Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung. Fragen an Heiner Müller

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»Hinter der Frage Krieg oder Frieden steht […] die schrecklichere Frage, ob noch ein andrer Frieden denkbar ist als der Frieden der Ausbeutung und der Korruption. Der Alptraum, dass die Alternative Sozialismus oder Barbarei abgelöst wird durch die Alternative Untergang oder Barbarei. Das Ende der Menschheit als Preis für das Überleben des Planeten.« Heiner Müller

978-3-95749-302-6 ISBN 9783957493026

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Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Müller

Falk Strehlow und Wolfram Ette (Hg.)

Recherchen 154

Marx zufolge ist die menschliche Geschichte Fortschritt, der durch Klassenkämpfe vorangetrieben wird. In den Stücken Heiner Müllers verhält es sich fast umgekehrt: Die sich verschärfenden Klassenverhältnisse sind hier ein Motor des möglichen Untergangs der Menschheit. Im 21. Jahrhundert ist der Zusammenhang von Klassenverhältnissen und einer umfassenden Selbstzerstörungstendenz der global kapitalisierten Menschheit aktueller denn je. »Klassengesellschaft reloaded« lotet diese beiden Komplexe – Klassismuskritik und Gattungssuizid – sowie ihr Verhältnis zueinander im Kontext des Werkes von Heiner Müller aus. Der Band geht auf eine Tagung zurück, die 2019 von der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft in Kooperation mit dem Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin ausgerichtet wurde, und dokumentiert Vorträge, Gespräche und Diskussionen.

Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Müller

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Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung Fragen an Heiner MĂźller


Mit freundlicher Unterstützung durch das Literaturforum im Brecht-Haus/ Trägerverein: Gesellschaft für Sinn und Form e.V.

Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung Fragen an Heiner Müller Herausgegeben von Falk Strehlow und Wolfram Ette Recherchen 154 © 2021 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de

Gestaltung: Agnes Wartner Coverfoto: Jack Zipes Printed in Germany ISBN 978-3-95749-302-6 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-350-7 (ePDF)


Recherchen 154

Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Mßller Herausgegeben von Falk Strehlow und Wolfram Ette



Inhalt

Vorwort

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Falk Strehlow »Ein besseres Haus« Wolfram Ette Klassenkampf und Naturgeschichte Sandra Fluhrer Heiner Müllers Bauern Falk Strehlow »Und wenn du wissen willst, wer hier Dein Herr ist, kauf dir einen Spiegel« Klassismus-Darstellungen bei Heiner Müller

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Christian Meyer »Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist« Illegitime Gewalt in Heiner Müllers Mauser

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Helen Müller Klassenkampf ist noch immer Arbeit gewesen Zu Heiner Müllers Prosatext Herakles 2 oder die Hydra

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Andrea Geier Kleiderständer der Geschichte Mythosrezeption bei Heiner Müller und Volker Braun

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Wolfram Ette Selbstmord der Gattung Ein Grenzwert in Müllers Werk

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Sarah Pogoda The Redundancy Ein Produktionsbericht

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»Warum zertrümmert ihr das Fundament?« Ein Gespräch mit Hartwig Albiro und Carena Schlewitt Moderation: Janine Ludwig

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Autor*innen

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Vorwort »Ein besseres Haus«

»Das Proletariat ist keine Position der Unschuld, sondern die Auflehnung gegen die Tatsache, dass es im Kapitalismus keine Unschuld gibt«, schreibt Luise Meier 2018 in ihrer MRX-Maschine.1 So wie bei Meier das »Proletariat« zwar von Marx aus gedacht wird, aber in konsequent erweiterten Referenzfeldern agiert, so wird es auch bei Müller auf die Dynamiken von Vergangenheit und Zukunft, von sozialistischem Realismus und Mythologie, von Ökonomie und Gemeinschaft, von Leben und Sterben auf bewohnbarer Erde – auf die Dynamiken von Ich und Wir – erweitert und ebenso mit Unreinheit und Schuld attribuiert. (Nichts hat Heiner Müller mehr gehasst als die Idee der Unschuld.) Wenn es in dem vorliegenden Tagungsband um die auf Müllers Bühnen auftretende »Klasse« geht, so kann es nur sowohl um ihre ›schmutzigen Hände‹ als auch um ihren historisch-fragwürdigen ›Auftrag‹ gehen. Doch vor allem richten wir hier unseren Blick auf die Frage: Was ist das: Klasse? Fast drei Jahrzehnte bevor der Begriff der »Intersektionalität« – der mehrdimensionalen Diskriminierung – geboren wird, stellt Heiner Müller die Interdependenzen und Überkreuzungen von Herkunft, Geschlecht und Eigentum auf die Bühne. Gleich drei dieser sich überkreuzenden und verstärkenden Formen des Anders-Seins in einem männlich paternalisierten »Leben auf dem Lande« trägt sein Stück von 1961 bereits im Titel: »Die Umsiedlerin« – nicht von hier ÷ Frau ÷ besitzlos/ (noch) ohne Boden (und schließlich auch noch schwanger). Das sind die sich multiplizierenden Eigenschaften dieser prototypisch-›fremden‹ Heiner-Müller-Figur NIET. Von nun an werden die Wechselwirkungen unterschiedlichster Faktoren von Aus-Grenzung Müller nicht mehr loslassen. Einige wenige Titel, Figuren und Chiffren sollen hier umreißen, in wie vielgestaltiger Weise diese miteinander verwickelten Faktoren in seinem Werk agieren und ein multisektional verwobenes Textil des Ein- und Ausschließens hervorbringen: PHILOKTET, der den Maximalwert von Krieger und Körperdefekt gleichzeitig figuriert, wird zur Störgröße in einer auf reibungslose Kriegsführung getrimmten Gemeinschaft und (bis auf weiteres) auf einer Insel entsorgt. In Inge und Heiner Müllers Weiberbrigade/Weiberkomödie werden Geschlechterdifferenz

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Falk Strehlow

und (Arbeiter-)Klassenbezug überkreuzt, so dass die (vermeintliche) Überwindung der Klassengrenzen in einem ›Einklassenstaat‹ mit der (vermeintlichen) Überwindung der Geschlechtergrenzen korreliert; Emanzipation tritt hier als multifaktorieller Vorgang in Erscheinung. Zement ist ein Revolutionsstück: Müller parallelisiert die historische Revolution von 1917 mit der Revolution des Familienlebens; der wahre Held dieses Revolutionsstückes ist derjenige, der sich von dem privaten Eigentumsanspruch des historischen Helden emanzipiert – er ist eine Sie. Der Auftrag führt uns mit seinen Intermedien schmerzlich vor Augen, wie Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus – wie eine das Kapitalozän bestimmende Klassendynamik – mit der Auftrags-Lage des Heute, Hier und Morgen verstrickt sind. Müllers Medea-Komplex zeigt auf, wie sich die Abhängigkeiten von Herkunft, Gesellschaft und Klasse mit der Geschlechterabhängigkeit verschränken. Und so ist auch das Schlussbild in Müllers Hamletmaschine eine Allegorie für diese polyvalent wirksamen Behinderungen: »Ophelia im Rollstuhl«, die von »zwei Männern in Arztkitteln […] in Mullbinden«2 gefesselt wird. Des Weiteren gehören die folgenden Müller’schen Paradigmen hierher: »Prinzip Auschwitz« (in seinen Gesprächen nach 1989), »Ich bin ein Ausländer« (über die Zeit vor der Befreiung vom deutschen Faschismus) sowie seine »Dankrede des Büchner-Preisträgers« Die Wunde Woyzeck (adressiert an seine Preisverleiher in Darmstadt 1985). All diese Ausdrucksformen veranschaulichen, welche Durchdringungen und Überlagerungen bestehen zwischen ökonomischer Klasse, Ethnizität, Geschlecht, »Rasse«/Hautfarbe, generationeller Abhängigkeit3, Soziotop, geopolitischer Herkunft, Bildungshintergrund, Weltanschauung, Habitus, kulturtechnischer Konditionierung etc.; zudem machen diese Verflechtungen vor allem eines deutlich: dass die Engführung des Begriffs der Klassen auf ihre ökonomische Bestimmung die Wirksamkeit von Klassismus keineswegs bekämpft, sondern sein Wirken noch begünstigt. Denn so wie Andreas Kemper und Heike Weinbach in ihrer Einführung zum »Klassismus«-Begriff 2009 darlegen: »Die Reduktion von ArbeiterInnen-, Arbeitslosen- und Armenbewegungen auf ökonomische Diskurse ist eine Strategie der Einpassung in die kapitalistischen Verhältnisse.«4 Bei seinen Literarisierungen von Abhängigkeiten richtet sich Müllers Blick auf den jeweiligen Zusammenhang aus Grund und Folge; vielfältige Grundierungen seines Denkens sowie ein Weiter- und Immer-weiter-»Denken« hinein in einen noch »leeren Raum«5 halten den Text – das Textil – zusammen: Heiner Müller befragt einen Zusammenhang aus Abhängigkeitsverhältnissen, der sich durch den neolibe-

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Vorwort

ralen Spin seit den 1970er-Jahren als ein Auseinander-Hang performt. Müller sucht einen Zusammenhang zu veranschaulichen, der sich aus einer Denktradition speist, die bei August Bebel, Clara Zetkin, Rosa Luxemburg ihren Anfang nimmt, die von Angela Davis zu Mumia Abu-Jamal und (bei all den Diffamierungen und Instrumentalisierungen) bis zur Bewegung der »Gelbwesten« reicht. Dieser Zusammenhang ist kein additiver; er stellt sich als Multiplikation her. Mit den Überschriften heutiger emanzipatorischer Bewegungen ließe sich – im Sinne von Heiner Müller – sagen: Black Lives Matter × Working Lives Matter × Female Lives Matter × Foreign Lives Matter × Sick Lives Matter × Future Lives Matter (nicht nur am Freitag oder auf einem Selfie mit Greta Thunberg) × Poor Lives Matter × LGBTQIA* Lives Matter × Children’s Lives Matter × Refugees’ Lives Matter × Handicapped Lives Matter × Homeless Lives Matter × Violence victims’ Lives Matter ... Human Lives Matter. Die von der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe unlängst ausgesprochene Forderung hinsichtlich der »Errichtung einer neuen Hegemonie […, der] Radikalisierung der Demokratie« besteht in der »Knüpfung einer Äquivalenzkette zwischen den Forderungen der Arbeiter, der Einwanderer und der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht sowie anderer demokratischer Forderungen, etwa derer der LGBT-Gemeinde.«6 Um diese Verknüpfung zu ermöglichen, bedarf es einer Kenntlichmachung der wirkenden Klassendynamiken. Die Kenntnis dieser Dynamiken ist die Grundlage der »Verankerung in dieser Kette«7. Das »Knüpfen« einer »Kette« ist nur wirksam als ein ineinander Verwoben-Sein; eine separierende Aneinanderreihung bringt da gar nichts. Die Verknüpfung – oder um ein altmodisches Wort zu gebrauchen: die Solidarität – der »Ketten«-Glieder untereinander kann nur gelingen, wenn die ineinander verflochtenen Klassendynamiken nicht aus dem Blick geraten. Der Klassen-Begriff führt zu einer Sichtweise, die das Verhältnis zwischen struktureller Überlegenheit/Übermacht und Knechtung/Erniedrigung/Unterdrückung kenntlich macht; diese Perspektive verhandelt das Verhältnis auf der vertikalen Achse von unten und oben. So läuft die Betrachtung nicht Gefahr, einer momentan wirksamen Tendenz zu erliegen, welche die Wahrung der Interessen einzelner Gruppen mehr und mehr oben aushandelt. Klassismus – Vorurteile und Diskriminierungen aufgrund sozialer Klassen – ist ein Vorgang, der sich wesentlich gegen ›niedrigere‹ Klassen, also von oben nach unten, auswirkt. Somit richten sich Anti-Klassismus-Bestrebungen gegen die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, in denen sich das Eintreten für

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Falk Strehlow

unterschiedliche Interessen aus der Vertikale in die Horizontale verschoben hat.8 Karl Marx und Friedrich Engels formulierten in ihrem Manifest den Klassen-Auftrag folgendermaßen: PROLETARIER ALLER LÄNDER VEREINIGT EUCH! Heiner Müller erweitert diesen Auftrag in seinem Theaterstück Der Auftrag drastisch, superlativisch, provokativ; dort heißt es in einer für Müller typischen Deutlichkeit: »Neger aller Rassen …«9 Immer wieder macht Müller mit drastischen Formulierungen auf einen Handlungsbedarf aufmerksam – einen Handlungsbedarf in einer Welt, in der man die Dritte Welt als »globalen Süden« bezeichnet, in der der Kriegsminister »Verteidigungsminister« genannt wird, einer Welt, in welcher derjenige, der seine Arbeit gibt, als »Arbeitnehmer«, und derjenige, der sich die Arbeitsleistung nimmt, als »Arbeitgeber« gilt. Diese (Um-)Benennungen sind vor allem wohltuend für die Betreffer; von den Betroffenen lenken sie ab. Und so lautet ein Diktum für Heiner Müllers »Wahrheits«-Findung in dem von ihm literarisierten Muster der »unreinen Wahrheit«: »Tödlich dem Menschen ist das Unkenntliche.«10 Den »unreinen Wahrheiten« auf der Spur trafen sich am 10. und 11. September 2019 14 Gesprächsteilnehmer zu einem Werkstattgespräch im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin. Mit unterschiedlichen Herkünften, Ausdrucksformen, Beweggründen näherten wir uns dort der Frage: Was ist das: Klasse? Diese 14 verschiedenen Fragerichtungen hatten eines gemeinsam: Es waren Fragen an Heiner Müller. Und als solche liefern sie den Untertitel unseres Tagungsbandes: »Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Müller«. Das Gespräch – unser (produktiver) Streit – wurde bis 2021, bis zum Erscheinen dieses Sammelbandes, fortgeführt – und liegt nun (gleichsam als vorübergehender Boxenstopp) hier vor. Das Welt-Klima-Theater, Müllers Bauern, Klassenbewusstsein, die neoliberale Universität, der Selbstmord der menschlichen Gattung, Müllers Mythosrezeption, das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, Genderproblematik und Klassismus-Begriff, auch eine Zeitreise in theaterpraktische Gefilde zu Müllers Lebzeiten, eine Buchvorstellung, Legitimität und Illegitimität von Gewalt, menschliches Kapital, Klassen- und Gattungs-Selbst-Wahrnehmung: All das waren Themen unseres Gesprächs; das waren die Überschriften, unter denen wir unterschiedliche Richtungen einschlugen bei dem Versuch einer Beantwortung der Frage nach dem Begriff der »Klasse« – der Frage: Was bedeutet »Klasse« bei Müller, welche Rolle spielt sie in seinem

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Vorwort

Theater, welche Funktion hat sie in seinem Denken, wie sprech-handelt die (Denk-)Figur der Klasse in Heiner Müllers Werk? Ob wir einer Antwort auf diese Frage nähergekommen sind oder nicht, das möge der Leser/die Leserin unseres Tagungsbandes entscheiden. Eines kann jedoch gleich vorweggenommen werden: Eine Frage ist das nicht; unser Werkstattgespräch legt(e) eine Fülle weiterer Fragen frei, affiziert(e) unbequeme Fragen und heftigen Widerspruch. Und wir sind zuversichtlich, dass auch die (möglichen) Antworten auf diese noch offenen Fragen weiterhin fragwürdig sind.11 Bei aller Offenheit der sich ausweitenden Fragen und Antworten und Fragen hat sich im Verlauf unseres Werkstattgesprächs doch so etwas wie ein Zusammenhalt herausgebildet; ein sich allmählich konturierendes Referenzfeld nahm seine Gestalt an. Dabei kristallisierten sich drei gedankliche Schwerpunkte – drei Begriffs- oder Bedeutungsfelder – heraus. Immer wieder kamen wir auf das Verhältnis dieser drei Größen zueinander zu sprechen, immer wieder tauchten sie in ihrem gegenseitigen (widersprechenden) Aufeinander-bezogen-Sein auf: Ich ÷ Wir ÷ Gattung. »Gegen das Interesse Einzelner, insofern es dem Interesse Aller schadet, und für das Interesse Aller, ohne einen Einzelnen auszuschließen.« So lautet der »communistische« Leitspruch, der jeder Ausgabe des von Wilhelm Weitling in den 1840er-Jahren herausgegebenen Hülferufs vorangestellt ist.12 Oder in den Worten des Philosophen und Kulturwissenschaftlers Robert Pfaller aus dem Jahre 2020 gesprochen: »Erst indem alle ihren persönlichen Ärger klein halten, kommen sie überhaupt in die Lage, sich über das zu ärgern, was sie klein hält.«13 Diese Formeln mögen hier einen ersten Anhaltspunkt geben für das Spannungsfeld zwischen ›Individuum‹, ›Gemeinschaft‹ und ›Allen‹, aus dem heraus wir den Begriff der »Klasse« befragten, aus dem sich ein Verhältnis der drei Größen zueinander heraus schälte – als ein Verhältnis zwischen Individuum und Klasse, zwischen Klassengesellschaft und klassenloser Gesellschaft, zwischen Gattung und Individuum und Klasse – als Verhältnis von Ich und Wir und Wir-Alle, Ihr und Wir, Ich und Du. Ein Ergebnis der Gesprächsbeiträge unserer Werkstatt bestand darin, dass dieses hier angedeutete Verhältnis der vorerst nur vage bezeichneten Größen zueinander in den Texten Heiner Müllers keineswegs eine gesicherte Ordnung aufweist. Wie eine Klasse mit dem Individuum umgeht, wie das Individuum mit der Klasse und wie beide mit der Gattung – wer wen ›erniedrigt, knechtet, verlassen oder verächtlich macht‹ – zeigt uns Müller als ein Bündel sich widersprechender

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Falk Strehlow

Stränge, als ambiges Geflecht. Unterschiedlichste Abhängigkeiten voneinander, Überkreuzungen, Verzweigungen und Mehrdimensionalitäten, lose miteinander verbunden und schonungslos verdichtet: das sind die Charakteristika eines Müller-Textes. Und so sieht man dessen Beschaffenheit deutlich seine Wortherkunft, die Herkunft des Wortes »Text« an: Müllers Schreiben ist Textilproduktion. Grund und Richtung von Heiner Müllers Schaffen sind die miteinander verwobenen Klassendynamiken – die Dynamiken eines Klassenbegriffs polyvalenter Klassen –; es sind die Konflikte zwischen Jenseits und Diesseits ihrer Grenzen. Die Grenzen zwischen den Klassen verlaufen durch Länder, Individuen14, Märkte; sie kartographieren unsere geopolitische Welt mit ihren bunten und weißen Flecken; sie regulieren, wer in Berlin-Mitte an einer Vernissage in einer Galerie vorübergeht, wer reingeht, wer bei EDEKA einkauft, wer davor mit einem Plastikbecher sitzt und wer einkaufen lässt; sie bestimmen über Teilhabe/Teilnahme und Ausgrenzung; und sie verlaufen – nach dem Konzept der Selbstähnlichkeit – auch durch »die Klasse« selbst. Die Selektion, die »den Planeten mit Treibstoff versorgt«15, bestimmt, wer drin ist, wer draußen. Oder in einer heutigen Wortwahl gesprochen: Die globale Triage im Kapitalozän bestimmt das. Diese Bestimmungen sind Müllers Sujet; sie sind das Thema unseres Werkstattgesprächs von 2019; sie sind der Gegenstand dieses Büchleins. Unser Tagungsband bildet im Umgang mit diesem Gegenstand einen ergebnisoffenen, kontrovers geführten Gesprächsverlauf ab; dieser ist widersprüchlich und fragwürdig. Je nach der Präsupposition unserer jeweiligen Lektüre, je nach deren historischer Perspektivierung in Richtung Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart, je nach Richtung des jeweiligen Interesses an Müller zeichnet sich unser Buch durch die Verschiedenheiten der in ihm vertretenen Lesarten aus. Und es befindet sich damit in guter Gesellschaft, denn ein Heiner-Müller-Stück ist ein »zu verschiedenen Zeiten [an verschiedenen Orten, im Hinblick auf verschiedene Beweggründe] anderes Stück«, wie das Marianne Streisand sagen würde.16 Heiner Müller: zu verschiedenen Zeiten ein anderer Autor? In den letzten Jahrzehnten ist sowohl in seiner theatralen als auch in seiner akademischen Rezeptionsgeschichte der Blick auf die Klassendynamik in den Hintergrund geraten. Diese Verschiebung zuungunsten einer Wahrnehmung von Klassendynamik in Müllers Werk ist nun ihrerseits eine Dynamik, in der unterschiedliche Klassenzugehörigkeit als unterschiedliche Deutungs- und Diskurshoheit wirkt. Sie bestimmt, was drin ist, was draußen. Auffällig an diesem ja eigentlich

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Vorwort

trivialen Befund – jede Lesart verschiebt sich in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Kontextualisierung – ist jedoch, dass gerade in den Aneignungs- und Verbreitungsprozessen von Heiner-Müller-Material (bei dem es einer enormen Kraftanstrengung bedarf, um diese Dynamiken zu übersehen) diese Verschiebung in exponierter Weise wirksam ist. Seit Malcolm X’ berühmter Rede Message to the Grass Roots von 1963 ist für das Denken über Klassen-, »Rassen«- und Herkunftsdynamiken seine prominente Unterscheidung zwischen »Haussklave« und »Feldsklave« richtungsweisend. Im Gegensatz zum »Haussklaven« hasst der »Feldsklave« seinen Herrn. Aus diesem Hass – aus seinem Verlangen nach der Überwindung des Verhältnisses zu seinem Herrn – bezieht der »Feldsklave« seine Bestimmung: seinen Auftrag. In Müllers Stück Der Auftrag sagt die Figur SASPORTAS über das Klassenverhältnis in unserer einen Welt: »Solange es Herren und Sklaven gibt, sind wir aus unserm Auftrag nicht entlassen.« Heiner Müllers SASPORTAS und Malcolm X’ »Feldsklave« haben denselben Text – SASPORTAS: »Sklaven haben keine Heimat«17, »Feldsklave«: »Jeder Ort ist besser als das.« Der »Haussklave« von Malcolm X sagt: »Wo gibt es ein besseres Haus als hier?«18 Falk Strehlow

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Wolfram Ette

Klassenkampf und Naturgeschichte

Heiner Müller ist ein Widerspruch. Er ist nicht, so lieb es der Wissenschaft wäre, auf eine Lehre herunterzubringen, die sich thesenartig und argumentativ schlüssig entfalten ließe. So, wie die beiden Deutschlands, in denen zu leben er beanspruchte, Deutschland »oben« und Deutschland »unten«, keine Einheit bilden, sondern einen Zusammenhang ökonomischer, ideologischer, kultureller, regionaler Differenzen, der sich zum Gegensatz von »oben« und »unten« und zum selbstzerstörerischen Widerspruch ausgewachsen hat, bildet dieser sehr deutsche Autor, in seinen eigenen Worten, ein »Ensemble«19, einen »Stellplatz der Widersprüche«20, eine Bühne, auf der Konflikte aufgeführt, nicht aber gelöst werden. Jede Beschäftigung mit Müller – und das gilt für eine Theaterinszenierung ebenso wie für einen Essay oder eine wissenschaftliche Abhandlung – zieht aus dem überdeterminierten Knoten-Knäuel seines Werks einzelne Fäden heraus, versucht sie zu entwirren und freizulegen, ohne sie zu zerreißen. Anderes wird um dessentwillen abgeschattet, tritt in den Hintergrund, wird unsichtbar, ohne ganz zu verschwinden. In dieser Überdeterminiertheit gleicht Müllers Werk strukturell dem Mythos, der deswegen realistischer ist als die rationalisierenden Veranstaltungen der Religion, Philosophie und des Kunstbetriebs.21 Es bildet ab, was ist, und nicht, was sein soll. Das Gesetz dieses Werks ist Nichtidentität. In diesem Sinne möchten wir die Unternehmung verstanden wissen, der sich das hier vorliegende Buch verdankt. Falk Strehlow trat 2017 mit der Frage an mich heran, ob ich Lust hätte, mit ihm einen Workshop/eine Diskussions- und Gesprächswerkstatt über Heiner Müller zu organisieren. Für mich hatte sich in den vergangenen Jahren das Interesse an Müller neu ausgerichtet, ich hatte wortwörtlich etliche »Fragen an ihn«, sagte also zu. Von Beginn an waren unsere Schwerpunkte nicht dieselben. Falk Strehlow verfolgte das Wiederaufleben einer Klassengesellschaft brutalen Zuschnitts, die in den Sozialstaaten West und Ost verhüllt/zurückgedrängt worden war. Ich selbst, durch die Westlinke geprägt, hatte eher als das gesellschaftliche Verhältnis das Naturverhältnis und damit die Gattungsperspektive im Blick. Die Klimaproteste liefen zu dieser Zeit auf Hochtouren, aber waren sie nicht schon zu spät? Hatte sich der Kapitalismus als Schlusspunkt der Geschichte der menschlichen Gattung, die immer beides war, Klassenkampf (von oben nach unten, von unten nach oben) und Ausbeutung der Natur, nicht mittlerweile in eine menschheitli-

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Vorwort

che Selbstzerstörungsmaschine verwandelt, die den Planeten in den nächsten 200 – 300 Jahren von der parasitären Hochbegabung namens »Mensch« befreien wird? Was aber bedeuten angesichts der Möglichkeit dieser Perspektive Klassenkampf und emanzipatorische Politik? Für alle diese Fragen bietet Müllers Werk einen starken Resonanzraum. Er hat den Begriff der Klasse so erweitert, dass ökonomisch nicht eindeutig zu identifizierende Unterdrückungsverhältnisse in ihn Eingang fanden: Verhältnis der Geschlechter, Rassismus, Kolonialismus. Vor allem hat er ihn aber mit der Geschichte des europäischen Rationalismus kurzgeschlossen – als einer Geschichte der Herrschaft über die eigene, »bedürftige und begehrende Natur«22, über Körper, Trieb und Affekt – die freilich nicht in dem Sinne als »Natur« zu verstehen sind, dass sie die unveränderliche Grundausstattung der menschlichen Gattung fix und fertig darstellen würden, sondern nur so, dass die Geschichte dieser »Natur« viel langsamer verläuft als die der Gesellschaft. »Natur« in diesem Sinne leistet zäh und langwierig den Revolutionen Widerstand, von denen keine gewonnen sein wird, die die Auseinandersetzung mit ihr – also mit Gewohnheiten, für die die Zeit seit der neolithischen Revolution nur ein Augenzwinkern ist – nicht einbezieht. Müller, so könnte man sagen, entdeckt die »Naturgeschichte« als Schauplatz, an dem gesellschaftliche Herrschaft und Herrschaft über die Natur zusammentreten.23 Nach meiner Einschätzung hat sich Müllers Beurteilung dieses Konfliktzusammenhangs im Laufe der Zeit verdüstert. Nicht von Stück zu Stück, nicht einfach linear; aber eine Tendenz ist erkennbar: In eins damit, dass der geschichtsphilosophische Blick über die Klassenverhältnisse hinausgeht und sich ins Naturgeschichtliche versenkt – spätestens ab Die Umsiedlerin scheint mir das der Fall zu sein –, wächst die Skepsis. Zu der Frage, ob die innere Natur befreit werden kann, tritt ab den 1980er-Jahren die nach der äußeren, deren schrankenlose Verwüstung Müller früh und hellsichtig registriert hat. Beides ist durch den neoliberalen Oktroi, der den »Kapitalismus ohne Beißhemmung« (Oskar Negt) als Dogma überall auf der Welt etablierte und Klassenverhältnissen zum Durchbruch verhalf, die sich von einer Menschheitsperspektive ebenso verabschiedeten wie von einer Aussöhnung unseres Verhältnisses zur Natur24, schlimmer, brutaler, selbstzerstörerischer geworden. In alledem, wir wissen es, war Müller nicht depressiv. Dazu hat er viel zu viel gearbeitet; dazu hat ihm seine Arbeit viel zu viel Freude gemacht; dazu hat er die Konflikte, die ihren Motor und Treibstoff bildeten, viel zu sehr genossen. Und sein Humor war dazu viel zu ausgeprägt.

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Wolfram Ette

Dürrenmatts Überzeugung, dass nach der Tragödie, »[i]n der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse«, wenn alle Träume von Versöhnung der tragischen Konflikte ausgeträumt seien, die Komödie komme25, war auch diejenige Müllers. Er hätte die Zuspitzung aller möglichen gesellschaftlichen Konflikte ebenso interessiert registriert wie die sich verdunkelnde Gattungsperspektive, die ein evolutionäres Überleben der Menschen in Frage stellt. Vielleicht nicht einmal, weil er es ja schon immer gesagt hatte; und schon gar nicht, weil er Lösungen parat hätte. Sondern weil nach der in vieler Hinsicht bleiernen Inkubationszeit der neunziger und nachneunziger Jahre nun die Karten auf dem Tisch und die Stoffe auf der Straße liegen. Er fehlt. Gerade deswegen lohnt es sich aber, sich mit ihm zu beschäftigen, Fragen an ihn zu stellen, die von seinem Werk zurückgeworfen werden (oder auch nicht), vor allem aber nicht in die Starrkrämpfe pessimistischer Lähmung, eines Tanzens auf dem Vulkan, einer universalisierten Ironie26 oder eines esoterischen Eskapismus zu verfallen, sondern die Konflikte zu bejahen und mit ihnen zu arbeiten. Wolfram Ette

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Meier, Luise: MRX-Maschine, Berlin 2018, S. 19. Müller, Heiner: Die Hamletmaschine, in: Heiner Müller Werke 4, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2001 (im Folgenden mit Sigle W und Band angegeben), S. 553. 3 Beispielsweise sind die Distinktionsmerkmale zwischen den Generationen, zwischen den Figuren HILSE (»der ewige Maurer«), ERSTER/ZWEITER/DRITTER JUGENDLICHER (die »Halbstarken«) und JUNGER MAURER konstitutiv für den Geschehensverlauf von Müllers Stück Germania Tod in Berlin, in: W4, S. 325 – 377. 4 Kemper, Andreas/Weinbach, Heike: Klassismus – Eine Einführung, Münster 2016, S. 54. 5 Müller: Programmheft: Der Lohndrücker, Deutsches Theater Berlin, Staatstheater der DDR, 1987/88, S. 10. 6 Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus, Berlin 2018, S. 35. 7 Ebd., S. 76. 8 Heiner Müller wird nicht müde, in seinen intertextuellen Referenzfeldern, z. B. in der Hamletmaschine (in: W4, S. 553) immer wieder den »kategorischen Imperativ« aufzurufen: »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, Marx,

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Vorwort

Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – Einleitung, in: Marx/Engels – Werke, Bd. 1, Berlin 1976, S. 385, Hervh. i. O. 9 Müller: Der Auftrag, in: W5, S. 40. 10 Müller: Der Horatier, in: W4, S. 84. 11 Neben den im Band vertretenen Teilnehmern und Teilnehmerinnen unserer Werkstatt waren im Sommer 2019 auch Patrick Eiden-Offe mit seinem Vortrag: »Klassenbewusstsein oder Klassismus? Vorschläge für eine Debattenkorrektur« sowie Natalie Driemeyer mit »Müllers ›Auftrag‹ im Spiegel des Welt-Klima-Theaters« Gesprächspartner unseres Werkstattgesprächs im Literaturforum im Brecht-Haus; die Herausgeber bedauern es außerordentlich, dass diese wichtigen Stimmen hier nun nicht enthalten sind; die gesellschaftlichen und privaten Herausforderungen des Jahres 2020 haben es den beiden Beitragenden nicht erlaubt, sich aktiv an unserem Buch zu beteiligen. Ein weiteres Highlight unserer Veranstaltung im Sommer vorletzten Jahres war die Buchpremiere von B. K. Tragelehns Roter Stern in den Wolken 2; dieser zweite Teil der bei Theater der Zeit erschienenen Aufsätze, Reden, Gespräche und Gedichte Tragelehns war ebenfalls eine große Stimme im Aufeinandertreffen von Meinungen und Ausdrucksformen. Ein ganz besonderer Dank gilt Kai Bremer; er war Mitveranstalter sowie ein inspirierender Diskussionsleiter und Moderator. 12 Weitling, Wilhelm: Der Urwähler. Eine Wochenschrift, redigiert von Wilhelm Weitling. Organ des Befreiungs-Bundes (1848), H. 1. 13 Pfaller, Robert: »Was sind für Sie Pseudolinke?«, in: Taz.Futurzwei (2019), H. 9, auch https://taz.de/Robert-Pfaller-im-Interview/!169159/ (letzter Zugriff 17.10. 2020). 14 Die »Verlagerung der Wir/Sie-Grenze in das jeweilige Subjekt hinein ist eine der tieferen Ursachen für die Entsolidarisierung und Zersplitterung der gegenwärtigen Gesellschaft«, diagnostiziert Bernd Stegemann, in: »Dreischritt des Populismus«, in: lfb Journal – Literaturforum im Brecht-Haus (2018), H. 2, S. 5. Siehe zum Begriff des »fragmentierten Charakters« auch: Theweleit, Klaus: Das Lachen der Täter: Breivik u. a. – Psychogramm der Tötungslust, St. Pölten/Salzburg/Wien 2015. Zu dem Begriffsfeld: ›individuelle Mehrfachidentität‹/›mehrdimensionale Diskriminierung‹ siehe Baer, Susanne/Bittner, Melanie/Göttsche, Anna Lena: Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, hrsg. v. der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2010), in: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/ Expertise_Mehrdimensionale_Diskriminierung_jur_Analyse.pdf?__blob=publicationFile (letzter Zugriff 25.10.2020). 15 Müller: Bildbeschreibung, in: W2, S. 118. 16 Vgl. Streisand, Marianne: »Heiner Müllers ›Der Lohndrücker‹ – Zu verschiedenen Zeiten ein anderes Stück«, in: Werke und Wirkungen – DDR-Literatur in der Diskussion, hrsg. v. Ingeborg Münz-Koenen, Leipzig 1987, S. 306 – 360. 17 Müller: Der Auftrag, in: W5, S. 35. 18 Malcolm X: Message to the Grass Roots (Rede), Michigan 10. November 1963, in: https://www.youtube.com/watch?v=uN_-AO36Afw (letzter Zugriff 17.10.2020). 19 Müller: Die Umsiedlerin, in: W3, S. 238. 20 Müller: Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von »Philoktet« am Dramatischen Theater Sofia, in: W8, S. 260. 21 Heinrich, Klaus: arbeiten mit ödipus. Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft, Dahlemer Vorlesungen Bd. 3, hrsg. v. Albrecht Kücken u. a., Berlin/ Basel 1993, S. 185. 22 Ebd., S. 258. 23 Adorno, Theodor W.: »Die Idee der Naturgeschichte«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Philosophische Frühschriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. a., Darmstadt 1997, S. 345 – 365. 24 Vgl. Latour, Bruno: Das Terrestrische Manifest, Berlin 2017. 25 Dürrenmatt, Friedrich: »Theaterprobleme« (1955), in: Theater-Schriften und Reden, hrsg. von Elisabeth Brock-Sulzer, Zürich 1966, S. 122. 26 Vgl. Schuller, Sebastian: »Zernichtbarer Schein und Formalismus des Ich. Ironie als Sprechweise linker Perspektivlosigkeit«, in: Zeit der Monster. Die ›neue‹ Rechte im Neoliberalismus, das Scheitern linker Kritik und Möglichkeiten emanzipatorischer Praxis in Kunst und Akademie, Ochsenfurt 2018, S. 121 – 158.

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Heiner Müllers Bauern Bauern und Klasse In der Geschichte der Klassenkämpfe und des Klassenbewusstseins hat die Bauernschaft keinen klaren Ort. Bauern gelten als stimm- und haltungslos, geschichtslos, unpolitisch. Die süddeutschen Bauernaufstände der Reformationszeit sind ebenso von Widersprüchen geprägt wie die Rolle der Bauern in den Revolutionen von 1789 bis 1848 und 1917. Historisch überwiegen lange Zeiten der Unterdrückung und Konstellationen des Opportunismus. Im kulturellen Gedächtnis ist bis heute ein Bild vom Bauern zwischen rückständiger Dummheit und romantischer Archaik verbreitet, das mit der Annahme einer transhistorischen und transkulturellen Kontinuität in der Landwirtschaft einhergeht: Bauern waren, sind und bleiben allerorten bäuerlich. Die Dekonstruktion solcher Agrarmythen steckt noch in den Anfängen.1 In der Klassentheorie lässt sich dementsprechend kein systematisches Bild vom Bauern finden; überhaupt bleibt der Bauer gesellschafts- und rechtstheoretisch wenig belichtet.2 Hegels Dialektik von Herr und Knecht setzt implizit beim abhängigen Bauern an, der sich den Boden aneignet.3 Die landwirtschaftliche Arbeit ist für Hegel aber durch die Abhängigkeit »von der veränderlichen Beschaffenheit des Naturprozesses«, zu der das »Bedürfnis […] zu einer Vorsorge auf die Zukunft« in Konflikt steht, von geringer emanzipatorischer Reichweite; nicht »Reflexion und eigene[r] Wille« stützen die Bauern, sondern Gottvertrauen und Familienverband.4 Entsprechend ist der Bauernstand für Hegel der »substantielle oder unmittelbare« Stand.5 Das gilt selbst für eine zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft.6 Das Bild des Fundamentalen und Urwüchsigen, das sich hier andeutet, verwandelt sich im späteren 19. Jahrhundert (ohne Hegels Zutun) in die völkische Verherrlichung des Bäuerlichen als dauerhaftes Fundament des Staates, die im Nationalsozialismus ihren dunklen Höhepunkt findet.7 Marx und Engels standen den Bauern ambivalent gegenüber und was eine mögliche revolutionäre Kraft angeht, zunächst weitgehend pessimistisch. Im Kommunistischen Manifest (1847/48) rechnen sie die Bauern den konservativen und reaktionären »Mittelständen« zu, die sich zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu behaupten suchen; es ist vom »Idiotismus des Landlebens« die Rede.8 Die im Manifest vorgeschlagenen Maßnahmen zur Kollektivierung der Landwirtschaft – wie

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das Marx-Engelssche Revolutionsdenken überhaupt – zielen mit dem Verschwinden der Klassen auf das Verschwinden des Bauern und auf die Auflösung der Differenz zwischen Stadt und Land ab.9 Engels zeigt in seiner Schrift Der deutsche Bauernkrieg (1850), dass das Bild vom Bauern als Fundament des Staates wörtlich zu nehmen war. Zum frühneuzeitlichen Bauern schreibt er: »Auf dem Bauer lastete der ganze Schichtenbau der Gesellschaft: Fürsten, Beamte, Adel, Pfaffen, Patrizier und Bürger.«10 Der Bauer war Objekt: »Ob er der Angehörige eines Fürsten, eines Reichsfreiherrn, eines Bischofs, eines Klosters, einer Stadt war, er wurde überall wie eine Sache, wie ein Lasttier behandelt, und schlimmer.«11 Zur fehlenden körperlichen und seelischen Selbstbestimmung kam die Schwierigkeit, sich zusammenzuschließen. Den zentralen Grund für das Scheitern der Bauernaufstände sieht Engels in der politischen Zersplitterung Deutschlands.12 Marx’ Befund zum französischen Parzellenbauern des 19. Jahrhunderts stimmt in den Grundzügen mit Engels’ Beschreibung zum 16. Jahrhundert überein: Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel und die Armut der Bauern. Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, läßt in seiner Kultur keine Teilung der Arbeit zu, keine Anwendung der Wissenschaft, also keine Mannigfaltigkeit der Entwicklung, keine Verschiedenheit der Talente, keinen Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse. Jede einzelne Bauernfamilie genügt beinah sich selbst, produziert unmittelbar selbst den größten Teil ihres Konsums und gewinnt so ihr Lebensmaterial mehr im Austausche mit der Natur als im Verkehr mit der Gesellschaft. Die Parzelle, der Bauer und die Familie; daneben eine andre Parzelle, ein andrer Bauer und eine andre Familie. Ein Schock davon macht ein Dorf, und ein Schock Dörfer macht ein Departement. So wird die große Masse der französischen Nation gebildet durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet. Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung, von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern ein nur lokaler

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Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden. Ihr Vertreter muß zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den andern Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt. Der politische Einfluß der Parzellenbauern findet also darin seinen letzten Ausdruck, daß die Exekutivgewalt sich die Gesellschaft unterordnet.13 Der metaphorische Weg vom Bauern zur Kartoffel ist bei Marx kurz; auch er sieht den Grund für die beziehungslose Vermassung und die Politiklosigkeit der Bauern in der ökonomischen und politischen Parzellierung. Die Lösung verspricht die Kollektivierung. Engels’ späterer Text zur Bauernfrage in Frankreich und Deutschland (1894) zeichnet dazu ein noch konkreteres Bild. Engels betont regionale Unterschiede innerhalb der Landwirtschaftssysteme in Europa, die mit Klassenunterschieden innerhalb der jeweiligen Bauernschaft einhergehen, etwa Klein- und Parzellenbauern in Westdeutschland, Frankreich und Belgien, Mittelbauern in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, teilweise auch in Bayern, Großgrundbesitz mit Landarbeitern im ostelbischen Preußen und Mecklenburg.14 Brauchbar für die Revolution sei in erster Linie der Kleinbauer, in dem Engels einen »zukünftige[n] Proletarier« erkennt.15 Während der Großgrundbesitzer wohl gewaltsam enteignet werden müsse, ließe sich der Kleinbauer womöglich von der Kollektivierung überzeugen.16 Mit der russischen Revolution finden die marxistischen Entwürfe zur Veränderung der Landwirtschaft direkten Niederschlag in der Realpolitik. Lenins Thesen zur Agrarfrage von 1920 greifen von Marx und Engels Vorgedachtes zur Rolle der Bauern für die proletarische Revolution sowie zur Kollektivierung der Landwirtschaft auf.17 Auch Lenin sieht die einzige Chance für den abhängigen Bauern in dessen Verbindung mit dem Industrieproletariat und die einzige Chance für die Revolution darin, dass »der Klassenkampf […] ins Dorf hineingetragen wird«18. Die Bauern unterteilt er, etwas anders als Marx und Engels, in die drei Gruppen »Landproletariat«, »Halbproletarier oder Parzellenbauern«, sowie, als größte Gruppe, die Klein- und Mittelbauern; Großgrundbesitzer und Großbauern rechnet er der Bourgeoisie zu.19 Die

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Kollektivierung soll »ganz allmählich, durch die Macht des Beispiels« erfolgen, im Fall der Großgrundbesitzer aber durchaus als bewaffneter »Kampf«.20 Die Gewinnung der Bauern für die Revolution beschreibt Lenin aufgrund deren dem Kapitalismus geschuldeter »besonderer Geducktheit, Zersplitterung und oft halbmittelalterlicher Abhängigkeit«21 als große Hürde, die einer besonderen Didaktik bedarf: Wenn […] der Streikkampf noch unentwickelt und die Organisationsfähigkeit des Landproletariats noch schwach ist, so erfordert die Bildung von Deputiertensowjets auf dem flachen Lande eine langwierige Vorarbeit, nämlich die Schaffung von zumindest kleinen kommunistischen Zellen; eine intensive Agitation, durch welche die Forderungen des Kommunismus in gemeinverständlichster Form dargelegt und an Beispielen besonders krasser Erscheinungsformen der Ausbeutung und Knechtung erläutert werden […].22 Trotzki schreibt zehn Jahre später im Zusammenhang der russischen Februarrevolution von den Bauern als »Protoplasma, aus dem sich in der Vergangenheit die neuen Klassen differenzierten und in der Gegenwart weiter differenzieren«23. Er beschreibt die Bauern als janusköpfig: Ein Gesicht sei dem Proletariat, eines der Bourgeoisie zugewandt; in politischen Ruhezeiten könne ihre Position vermitteln, in revolutionären müssten die Bauern sich für eine Seite entscheiden.24 Wie Marx und Engels sieht Trotzki in der Parzellierung ein zentrales Problem für die Organisation der Bauern: »Die wirtschaftliche Zersplitterung macht die Bauern, die so entschlossen im Kampf gegen den konkreten Gutsbesitzer sind, ohnmächtig gegenüber dem verallgemeinerten Gutsbesitzer, dem Staate.«25 Die Zwischenstellung der Bauern spielt in der Oktoberrevolution eine entscheidende Rolle; Trotzki zufolge überwand die sozialrevolutionäre Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts, die zum Untergang des Zarenreichs beitrug, zunächst die Klassenwidersprüche auf dem Land: »Der Landarbeiter plünderte den Gutsbesitzer, wobei er dem Kulak half. Das 17., 18. und 19. Jahrhundert der russischen Geschichte erhob sich auf den Schultern des 20. und drückte es nieder zur Erde.«26 Der revolutionäre Druck reichte nicht aus; die Bourgeoisie behielt die Oberhand, bis sich die Bauern mit dem Industrieproletariat verbündeten: Dadurch befreite sich das 20. Jahrhundert nicht nur von den auf ihm lastenden früheren Jahrhunderten, sondern erhob sich

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auf deren Schultern zu einer neuen historischen Höhe. Damit der Bauer den Boden säubern und von Zäunen befreien konnte, musste an die Spitze des Staates der Arbeiter treten: Dies ist die einfachste Formel der Oktoberrevolution.27 Sergej Tretjakow schreibt zur gleichen Zeit, die Neuaufteilung des Bodens sei die bäuerliche Oktoberrevolution.28 Tatsächlich nahm das Projekt der Kollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin vor dem Hintergrund einer Getreidekrise und dem Widerstand vieler Bauern gegen die Vergemeinschaftung und die radikale Veränderung gewachsener Dorfstrukturen einen blutigen Ausgang. Vorher fließende und unstete Differenzierungen innerhalb der Bauernschaft – in Kulaken, Mittelbauern, arme Bauern – wurden nicht nur auf der Grundlage der klassentheoretischen Thesen Marx’, Engels’ und Lenins in ihren Konturen geschärft; sie wurden vielfach zu willkürlichen Zuschreibungen, die Enteignung und Verfolgung nach sich zogen.29 Der sogenannten Entkulakisierung fielen um 1930 nach Schätzungen von Historikern mehrere hunderttausend Menschen zum Opfer.30 Und der ökonomische und gesellschaftliche Plan ging nicht auf: Die Kollektivierung trug entscheidend zur schweren Hungersnot von 1932 bis 1934 bei, die Millionen Opfer kostete.31 In der DDR begann die Bodenreform um 1950 zunächst unter dem Vorzeichen der Entnazifizierung, der Steigerung bäuerlicher Selbstbestimmung sowie der Politisierung des Ländlichen; Großgrundbesitzer, die als Unterstützer oder Profiteure des NS-Systems galten, wurden enteignet; das Land wurde Kleinbauern zur Vergrößerung ihrer Parzellen und Flüchtlingen, die sich als Neubauern ansiedelten, zugeteilt.32 Die radikale Neuordnung stieß mancherorts auf Widerstand bei Dorfbewohnern, die an informellen Dorfstrukturen, gewachsenen sozialen Geflechten und nicht zuletzt an Eigeninteressen festhalten wollten; häufig führten zudem fehlendes Wissen, mangelhafte Planung, fehlende Ausstattung und lokale agrarische Besonderheiten dazu, dass die am Reißbrett entworfene Reform fehlging.33 Für die DDR-Führung war sie ohnehin nur der erste Schritt zur grundlegenden Transformation von Landwirtschaft und Dorfleben nach dem Vorbild der Sowjetunion.34 Der Schlüssel wurde auch hier in der vollständigen Kollektivierung gesehen. Über den Weg einer »Macht des Beispiels« in Lenins Sinne war dem Projekt ein geringer Erfolg beschieden. Negative Folgen der Kollektivierung führten dazu, dass sich am 17. Juni 1953 auch viele Bauern auflehnten.35 Ab Mitte der 1950er Jahre wurde auch in der DDR gewaltsam kollektiviert. Wer sich den Landwirtschaft-

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lichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) nicht freiwillig anschloss, kam zwar, anders als in der Sowjetunion, nur in seltenen Fällen zu Tode, wurde aber gleichwohl Opfer von Verfolgung in Form von Diffamierung, Kriminalisierung, Anprangerung, Bedrängung und Drohung mit ›Liquidierung‹.36 Wirtschaftlich wie gesellschaftlich musste die Zwangskollektivierung scheitern; Historiker sehen sie heute im Zusammenhang mit den Entwicklungen, die in der DDR-Führung zum Mauerbau beigetragen haben.37

Müllers Bauern Die Bauernfiguren im Werk Heiner Müllers zeugen von den historischen Prozessen und ihren Widersprüchen, von der Spannung zwischen Widerstand und Opportunismus, von Aufstand und Arbeit, von dörflicher und staatlicher Ordnung. Einer vermeintlichen Geschichtslosigkeit der Bauern setzt Müller eine Literatur- und Theatergeschichte als Erfahrungsgeschichte entgegen, aber auch eine literarische Arbeit an den historischen Quellen und dem eigenen Erfahrungsraum des »Leben[s] in zwei Diktaturen«. Müller gräbt übersehene Bauern der Literaturgeschichte aus – im Mythos von Orpheus, in Shakespeares Macbeth – und widmet sich vor allem dem blutigen Verhältnis von Revolution und Landwirtschaft in den sozialistischen Transformationsprozessen: in den Stücken Die Bauern/Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande (1956 – 1964) und Traktor (1955/1961/1974), am Rande u. a. auch in Mauser (1970) und Zement (1972). Müllers Werk enthält sowohl komplexere bäuerliche Einzelfiguren als auch Bilder einer undifferenzierten Bauernmasse im Hintergrund, aus der Figuren heraustreten und schönste Verse sprechen, aus der aber auch die Dummen kommen, die Stoff für Witze bieten, die namenlosen Erhängten und Ertränkten. Auch Müller denkt die Bauernschaft als ein Fundament des Politischen. Das Fehlgehen revolutionärer Bewegungen in der deutschen Geschichte hängt für ihn mit den gescheiterten Bauernaufständen zusammen. Im Januar 1990 sagt er im Gespräch mit Frank Raddatz:

Das Scheitern von 1848 aber hängt mit dem Scheitern der ersten deutschen Revolution – den deutschen Bauernkriegen – zusammen. […] Seit dieser zu frühen Revolution herrscht in Deutschland die Tendenz zur Verspätung, kommt in Deutschland immer alles zu spät. Und die Verspätung bedingt es auch, daß sich die Energien nur noch in der Katastrophe entladen können.38

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Der ernüchternde Befund spiegelt sich in den geringen oder ins Leere laufenden revolutionären Energien von Müllers Bauernfiguren. Unter den Bauern der Umsiedlerin39 herrschen Streit und Neid, wobei die Korrumpiertheit vom Klein- zum Großbauern hin zunimmt. In Macbeth (1972) sterben die Bauern der Reihe nach weg oder werden selbst Teil des Kreislaufs der Grausamkeit. Häufig kennzeichnet Müllers Bauernfiguren ein Bild ewig wiederkehrenden Unglücks. So heißt es im Glücksgott (1958):

BAUER  Wir sind Bauern. Wir haben eine Mißernte gehabt usw. Wir haben zehn Kinder. Das ist meine Frau. Wir nehmen jetzt unsere Plätze ein. Musik.40

Der Auftrag (1979) wirft zwischen den Zeilen ein Licht auf die wechselhafte Rolle der Bauern in der Französischen Revolution. Galloudec, ein »Bauer aus der Bretagne« soll gemeinsam mit dem ehemaligen Sklaven Sasportas und Debuisson, Sohn von Sklavenhaltern, im Auftrag des französischen Konvents die Revolution nach Jamaika tragen.41 Das Vorhaben scheitert. Galloudec landet unter dem Messer von Schlächtern, Sasportas am Galgen, Debuisson verrät die Revolution. Zuhause schwingt sich Napoleon zum Kaiser auf. Das Stück rechnet auch den Preis der Revolution im Mutterland vor, wo »die Bauern totgeschlagen« wurden »für die Republik«.42 Das Scheitern der Revolutionen hat ein Pendant im Scheitern der Dichtung als politisches Medium. Müllers politisch-literarisches Projekt ist die Vermessung des Scheiterns, eine literarische Sisyphusarbeit, getragen von einem Funken dialektischer Hoffnung. An Müllers Bauernfiguren entzünden sich damit nicht nur politische, sondern auch ethisch-poetologische Fragen.43 Wie sich in Müllers Bauernfiguren Aspekte von Ästhetik und Politik, Geschichtlichkeit und Poetologie kristallisieren, möchte ich im Folgenden auffächern. Der Bauer erscheint dabei als Figur, mit der sich ein Horizont von der Antike bis zur Gegenwart aufspannen lässt und dem darüber hinaus seit jeher die Frage nach dem Verhältnis des Dichters zum Bauern eingeschrieben ist – von den Bauernepen Hesiods und Vergils bis zur Losung der Bolschewiki von 1928: »Schriftsteller in die Kolchose!«44

Sprachscham und Agrarromantik: Benjamins Walser Zum Klischee vom Bauern gehört dessen Einsilbigkeit. In einem kleinen Text über Robert Walser schreibt Walter Benjamin von »bäurische[r]

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Sprachscham«, nach Benjamin zwar ein schweizerisches Phänomen, vielleicht aber doch auf andere Zusammenhänge übertragbar. Benjamin erkennt es in der Schreibhaltung Walsers und illustriert es an einer Wirtshaus-Szene, die sich zwischen dem Maler Arnold Böcklin, dessen Sohn Carlo und dem Schriftsteller Gottfried Keller abgespielt haben soll: Von Arnold Böcklin, seinem Sohn Carlo und Gottfried Keller erzählt man diese Geschichte: Sie saßen eines Tages wie des öftern im Wirtshaus. Ihr Stammtisch war durch die wortkarge, verschlossene Art seiner Zechgenossen seit langem berühmt. Auch diesmal saß die Gesellschaft schweigend beisammen. Da bemerkte, nach Ablauf einer langen Zeit, der junge Böcklin: »Heiß ist’s«, und nachdem eine Viertelstunde vergangen war, der ältere: »Und windstill«. Keller seinerseits wartete eine Weile; dann erhob er sich mit den Worten: »Unter Schwätzern will ich nicht trinken.« Die bäurische Sprachscham, die hier von einem exzentrischen Witzwort getroffen wird, ist Walsers Sache.45 Weder Böcklin noch Keller haben einen bäuerlichen Hintergrund; Böcklin ist Kaufmanns-, Keller Handwerkersohn. Robert Walsers Vater war Buchbinder. Es geht Benjamin bei Walser auch gar nicht um ein bäuerliches Schreiben, sondern um ein Schreiben, das klingt, als läge ihm bäuerische Sprachscham zugrunde. Benjamin erwähnt Walsers Umarbeitung von Schillers Tell-Monolog unter dem Titel Tell in Prosa:

Hohlweg bei Küßnacht. Tell tritt zwischen den Büschen hervor. TELL   Durch diese hohle Gasse, glaube ich, muß er kommen. Wenn ich es recht überlege, führt kein andrer Weg nach Küßnacht. Hier muß es sein. Es ist vielleicht ein Wahnsinn, zu sagen: hier muß es sein, aber die Tat, die ich vorhabe, bedarf des Wahnsinns. Diese Armbrust ist bis jetzt nur auf Tiere gerichtet gewesen, ich habe friedlich gelebt, ich habe gearbeitet, und wenn ich müde von der Anstrengung des Tages gewesen bin, habe ich mich schlafen gelegt. Wer hat ihm befohlen, mich zu stören, auf wessen Veranlassung hin hat er mich drücken müssen?46

Auch Tell ist kein Bauer. Bis er ›gedrückt‹ wird, ist er bei Walser durch und durch Jäger; die Waffe scheint mehr Werkzeug und dient allein der Jagd; der Takt menschlicher und tierischer Körper bestimmt den Lebensrhythmus. Der Bruch dieser Ordnung offenbart die Sprachscham.

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Benjamins Begriff setzt einen Sprechgestus ins Bild, der sich im Wortsinn als der eines Exzentrikers bezeichnen ließe, eines Herausgetretenen aus dem gewöhnlichen Zusammenhang, einem Zusammenhang, in dem es keine Notwendigkeit für das Sprechen gibt, weswegen es nicht geübt wird. Der Herausgetretene und zum Sprechen Gekommene findet sich in einem Raum grenzenloser Thematisierbarkeit, für die er keine Form besitzt. Haltlos ist sein Sprechen, dazu durchzogen von Trauer über den Verlust des Schweigens, in dem er heimisch war. Das Zur-Sprache-Kommen bedingt so einen Verlust bäuerlichen Selbstverständnisses, zu dem hier Sprachlosigkeit, Diskurslosigkeit gezählt wird. »Spricht der Bauer, so spricht, ach! schon der Bauer nicht mehr«, ließe sich Schiller umwenden.47 In Benjamins Darstellung scheint die bäuerliche Sprache in dieser sozialromantischen Figur aufzugehen. Durch die erfolgreiche eidgenössische Freiheitsbewegung hat sie ein historisches Fundament; weit über die Schweiz hinaus trägt es nicht.

Rhythmische Arbeit: Ehm Welk, die Umsiedlerin Niet Müller stellt jeder Agrarromantik die Verflechtung von Landwirtschaft, Politik/Krieg und Dichtung entgegen. Er weiß um die Gefahr, in eine »Blut und Boden«-Ästhetik abzurutschen, die er auch bei DDR-Schriftstellern erkennt.48 Ein Moment nichtkorrumpierter Landwirtschaft enthält einer der frühen journalistischen Texte Müllers für den Sonntag. Es handelt sich um ein Zitat. Im August 1954 schreibt Müller den Artikel »Vom Bauernjungen zum Schriftsteller« über den uckermärkisch-pommerschen Dichter Ehm Welk (1884 – 1966). Müller zitiert darin eine Stelle aus Welks Erzählband Mein Land, das ferne leuchtet (1952). Sie handelt von der Schönheit einer Form landwirtschaftlicher Arbeit, die im Verschwinden begriffen ist:

Schönste aller Mannesarbeit, da die weitausschwingende Sense den Körper bewegt und nicht der Körper die Sense, da im Rhythmus der Halbkreise eine wellende Girlande über das Feld zieht und das fallende Korn dem Stahl ein besonders abgestimmtes Klingen entlockt, als spiele ein Gigant fern die Harfe. Und darüber, als seien die Töne sichtbar geworden, der zitternde Glast der Sommersonne: herrlichste Symphonie des Friedens.49 Wie Welk Landwirtschaft als organische Arbeit zeigt, bei der es zu einer innigen Anverwandlung ans Werkzeug kommt, zu einem synästhetischen Rhythmus in Bild und Klang, der von göttlicher Harmonie ist,

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erinnert an die 2.700 Jahre alten Bauernratschläge aus Hesiods Werke und Tage.50 In Müllers literarischen Texten finden sich nur noch brüchige Spuren solcher Bilder. Einem positiven Bauernbild nahe kommt allein die »Umsiedlerin« Niet gegen Ende des Stücks, als sie nach langer Knechtschaft und vielgestaltiger Demütigung gemeinsam mit der gebeutelten Flinte 1 in weiblicher Solidarität eigenständig ein Stück Land bestellen kann und eine neue Abhängigkeit in der Ehe ablehnt: NIET  Ja. Ich hab auch zwei Hände. FLINTE 1  Zähl meine dazu.51 Niet hat in dem langen, schnellen, figuren- und dialogreichen Stück nur neun kurze, teils kürzeste Auftritte und spricht dabei 55 Zeilen, einige bestehen nur aus einem oder wenigen Worten; meist verrichtet sie bei ihren Auftritten eine Sorgearbeit für andere. Ihr Schweigen, ihre oft nahezu ausschließlich körperliche Handlung, ihre Literarizität – sie entstammt einer Erzählung Anna Seghers’ und ruft Bezüge zu einer Reihe weiterer Texte auf – und ihr Beharrungsvermögen tragen ihr eine mythische Spur ein.52 Doch die befreiende Wendung verschwindet beinahe zwischen den vielen Handlungsfäden. Niets Ausweg zeigt das Stück ohne jedes Pathos; weder ein romantisches noch ein revolutionäres Bauernbild stellt sich ein, höchstens ein Hauch Utopie in der Befreiung der Körper.53 Historisch thematisiert das Stück die Zeit zwischen der Bodenreform und der Kollektivierung; die während seiner Entstehung stattfindenden politischen Prozesse prägten das Stück unmittelbar.54 Der Ausblick ist dunkel: Am Schluss der Umsiedlerin steht der Selbstmordversuch des Bauers Treiber, der sich dem Eintritt in die LPG verweigern will und dann doch, rheumatisch hinkend, eintritt, nachdem er vom Strick geschnitten wurde. »Die Erde deckt uns alle bald genug«, lautet der Schlussvers.55

Sprechen mit Oberwasser: Flint Die anderen Bauernfiguren in Die Umsiedlerin sind, wie Walsers Tell, ›herausgetreten‹. Sie befinden sich in einem Zwischenraum, in dem vorwärts wie rückwärts Hindernisse lauern, denen sie sich sprachlich zu nähern versuchen. Flint ist eine solche Figur, der Kleinbauer und Parteisekretär, der die Kollektivierung vorantreibt und am Ende Bürgermeister wird. Bei Flint zeigen sich die Reste bäuerlicher Sprach-

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scham als Sprechen mit Oberwasser: FLINT [zu Flinte]  Du weißt zu wenig. Das macht sauer. Lern was. Ich sage: was ich weiß, macht mir nicht heiß. Du denkst, ein Kopf ist was zum DurchdieWandgehn Und was du in den Sand steckst, wenn die stehnbleibt. Was Imperialismus ist zum Beispiel, weißt dus? Flinte ab, von Flint unbemerkt. Kapitalismus nämlich, wenn er stinkt. Lenin hats rausgekriegt, und tausend Bücher Was sag ich, hunderttausend Bücher hat er Auslesen müssen, eh ers rausgekriegt hat. Wenn du mit lernen anfängst, gilt kein Aufhörn. Da gibts die Widersprüche zum Beispiel. Da lernst du schon nicht aus. Der Imperialismus und wir, das ist ein Widerspruch, der ist antagonistisch. Das heißt: kein Pardon wird gegeben. Das heißt: er uns oder wir ihn. Das heißt: wir ihn. Was unsern Streit angeht: der ist nicht antagonistisch. Verstehst dus? Was du nicht verstehst, frag. He, warum fragst du nicht? Willst du dumm bleiben? Bemerkt, er ist allein, steht auf. Weg ist sie. Und ich hab den Mond agitiert. Das ist auch so ein Mitläufer und kleinbürgerliches Element. Ab.56 Der versifizierte Anfang des Monologs bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen peinlich verbogener Redewendung und großer Volksweisheit, wie er beim frühen bayerischen Brecht, bei Marieluise Fleißer und bei Franz Xaver Kroetz zu finden ist. Müllers literarische Vorlagen aus der DDR-Bauernliteratur dürften hier genauso nachhallen wie die eigenen ländlichen Kindheits- und Jugenderinnerungen aus Sachsen und Mecklenburg, besonders die Zeit als Angestellter im Warener Landratsamt nach dem Krieg.57 Es handelt sich um ein gestisches Sprechen: Die Sprache zeigt Flints Herausgetretensein aus der Bauernschaft und seine Orientierungsversuche im Zwischenraum von Bauer und Funktionär – mit Lenins Forderung nach »intensive[r] Agitation, durch welche die Forderungen des Kommunismus in gemeinverständlichster Form dargelegt […] werden«58 im Hintergrund. Flints Verse arbeiten mit dem Körper der Sprache: über den Rhythmus, über das Aufbrechen von erstarrten Sprichwörtern und über das Erzeugen einer neuen, lebendig-verwickelten Bildlichkeit, wie wir sie von Shakespeares Narren, von Büchners Woyzeck und von Figuren Karl Valen-

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tins kennen.59 Die Verben innerhalb des Zitats, die sich auf das Lesen beziehen, sind haptisch und könnten Erntevokabular sein: auslesen, rauskriegen. Während Walser Schillers Tell prosaisiert und ihm damit Pathos nimmt, lässt Müller seine Bauern häufig in Blankversen sprechen. Dadurch stellt er sie in die Tradition Shakespeares, Lessings und Kleists und gibt ihrer Sprache wenigstens vorübergehend den Halt, der einem »Tell in Prosa« abgeht. Vor allem hält der Vers die Sprache körperlich. »Über den Vers gibt’s einen physischen Kontakt zum Zuschauer, wenn er richtig gesprochen wird. Eine Stimme auf einen Rhythmus, und man erfährt dann die Geschichte über den Rhythmus, über den Körper«, hat Müller über die Funktion des Verses bei Shakespeare gesagt.60 Zugleich eröffnet der Vers ein Spannungsfeld zur Prosa. So verrät der Wechsel vom Vers in die Prosa in Flints Rede einen Haltungsverlust. Die Verse verleihen Flints Rede Bodenhaftung. Nur teilweise verkörpert er im Stück die Ideenwelt im Gegensatz zur radikalen Sinnlichkeit eines Fondrak.61 Über seine Verse bleibt er dem Gestischen und Stofflichen verhaftet und damit einem Feld, in dem Müller ein Potential für utopische Impulse erkennt.62 Der Wechsel zur Prosa nähert Flint nicht der Bauernschaft wieder an, sondern lässt haltlose Figuren der Herrschaft aufscheinen wie den Hauptmann im Woyzeck.

