen. Ich fragte mich, wie ich die Illusion des Nebeneinanders schaffen kann. Allgegenwärtiger Himmel, der du im schlimmsten Fall erst dein Ende am Horizont findest, obwohl du doch dahinter fort existierst und los mich nicht lässt, mich verführst, in meinem Jenseits nach deinem Ende zu suchen und nur in Bahnen so rund wie die Erde zu irren bis nur der Weg mir als Ziel noch bleibt. FS: Aus einem der Texte, der dialogisch geschrieben war, wurde ein innerer Monolog. Julia Kiesler nannte deinen Umgang mit dem Text intervokale Sprechweise. Du hast im Probenprozess ganz klare spre-

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cherische und auch körperliche Zeichen gefunden. Du findest eine Form, die Klarheit über die inneren Prozesse schafft. PN: Lustigerweise war der Text, auf den du dich beziehst, ein Fließtext ohne Punkt und Komma und gar kein Dialog. Ich habe ihn erst in der sprecherischen Arbeit zum Dialog gemacht. FS: Für den dialogischen Effekt arbeitest du beispielsweise mit Masken. PN: Genau. Beispielsweise die Maske aus V wie Vendetta. Da gibt es ein historisches Vorbild. 1605 versuchte Guy Fawkes ein Attentat auf Jakob I. und das englische Parlament. Auf ihn geht die Maske zurück, die heute oft bei öffentlichen Protesten zitiert wird, etwa von Bürgerrechtsbewegungen wie Occupy Wall Street. FS: Du schickst die Leute in diesen Masken aus dem Raum. Dann stehen alle vereinheitlicht draußen, während du drinnen die Bühne umbaust. Ich stand auch in dieser Masse. Man empfindet sich mit dieser Maske auch anders. Man ist von sich entfremdet, schaut sich um und die Leute beginnen sich gegenseitig zu fotografieren. Drin beginnst du, zu Musik von Sia in einer Choreografie, die wir von Maddie Ziegler kennen, zu tanzen. Auch wieder Zitate. Du tobst dich in einem überbordenden Set total aus. Irgendwann werden die Leute wieder reingeholt, sie suchen die Plätze, setzen sich wieder und in dem Moment wechselst du komplett die Szene. Man fühlt sich ein wenig betrogen und kann nur ahnen, was man verpasst hat. PN: Ich brauchte eine homogene Gruppe. Und die Gruppe hatten wir ja. Das Publikum. Im Film V wie Vendetta verschwindet der Attentäter durch die Maskierung aller in der Masse. Er legt vor die Türen aller Bürger Londons ein Paket mit so einer Maske. Das ist die Einladung zum Widerstand. Und viele nehmen die Einladung an. Seine Identität breitet sich auf die gesamte Bevölkerung aus. Das ist ein tolles Bild. Vor meiner Maskenszene klagt ein Typ seine eigene Bequemlichkeit extrem militant an, danach geht es wieder um das Thema Mehrheit und Minderheit. Dazwischen steht das Publikum draußen und ich tanze drin zu Sias Lied, das sich der Schießerei in einem Schwulenclub in Orlando widmet. Es dreht sich um das unschuldige kindliche Tanzen an einem vermeintlich sicheren Ort. Im Video tanzen Kinder vor Wänden mit Einschusslöchern. Bei mir ist Blut am Boden. Es war ein politisches Zitat. Wie weiße Farbe, wenn heißes Blut auf gleißenden Grund tropft und versickert, verschmilzt und verrührt, weg ist der Punkt, rot auf gleißendem Grund,

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der Berührungspunkt, der Verrührungspunkt hat weg sich bewegt, ist des Wegs ineinander, gerührt vor Rührung verzückt, vor Verzückung verrückt FS: Du schließt uns als homogene Masse draußen aus und inszenierst dich selbst konsequent als Minderheit. Als Zuschauer begreife ich mich als Teil einer Versuchsanordnung. Auch die Textbehandlung ist interessant. Sprache ist fragmentiert, und im Fluss setzten sich col­ lageartig Gedanken zusammen, die die endgültige Form erst in meinem Kopf gewinnen. PN: Am Ende wollte ich die Texte nur noch zur Disposition stellen. Was du als formelle Setzung beschreibst, war eigentlich der Versuch, die Form fallen zu lassen. FS: Am Ende legst du einen blauen Mantel um, steigst auf eine Kiste und streckst die Faust in die Luft. Man weiß nicht so richtig, ob es der Rotfrontkämpfer oder Superman ist. So startest du mit »Ihr Kinder Kaspar Hausers« einen letzten Aufruf. Wie ernst meinst du den? PN: Lustigerweise sehr ernst. Für mich ist es das ganz eindeutige Plädoyer für das Miteinander. Der ewigen Suche nach sich selbst soll ein Gegenvorschlag gegenübergestellt werden. FS: Der kann dann auch Spaß machen in Pathos und etwas Kitsch. PN: Ja. Ganz viele Fragen an das ICH lösen sich auf, wenn man im WIR ist, weil dann ja auch Humor viel leichter fällt. FS: Muss man durch diesen ganzen westlichen Individualismus durch, um das einfache Wir-Gefühl wiederfinden zu können? PN: Es ist auf jeden Fall ein Aufruf zum Protest. Ob gegen einen übertriebenen Individualismus oder eine normative Mehrheitsgesellschaft, sei dahingestellt. FS: Und warum soll der nicht auch lustig sein? PN: Ja. Es sind ja auch zotige Parolen. Es sind doch schöne Bilder von Leuten, die ihre Schnürsenkel aus den Schuhen reißen und ihre Autos anzünden und die Gipfelkreuze aus den Bergen ziehen. Es sind am Ende lustige Visionen des Aufbruchs mit einem großen Pathos. FS: Es ist heute besonders, wenn jemand von der Lust erzählt, als Teil einer aufbrechenden Masse etwas bewegen zu wollen. PN: Das mag noch selten sein. Aber wir würden uns doch bescheißen, wenn wir nicht sagen würden, dass wir es suchen. Ich bin der Auffassung, dass in dem ganzen Social-Media-Zeug und dem Selbstoptimierungskram die große Sehnsucht nach Verbundenheit mit sich

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selbst, mit allen anderen und mit der Natur liegt. Es liegt nur im Moment unglaublich viel Glas darüber. Dadurch wird es so uferlos und man entwickelt so seltsame Süchte. Man sieht, da wäre eine Möglichkeit, da ist eine Verbundenheit und da ist so eine große Welt. Das Internet schafft ja ein Bild für unsere tatsächliche weltweite Vernetzung. Da kannst du aber immer nur über einen Bildschirm rein. Da ist immer Glas drüber. Wir suchen aber die wirkliche Verbundenheit. Die ist der Motor für diese seltsamen Verwirrungen und Verirrungen, die wir alle spüren. Und auch für den Suchtfaktor, den das Internet ausübt. Du suchst einen echten Menschen und findest ihn nicht. Darum scrollst du ewig weiter. FS: Ich glaube, man kann nachvollziehen, warum du für die theoretische Reflexion eine Bestnote bekommen hast. Warum gingen in der Praxis die Meinungen so weit auseinander? PN: Weil dieses Stück vielleicht nicht nur eine Person spielen sollte. Dadurch entsteht etwas Hermetisches. Ich bin allein auf der Bühne und spreche meinen Text in meiner Bildsprache. Es bleibt ja immer ein geschlossener Kreis. Aber ich habe auch das Gefühl, es gibt eine Erwartungshaltung an das Theater, die ich stark kritisiere: Es sollen Leute auf der Bühne stehen, die einem die Welt erklären. Mir gefällt der Kunstbegriff der amerikanischen Schriftstellerin Susan Sonntag, die sagt, dass Kunst etwas Erotisches hat, etwas Unmittelbares und Sinnliches, das man nicht wirklich in Worte fassen kann. Und Max Frisch sagt in seinen Vorlesungen »Schwarzes Quadrat«: »Kunst ist mehr als ein Anlass zur Interpretation.« Das interessiert mich. Mit meinen eigenen Worten würde ich sagen: Ich erwarte vom Zuschauer, dass er Sachen reinlesen kann und nicht alles rauslesen soll. FS: Ich glaube, ein solches Theaterbild steht in unserer Schule ganz oben auf der Agenda. Wir sehnen uns danach, von den Studierenden etwas zu bekommen, was wir selbst nicht sofort deuten können und mit dem wir uns tatsächlich auseinandersetzen müssen. Jetzt mag es immer auch geschmäcklerische und auch handwerkliche Fragen geben, aber wir werden von dir mit einer eigenen Sichtweise auf die Welt, mit einem provozierenden Text und auch einem formellen Kanon konfrontiert, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben. PN: »Unzugänglichkeit« war ein Kritikpunkt. FS: Ein Punkt war wesentlich für mich. Du hast eine Form gefunden, in der du bewusst eine Distanz zwischen dir und dem Stoff schaffst. Du hast also deine Gegenstände, ganz im Brecht’schen Sinne, zwischen mich und dich gestellt und zur Diskussion freigegeben. Und insgesamt habe ich mich auch noch bestens unterhalten gefühlt,

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weil ich es liebe, herausgefordert zu werden. Nicht alle Widersprüche müssen lösbar sein. Du hast die Geister, die wir mit unserer Ausbildungskonzeption riefen, lebendig werden lassen. Das sollte uns sehr gefallen. Ihr Kinder Kaspar Hausers, legt eure Kleider ab! Reißt die Schnürsenkel aus euren Schuhen! Verlasst eure Zimmer, verlasst eure Häuser! Geht, verlasst eure Städte, ihre asphaltierten Adern, die Kegel aus Licht eurer Straßenlaternen, den roten Dunst, der nachts pulsiert wie Schwellkörper! Springt über den Zaun, der den Wald draußen hält! Geht, gemeinsam, zerstecht eure Reifen und sprengt eure Autos! Geht und befreit euren offenen Himmel, reißt die Gipfelkreuze aus den Dächern der Welt!

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norway.today von Igor Bauersima Gabriel Noah Maurer, Leonie Sarah Kolhoff und Olivier Joel Günter im Gespräch über ihr ­Studierendenprojekt Gabriel Noah Maurer: Ich finde spannend, dass du unser Projekt für das Buch ausgewählt hast. Frank Schubert: Ihr habt euch auf ganz klassische und konservative Art einem fertigen Stück genähert. Auch das gehört ins relativ weite Spektrum unserer Schule. Gabriel, du hast auch dein persönliches Spektrum sehr weit gesteckt und bist auf den unterschiedlichsten künstlerischen Baustellen unterwegs. Du hast nun als Schauspielstudent norway.today von Igor Bauersima inszeniert. Das Stück gehört zum Standardmaterial für Vorsprechen, Szenenstudien und Monologe. GNM: Ich habe dazu zwei, drei negative Kommentare kassiert. Es war mir egal. Mehr muss ich nicht sagen. FS: Eventuell doch noch drei Sätze? GNM: Eigentlich wollte ich ein Bewegungsprojekt machen. Dann kam die Anregung für ein Regieprojekt durch einen älteren Kommilitonen, der ein solches Projekt gemacht hatte und das ich sehr beeindruckend fand. Ich habe dann beschlossen, etwas zu inszenieren. Ich wollte wissen, wie das ist, und hatte hier die Möglichkeit dazu. Ich wusste, ich kann als Schauspieler viel lernen, wenn ich mal auf der anderen Seite bin. Und norway.today habe ich gewählt, weil es mich schon immer interessierte. Das Stück liegt seit sieben oder acht Jahren auf meinem Nachttisch. Ich finde es hochaktuell und großartig geschrieben. FS: Das Interesse in der Studierendenschaft an diesem Projekt war sehr groß. Wie viele hatten sich eingeschrieben? GNM: Acht oder neun Leute. Es war das begehrteste Projekt in dieser Projektrunde. FS: Das heißt ja nichts weniger, als dass das Bedürfnis nach einer solchen Arbeit auch allgemein groß war. Warum habt ihr euch eingeschrieben? Woher kommt bei euch dieses Interesse? Leonie Sarah Kolhoff: Ich hatte das Bedürfnis, innerhalb der Projektlinie ein Stück von A bis Z zu spielen. Beim Grundlagenprojekt haben wir eigene Szenen auf Grundlage von klassischer Dramatik geschrieben, dann kam die Winterreise, die sehr musikalisch war, dann kam was total Komödiantisches, was an den Film angelehnt war, und

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dann habe ich überlegt, was ich noch brauche. Es war für mich auch wichtig, mit jemandem zu spielen, mit dem ich sonst nicht spielen kann. GNM: Ja, es war für mich auch ein Kriterium: zwei Leute aus unterschiedlichen Studienjahren. Die Möglichkeit der Durchmischung unterschiedlicher Jahrgänge in der Projektlinie finde ich großartig. FS: Olivier, du stehst noch am Anfang deiner Ausbildung und bist an einem ganz anderen Punkt als Leonie. Olivier Joel Günter: Ich wollte vor allem möglichst pures Handwerk. Und das möglichst schnell. Mit möglichst viel Bühnenzeit. Ich finde Projekte generell interessant, aber ich bin an dem Punkt, an dem ich meine Projekte eigentlich nicht von einem Inhalt aus wähle. Ich frage mich, was ich lernen und handwerklich-technisch mitnehmen kann. Ganz klassisch. Ich denke immer, Kunst kann man auch später noch machen. Es ist für mich kein Kunststudium, sondern ein Handwerksstudium. Ganz klar. Hier sah ich die Chance. Ich wusste, wenn ich mit älteren Kommilitonen arbeite, kann ich wahnsinnig viel lernen. Die sind schon weiter und durch vieles durch. Ganz frisch. Anders als bei den Dozierenden. Ich habe mich auch darüber gefreut, nicht in einer riesen Gruppe zu arbeiten. Und als Schweizer war für mich die Auseinandersetzung mit der deutschen Bühnensprache wichtig. Dafür wollte ich wirklich viel Bühnenzeit haben. Ich muss mehr arbeiten als andere, um die deutsche Sprache zu meiner emotionalen Sprache zu machen. FS: Nun denke ich, dass Kreativität auch handwerkliche Aspekte einschließt. LSK: Man muss den Zugang zur eigenen Kreativität finden. OJG: Ja. Das bietet dann auch Freiheit. Wenn du immer nur das Lernen in Gut und Richtig einteilst, geht vieles einfach langsamer. Mit gedanklicher Freiheit kommt man schneller zum Ziel. Ja. Stimmt schon. LSK: Und das auch schon innerhalb der Schule und nicht erst später. Fange ich erst nach der Ausbildung an, kreativ zu denken, beginne ich wieder von vorne. Die Frage ist doch, wie ich meine Kreativität im Ausbildungskontext entwickeln kann. FS: Ihr hattet gute Arbeitsbedingungen? LSK: Wir waren in der Probenphase ziemlich in unserer Blase, weil wir um einiges mehr proben konnten als die anderen Projekte. Wir mussten uns nicht die Bühne mit anderen teilen und haben meist direkt nach dem täglichen Morgentraining angefangen. Unser Sprecherzieher, Jürgen Wollweber, war auch ins Projekt involviert. Sprechen war kein Unterricht neben dem Projekt, so wie bei den anderen. Dann