Macbeth und das Bäuerliche der Tragödie Beinahe sprachlos sind die Bauern in Müllers Macbeth-Bearbeitung (1972). Ohne Namen rangieren sie nach den Soldaten als letzte in der Personenliste. In Szene 3 werden sie an Stricken hereingeführt, in Szene 4 in den Sumpf geworfen, in Szene 5 gefoltert, für Szene 6 sieht die Regiebemerkung »Bauer im Block«63 vor; der geschundene Körper wird darin kommentarlos als Tableau präsentiert; die Handlung am Schloss läuft solange weiter. Redeanteil haben die Bauern nur in zwei Szenen, die ich genauer betrachten möchte. Die 10. Szene, etwa in der Mitte des Stücks, beginnt ebenfalls mit der Regiebemerkung »Bauer im Block«, nun mit dem Zusatz: »ein Skelett mit Fleischfetzen. Alte Frau. Junger Bauer. Schnee.«64 Der kurze Dialog zwischen der Frau und dem Sohn des getöteten Bauern zeigt, dass der Bauer wegen ausstehender Pachtzahlungen in den Block geschlagen und darin von Hunden zerfleischt wurde:

FRAU  Gebt mir meinen Mann wieder. Was habt ihr mit meinem Mann gemacht. Ich bin nicht verheiratet mit einem Kno-

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chen. Warum hast du die Pacht nicht gezahlt, du Idiot. Schlägt die Leiche. JUNGER BAUER  zieht sie weg: Wovon. Die Hunde waren schon an ihm. Eine Hand ist auch ab. Wir wolln den Rest einsammeln, eh die Hunde mit ihm fertig sind. Sie werden die Knochen nicht nachzählen da wo er hingeht. […] Der junge Bauer und die alte Frau fangen an, den Toten aus dem Block zu klauben.65 Durch den Eingriff des jungen Bauern zwischen bäuerlichem Pragmatismus und Trauerarbeit entsteht ein düsteres Mitleidsmotiv. Eine schwer beschädigte, zerstückelte Pietà bildet sich aus, als Mutter und Sohn die Reste des Bauern aus dem Block klauben. Später im Stück – die Verhältnisse haben sich geändert, der Bauernsohn ist Soldat geworden – erhält die Szene ein Gegenstück: Zusammen mit drei anderen Soldaten schindet der Bauernsohn den Burgherrn, der seinen Vater in den Block schlug und den Hunden überließ. Macbeth, der zusieht, ist an den Mythos von Marsyas erinnert, den Satyr, der von Apoll ebenfalls bei lebendigem Leib gehäutet wird – der Kreislauf der Rache reicht weit zurück.66 Die zweite Bauernrede in Macbeth findet sich in der vorletzten Szene. »Soldaten jagen einen Bauern. Der Bauer bricht zusammen«, heißt es in der ersten Regiebemerkung.67 Als der Bauer die Frage nach dem Namen des Königs mit »Duncan« beantwortet, legen die Soldaten, die Macbeths Truppe angehören, dem Bauern den Strick um den Hals. Der Anmarsch der englischen Truppen vertreibt die Schotten; der Bauer scheint gerettet. Auftritt englischer Soldaten: »in Panik« ruft der Bauer »Heil Macbeth, König von Schottland.«68 Falscher Gruß – der Strick kommt wieder um den Hals. Da kehren die Schotten wieder, vertreiben die Engländer; der Bauer bleibt allein zurück und spricht den folgenden Monolog: Ich will mich aufhängen eh die Soldaten wiederkommen, die einen oder die andern. Die Welt geht auch zu schnell für meinen armen Kopf. Wenigstens werd ich nicht lang leiden, es ist ein guter Strick. Legt sich die Schlinge wieder um den Hals. Komm Herr Jesus.69 Müller verwandelt den Bürgerkrieg in eine Slapstick-Szene. Die Schnelligkeit der politisch-militärischen Ereignisse findet Ausdruck in einer Verfolgungsjagd, die, auf das Maß einer Theaterbühne zusammenge-

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staucht, lächerlich wird. Ihr steht die Langsamkeit des Bauern gegenüber. Sie zeigt sich nicht nur in mangelnder Orientierung und Informiertheit, sondern auch in einer Aufmerksamkeit für die materiale Beschaffenheit des Stricks. Darin blitzt ein Moment der Selbstbestimmung auf: Der Bauer versteht sich auf Körper und Werkzeug. Sein Suizid ist eine Form lebendiger Arbeit. Die zynische Komik und die Verlangsamung der Haupthandlung, die dadurch entstehen, stellen die Szene – es ist die vorletzte im Stück – in die Tradition des comic relief von Shakespeares Pförtner-Szene. So wird der Bauer zu einem Strukturelement einer Politik der Tragödie, die seit jeher mit der Frage zusammenhängt, ob sich der Gang des tragischen Geschehens aufhalten oder wenigstens verzögern lässt.70 In seiner Wissensgeschichte der Landwirtschaft korrigiert Frank Uekötter das Bild vom Bauern, der durch Langsamkeit und Renitenz Wandel in der Landwirtschaft aufhält; tatsächlich erwies sich die Skepsis gegenüber Neuerungen im Nachhinein häufig als klug.71 Eine organische Landwirtschaft gehorcht raumzeitlichen Prinzipien, die von anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht (mehr) gekannt werden. Der Takt des Feldes ist mit einer entfesselten Politik, von der der Macbeth-Stoff handelt, nicht vereinbar; Müllers Fassung deutet an, dass diese Politik eine ausbeuterische Wirtschaft begleitet. Nach gängiger Auffassung ist Handlung im Drama vordergründig Sprachhandlung. Indem sie gegenüber der Sprache des Diskurses widerständig bleiben, berühren Müllers Bauern das Schweigen und damit den Hinter- oder Untergrund des Theaters. Durch Benjamins Trauerspiel-Buch ist Franz Rosenzweigs Diktum bekannt geworden, gegenüber dem Epischen habe sich das »Tragische […] gerade deshalb die Kunstform des Dramas geschaffen, um das Schweigen darstellen zu können«72. Rosenzweig erkennt im Schweigen das eigentlich heroische Moment der attischen Tragödie: Indem der Held schweigt, bricht er die Brücken, die ihn mit Gott und Welt verbinden, ab und erhebt sich aus den Gefilden der Persönlichkeit, die sich redend gegen andre abgrenzt und individualisiert, in die eisige Einsamkeit des Selbst. Das Selbst weiß ja von nichts außer sich, es ist einsam schlechthin. Wie soll es diese seine Einsamkeit, dieses starre Trotzen in sich selbst, anders betätigen als eben indem es schweigt? Und so tut es in der äschyleischen Tragödie, wie schon den Zeitgenossen auffiel. Das Heroische ist stumm.73

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Der Rückgang des Schweigens von Aischylos bis Euripides geht für Rosenzweig mit einem »Verlust an tragischer Kraft« einher: »Denn es ist mitnichten etwa so, daß die stummen Helden des Äschylos bei Sophokles und Euripides Sprache, die Sprache ihres tragischen Selbst, gewönnen. Sie lernen nicht sprechen, sie lernen bloß debattieren.«74 Eignet der bäuerlichen Sprachlosigkeit ein tragisches Moment? Hans-Thies Lehmann hat in seinem Tragödienbuch Hegels Bild vom tragischen Helden als Pflanze herausgegriffen.75 Der letzte Abschnitt von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, der von der »konkreten Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten« handelt, ist durchdrungen von Referenzen auf den »Boden«, aus dem das Handeln des Helden ›erwächst‹.76 Der »Zug ins Nichtdenken«, der dadurch entsteht, wird bei Hegel aufgefangen im »auslegenden Begriff«77. Ein (bäuerisches?) Moment sprachlosen Hervorwachsens bildet aber den Impuls der dialektischen Bewegung. Es handelt sich, nach Hegel, bei diesem Hervorkommen um eine ›substantielle‹, nicht-reflexive Handlung. Der erste Moment des Heroisch-Tragischen, das schweigende Hervortreten, stünde so der bäuerlichen Arbeit nah.78 Müller dachte die Tragödie stärker von ihrem Ende als von ihrem Anfang her. Seine Entscheidung, Aaron am Ende von Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar (1985) in den Boden wachsen zu lassen, scheint die zu Hegel angestellten Beobachtungen in umgekehrter Richtung zu bestätigen.79 Versandung, Verwüstung und Flächenfraß vernichten die bäuerliche Arbeit und damit den Anfang fortschreitender gesellschaftlicher Differenzierungs- und Emanzipationsprozesse. Ein radikaleres Bild für eine Entindividualisierung ist kaum denkbar. Wo ist innerhalb dieses Prozesses vom Hervorwachsen zur (Dystopie der) Versandung das kommunistische Projekt der Kollektivierung anzusiedeln? An welchen Stellen wäre der Prozess zu unterbrechen und umzulenken, damit ein anderer Ausgang wahrscheinlicher wird?

Parzelle: Traktor Der zentrale Unterschied von Müllers literarischer Analyse der Bauernfrage zu den eingangs skizzierten theoretischen und realpolitischen Entwürfen liegt im Verhältnis zur Geschichte. Müller macht deutlich, dass die Transformationsprozesse nicht unabhängig von historischen Einlagerungen ablaufen, dass für die Überwindung der Teilung des Bodens und des Politischen die beteiligten Körper in ihrer Geschichtlichkeit (mit-)gedacht werden müssen. Zu Beginn von Traktor steht die folgende Szene:

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FELDWEBEL […] Und daß der Feind merkt, ihm wird nichts geschenkt Heißts Minen legen, daß er an uns denkt. […] Soldaten graben. He Warum gräbst du nicht. SOLDAT der nicht gräbt: Weil ich seh S ist ein Kartoffelfeld wo ich drauf steh.80 Die schon in der Antike verbreitete Kriegstechnik der Vernichtung der Ernte überbieten die Kriege des 20. Jahrhunderts durch die Verminung des Bodens. Die landwirtschaftliche Einteilung des Bodens, die dem Erhalt des menschlichen Lebens dient, wird Teil einer militärischen Strategie der Zerstörung. Die Aufteilung des Sinnlichen gerät durcheinander. Der Boden kann nun Acker, Minenfeld und Grab zugleich sein. Eine andere Stelle von Traktor zeigt die Folgen dieser Überlagerung: TRAKTORIST […] Wir standen da an den Traktoren abends Der Frieden war ein Jahr alt, zwanzig wir Rauchten, Bauern dabei, lamentierten Um einen Fetzen Brachfeld, Minen drin. Ich sagte: meine Knochen brauch ich noch Jagt eure Gäule drüber, wenn ihrs braucht Ich hab was gegen Minen. Sagt mein Kumpel: Ich gegen Kohldampf, schmeißt den Stummel weg Und sitzt schon auf dem Traktor und fährt los Als wärs ein Acker wie ein andrer Acker. Es war die Himmelfahrt, der Traktor auch hin. BAUER  Mütze ab: Um den ists schad. Es trifft die falschen immer. TRAKTORIST Wenn du ihn ausgraben willst, ich zeig dir den Fleck. BAUER  Der konnte mehr als Witze reißen. Der nahm Die Hände aus den Taschen, wenn der Acker Den Pflug gebraucht hat. TRAKTORIST  Das ist wahr, und selber Wird er gepflügt jetzt von den Würmern unten Weiß keinen Witz mehr und braucht keine Taschen. BAUER  Und er täts wieder, wenn er wieder hier ständ.81

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Unter den Versen des Bauern liegen Spuren eines anderen Verhältnisses zu Feld und Zeit. Die bäuerliche Arbeit, strukturiert durch die Jahreszeiten, durch Zeiten der Saat und der Ernte, kann eine Zeit des Hagels noch integrieren; eine Zeit der Mine lässt sich nicht einfügen. Die Zyklen von Verfall und Werden, auf denen das bäuerliche Urvertrauen und das organische Verhältnis zur Arbeit ruhen, finden Ausdruck in Müllers Versgestaltung. Während der Bauer fast ausschließlich im Zeilenstil spricht – seine Versenden entsprechen nur an einer Stelle nicht dem Satzende –, durchpflügen die Verse des Traktoristen die Syntax. Das Enjambement zu Beginn der Stelle: »Der Frieden war ein Jahr alt, zwanzig wir / Rauchten, Bauern dabei, lamentierten« erzeugt eine Überlagerung. Im ersten Vers ist das »wir« auch noch Teil eines Zeugmas, der rhetorischen Figur, die wörtlich ›Joch‹ bedeutet und zwei eigenständige Satzteile in einem Verb zusammenspannt. Mitten in den zweiten Vers werden die Bauern gefügt; die Form ihres Dabeiseins bleibt unklar. Die sprachlichen Überlagerungen münden in die Schilderung des Minentods, für den es nur lakonische Worte gibt. Das Gefühl von Fragmentierung und Durcheinander ist aber durch den vorangegangenen Versbau bereits hergestellt. Wenn im Boden die Mine lauert, so suggerieren die Verse des Traktoristen, ist nicht nur eine Rückkehr zur organischen Arbeit nicht mehr möglich, auch die Syntax kann keine Form des Werdens mehr annehmen. Der Horizont der Wahrnehmung des Traktoristen liegt im ›Krieg der Landschaften‹. Nur wenn die Landschaft sich selbst in den Krieg einschaltet, wenn die Landschaft Mine wird, scheinen die Spannungen sich noch zu entladen. Der Traktorist entwirft das Bild einer Gemeinschaft aus toten Körpern, Maschinenteilen, Erde und Unkraut: Und einer aus dem andern Aas auf Aas Fortpflanzen sich die Toten in den Himmel Und kleiner wird der Traktor unter mir Und kleiner unter meiner Last werd ich Das Unkraut nimmt den Traktor in die Zange Die grünen Kiefer kaun den Stahl zu Schrott Die Toten lachen aus verfaulten Bäuchen Jeder sein Stockwerk Leichen im Gepäck Dann nimmt der Acker mich unter den Pflug Dann sind wir eins ein Klumpen Aas und Schrott Der sich im Leeren dreht auf keiner Stelle.82

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Hier entsteht eine andere Form des Werdens, einer organischen Verbindung von Boden, Körper und Arbeit. Müller schließt daran seinen poetologischen Kommentar zum »Gefühl des Scheiterns«, zum »Bewußtsein der Niederlage beim Wiederlesen der alten Texte«.83 Der Wunsch nach einer unlesbaren Sprache wendet sich zum Bild des »Verschwinden[s] der Welt in den Wörtern«: »Das Bedürfnis nach einer Sprache, die niemand lesen kann, nimmt zu. Wer ist niemand. Eine Sprache ohne Wörter. Oder das Verschwinden der Welt in den Wörtern.«84 Der Schluss von Traktor legt nahe, dass diese ambivalente Phantasie einer sprachlichen Entdifferenzierung als Reaktion auf eine Entdifferenzierung der Erfahrungswelt zu lesen ist: Nacht. Feld. Traktorist, Bauer. TRAKTORIST […] In einer Nacht wie heute, Vollmond auch Haben wir einen umgelegt in Rußland Zu dritt auf einem Maisfeld groß wie Sachsen Ein Bauer wars. Warum? Ich habs vergessen. Das hab ich nicht vergessen: wie der Alte Bei seinem letzten Rennen noch drauf sah Daß er den Mais nicht umtrat. Wir sahn nicht drauf. Wir jagten ihn, und eine kurze Jagd wars Er immer um den Mais herum, wir drüber. Wir hatten Schnaps, der Leutnant war bei Laune Er sagte: Sagt dem Bolschewiken, weil mir Sein Bart gefällt, erlaub ich ihm, daß er Sein letztes Loch auf seinem eignen Feld schippt. Wir fragen, wo sein Feld ist. Sagt der Alte: HierallesmeinFeld. Wir: wo sein Feld war Eh alles kollektiv war. Der zeigt bloß Wie ein Großgrundbesitzer ins Gelände Wo kilometerbreit brusthoch der Mais stand. Der hatte wo sein Feld war glatt vergessen.85 Im Tod soll dem in Ungnade gefallenen Bauern ein eigener Raum zugestanden werden; für die Toten scheinen andere Besitzverhältnisse zu gelten. Auf der Oberfläche ist die Anekdote ein Witz über die Frage, welche Auswirkungen die Kollektivierung auf die Folterpraktik vom Schaufeln des eigenen Grabs hat. Die Spannung zwischen der entortenden Ordnung der Lebenden und einem Bleiberecht der Toten deu-

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tet aber auch darauf, dass räumliche Entgrenzung mit einem Verlust von Erinnerung einhergeht. Auch Friedhöfe sind in Parzellen eingeteilt. Die Sehnsucht nach referentieller Entdifferenzierung – »das Verschwinden der Welt in den Wörtern« – erscheint vor diesem Hintergrund nicht als Bekenntnis zu einer Form dekonstruktiven Denkens, sondern als Kapitulationserklärung des Dichters. Müller interessierte sich für das Bild einer Verwandlung in unbedrohbaren Staub aus Bertolt Brechts Revolutionsgedicht Lied der Mutter über den Heldentod des Feiglings Wessowtschikow (1931).86 Er las es gegen den Strich, autobiographisch und poetologisch: als Entzug des Dichters aus der Berührbarkeit, der emotionalen Verantwortung. In einem Gespräch mit Alexander Kluge erklärt er: Der Anlaß war offenbar ein Eifersuchtsproblem, also eine Frau … Brecht war sehr eifersüchtig, eine Frau ist mit einem anderen Mann abgezogen, und für ihn ist das ein Erlebnis von Vernichtung und Identitätsverlust. Und der Schluß ist dann, daß er – ich weiß es nicht wörtlich jetzt – daß er mitteilt, er will jetzt nur noch Papier sein […] auf das etwas geschrieben wird. Und das Ziel ist eigentlich, mich zu verwandeln – das ist wörtlich – in unbedrohbaren Staub. Das einzige, was nicht mehr bedrohbar ist, ist Staub.87 Die ethisch-poetologische Dimension des Schreibens, die sich hier andeutet, ist zentral für Müllers Bauerntexte. Ihr möchte ich mich zum Schluss zu nähern versuchen.

Dichter und Bauern – Orpheus gepflügt Landwirtschaft, so hat sich in den Textlektüren gezeigt, ist bei Müller ein gefährliches Unterfangen. Zu den häufigsten Widerfahrnissen gehören: Bein ab, Haut ab, zerfleischt und ertränkt werden. Fast immer enthalten die Gewaltmomente eine doppelte Spur: Sie rekurrieren auf spezifische historische Konstellationen, den mittelalterlichen Feudalismus, die Kriege des 20. Jahrhunderts, den Stalinismus, je spezifische Quellentexte. Und es eignet ihnen ein mythologischer Zug: Implizit oder explizit bringt Müller sie in Zusammenhang mit Gewalt- und Schmerzmomenten antiker Mythen. So klingt der Traktorist, wenn er über sein verlorenes Bein spricht, wie Philoktet (außerdem teilt er einen Satz mit dem einbeinigen Pförtner im Macbeth88). Dass der Sohn des im Hof des Lords von Hunden zerfleischten Bauern in Macbeth seinen Vater durch die Schindung des Lords rächt, wird im Stück explizit

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mit dem Marsyas-Mythos verbunden. Müllers Verfahren des Verwebens von historischem Realismus und Mythos hat wirkungsästhetische und geschichtsphilosophische Gründe. Mythen sind für Müller kristallisierte Erfahrung; es handelt sich um Bilder und Narrative, die aus »Erfahrungsdruck« hervorgegangen sind.89 Der konkrete Erfahrungsgehalt der Mythen lässt sich aus ihrer Form herausarbeiten, wenn man die körperlichen Dimensionen der Form in den Blick nimmt. Durch die Verbindung von mythisierter und historischer Erfahrung lassen sich besonders dichte Bilder herstellen, deren Wirkung dem Publikum aufgeladen wird. Wenn sich Lernen nur über Erfahrung vollzieht, aber historisch kaum anhaltende Lerneffekte erkennbar sind, kann es sinnvoll sein, in Jahrtausenden der Erfahrung zu denken. Das ethisch-poetologische Problem des Dichtens – »[d]as Gefühl des Scheiterns, das Bewußtsein der Niederlage beim Wiederlesen der alten Texte« – wirft in Müllers Werk einen Schatten auf die Möglichkeit des Lernens aus Mythos und Literatur. Die Gewalt steckt in den Texten selbst; es besteht die Gefahr, dass auch die Literatur an der ewigen Wiederkehr von Gewaltmomenten teilhat. Seinem Titus-Andronicus-Stück stellt Müller das Motto voran: »Der Menschheit / Die Adern aufgeschlagen wie ein Buch / Im Blutstrom blättern«90. Es hat für ihn mit der »fragwürdige[n] Position des Autors als Schreibtischtäter […] zwischen Opfern und Tätern« zu tun.91 In seiner Gegenwart ist die Literatur so wenig unschuldig wie in der Antike. Lakonisch heißt es etwa im DDR-Band Helden der Arbeit, einer Quelle für Traktor: »Paul Arndt ist ein sympathischer und trotz des körperlichen Gebrechens – bei dem letzten Unglück verlor er ein Bein – heiterer Mensch, immer zu Späßen aufgelegt.«92 Eine Urgeschichte für die Verantwortung der Literatur ist für Müller die vom Tod des Orpheus. Den Anstoß gibt eine in der Rezeption vernachlässigte Passage in Ovids Metamorphosen, wonach die Mänaden Orpheus auch mit Werkzeugen töten, die Bauern zurücklassen, die vor den Rasenden von ihrer Feldarbeit fliehen: neu desint tela furori, forte boves presso subigebant vomere terram, nec procul hinc multo fructum sudore parantes dura lacertosi fodiebant arva coloni, agmine qui viso fugiunt operisque relinquunt arma sui, vacuosque iacent dispersa per agros sarculaque rastrique graves longique ligones.

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quae postquam rapuere ferae cornuque minaci divulsere boves, ad vatis fata recurrunt Damit es an Waffen dem Wahn nicht fehle, wendeten grad mit der Pflugschar Rinder die Erde, gruben auch nahebei, um Ertrag zu erzielen mit vielem Schweiß, das harte Feld um mit kräftigen Armen die Bauern. Diese entfliehen beim Anblick der Schar; ihre Arbeitsgeräte lassen sie da, und so liegen nun weit verstreut auf den leeren Äckern Harken und schwere Hacken und längliche Karste. Diese rauben die Wilden, zerreißen die drohend gehörnten Rinder und laufen zurück zum Verhängnis dem Sänger […]93 Diesen Aspekt des Orpheus-Stoffs stellt Müller ins Zentrum seiner beiden Texte Orpheus gepflügt. Die um 1960 entstandene Prosafassung, die auch im Glücksgott auftaucht, lautet wie folgt: Orpheus der Sänger war ein Mann der nicht warten konnte. Nachdem er seine Frau verloren hatte, durch zu frühen Beischlaf nach dem Kindbett oder durch verbotnen Blick beim Aufstieg aus der Unterwelt nach ihrer Befreiung aus dem Tod durch seinen Gesang, so daß sie in Staub zurückfiel bevor sie neu im Fleisch war, erfand er die Knabenliebe, die das Kindbett spart und dem Tod näher ist als die Liebe zu Weibern. Die Verschmähten jagten ihn: mit Waffen ihrer Leiber Ästen Steinen. Aber das Lied schont den Sänger: was er besungen hatte, konnte seine Haut nicht ritzen. Bauern, durch den Jagdlärm aufgeschreckt, rannten von ihren Pflügen weg, für die kein Platz gewesen war in seinem Lied. So war sein Platz unter den Pflügen.94 Müller erzählt den Orpheus-Mythos selektiv und stark verdichtet; er lässt ihn auf die bei Ovid nebenbei (was die Darstellung der Arbeit betrifft, aber prägnant) geschilderte Rolle der Bauern zulaufen. Was bei Ovid nur zwischen den Zeilen zu lesen ist – dass Orpheus die Bauern aus seiner Dichtung ausschloss –, hebt Müller hervor. Er verbindet die Trennung der Arbeit von der Dichtung mit der körperlichen Zerstückelung des Dichters. Dessen Tod steht so im Zusammenhang mit der poetischen Vernachlässigung von Arbeit und Material. Dass Orpheus die Mänaden gegen sich aufbringt, stört dann auch das Pflügen. Es deutet sich an, dass die Bauern zwischen dem Orphisch-Apollinischen und dem Dionysischen der Mänaden vermitteln könnten – zwischen

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schönem, verzaubernden Gesang und ekstatischer Zerreißung. Sie beschäftigen sich nicht damit, nicht ›geritzt‹ zu werden, sondern graben die Erdoberfläche unter Einsatz ihres ganzen Körpers um, vor Umwelteinflüssen nicht gefeit. Dreißig Jahre später schreibt Müller eine neue Fassung des Gedichts, in Versform, noch dichter, mit explizitem Zeitbezug: Als die thrakischen Weiber den Schönsänger ORPHEUS zerstückten Wars mit Pflügen Denn das Lied schont den Sänger und alles Hatte besungen der Gewächs und Getier und die Glieder Lösende Liebe Den Blut ausschüttenden Krieg auch Und Tod und Traum und im leeren Himmel das Schweigen der Götter Er Orpheus DUNKEL GENOSSEN IST DER WELTRAUM SEHR DUNKEL Aber den Grund nicht Arbeit Schweiß treibend und Werkzeug So starb er An vergessnem Gesang95 Ohne das Lineare der erzählenden Prosa wird der Text »geräumig«, weniger vorgedeutet, offener für neue Erfahrungszusammenhänge.96 Das Versprechen einer Erzählung, das im »Als« steckt, mit dem das Gedicht beginnt, wird von den Pflügen ausgebremst. Statt zu erzählen, wird beinahe aufgezählt. Die Reihung wirkt mit ihren den antiken Sprachen entlehnten Partizipialkonstruktionen – »Glieder / Lösende Liebe«, »Blut ausschüttende[r] Krieg« – wie eine Schwundform des antiken Epos. »Gewächs« und »Getier« sind Kollektivbegriffe. Für »Gewächs« steht im Grimmschen Wörterbuch »ein sammelwort, das alles was wächst, in sich vereinigt«97. Müllers Verse stehen den Begriffen trennend gegenüber. Die »Glieder« werden durch die Versgrenze vom »Lösen« ferngehalten. Der Vers verteidigt den Körper gegen dessen Auflösung in der Idee. Das in Versalien gedruckte Zitat Jurij Gagarins reißt unvermittelt Zeit und Raum auf und schafft den größtmöglichen Abstand zum »Grund«, auf dem die Arbeit der Bauern stattfindet. Wo sind die Bauern in der zweiten Fassung? Einerseits ist die spätere Version historisch deutlicher lokalisiert als die erste. Gagarins Weltraumflug fand im April 1961 statt und damit noch mitten in den Kollektivierungsprozessen der DDR-Landwirtschaft. Oststaaten und Ostdichter interessierten sich zu der Zeit mehr für den Aufbruch in den »leeren Himmel« als für die Prozesse am Boden.98 Als Sergej Tretjakow 1930 aus Moskau in das Kombinat Vyzov fliegt, macht ihm die

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Vogelperspektive auf das Land aus dem Flugzeug den Menschen zwar unscheinbar, den Tieren und Dingen ähnlich; der weite Blick auf die Landarbeit ringt ihm aber auch noch Demut vor deren Komplexität ab.99 Aus dem Weltraum jedoch sind die Landmenschen nicht einmal mehr pflügende »Termitenvölker«100. Andererseits sind die Verhältnisse von 1961 fern, als Müller dem Text um 1990 eine neue Form gibt. In Krieg ohne Schlacht sagt Müller zur Frage nach der Aktualität der Umsiedlerin, man könne das Stück »heute nicht mehr schreiben« und auch »schon vor fünf Jahren« nicht, »weil es diese Bauern nicht mehr gab«: Die Industrialisierung der Landwirtschaft ist der eigentliche Vorgang – ob privat oder kollektiv ist eigentlich sekundär. Und die Anfänge dieses Prozesses in der DDR beschreibt das Stück. Wenn man die amerikanische Landwirtschaft mit der sowjetischen vergleicht, so ist der Vorteil der Amerikaner, daß da drei Mann ein Gebiet ausbeuten, für das die Russen achthundert Arbeitskräfte beschäftigen, und es kommt viel weniger dabei heraus. Eine Frage des technischen Standards.101 Unter dem Zynismus muss Erbitterung über den endgültigen Verlust des Rhythmisch-Organischen, des Sinnlichen, in der bäuerlichen Arbeit liegen, von dem um 1960 wenigstens noch Bruchstücke existierten. In der zweiten Fassung von Orpheus gepflügt scheint dieses Gefühl einen melancholischen Ausdruck in der Form gefunden zu haben. Die Dichtung versucht eine Anverwandlung an die bäuerliche Arbeit. Dass Müller das Pflügen mit dem Dichten verbindet, zeigt sich im ersten Satz, der sich nach »zerstückten« teilt und nach der Versgrenze mit »Wars mit Pflügen« fortsetzt. Ist von Orpheus die Rede, ist das Verhältnis von Syntax und Versbau aufs Äußerste gespannt; wo es um die Arbeit geht, fügen sie sich zusammen. Virtuos arbeitet Müller zudem mit der bei Ovid beobachteten Verbindung von mythischem und landwirtschaftlichem Vokabular, die den Bauern zugleich archaisiert und historisiert, ihn plastisch werden lässt. Der letzte Vers zum »vergessnen Gesang« ist verkürzt. Inhalt wie Form verweisen auf das Schweigen, auf die Unzulänglichkeit der Dichtung. Der Vers schlägt zurück auf Müllers eigene Arbeit, die hier, und vielleicht grundsätzlich, oszilliert zwischen der eines Schönsängers und der eines Bauern.

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Vgl. Uekötter, Frank: Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft, 3. Aufl., Göttingen 2012. 2 Vgl. Giordano, Christian: »Die vergessenen Bauern. Agrargesellschaften als Objekt sozialwissenschaftlicher Amnesie«, in: Bauerngesellschaften im Industriezeitalter. Zur Rekonstruktion ländlicher Lebensformen, hrsg. v. Christian Giordano, Robert Hettlage, Berlin 1989, S. 9 – 27. Stefan Breuer schreibt zu Beginn des Kapitels »Das Naturrecht der Bauern« in seiner Sozialgeschichte des Naturrechts: »In den meisten Geschichten des Naturrechts sucht man vergeblich nach einem Naturrecht der Bauern. Im Pantheon der großen Denker von Aristoteles bis Hegel ist der Bauer nicht existent, in die Dogmen- und Ideengeschichten hat keiner seiner Gedanken Eingang gefunden. Auch die politische Geschichte, die ihn weniger leicht übersehen kann, handelt von ihm meist nicht als eigenständigem Subjekt mit spezifischen Interessen und Intentionen, sondern als Materiatur und Realisierungsgrund von Ideen, die anderswo, zumeist in den Akademien, Parlamenten oder Gelehrtenstuben der Städte, geboren werden.« Breuer, Stefan: Sozialgeschichte des Naturrechts, Opladen 1983, S. 216. Für einen Überblick über historische Zusammenhänge und Zuschreibungen, vgl. Conze, Werner: Art.: »Bauer, Bauernstand, Bauerntum«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, Bd. 1: A – D, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhard Koselleck, Stuttgart 1972, S. 407 – 439. In jüngeren Beiträgen zur Klassentheorie bleiben die Bauern ebenfalls unberücksichtigt. Vgl. etwa Blome, Eva/Eiden-Offe, Patrick/Weinberg, Manfred: Klassen-Bildung. Ein Problemaufriss, in: IASL 35.2 (2010), S. 158 – 194. 3 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, hrsg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1989, S. 151 – 154 (im Folgenden mit Sigle HW und Band angegeben). 4 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, HW 7, S. 355 (§ 203), Hervh. i. O. 5 Ebd. (§ 202). Hegel unterscheidet zwei weitere Stände, einen »reflektierenden oder formellen« (Industrie, d. h. Handwerk, Fabrik, Handel) und einen »allgemeinen« Stand (Beamte, Staatsdiener, Privatiers), ebd. 6 Ebd., S. 356 f. Siehe auch den Zusatz zu § 203: »In unserer Zeit wird die Ökonomie [hier: die Landwirtschaft] auch auf reflektierende Weise, wie eine Fabrik, betrieben, und nimmt dann einen ihrer Natürlichkeit widerstrebenden Charakter des zweiten Standes an. Indessen wird dieser erste Stand immer mehr die Weise des patriarchalischen Lebens und die substantielle Gesinnung desselben behalten. Der Mensch nimmt hier mit unmittelbarer Empfindung das Gegebene und Empfangene auf, ist Gott dafür dankbar und lebt im gläubigen Zutrauen, daß diese Güte fortdauern werde. Was er bekommt, reicht ihm hin; er braucht es auf, denn es kommt ihm wieder. Dies ist die einfache, nicht auf Erwerbung des Reichtums gerichtete Gesinnung: man kann sie auch die altadelige nennen, die, was da ist, verzehrt. Bei diesem Stande tut die Natur die Hauptsache, und der eigene Fleiß ist dagegen das Untergeordnete, während beim zweiten Stande gerade der Verstand das Wesentliche ist und das Naturprodukt nur als Material betrachtet werden kann.« 7 Vgl. Conze: Art.: »Bauer, Bauernstand, Bauerntum«, S. 436 – 438. 8 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies.: Werke, Bd. 4, 6. Aufl., Berlin 1972, S. 459 – 493, hier S. 472 und S. 466 (im Folgenden mit Sigle MEW und Band angegeben). 9 Ebd., S. 481. 10 Engels, Friedrich: Der deutsche Bauernkrieg, in: MEW 7, S. 327 – 413, hier S. 339. 11 Ebd. 12 »Wer unter diesen Umständen vom Ausgang des Bauernkriegs allein Vorteil zog, waren die Fürsten. Wir sahen schon gleich im Anfang unserer Darstellung, wie die mangelhafte industrielle, kommerzielle und agrikole Entwicklung Deutschlands alle Zentralisation der Deutschen zur Nation unmöglich machte, wie sie nur eine lokale und provinzielle Zentralisation zuließ und wie daher die Repräsentanten dieser Zentralisation innerhalb der Zersplitterung, die Fürsten, den einzigen Stand bildeten, dem jede Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zugute kommen mußte. […] Die Zersplitterung Deutschlands, deren Verschärfung und Konsolidierung das Hauptresultat

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des Bauernkriegs war, war auch zu gleicher Zeit die Ursache seines Mißlingens.« Ebd. S. 411. 13 Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW 8, S. 111 – 207, hier S. 198 f. 14 Engels: Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, in: MEW 22, S. 483 – 505, hier S. 487. 15 Ebd., S. 489. 16 Ebd., S. 499. 17 Lenin, Wladimir Iljitsch: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur Agrarfrage (Für den Zweiten Kongreß der Kommunistischen Internationale), in: ders.: Werke 31, Berlin 1959, S. 140 – 152. 18 Ebd., S. 140 f. 19 Ebd., S. 141 – 143. 20 Ebd., S. 145 f. 21 Ebd., S. 151. 22 Ebd., S. 152. 23 Trotzki, Leo: Geschichte der Russischen Revolution. Februarrevolution, übers. v. Alexandra Ramm, Essen 2010, S. 268. 24 Ebd. Für diesen Befund mag die wechselhafte Rolle der Bauern in den revolutionären Bewegungen 1780 bis 1848 eine Rolle gespielt haben. Vgl. dazu Hobsbawm, Eric: The Age of Revolution, 1789–1848, London 1999 [1962], S. 155 – 157. 25 Trotzki, Leo: Geschichte der Russischen Revolution. Oktoberrevolution, übers. v. Alexandra Ramm, Essen 2010, S. 315. 26 Ebd., S. 329. 27 Ebd., S. 330. 28 Tretjakow, Sergej: Feld-Herren. Der Kampf um eine Kollektiv-Wirtschaft, Berlin 1931, S. 9. 29 Vgl. Applebaum, Anne: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine, übers. v. Martin Richter, München 2019, S. 162 – 174; Schöne, Jens: Das sozialistische Dorf. Bodenreform und Kollektivierung in der Sowjetzone und DDR, Leipzig 2008, S. 29 – 32. 30 Vgl. Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 2017, S. 413 f. 31 Ebd., S. 414 – 416; vgl. auch Applebaum: Der Gulag, übers. v. Frank Wolf, Berlin 2003, S. 87 sowie umfassend für das Gebiet der Ukraine, dies.: Roter Hunger. 32 Schöne: Das sozialistische Dorf, S. 45 – 51; ders: Frühling auf dem Lande? Die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft, Berlin 2005, S. 60. 33 Schöne: Das sozialistische Dorf, S. 46 – 48, S. 66 – 80; ders.: Frühling auf dem Lande?, S. 220 – 226. 34 Schöne: Das sozialistische Dorf, S. 165. Die Entnazifizierung erwies sich in vielen Fällen als nur vorgeschobener Grund. Ebd., S. 70 f. Vgl. zum Grund für die Kollektivierung in der DDR als Mischung aus Agrar- und Herrschaftskrise, enger Orientierung an der Sowjetunion und der marxistischen Theorie auch ders.: Frühling auf dem Lande?, S. 297 f. 35 Schöne: Das sozialistische Dorf, S. 112 – 120. 36 Ebd., S. 123 – 135. Der Begriff der ›Liquidierung‹ wurde dabei offenbar kalkuliert mit unbestimmter Extension eingesetzt; die Geschehnisse in der Sowjetunion werden aber ihren Schatten geworfen haben. 37 Ebd., S. 135 – 141. Vgl. mit ähnlichen Diagnosen zur Kollektivierung in der DDR sowie Studien zu ihren Nachwirkungen: Beleites, Michael/Graefe zu Baringdorf, Friedrich Wilhelm/Grünbaum, Robert (Hg.): Klassenkampf gegen die Bauern. Die Zwangskollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft und ihre Folgen bis heute, Berlin 2010. 38 Müller, Heiner: Dem Terrorismus die Utopie entreißen – Alternative DDR, in: Heiner Müller Werke 11, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 523 f. (im Folgenden mit Sigle W und Band angegeben). 39 Müller: Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande, in: W3, S. 181 – 287. 40 Müller: Glücksgott, in: W3, S. 163 – 180, hier S. 167. 41 Müller: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution, in: W5, S. 11 – 42, hier S. 18. 42 Ebd., S. 14. Gemeint ist das Niederschlagen der Bauernaufstände der Vendée 1793 – 1796 gegen die Revolution, mit 300.000 Toten.

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Genia Schulz hat in ihren Lektüren von Die Umsiedlerin/Die Bauern und Traktor drei Punkte zur Gestaltung und Funktion der Bauernfiguren bei Müller herausgestellt: Den Bauern eignet ein archaisches Moment, sie tragen eine Literaturgeschichte in sich, und sie regen zu Analogiebildungen zwischen Dichten und Ackerbau an: das Wenden (vertere), das im Vers steckt, auch das Ziehen der Reihen (trahere) des Traktors, das Umgraben im Zeichen der Erinnerung und als Bild der Revolution. An diese Gedanken knüpfe ich an. Vgl. Schulz, Genia: Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 38, S. 44, S. 47 und S. 125 – 128. 44 Tretjakow: Feld-Herren, S. 16. 45 Benjamin, Walter: Robert Walser, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/2, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 324 – 328, hier S. 325 f. (im Folgenden mit Sigle BGSch und Band angegeben). 46 Walser, Robert: Tell in Prosa, in: ders.: Sämtliche Werke in Einzelausgaben, Bd. 3: Aufsätze, hrsg. v. Jochen Greven, Zürich/Frankfurt a. M. 1985, S. 36 – 38, hier S. 36. 47 Vgl. zur Sprachlosigkeit aus historischer Perspektive Breuer: Sozialgeschichte des Naturrechts, S. 216 f.: »Die Geschichte, die sich durch sie [die Bauern] und an ihnen vollzieht, scheint über sie hinwegzugehen, als eine Kette globaler Transformationen und Umwälzungen innerhalb der dominanten Produktionsverhältnisse, die den Bauern Ort und Aktionsradius zuweisen, ohne selbst wiederum von ihnen bestimmt zu werden. Und diese Heteronomie ist um so größer, als die Bauern von allen historischen Klassen am wenigsten über eine eigene Sprache verfügen, in der sie ihre spezifischen, von der Dynamik des Gesamtprozesses abweichenden Ziele artikulieren konnten. Auch wo sie aufbegehren und sich gegen die herrschende Kultur wenden, erscheinen sie noch als deren Sklaven. Alle großen Bauernerhebungen, denen es gelang, die Grenzen des dörflichen und regionalen Mikrokosmos zu überwinden, mußten sich ihre Sprache aus anderen Zusammenhängen leihen.« 48 Vgl. Müller: Krieg ohne Schlacht – Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, in: W9, S. 77 f. 49 Welk, Ehm, zit. in: Müller: Vom Bauernjungen zum Schriftsteller. Besuch bei Ehm Welk, in: W8, S. 99 – 102, hier S. 100. 50 Vgl. Ette, Wolfram: »Arbeit in Hesiods Werken und Tagen«, in: Antike und Abendland 60.1 (2014), S. 37 – 50. 51 Müller: Die Umsiedlerin, in: W3, S. 181 – 287, hier S. 277. Vgl. zur Zurückweisung des Eheangebots durch den Bauer Mütze/Glatze, ebd., S. 281; zur »Utopie des Weiblichen«, die sich in der Verbindung der beiden Frauen andeutet: Streisand, Marianne: »Heiner Müllers ›Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande‹. Entstehung und Metamorphosen des Stücks«, in: Weimarer Beiträge 32.8 (1986), S. 1358 – 1384, hier S. 1372 f.; Meuser, Mirjam: Schwarzer Karneval – Heiner Müllers Poetik des Grotesken, Berlin/Boston 2019, S. 286 – 294. 52 Vgl. zur dichten Intertextualität der Umsiedlerin: Fehervary, Helen: »Heiner Müllers Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande und Alfred Matusches Die Dorfstraße«, in: Ich bin meiner Zeit voraus. Utopie und Sinnlichkeit bei Heiner Müller, hrsg. v. Hans Kruschwitz, Berlin 2017, S. 247 – 257; Meuser: Schwarzer Karneval, S. 222, S. 228 f., S. 231 f. und S. 356 – 373; zu Niets Schweigen und dem höheren Redeanteil der Figur in früheren Fassungen von Müllers Text auch Streisand: »Heiner Müllers ›Die Umsiedlerin‹«, S. 1368 – 1372. 53 Vgl. zur Bedeutung der Körperlichkeit für das Stück Meuser: Schwarzer Karneval, S. 232 – 261; zur utopischen Kraft der Sinnlichkeit auch Fehervary: »Heiner Müllers Die Umsiedlerin«, S. 257. 54 Vgl. Streisand: »Heiner Müllers ›Die Umsiedlerin‹«, S. 1376 f. 55 Müller: Die Umsiedlerin, S. 287. 56 Ebd., S. 242. 57 Als literarische Vorlagen sind u. a. benannt oder erkannt worden: Anna Seghers’ Erzählung Die Umsiedlerin (1959), Erwin Strittmatters Bauernstück Katzgraben (1958) und Alfred Matusches Stück Die Dorfstraße (1955). Außerdem will Müller sich an Bauernbildern Cranachs, Breughels und Boschs orientiert haben, die den historischen Raum vom mittleren 20. Jahrhundert zur frühen Neuzeit hin öffnen; durch den Shakespeare-Vers wird das noch verstärkt. Vgl. zu den Vorlagen und sprachlichen Einflüssen: Streisand: »Heiner Müllers ›Die Umsiedlerin‹«,

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Sandra Fluhrer

S. 1359; Meuser: Schwarzer Karneval, S. 318; Fehervary: »Heiner Müllers Die Umsiedlerin«, S. 257; zum Kontakt mit Bauern im Landratsamt als Material für Die Umsiedlerin: Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 36: »Ich saß da an einem kleineren Tisch, und der Beamte, der zuständig war, der Abteilungsleiter, saß an seinem Regierungsschreibtisch, und die Bauern standen und trugen ihre Sachen vor. Viel mehr als das, was sie sagten, haben mich die Tonfälle interessiert, die Art, wie sie sprachen. Ich weiß kein konkretes Detail mehr, weil das alles eingegangen ist in den Text von UMSIEDLERIN. Und damit ist es auch aus meinem Gedächtnis gelöscht.« 58 Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur Agrarfrage, S. 152. 59 Kai Bremer liest Die Umsiedlerin als »sozialistisches Fastnachtspiel«. Bremer, Kai: »›Vor dem Leib die Predigt‹. Performativer Widerspruch und karnevaleske Ausdrucksformen in der Umsiedlerin«, in: Heiner Müller sprechen, hrsg. v. Nikolaus Müller-Schöll und Heiner Goebbels, Berlin 2009, S. 92 – 98, hier S. 95. 60 Müller: Eine merkwürdige Figur. Einige Worte zu Ernst Jandl, in: W8, S. 370 f. Vgl. zum Vers der Umsiedlerin (der von der zeitgenössischen Kritik zunächst scharf kritisiert wurde): Streisand: »Heiner Müllers ›Die Umsiedlerin‹«, S. 1373 – 1376; Meuser: Schwarzer Karneval, S. 315 – 329; Streisand zeigt anhand ihrer Quellenstudien zu früheren Fassungen des Umsiedlerin-Textes, dass Müllers Versgestaltung auch dazu beiträgt, den Stoff auf seinen Kern zu reduzieren, von Überflüssigem und Nebensächlichem zu befreien. Vgl. »Heiner Müllers ›Die Umsiedlerin‹«, S. 1375. 61 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung Meuser: Schwarzer Karneval, S. 261 f. In seiner Autobiographie schreibt Müller über den Vers der Umsiedlerin: »Karl Mickel hat das Stück 1961 mit Hegel kommentiert: Der Weltgeist arbeitet in den kleinsten Köpfen. Das ist das, was man da noch spürt; danach hat sich der Weltgeist entfernt.« Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 145. 62 Zugleich kommt es, wie Streisand festhält, zu einer Wiederverkörperlichung der alten Versform: »Die Bauernfiguren werden nicht einfach ›erhoben‹ dadurch, daß sie ›wie die Könige Shakespeares‹ reden, sondern der Vers selbst wird erneuert durch die Sprachschöpfungen des Volkes.« Streisand: »Heiner Müllers ›Die Umsiedlerin‹«, S. 1376. 63 Müller: Macbeth, nach Shakespeare, in: W4, S. 261 – 324, hier S. 273. 64 Ebd., S. 289. 65 Ebd., S. 289 f. 66 Ebd., S. 312 f., darin die von der Figur Rosse gesprochene Zeile »Marsyas war ein Bauer.« Vgl. dazu Fluhrer, Sandra: »Ways of Flaying: Marsyas-Momente bei Heiner Müller und Rainer Werner Fassbinder«, in: Komparatistik-online (2017), Themenheft Metamorphosen: Travestien und Transpositionen, hrsg. v. Niels Penke, S. 8 – 37. 67 Müller: Macbeth, S. 319. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 319 f. 70 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung, Weilerswist 2011. Müller selbst betonte immer wieder das revolutionäre Potential von Langsamkeit und Unterbrechung. 71 Uekötter: Die Wahrheit ist auf dem Feld, S. 54 – 63. 72 Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung, hrsg. v. Albert Raffelt, Freiburg i. Br 2002, S. 83. Online verfügbar https://freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/ freidok:310/datastreams/FILE1/content. Vgl. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in BGSch I.1, S. 203 – 430, hier S. 286 f. 73 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 84. 74 Ebd. 75 Lehmann, Hans-Thies: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2015, S. 51. 76 Hegel beschreibt darin »das Sittliche« als »die substantielle Grundlage, als [den] allgemeine[n] Boden […], aus welchem das Gewächse des individuellen Handelns ebensosehr in seiner Entzweiung hervorkommt, als es aus dieser Bewegung wieder zur Einheit zurückgerissen wird«. In der Tragödie verkörpere der Chor das Sittliche; er sei »den einzelnen Heroen gegenüber das Volk als das fruchtbare Erdreich, aus welchem die Individuen wie die Blumen und hervorragenden Bäume aus ihrem eigenen heimischen Boden emporwachsen und

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durch die Existenz desselben bedingt sind«. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, HW 15, S. 539, S. 531. 77 Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 51. 78 Auf den ersten Seiten des Kapitels über das »Selbstbewußtsein« in der Phänomenologie des Geistes, das die Herr-Knecht-Dialektik auffaltet, heißt es etwa, den Theaterbezug aus der umgekehrten Richtung herstellend: »Es ist zu sehen, wie die Gestalt des Selbstbewußtseins zunächst auftritt.« Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 138. 79 Vgl. Müller: Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar, in: W5, S. 99 – 193, hier S. 187. 80 Müller: Traktor. Fragment, in: W4, S. 483 – 504, hier S. 485. 81 Ebd., S. 487. 82 Ebd., S. 491. 83 Ebd. 84 Ebd., S. 492. 85 Ebd., S. 503 f. Die Stelle taucht auch in Die Umsiedlerin auf: Müller: Die Umsiedlerin, S. 257. 86 Brecht, Bertolt: Lied der Mutter über den Heldentod des Feiglings Wessowtschikow, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 14, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M.: 1993, S. 127 f. 87 Kluge, Alexander/Müller: »Heiner Müller im Zeitenflug. Aktualität von Ovids Metamorphosen«, Sendung News & Stories, 29. Januar 1996, Aufzeichnung und Transkription bei der Cornell University: https://kluge.library.cornell.edu/de/ conversations/mueller/film/110/transcript (letzter Zugriff 23.7.2020). 88 Vgl. Müller: Traktor, S. 494; Macbeth, S. 283 f. 89 Siehe Kluge/Müller: »In den Ruinen der Moral tätig«, Sendung 10 vor 11, 17. April 1989, Aufzeichnung und Transkription bei der Cornell University: https://kluge. library.cornell.edu/de/conversations/mueller/film/1871 (letzter Zugriff 23.7.2020). 90 Müller: Anatomie Titus, S. 99. 91 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 255. 92 Körner-Schrader, Paul: »Paul Arndt – Traktorist auf der MAS Sachsendorf, Kreis Seelow. Held der Arbeit«, in: Helden der Arbeit, Berlin 1951, S. 201 – 214, hier S. 204. Vielleicht hallt der Text in diesen Versen des Traktoristen nach: »Mit einem Bein, das andre in der Zeitung. / Könnt ich die Zeit zurückdrehn, jede Furche / Nähm ich zurück und kein zu teurer Preis / Wär mir der Globus für mein heiles Bein.« Müller: Traktor, S. 495. 93 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch, hrsg. und übers. v. Niklas Holzberg, Berlin/Boston 2017, S. 540 – 543 (Buch XI, V. 30 – 38). 94 Müller: Orpheus gepflügt, in: Warten auf der Gegenschräge. Gesammelte Gedichte, hrsg. v. Kristin Schulz, Berlin 2014, S. 43. 95 Ebd. S. 335. 96 Die Rede von der Geräumigkeit antiker Mythen stammt von Müller: Kluge/Müller: »Heiner Müller im Zeitenflug. Aktualität von Ovids Metamorphosen«. 97 Art.: »Gewächs«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854 – 1961, Bd. 6, Sp. 4710. Digitale Fassung im Wörterbuchnetz der Universität Trier: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/ wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GG13099#XGG13099 (letzter Zugriff: 31.7.2020). 98 Vgl. zur Gagarin-Euphorie im Moskauer Literaturbetrieb: Schwarz, Matthias: »›Unser Kosmos ist die Genauigkeit‹. Zur Lyrik von Warlam Schalamow«, in: Schalamow. Lektüren, hrsg. v. Dirk Naguschewski, Matthias Schwarz, Berlin 2018, S. 92 – 108, hier S. 92 – 95. 99 Vgl. Tretjakow: Feld-Herren, S. 29 – 31. 100 Ebd., S. 30. 101 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 144 f.

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»Und wenn du wissen willst, wer hier Dein Herr ist, kauf dir einen Spiegel.« Klassismus-Darstellungen bei Heiner Müller Die Klasse spricht Drei Jahre nach dem Umschlag von einer Geschichtsformation in eine andere, nach der sogenannten Wende von einem sozioökonomischen Lebenszusammenhang unter dem administrierten Vorzeichen des Volkseigentums hinein in ein Freies/Soziales Marktwirtschaften mit Privateigentum an Produkten und an den Mitteln ihrer Produktion kommt es zu einer besonderen Verortung lyrischer Texte Heiner Müllers. Im Feld vielfacher Wende-Punkte stellt er erstmals selbst eine Anthologie seiner Gedichte zusammen: 1992 erscheint beim Alexander Verlag das Bändchen Heiner Müller – Gedichte1. Unter Müllers editorischer Maxime einer »brutalen Chronologie«2 finden wir dort gleich an zweiter Stelle die Poetisierung eines Übergangs in den Verhältnissen zwischen Privat- und Volkseigentum, zwischen »Nehmen« von Arbeit und deren »Geben«, zwischen »oben« und »unten« (wie es im Text heißt). Dabei stellt der Verlauf des Gedichtes den Vorgang einer sich langsam herausbildenden Verortung der Klasse (es lässt sich hier geradezu von ihrer Selbstfindung sprechen) dar. Bei diesem Über-Gang muss sie sich in einer ihr unbekannten, in einer ins Gegenteil verkehrten Umgebung zurechtfinden. Die plötzlich auf den Kopf gestellte Welt (oder je nach Perspektive: auf die Füße) setzt eine neue Gangart voraus; und so ist hier das »Gehen« die zentrale Metapher, der Modus der Textbewegung. Bereits der Titel des Gedichtes als dessen Präsupposition, als seine Voraussetzung, markiert das Überschreiten einer Schwelle – den historischen Umschlag von einer zu Ende gehenden Qualität in eine beginnende: Bericht vom Anfang. Konzis sowie pathetisch zugespitzt ließe sich sagen: Heiner Müllers Bericht vom Anfang handelt von nichts Geringerem als von der Geburt der Klasse aus dem Geiste ihrer Selbstermächtigung. Diesen Emergenzsprung heraus aus der Ohnmacht – und das ist das Besondere, das diesen lyrischen Bericht kennzeichnet – weist nun Heiner Müller aus als: Sprung heraus aus einem von der Klasse selbstverschuldeten Klassismus.3 Die Darstellung eines in der Klasse selbst internalisierten Klassismus und dessen Überwindung ist ein wiederkehrender Topos in Müllers Werk.

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Und so stehen sich im Bericht vom Anfang nicht mehr besitzende und besitzlose Klasse antagonistisch-kämpferisch – äußerlich – gegenüber; der Klassenkampf tobt in einer Klasse. Und er wird gewonnen. Bei dem folgenden Nachweis des Textes geht es hier vor allem um den von Müller dargestellten Abspaltungsprozess – die Entfernung/Entfremdung von sich selbst, von der eigenen »Stimme« – sowie um den diesem Vorgang in seiner Dialektik innewohnenden Heilungsprozess: die Einsicht in die eigene Klassen- und Selbstbestimmung und das daran anschließende Einverständnis mit sich selbst, um den Prozess einer Reintegration. Die begrifflichen Entlehnungen aus den Feldern von Verhaltensforschung und Psychologie mögen hier befremdlich anmuten; aber wie gleich zu sehen sein wird, sind die Semantiken der Dissoziation der Klasse, des Eine-fremde-Stimme-in-sich-Hörens, der Abspaltung der »Klugheit« der »Hände« von der des »Kopfes« usw. von Müllers Text vorgegeben, sie sind konstitutiv für ein Verständnis seines Gedichts. BERICHT VOM ANFANG 1 Vom Pfennig lebend haben sie gekämpft wie um ihr Leben um den Pfennig. So hat sies gelehrt die Welt, in der für sie nur Platz war ganz unten. Als die Spitze abbrach […], kam was unten war nach oben stolpernd übern Trümmerberg langsam. 2 Zwar war der Pfennig nun gemeinsam, aber was für ein karger Pfennig! Zwar das Brot gehörte allen, aber sättigte keinen. 3 Das hieß: Kampf für den Pfennig anstatt um ihn. Ein Heutewenig für ein Morgenviel. […] 6 Zwar sprach da eine Stimme von vorn her zu ihnen: ihr Geduldigen, habt Geduld! Ihr Unermüdlichen, seid unermüdlich! Kämpft weiter, ihr Siegreichen …

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Zwar sie gingen den Weg, bezeichnet von der Stimme, […] aber sie wußten Nicht, daß da ihre eigne Stimme sprach. 7 Doch waren ihre Hände klüger als ihr Kopf war, und sie taten was zu tun blieb. […] 8 Noch als das Haus schon stand, gebaut für sie von ihnen, wußten sie nicht, was da gebaut war. In die Türe tretend noch blickten sie hinter sich, fragend: warum verjagt uns keiner? Es gehört wohl keinem? 9 Die in der Kunst des Nehmens nicht Geübten nahmen da das ihre in Besitz nur zögernd. Die solang Bestohlnen verdächtigten sich da des Diebstahls selber. 10 Immer vor ihnen aber war die Stimme die sprach zu ihnen: Es genügt nicht! Bleibt nicht stehn! Wer stehn bleibt fällt! Geht weiter! So im Immerweitergehn folgend der Stimme wurde das Schwierige einfach wurde das Unerreichbare erreicht. Und überm Immerweitergehn erkannten sie: die da sprach war ihre eigene Stimme.4 Heiner Müllers Gedicht, das zeitgleich zur Gründung der DDR entstanden ist und das sich somit als lyrischer Auftakt für sein dramatisches Schaffen lesen lässt, literarisiert die Entwicklung der Arbeiterklasse im Modus einer besitzenden Klasse. Die Entwicklung der besitzenden Arbeiterklasse ist hier als »Weg« ausgewiesen, den es historisch zu gehen gilt; für die Gehenden ist dieser Weg vor allem eines: hässlich und beschwerlich, abwegig, geradezu nicht gangbar: »Den Baustein schmähend bauten sie die Häuser / den Schritt verfluchend gingen sie den Weg / sehend die Wolke, nicht den Himmel drüber / und nicht die Straße, nur der Straße Staub.«5 Im Verlaufsgeschehen des Textes wird ein sich herausbildender Blick durch den Staub hindurch, das »Erkennen« der zu Grunde liegenden

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»Straße«, abgebildet; dabei kommt ein für Müller prototypisches Paradoxon zum Einsatz. Die sich bei einer fahrlässigen Erstlektüre herstellende Lesart eines geradewegs abzuschreitenden Ganges in Richtung erlösendes Telos erweist sich bei genauerem Hinschauen als exponierter Trugschluss: Die Weg-Metapher, die sich in den Koordinaten von Herkunft und Ziel horizontal herstellt, wird von Müller in die Vertikale gekippt und steht als Kippfigur aus vorne und hinten und oben und unten – als paradoxes Hindernis – nun selbst im Weg. Heiner Müller kippt den Gang in die Zukunft aus seiner Diachronizität in die Synchronizität – aus einem Nacheinander in ein Jetzt und Hier und Zugleich.6 Diese lyrische Berichterstattung vom Anfang setzt uns davon in Kenntnis, dass das »Ziel« von Anfang an erreicht war. Die paradoxe Gleichzeitigkeit aus mühsamem »Kampf für den Pfennig« und dem bereits erreichten Ziel konfrontiert uns mit einer gleichermaßen für Müller typischen wie fragwürdigen Dialektik; so heißt es in der vierten Strophe: »Zwar war das Ziel erreicht. Doch zugeschüttet / vom Trümmerberg. Und Stein bleibt Stein, schwer zu bewegen.« Und so geht der »Weg«, den die Stimme »von vorn her« weist, im Wesentlichen nicht nach vorne. Der lyrische Protagonist, jene Klasse, die sich hier als Erbauer von Häusern ausweist, macht sich auf den Weg in unbekannte Richtung: zu sich selbst. Diesen emanzipatorischen Gang der Klasse führt uns Müller als einen Klassenkampf vor Augen. Das gesamte Textgebilde ist aus Semantiken von »kämpfen« und »Kampf« heraus gedacht. Das Thema eines Kampfes zwischen den Klassen wäre nun alles andere als neu, ja geradezu klischiert und redundant; Heiner Müller behauptet mit seinem Bericht vom Anfang einen Klassenkampf neuen Typs. Die offizielle Sprache der DDR kann hier in der Form eines Analogons dabei helfen, diesen besonderen Klassencharakter sinnfällig zu machen. Ihre Neologismen einer neuen Sprache für einen neuen Gegenstand sind mitunter unfreiwillig komisch; gleichzeitig sind diese Wortbildungen oftmals gerade in ihrer Widersprüchlichkeit treffsicher: Aus der Zusammenführung von semantischer Einzahl und grammatischem Plural definierte sich die DDR als »Einklassenstaat«.7 Im gleichen Zuge wie Heiner Müllers Text die mögliche Überwindung einer Klassendissoziation mustergültig abbildet, wie er also ein Paradigma für das Vertrautwerden mit sich, mit dem eigenen pluralen Selbst, schafft, wird auch der Feind dieses Selbstverständnisses kenntlich. Beim »Kampf für den Pfennig anstatt um ihn« ist der Feind nicht mehr ein konkurrierendes Gegenüber; in den gewandelten Produktions- und Eigentumsverhältnissen ist der Klassenfeind Teil der Klasse selbst.

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Dieser Vorgang eines Umschlagens – eines Übergangs – von Gesellschaft und Selbst in einen anderen Zustand ist nun eine für Müller prototypische Denkfigur, die sich in seinem Werk in einer geradezu ausufernden Variantenvielfalt ausweist. Doch was ist es, das sie zu einer Heiner-Müller-Figur macht? Das sie bestimmende Merkmal ist die Funktionsweise jener Kippfigur: ihre Variabilität in den Zuordnungen von Subjekt und Objekt, von Agens und Patiens, von aktiv und passiv. Während einerseits im Bericht vom Anfang der Weg des pluralen Selbst von außen bereits vorgezeichnet ist – die »Straße« wird von ihm unter dem »Staub« nur nicht wahrgenommen, seine Entwicklung ist hier im wahrsten Sinne des Wortes ein Ent- und Aus-Wickeln von historisch/ökonomisch/ äußerlich Angelegtem, das es in seinem »Verschüttet«-Sein freizulegen gilt –; so ist es andererseits, und zwar gleichzeitig, niemand sonst als die eigene innere Stimme, die hier als Wegweiser fungieren kann; nur die kollektive Selbst-Vergewisserung kennt den Weg. Weg und Stimme fungieren im Textgeschehen als Synonyme – sie gehen ineinander auf, ineinander über. Als Beleg für die These, dass es sich bei der konstitutiven Verschränkung von Subjekt und Objekt der Geschichte nicht um ein besonderes Merkmal des vorliegenden Gedichts, sondern vielmehr um eine allgemeine Grundierung von Heiner Müllers Denken (oder zumindest um ein immer wiederkehrendes Motiv) handelt, seien hier schlaglichtartig fünf weitere Varianten dieser Kippfigur aus verschiedenen Textsorten seines Schaffens aufgerufen: »Das Veränderte verändert die Veränderer« heißt es in seiner Bewerbung um die Meisterschülerschaft bei Brecht;8 »Sein / Bestimmt Bewußtsein in der Vorgeschichte / Im Sozialismus ist es umgekehrt« ist ein zentrales Theorem der Wolokolamsker Chaussee IV;9 »Wir gehen in einer Front, ändern die Welt / Da können wir uns selber nicht gleichbleiben«, so TSCHUMALOW in der Auftragsarbeit zum 55. Jubiläum der Oktoberrevolution Zement;10 »Was ist die Montage eines Kraftwerks gegen den Umbau eines Menschen. Bei uns kann niemand einen Stein aufheben, ohne daß es Folgen hat in seinem Schädel«, lautet eine der Parolen in der 6. Fassung von Der Bau;11 und in der Neuen Deutschen Literatur schreibt Heiner Müller in seinem Aufsatz »Sieg des Realismus«: »Mit der Veränderung der Verhältnisse geht die des Verhaltens nicht parallel. Die das Neue schaffen, sind noch nicht neue Menschen. Erst das von ihnen Geschaffene formt sie selbst.«12 In dem von Heiner Müller »berichteten« Anfang einer besitzenden Arbeiterklasse münden die wechselseitigen Überholvorgänge von Sein

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und Bewusstsein, von Gehendem und Weg, von Sprecher und Stimme klimaktisch in eine dialogische Selbsterkenntnis: Die Klasse schaut sich »zögernd«/»fragend« um in ihrem neuen, von ihr selbst gebauten Haus, in ihrem Besitz; nun beginnt sie, sich zuzuhören. Eine Fragwürdigkeit dieser im Gedicht affirmierten Gangart der Klasse (die hier nicht unterschlagen wird) besteht in der Belohnung des von ihm gefeierten opferreichen »Immerweitergehns« ohne Bewusstsein für »Stimme« und »Weg«, in der Belohnung durch das Happy End der Selbstfindung; sie besteht in dem vom Text-Ende aus gelobten Gang im Modus der Orientierungslosigkeit, eines beinahe blinden Ausgeliefertseins an die bis dahin fremde Stimme. Erst nach dem beschwerlichen Weg von 50 Versen wartet auf die Klasse in den letzten beiden Versen das Erkennen: »Und überm Immerweitergehn erkannten / sie: die da sprach war ihre eigne Stimme«. Und so sagt das Gedicht an seinem Ende auch, dass ein ›Weitergehen‹ über die Grenzen des Gedichtes hinaus nur mit (Klassen-)Bewusstsein möglich sein wird – nur durch das Vertrautwerden mit der eigenen Stimme. Dieses Selbst-Bewusstsein treibt den dargestellten Vorgang des Textes voran und über ihn hinaus. In der momentan wirksamen selektiven Kanonbildung von Müllers Rezeptionsgeschichte werden solche und ähnliche Formen Müller’scher »Zukunfts«- und »Weg«-Beschreibungen – eines Weges im Sinne der »historischen Mission der Arbeiterklasse« (so der offizielle Terminus im Sprachspiel von DDR-Wirklichkeit) – oftmals der Naivität sowie der produktionsästhetischen Befangenheit seines frühen Schreibens zugewiesen. Um dieser inneren Zensur im vorherrschenden Heiner-Müller-Bild entgegenzuwirken, wird hier ein Beispiel des späten Müller ins Gedächtnis gerufen: das Gedicht Fernsehen von 1989/90. In besagtem Gedicht geht es um den dialektischen Dreischritt: eines »Weg[es] in die bessere Zukunft«, Müllers »SELBSTKRITIK« diesen »Weg« betreffend, und um das »vorläufige [...] Grab der Utopie, die vielleicht wieder aufscheinen wird, wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht seiner Freiheit.«13 Abermals handelt es sich hierbei um ein Gedicht (in Prosa und Versen), das ihm eine markierte Herzensangelegenheit war. Während der Bericht vom Anfang gleich als zweites Gedicht die von Heiner Müller 1992 selbst erstellte Anthologie mit eröffnen soll, gehört das Gedicht Fernsehen aus der Wende-Zeit zu einem der Texte, welche seine Samm-

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lung rhematisch vollenden, welche dem mit »1989 …« überschriebenen letzten Textblock seiner Anthologie den Schlussakzent verleihen. Darin finden wir die folgenden Verse: Wieviel Erde werden wir fressen müssen Mit dem Blutgeschmack unserer Opfer Auf dem Weg in die bessere Zukunft Oder in keine wenn wir sie ausspein14

Mit der Klasse im Kontakt Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet, in aller ihrer Richtungslosigkeit und jämmerlicher Hilflosigkeit zeigen die Demonstrationen der Arbeiterschaft immer noch, daß hier die aufsteigende Klasse ist. Nicht die Kleinbürger handeln, sondern die Arbeiter. Ihre Losungen sind verworren und kraftlos, eingeschleust durch den Klassenfeind, und es zeigt sich keinerlei Kraft der Organisation, es entstehen keine Räte, es formt sich kein Plan. Und doch hatten wir hier die Klasse vor uns, in ihrem depraviertesten Zustand, aber die Klasse. Alles kam darauf an, diese erste Begegnung voll auszuwerten. Das war der Kontakt, er kam nicht in der Form der Umarmung, sondern in der Form des Faustschlags, aber es war doch der Kontakt.

So resümiert Bertolt Brecht in seinem Arbeitsjournal die Ereignisse des 17. Juni 1953.15 1956/57 dramatisiert Heiner Müller die Aktivistentat des ersten Arbeiters in Berlin, der dafür den Titel »Held der Arbeit« verliehen bekommt. Die Ereigniszeit des Stückes sind die Jahre 1948/49, also die Gründungszeit der DDR. Genau zwischen Müllers Schreibsituation Mitte der 50er-Jahre und dem historischen Ereignis, das er beschreibt, liegt der 17. Juni 1953. Und so kommt hier bereits sehr früh ein poetologisches Programm Heiner Müllers zum Tragen, das bei ihm immer wieder seine Anwendung finden soll: Müller schreibt der »Geschichte« von 1948/49 bereits das Jahr 1953 mit ein. Die administrativen Normenerhöhungen und Lohnsenkungen für die Bevölkerung, die den Anlass für den Arbeiter-Aufstand am 17. Juni 1953 abgeben, betiteln den »Helden der Arbeit« von Müllers erstem Stück und mit ihm das Stück selbst: Der Lohndrücker. Und so wie hier die eine Seite des 17. Juni im Stück evoziert wird:

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eine zwangsvollstreckte Normenerhöhung inklusive Lohnsenkung für die Arbeiterklasse eines gesamten Landes von außen – von einer der Klasse entfremdeten Parteiführung –, so wird auch die andere Seite zu einem der entscheidenden Kulminationspunkte von Müllers Stück: ein von innen, aus der Klasse heraus wirkender Widerstandskampf – der Streik. Heiner Müller lässt hier zwei Seiten eines historischen Vorganges ungeschützt aufeinanderprallen. In den Übergängen einer nach ihnen benannten Gesellschaft, in der Übergangsgesellschaft der 1950er-Jahre, finden zwei diametral wirkende Kämpfe gleichzeitig statt: Der »Kampf für den Pfennig« und der »Kampf um den Pfennig« – wie es im Bericht vom Anfang hieß – geraten in einen existentiellen Widerspruch zueinander. Wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln plötzlich nicht mehr herrschen soll (so der Imperativ der jungen, aus SPD und KPD zwangsvereinigten Partei der Arbeiter- und Bauernklasse neuen Typs), oder nach Brecht: beim »Aufstieg der Klasse« (man beachte auch hier die vertikale Wegrichtung!), wenn also historisch noch unbekannte Dynamiken in Gang kommen, dann haben die Fragen der Klasse einen offenen Ausgang: STETTINER  Glaubst du etwa, was über dem Werktor steht, »Volks eigener Betrieb«, he? So dämlich bist du doch nicht, Geschke. Du bist doch auch Arbeiter. GESCHKE  Der Unternehmer ist jedenfalls weg. STETTINER  Davon kauf dir was. Noch ein Bierchen?16 So heißt es in den ersten Repliken von Heiner Müllers erstem Theaterstück. Eine der zentralen Fragen des Stückes lautet: Welche Attribuierungen oder Wertungen dieses fundamentalen Widerspruchs innerhalb einer besitzenden Arbeiterklasse treffen hier zu: Ist er aporetisch? Dialektisch? Divers-komplex? Antagonistisch? Ambiguitätstolerant? Oder einfach nur paradox? Mögliche Antworten auf diese Frage werden vom Textverlauf zwar partiell angedeutet, doch gleichwohl in den Formen einer Abgeschlossenheit dem Publikum verweigert und ihm, dem Koproduzenten Publikum, übereignet. Der ursprüngliche Vorspruch des Textes – als Präsupposition des Lohndrücker, gleichsam als dessen Gebrauchsanweisung – lautet: »Das Stück versucht nicht, den Kampf zwischen Altem und Neuem, den ein Stückschreiber nicht entscheiden kann, als mit dem Sieg des Neuen vor dem letzten Vorhang abgeschlossen darzustellen; es versucht, ihn in das neue Publikum zu tragen, das ihn entscheidet …«17

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Dass nun Heiner Müller diese Entscheidung keineswegs ausschließlich an ein koproduzierendes Publikum der DDR oder gar der frühen DDR der 50er-Jahre adressiert (wie das bisweilen von Kanonisten aus der Perspektive eines Siegeszugs des Privateigentums an Produktionsmitteln dargestellt wird), belegt die theaterpraktische Rezeptionsgeschichte. Müllers größter Bühnenerfolg zu Lebzeiten (seine eigene Inszenierung des Lohndrücker am Deutschen Theater in Berlin) ging mit 72 Vorstellungen genau in der Zeit des Umschlagens von real existierenden sozialistischen Produktions- und Eigentumsverhältnissen in real existierenden Kapitalismus über die Bühne: von Januar 1988 bis September 1991. Der Dreh- und Angelpunkt in den Jahren 1948/49, 1991, 1953 … im Lohndrücker wie in einer Fülle von Stücken Heiner Müllers ist das Verhältnis der beiden semantischen Felder von »Streik« und »Sabotage« unter den Bedingungen einer besitzenden Arbeiterklasse. Die Pejorisierung oder Meliorisierung – also ihre jeweilige Neu- und Umbewertung – ist dabei das umkämpfte Gelände. In unterschiedlichsten Motivkonstellationen befragt Müller dieses (widersprüchliche) Verhältnis zwischen einer Annahme der Herausforderungen der »Geschichte« und einem Ankämpfen gegen die von ihr gestellten Bedingungen. Aufbau und Zerstörung, Flucht und Einverständnis, das Gefängnis und die Freiheit, die Freiheit und die Freiheit im Gefängnis und das Ausbrechen aus der Freiheit,18 Ablehnung von Gewalt und der Krieg gegen Selektion und Vernichtung,19 Revolution und Konterrevolution, (konterrevolutionäre) Tat und (revolutionäre) Verweigerung geben hier einige Motivfelder für das Aushandeln dieses Beziehungsgeflechts vor. Die Relation zwischen den Begriffen von »Streik« und »Sabotage« wird dabei von Müller als Interferenzverhältnis – also als Überlagerung oder als offene Wechselbeziehung – behauptet. Wie nun diese Interferenz, die Überlagerung von »Sabotage« und »Streik«, ausfällt: als Verstärkung oder Auslöschung, als Gegensätze, Verschiedenheiten oder Entsprechungen, als Gefahr für die Wahrnehmung der Klasseninteressen oder als Mittel der Überwindung dieser Gefahr, wird in Müllers Stücken nicht entschieden. Und so war es ja auch im Vorspruch des Lohndrücker angekündigt (angedroht?): Das Publikum entscheidet! Da die hier vorliegende Textwahrnehmung jedoch nicht ihre Interpretamente dem Raum außerhalb der Textgrenzen überlassen mag – und zumal Müller sein programmatisch-pathetisches Delegieren jener Entscheidung »zwischen Altem und Neuem« 1974 wieder zurücknimmt –,

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soll nun noch einmal das Textgeschehen selbst zu Wort kommen. Das zentrale Thema des Lohndrücker ist also das in den (zukünftigen?) Eigentums- und Produktionsverhältnissen einer (zukünftig?) besitzenden Arbeiterklasse wirkende Verhältnis zwischen »Streik« und »Sabotage« – ein Verhältnis, das sich als Widerspruch und Konflikt ausweist: Der Streik für die Interessen der Arbeiter verhält sich zur Sabotage ihrer Arbeit – zum Angriff gegen ihr Eigentum, gegen ihre Bedürfnisbefriedigung, ihren Lustgewinn. Diese sich wandelnde Relation zwischen »Sabotage« und »Streik« stellt Müller hier auf die Bühne, zur Diskussion. Im Gleichklang mit STETTINERS den Lohndrücker prologisch einführender Replik: Von deinem neuen Unternehmerstatus: »kauf dir was«! ruft ZEMKE in dreifacher Wiederholung sein Gebot der Arbeit im Sozialismus (die Parole des 17. Juni) aus: »Wer arbeitet, ist ein Verräter.« Im Fortgang der Streikszene kommt es nun jedoch zur überraschenden wie entscheidenden Peripetie: ZEMKES nächstes Wort gleich nach der zweiten Verlautbarung seiner »Arbeiter-Verräter«Maxime ist: »Bier«. Die Diskussion findet vor dem Volkseigenen HOKantinenstand statt, und ZEMKE gibt im lakonischen Arbeiterklassenhabitus seine Bestellung auf: »Bier«. Den weiteren Verlauf des Verrats an den Arbeiterinteressen legt Müller folgendermaßen dar: ZEMKE  Wer arbeitet, ist ein Verräter. Pause. Tritt an den HO-Stand: Bier. Die Verkäuferin kommt heraus und schließt den Stand ab. Was soll das heißen? DIE VERKÄUFERIN  trocken: Streik. Ab. EIN ARBEITER  Das geht zu weit.20

Klasse im Übergang Die zentrale Fragerichtung in dem hier vorliegenden Aufsatz lautet: Wie konturiert sich eine Klasse? Was war und ist, was könnte das sein: Klasse? Welche historischen Modelle, welche künstlerischen Veranschaulichungen, welche dramatischen Konflikte im Denken Heiner Müllers sind hilfreiche Indikatoren für einen Begriff der Klasse?21 Beim Verorten dieser Frage sowohl im sozioökonomischen Zusammenhang als auch im Gedankenhorizont Heiner Müller’scher Denkbewegungen ist nun ein weiterer Begriff unerlässlich: der Begriff des Übergangs – die »Übergangsgesellschaft«, das »Proletariat [als] Über-

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gangsfigur«22. Nun ist dieser Begriff hier nicht gemeint im Sinne der einen Übergangsgesellschaft zwischen antagonistischen und dialektischen Widersprüchen, also zwischen Klassengesellschaft und klassenloser Gesellschaft – diese Lesart erfolgte vielfach in den Formen unterschiedlichster »falscher Marxlektüren« (als deren Produkt Heiner Müller die DDR definierte23) –, sondern im Sinne ihres mehrfachen geschichtlichen Auftretens: als Übergangsgesellschaften. Patrick Eiden-Offe verwendet in seinem Buch über die »Erfindung des Proletariats« an exponierter Stelle den Terminus der »Übergangsgesellschaft«. Bezugnehmend auf Wilhelm Weitlings Wochenschrift Der Urwähler24 (aus dem Jahre 1848) beschreibt Eiden-Offe die »kulturelle Erfindung« der Klasse, die »imaginäre proletarische Klassenidentität«. Eine »Poesie der Klasse«25 generiert und konstituiert sich hier als Übergang im sich politisch herausbildenden Vormärz: Die Frage nach der Konstitution eines politischen »wir« ist im Vormärz tatsächlich noch eine offene, weil wir es hier mit einer Gesellschaft in Bewegung, einer hochgradig fluiden Übergangsgesellschaft zu tun haben, die nur als Resultante »sich durchkreuzender und bekämpfender« Tendenzen gedacht werden kann.26 Mit Eiden-Offe u. v. a. m. haben wir es also hier mit einer klassenbildenden Übergangsgesellschaft der 30er- und 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts zu tun. Der Begriff der »Übergangsgesellschaft« als Marker für einen gesellschaftlichen Übergang von den historischen Auswirkungen eines Privateigentums an Produktionsmitteln hinein in die Produktionsweisen sozialistischen Wirtschaftens wird dann vor allem im 20. Jahrhundert prominent: In den 20er-Jahren in der Sowjetunion und dann nach dem Zweiten Weltkrieg auch im weiteren Osten Europas kommt die Gesellschaft erneut in Bewegung. Dass nun gerade die Dynamiken einer sich herausbildenden DDR für Müller eine Fundgrube für »hochgradig fluide« Bewegungen, Um- und Rückschläge, riskante Übergänge und Stillstände – also eine historische Verhandlungsmasse – darstellten, liegt nahe.27 Die sich dort in der Übergangsgesellschaft »›durchkreuzenden und bekämpfenden‹ Tendenzen« geben das vorrangige Material ab für Heiner Müllers Schreiben, Denken und Diskutieren. Doch ganz egal, welchen Stoff, welches Material er sich vornimmt, eine ganz bestimmte Art der Aneignung und Verarbeitung seiner Stoffe charakterisiert Müllers Denken und Schreiben und macht so seine Stücke unverwechselbar: Die in Der Auftrag eingenommene Perspektive

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ist eben gerade nicht ein Tunnelblick innerhalb geopolitischer Begrenzungen der Französischen Revolution/Restauration; Müllers Zehn Tage, die die Welt erschütterten sind nicht auf zehn Tage der Oktoberrevolution beschränkt; die semantische Geräumigkeit der Chiffren in Der Bau geht weit über den Aufbau eines »Neuen Deutschlands« hinaus; der rasende Kreislauf einer »Blutpumpe des täglichen Mords, […, die] den Planeten mit Treibstoff [versorgt]« oder der totale Stillstand der »Tiefsee […, mit] Ophelia im Rollstuhl [vorbei treibenden] Fische[n] Trümmer[n] Leichen und Leichenteile[n]« aus Bildbeschreibung und Hamletmaschine28 lassen sich mitnichten hinreichend in den Koordinaten einer posthistorischen Zeitrechnung verorten; und das Metapherngewitter von Herakles 2 oder die Hydra überschreitet in seiner intermedialen Funktion schonungslos das Feld eines betont verantwortungsdiffundierenden ahistorischen/aporetischen Wald-oder Tiergangs. Doch was ist es nun, was Müllers Literarisierungen von Übergängen in den Dimensionen von Zeit und Mensch zu unverwechselbaren Heiner-Müller-Texturen macht? Meine These lautet: Heiner Müllers Literarisierungen von Welt vermögen treffsicher mit einem Blick auf makrostrukturelle Gegebenheiten gleichzeitig deren Mikrostrukturen sichtbar zu machen; und mit der Perspektive aufs alltägliche Detail bilden sie zugleich ein großes Ganzes, einen erweiterten Zusammenhang, ab. Was in den harten oder exakten Wissenschaften als »Skaleninvarianz« bezeichnet wird – also die Unabhängigkeit der Darstellung eines Phänomens vom jeweiligen Maßstab seiner Darstellung oder anders gesagt: das Strukturmodell der Selbstähnlichkeit –, ist auch ein poetologisches Verfahren von Müllers Schreiben und Denken. Heiner Müller kreiert Analogien und Verhältnisse zwischen kleinen Beobachtungen, Parabeln, Geschichtchen und der Geschichte, phylogenetischen Übergängen bis hin zu prähistorischen Zeiträumen der Gattungsentwicklung – von Entstehung bis Gattungssuizid29. Wenn Müller einen groben kulturevolutionären (paläontologischen oder gar planetarischen30) Übergang literarisiert, kann diese Darstellung auch als Interpretament für das Umschlagen innerhalb individualpsychologischer oder klassenbezogener Lebensverläufe seine Anwendung finden, und seine Darstellungen von Übergängen innerhalb begrenzter historischer Ereignisse zielen in ihrem markierten Ähnlichkeitsbezug gleichzeitig ab auf eine Gattungsperspektive; die Beschaffenheit der Gattung sagt etwas über deren Exemplare, und die Verhaltensweisen eines besonderen Exemplars geben Auskünfte über den momentanen Stand der Gattung, ihre Anlagen und ihr Unvermögen – über Anthropo- und Kapitalozän.31

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Dieses Verfahren einer Überblendung von epochalen Wandlungsprozessen und persönlichen, privaten, situativen Befangenheiten sowie das Übersetzen von subjektiver Beobachtung in Geschichtsschreibung soll hier anhand eines Beispiels kurz vorgeführt werden. Neben dem bereits angesprochenen Müller-Sujet eines Übergangs hinein in einen Klassenkampf »für den Pfennig anstatt um ihn« sei hier nun das Augenmerk gerichtet auf den gesellschaftlichen Übergang: hinein in einen Klassenkampf um die Mark, um die D-Mark.32 Paradigmen für Müllers Gestaltung dieses Übergangs- oder Kontrasterlebens sind die Langgedichte Mommsens Block und Ajax zum Beispiel aus den 1990er-Jahren. Der Verweis auf Mommsens Block leistet nun zweierlei: Zum einen kann das Gedicht als exemplarisches Beispiel für die These einer (historischen) Skaleninvarianz Müller’scher Denkmuster gelten – die Kaiserzeit der Römischen Geschichte bildet eine Alltagssituation eines Restaurantbesuches (in deutsch-deutschen Wende-Zeiten) ab und umgekehrt –, und zum anderen lässt sich anhand dieses Musters die Frage nach dem momentan gültigen Gebrauchswert Müller’scher Literarisierungen von Übergangsgesellschaften stellen; denn die hier vertretene These lautet: Jetzt, im fortschreitenden 21. Jahrhundert, befinden wir uns mittendrin in den Abläufen eines Übergangs. Mommsens Block im Hinterkopf behaltend gilt es nun, sich diesem Übergang anzunähern, das momentan wirksame gesellschaftliche Übergangsgeschehen sichtbar zu machen: Anders als bei den bereits angesprochenen historischen Wenden des Vormärz und den zwei Etappen der Russischen Revolution vollzieht sich besagter Übergang heute nicht mehr aufgrund eines Hereinbrechens durch Maschinisierung und Gewerbefreiheit unter dem Stichwort der Industriellen Revolution und auch nicht durch kriegerische Ereignisse zweier Weltkriege, nach denen die Karten der Eigentumsverhältnisse neu gemischt werden; der momentan wirksame Übergang vollzieht sich etwa seit den 1970er-Jahren schleichend und synchron zu anderen (z. B. wissenschaftlich-technischen sowie geo- und wirtschaftspolitischen) Umgestaltungen der Verhältnisse dessen, worauf der Klassen-Begriff – mal treffender, mal unzutreffender – zu referieren vermag. Diese Übergangsgesellschaft, die sowohl in den Feldern der Sozialen und Freien Marktwirtschaft als auch im administrativ verordneten Sozialismus in den 70er-Jahren allmählich Fuß fasst, etabliert sich dann spätestens nach dem Wegfall der politischen Blöcke als die große Erzählung vom »Ende der großen Erzählungen«33. In verstärkender Korrelation zum ökonomischen Siegeszug des Kapitalismus setzen sich ein neues Wertenarrativ oder neue Logiken

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der Interaktion durch, die hier anhand der nun folgenden Stichpunkte kurz benannt werden. Es handelt sich dabei um eine längere sentenzenhafte Aufzählung von Thesen, deren stenografischer Stil bewusst gewählt wurde, um einerseits den hier attestierten Übergang in der Form einer Draufsicht zu skizzieren; andererseits möge diese provokativ verkürzende Weise dazu anregen, den jeweiligen Schnellschuss unmittelbar zu befürworten oder zu parieren. Der Übergang erfolgt: − als Siegeszug der Dekonstruktion jeglicher Dichotomien zu Un gunsten von Unterscheid- und Konturierbarkeit und zu Gunsten von Unkenntlichkeit − als Siegeszug des rhizomatischen Denkens zu Gunsten von Fläche und Geschwindigkeit und zu Ungunsten jeglicher Formen der Reduzibilität − als Siegeszug einer additiv gebauten Wissensdichte zu Gunsten einer Informationsschwemme und zu Ungunsten von Gestaltcharak ter, Komplexität und den Denkverbindungen eines nicht-additiven Und34 − als Siegeszug einer Vielfalt in der Horizontale unter den Vorausset zungen vertikaler Exklusion35 − als Siegeszug des ironischen Sozialcharakters zu Ungunsten von Haltung36 − als Postulat einer Vermeidung des Adressatenbezugs in den gängi gen Systemen der Kommunikation zu Ungunsten von Dialog und Frage und zu Gunsten von Behauptung, Posting, Polylog, Domi nanz und Antwort − in unterschiedlichsten Formen des Ghostings im sich durchsetzen den Bindungsverhalten: im beruflichen Tätigkeitsfeld, in den sozialen Kulturtechniken, beim Kauf und Verkauf von Waren in den Feldern von Sinnstiftung und Beziehungskultur37 − durch eine Relevanzverschiebung weg vom Entscheiden hin zum Wählen38 − als Siegeszug eines Evidenzimperativs der »Authentizität«39 − als kategorische Ablehnung geschichtlicher Ereignisse, überhaupt der Kategorie des Geschehens zu Gunsten von Subjektivismus, Solip sismus und Virtualität unter der Hoheit jenes metaphysischen All-Operators, jener jeden Begründungszusammenhang unter wandernden Maßgabe: »… Aber das ist doch nur ein Konstrukt!«40

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All diese Übergänge – die in den unterschiedlichen Formen von Konventionen, Konditionierungen und Geboten ihre Wirksamkeit erlangen – haben die heutige Übergangsgesellschaft hervorgebracht. Deren Resultate sind: − Atomisierung der einzelnen Lebenslagen41 − Durchdringung nahezu aller Bereiche (auch der Bereiche frühkind licher Bildung) mit ausdifferenzierten Skills der Konkurrenzfähigkeit42 − Dominanz der Tauschwertlogik in ästhetischen, zwischenmensch lichen, ethischen Wertezusammenhängen (also eine Fetischi sierung des Warencharakters hinein in genuin nichtquantifizier- bare Werte)43 − Entkontextualisierung von Meinungen, Kommunikationstools und Sachgebieten (der intrinsische Tunnelblick wird zum gängigen Werkzeug unterschiedlicher Logiken der Selbstbestätigung, welche dialektische Formen des Befragens von Sachverhalten mit dem Instrumentarium von Proponent versus Opponent ineffektiv wer den lassen) − zunehmende Diversität der Wirksamkeiten allgemeinen Exkludie rens untereinander − Entsolidarisierung44 Heiner Müller macht diese historische Neujustierung der Klassenverhältnisse unter dem Eindruck der von ihm erlebten gesellschaftspolitischen Schwellenerfahrung der 90er-Jahre – unter den Bedingungen seines Kontrasterlebens am Ende seiner Biografie – in dem Langgedicht Mommsens Block zum Gegenstand dieses »Blockes«. Die neue Qualität eines Verhältnisses – einer (vermeintlichen) Beziehung – von Klassen zueinander besteht hier nun darin, dass ihr Aufeinanderbezogen-Sein kategorisch ausgeschlossen ist. Der Klassengegensatz zeigt sich als undurchlässige Systemgrenze zweier säuberlich voneinander geschiedener – »bereinigter« (wie es im Text heißt) – Welten, deren jeweilige Funktionskreisläufe nicht mehr wechselseitig übersetzbar, ja nicht einmal gegenseitig hör- oder sichtbar sind.45 Die Funktionen der in dieser Übergangsgesellschaft wirkenden Kulturtechniken bestehen in der Verhinderung eines Kontakts der Klassen untereinander; in Mommsens Block ist der Kontakt »blockiert«. Parallel zu dieser Kontakt-Sperre nach außen – also gegenüber der anderen Klasse – diffundiert auch das gemeinsame Wir; und so ist kein Wir mehr da, das Ab- und Ausgrenzung angemessen wahrnimmt. Wir, und so auch das Ich, werden zu Zerfallsprodukten dieser Übergänge;

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ihr sie bestimmendes Merkmal ist ihre Fragmentierung – der fragmentierte Charakter, der die ihn betreffenden Wirkweisen des In- und Exkludierens nicht mehr zu fassen vermag. Müller verhandelt diese Formen der wechselseitigen Abgrenzung – die Formen einer in ihren Tiefenstrukturen omnipotenten und gleichzeitig an der Oberfläche kaum wahrnehmbaren Klassen-Exkludierung – in seinen Texten wie Mommsens Block unter den markiert vereinfachenden Klassenbestimmungen von »arm« und »reich«46 sowie unter den Überschriften eines »Ekels« und eines Verlusts an Sprache. Die Sprachspiele des Posthistoire kollaborieren mit den Sprachspielen der Marktlogik und werden in den Modi von Wettbewerbsvor- und -nachteil und Win-win-Situation zu Geheimsprachen von Eingeweihten, welche die Formen einer Darstellbarkeit, eines Ausdrucks und Gesprächs verdrängen, »hemmen«, »blockieren«. Die »Tierlaute« seiner Tischnachbarn im Ohr erkennt das lyrische Ich »zum erstenmal« Mommsens »Schreibhemmung […] vor der römischen Kaiserzeit / Der bekanntlich glücklichen«47. Müller scheut sich in seinem Gedicht nicht, diese Preisgabe an Klassen-Wahrnehmung klar zu benennen: als den Verlust an Feindbild-Konturierung. Und er führt uns auch die Folgen dieses Mangels an Tiefenschärfe bei der Wahrnehmung der eigenen und fremden Klasse deutlich vor Augen. Die besitzlose Klasse aus dem Jahre 1992 bemerkt ihren Klassenfeind – der »fünf Straßen weiter« »in einem Nobelrestaurant / In der wieder bereinigten Hauptstadt Berlin«48 sitzt – nicht. Doch die Feindschaft ist nicht aufgehoben; sie ist nur orientierungsund richtungslos. Und so erblickt die von Heiner Müller in Mommsens Block als besitzlos attribuierte Klasse »Heute und Hier« ihren Feind (-Ersatz) in der eigenen Klasse: Zwei Helden der Neuzeit speisten am Nebentisch Lemuren des Kapitals Wechsler und Händler Und als ich ihrem Dialog zuhörte gierig Nach Futter für meinen Ekel am Heute und Hier: »Diese vier Millionen / Müssen sofort zu uns // Aber das geht nicht // Aber das fällt garnicht auf // Wenn du diese Klaviatur nicht beherrschst / Bist du verloren Das hast du an X gesehn / Er hat sie nicht beherrscht […] Wir müssen ihn kaufen für die Deutsche Bank // Den holen wir uns selber rein / Wenn ich nur die Kneifzange habe / Das bring ich ihm bei Dann verdient er / Wirklich Geld.« Fünf Straßen weiter wie die Sirenen andeuten Schlagen die Armen auf die Ärmsten ein49

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Klassen-Blick-Kontakt Angeregt durch zwei Inszenierungen von Stücken Heiner Müllers sei diesem Aufsatz noch ein kleiner Epilog angefügt, ein Nachtrag unter der Überschrift der Kontaktaufnahme – eines Kontakts mit sich selbst, mit der Klasse sowie mit dem Verlust dieses Kontakts. Der bis hierher ausgeführte Gedankengang begann mit einem suggestiblen Hörkontakt: Im Bericht vom Anfang vernimmt die Klasse plötzlich ihre Stimme; sie hört sich zu. Am 17. Juni 1953 kam es zur taktilen »Kontakt«-Aufnahme »mit der aufsteigenden Klasse in der Form des Faustschlags«, so Brecht. Im Lohndrücker Heiner Müllers offenbarte sich dann in der Folge der Juniereignisse eine bittere Verlusterfahrung; die Entzugserscheinungen ihr Klassenbedürfnis betreffend, eines Entzugs gustatorischen Genusses und Rausches durch die von der Klasse sich selbst auferlegte Enteignung von Volkseigenem Bier, sprachen hier das letzte Wort: »EIN ARBEITER: Das geht zu weit.« Das Thema in Mommsens Block waren dann die sich in den »sich durchkreuzenden und bekämpfenden Tendenzen« einer Übergangsgesellschaft ergebenden Zerfallserscheinungen eines »politischen Wir«; in Folge dieses Wir-Entzugs kam es auch hier zum Klassen-Kontakt in der Form des Faustschlags: »die Armen schlagen auf die Ärmsten ein«.

2015 bringen Tom Kühnel und Jürgen Kuttner im Schauspiel Hannover Heiner Müllers Der Auftrag auf die Bühne. Die Geschichte Debuissons ist, nicht zuletzt durch Anna Seghers’ Das Licht auf dem Galgen50, bekannt: sein Weg oder Sprung aus der reaktionären in die revolutionäre Klasse und wieder zurück in die Klasse der Konterrevolution. Mangels aktuellpolitischer Auftrags-Lage wird der ehemalige Sklavenhalter/gegenwärtige Revolutionär von der Historie eingeholt, aus der »Geschichte« disqualifiziert und auf seinen angestammten Platz in der »Vorgeschichte« verwiesen.51 In einer visuellen Überwältigungsästhetik zitiert das sich ins Gedächtnis einbrennende Schlussbild dieser Inszenierung den Titel von Anna Seghers’ Erzählung Das Licht auf dem Galgen. Ein greller Spot wirft eine Säule aus Licht auf eine gänzlich leere Bühne; ein Ort – oder vielmehr: eine Ortlosigkeit – aus leuchtender Leere ersteht vor dem Auge des Publikums. Da ist niemand mehr. Die von dem Scheinwerferlicht behauptete Deixis zerfällt in ein: Niemand, Nirgendwo, Niemals, Nichts. Ganz so wie das Nachbild des blendenden Scheinwerfers, so hallen auch Debuissons letzte Worte – gerichtet an seine Eben-noch-Klassenbrüder – nach, hinein in die raumgreifende Leere, die sich schmerz-

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lich in die Länge zieht: »Bleibt. Ich habe Angst […] Laßt mich nicht allein mit meiner Maske, die mir schon ins Fleisch wächst …«52 Im Deutschen Theater in Berlin wird Heiner Müllers 90. Geburtstag gefeiert. Verschiedene Schauspielerinnen und Schauspieler würdigen den Autor mit Jürgen Kuttners Idee, Müllers Die Umsiedlerin in Sächsisch zu lesen; und so kommt es hier zu einem besonderen Hör- und »Blick«-Erlebnis: Ein Satz aus dem Stück von 1961 sticht – direkt ans Publikum gerichtet, an mich, an uns – hervor: »Und wenn du wissen willst, wer hier / Dein Herr ist, kauf dir einen Spiegel.«53 Aus dem Jahre 1995 – geschrieben in Heiner Müllers Todesjahr – vernehmen wir die Verse: Statt Mauern stehen Spiegel um mich her Mein Blick sucht mein Gesicht Das Glas bleibt leer54

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Müller, Heiner: Gedichte, Berlin 1992. »Brutale Chronologie« lautet der von Müller selbst vorgegebene editorische Grundgedanke der Werkausgabe. Vgl. Hörnigk, Frank: »Editorische Notiz«. In: Heiner Müller Werke 1, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 1998 (im Folgenden mit Sigle W und Band angegeben), S. 331 – 333, hier S. 331. »Klassismus bezeichnet Vorurteile oder Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen Position und richtet sich überwiegend gegen Angehörige einer ›niedrigeren‹ sozialen Klasse«, so lautet die Definition bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Klassismus (letzter Zugriff 21.10.2020). Siehe als eine erste Einführung in die Begriffsgeschichte des Klassismus-Begriffs: Kemper, Andreas/Weinbach, Heike: Klassismus – Eine Einführung, Münster 2016. Müller: Bericht vom Anfang, in: Warten auf der Gegenschräge – Gesammelte Gedichte, hrsg. v. Kristin Schulz, Berlin 2014, S. 12 f. Ebd., S. 13. Besonders anschaulich hat Müller die Notwendigkeit der historischen Beschleunigung des Umbaus von Staat und Geschichte, Mensch und Verhältnissen, Privat- und Volkseigentum in seiner Komödie Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande dargestellt; die »Montage« wird hier als permanenter Überholvorgang, als ein Zugleich von Abläufen, ja, geradezu als eine historisch notwendige Raserei ins Bild gesetzt: »Der Staat lenkt sich nicht aus dem Handgelenk […] bergauf geht unsre Richtung. […] Und wir haben ihn nicht selber demontiert, da haperts bei der Montage. […] [E]s muß in voller Fahrt sein, wenn der Karrn steht, klaun sie uns die Räder.« In: W3, S. 240 f. Bereits in Wilhelm Weitlings Hülferuf von 1841 findet sich die plurale Verwendung des Arbeiter-Klassen-Begriffs: »Arbeiterklassen«. In: Hülferuf (1841), H. 1, S. 10. »Die Akteure dieses Kampfes, mehr oder weniger aktiv oder leidend beteiligt, werden gezeigt als widersprüchliche veränderliche Menschen. Menschen als Prozeß, nicht als Fertigware. […] Das Veränderte verändert die Veränderer.« Vgl. Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel – Eine Biographie, Berlin 2003, S. 93 f. Müller: W5, S. 232. Müller: W4, S. 429.

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Siehe Hörnigk, Frank: »›Bau‹-Stellen – Aspekte der Produktions- und Rezeptionsgeschichte eines dramatischen Entwurfs«, in: Zeitschrift für Germanistik (1985), Vol. 6, Nr. 1, S. 49. Müller: W8, S. 54. Frank Hörnigk: »[D]er neue Mensch entsteht in der Auseinandersetzung um das Neue – er ist damit aber nicht schon der neue Mensch, selbst wenn er dieses Neue schafft.« In: Müller: Stücke – Texte über Deutschland (1957 – 1979), hrsg. v. Frank Hörnigk, Leipzig 1989, S. 315. Müller: Warten auf der Gegenschräge, S. 91. Ebd., S. 90. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, 20. August 1953, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 27, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Berlin u. Frankfurt a. M. 1995, S. 346 f.; auch in: Programmheft von Heiner Müllers Inszenierung Der Lohndrücker, Berlin 1987/88, S. 12. Müller: Der Lohndrücker, in: W3, S. 29 f. Ebd., »Bibliographische Notizen«, S. 536. Das Gefängnis der DDR, das von einem freiheitsliebenden Insassen affirmiert wird, ist eine prototypische Denkfigur Müllers; die Figur KOMMUNIST, die am 17. Juni, am Tag des »Volksaufstands« (wie es heißt), sein DDR-Gefängnis von innen verteidigt, ist eine Schlüsselszene des Theaterstücks Germania Tod in Berlin sowie für Müllers Denken überhaupt: Während draußen der »Volkslärm lauter« wird, schreit der inhaftierte KOMMUNIST gegen ihn an: »Warum schießen sie nicht. Das kann nicht wahr sein. / Trommelt an die Tür. / Genossen, haltet das Gefängnis. Schießt. […] NAZI Hörst du sie gern, die Internationale / Wenn sie gesungen wird mit Panzerketten. / KOMMUNIST So gern wie heute hab ich sie nie gehört / Gesungen von den Panzerketten«. In: W4, S. 371 f. Die Figur des freien Gefängnisinsassen oder anders gesagt: die Idee eines Freiraums, der durch Einschränkung und Gefangennahme entsteht, ist bei Müller auch für seine persönliche Schreib- und Lebenssituation grundlegend: Die Umsiedlerin-Affäre, die für ihn zu einer Art Berufsverbot, zur Kriminalisierung seines Umfelds, zum ökonomischen Absturz, zu einer umfassenden Isolation führte, beschreibt Heiner Müller in seiner gesprochenen Autobiographie als eine produktionsästhetische Ressource, als eine Art schützenswerten Freiraum. In Krieg ohne Schlacht – Leben in zwei Diktaturen sagt er: »Die Isolierung nach der Umsiedlerin war aber auch sehr wichtig, zwei Jahre Isolation. Das ist ja das Schwierigste in so einer Gesellschaft, wie kommt man zu einer Insel [...]. Danach, von 1961 bis 1963, war ich zwei Jahre tabu, selbst eine Art Insel, und in der Zeit habe ich dann Philoktet geschrieben. Das war nur so möglich«, W9, S. 146. Vgl. die Chiffre des »Kindertraums von einem Sozialismus ohne Panzer«, z. B. in Wolokolamsker Chaussee V: Der Findling: »Verschwundene Tafel am Landwehrkanal / Das jüngste Grab bewohnt der Kindertraum / Von einem Sozialismus ohne Panzer / Und pflegen ihre Gräber Hunde Katzen / Und ihren Kontostand Bunt ist die Leiche / Ins Paradies kommt wer es kaufen kann«, W5, S. 239 f. Müller: W3, S. 59 f. Selbst Niklas Luhmann, der keineswegs im Verdacht steht, klassenkämpferisch zu denken, stellt »widerlegungssicher« fest: »[Der Begriff der Klasse] trifft sachlich durchaus zu, denn es gibt das Phänomen, das er bezeichnet: die gebündelte Ungleichverteilung. Insofern kann die Klassentheorie widerlegungssicher auftreten. [Denn] natürlich ist der Gegenstand dieses Begriffs, die Bündelung von Ungleichverteilung, […] nicht verschwunden«, Luhmann, Niklas: »Zum Begriff der sozialen Klasse«, in: Soziale Differenzierungen, hrsg. von Niklas Luhmann, Opladen 1985, S. 149 f. »Klassenpolitik [gehört nicht] der Vergangenheit [an]. Im Gegenteil […]. Sie ist eine Sache der Wohlhabenden und ihrer politischen Fürsprecher geworden. […] Der erste Glaubensartikel dieser Klassenpolitik […] lautet: Es gibt keine Klassen.« Jones, Owen: Prolls – Die Dämonisierung der Arbeiterklasse, Mainz 2013, S. 279. Siehe Eiden-Offe, Patrick: Die Poesie der Klasse – Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin 2017, S. 27. Müller spricht mehrfach in Bezug auf den real existierenden Sozialismus im Allgemeinen und in Bezug auf die DDR im Besonderen von einem Produkt falscher Marxlektüre. In Mommsens Block heißt es »Produkt / Einer falschen Lektüre und


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fälschlich genannt / Sozialismus nach dem großen Historiker / Des Kapitals«, Müller: Warten auf der Gegenschräge, S. 169. Der Urwähler. Eine Wochenschrift, redigiert von Wilhelm Weitling. Organ des Befreiungs-Bundes (1848), H. 1. Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse; siehe vor allem S. 23 ff. Ebd., S. 109 f. Die Formulierung des »Sich-Durchkreuzens und -Bekämpfens« stammt aus Wilhelm Weitlings Urwähler, H. 1, S. 3. Als ein literarhistorischer Beleg für das Selbstverständnis – für ein Programm – der dramatischen/poetischen Bewältigung der Herausforderungen der »Übergangsgesellschaft« eines real existierenden Sozialismus deutscher Prägung kann hier eine Anthologie von DDR-Dramatik herangezogen werden. Die Stückesammlung trägt das Programm im Titel. Die Übergangsgesellschaft mit Volker Brauns gleichnamigem Theaterstück bildet besagte Übergänge auf unterschiedliche, aber gleichwohl exemplarische Weise ab. Die Übergangsgesellschaft – Stücke der achtziger Jahre aus der DDR, hrsg. v. Peter Reichel, Leipzig 1989. Müller, in: W2, S. 118 und W4, S. 553. »Witze in der Todeszelle« ist eine Formel Wolfram Ettes, mit der er Müllers Texte sowie deren zugrunde liegende Schreibhaltung seit den 1970er-Jahren charakterisiert. Ette, Wolfram: Er hätte jetzt Spaß – Heiner Müller: Ohne große Dramen kein gutes Theater. Für den Mann mit der Zigarre wären heute gute Zeiten, in: Der Freitag, 12. September 2019. Zu der Größenordnung von Müllers Gattungsperspektive siehe Wolfram Ettes Aufsatz Selbstmord der Gattung – Ein Grenzwert in Müllers Werk hier in diesem Band. Müllers vielfältige Metaphern von »Planeten«, »Monden«, »Sternen«, »Welten« in seiner Komödie Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande sind ein Zeugnis für ihr Vermögen einer Bebilderung von Klassenzugehörigkeit, Gesellschaftsordnung, Historie, Produktionsverhältnissen, Gattungsstand; drei Belege für diese komödiantisch treffsicheren Metaphorisierungen sind: »[I]ch hab den Mond agitiert. Das ist auch so ein Mitläufer und kleinbürgerliches Element.« »Es wird eine Zeit kommen […], wo der Mensch die Planeten hinter sich wegsprengt einen nach dem andern, wenn er sie ausgepowert hat […]. Welten gibt’s viel.« »Das Feld ging übern Bauern und der Pflug / Seit sich die Erde umdreht in der Welt. / Jetzt geht der Bauer über Pflug und Feld. / Die Erde deckt uns alle bald genug.« In: W3, S. 242, S. 254, S. 287. Ebenso gehört Müllers in seinem Diskussionsbeitrag auf der »Berliner Begegnung« vom 13. und 14. Dezember 1981 gebrauchte Formulierung über das Verhältnis von »Mensch« und »Planet« hierher: »Das Ende der Menschheit als Preis für das Überleben des Planeten. Eine negative Friedensutopie«. W8, S. 247. In seinem Potential für gattungsspezifische wie auch geochronologische Bestimmungen sowie als komplementären und alternativen Begriff zum »Anthropozän« macht Donna J. Haraway den Begriff des »Kapitalozäns« stark. Haraway, Donna J.: Unruhig bleiben – Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a. M. 2018. 1991 charakterisiert Heiner Müller in einer ZDF-Talkshow im Gespräch mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Präsidentin der Treuhandanstalt Birgit Breuel und dem zukünftigen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble den Übergang von zwei Deutschländern in eines sowie das damit in Verbindung stehende Nationalgefühl: »Deutsch sein heißt die D-Mark haben.« In: Rüter, Christoph: Cameos (Outtakes von Ich will nicht wissen wer ich bin, ein Film über den Dramatiker Heiner Müller), ZDFtheaterkanal/3sat/Arte, 2009. Vgl. zum Begriff »das Ende der großen Erzählungen« vor allem Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 2012. Vgl. zu dem adversativen Verhältnis zwischen einem »Weltzustand des [additiven] Und«, dem »Geisteszustand der niedersten Zusammenfügung, […] der Beschränkung auf das einfachste Binde-Wort, das hilflos aneinanderreihende ›Und‹« und dem »AZ«: dem »anderen Zustand«, dem »nicht-additiven Und« Robert Musil: »Die große Teilnahme an einander und an anderen und überhaupt die Einlösung der in die Welt versenkten Versprechen […] durch ein Leben, wie es sein könnte, sie waren niemals im einzelnen zu gewinnen, sondern nur aus dem Ganz-Anderen!« Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, 2 Bd., hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 1865, S. 1441, S. 1015, S. 1316 u. v. a. m.

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Die Frage, ob jemand »links« ist oder »auf der anderen Seite«, wurde aus der Vertikale – eines Standpunktes von oben und unten – in die Horizontale – in eine Stilfrage, die oben verhandelt wird – überführt. Siehe zum Begriff der »horizontalistischen Bewegungen« auch Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus, Berlin 2018, S. 30. Die größte und verstörendste Provokation eines Mitglieds der (im 21. Jahrhundert ausdifferenziert auftretenden) bürgerlichen Klasse besteht wohl darin, es nach seinem Klassenstandpunkt zu fragen. Siehe zu möglichen Formen dieser Provokation ausführlich das Kapitel »II. Realismus der bürgerlichen Klasse«, in: Stegemann, Bernd: Lob des Realismus, Berlin 2015, S. 83 – 104. »Unter dem Begriff ›Ghosting‹ (engl. ›Geisterbild‹, ›Vergeisterung‹) versteht man in einer zwischenmenschlichen Beziehung (Partnerschaft oder Freundschaft) einen vollständigen Kontakt- und Kommunikationsabbruch ohne Ankündigung«, so lautet die Definition bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/ Ghosting_(Beziehung) (letzter Zugriff 21.10.2020). Der Boom der Ratgeberliteratur im Bereich des Ghostings bestätigt auf erschreckende Weise ihren psychosozialen Bedarf. Die in wenigen Jahren entstandenen Bücher und Neuauflagen von Tina Soliman legen Zeugnis ab von einer sich sprunghaft steigernden Nachfrage zu diesem Thema; hier sei nur ein Titel nachgewiesen: Ghosting – Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter, Stuttgart 2019. Der hier gemeinte Modus der Entscheidung erfolgt im binären Code von: Ja versus Nein, die Wahl hingegen im Muster von: n+1-verschiedenen (Wahl-)Möglichkeiten; der jeweils angewandte Modus bestimmt unsere Kulturtechniken und deren Folgen. Siehe dazu auch das Kapitel »4.12 Wandel des Aufbaus von Existenzformen« in Gerhard Schulzes Standardwerk über die kultursoziologischen Übergänge in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Erlebnisgesellschaft. Schulze untersucht dort unterschiedliche Relevanzverschiebungen von »alten Mustern« in »neue Muster«. Die Relevanzverschiebung von Einwirken/(Eingreifen in gesellschaftliche Prozesse) hin zu Wählen (von persönlich präferierten Situationen) nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1992, S. 197 – 209. Zur Authentizitäts-Forschung siehe Engler, Wolfgang: Authentizität – Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern, Berlin 2017. Als beispielhafte kultursoziologische Verortungen in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts können die beiden folgenden unterschiedlichen Bestandsaufnahmen gelten: Volkmer, Ingrid: Medien und ästhetische Kultur – Zur gesellschaftlichen Dynamik ästhetischer Kommunikation, Opladen 1991, sowie Goebel, Johannes/Clermont, Christoph: Die Tugend der Orientierungslosigkeit, Berlin 1997. Das Vorwort des letztgenannten Buches beginnt im Sinne der dort vertretenen Programmatik folgendermaßen: »Dieses Buch dürfte es eigentlich gar nicht geben …«, ebd. S. 1. Margaret Thatcher: »[T]here’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families.« »[P]overty […, is] the really hard fundamental character-personality defect.« Thatcher in den Interviews mit Woman’s Own, 23. September 1987 und Catholic Herald, 22. Dezember 1978. Bernd Stegemann stellt fest: »[D]ie real existierenden Klassengegensätze haben sich ins Innere des Subjekts verlagert, wo sie als Wettbewerb ausgetragen werden.« In: Stegemann, Bernd: Das Gespenst des Populismus – Ein Essay zur politischen Dramaturgie, Berlin 2017, S. 165. »Gegen das Interesse Einzelner, insofern es dem Interesse Aller schadet, und für das Interesse Aller, ohne einen Einzelnen auszuschließen.« So lautet der »communistische« Leitspruch, der jeder Ausgabe des von Wilhelm Weitling in den 1840er-Jahren herausgegebenen Hülferufs vorangestellt ist. Am Abend unseres Werkstattgesprächs im Sommer 2019 im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin mit den in dem hier vorliegenden Band versammelten Vorträgen/Aufsätzen kamen die Tagungsteilnehmer*innen auf das Thema der momentan wirkenden Übergänge in den Werte- und Interaktionsnarrativen in Beruf und Privatleben zu sprechen; einvernehmlich wurde dort die Beobachtung einer Relevanzverschiebung von Gemeinschaft hin zu Wettbewerb diagnostiziert. Sarah Pogoda brachte diesen Übergang treffsicher auf den Punkt: »Aus Kollegen werden Konkurrenten.« »Vom Blutadel zum Geldadel. Das ist der Fortschritt.« »Von einer Knechtschaft


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in die andere, von Stalin zur Deutschen Bank.« Diese beiden von Heiner Müller in den 90er-Jahren formulierten gesellschaftlichen Übergänge von einer ideologischen hin zu einer monetären (Klassen-)Abhängigkeit sind nur zwei Beispiele aus einer bemerkenswerten Fülle gleichlautender Äußerungen aus seinen letzten Lebensjahren. In: W5, S. 276, W11, S. 701. Vgl. zum Begriff der Entsolidarisierung Cornelia Koppetschs Vortrag: Generation Y – Leben und Arbeiten zwischen Sinnsuche und Sicherheitsbegehren, Vortrag bei der Reihe »Auf der Höhe – Diagnosen zur Zeit«, gehalten am 3. September 2018 in der Heinrich-Böll-Stiftung, nachzuhören unter: https://www.boell.de/ de/2019/08/12/y-wie-y-generation-why-leben-und-arbeiten-zwischen-sinnsuche-und-sicherheitsbegehren-mit, sowie Bude, Heinz: Solidarität – Die Zukunft einer großen Idee, München 2019. Bezüglich der heutigen gesellschaftlichen Übergänge vertritt Chantal Mouffe in ihrem Büchlein Für einen linken Populismus einen »populistisch« gebauten Begriff von Solidarität, den Begriff der »Äquivalenzkette«: »Um ein ›Wir‹ zu konstruieren […] bedarf es der Knüpfung einer Äquivalenzkette zwischen den Forderungen der Arbeiter, der Einwanderer und der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht sowie anderer demokratischer Forderungen, etwa derer der LGBT-Gemeinde. Das Ziel einer solchen Kette ist die Errichtung einer neuen Hegemonie, die die Radikalisierung der Demokratie ermöglichen wird.« In: Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus, Berlin 2018, S. 35. »Die Klassen […] erzeugen erst im Kampf ihre endgültige Unterscheidbarkeit und Wahrnehmbarkeit«, so Patrick Eiden-Offe im Kapitel »VII Klasse im Kampf«, in: Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, S. 254. Heiner Müllers ostentative Vereinfachungen in den Darlegungen der Klassenverhältnisse in den 90er-Jahren sind ein unmissverständlicher Vorstoß in Richtung einer Rehabilitierung der von den Ausläufern der Postmoderne so gehassten Dichotomie von Haupt- und Nebenwiderspruch und somit ein schonungsloser Angriff auf die eine Seite dieser Dichotomie: auf den (mehr denn je: ungelösten) Widerspruch zwischen denjenigen, die mit der Kraft ihrer Dividende Handel treiben, und denjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen. Müller: Mommsens Block, in: Warten auf der Gegenschräge, S. 171. Der Selbstwiderspruch der Perspektivierung in der Erzählperspektive des lyrischen Ichs besteht freilich darin, dass es im selben Nobelrestaurant an ebenso einem Tisch wie seine Tischnachbarn mit den »Tierlauten« sitzt. Siehe dazu auch Müllers Perspektivierung seiner eigenen Person auf dem Foto hier im Vorwort, die Verortung seines eigenen Lebens in einem Klassen-Deutschland – von oben und unten. Ebd., S. 170. Ebd., S. 170 f. Diese Gewaltanwendung, die sich nach innen – also auf die eigene Klasse – richtet, trifft analog zu dem Verhältnis zwischen »Armen« und »Ärmsten«, die hier »aufeinander einschlagen«, genauso auf die Klasse der »Reichen« – auf »Wechsler«, »Händler« und ihresgleichen in ihrem Verhältnis zu »X«/Y/Z/… – zu (»Daß sie ihn an die Wand haun wie eine Qualle«, ebd. S. 170) und offenbart sich so als ein Prinzip der universellen Konkurrenz. Siehe zu dem Topos der Gewalt unter der Überschrift der ›Armut‹ auch Shumona Sinhas Roman Erschlagt die Armen! Darin führt uns die Autorin eindrucksvoll zwei Klassendistinktionen gleichzeitig vor Augen, die sich wirksam überkreuzen; die »Lehmfarbenen« (mit dem Herkunftsland: Indien) versus die Nicht-»Lehmfarbenen« (Franzosen oder Westeuropäer) stellen dabei eine Klassenunterscheidung dar, die Reichen versus die Armen eine weitere. Sinha schildert sinnfällig eine Dynamik, in der gerade die Klassenzugehörigkeit zur selben Klasse (in diesem Fall der »Lehmfarbenen«) zur Gewaltanwendung innerhalb dieser Klasse führt. Aus den sich widersprechenden Motivationen eines inneren Selbst-/(Klassen-)Hasses und einem äußeren gegenseitigen Abgrenzungsbestreben zweier ferner »Welten« schlagen hier die »Lehmfarbenen« sich gegenseitig in ihr »lehmfarbenes« Gesicht: »Ich hätte einfach mein Herkunftsland nennen sollen, das zu meiner Hautfarbe passt, zur Lehmfarbe, die mich für immer mit dem Mann verbindet, den ich angegriffen habe. Dabei braucht es nicht allzu viel Scharfsinn […], um die Unterschiede zwischen ihm und mir auszumachen und zu erkennen, welchen sozialen Klassen wir angehören und dass Welten zwischen uns liegen.« Sinha,

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Shumona: Erschlagt die Armen!, München 2019, S. 10. Gleichzeitig ruft Shumona Sinhas Roman seine intertextuelle Folie mit auf. Charles Baudelaires Prosagedicht Assommons les Pauvres! ist ein Teil des Bogens: gespannt von Baudelaires Paris des 19. Jahrhunderts über Müllers »Nobelrestaurant in der wieder bereinigten Hauptstadt Berlin« hin zu Sinhas Paris des 21. Jahrhunderts. Baudelaire literarisiert in Assommons les Pauvres! das »Heilmittel« der Gewalt als vitalisierenden Kontakt über die Grenzen der Klassen hinaus: »Plötzlich – o Wunder! O Freude des Philosophen, der die Trefflichkeit seiner Theorie bestätigt sieht! – sah ich, wie dieses alte Gerippe [der von ihm geschlagene Bettler] sich umdrehte, sich mit einer Kraft […] wieder aufrichtete, und mit einem hasserfüllten Blick, den ich als gutes Omen auffasste, stürzte der klapprige Halunke sich auf mich […]. – Durch mein kraftvolles Heilmittel hatte ich ihm also Stolz und Leben zurückgegeben.« Baudelaire, Charles: Le Spleen de Paris – Der Spleen von Paris, hrsg. und übersetzt von Simon Werle, Hamburg 2019, S. 463, Hervh. i. O. Seghers, Anna: Das Licht auf dem Galgen, in: dies.: Karibische Geschichten, Berlin/ Weimar 1977, S. 113 – 220. Marianne Streisand beschreibt Müllers Gebrauch von dem bei Marx entlehnten Gegensatzpaar: »Vorgeschichte« versus »Geschichte«/»Zukunft«/»Mensch« folgendermaßen: »Müllers Geschichtsbild [konstituierte sich] aus den zentralen Polen ›Vorgeschichte‹ und ›Zukunft‹. ›Vorgeschichte‹ wurde dabei verstanden als eine im Prozeß der Herausbildung der Klassengesellschaft entstandene und bis in die Gegenwart andauernde Tradition von Unterdrückung, Machtkampf, Ausbeutung, Knechtung, Brutalität und Bestialität. Es ist ein Kontinuum der Unterdrückung, das Müller als ›Vorgeschichte‹ ansetzt.« Streisand, Marianne: »›Das Theater braucht den Widerstand der Literatur‹ – Heiner Müllers Beitrag zu Veränderungen des Verständnisses von Theater in der DDR«, in: Weimarer Beiträge 33 (1988), H. 7, S. 1164. Müller, in: W5, S. 40 f. Müller, in: W3, S. 186. Müller: Vampir, in: Warten auf der Gegenschräge, S. 372.


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»Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist« Illegitime Gewalt in Heiner Müllers Mauser Hinführung Mauser, so sagt Heiner Müller, »geschrieben 1970 als drittes Stück einer Versuchsreihe, deren erstes PHILOKTET, das zweite DER HORATIER, setzt voraus / kritisiert Brechts Lehrstücktheorie und Praxis.«1 Ein zentrales Feld der Auseinandersetzung mit Brechts Lehrstücken ist dabei die Frage, unter welchen Umständen es gerechtfertigt ist, das Individuum einer kollektiven revolutionären Praxis zu opfern. Meine These ist, dass in Mauser eine Situation entworfen wird, in der das Opfer des Individuums und ein Gutteil der als revolutionär deklarierten Gewalt illegitim sind. Zu diesem Ergebnis gelange ich, indem ich die Lehrstücke als Kontrastmittel verwende. In den Lehrstücken wird eine Auffassung des Verhältnisses zwischen Individuum und Kollektiv entwickelt, die Gewalt vonseiten des Kollektivs und gegen das Individuum unter bestimmten Voraussetzungen rechtfertigt. Diese Kriterien könnte man folgendermaßen formulieren: Erstens muss die revolutionäre Praxis, der das Individuum geopfert wird, effektiv sein, das heißt, eine realistische Aussicht auf eine positive Veränderung der Wirklichkeit haben. Eine rein prinzipiell motivierte Gewalt gegen das Individuum darf es in den Lehrstücken nicht geben. Zweitens muss zwischen Individuum und Kollektiv ein gegenseitiges Verhältnis der Verbindlichkeit bestehen. Die Integration des Individuums in das Kollektiv muss in den Lehrstücken für die Einzelnen selbstermächtigend wirken. Es zeigt sich, dass das Opfer des Individuums in Mauser diese Kriterien nicht erfüllt und uns im Lichte seiner intertextuellen Bezüge nur als illegitim erscheinen kann. Dabei nehme ich vor allem die Hinrichtung des Henkers A in den Blick. Mit der Orientierungshilfe von Brechts Lehrstücktheorie werde ich darlegen, inwiefern die Gewalt in Mauser tatsächlich als illegitime, ja totalitäre Gewalt angelegt ist. Was sind die Einsätze dieser Überlegungen? Zwischen den Stücken Brechts und Müllers findet eine Verhandlung darüber statt, wie sich kollektive politische Aktion in Bezug auf das Individuum zu verhalten hat. Mit Sicherheit geht es dabei, wie auch Müller sagt, um Extremfälle. Allerdings lassen sich aus dem Extremfall als Beispiel vielleicht einige Andeutungen darüber entnehmen, wie denn ein revo-

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lutionäres politisches Kollektiv auszusehen hätte, das der Individualität nicht automatisch feindlich gegenüberstehen würde. Der hier vorliegende Versuch zu Mauser ist dadurch motiviert, dass die öffentliche und literaturwissenschaftliche Rezeption des Stückes in Teilen korrekturbedürftig ist. Sowohl Freund*innen als auch Gegner*innen Müllers haben zu häufig eine Bejahung der dargestellten Gewalt in Mauser hineingelesen. Der FAZ-Rezensent sah bei der westdeutschen Erstaufführung natürlich den blanken Stalinismus.2 Auf der entgegengesetzten Seite stammt eine der radikalsten Deutungen des Stückes von Wolfgang Schivelbusch. Er ist der Ansicht, Mauser sei eine optimistische Erweiterung der brechtschen Lehrstücktheorie. Der Henker A, dessen Hinrichtung wir beiwohnen, wird nach dieser Interpretation nicht als Opfer, sondern als korrekturbedürftiger Auswuchs der revolutionären Praxis betrachtet. In der Bestrafung A’s werde die Partei als »Garant der kommunistischen Humanität« gezeigt, indem es ihr gelinge, diese Humanität mit der bereits bei Brecht vorgebrachten Notwendigkeit zur »realpolitischen Inhumanität« zu versöhnen.3 Diese Positionen haben diverse Differenzierungen erfahren. Die meisten Deutungen haben allerdings gemeinsam, dass sie in Mauser eine gewisse Form notwendiger revolutionärer Tragik sehen, die letztlich im Konflikt des physisch und psychisch begrenzten Individuums mit einer durch das Kollektiv verkörperten historischen Vernunft besteht.4 Die Unterschiede in der Bewertung der Gewalt sind dann eine Frage der normativen Betonung einer dieser beiden Seiten. Sowohl Gegner*innen als auch Freund*innen Müllers haben Mauser somit in gewisser Weise als ein ideologisches Stück gelesen und waren sich darüber uneins, welche Ideologie es zum Inhalt hat. Ich schlage stattdessen vor, Mauser ideologiekritisch zu lesen. Unter Hinzuziehung von Brechts Kriterien der Legitimität kollektiver Gewalt – die ich hier nur heuristisch verwende – wirken die Handlungen des Kollektivs in Mauser ideologisch im Wortsinne: Sie folgen der Eigenlogik einer Idee bis zu einem Punkt, an dem diese Idee einen Grad der Formalisierung erreicht, der ihren Inhalt verschwinden lässt. Mauser führt systematisch vor, wie die Logik des Kollektivs zur reinen Form geworden ist, die von revolutionärem Inhalt befreit ist und somit zu einer totalitären Logik wird.5 In diesem Sinne soll hier gezeigt werden, dass das Kollektiv in Mauser zwar möglicherweise logisch, aber keinesfalls vernünftig agiert, da es, wie Arendt über Ideologien sagt, »von der Wirklichkeit unbelehrbar« ist.6 Somit handelt es auch nicht effizient revolutionär und scheitert daran, ein gesundes und gegenseitiges Verhältnis zum Individuum aufzubauen. Vor diesem Hinter-

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grund lese ich Mauser als eine differenzierende Reflexion über die Anforderungen, die an politische und/oder revolutionäre Kollektive zu stellen sind, sobald sie das Recht zur Gewaltausübung gegen die Einzelnen beanspruchen.

Das nicht rechenschaftsfähige Kollektiv Der Beginn meiner vergleichenden Lektüre erfolgt nun, indem die Chöre – die Kollektive – in Mauser und in Brechts Maßnahme angesehen werden. Erhellend ist dabei vor allem die Frage, wie sich das Kollektiv jeweils historisch situiert. Es wird sich zeigen, dass es in Mauser keine Rechenschaft über die eigene historische Rolle ablegen und lediglich auf eine utopische Zukunft in unbestimmter Zeit verweisen kann. Brechts Lehrstücke hingegen rahmen ihre Handlungsabläufe durch präzise Positionsbestimmungen vonseiten des Kollektivs. Dieses historische Wissen ist in ihnen die Bedingung einer revolutionären Praxis. Auf seine Auseinandersetzung mit der Maßnahme hat Müller in einem Gespräch hingewiesen. Dabei hat er in Bezug auf einen Kehrvers des Lehrstücks bemerkt, »daß es mir unmöglich war, das Wort ›Die Klassiker‹ zu verwenden. Also: ›Die Klassiker sagen‹. Das geht einfach nicht mehr, weil die Klassiker inzwischen nicht mehr nur gesprochen haben, und jetzt gibt es Versuche, diese Entwürfe zu konkretisieren.«7 Bereits in dieser Bemerkung wird deutlich, dass historisches Wissen in der Konzeption Mausers eine andere Rolle spielt als in den Lehrstücken. Während letztere Träger von Zukunftsvisionen sind, entsteht Mauser aus einer mangelhaften sozialistischen Praxis.8 Aus diesem Grunde unterscheidet sich die historische Vernunft in Mauser von derjenigen bei Brecht. Eine »Variante der ›Maßnahme‹«9 ist Mauser auf den ersten Blick durch die Frage des scheiternden und zur Last gewordenen Revolutionärs. In der Maßnahme sind drei erfahrene Agitatoren gezwungen, ihren jungen Genossen zu erschießen, damit er ihre Mission nicht gefährdet. Diese besteht in der Agitation chinesischer Arbeiter aus dem Verborgenen. Aus einem Mangel an »Disziplin«, wie es in den Anmerkungen zur Maßnahme heißt, und weil er »zu wenig seinen Verstand sprechen ließ«,10 bringt der junge Genosse die Mission mehrfach an den Rand des Scheiterns. Schließlich willigt er auf der Flucht ein, von seinen Begleitern erschossen zu werden, damit ihre gemeinsame Arbeit nicht zunichte gemacht wird. Die drei verbliebenen Agitatoren rechtfertigen ihre Maßnahme vor einem Parteigericht, dem Kontroll-

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chor. Dieser bestätigt im Nachhinein ihre Entscheidung und bescheinigt ihnen, sie hätten »getan, was richtig war. / Nicht ihr spracht ihm sein Urteil, sondern / Die Wirklichkeit.«11 In der Maßnahme fungiert der Chor also als Indikator richtigen und falschen Handelns.12 Tatsächlich ist das ganze Konzept der Maßnahme – sowie möglicherweise der Lehrstücke generell – auf dieser Dichotomie zwischen richtigem und falschem Handeln aufgebaut. So heißt es in einer Anmerkung Brechts: »Der Zweck des Lehrstückes ist also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu lehren.«13 Damit ist nicht lediglich gemeint, dass falsches Handeln dargestellt wird. Es wird auch innerhalb des Stückes als solches identifiziert, ebenso wie richtiges Handeln als solches identifiziert wird. Die zuverlässige Instanz dieser auf der Bühne ergehenden Urteile ist der Chor. Er umschließt die Handlung durch seine Bewertung des Geschehens. Der erste Satz des Dramas, gesprochen durch den Chor, lautet: Tretet vor! Eure Arbeit war glücklich auch in diesem Lande Marschiert die Revolution, und geordnet sind die Reihen der Kämpfer auch dort. Wir sind einverstanden mit euch.14 Und ganz am Ende heißt es: Und eure Arbeit war glücklich […] Und die Revolution marschiert auch dort Und auch dort sind geordnet die Reihen der Kämpfer Wir sind einverstanden mit euch.15 Das Lehrstück ist also im wahrsten Sinne des Wortes gerahmt von weltanschaulicher Sicherheit.16 Letzten Endes wird die Tragik des Individuums hier klar durch die Gewissheit der historischen Vernunft relativiert. Der Chor in Müllers Mauser ist anders. Er behauptet zwar durchaus Zwecke für seine Handlungen; so sei der Sinn der Liquidierungen, die A und sein von ihm selbst hingerichteter Vorgänger B vornehmen, die Auslöschung der Unwissenheit (W4, S. 248) und ihr übergreifendes Ziel ein neuer Mensch (W4, S. 253); allerdings werden diese Zwecke in eine utopische Zukunft verschoben: »Nicht eh die Revolution gesiegt hat endgültig / In der Stadt Witebsk wie in andern Städten / Werden wir wissen, was das ist, ein Mensch.« (W4, S. 253, 256) Völlig anders als in

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der Maßnahme, in der die Mission der Agitatoren dezidiert erfolgreich endet, gibt es in Mauser allerdings kein einziges wirklich zählbares Resultat revolutionärer Arbeit. Der Sieg der Revolution wird so zum Heilsversprechen, das von der revolutionären Praxis entkoppelt ist. Damit geht einher, dass dieses Heilsversprechen das einzige ist, was der Chor an vorgeblich historischem Wissen aufzuweisen hat. In Bezug auf die gegenwärtige Situation aber ist der Chor nicht rechenschaftsfähig.17 Ein zentrales Motiv in Mauser ist dementsprechend die unbeantwortete Frage des Einzelnen an das Kollektiv.18 Im Verlauf der Handlung fragt A vergeblich danach, ob mit dem Sieg der Revolution das Töten aufhören werde (W4, S. 253). Weder erhält er nach seiner Verurteilung eine Antwort auf die Frage, wie denn seine Hand nicht blutig sein könne, noch auf seine Frage nach dem Menschen (W4, S. 256). Als er schließlich zur Wand geht, wird ihm auch die Antwort auf die Frage, was nach dem Tod komme, verwehrt (W4, S. 258). All diese Fragen tragen die Frage in sich, die der Revolutionär B, A’s Vorgänger, vor seiner eigenen Hinrichtung stellt: Wozu das Töten und wozu das Sterben Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist Die zu Befreienden der Preis der Freiheit. (W4, S. 249) Auf diese Frage erhält B keine Antwort. Offensichtlich ist das Kollektiv nicht in der Lage, ihm gegenüber Rechenschaft abzulegen. Die Frage B’s wurde mit Blick auf die Gesamtinterpretation Mausers in der Rezeption des Stückes gelegentlich zu wenig oder zu unpräzise miteinbezogen. So schreibt Genia Schulz, Mauser stelle »die Frage nach den Kosten der Revolution«.19 Dabei wirft B und damit der Text hier nicht nur die Kosten-, sondern grundlegend die Zweckfrage auf. Mauser stellt mithin nicht die Frage nach dem Preis der Revolution, sondern die Frage nach der Revolution selbst. Und diese entscheidende Frage zu beantworten, ist das Kollektiv nicht in der Lage. Was bedeutet das für die revolutionäre Praxis? Die Idee, dass in Mauser eine wirksame revolutionäre Praxis dargestellt wird, ohne dass das Kollektiv Rechenschaft über den revolutionären Zweck ablegen kann, ist widersprüchlich. Denn zugleich bestimmen sowohl die Maßnahme als auch Mauser das Wissen zur Kernvoraussetzung revolutionärer Praxis. Der Erfolg der Agitatoren in der Maßnahme wird durch den Kontrollchor folgendermaßen beschrieben:

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Ihr habt verbreitet Die Lehre der Klassiker Das Abc des Kommunismus Den Unwissenden Belehrung über ihre Lage Den Unterdrückten das Klassenbewußtsein Und den Klassenbewußten die Erfahrung der Revolution.20 In Mauser gelten die Hinrichtungen als »Belehrung für ihre Unwissenheit« (W4, S. 247). Unwissend zu sein, macht Individuen gar zu »Feinden der Revolution« (W4, S. 247). Texte und Praxis der Lehrstücktradition haben zur Grundlage, dass eine bestimmte Form von Wissen, vor allem aber ein bestimmter, und zwar historisch situierter Lernprozess für die revolutionäre Praxis erforderlich ist.21 Es ist wohl auch dieses Wissen um die eigene historische Situierung, das eine materialistische Weltanschauung von revolutionärer Esoterik unterscheidet. Was die Legitimität tödlicher Gewalt angeht, so kommt hinzu, dass diese durch jede Ungewissheit erschüttert wird. Der definitive Moment des Todes fordert die Klarheit von Sinn und Zweck. Die Unwissenheit des Kollektivs in Mauser weckt somit ernsthafte Zweifel daran, ob es überhaupt eine wirksame revolutionäre Praxis aufrechterhalten kann. Die optimistischen Interpretationen Mausers hängen von der Behauptung ab, das Kollektiv könne auch ohne sicherndes Wissen vernünftig und revolutionär agieren.22 Doch bei einer näheren Betrachtung vertiefen sich die Zweifel daran weiter. So stellt sich die Frage: In welchem Zustand wird die Revolution in Mauser gezeigt?