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war es auf einmal 22 Uhr. Huch, wo ist die Zeit hin? Da waren die anderen schon längst weg. FS: Ihr habt die ersten zwei Arbeitswochen viel improvisiert. GNM: Die erste Woche waren wir vor allem am Tisch. In der zweiten Woche haben wir dann improvisiert. Zug um Zug oder mit Gegenständen, die die Figuren auf die Reise mitnehmen wollten. Es waren teilweise Improvisationen von über einer Stunde. Wir haben auch viel Grundlagenzeug gemacht. LSK: Langeweile aushalten. GNM: Über eine halbe Stunde durften sie nichts machen. Nur die Zeit aushalten. LSK: Oh, das war so schrecklich. – Und dann mussten wir erstmal eine Beziehung zueinander aufbauen. Wir brauchten ja eine gewisse Intimität. FS: Es ging in den Improvisationen also weniger darum, Spielmaterial zu generieren. GNM: Ja. Wir wollten Erfahrungen miteinander machen. Wichtig dabei ist allerdings, dass die Improvisationen aus den Figuren heraus entwickelt wurden. Alle Übungen, Spiele und Improvisationen hatten den Sinn, dass wir die Figuren über uns selbst kennenlernen. OJG: Nähe zulassen. Das war für mich eine größere Herausforderung als für die Figur. LSK: Es brauchte nur kleine Kommentare und Bemerkungen, um zu wissen, was wir tun können. Alles das, was wir in der Ausbildung gelernt haben. Die handwerklichen Sachen haben jetzt einfach gegriffen. Jakob Vonau, er ist Medienkünstler und war unser Bühnenbildner und Technischer Direktor, war dabei ein guter Spiegel. Er reflektierte alles, was wir machten. So hat er uns geholfen, das überhaupt wahrzunehmen. Wir hatten ja keine Distanz mehr zu diesen Sachen. GNM: Ich habe in unserer Arbeit natürlich auf ein Ergebnis hingearbeitet. Aber zwei Tage vor der Premiere spielte das Ergebnis für mich keine Rolle mehr. Das war für mich ein megaschöner Punkt und der war auch nur durch den Rahmen der Schule möglich. Hätten wir das Projekt am Ende gegen die Wand gefahren, klar, dann hätte es uns geärgert, aber es wäre nicht schlimm gewesen, denn die Lernkurve war sehr steil. Das hat viel Druck von uns genommen. FS: Zu den Rahmenbedingungen eines Projektes gehört immer auch ein Coach. LSK: Unser Coach, Lukas Bangerter, war vor allem Gabriels ­Regie-Mentor. Die Verabredung war, dass er uns Schauspieler nicht ­inszeniert.

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GNM: Er sagte nur mir, wie ich mit Leonie und Olivier arbeiten könnte. Und ich hatte immer die Entscheidung darüber, was ich den beiden weitergebe. FS: Das ist mitunter ein heikler Punkt. Vor allem in Krisensituationen. Die Anwesenheit eines Mentors als Co-Regisseur kann die Arbeit sehr beeinflussen. Wir haben ja auch keinen Regie-Studiengang. Solche Projekte sind eher die Ausnahme. OJG: Sie haben eigentlich immer nur zu zweit geredet. Wir waren nicht dabei. Erst am Ende bei den Durchlaufproben hat er auch uns Tipps gegeben. Die waren aber sehr zurückhaltend und beschränkten sich darauf, Gabriel zu unterstützen. Aber er war im Zuschauen immer sehr motivierend. GNM: Ich war kritischer als er. LSK: Ja. Warst du. GNM: Zu Beginn hat er mir eine Zeichnung gezeigt, wie sein Mentorat funktioniert. Da gab es ein Kästchen und das war er. Dann hat das Kästchen zu mir geführt. Ich war ein zweites Kästchen. Und mein Kästchen hat zu den beiden geführt. Andere Wege gab es nicht. Besser hätte es nicht laufen können. Auch Jakob Vonau war von der ersten Sekunde an Feuer und Flamme und auch unser Sprechdozent, Jürgen Wollweber, war ziemlich aktiv dabei. Dem habe ich die Freiheit geben können, auch reinzurufen, abzubrechen und zu arbeiten. Es lief gut, weil ich immer sagen konnte, was ich wie sehe und wie es für mich besser funktionieren könnte. LSK: Lukas Bangerter hat immer knallharte Fragen gestellt. Auch technisch. Er hat eine regelrechte Strichliste geführt. Und Gabriel und Jakob hatten immer eine Antwort. Das führte zu viel Vertrauen. GNM: Ja. Wir waren total auf Augenhöhe. Es war aber auch ein Herzensprojekt. FS: Was war der größte Unterschied zu anderen Arbeiten? LSK: Es war vor allem die Textvorlage. Es war keine Stückentwicklung. In meinen früheren Projekten wurde ja alles aus Improvisationen entwickelt. Das war schon im Grundlagenprojekt so und in der Winterreise war es auch so. Da haben wir alles aus den Rudelgesängen von Martin von Allmen entwickelt. So war es eigentlich ­immer. FS: Du hast dich danach gesehnt, diese Freiheit ein wenig aufzugeben. LSK: Ja. FS: Worauf fußte konkret dein Wohlgefühl in dieser Arbeit? LSK: Für mich ist es immer die Rolle. Ich wollte immer Rollen

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spielen. Ich möchte in Rollen eintauchen und möchte durch Figuren Dinge erleben, die ich in meinem privaten Leben nicht erleben kann. Das ist mein höchster Antrieb, diesen Beruf zu machen. In norway.today gab es Julie und ich konnte Julie kennenlernen. Bei den anderen Projekten kam das irgendwie später. Da stand immer zuerst das Gesamtprojekt im Vordergrund. Hier war es die Rolle und mein Spielpartner. Ich wusste, ich muss Julie kennenlernen und über sie August. Und ich habe auf diesem Wege auch meinen Spielpartner Olivier kennengelernt. OJG: Der Unterschied zu den Szenenstudien ist, dass du die Geschichte und die Figur von Anfang bis Ende begleitest. Du hast kein Vorher oder Nachher. Genau so, wie du sie anlegst, ist sie komplett. Im Szenenstudium habe ich immer das Gefühl, ich muss alles, was die Figur ausmacht, in eine Szene ballern. Bei norway.today gibt es nur zwei Figuren, und die verbringen unglaublich viel Zeit miteinander. Man holt die Figur sehr nah zu sich heran. Das gibt extremes Vertrauen in die Figur. GNM: Stimmt. Zeit ist schon ein Faktor. OJG: Man muss wie in einem Szenenstudium wahnsinnig genau arbeiten. Aber hier hatten wir für alles viel mehr Zeit. Mehr Bühnenzeit. Mehr Konflikte. Mehr Dialoge. Man lernt einfach alles tiefer und lebendiger kennen. Die Figuren werden vielfältiger. LSK: Das Ziel ist konkreter. FS: Wie viel Olivier steckt in deiner Figur? OJG: Ich empfinde die Figur als mir sehr ähnlich. GNM: Im Film würde man sagen, das ist der absolute Typecast. LSK: Bei mir ist es ein wenig anders. Julie ist um einiges selbstbewusster, als ich es bin. Julie und ich teilen aber auch eine Art von Humor und eine Art von Schlagfertigkeit. Gabriel hat am Anfang gesagt, ich muss die Berliner Schnauze rausholen. Und uns verbindet auch ein gewisses Misstrauen gegenüber Menschen. Aber Julie ist ein ganzes Stück weiter als ich. Sie hat Sachen geschnallt, die ich noch nicht geschnallt habe. GNM: Ich habe immer versucht, viel von Leonie und Olivier in die Figuren reinzukriegen. Mir war es wichtig, dass wir kein Selbstmorddrama erzählen. Für mich geht es nicht um Selbstmord. Und mit Jakob zusammen haben wir eine Vorstellung von unterschiedlichen Stimmungen entwickelt. Wir haben versucht zu formulieren, wo wir das Publikum treffen wollen. FS: Du studierst Schauspiel. Was hatte das für einen Einfluss auf deine Arbeitsweise?

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GNM: Ich habe vor allem aufgenommen, weitergesponnen, ­präzisiert und geschliffen, was Leonie und Olivier mir angeboten haben. Ich habe etwas gesehen und hatte selten Mühe, Entscheidungen zu treffen. Aber das liegt vielleicht daran, dass ich dieses Buch so oft gelesen hatte. Ich habe mir vertraut. LSK: Es war einfach sehr klar, was du von uns wolltest. Das Bild in deinem Kopf war extrem klar. GNM: Ich wollte einfach die Figuren verstehen. OJG: Dein Feedback war auch immer maßvoll. Ich konnte es gut begreifen. Man hat auch gemerkt, es ist dein Stück. Du magst es einfach. Du arbeitest sehr feinfühlig, eventuell auch ein bisschen filmisch. Du achtest auf Atmosphären und Beziehungen. FS: Bei euch endet das Stück mit der schlichten Aussage, wir müssen hier weg. Ihr müsst es nicht verraten, aber wisst ihr, ob die beiden in den Tod springen oder nicht? LSK: Darüber haben wir lange geredet. FS: Habt ihr eine Antwort? LSK: Ja. OJG: Nach der Kussszene und solchen Sachen springen die hundertprozentig nicht. LSK: Ne, die springen nicht. GNM: Ne. Auf keinen Fall. OJG: Aber wir haben lange daran gefeilt, dass es offenbleiben kann. GNM: Die Entscheidung, ob sie springen oder nicht, liegt nicht bei uns. Die liegt beim Zuschauer. Das war mir wichtig. Das ist auch das Lebensbejahende. Wenn der Zuschauer rausgeht und hofft, dass sie nicht gesprungen sind, ist es doch toll. Es ist auch o. k., wenn er denkt, dass sie gesprungen sind. Aber uns war klar, dass sie nicht springen. FS: An entscheidenden Stellen arbeitet ihr mit dem Mittel der Abblende und schließt mich als Zuschauer aus. Beispielsweise in der Liebesszene. GNM: Jakob hat mir dieses Fadeout angeboten. Es war beim ersten Versuch ein magischer Moment. Das technische Mittel wird für mich zu einem Sinnbild. LSK: Die Liebesszene im Zelt. Es wird im Stück alles haargenau beschrieben. OJG: Als wir das ausprobiert haben, hast du gesagt, du findest es langweilig. GNM: Ja. Sie beschreiben, wie sie Sex haben. Das habe ich rausgenommen. Das erzählt sich alles in diesem Kuss und diesem Fadeout.

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FS: Ihr arbeitet mit großformatigen Videoeinspielungen. Am Anfang sehen wir Symbolbilder menschlicher Selbstzerstörung und dann gibt es dieses riesige romantische … GNM: … kitschige … FS: … ja … eventuell ist es kitschig … Die Polarlichter. Es ist am Anfang die Zerstörung und dann ist es die bewahrenswerte Welt, das Himmelszelt, unter dem sich beide finden können. Es gibt noch projizierte digitale Texte und die Live-Kamera. Das wirkt aber alles sehr schlicht. GNM: Der Anfangseinspieler mit den Bildern menschlicher Selbstzerstörung, der Zerstörung der Welt und dem ganzen Chaos, ist bewusst gesetzt und nicht mehr aufgegriffen worden. Damit will ich nur Zuschauer und Figuren auf einen gemeinsamen Startpunkt bringen. Davor kann man flüchten, aber das betrifft uns alle. Dann haben wir auch die Videoszene, in der sich die beiden filmen. Mehr ist es aber nicht. Ich wollte den Fokus auf das Spiel der beiden Figuren ­legen. Das sollte das Zentrum bleiben. Es war aber technisch nicht unaufwendig. FS: An die Arbeit mit einer Live-Kamera haben wir uns im Theater gewöhnt. Bei euch ist der Einsatz sehr schlicht gehalten, aber ich kann tief in die projizierten Gesichter schauen. Sie rücken sehr nah an mich heran. Die digitalen Texte am Anfang haben mit der digitalen Welt zu tun, in der man sich kennenlernen kann. Die Chatrooms. Natürlich ­assoziiere ich, dass man sich über das Internet jetzt noch unkomplizierter finden und gemeinsam umbringen kann. Meine Gedanken wandern dann auch schnell zum Darknet und zu diversen merkwürdigen Plattformen. OJG: Der Fokus liegt nicht auf irgendwelchen Gefahren, dem Internet, Chatrooms oder sowas. Das ist ein abgelutschtes Thema für mich und ich meide es. Ich denke, es ist für die Leute, die damit nicht aufgewachsen sind, ein größeres Thema, als es in Wirklichkeit ist. Für eine zweite Ebene ist es wiederum ein viel zu komplexes Thema. Das müsste man dann ganz anders aufziehen. LSK: Als das Stück entstand, war das Internetphänomen auch noch viel größer. Es war total neu. Heute kann jeder bei Facebook oder Instagram zu allem seinen Senf dazugeben. Das hat nichts mit dem Stück zu tun. Nichts. Krass ist doch, dass sich zwei Menschen von zwei Kontinenten im Internet treffen und sich zusammen in Norwegen umbringen wollen. GNM: Ich will in der Inszenierung durch die Technik nur die Distanz zwischen den beiden Figuren verdeutlichen, die sich finden.