Die erstarrte Revolution Gängige Vorstellungen einer wirksamen revolutionären Praxis beinhalten meistens die als notwendig und legitim empfundene Anwendung von Gewalt. Dass die Gewalt in Mauser ganz anders erscheint, ist keinesfalls so, weil hier eine pazifistische Haltung vertreten würde. Der Grund ist vielmehr, dass die Gewalt in Mauser bezüglich ihres vorgeblichen Ziels, des Siegs der Revolution, ineffizient ist. Hier wird eine steckengebliebene, erstarrte Revolution dargestellt. Dies ist insbesondere im Kontrast zu den benjaminschen und brechtschen Revolutionskonzepten problematisch, die der Text eigentlich als Referenzen aufruft.23 Zieht man in Weiterführung des Vergleichs mit den Lehrstücken die Brechtsche Auffassung heran, so findet man die Revolution bei ihm als eine sprunghafte, qualitative Veränderung der Wirklichkeit.24 Eine

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in der eigenen Durchführung erstarrte Revolution ist nach diesem Verständnis keine.25 Eine solche aber zeigt uns Mauser. Ein erster Indikator hierfür ist die angedeutete Zirkularität des Geschehens nach dem Schema: Der Henker, der hingerichtet wird, richtet den Henker hin. Auch wenn die Geschichten A’s und B’s voneinander abweichen, besteht doch kein Zweifel, dass der an seiner Aufgabe zugrunde gehende Henker ein wiederkehrendes Motiv ist. Entsprechend abgeklärt reagiert der Chor auf das Vergehen A’s: »Da wußten wir, daß seine Arbeit ihn aufgebraucht hatte / Und seine Zeit war abgelaufen« (W4, S. 255). In diesem Satz findet sich viel eher das Bild von Materialverschleiß in einem kontinuierlich andauernden Produktionsprozess, als das eines Opfers im Dienst eines qualitativen Sprungs der Wirklichkeit.26 Es ist denn auch an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen worden, dass das Töten in Mauser als Produktionsprozess, als »Arbeit« verstanden wird.27 Das vorgebliche Produkt dieses Prozesses ist der (neue) Mensch: Nicht eh die Revolution gesiegt hat endgültig In der Stadt Witebsk wie in andern Städten Werden wir wissen, was das ist, ein Mensch. Nämlich er ist unsere Arbeit (W4, S. 253). Tatsächlich ist das Töten in Mauser allerdings ein sich selbst reproduzierender Vorgang. Das Schema vom hingerichteten Scharfrichter deutet darauf hin: Die Henker produzieren in ihrer Arbeit die eigene Hinrichtung und reproduzieren währenddessen frühere Hinrichtungen. Daher heißt es einmal: Am nächsten Morgen vor meinem Revolver ein Bauer Wie vor ihm seinesgleichen an andern Morgen Wie vor mir meinesgleichen vor andern Revolvern (W4, S. 252). Genia Schulz schreibt: »[Die Bezeichnung des Tötens als ›Arbeit‹ umfaßt] die beiden Aspekte, Tätigkeit auf ein Ziel, auf ein Produkt hin zu sein, aber auch, als Re-Produktion, nur die auf einen Sinn nicht befragte Fortdauer ihrer selbst zu ›produzieren‹ […].«28 Ich habe bereits gezeigt, dass die Tätigkeit auf ein Ziel hin in Mauser tatsächlich völlig unsicher ist, da das Kollektiv es ohne gegenwärtigen Bezug in eine utopische Zukunft verschiebt. Es bleibt also die Produktion des Tötens als dessen Reproduktion. Für diese Auffassung spricht die große Anzahl an wiederkehrenden Motiven, geradezu Kehrversen, in Mauser. Eine ganze Reihe von

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Sätzen oder Ausdrücken wird im Verlauf des kurzen Stücks mehrfach vollkommen oder zumindest beinahe wortgleich verwendet. Das prominenteste Beispiel hierfür ist der Satz: »Das Gras noch / Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt« (W4, S. 247, 248, 249, 251, 255, 258). Ein weiteres Beispiel ist die Formulierung vom »Gesicht zum Steinbruch« zur Beschreibung der Hinrichtungssituation (W4, S. 247, 249, 250, 251, 252, 253). Die Revolution in Mauser ist nicht dynamisch, sondern, im Gegenteil, völlig in der eigenen Sprache erstarrt. Während revolutionäre Bestrebungen in Brechts Lehrstücken eine substanzielle Veränderung der Situation zur Folge haben,29 ist die Revolution in Mauser am Ende des Dramas genau dort, wo sie am Anfang war. Ein Grund dafür ist die wirklichkeitsfremde Logik, die durch das Kollektiv vertreten wird. Der zentrale Satz für die Geschichtsauffassung des Chores ist dabei, wie bereits angerissen, folgender: Denn das Natürliche ist nicht natürlich Sondern das Gras müssen wir ausreißen Und das Brot müssen wir ausspein Bis die Revolution gesiegt hat endgültig In der Stadt Witebsk wie in andern Städten Damit das Gras grün bleibt und aufhört der Hunger. (W4, S. 249) Hinter diesen Zeilen steht keineswegs eine ausgeklügelte Dialektik, wie einige Interpretationen behaupten,30 sondern schlicht und einfach eine widersprüchliche, aber in ihrer Eigenlogik gefangene Praxis. Das praktische Äquivalent des Gras-Ausreißens sind die Hinrichtungen. Sie treffen »Feinde der Revolution aus Unwissenheit.« Für diese gibt es »keine andere Belehrung […] / Als die Kugel.« (W4, S. 247) Ebenso gibt es »Gegen den Zweifel an der Revolution kein / Anderes Mittel als den Tod des Zweiflers.« (W4, S. 249) Sie, die Unwissenden und die Zweifler, sind das ausgerissene Gras und das ausgespiene Brot. Indem es für sie nur mehr eine Art gibt, zu lernen, nämlich den Tod, erstarrt das revolutionäre Unternehmen in einer Variante des Menon-Paradoxes. Als B drei Bauern spontan begnadigt, indem er ihnen erklärt: »[E]ure Feinde sind unsere Feinde / Ich sage: geht zurück an die Arbeit« (W4, S. 248), reagiert der Chor, indem er behauptet, die Feinde der Revolution seien nun »unbelehrt« geblieben (W4, S. 248). In dieser Passage findet auf gespenstische Weise Hannah Arendts Ideologie und Terror sein Echo. Einen Abschnitt überschreibt sie dort: »Ideologien sind unbelehrbar«. Sie konkretisiert: »Ideologisches Denken ist […] prinzipiell von Erfahrung unbeeinflußbar und von der Wirklichkeit unbelehrbar.«31 Ideolo-

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gien folgen der Eigenlogik einer Idee, ihrer formalen Vollendung, ohne einen Blick auf ihren Inhalt, der sie ad absurdum führen würde. »Das Gras noch / Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt« ist kein Juwel materialistischen Denkens, sondern eine pointierte Exposition blinder Ideologietreue. In Brechts Lehrstücken und auch in Die Mutter,32 auf das Mauser sich stellenweise bezieht,33 ist Lernen stets ein integrativer Prozess, der zur Einigung der Arbeiter*innenschaft oder des jeweils äquivalenten Kollektivs führt.34 In Mauser hingegen sind Lernen und Tod synonym geworden. Diese Synonymisierung jedoch nimmt der Revolution jegliche Perspektive. Es handelt sich dabei um eine Pervertierung des Sterben-Lernens der brechtschen Lehrstücke, auf diesen Vorgang wird später noch zurückzukommen sein. In seiner Anmerkung zum Dramentext schreibt Müller, in Mauser sei »der Extremfall nicht Gegenstand, sondern Beispiel, an dem das aufzusprengende Kontinuum der Normalität demonstriert wird […]« (W4, S. 259). Die Revolution in Mauser, das macht die Formulierung Müllers klar, sprengt nicht dieses Kontinuum. Sie selbst und ihre Gewalt sind Teile des Kontinuums der Normalität. Es ist bezeichnend, dass Müller hier auf eine Idee Walter Benjamins verweist.35 In Über den Begriff der Geschichte heißt es: »Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich.«36 Dort steht auch: »[Hass und Opferwillen der unterdrückten Klasse] nähren sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.«37 In Mauser aber soll sich der Revolutionär für eine unbestimmte, utopische Zukunft opfern. Einmal mehr liegt der Text überkreuz mit den Idealen, die er anruft, und es wird immer klarer, dass die vorgeblich revolutionäre Gewalt vor diesem Hintergrund hier kaum als affirmiert zu verstehen ist. Es wird in Mauser alles in allem also keine für funktionstüchtig gehaltene Revolution dargestellt. Das Kollektiv ist historisch desorientiert und in seiner revolutionären Praxis ineffizient. Es erhält das Töten als Arbeit aufrecht: »vom Kollektiv organisiert und das Kollektiv organisierend« (W4, S. 259). Eine Perspektive auf weitere historische Entwicklung öffnet es nicht. Objekte der illegitimen Gewalt sind letztlich auch die einzelnen Revolutionäre. Das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv ist in Müllers Mauser der Schauplatz, auf dem sich die Defizite der dargestellten Revolution niederschlagen, wohingegen es bei Brecht der Ort ist, an dem sich ihre Tugenden zeigen.

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Das Verhältnis zwischen Kollektiv und Individuum Die Tatsache, dass der Chor in Mauser nicht in der Lage ist, A Sicherheit über Ziel und Effektivität der revolutionären Praxis zu vermitteln, ist bereits ein Hinweis auf das prinzipiell gestörte Verhältnis zwischen Kollektiv und Individuum in diesem Text. Dies gilt nicht lediglich im Sinne einer bürgerlichen Kritik am Kollektivismus, vielmehr setzt sich der Kollektivismus in Mauser negativ von dem positiv entworfenen Kollektivismus der brechtschen Lehrstücktheorie ab. Reiner Steinweg greift in seiner Konzeptualisierung des in den Lehrstücken vertretenen Kollektivs Brechts Bemerkung zum Jazz auf, die sich in den Anmerkungen zur Musik der Maßnahme findet: »Hier waren Möglichkeiten gezeigt, eine neue Freiheit des einzelnen und Diszipliniertheit des Gesamtkörpers zu erzielen (Improvisieren mit festem Ziel) […]«.38 Steinweg entwickelt daraus die Auffassung, erst ein Kollektiv mit der Flexibilität für rational gerechtfertigtes, individuelles Handeln sei tatsächlich »eine Einheit«39. Diese Konstellation sei gerade »das Gegenteil von ›Kadavergehorsam‹«.40 Tatsächlich handelt es sich bei der Eingliederung des Individuums in das Kollektiv nach der Lehrstücktheorie um einen Prozess der Selbstermächtigung. Brecht ist der Auffassung, dass Autonomie des Einzelnen angesichts der Komplexität des Weltzusammenhangs überhaupt nur im Zusammenspiel mit dem Kollektiv möglich ist. Das Individuum erhält eine neue Relevanz als wesentlicher Bestandteil des Ganzen, und durch das Ganze erhält es die Möglichkeit eines freien Lebens.41 Lehmann und Lethen, die diese optimistische Brecht-Lesart relativieren, konstatieren, dass dieser Vorgang nicht widerspruchslos vor sich geht, dass das Beharren auf der eigenen Individualität nicht völlig auf einer rationalen Ebene auflösbar ist.42 Trotz dieses Widerspruches ist in den Lehrstücken die Idee eines »›positiven‹ Kollektivs«43 enthalten, das es dem Einzelnen erst ermöglicht, in Brechts Worten, »Meister seines Schicksals«44 zu werden. Dass das Verhältnis von Kollektiv und Individuum in Mauser ein ganz anderes ist, zeigt sich bei der Analyse des auch in diversen brechtschen Lehrstücken enthaltenen Motivs des »Einverständnisses« in den eigenen Tod.45 Dem jungen Genossen der Maßnahme werden auf der Flucht die Umstände genau dargelegt, um dann seine Zustimmung zum eigenen Tod zu erfragen:

DER ERSTE AGITATOR zum jungen Genossen  Wenn du gefaßt wirst, werden sie dich erschießen, und da du erkannt wirst, ist unsere Arbeit verraten. Also müssen wir dich erschießen und dich in die Kalkgrube werfen, damit der Kalk dich ver-

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brennt. Aber wir fragen dich: weißt du einen Ausweg? DER JUNGE GENOSSE  Nein. DIE DREI AGITATOREN  So fragen wir dich: bist du einverstanden? Pause. DER JUNGE GENOSSE  Ja.46 Zwar sind sich die Agitatoren einig, dass sie den jungen Genossen unabhängig von seiner Antwort erschießen werden,47 jedoch geben sie ihm die Möglichkeit zum rationalen Nachvollzug der Maßnahme. Sein Tod ist, auch wenn er zuvor falsch handelte, nicht ideologisch, sondern situativ motiviert. Die Gründe dafür werden dem Opfer gegenüber vollkommen transparent gemacht. Damit gewinnt der Tod des jungen Genossen zweierlei Qualitäten. Erstens ist er ein Akt der Autonomie, der Sterbende eignet sich die eigene Erschießung an. Zweitens ist er ein Akt dialektischen Denkens, wie Steinweg es bei Brecht sieht: Eines Denkens, das das eigene Subjekt in seiner ihm wesentlichen Kollektivität als Determinante des historischen Prozesses betrachtet.48 In Mauser wird das Motiv des Einverständnisses direkt zu Beginn aufgeworfen, allerdings stark verändert: CHOR  Wir fragen dich nicht, ob du sterben willst. Die Wand in deinem Rücken ist die letzte Wand In deinem Rücken. Die Revolution braucht dich nicht mehr Sie braucht deinen Tod. Aber eh du nicht Ja sagst / Zu dem Nein, das über dich gesprochen ist Hast du deine Arbeit nicht getan. (W4, S. 246) Der Wille zu sterben, in Brechts Maßnahme ein Zeichen rationaler Autonomie, ist in Mauser irrelevant. Das fehlerhafte Verhältnis des Kollektivs zum Individuum wird ganz deutlich, stellt man das »So fragen wir dich« der Maßnahme neben das »Wir fragen dich nicht« in Mauser. Der Unterschied besteht darin, dass ein Verhältnis gegenseitiger Verbindlichkeit in Mauser nicht zustande kommt. Die Agitatoren der Maßnahme bescheinigen dem jungen Genossen: »[E]r war ein mutiger Kämpfer«49, der »das Richtige [wollte]« und »das Falsche [tat]«50. Ganz anders ist das Verhältnis des Chors in Mauser zu A. Immer wieder wird dieser als »Feind« bezeichnet: »Deine letzte Lektion heißt: / Du, der an der Wand steht, bist dein Feind und unsrer.« (W4, S. 246) Schulz behauptet, die Partei übernehme in Mauser insofern Verantwortung, als dass sie mit der Hinrichtung A’s »ihre eigene Blutspur [tilgt]«51. Die im-

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plizierte gegenseitige Verantwortung zwischen A und Chor ist im Text aber nicht zu finden. Es heißt von A: »Du bist dein Feind und unsrer«. Konsequenterweise müsste es auch heißen: »Wir sind unser Feind und deiner«, aber die Feindbeziehung bleibt einseitig. Anstatt Verantwortung für A zu übernehmen, entledigt sich das Kollektiv seiner. In der Maßnahme hingegen findet die Identifikation auch andersherum statt. Die Agitatoren beklagen: »Also beschlossen wir: jetzt / Abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper.« Trotz der Fehler des jungen Genossen steht nie in Frage, dass er ein Teil des Kollektivs ist. Entsprechend vollzieht sich in der Maßnahme auch die Sterbeszene in Kooperation. Der junge Genosse wird gefragt: »Willst du es allein machen?« und antwortet: »Helft mir.«52 Und tatsächlich wird ihm daraufhin geholfen: »DIE DREI AGITATOREN  Lehne deinen Kopf an unsern Arm / Schließ die Augen.«53 Auch wenn dieser Vorgang radikal idealisiert erscheint, tritt hier deutlich zutage, was Reiner Steinweg schreibt: Im Sterben solle »[in den Lehrstücken] dem Einzelnen Hilfe gegeben werden.«54 Der gesamte Vorgang rund um den Tod des jungen Genossen – Analyse der Situation, Einbezug des Einzelnen, Hilfestellung für den Einzelnen – ist das Produkt eines funktionierenden Kollektivs, wie es die Lehrstücktheorie beschreibt. Anders verhält es sich in Mauser mit der Hinrichtung A’s. Von Beginn an ist klar, dass er sich gegenüber dem Chor in einer Bringschuld befindet: »Aber eh du nicht Ja sagst, zu dem Nein, das über dich gesprochen ist / Hast du deine Arbeit nicht getan.« (W4, S. 246) Auch wenn es eine Begründung für seinen Tod gibt – dass er blindwütig und ohne (revolutionäres) Bewusstsein tötete –, wird seine Hinrichtung nicht rational verhandelt. Dies wird deutlich im Versuch A’s, »Nein« zu seinem Tod zu sagen: »Ich weigere mich. Ich nehme meinen Tod nicht an.« (W4, S. 257) Dieses »Nein« antwortet nun nicht mehr auf Die Maßnahme, sondern auf den Neinsager, ein weiteres von Brechts Lehrstücken. Das Stückepaar Der Jasager / Der Neinsager55 wird in Mauser als Referenz aufgerufen. Dort betrifft die Frage des Einverständnisses in den eigenen Tod einen Knaben, der sich mit einigen Studenten und einem Lehrer auf eine Expedition in die Berge begeben hat. Als er nicht mehr weiterkann, soll er getötet werden, damit er dem Unternehmen nicht zur Last wird. Die Anlagen der Stücke variieren leicht, sodass der Tod und das Einverständnis des Knaben ins eigene Sterben im Jasager gerechtfertigt wirken, im Neinsager aber nicht. Als er in letzterem in den Bergen nicht weitergehen kann, wollen ihn die anderen Expeditionsteilnehmer einem alten Brauch gemäß in eine Schlucht werfen. Ebenso

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diesem Brauch gemäß soll er dafür sein Einverständnis geben. Anders als in allen anderen Lehrstücken aber weigert sich der Knabe mit guten Gründen. Er überzeugt das Kollektiv und der Brauch wird dahingehend geändert, dass er überlebt. Die Referenz wird in Mauser direkt zu Beginn über die Worte »Ja« und »Nein« hergestellt: Aber eh du nicht Ja sagst Zu dem Nein, das über dich gesprochen ist Hast du deine Arbeit nicht getan. (W4, S. 246) Ebenso findet sich in Mauser eine Struktur, die neben der Maßnahme auch dem Jasager / Neinsager und weiteren Lehrstücken Brechts eigen ist: Zu Beginn wird das Einverständnis des Protagonisten nicht als Einverständnis in seinen Tod, sondern in seine Rolle hervorgehoben. In Mauser wird A zum Henker mit den Worten: »Und ich war einverstanden mit dem Auftrag.« (W4, S. 247) In der Maßnahme heißt es zu Beginn der Mission der Agitatoren: »So war der junge Genosse […] einverstanden mit der Art unserer Arbeit«,56 und im Neinsager fragt der Lehrer: »Aber wärest du denn auch einverstanden mit allem, was dir auf der Reise zustoßen könnte?«,57 was der Knabe bejaht. Das zweite Einverständnis der Figuren, das in den eigenen Tod, wird meist implizit als Konsequenz aus dem früheren Einverständnis behandelt. Der Neinsager ist nun geeignet, den Eindruck zu bestätigen, den schon der Vergleich mit der Maßnahme erweckte: Die Frage nach dem Opfer des Individuums ist in den Lehrstücken der Gegenstand einer rationalen Verhandlung, die prinzipiell ergebnisoffen ist. Dies liegt daran, dass in den Lehrstücken das Kollektiv als vernünftige und nicht als ideologische Instanz auftritt, die nur einer Logik der Konsequenz folgt. Arendt entwickelt in Ideologie und Terror ihr Konzept der Ideologie, anhand der scheinbaren Logik des »Wer A sagt, muss auch B sagen«. In einer Ideologie werde diese Verkettung ungeachtet der Inhalte von »A« und »B« gnadenlos verfolgt. Arendt beschreibt Ideologie daher als ein »Zwangsfolgern«.58 Genau dieses Zwangsfolgern weist der Neinsager aber als unvernünftig zurück: DIE DREI STUDENTEN […]  Wer a gesagt hat, der muß auch b sagen. Als du seinerzeit gefragt wurdest, ob du auch einverstanden sein würdest mit allem, was sich aus der Reise ergeben könnte, hast du mit ja geantwortet. DER KNABE  Die Antwort, die ich gegeben habe, war falsch, aber

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eure Frage war falscher. Wer a sagt, der muß nicht b sagen. Er kann auch erkennen, daß a falsch war. Ich wollte meiner Mutter Medizin holen, aber jetzt bin ich selber krank geworden, es ist also nicht mehr möglich. Und ich will sofort umkehren, der neuen Lage entsprechend.59 Dem Vorschlag des Knaben wird gefolgt. Im Kontrast dazu wird umso deutlicher, dass die Situation A’s in Mauser in keiner Weise vernünftig verhandelt wird, sondern dass das Kollektiv hier nur einem Zwangsfolgern gehorcht. Diese Verhandlung bricht an genau dem Punkt ab, an dem eine vernünftig agierende Instanz hätte Antwort geben müssen: A (CHOR)  Mich aber führt meinesgleichen zur Wand jetzt Und ich der es begreift, begreife es nicht. […] A  Ich habe meine Arbeit getan. Seht meine Hand. CHOR  Wir sehen, dass deine Hand blutig ist. A  Wie nicht. Und lauter als der Schlachtlärm war das Schweigen In der Stadt Witebsk einen Augenblick lang Und länger als mein Leben war der Augenblick. (W4, S. 255 f.) Auch die emotionale Unterstützung, die der junge Genosse in der Maßnahme erhält, wird A nicht zuteil. Sowohl der Genosse als auch der Knabe im Jasager, der tatsächlich die Schlucht hinab geworfen wird, werden vor ihrem Tod in das Kollektiv reintegriert. Sie sind durch Kooperation zu Autonomie gelangt. Anders verhält es sich in Mauser. Anstatt eines Verhältnisses gegenseitiger Förderung, das dem Einzelnen historische Wirksamkeit zuteilwerden lässt, wird A durch das Kollektiv lediglich als abgenutztes Instrument verstanden: »Mit deiner Hand tötet die Revolution« (W4, S. 252). Und auch A selbst sieht seine Rolle in Bezug auf das Kollektiv rein funktional. In den ersten Hinrichtungen ist er nicht nur Henker, sondern selbst Waffe: »[D]as Auge, mit dem ich sie ansah / Und der Mund mit dem ich redete zu ihnen / War der Revolver und mein Wort die Kugel« (W4, S. 250). Nach seiner Gewaltorgie rechtfertigt sich A allerdings mit den Worten »Ich bin ein Mensch. Der Mensch ist keine Maschine.« (W4, S. 256) Es zeigt sich, dass er durch das Kollektiv keine Selbstermächtigung, sondern eine reine Instrumentalisierung und Objektifizierung erfahren hat: Er ist nicht »Meister seines Schicksals« geworden. Sehen wir uns also an, wie sich die in Mauser durch das Kollektiv

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und gegen den Einzelnen ausgeübte Gewalt präsentiert: Weder sind die revolutionären Bestrebungen der Gemeinschaft zielgerichtet und effizient, noch gelingt es dem Kollektiv, ein gesundes Verhältnis zum Individuum aufzubauen. Im Zusammenhang mit Brechts Lehrstücken erscheint die Gewalt in Mauser nicht nur ins Zwielicht gerückt, sondern vollends illegitim und ideologisch. Unabhängig von Müllers – hier nicht zu diskutierenden – persönlichen Position in diesen Fragen, ist Mauser im Licht seiner intertextuellen Bezüge als eine Kritik an Perversionen des revolutionären Gedankens zu lesen, wie sie beispielsweise der Stalinismus hervorgebracht hat. Für diese Auffassung gibt es allerdings nicht nur intertextuelle, sondern auch textimmanente Argumente, von denen ich eines abschließend erläutern werde: Das Zerbrechen A’s, der Zerfall seiner personalen Identität in Ausübung seiner angeblichen Pflicht ist kein Zeichen notwendigen Widerstands des Individuums gegen historische Kräfte, sondern ein Indikator illegitimer Gewalt. Der Zerfall der personalen Identität Das Opfer des Individuums in Mauser besteht keinesfalls nur in seiner Hinrichtung, diese ist lediglich der Moment, der diesen Opferprozess zum Abschluss bringt und als solchen kennzeichnet. Tatsächlich ist der A vom – chronologischen – Beginn des Stückes im Moment seiner Hinrichtung bereits fast völlig verschwunden. Seine personale Identität ist in Ausübung der illegitimen Gewalt sukzessive zerfallen.60 »Töten und Töten, der gleiche nach jedem Tod / Konnte ich nicht.« (W4, S. 256) Die Arbeit des Tötens wird in seiner Erinnerung toxisch und verhindert daher die Kontinuität der Person A. Zu Beginn tötet er ohne Bedenken: »Und ich hatte kein Auge für seine Hände / Als er vor meinem Revolver stand, Gesicht zum Steinbruch.« (W4, S. 249) Mit der Wiederholung allerdings gewinnen die Hinrichtungen einen neuen Grad der Präsenz: »Am siebenten Morgen sah ich ihre Gesichter« (W4, S. 250). Je präsenter die Hinrichtungen für A werden, desto zersetzender wirken sie sich auf seine personale Identität aus:

Und am Abend sah ich mein Gesicht Das mich ansah mit nicht meinen Augen Aus dem Wandspiegel, der vielmal geborsten war Bei der Beschießung der vielmal eroberten Stadt Und in der Nacht war ich kein Mann, beschwert Mit den Getöteten von sieben Morgen Mein Geschlecht der Revolver, der den Tod austeilt

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An die Feinde der Revolution, Gesicht zum Steinbruch. (W4, S. 251) Im geborstenen Spiegel sieht A das eigene, allerdings gespaltene, möglicherweise vervielfältigte Ebenbild. Während er zuvor (W4, S. 250) noch seinen Mund und sein Auge mit dem Revolver identifizierte, ist dieser nun identisch mit seinem Geschlecht. Hier deutet sich das spätere lustvolle Töten A’s an, dass er gleichsam unbeteiligt von außen betrachtet, als würde sein Spiegelbild sich verselbstständigen: Und ich hörte meine Stimme sagen An diesem Morgen wie an andern Morgen TOD DEN FEINDEN DER REVOLUTION und ich sah Ihn der ich war töten ein Etwas aus Fleisch und Blut Und andrer Materie (W4, S. 254) Weshalb erleidet ein erfahrener Revolutionär wie A, der nach eigener Aussage bereits jahrelang tötet, durch die Tätigkeit in Witebsk innerhalb kürzester Zeit die Zertrümmerung seiner Persönlichkeit? Offensichtlich ist die Gewalt, die er hier ausübt, eine andere als die konventionell revolutionäre Gewalt. Daher sagt A über seine Vergangenheit im Bürgerkrieg: »Wir sagten: es ist eine Arbeit wie jede andre / Schädel einschlagen und schießen.« (W4, S. 246) Die Arbeit für das Revolutionstribunal aber ist anders und für das Individuum zerstörerisch: »Und dieses Töten war ein andres Töten / Und es war eine Arbeit wie keine andre.« (W4, S. 247) Genia Schulz sieht in Mauser auch die Frage, wie legitime Gewalt gekennzeichnet werden könne.61 Tatsächlich ist es vielmehr andersherum. Mauser stellt sich die Frage nach illegitimer Gewalt im Dienst der Revolution und das Stück liefert, auch außerhalb seines Dialogs mit Brechts Lehrstücken, zumindest einen Indikator für diese Gewalt: Sie ist in Mauser diejenige Gewalt, die unmöglich in die persönliche Identität integrierbar ist. »Töten und töten, der gleiche nach jedem Tod / konnte ich nicht.« (W4, S. 256) Der »stumm[e] Protes[t] der Körperlichkeit«62 besteht hier im Konflikt zwischen physischer Kontinuität und der Unmöglichkeit psychischer Kontinuität. A war in der Lage, seine psychische Kontinuität aufrecht zu erhalten, während er an der Front war, aber das gelingt ihm nicht als Henker des Revolutionstribunals. Anders als Schulz denkt, thematisiert Mauser also nicht eine mögliche Überforderung des Individuums mit der Revolution,63 sondern ein folgerichtiges Zerbrechen des Individuums an der Ausübung illegitimer Gewalt. Zieht man dieses Zerbrechen der personalen Identität in Betracht, erhält das Ende Mausers einen Sinn. Ohne dezidiert in den ei-

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genen Tod einzuwilligen tritt A vor das Erschießungskommando und stimmt in den Chor ein: »TOD DEN FEINDEN DER REVOLUTION!« (W4, S. 258) In den Lehrstücken Brechts wird das Individuum durch sein Einverständnis emanzipiert ins Kollektiv reintegriert. In Müllers Mauser hat das Subjekt A diese Möglichkeit nicht, es ist gebrochen. Anstelle eines rationalen Aktes der Autonomie ist sein »TOD DEN FEINDEN DER REVOLUTION« ein sinnentleerter Schrei. Von Zustimmung oder Widerspruch kann hier keine Rede mehr sein. Vielmehr gehen die Trümmerteile A’s bewusstlos im Kollektiv auf.

Fazit Eine vergleichende Lektüre von Müllers Mauser und Brechts Lehrstücken befreit die Interpretationen Mausers von obskurantistischen Gewaltfantasien. Im Licht der brechtschen Lehrstücke stellt sich die Gewalt in Mauser folgendermaßen dar: Ein historisch desorientiertes Kollektiv beharrt auf einer Revolution, die im Moment des Umsturzes stecken geblieben ist, eingefroren in der Zeit als sich selbst perpetuierendes Tötungssystem. Es erhebt die revolutionären Individuen nicht zu autonomen Subjekten, sondern zertrümmert sie, es sprengt das ›Kontinuum der Normalität‹ nicht auf, sondern es konstituiert dieses Kontinuum. Das Individuum zerfällt in dieser Revolution, nicht aus notwendiger Überforderung, sondern gleichsam als Warnsignal dafür, dass das, was hier als Produktion des neuen Menschen deklariert wird, tatsächlich die Abschaffung des Menschen ist. Auf diese Weise leistet Mauser Ideologiekritik, indem das Stück Ideologie darstellt: Ideologie verstanden als Eigenlogik einer Idee, der über ihre radikale Formalisierung der Inhalt abhandenkommt.64 Zwischen den Lehrstücken und Mauser liegt das Ende der sauberen Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts, die – durch die Wirklichkeit unbelehrbar – ideologische Formen angenommen hatten. Mauser ist eine Reaktion auf diese Entwicklung. Müller selbst schreibt an Reiner Steinweg anlässlich des geplanten Erscheinens eines Sammelbandes zum Lehrstück: »Die christliche Endzeit der MASSNAHME ist abgelaufen.«65 Es scheint, als sei in Mauser anstelle der klinischen Lehrstücke der Abgrund des Fatzer-Fragments auferstanden, das Brecht als Lehrstück angelegt hatte, aber nicht in den Griff kriegen konnte. Bereits in Fatzer entsteht der Eindruck einer Wirklichkeit, die durch einen vernünftigen, dialektischen Lernprozess nicht mehr einzufangen ist. An einer Stelle heißt es dort: »Und von jetzt ab und eine ganze Zeit über / Wird es keinen Sieger mehr geben / Auf eurer Welt,

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sondern nur mehr / Besiegte.«66 Dieser Satz könnte wie ein Epigramm über Mauser stehen, wo die mit der Wirklichkeit überforderte und ihr letztlich fremde Vernichtungslogik an die Stelle der Hoffnung auf vernünftige Emanzipation getreten ist.

Müller, Heiner: Mauser, in: Heiner Müller Werke 4, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2001, S. 259. Die Quellennachweise aus Mauser erfolgen im Haupttext in Klammern mit Seitenangabe. 2 Hensel, Georg: »Die getarnte Genickschusspistole. ›Mauser‹ von Heiner Müller – Erste deutsche Aufführung in Köln«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. April 1980, S. 23. 3 Schivelbusch, Wolfgang: Sozialistisches Drama nach Brecht. Drei Modelle: Peter Hacks – Heiner Müller – Hartmut Lange, Darmstadt/Neuwied 1974, S. 221. 4 Genia Schulz ist der Ansicht, dass die Revolution in Mauser letztendlich »Recht beh[ä]lt«, allerdings »kein Glanz auf sie [fällt].« Schulz, Genia: Heiner Müller, Stuttgart 1980, das Kapitel »Mauser«, S. 108 – 117, hier S. 115. Yasmine Inauen sieht in Mauser die revolutionäre Lehre zumindest in Frage gestellt, da der Widerspruch zwischen dem biologisch motivierten Überlebenswillen des Einzelnen und der historischen Vernunft des Kollektivs nicht aufgelöst werde. Vgl. Inauen, Yasmine: Dramaturgie und Erinnerung. Geschichte, Gedächtnis, Körper bei Heiner Müller, Tübingen 2001, S. 134. Lehmann und Winnacker meinen, Mauser formuliere letztendlich »das Gesetz der revolutionären Gewalt, die Humanität verneint, um sie herbeizuführen.« Lehmann, Hans-Thies/Winnacker, Susanne: »Mauser«, in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. HansThies Lehmann, Patrick Primavesi, Stuttgart 2003. S. 252 – 256, hier S. 255. Etwas negativer schien Lehmanns Urteil noch auszufallen, als er gemeinsam mit Lethen schrieb: »Die historische Vernunft aber, die auf der Bühne des brechtschen Lehrstücks den Schatten des Schreckens warf, aber eben doch existierte, ist im Schattenreich der Mauser-Szene kaum mehr vorhanden.« Lehmann/Lethen, Helmut: »Ein Vorschlag zur Güte. Zur doppelten Polarität des Lehrstücks«, in: Auf Anregung Bertolt Brechts: Lehrstücke mit Schülern, Arbeitern, Theaterleuten, hrsg. von Reiner Steinweg, Frankfurt a. M. 1978, S. 316. 5 Zur totalitären Ideologie als von jedem Inhalt befreite Eigenlogik einer Idee vgl. Arendt, Hannah: »Ideologie und Terror«, in: dies.: The Modern Challenge to Tradition. Fragmente eines Buchs, hrsg. v. Barbara Hahn, James McFarland, Göttingen 2018, S. 18 – 24. 6 Ebd., S. 19. 7 Müller: Literatur muß dem Theater Widerstand leisten. Ein Gespräch mit Horst Laube über die Langweiligkeit stimmiger Stücke und eine neue Dramaturgie, die den Zuschauer bewußt fordert, in: W10, S. 59. 8 Vgl. Lehmann/Lethen: »Vorschlag zur Güte«, S. 314. 9 Müller: Literatur muß dem Theater Widerstand leisten, S. 59. 10 Brecht, Bertolt: »Zu ›Die Maßnahme‹«, in: Brecht Werke Bd. 24: Schriften 4, hrsg. v. Werner Hecht et al., Berlin u. Frankfurt a. M. 1991, S. 96. 11 Brecht: Die Maßnahme (1931), in: Brecht, Bertolt: »Zu ›Die Maßnahme‹«, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 24, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M. 1991, S. 96. 12 Vgl. Lehmann/Winnacker: »Mauser«, S. 253. 13 Brecht: »Zu ›Die Maßnahme‹«, S. 96. 1

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14 Brecht: Die Maßnahme (1931), S. 101. 15 Ebd., S. 125 16 Hans-Thies Lehmann und Helmut Lethen, unter anderen, haben allerdings gezeigt, dass die Lehrstücke und insbesondere Die Maßnahme nicht konfliktfrei sind, dass die Lehre in ihnen durchaus »aufs Spiel gesetzt« wird. Lehmann/Lethen: »Vorschlag zur Güte«, S. 310. 17 Vgl. Lehmann/Winnacker: »Mauser«, S. 253. 18 Vgl. Maier-Schaeffer, Francine: »›Mauser‹ ou la confrontation directe avec la pratique du ›Lehrstück‹«, in: dies.: Heiner Müller et le »Lehrstück«, Bern 1992, S. 83 – 123. 19 Schulz: Heiner Müller, S. 109. 20 Brecht: Die Maßnahme, S. 125. 21 Dies wäre leicht mit einfachen Grundannahmen des Historischen Materialismus begründbar. Es scheint für eine materialistische Weltanschauung unabdingbar, sich selbst im historischen Prozess zu verorten. Das aber tut das Kollektiv in Mauser nicht. 22 Vgl. etwa Schulz: Heiner Müller, S. 111. 23 Es gehört dagegen zu den Kennzeichen des totalitären Stalinismus, die Arendt ausmacht. Sie bemerkt, eine der Gemeinsamkeiten von Nationalsozialismus und Stalinismus bestünde bei allen Unterschieden darin, dass beide Bewegungen von der Logik eines Säuberungsprozesses getrieben seien, der gar nicht an sein Ende kommen könne. Vgl. Arendt, Hannah: »Ideologie und Terror«, S. 14. 24 Siehe Steinweg, Reiner: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer Politisch-Ästhetischen Erziehung, Stuttgart 1976, S. 115. 25 Dies schließt natürlich nicht aus, dass eine Revolution das Ergebnis eines langen Kampfes sein kann. Jedoch behauptet die Revolution in Mauser, sie sei bereits gegenwärtig. 26 »Menschen als Material« ist übrigens ein weiteres der Schlagwörter aus Arendt: »Ideologie und Terror«, z. B. S. 12. 27 Vgl. etwa Lehmann/Winnacker: »Mauser«, S. 252. 28 Schulz: Heiner Müller, S. 110, Hervh. i. O. 29 So die erfolgreiche Agitation der Arbeiter in Die Maßnahme. 30 Maier-Schaeffer: »›Mauser‹ ou la confrontation«, S. 100. 31 Arendt: »Ideologie und Terror«, S. 19, Herv. i. O. 32 Brecht: Die Mutter [1933], in: Brecht Werke, Bd. 3: Stücke 3, hrsg. v. Werner Hecht et al., Berlin u. Frankfurt a. M. 1988. 33 Vgl. Lehmann/Winnacker: »Mauser«, S. 252. 34 In Die Mutter werden im Grunde gewaltige Lern- und Einigungsprozesse, die letztendlich zur Revolution führen, am Wirken der Protagonistin verdeutlicht. 35 Vgl. Lehmann/Winnacker: »Mauser«, S. 254. 36 Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2., hrsg. v. Rolf Tiedemann, Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, S. 691 – 704, hier: S. 701. 37 Ebd., S. 700. 38 Brecht: »Zu ›Die Maßnahme‹«, S. 100. 39 Steinweg: Das Lehrstück, S. 98, Herv. i. O. 40 Ebd. 41 Vgl. Steinweg: Das Lehrstück, S. 120. Es ist im Übrigen anzunehmen, dass damit bei Brecht ein ganz konkreter historischer Prozess gemeint ist: Zunächst eine Disziplinierung des Individuums gegenüber dem Kollektiv, sodann sukzessive eine neue, bewusstere Freiheit des Einzelnen. 42 Vgl. Lehmann/Lethen: »Vorschlag zur Güte«, S. 310. 43 Steinweg: Das Lehrstück, S. 121. 44 Brecht: »[Dramatik der großen Stoffe]«, in: Brecht Werke Bd. 23: Schriften 3, hrsg. v. Werner Hecht et al., Berlin u. Frankfurt a. M. 1993, S. 41. 45 Es findet sich in der Maßnahme, in Der Jasager / Der Neinsager, im Badener Lehrstück vom Einverständnis und im Fatzer-Fragment. 46 Brecht: Die Maßnahme, S. 124. 47 Ebd. 48 Vgl. Steinweg: Das Lehrstück, S. 112. 49 Brecht: Die Maßnahme, S. 124.

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50 Ebd., S. 101. 51 Schulz: Heiner Müller, S. 112. 52 Brecht: Die Maßnahme, S. 125. 53 Ebd. 54 Steinweg: Das Lehrstück, S. 121, Hervh. i O. 55 Brecht: Der Jasager. Der Neinsager, in: Brecht Werke, Bd. 3: Stücke 3, hrsg. v. Werner Hecht et al., Berlin u. Frankfurt a. M. 1988. Bd. 1. Die Stücke 1, Frankfurt a. M. 2005, S. 303 – 318. 56 Brecht: Die Maßnahme, S. 107. 57 Brecht: Der Jasager. Der Neinsager, S. 67. 58 Arendt: »Ideologie und Terror«, S. 24. 59 Brecht: Der Jasager. Der Neinsager, S. 71. 60 Zur Spaltung des Subjekts vgl. Inauen: Dramaturgie der Erinnerung, S. 130 ff. Inauen ist der Meinung, As Scheitern bestehe darin, die Gewalt nicht in seine personale Identität integrieren zu können. Dass die Gewalt aus diesem Grund als illegitim zu betrachten ist, erkennt sie nicht. 61 Schulz: Heiner Müller, S. 116 f. 62 Lehmann/Lethen: »Vorschlag zur Güte«, S. 306. 63 Schulz: Heiner Müller, S. 116. 64 Vgl. Arendt: »Ideologie und Terror«, S. 20. 65 Müller: »Verabschiedung des Lehrstücks«, in: W8, S. 187. 66 Brecht: Fatzer, hier aus Müllers Bühnenfassung: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer, in: W6, S. 139.

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Klassenkampf ist noch immer Arbeit gewesen Zu Heiner Müllers Prosatext Herakles 2 oder die Hydra Der Kern des Politischen ist nicht Feindschaft schlechthin, sondern die Unterscheidung von Freund und Feind und setzt beides, Freund und Feind voraus. Carl Schmitt

Kontextualisierung Die Figur des Herakles oder Herkules, der nach seinem Tod in den Olymp aufgenommene griechische Heros aus dem Geschlecht der Perseiden, ist in einigen Arbeiten Heiner Müllers zu finden, u. a. 1965/66 in Herakles 51, 1966/67 in dem Dramolett Drachenoper2, 1972 zweimal in dem Theaterstück Zement3 (hier unter den Zwischentiteln Befreiung des Prometheus4 und Herakles 2 oder die Hydra5). Im griechischen Mythos ist Herakles der Sohn von Zeus und Alkmene und wurde deswegen von Hera, der Frau des Zeus, bis zu seinem Tod rachsüchtig verfolgt. Hera war es auch, die Herakles in jenen Wahn versetzte, in welchem er seine Frau und seine beiden Kinder erschlug, um sich anschließend – dem Rat des Orakels von Delphi folgend – als Buße für seine Mordtat in den Dienst des Königs Eurystheus zu stellen. Für diesen hatte er insgesamt zwölf Aufgaben zu erledigen: die zwölf Arbeiten des Herakles. Heiner Müller nimmt in Herakles 5, in Drachenoper und in Zement auf nur zwei dieser Arbeiten Bezug. Herakles 5 thematisiert die fünfte: das Ausmisten der Rinderställe des Augias, Herakles 2 oder die Hydra die zweite: die Tötung der neunköpfigen Hydra. Zudem entwickelt er 1991 eine dreizehnte Arbeit, und zwar die »Befreiung Thebens von den Thebanern«6. Auch die Befreiung des Prometheus in Zement ist eine von Müller dem griechischen Helden angedichtete Arbeit, ist sie doch eigentlich ein Nebenprodukt seiner elften Aufgabe, dem Herbeiholen der Äpfel der Hesperiden. Ebenso gehört die »Tötung des Meerwolfs von Kreta«7 durch Herakles in Drachenoper nicht zu den Arbeiten aus dem Dodekathlos des griechischen Mythos.

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Der Umstand, dass die Figur des Herakles in den Texten der späten 1960er und frühen 1970er Jahre des ostdeutschen Dramatikers auftaucht, hat seinen Grund nicht zuletzt in der mythologisierten Gegenwart der DDR,8 in welcher, neben dem Titan Prometheus, auch Herakles eine nicht unwesentliche Rolle spielte: Stand er doch für den heldenhaften Arbeiter im sozialistischen Aufbau. Prometheus hingegen galt als der, wie es bei Marx heißt, »vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender«9, der als Feuerbringer im Bündnis mit den Menschen gegen die Götter den uneingeschränkten Fortschritt sichert.10 Müller allerdings, darauf verweist schon der dichterisch freie Umgang mit den Arbeiten des Herakles, nimmt beide Figuren des Aufbaumythos nicht ungebrochen in seine Texte auf. Das Drama Zement, in welches Herakles 2 oder die Hydra als Prosatext eingearbeitet ist, wurde 1972 von Heiner Müller im Auftrag anlässlich des 55. Jahrestages der Oktoberrevolution geschrieben, 1973 am Berliner Ensemble uraufgeführt11 und 1974 in der Zeitschrift Theater der Zeit veröffentlicht. Müller hat zu dieser Zeit erstmals seit seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband als Dramaturg am Berliner Ensemble eine feste Position innerhalb der Kulturproduktion der DDR inne. Zudem fällt die Entstehung des Stückes mit dem Wechsel des Parteivorsitzes von Walter Ulbricht zu Erich Honecker zusammen – der eine kurzfristige Lockerung der Zensur bedeutet hat. Mit Zement, darauf verweist der Untertitel, bearbeitet Müller ein bereits vorhandenes Material, und zwar Fjodor Gladkows gleichnamigen Roman über die Zeit nach dem russischen Bürgerkrieg, genauer über den Übergang vom Kriegskommunismus zur Einführung der Neuen Ökonomischen Politik, kurz NEP. Erstmals 1927 im Verlag für Politik und Literatur auf Deutsch erschienen, wird Gladkows Zement 1949 in der jungen DDR in einer Neuübersetzung mehrfach wieder aufgelegt.12 Gladkow dient nicht nur Müller als Vorlage für sein Drama. Bereits in den 1950er Jahren wird der Stoff von Eduard Claudius für seinen Roman Menschen an unserer Seite13 adaptiert und im Jahr der Uraufführung von Müllers Zement dient er zugleich als Grundlage für die Verfilmung des gleichnamigen Fernseh-Zweiteilers von Manfred Wekwerth.14 In diesem Sinne lagen Heiner Müller sowohl der Roman als auch die Prometheus- und Heraklesfigur als mythologisches Material des sozialistischen Aufbaus zur Bearbeitung vor. Und so wie Müller die Figuren des griechischen Mythos nicht einfach als Heldenfiguren des sozialistischen Fortschritts übernimmt, übernimmt er in seinem Revolutions- und Produktionsstück Zement die Romanvorlage ebenfalls nicht ungebrochen.

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Im Vordergrund der Handlung des Romans von Fjodor Gladkow steht nicht das politische Ereignis der Revolution selbst, sondern die sehr genaue Beobachtung, wie tief es ins innerste Leben der Revolutionäre eingreift. Gladkow, schreibt Walter Benjamin in seiner Rezension von 1927, führe dem Leser »die Typen« vor Augen, »die der Befreiungskampf der Proletarier hat entstehen lassen«15. Müller übernimmt diese Typisierung der Figuren der Revolution sowie den doppelten Handlungsstrang von Wiederaufbau des Zementwerkes und Geschlechterkampf, welcher im Konflikt zwischen den beiden Hauptfiguren Gleb Tschumalow und Dascha Tschumalowa zusammenläuft. »Das Stück«, heißt es entsprechend in einer Anmerkung aus dem Nachlass, erzählt, nach Motiven des Romans […] eine Geschichte von Arbeitern, Parteifunktionären, Intellektuellen, Banditen, Kommunisten, Mitläufern und Feinden der Revolution, Männern und Frauen und ihren Beziehungen zueinander in den Jahren des schweren Anfangs der Sowjetunion. Der Schlosser Tschumalow, heimkehrend aus drei Jahren Bürgerkrieg, findet seine Stadt in ein Dorf verwandelt, die Zementfabrik in einen Ziegenstall, seine Frau in einen Menschen.16 Während jedoch Gladkow in mehreren Be- und Überarbeitungen seines Textes, bis zur so genannten »Redaktion von 1940«17, die im Roman angelegten Konflikte der ersten Fassung immer mehr herausgenommen hat, bis Gleb und Dascha am Ende einander versöhnlich gegenüber standen, »die Grausamkeiten der Bürgerkriegs- und Aufbauperiode beschönigt, Ungerechtigkeiten verschwiegen und Schwierigkeiten mit der kommunistischen Industrie- und Verwaltungsbürokratie ausgespart«18 waren, arbeitet Müller sie in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit, d. h. in aller Härte wieder heraus: die uneinholbare Entfremdung zwischen Gleb und Dascha, die bis zum Einverständnis in Hunger und Elend reichenden Grausamkeiten der Aufbauperiode, die Widersprüche zwischen Produktion und Apparat. In der Zusammenführung von griechischer Mythologie und Produktions- bzw. Revolutionsstück markiert Zement im Werk Heiner Müllers eine Wende. Hier werden zwei Themenkomplexe miteinander verschränkt, die von ihm nach dem Verbot der Umsiedlerin bis zu diesem Zeitpunkt, wenn man so will, getrennt bearbeitet worden sind: die Antike in Philoktet, Herakles 5, Sophokles / Ödipus, Tyrann und Prometheus auf der einen Seite, auf der anderen: die Revolution sowie der sozialistische Aufbau in den Stücken Mauser und Der Bau. Diese Verschrän-

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kung führt zu einer neuartigen dramatischen Form: In das Drama sind insgesamt drei Prosatexte als »Intermedien«19 eingelassen, von denen der dritte mit Herakles 2 oder die Hydra betitelt ist. Neu ist auch, dass dieser später, aus dem Kontext des Dramas herausgelöst, nicht nur eine selbstständige Veröffentlichung erfahren hat, sondern auch eine eigenständige Aufführungsgeschichte aufweisen wird. Formal und ästhetisch vorbereitet wird diese Öffnung der Form in Germania Tod in Berlin, einer Drama und Prosa miteinander verknüpfenden losen Szenenfolge von dreizehn Bildern.20 Entgegen dieser losen Aneinanderreihung einzelner Bilder weist Zement eine auf Konflikt gegründete Fabel mit einer »durchgängige[n], chronologisch linear ablaufende[n] Handlung«21 auf – Wiederaufbau des Zementwerkes, Geschlechterkampf zwischen Gleb und Dascha – sowie einen Wechsel zwischen klassischem Blankvers und freien Versen, während die antiken Zwischentexte in Prosa verfasst sind. Zudem gab es in der Entstehungsphase die Überlegung, das Stück klassisch in fünf Akten anzulegen; eine weitere sah vor, alle Szenentitel aus der griechischen Mythologie abzuleiten.22 Letztlich entstanden ist ein Drama, das aus insgesamt vierzehn Szenen besteht. Fünf von ihnen tragen die Titel Heimkehr des Odysseus, Befreiung des Prometheus, Herakles 2 oder die Hydra, Medeakommentar und Sieben gegen Theben – und machen bereits die Verschränkung der Vorlage Gladkows mit antiken Themenkomplexen kenntlich. Zudem weisen innerhalb des Werkes das Baumaterial Zement auf das frühere Produktionsstück Der Bau, die Szene Die Bauern auf das Drama Die Umsiedlerin sowie die Befreiung des Prometheus auf die Antike-Bearbeitungen Prometheus nach Aischylos und Herakles 5 zurück. Der Blick auf die Szenentitel allein zeigt jedoch noch nicht, wie Produktionsstück und antike Mythologie hier tatsächlich ineinandergreifen. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die drei zentralen Figuren an Figuren aus der griechischen Mythologie angeschlossen sind: Gleb an Odysseus, Dascha an Medea, Kleist an Prometheus und, folgt man hier den Regievorschlägen Müllers23, das Figurenensemble insgesamt an Herakles 2 oder die Hydra. Zudem werden die drei Prosatexte in der Dramenhandlung sehr genau vorbereitet24 und sind deswegen nicht als allein stehende Textblöcke oder gar »Fremdkörper«25 zu betrachten. Bereits der zweite Szenentitel Heimkehr des Odysseus26 parallelisiert nicht nur den von seiner zehnjährigen Irrfahrt heimkehrenden antiken Helden Odysseus mit dem aus dem russischen Bürgerkrieg heimkehrenden Revolutionär Tschumalow, sondern zugleich den russischen Bürgerkrieg mit dem trojanischen Krieg. So gesehen ist die griechische Mythologie Subtext des Produktionsstückes oder

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umgekehrt das Produktionsstück Subtext des Mythos, was mit der staatlich verordneten Mythologisierung des sozialistischen Aufbaus zunächst nicht im Widerspruch steht.

Funktion der Prosatexte Der erste und kürzeste dieser Prosatexte wird in der Szene Befreiung des Prometheus in dem Moment in das Drama eingeführt, in welchem der aus dem Bürgerkrieg heimgekehrte Tschumalow dem Ingenieur Kleist »die Hände« zum Würgegriff »um den Hals legt«, weil dieser ihn vor drei Jahren mit vier anderen Kommunisten an die Weißen verraten und damit der Verhaftung und Folter ausgeliefert hatte, die er als Einziger, »aufgestanden aus [dem] Blut«27 der Anderen, überlebt hat. Folgt man Müllers Regievorschlägen weiter, beginnt der Darsteller des Tschumalow nun den Text zu sprechen, dem hier die Funktion eines »Tableau«28 zukommt, einer Stillstellung und Unterbrechung des Geschehens in einem Bild. Darin heißt es:

In der Ilias erzählt der blinde Homer, wie vor viertausend Jahren der Grieche Achilles vor Troja Rache nahm für den Tod seines Freundes Patroklos an dem Trojaner Hektor, der ihn getötet hatte in der Schlacht. Achilles begann die Schlacht neu, die schon aufgehört hatte, indem er seine Soldaten vor sich hertrieb und alles totschlagen ließ, was nicht Hektor war, Trojaner und Griechen: Seine Suche war die Schlacht.29 Im Folgenden wird, in maßloser Überzeichnung der Gewalt, Achilles tödliche Rache an Hektor dargestellt. Das Tableau endet damit, dass Achilles den Leichnam Hektors, in welchen er, um das Gewicht zu erhöhen, Erde hat »stopfen« lassen, an dessen Familie »gegen eine Ladung Gold vom dreifachen Gewicht des Leichnams«30 verkauft. Direkt im Anschluss daran läuft die unterbrochene Dramenhandlung weiter und zeigt den Konflikt auf, in dem sich der zurückgekehrte Revolutionär und »Krieger«31 Tschumalow befindet, weil er – zerrissen zwischen Kalkül und Rache – den Bürger Kleist einerseits zum Aufbau des Zementwerkes notwendig braucht. Andererseits will er an dem Verräter Kleist den Tod seiner Genossen rächen. Die Unterbrechung hat hier die Funktion der Affektkontrolle, genauer der Überführung von privater Rache in kollektive Politik: Anstatt Kleist zu erwürgen, versucht Tschumalow nun, ihn dazu zu überreden, den Wiederaufbau mit ihm gemeinsam in die Hand zu nehmen. Doch der Ingenieur weigert sich.

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Woraufhin Tschumalow ihn, dem Bürgerkriegsrecht der Revolution folgend, kurzerhand enteignet, genauer seinen »Kopf«: Genosse Ingenieur, Sie sind enteignet. Ihr Kopf gehört der Revolution von jetzt ab. Und steht unter dem Schutz der Sowjetmacht […] Wir haben eine neue Welt zu baun. Ihr Hut hat sie verlassen, Bürger Kleist. Mag er zum Teufel gehn, der Kopf ist unser. Und keine Sklaven mehr und keine Herrn.32 An dieser Stelle unterbricht der zweite, deutlich längere Prosatext die Handlung. Dieser ist, wie der erste, ebenfalls dem Szenentitel Befreiung des Prometheus zugeordnet und kann, Müllers Hinweisen zufolge, vom Kleist-Darsteller, d. h. vom Ingenieur und Bürger gesprochen werden. In der folgenden bis zur Groteske überzeichneten Darstellung der Befreiung des Prometheus taucht erstmals Herakles auf, und zwar als die aus dem Kurz-Drama Herakles 5 bereits bekannte, noch nach Stallmist stinkende Figur, die nun, den ebenfalls nach Kot stinkenden Prometheus zuletzt mit bloßen Händen aus seinen bereits völlig verrosteten Fesseln löst, welche von diesem »[b]rüllend und geifernd, mit Zähnen und Klauen« gegen den »Zugriff des Befreiers« verteidigt werden. Selbst als Prometheus »schon gehen konnte«, wehrt er sich noch so heftig gegen seine »Befreiung«, dass Herakles »ihn auf den Schultern vom Gebirge schleppen« muss. Der zweite Prosatext endet – nach dem Tod der Götter, welche sich einer nach dem anderen aus dem Himmel stürzen – damit, dass Prometheus letztlich auf »der Schulter seines Befreiers« die »Haltung des Siegers ein[nimmt], der auf schweißnassem Gaul dem Jubel der Bevölkerung entgegenreitet.«33 Weder der sich mit »Zähnen und Klauen« gegen seine »Befreiung« wehrende Titan Prometheus noch der nach Stallmist stinkende Herakles entsprechen hier der griechischen Mythologie beziehungsweise ihrer »gräko-sowjetischen Stilisierung«34. Eine Brechung oder Transformation erfahren beide Figuren jedoch nicht erst in Zement, dies geschieht bereits in Müllers früheren Antike-Bearbeitungen. Kurz gefasst lässt sich von Prometheus sagen, dass der zwischen »Leistung und Eitelkeit, […] Unsterblichkeit und Todesangst«35 schwankende bürgerliche Held nicht mehr zum »Exemplum des Menschen der Aufklärung«36 taugt, wie er in der Tradition von Goethe und Marx auch für den Sozialismus als »heroische Schlüsselfigur«37 gedeutet worden ist. Vielmehr erscheint er als jener widersprüchliche Revolutionär38, den

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schon Hegel folgendermaßen beschrieben hat: Er [Prometheus] bringt den Menschen das Feuer und dadurch die Möglichkeit, für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse, für die Ausbildung der technischen Künste usf. zu sorgen. […] Die für das Leben nötige Weisheit hatte nun zwar der Mensch dadurch, die Politik aber nicht: denn diese war noch beim Zeus […]. Das Feuer und die Geschicklichkeiten, die sich des Feuers bedienen, sind nichts Sittliches in sich selbst […], sondern treten zunächst nur in den Dienst der Selbstsucht und des Privatnutzens, ohne auf das Gemeinsame des menschlichen Daseins und das Öffentliche des Lebens Bezug zu haben.39 Auch Müllers Prometheus übergibt den Menschen nur einen Teil seines Verstandes und schließt ihre »völlige Emanzipation«40 damit kalkuliert aus. Er bleibt demnach als Revolutionär unvollendet. Herakles dagegen bleibt in Herakles 5 als Revolutionär einsam. Zwar gelingt ihm die Durchbrechung sowohl »des historischen Kreislauf[es]«41 als auch des mythischen »Prätextes«42, welcher ihm seine Rolle vorgibt. In Müllers dramatischer Bearbeitung von Herakles’ fünfter Aufgabe entwickelt dieser sich, anders als Prometheus, sogar zum neuen Menschen, indem er Arbeit und Verstand nicht nur miteinander zu verbinden,43 sondern zugleich beides in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen weiß. Und Herakles ist es, der die Götter stürzt. Doch folgt ihm Theben nicht. So bleibt – wie sein gesamter Emanzipationsprozess – auch sein letzter revolutionärer Akt: »Herakles rollt den Himmel ein und steckt ihn in die Tasche«44 ein rein privater. Vor diesem Hintergrund erscheint die Befreiung des Prometheus in Zement als ein gewagtes, fast unsinniges Unterfangen, welches die Wiederherstellung der alten Klassenordnung: Herakles als Arbeiter, der Bürger Prometheus als Sieger, bedrohlich mit sich führt. Darauf verweist der zweite Prosatext am historischen Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik – und er kann deswegen auch ganz im Sinne Müllers in seiner Funktion als »Kommentartext«45 verstanden werden, welcher modellhaft auf die Handlungsebene bezogen ist. Deutlicher noch tritt dieser Bezug in dem ursprünglichen, von Müller jedoch gestrichenen Schlusssatz zu Tage: Als Herakles / der Arbeiter mit dem Feuerbringer der / soviel gekostet hatte und dann überflüssig geworden war, in der Ebene ankam, war sein Leib eine Narbe / mit Felsen gespickt.46

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Herakles kommt zu spät »in der Ebene« an, wie auch Tschumalows Ringen um den »Kopf« von Kleist, der so dringend für den Aufbau gebraucht wird, zu spät kommt: Die NEP greift bereits, auch wenn der »10. Parteitag«47 sie erst noch beschließen wird – und schafft erneut Unterdrückung, Entfremdung, Klassenverhältnisse. In seiner Autobiographie Krieg ohne Schlacht bezeichnet Müller das Drama Zement selbst als »ein zu spät geschriebenes Stück«. Es habe »im Verhältnis zum behandelten Stoff etwas sehr Beruhigtes, etwas Abgehobenes«48, was nicht zuletzt auf die Verschränkung von Mythos und Revolution zurückzuführen ist, folgt ein Mythos doch weder der Gesetzmäßigkeit des Fortschritts noch den Gesetzen der Geschichte. Das unterscheidet das im Auftrag entstandene Stück Zement beispielsweise grundlegend von der zwölf Jahre zuvor entstandenen Komödie Die Umsiedlerin, die vor dem Hintergrund des Mauerbaus plötzlich zum Kommentar der realen Ereignisse werden konnte, deswegen verboten und Müller als Konterrevolutionär fast verhaftet wurde.49 Zement dagegen ist in seiner Anlage als Gedenkstück konzipiert, in welchem im Grunde zwei Mythen miteinander verschränkt werden – die Antike und die russische Revolution als sozialistischer Gründungsmythos, wobei der sozialistische den griechischen nicht dialektisch aufzuheben vermag. Denn auch wenn das erste Intermedium durchaus modellhaft den Abstand zwischen Mythos und Revolution vermisst – Tschumalow übt keine private Rache an Kleist wie Achilles an Hektor, sondern handelt im politischen Interesse des Gemeinwesens –, bleibt in der Bezugnahme auf den Mythos die in Befreiung des Prometheus dargestellte Gefahr, dass die Revolution unvollendet ins Mythische zurückfällt, d. h. marxistisch gesprochen in eine Welt, welche nur Unterdrücker und Unterdrückte oder Klassen kennt, notwendig bestehen.50 Das ist auf der Ebene der Intermedien die Ausgangssituation für den dritten und längsten Prosatext Herakles 2 oder die Hydra, welcher direkt auf die Szene Die Bauern folgt. Er steht damit an zentraler Stelle im Drama. Und zwar unterbricht er die Handlung in dem Augenblick, in welchem die russischen Revolutionäre vom Scheitern der Revolution in Deutschland erfahren. Nachdem der Vorsitzende des Exekutivkommitees Badjin, welcher zuvor den »Bürger[n] Kosaken Bauern« die Aufhebung der »Ergänzungsnorm«, einer »Zwangsauflage« für die Rote Armee, sowie die Wiederherstellung von »Hab und Gut« und »freie[m] Handel«51 verkündet hat, auf die Frage des Kommunisten Borschtschi: »Was hört man in der Stadt, Genosse […], von der Revolution in Deutschland?« antwortet: »Es gibt keine Revolution mehr in Deutschland«52, wird die Szene folgendermaßen eingefroren:

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Langes Schweigen. Badjin und Borschtschi stehen nebeneinander, jeder mit sich selbst allein. Borschtschi bewegt seinen Nacken, wie in einem Joch, sieht die Sterne. BORSCHTSCHI Sterne.53 Im Grunde kommt das Drama hier an einen Endpunkt: Die Revolutionäre sind plötzlich jeder auf sich selbst zurückgeworfen, wie sich unter den Worten Badjins auch »der Block der Bauern und Kosaken von Satz zu Satz in immer kleinere Einheiten, zuletzt in die einzelnen Bauern und Kosaken« aufgelöst und die »Menge […] sich, lärmend und gestikulierend«54 zerstreut hat. Der Blick Borschtschis geht zu den Sternen. Im deutlichen Kontrast zum nach oben gerichteten Blick, der vom Funktionär Badjin – »Ich interessiere mich nicht für Astronomie«55 – sofort in Wissenschaft aufgehoben wird, steht die absolute Immanenz des Waldes »ohne Himmel«56 im dritten und letzten Prosatext Herakles 2 oder die Hydra. Und wie die Revolution im Blick zu den Sternen weit zu ihren Anfängen zurückgeworfen wird, so wird auch Herakles hier im Dodekathlos seiner Arbeiten zurückgeworfen, und zwar zu seiner zweiten Aufgabe: der Tötung der neunköpfigen Hydra. Lange glaubte er noch den Wald zu durchschreiten, in dem betäubend warmen Wind, der von allen Seiten zu wehen schien und die Bäume wie Schlangen bewegte, in der immer gleichen Dämmerung der kaum sichtbaren Blutspur auf dem gleichmäßig schwankenden Boden nach, allein in die Schlacht mit dem Tier.57 Neben Prometheus und Herakles spielt auch die Hydra im Revolutionsmythos eine wesentliche, zudem doppelgesichtige Rolle. Zum einen versinnbildlicht sie den Klassenfeind, die Bourgeoisie, zum anderen das kämpfende Proletariat. Diese im Revolutionsmythos angelegte Doppeldeutigkeit der Hydrafigur wird im Titel Herakles 2 oder die Hydra dann manifest, wenn auf der Handlungsebene die Bürgerkriegslogik nicht mehr greift. Damit berührt das Intermedium die eigentlich entscheidende Problematik des Revolutions- und Produktionsstückes: Wie nämlich lässt sich die Revolution verstetigen, wenn sie in Deutschland gescheitert ist und mit dem Ende des Bürgerkrieges der Kampf sich strukturell verändert hat, weil die Fronten des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie undeutlich werden, wenn es darum geht, »eine neue Welt zu baun«58? Entsprechend wird der »Hauptkampf« jetzt »nicht mehr in den Gebirgen und Steppen geführt«, sondern im »Sumpf« von »Anarchie, Korruption, Sabotage«59, den die NEP

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begünstigen wird. Und wie lässt die Revolution sich vollenden, wenn der Aufbau des proletarischen Staates diejenigen »Köpfe der Bourgeoisie« braucht, welche »Kenntnisse und Erfahrungen« enthalten – und man »Köpfe« nicht »enteignet […], indem man sie abschlägt«60? Auf diese Fragen gibt das Stück eine Antwort in zwei Varianten, erstens: den Kapitalismus ausbeuten. »Da wir den Kapitalismus nicht beseitigen können, werden wir den Kapitalismus ausbeuten. Konzessionen, Kredite«61, lautet sie beim späteren NEP-Funktionär Badjin. Zweitens: vom Kapitalismus lernen. »Lernen wir vom Kapitalismus«62, spricht lachend Tschumalow zum Ingenieur Kleist; »Bürger Kleist / Was sagt die Bourgeoisie zu dieser unsrer / Proletarischen Hydra?« fragt ihn später, am »Schaltwerk der Förderbahn«, Polja.63 Während es dem Schlosser Tschumalow dabei um das technische Produktionswissen für den Aufbau des Zementwerkes geht, formuliert der Technokrat Badjin eine umfassende Kriegsstrategie, die versucht, den Feind mit den eigenen Mitteln zu schlagen. Beide Versionen setzen auf je unterschiedliche Weise auf die durchaus riskante »Verwertung der Arbeitskraft« der »Feinde des Sozialismus« durch den »proletarischen Staat«64 und in beiden wird der Staat damit doppelgesichtig: Hydra und/oder Herakles zugleich.65

Klassenkampf als Arbeit in Herakles 2 oder die Hydra Vor diesem Hintergrund setzt das dritte Intermedium in Zement nun eine andere »Schlacht« ins Bild, die nicht mehr in der einfachen Freund-Feind-Dialektik des Bürgerkrieges – Proletariat gegen Bourgeoisie bzw. Rot gegen Weiß – zu fassen ist. Deswegen erscheint Herakles auch weder als antiker noch als sowjetischer Held, sondern als der weder dem griechischen Mythos noch dem Revolutionsmythos zurechenbare »Unbenannte«66.

Kein Gedanke mehr, das war die Schlacht. Sich den Bewegungen des Feindes anpassen. Ihnen ausweichen. Ihnen zuvorkommen. Ihnen begegnen. Sich anpassen und nicht anpassen. Sich durch Nichtanpassen anpassen. Angreifend ausweichen. Ausweichend angreifen. Dem ersten Schlag Griff Stoß Stich zuvorkommen und dem zweiten ausweichen. Umgekehrt. Die Reihenfolge ändern und nicht ändern. Dem Angriff begegnen mit gleicher und (oder) andrer Bewegung.67

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Was hier in der Taktik von Anpassung und Nicht-Anpassung in Erscheinung tritt, weist nicht zufällig Merkmale – »Irregularität, gesteigerte Mobilität des aktiven Kampfes und gesteigerte Intensität des politischen Engagements«68 – des »modernen Partisanen«69 auf. In Carl Schmitts Theorie des Partisanen ist der »Berufsrevolutionär«70 Lenins dieser »moderne Partisan« par excellence. Denn »Lenin«, so Schmitt, war es, der die Unvermeidlichkeit der Gewalt und blutiger revolutionärer Bürger- wie Staatenkriege erkannte und deshalb auch den Partisanenkrieg als ein notwendiges Ingredienz des revolutionären Gesamtvorganges bejahte. Lenin war der erste, der den Partisanen mit vollem Bewußtsein als eine wichtige Figur des nationalen und des internationalen Bürgerkrieges begriff und in ein wirksames Instrument der zentralen kommunistischen Parteileitung zu verwandeln suchte. […] Für Lenin gehört der Partisanenkrieg zur Methode des Bürgerkrieges und betrifft, wie alles andere, eine rein taktische oder strategische Frage der konkreten Situation. Der Partisanenkrieg ist, wie Lenin sagt, »eine unvermeidliche Kampfform«, deren man sich ohne Dogmatismus oder vorgefaßte Prinzipien ebenso bedient, wie man sich anderer, legaler oder illegaler, friedlicher oder gewaltsamer, regulärer oder irregulärer Mittel und Methoden nach Lage der Sache bedienen muß. Das Ziel ist die kommunistische Revolution in allen Ländern der Welt; was diesem Ziele dient, ist gut und gerecht. […] Was Lenin bei Clausewitz lernen konnte und gründlich gelernt hat, ist nicht nur die berühmte Formel vom Krieg als der Fortsetzung der Politik. Es ist die weitere Erkenntnis, daß die Unterscheidung von Freund und Feind im Zeitalter der Revolution das Primäre ist und sowohl den Krieg wie die Politik bestimmt. Nur der revolutionäre Krieg ist für Lenin wahrer Krieg, weil er aus absoluter Feindschaft entspringt. Alles andere ist konventionelles Spiel. […] Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung. Der folgerichtige Vollzug einer absoluten Feindschaft gibt ihm seinen Sinn und seine Gerechtigkeit. Die Frage ist also nur: gibt es einen absoluten Feind und wer ist es in concreto? Für Lenin war die Antwort keinen Augenblick zweifelhaft, und seine Überlegenheit über alle andern Sozialisten und Marxisten bestand darin, daß er mit der absoluten Feindschaft Ernst machte. Sein konkreter absoluter Feind war der Klassenfeind, der Bourgeois, der westliche Kapitalist und dessen Gesellschaftsordnung in jedem Lande, in dem sie

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herrschte. Die Kenntnis des Feindes war das Geheimnis von Lenins ungeheuerlicher Schlagkraft. Sein Verständnis für den Partisanen beruhte darauf, daß der moderne Partisan der eigentliche Irreguläre und dadurch die stärkste Negation der bestehenden kapitalistischen Ordnung geworden und zum eigentlichen Vollstrecker der Feindschaft berufen war.71 Lenin sprengt also in seiner Kriegstheorie die »Sprache und Begriffswelt des gehegten Krieges und der dosierten Feindschaft«, die dem »Einbruch der absoluten Feindschaft nicht mehr gewachsen«72 sind. Der »gehegte Krieg« zwischen Staaten wird so zum entgrenzten »Weltbürgerkrieg« der Klassen, dessen wichtigste Figur der Partisan als Parteianhänger73 und dessen Grundlage die »absolute Feindschaft« ist. Was Lenin hier unternimmt, ist der Versuch der Verstetigung des Irregulären im Regulären oder des Regulären im Irregulären, d. h. des Partisanen im Staat bzw. des Staates im Partisanen. In diesem Versuch wird die Figur des Partisanen, der irregulär nur deswegen sein kann, weil er gegen eine reguläre Ordnung kämpft, letztlich unmöglich. Eine ähnlich paradoxe Struktur zeigt sich in der von Lenin 1921 eingeführten, den Kriegskommunismus ablösenden NEP im strategischen Versuch, den Feind – die Hydra – staatlich kontrolliert einsetzen und ausbeuten zu können.74 Die Irregularität des Partisanen mit der Regularität des Staates zu verschränken, funktioniert allerdings nur dann, wenn immer und unzweifelhaft klar bleibt, wer der Feind »in concreto« ist. Folgt man Schmitts Analyse weiter, dann ist das im nicht gehegten Partisanen-, d. h. »revolutionären Parteien-Krieg«75 gerade nicht der Fall, weil er wesentlich auf Kriminalisierung des »absoluten Feindes« und nicht auf Anerkennung des »wirklichen Feindes« als Gestalt »unserer eigenen Frage«76 beruht. Während in Müllers Zement die Berufsrevolutionäre Badjin und Tschumalow beide zwar strategisch jeweils auf den Kapitalismus als »absoluten Feind« bezogen und damit dem Paradigma des »Weltbürgerkrieges« verhaftet bleiben, nähern sie sich diesem zugleich in je unterschiedlicher Form – Ausbeuten/Lernen – an. In Folge dieser strategischen Bezugnahmen auf den Feind befindet sich der »Unbenannte« aus Herakles 2 oder die Hydra in der Situation der absolut gewordenen Ununterscheidbarkeit von Freund oder Feind. Dieser begegnet er mit einer im Laufe des Textes rasant zunehmenden Mobilität und Intensität. [I]m Gewirr der Fangarme, die von rotierenden Messern und Beilen nicht, der rotierenden Messer und Beile, die von Fangarmen

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nicht, der Messer Beile Fangarme, die von explodierenden Mienengürteln Bombenteppichen Leuchtreklamen Bakterienkulturen nicht, der Messer Beile Fangarme Minengürtel Bombenteppiche Leuchtreklamen Bakterienkulturen, die von seinen eigenen Händen Füßen Zähnen nicht zu unterscheiden waren […].77 Die Mobilität seines Kampfes, genauer seine taktische Bewegungsfreiheit steigert sich im Verlauf des Textes dabei bis zur äußersten Geschwindigkeit und Form: »sich immer neu zusammensetzend aus seinen Trümmern in dauerndem Wiederaufbau«. Die »pausenlosen Schmerzen« und deren »plötzliche Steigerung in das nicht mehr Wahrnehmbare« als »einzige[m] Barometer« des Kampfes machen die Intensität seines Kampfes aus, in welchem er seinem politischen Auftrag, der »gänzliche[n] Vernichtung des Tieres« folgend, weiter unaufhörlich »Schrumpfköpfe und Stehkragen« kappt, »die Stümpfe zum Stehen bringt« – »Säulen aus Blut«.78 »Tellurischen Charakter«79 hat sein Kampf noch dort, wo er den Wald nicht verlässt und auf der Stelle, mehr defensiv als offensiv kämpft. Allerdings erfährt an diesem Punkt, wo er, den Wald nicht verlassend, den Krieg nicht im »proletarischen Weltbürgerkrieg«, sondern auf der Stelle, in kaum zu erkennender Unterscheidbarkeit des Feindes, auch gegen sich selbst führt, die »Schlacht« plötzlich eine Transformation: Ausgehend von der »gänzlichen Vernichtung« des (Klassen-)Feindes wandelt sie sich zur Arbeit des Einzelnen am »Feind« als »Gestalt« seiner »eigenen Frage«. [L]ernte er den immer andern Bauplan der Maschine lesen, die er war aufhörte zu sein anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt, und dass er ihn dachte änderte schrieb mit der Handschrift seiner Arbeiten und Tode.80 Dem Vorschlag Müllers folgend wird der dritte Prosatext vom gesamten Ensemble gesprochen. Der auf sich selbst zurückgeworfene Einzelne bleibt damit nicht einzeln, sondern tritt in eine neue Form des Kampfes ein. Nicht mehr gehorcht er der Stimme einer Partei, sondern folgt der vielstimmigen Einstimmigkeit des Kollektives. Sie vereint in sich nun alle Widersprüchlichkeiten der Revolution an ihrem riskanten Umschlagpunkt in eine neue Politik: »Arbeiter[], Parteifunktionäre[], Intellektuelle[], Banditen, Kommunisten, Mitläufer[] und Feinde[] der Revolution, Männer[] und Frauen«. In diesem Sinn wird in Herakles 2 oder die Hydra jenes mit dem Blick zu den Sternen verspannte Revo-

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lutions-»Joch«, in welchem Borschtschi »seinen Nacken« bewegt hat, in die Immanenz einer unaufhörlichen und vielfältigen politischen Arbeit am »wirklichen Feind« überführt. Und »Arbeit« wiederum ist »Hoffnung«81.

Den Bauplan der Maschine lesen 1962 trifft Heiner Müller im Zusammenhang mit dem Verbot der Umsiedlerin und den daraus folgenden Konsequenzen eine dramenästhetische Entscheidung: »Es geht eben nicht mit Realismus«82. In dem Revolutions- und Produktionsstück Zement, das ihn nach über zehnjähriger Zwangspause wieder zurück auf eine Bühne der DDR holt – im westlichen Ausland wird Müller längst gespielt –, zieht er mit den Zwischentiteln und Intermedien sowie innerhalb der Dialoge eine mythische Kommentar- bzw. Reflexionsebene ein, welche dialektisch auf die Handlungsebene bezogen ist, ohne jedoch den einen Mythos im anderen einfach aufzuheben. Das macht schon die Differenz zwischen Dramendialog und Prosatext in der Form deutlich. Im Umgang Müllers mit den antiken Prätexten wird eine produktive Aneignung oder Arbeit am Mythos sichtbar, welche sowohl die »gräko-sowjetische Stilisierung« der Revolution im Revolutionsmythos aufzubrechen vermag als auch die Festsetzung der griechischen Mythologie im bürgerlichen Bildungskanon. Dabei spielen die Arbeiten des Herakles eine zentrale Rolle, machen sie doch den Mythos auf eine Richtung hin transzendent. So kämpft der »Unbenannte« in Herakles 2 oder die Hydra zwar einen durchaus mythischen, weil endlosen, gewaltsamen und blutigen Kampf gegen einen Gegner, welcher in der Schlacht nur mehr an Stärke gewinnt. Aber er tut dies im Auftrag, die Arbeit zu vollenden. Selbst als gegen Ende des letzten Prosatextes sowohl der Gegner als auch der Kampf eine neue Qualität erreichen, die Hydra sowie Herakles zur Maschine geworden sind und der Schauplatz im »weißen Schweigen« derart eingefroren wird, dass der »Unbenannte« ihren oder seinen eigenen »immer anderen Bauplan« nicht nur zu »lesen«, sondern zu »denken ändern schreiben«83 weiß und sich darin die »Hochzeit von Mensch und Maschine«84 beziehungsweise das Ende der Geschichte ankündigt, endet seine Arbeit nicht. Diese Lesart auf ein Offenes hin, das eine Richtung aufweist, die aus dem Mythos – als der »Maschine, an die immer neue und andere Maschinen angeschlossen werden können«85, auch die des Revolutionsmythos – herausführt, ergibt sich allerdings nur dann, wenn Herakles 2 oder die Hydra im engeren Kontext des Dra-

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mas und im weiteren Kontext als dem historischen Versuch der Verstetigung der Revolution verbleibt. Eine etwas andere Lesart ergibt sich, wenn man das Intermedium als vom Drama unabhängige, eigenständige Szene betrachtet. Bereits 1974 ist Herakles 2 oder die Hydra in einer DDR-Prosaanthologie erschienen, auch taucht es als »Material« im Material-Band von Frank Hörnigk auf und wird als selbständiger Text in den ersten Prosaband der Gesamtausgabe aufgenommen.86 Betrachtet man den Text für sich, so wird er seiner Funktion im Drama enthoben – und erscheint »verrätselt«87, »polyvalent«88, »irreduzibel«89, »rhizomatisch«90, »polyperspektivisch«91, insgesamt als »Text-Wald«92 und ist als solcher nur mehr ästhetisch fassbar. Nimmt man das »weiße Schweigen«, in welchem »der Unbenannte« lernt, »den Bauplan der Maschine« zu lesen, als im Werk Heiner Müllers nicht nur an dieser Stelle auftauchende Allegorie des Kalten Krieges im Sinne einer eingefrorenen, d. h. still gestellten Geschichte93, dann befindet sich der mythische, schwer entzifferbare Gewaltzusammenhang aus »Messer[n] Beile[n] Fangarme[n] Minengürtel[n] Bombenteppiche[n] Leuchtreklamen Bakterienkulturen« auf »beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber«94, mit dem einzigen Unterschied, der darin besteht, dass es auf der einen Seite noch die wie auch immer zu erledigende kollektive Arbeit gibt. Lektüren, welche Herakles 2 oder die Hydra als rhizomatisch-irreduziblen Textwald betrachten, laufen demnach Gefahr, die Hydra selbst in ihrer absoluten Immanenz, d. h. den Kapitalismus in seiner richtungslosen mythischen Struktur zu erfassen.

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Müller, Heiner: Herakles 5, in: Heiner Müller Werke 3, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2000, S. 397 – 410. 2 Ebd., S. 411 – 448. 3 Müller: Zement, in: W4, S. 379 – 467 (fortan im fortlaufenden Text nachgewiesen). 4 Ebd., S. 399 – 406. 5 Ebd., S. 424 – 428. 6 Müller: Herakles 13, in: W1, S. 237 – 240. Vgl. auch das Gespräch mit Alexander Kluge (1995): Auf dem Weg zu einem Theater der Finsternisse, in: W12, S. 692 – 711, 692. 7 Müller: Drachenoper, in: W3, S. 411 – 448, 427. 8 Vgl. Ziolkowski, Theodore: Mythologisierte Gegenwart. Deutsches Erleben seit 1933 in antikem Gewandt, München 2009. 9 Marx, Karl: »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange – Vorrede«, in: Marx/Engels, Friedrich: Werke, Bd. 40: Karl Marx: Schriften und Briefe. November 1837 – August 1844, Berlin 1985, S. 236. 10 Vgl. Bernhardt, Rüdiger: Odysseus’ Tod – Prometheus’ Leben. Antike Mythen in der Literatur der DDR, Halle/Leipzig 1983, S. 107. 11 Die Uraufführung »trug maßgeblich zur Rehabilitierung Müllers in der DDR bei«. Vgl. W4, S. 582. 12 1950/1951 wird Zement von Fjodor Gladkow wieder aufgelegt. 1956 erscheint »Cement und vier Erzählungen« im Berliner Aufbau-Verlag. Diese Ausgabe beruhte jedoch auf der sogenannten »Redaktion von 1940«, einer von Gladkow selbst stark bereinigten Fassung, vgl. Hartmann/Eggelin: Sowjetische Präsenz, S. 134. 13 1950 veröffentlichte Claudius »eine Erzählung über Hans Garbe, ›Vom schweren Anfang‹, die er später unter dem Einfluß von »Zement« zu dem Roman ›Menschen an unserer Seite‹ (1951) erweiterte (…)«, in: Hartmann, Anne/Eggelin, Wolfgang (Hg.): Sowjetische Präsenz im kulturellen Leben der SBZ und frühen DDR 1945–1953, Berlin 1998, S. 136. 14 Wekwerth, Manfred: Zement, Fernsehzweiteiler, DEFA 1973. 15 Benjamin, Walter: Kritiken und Rezensionen, in: ders.: Gesammelte Schriften III, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1973, S. 61. 16 Vgl. Müller: W4, S. 580 – 581. 17 Vgl. Endnote 13. 18 Vgl. Hartmann/Eggelin (Hg.): Sowjetische Präsenz, S. 135. 19 Zum Begriff und der Funktion der Intermedien vgl. Schütte, Uwe: Arbeit an der Differenz. Zum Eigensinn der Prosa von Heiner Müller, Heidelberg 2010, S. 159 ff. 20 Vgl. ebd, S. 160. 21 Huller, Eva: Griechisches Theater in Deutschland. Mythos und Tragödie bei Heiner Müller und Botho Strauß, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 175. 22 »1 Ithaka / Eumaios / 2 Odysseus und die Freier / 3 Achills Zorn / 4 Penelope / 5 / 6 Medea / 7 / 8 Sieben gegen Theben«, vgl. den Kommentar in: W4, S. 582. 23 Müller: Zement – Anmerkung, in: W4, S. 466. 24 Vgl. Huller: Griechisches Theater, S. 185 ff. 25 Schütte: Arbeit an der Differenz, S. 174. 26 Müller: Zement, S. 383. 27 Ebd., S. 401. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 392. 32 Ebd., S. 403 – 404. 33 Ebd., S. 406. 34 Mierau, Fritz: »›Zement‹ – fünfzig Jahre danach«, in ders.: Fjodor Gladkow; Heiner Müller: Zement, hrsg. v. Mierau, Leipzig 1975, S. 519. 35 Vgl. Müllers Anmerkungen zu Prometheus, in: W4, S. 45. 36 Huller: Griechisches Theater in Deutschland, S. 150. 37 Ebd. 38 Vgl. ebd., S. 152 ff.

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Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über Ästhetik, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1986, S. 54 – 57. 40 Huller: Griechisches Theater in Deutschland, S. 154. 41 Ebd., S. 166. 42 Ebd. 43 Vgl. ebd., S. 168. 44 Müller: Herakles 5, S. 409. 45 Müller: Zement, S. 466. 46 Müller, in: W4, S. 582. 47 Müller: Zement, S. 411. 48 Vgl. Müller: W9, S. 191. 49 Vgl. Braun, Matthias: Drama um eine Komödie. Das Ensemble von SED und Staatssicherheit, FDJ und Ministerium für Kultur gegen Heiner Müllers »Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande« im Oktober 1961, Berlin 1996, S. 53ff. 50 Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988. 51 Müller: Zement, S. 422. 52 Ebd., S. 424. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 422 – 423. 55 Ebd., S. 424. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 404. 59 Ebd., S. 412. 60 Ebd., S. 411. 61 Ebd., S. 413. 62 Ebd., S. 447. 63 Ebd., S. 455. 64 »Anmerkung«, in: Müller: Zement, S. 466 – 467. 65 Darin zeigt sich auch der Zeitbezug des Stückes. Huller weist in Bezug auf Herakles 5 darauf hin, dass die »konkrete Zeitkritik an der DDR der sechziger Jahre […] gerade durch die mythische Figur des Herakles und ihre Deutungstradition in der sozialistischen Literatur als Revolutionär höchst subversiv« ist. »In der Ausbeutung als Sklave eines demokratischen Systems kann eine kritische Haltung zum ›Neuen ökonomischen System (der Planung und Leistung)‹, das auf dem VI. Parteitag beschlossen wurde, mit ihrer Rationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ohne Rücksicht auf das Individuum gesehen werden. […] Das Problem der entfremdeten Arbeit macht das Drama aber auch auf kapitalistische Systeme beziehbar«, in: Huller: Griechisches Theater in Deutschland, S. 173. 66 Müller, Zement, Ebd., S. 426. 67 Ebd. 68 Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1975, S. 19. 69 Ebd., S. 15. 70 Ebd., S. 47. 71 Ebd., S. 48 – 51. 72 Ebd., S. 53. 73 Ebd., S. 16. 74 Auch die 1918 gegründete Rote Armee weist Züge dieser riskanten Struktur auf, denn noch während des Bürgerkrieges geht sie als Staatsarmee mit Wehrpflicht aus der Freiwilligenarmee Roten Garde hervor. 75 Ebd., S. 48. 76 Ebd., S. 85. 77 Müller: Zement, S. 427. 78 Alle Zitate in diesem Absatz ebd. 79 Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 21. 80 Müller: Zement, S. 428. 81 Vgl. Müller: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution, in: W5, S. 11 – 42, hier S. 33. 82 Vgl. Tragelehn, B. K.: Anmerkungen zu »Krieg ohne Schlacht« (Dokument 21), in: Müller: W9, S. 338.

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Müller: Zement, S. 428. Müller: Deutschland ortlos. Anmerkung zu Kleist. Rede anlässlich der Entgegenahme des Kleist-Preises, in: W8, S. 382 – 387, S. 384. 85 Müller: Shakespeare eine Differenz, in: W8, S. 334 – 337, hier S. 336. 86 Auskunft. Neue Prosa aus der DDR, hrsg. v. Stefan Heym, München/Gütersloh/ Wien 1974, S. 132 – 135; Heiner Müller. Material, hrsg. v. Frank Hörnigk, Göttingen, 1989, S. 74 – 77; Müller: Herakles 2 oder die Hydra, in: Müller: W2, S. 94 – 98. 87 Beise, Arnd: »Geburt eines Vampirs. Auto(r)reflexion Heiner Müllers vor und nach 1989«, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften, Bd. 48:2 (2002), S. 165 – 180, S. 164. 88 Schütte: Arbeit an der Differenz, S. 185. 89 Ebd. 90 Lehmann, Hans-Thies: »Raum-Zeit. Das Entgleiten der Geschichte in der Dramatik Heiner Müllers und im französischen Poststrukturalismus«, in: Arnold, Heinz-Ludwig: Heiner Müller, text + kritik, Heft 73, 1982, S. 71 – 81, S. 79. 91 Schütte: Arbeit an der Differenz, S. 193. 92 Ebd., S. 189. 93 Vgl. beispielsweise »Schnee. Eiszeit« in: Müller: Die Hamletmaschine, in: W4, S. 543 – 554, hier S. 553. 94 Ebd., S. 550. 1 All dies sind verschiedene Formen einer Reinszenierung von Mythen. Siehe dazu

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Kleiderständer der Geschichte Mythosrezeption bei Heiner Müller und Volker Braun

Literarisches Recycling ist der grundlegende Modus der Mythosrezeption. Autor*innen akzentuieren in eigenständiger Weise eine Variante einer mythologischen Geschichte, indem sie aus einer langen Tradition Handlungselemente und Motive auswählen, oder sie schreiben sie radikal um. Von der Nachdichtung bis zur Mythoskorrektur sind literarische Mythosrezeptionen plakativ auf Sichtbarkeit und Wiedererkennung angelegt.1 Dem Publikum kann über die spezifische Transformation einer als bekannt vorausgesetzten Tradition eindrücklich die eigene ästhetische Programmatik, die Kunstfertigkeit im Umgang mit dem literarischen Erbe und/oder – last but not least – eine bestimmte Weltdeutung vor Augen geführt werden. Diese Kommunikation mit dem Publikum wird oft in spezifischer Weise gelenkt und auch intensiviert durch Bezüge auf einzelne Werke aus der Rezeptionsgeschichte: Christa Wolfs Medea-Roman etwa setzt sich nicht nur mit Plotelementen und Motiven auseinander, die wesentlich durch Euripides geformt wurden. Sie weist auf diese Tradition und weitere Deutungsgeschichten auch in Motti-Zitaten hin, unter anderem aus Senecas und Euripides’ Medea-Dramen, die den einzelnen Roman-Kapiteln vorangestellt sind.2 Für die Literaturgeschichte sind die intertextuellen Verfahren der literarischen Mythosgeschichte interessant. Die Auswahl der Autor*innen ist eine wichtige Spur, wenn rekonstruiert werden soll, wie wirkmächtige Erzähltraditionen eines Mythos entstehen und von Autor*innen im Resonanzraum ihrer jeweiligen Gegenwart weiter- oder umgeschrieben werden. Das literarische Verfahren und das literaturwissenschaftliche Vorgehen lässt sich parallelisieren: Autor*innen bedienen sich im Prozess des literarischen Recyclings aus dem Fundus der literarischen Rezeptionsgeschichte und staffieren ihre Texte mit Textkleidern oder besser Textkleiderfetzen aus. Literaturwissenschaftler*innen sortieren und gruppieren wiederum Plotstrukturen und Motivgeschichten auf dem Kleiderständer der Interpretation abhängig von ihren Forschungsfragen immer wieder neu. Dabei ist jeweils zu prüfen, in welchem Maße die Sinnkonstitution eines Textes durch markierte Intertextualität bestimmt wird. In Vol-

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ker Brauns Drama Iphigenie in Freiheit ist Goethes Iphigenie auf Tauris der zentrale Referenztext, und eine gute Textkenntnis mag die Lektüre vertieft informieren.3 Allerdings lässt sich mit Blick auf die literarische Zeitdiagnose in Brauns Iphigenie-Text ebenso plausibel argumentieren, es reiche aus zu erkennen, dass es sich um die Wiederverwendung einer Figur aus der klassischen Tradition in neuem zeithistorischem Setting handelt. Ob es für das Verständnis von Heiner Müllers Medeamaterial wichtig ist, Einzeltextreferenzen zu identifizieren, zum Beispiel einen Bezug auf Hans Henny Jahnns Medea-Drama, ist vollends fraglich.4 Auch ohne dieses Wissen ist offensichtlich, dass es eine Medea-Tradition gibt, die der Autor zu eigenen Zwecken präsentiert. Und welche Bedeutung haben solche Referenzen, wenn man nach der Aktualität bzw. Aktualisierbarkeit von (Theater-)Texten in der Gegenwart fragt? In diesem Sinne werden hier zunächst einige weitergehende Überlegungen zur Mythosrezeption angestellt und nach der Funktion und den Effekten, die die Einkleidung von Geschichte in Mythos in zwei Texten von Heiner Müller und Volker Braun haben, gefragt. Daran schließt sich die Frage an, ob und wenn ja in welcher Weise diese Form des Mythosrecyclings heute noch etwas Erhellendes zur Diskussion der Klassengesellschaft und der Klassenfragen beitragen kann. Formen und Funktionen der Mythosrezeption »Ich war Hamlet«,5 so beginnt Heiner Müllers Hamletmaschine. Daraus entwickelt sich ein Ineinanderblenden und -fließen von Gewalthandlungen und -erzählungen aus unterschiedlichsten Zeiten von den »Kaufhallen«6 der Gegenwart zurück zur Antike – die Erwähnung Elektras – und ein dominant destruktiver, seltener ein rächender, das Subjekt zumindest kurzzeitig empowernder Exzess der Vernichtung. Die Gewalt, von der die Figuren Hamlet, Ophelia, Elektra erzählen, die sie ausüben, und für deren Darstellung sie aber eben benutzt, nämlich intertextuell wiederverwertet werden, affiziert in der Hamletmaschine sowohl die dramatische Form als auch die Tradition und die Position des Autors. Die gespaltenen Schädel von Marx, Lenin und Mao liegen im Schnee. Das Foto des Autors wird zerfetzt und landet wie der Hamletdarsteller selbst buchstäblich in der »Scheiße«7. Aber auch das Publikum soll sich nicht alsbald ruhig in seinen Betten liegend wähnen können, denn am Ende werden »Schlafzimmer«8 von Messern heimgesucht. In der Hamletmaschine kommt auch eine mythologische Figur am Rande vor. Der Text ist also nicht durch Mythosrezeption charakterisiert, aber durch Intertextualität. Insofern ist die Hamletmaschine nicht nur für Müllers Umgang mit der Tradition typisch: Mythosrezep-

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tion stellt oftmals nicht ein eigenständiges, in sich abgeschlossenes Bezugsfeld dar, sondern begegnet uns im Zusammenspiel mit anderen kanonischen Texten und deren literarischer Wiederverwertung. Die Hamletmaschine mit der Nennung einer Elektra-Figur (ob man das einen Auftritt nennen kann, wäre zu diskutieren) weist deshalb auch den Weg zu einer Strukturanalogie. Alle intertextuellen Verfahren können ähnliche Funktionen in Texten erfüllen: In intertextuell grundierten Settings vermischen sich Zeitdimensionen sowie Formen des Erlebens und des Erzählens, die über die Kurzformel einer literarischen Figur zusammenfinden oder in einer etwas kritischeren Sicht zusammengezwungen werden. In der mythischen Methode geht es, so hat es beispielsweise Werner Frick in seiner gleichnamigen grundlegenden Studie beschrieben, um das Ausbalancieren von Anschluss- und Abweichungsverhältnissen in den intertextuellen Bezügen, und darum, die jüngeren Texte in der Reihe der literarischen Rezeption eines Mythos in ihrer jeweiligen historischen und kulturellen sowie sozialen Situiertheit zu beschreiben.9 Die Untersuchung der Mythosrezeption in Medea-Texten von Heiner Müller und in Iphigenie in Freiheit von Volker Braun kann dies allerdings nur zum Teil einlösen, und das ist durchaus charakteristisch für einen großen Teil des (post-)modernen Mythosrecyclings. Diese Texte bedienen sich an der Tradition, ohne deren Bedeutungspotentiale und Rezeptionsgeschichten in irgendeiner Weise auszuschöpfen. Sie stehen über Figuren wie Hamlet und Ophelia, Orest und Iphigenie, Medea und Jason zwar demonstrativ in dialogischem Bezug zur Tradition, sind jedoch in ihrer Sinnkonstitution nicht durch die Referenzen auf das literarische Erbe charakterisiert. Der Umgang mit Mythen ist so selektiv und eklektizistisch, und die Figuren sind gleichzeitig so bekannt, dass die Intertextualität einerseits ein unübersehbares Moment der Textkonstruktion darstellt, andererseits aber nicht auf eine interpretative Arbeit an einer bestimmten Mythosversion gezielt wird. Der Zugriff auf die Tradition ist also zugleich exzessiv und selektiv. Auch diese Art des literarischen Recyclings stellt immer noch eine Kommunikation mit den Rezipient*innen über den Wert des kanonischen Erbes dar. Diese Kommunikation funktioniert jedoch völlig unabhängig davon, wie mit diesen Referenzen weiter gearbeitet wird: als hermeneutisches Angebot, sinnstiftend und neue Aspekte der Mythen entschlüsselnd, in neuen Konstellationen bestimmte Bedeutungsdimensionen der Referenztexte entlarvend, tendenziell anti-hermeneutisch, als Verweis auf tote Spuren des kulturellen Archivs oder destruktiv, um Sinnstiftung und deren Geltung zu bestreiten.10

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Intertextuelle Verfahren können sogar gänzlich auf eine demonstrative Geste ausgerichtet sein: Vorgeführt wird, dass über Tradition verfügt werden kann, und dabei wird eine Verweigerung ihrer Sinnhaftigkeit und ihrer Bedeutungspotentiale inszeniert. In Beschreibungen von Müllers und auch Brauns Werken klingt dies manchmal an, zum Beispiel wenn das ästhetische Verfahren als »Materialsteinbruch«11 beschrieben wird: Eine Metapher, mit der die Autoren als Arbeiter im Bergwerk der kulturellen Tradition erscheinen, die sie als nur mehr totes Material vorzeigen. Doch genügt es nicht zu sagen, dass sie die spezifische Sinnkonstitution der Texte kaum ausschöpfen. Denn in einzelnen Texten nutzen sie durchaus konkrete Elemente, um damit überzeitliche Problemkomplexe zu inszenieren: Antike und Gegenwart schießen im Mythos zusammen, die Geschichte bzw. deren Protagonist*innen erscheinen damit immer schon in mythischen Narrativen gefangen. Die Autoren gestalten erstarrte Geschichtsbilder, indem sie Fetzen der Tradition, darunter den Mythos in immer neuen aktualisierenden Kostümierungen, präsentieren. Und damit wäre das erste Problem benannt, warum diese Texte heute nur noch wenig hilfreich sein können für eine aktuelle Kapitalismuskritik. »Antigone schiebt ihren Bruder im Einkaufswagen durchs KZ«12. In dieser Formulierung ist das Problem, das Brauns Iphigenie in Freiheit-Text antreibt, bereits in nuce formuliert: Auf dem Gelände des ehemaligen KZ Ravensbrück soll ein Supermarkt gebaut werden, und Antigone zieht orientierungslos in einem kapitalistischen Setting, das keinerlei Wertorientierung bietet, sondern einzig die Maximierung von Profit kennt, mit ihrem toten Bruder umher. Die Szene ist der Höhepunkt einer politischen Allegorie, in der Kapitalismuskritik mit dem Transformationsprozess in Ostdeutschland nach dem Ende der DDR verknüpft wird: In der ersten Szene, Spiegelzelt, geht es um das sogenannte ›Wende‹-Ereignis, den Zusammenbruch der DDR und das Entlassenwerden aus der ›Gefangenschaft‹; in der zweiten, Iphigenie in Freiheit betitelt, um die deutsche Einheit. In der dritten, Geländespiel, ist die Währungsunion vollzogen und der Kapitalismus zeigt sein hässlichstes Gesicht: auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück steht der schon zitierte Supermarkt. Nach diesen Bezugnahmen auf die real-politischen Etappen folgt in der vierten Szene, Antikensaal, ein zusammenhängender Prosatext, in dem die schon zuvor mehrfach verdeutlichte Zivilisationskritik durch den Tod eines Mannes und das Bild gebärender Natur auf die Spitze getrieben und zu einem seltsam vagen Hoffnungsschlusspunkt zusammengedrängt wird. Die abschließende Anmerkung gibt mit den Schlüsselworten »Kolo-

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nisierung«13 und dem Satz, dass nunmehr Sieger und Besiegte ununterscheidbar wären,14 eine klare Interpretationsanweisung: Braun greift auf diese Befreiungsgeschichte Iphigenies ebenso zurück wie auf die Konstellation Griechen versus ›Barbaren‹, und er überführt diese Elemente in eine politische Allegorie über die Zustände nach 1989. Die ersehnte Heimat entpuppt sich als fremd und unfrei, das Gebiet der ehemaligen DDR erscheint als Kolonie, deren Bewohner plötzlich Opfer einer westdeutschen ›Unkultur‹ von Geld und Verführung werden. Die neue Freiheit erweist sich als eine Gefangenschaft in neuen Verhältnissen. Die Heimat, die Goethes Iphigenie ersehnte, gibt es nicht mehr. Im Supermarkt in Ravensbrück spiegelt sich die weiterwirkende Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in der Gegenwart: Der westliche Kapitalismus, der nun den Osten beherrscht, führt im Titel ein Versprechen von Freiheit mit sich, aber die sogenannte freie Marktwirtschaft schließt nahtlos an den Faschismus an. Der Konsum hat nur eine schönere Fassade. In der Tradition einer antifaschistischen Kapitalismuskritik ist der Hinweis, dass die Vernichtungslogik im Nationalsozialismus innerhalb einer kapitalistischen Logik funktionierte, weiterhin wichtig: An Vernichtung durch Arbeit und Profite durch Zwangsarbeit muss erinnert werden. Für die Diskussion von sozialer Ungleichheit und neoliberalen kapitalistischen Mechanismen in der globalisierten Gegenwart ist mit der Wiederholung dieses Befunds jedoch nicht viel gewonnen. Die Verhältnisse sind weit komplizierter. Eine Zivilisationskritik, die das Wüten roher Gewalt und ihre scheinbar zivilisiertere Überformung in der Konsumkultur und einer Propaganda der Massenmedien anprangert, ist zu grob. Zweifelsohne gibt es Kontinuitäten eines menschenfeindlichen Kapitalismus, und gerade die Klimabewegung hat der Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Produktion und Wertschöpfung, Arbeitsbedingungen, aber eben auch nachhaltigem Konsum und Käufer*innenmacht neue Impulse verliehen. Genau diese Diskurse zeigen aber, dass ein durchaus noch weit verbreitetes Denken in Tätern und Opfern in der Kapitalismuskritik, das auch in literarischen Repräsentationen als Figur ›des Arbeiters‹ topische Qualitäten hat, zu kurz greift. Wer beispielsweise die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in der Textilindustrie in Sri Lanka und Bangladesch kritisiert, kann gleichzeitig in der Corona-Krise darauf hinweisen, dass ebenso das plötzliche Wegbrechen dieser Arbeitsplätze soziale Problem verursacht – um nur ein Beispiel zu nennen. Kapitalismuskritik und die Frage, wie eine veränderte globalisierte Konsumgesellschaft funktionieren sollte, sind komplexer geworden.

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Kapitalismuskritik und Faschismuskritik bleiben jeweils wichtig, und sie finden im Bild des Supermarktes in Ravensbrück einen signifikanten Ausdruck. Dieser zielt allerdings stärker auf die Erinnerungskultur als dass er Erkenntnisse für eine gegenwärtige ›Klassengesellschaft‹ bereit hielte. Braun legt in Iphigenie in Freiheit den Finger in eine Wunde namens Geschichtsvergessenheit, und sie ist verknüpft mit kapitalistischen Strukturen. Für das Nachdenken über Klasse und Klassenbewusstsein im globalisierten Neoliberalismus finden sich jedoch keine Impulse. Dagegen ließe sich einwenden, dass diese Erwartung unpassend sei für die Mythosrezeption, da es in der mythischen Einkleidung von Geschichte per se kein Subjekt gäbe, das sich als Teil einer Klasse zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft wahrnehmen könnte. Tatsächlich lässt sich umgekehrt argumentieren: Gerade Mythosrezeption erlaubt die Arbeit mit konkreten Subjekten und mit der Kategorie der Klasse.

Intertextuelle Mythosmaschine und Gewalt der Geschichte Die intertextuelle Mythos-Maschine ist von Müller bewusst plakativ gestaltet: Der Autor bestückt das Schlachthaus der Welt mit berühmten Toten. Ähnlichkeiten zwischen Volker Brauns und Müllers literarischem Recycling finden sich in der Funktion und der Form, und beides ergibt sich aus ihrer jeweils ins Apokalyptische spielenden Zivilisationskritik: Die Figuren aus der mythologischen Tradition werden in Szenen gestellt, in denen sie ihre Gewalt-Geschichte erzählen, die aber nicht mehr nur ihre Geschichte ist, sondern Teil einer überzeitlichen Gewaltgeschichte der Menschheit. Die Verwandlung von Geschichte in mythologische Erzählung wirkt selbst symbolisch als Stillstellung von Geschichte. Verschaltungen von Zeiten, Räumen und Gewaltformen sind in Müllers Medea-Recycling besonders ausgreifend: Nach der Apokalypse ist immer vor der (nächsten) Apokalypse. Die Gewalterfahrungen werden jeder historischen Spezifik entkleidet. Das lässt sich als ein provozierender Erkenntniseffekt verstehen, insofern Wiederkehr sichtbar und ein naives aufklärerisches Fortschrittsnarrativ befragbar werden. Der Eklektizismus wirkt allerdings auch beliebig und in seiner Wiederholung ermüdend. Im letzten Abschnitt der Hamletmaschine heißt es: »Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis.«15 Es ist die Sprichwörtlichkeit des Herzens der Finsternis, die an Joseph Conrads Roman Heart of Darkness (1899) denken lässt oder auch an Francis Ford Coppolas Film Apocalypse now oder an beide. Aus philologischer Per-

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spektive ist es notwendig darauf hinzuweisen, dass Coppolas Film von 1979 kein Referenzpunkt aus der Entstehungszeit des Textes sein kann. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive und mit Blick darauf, wie man diesen Text für das zeitgenössische Publikum plausibel auf der Bühne mit Augenfutter versehen könnte, spielt das jedoch keine Rolle. Es ist eine so wenig spezifische Referenz, dass Text und Film gleichermaßen passend oder unpassend wirken. Das sprichwörtliche ›Herz der Finsternis‹ ist die von Gewalt durchdrungene Zivilisation selbst, und die Worte der weiblichen Figur bei Müller werden zur Warnrede und gleichzeitig zur wahnhaften Rede der Vergeltung: »Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.«16 Auch das ist nicht gerade spezifisch für die Figur Elektra, die am Anfang der Passage genannt wird, denn Rache ist im Mythos allgegenwärtig. Das Nicht-Spezifische ermöglicht die große Geste der Zivilisationskritik, und Müllers Hamlet und Elektra sind träumend Redende, die zugleich in Distanz zu sich selbst und ihren spezifischen Geschichten gesetzt werden, um auf die Geschicke der Welt blicken zu können. Statt einer explizit kapitalismuskritischen Gegenwartsdiagnostik könnte dieser Modus einen Weg zur Aktualität von Texten Müllers und Brauns weisen. Auffällig an den drei Textblöcken in Müllers Medeamaterial ist, dass ein in seiner Zeitlichkeit nicht festgelegter Sprech-Raum als Zeichen für andauernden Krieg, Apokalypse bzw. einen postapokalyptischen Zustand gestaltet wird. Dass im Nebentext von einer »Gleichzeitigkeit der drei Textteile«17 gesprochen wird, die dann auf der Bühne verschieden angeordnet werden könnten, weist unmissverständlich darauf hin, dass die in der Publikation festgelegte Reihenfolge keine zeitliche Reihung von Apokalypse und Postapokalypse darstellt, die einen zeitlichen Rahmen für den mythisch-konkreten Zustand – Auftritt der Figuren Medea und Jason – bildet. Pointierter als über diese Struktur kann man Fortschritts- und Aufklärungsskepsis kaum ins Bild setzen. Gleichzeitig wird der Medea-Mythos durchaus spezifisch aufgegriffen: Im Medeamaterial nehmen wir Teil an Medeas Kampf um und gegen Jason, und alle bekannten Mythologeme der Erzähltradition vom Mord am Bruder, um Jason zum Goldenen Vlies und zur Flucht zu verhelfen, über Medeas Verrat an ihrer Heimat über den Verrat Jasons, der Kreusa heiraten wird, bis zum tödlichen Brautgeschenk einschließlich Kindermord sind in der Klagerede Medeas zu finden. Anspielungen wie der Blutzauber, der in Franz Grillparzers Medea-Drama

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vorkommt, oder Gewalt und Unrecht, die Medea angetan werden, werden wie schon bei Euripides von Passagen begleitet, in denen Gewalt aus der Perspektive der sich rächenden Figur genussvoll ausgemalt wird. Die Schönheit des Schreckens ist einem vergegenwärtigenden Modus gestaltet, so z. B. der Tod Kreusas: »Jetzt schließt das Gold von Kolchis ihr die Poren / Pflanzt einen Wald von Messern ihr ins Fleisch / Das Brautkleid der Barbarin feiert Hochzeit« usw.18 Medea, die Außenseiterin, Fremde und »Barbarin«19, hat das Brautkleid verhext und eignet sich die ihr zugewiesene Sprechposition mit doppeldeutigem Bezug – das Brautkleid, das sie schenkte, versus das Brautkleid, das Kreusa trägt – an. Diese größtmögliche Imagination von Präsenz wird in »Landschaft mit Argonauten« in eine radikale Selbstdistanz verwandelt: »Soll ich von mir reden Ich wer / Von wem ist die Rede wenn / Von mir die Rede geht Ich Wer ist das«20. Diese Sprechinstanz vereint in sich nicht nur Erfahrungen von Medea und Jason, so dass eine personale Konkretisierung schwerfällt, sondern verfügt zugleich über ein breites historisches Bewusstsein, das an die Gegenwart anschließt – kennt etwa den Jugoslawienkrieg –, und ebenso ein Bewusstsein der literarischen Tradition, die sie sich ebenfalls souverän aneignet: »WAS BLEIBT ABER STIFTEN DIE BOMBEN«21. Hölderlin zu kennen und Hölderlin zu verwandeln ist in diesem Teil des Medea-Materials als poetologischer Kommentar zur metamythischen Sprecherposition erkennbar. Diese Mischung veruneindeutigt auch die misogynen Motive, die an Hans Henny Jahnns Medea anschließen: Insbesondere Medeas Klage über die Beschwernis weiblichen Alterns und über die Zurückweisung durch Jason, der Medea offensichtlich nicht mehr sexuell attraktiv findet, aber auch die mehrfach verwendeten Begriffe »Hündin« und »Hure« changieren zwischen einer Selbsterniedrigung gegenüber Jason und der Selbstermächtigung, die neue Frau Jasons als »Hure« und »Hündin« zu beschimpfen.22 Ebenso ambivalent in der Sprechposition ist die »Barbarin« als erniedrigende Zuschreibung, als Spiegelung einer erniedrigenden Zuschreibung, aber umgekehrt auch als Selbstpositionierung, aus der eine perverse Ermächtigung zu grausamen Taten gezogen werden kann. Das Spiel mit dem Mythos wird hier also konkret in Referenzen und Aktionen, bleibt aber eingebunden in eine zeitenthobene bzw. in ihren historischen Bezügen wechselnde apokalyptische Zeitdiagnostik. Was leisten die Mythosreferenz und der metamythische Zugang, wie sie hier in der Verfügungsgewalt der Figuren über Traditionen aufscheinen? Gewaltdynamiken können an konkrete Szenarien rückgebunden werden, ohne dass sie ausbuchstabiert werden müssen,

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weil ihre Geschichte immer schon als bekannt vorausgesetzt werden kann und als bedeutend: Sie scheinen als Teil des kulturellen Archivs nicht weiter erklärungsbedürftig. Das ist der Effekt in der Rezeption. Aus philologischer Sicht scheint diese Beschreibung eher irreführend, denn der Zugriff auf bestimmte Elemente eines Mythos ist ja als selektive Wahl selbst immer schon Teil einer Interpretationsgeschichte. Dieser Aspekt wird in der Rezeptionssituation allerdings nicht wahrgenommen, weil die Aufmerksamkeit nicht darauf gelenkt wird, was wegfällt, sondern darauf, was ausgewählt wird. Der Kindermord bleibt mit Medea verbunden, selbst wenn Müller ihn im Rahmen anderer Gewalttaten Medeas gar nicht erwähnt. Wollte er sie jedoch im Sinne einer Mythoskorrektur entschulden, wie es in der jüngeren Erzähltradition u. a. bei Christa Wolf geschehen ist, müsste er diese Tat direkt thematisieren und eine alternative Geschichte bieten zur Frage, wer den Mord begangen hat. Die punktuelle Referenz weckt also Erinnerungen an einzelne Mythologeme, präsentiert aber keine besondere Geschichte des reinszenierten Mythos. Als zentraler Effekt ergibt sich, dass konkrete, an Figurengeschichten rückgebundene Gewalt-Schilderungen in überzeitliche Gewaltdynamiken überführt werden, und zwar in der für antike Mythen typischen Verschränkung von Familien- und Gewaltgeschichte. Konflikte und Morde in Geschwister- und Elternbeziehungen im Rahmen gesellschaftlicher Dynamiken, die sprichwörtliche blutige Verwandtschaft in Verbindung mit der Konstruktion von Kulturdifferenzen wie Griechen versus »Barbaren« werden zum Instrument eines verheerenden Geschichtsbildes und einer ebensolchen Gegenwartsdiagnostik. Die zeitlosen und zeitlich immer wieder situierten Figuren erscheinen gefangen in einem Bild, das Zivilisations- und Fortschrittsdynamiken aus der Perspektive des langen 20. Jahrhunderts der Gewalt Hohn spricht. In Brauns Nachwendedrama Iphigenie in Freiheit ist Iphigenie in gleicher Weise eine solche gegenwartsbezogene und zeitlose Figur.23 Neben der spezifischen Referenz auf Goethe wird der metamythische Status im Text explizit betont, so dass hier der Blick auf eine Transformation des Mythos gelenkt wird. Die Figur hat ein Bewusstsein von sich selbst als Effekt einer Einzeltext-Referenz. Sie kennt sich als Goethes Iphigenie, weiß um den Plot und um die Rezeption ihrer Figur für den Diskurs des Humanismus und ist darüber hinaus Spiegelbild ihres Autors. Unübersehbar lässt Braun sie an diesem Status leiden:

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In seinem alten Kopf, mein alter Text An dem ich würgte, den ich kotzte, schrie Gegen die Brandung nachts am nackten Stand Das Land der Griechen mit der Seele suchend.24 Nicht nur Iphigenie, auch Elektra-Orest und Antigone bevölkern in Brauns Text eine Gegenwart, in der die Menschen vor Fernsehern sitzen, und Hunger, politische Demütigungen und Haft als Zitate aufgerufen werden. Trotz konkreter Textbezüge bis hin zu einzelnen Versen ist auch hier der Mythos nur das Fetzenkleid, das die Figuren versuchsweise anprobieren, ohne dass es ihnen Einsichten oder Handlungsmacht verliehe. Die Einzeltextreferenzen auf Goethe wie auch auf Texte von Braun selbst, darunter das berühmte Gedicht Das Eigentum (1990), führen ebenso wenig dazu, dass die Darstellungs- und Erzähltradition des Iphigenie-Mythos ausgeleuchtet würde. Es findet keine Sinnstiftung statt, die dem Verständnis der kanonischen Vorgänger-Texte etwas hinzufügte. Vielmehr dramatisieren die stellenweise figürlichen Identifikationen und Sprechpositionen Selbstdistanzierung, Entfremdung und Ohnmacht. Dies geschieht in ähnlicher Weise wie in Müllers Hamletmaschine, wenn ein Hamlet und ein Hamletdarsteller auftauchen und gleich zum Auftakt des Dramas gesagt wird »Ich war Hamlet«.25 Die Texttoten leben also in der Referenz, aber sie stehen nurmehr als Zitat ihrer selbst auf der Bühne. Dies findet nicht zufällig in Texten statt, die keinem festen Strukturdiktat folgen, sondern zwischen Drama, Erzählung und narrativem Bild changieren. Der Offenheit der Form korrespondiert im Fall von Müllers Medea-Texten auch ein langer Entstehungszeitraum, und die Kombination des Medea-Materials wird deshalb auch als Selbstbefragung des Autors in seinem Umgang mit der Tradition gelesen. In ähnlicher Weise fungieren die Selbstreferenzen Brauns in Iphigenie in Freiheit als eine Selbstbefragung des Autors im Resonanzraum der Gegenwart des vereinten Deutschlands.

Aktualitätsverdacht und Leerstellen Betrachtet man das Ausmaß und die Unerbittlichkeit der Gewalt in den geschichts- und gesellschaftsdiagnostischen Texten von Müller und Braun, müssten beide erneut Autoren der Stunde sein: Unsere Populärkultur ist nicht erst seit ein paar Jahren obsessiv mit apokalyptischen und postapokalyptischen zivilisationskritischen Szenarien beschäftigt, und wenn man von diesem Kontext aus auf die Autoren blickt, er-

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innert der Umgang mit kanonischen Texten an den Night King aus der Serie Game of Thrones, der die Toten in den Schlachten dirigiert und sie, wenn sie einmal niedergemetzelt wurden, erneut mit einer Handbewegung als Kämpfer seiner Armee auferstehen lassen kann. Nur sind die Toten im Fall von Müller und Braun Klassiker-Zitate von Shakespeare oder mythologische Figuren, Wiedergänger als Bestandteil einer dezidiert eklektizistischen Kostümierung von Geschichte, und der Fokus liegt auf Krieg und Zerstörung: Das Publikum wird immer wieder dazu aufgefordert, sich eine Frage zu stellen: Wie verläuft die geschichtliche Entwicklung? Ist eine Wiederkehr von Gewalt unvermeidlich? Ist die ersehnte Befreiung aus der Diktatur vielleicht eine Unterdrückung in neuem Gewand, wie dies Iphigenie in Freiheit in Bezug auf die Wendezeit 1989/1990 und ihre Folgen postuliert? Und welche Handlungsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten haben Menschen in welchen Gesellschaftssystemen? Diese Frage nach Handlungsmöglichkeiten und Verantwortung lässt sich vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit Klasse und weiteren Kategorien an diese Texte so nicht besonders gut stellen. Sie müsste lauten: Welche Handlungsmöglichkeiten haben welche Menschen welcher Herkunft, Klasse, Schicht oder Milieus in welchen Gesellschaftsformen? So formuliert, erscheinen die hier ausgewählten Texte voller Leerstellen. Denn die intertextuellen Wiedergänger-Figuren von Müller und Braun sind zeitlos in der Wiederkehr der Geschichte feststeckende Figuren. Ihre Herkunft aus anderen Texten, wenn Herkunft nicht ausschließlich methodisch-strukturell, sondern zusätzlich konkret figürlich gelesen wird, wird ausgeblendet. Werden mythologische Elemente aufgegriffen, sind sie als Teil einer größeren Erzählung lesbar, ohne dass die ganze Erzählung und ihre Rezeptionstradition explizit aufgerufen werden müssen. Die jeweilige Aufmerksamkeitslenkung auf die aktualisierten, nicht die ausgesparten Elemente ist entscheidend für die Leerstelle Klassenfrage. Müllers Medeamaterial fördert keine Auseinandersetzung mit dem sozialen Status Medeas. Das ist nachvollziehbar, insofern in der allgemeinen Zivilisationskritik die Positionen von Tätern und Opfern nicht vorwiegend klassenspezifisch zugeordnet werden. Und doch ist es verblüffend. Denn die kapitalismuskritischen Marker des Textes – Landschaften aus Müll, die »Zombies perforiert von Werbespots«26 etc. – sind offensichtlich Teil einer Gesellschafts-Apokalypse, die immer auch Arbeit und/oder Konsum thematisiert, also Verhältnisse, die Individuen in einer bestimmten sozialen Position zeigen und damit zumindest eine Brücke in die Analyse klassenspezifischer Konstellatio-

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nen zu schlagen erlaubten. In dieser Weise auf die Tradition Bezug zu nehmen, wäre also ein Weg, wie Mythosrezeption für die Analyse von Klassenzugehörigkeiten aufschlussreich werden könnte. In der literarischen Rezeption des Medea-Mythos spielt Medeas Abstammung immer wieder eine Rolle. Medea ist eine Königstochter, und diese Position wird in der Erzählung des literarischen Mythos ausgehend von Euripides bis zu Christa Wolfs Roman als einem der jüngsten in der Traditionslinie in unterschiedlicher Weise relevant für ihre Herkunfts-, aber auch die Ankunftsgesellschaft und damit für Medeas Migrationsgeschichte zwischen Kolchos und Korinth. Ihre erniedrigende Zuweisung in die Position einer Fremden und »Barbarin« nach ihrer Flucht aus Kolchis wird in solchen Versionen von der Antike bis zur Gegenwartsliteratur in der Tradition im Licht eines Clashs zwischen kultureller Differenz und Klassenzugehörigkeit lesbar. So eine Spezifik findet sich bei Müller nicht. Klassenzugehörigkeiten werden genauso eingeebnet wie historische Differenzen. Ähnliches gilt für Brauns Iphigenie. In Goethes Drama wird die Figur zwischen den Kategorien race, class und gender dagegen durchaus differenziert lesbar, wenn man sich die Figurenkonstellation und deren Selbst- und Fremdzuschreibungen genauer ansieht, wie die Geschlechterforschung und die postkolonialen Studien gezeigt haben.27 Dass der Blick auf die Mehrdimensionalität und Interdependenzen der Positionierungen den kanonischen Text nur noch interessanter machte, ist ein Indiz dafür, dass es bei solchen Interpretationsansätzen keineswegs darum geht, (zu) neue Kategorien auf alte Texte anzuwenden. Ganz im Gegenteil lässt sich so die komplexe Gemengelage der Interkontextualität, d. h. der historischen Situiertheit von Texten im Dialog mit der Tradition, nachzeichnen, die sich gerade mit den »feinen Unterschieden« der Klassen (Bourdieu) auskennt und ebenso geschlechtsspezifische Positionierungen und Handlungsmöglichkeiten differenziert zu gestalten weiß. Die aufgezeigten Leerstellen sind ein zu wenig diskutiertes Problemfeld in Texten Müllers und Brauns. Dies lässt sich an einer zugespitzten These zur Frage der Gruppenzuordnungen verdeutlichen. Sie könnte lauten: Die zivilisationskritischen Diagnosen des andauernden Krieges und der Apokalypse gehen mit einer bestimmten Konstruktion von Männlichkeit einher. Und in diesem Zusammenhang führen die Texte einerseits Sexismus und Misogynie als Element und Effekt einer im Kern verrotteten Zivilisation vor, aber reproduzieren sie teilweise auch. Letzteres bedeutet, dass wir, wenn wir Klassenfragen diskutieren, nicht nur stärker auf zeitspezifische Differenzierungen drängen

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müssen, sondern uns dabei kritisch mit geschlechtsspezifischen Positionierungen in diesen Texten auseinandersetzen sollten. Wer fragt, ob diese Texte aufschlussreich für Gegenwartsdiagnosen sind, kann Fragen von Klassen nicht von den Kategorien Geschlecht und Herkunft sowie Ethnizität trennen. Braun und noch stärker Müller verbinden nicht nur regelmäßig Kapitalismus- mit Faschismuskritik, indem sie Coca-Cola und Auschwitz miteinander ins Bild setzen, sondern gestalten gesellschaftliche Kämpfe immer wieder als Geschlechterkämpfe. Werden darin Sexismus und Misogynie sichtbar, kann man sie, wie bereits exemplarisch angedeutet, als Teil der kritischen Gesellschaftsdiagnose lesen: Die Unterdrückung und Abwertung von Frauen ist Effekt eines bestimmten Weltverhältnisses. Bei Müller heißt es etwa: »SCHLAMMFOTZE SAG ICH ZU IHR DAS IST MEIN MANN / STOSS MICH KOMM SÜSSER / Bis ihm die Argo den Schädel zertrümmert« 28. Darin kann man Medea sprechen hören – die in diesem Teil Verkommenes Ufer allerdings nicht explizit eine figürlich konturierte Sprechposition hat. Umgekehrt zitiert die Rede von den »Weibern«, die das Essen warmstellen und sich um die Betten kümmern, eine zutiefst bürgerliche Phantasie einer geschlechtergetrennten Arbeitswelt, und zwar im Rahmen einer gleichmacherischen apokalyptischen Welt, in der auch die Geburt nur eine Variante einer weiteren Todesart ist. Dass Gewalt durchaus auch von Frauenfiguren ausgehen kann, ändert daran nichts. Das Medeamaterial hat einen Fokus auf Sex und kreatürliche Vorgänge, die nicht nur einfach Ekel erregen, sondern immer wieder die Unterordnung von Frauen wiederholen: Medea ist in diesem Setting prototypisch, insofern sie sich als »Hündin« und »Hure« Jasons erniedrigt, aber eben diese Begriffe auch zur Erniedrigung von Kreusa verwendet. Frauen kämpfen um die Aufmerksamkeit von Männern und haben dabei misogyne Denkmodelle internalisiert. Den Männerfiguren ergeht es zwar im permanenten Kriegszustand auch nicht gut, aber geschlechtsspezifische Beschimpfungen oder Erniedrigungen müssen sie nicht erdulden. Sie leiden als Menschen, Frauen leiden als Menschen und werden darüber hinaus spezifisch in ihrem Frausein angegriffen und erniedrigt. Männer sind Menschen, Frauen Mütter und sexuelle Objekte. Dass sich solche Zuordnungen als kritische Beschreibung einer binären und dabei hierarchisierten Geschlechterordnung lesen lassen, ist vielfach betont worden. Deutlich weniger Aufmerksamkeit hat dagegen gefunden, in welcher Weise in den Texten auch problematische Wiederholungen dieser Denkmuster zu finden sind. Wie bei Müller

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bedeutet auch bei Braun Kreatürlichkeit für beide Geschlechter gleichermaßen Ohnmacht, Leiden, Abhängigkeit, aber es gibt eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Aggressivität in den Texten, die frauenfeindliche Topoi zur Ausmalung des Settings nutzt: Iphigenie wird von ihrem Bruder als Prostituierte (der Begriff wird in einer negativ-abwertenden Konnotation verwendet) und Lügnerin beschimpft, stellvertretend steht sie für die falschen Verlockungen des Konsums, des Kapitalismus und einer Humanität in tatsächlich als inhuman gekennzeichneten Verhältnissen, und ihr wird eine Vergewaltigung angedroht: »ZEIGE IHR WO GOTT WOHNT BEI / DEN GRIECHEN / IN DER FOTZE. Arschloch. Arschloch. Arschloch.«29 Die Gewalt der Männerfiguren gegen die Frauen wird hier als perverses Erkenntnisinstrument vorgestellt, um Iphigenie endgültig davon zu überzeugen, dass es die Verheißung Griechenland – übersetze: die Freiheit, die der westdeutsche Kapitalismus verspricht – nicht gibt, sondern die Rückkehr, nach der sie sich sehnt, tatsächlich bedeute: »Heim ins Reich«30. Die Frauenfigur wird benutzt von Figuren, die sich selbst als ohnmächtig und unterdrückt erfahren, und deren einzige Handlungsmacht zu sein scheint, sich Verfügungsgewalt über eine Frauenfigur zuzusprechen oder diese zumindest zu beschwören. Auch Iphigenie sieht sich in der Position einer Täterin, die für Thoas Menschenopfer vollzog (»Was trag ich für ein blutiges Gewand.«) und als »Komplizin« der Handlung31: als Täterin, als Mittäterin, als Opfer – im Unterschied zu den Männerfiguren ist sie dies jedoch immer in Bezug auf Verhältnisse, in denen Männer dominieren. Oder aber die Frau lockt den Mann mit ihrer Schönheit in die Falle des Konsums und wacht dann eifersüchtig über ihn, kurz: Das alles sind nicht endende Geschlechterklischees, die jedoch nicht kritisch inszeniert werden. Man kann solche Stellen auch als Analyse patriarchaler Verhältnisse lesen, die Handlungsmacht eben geschlechtsspezifisch zuweist. Doch hinterlässt dieser Text in der Art und Weise, wie Sexualität und sexualisierte Gewalt ausführlich, andauernd und explizit als Kennzeichen von Gewalt-Verhältnissen ins Spiel gebracht werden, einen schalen Beigeschmack. Der Mann mit Schwielen an den Händen schuftet und die schöne Frau lockt. Das will zweifelsohne in erster Linie auf Kapitalismus- und Konsumkritik zielen und wirft die Frage nach der Gesellschaft mit einer »anderen Arbeit«32 auf. Die verbindende Klammer von Konsum und sexualisierter Gewalt ist offenbar Triebhaftigkeit, aber die Geschlechter sind eben hier unterschiedlich in Bezug auf ihre Handlungsmacht positioniert. Am deutlichsten wird das, wenn die Thematisierung der Arbeit am Ende nicht nur ›den Arbeiter‹ gegen ›die

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Frau’ stellt, sondern auch noch das rassistische N-Wort33 verwendet, um eine Kette der Gedemütigten zu inszenieren. Die Verwendung frauenfeindlicher und rassistischer Topoi und eines entsprechenden Bildinventars sind in der Mythosrezeption nicht einmal besonders drastisch. Sie findet sich genauso zum Beispiel in Volker Brauns Text über die Verheerungen durch die Treuhand, Die hellen Haufen, wo sich der Erzähler gewissermaßen an seine Konstruktion der einfachen Arbeiter anbiedert: Die reißen nämlich gerne mal sexistische Sprüche, und so spricht dann auch der Erzähler von »Weibern« etc.34 Nun müssen Figuren, die als Opfer des Kapitalismus dargestellt werden, zwar in keiner Weise sympathisch sein. Aber wenn wir als Leser*innen ihnen gegenüber zumindest empathisch sein wollen, müssen wir diesen Sexismus normalisieren. Damit irritieren die Texte, um es vorsichtig zu formulieren, die Erkenntnis, die sie selbst durch die kritische Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse erarbeiten und präsentieren. Ihre Leistungen kann man aus einer literaturhistorischen Perspektive weiterhin würdigen und gegen blinde Flecken abwägen. Für die Frage, ob die Texte mit ihren Analysen für die Gegenwart anschlussfähig sind, fällt die Antwort allerdings deutlich negativer aus.

Fazit Wenn man Brauns und Müllers Texte im zeithistorischen Kontext betrachtet, zeigen sich produktive Kontinuitäten in Bezug auf die Verbindung von Kapitalismuskritik und Erinnerungskultur. Wer die Texte auf ihr Anregungs- und Erkenntnispotential untersucht, kommt allerdings nicht umhin, die Produktivität intertextueller Verfahren für die Geschichtsbilder kritisch zu betrachten und blinde Flecken und Aspekte wie zum Beispiel die Funktionalisierung von Sexismus für die Kritik der Geschlechterverhältnisse im Kapitalismus festzustellen. Den Aktualitätsverdacht können die Texte nicht einlösen. Allerdings bedeutet dies heute weder, dass man die beiden Autoren gegen ein ideologisch aufgeladenes Verdikt des Geschichtspessimismus in Schutz nehmen noch als Vertreter einer immerhin noch kapitalismuskritischen Literatur nach dem Ende der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz feiern müsste. Es heißt lediglich anzuerkennen, dass Texte, die einmal eine gesellschaftskritische Stoßrichtung hatten, heute literaturhistorischen Wert haben, und man nicht zu angestrengt erwarten sollte, daraus zukunftsweisende Impulse zu beziehen. Eine andere Perspektive ist entscheidend: Die Zukunftsaufgabe ist es, einen inklusiven Zugang zur Diskussion der Klassenfrage zu fin-

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den: Ein Gegeneinander-Ausspielen verschiedener Kategorisierungen greift zu kurz. Wer ökonomische Fragen diskutiert, ohne zu berücksichtigen, dass ungleiche Ressourcen und Diskriminierungsformen wesentlich mit den Faktoren Geschlecht, Herkunft und/oder Hautfarbe verknüpft sind, stellt die Klassenfrage in der Gegenwart verkürzt. Gender und race sind keine nur symbolischen Kategorien, sondern haben reale Folgen für die sozialen Positionierungen von Personen, für die Art, wie sie wahrgenommen werden und welche Handlungsspielräume ihnen zugestanden werden bzw. wie sie sich diese erkämpfen können. Umgekehrt sind Sexismus und Misogynie keine untergeordneten Probleme von Herrschafts- und Kapitalismuskritik. Das muss man mit Blick auf die aktuelle Diskussionslage durchaus betonen, denn allzu häufig wird immer noch in sich selbst als links(liberal) verstehenden Diskurskontexten Kapitalismuskritik von Rassismus- und Sexismuskritik, verstanden als identitätspolitische Anliegen, getrennt.35 Mein zentrales Anliegen für die Relektüre von Texten ist es daher nicht, ›die Klassenfrage‹ zu stellen, sondern eine Diskussion darüber anzustoßen, wie wir die Klassenfrage an diese Texte stellen. Welche Angebote machen Texte, wenn wir sie mit einer inklusiven Perspektive auf die Kategorie Klasse konfrontieren, wo sind ihre Leerstellen? Oder noch einmal anders formuliert: Wie können wir methodische Herangehensweisen für ein Gespräch über Texte nutzen, das blinde Flecken und Leerstellen in produktiver Weise erschließt und für aktuelle Einsichten über zusammenwirkende, aber auch als konfliktbehaftet wahrgenommene Zuordnungen von Gruppenzugehörigkeiten sensibilisiert?

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u. a. die Studien von Inge Stephan: Musen und Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 1997 sowie von Werner Frick: Die mythische Methode. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne (= Hermaea. Neue Folge 86), Berlin 1998, insbesondere die Ausführungen zu Intertextualitätskonzepten und literary recycling, S. 28 ff. 2 Wolf, Christa: Medea. Stimmen. Roman, München 1996. Seneca: Medea, Ditzingen 1987. Euripides: Medea, Ditzingen 2011. 3 Braun, Volker: Iphigenie in Freiheit, Frankfurt a. M. 1992. Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris, Ditzingen 1986. 4 Müller: Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, in: ders.: Die Stücke 3, Werke Bd. 5, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2002, S. 71 – 84 (im Folgenden mit Sigle W und Band angegeben). Jahnn, Hans Henny: Medea, Ditzingen 1986. 5 Müller: Die Hamletmaschine, in: W4, S. 545. 6 Ebd., S. 552. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 554. 9 Frick nennt das Interkontextualität. Frick: Die mythische Methode, S. 35. 10 Siehe hierzu Geier, Andrea: »›Schön bei sich sein und dort bleiben.‹ Jelineks Zitierverfahren zwischen Hermeneutik und Antihermeneutik in ›Wolken.Heim.‹ und ›Totenauberg‹«, in: Müller, Sabine/Theodorsen, Cathrin (Hg.): Elfriede Jelinek: Tradition, Politik und Zitat. Ergebnisse der Internationalen Elfriede Jelinek-Tagung 1. – 3. Juni 2006 in Tromsø (= Diskurse. Kontexte. Impulse; 2), Wien 2008, S. 167 – 186. 11 Gruber, Bettina: »Mythologisches Personal«, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, S. 76. 12 Braun: Iphigenie in Freiheit, S. 27. 13 Ebd., S. 35. 14 Ebd., S. 35 und S. 12. 15 Müller: Die Hamletmaschine, S. 554. 16 Ebd. 17 Müller: Medeamaterial, S. 84. 18 Ebd., S. 78. 19 Ebd., S. 79 u. ö. 20 Ebd., S. 80. 21 Ebd., S. 81. 22 Ebd., S. 75, S. 76, S. 77. 23 Siehe hierzu u. a. Preußer, Heinz-Peter: Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Schütz und Volker Braun, Köln/ Weimar/Wien 2000. Geier, Andrea: »Konfrontationen mit dem Mythos im Mythos. Verhandlungen von Schicksalhaftigkeit in meta-mythischen Texten von Anna Seghers, Günter Kunert und Volker Braun«, in: Niethammer, Ortrun/Preußer, Heinz-Peter/Rétif, Françoise (Hg): Mythen der sexuellen Differenz. Übersetzungen. Überschreibungen. Übermalungen, Heidelberg 2007, S. 227 – 246. 24 Braun: Iphigenie in Freiheit, S. 16. 25 Müller: Die Hamletmaschine, S. 545. 26 Müller: Medeamaterial, S. 81. 27 Siehe u. a. jüngst Kißling, Magdalena: Weiße Normalität. Perspektiven einer postkolonialen Literaturdidaktik (= Postkoloniale Studien in der Germanistik Band 10), Bielefeld 2020. 28 Müller: Medeamaterial, S. 73. 29 Braun: Iphigenie in Freiheit, S. 21. 30 Ebd., S. 20. 31 Ebd., S. 15 und S. 9. 32 Ebd., S. 35. 33 Ebd. 34 Braun: Die hellen Haufen, Berlin 2011, S. 14. 35 Geier: »Nicht stören!? Über die Kritik an Identitätspolitik und postmodernen Theorien«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (2018), H. 9|2, S. 89 – 96.