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LSK: Es gibt nur kleine Kommentare zur Internetgesellschaft. Also mal ein Smiley im Text. Oder sowas. GNM: Es war aber auch eine Entscheidung, nicht die bunten modernen Smileys zu nehmen, sondern die klassischen alten StrichPunkt-Klammer-Zeichen. FS: Die Figuren bezeichnen sich als Außenseiter und wollen sich buchstäblich fallen lassen und damit Verantwortung abgeben. Ich frage mich, ob das wirklich diese Welt spiegelt. GNM: Es lässt sich sicher auf zwei Begriffe reduzieren. Sehnsucht nach Veränderung und Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Und das muss keine Gruppe sein. Die beiden fühlen sich einander sehr zugehörig. Sie haben sich gefunden. Und es verbindet sie die dringliche Frage nach einer Veränderung. Was auch immer. Wie auch immer. Aber es muss sich was ändern. Sie ertragen einfach den aktuellen Zustand nicht mehr. LSK: Reizüberflutung war auch ein Stichwort. Julie sagt an einer Stelle, sie hatte alles im Mund und hat alles wieder ausgespuckt, kaum hatte sie es im Mund. Sie hat alles probiert, hat aber nirgendwo ihren Platz gefunden. Sie hat das Gefühl, es gibt für sie nichts mehr zu entdecken. Und August möchte endlich was erleben. Sie finden sich dann in diesem Polarlicht. August erlebt endlich was. Etwas Besonderes, was nicht viele Menschen sehen. Und Julie nimmt diese Schönheit wahr und findet dort eine gewisse Erfüllung. Auch sie hat sowas noch nie gesehen, sie kann also doch noch etwas entdecken. Die beiden brauchen sich, um diesen Moment richtig spüren zu können. Darin finden sie dann eine Liebe. FS: Sie finden dies auf dem Weg in die Einsamkeit, in der materiellen Reduktion auf das Notwendigste und in der Distanz zur Welt. Dort erleben sie das Besondere. LSK: Kurt Cobain hat geschrieben, »it’s better to burn out than to fade away«. Das ist für Julie ein ganz klarer Punkt. Sie sagt auch, sie kann Langeweile nicht ausstehen. Mit dreißig Jahren in einem Gärtchen zu sitzen und in zehn Minuten das Essen für die Kinder machen müssen – sie wäre todunglücklich. Sie würde sich auf der Stelle die Kugel geben. Und ich ticke auch ein bisschen so. Ich bin auch von sehr vielen Dingen schnell gelangweilt. Dann muss ich irgendwie weitergehen. Julie hat immer versucht weiterzugehen. Sie ist nicht depressiv. GNM: Wir haben auch festgestellt, dass Julie ein kleiner Adrenalinjunkie ist. FS: Das heißt, die letzten zehn Sekunden des Lebens müssen dann auch der absolut ultimative Kick sein.

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LSK: Der absolute Kick. Ja. FS: Heute reicht kein einfacher Bungeesprung mehr. Um einen Kick zu erhaschen, muss mit Boards aus Hubschraubern gesprungen oder sich mit dem Wingsuit von Felsen gestürzt werden. OJG: Oder du gibst dich zufrieden, und Träume und Wünsche zerschreddern, weil du all diese Möglichkeiten im Überangebot hast oder du in einer Scheinwelt etwas repräsentierst, was du nicht wirklich bist. Weil man alles hat. Das ist so ein Punkt. Dann will man immer mehr, ist aber gleichzeitig überfordert von den Möglichkeiten und weiß nicht mehr, was man wirklich will. Ich kann vieles. Ich habe vieles. Wie echt ist das alles? Wie sehr ruhe ich mich darauf aus? Das ist ein großes Thema. Ja. Das sehe ich schon in unserer Generation. Was will ich als Nächstes, als Nächstes, als Nächstes … Das ist doch eine Lethargie. GNM: In unserem Beruf gibt es ja eine ähnliche Tendenz. Vor zwanzig Jahren nackt auf einer Bühne zu sein – crazy. Heute hat das jeder gesehen. Das reicht nicht mehr. FS: Schließt hier die Sehnsucht an, einen bewährten Text zu haben, eine überschaubare Beziehung zu spielen und unten sitzt ein Regisseur, dem man vertrauen kann? GNM: Ja, weil ich einfach glaube, dass das unglaublich wertvoll sein kann. Es war eine tolle Zeit und ich bin superhappy mit der Arbeit. Und ich glaube auch, dass viele Zuschauer eine schöne Zeit hatten. FS: Gibt es eine Sehnsucht nach spielerischen Wurzeln? So, wie sich viele nach handgemachter Musik sehnen? LSK: Ja. Weil alles so abgestumpft ist. OJG: Genau. Ein echtes Gespräch ist wertvoll. Wir sind zu viel mit Wirkung beschäftigt.

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Die Lutherbibel Marianne Oertel im Gespräch über fünf Tage und vier Nächte Nonstop-Lesung Die Bibel komplett / eine Lesung im Berner Münster / Fünf Tage, vier Nächte / ohne Unterbrechung / 247 Texteinheiten / es lesen 54 Studierende, Dozierende und Mitarbeiter des Fachbereichs Theater der HKB Bern / Touristen wurden den Tag über von einem »sprechenden Raum« überrascht / ein Besucher blieb 48 Stunden am Stück / auch in der Nacht waren immer Leute anwesend »Eine krasse Erfahrung, nachts allein im Münster mit meiner Stimme und dem alten Text den riesigen Raum zu füllen. Das war so etwas wie ein ­Drogenrausch.« Stefan Schönholzer, Student Frank Schubert: In unserer Ausbildung bemühen wir uns um einen weiten geistigen Horizont. Kreativität, Autorschaft sowie eigenständiges Denken und Arbeiten möchten wir besonders fördern. Der Umgang mit autobiografischem Material, performative Spielweisen und unterschiedliche Techniken aus dem Fundus des postdramatischen Theaters werden zunehmend in die Grundausbildung integriert. Du bist Sprecherzieherin in Bern, bist klassisch in Halle an der Saale ausgebildet und hast in Bern, in Zusammenarbeit mit dem Berner Münster, eines der spektakulärsten Projekte in der Geschichte unserer Schule verwirklicht. Eine Bibellesung vom ersten bis zum letzten Wort. Was brachte die Bibellesung der Ausbildung? Marianne Oertel: In Einzel- oder Gruppenstunden üben die Studierenden für den Ernstfall. Wenn sie ihre Arbeiten präsentieren, findet das auf der Hauptbühne oder der Studiobühne statt. Im Praktikum machen sie ein paar Spielerfahrungen, aber eigentlich sind sie nie damit beschäftigt, große Räume zu füllen. Das Münster ist riesig. FS: Ich glaube, es passen knapp 1500 Menschen rein. MO: Wie hoch der Raum ist, was ist das für ein Raumvolumen! Handwerklich war es toll, dass sie die Möglichkeit hatten, ihre ­Stimme in einen so großen Raum zu bringen und zu gucken, wie man da mit dieser speziellen Sprache umgehen muss. Diese Erfahrung war ­wesentlich. FS: Die Luthersprache ist keine leichte Sprache. MO: Überhaupt nicht. Interessant war auch, dass es in der Bibel

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so viele unterschiedliche Sprechstile gibt. Von Erzählungen und Geschichten, über lyrische Sprache in den Psalmen, über Nachrichten, Prophezeiungen, direkte Rede bis zu transkribierten Gesprächen … FS: … und auch Statistiken. MO: Genau. Auch Aufzeichnungen über Maßangaben, die im Alltag eine Rolle spielten. Da gibt es eine Stelle, wo ein Hausbau beschrieben wird. Wie hoch die Türen sein mussten, wie breit und auf wie viele Quadratmeter Wohnraum jeder Mensch ein Recht hat. Zu dieser Zeit! Also, wir haben die unterschiedlichsten Textgattungen gefunden. Totaler Mischmasch. Und es gibt auch Passagen über die Rechte, die eine Frau hat. Oder die Rechte eines Ehemannes über seine Frau. Wir haben uns auch mit Texten auseinandergesetzt, die man heute wörtlich nicht vertreten kann, die man nur im historischen Kontext verstehen kann. FS: Es ist ja auch ein inhaltliches Statement, wenn man mit diesem Text in eine lebendige und funktionierende Kirche geht. Dann war es auch gleich das erste Haus am Platz. Es war immerhin das Berner Münster. Vor dem Chorraum stand aus Renovierungsgründen ein riesiges Baugerüst. Wir stellten uns ganz weit oben auf dieses Gerüst und ballerten diese unglaublichen Texte von der ersten bis zur letzten Zeile in diese Halle. MO: Ja! FS: Es war schon ein bisschen mehr, als unseren Studierenden eine anspruchsvolle Sprache und einen großen Raum zu organisieren … MO: … mehr, als Artikulation zu üben. FS: Ich habe selbst mitgelesen und habe am eigenen Leibe erfahren, was das mit mir macht. MO: Ja. Wie war das für dich? Was hat das mit dir gemacht beim Lesen? FS: Es war völlig überraschend. In den ersten dreißig Minuten war ich noch relativ vorsichtig und relativ gut vorbereitet. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben. Dann wurde ich immer mutiger und habe gespürt, wie sehr mich diese Texte bewegen. Buchstäblich. Ich bin automatisch in eine Rolle gerutscht, die mich überrascht hat. Einige Leute sagten, ich wäre auch ein guter Pfarrer geworden. MO: Ja, stimmt. Das haben viele gesagt. FS: Das ist natürlich Unsinn. Aber diese Kunstsprache hat die Gewalt einer Welle. Wehrt man sich gegen sie, ertrinkt man, also habe ich versucht, mich von dieser Sprache tragen zu lassen. Das funktionierte. Ich spürte die Sprache als archaisches Ausdruckselement. Ich habe

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­ fter gelesen als geplant, weil ich für Sprecher eingesprungen bin, die ö ausfielen. In diesem Moment konnte ich mich nicht mehr vorbereiten. Ich habe mich nur noch dem Augenblick hingegeben, bin auf der Welle gesurft und wurde dabei immer freier. Die Sprache greift dich gnadenlos und du bist absolut im Augenblick. Das war eine starke Erfahrung. MO: Das stimmt. Und das war interessant. Das hat auch Aydin Aydin, ein kurdischstämmiger Student, beschrieben. Er hat am Anfang des Projektes gesagt, er sei Moslem, er lese da nicht mit. Er könne die christliche Religion nicht vertreten. Dann war der Pfarrer bei uns in der Schule, und wir haben gemeinsam dieses Projekt vorgestellt. Danach hat er gewusst, dass es doch ganz cool wäre, in diesem Raum zu lesen. Die meisten hat auch die Vorstellung begeistert, dass wir das ganze Buch ohne Pause durchlesen. Von vorne bis hinten. Kompromisslos. Fünf Tage und vier Nächte. Danach war auch Aydin begeistert. FS: Da war dieses ganz besondere Gefühl, dass zu jedem Zeitpunkt jemand liest. Wenn ich am Morgen aufstehe, mir die Zähne putze, in der Tram sitze oder im Unterricht bin. Immer war da dieses Gefühl, da steht einer von uns auf diesem Gerüst, der seine Stimme in das Münster setzt. MO: Man spürte so sehr diesen Ensemblecharakter. Das war wichtig für die ganze Schule. Auch für den Zusammenhalt unter Dozierenden und Studierenden. Für jeden verbanden sich ja auch Pflichten mit der Aktion. Man musste sich den Wecker um zwei Uhr morgens stellen, damit man z. B. um drei Uhr in der Nacht pünktlich auf dem Gerüst steht und den Lesenden vor sich ablöst. Denn wenn man nicht dastand, war das für das gesamte Projekt ein Problem. FS: Kommen wir auf den Anfang zurück. Wie bist du auf die Idee gekommen? MO: Diese Lesung zu machen? FS: Ja. Genau. MO: Das Besondere war dieses Baugerüst im Münster. Es teilte den Chor vom Mittelschiff und stand wegen Restaurierungsarbeiten etwa anderthalb Jahre. Man hat dann einfach alle Veranstaltungen auf das Mittelschiff verlegt und so getan, als wäre der gesamte Chorraum nicht existent. Dann gab es eine Anfrage durch den Performer Frantiček Klossner, ob wir als HKB dieses Gerüst bespielen könnten. Zuerst entstand ein Tanzprojekt von Kiri Kaardt und Frantiček ­Klossner. Und dann kam dieses Lutherjahr. 500 Jahre Reformation. Da entstand die Idee, die Bibel zu lesen. Das wurde an unseren Chef Wolfram Heberle herangetragen und er fand das interessant. Er hat mich angefragt und ich fand die Idee einfach super.

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FS: In der Herausforderung, sich diesem Thema zu stellen, lag auch ein gewisser Zündstoff. Es gab Diskussionen und es prallten unterschiedliche Welten aufeinander. Ich erinnere mich noch sehr genau. Im krachvollen Projektraum 9 ging es teilweise hitzig und nicht sehr differenziert zu. Wir stellten uns einer Auseinandersetzung und es gab auch heftigen Widerspruch innerhalb des Kollegiums. Sogar eine theoretisch sehr beschlagene Kollegin sprach sich heftig dagegen aus, dieses »Machwerk« durch unsere Schule lesen zu lassen. Die Inhalte wären fundamentalistisch und sexistisch. Persönliche Haltungen vermischten sich mit kulturhistorischen und politischen Fakten. Inhalte, Fragen zur Form der Sprache, zur Geschichte und zum philosophischen Erkenntnisstand spielten keine Rolle mehr. Auch Menschen mit ausgeprägten analytischen Kompetenzen reagierten ganz schnell nur noch emotional. Die Bibel hätte in einer staatlichen Hochschule nichts verloren. Ich halte es für einen Qualitätsbeweis, wenn Stoffe solche Reaktionen auslösen können. Aber auch Studierende anderer Glaubensrichtungen meldeten sich mit Widerspruch zu Wort. Eine Studentin jüdischen Glaubens verweigerte sich dem Projekt, weil sie diesen Stoff in den Händen der bunten Hochschulgemeinschaft als nicht gut aufgehoben erachtete. Eine Studentin, die sich als Atheistin verstand, wollte nicht zum Sprachrohr christlicher Inhalte werden. Der schon erwähnte kurdische Student wiederum fand einen ganz eigenen Zugang zu dem Text. Und ein solcher wurde für die meisten wichtig und interessant. FS: Das gelang ganz sicher auch dadurch, weil du als Vertreterin der Schule und Projektleiterin zu religiösen Fragen eine gewisse Distanz einnehmen konntest. MO: Es war sicher gut, dass ich das Projekt geleitet habe, weil ich keinen christlichen Hintergrund habe. Es ging mir um dieses Kulturgut, den Raum und diese Sprache. Und ich hatte glücklicherweise mit Beat Allemand, dem Pfarrer des Berner Münsters, jemanden an meiner Seite, der das getragen hat. Ich glaube, wir haben uns gut ergänzt. Viele kritische Fragen konnte ich an ihn weitergeben, der dann theologisch argumentieren konnte. Die Kombination aus uns beiden war optimal für dieses Projekt. FS: Zumindest war immer unbestritten, dass unsere gesamte westliche Kultur auch auf diesen Text fußt. MO: Das war sicher der Punkt, den viele gar nicht im Auge hatten. Es ging immer nur um Religion und darum, dass wir missionarisch aktiv werden, wenn wir auf dem Gerüst die Bibel lesen. Aber auch die Bedenkenträger haben irgendwann mitbekommen, dass es eigentlich um unsere Kulturgeschichte geht. Es geht nicht um die Verbreitung