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Selbstmord der Gattung Ein Grenzwert in Müllers Werk

1 Im Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet schreibt Müller Anfang der achtziger Jahre:

Die totale Zerreißprobe, der die menschlichen Kollektive in unserem (vielleicht, wenn der Widerstand leerläuft und seinen Platz zwischen den Polen verfehlt) letzten Jahrhundert ausgesetzt sind, wird die Menschheit nur als ein Kollektiv überdauern. Der kommunistische Grundsatz KEINER ODER ALLE erfährt auf dem Hintergrund des möglichen Selbstmords der Gattung seinen endgültigen Sinn. Aber der erste Schritt zur Aufhebung des Individuums in diesem Kollektiv ist eine Zerreißung, Tod oder Kaiserschnitt die Alternative des NEUEN MENSCHEN. Das Theater simuliert den Schritt, Lusthaus und Schreckenskammer der Verwandlung. In diesem Sinn ist Philoktet gegen die modisch kurz schließende Interpretation als Drama der Ent-Täuschung das Negativ eines kommunistischen Stücks. (W8, S. 260 f.) Das ist meines Wissens die prominenteste Stelle, an der der Begriff des »Selbstmords der menschlichen Gattung« auftaucht. Er findet sich – wörtlich oder sinngemäß sehr häufig in den Gesprächen, die Müller ab den achtziger Jahren in immer größerem Umfang geführt hat.1 Der Brief an den Regisseur ist aber sicherlich der programmatisch wichtigste und am meisten durchgearbeitete Text, in dem die Wendung sich findet. Man muss sie also sehr ernst nehmen. Die Spannung, unter der diese Stelle steht, ist die zwischen einem historischen und einem gewissermaßen überhistorischen Impuls. Auf der einen Seite lässt sie keinen Zweifel daran, dass sie die besondere selbstzerstörerische Dynamik der kapitalistischen Wirtschaftsform »in unserem […] letzten Jahrhundert« und des kalten Krieges in den Blick nimmt. Auf der anderen Seite dreht sich dieser Brief ja um Philoktet, um ein mythologisches Stück also, das von einer konkreten historischen Situation abgelöst ist. Das hat schon auch den Grund, dass die Kritik an einer spezifischen historischen Situation dadurch kaschiert werden kann.

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Die Versicherung des Clowns im Prolog dieses Stücks, das all das, was nun zu sehen sein wird, mit der Gegenwart gar nichts zu tun habe, ist sicherlich ironisch gemeint. Damen und Herren, aus der heutigen Zeit Führt unser Spiel in die Vergangenheit Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war […] Und daß wirs gleich gestehen: es ist fatal Was wir hier zeigen, hat keine Moral Fürs Leben können sie bei uns nichts lernen. (W3, S. 291) Es ist der Shakespearesche Clown, der hier auftritt, der Narr, der weiß, dass die Welt sich, solange sie sich dreht, nicht ändert und in schief nachgemachten Brecht-Versen das Gegenteil behauptet. Natürlich zielt Philoktet auf die Gegenwart; natürlich sind der Stalinismus und die Frage des Dissidententums mit im Spiel. Dennoch muss man die mythologische Form, die Müller diesem Stück gegeben hat, ernst nehmen. Was hier thematisch ist, ist das Gesamt dessen, was Marx die Vorgeschichte nennt, und wozu eben auch der historische Sozialismus gehört. All dies ist ein System, von dem Müller in den Drei Punkten zu Philoktet in den siebziger Jahren geschrieben hat, dass es durch den Ablauf dieses Stücks nur bestätigt wird; dass es keine Lösung innerhalb des Stücks gibt, die aus dem Stück herausführt, sondern dass man das System, das Modell – das »Philoktet-Modell« – als Ganzes verändern muss, um aus der Geschichte zu lernen: »Der Ablauf ist zwangsläufig nur, wenn das System nicht in Frage gestellt wird.« »Erst wenn das Modell geändert wird, kann aus der Geschichte gelernt werden.« (W8, S. 158) Das ist in Philoktet, unter den gesellschaftlichen Voraussetzungen, die in diesem Stück auf die Bühne gebracht werden, nicht möglich, aber immerhin, es ist ein Lernprozess vorstellbar, der nicht letal ist. Von diesem vorsichtigen Optimismus hat sich Müller im Brief an den Regisseur schon ein Stück weit entfernt, wenn er vom »Kaiserschnitt« spricht durch den der neue Mensch der Welt gebracht werde – ein Kaiserschnitt, den die Mutter gewiss nicht überleben würde. Der neue Mensch, von dem hier die Rede ist, ist in Versalien gesetzt. Großbuchstaben haben bei Müller nun eine ganze Reihe von Funktionen. Eine dieser Funktionen ist, dass da zitiert wird; und was hier zitiert wird, ist klar: es ist das Schlagwort vom neuen Menschen, das zum ideologischen Zentralbestand der frühen Sowjetunion und der frühen DDR gehörte. Es ist also eine Formel, die hinübergerettet ist aus der Vorgeschichte auf die Grenze zwischen Vorgeschichte und Geschichte,

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auf der Müller hier seine Überlegungen anstellt – eher ein Hinweis auf etwas, von dem man noch nicht weiß, was es ist, und von dem zumindest fraglich erscheinen kann, ob es sich überhaupt noch um einen Menschen handelt, der hier als neuer Mensch beschworen wird. Was aber ist das Prinzip dieses Systems, das von Philoktet dargestellt wird und von dem Kapitalismus und sein sozialistisches Gegenstück nur einen Teil bilden? Es ist das Prinzip des Opfers. Seine Funktion würde ich durch die Doppelformel Einschluss durch Ausschluss – Ausschluss durch Einschluss umreißen. Der gesellschaftliche Zusammenhang, der die gesamte Vorgeschichte umspannt, ist ein Opferzusammenhang. Das Opfer zieht die Grenze zwischen Innen und Außen, es produziert Einschluss und den Ausschluss und vermittelt zugleich zwischen ihnen. Philoktet ist das Opfer; er war nötig, um für den Kriegszug opfern zu können; dann hinderte seine Wunde das Opfer, und so musste er selbst geopfert werden, um das Opfer zu ermöglichen: ODYSSEUS  Den Philoktet, in unserm Dienst verwundet Uns nicht mehr dienlich seit dem, Eiter drang Aus seiner Wunde stinkend, sein Gebrüll Kürzte den Schlaf und gellte mißlich in Das vorgeschriebne Schweigen bei den Opfern. (W3, S. 291) Nun aber stellt sich heraus, dass die Gesellschaft auf das Ausgeschlossene angewiesen bleibt. Sie muss es reintegrieren. Das aber ist nur durch neue Opfer möglich. Das System kann sich nicht verändern, sondern nur durch Reproduktion seines Prinzips erhalten. An dieser dialektischen Grundbeziehung, die noch keine von Klassen ist, aber natürlich eine von Klassen sein kann, haben in Philoktet alle teil. Odysseus reflektiert sich, er agiert vollkommen bewusst – er ist in mancher Hinsicht die interessanteste Gestalt, weil er eben das Bewusstsein dieses Systems verkörpert. Neoptolemos dagegen agiert blind und unreflektiert. Er ist der tragische Heros des Stücks. Er möchte den Ausgeschlossenen integrieren, möchte ohne das Prinzip des Opfers auskommen und glaubt an das richtige Leben im falschen. Genau deswegen muss er Philoktet töten, und reproduziert das Verhältnis von Einschluss und Ausschluss in der Weise, dass der tote Philoktet einverleibt und dem System nutzbar gemacht wird. Aber auch Philoktet hat am Systemzusammenhang teil. Das ist sehr wichtig. Er ist nicht einfach ausgeschlossen, sondern reproduziert in sich selbst den Systemzusammenhang. Einmal gibt er zu, dass er an der Stelle des Odysseus auch nichts anderes getan hätte:

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Nichts andres, wenn ein andrer dein Fleisch war Das stank und brüllte, hättest du getan. (W3, S. 313) Er hätte sich selbst geopfert und um des großen Beutezuges willen auf der Insel ausgesetzt. Zum anderen reproduziert er das gesellschaftliche Ausschlussverhältnis in seinem Verhältnis zur Natur. Das Fressen und Gefressenwerden, also der vorneolithische, rein letal bestimmte Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur ist das Vorbild des Opferzusammenhangs, der sich in der Gesellschaft fortsetzt. Natur und Gesellschaft sind innerhalb des »Philoktet-Modells« homolog: PHILOKTET  Auf heilen Beinen pfeilnah in der Sonne Steht was ich gern unter der Sohle hätt [Odysseus] Geschickt, unter den Geiern vorzuziehen Was er den Geiern ausgelegt hat vorher In neuen Dienst den lang verworfnen Diener Wartet, ob ihm sein Köder seinen Fisch bringt Den stinkenden, der für die Geier gut war Den Geiern sehr mißgönnt jetzt, weil gebraucht Gegen die Geier, stinkend noch und schon Besten Geruchs dem Fleisch, das noch im guten Geruch steht, aber ohne ihn nicht lange mehr. (W3, S. 309 f.) Philoktet selbst befindet sich auf der Grenze zwischen Einschluss und Ausschluss, im Arbeitszentrum der Systemhomologie. Aber er kann sich auf dieser Position nicht halten. Die Logik des Modells geht über ihn hinweg, sortiert den lebendigen Philoktet aus und macht sich den toten Philoktet zunutze. Der ja ohnehin schon nicht geringe Zynismus des Sophokles-Stückes – Jan Kott hat zum deus ex machina, der hier am Ende in Erscheinung tritt und den unlösbar gewordenen Konflikt brutal zu Ende bringt, gesagt, hier werde Philoktet »fertiggemacht«2 – wird bei Müller noch einmal gesteigert. Philoktet ist ein vollkommen transzendenzloses Drama. Der Schritt, der vom »Negativ eines kommunistischen Stücks« in den Kommunismus führt, lässt sich nicht mal im Ansatz erkennen. Zerreißung und Kaiserschnitt folgen keiner historischen Logik mehr, es sind eigentlich Mysterienformeln.

2 Müller hat sich gegen die Vorstellung einer Entwicklung seines Werks immer zur Wehr gesetzt. Dennoch war es ihm wichtig, dass seine Texte

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in den gesammelten Werken chronologisch abgedruckt werden – d. h. wenn die Aufeinanderfolge der Dramen überhaupt irgendeinen Sinn ergibt, dann wohl doch am ehesten am Leitfaden der Chronologie. Die Entwicklung des Müllerschen Werks ist nicht linear. Ich würde aber dennoch sagen, dass ab Philoktet etwas Neues beginnt. Ab da sehe ich eigentlich fast kein einziges Stück mehr, dem sich eine robuste, politisch fundierte Fortschrittshoffnung entnehmen lässt. Das System des Opfers, das System Einschluss/Ausschluss kann nicht mehr »verändert«, nicht mehr transformiert werden; es kann nur gesprengt und zerrissen werden, damit etwas Neues anfängt. Wo dennoch vom Fortschritt im Sinn geschichtlicher Kontinuität die Rede ist, stellt sich die Frage, wieweit Müller damit Konzessionen gemacht hat. Der hinzugefügte Schluss von Zement ist vermutlich so zu verstehen. Das Jubiläumsstück, das keines ist, sollte irgendwie zur Aufführung gelangen.3 Komödien wie Waldstück und die Horizonte versuchen den Fortschrittsglauben ironisch oder komisch aufrecht zu erhalten: es wird im Grunde gar nicht richtig deutlich, wie sie sich dazu verhalten. Genau an dieser Undeutlichkeit war Müller gelegen. Ja selbst die ästhetische Transzendenz des Geschichtsverlaufs – wie Müller das etwa im Mittelbild der Hamletmaschine macht4 – lässt sich, wenn nicht als Konzession, dann als historisch gebotene Ausweichbewegung deuten. Wenn alle politischen Hoffnungen abgestorben sind, bleibt eben nur noch die Kunst »neben« der Geschichte: Das Problem ist, daß Utopie und Geschichte sich immer weiter voneinander entfernen. Es ist unmöglich geworden, sich die Utopie innerhalb des historischen Prozesses vorzustellen. Die Utopie steht heute jenseits oder neben der Politik. (W10, S. 194) Insgesamt aber ist der Rahmen der eines immer weiter sich verdichtenden Geschichtspessimismus: ein Geschichtspessimismus, der viele Formen annehmen kann, verschiedene Schattierungen, verschiedene Aspekte hat. Einmal erscheint die Geschichte – das ist vor allem durch die Auseinandersetzung mit Shakespeare motiviert – als Zyklus, als ewiges »Schlachthaus«5, als Aufeinanderfolge von Machthabern und von Systemen, von denen keins besser ist als das vorhergehende. Jan Kott hat in Shakespeare heute das verbindliche Bild dieses Zusammenhangs gefunden: Wenn wir die historischen Dramen Shakespeares in einem Zuge lesen, eins nach dem anderen, dann verwischen sich die Gesich-

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ter der Herrscher und Usurpatoren. Selbst ihre Namen gleichen einander. Immer sind es ein Richard, ein Edward und ein Heinrich […] Und da enthüllt sich in den dramatischen Chroniken Shakespeares allmählich hinter den individuellen Zügen der Könige und Usurpatoren das Bild der Geschichte selbst. Das Bild des Großen Mechanismus.6 […] Vielleicht hat Shakespeare eine Welt gemeint, in der nur der Name der Könige wechselt, der Große Mechanismus aber immer derselbe bleibt.7 In seiner Macbeth-Bearbeitung etabliert Müller dadurch, dass er die Ebene der Bauern hinzufügt, ein geschichtliches Subjekt oder eigentlich Objekt, für das es vollkommen gleichgültig ist, wer regiert.8 Sie haben immer dieselben Nöte auszustehen, sind immer denselben Drangsalierungen ausgesetzt. Der gute Duncan ist vom selben Schlag wie der böse Macbeth, und der böse Macbeth ist vom selben Schlag wie der gute Macduff, der ihn ablöst. Solche Bewertungen, die der Geschichte einen Weg per aspera ad astra unterschieben, sind Kinkerlitzchen einer Herrscherkaste, für die sich das Volk nicht interessiert und auch nicht zu interessieren braucht. Oder: Hamlet bzw. Hamletmaschine, dessen zyklischen Zug Müller dadurch verstärkt, dass er nicht bloß durch das Hinzutreten des Fortinbras den Vorhang schließen lässt und über den unendlichen und unendlich komplizierten Innenreflexionen des Dänenprinzen übergeht zur ewig sich wiederholenden Tagesordnung: Der alte Fortinbras wurde geschlagen, nun kommt ein neuer Fortinbras. Alles was dazwischen liegt, ist eigentlich bloß eine flüchtige Episode innerhalb des »Großen Mechanismus« der Geschichte. Diesen ohnehin bereits vorhandenen Zug bei Shakespeare radikalisiert Müller in seiner Adaption noch einmal dadurch, dass er Hamlet am Ende zu seinem Vater werden lässt: er »[t]ritt in die Rüstung« (W4, S. 553) heißt es am Ende der Hamletmaschine: das heißt in die Rüstung des Vaters. Der oppositionelle Sohn, derjenige, der alles anders machen wollte als sein Vater, verschleißt sich auf dem Weg ins Nichts, wird dann doch Politiker, übernimmt das Geschäft seines Vaters und macht business as usual. Zu dieser barocken Sicht auf die Geschichte – ich komme auf diesen Begriff noch einmal zurück –, der meines Erachtens schon bei Shakespeare eine bedeutende Rolle spielt und in den Adaptionen Müllers ganz und gar im Zentrum steht, kommt nun freilich noch etwas anderes hinzu: nämlich die spezifische progressive Dynamik des kapitalistischen Systems, die im Endeffekt auf Zerstörung/Selbstzerstörung hinausläuft. Es ist die Besonderheit eines Systems, das auf Wachstum

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programmiert ist und das sich nur durch Wachstum reproduzieren kann: also einerseits Erschließung neuer Absatzmärkte, andererseits permanente Verdichtung und Effizienzsteigerung der Produktion, wie sie Marx in den Kapiteln über den relativen Mehrwert entwickelt hat; eine Dynamik, die – jedenfalls Müller zufolge – unweigerlich, eigentlich unabwendbar in die Katastrophe führt. Es ist also das Prinzip des Fortschritts selbst – da hat Müller viel von Benjamin und auch von Brecht der dreißiger Jahre entlehnt9 –, eines Fortschritts, der nur quantitatives Wachstum und keine qualitative Veränderung kennt, der über kurz oder lang in die Katastrophe führen muss. Die historischen Szenarien, die Müller dafür vor Augen stehen, sind nun unterschiedlich – es hängt auch von der Zeit ab, in der er sich dazu geäußert hat. Einmal natürlich ist es in den 1960er und 70er Jahren das Wettrüsten, die Gefahr eines Atomkrieges, die Drohung einer plötzlichen Selbstauslöschung der Menschheit, von der wir ja in der Tat so furchtbar weit nicht entfernt gewesen sind. Dann ist es zweitens – sehr prominent ab den 1980er Jahren, und das ist ja auch schon ein Punkt, den er im Brief an den Regisseur hervorhebt – der Aufstand der ›dritten Welt‹; die »Überflutung« der ›ersten‹ durch die ›dritte Welt‹ – auch Müller verwendet die jetzt so in Mode gekommenen Flutmetaphern –; die Peripherie, die das Zentrum zerstört. Je weiter die Kolonialreiche abgebaut werden, desto deutlicher äußert sich die Rache der Kolonisierten. Westeuropa wird von innen aufgefressen; die Flutwelle der dritten Welt schlägt über Europa zusammen.10 In Anatomie Titus hat er diesen Gedanken über die Figur des schwarzen Aaron dem ewigen Kreislauf der Geschichte hinzugefügt. Das Stück verbindet diese beiden Momente: einerseits der ewige Zyklus, das ewige Schlachthaus der Königsdramen und die destruktive Energie, mit der die außereuropäische Welt Europa heimsucht und am Ende zerstört. Und schließlich, etwas weniger prominent, aber doch prominent genug, um hier erwähnt zu werden: die ökologische Zerstörung bzw. Selbstzerstörung. Dass das lange Zeit mehr oder weniger unberücksichtigt bleibt, hängt sicherlich mit der relativen Bedeutungslosigkeit der Natur im klassischen Marxismus zusammen, der darin auch ein Komplize der auf Beherrschung der Natur zielenden Aufklärung ist. Gerade angesichts dessen ist es aber doch bemerkenswert, wie hellsichtig Müller auf die anstehenden ökologischen Probleme reagiert hat. Am Ende eines Gesprächs mit Gregor Gysi von 1991 heißt es:

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Vielleicht geht es letztlich nur noch darum, wer zuerst mit wem fertig wird, die Natur mit der Menschheit oder die Menschheit mit der Natur. Und beides ist eine Katastrophe für die Menschheit. (W12, S. 124)11

3 Nun ist die Frage, wie sich zu diesem pessimistischen Geschichtsbild die Figuren verhalten, die Müller immer wieder beschwört, wenn es um das Ende geht: also das »Theater als Lusthaus und Schreckenskammer der Verwandlung« oder der »Auferstehung«; die Geburt des »neuen Menschen«; »die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht, die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken«; oder, wie es in Mauser formuliert wird: der »Tod als Arbeit«, also als Arbeit des Zurücktretens in die Gattung; oder etwa auch das Bild des »Kaiserschnitts«, von dem wir ausgegangen waren –: also all die Stellen, an denen man sich entlanghangelt und nach einer Hoffnung sucht, wenn man Müllers Pessimismus schwer ertragen kann.12 Ich hatte vorher schon dazu gesagt, dass das eigentlich Mysterienformeln sind. Und zwar habe ich das so gemeint, dass Lösungen angeboten werden, die, weil eine politische, geschichtsimmanente Lösung der Gattungsprobleme der Menschheit unmöglich geworden ist, aus dem Arsenal der Religion genommen sind. Sie alle zielen darauf, dass der Kommunismus, wenn man es zuspitzt, nicht für uns gemacht ist; dass er jenseits des Menschen und seiner Geschichte liegt; dass also die einzige Form, in der überhaupt noch ein Ausweg vorstellbar ist, eine säkularisierte religiöse Transzendenz sein muss. So hat es Müller gemeint, wenn er das »Programm von Marx« eine »Säkularisierung der Bergpredigt« nennt (W11, S. 732). Darauf zielt es meines Erachtens, wenn er nicht die Revolution, aber den Aufstand aller Unterdrückten, die im Dunkel sind, als den »theologischen Glutkern« des Marxismus beschwört.13 Und wenn er sich im Gespräch mit Gregor Gysi von 1991 darüber Gedanken macht, ob nicht die Religion eigentlich die einzige Form ist, überhaupt noch so etwas wie ein »Gattungsbewusstsein« herzustellen: »Ich frage eigentlich nach der Möglichkeit, durch eine religiöse Motivierung so etwas wie ein Gattungsbewußtsein zu erzwingen.« (W12, S. 216) Warum macht er das? Der Grund, aus dem Müller die Religionen sehr ernst nimmt, ist, dass sie gattungsgeschichtlich die einzigen kollektiv verbindlichen Kulturformen gewesen sind, die in den Umgang mit dem Tod eingeübt haben: in den individuellen, aber auch in den kollektiven. Der Kapita-

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lismus wiederum – Müller sagt es immer wieder, ich würde es aber im Grunde auf alle historischen Erscheinungsformen der neuzeitlichen Aufklärung beziehen – ist demgegenüber eine systematisierte Todesverdrängung: durch ihren Fortschrittsglauben und den Warenfetisch als allgemeine Seinsweise. Europas Wille zur Macht in der Technik beruht doch letztlich auf der Verdrängung von Todesangst als einer Lebensrealität. (W11, S. 410) Es gibt im Westen allgemein eine totale Besetzung mit Gegenwart. Das ganze ökonomische Potential geht auf Besetzung mit Gegenwart. Das heißt: Auslöschen von Erinnerung und von Erwartung. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur Gegenwart, man braucht nur über die Straße zu gehen, überall Gegenwart. (W11, S. 375) Die »Besetzung mit Gegenwart« in der universalisierten Warenwelt, die jede Erscheinung zum Konsumartikel verzaubert, verdrängt nicht bloß allein die Erinnerung, die Geschichte, das Herkommen des Phänomens, sondern auch – ich würde sagen: vor allem – die Zukunft, den Tod, die Sterblichkeit und zwar den individuellen Tod ebenso wie den Tod der Gattung; und zwar genau in dem Moment, in dem dieser Tod der Gattung nicht nur denkmöglich geworden ist, sondern als reale historische Option wissenschaftlich begründet vor Augen steht. Wenn sich das Fortschrittsparadigma des immer weiter sich steignenden Konsums, also der eben auf Präsenz fixierten Verzehrung von Wirklichkeit immer weiter zersetzt und immer unglaubwürdiger wird, und eine Politik, die im Zeichen der Aufklärung steht, eigentlich keine Lösung mehr hat – das ist ja die Erfahrung, die wir momentan alle machen: es gibt keine Lösungen, für kein einziges globales Problem; es wird aber nicht zugegeben; man macht weiter, tut so, als könne man noch irgendetwas bewirken, ohne so recht daran zu glauben: das wiederum merken die Leute und schließen sich denjenigen an, die aus der berechtigten Skepsis daran Politik machen und sich ausdrücklich vom Fortschrittsparadigma und von dem daran hängenden Gattungsbewusstsein verabschieden –; wenn das alles zerfällt, vor allem aber das Fortschrittsparadigma, das die einzige Form gewesen ist, in der in der Neuzeit überhaupt so etwas wie ein Gattungsbewusstsein möglich war, landet man fast zwangsläufig bei der Religion und bei den religiösen Formen, die jahrtausendelange Erfahrung im Umgang mit dem Tod haben und in denen es in der einen

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oder anderen Weise immer darum gegangen ist, wie man Gattungsbewusstsein trotz und angesichts der eigenen Sterblichkeit formulieren kann. Das ist der Hintergrund, weshalb die Formen, die Müller immer wieder verwendet, um die Transzendenz eines transzendenzlosen Systems zu beschwören,so religiös klingen. Gleichzeitig war Müller nicht gläubig. Es kann natürlich nicht um so etwas wie ein metaphysisches Jenseits im strengen Sinne gehen. An dieser Stelle zwischen Religion und Aufklärung setzen die Formen und Formeln einer Geburt und Entstehung von etwas ganz Neuem an. Es gibt dafür drei Grundformen, die nebeneinanderstehen. Ich sehe nicht, dass sie sich systematisieren lassen. Dass sie nebeneinanderstehen, ist eben der Ausdruck davon, wie ratlos und zugleich wie experimentierend Müller sich zu diesen Vorstellungen verhalten hat. Das ist einmal eine regressive Option: das ist das »neue Tier«, von dem Müller/Brecht im Fatzer-Fragment spricht: Wir aber wollen uns Setzen an den Rand der Städte und Auf sie warten. Denn jetzt muß Kommen eine gute Zeit; denn jetzt bald Tritt hervor das neue Tier, das Geboren wird, den Menschen auszulösen (W6, S. 88) Der biblische Duktus ist offenkundig; das »neue Tier« ist ein verfremdeter Import aus der Offenbarung Johannis. Das durch das Enjambement stark hervorgehobene »auszulösen« changiert zwischen den Bedeutungen »ablösen«, »zu entschulden« und der technischen Bedeutung des Wortes: »etwas auslösen, in Bewegung bringen«. Das Wort ist ein Nachfolger von Hegels Begriff des Aufhebens: Jede der Bedeutungen geht mit einem anderen Sinn des Verhältnisses von altem Menschen und neuem Menschen einher. Müller sagt zwar im Brief an den Regisseur, dass der Verlust des Gattungsbewusstseins, die radikal und immer weiter sich steigende Individualisierung eben der Preis ist, den der Mensch für den Auszug aus der Tierwelt zahlen musste; gleichzeitig ist der gesamte Fatzer-Komplex für Müller eben deswegen so interessant, weil er die Menschen ganz nah an den Punkt heranführt, an dem sie eigentlich aufhören, Menschen zu sein und man sich fragt: was sind sie denn dann? Ist das anarchische Tier, das aus dem Altmenschen heraustritt einfach nur destruktiv, oder lässt sich möglicherweise auch auf ihm so etwas wie eine neue Ordnung errichten?14

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Das ist die erste Chiffre, die Müller bemüht: das neue Tier. Die zweite ist der Krebs: also der Krebs am Ende von Quartett und in der Mitte der Hamletmaschine; der Krebs, der Müller am Ende seines Lebens auffrisst und den er mit eigentümlicher Faszination verfolgt: der »Krebs des neuen Menschen«, das wild wuchernde Fleisch, von dem ebenfalls die Frage ist: Ist es nur destruktiv – das ist es sicherlich auch: es zerstört die organische Substanz des alten Menschen –, was aber bleibt? Könnte sich aus diesem anarchisch wuchernden Fleisch vielleicht doch etwas Neues bilden?15 Schließlich gibt es die progressive Lösung, eben die »Hochzeit von Mensch und Maschine«, von der Müller immer wieder spricht, und die notwendig sein könnte, wenn sich die Menschheit ihre eigenen Lebensgrundlagen genommen hat. Er hat dabei sicherlich nicht an uns gedacht, die wir uns den halben Tag mit irgendwelchen digitalen Endgeräten beschäftigen. Eher könnte ihm – als Fluchtpunkt – ein Szenario wie in Stanislaw Lems Der Unbesiegbare vor Augen gestanden haben, in dem eine Zivilisation Thema ist, die sich aller biologischen Grundlagen entledigt hat und zu einem einzigen rein technischen Kollektivlebewesen geworden ist, das sich auf einem ansonsten sehr unwirtlichen Planeten Unsterblichkeit errungen und gesichert hat. Da ist es dann zu Ende mit der individuellen Existenz und ihren Freiheiten; da ist es zu Ende mit allem oder zumindest dem allermeisten, was wir als selbstverständliche Voraussetzung unseres Menschseins begreifen; da geht’s allein um ein zu höchster Effizienz gesteigertes Überleben. Der »Zweifel am Fortschritt«, so hieß es am Ende des Briefs an den Regisseur, ist existentiell, solange die Menschheit Gattungsbewußtsein, dessen Voraussetzung die Möglichkeit von Universalgeschichte, nicht neu entwickelt hat. Sein Verlust war der Preis, der für den Auszug aus der Tierwelt gezahlt werden mußte. Der Weg zurück ist Indianerromantik, der moderne Versuch, den Gang der Spirale [den Fortschritt] in eine Kreisbahn abzubiegen, zielt auf die Zerstörung des Planeten. (W8, S. 268) Was ist da anderes denkbar als eine technische Wiederherstellung des verlorengegangenen Gattungsbewusstseins?

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4 Was ergibt sich aus dieser Vorstellung von Geschichte als eines vollkommen ausweglosen und in der großen Katastrophe der Selbstzerstörung terminierenden Zusammenhangs, aus dem nur säkularisiert-religiöse Auswege tastend und in Form metaphorischer Verschlüsselung vorstellbar sind, für die dramatische Produktion? Mir scheint die wichtigste Konsequenz zu sein, dass Müller eigentlich ab den sechziger Jahren, also etwa in der Zeit von Philoktet, keine Tragödie mehr geschrieben hat. Das setzt freilich einen spezifischen Begriff von Tragödie voraus. Wenn man Tragödien gerade nicht als »Schicksalsdramen« begreift, das heißt als Darstellungen eines unabwendbaren Geschehens begreift, sondern im Gegenteil als präzise Handlungsanalysen, die mit dem Blick auf mögliche Alternativen, mögliche andere Ausgänge, mögliche andere Entscheidungen formuliert wurden,16 dann würde ich sagen, dass Müller bis zur Umsiedlerin an dieser Idee von Dramatik festgehalten hat. Es geht darum, zu lernen, wie man es – vielleicht – anders machen könnte. An die Stelle der Tragödie tritt dann bei Müller das Trauerspiel. Ist die Tragödie in der Idee des Fortschritts fundiert, so die des Trauerspiels in der der Katastrophe. In diesem Sinne hat Benjamin die dramatischen Gattungen gegenübergestellt: Die Trauerspiele des deutschen Barock sind Dramen, die von geschichtlicher Hoffnungslosigkeit grundiert sind, ja vielleicht eigentlich sogar von Geschichtslosigkeit, weil der ewige Wechsel der Haupt- und Staatsaktionen, die letztendlich doch immer wieder nur auf dasselbe hinauslaufen, die Geschichte als Glaube, zum illusionären Schein verurteilt. Deswegen stehen sie ebenfalls im Zeichen der Katastrophe; von dieser Idee leiteten sich die »provokatorische Diesseitsakzente« der barocken Kunst sich:

Der religiöse Mensch des Barock hält an der Welt so fest, weil er sich mit ihr einem Katarakt entgegentreiben fühlt. Es gibt keine barocke Eschatologie und eben darum einen Mechanismus, der alles Erdgeborene häuft und exaltiert, bevor es sich dem Ende überliefert. Das Jenseits wird entleert von alledem, worin auch nur der leiseste Atem von Welt webt und eine Fülle von Dingen, welche jeder Gestaltung sich zu entziehen pflegen, gewinnt das Barock ihm ab und fördert es auf seinem Höhepunkt in drastischer Gestalt zu Tag, um einen letzten Himmel zu räumen und als Vakuum ihn in den Stand zu setzen, mit katastrophaler Gewalt dereinst die Erde in sich zu vernichten.17

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Die »Idee« des Trauerspiels ist – als Idee – nicht ans Barock gebunden. Benjamin hatte die expressionistische Dramatik in ihr fundiert.18 Müllers Theater ab den 1960er Jahren steht ebenfalls in ihrem Zeichen. Ausgestattet mit dem barocken Blick und mit einer Sprache, die Brecht und Barock miteinander verbindet, setzt Müller sich mit den Schrecknissen der Vorgeschichte auseinander, die im Mythos beginnt und im 20. Jahrhundert immer noch nicht zu Ende gegangen ist. Das Christentum, auf das die barocken Trauerspiele sich schlecht und recht berufen konnten, tilgt er freilich. Was übrig bleibt, sind Trauerspiele ohne Gott, die in sich kreisen, die sich auf keine immanente Transzendenz öffnen. Der Rest ist Lachen. Müllers Stücke figurieren die grotesken Gesten zum Tode Verurteilter. Wo sie komisch sind, ist es die Komik der Groteske: Witze in der Todeszelle. Der Mysteriensprung liegt jenseits des Lebens. Auch in der säkularisierten Gestalt, in der Müller das Mysterium in seiner Dramatik einbaut, setzt er das voraus. »Es gibt ein Leben vor dem Tod« hat Biermann gesungen. Das verneint Müller am Ende – jedenfalls kein richtiges.

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Müller, Heiner: Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von »Philoktet« am Dramatischen Theater Sofia, in: Heiner Müller Werke 8, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2005, S. 260 f. (im Folgenden mit Sigle W und Band angegeben). Vgl.: W10, S. 79: »Und wenn in zwanzig Jahren die Welt untergeht, weil der Kapitalismus nicht abgeschafft ist, möchte ich daran nicht schuld sein.« W10, S. 301 f.: »Schumacher: Letztlich geht es auch dir darum, diese Menschheit nicht untergehen zu lassen. Müller: Ich will nur vorher noch herauskriegen, woran es gelegen haben könnte. […] Kein vernünftiger Mensch kann mehr behaupten, daß das nicht passieren kann. […] Es gibt diesen schönen Spruch: Der Mensch ist das einzige Tier, das weiß, daß es sterben wird, und das macht seine Würde aus […]. Das gilt inzwischen für die ganze Menschheit.« W11, S. 324: »… Möglichkeit des Selbstmords der Menschheit. Das ist eine ganz neue Situation, die konkret analysiert werden muß.« W11, S. 388: »Wir wissen, daß die Menschheit imstande ist, sich umzubringen.« W11, S. 450: »Zeit ist ja auch Frist. Das ist eine Grunderfahrung jetzt. Es ist nur noch eine bestimmte Zeit gegeben, um das Ende zu verhindern, und das ist absehbar.« – W11, S. 464: »… daß es jetzt wirklich absehbar ist, wie oder wie lange die Menschheit überleben kann oder auch nicht.« 2 Kott, Jan: »Philoktet oder die Weigerung«, in: ders.: Gott-Essen. Interpretation griechischer Tragödien, München 1970, S. 143 – 165, hier S. 163: »Philoktet wurde als einziger der tragischen Helden des Sophokles fertiggemacht.« 3 Ette, Wolfram: »Arbeit als Selbstverwandlung in Müllers Zement«, in: Zeitschrift für kritische Theorie 46/47 (2018), S. 118 – 138. 4 Ette, Wolfram: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung, Weilerswist 2015, S. 479 – 569. 5 W10, S. 303: »Die Welt, so wie wir sie bisher aus Überlieferung und Erfahrung kennen, ist ein Schlachthaus.« 6 Kott: Shakespeare heute, München 1982, S. 21 f. 7 Ebd, S. 34. 8 Vgl. den Text von Sandra Fluhrer in diesem Band. 9 Müller berichtet, dass der Satz Brechts, der ihm von Beginn an am meisten »auffällig« war, lautete: »Die Kontinuität schafft die Zerstörung« (W10, S. 692). Zu Benjamin: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren: Daß es ›so weiter geht‹, ist die Katastrophe« (Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften , Bd. 5, Frankfurt a. M. 1982, S. 592); außerdem die 13. der Geschichtsphilosophischen Thesen: »Der Fortschritt, wie er sich in den Köpfen der Sozialdemokratie malte, war, einmal, ein Fortschritt der Menschheit selbst (nicht nur ihrer Fertigkeiten und Kenntnisse). Er war, zweitens, ein unabschließbarer (einer unendlichen Perfektibilität der Menschheit entsprechender). Er galt, drittens, als ein wesentlich unaufhaltsamer (als eine selbsttätig eine gerade oder spiralförmige Bahn durchlaufender). Jedes dieser Prädikate ist kontrovers, und an jedem könnte die Kritik ansetzen« (Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1981, S. 700). 10 W11, S. 399. – Weitere Stellen: W10, S. 168: »Ich schreibe nicht nur für Europa. Das eigentlich Revolutionäre in der Welt […] ist der Hunger und der Gegensatz von Arm und Reich, und der wird nicht geringer, der wird größer. Es wird Explosionen geben, die irgendwann Europa erreichen werden.« W10, S. 178: »Die wichtigste Funktion alternativer Bewegungen im Westen ist es, in seiner Mitte Inseln der dritten Welt zu schaffen. West-Berlin ist die drittgrößte türkische Stadt der Welt. In zehn Jahren wird Westdeutschland ein zweiter türkischer oder griechischer oder italienischer Staat sein. Das ist ein sehr positives Phänomen. Es bereitet den Boden für Veränderung.« W12, S. 137: »Das nächste Jahrhundert wird das Jahrhundert der Immigration sein, der Völkerwanderung. Dann ist es aus mit der Marktwirtschaft.« 11 Vgl. auch W11, S. 319: »Es ist doch durchaus eine Zukunft denkbar, in der der Mensch, so wie er jetzt organisch konstruiert ist, gar nicht mehr lebensfähig ist. Bei der Luft und dem verwüsteten Öko-System, die auf uns zukommen, ist vielleicht nur noch eine Kombination aus Mensch und Maschine lebensfähig.« – W11, S. 319: »Unsere ökologischen Probleme sind allenfalls durch Evakuierung auf andere Planeten zu lösen«.

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Vgl. W8, S. 261; W8, S. 286; W8, S. 212. W11, S. 441: »Als Einar Schleef Vor Sonnenaufgang von Hauptmann inszeniert hat, stand auf dem Eisernen Vorhang eine Zeile von Hofmannsthal: ›Manche freilich müssen drunten sterben, wie die schweren Ruder die Schiffe streifen.‹ […] [D]as ist das Uneingelöste nicht nur der europäischen, sondern der Geschichte überhaupt. Es ist das, was Benjamin den ›theologischen Glutkern‹ des Marxismus nennt: die Erlösung aus dem Leben in der Tiefe.« Zu diesem Komplex vgl. auch: Ludwig, Janine: »Christliche Motive in Heiner Müllers Texten. Eine ikonographische Spurensuche«, in: Ich bin meiner Zeit voraus. Utopie und Sinnlichkeit bei Heiner Müller, hrsg. v. Hans Kruschwitz, Berlin 2017, S. 191 – 228. In dem Roman Das große Heft von Agóta Kristof geht es um dieselben Fragen. Zwei Brüder kommen während des Krieges – irgendeines Krieges, jedes Krieges – aufs Land zu ihrer Großmutter, einer harten, kaum zivilisierten Frau, die nichts kennt außer dem Prinzip der Selbsterhaltung. »Ich sorge schon dafür, daß sie arbeiten, keine Bange. Auch hier ist das Essen nicht umsonst« (Kristof: Das große Heft, München 1990, S. 7), teilt sie der Mutter der Kinder mit, die in die Stadt gezogen ist, die nun ihre Bewohner nicht mehr ernähren kann. Aber die Kinder vertieren nicht einfach. Sie werden hinterlistig, berechnend und brutal – wie Fatzer –, dennoch entwickeln sie eigene Vorstellungen von dem, was Gut und Böse ist. Auch bei den zahlreichen apokalyptischen und postapokalyptischen Filmen/Serien, die das kollektive Bewusstsein seit einigen Jahrzehnten prägen, wäre genau darauf zu sehen, wieweit sie bloß den Altmenschen in eine wild-abenteuerliche Umgebung versetzen oder sich wirklich um Vorstellungen neuer Formen des Menschseins bemühen. The 100 ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel dafür, dass Beides ineinander gebildet sein kann. Quartett: »Krebs mein Geliebter« (W5, S. 65). Hamletmaschine: »Der Brustkrebs strahlt wie eine Sonne« (W4, S. 549). Das Gedicht ICH KAUE DIE KRANKENKOST DER TOD (W1, S. 325) spricht vom Stolz auf den Krebs, der den Bemühungen der Ärzte Widerstand leistet. Vgl. Ette, Wolfram: »Der Krebs des neuen Menschen«, in: Ich bin meiner Zeit voraus, S. 177 – 190. So hat Brecht bekanntlich das Drama zu reformieren versucht und es gehört zu den seltsamen Selbstmissverständnissen dieses Unternehmens, dass er die antike Tragödie nicht als Bundesgenossen seines eigenen Unternehmens begriffen hat, sondern, vermutlich befangen in den Auseinandersetzungen mit dem bürgerlichen Trauerspiel des 19. Jahrhunderts, als Gegner. Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 19 f. Benjamin, Walter: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 246. Zum Zusammenhang von antiker Tragödie und Fortschritt – der bei Benjamin ein wenig einseitig als religiöser Fortschritt gedeutet wird, vgl. ebd., S. 285 f.: »Die tragische Dichtung ruht auf der Opferidee. Das tragische Opfer aber ist in seinem Gegenstande – dem Helden – unterschieden von jedem anderen und ein erstes und letztes zugleich. Ein letztes im Sinne des Sühnopfers, das Göttern, die ein altes Recht behüten, fällt; ein erstes im Sinne der stellvertretenden Handlung, in welcher neue Inhalte des Volkslebens sich ankündigen. […] Der tragische Tod hat die Doppelbedeutung, das alte Recht der Olympischen zu entkräften und als den Erstling einer neuen Menschheitsernte dem unbekannten Gott den Helden hinzugeben.« Man lege neben all dies noch einmal die Konstruktion von Philoktet. Zu diesem Zusammenhang vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 18 f. Benjamin: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, S. 234 – 237.


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The Redundancy Ein Produktionsbericht1 Ratlosigkeit 1.0 Anlässlich seiner Inszenierung des Produktionsstückes Der Lohndrücker am Deutschen Theater Berlin gestand Heiner Müller 1988 ein, dass es eigentlich »nicht das aktuellste Stück im Moment« sei.2 Mehr als 30 Jahre später scheinen die Aufbaujahre des Sozialismus und die Konflikte in der industriellen Produktion der frühen DDR ferner denn je, könnten doch die Produktionsbedingungen im neoliberalen Kapitalismus kaum unterschiedlicher sein. Und schon 1985 hatte Frank Hörnigk ohnehin behauptet, Müllers Produktionsstücke seien überhaupt nur ›richtig‹ zu verstehen, wenn man sie in die historische Situation der DDR einbette.3 Umso größer ist nun meine Irritation, dass ich bei der Lektüre des Lohndrücker meinte, dort die Arbeitsbedingungen und Konflikte, denen ich als Angestellte einer britischen Universität ausgesetzt bin, präzise erfasst zu finden. Wie kann es sein, dass sich die neoliberale Universität als sozialistisches Produktionsstück zeigt? Sollte, um ein weiteres Mal in den Zungen Müllers zu sprechen, auf einmal ›die Wirklichkeit wieder das Material dafür bereithalten, dass Stücke wie Der Lohndrücker wieder geschrieben, zumindest doch inszeniert werden können’?4 Oder handelte es sich etwa nur um ein Missverständnis meinerseits – und wenn ja, wo lag das Missverständnis: in meiner Lektüre des Lohndrücker oder in meiner Wahrnehmung meiner Arbeit? Aber hatte Rainer Nägele nicht einst vorgeschlagen, über die Sprache Müllers in allen Stücken überhistorische anthropologische Fragestellungen zu identifizieren, die eine soziale, politische und ideologische Situation nicht brauchten – also weder die des Sozialismus noch die des neoliberalen Kapitalismus? Für Nägele ist es durchaus möglich, dass Müllers Produktionsstücke auch außerhalb des sozialistischen Kontextes gelten und auf eine Wirklichkeit stoßen. Und Falk Strehlow analysiert in der wohl einschlägigsten Studie zum Lohndrücker zwar »Balke als ein Phänomen kollektiver/sozialer/historischer Arbeitsverhältnisse bzw. Schwellenerfahrungen«, schreibt diese aber nicht ausschließlich der Übergangsgesellschaft der frühen DDR zu.5 Müller selbst notierte zu der Inszenierung von 1988: »evtl. Struktur finden, in der jede Szene als Metapher steht, die dann hintereinander

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zu montieren sind.«6 Müller sucht 1988 offenbar nach einem Weg, bei dem das historisch Konkrete der frühen DDR metaphorisiert und damit übertragbar – also geöffnet – wird für neue historische Konstellationen. Diese Metaphorisierung mittels Inszenierung ist im Text bereits angelegt, so legt es nicht nur Nägele, sondern auch mein Lektüreeindruck nahe. Erwägen wir außerdem, dass Müller die Metapher in einem späteren Gespräch mit Alexander Kluge als eine Krücke bezeichnet, die »dich weiter [trägt], als du denken konntest vorher, hinterher kannst du das dann vielleicht nachdenken«.7. Daher sei sie mit einer »Sichtblende« zu vergleichen,8 die mehr sichtbar machen kann, als man mit dem bloßen Auge hätte sehen können. Für Müller galt es offenbar, 1988 den Lohndrücker-Text in szenische Metaphern zu setzen, um dann zu prüfen, was auf diese Weise sichtbar wird.

Flyer für die site-specific, multimedia performance-Aufführung

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Das hier im Folgenden zu beschreibende künstlerische Forschungsprojekt The Redundancy beruht auf verschiedenen Texten Müllers (u. a. Herakles 5, Hamletmaschine, Die Schlacht) mit einem Fokus auf Der Lohndrücker. Ziel der inszenatorischen Arbeit, die etwa zwischen Ende 2018 und Juni 2019 stattfand, war es, szenische Metaphern zu generieren, in denen ein ›Mehr‹ aufleuchtet, mit dem es sich jenseits des Lohndrücker-Textes und seines Kontextes der sozialistischen Übergangsgesellschaft weiterdenken lässt. Was mit diesem Beitrag vorliegt, sind gewissermaßen ›Geschichten aus der Produktion‹ der »site-specific, multimedia performance The Redundancy«9, aber auch aus dem akademischen Betrieb Großbritanniens. Dieser ist zugleich die Produktionswirklichkeit, aus der sich The Redundancy als ein metaphorischer Denkraum des Lohndrücker ergab. Vorweg sei hier darauf hingewiesen: Der Beitrag ist ein diskursiv-medialer Hybrid. Die (audio-)visuellen Komponenten (Abbildungen im Text, audiovisuelle Materialien über QR-Code) sind im gleichen Maße zu gewichten wie der Text. Weder sollen die unterschiedlichen Wissensformen einander erläutern noch sich gegenseitig veranschaulichen, sondern sie führen untereinander einen Dialog, vielleicht gar ein Streitgespräch. Der vorliegende Produktionsbericht vertritt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern setzt auf das gezielte Vermitteln einzelner Eindrücke.

Artisten in Augias’ Stall, ratlos

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Zunächst herrschte übergreifend Ratlosigkeit: Ratlosigkeit angesichts des Vorhabens, als Laie, ohne Ensemble, ohne Budget und ohne Theatermittel, eine Inszenierung des Stückes zu konzipieren. Ratlosigkeit auch gegenüber Müllers Text, und vor allem gegenüber der eigenen Situation als Akademikerin auf dem britischen Bildungsmarkt. Dieser sei hier kurz skizziert, da er sich in der neoliberalen Deregulierung stark von den deutschen Zuständen unterscheidet.10

Der britische Bildungssektor Unter New Labour erhob Großbritannien 1998 infolge des sogenannten Dearing Report Studiengebühren in Höhe von £ 1000, die 2004 auf 3000£ und schließlich 2011 von der Tory Regierung unter David Cameron nach dem Browne Review auf £ 9000 erhöht wurden. Gleichzeitig wurden die staatlichen Zuschüsse an Universitäten weiter rapide vermindert, nachdem sie bereits in den Jahren 1989 bis 1997 um 36 Prozent gesunken waren. Heute finanzieren sich Universitäten zu 70 Prozent aus Studiengebühren. Die Universitäten treten infolgedessen miteinander in Wettbewerb – um zahlende Kunden. Dieser Wettbewerb wurde durch drei weitere Maßnahmen zusätzlich forciert: 1. Die sozialdemokratische Initiative, den vermeintlich elitären Ort Universität der Massenbildung zu öffnen, hatte ehemalige Fachhochschulen 1992 zu Universitäten befördert, so dass heute mehr Markteilnehmer um immer weniger Ressourcen kämpfen (dabei besonders zu beachten sind die staatliche Förderung sowie die demographische Entwicklung). 2. Zusätzlich zu den Kürzungen staatlicher Gelder werden diese nun nicht mehr pauschal vergeben, sondern performanceabhängig: Das sogenannte REF (Research Excellence Framework) und TEF (Teaching Excellence Framework) sind bürokratische Kontrollinstrumente,11 mit denen sich alle Marktteilnehmer gegenseitig evaluieren – und zwar in Bezug auf Lehre und Forschung. Der Kriterienkatalog bewertet dabei vor allem unmittelbare Markteffekte beider Sparten deutlich höher als langfristige soziale und erst mittelbar wirksame Konzepte.12 In den meisten Strategiepapieren versprechen Universitäten, sich in Forschung und Lehre an der Marktnachfrage zu orientieren und Effizienz zu fördern. Als Gestalter der Gesellschaft sehen sie sich hingegen kaum noch. Das gilt auch für die Linke, deren Versagen sich in dem Einzug neoliberaler Instrumente in britischen Universitäten zeigt, die den Wettbewerb nicht nur dulden, sondern in jeder Weise fördern. Sie weiß dem institutioneller Darwinismus nicht nur nichts entgegenzu-

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setzen, sondern lässt zu, dass er gefeiert wird.13 Studierende und Komitees vergeben Auszeichnungen und Preise an herausragende Leistungsträger (Student-Led Teaching Award, Equality Role Model Award, Career and Employability Award), die für die Empfänger zugleich die erforderlichen Beweise bei Beförderungsanträgen sind. Solidarität unter Kollegen wird auf diese Weise unterwandert und als Schwäche ausgelegt. Sie gilt nicht prinzipiell, sondern nur, wenn sie einen Wettbewerbsvorteil bringt.14 3. Seit 2015 wurde der Bildungsmarkt in England und Wales (Schottland bildet eine Ausnahme) weiter dereguliert. Universitäten durften nun beliebig viele Studenten aufnehmen, während HEFCE (Higher Education Funding Council for England) und HEFCW (Higher Education Funding Council for Wales) zuvor ein Höchstmaß an Studierenden für jede einzelne Universität (gemessen an deren Kapazitäten und der Nachfrage) festgelegt hatte. Dadurch wurde eine relativ ausgeglichene Verteilung der ›zahlenden Kunden‹ zugunsten eines letztendlich kannibalistischen Wettbewerbs aufgegeben. Die Begründung der Forcierung von Wettbewerb in Bildung und Forschung fußt auf dem Glauben, diese gesellschaftlichen Bereiche gehorchten Marktdynamiken. Man meint so, Innovationen in der Lehre zu fördern und dadurch die »student experience«15 (also die Kundenzufriedenheit) zu verbessern.16 Die Folgen dieser Maßnahmen ließen nicht lange auf sich warten: Anders als in Deutschland sind Universitäten in England und Wales profitmachende Betriebe, die nicht nur im Bildungsmarkt agieren, sondern auch in daran anbindenden Geschäftsfeldern wie Immobilien, Industrieparks oder Gastronomie. Universitäten werden nur in den seltensten Fällen von aktiven Wissenschaftlern geleitet, sondern von ausgebildeten Managern. Hatten Universitäten mit der Vermassung der akademischen Bildung zwar anfangs mehr Personal eingestellt, ringen sie seit Jahren aufgrund wirtschaftlicher und staatlicher Kürzungen mit einem verringerten Haushalt, so dass Gehälter seit Jahrzehnten stagnieren und nur leicht an Inflationsraten angepasst werden. Mit Covid-19 setzen viele Universitäten diese tarifliche Lohnsteigerung sogar aus. Zugleich haben die meisten Universitäten hohe Kredite aufgenommen, um besagte Investitionen zu tätigen, vor allem im Hinblick auf Rekrutierung internationaler Studierender, die höhere Studiengebühren zahlen. Universitäten stehen daher oft in festen Erfüllungsverträgen mit Gläubigerbanken.

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Redundancy

Falsche Investitionen, hohe Verschuldung und Zinsverpflichtungen haben in vielen Universitäten zu einer finanziellen Belastung geführt, die erfordert, dass die Universitäten sich tief einschneidender Restrukturierungen inklusive Personalabbaues unterziehen. So erging es auch meinem Arbeitgeber, der 2017/18 und 2018/19 zwei Restrukturierungsmaßnahmen ausführte. Darunter fielen Maßnahmen wie die Aussetzung von Beförderungsausschreibungen und Lohnerhöhungen, Streichung von Forschungsbudgets, Veräußerung von Grundstücken und Gebäudekomplexen, Schließung ganzer Fachbereiche und schließlich Forcierung freiwilliger Abgänge oder tarifliche Neueinstufung in niedrigere Entgeltgruppen. Priorität der Restrukturierung aber war der Stellenabbau von etwas mehr als 300 Arbeitsplätzen, im Fachjargon als redundancy geführt.

Redundanz der Geister

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Der englische Begriff redundancy wird hier im umgangssprachlichen Sinne verwendet, um Formen ausufernder Ausführlichkeit zu bezeichnen. Eventuelle Längen meines Beitrages dürfen also durchaus als Strategie performativen Widerstandes gegen die arbeitsrechtliche Maßnahme der Redundanzbeseitigung gelesen werden. Darüber hinaus ist Redundanz ein Fachbegriff in der Informationstheorie, wo er diejenigen Informationen bezeichnet, die wegfallen könnten, ohne dass ein Verständnisverlust entstände. Überflüssig sind diese Informationen aber nicht unbedingt, garantiert die Wiederholung zum Beispiel in Übertragungstechnologien oft die erfolgreiche Übermittlung. Redundanz erhöht also Sicherheit in Abläufen – seien sie technischer oder kommunikativer Art. Potentielle Fehler können mittels Redundanz von vornherein verhindert oder schnell kompensiert werden. Redundanz garantiert somit den Erfolg und damit die Nachhaltigkeit und Stabilität eines Systems. Neben dieser Bestimmung kommt redundancy in der englischen Sprache vor allem eine arbeitsrechtliche Bedeutung zu. Auf der offiziellen Webseite der britischen Regierung findet sich folgende Definition: »Redundancy is when you dismiss an employee because you no longer need anyone to do their job. This might be because the business is: − − −

changing what it does doing things in a different way, for example using new machinery changing location or closing down

For a redundancy to be genuine, you must demonstrate that the employee’s job will no longer exist.«17 Diese Beweislast von redundancy wird über die Haushaltsverantwortung in vielen Universitäten in der Hierarchie tief herunterdelegiert. Institute müssen einen Businessplan erstellen, in dem gegebenenfalls so genanntes »redundant staff« identifiziert wird (nicht namentlich, aber in der Stellenbeschreibung). Dadurch werden aus Kollegen – meist selbst an der Konzeption dieser Dreijahrespläne beteiligt – Konkurrenten.18 Gleichzeitig konstituiert der Faktor redundancy eine weitere Klassenkategorie. Diese ist nun rein hypothetisch, existiert sie doch innerhalb der akademischen Institution ausschließlich in der Immaterialität von Zahlenspielen und hört als solche für die Institution auf zu existieren, wenn sie einen Körper gefunden hat, also Beschäftigte entlassen werden: Sie verkörpern die einstmals immateriellen Zahlenspiele des Systems. Diese Verkörperung aber bedeutet

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für die entlassenen Beschäftigten den Austritt aus dem akademischen Betrieb. Das Druckmittel des akademischen Arbeitgebers ist heute somit nicht mehr der Lohndruck, sondern die redundancy. Mit der Drohung to be made redundant kann man das Personal gegenseitig ausspielen. Daher wählte ich für meine Inszenierung den Titel The Redundancy statt Der Lohndrücker. Der Lohndrücker von heute, das bin ich, und das sind meine Kollegen. Wir schreiben die Businesspläne und wir versuchen, uns gleichzeitig gegenüber den anderen Kollegen als unersetzbar zu distinguieren, indem wir trotz bereits bestehender Arbeitsüberlastung weitere Aufgaben übernehmen. Die Norm im Lohndrücker ist unser workload. Die Normerhöhung, welche von der Aktivistentat ermöglicht wird, und gegen die sich die Arbeiter im Lohndrücker auch sträuben, wird an britischen Universitäten durch redundancies automatisch implementiert. Denn Endzweck der Umstrukturierungen (des Umbaus) der Fakultäten und Institute ist einzig und allein die Legitimierung von redundancies, nicht die Verbesserung von Produktionsabläufen. Das ist ein entscheidender Unterschied zum Lohndrücker und zur Aufbauphase der DDR, wo durch den Nachkriegsarbeitskräftemangel in der Regel Entlassungen nicht stattfanden. An britischen Universitäten wird die Aussicht auf bessere Produktionsabläufe hingegen nur noch rhetorisch angepriesen, es ist aber letztendlich nur ein Schauspiel, das Arbeitskulturen depersonalisiert und in Zahlenspielen abstrahiert. So entkörpert können sie beliebig skaliert werden. Bis heute haben die wenigsten Universitäten ein sogenanntes WAM (work allocation modell), das die tatsächliche Arbeitsauslastung erfassen würde.19 Viele Universitäten implementieren es eben erst jetzt, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die höchste Überlastung akzeptierte Norm ist. Diese perpetuiert die Anomalie und legitimiert damit die bereits ausgesprochenen redundancies nachträglich: Die abgebaute Stelle hat es offenbar tatsächlich nicht gebraucht. In der eigenen Stelle spukt daher an der heutigen britischen Universität immer auch die andere, jener redundant post. Die Prämie, die Balke im Lohndrücker kassiert, ist heute der Stellenerhalt. Somit ist nicht nur die Tat egoistisch motiviert, sondern wird auch egoistisch entlohnt. Denn dem Wohle eines Kollektivs wird unser »heroischer Fleiß«20 nicht zugeführt. Die Norm bleibt eine von außen auferlegte, die nur aufgrund existentieller Angst vor den ökonomischen Sachzwängen von Einzelnen übererfüllt wird. Zudem ist dieser Norm eine ›innovative Aktivist*innentat‹ als Erwartung der Norm bereits inhärent. Im Kampf um den eigenen Stellenerhalt werden Innovationen zum Pflichtprogramm – ob in Lehre, Verwaltung oder Forschung.

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Hinzu kommt, dass das Arbeitsethos des Akademikers – gewissermaßen die Mentalität Balke21 – den Wettbewerb mitspielt, ohne ihn unbedingt zu wollen, zumal nur solche der Institution erhalten bleiben, die bereit sind, sich für ihre Forschung und manchmal auch Lehre selbst auszubeuten. Die akademische Subjektivität konstituiert sich über ein hohes Arbeitsethos, dem hoher Produktivitätsdrang, Wunsch nach absoluter Autonomie und Individualität, Selbstmotivation, Flexibilität und Selbstverantwortung eigen sind.22 Dieses Ethos findet keine Alternative, ohne sich nicht selbst zu verneinen. Der Neoliberalismus bietet dem Akademiker scheinbar den passenden Rahmen für seine Vorstellungen von Arbeit. Viele Aspekte des Neoliberalismus werden daher nicht als Zwang empfunden und viele Produkte des Neoliberalismus sogar als Privileg genossen. Margaret Thatcher hatte die Kraft des Neoliberalismus in einem Interview mit der Sunday Times 1981 wie folgt beschrieben: »Economics are the method: the object is to change the soul.«23 Solidarität mag ein Wert sein, doch sie kann unter diesen Bedingungen nicht gelebt werden. Redundancies und Umstrukturierungen werden als marktbedingte Sachzwänge wahrgenommen. Selbst der Rückzug aus der Wissenschaft findet meistens individuell statt.24 Dabei ist – und das ist eine Erkenntnis des Nachdenkens im metaphorischen Denkraum der Redundancy-Inszenierung – Balke kein individuelles, sondern ein kollektives Phänomen in einer sozialen Konstellation.25 Im Unterschied zur Übergangsgesellschaft der DDR scheint dieses Kollektiv Balke jedoch in der Konstellation: ›neoliberaler Hochschulsektor‹ nicht positiv besetzbar zu sein. So verschwanden im Zuge der Umstrukturierungen allein in den Philologien an meiner Institution sechs Kolleg*innen, sie verschwanden aus dem institutionellen Text und keiner fragte nach ihnen, wie auch im Lohndrücker entweder kaum jemand nach dem Verbleib von Brillenträger, Trakehner oder Lerka fragt oder auf die Frage keine Antwort erhält. Die zahlreichen Pausen, das großflächige Schweigen, das die Regieanweisungen im Lohndrücker-Text vorgeben, verstand ich daher als Realmetapher: Realmetapher, da wegen der erhöhten Arbeitsbelastung, tatsächlich kaum noch Gespräche zwischen Kolleg*innen möglich sind, Realmetapher, da die politisch-ökonomischen Konstellationen, in denen sich das spurlose und stille Verschwinden von Arbeitern ereignet, in den beiden Wirklichkeiten von DDR-Sozialismus und UK-Kapitalismus grundverschieden sind. Dadurch, dass ich das Schweigen und die Pausen im Text als Metapher las, wurde das Unsichtbare (die verschwundenen Kollegen) jedoch wieder sichtbar.

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Sichtbar wurde damit auch, dass zwar die Personen aus der Institution verschwunden waren, nicht aber ihre Arbeitskraft und -prozesse. Die nämlich spuken bis heute durch die Arbeitsprozesse der Überlebenden. Angesichts dieser sozialen Konstellation frage ich mich, was ich eigentlich mache und wer ich werde, wenn ich so arbeite, wie ich arbeite. Ich überlege, ob ich eigentlich ein Balke bin und ob es unter den gegebenen Umständen nicht vielleicht besser wäre, ich wäre ein Bittner, Trakehner, Zemke oder gar Herman Melvilles Bartleby.

Balke oder Bartleby?

Ratlosigkeit 2.0 Müllers Notizen zu seiner Lohndrücker-Inszenierung von 1988 bestimmen nicht nur Theaterszenen als Metaphern, sondern auch »Lehrstücke als […] Vorführen von Haltungen«26. Theater im Allgemeinen bietet für Müller also nicht nur ein Nachdenken über Probleme und Konflikte auf Umwegen (Metapher), sondern im spezifischen Fall der Lehrstücke die Auseinandersetzung mit verschiedenen Haltungen, die in und zu den verhandelten Problemen und Konflikten möglich wären. Mit der inszenatorischen Arbeit am Lohndrücker erhoffte ich mir also auch ein Ausprobieren von Haltungen gegenüber Arbeit. Eine der ersten

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szenischen Metaphern ergab sich allerdings durch die Beschäftigung mit Müllers Herakles 5: einem Text, der es erlaubt, die obigen Fragen in einem geradezu anthropologisch erweiterten Rahmen zu ergründen, statt gebunden an eine konkrete ökonomische Konstellation. Mit dem Happening Herakles 5 auf einem nordwalisischen Bauernhof sollte Müllers Text, der ja den griechischen Helden erstmals als trivialen Arbeiter darstellt und somit vermeintlich Widersprüchliches wie banale Arbeit und heroische Tat zusammenführt, befragt werden. Zugleich sollten damit aber auch je individuelle und kollektive Imaginationen banaler und heroischer Arbeit abgerufen und zur Diskussion gestellt werden. Der Blick auf das Geschehen war gerahmt durch das Stalltor, und zusätzlich durch Kameras als Szene, gar als Schaukastenbühne sichtbar.

Schaukastenbühne // Realtheater

Alle Teilnehmer wechselten während der etwa zwei Stunden immer wieder ihre Rollen – mal traten sie in den Stall und schauten der Arbeit zu (oder dem daliegenden Mist), mal traten sie zum Misthaufen und arbeiteten.

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Sichtbare und unsichtbare Arbeit

Die Arbeit am Misthaufen stand allerdings unter dem Diktum der Sinnlosigkeit, denn es ging nicht darum, Augias’ Ställe auszumisten, sondern den Mist von einem Ende des Haufens zum anderen zu versetzen. Teilweise begleitet von Arbeiterliedern, teilweise ohne Musik, testete ich, ob das sinnlose Versetzen des Misthaufens heroische Arbeit sein könnte. Körperlich anstrengend, zudem regnete es teilweise in Strömen, wurde das Happening Herakles 5 zu einem Einüben von grundsätzlicher Arbeitsbereitschaft als Haltung. Heroische Stimmung jedoch kam trotz aller Bemühungen nicht auf, eher die eines existentiellen Fatalismus. Die Normerhöhung – nach etwa einer Stunde wurde eine zweite Schubkarre herbeigeholt und die Gruppe aufgefordert, Wege der Effizienzsteigerung der Arbeit zu finden – änderte an dieser Bereitschaft wenig. Die symbolische Entlohnung, die ich am Ende in Form von künstlichen Goldklumpen verteilte, wurde im Übrigen von allen Teilnehmern demjenigen Teilnehmer übergeben, der nach einer allgemeinen Abstimmung am meisten geschuftet hatte und zum »Helden der Arbeit« gewählt worden war. In diese lebendige szenische Metapher schlichen sich weitere mögliche Haltungen ein, ein Teilnehmer borgte sich eine Peitsche aus dem Stall, um die ›Arbeitstiere‹ anzutreiben, ein anderer ergriff das Megaphon und forderte den späteren »Helden der Arbeit« zur Arbeitsniederlegung auf, und die Hofkatze führte den Taugenichts ins Bild.

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Geschichten aus der Produktion Nach diesem ersten szenischen Versuch suchte ich die Rückführung meiner Auseinandersetzung hin zu den konkret historisch-ökonomischen Konstellationen der beiden Wirklichkeiten, der DDR in den Aufbaujahren und Großbritannien im Jahr 2019. Um meine Irritation an meiner identifikatorischen Lesart des Lohndrücker zu überprüfen und zugleich die metaphorische Potentialität des Lohndrücker zu strapazieren, entschied ich mich dafür, inszenatorisch so zu arbeiten, dass sich beide Wirklichkeiten – die textliche und die meines akademischen Arbeitsalltags – überlagerten. Dazu gehörte auch, dass ich Titelblätter von mehreren Ausgaben einer fiktiven Zeitung mit dem Namen The Daily Worker in die Postfächer meiner Kolleg*innen verteilte. Dort wurde unter anderem von den erzählten und unerzählten Geschichten des Lohndrücker berichtet:

Ich konzipierte also die Inszenierungsarbeit als sogenannte »durational performance«27. Das schien mir aus zwei Gründen sinnvoll: Zum einen bedeutete es einen andauernden Dialog, der im Sinne Bertolt Brechts alles »eintheatert«28. Gegen Brecht lese ich diesen Effekt jedoch positiv, da er erst einen poetischen Raum herstellt, indem eine alternative Realität denkbar, Veränderungspotential also mobilisiert wird. Zum anderen hebt die durational performance hervor, dass die Inszenierungsarbeit wie auch die Umstrukturierung der Universität Bangor bei laufendem Universitätsbetrieb durchgeführt wurde, wie ja auch die Reparatur des Ringofens im Lohndrücker bei laufender Produktion stattfindet.

Geschichte I: Wer spricht? Eine erste Beobachtung ergab sich aus der wiederholten Lektüre des Lohndrücker-Textes (in englischer Sprache) während der Arbeitszeit, im Studentengespräch und im Rahmen der Inszenierungskonzeption. Zunehmend vernahm ich in meinem Arbeitsalltag vollständige Sätze

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oder sinngemäße Varianten des Lohndrücker-Textes aus den Mündern meiner Kolleg*innen, fand sie in Emails oder in Verlautbarungen der Universität wieder. In Dienstbesprechungen sah ich in meinem Gegenüber nicht mehr nur meine Kolleg*innen, sondern einen Schorn, manchmal einen Balke, oft einen Zemke. Dadurch wurden bislang eher unsichtbare Konstellationen meiner Arbeitsrealität unwillkürlich als Lohndrücker-Konflikte gebündelt. Ich entschied mich, diese Beobachtung zuzuspitzen und traf eine Auswahl an Lohndrücker-Sätzen und bat meine etwa 25 Kolleg*innen je eine Phrase innerhalb einer Woche so oft wie möglich in allen Situationen, die sie für angemessen hielten, zu verwenden und wenn möglich, mir über ihre Erfahrungen zu berichten. Nicht nur stieß ich auf rege Beteiligung und offenbar Freude unter den Kolleg*innen, sondern auch auf sagenhafte Berichte über sich unwillkürlich ergebende Zitationen im weiteren Verlauf des Gespräches. Manche Kolleg*innen gaben auch zurück, dass sie sich des Öfteren gefragt hätten, ob das Gegenüber gerade einen Satz sagt, den ich an diejenige Person verschickt hatte, da sie selbst ihren Satz so leicht im Anschluss platzieren konnten, eben als sei es ein geschriebener Dialog. Das bedeutet, die Überlagerung der Wirklichkeiten führte zu einer Verunsicherung der Wirklichkeit, mit der zugleich eine neue Potentialität aufschien, wonach alles auch anders sein könnte. Zugleich forderte die Aufgabe dazu auf, sich mit dem, was das Gegenüber sagt, auf eine andere Weise auseinanderzusetzen – nicht nur genauer hinzuhören, sondern auch eine Bedeutung in dem Gesagten zu suchen, die eben einen Anschluss des zu platzierenden eigenen Satzes erlaubte.

Geschichte II: Efficiency, Efficiency at any Price Bei der Auswahl der besagten Sätze oder Satzfetzen fiel mir vor allem die Szene 5 des Lohndrücker ins Auge. Hier fand sich eine genaue Darstellung jener Konflikte, die sich beim Umbau unseres Instituts und durch die sich daraus ergebenen Engpässe zeigten. Zugleich war mir die Szene Metapher für all die Schwierigkeiten, die sich mir selbst bei meinem Vorhaben der Inszenierung des Stückes zeigten: kein Budget, kein Ensemble, keine Theatermittel, zugleich kaum Zeit, aber hohe Arbeitsbelastung. So ergab sich mit Szene 5 eine Metapher, in der sich die Produktionsbedingungen meiner Arbeit (der akademischen wie auch der inszenatorischen), ja in der sich die Bedingungen der durational performance und die sich daraus ergebenden Haltungen oder Entscheidungen gebündelt anschauen ließen. Aufgrund der Selbstreflexivität, die diese Szene aufweist, wollte ich sie in zweifacher Form zur

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Aufführung bringen. Mit dem Wortlaut der englischen Übersetzung (siehe das Kapitel: Geschichte IV – Vorproduktion und Entfremdung) und in einer auf die Produktionsbedingungen der Inszenierung umgeschriebenen Textfassung, die als Expositionsszene für die abschließende site-specific multimedia performance dienen sollte. Hier die umgeschriebene Textfassung: Actor 1: I’d only like to tell you, Sir, this won’t work. A schedule that’s based on the assumption that colleagues and friends will be available over 2 months of production is irresponsible, if not absurd, with the workload everybody is in. One dropping out, and the performance will face chaos! Actor 2: (Looking into playwrights, not very attentive) We are facing chaos, Mister. We’re restructuring an institution. That spells: Efficiency, efficiency at any price. Actor 1: Maybe efficiency will be the price. I’m washing my hands of it, I’d only like to have pointed that out. […] Director: (enters, talking on mobile phone) Listen, Schurek, I need them. Am I supposed to work with my bare body? (pauses, listens to the person on the phone) What does that mean, all our cast has been allocated? I have not received anyone. (pauses, listens to the person on the phone) I know, that we are supposed to make academic research, impact and students and not art and stuff. I am not asking anyone to break rules. (pauses) No, I am not willing to make sacrifices. (stops the phone conversation and throws the phone on the floor. Director turns to the 2 actors) We are supposed to do a 21 person play with three actors. Our production play will be a chamber play. (exit) Actor 3: (enters, with smart phone in hands) I need something on production outputs for my PURE Profile29. Actor 1: That will be tough. Actor 3: How are we doing with the performance? Actor 1: No boot walks by itself alone. Actor 3: What’s that? Actor 1: First somebody’s got to put it on the foot. Actor 2 (to Actor 3): I’ve got something for you, colleague. Wait here, I’ll get the director. (Actor 1 exits. Silence. – Actor 2 comes back with director) Director: Do you know what a production play is? Actor 3: A theatre genre mainly known in the former Socialist Bloc,

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as these plays dealt with the problems and challenges the socialist societies in-their-making faced in industrial production sector. Often, the cast of these plays, were recruited from factory workers, and performed at relevant production sites. Actor 1 to Actor 2: Well, maybe she knows all theatre history by note? Director: We are short of workers, after the redundancies. We’ll have to cancel our performance, if further people bail on us. The scenes we were recently rehearsing, will need reediting as actors had left. Actor 3: Sabotage. Director: Redundancies! Workloads! Actor 3: I see. Objective obstacles. Actor 1: (to the director) So, you say, it is impossible to do the performance with those left? Director: I was saying, the play requires 14 actors. That is the norm, the script sets you. The producer has just told me, we will do it with what we have. What remains to be done then: outsourcing, pre-recording, digitisation and blue sky thinking. He said. (All exit in different directions) Der damalige Stand der Dinge war nun, dass ich hauptsächlich mit nur vier Kolleg*innen kontinuierlich an dem Stück arbeitete und zunehmend das Medium Film wählte. Zum einen wurde ich darin durch Hans-Thies Lehmanns Hinweis ermuntert, der Lohndrücker weise zahlreiche »filmdramaturgische […] Mittel […] (Schnitt, Sprung, rascher Szenenwechsel)«30 auf, zum anderen hatten sich klassische Proben für mich als nicht produktiv erwiesen: zu zeitaufwendig, zu distinguiert vom Alltag, zu abschreckend für manchen, der mitmachte.31 Film hingegen erlaubte Unterbrechung der Szene, teilweise Unabhängigkeit von Ort und Zeit sowie leichten Rollenwechsel. Die umgeschriebene Szene konzentriert sich auf die Konfliktkonstellation zwischen akademischen Pflichten und künstlerischem Engagement, sie liefert außerdem dem Zuschauer notwendige Erläuterungen (Genre: Produktionsstück, Hintergrund: Redundancies, PURE etc.) und macht schließlich glauben, mit der Drohung, aus dem Produktionsstück werde aufgrund der Produktionsbedingungen ein Kammerspiel, sei die Situation präzise zu erfassen. Da ein Kammerspiel zumeist aus vier Figuren besteht, empfand ich meinen philologischen Einfall zunächst als Geniestreich, erkannte aber später meinen Fehlschluss, der sich nun abermals in einer weiteren widersprüchlichen

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Wendung als richtungsweisend herausstellen sollte: Ein Produktionsstück wird niemals ein Kammerspiel, denn gleich welch verfremdete Form ein Produktionsstück annimmt, es bleibt ein Produktionsstück: Zum einen, weil alle Figuren im Produktionsstück gesellschaftliche Kräfte verkörpern, also keine Individuen im Sinn eines (bürgerlichen) Kammerspiels sind – und zum anderen bleibt es Produktionsstück gerade dann, wenn sich in seiner Form die Produktionsbedingungen zeigen. Und in der umgeschriebenen und so gefilmten Szene wird die entstellte theatrale Form des inszenierten Lohndrücker als The Redundancy nicht nur in seiner Form ausgestellt, sondern für die gesamte Produktion antizipiert: »outsourcing, pre-recording, digitisation and blue sky thinking«.

Zwischenspiel: Das Produktionsstück als Genre unserer Zeit Bedingt durch die Konsekutivschleife: redundancies, workload, efficiency schälte sich als ästhetische Strategie meiner Inszenierung des Lohndrücker als The Redundancy eine Theaterform heraus, die das Theater dadurch sowohl er- als auch verunmöglichte, dass eben jene Leitprinzipien einer Universität im Umbau konsequent auf die Inszenierung angewendet wurden. Mir lag es also fortan nicht daran, die Produktionsbedingungen an einer neoliberalen Universität lediglich zu thematisieren oder in Metaphern einer Sichtung zugänglich zu machen, sondern mir ging es darum, eine Inszenierung unter den Produktionsbedingungen, die thematisiert wurden, und mit den Produktionsmitteln, die hier zur Verfügung standen, zu produzieren. Das bedeutete: keine Proben, Befreiung aller Beteiligten vom Auswendiglernen oder jeglicher Form der Rollenidentifikation (die Rollenbesetzung fluktuierte ohnehin, jemand, der in einer Szene für Balke einstand, konnte in der nächsten Szene Schorn verkörpern). Entscheidungen traf ich also nicht mehr aus dem Text heraus und einer ästhetischen Vision folgend, sondern einzig unter dem Leitprinzip efficiency:

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Wichtig aber war: Es musste neben der durational performance zu der abschließenden site-specific, multimedia performance-Aufführung kommen, um in dieser eine verkörperte Metapher für die Produktionsstätte Bangor University und darin einen Denkraum zu generieren.

Geschichte III: Outsourcing und Digitalisierung von Szene 8a Das neoliberale Produktionsregime an der Universität Bangor ebenso wie die Bedingungen der Inszenierungsarbeit von The Redundancy (u. a. Outsourcing, Digitalisierung) kamen zum Beispiel auch darin zur Anschauung, dass ich mich teilweise für eine Parzellierung von Produktionsschritten entschied. Denn so ließen sich die Arbeitskräfte, die mir zur Verfügung standen und die Arbeitszeiten am flexibelsten einsetzen, zudem erlaubte es, Produktionsschritte ganz auszulagern. Eine solches Outsourcing betraf Szene 8a.

Neue Freie Arbeit

Statt mit Kolleg*innen in Bangor zu arbeiten, bat ich Freunde außerhalb Wales (Deutschland, USA, England, Schweden) um Hilfe bei der digitalen Aufführung der Szene. Ich kreierte für alle Figuren ein GoogleKonto, sendete allen Freunden den Text der Szene sowie ihre GoogleDaten. Über Doodle-Poll entschieden wir einen einstündigen Termin (14. Mai. 2019; 22 Uhr MEZ), zu dem sich alle Beteiligten mit ihrem

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Figurenprofil in einem Google Docs-Dokument trafen. Ich selbst war als Regieanweisung angemeldet, arbeitete also in kursiver Schrift und nahm zudem die digitale Live-Aufführung über meinen Desktop als Bildschirmfilm auf.

Ich sehe was, was ihr nicht seht. Produkt und Arbeit

Die Instruktion an die Texter war, den Text ihrer Figur zu je gegebenem Zeitpunkt einzutippen. Google Docs zeigt den Kontonamen desjenigen an, der in einem Google Docs-Dokument tippt. Der im Dokument flackernde Kontoname verkörpert damit die Figur in Realzeit, zwar nicht im Sprechen, wohl aber als Erscheinen der Figur in ihrer Schriftform. Diese Live-Aufführung dauerte 27 Minuten und 6 Sekunden. Für die spätere site-specific, multimedia performance-Aufführung entschied ich mich allerdings, den Desktopfilm auf 5 Minuten und 25 Sekunden zu raffen. Ich wollte, dass die reale Arbeitszeit im Produkt nicht mehr sichtbar ist. Ganz gelungen ist es nicht, da das Blinken des Cursors

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im Google-Docs-Dokument durch den Zeitraffer für einen Zuschauer, der mit Google-Docs und seinem Erscheinungsbildes vertraut ist, ungewöhnlich schnell erscheint. Die Beschleunigung der Realzeit wird dadurch zwar sichtbar, eine genaue Bestimmung der Beschleunigung (um das Vierfache) jedoch bleibt intuitiv unmöglich, der Zuschauer ist durch diese Störung aufgefordert, das Verhältnis von Produkt und Arbeitszeit zu befragen. Der Soundtrack, den ein ortsansässiger Musiker für diese Szene aus verschiedenen Geräuschen industrieller Produktion komponiert hatte, stellte eine Verknüpfung her zwischen der industriellen Realität des Lohndrücker und der Wissensindustrie der Universität, deren Realität der digitalen Vermittlung in Lehre und Forschung mit dem Format Google-Docs zitiert wurde. Für die Aufführung während der site-specific, multimedia performance hatte ich außerdem die Videodatei in einen Blackboard-Kurs, den ich eigens für das Projekt erstellt hatte, hochgeladen. Die Aufführung der Videodatei fand im sogenannten Language Lab des Institutes statt. Alle Zuschauer konnten dabei auf dem zentralen Bildschirm beobachten, wie ich zuerst den Blackboard-Kurs aufrief, um von dort die Videodatei abzuspielen.

Geschichte IV – Vorproduktion und Entfremdung Die Produktion der Szene 8a brachte zwar Formen digitalen Arbeitens und der damit ermöglichten Auslagerung von Arbeit zusammen, alle Beteiligten hatten aber trotz ihrer physischen Verstreuung innerhalb der virtuellen Geographie dieser Inszenierung ein ganzheitliches Produktionserlebnis: Zum einen hatten sie Zugriff auf die gesamte Szene, da ich ihnen den Text im Vorhinein zugeschickt hatte, zum anderen sahen sie den gesamten Herstellungsvorgang und waren – auch wenn sie nicht tippten – im Dokument anwesend und beteiligt, da sie ihren Einsatz nicht verpassen wollten. Einige Freunde berichteten sogar von Lampenfieber. Dieser Erfahrungswert in der Kollaboration, der Zeitaufwand, den dieser erforderte, entsprach aber nicht wirklich der Erfahrung einer zunehmend digital bürokratisierten Arbeitsteilung, die mit der Restrukturierung der Universität implementiert worden war. Das Utopische, das dieses gemeinsame digitale und doch zeitsynchrone Erstellen des Google-Dokuments barg, lässt die Arbeitsrealität hingegen vermissen, indem wirkliche Kollaboration dort die Ausnahme ist, ein nebeneinander und manchmal gar gegeneinander Arbeiten hingegen die Regel. Um die Arbeitsrealität stärker zur Geltung kommen zu lassen, suchte ich daher nach anderen medialen Formen zur Vorfabrikation.

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So kamen wir erneut zu Szene 5. Diesmal bat ich ein weiteres Mal meine Kolleg*innen um Mithilfe. Anders als meine Freunde bei Szene 8a erhielten sie nun aber nicht die komplette Szene, sondern einzig die Sätze ihrer Figur. Ich instruierte sie, ihre Sätze mit dem Handy oder Ähnlichem aufzuzeichnen und mir die Audiodatei zuzusenden:

Damit konnte ich nicht nur den Zeitaufwand meiner Kollegen auf ein Minimum reduzieren, sondern auch ihren mental load, da eine Auseinandersetzung mit dem in der Szene ausgeführten Konflikt und der Haltung der Figuren nicht möglich und auch nicht nötig war. Ich hatte explizit darauf hingewiesen, die Sätze möglichst neutral zu sprechen. Bei dem aufwendigen Editieren der einzelnen Audiodateien zeigte sich jedoch, dass das so Eingesparte nun von mir investiert werden musste. Die Rechnung der Mehrarbeit ließ sich in diesem Versuch also nicht verwirklichen. Die Reduzierung des Zeitaufwandes auf Seiten meiner Kolleg*innen führte zu einer Maximierung des Zeitaufwandes auf meiner Seite. Das Produkt ›Audiopodcast Szene 5‹ verlangt eine bestimmte Arbeitszeit. Effizienz (vom Arbeitgeber vor allem als Zeitaufwand berechnet) hat somit ihre Grenzen.

Geschichte V: Aufführung durch Ausfall Neben den vorfabrizierten medialen Formaten wollte ich auch Live-Szenen in die Abschlussaufführung aufnehmen, darunter neben Szene 2, 3 und 8b ursprünglich auch die Szene 12. In der Woche vor dem Aufführungstermin hatte ich jedoch weder Idee noch Kraft, geschweige denn Darsteller gefunden, diesen Plan umzusetzen. Stattdessen entschied ich mich, den für diese Szene vorbestimmten Raum (Schlafzimmer in meiner Privatwohnung) zu verschließen, den Text der Szene an der Tür auszuhängen und mit einem Hinweis zu versehen, dass die Szene aufgrund von Krankheit entfiele. Im Nachhinein erkannte ich, dass in eben dieser Form nicht nur die Lohndrücker Szene zur Aufführung kam, sondern auch die Produktionsbedingungen der durational performance. 159


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In Szene 12 geht es um den krankheitsbedingten Ausfall Krügers, der die Vollendung der Reparatur des Ringofens gefährdet – ähnlich also den Bedingungen nach den zahlreichen Entlassungen im Rahmen der Umstrukturierung der Universität, wo solche krankheitsbedingten Ausfälle nicht mehr kompensiert werden können, weil potentielles Personal redundant gemacht worden ist, sprich die notwendige Redundanz in den Abläufen fehlt. Der Ausfall der Live-Aufführung von Szene 12 wurde damit im Aushang aufgeführt, und zwar in einer den Produktionsbedingungen adäquaten Form.

Die Aufführung der site-specific, multimedia performance Aus dem Vorhaben, die scheinbar unvereinbaren Wirklichkeiten des sozialistischen Aufbaus der Industrie und des neoliberalen Umbaus der Universität gegenseitig zu überlagern, um Metaphern sichtbar zu machen, in denen es sich denken ließ, erwuchs also die Erkenntnis, dass das sozialistische Genre ›Produktionsstück‹ eben nicht nur Produktionsbedingungen zu thematisieren, sondern diese in der Form seiner eigenen Produktion zu verkörpern habe. Das Produktionsstück The Redundancy führte sich daher als durational performance auf, sprich in dem Körper-Werden der Inszenierung und nahm diese Produktionsabläufe – wenn auch in verschobener und oft nicht sofort einsichtiger Weise – in seine Gestalt auf. Das gleiche sollte auch für die Aufführung als Abschluss der durational performance gelten. Eine Bühnenproduktion im klassischen Sinn war The Redundancy nicht. Diese Entscheidung wurde bereits früh getroffen. Stattdessen hielt ich an der Idee fest, die Produktionsstätten selber zu bespielen und so die erarbeiteten Szenen und Materialien auf dem Campus der Universität zu zeigen:

So sollte der Ort sprechen lernen, im besten Falle aber auch eine Potentialität zum Anders-Sein-Können gewinnen, gewissermaßen eine Poetisierung der Räume ermöglichen, die sehr einseitig funktionalisiert

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und semantisch erschlossen sind. Gemäß dem Leitprinzip größtmöglicher Effizienz in der Produktion entschloss ich mich außerdem, alle Materialien, die bei der durational performance produziert worden waren, in diese einmalige Abschlussaufführung eingehen zu lassen. Dazu gehörten neben Dokumenten der Recherche und Utensilien aus der Szenenarbeit auch Videos von Happenings sowie Videos, die sich aus der szenischen Erarbeitung von anderen Texten Müllers oder der Universität während der Umstrukturierung (u. a. Academic Strategy Paper) ergeben hatten. Beispielsweise wurden Filme des Herakles-5-Happenings in verschiedenen Lehrräumen des Instituts auf Bildschirmen im Dauerloop abgespielt, je mit unterschiedlichem Soundtrack begleitet (Arbeiterlieder, Tonaufnahmen einer Schreibmaschine, ohne Ton):

Ein Video, das aus meiner Auseinandersetzung mit den »Academic Strategy Paper«, welches die Universität im Laufe der durational performance generiert hatte, hervorgegangen war, wurde in voller Lautstärke in mehreren besetzten und nach redundancies leerstehenden Büros eines engen Korridors parallel und leicht zeitversetzt abgespielt, so dass die wichtigsten Schlüsselbegriffe wie »market-demand«, »more efficient«, »Blue Chips Grant« im Korridor aufeinanderhallten. Die Zuschauer konnten selbstständig durch das Gebäude wandeln, nur für einige Stationen wurde das Publikum zusammengerufen. So auch für die Aufführung von Szene 3, deren klassische Theaterprobe gescheitert war. Im Personalraum befanden sich alle Darsteller unter den Zuschauern und man führte das Szenengespräch – teilweise deutlich vom Blatt ablesend – unter ihnen auf, so dass das Publikum in das Stück ›eintheatert‹ wurde. In gewisser Weise wurde das Publikum – durch den Ort (Personalraum) und den Text (Szene 3) somit zum schweigenden Kolleg*innenkreis im Stück. Neben dem Hauptgebäude der Universität wurde aber auch meine Privatwohnung bespielt, da die Arbeitswirklichkeit die Trennung von Arbeit und Freizeit kaum noch erlaubte. Dort hatte ich ein Schlafzimmer zum Archiv, Büro, aber auch Denkraum gestaltet sowie Filme

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im Flur als Endlosschleife projiziert und die Szene 12 ›ausgestellt‹. Die Bespielung der Privaträume war mir zudem wichtig, da ich im Laufe der durational performance nicht nur mich selbst ausgebeutet, sondern auch Freunde und Netzwerke instrumentalisiert hatte. Sprich, nicht nur meine eigenen Privaträume waren zu Orten unbezahlter Mehrarbeit geworden, nicht nur teilweise die meiner Kolleg*innen, sondern auch die von Freunden. Ebenso war mir daran gelegen, den Themenkomplex, der sich mit The Redundancy ergeben hatte, auf den gesamten Ort Bangor auszuweiten, so dass ich einige Szenen im öffentlichen Raum verortete, darunter historische Orte heroisierter Arbeit, wie den der Britannia Bridge.32

Sichtblende als Metapher: Britannia Bridge (Gwynedd // Anglesey)

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Durch die Erweiterung zur ortsspezifischen multimedialen Aufführung auf mehrere Spielorte ergaben sich zum Teil lange »unbespielte« Pausen und Zwischenzeiten – zum Beispiel brauchte es etwa zehn Minuten Fahrzeit von der Universität zu dem Waldstück der Britannia Bridge, woran sich ein etwa 30-minütiger Fußmarsch anschloss, da die Brücke nicht anders zu erreichen ist. Das gleiche ergab sich auf dem Rückweg, an den sich dann eine etwa fünfminütige Autofahrt zu meiner Privatwohnung anschloss. Diese ›unbespielten Zeiten‹ verstand ich als überdeutliche Replikation der Pausen und des Schweigens in Müllers Der Lohndrücker und als Einladung zum Nachsinnen. Für einige Zwischenzeiten aber hatte ich eine Playlist erstellt, die abzuspielen jedem auf seinem eigenen Gerät offenstand. Für den langen Spaziergang zur Britannia Bridge hatte ich zum Beispiel Joseph Beuys’ Ja Ja Ja Nee Nee Nee33 empfohlen – nicht nur wegen seiner meditativen Wirkung, sondern eben auch, um noch einmal die Frage nach der Aktivist*innentat zu stellen: Bin ich ein Balke, bin ich das Ja Ja Ja, oder bin ich ein Bartleby, bin ich das Nee Nee Nee?

Flackernde Nachbilder Balke oder Bartleby? Herakles oder Herkules? Wer werden wir, wenn wir arbeiten, welche soziale Wirklichkeit produzieren wir, dadurch dass wir arbeiten? Die Frage nach der – auch selbstausbeuterischen – Aktivist*innentat bleibt: In welcher sozialen und ökonomischen Konstellation ist welche Haltung gefordert? The Redundancy, entstanden im Produktionszusammenhang ›neoliberale Universität‹, verhält sich gewissermaßen invers zu Der Lohndrücker. Wandern im Lohndrücker Konkurrenzverhältnisse in einen Kollaborationszusammenhang ein – um diesen aufrechtzuerhalten –, ist an neoliberalen Universitäten das Konkurrenzverhältnis das Normale. Wie aber kann die Kollektivform Balke, deren Produktivität im neoliberalen Kapitalismus ein »Verschleiß-, Vernichtungs-, Vertotungspotential«34 zukommt, so umkanalisiert werden, dass sie wieder Triebkraft utopischer Gestaltung von Gesellschaft jenseits quantifizierbarer Werte und Verwertung wird?35 Für welche Form von Universität setze ich meine Kraft und Zeit ein? Die neoliberale Zuspitzung des Kapitalismus ist, anders als das – vielleicht auch trotzige – Bekenntnis Müllers zum Sozialismus, nicht die Gesellschaftsform, die ich von meiner Mehrarbeit profitieren lassen will. Zugleich bringe ich mit meiner Arbeit deren Bedingungen ebenso hervor, wie beide meine akademische Subjektivität hervorbringen – diese reziproke Genealogie oder Anthro-

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pologie der Arbeit hat Müller immer wieder in Bildern gebündelt: ob in Herakles 5, in Herakles 2 oder die Hydra und ebenso in Der Lohndrücker. Unsere Arbeit fällt immer wieder auf uns selbst und als wir selbst auf uns zurück. Will man dem Fatalismus entkommen, ließe sich diese Dialektik als transformative Kraft der Arbeit beschreiben, wie es etwa Strehlow mit seiner Zusammenführung von Joseph Beuys und Heiner Müller vorgeführt hat.36 Aus der rein subjektiven Irritation meiner Lektüre des Lohndrücker entwickelten sich somit Erfahrungen und ein Denken von hoher Ambivalenz. Während der durational performance sah ich sowohl mich selbst als auch meine Kolleg*innen in der Überlagerung und Gleichzeitigkeit der Wirklichkeiten des Lohndrücker und unseres universitären Umbaus ständig Konstellationen von Balke, Zemke, Schorn, Stettiner und anderer Figuren durchspielen, und zwar nicht in Rollen, sondern als Akademiker und Angestellte der Universität Bangor. Das schrieb sich in die ›Produkte‹ ein, die in der abschließenden site-specific, multimedia performance-Aufführung zusammengetragen wurden. Zugleich erfuhr ich Solidarität und Bereitschaft, das künstlerische Forschungsprojekt voranzubringen. Auch das wurde in der abschließenden site-specific, multimedia performance sichtbar. Die Selbstbeobachtung der Universität (und der Produktion im weiteren Sinne), die mit dieser abschließenden Performance möglich wurde, verkörperte also nicht nur die objektiven Sachzwänge, sondern auch das schöpferische Potential. Die perspektivische Verschiebung, die die inszenierte Selbstbeobachtung implementierte, re-poetisierte somit jeden der bespielten Räume. Ähnlich wie Karras am Ende des Lohndrücker sich mit einem Bier und einer Pause einen Denkraum schafft außerhalb der Arbeitswelt, generierte die abschließende site-specific, multimedia performance einen etwa dreieinhalbstündigen Denkraum, in dem Möglichkeiten einer anderen Universität und Arbeitswelt nachgegangen werden konnte, als der, die wir als Realität zu produzieren entschieden haben. Auch das ist die Kraft von Müllers Produktionsstücken, die – trotz des Realismusverdachts des Genres – Räume schöpferischer Phantasie sind. Das besitzt – in einer Zeit, in der Mark Fishers Beobachtung »that not only is capitalism the only viable political and economic system, but also that it is now impossible even to imagine a coherent alternative to it«37 allen Akademikern aus dem Herzen zu sprechen scheint – unbedingte und dringende Aktualität. Eine inszenatorische Ästhetik des Produktionsstückes fordert also nicht nur eine selbstreflexive Form der Produktionsbedingungen, sondern ein schöpferisches Mehr –

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und hier kommt die szenische Metapher wieder ins Spiel – die dieses Weiterdenken und die Erfahrung von Alternativen ermöglicht. Lässt sich dieses Mehr zurückgewinnen für unsere Arbeitswelt – und für die Gesellschaft im Ganzen –, so ist die Produktivkraft Balke unbedingt zu wollen. Die durational performance hat mit der abschließenden Aufführung zugleich auch Taktiken aufgezeigt, in denen die Balke’sche Überbietung der Norm als aktiver Widerstand eingesetzt werden kann. Die Mehrarbeit, die in dieses Projekt einfloss, kam nicht der effizient arbeitenden Maschine zugute, sondern war – auch dank ihrer spezifischen ästhetischen Form – eine Normüberbietung als produktive Form von Michel De Certeaus Konzept »faire de la perruque«38.

Futile Gestures? Die revolutionäre Energie jeder künstlerischen Tätigkeit droht freilich in futile gestures zu verpuffen. So plakatierten Kolleg*innen anlässlich des außergewöhnlichen und erstmaligen Besuches des Universitätspräsidenten das gesamte Institut mit Zitaten, die sich im Laufe der Arbeit am Lohndrücker und anderen Texten als prominent herausgeschält hatten.

Futile Gesture oder Perückenarbeit?

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Der Universitätspräsident sah sich daraufhin veranlasst, das Institut ein zweites Mal aufzusuchen und abermals das Gespräch mit uns zu führen. In keinem anderen Institut hatte er so viel Kritik an den Umstrukturierungsmaßnahmen erfahren. Umgesetzt wurden sie aber trotzdem. Am 22. Februar 2019 entschied sich mit 86 Prozent eine deutliche Mehrheit unter den befragten Gewerkschaftsmitgliedern für einen Streik gegen prekäre Arbeitsverhältnisse, gegen die hohe Arbeitsbelastung, für mehr Gleichstellung und gegen Rentenkürzungen.

Die Streiks fanden vom 25. November bis 4. Dezember 2019 und vom 20. Februar bis 13. März 2020 statt, eine Einigung erfolgte nicht. Und dann kam übergangslos Covid-19. Heiner Müllers szenische Produktionsmetaphern sind daher ein weiteres Mal inszenatorisch zu befragen – mit den alten und neuen Fragen. Dies gilt vor allem, da im Kontext von Covid-19 eine politische Re-Heroisierung von Arbeit betrieben wird, sowohl von Seiten der Politik als auch von Seiten des Universitätsmanagements. Wenn aber eine konservative Regierung von ›heroischen Frontkämpfern an der Supermarktkasse und im Krankenhaus‹, wenn eine neoliberale Universitätsleitung von ›außergewöhnlichen Kraftanstrengungen ihrer Belegschaft‹ spricht, ist erneut die Frage angebracht, wer eigentlich hier von einer Heroisierung der Arbeit profitiert.

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Ich möchte Wolfram Ette und Falk Strehlow für die Anregungen danken, die sie großzügig mit mir teilten und die in diesen Beitrag eingegangen sind. 2 Siehe: Suschke, Stephan: »Chronologie der Inszenierung, 10. September 1987«, in: dossier ID 703a, Archiv der Akademie der Künste, Berlin. 3 Hörnigk, Frank: »›Bau‹-Stellen. Aspekte der Produktions- und Rezeptionsgeschichte eines dramatischen Entwurfs«, in: Zeitschrift für Germanistik, 6.1 (Januar 1985), S. 35 – 52. 4 1979 äußert Müller die Hoffnung auf eine Welt, »in der Stücke wie GERMANIA TOD IN BERLIN nicht mehr geschrieben werden können, weil die Wirklichkeit das Material dafür nicht mehr bereithält«. Müller, Heiner: Mülheimer Rede (1979), in: Heiner Müller Werke 8, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2005, S. 220 f. (im Folgenden mit Sigle W und Band angegeben). 5 Strehlow, Falk: Balke. Heiner Müllers »Der Lohndrücker« und seine intertextuellen Verwandtschaftsverhältnisse, Stuttgart 2006, S. 66. 6 Suschke: Chronologie. 7 Müller: Heiner Müller über Rechtsfragen, in: W11, S. 646. 8 Ebd., S. 647. 9 Dieses Wortungetüm sei hier bitte entschuldigt, im weiteren Verlauf des Beitrages wird aber verständlich werden, warum es gewählt wurde und auch weiterhin in seiner vollen Länge Verwendung findet. 10 Ein guter Überblick findet sich bei: Feldman, Zeena/Sandoval, Marisol: »Metric Power and the Academic Self. Neoliberalism, knowledge and resistance in the British university”, in: tripleC. Communication, Capitalism & Critique, 16.1 (2018), S. 214 – 233. 11 Siehe dazu: Beer, David: Metric Power, London 2016. 12 Eine allgemeine kritische Abrechnung dazu findet sich mit: Davies, William: The Limits of Neoliberalism. Authority, Sovereignty and the Logic of Competition, London 2014. 13 Siehe dazu: Wigger, Angela/Buch-Hansen, Hubert: »Competition, the Global Crisis, and Alternatives to Neoliberal Capitalism. A Critical Engagement with Anarchism«, in: New Political Science 35.4 (2013), S. 604 – 626. 14 Siehe dazu: Giroux, Henry A.: »Neoliberalism and the Death of the Social State. Remembering Walter Benjamin’s Angel of History«, in: Social Identities 17.4 (2011), p. 587-601. 15 Die Umstände, aus denen Müllers Lohndrücker in mein Leben bzw. in meine Arbeit trat, geben einen kleinen Hinweis auf das Dienstleistungsregime: Da Studierende meines Moduls über das geteilte Deutschland in die Evaluierungsbögen geschrieben hatten – es sollte nicht so viele und nicht so lange Texte zu lesen geben und die Texte sollten auch auf Englisch zur Verfügung stehen –, sah ich mich gezwungen, meine Textauswahl des Moduls neu aufzustellen. Der Lohndrücker ist extrem kurz und liegt in einer (wenn auch schlechten) englischen Übersetzung vor. Die Zufriedenheit meiner Studierenden ist eines jener Produktionsziele, die mir mein Arbeitgeber vorgibt. Diese wird mit dem Abschluss des Studiums über den »National Student Survey« (NSS) ausgewertet. Der NSS ist ein Faktor, der in die League-Tables einfließt. Daher haben britische Universitäten ein institutionelles Monitoring auf Mikroebene implementiert: die so oder anders genannten »Student-Staff-Committees«, die zweimal pro Semester zumeist Klagen der Studierenden moderieren. 16 HEFCE, das die wenigen staatlichen Gelder unter den Universitäten verteilt und auch die Evaluierungen ausführt, untersteht sinngemäß dem »Department for Business, Innovation and Skills«, heute »Department for Business, Energy and Industrial Strategy«. Siehe: Department for Business, Innovation & Skills: Success as a Knowledge Economy. Teaching Excellence, Social Mobility and Student Choice: Government White Paper, 2016 www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/523396/bis-16-265-success-as-a-knowledgeeconomy.pdf (letzter Zugriff 13.8.2020). 17 https://www.gov.uk/staff-redundant (letzter Zugriff 13.8.2020). 18 Siehe allgemein zum Eintreten des Hochschulwesens in Wettbewerbsmechanismen und dem damit generierten Klassensystem: Schulze-Cleven, Tobias/ Reitz, Tilman/Maesse, Jens/Angermuller, Johannes.: »The new political economy of higher education. Between distributional conflicts and discursive stra-

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tification«, in: Higher Education 73 (2017), S. 795 – 812. https://doi.org/10.1007/ s10734-017-0114-4. Spezifischer zu den Folgen für die Arbeitskultur Großbritanniens siehe: Mahony, Pat/Weiner, Gaby: »Neo-liberalism and the state of higher education in the UK«, in: Journal of Further and Higher Education, 43.4 (2019), S. 560 – 572, https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/0309877X. 2017.1378314. 19 Für eine Diskussion des WAM und seine Folgen auf die Produktionskultur siehe: Graham, Andrew T.: »Academic staff performance and workload in higher education in the UK. The conceptual dichotomy«, in: Journal of Further and Higher Education, 39.5 (2015), S. 665 – 679, DOI: 10.1080/0309877X.2014.971110. 20 Rischbieter, Henning: »Der Lohndrücker«, in: Heiner Müller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi, Stuttgart/Weimar 2003, S. 243 – 246, hier: S. 243. 21 Balke »ist ein Wühler in jedem System, er hat Spaß an seiner Findigkeit, er will den Mehrverdienst, die Prämien«, Rischbieter: »Der Lohndrücker«, S. 244. 22 Siehe dazu: Gill, Rosalind: »Breaking the Silence. The Hidden Injuries of Neo-Liberal Academia«, in: Feministische Studien, 34.1 (2016), S. 39 – 55. 23 Thatcher, Margaret: »Interview for Sunday Times«, 3. Mai 1981, https://www. margaretthatcher.org/document/104475 (letzter Zugriff 13.8.2020). 24 Willmott, Hugh: »Managing the Academics. Commodification and Control in the Development of University Education in the UK«, in: Human Relations, 48.9 (1995), S. 993 – 1027. 25 Siehe dazu ausführlich: Strehlow: Balke, S. 62 – 66. 26 Suschke, Chronologie. 27 »Durational Performance« wird in der Theaterwissenschaft teilweise auch unter dem Begriff der »Endurance Art« geführt. Diesen möchte ich hier jedoch aufgrund der körperlichen Strapazen sowie der Nähe zu Leidnarrativen, die der Begriff der »endurance« birgt, vermeiden. Zur näheren Bestimmung von »Durational Art« siehe auch: Allain, Paul/Harvie, Jen: The Routledge Companion to Theatre and Performance, London 2014, S. 221. 28 Brecht, Bertolt: Anmerkungen zur »Dreigroschenoper«, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 24, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Berlin/Frankfurt a. M. 1991, S. 57 – 68, hier: S. 58. 29 PURE ist ein »Research Information Management System«, das es erlaubt, alle Forschungsaktivitäten effizient zu verwalten und damit zu überwachen. Alle Angestellten der Universität, deren Arbeitsverträge einen Forschungsanteil aufführen, müssen sämtliche Aktivitäten zeitnah in das System einpflegen. Die dort verbuchten Informationen werden in den Webauftritt der Universität übertragen. Die dort eingespeisten Publikationen werden alle sieben Jahre im nationalen REF (Research Excellence Framework) nach ihrer Tauglichkeit bewertet. Je nach Ranking im REF erhalten die Universitäten staatliche Forschungszuschüsse. Das PURE Profil ist außerdem ausschlaggebend für Beförderungen. Siehe dazu auch: https://www.bangor.ac.uk/research-innovation-and-impact-office/ pure.php.en. 30 Lehmann weist darauf hin, dass die Kritik Müller in Bezug auf den Lohndrücker immer schon vorgeworfen hätte, er »arbeite nicht mit genuin dramatischen, sondern filmischen Mitteln«. Lehmann, Hans-Thies: »Ästhetik des Textes – Ästhetik des Theaters. Heiner Müllers ›Lohndrücker‹ in Ostberlin«, in: ders.: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten (Theater der Zeit Recherchen 12), Berlin 2002, S. 324 – 337, hier: S. 329. 31 Hier ist zudem anzumerken, dass ich zu Beginn der Inszenierungsarbeit eine Probe angesetzt hatte. Mit einer damals noch größeren Freiwilligengruppe von sieben Personen arbeiteten wir – in einem Proberaum der Theaterwissenschaften – an einem Sonntagmittag mit Szene 3 des Lohndrücker, auch aus aktuellem Anlass, da die Gewerkschaft für Angestellte der Universitäten (UCU) für eine Urabstimmungskampagne zur Arbeitsniederlegung warb. Zwar eignete sich die Gruppe den Lohndrücker-Text schnell für ihre Wirklichkeit an, jedoch verweigerte der explizit theatrale Raum dieser Aneignung eine Evokation von Ambiguität in den Referenzfeldern des Lohndrücker und des Universitätsalltags. Der Lohndrücker blieb eine fremde Wirklichkeit, weder Text noch Spiel entwickel-

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ten so eine Kraft über den Proberaum hinaus. Auch diese Erfahrung bestärkte mich in der Entscheidung, Proben auszusetzen – und »theatrale Räume« möglichst zu meiden. 32 Zur Geschichte der Britannia Bridge und der bei ihrem Aufbau verunglückten Arbeiter siehe: HistoryPoints und James, Gerwyn: Britannia Bridge builders’ memorial, Llanfairpwll, November 2015. http://historypoints.org/index.php?page=britannia-bridge-builders-memorial-llanfairpwll (letzter Zugriff 27.5.2019). 33 Beuys, Joseph: Ja Ja Ja Nee Nee Nee, 1970, Vinyl-Schallplatte, 31 cm x 31 cm x 0,5 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, © VG BildKunst, Bonn 2018, https://www.lenbachhaus.de/entdecken/sammlung-online/ detail/ja-ja-ja-nee-nee-nee-30036256 (letzter Zugriff 17.9.2020). 34 Strehlow: Balke, S. 61. 35 Siehe dazu: ebd., S. 62. 36 Siehe dazu: ebd., insbes. S. 54 – 62 sowie das Kapitel »IV. Held/Verbrecher«, S. 373 – 628. 37 Fisher, Mark: Capitalist Realism. Is There No Alternative?, Winchester 2010, S. 2. 38 Siehe dazu: De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 2014, S. 13 ff.

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»Warum zertrümmert ihr das Fundament?« Ein Gespräch mit Hartwig Albiro und Carena Schlewitt Moderation: Janine Ludwig

Janine Ludwig: Es hat sich heute Morgen herausgestellt, dass wir wirk-

lich ganz am Anfang stehen, und dass sehr viel noch durchgeackert werden muss, bevor wir zu irgendeiner Art von Einigkeit kommen. Heute Abend haben wir uns ein – ja, vielleicht nicht ganz einfaches – Programm, würde ich sagen, vorgenommen. Denn wir haben die schwierige Aufgabe, aus den Themen und Theoremen des Tages jetzt auf eine praktische Ebene zu kommen. Ich habe hier zwei großartige Theaterpraktiker zu meiner Linken und Rechten. Und zwar Hartwig Albiro, der als Schauspieler angefangen hat, mehrere Jahre in Altenburg, Stendal, am Dresdner Theater Junge Generation, in Meißen und in Görlitz überall als Schauspieler tätig war, aber auch schon frühzeitig immer gewechselt ist in das Fach des Spielleiters. In Görlitz war er bis 1968 Spielleiter, dann Regiemitarbeiter am Berliner Ensemble und dann – und das klingt beeindruckend – ein Vierteljahrhundert lang, also von 1971 bis 1996, am Schauspielhaus Karl-Marx-Stadt/Chemnitz Schauspieldirektor. Außerdem war er im Präsidium des Verbands der Theaterschaffenden der DDR Vorsitzender der Sektion Schauspiel. Also ich bin sehr gerührt und angetan davon, dass ich Sie hier moderieren darf. Dazu Carena Schlewitt, die an der Humboldt-Universität zu Berlin Theaterwissenschaften studiert hat, die dann an der Akademie der Künste in Ostberlin wissenschaftliche Mitarbeiterin war. Danach war sie als Dramaturgin oder als stellvertretende künstlerisch Leiterin tätig: unter anderem beim Festival »Theater der Welt« in Berlin, beim Forum Freies Theater in Düsseldorf und am HAU in Berlin. Ab 2008 war sie 10 Jahre künstlerische Leiterin der Kaserne Basel. Seit 2018/19 ist sie die Intendantin von HELLERAU, dem »Europäischen Zentrum der Künste« in Dresden. Ein interdisziplinäres, internationales Großprojekt – wenn ich das so sagen darf. Und beide haben einen ganz konkreten Bezug zu einem bestimmten Müller-Stück, mit dem wir auch jeweils beginnen werden. Und zwar hat Herr Albiro möglich gemacht, dass Frank Castorf den Bau in Karl-Marx-Stadt ’86 inszenieren konnte. Hartwig Albiro: Mit Meyer, mit Gerhard Meyer.

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Janine Ludwig: Nicht alleine, bescheiden wie er ist. Frau Schlewitt hat

damals, noch als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Künste, die berühmte Lohndrücker-Inszenierung, die Heiner Müller am Deutschen Theater 1988 selbst besorgt hat, mitverfolgt und in einem wunderbaren Buch dokumentiert. Darüber werden wir auch sprechen. Das heißt, wir haben einen Anhaltspunkt mit zwei konkreten Stücken zu Beginn, was immer ganz gut ist, weil wir heute Morgen schon sehr viel über das Produktionsstück und frühe Stücke Heiner Müllers gesprochen haben. Gleichzeitig haben wir natürlich auch die Möglichkeit und die Chance, mit Ihnen beiden über die Zeit von 1989 zu reden, über die Umbrüche, die Rolle des DDR-Theaters in diesen Umbrüchen und vielleicht sogar noch über das politische Theater heute in Chemnitz und Dresden. Und wenn Sie jetzt sagen: »Das hat keine Chance, das können wir nicht schaffen«, dann werden Sie wahrscheinlich Recht haben. Wir versuchen es trotzdem. Beginnen wir mit dem frühesten Ereignis, mit dem Bau von Frank Castorf, dem berühmten in Karl-Marx-Stadt. Den ich natürlich nicht gesehen habe, wie wahrscheinlich die meisten hier. Und es gibt auch fast keine Aufzeichnungen, oder zumindest sind sie nicht leicht zu bekommen. Also vielleicht können Sie uns über die Entstehung dieser Inszenierung und auch die Art und Weise dieser Inszenierung ein paar Sachen aus der Erinnerung erzählen. Hartwig Albiro: Ich freue mich ganz besonders, dass Andrea Koschwitz hier im Publikum ist. Sie war die Dramaturgin dieser Aufführung. Und immer dann, wenn ich vielleicht nicht genau Bescheid weiß, wenn es um die Texte geht – da werden wir sicher drüber reden –, kann sie helfen. Ich will aber gerne was erzählen, weil diese Begegnung mit Castorf in Karl-Marx-Stadt etwas zu tun hat mit der Situation, in der sich Castorf befand. Die Arbeit von Bau ist eigentlich mehr eine Arbeit von Castorf auf dem Fundament von Heiner Müller. Und der Anfang der Geschichte geht so: Es gibt den Hermann Beyer, den Schauspieler, den Bruder von Frank Beyer. Der war Schauspieler in Potsdam, kannte den Gerhard Meyer. Und Hermann Beyer rief also Gerhard Meyer an, und sagte: »Es gibt hier einen Castorf, der ist im norddeutschen Raum tätig – in Anklam oder so – und der hat immer Schwierigkeiten. Könnt ihr als Bezirkstheater und als angesehene Bühne« – wir waren ja Träger des Karl-Marx-Ordens usw., hatten also ein gewisses Vertrauensverhältnis – »könnt ihr nicht was tun für diesen Menschen?« Da hat Meyer den Castorf bestellt und Castorf kam und wollte eigentlich Ibsen machen und eigentlich

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Ein Gespräch mit Hartwig Albiro und Carena Schlewitt

was ganz anderes. Aber er war relativ schnell bereit, auch den Bau zu machen. So ist eigentlich diese Bekanntschaft oder diese Empfehlung, die zu einem großen Theaterereignis in der DDR führte, entstanden. Basierend auf einer persönlichen Beziehung, wenn man so will. Castorf kam dann und hat auch – daran kann ich mich ziemlich genau erinnern – in der Konzeptionsprobe viel geredet, aber eigentlich wenig über Müller und wenig über seine Absichten. Und von Anfang an war über dem Unternehmen so ein Hauch der Improvisation und der künstlerischen Ideenvielfalt. Aber so richtig genau wusste man nicht, wo es hinläuft. Jedenfalls der erste richtige Durchlauf war dann die Premiere und die Aufführung dauerte gefühlte fünfeinhalb Stunden. Der Intendant ging vor den Vorhang und sagte: »Es geschieht heute etwas Außergewöhnliches, ein sehr langer Theaterabend, aber etwas sehr Besonderes. Genießen Sie es usw.« Die Aufführung hat eine große Wirkung hinterlassen. Sie war eindeutig sehr lang – oder auch zu lang, kann man sagen. Es gelang dank einer List von Meyer, die Aufführung zu verkürzen. Ich war bei dem Gespräch dabei. Das haben wir mit der damaligen Freundin von Castorf geführt. Die wurde eingeschaltet und Meyer hat erreicht, dass die Freundin auch Einfluss nimmt, damit die Aufführung kürzer wird. Sie wurde dann auf dreieinhalb Stunden gekürzt. Die Aufführung löste großen Jubel aus, aber auch große Irritation, weil der Otto Normalverbraucher natürlich von dem, was er vielleicht schon kannte, wenig wiedergefunden hat. Kenner aber entdeckten eine Vielfalt von sinnlichen Wahrnehmungen von DDR-Wirklichkeit. Von Träumen der DDR-Bürger, vom Fundament, das gebaut werden sollte und zertrümmert wurde durch die Obrigkeit oder durch die Planwirtschaft. Die Geschichte mit der Schlee und dem Parteisekretär. All das waren Episoden. Im Stück spielte zum Beispiel das Lied vom Luftballon, Schenk mir einen blauen Luftballon, eine große Rolle. Es wurden Lieder gesungen. Also das Ganze war auch eine Illusion, ein Traum von einer Welt. Jetzt versuche ich es einmal zu verknappen: Die Aufführung bestach durch ganz viele Improvisationen, die über die Schauspieler entstanden waren in der Probenarbeit. Durch ganz viele Merkwürdigkeiten, Besonderheiten, Bilder, die eigentlich gar nicht in das normale Leben eines Werktätigen auf dem Bau passten. Die auch in der Realität der Theaterszenerie der damaligen Zeit ungewöhnlich waren. Es mischte sich Verschiedenes: Der Arbeiter brachte dem Parteisekretär ein Stück der Rolling Stones bei. Solche Geschichten, die bei Müller nicht direkt stehen.

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»Warum zertrümmert ihr das Fundament?«

Es war eine erfolgreiche, sehr bemerkenswerte Aufführung. Aber die Kritiker waren auch nicht wenige. Und jetzt kommt der Theaterverband ins Spiel. Als die Kritik immer heftiger wurde und sogar »Müsst ihr denn das spielen?«, also ein mögliches Verbot im Raum schwebte, habe ich dann mit Verbündeten ein Kolloquium organisiert, wo wir führende Köpfe der DDR-Theaterszene nach Karl-Marx-Stadt geholt haben und nach der Aufführung debattiert haben. Dieses Kolloquium war eigentlich der Durchbruch. Wir haben gewonnen, würde ich sagen. Dabei auch mit etwas List: dass wir die richtigen Leute zur richtigen Zeit reden ließen. Wolfgang Heinz war zum Beispiel da. Wie auch immer, damit war die Aufführung gesichert und wir spielten sie. Allerdings war zur Premiere auch das Staatsschauspiel Hannover anwesend, die anschließend ein Gastspiel machte. Die wollten Der Bau unbedingt auch in Hannover haben. Das wurde dann aber nicht genehmigt, mit dem Argument: Müller geht im Moment nicht. Wir waren mit fünf Stücken in Hannover und haben drei Wochen Bundesrepublik-Tournee gemacht. Aber statt Bau war es dann Der Biberpelz. Das war ein Verlust, und als Entschädigung wurde angeboten, dem Castorf und uns: »Ihr könnt es aber mit nach Polen nehmen.« Wir waren dann in Warschau und Wrocław. Die Polen haben das Stück wenig verstanden. Das ist die Geschichte über die Aufführung. Und, damit will ich jetzt erst einmal enden: Wir haben 1990 die letzte Aufführung in Frankfurt am Main gespielt. Das Deutsche Theater war auch da und die Schweriner waren da, mit der Wolokolamsker Chaussee. Da gab es dann die Idee, ausgesprochen von – ich glaube es war Günther Rühle – also vom Macher der Frankfurter Experimenta: »Könnt ihr denn nicht diese Aufführung erhalten? Es ist ein Musterbeispiel für DDR-Kunst, DDR-Schauspielkunst, Dramatik; das müsste man bewahren.« Da haben wir alle genickt und so. Aber es ist noch nicht dazu gekommen. Mittlerweile sind ja viele verstorben. Also das ist in Kurzform ein Bericht von Karl-Marx-Stadt und Bau. Janine Ludwig: Also quasi schon als Dokument dieser Aufführung. Frau Schlewitt hat sie sogar gesehen als Studentin. Haben Sie da noch Erinnerungen dran? Carena Schlewitt: Ich kann mich nur an die unglaubliche Energie erinnern, aber das war ja bei Castorf sowieso der Fall. Sie haben vorhin erwähnt, dass er in der einen Szene die Rolling Stones einsetzt – das hat eine emotionale Stimmung getroffen. Wir waren Studenten und es war eine wirklich junge Inszenierung, die uns sofort angesprochen hat. Janine Ludwig: Hatten Sie das Stück vorher schon gekannt? Der Bau, von Müller?

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Ein Gespräch mit Hartwig Albiro und Carena Schlewitt

Carena Schlewitt: Ja, wir haben das im Studium durchgenommen. Janine Ludwig: Und haben Sie es wiedererkannt auf der Bühne? Herr

Albiro sprach davon, dass es auf dem Fundament von Müller war. Der erste Satz des Stückes ist: »Warum zertrümmert ihr das Fundament?« Ich frage mich, hat Castorf das Stück zertrümmert, kann man das sagen? Carena Schlewitt: Das kann ich so nicht sagen. Aber vielleicht auch, weil wir studentisch aus einer anderen Perspektive geschaut haben, gar nicht so analytisch, eher aus einem Lebensgefühl heraus. Eine genaue Erinnerung daran habe ich nicht mehr. Janine Ludwig: Wollen wir die Erinnerung von Frau Koschwitz vielleicht dazu reinholen? Wollen Sie etwas dazu sagen? Andrea Koschwitz: Vielleicht nur eine Sache, die sich in der Vorbereitung ergab – ich war ja nicht erst zur Konzeptionsprobe dabei, sondern auch schon in der Vorbereitung. Und da muss ich einen Punkt sagen: dass es schon sehr vorbereitet war, im Kopf. Und da muss ich den Literaturwissenschaftlern auch wirklich danken. Ich hatte eine Dissertation gefunden, in der es um das Problem des Verhältnisses von individuellem Helden und kollektivem Subjekt ging,1 und die hatte ich irgendwie in der ›Möwe‹ gefunden. Und da habe ich gesagt: »Hier, Frank, lies mal!« Er hat geantwortet: »Ganz schön dick«, hat sie genommen, hat sie durchgelesen und hat genau das inszeniert. Er hat den Weg inszeniert vom Kollektiv zum Individuum. Wir haben angefangen mit dem Bau, das war ja der große Eingriff letztlich, und das war vorgedacht, das war nicht improvisiert. Dann sind wir über den Auftrag zu Quartett gekommen. Es gab Ausschnitte aus Quartett und aus dem Auftrag. Er ist genau die dramaturgische Linie von Müllers Werk bis 1982 durchgegangen. Das heißt, ich würde die Improvisation rein dramaturgisch sehen, in der Vorbereitung. Ich will nur sagen, die Arbeitsweise ist improvisierend und auch sehr interessant, aber er hat sich vorbereitet. Da sind immer diese Thesen von ihm, was er auf der Konzeptionsprobe so redet. Aber er hat dieses dicke literaturwissenschaftliche Buch gelesen und er hat gesagt: »Na dann müssen wir doch Auftrag und Quartett reinnehmen«, weil das Buch darüber ging. Genau das ist ja die Idee, dass der Abend so lang war, weil wir nicht nur ein Stück spielten, sondern drei. Neben all den Improvisationen, die wir hatten. Also es war wirklich eine sehr spannende Arbeit und politisch war es natürlich ein Riesenproblem. Weil nicht nur einmal »Hätt ich gewusst, dass ich mein eignes Gefängnis bau …«, sondern das mindestens fünf Mal gesagt wurde. Es gab richtig extreme politische Debatten, und da war der Theaterverband wichtig. Aber auch

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die Parteigruppe, die einberufen wurde vor der Premiere, wo ich ganz klar gesagt habe: »Also das ist zutiefst gut, was wir hier machen und bitte keine anderen Diskussionen.« Und der Theaterverband genauso. Es gibt eine Dokumentation, wo man das auch alles nachlesen kann. Hier in der Akademie der Künste. Vielen Dank. Hartwig Albiro: Gibt es die Fassung noch? Andrea Koschwitz: Es gibt die Fassung noch. Ich habe damals eine Dokumentation angefertigt, und die gibt es in der Akademie der Künste. Da gibt es auch ein Video. Es ist eigentlich alles in der Theaterdokumentation erhalten. Hartwig Albiro: Dann reduzieren wir die Improvisation auf die Arbeit mit den Schauspielern. Da hat sie ja dann wirklich stattgefunden. Der Frank hat dann bei der Konzeptionsprobe dieses umfangreiche Wissen nicht so rübergebracht. Ist ja auch egal. Er hatte das Vertrauen, er hat es gemacht, es lief ja. Janine Ludwig: Ich bin zutiefst dankbar, dass Sie so ein schönes Beispiel bringen, wie wichtig Literaturwissenschaft sein kann. Wer hätte das gedacht? Da freuen wir uns alle, dass das jemand liest und dass es vielleicht sogar was ausmacht! Vielleicht gehen wir damit direkt schon im Sprung zum nächsten Stück, was eigentlich natürlich in der Chronologie von Heiner Müllers Werk früher war. Nämlich der sehr frühe Lohndrücker, den Sie begleitet haben, Frau Schlewitt. Es gibt auch dazu ein dickes Buch, eine dicke Dokumentation, und es ist auch eine Beschreibung der Inszenierung enthalten. Carena Schlewitt: Ich habe an der Akademie gearbeitet und war keine Dramaturgin wie Andrea Koschwitz. Ich habe aus einer anderen Position heraus diese Dokumentation gemacht. Meine damalige Chefin, Regine Hermann, die sehr engagiert war, sehr viel ermöglicht und mich auch immer sehr ermutigt hat, hat mir gesagt: »Jetzt machen Sie doch mal so ein Arbeitsheft.« Die Akademie hat ja die berühmten Arbeitshefte herausgegeben. Die sahen eigentlich weiß aus, mit blauer Schrift auf dem Cover. Darunter gab es auch Inszenierungsdokumentationen, Arbeitshefte zu Künstlern und Künstlerinnen, die im Theater gearbeitet haben. Wir haben das mit dem Deutschen Theater besprochen, mit Alexander Weigel, dem Dramaturgen der Lohndrücker-Inszenierung. Es gab dann die Lösung eines zweiteiligen Arbeitsheftes. Es gibt Teil 1, die historische Dokumentation, und Teil 2, die Inszenierungsdokumentation. Ich habe in Vorbereitung des heutigen Abends Teil 2 wieder herausgeholt und darin gelesen. Die Realisierung dieser Dokumen-

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tation war ein ziemlicher Kraftakt. Man musste zu DDR-Zeiten um ein Papierkontingent kämpfen. Und es war ganz klar, dieses Heft sollte nicht mehr als 96 gedruckte Seiten haben. Dann haben wir noch 16 Seiten mit Farbfotos erkämpft. Wenn man die heute anguckt, sehen die aus wie Farbkopien. Aber wir waren total stolz. Nun hatten wir aber am Ende ein Manuskript von ca. 400 Schreibmaschinenseiten. Grischa Meyer, der die Gestaltung gemacht hat, kam dann mit der entscheidenden Lösung, das ganze Material in Spalten unterzubringen. Ich erzähle das jetzt, weil ich beim Lesen nochmal auf die besondere Aufteilung gestoßen bin, die ganz absichtsvoll wirkt. Es gibt eine Spalte, das ist die Chronologie der Inszenierung. Dann gibt es Texte, die eine Rolle spielten im Arbeitsprozess, und es gibt Gespräche, die während der Inszenierung stattfanden, die Thomas Heise aufgenommen hat. Wir haben allerdings nur einen Teil der Gespräche abgedruckt. Das waren Gespräche mit dem Ensemble oder von Müller mit Weigel und Suschke usw. Auch Texte von Schauspielern über die Arbeit haben wir abgedruckt. All das haben wir sortiert und in Spalten abgedruckt. Dann war es Müller aber sehr, sehr wichtig, dass im Mittelteil nicht nur das Stück mit den Schwarz-Weiß-Fotos abgedruckt wird, die heute so langsam verblassen. Er wollte unbedingt, dass ich noch eine Inszenierungsbeschreibung liefere, die ohne Interpretation beschreibt, was in welcher Szene adäquat zum Stücktext und Foto passiert. Ich weiß gar nicht, ob wir eine Videodokumentation haben. Ich müsste Thomas Heise nochmal fragen. Vermutlich hat er noch Material, aber seitens der Akademie gibt es meines Erachtens nichts. Janine Ludwig: Wollte er gerne so ein Brecht’sches Modellbuch haben? Carena Schlewitt: Er hat das nicht so formuliert, aber es war ihm ganz wichtig, dass die Inszenierung (fast) objektiv sachlich, formal beschrieben ist. Vielleicht hatte das auch mit seiner Intention dieser Inszenierung zu tun. Müller war natürlich klar, was er tut, wenn er ein so frühes Stück in den 1980er-Jahren noch einmal auf die Bühne hievt. Der Arbeitsprozess hat 1987 begonnen, die Premiere fand im Januar 1988 statt. Die Frage ist doch: Warum wollte Müller das Produktionsstück in dieser Zeit machen? Das hatte natürlich mit Glasnost und Perestroika zu tun, mit dem Zurückgehen auf das Fundament: ›Wo liegt eigentlich das Grundproblem dieser Gesellschaft und was kann man noch tun?‹ Bei allen weltanschaulichen Fragen spielte die Ökonomie von Anfang an eine entscheidende Rolle. Eigentlich war bereits seit 1917 klar, dass sich der Sozialismus/Kommunismus in einem ökonomischen Wettrennen befindet und am Ende ist die Frage: Wer gewinnt. Das war Müller extrem wichtig in dieser Inszenierung, die er wie einen

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grauen Monolithen in das schnörkelige Deutsche Theater gesetzt hat. Von Anfang an spielte das Schweigen im Lohndrücker eine große Rolle. Gemeint war nicht nur das Schweigen in den Pausen, sondern das Schweigen, das unter der Sprache liegt, das Unausgesprochene. Dieses »Wegrücken« von der DDR-Realität oder von den Geschichten, das war ein ganz wichtiger Punkt. Und hier spielten auch die unterschiedlichen Theatersozialisationen eine Rolle: In dem Stück haben Volksbühnenschauspieler und Schauspieler des Deutschen Theaters gespielt, die sehr unterschiedliche Spielweisen mitgebracht haben. Das war auch Thema in den Gesprächen. Wie nähert man sich den Rollen? Beispielsweise haben Horst Hiemer und andere, die das Stück in Leipzig gespielt hatten, gesagt: »Ja, aber ich verbinde doch damit eine Geschichte und das ist auch wichtig, dass wir unsere Geschichte erzählen.« Heute müsste man es vielleicht gerade wieder mit den eigenen Geschichten verbinden. Aber damals war es Müller ganz wichtig, das »Menschelnde« wegzunehmen. Er hatte bereits seine Inszenierungserfahrung mit Michael Gwisdek, Hermann Beyer und Dieter Montag an der Volksbühne gemacht. Die Frage war, wie geht man mit dem Stoff und seiner historischen Dimension auf der Bühne um? Müller wollte eine starke Setzung für den Bühnenraum – weit, weit weg von uns – und dafür hat er den Bühnenbildner Erich Wonder aus Wien engagiert. Während des Arbeitsprozesses stellte sich heraus, dass dieses abstrakte Bühnenbild mit starker Symbolik und einer formalen Setzung die Spielweise stark definiert. Müller hat auch Fritz Marquardt zu den Proben eingeladen und sie haben darüber geredet, wie man mit dieser oder jener Szene konkret auf dieser Bühne umgehen könnte. Es gibt auch ein Gespräch über das Bühnenbild, da beschreibt Müller die Bühnenbilder von Hans Joachim Schlieker an der Volksbühne, die anarchistisch waren und eine ganz andere Bildsprache hatten. Wonders Bühnenbild beschreibt er fast so, als sei es ein Industrieprodukt, das er da abgeliefert hat. Diese Spannung, die Müller da beschreibt, ist mir damals nicht so aufgefallen. Janine Ludwig: Wenn ich diesen Punkt nochmal aufgreifen darf und wir uns da vielleicht zum Anfang und zum Ende gleichzeitig vorarbeiten: Das ist ja doch faszinierend, dass wir zwei Stücke haben, die eigentlich aus der Phase der sogenannten Produktionsstücke stammen, also aus dem Aufbau des Sozialismus. Produktionsstücke meint ja mehr als nur Geschichten aus der Produktion im Sinne von Brigadestücke, wie das auch genannt wurde, sondern meint ja Produktion im umfassenderen marxistischen Sinne, von künstlerischer Produktion über Re-

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produktion bis hin zum Aufbau des Sozialismus eigentlich. Dass zwei solche Stücke dann in der Endphase oder fast schon Zerfallsphase der DDR inszeniert werden, und zwar mit Absicht, ist bemerkenswert. Ich erinnere an das berühmte Zitat von Müller über den Lohndrücker, dass er selber sinngemäß sagte: »Lohndrücker ist die Inszenierung eines Krankheitsbildes. Der Text wusste mehr als der Autor.« Das ist vielleicht ein Punkt, über den Sie beiden noch ganz kurz was sagen können. Wenn ich ganz uncharmant auf ihr Alter hinweisen darf, Hartwig Albiro, erinnern Sie sich doch noch an die Aufbaujahre der DDR. Hartwig Albiro: Aber natürlich mit Unterschieden. Ich habe ja den Krieg überlebt, bin in der Weimarer Republik geboren, habe in der Nazizeit meine Jugend verbracht. Ein Vierteljahr amerikanisch besetzt, und dann die sowjetische Besatzungszone, dieser Aufbau-Elan. Das war erst einmal ein Überleben, die Kriegstrümmer wegräumen, und nie wieder Krieg, diese Losung. Eigentlich war der Aufbau – jetzt rede ich mal von mir – einer sozialistischen Gesellschaft relativ früh klar für mich. Auch die Haltung: Nie wieder so wie bei den Nazis, es muss was anderes geben. Dazwischen regierte Stalin natürlich eine ganze Weile, bis ’53. Aber dann gab es schon insgesamt, würde ich mal so sagen, bei allen Niederlagen und Schwierigkeiten immer die Hoffnung, den Versuch, ein Fundament des Sozialen aufzubauen, aber nie mit den Strukturen einer Bürokratie oder gar mit einer stalinistischen, marxistischen Haltung. Die Schwierigkeiten kamen nicht von denen, die es machen wollten, sondern von denen, die es von oben leiteten. Dann kam die Planwirtschaft, und da gab es viele Ärgernisse, und wir hatten die Zensur als Hauptfeind, wenn man so will. Die Tätigkeit im Theaterverband bestand auch darin, Mittel und Wege zu finden, Stücke spielen zu dürfen, sie an der Zensur vorbei zu ermöglichen, die eigentlich nicht so auf der Wunschliste standen. Karl-Marx-Stadt unter Meyer hatte auch ein großes Verdienst an junger Sowjetdramatik. Wir haben den Wampilow gemacht und Rostschin. Also Müller und Castorf standen auch in einer gewissen Tradition, nicht der Aufbaustücke der DDR, aber Aufbau für eine bessere Gesellschaft und Humanismus. Ich würde gern mal über Bilder sprechen, nochmal ganz schnell ein Bild beschreiben, von der Castorf-Inszenierung vom Bau. Die Schlusslösung ist ein Bild, was beeindruckend war und immer noch ist, für mich. Die Darsteller versuchen mit Zeitungen das Fundament, das da wackelt und bröckelt – wenn Sie so wollen: die ganze DDR-Planwirtschaft –, zu halten. Die Zeitung war das Neue Deutschland, die SED-Zeitung, und mit dieser Zeitung versuchen sie es zu bedecken. Es kommt ein Sturm auf, ein Wind, und der Wind bläst die Zeitungen

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weg und sie versuchen, die Zeitungen festzuhalten, indem sie sich auf sie legen. Mit körperlichem Einsatz und mit dem Neuen Deutschland versuchen sie, das Fundament zu retten und dann geht das Licht aus und der Vorhang zu. Das ist der Schluss. Und das war einer der offenen Castorf-Schlüsse (so wurde das damals genannt). Ganz starkes Bild. Ah, jetzt kommt ein Einwand ... Andrea Koschwitz: Dieses Bild bezieht sich auf eine Textstelle im Bau bei Heiner Müller, den Castorf sehr genau gelesen hat. »Da ist Frost im Beton« und davor muss man die Fundamente schützen. Janine Ludwig: Aber schon mit einer Zeitung? Andrea Koschwitz: Am Anfang der Spielszene mit einer Zeitung und dann mit dem Körper der Protagonisten. Die Szene mit den Zeitungen ist aus Heiner Müllers Text entstanden und die Menschen haben sich im Verlauf der Szene dann auch mit ihren Körpern auf die Zeitungen gelegt. Also es war nicht nur die Zeitung. Die Spieler haben versucht, mit ihren Körpern die Fundamente zu retten. Sie wollten gegen den Wind die schützenden Zeitungen festzuhalten. Hartwig Albiro: Ich lege mich ungern mit der Dramaturgin an, aber sind nicht beim Bau die letzten Worte die von der Schlee? Andrea Koschwitz: Ja, die »Fähre«, aber das Bild fängt an mit der Textzeile: »Frost im Beton.« Hartwig Albiro: Ah, ja. Andrea Koschwitz: Ich will ja nur beschreiben, dass die Szene aus der Lektüre des Müllertextes entstanden ist: aus einem genauen Lesen des Stücktextes vom Regisseur Castorf und nicht aus der Improvisation. Hartwig Albiro: Es ist ein Verdienst von Müller und Castorf. Andrea Koschwitz: Ja, es ist nur wieder so ein Beispiel, wie genau er das Stück gelesen hat Janine Ludwig: Also, das vorletzte Wort hat Donat, der sagt: »Kommunismus aus der Hand? Was geht hat den Weg an den Schuhn. Was willst du, ist ein Fundament gerissen, brennt ein Kühlturm, ist ein Stern entgleist?« und Schlee antwortet: »Wer braucht die Sterne? Ich werde also lügen für dich und das ist die Wahrheit: dein Kind wird keinen Vater haben, wir werden uns mit Genosse anreden, wie vorher, ich werde den Vogel nicht einscharren, der im Frühjahr singt, du wirst die Sonne nicht aus dem Himmel reißen, der Schnee wird nicht liegenbleiben bis zum nächsten Winter.« Das ist es. Hartwig Albiro: Es gibt allerdings auch verschiedene Fassungen. Janine Ludwig: Vielleicht muss man nochmal dazu sagen, es gibt sieben verschiedene Fassungen von Bau. Als sozusagen kanonisch gilt immer die vierte Fassung, die auch veröffentlicht worden ist, auszugs-

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weise, in Sinn und Form. Auf die sich dann auch Honecker berufen hat, als er zitiert hat, aus dem Bau, ganz leicht daneben, aus einer älteren Formulierung: »Ich bin die Fähre zwischen Eiszeit und Kommunismus.« Da hat er Barka zitiert – »Ich bin / Der Ponton zwischen Eiszeit und Kommune« und das ganze Stück als ein besonderes Beispiel für Konfliktsucht und negative Darstellung angeführt. Wenn wir bei dem Fundament sind und bei dem Schutz des Fundamentes. Wenn ich Sie fragen darf, aus einer ganz anderen Generation: Als sie 1988 den Lohndrücker begleitet haben, haben Sie dann noch den Aufbauenthusiasmus, von dem Müller behauptet, er habe ihn schreiben wollen, sehen können, oder nur das Krankheitsbild? War das für Sie in der Wahrnehmung schon ein Stück über das Ende der DDR, schon der Verfall, oder wie haben Sie das gesehen? Carena Schlewitt: Wenn ich den Text so höre und sehe wie damals ’88, habe ich natürlich die Schere im Kopf: Einerseits der Verweis auf diese Aufbauzeit, die ja nicht meine Zeit war, sondern die meiner Eltern und andererseits die Zeit, wie wir sie Ende der ’80er-Jahre gefühlt haben. Ich kann mich an die Zeitungszene auch erinnern und an diese körperliche Bewegung, die da drinsteckte. Bei Müller war es ja fast festgefroren, das Bild. Mein Bild zu dieser Zeit ist ein riesiger Topf Sirupbrei, in dem wir alle feststeckten. Dieter Montag, der den Balke spielte, war ja fast zum Denkmal erstarrt als Arbeiterheld und Aktivist. Er hat wenig agiert und wenn er was gemacht hat – da reichte eine Kopfwendung oder ein Blick –, bekam das eine große, überzeichnete Bedeutung. Es gab auch noch eine Gaze vor dem Bühnenraum, so dass man dadurch bereits entrückt war, eine Distanz hergestellt war. Erich Wonder hat am hinteren Bühnenhorizont diese Schlitze aufgemacht, durch die man Ostberlin sehen konnte. Perspektivisch ging es hinten in die Breite, aber die Sicht darauf war distanziert. In dem Zusammenhang muss ich auch noch erwähnen, dass Heiner Müller, Alexander Weigel und Erich Wonder ganz stolz darauf waren, das Portal des Deutschen Theaters aufzuheben, »unsichtbar« zu machen und den Bühnenraum nach vorn in den Zuschauerraum zu ziehen. Und zum Schluss wurde ein Riesen-Prospekt heruntergelassen, auf dem das Publikum zu sehen war. Das wäre heute keine Sensation mehr, aber damals war das neu, das Publikum in dieser Form mitzudenken und abzubilden. Diese Setzung hatte auch etwas damit zu tun, dass die Volksbühne per se ein anderes Theater war, auch früher schon in Ostberlin, als das Deutsche Theater, das auch noch so schön renoviert war – ein richtiges Schmuckkästchen. Irgendwie war es Müller auch fremd, in diesem Raum Theater zu machen.