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des christlichen Glaubens. Es geht um den Blick auf einen Pfeiler unserer demokratischen Gesellschaft. FS: Und dabei waren wir uns nicht immer einig. Wir haben keine abschließenden Antworten gefunden, aber wir wurden auf Fragen zurückgeworfen, die wir uns so noch nie gestellt hatten. Fragen zum Zusammenhang von Ort, Inhalt, Sprache, persönlicher Anbindung und historischem Kontext. MO: Das stimmt. Das spiegelte sich auch in den nachfolgenden Szenenstudien wider. Ich erinnere mich daran, dass es ganz spezielle Diskussionen gab. FS: Zu dieser Zeit habe ich an einer Don Carlos-Szene gearbeitet. Wir hatten uns mit Pathos auseinanderzusetzen und dieser ungewohnten Gedankenwucht. Wir begriffen, dass es Gedanken gibt, die größer sind als wir selbst. Das klingt recht einfach. Aber dies buchstäblich körperlich zu erfahren, ist noch etwas ganz anderes. Ich halte das für eine fundamentale Erfahrung. MO: Ja. Und es war vor allem eine Lust. Ich erinnere mich, dass viele während der Lesung eine große Lust am Pathos beschrieben. Pathos wurde gar nicht mehr als solcher empfunden, weil er an diesen Raum gekoppelt war. Bei den akustischen Proben im Münster meinten viele, sie könnten so nicht sprechen. Das klänge so unnatürlich! Ich machte ihnen dann klar, dass sie unten ganz natürlich verstanden werden. Der Text verlangt natürlich aufgrund der Gedankengröße ein gewisses Pathos. Aber wie spreche ich das, ohne hohl zu werden? FS: Wir sind diese Gedankengröße nicht mehr gewöhnt. Wir gehen mit Schiller, Goethe und Kleist um und sind immer geneigt, diese Sprache auf ein für uns erträgliches Niveau herunterzuziehen. Noch immer nennen wir das oft modern. Die Größe des Gedankens wird dabei aber sehr schnell flach. Oft auch durch Ironisierung, weil wir diese Texte nicht aushalten. Wir trauen dieser Größe nicht. MO: Ja, das stimmt. Bei der Bibellesung spielte diese Frage keine Rolle, weil wir den Text nicht als Figurentext begriffen haben. Wir haben den Text als Werk begriffen und haben uns diesem Werk zur Verfügung gestellt. Das genau war für mich auch ein Ziel dieser Lesung. Hier hast du das Buch, stell dich diesem Buch zur Verfügung und verleihe dem Text deine Stimme. Gehe nicht in irgendwelche Vorgänge und überlege auch nicht, was du damit zu sagen hast. Der Text spricht für sich. FS: Das ist eine sehr moderne Haltung zu einem Text. Wolfgang Engel versuchte das bereits 1982 in Dresden in seiner Inszenierung von Dantons Tod. Er scheiterte, weil er noch nicht aus dem traditionellen Figurenbild herauskam. Claudia Bauer arbeitete 2014 mit einer

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solchen Haltung zum Text in ihrer Faust-Inszenierung in Bern sehr konsequent und trennte die Figur vom Text. MO: Natürlich fühlten sich die Studierenden manchmal überfordert. Alle Lesenden waren nach ihren zeitlichen Möglichkeiten eingeteilt, nicht nach den Anforderungen der Textabschnitte. Ich hatte damals das erste Studienjahr. Die Studierenden fragten, wie gehe ich mit diesen Texten um? Ich kann nichts damit anfangen. Ich habe dann im Gruppensprechen Beispiele jeder Textgattung aus der Bibel lesen lassen, damit sie eine Idee von den unterschiedlichen Texten bekommen. Dann habe ich gesagt, stell diese Unterschiede nicht infrage, stell dich diesen Texten zur Verfügung. Lies das einfach. Probiere, uns durch die Gedanken dieses Textes zu führen, und konzentriere dich auf den Raum. Was du mit dem Text vermitteln möchtest, kommt dann von selbst. Du musst dir nichts vorstellen. Die Hauptfrage der Studierenden war, wie verhalte ich mich als Spieler zu diesem Text? Und genau das war eine Frage, die an dieser Stelle überhaupt keinen Platz hatte. Darum ging es einfach nicht. Es ging nicht darum, diese Texte während des Lesens kritisch zu hinterfragen. FS: Wer bin ich, wenn ich spiele. MO: Wer bin ich, wenn ich spiele? Die Frage stellte sich gar nicht. Das war auch diese Überforderung, die gut für die Studierenden war. Sie standen im Berner Münster auf dem Gerüst in zehn Metern Höhe, in einem Raum, der extrem anspruchsvoll ist, hatten ein Buch vor sich, das sehr komplex in der Sprache ist und sollten diesen riesigen Raum mit ihrer Stimme und den Gedanken von Luther füllen. FS: Aber wer waren sie nun, als sie diese Texte gelesen haben? MO: Na, sie selber. Nur sie selber. FS: Ich glaube, nicht wirklich. MO: Wer glaubst du, wer sie waren? FS: Ich kann dir nicht sagen, wer ich war, aber ich war nicht ich. MO: Aber wer warst du? FS: Das ist eine gute Frage. Ich habe mich diesem Text zur Verfügung gestellt. Ich habe mich ihm hingegeben und ich habe es genossen. Aber dieser Text hat mich verändert. Zumindest für den Augenblick des Tuns. Er hat mich extrem geweitet und mich über mich selbst hinausgeführt. Das klingt so groß, ist aber schlicht ein Fakt. MO: Aber dann warst du doch du. Der Text hat dann nur Seiten aus dir herausgeholt, die dir fremd waren. FS: Ist es nicht genau das, was wir uns auch wünschen, wenn wir mit unseren Studierenden einen Heiner Müller, einen Schiller oder einen Goethe arbeiten?

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MO: Total! Das entsteht, wenn man sich auf einen Text einlässt und sich von ihm verändern lässt. FS: Das heißt, dass du erst hinterher feststellen kannst, dass du vielleicht ein anderer als der warst, den du kanntest. MO: Ja. Vielleicht auch nicht. FS: Wir haben mit diesem Projekt also über das Verhältnis der Sprechenden zu ihren Texten nachgedacht. Sprache im modernen Theater ist keine gekaufte Sprache. Nur noch sehr selten tut man auf der Bühne so, als wäre man Maria Stuart oder Iwanow. Ich lasse mich vom Text verändern. MO: Als Person. FS: Wir wissen, in verschiedenen Spielweisen des modernen Theaters ist der klassische Figurenbegriff in Auflösung begriffen. MO: Das stimmt. Ja, das stimmt. FS: Im Spiel verändert dich der Text und der Gedanke, der in ihm wohnt. MO: Das ist das, was auch im Alltag passiert. Wenn ich dir zuhöre, deine Gedanken annehme, deine Gedanken mitnehme und weiterführe, mich diesen empathisch zur Verfügung stelle, dann verändern mich deine Gedanken. FS: Aber wir haben es bei der Bibel, einem Schiller oder Kleist mit Dichtung zu tun, in der die Worte eine viel größere Bedeutung haben, gedanklich viel aufgeladener sind als die Alltagssprache. Auf dem Gerüst im Kirchenschiff habe ich mich dabei ertappt, dass ich ganze Passagen geradezu in dieses Kirchenschiff gedonnert habe, und ich hatte es mir nicht vorgenommen. MO: Du hast dich nicht gegen die Welle gestemmt, du bist auf ihr gesurft. FS: Ja. Manchmal war ich allerdings dabei auch über mich selbst erschrocken. Ich hatte in einer Lesung beispielsweise zwei Mal die Formulierung »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. MO: Weil du so einen Spaß an diesen Sätzen hattest? FS: Ja. Wahrscheinlich erhielten verborgene Grundinstinkte Nahrung und die theatralische Lust am Pathos machte das erträglich. Das Pathos ermöglichte mir auch eine gewisse Distanz zum Text. MO: Weil es eben doch mit Grundbedürfnissen und Grundemotionen zusammenhängt, die in uns allen schlummern. FS: Und in diesem Kirchenschiff trauten sich viele erstmalig, dieser Kraft nachzugeben. Auch eine Erfahrung, die wir auf die Bühne mitnehmen konnten. MO: Studierende beschrieben das Gefühl der Höhe und Weite

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im Raum und den mit Pathos angefüllten Text als eine Symbiose, die einerseits das Gefühl von Freiheit und andererseits von Macht potenzierte. FS: Und das ließ meinen Ausdruck bei »Auge um Auge« so kriegerisch werden? MO: Ja. Weil dieser Satz dich dazu verleitete und du dich hast verleiten lassen. Es hat etwas mit Macht, aber auch mit Verantwortung zu tun. Man übernimmt diese Verantwortung. Man sagt etwas in diesem riesigen Raum. Das verlangt von mir ein anderes Verhalten, als es in einem kleineren Raum nötig wäre. Vor allem die Höhe des Raumes ist bedeutend. Das hat man im Theater so gut wie nie. Man hat eventuell die Weite. Aber nie die Höhe. Du bist so ein kleiner Mensch, der diesen Raum plötzlich mit deiner Stimme … FS: … ausfüllt. MO: Und da war es plötzlich egal, ob du einen S-Fehler hast oder die Stimme hochrutscht. Es war eine wichtige Erfahrung für die Studierenden, dass sie mit ihrer Stimme diesen Raum füllen konnten und dadurch Macht und Freiheit erlangten. Das ist vielen bewusst ­geworden. Im Gesamtunternehmen kommt dann aber noch die ganz praktische Frage der Verantwortung für das Projekt hinzu. Die einfache Notwendigkeit, pünktlich hinter dem Lesenden zu stehen und die Bereitschaft zur Übernahme zu signalisieren, war so ein Punkt. Und nach einer halben Stunde spürte man dann jemanden hinter sich, der wiederum bereit war, deinen Text nahtlos weiterzuführen. Auch das waren starke Signale. FS: Die gesamte Schule spannte zusammen. Es war, als potenzierte sich die eigene Kraft in diesem Ensemble. MO: Genau. Und verstärkt wurde das durch das Wissen, da ist immer jemand im Kirchenschiff, der mir zuhört, den es interessiert, was ich zu sagen habe, was dieser Text sagt. FS: Wir gingen von einem sehr einfachen Ausgangspunkt aus: dem ICH. Von hier aus konzentrierte ich mich auf das Wesentliche. Der Text, der Zuschauer und der Raum. Dann ließ ich den Gedanken fließen und ich wurde von etwas Größerem getragen. Wir erlebten einen wesentlichen Ausgangspunkt für das Theater sehr emotional und damit nachhaltig. MO: Stimmt. Das war aber auch technisch spannend. Wegen dem Hall musstest du die Worte trennen. Es fühlte sich an, als würde man stockend lesen. FS: Zu der Kunstsprache kam dieser formale technische Aspekt und machte den Abstraktionsgrad für jeden spürbar groß.

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MO: Der war tatsächlich riesig, und obwohl du diese extreme Form permanent bedienen musstest, hat es dich beim Lesen emotional gepackt. Und da sind wir bei einer Frage, auf die ich in der Ausbildung immer wieder stoße. Sobald es durch eine Form zu einer größeren technischen Anforderung kommt, verlieren viele den Inhalt. Und sobald sie den Inhalt greifen, verlieren sie die Form. Warum ist es in diesem Projekt nicht passiert? FS: Es muss erst die Erfahrung gemacht werden, dass Form gleich Inhalt ist. Aber dafür braucht es Zeit und emotionale Erlebnisse, die prägen, um diese Erfahrungen nachhaltig zu verankern. Wir brauchen also solche Projekte. Ich bin ein DDR-Oppositionskind. Wir konnten nicht direkt sagen, was wir dachten. Die Kunst arbeitete mit Zeichen, die man deuten musste, wollte man an den Inhalt heran. Als wir in der DDR mit Texten von Ernst Jandl arbeiteten, wurden wir politisch wegen der Form angegriffen. Tatsächlich. Die allein war dem Regime suspekt. Die Form war nicht konkret greifbar. Eine Form ist immer auch ein inhaltlicher Ausdruck. MO: Beim Jandl ist die Form direkt an den Inhalt geknüpft. Beim Bibelprojekt brauchten wir die Form, um in diesem Raum überhaupt verstanden zu werden. FS: Der direkte Zusammenhang zwischen Raum und Form hat im Münster dazu geführt, dass ich mich sehr bald nicht mehr auf die Form konzentrieren musste. Mein Hirn war frei für die Inhalte. MO: In diesem Münster warst du gezwungen, sensibel für den Raum zu sein. Und ob jemand christlich, muslimisch oder atheistisch ist, war egal. Wenn jemand in einen solchen Raum geht, verändert ihn der Raum. Er verändert dich. Und du lässt dich von diesem Raum verändern, weil er nichts Alltägliches hat. Aber du brauchst die technische Schulung. Ein Pfarrer, der nicht sprecherisch geschult ist, kann das nicht. Darum klingen viele so schlecht. Auch Politiker oder Lehrer. Du brauchst mehr als Sensibilität für Räume. FS: Du warst der Boss von diesem Unternehmen. Und du warst weitgehend allein mit dieser riesigen Aufgabe. Wie hast du das organisiert? MO: Ja, das war wirklich ein Hammer. Ich brauchte zuerst die Anzahl der Leser. Dann wusste ich, dass es sehr unterschiedlich ausgebildete Stimmen gibt. Zum Teil gar nicht ausgebildete Stimmen. Zum Teil sehr gut ausgebildete Stimmen. Wie lange kann man jemandem zumuten, in diesem Raum zu lesen? Dann bin ich auf diese dreißig Minuten gekommen. Also musste ich die gesamte Bibel in Abschnitte von dreißig Minuten teilen. Dabei war völlig unklar, wer

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wie schnell liest. Auch liest sich eine statistische Aufzählung anders als ein Psalm oder eine Geschichte. Ich habe also die unterschiedlichen Textgattungen laut gelesen und habe die zeitlichen Mittelwerte für eine durchschnittliche Seitenanzahl benutzt. Das Problem war aber, dass die neue Bibel noch gar nicht im Druck war. Wir waren die Premiere für die Neuüberarbeitung des gesamten Luthertextes zum Reformationsjahr. Die neue Ausgabe gab es also noch gar nicht. Diese hat mir der Verlag erst eine Woche vor der Lesung geschickt. Wir bekamen dann aber nur wenige Exemplare. Ein Student hat also die gesamte Bibel gescannt. Alles wurde an der alten Ausgabe vorbereitet, und es hatte sich doch einiges verändert. Dann habe ich von den 54 Lesern die Sperrzeiten bekommen. Auch die Unterrichte mussten im Plan beachtet werden. Auch die, die nachts lesen, mussten früh in den Körperunterricht. Ich rechnete aus, dass es etwa fünf Tage und vier Nächte dauert. Mit diesen Informationen habe ich dann einen Plan erstellt, der sich natürlich bis zum Schluss immer wieder geändert hat. An Schluss brauchten alle 54 Lesenden noch eine Leseprobe von dreißig Minuten im Münster. Tagsüber, unter Touristen, war das nicht möglich. Die Proben fanden also am frühen Morgen und späten Abend statt. Es wäre wirklich die Hölle gewesen, ohne Probe zu lesen. Ich musste auch laufend neue Ablauflisten machen, weil sich bei den 54 Leuten ständig etwas änderte. Es gab sogenannte Springer. Die wurden für bestimmte Zeiträume eingeteilt, falls jemand überraschend ausfiel. Es war ja völlig unklar, ob der Zeitplan so aufgehen würde, wie ich es errechnet hatte. Jeder musste eine halbe Stunde vor seiner Zeit im Münster sein, um sicherzustellen, dass er rechtzeitig hinter seinem Vorgänger steht, um direkt nach dessen letztem Wort sein erstes Wort setzen zu können. Alle Übergänge mussten nahtlos sein. FS: Anfangs bedauerte ich, dass das normale Leben an der Schule mehr oder weniger weiterlief. Wir hätten alle gern mehr Zeit im Münster verbracht. Aber diese Lesung schwebte dann über dem gesamten Alltag. Egal, ob ich in der Schule unterrichtete oder zu Hause für meine Kinder das Frühstück machte. Das war ein tolles Gefühl. MO: Damals fand ich es nur anstrengend. Ich saß mit meinem Laptop in dem kleinen Pfarrstübchen. Das war mein Büro. Ich war die Einzige, die für das Projekt freigestellt war. Es wusste niemand, wie lange es wirklich dauert. Ich habe zweimal am Tag den Zeitplan upgedatet und die Telefonkette musste laufend neu organisiert werden, damit niemand verschläft. FS: Aber am Schluss hat es doch relativ genau gepasst.

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MO: Das war wirklich ein Wunder. Wir waren fünf Minuten eher fertig, als ich es ausgerechnet hatte. Das war unglaublich. In dem Moment war ich wirklich stolz. Ich war bei der Lesung immer nur Springer. Den letzten Part allerdings habe ich mir vorbehalten. Das wollte ich schon gern so haben. Und es war dann auch ein Wahnsinnserlebnis, nach fünf Tagen den wirklich letzten Part zu lesen. Und danach – Stille. Stille, nachdem fünf Tage in diesem Raum permanent Text lief. Diese Stille war wirklich magisch. FS: Und die ganze Schule war da. MO: Das letzte Wort war gelesen, das Licht wurde ausgeknipst … FS: … du hast das letzte Blatt herunterflattern lassen, auf den großen Haufen Textblätter, der sich in fünf Tagen unten schon angesammelt hatte, hast die Mappe geschlossen und dann war Ruhe. MO: Interessant, dass der letzte Part den Weltuntergang beschreibt. FS: Die Apokalypse. MO: Und dann diese Ruhe. FS: Und aus dieser unglaublich langen Ruhe, in der alle nur saßen, sich nichts bewegte und alle dieser Ruhe nachlauschten, wuchs dann dieses abgefahrene Orgelstück, komponiert und gespielt von Daniel Glaus, dem Münsterorganisten. MO: Ja. Das war sehr emotional.

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»What you can’t hide, show it with pride« Dennis Schwabenland im Gespräch über die Zeit nach dem Studium Was kommt am Ende raus? Dieser Frage müssen wir uns alle stellen. Nicht nur wir in Bern. Und diese Frage stellen sich bereits viele junge Menschen, die sich um ein Studium bewerben. Etwa 200 Absolventen verlassen jedes Jahr die Schauspielschulen. Die Ensembles sind in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich geschrumpft, Strukturen haben sich verändert, die Trennungslinie zwischen Off-Bereich und institutionellem Theater ist durchlässiger geworden, aber alle fragen nach ganz ähnlichen Kompetenzen: Kann ein Studierender mit seinem Körper und der Stimme umgehen? Das interessiert alle. Praktika und die Zusammenarbeit mit Theatern in einem Studiosystem helfen, sind für Praxiserfahrungen unschätzbar wichtig, nicht selten brechen die Probleme an dieser Stelle aber auch erst richtig auf, wenn die Studierenden feststellen, dass ein Stadttheater so ganz und gar nicht der Ort ist, an dem sie sich wiederfinden wollen. Diese Beobachtung machen Kollegen aller Schulen. Es funktioniert nicht mehr, nach dem zentralen Vorsprechen in Neuss irgendwo als Schauspieler engagiert zu werden. Und kommt es zu einem Engagement, bekommt das Glück oft genug Risse. Werde ich gesehen? Werde ich übernommen? Werde ich besetzt? Nimmt mich ein wechselnder Regisseur mit? Alles sehr unproduktive Fragen für die Kunst, weil sie von einem passiven Verhalten in einem Abhängigkeitsverhältnis ausgehen. Wann macht Kunst Sinn? Wann befriedigt mich Kunst? Die Individualisierung wird diese Welt nicht retten. Eine Fähigkeit muss entwickelt werden: die Arbeit in der Gruppe. Von diesen Fragen ausgehend, versuchen wir, Bedingungen zu schaffen, unter denen bereits unsere Studierenden Kontakte knüpfen können und an einem eigenen Netzwerk arbeiten. Denn die meisten Jobs sind nicht über das traditionelle Vorsprechen vergeben worden, sondern durch eine gute Vernetzung. Die Studierenden müssen in der Lage sein, ein Umfeld zu schaffen, in dem sie flexibel und kontinuierlich Allianzen bauen, Themen finden und vertiefen. Auch das Stadttheater bietet jungen Kreativen immer mehr Spielfelder. Es kann schon im Studium erfahr- und erlebbar werden, dass man auch an einem kleinen oder mittleren Stadttheater eigene Projekte anbieten und durchsetzen kann. Viele Theater sind glück-

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lich über solche Initiativen. Der Vorteil liegt auf der Hand. An einem Haus gibt es die technischen Voraussetzungen, die Werbung und die Infrastruktur quasi gratis und das Theater profitiert nicht unwesentlich von solchen Initiativen. Eine Win-win-Situation. Der Master in Bern will Rahmenbedingungen schaffen, um solche Prozesse zu initiieren. Vor diesem Hintergrund habe ich mit dem Berner Absolventen, Schauspieler, Regisseur, Autor und Filmemacher Dennis Schwabenland über seinen Weg in die Praxis gesprochen. Frank Schubert: Ich habe dich zu diesem Gespräch gebeten, weil ich das Gefühl habe, dass du die Philosophie der Berner Ausbildung in deiner Arbeitsweise in besonderem Maße verinnerlicht und individuell weitergeführt hast. Dein Weg begann ja mit einem konkreten Projekt während des Studiums an der Schule. Dennis Schwabenland: Benjamin Spinnler, ein Gründungsmitglied von PENG!Palast, machte seine Bachelor-Abschlussarbeit in Bern. Er hatte ein Projekt unter dem Titel Hamlet Massiv vor. Er sagte, wir machen das zusammen. Wir hatten solchen Bock und haben nächtelang im Studio 1 der Schule irgendwelche Sachen performt, Kameras ausgeliehen, alles aufgenommen. Ich weiß gar nicht, ob ich das heute anders machen würde. Wir haben damals einfach alles ausprobiert. Ausprobiert. Ausprobiert. Und was ich jetzt als meine Herangehensweise erachte, war schon damals da. Learning by doing. Damit generierten wir wahnsinnig viel Material. In Hamlet Massiv sah ich viel Potenzial und sagte, lasst uns auf dieser Grundlage eine Gruppe gründen! Wenn wir dieses Bachelor-Vorspiel machen, laden wir einfach verschiedene Theater ein. Es gibt ja in der Schweiz eine starke freie Szene. Ich habe dann relativ dreist alle infrage kommenden Häuser angeschrieben. Völlig ins Blaue. Wir hatten eine Behauptung aufgestellt: Wir haben eine Gruppe und wir machen ein Stück. Dann kamen tatsächlich drei Theater. Wir hatten zwanzig Minuten und keine Ahnung, was wir später daraus machen wollten. Die Kaserne Basel war da, das Schlachthaus Bern und die Rote Fabrik Zürich. Bern und Zürich sagten, wir nehmen das. Wir bekamen die Möglichkeit, im Rahmen von »Startrampe« dieses erste Try-out zu einem abendfüllenden Stück auszubauen, und auf einmal waren wir in diesem System drin. Wir mussten uns dann damit auseinandersetzen, wie alles organisiert werden muss. Wir brauchten Gelder für das Bühnenbild. An uns selbst haben wir da noch gar nicht gedacht. Die Ernst-Göhner-Stiftung gab uns 3000 Franken. Zuerst haben wir einen

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Rekorder gekauft und einen Tonmenschen bezahlt. Auf einmal stand uns die Welt offen. FS: Ihr habt von Anfang an sehr persönliches Material genutzt. Das kann auch wehtun. Es verlangt die konsequente Konfrontation mit sich selbst. Ist das Grundlagenarbeit? DS: Ja. Man muss sich trauen. Man darf keine Scheu haben und überlegen, was die anderen dazu sagen könnten. Wer bin ich eigentlich? Woher komme ich? Ich hatte begriffen, dass ich Übersetzungen finden muss. Ich komme aus dem Ruhrpott. Mein Vater hatte eine gute Anstellung bei Tengelmann. Und die haben dann in einer Welle neoliberaler Umstrukturierungen in den 1990er Jahren auch meinen Vater rausgeschmissen. Ich habe den wirtschaftlichen Abstieg meiner Eltern erlebt. Alles offenlegen. Dir wird alles genommen, du hast keine Reserven mehr und machst dich komplett abhängig. Du nimmst jeden Job an, um irgendwie aus dieser Spirale rauszukommen. Es war heftig, wie das meine Eltern verändert hat. Man verliert viele Freunde, man verliert das soziale Umfeld und schämt sich. Mit diesen Eindrücken bin ich auf die Schauspielschule in die teure Schweiz gekommen. Meine Eltern konnten nichts zahlen. Ich hatte extreme Existenzangst, habe immer dieses Damoklesschwert über mir gesehen und habe jeden Drecksjob gemacht. All dieses Futter habe ich dann intuitiv in die Arbeiten einfließen lassen. Ich konnte eine Fantasie entwickeln, in der alles von mir drinsteckte. Ich hatte auch das Bedürfnis, alles loszuwerden. Es war mir wichtig, über diese Dinge zu sprechen. Ich habe einen sehr persönlichen Ansatz für meine Arbeiten entwickelt. Es sind Themen, die mir auf der Seele brennen. Ich hatte auch verschiedene Stückverträge an Theatern, aber ich habe gemerkt, wenn ich etwas Persönliches loswerden möchte, geht das an den Theatern meist nicht. FS: Und du hast gelernt, keine Scheu vor großen Themen zu haben. Du gehst von deinen Themen aus und suchst in Hamlet, Woyzeck oder Edward Snowden Reibungsflächen. DS: Man darf sich einfach in keiner Hinsicht einschränken. Ich arbeite momentan daran, ein Projekt mit dem Gilgamesch-Epos aufzuziehen. Da sind erstmal diese Tafeln im British Museum. Und dann bin ich auf eine Graphic Novel zu diesem Epos gestoßen. Ich bin überhaupt kein Comic-Fan. Wenn ich also auf so ein Prinzip zurückgehe, dann gehe ich nicht von Theatertexten aus. FS: Du suchst seit Jahren Herausforderungen, die internationale Konstellationen – auch ein fester Bestandteil der Berner Masterausbildung – bieten.

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DS: Ich habe grundsätzlich ein sehr breites Interessenfeld. Und irgendwann bleibe ich an etwas hängen. So war das auch beim Gilgamesch. Das Projekt entsteht mit einem palästinensischen Theater in Ramallah. Ich habe schon mal was in der Region gemacht, allerdings mit Israelis. Theater in dieser Region zu machen, heißt auch, sich mit einer anderen Produktionsrealität auseinanderzusetzen. Jetzt gehen wir da hin und mein Plan ist es, mit denen Gilgamesch zu machen. Also mit Leuten von hier und von dort. FS: Ein konsequent persönlicher Zugang ist dabei eine Grundvoraussetzung? DS: Durch den persönlichen Zugang der unterschiedlichen Performer und Performerinnen erhält man immer wieder eine andere Sicht auf das Material. Diese Knetmasse nimmt dann einen eigenen Weg. Aber man hält sich auf dem Weg an den Händen. Ich suche interessante Menschen, die ein Thema verbindet. Und sie müssen Englisch sprechen können. Sprache ist unglaublich wichtig. Es ist auch gut, dass es nicht in unserer Muttersprache passiert. Man kommt oft nicht wirklich in die Tiefe, wenn wir in der Muttersprache arbeiten. FS: Die fremde Sprache als Chance? DS: What you can’t hide, show it with pride. Ich spiele gern damit. FS: Es geht auch um eine bestimmte Musikalität in der Sprache. Um den Ausdruck hinter dem Sinngehalt der Vokabel. DS: Darin liegt Potenzial. Man kann vieles über den Weg des Unverständnisses herausfinden. In diesem Nicht-miteinander-reden-Können liegt so viel Kraft. Ich finde es grundsätzlich interessant, wenn Kulturen aufeinandertreffen, die erstmal lernen müssen, sich zu verstehen. Diesen Prozess möchte ich nicht verstecken. Ich möchte ihn nach außen kehren. FS: Du sprichst über einen methodischen Ansatz? DS: Ich bin da erstmal ganz konkret bei Gilgamesch. Enkidu ist der »Wilde«. Was heißt denn das – der »Wilde«? Und der Gilgamesch, der König? Der repräsentiert das Zivilisierte? Das ist doch alles eine Projektion, die man auf die Konstellation im Ensemble legen kann. Da kommen die Typen aus der Schweiz nach Palästina und alle Beteiligten haben das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Die Truppe aus Palästina denkt, was will der blöde Schwabenland mit diesem Doc-Theater und seinem performativ-biografischen Zeug? Diesen ganzen Clash finde ich interessant. Dann gibt es in diesem Stoff den Prozess der Anfreundung. Sie gehen gemeinsam auf Abenteuer. Es können Freundschaften entstehen oder auch Abneigungen wachsen. Ich versuche, Methoden zu finden, wie wir diesen Prozess festhalten und