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Einwurf aus dem Publikum: Glut, gab es auch wie aus einem Ofen! Carena Schlewitt: Auch der Hochofen war stilisiert dargestellt. Einwurf aus dem Publikum: Das ist auch so eine rätselhafte Stelle, wie

er immer glüht und ... Carena Schlewitt: Ja, am Anfang war es noch ein Panzer und am Ende war es dann dieser Ofen. Es gab auch diese eine Szene, wo sie mit den Köpfen da rausgucken. Ich hätte noch eine Stelle, die ich gerne kurz vorlesen würde. Ich zitiere Müller, wo es um die Disziplinierung der Arbeiterklasse geht. »Und das ist eine Möglichkeit, das Stück zu beschreiben. Die deutsche Arbeiterklasse ist durch den Faschismus diszipliniert worden, durch den Krieg, durch die Rüstung. Und diese Disziplin konnte benutzt werden, jetzt für den Wiederaufbau. Das DDR-Problem ist nur diese Disziplin. Die lässt sich jetzt nicht mehr benutzen zur Demokratisierung. Das ist das Problem, nicht nur der DDR, weil eine moderne Industrie kann man nicht nur mit Disziplin betreiben, da braucht man Kreativität und Leute, die das Gefühl haben, dass sie ihre Kreativität auch einsetzen können und insofern ist es eine ganz aktuelle Archäologie, die Beschäftigung mit dem Stück, deswegen wollte ich das auch jetzt machen, aber nicht einfach aus Nostalgie, weil das das erste publizierte Stück ist. Es ist das aktuellste im Moment, glaube ich.« Janine Ludwig: Das hätte ich nicht besser überleiten können. Zu dem Stichwort nämlich: das Theater und 1989, das Theater und das Ende der DDR. Wir haben schon einiges gehört über diese Rolle. Zum Beispiel, dass die sogenannte Provinz der Zensur mehr entgegenstellen konnte, als es teilweise in Berlin der Fall war. Und da würde ich gern ganz kurz auf die Rolle des Theaters in Karl-Marx-Stadt 1989 zu sprechen kommen. Da haben Sie [Albiro] ja eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Ich erinnere an den Schweigemarsch am 7. Oktober, am Tag der Republik 1989. Also vielleicht könnten Sie da den Gedanken weiterspinnen. Hartwig Albiro: Also ... Bremsen Sie mich aber dann! Perestroika war das Stichwort – spätestens ab ’85 schlug die kritische Solidarität mit der Partei und Staatsführung der Theater – ich rede jetzt mehr so von mir – um in Unverständnis, warum man die Chance nicht nutzen kann. Und je mehr die Zivilgesellschaft erstarrte, desto mehr versuchten wir das aufzubrechen. Das waren schon diese letzten Jahre der DDR. Und ich kann mich auch erinnern, dass wir Erfolge feierten, weil die Stücke von Müller plötzlich gespielt werden konnten, die vorher nicht möglich waren. Wir hatten Tricks gefunden – das führt jetzt alles zu weit – wie wir die Zensur umgingen. Also es war ein Weg. Und natürlich

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kam dann ’89 eine Situation, als Ungarn die Grenzen öffnete und die DDR-Jugend wegrannte. Ich hatte als Studenten da den Hasko Weber, jetzt Intendant in Weimar, und der war ganz aktiv mit einer jungen Gruppe von Studenten und der Theaterhochschule, die im Studio Karl-Marx-Stadt waren. Und die organisierten sich und wir hatten dann mit [Gerhard] Meyer einen Dreh gefunden, die ganze Truppe zu behalten. Und die haben die ›Dramatische Brigade‹ gegründet, mit dem Versuch, eine freie Gruppe in der DDR zu installieren. Und Hasko Weber wollte mit seinen Studenten bestimmen, was und wie sie spielen. Das haben wir garantiert. Ich war parteilos, aber Meyer war Genosse. Wahrscheinlich hat er doch noch die Verantwortung übernommen. Und das war eine Truppe, der sehr aufmüpfig war. Im Frühjahr ’89 kamen die Wahlen, alles, die Gesellschaft, war in Bewegung und wir fühlten uns als Theater in der Verantwortung, mehr zu tun, als nur Theater zu spielen. Das kulminierte dann auch mehr und mehr in den Aufführungen und hatte dann natürlich am 7. Oktober den Höhepunkt. Wir, und da spielte Hasko Weber wieder eine Rolle, sollten einen Beitrag zum 40. Jahrestag der DDR bringen. Da dachten wir, den Schnulli machen wir nicht mit, so irgendwelche Schönwetterparolen verkünden: Wir verlesen Texte vom Neuen Forum, Texte von Volker Braun und Texte kritischer Autoren. Das Programm wurde überraschenderweise genehmigt im ersten Anlauf. Wahrscheinlich hatten die Genossen das nicht richtig gelesen. Dann wurde es aber folgerichtig verboten und wir durften das nicht aufführen. Aber die Zuschauer waren da im Luxor, der Spielstätte des Musiktheaters, und die wollten das hören – ich muss mich jetzt wirklich kurzfassen. Es kam zu wüsten Beschimpfungen, weil Hasko gesagt hatte: »Es stimmt nicht, dass wir die Vormittagsmatinee schließen wegen Überfüllung« – das war das Argument, was Meyer vorzubringen hatte, und da hat Hasko gesagt: »Nein, wir dürfen die Texte nicht sprechen.« Und da ging natürlich was los, 70 anwesende Stasimitarbeiter pöbelten, dann trat die Kirche auf: Bei uns dürft ihr, usw. Ich habe den Saal dann beruhigt. Danach sind wir rausgegangen. Da ist der Schweigemarsch entstanden. Vom Luxor sind wir schweigend am 7. Oktober durch die Stadt gezogen und wurden mit Wasserwerfern und Gummiknüppeln auseinandergetrieben. Das war der Punkt, wo wir gesagt haben, jetzt reicht es. Bis dahin wollten wir den Dialog mit den Oberen, aber jetzt machen wir unseren Protest öffentlich. Es gab bereits eine Resolution, im Theaterumlauf hatten 170 Leute unterschrieben, die die Missstände anprangerten, und Dialog und freie Meinungsäußerung forderten zum Wohle der Ge-

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sellschaft. Und da spielte das Schauspiel eine wesentliche Rolle. Als dieser 7. Oktober war, hatten wir ein Gastspiel vom Staatsschauspiel Dresden, mit Nina, Nina, tam kartina, ein hochpolitisches Stück von Granin. Wir hatten uns versammelt, wir waren alle im Theater, weil die Dresdner Kollegen spielten, und meine Schauspieler sagten, wir müssen die Resolution verlesen und alle guckten mich an. Da habe ich einen Moment überlegt, dann habe ich gesagt: »Ja, ich mach’ das.« Ich bin nach der Vorstellung raus und habe diese Resolution – wenn man sie heute liest, ist es ein Lacher, damals war es hochgefährlich – verlesen. Die Dresdner haben gesagt, wir schließen uns dieser Resolution an. Schönemann, mein Amtskollege, hat mich umarmt auf der Bühne. Die geballte Kunst war im Saal auf der Bühne: Die gesamte Mannschaft aus Karl-Marx-Stadt, die Dresdner waren da, wir waren etwa 150 Leute auf der Bühne und 400 im Zuschauerraum. Eine solche Einheit von oben und unten habe ich selten erlebt, das war ein Beifallssturm, eine standing ovation. Zwei Reihen blieben sitzen, das waren die Protokollreihen. Und das war, wenn man so will, der Beginn der friedlichen Revolution in Karl-Marx-Stadt. Kurze Episode noch, weil sie so schön ist. Ich wurde ins Rathaus einbestellt, und mir und meinen Schauspielern wurde untersagt, wieder diese Resolution zu verlesen. Am nächsten Abend war ja wieder Dresden da, und natürlich wollten wir es wieder machen. Da bin ich ins Theater, und alle warteten, »Was ist denn nun, was machen wir denn?« Da habe ich gesagt: »Ich habe Weisung, es nicht mehr zu tun« – wir waren ja angestellt bei der Stadt, wenn man so will – »und ihr sollt auch nicht«, und da sagte Anne Mechling, die Dramaturgin: »Sie gehen mal raus, das regeln wir jetzt unter uns.« Dann war ich im Zuschauerraum, und was passierte am Abend nach der Vorstellung? Alle wieder auf der Bühne, und diesmal haben die Dresdner die Resolution in der Hand gehabt und haben gesagt – übrigens der Parteisekretär der Schauspielgruppe Dresden hat das verlesen – »wir verlesen jetzt eine Resolution unserer Karl-Marx-Städter Kollegen und wir schließen uns vollinhaltlich an.« Da haben die die Resolution gelesen, und wir haben die Weisung eingehalten, und die Resolution war ein zweites Mal da. Dann kam aber relativ schnell Honeckers Ablösung. Ich stand zwar auf der Liste, aber ich habe nicht eingesessen. Bin gut davongekommen. Wir haben ganz viel gemacht, also nach jeder Vorstellung verlesen, diesen Aufruf für einen demokratischen Sozialismus. Es gab Zuschauergespräche nach jeder Aufführung. Es ging gar nicht mehr ums Stück, es ging um die politische Lage. Das ging etwa so bis November,

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Dezember, dann übernahmen die gegründeten Parteien, und die Medien waren offen. Dann haben wir uns wieder auf Kunst besonnen. Ich denke mal, so war es nicht nur in Karl-Marx-Stadt, so war es in Plauen, in Dresden ganz besonders, auf den Schauspielbühnen der DDR. Es gibt die Formulierung: »Die Bühnen wurden zu Tribünen des Volkes.« Das ist eine wichtige Zeit, die möchte ich nicht missen. Herbst ’89. Janine Ludwig: Vielleicht können wir parallel nach Berlin schalten, was so zu dem Zeitpunkt in Berlin lief oder geprobt wurde. Müllers Hamlet/ Maschine. Haben Sie das auch noch verfolgt? Carena Schlewitt: Ja, das habe ich zum Teil auch verfolgt. Vielleicht noch eine kurze Anmerkung: Ich war ja nicht am Theater, ich war an der Akademie der Künste und in diesen Jahren ereignete sich viel in Ostberlin – trotz des erwähnten Stillstandgefühls. Es gab zum Beispiel »Zinnober«, die einzige richtig freie Theatergruppe im Prenzlauer Berg, die auffallend andere Theatertexte geschrieben und performt hat und die dann recht schnell verboten wurde. Diese Gruppe und ihre Ästhetik waren eine absolute Entdeckung, aber natürlich auch »gefährlich«, weil ihre Texte ganz persönliche Texte waren und zugleich metaphorisch in Bezug auf die Situation im Land verstanden werden konnten. Die haben sich zum Beispiel mit Träumen beschäftigt in ihrem exemplarischen Stück traumhaft, das sie in einem besetzten Laden am Kollwitzplatz etwa vier Mal gespielt haben – dann wurden sie verboten. Da habe ich versucht, mithilfe der Akademie dieses Verbot wieder aufzuheben, und ich wollte damit aber auch eine grundsätzliche Legitimierung für freie Gruppen in der DDR erreichen. Ich hatte ein Schreiben an das Kulturministerium vorbereitet, das kam vom damaligen Akademie-Präsidenten Manfred Wekwerth stante pede zurück. Es sollte erstmal nur um die Aufhebung des Verbots für »Zinnober« gehen, damit sie als Puppentheater wieder auftreten können und ins Ausland fahren dürfen zu einem Festival nach Holland, was dann auch geklappt hat. Eine andere Geschichte hängt mit dem Vorhaben der Gründung eines Autorentheaters zusammen: Irina Liebmann, Gregor Edelmann, Werner Buhss, Peter Brasch und andere Autoren und Autorinnen der jüngeren Generation hatten diese Idee für Ostberlin entwickelt. Auch da war die Akademie beteiligt. Manchmal konnte die Akademie auch eine gute Plattform sein, mit einigen aktiven und offenen Akademiemitgliedern, die wir angefragt haben. »Unterstützt ihr das? Macht ihr da mit?« Beim Autorentheater gab’s dann aber sehr schnell einen Stopp – von ganz weit oben. Die Initiative wurde beendet. Die ’80er-Jahre waren eine Zeit, in der es durchaus Aktivitäten gab, eine andere Kreativität ins Theater zu bringen.

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Zum 40. Jahrestag der DDR habe ich mir eine spezielle Veranstaltung für die Akademie überlegt. Ich war auf das Film-Material der Volksbühne aus der Zeit von Benno Besson gestoßen. Es gab diese Filme, die im Keller vom Kino Babylon lagen. Teilweise waren einige Filme schon durch einen Wasserschaden zerstört. Aber es gab noch genug Material. Wir hatten in der Akademie einen Schneidetisch und auch einen Filmvorführer, und wir hatten Zeit. Ich habe diese ganzen Filme anliefern lassen – das war eine LKW-Ladung voll – und habe einfach tagein, tagaus Theater-Filme geguckt und sortiert. Das war natürlich auch mein Interesse und ich war einfach begeistert, dass es diese ganzen Filmaufnahmen noch gibt – aus einer Zeit, die ich nur aus dem Studium kannte. Ich habe damit eine Veranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR konzipiert. Die fand aber nicht im Oktober statt – ich vermute mal, da gab es einen Festakt in der Akademie –, sondern sie fand im November statt, und zwar nach dem 4. November, dem Tag der Demo auf dem Alex. Diese neue Umbruchszeit hat sich natürlich im Veranstaltungssaal unter den Besuchern bemerkbar gemacht. Noch im Oktober wäre es eine andere Veranstaltung gewesen, mit ganz anderen Besuchern. Jetzt spielte sich einfach alles draußen ab. Für mich war es dennoch toll, dass ich mich auf diese Weise mit der Volksbühnenzeit unter Benno Besson beschäftigen konnte. Ich habe da verschiedene Filme gezeigt: über die berühmten Volksbühnen-Spektakel, über Die Bauern von Fritz Marquardt, Die Schlacht von Manfred Karge/Matthias Langhoff, das Lehrstück Die Ausnahme und die Regel im VEB Narwa (das gab es dann auch später als VHS-Kassette) und andere. Leonce und Lena von Jürgen Gosch gab es nicht vollständig, nur Versatzstücke. Daraus wurde dann ein Zwanzigminüter zusammengeschnitten, den wir auch präsentiert haben. Wir haben einfach ein Filmprogramm der verschiedenen Inszenierungen und Spektakel zusammengestellt. Das würde ich jetzt selber gerne nochmal sehen. Ich weiß nicht, wo die Filme geblieben sind. Sie waren noch lange im Archiv der Volksbühne. Einwurf aus dem Publikum: Das Archiv von der Volksbühne müsste eigentlich in die Akademie gewandert sein. Carena Schlewitt: Ich muss sagen, die Zeit war einerseits relativ offen, man konnte bestimmte Veranstaltungen gut machen, andere waren nicht möglich. Ich wollte beispielsweise für einen Workshop mit Schauspielstudenten Anatoli Efros aus Moskau einladen. Darauf ist Manfred Wekwerth nicht eingegangen, mit der Begründung: »Nee, wir wissen jetzt nicht, was da in der Sowjetunion mit Glasnost und Peres-

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trojka los ist. Wir beschäftigen uns jetzt mal lieber nicht damit.« Das war die Antwort. Damit war das Projekt gestorben. Also einiges ging, anderes ging nicht, wie es so war. Janine Ludwig: Im Grunde kann man zusammenfassend sagen: Es war eine sehr turbulente Zeit mit sehr viel positiver Energie, viel Kreativität und im Grunde nochmal so einem Aufbauenthusiasmus von etwas, was da vielleicht ein zweites Mal aufgebaut werden sollte. Carena Schlewitt: Aufbauenthusiasmus weiß ich nicht ... Janine Ludwig: War es mehr ein Zerfall? Carena Schlewitt: Die Zeitschrift Sputnik wurde zum Beispiel verboten und all diese Geschichten. Wir haben immer wieder gedacht: Nee, also die kapieren es einfach nicht. Diesen Aufbruch hat es in der Sowjetunion gegeben – glaubten wir. Heute wissen wir auch nicht so genau, wie weit Gorbatschow damals gekommen ist. Aber bei uns in der DDR gab es Glasnost und Perestrojka nicht – da gab es eine Blockade der Partei und Regierung. Aber es gab eben auch viele Parteimitglieder, die für Veränderungen im Sinne Gorbatschows eintraten. Janine Ludwig: Ich meinte jetzt diese kurze Phase, als bei vielen Menschen der Glaube bestand, man könne jetzt die DDR reformieren, oder was Neues aufbauen, bevor sie komplett zusammenbricht. Hartwig Albiro: Unbedingt! Vielleicht war es in Karl-Marx-Stadt anders, als in Berlin, weiß ich nicht. Aber wir sind angetreten, nicht die DDR abzuschaffen, sondern sie wirklich zu reformieren. Das ist natürlich geschichtlich betrachtet heute obsolet, wahrscheinlich ging es nicht. Das ist eine andere Sache. Aber die Träume ... ich bin ganz sicher, dass vieles, was die Theaterleute, aber nicht nur, auch die Kirchen und die Bürgerrechtler und auch die Arbeiter geträumt haben – ich rede aber nur vom Oktober und November –, diesen Traum einer humanen Zukunft, einer sozialen Zukunft, den haben wir wirklich geträumt. Und nicht sofort den Beitritt zur Bundesrepublik. Es hieß auch: »Wir sind das Volk«. »Wir sind ein Volk« kam später. Und wir, also die Truppe, mit der ich zusammen war – es waren schon nicht wenige –, wir wollten die Souveränität eines sozialistischen Staates, der sich dann vereint mit dem anderen deutschen Staat zu einer Einheit, und nicht den Beitritt. Das war das Ziel, und die erkämpften freien Wahlen brachten dann leider die Ernüchterung. Weil Kohl mit der D-Mark stärker war als die Sehnsucht, als der Wunsch nach einer sozialen Demokratie. Janine Ludwig: Aber auf welchem Fundament war das gedacht? Also hätte das dann ein vereinigtes sozialistisches Deutschland sein sollen? Wie hätte man sich das vorgestellt? Hartwig Albiro: So weit haben wir nicht gedacht.

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»Warum zertrümmert ihr das Fundament?«

Janine Ludwig: Ich frage nur vorsichtig nach. Hartwig Albiro: Ein demokratisches. Zumindest nicht die – Janine Ludwig: Haben wir denn kein demokratisches heute? Hartwig Albiro: Doch. Ja, ja. Aber wir wollten nicht den Beitritt zur Bun-

desrepublik. Wir wollten als souveräne Partner auftreten. Aus eins und eins sollte zwei werden, und nicht aus eins und eins sollte eins werden. So war der Wunsch. Janine Ludwig: Waren da viele Debatten über Beitritt oder Vereinigung, also nach welchen Paragraphen? Hartwig Albiro: Das war kein Thema. Das Thema war Redefreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit. Und der Fall der Mauer war eigentlich eine logische Konsequenz. Der hat mich gar nicht so überrascht. Ich gehörte zu denen, die das erwartet haben früher oder später. Aber eigentlich mehr die Durchlässigkeit, nicht so lawinenartig, wie es dann kam. Wir hatten schon einen Traum, das würde ich mal so sagen. Janine Ludwig: Also ich weiß es nicht mehr so genau. Ich könnte es so ganz klar nicht mehr sagen aus der jüngeren Generationenperspektive, dass das ein Traum war. Für mich ging es auch alles zu schnell. Carena Schlewitt: Ich würde sagen, es gab eine Hoffnung. Aber ich kann mich erinnern, dass diese immer wieder sehr schnell eingeholt wurde. Hartwig Albiro: Ja, das ist wahr. Die Verluste kamen schnell, und die Änderungen waren gewaltig. Täglich. Carena Schlewitt: Man muss auch sagen, eine wirkliche Vorstellung davon, wie dieses demokratische neue Konstrukt aussehen sollte, gab’s nicht. Es gab erstmal die Haltung gegen das alte System. Einwurf aus dem Publikum: Es gab schon konkrete Vorstellungen. Gerade am Runden Tisch wurde im April 1990 der Entwurf einer Verfassung verhandelt und der wurde in den Beitrittsverhandlungen zur Seite geschoben. Einwurf aus dem Publikum: Ich wollte eigentlich nur mal zu dieser Frage des Wir kommen, oder diesen ganz unterschiedlichen Wirs. Vorhin hast du ja, Carena, nochmal Müller zitiert, das Zitat mit der Arbeiterklasse. Er hat in dieser Art von Wir eigentlich keine Zukunft gesehen. Er macht einen kurzen geschichtlichen Abriss auf und sagt: Die sind geprägt durch den Faschismus. Das hat als Disziplinierung für den Aufbau gereicht. Das reicht aber nicht mehr für einen neuen Aufbruch und für Demokratie. Dieser Strang steht erstmal so im Raum. Das andere ist das Wir, dem Müller ja auch sehr früh misstraut hat. Dieses »Wir sind das Volk.« Müller ist der einzige, der schon zu der Zeit reagiert hat und ein anderes Zitat einer Demo verwendet hat: »Ich bin

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Ein Gespräch mit Hartwig Albiro und Carena Schlewitt

Volker.« Und er hat auf Brecht verwiesen, auf den Terminus Bevölkerung und hat gesagt, das ist nicht mein Volk. Jetzt gibt’s so langsam die ersten Stimmen, die tatsächlich auch zweifeln. Was hat dieser Slogan alles impliziert, welches Wir hat er für einen Moment gebildet? Es gab diese unterschiedlichen Wirs. Was war dieses »Wir sind das Volk«? Und hatte das Wir der Kulturschaffenden ein Fundament? Auch das ist eine Frage. Wie weit geht dieser Kreis, was sind das für Wirs? Janine Ludwig: Ich würde das genau bei diesem dritten Sprung, den wir noch machen wollen, betrachten, nämlich dem Sprung in die Jetztzeit und zu der Frage, ob die Art und Weise, wie die Dinge sich dann fortgesetzt haben nach ’89, noch eine Grundlage oder Gründe geliefert hat, für das, was heute ist, also ob man das irgendwo herleiten und die Folgen davon noch spüren kann. Das können wir natürlich auch gerne mit dem Publikum zusammen besprechen. Aber mit dem Wir, die Frage würde ich gerne aufgreifen, und auf diese Idee eingehen. Wir haben ja vorhin davon gesprochen, dass das Theater eine besondere Rolle hatte in der DDR, Literatur allgemein. Wir wissen es alle, »Leseland«, »Literaturgesellschaft«, »Ersatzöffentlichkeit«, all diese Dinge. Und es war ja auch gerade die Kultur oder die Intelligenzia, die vielleicht am Anfang einen großen Anstoß gegeben hat und dann noch gedacht hat, mit diesem Aufruf »Für unser Land« am 26. November 1989 diese Veränderungen begleiten zu können und da aber eigentlich schon überrollt wurde von einem anderen Wir, also von dieser größeren Masse, die eigentlich da gar nicht mehr mitgegangen ist. Müller hat das genannt: »die Trennung der Künstler vom Volk durch Privilegien«, die gelungen sei, und dazu geführt habe, dass diese Vorreiterrolle oder Sprecherrolle dann nicht mehr funktioniert habe. Möchten Sie dazu was sagen, oder wollen wir einfach auf Fragen des Publikums eingehen? Hartwig Albiro: Zum Herbst ’89 noch? Janine Ludwig: Zu dieser Trennung der Intellektuellen von der Mehrheitsströmung, die sich relativ schnell abzeichnete in der Bevölkerung, die eben diesen Träumen leider nicht gefolgt ist: Was heißt »leider« aus Ihrer Sicht? Haben Sie das wahrgenommen? Sie sprachen doch vorhin von diesem beglückten Moment der Einigkeit im Theater zwischen Schauspielern, Publikum und allem. Dieser Moment war ja ein kurzer, und irgendwann hat man ja die Trennung der verschiedenen Wirs bemerkt. Hartwig Albiro: Das hat schon noch eine Weile gereicht. Wir haben im November nach der Maueröffnung noch eine Kunstdemo gemacht. Da haben ich und andere Kunstschaffende gesprochen. Da waren auch

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Arbeiter dabei, wir hatten da schon noch 10.000, 15.000 Zuhörer. Aber dann trat wirklich ein, dass die Sucht nach der D-Mark eminent wurde. Wenn es eine Einheit bis dahin gegeben hatte – vielleicht war sie auch nur entstanden aus dem gemeinsamen »wir wollen es anders machen« –, ist sie, als es dann um die konkreten Ziele ging, relativ schnell auseinandergebrochen. Als ich noch am BE war, haben wir immer von der Weisheit des Volkes gesprochen. Davon habe ich mich damals schnell verabschiedet. Also, das ist schon eine Riesenenttäuschung, aber die Künstler oder die Schauspieler sind ja auch nicht das Volk. Wir sind ja auch nur ein Teil des Volkes. Insofern kann ich immer, wenn ich jetzt Wir gesagt habe, wohl vorwiegend für die Mehrheit der Schauspieler in der DDR sprechen und für eine ganze Reihe anderer Menschen. Aber es hat ganz viele Mitläufer gegeben und ganz schnell Überläufer und Trittbrettfahrer und Wendehälse und was es alles so gab. Die Enttäuschung ist schon riesig, ja. Wahrscheinlich muss die Kunst, oder es müssen bestimmte Geisteswissenschaftler oder Persönlichkeiten halt vorangehen und ihre Meinung durchzusetzen versuchen, in der Hoffnung, dass es auch die richtige ist. Ich glaube nicht an Mehrheiten, das habe ich ausgeträumt. Aber ich höre nicht auf zu hoffen, dass Personen andere Personen – und möglichst viele – beeinflussen können und das möglichst positiv. Janine Ludwig: Jetzt wage ich noch den allerletzten großen Sprung in die Jetztzeit und stelle eine offene Frage an Sie alle, denn wir sind jetzt in einer politisch durchaus schwierigen Lage. Es scheint, dass das Land sehr gespalten ist. Es scheint, dass es große Teile der Bevölkerung gibt, die völlig anderer Meinung sind als die Regierung oder die politischen Entscheidungsträger. Und dann gibt es auch jetzt wieder eine Kunst, die eigentlich den Auftrag wahrnehmen will, wieder Öffentlichkeit herzustellen, politisch tätig zu sein in Dresden, in Chemnitz und anderswo, die wieder die Verantwortung spürt, öffentlich zu gestalten oder öffentlichen Diskurs und Dialog zu gestalten und anzuleiten oder mit zu begleiten. Die Frage ist, ob das funktionieren kann, wenn wir gerade von der Enttäuschung über die Trennung der Kunst von den – »Massen« oder »Klassen« – beides schwierige Begriffe – reden: dass die Kunst sich also, wie das jetzt wieder sehr viel gefordert wird, wieder stärker politisch anbindet und engagiert. Ich frage mich, ob Sie beide, auf dem Felde der Kunst mit den Mitteln des Theaters, besserer Hoffnung sind, jetzt wieder politische Diskussion anzuleiten. Vielleicht können Sie auch aus der aktuellen Arbeit berichten, ob und wie es funktioniert. Und vielleicht kann man das auch ins Publikum fragen.

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Carena Schlewitt: Ich würde gern noch was zu dem Wir sagen. Ich glau-

be, das Wir in der DDR war natürlich konstituiert durch die Situation der DDR, dadurch gab’s dieses Wir. Und ich glaube, dass es dieses Wir auch bei Müller gibt. Aber er hat die Achse in die Geschichte und in die Zukunft aufgemacht. Und in dem Moment, wo die DDR aufbricht oder wegbricht, ist natürlich dieses Wir erst mal weg. Es gab eben eine bestimmte gesellschaftliche Situation vor und nach dem Zusammenbruch der DDR. Und jeder Mensch hat individuell darauf reagiert. Aber mir fällt auf, dass diese Frage nach diesem Wir heute wieder zurückkommt, insbesondere im Osten. Und die wichtige Frage ist, wer besetzt das Wir? Und noch eine Anmerkung zur »Wende«: Die Bürgerbewegung war wichtig, aber auch die Montagsdemos, der Protest vieler Menschen im Land, auch die Künstler mit ihren Stimmen, und es war wichtig, dass die Sowjets die Panzer nicht in Bewegung gesetzt haben. Einwurf aus dem Publikum: Die Ungarn waren noch wichtig. Carena Schlewitt: Ich finde eben diese einseitige Wendeerzählung schwierig, gerade jetzt im 30. Jahr des Mauerfalls. Die Geschichte wird immer aus einer Perspektive oder maximal zwei erzählt, und ich finde, man muss sich wirklich das komplexe Gebilde anschauen. Zur Frage nach dem Wir heute: Ich glaube, dass es darum geht, Allianzen zu bilden auf unterschiedlichen Ebenen. Die Kunst kann vieles leisten, aber sie ist kein Reparaturkasten der Gesellschaft. Als Herr Albiro gerade von der Allianz zwischen Karl-Marx-Stadt und Dresden auf der Bühne gesprochen hat, musste ich an den heutigen Zusammenschluss WOD – Weltoffenes Dresden – denken. Das gibt es in Dresden seit 2015, hat sich gegründet, als auch Pegida entstanden ist und heute sind ca. 50 Institutionen aus Kultur, Bildung und Wissenschaft darin vereint. Wir versuchen gemeinsam, bestimmte gesellschaftliche Aktionen zu stemmen und zu zeigen, dass wir in der Kultur zusammenstehen. Die großen Institutionen sind genauso dabei wie kleine freie Träger. Dabei ist klar, dass es insbesondere in den großen Institutionen keine homogene Mitarbeiterschaft gibt. Es gibt auch Mitarbeiter, die beispielsweise die Erklärung der Vielen nicht unterschreiben wollen. Ich glaube, diese Frage nach den Wirs, den unterschiedlichen Wirs wird uns in der nächsten Zeit sehr beschäftigen. Wolfram Ette: Teilweise, Frau Schlewitt, haben Sie jetzt meine Frage schon beantwortet. Es geht mir um die Rolle des Theaters, wobei ich zunächst denke, dass das Theater diese spezielle Rolle, die es in der DDR gespielt hat, jetzt nicht mehr einnehmen kann: durch die Pluralisierung der Medien; dadurch, dass diese besondere Dreieckssituation zwischen Bühne, Publikum und Staat weg ist, was einfach eine Span-

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nungssituation gewesen ist, in der alle möglichen Dinge mit politischer Bedeutung aufgeladen gewesen sind, die in der Situation jetzt leichter verpuffen würden, ohne dass es jemand merkt. Deswegen erscheint mir tatsächlich auch so ein Verbund von vielen Institutionen, an dem bildende Künste und darstellende Künste und Literatur usw. beteiligt sind, besser, auch wenn es klar ist, dass das nicht zu dieser Kompaktheit, ja zu so einem wirkungsvollen Brennspiegel gesellschaftlicher Prozesse führen kann, wie es das Theater in der DDR, auch anders als das Theater der Bundesrepublik, für einige Zeit sein konnte. Die andere Frage die ich habe, bezieht sich auch auf dieses Wir. Da hat sich sicher was verändert. Also wenn ich Sie richtig verstanden habe, geht es ja auch konkret darum, dass jetzt am Theater XY im technischen Personal AfD-Wähler dabei sind, oder Leute, die damit zumindest sympathisieren, dass also einfach dieser Riss, so wie er quer durch die Familien geht, er eben auch quer durch die Institutionen geht. Er geht durch die Sportvereine, durch die Schulen sowieso, durch die Lehrerkollegien. Und das heißt: Überall finden diese Aushandlungsprozesse statt, müssen ja auch stattfinden, es geht ja gar nicht anders. Und da ist für mich tatsächlich die Frage, ob und wie die Künste da mitmachen müssten. Es wäre doch wichtig, solche Streitereien, solche Aushandlungsprozesse, wo eben ein Wir überhaupt gar nicht erkennbar ist, oder alles irgendwie zersplittert und aufgespalten ist und sich Gräben und Feindseligkeiten überall aufgetan haben, auf diese Weise erst einmal herzustellen. Erstmal müssten diese Konflikte wirklich hochgezerrt werden und gezeigt werden. Das wäre für mich eine Frage, ob das vielleicht eine Möglichkeit wäre, wie sich Theater engagieren könnte. Hartwig Albiro: Ich würde gerne noch was sagen zur Situation in Chemnitz. Nach dem Sommer 2018 wurde Einiges ja sehr geschickt benutzt von rechten Gruppierungen, um falsche Sachen zu verbreiten. Also: Ein Deutscher sei bei der Verteidigung einer deutschen Frau von Ausländern niedergestochen worden. Das hat schnell Menschengruppen mobilisiert. Die Behörden haben das unterschätzt und auch versagt. Und rechtes Gedankengut hat großen Raum gehabt. Etwa 8.000 rechte Demonstranten waren da und die Gegenseite war zögerlich in der Mobilisierung, hat aber dann mächtig zugelegt. Die Theater, die Städtischen Theater Chemnitz haben eine Woche nach diesen Ereignissen ein Open-Air-Konzert gemacht, vor 10.000 Zuschauern, Neunte Symphonie. Darin waren nicht nur die Musiker, die Philharmonie beteiligt, sondern auch Teile des Schauspielensembles, des Figurentheaters, des Balletts. Die gesamten Sparten haben sich eindeutig bekannt zu

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einem demokratischen Dialog, oder zumindest für ein Nichtzulassen dieser rechten Parolen. Und das wunderbare Zeichen der Solidarität der Theater untereinander war, dass die Theater der Bundesrepublik, nicht alle, aber ganz viele, Weimar, Hof, Nürnberg, Leipzig, Berlin, Chöre entsandt haben, oder Teile von Chören. Und der Chemnitzer Chor, der die Neunte singt mit etwa 100 Leuten, war noch mal verstärkt mit 100 zugereisten Theaterschaffenden, die auf diese Weise ihre Solidarität bekannt haben: ein ganz großes Zeichen, welches eben wenig durch die Medien gegangen ist. Das Schauspielensemble hat auf meine Initiative hin, und auf die von Franziska Huhn, die Tochter eines Schauspielers, mit dem ich Kontakt habe, eine Initiative gestartet. Da haben sich bei mir und Frau Huhn viele ehemalige Karl-Marx-Städter gemeldet: Corinna Harfouch, Schmaus, also die ganze Garde, die da alle mal waren, Krause, Schmidt-Schaller etc. Es ging darum: Wir wollen was tun. Dann haben wir die sogenannte »Gala der Ehemaligen« organisiert, d. h. die ehemaligen Karl-Marx-Städter Künstler kommen ins Schauspielhaus und geben Statements ab, ganz individuell und jeder wie er will, zur Lage. Wir haben das klugerweise nicht gleich sofort gemacht, sondern etwas später, als der erste Trubel vorbei war, also im Dezember. Ich habe selten so eine Einheit der Meinung gehabt auf der Bühne. Da waren es halt auch wieder nur 400, mehr gehen nicht rein in das Schauspiel. Aber der Zuspruch war ungeheuerlich. Ähnlich war es vorher: Da kommen die Toten Hosen mit Campino, und Feine Sahne Fischfilet: 65.000 Menschen, davon 50.000 junge und 15.000 alte. Ich war bei den Alten – so: »Bravo, Opa, dass du auch dabei bist, ja!« –, und es war großartig, eine solche Freundlichkeit von den jungen Leuten zu erleben, also nichts mit Gewalt und so. Es wurde getanzt, es wurde geknutscht, bissel getrunken. Bierflaschen standen rum, nichts mit Splittern. Campino hat gesagt: »Nicht eine Scherbe darf fallen.« Ich habe aber selten so viel Kraft gekriegt, wie von diesen 50.000 jungen Leuten und 15.000 alten, darunter ganz viele Zugereiste. Da sind gewaltige Gruppierungen da, die sagen: »So wollen wir das nicht«, es gibt viel auszusetzen an unserer Demokratie, aber wir lassen sie uns nicht wegnehmen, nicht von rechten Gruppierungen. Und die Bereitschaft zum Dialog ist groß und die wird auch im Theater gemacht. Es gibt im Schauspielhaus die »Denkfabrik«: Da wird diskutiert zur Lage. Also es gibt eine Menge Aktivitäten, die versuchen, die Lage – nicht zu beherrschen, aber sagen wir mal – zu formieren, oder damit umzugehen, dass man zumindest miteinander redet und dass nicht die Gewalt der Fäuste, sondern die Gewalt der Worte herrscht. Das würde ich mal so behaupten. Das ist auch meine Hoffnung, und da sind

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wir, da ist die Kulturszene verbunden mit anderen Gruppierungen. Ich kann jetzt nur für Chemnitz reden: Wir sind da schon ganz schön stark. Janine Ludwig: Wenn ich da einhaken darf: Einheit der Meinung, das war genau das nicht, was Wolfram meinte. Es ging eher darum, den Konflikt auf die Bühne zu holen, oder? Also, »Ich glaube an Konflikt und sonst an nichts«, nicht Einigkeit zu zelebrieren, was natürlich ein tolles Zeichen ist, aber genau nicht die erreicht, um die es geht. Das war ja das Problem. Bitte melden Sie sich gerne, wenn sie auch was sagen wollen. Carena Schlewitt: Im Wahlprogramm der AfD Dresden gibt es eine Seite zur Kultur in Dresden. Da steht sehr schön formuliert, dass sie für die Kultur sind, dass Dresden eine Kulturstadt ist, und dass sie Dresden hauptsächlich als Stadt der klassischen Kultur sehen. Deshalb unterstützen sie die Stadtbibliothek, den Kulturpalast, das Staatsschauspiel, das Theater Junge Generation. Dann schreiben sie, dass sie gegen politische Kunst sind, und wer Agitprop haben möchte, soll das doch bitte selber bezahlen. Und im Übrigen sind sie auch dafür, HELLERAU, das Europäische Zentrum der Künste in der jetzigen Form nicht weiter fortzuführen. Sie wollen es als Vermietungshaus nutzen, denn HELLERAU lohne sich in dieser Form nicht. Dann geht es um DDR-Kunst. Sie wollen ein Museum für die DDR-Kunst bauen. Also: Sie sind gegen politische Kunst, aber sie wollen ein Museum für die DDR-Kunst bauen. War die nun politisch oder unpolitisch? Die AfD hat nicht formuliert, dass sie HELLERAU schließen wollen bzw. anders nutzen wollen, weil es zu international ist, oder weil es die Freie Szene beherbergt, sondern sie argumentieren mit Wirtschaftlichkeit. Aber sie positionieren HELLERAU mitten in die Aussage zur politischen Kunst. Diese Methode kenne ich auch aus einigen osteuropäischen Ländern, wo ich Kollegen und Kolleginnen habe. Die Frage der Förderung ist natürlich heute ein Hebel, viel stärker als die Frage der Zensur. Wir setzen in unserem Programm bestimmte Themen, die ja auch die AfD neu für sich entdeckt hat. Beispielsweise machen wir in diesem Herbst einen Schwerpunkt zu »89/19 – vorher/nachher«, in dem wir auch neue Produktionen von jungen Künstlern und Künstlerinnen zeigen, die sich aus heutiger Sicht mit der Umbruchsituation 1989 beschäftigen. Beispielsweise die Regisseurin Tanja Krone, die 1989 dreizehn Jahre alt war. Ausgangspunkt war für sie ein Satz, den sie 1989 oft gehört hat: »Jetzt kommt eine ganz andere Zeit, jetzt müsst ihr die Ellenbogen ausfahren.« Damit ist sie in ihre Heimatstadt gefahren und hat Interviews geführt mit ehemaligen Freunden, Mitschülern, Lehrern, mit ihrer Familie.

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Im Januar machen wir ein Festival mit zeitgenössischen russischen Kunst- und Theaterpositionen. Wir haben früh angefangen, diese Themen künstlerisch zu setzen, gerade für Dresden und HELLERAU. Und wir sehen, dass die AfD anfängt, diese Themen gesellschaftlich, politisch für sich zu reklamieren. Wir sind ein Haus für ein breites Publikum. Wir haben dieses Jahr das Tonlagenfestival gemacht, ein bekanntes, zeitgenössisches Musikfestival in Dresden, das alle zwei Jahre stattfindet. Am ersten Wochenende gab es Uraufführungen von Komponisten aus der DDR. Es waren ganz viele Menschen im Publikum, die offensichtlich lange nicht mehr in HELLERAU waren oder noch nie. Wir merken das immer, wenn nach den Toiletten gefragt wird. Wir hatten Thomas Rosenlöcher zu Gast im Gespräch, auch die Elblandphilharmonie mit einer Uraufführung von Wilfried Krätzschmar, ein Oboenkonzert mit dem legendären Oboisten Burkhard Glaetzner usw. Über das künstlerische Programm gab es Anschlüsse zu Ostbiografien, aber das ist nur ein Aspekt unter vielen. Uns geht es vor allem darum, einen Raum zu schaffen und Angebote zu machen. Falk Strehlow: Also, ich wollte nur noch etwas ergänzen zu Heiner Müllers Lesart des Satzes: »Wir sind das Volk«. Er hat ja für diesen Anachronistischen Zug von Hanne Hiob drei Wagen gestaltet. Auf dem ersten Wagen – dem von der »Commerzbank« – stand: »Wir sind das Volk«, auf dem zweiten Wagen – der »Dresdner Bank«: »Wir sind ein Volk«, und auf dem dritten Wagen – auf dem der »Deutschen Bank« – stand: »Du sollst keine anderen Völker haben neben mir«. Ich glaube 1990 war das, als dieser Anachronistische Zug losfuhr. Und ich finde es interessant, dass wir jetzt darüber reden. Einwurf aus dem Publikum: Ich fühle mich jetzt gar nicht so berufen dazu, aber ich habe heute schon einmal darauf hingewiesen, und ich möchte es jetzt hier wieder machen: die Neuausgabe von Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Er arbeitet heraus, dass die Konzentrationsprozesse, die beim Kapital stattfinden, nach wie vor Deklassierte schaffen, und dass ein Teil der jetzt oder künftig Deklassierten das sozusagen auch vorausahnen, dass sie dabei sind. Diese großen Aktionen, wo sich viele bekennen, dass sie diesen Rechtsradikalismus nicht wollen, ist aber meist bloß moralischer Appell, und von dem rät Adorno ganz eindeutig ab. Man kann ihnen nicht moralisch kommen. Ich finde es wichtig, dass Kunst auch Kunst bleibt, weil politische Kunst oft die Neigung hat, moralisch zu werden. Das nutzt gar keinem, aber ich finde wichtig, dass Kunst aktiv wird, und sie kann genau da aktiv werden, wo sie einfach Realität zeigt, oder wie Heiner Müller sagt,

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»um Wirklichkeit unmöglich zu machen.« Also, da etwas aufzuzeigen,

ist wichtiger als moralische Appelle, die ich nicht ganz ablehnen will. Ich würde nicht sagen, dass man sich nicht auch bekennen soll. Es ist wichtig, aber es kann nicht dabei bleiben. Carena Schlewitt: Ich denke, es kommt auf die Form und den Rahmen an. Diese Unteilbar-Demonstration, die jetzt in Dresden stattfand, war wichtig. Ich finde aber die Frage nach der Kunst sehr wichtig, auch wenn ich mit Kulturpolitikern rede. Es geht um die Kultur und die Kunst. Wir haben jetzt am Sonntag mit dem Tag des offenen Denkmals eröffnet. Und wir haben in diesem Jahr die berühmte Experimentalbühne von Adolphe Appia wieder aufgebaut, zusammen mit dem Alexander von Salzmann-Lichtraum, in dem ca. 6.000 Glühbirnen in langen Reihen hinter weißen Stoffbahnen angeschraubt werden, so dass ein geschlossener weißer Raum mit indirektem Licht entsteht. Am Tag des offenen Denkmals war alles frei zugänglich, unterschiedliche Performances, Vorträge und Ausstellungen usw. Es waren ganz viele Leute da, die sonst nicht ins Haus kommen. Diese zufälligen Denkmalstag-Besucher waren überrascht von der ungewöhnlichen Raumerfahrung und fanden es toll, dass es das in Dresden gibt. Sie haben gefragt, was vor 100 Jahren hier stattfand usw. Mir ist dann immer wichtig zu betonen, dass das nicht einfach als Kulturdenkmal entstanden ist, sondern dass das damals waghalsige Leute waren, die ein Risiko eingegangen sind, so etwas zu bauen und zu bespielen. Die sind auch pleitegegangen nach drei Jahren, weil die Stromrechnungen für diese Glühlampeninstallation zu hoch waren. Ich finde es wichtig, genau diesen Punkt zu betonen, dass Kunst sehr, sehr unterschiedlich sein kann. Und eine Partei wie die AfD geht ja davon aus, dass alle Kultur-Institutionen und alle Künstler das Gleiche machen. Das schwingt in ihrer Formulierung vom »linksversifften Kulturbetrieb« mit. Janine Ludwig: Rechts sind sie nicht, die Künste, oder? Einwurf aus dem Publikum: Gleich mal zum letzten Punkt. Politik oder Kultur oder Kunst, wie man es auch immer bezeichnen will: Manchmal hat man so den Eindruck, dass man sich subkutan belehrt fühlt. Wie Sie sagten, gierten die Leute nach 1989 nach der D-Mark. Wer da ’88, ’86 in Ungarn gelebt hat, der hat doch gemerkt, dass er mit der D-Mark weitergekommen ist, als mit der dämlichen DDR-Mark, wo man sich 14 Tage lang durchhungern musste, um sich hinterher vielleicht eine Jeans zu kaufen. Das den Leuten vorzuwerfen, wenn die Städte verrottet waren, wo im Grunde genommen nichts mehr wirklich funktionierte, ist nicht richtig. Es ist doch klar, dass der Normalbürger sich nach Normalität sehnt. Dass man das dann wieder lächerlich macht, ist ja

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dann auch wieder so eine kleine Arroganz, die da lautet: »Wir wissen, was gut ist.« Das ist auf der Beschreibungsebene erstmal rein festgestellt. Carena Schlewitt: Aber wo habe ich das lächerlich gemacht? Antwort: Nein, Sie nicht, ich meine allgemein, wenn man wieder über die Politik spricht, oder was damals hätte sein können. Sie haben ja auch zu Recht gesagt: In der Retrospektive gesehen, wollten wir eine verbesserte DDR. Ich wollte keine verbesserte DDR. Ich war froh, dass der Spuk vorbei war. Nachdem ich meine Stasiakte gelesen hatte, nachdem man Hohenschönhausen gesehen hat, da hatte man damit abgeschlossen, schlicht und einfach. Man hatte nicht den Traum. Auch das gehört sicherlich zur Pluriformität der Wahrnehmung der damaligen Zeit. Ein letzter Satz: Wenn man heute den Blätterwald durchguckt, 30 Jahre Mauerfall, da frage ich mich manchmal, haben wir, wie mein Lateinlehrer zu sagen pflegte, denselben Text? Es gibt, wie ein Jüdischer Witz sagt »vier Rabbis, acht Meinungen«. Das ist sicherlich normal. Aber dessen sollte man sich auch bewusst sein. Wolfram Ette: Ich wollte versuchen, die Frage nach der Beziehung von Theater und Politik noch etwas konkreter zu machen. Ich fand in dem Zusammenhang die beiden Inszenierungen interessant, die Lösch in Dresden gemacht hat. Also einmal Graf Öderland und dann Das blaue Wunder. Ich fand, um es gleich vorweg zu nehmen, die erste Inszenierung großartig und Das blaue Wunder furchtbar. Und zwar hat das auch etwas mit dem, was Sie gerade gesagt haben, zu tun. Beim Blauen Wunder fühlte ich mich belehrt und außerdem ist da was passiert, was ich für total verkehrt und destruktiv halte, dass sich nämlich die Inszenierung im Großen und Ganzen über die AfD lustig gemacht hat. Und das halte ich wirklich für verheerend. Man unterschätzt sie dann auch. In Graf Öderland waren in das Dürrenmatt-Stück Chöre reininszeniert; und diese Chöre haben Pegida-Texte, die bei Facebook gepostet worden sind, vorgetragen. Ich kann mich sehr gut an den Anfang erinnern. Es ging damit los, was wir jetzt auch immer wieder auf den Wahlplakaten gesehen haben: »Wir haben 1989 Revolution gemacht, wir machen sie jetzt wieder!« Und das war ganz stark, gerade, weil es sich nicht moralisch darüber erhoben hat, sondern es zunächst nur einfach dargestellt hat. Da wurde ein Konflikt dargestellt, und es wurde eben dann im Zusammenhang mit diesem Stück, wo es ja auch um eine Revolution geht, die dann umkippt, und sich in etwas vollkommen Anderes, ja in eine Diktatur, verwandelt, sehr gut miteinander verbunden. Und das hat mir bei Das blaue Wunder gefehlt. Ich habe mich gefragt: Es ist derselbe Regisseur, das liegt eigentlich nur drei Jahre auseinander: Wie kann das sein, dass jemand, der eine so gute Sache gemacht hat,

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jetzt auf einmal mit der Moralkeule vor mir herumfuchtelt, so dass es mir wirklich peinlich ist. Ich hatte sozusagen wirklich Fremdscham, die ganzen zwei Stunden, die es gedauert hat. Und da frage ich mich: Kann dann nur der Regisseur was dazu? Oder liegt es auch an einem sich verändernden gesellschaftlichen Klima, das dann eben mehr so in Richtung Moral, Belehrung oder so etwas, wogegen Sie jetzt eben argumentiert haben, steuert? Was könnte man da als Theater tun? Carena Schlewitt: Ich denke, der Ausgangspunkt in der Kunst kann nicht die Moral sein – das war auch in der DDR nicht der Fall. Aber natürlich ist Kunst immer Teil der Gesellschaft, sie steht nicht außerhalb der Gesellschaft. Wenn man mit Künstlern und mit Kunst arbeitet, ist der Ausgangspunkt ja erst mal die Kunst und in unserem Fall die Projekte, die entweder an uns herangetragen werden oder die wir sehen und die wir einladen oder koproduzieren; Themen, zu denen wir Festivals machen. Das ist eine ganze Bandbreite. Oft geht es gar nicht in erster Linie um ganz konkrete politische Themen. Es handelt sich um einen offenen Prozess, der aber sehr viel auslösen kann, was auch mit unserer Zeit zu tun hat. Wir vergeben ja keine Auftragswerke oder laden explizit Regisseure oder Gruppen ein. Die Projekte ergeben sich sehr dialogisch im Gespräch und in der Programmentwicklung. Das funktioniert in der Freien Szene anders als im Stadttheater. Hartwig Albiro: Ich bin ja nun lange aus dem Amt, insofern kann ich nicht so ganz aktuell mithalten, aber ich würde schon mal gerne sagen, ein moralisierendes Theater ist nie unsere Absicht gewesen, und es ist auch falsch. Das meine ich nicht. Es gibt ja einen humanistischen Auftrag, eine Botschaft der Kunst; und es gibt für Theater einen wichtigen Satz, der heißt: »Auf der Bühne interessiert nicht der Kampf von Recht gegen Unrecht, sondern der Kampf Recht gegen Recht«; und da wird’s spannend und das ist eigentlich das, was ich verstehe unter Dialog. Und natürlich hätte ich eine bestimmte Position, aber nur so ist überhaupt Auseinandersetzung spannend, im Dialog mit den anderen, im Zuhören und im möglichen Widerlegen durch Worte. Moralisieren wäre nicht mein Ding. Kunst hat schon die Aufgabe, nicht zu moralisieren, sondern die Botschaft des Humanismus zu verkünden. Das wäre meine Entgegnung. Und nochmal zur DDR, weil Sie das vorhin sagten. Ich kenne natürlich viele, die sagen: »Wir waren froh, dass wir sie los waren.« Ich würde nur sagen: Ich bin auch froh, dass es die DDR nicht mehr gibt, aber ich lasse sie mir nicht wegnehmen. Ich habe 40 Jahre gearbeitet da, und ich denke, ich bin einigermaßen aufrecht durchgekommen. Ich kann auch meine Stasiakte vorführen, und bei mir steht: »Albiro

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ist ein Feind, er muss eliminiert werden.« Die Dinger habe ich auch. Also ich stelle mich hier nicht als Opfer hin, ich war auch privilegiert in der DDR, aber ich war mit dem System durchaus nicht einverstanden. Da kann ich eine Menge Zeugen bringen. Es ist ein kleiner Witz: Ich habe zwei maßgebliche Orden. Der eine ist der Kunstpreis der DDR und der andere ist die Verdienstmedaille des Landes Sachsen, das ist der höchste Sachsenorden. Und dann war ich eingeladen zum Tag der Einheit in Frankfurt vor fünf Jahren. Ziemlich hoch angebunden, Merkel, Gauck usw. und ich habe die beiden Orden angelegt, weil Orden und Ehrenzeichen anzulegen waren. Da hatte ich den Kunstpreis der DDR und die Verdienstmedaille Sachsen. Ein paar haben gefragt: »Ja, was ist denn das da?« – »Das ist ein Orden der DDR und ein Orden der Bundesrepublik. Wir feiern den Tag der Einheit und ich trage beide.« Da haben viele gesagt: »Prima, das machst du richtig.« Also das sind meine Lebenserfahrungen und ich kenne viele, viele gute Leute, die die Leistungen der DDR-Menschen richtig einschätzen. Und dazu gehört die Distanz von vielen Dingen, aber es gibt auch ein Leben, das man da gelebt hat. Das ist so. Marianne Streisand: Was irgendwie fehlt – ich meine jetzt nicht in unserer Diskussion jetzt hier, sondern generell –, ist eine wirkliche Aufarbeitung dessen, was nach der Wende passiert ist. Also im Zusammenhang mit der AfD etc. Es gibt viele Punkte, da gibt es jetzt Diskussionen, die mir Hoffnung machen. Ich will bloß ein Beispiel mal kurz sagen. Ich war vor ein paar Wochen in den baltischen Ländern. Da gibt es zum Beispiel Anteilsscheine, die die Bevölkerung bekommen hat für das, was da Volkseigentum hieß. Davon konnten die sich Wohneigentum kaufen. So ist jetzt in diesen Ländern, zumindest in Litauen und Estland, der größte Teil der Wohnungsverhältnisse Eigentum. In Russland muss es so ähnlich gelaufen sein, das weiß ich jetzt nicht. Das ist irgendwie in der DDR völlig vergessen worden. Auch gab es nach der Wende diese Diskussion – Jürgen Fuchs hat darüber geredet –, dass die Arbeiter in den Volkseigenen Betrieben auch Anteilsscheine bekommen. Das waren Volkseigene Betriebe, wir haben die alle durch unsere Steuern mitbezahlt. Solche Prozesse, also wenn wir über Heiner Müller reden, müssen wir auch über Ökonomie reden, müssen, für meine Begriffe, aufgearbeitet werden. Oder ... ich höre jetzt auf! Also jedenfalls war das für mich irgendwie ein Bedürfnis, das nochmal zu sagen. Janine Ludwig: Das ist ein super Vorschlag, der natürlich ein ganz fundamentales Problem anreißt. Nämlich die Eigentumsfrage. Und die steht ja am Anfang von allem, wie wir spätestens seit Rousseau wissen. Sie haben jetzt die Verantwortung und die schwere Last, das Schluss-

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wort zu sprechen. Sie machen das schon ganz hervorragend. Ich mache mir keine Sorgen. Einwurf aus dem Publikum: Das würde ich sehr unterstützen, was Sie gesagt haben. Mein Lehrer war Wolfgang Ullmann, und er hat am Anfang, bevor die Treuhand überhaupt existierte, diese Idee so einer Volksaktie mit irgendwelchen Schweizer Nationalökonomen entwickelt, damit jeder einen Anteil an dem geschätzten Volksvermögen hat. Das wurde mal auf 300 Milliarden DM geschätzt, und die Treuhand hat dann mit 250 Milliarden Minus abgeschlossen. Also irgendetwas ist da schiefgelaufen. Ich wollte nicht die Schlussbemerkung machen, aber eine Sache sagen, weil da jetzt so viele Statements waren, die sich so kritisch gegenüber der Moral geäußert haben. Ich halte das so ein bisschen, nun schon seit längerem, für eine Zeitgeisterei. Ich finde, es gibt eigentlich ein Zuwenig an Moral und nicht ein Zuviel. Es gibt eine böse Moral und eine gehässige und eine arrogante, alles gut. Aber eigentlich fehlt uns Moral an vielen Stellen. Also denken Sie an den kategorischen Imperativ von Kant. Der verweist auf Ihr Verhalten gegenüber einem anderen Ort der Gesellschaft. »Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann.« Das ist ein hochmoralischer Impuls. Und wenn Sie sagen: »Interessiert mich nicht, was Kant sagt, bei mir ist das ganz anders«: Ich habe eher das Gefühl, dass wir in der Gesellschaft eben ein Zuwenig an Anstand haben. Es gibt Dinge, die macht man nicht, und das muss man wissen. Man beschimpft keine Juden. Man macht keine Ausländer an und irgendwelche anderen Schwächeren. Das ist eigentlich ein Gefühl, eine Haltung für Anstand, die stark mit moralischen Fragen – die man bedenken muss und reflektieren und die man auch erleben muss – zusammenhängt. Deswegen bin ich immer etwas vorsichtig. Ich kenne die Schwächen des Moralisierens, aber bin etwas vorsichtig, wenn ich höre, dass wir die Moral entsorgen wollen. Das kann sehr unangenehm werden. Carena Schlewitt: Nein, wir haben nicht gesagt, dass wir die Moral entsorgen wollen. Aber es ist nicht die Hauptaufgabe der Kunst, moralisch zu sein. Kunst kann auch ganz unmoralisch daherkommen und Moral auslösen.

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Wahrscheinlich Claus, Roland: Held oder kollektives Subjekt. Die Problematik der DDR-Literatur, Diss. (masch.) Universität Göttingen, 1978.


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Autor*innen

Hartwig Albiro: Schauspieler und Regisseur, geboren 1931. Engagements in Altenburg, Stendal, Dresden, Meißen, Görlitz, Berlin. 1961–1968 Schauspieler und Oberspielleiter. 1968–1971 Berliner Ensemble: Mitarbeiter Regie. 1971–1997 Städtische Theater Karl-MarxStadt/Chemnitz: Schauspieldirektor. Gastarbeiten: Berlin, Leipzig, Osnabrück, Fernsehfunk der DDR. 1977 Kunstpreis der DDR, 2009 Verdienstorden des Freistaates Sachsen. Wolfram Ette: Literaturwissenschaftler und Publizist. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Philosophie und Klassischen Philologie in Berlin und Paris. Professurvertretungen in Chemnitz, München, Bielefeld und Basel. Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mitglied der DFG-Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“. Zuletzt erschienen: Das eigensinnige Kind. https://wolframette1966. wordpress.com Sandra Fluhrer ist akademische Rätin auf Zeit am Department für Germanistik und Komparatistik der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie promovierte 2015 an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit der Arbeit Konstellationen des Komischen: Beobachtungen des Menschen bei Franz Kafka, Karl Valentin und Samuel Beckett (2016). Derzeit arbeitet sie an ihrer Habilitationsschrift zur Ästhetik und Politik der Verwandlung in der europäischen Literatur und politischen Philosophie. Andrea Geier ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Gender Studies an der Universität Trier, im Vorstand der Fachgesellschaft Geschlechterstudien und des Trierer Centrums für Postcolonial und Gender Studies (CePoG). Sie arbeitet u. a. zu Gegenwartsliteratur, Erinnerungskultur, Medienwechsel und macht Wissenschaftskommunikation. Janine Ludwig ist Literaturwissenschaftlerin und Akademische Direktorin des Durden-Dickinson-Programms an der Universität Bremen (2013/14 Gastdozentin am Dickinson College). Sie veröffentlichte zwei Monografien zu Heiner Müller und, mit Mirjam Meuser, zwei Sammelbände über Post-DDR-Literatur. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft und Stellvertretende Leiterin des Instituts für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien (ifkud).

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Autor*innen

Christian Meyer studiert Philosophie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin. Er beschäftigt sich mit politischer Ideengeschichte, Sozialphilosophie und deutschsprachiger Dramatik des 20. Jahrhunderts. Helen Müller: wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Buchwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Herausgeberin: Heiner Müller. „Für alle reicht es nicht“. Texte zum Kapitalismus, Berlin 2017. Sarah Pogoda ist Senior Lecturer in German Studies an der Universität Bangor (Wales). Sie forscht akademisch und künstlerisch zu Christoph Schlingensief, Institutionskritik und zeitgenössischem Theater. Publikationen zur Literatur des 20. Jahrhunderts, Ästhetischen Strategien der Avantgarde und Politischen Architekturen. Seit 2020 Gründungsmitglied der Künstlergruppe Neue Walisische Kunst (Celf Newydd Cymru), die sich der künstlerischen Erforschung des Fluxus widmet. Carena Schlewitt, geboren 1961 in Leipzig, ist Dramaturgin, Kuratorin und Theaterleiterin. Sie studierte Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, arbeitete an der Akademie der Künste in Ost-Berlin und war anschließend bei mehreren internationalen Produktionshäusern und Festivals in Berlin, Düsseldorf und Basel tätig. Seit der Spielzeit 2018/19 ist sie Intendantin von Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste in Dresden. Falk Strehlow: freier Autor, Kultur- und Literaturwissenschaftler. Denkverläufe im Vergleich – Goethe und Kleist, Kafka und Brecht (Würzburg 2016), Heiner Müllers Balke und seine intertextuellen Verwandtschaftsverhältnisse (Stuttgart 2006). www.internationaleheiner-mueller-gesellschaft.de/gesellschaft/mitglieder/falk-strehlow. Lebt und arbeitet in Berlin.

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Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – »Ich war immer ein Opportunist …« . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz–Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu »Unter Eis« Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990 – 2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977 – 2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen

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Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Kleist oder die Ordnung der Welt Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater Theaterlandschaften in Mittel-, Ostund Südosteuropa Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten Theater in Japan Sabine Kebir – »Ich wohne fast so hoch wie er« Steffin und Brecht Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute Frank Raddatz – Der Demetriusplan . oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Falk Richter – Trust Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft


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Heiner Goebbels – Ästhetik der Abwesenheit . Texte zum Theater Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals Das Melodram . Ein Medienbastard Dirk Baecker – Wozu Theater? Rimini Protokoll – ABCD Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 Theater im arabischen Sprachraum Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen Theater in Afrika – Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate Reenacting History: Theater & Geschichte Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität FIEBACH . Theater. Wissen. Machen Auftreten . Wege auf die Bühne Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« am Schauspiel Leipzig Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen

128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L’Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019) 151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche 152 Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen 155 TogetherText – Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater 157 Afrika II – Kooperationen zwischen Togo, Burundi, Tansania und Deutschland 158 Kindermusiktheater in Deutschland 159 Inne halten. Chronik einer Krise – Jenaer Corona-Gespräche




»Hinter der Frage Krieg oder Frieden steht […] die schrecklichere Frage, ob noch ein andrer Frieden denkbar ist als der Frieden der Ausbeutung und der Korruption. Der Alptraum, dass die Alternative Sozialismus oder Barbarei abgelöst wird durch die Alternative Untergang oder Barbarei. Das Ende der Menschheit als Preis für das Überleben des Planeten.« Heiner Müller

978-3-95749-302-6 ISBN 9783957493026

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www.theaterderzeit.de

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Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Müller

Falk Strehlow und Wolfram Ette (Hg.)

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Marx zufolge ist die menschliche Geschichte Fortschritt, der durch Klassenkämpfe vorangetrieben wird. In den Stücken Heiner Müllers verhält es sich fast umgekehrt: Die sich verschärfenden Klassenverhältnisse sind hier ein Motor des möglichen Untergangs der Menschheit. Im 21. Jahrhundert ist der Zusammenhang von Klassenverhältnissen und einer umfassenden Selbstzerstörungstendenz der global kapitalisierten Menschheit aktueller denn je. »Klassengesellschaft reloaded« lotet diese beiden Komplexe – Klassismuskritik und Gattungssuizid – sowie ihr Verhältnis zueinander im Kontext des Werkes von Heiner Müller aus. Der Band geht auf eine Tagung zurück, die 2019 von der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft in Kooperation mit dem Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin ausgerichtet wurde, und dokumentiert Vorträge, Gespräche und Diskussionen.

Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Müller

15.12.20 12:30


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