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dokumentieren können, um ihn in die Arbeit einfließen zu lassen. Bei meinem früheren Projekt the holycoaster s(HIT) circus haben wir uns entschieden, diese Prozesse zu filmen. Da entsteht sehr viel authentisches Material. Es kommt zu einem Spiel mit den Stereotypen von uns selbst. Man muss natürlich erstmal Leute finden, die sich darauf einlassen. Eine Zuschauerin hat uns mal gesagt, wir würden uns total nackt auf der Bühne machen. Ja, das stimmt. Man muss viel aushalten können und darf nichts zurückhalten. Es gibt auch immer wieder Momente, da hat man Angst, dass man enttäuscht wird, wenn man sich so öffnet. Jemand könnte sich darüber lustig machen. Oder man wird einfach nicht verstanden, weil die anderen aus einem ganz anderen Kontext kommen. Ich glaube aber, wenn man sehr viel Herzblut in die Arbeit steckt und man nicht unbedingt funktionieren muss, kann es viel ­öffnen. FS: Wenn ich Theater schaue, habe ich oft den Eindruck, das Bedürfnis, die Welt verändern zu wollen, ist als versponnenes Kostüm im Fundus verschwunden. Auch die Suche nach der größtmöglichen Authentizität führt nicht selten in Sackgassen. DS: Ja, dieses Authentische. Ich glaube, man darf Theater nicht wegen der Authentizität machen. Muss denn alles so unglaublich authentisch sein? Ich glaube, das ist eine Haltungsfrage. Und ich glaube, wenn man die Augen und Ohren offen hat, können die Dinge, die ich für die Bühne benutze, überall passieren. Wir waren mal in Israel essen. Die Kellnerin hat uns unglaublich zugetextet. Wie wichtig diese Siedlerprojekte seien. Sie wären ja vor Tausenden von Jahren zuerst dagewesen. Das sei ihr Land. Sie war so alt wie wir. Sie war so brainwashed durch Militär und Schule. Ich würde jetzt aber niemals diese Frau auf die Bühne stellen. Ich frage mich dann eher, wie ich geformt und erzogen wurde. Wie brainwashed bin ich? Was ist mir wichtig? Über solche Fragen kann ich eventuell einen Ansatz finden. Woran das Theater oft krankt, ist, dass es zu sehr mit sich selber beschäftigt ist. Man verfolgt viele unnütze Fragen. Man muss auch keinen Trends hinterherrennen. Ob das jetzt dieser Authentizitätsdrang ist oder irgendwelche großen Pappköpfe, mit denen auf einmal alle auf der Bühne rumgerannt sind, nur weil jetzt diese eine Regisseurin das gemacht hat. Hört doch auf mit dieser Scheiße! FS: Mir scheint, heute brauchst du ein erkennbares Markenzeichen, um auf dem Theatermarkt bestehen zu können. Du musst gekauft, gebucht und bezahlt werden, um leben und arbeiten zu können. Und der »Kunde« will wissen, was er kauft. Man braucht ein Markenzeichen. Was rätst du unseren Studierenden?

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DS: Ich finde das nicht einfach und spüre das Problem, wenn ich mit Theatern verhandle. Vielleicht wünsche ich mir manchmal auch, noch klarer zu wissen, wie ich was mache. So wie das bei Milo Rau und seinem Reenactment-Theater ist. Das ist so schön klar benennbar. Das hat auch eine Qualität und es ist gut. Es ist die Frage, wie man seine Handschrift findet. Wie findet man seine Mittel? Ich mache das nicht so bewusst. Was mich interessiert, kommt oft aus meiner Biografie und ich nutze improvisatorische und dokumentarische Mittel. Dazu gehört bei mir eine starke Körperlichkeit und oft auch eine derbe Sprache. Es sind meist nicht die poetischen Texte, die mich interessieren. Ich nehme, was ich brauche. FS: Was treibt dich zu deinen Farben, Stoffen, Themen? DS: Eine große Neugierde treibt mich um. Ich bleibe ja vor diesem Stein mit dem Gilgamesch-Epos im British Museum nicht aus Zufall stehen. Ich hatte im Vorfeld etwas über sumerische Völker gelesen. Ich kam über ein paar Historiker und Philosophen darauf. Die Sumerer erfanden die Schrift, weil sie irgendwie festhalten mussten, wie viele Ziegen der eine oder der andere hatte. Und dann kam ein schlauer Mensch auf die Idee, auch die Geschichten in dieser komischen Keilschrift festzuhalten, die man sich erzählte. Und darum war ich im British Museum. Dort habe ich diesen Stein gefunden. Ich habe mich weitläufig diesem Stoff genähert. FS: Du führst viele unterschiedliche inhaltliche Fäden zu einer Metapher zusammen, die sich in einer Kunstfigur ausdrückt. Auch betonst du immer, dass die Gruppe dir in der Arbeit extrem wichtig ist. DS: In unserem Projekt Woyzeckmaschine interessierte mich zuerst das Spiel der Menschen untereinander. Das Spiel in der Gruppe. Ich habe Spielregeln erfunden, improvisierte Sachen mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende, in wechselnden Settings. In der Zukunft. Apokalypse. Einfach Extreme. Das hat das Spiel befreit. Es entstand viel. Dieses Prinzip habe ich dann auch strukturell ins Stück integriert. Es hatte keinen Text, sondern nur Beschreibungen. Es gab eine Reihe von Cues, die zur nächsten Szene führten. Die mussten alle kennen. Wenn das oder jenes passierte, war man in einer nächsten Szene. Das hat super funktioniert. Es wurde aber auch Woyzeck erzählt. Es gab einen Arzt, die Marie, die hieß bei uns Mimi, Woyzeck war Wolf, es gab den Tambourmajor. Und es wurde das gesamte persönliche Material mit eingebracht. Ich hatte einen eigenen Weg gefunden, über Improvisationen zu sehr persönlichem Material für Woyzeck zu kommen. FS: Auch in der Arbeit an the holycoaster s(HIT) circus stand eine konkrete Arbeitsallianz im Mittelpunkt des Interesses.

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DS: Da arbeiteten wir mit Ensemblemitgliedern vom Tanzhouse Machol Shalem in Jerusalem zusammen. Wir mussten über die direkte Sprache Wege zueinander finden. Es gab viele Parallelen zwischen uns. Das Raue, das Körperliche beispielsweise. Auch das politische Interesse einte uns. Wir gingen also noch einen Schritt weiter und generierten unsere eigene Vorlage. Wir schrieben einen Dokumentarfilm, und auf Grundlage des Films wurde das Stück entwickelt. Wir wurden selbst zu Figuren und benutzten auch unsere eigenen Namen. Wir haben uns nur etwas eckiger gemacht und Grauzonen weggelassen. Es entstanden achtzig Stunden Filmmaterial. Das musste auf fünfzig Minuten runtergekürzt werden. Das war unglaublich viel Arbeit, aber dadurch entstand auch eine große Freiheit. Ein Luxus. Diese fünfzig Minuten wurden dann Teil der Bühnenshow und darüber hinaus ist auch ein eigenständiger abendfüllender Kinofilm entstanden. FS: Wann wird die Arbeit schwierig für dich? DS: Man muss seine Grenzen kennen. Was will ich wirklich veröffentlichen? Man ist nackt auf der Bühne, und manche Themen sind schlicht nicht geeignet für die Veröffentlichung. Die Gefahr, sich selbst zu verletzen, ist real. FS: Du bist mit den unterschiedlichsten Formaten unterwegs und arbeitest künstlerisch in vielen Funktionen. Was schreibst du in die Spalte Berufsbezeichnung? DS: Ich schreibe Regisseur/Schauspieler. FS: Das stimmt für dich? DS: Ja. Momentan. Wir leben ja im digitalen Zeitalter. Da kann ich das immer wieder ändern. FS: Wie findest du die Leute, mit denen du zusammenarbeiten willst? DS: Das ist ganz unterschiedlich. Die Leute müssen positiv und experimentierfreudig sein. Ich arbeite nicht so gern mit Nörglern zusammen, die in ihrem funktionierenden Kreis bleiben wollen. Mir ist eine große Offenheit wichtig. Ja, wie finde ich die Leute? Ich mache keine Castings. Die sind schrecklich. Wenn ich mich mit jemandem gut verstehe, Bier trinken und lachen kann, dann ist es schon mal gut. Das spürt man schnell. Ich glaube, man muss über die Dinge, die man machen möchte, wirklich gut sprechen. Auch wenn die Leute ihr Handwerk verstehen, was sowieso Voraussetzung ist, muss man sehr gut abchecken, ob die Person wirklich für ein Projekt geeignet ist. Das schafft man nicht über ein Vorspiel und das schafft man auch nicht darüber, dass man jemanden im Theater auf der Bühne gesehen hat. Das muss man über andere Kanäle rausfinden.

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FS: Wenn man aus einer Schule kommt, möchte man ja auch gefunden werden. Möglichst von den richtigen Leuten. DS: Nach der Schule habe ich mir unglaublich viel angesehen. Extrem viel. Es hilft auch, sich zu engagieren. Zum Beispiel im Berufsverband. Da findet man und wird gefunden, weil man sich mit vielen unterhält. So habe ich zum Beispiel Daniel Mezger gefunden, den kannte ich vorher nicht. Wir haben in Diskussionen in dieselbe Richtung gedacht, konnten aber auch konstruktiv streiten. Und dann haben wir gesagt, wir müssen mal was zusammen machen. Und jetzt plane ich mit ihm das dritte oder vierte Stück. Gefunden werden ist nichts Passives, sondern etwas sehr Aktives. Man muss sehr viel investieren und auch Sachen machen, die einem scheinbar erstmal nichts bringen. Beim Berufsverband habe ich ganz viele Leute kennengelernt. Und mit vielen arbeite ich jetzt auch. Du musst einfach mit den Leuten reden. Es ist ja viel schwieriger, ein Stück anzugucken und danach die Leute anzusprechen. Da entsteht gar nichts. Man geht kein Bier trinken und wird auch nicht eingeladen. Dafür gibt es viel zu wenig Raum. Wenn man gute Entscheidungen trifft, sich fokussiert, Haltung bezieht, Interessen verfolgt und das mit gutem Handwerk paart, hat man schon mal gute Voraussetzungen, seinen Weg zu gehen. Natürlich gibt es noch viele andere Sachen. Wie schreibt man ein Konzept? Wo sind die Fördertöpfe? Mit welchen Methoden komme ich auf einer Probe zu Resultaten? Aber das sind alles Dinge, die man lernen kann. Man kann uns auch fragen, aber neunzig Prozent der Arbeit muss man allein machen. Und im Augenblick bereite ich gerade vier Sachen gleichzeitig vor und habe eben keinen Fokus.

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»Freiheit und Kontrolle« Ein Gespräch zwischen Frank Schubert und ­Martin Wigger über Theater als heiteren ­vorrevolutionären Zustand Martin Wigger: Noten. Es gibt eine Politik, die Bern beurteilt. Und es gibt den Arbeitsmarkt, der Setzungen ausspricht, die ganz klar in die Ausbildung zurückwirken. Aber es scheint, die Zeit spielt uns zu. Das Berner Modell darf sich, glaube ich, im Augenblick durch die vielen erfolgreichen Engagements bestätigt fühlen. Aber dennoch, der Freiheit wird permanent eine Kontrolle gegenübergestellt. Frank Schubert: Die Kontrollinstanz Markt ist keine homogene Macht mehr. Eine wahrscheinlich nie dagewesene Vielfalt schafft ungeahnte Möglichkeiten. Natürlich misst sich der Erfolg einer Schule an Zahlen. Wie viele Absolventen können von ihrer Arbeit wirklich leben? Ich kenne keine verlässlichen Zahlen, aber unsere Absolventen der letzten Jahre sind an vielen auch großen Staatstheatern überraschend präsent. Maximilian Reichert und Kay Kysela in Zürich, Julia Gräfner an den Münchner Kammerspielen, Daniel Nerlich an der Volksbühne, Florian Anderer an der Schaubühne in Berlin, Gina Haller in Bochum ist gerade ­beste Nachwuchsschauspielerin des Jahres geworden. Die Liste könnte noch lange fortgeführt werden und würde dennoch nicht alle erfassen. Auch im freien Bereich sind viele international sehr erfolgreich unterwegs und können von ihrer Kunst auch ihre Brötchen bezahlen. Eine Schule ist eine staatliche Einrichtung und abhängig von Geldgebern und der Politik. Die Schlagzeilen unserer Absolventen sind da hilfreich. Im Ausbildungsprozess kommt es aber immer wieder zu Unsicherheiten. Beispielsweise auf der Suche nach verlässlichen Bewertungskriterien für die Arbeiten unserer Studierenden. Bis zu einem bestimmten Punkt können wir das beherrschte Handwerk bewerten. Die Bewertung der Projekte, auch der Abschlussprojekte wird da schon schwieriger. Wie prüfen wir also? MW: Überprüfung und Kontrolle finden oft eine Mehrheit, die sich ihrerseits völlig freiwillig überprüfen und kontrollieren lässt. Es ist doch auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Nun ist aber Theater ein einziger Emanzipationsprozess. Theater kann sich nur im Spannungsfeld von Kontrolle und Befreiung bewegen. Theater ist nicht frei. Das wussten die deutschen Fürsten schon sehr früh, bau-

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ten Theater, größer und schöner als ihre eigenen Paläste, und schlossen sie an ihre Fürstenhöfe an. Und sie machten damit erkennbar ein Spannungsfeld auf. Aus diesem hat sich Theater nie herausbewegt. Das ist auch toll. Hegel hat gesagt, es gab immer zwei Welten auf der Bühne. Nehmen wir Antigone. Da ist die Welt der Kontrolle, vertreten durch Kreon, und da ist die Welt des Ausbruchs und der Freiheit, repräsentiert durch Antigone. Beide versuchen, nicht erfolgreich in diesem Fall, ihre Schnittmengen zu definieren. Kreon wird ja leider so negativ gelesen. Im Text steht er eigentlich, das betont auch Hegel, komplett gleichberechtigt neben Antigone. Wenn wir über Kontrolle und Freiheit reden, ist die Gleichberechtigung beider Welten wichtig. Wir finden Kontrolle aber erstmal ganz schrecklich. Kreon sagt, ich bin gewählt worden. Ich bin ein legitimierter Herrscher. Was willst du eigentlich von mir, Antigone? Meine Aufgabe ist es, ein Volk zu regieren und Maßnahmen zu treffen. Und diese Maßnahmen habe ich getroffen. Diese betreffen dich, Antigone, gerade leider negativ. Und Antigone beruft sich auf ihre eigenen Gesetze: »Ich wurde nicht geboren, um zu hassen, sondern um zu lieben.« Das ist ihre eigene Gesetzgebung, die schon bei Sophokles nur ein Teil einer völlig gleichberechtigten Ausgangslage bedeutet. Freiheit und Kontrolle. Das gleichberechtigte Nebeneinander ist ein Theatergesetz. Schauen wir uns die in diesem Buch beschriebenen Projekte an, dann wird dieses Gesetz geradezu bekräftigt: Es gibt norway.today gleichberechtigt neben Nackt. Und dann gibt es noch das Bibelprojekt, das bei aller vorausgegangenen internen Kritik auf einmal zu einer großen Performance im Sinne von Freiheit wurde: Man konnte nachts Texte sprechen und hören, die man sonst niemals gesprochen und gehört hätte. Die Chance, sich von der einen oder auch der anderen Seite immer wieder überraschen zu lassen, ist doch etwas Schönes in diesem Kontext. Ja, das ist etwas zu programmatisch. Ich weiß. FS: Und doch bekennen wir uns zu dieser Polarität immer wieder. Auch dafür ist unser Grundlagenprojekt ein Beispiel. Wir organisieren eine große Freiheit dem Theater und Shakespeares Welt gegenüber. Darüber hinaus versuchen wir, zementierte Theaterbilder, die die Studierenden mitbringen, aufzubrechen. Und ich versuche, einen gleichberechtigten Dialog zwischen den Studierenden und dem Autor zu provozieren. Am Ende tritt die Klasse aber vor ein wertendes Publikum. Zu diesem gehören auch die Mitglieder des Kollegiums. Die Erfahrung lehrt, dass zuerst einmal geschaut wird, ob sie gelernt haben, Brüche zu spielen, Impulsen zu folgen, ob Figuren und ihre Beziehungen plastisch werden. Natürlich muss das Handwerk ein zentrales Thema sein,

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aber die Reihenfolge sollte eine andere sein. Da wären wir wieder bei der Grundphilosophie unserer Schule. MW: Die Frage ist doch auch, an welchem Menschenbild wir arbeiten. Wo und warum setzt die Erziehung in Form von Kontrolle an? Wo greift man ein? Das war immer ein Problem. Wo beginnt eine Form von Kontrolle? Wo sie im Theater und im Machtapparat beginnt, wissen wir. FS: Der Beginn und der Schluss sind einfach zu beschreiben. Es beginnt bei der Selbstkontrolle, nicht selten sofort bei der Selbstzensur. Wie viele Ideen werden nicht ausprobiert, weil man denkt, sie sind zu blöd! Man traut sich nicht. Ganz einfach. Am anderen Ende der Skala steht die klar zu verurteilende Reglementierung künstlerischer Prozesse und Ergebnisse. Auch hier finden wir leicht zu einer Position. Schwierig wird es in der Mitte. Widme ich mich einem Inhalt, weil ich erfolgreich sein will, oder wage ich es auch, Impulsen zu folgen, die auf großen Widerstand stoßen könnten. Auch Johannes Mager weist im Gespräch darauf hin, dass man vor allem aus dem Scheitern lernt. Das ist aber nicht leicht im täglichen Arbeitsprozess. MW: Wie war es, als Tabea Buser eine Weinverkostung als Prüfungsprojekt beantragte? Andererseits schlägt jemand norway.today vor. Also eine sichere Bank. Man weiß, das Stück funktioniert. Wie verhält man sich da als praktisch Dozierender? FS: Tabea Buser ist mit ihrem Projektantrag erstmal auf große Skepsis gestoßen. Natürlich. Das ahnte sie. Darum hat sie ihren Antrag mit performativen Absichten aufgepeppt, die sie nie umsetzen wollte. Johannes Mager weist im Gespräch darauf hin, dass sich viele Künstler in der Praxis durch Förderrichtlinien dazu verleiten lassen, ihre Konzepte entsprechend »anzupassen«. Tabea Buser täuschte glücklicherweise den Kontrollmechanismus ein wenig und konnte so die Voraussetzung erkämpfen, einen Hit zu landen. Sie wusste von Anfang an, was sie wollte. Und wenn wir jetzt annehmen, dass die kontrollierenden Hochschulvertreter diesen Prozess von Anfang an durchschauten, sie aber gewähren ließen, wird das Spiel noch interessanter. norway.today war an unserer Schule keine sichere Bank. Diese »konservativen« Arbeitsweisen gehören nicht zum Alltag. Eine solche Produktion wird als das betrachtet, was sie ist: ein gleichberechtigter Baustein in einem weiten Spektrum. Das macht das Projekt fast schon zu einem exotischen Ereignis. MW: Wenn wir auf die aktuelle Konzeption des Zürcher Schauspielhauses blicken, findet man dort eigentlich kaum noch klassische Spielplanpositionen. Was bis jetzt Gültigkeit hatte, verliert

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seine ­Relevanz. Die deutsche Bühnensprache ist nicht mehr selbstverständlich, und das Ensemble setzt sich nicht mehr nur aus ausgebildeten Schauspielerinnen und Schauspielern zusammen. Da hat sich viel verschoben. Und mir scheint, das wurde nicht gemacht, um bewusst Grenzen zu sprengen. Man wollte etwas ausprobieren. Es ist wie ein heiterer vorrevolutionärer Zustand. Man weiß um die natürlichen Grenzen des Theaters und gibt die revolutionären Gedankenwelten an die Gesellschaft in Gestalt des Publikums weiter. Es tut sich gerade so viel in der Schweizer Theaterlandschaft, dass man auf Formen von Kontrolle gar nicht mehr viel Wert zu legen scheint. Kontrollmechanismen werden in unserer Gegenwart ganz anders ausgeübt, womit wir wieder bei Trump, Putin, Orbán, Kaczynski und beim Thema Rassismus wären. Da liegen die wirklich gravierenden Probleme. Es ist auch eine Frage, inwieweit man in der Kunst den Ökonomen die Macht gibt, oder ob wir nicht clever sein sollten und uns Wirtschaftskompetenzen aneignen und unsere Angelegenheiten viel besser selbst verwalten, weil wir den Ökonomen eine Fähigkeit voraushaben: Wir können spielerisch denken und handeln. Wie gesagt, laut Shakespeare: Du kannst auch das Gegenteil von dem denken, was du gerade tust. Wenn man das weiß, begreifen wir die Zusammenhänge von Welt anders. Da waren die antiken Autoren schon toll und sehr weitsichtig. Sie nutzten das Theater als Prozess des Ausprobierens, um die beste Staatsform zu entwickeln. Die Demokratie. Da können wir viel begreifen. Kommen wir nochmal auf Antigone zurück. Da werden zwei Positionen vorgeführt, bei denen man sich eigentlich nicht falsch entscheiden kann. Sie haben beide ihre Berechtigung. Das ist das Tolle. Es muss ebenso eine Form von Kontrolle geben wie eine Form von Freiheit. Ich arbeite im Theorieunterricht sehr gern mit den Ideen des kanadischen Soziologen Erving Goffman. Er arbeitet mit der sogenannten Rahmenanalyse. Dabei geht es darum, sich nicht nur einen eigenen Rahmen zu setzen, sondern auch den Rahmen einer anderen Figur zu erkennen. Was passiert in einer Aufführung? Will das Theater ein Publikum, das sich einschaltet? Wie gehen sie mit der Freiheit des Publikums um? Wenn das Publikum den Saal verlässt, kontrolliert es damit die Aufführung, oder ist es frei? Will man ein Publikum, das sich aktiv einschaltet und protestiert, sogar Tomaten wirft, wie es die Futuristen wollten, die statt Programmheften Tomaten oder faule Eier verteilten? Im Theater wird immer mit dem Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Freiheit gespielt.

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FS: Die Beispiele, die wir in unserem Buch zusammentragen, beschreiben ein interessantes Bild zwischen Freiheit und Kontrolle: Nils Amadeus Lange hat die kontrollierte Leistungsabrechnung genossen, um sich in der Praxis von ihr befreien zu können. Dennis Schwabenland, der immer wieder interessante Angebote von verschiedenen Theatern bekommt, hat den Wert des nicht kontrollierten Arbeitens für sich klar definiert. Tabea Buser setzt noch einen drauf: Sie suchte und fand eine Form, mit der sich die Kunst der Macht und der Kontrolle über ein Publikum selbst entzieht. Das sind Reflexe auf eine Ausbildungsrealität, die ohne Kontrollmechanismen gar nicht auskommen kann. MW: Die Theaterleute erkennen heute mehr denn je ihr Medium. Das ist kein Zufall. Wir leben in einem Medienzeitalter, und das Theater hat längst Konkurrenz bekommen. Theater besinnt sich heute vielleicht wieder mehr auf sein Kerngeschäft. Es besinnt sich darauf, über den Körper und die direkte Vorführung etwas zur Anschauung zu bringen. Und die Entscheidungsprozesse werden nicht mehr der Bühne überlassen. Wer will noch einen Schiller, der auf den Punkt kommt? So oft wird von den Regisseuren zuerst einmal der Schluss verändert. Und die Gegenwartsdramatik lebt von Stücken ohne erkennbares Ende. Wir haben im Theater wieder Menschen vor uns, die schwitzen und sich die Seele aus dem Leib schreien. Mir wird jetzt immer öfter wieder etwas präsentiert, was ich für nicht vorstellbar gehalten habe. In einem vollständig kontrollierten Umfeld kann das Theater immer noch erfolgreich die andere Seite repräsentieren. Dabei muss das Theater nicht erzählen, wie die Welt auszusehen hat, wie Entwicklungen auszugehen haben und wohin bestimmte Bewegungen steuern. Das müssen wir entscheiden. Das Publikum. Mit Möglichkeiten, die es sich im Theater abschauen kann.

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Danksagung Dieses Buch konnte durch die engagierte Mitarbeit vieler Kolleginnen und Kollegen zu einer wirklichen Teamarbeit werden. An erster Stelle möchten wir also allen danken, die bereit waren, diese Arbeit direkt oder indirekt zu unterstützen. Unser Dank gilt zuerst unserem Fachbereichsleiter Florian Reichert, aber auch dem Studienbereichsleiter Wolfram Heberle für seine organisatorische Hilfe. Einen herzlichen Dank rufen wir aber vor allem Sibylle Heim, Stephan Lichtensteiger, Julia Kiesler, Martin von Allmen, Regine Schaub-Fritschi, Manuela Trapp, Johannes Mager und Marianne Oertel zu. Ebenso unserer Absolventin Tabea Buser und unserem Absolventen Dennis Schwabenland sowie unserem Absolventen und nunmehr Kollegen Nils Amadeus Lange. Ein großer Dank geht an die Bachelor-Studierenden Jonas ­Dumke, Jonathan Ferrari, Nola Friedrich, Nanny Friebel, Maria H ­ eide ­Goletz, Marvin Groh, Lea Maria Jacobsen, Timo Jander, Antoinette Ullrich und Joshua Walton, an Katharina Schmidt, Niken Dewers und Lena Miriam Ruth Perleth und Gabriel Noah Maurer, Leonie Sarah ­Kolhoff und Olivier Joel Günter. Ein besonderer Dank geht auch an den ­Master-Studierenden Philip Neuberger. Ihnen allen ist es zu danken, dass dieses Buch sehr persönliche Einblicke in unsere Arbeit, unser Denken und Ringen um eine hohe Ausbildungsqualität geben kann. Ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Hochschule der Künste HKB, der Ernst Göhner Stiftung und der Burgergemeinde Bern wäre dieses Buch ebenfalls nicht zustande gekommen. Ich danke hiermit Christian Pauli, Sonja Hägeli und Nicole Leuenberger auch ganz persönlich für die unkomplizierte Unterstützung. Wir danken auch allen Fotografen, die uns ihre Fotos unentgeltlich zur Verfügung stellten. Wir halten das nicht für selbstverständlich. Unser herzlicher Dank gilt dem Verlag Theater der Zeit, besonders dem Verlagsleiter Harald Müller und selbstverständlich unserer großartigen Lektorin Dr. Nicole Gronemeyer. Und am Ende gilt ein ganz besonderer Dank unseren Familien und Freunden, die unsere Arbeit mit Interesse und viel menschlicher Unterstützung begleitet haben. Frank Schubert und Martin Wigger

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Beiträgerinnen und Beiträger Martin von Allmen lebt und arbeitet in der Umgebung von Bern. Er hat Dirigieren und Gesang am Konservatorium für Musik und Theater in Bern und in Dresden bei Martin Flämig und Elisabeth Glauser studiert. Er arbeitete lange als Musiklehrer am Gymnasium, als Kantor und Kirchenmusiker, als Chor- und Orchesterdirigent und arbeitete mit Laienchören, Ensembles und Laienorchestern. Er ist Mitbegründer der a-capella-Gruppe »Jaqueline Kroll« in Hannover, mit der er ausgedehnte Konzerttourneen in Deutschland, Österreich und der Schweiz bestritt. Regelmäßiger Austausch mit Pierre Favre, Gilbert Paeffgen und Fritz Hauser. 2013 schloss er den Master of Arts MA Electroacoustic Composition (German Toro-Perez) an der Zürcher Hochschule der Künste ab. Er hat eigene konzertante Hörstücke realisiert und schrieb und spielte Theatermusik u. a. am Thalia Theater Hamburg, Theater Regensburg, Schauspielhaus Zürich und am Stadttheater St. Gallen. Sein Interesse gilt mehr und mehr der Improvisation, der Klangperformance und dem experimentellen Klang- und Musiktheater. Martin von Allmen war von 1991 bis 2008 Dozent für Musik und Gesang an der Hochschule der Künste Bern (HKB) und gründete 1998 die Musikunterrichtsplattform ­TONWERK-KLANGRAUM. Seit 2016 ist er regelmäßiger Gastdozent an der HKB und an der ZHdK in Zürich. martinvonallmen@me.com Sibylle Heim studierte nach der Lehrerausbildung Germanistik und Theaterwissenschaften an den Universitäten Bern, Bonn und Köln. Nach dem Studium war sie zunächst am Literaturhaus Köln tätig. Es schlossen sich vier Jahre als Dramaturgin am Theater an der Winkelwiese in Zürich an. Danach kam sie an die Hochschule der Künste Bern (HKB), um erst als Assistentin und jetzt als Wissenschaftliche Mitarbeiterin den Master Studiengang Expanded Theater aufzubauen, zu begleiten und weiterzuentwickeln. Parallel zu dieser Tätigkeit arbeitet sie an verschiedenen Forschungsprojekten des Instituts für Praktiken und Theorien der Künste an der HKB mit und ist Teil eines vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts, das sich mit dem Phänomen der Kunstfiguren auseinandersetzt. sibylle.heim@hkb.bfh.ch Julia Kiesler studierte von 1997 bis 2002 Sprechwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Anschließend arbeitete sie als Sprecherzieherin in der Abteilung Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn ­Bartholdy« Leipzig und am Theater Chemnitz sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sprechwissenschaft und Phonetik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2005 ist sie Professorin für das Fach Sprechen im Studienbereich Theater der Hochschule der Künste Bern (HKB). Von 2012 bis 2017 war sie außerdem als Forschungsdozentin an der HKB tätig und leitete das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Forschungsprojekt »Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater«. Hieraus entstand u. a. ihre Dissertation Der performative Umgang mit dem Text, mit der sie 2018 an der ­Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg promovierte. Neben ihrer Forschungsund Lehrtätigkeit ist sie künstlerisch als Sprecherin aktiv und trat u. a. mehrfach mit dem Berner Symphonieorchester auf. julia.kiesler@hkb.bfh.ch Nils Amadeus Lange ist Performer, Künstler und Dozent für Performance mit dem Schwerpunkt Mode. Nach seinem Schauspielstudium an der Hochschule der Künste Bern (HKB) erweiterte er seine Theaterpraxis mit dem Fokus auf Tanz und Performance und entwickelte zahlreiche Projekte in Zusammenarbeit mit bildenden Künstlerinnen und Künstlern. Im Zentrum seiner Praxis steht der Körper, der als Mittel zur Dekonstruktion von Konventionen, sozialen Modellen und Gender-Stereotypen fungiert.

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Seine eigenen und kollaborativen Arbeiten wurden u. a. in der Kunsthalle Zürich, im Arsenic Lausanne, den Kunsthallen in Bern und Basel, auf den Schweizerischen Tanztagen, zu Zürich moves!, in der Gessnerallee, Frascati Amsterdam, ZÜRICH TANZT, zu den Berliner Festspielen, Les Urbaines Lausanne, im Südpol L ­ uzern, dem Tanzhaus Zürich, Liste Basel, ImPuls Tanz Wien, zur Venedig Biennale und CounterPulse San Francisco gezeigt. nils.dance/onewebmedia/new2018_portfolio_nils_lange.pdf Stephan Lichtensteiger pflegt ein breites Gesamtschaffen, das Theater- und Rauminszenierung, Video, Fotografie, Hörspiel und Audioinstallationen umfasst. Auf formaler Ebene gilt sein Interesse einer unmittelbaren Erzählsprache, die medien- und spartenübergreifend Raum, Bild, Ton, Sprache und Körper als Ganzes betrachtet und nutzt. Als Regisseur und Autor arbeitet er vor allem in der freien Theaterszene Schweiz. Seit 2001 realisiert er unter dem Label »fischteich« zahlreiche Ausstellungen und partizipative Projekte. Seit 1996 nimmt Stephan Lichtensteiger Lehraufträge wahr, u. a. an der Hochschule der Künste Bern (HKB). Die Arbeitsfelder umfassen dabei Improvisationsseminare, Kurse in angewandter Theorie (Projektentwicklung) und Mentorentätigkeiten. Er ist Mitglied in den Berufsverbänden t., astej, Visarte und dem Schweizerischen Werkbund (SWB). li@fischteich.ch Johannes Mager machte 1985 das Abitur in Dresden und arbeitete daraufhin als Nachtwächter und Autoschlosser, bevor er 1994 das Schauspielstudium an der Theaterhochschule »Hans Otto« in Leipzig abschloss. Theaterengagements führten ihn u. a. an das Schauspielhaus Chemnitz, das Staatstheater Kassel und an das Theaterhaus in Jena. Seit 1997 ist er auch als Regisseur tätig. Parallel arbeitete Johannes Mager als Dozent für Darstellung an verschiedenen Hochschulen. Von 1998 bis 2000 war er als Studioleiter des Studio Chemnitz für die Hochschule für Musik und Theater Leipzig tätig. Lehraufträge führten ihn an die Hochschule für Musik und Theater in Rostock sowie an die Hochschule der Künste Bern (HKB), wo er seit 2002 als Professor berufen ist. Im Jahr 2013 gründete er das freie Theaterkollektiv »Forever Productions«, mit dem er zahlreiche Regiearbeiten verwirklichen konnte. johannes.mager@hkb.bfh.ch Marianne Oertel studierte von 2007 bis 2012 Sprechwissenschaft und Phonetik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2014 arbeitet sie als Dozentin im Fach Sprechen an der Hochschule der Künste Bern (HKB). Neben der Lehrtätigkeit als Sprecherzieherin an verschiedenen Theatern (u. a. Schauspielhaus Zürich, Theater St. Gallen, Thalia Theater Halle) und Theaterhochschulen (Universität der Künste Berlin, Hochschule für Musik und Theater Rostock, Zürcher Hochschule der Künste) interessiert sie sich sehr für andere Sprachen und Kulturen und besucht als Gastdozentin regelmäßig Kunsthochschulen in Skandinavien. www.marianne-oertel.com Florian Reichert ließ sich im Anschluss an sein Musikstudium in Wien und Graz (Hauptfach Violoncello) an der Accademia Teatro Dimitri in Verscio (Physical Theater) ausbilden. Von 1987 bis 1997 spielte er in der »Compagnia Teatro Dimtri«, am Landestheater Tübingen, dem Schillertheater Berlin und am Schauspielhaus Düsseldorf. Regelmäßig tourte er u. a. mit den eigenen Produktionen Der Stuhl hat vier Beine – oder: von einem, der auszog, die Wirklichkeit anzufassen und Gebrüder Beinhardt – Leichter Leiden mit Musik. Reisen mit dem Tangotrio »Tango Fusion« führten ihn nach Buenos Aires und auf Gastspielreisen durch Europa. Daneben unterrichtete er an der Accademia Teatro Dimitri, die er von 1997 bis 2007 leitete und in eine vom Bund anerkannte

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Hochschule für »Physical Theater« transformierte. Ab 2007 übernahm er die Leitung des Fachbereichs Oper/Theater an der Hochschule der Künste Bern (HKB). In dieser Funktion ist er auch Mitglied der Departementsleitung der HKB und geht einer regelmäßigen Lehr- und Forschungstätigkeit nach. florian.reichert@hkb.bfh.ch Regine Schaub-Fritschi erhielt ihre Ausbildung in klassischem Ballett an der Ballettakademie Zürich. Ihre weitere Ausbildung führte sie zu Maurice Béjart an die Mudra in Brüssel und an die David Howard School of Ballet in New York. Ihr erstes Engagement hatte sie als klassische Tänzerin am Opernhaus Zürich bei Patricia Neary, dann am Basler Theater bei Heinz Spoerli. Von 1984 bis 1991 war sie Solistin im Ensemble des Choreografischen Theaters von Johann Kresnik am Theater Heidelberg und am Bremer Theater, 1991 wechselte sie hier ins Schauspiel. Seit 1997 arbeitet sie freischaffend u. a. am Bremer Theater, Schauspielhaus Zürich, Theater Basel, Theater der Stadt Gießen, auf Kampnagel in Hamburg, bei den Wiener Festwochen und am Jungen Theater Bremen. Von 2009 bis 2012 absolviert sie das Masterstudium »Scenic Arts Practice« an der Hochschule der Künste Bern (HKB). Seit 2012 ist sie hier als Dozentin für Tanz und Bewegung und als Mentorin für Bachelor- und Master-Projekte tätig. Frank Schubert studierte Theaterwissenschaften in Leipzig. Ab 1984 war er Regieassistent am Staatsschauspiel Dresden, u. a. bei Wolfgang Engel, B.K. Tragelehn und Horst Schönemann. Gründung der freien Kompanie statt-theater FASSUNGSLOS, ein Ensemble aus spielenden, musizierenden und tanzenden Menschen. 1987 bis 1989 Regisseur am Nationaltheater in Weimar. Ab 1989 freiberuflich tätig, vor allem mit dem statt-theater FASSUNGSLOS. Ab 1991 wird Ernst Jandl zu einem regelmäßigen Arbeitspartner für das Ensemble. Gastspielereisen führen u. a. ans Burgtheater in Wien, nach Salzburg, ans Deutsche Theater in Berlin, auf Kampnagel in Hamburg und an die Gessnerallee in Zürich. Es entstehen Filme für 3SAT/ZDF in enger Zusammenarbeit mit dem Autor Matthias Dix sowie Hörspiele beim Bayerischen und dem Westdeutschen Rundfunk. Daneben übernimmt Frank Schubert regelmäßig Lehraufträge an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig und an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock. Seit 2000 ist er Professor im Fachbereich Theater an der Hochschule der Künste Bern (HKB). frank.schubert@hkb.bfh.ch Dennis Schwabenland schloss 2008 seine Schauspielausbildung an der Hochschule der Künste Bern (HKB) ab. Er ist Gewinner des Nachwuchspreises für Theater und Tanz PREMIO 2009 (Regie Woyzeckmaschine) und des Berner Filmpreises 2016 (Co-Regie the holycoaster s(HIT) circus). Er ist künstlerischer Co-Leiter der Berner Theatergruppe PENG! Palast und arbeitet als Schauspieler und Regisseur mit diversen anderen Theatercompagnien zusammen. Seine Theaterprojekte gingen in der Schweiz, Deutschland, Österreich, Palästina, Israel, in den Niederlanden, China, Hongkong, Singapur und Thailand auf Tour. Manuela Trapp studierte Schauspiel am Konservatorium für Musik und Theater in Bern. Sie arbeitete als Bühnen- und Filmschauspielerin sowie als Performerin in der Schweiz und in Deutschland. Als Mitglied der Performancetheatergruppe STOP.P.T. entwickelte sie verschiedene künstlerische Arbeiten im spartenübergreifenden Bereich. Seit 1991 lehrt sie als Professorin für Darstellung im Fachbereich Theater an der Hochschule der Künste Bern. Sie ist Gastdozentin im Masterprogramm »Maestría interdisciplinar en Teatro y Artes vivas« an der Universidad National de Colombia in Bogotá. 2018 realisierte sie im Auftrag des Schweizer Fernsehens SRF einen Dokumentarfilm über Leben und Werk der Schauspielerin und Performancekünstlerin Janet Haufler. manuela.trapp@hkb.bfh.ch

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Martin Wigger studierte Altertumswissenschaften an den Universitäten Marburg, Berlin und Hamburg, Dramaturgie an der Universität der Künste (UdK) Berlin und Theologie an der Universität Zürich. Nach seiner Tätigkeit als Dramaturg am Landestheater Tübingen (LTT) und am Staatsschauspiel Dresden leitete er den »neubau«, ein Erstund Uraufführungstheater im Kleinen Haus am Staatsschauspiel Dresden (ab 2005), mit Markus Heinzelmann das Theaterhaus Jena (ab 2007), mit Tomas Schweigen das Schauspiel am Theater Basel (ab 2012). Seit 2015 ist er Leiter des Kulturhauses ­Helferei in Zürich. Er unterrichtet regelmäßig im Fachbereich Theater an der Hochschule der Künste Bern (HKB) und im Fachbereich Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig. Martin Wigger wird vertreten durch die Agentur Hilde Stark in Berlin.

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Recherchen 1 3 4 6 7

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Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – »Ich war immer ein Opportunist …« . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz – Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu »Unter Eis« Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst. Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990 – 2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977 – 2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007

49 Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen 52 Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung 54 Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte 55 Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 56 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller 57 Kleist oder die Ordnung der Welt 58 Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater 60 Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater 61 Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa 62 Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 63 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten 64 Theater in Japan 65 Sabine Kebir – »Ich wohne fast so hoch wie er« Steffin und Brecht 66 Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 67 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden 70 Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation 71 per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen 72 Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute 74 Frank Raddatz – Der Demetriusplan . Oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich 75 Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 76 Falk Richter – Trust 79 Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft 81 Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters 82 Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch 83 Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters 84 B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen 87 Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart 91 Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm

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Recherchen 93 Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie 95 Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft 97 Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals 98 Das Melodram . Ein Medienbastard 99 Dirk Baecker – Wozu Theater? 100 Rimini Protokoll – ABCD 101 Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern 102 Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen 103 Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 104 Theater im arabischen Sprachraum 105 Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit . Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation 107 Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik 108 Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 112 Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa 113 Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 116 Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 123 Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« am Schauspiel Leipzig

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125 Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) 126 Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert 127 Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen 128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L’Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019)


Recherchen 151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche 153 Wer bin ich, wenn ich spiele? . Fragen an eine moderne Schauspielausbildung? 152 Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen 154 Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung . ­Fragen an Heiner Müller 155 TogetherText . Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater 157 Theater in Afrika II – Theaterpraktiken in Begegnung 158 Joscha Schaback – Kindermusiktheater in Deutschland 159 Inne halten: Chronik einer Krise 160 Heiner Goebbels – Ästhetik der ­Abwesenheit . Texte zum Theater . ­  Erweiterte Neuauflage

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Das Theater braucht in einer Gesellschaft, die sich in ihrer Sehnsucht nach einer neuen Form von Gemeinschaft so radikal verändert wie nie zuvor, auch neue Künstlerinnen und Künstler, die andere kreative Verortungen suchen. Während auf den Bühnen längst zwischen realistischen, epischen und performativen Spielweisen geswitcht wird, bezieht sich das Curriculum zur schauspielerischen Grundlagenausbildung seit Jahrzehnten fast ausschließlich auf das dramatische Theater und eine psychologisch-realistische Spielweise. Was muss also heute zu einer modernen Grundlagenausbildung an den Schauspielschulen gehören? Frank Schubert und Martin Wigger gehen dieser Frage in vielen Recherchen und Gesprächen mit Lehrenden und Lernenden der Hochschule der Künste Bern nach und stellen Projekte, Methoden und künstlerische Arbeiten vor.

978-3-95749-241-8 www.theaterderzeit.de


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