Fremde Leidenschaften Oper. Das Theater der Wiederholung I

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Günther Heeg Fremde Leidenschaften Oper Das Theater der Wiederholung I



Fremde Leidenschaften Oper


Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

Günther Heeg Fremde Leidenschaften Oper Das Theater der Wiederholung I Mit Beiträgen von Merle Fahrholz, Anselm Gerhard und Klaus Zehelein Recherchen 161 © 2021 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Redaktion: Lea Fucks, Gina Krewer, Meera Theeßen Covergestaltung und Satz: Tabea Feuerstein Korrektur: Judith Schäfer Umschlagabbildung: Philippe Chapéron: Dekorationsentwurf zur Schlussszene von Giacomo Meyerbeers Oper Le Prophète, 1897 Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio Printed in Germany ISBN 978-3-95749-369-9 (Paperback) ISBN 978-3-95749-376-7 (ePDF) ISBN 978-3-95749-356-9 (EPUB)


Recherchen 161

Günther Heeg Fremde Leidenschaften Oper Das Theater der Wiederholung I Mit Beiträgen von Merle Fahrholz, Anselm Gerhard und Klaus Zehelein Mitarbeit Lea Fucks, Gina Krewer, ­ Meera Theeßen


Inhalt

Günther Heeg Vorwort 7 I Grand Opéra 17 Günther Heeg Fremde Leidenschaften 17 Die Grand Opéra als Theater der Wiederholung I Traum und Trauma Die Grand Opéra als Traumproduzent und Seismograph gesellschaftlicher Erschütterungen II Die Revolution (in) der Grand Opéra Giacomo Meyerbeers Le Prophète Merle Tjadina Fahrholz Ein bürgerlicher Gesellschaftsentwurf vor mittelalterlicher Folie 84 Heinrich Marschners Der Templer und die Jüdin Anselm Gerhard Tragödie mit den Mitteln der Farce 98 Stilbrüche und Gattungsmischung in Meyerbeers Les Huguenots und anderen Opern aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts II Vincenzo Bellini 122 Günther Heeg Trauer- und Traumarbeit im Belcanto 122 Die Stuttgarter Inszenierungen von Vincenzo Bellinis Opern Norma, La Sonnambula und I Puritani III Richard Wagner 139 Günther Heeg »Das deutscheste von allen Wagner-Stücken« öffnet sich 139 dem ­Fremden Barrie Koskys Inszenierung von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg IV Bertolt Brecht/Kurt Weill 151 Günther Heeg Die Oper als Herausforderung des epischen Theaters 151

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Inhalt

Günther Heeg Kapitalismus/Gefühle 168 Anachronismus und Utopie in der Dreigroschenoper Günther Heeg »Ändere die Welt, sie braucht es.« Rede auf Peter Konwitschny, den Antichristen der Freunde der toten Oper, zum Antritt der Bertolt Brecht Gastprofessur der Stadt Leipzig

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V Bernd Alois Zimmermann 187 Günther Heeg Stimmen im Lärm der Zeit 187 Peter Konwitschnys Theaterarbeit mit B. A. Zimmermanns Oper Die Soldaten VI Helmut Lachenmann 201 Klaus Zehelein »Mit den Ohren schauen und mit den Augen hören« 201 Eine Annäherung an Helmut Lachenmanns »Musik mit Bildern«: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern Autorinnen und Autoren

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Vorwort Gravitationszentrum dieses Buchs ist die Gattung der Grand Opéra aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Anziehungskraft ihres Umgangs mit den Leidenschaften, mit Geschichte und Fremdheit wirkt auch in den nachfolgenden Untersuchungen zu Werken und Inszenierungen von Richard Wagner bis Helmut Lachenmann nach. Gefeiert durch das 19. Jahrhundert hindurch, sind die Werke von Giacomo Meyerbeer, Jacques Fromental Halévy, Daniel-­FrançoisEsprit Auber und anderer im 20. Jahrhundert aus den Spielplänen verschwunden. Das geschah in Deutschland vor allem aus dem Grund, dass die bekanntesten Vertreter der Grand Opéra Juden waren. Auch nach 1945 blieb eine Rückbesinnung auf sie aus. Beschwiegen blieb, dass die Komponisten der Grand Opéra im europäischen Repertoire bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs führend vertreten waren.1 Erst in den Jahren vor der Jahrtausendwende setzte in der Forschung und in den Opernhäusern selbst eine Wiederentdeckung der Grand Opéra ein. Anselm Gerhards bahnbrechende Arbeit über Die Verstädterung der Oper2 im 19. Jahrhundert bereitete einer Fülle internationaler Publikationen und Editionen zu einzelnen Komponisten und Aspekten der Grand Opéra den Weg. Ebenso erfreulich ist die parallel verlaufende künstlerische Auseinandersetzung mit deren Werken. Inszenierungen von John Dew, Jossi Wieler und Sergio Morabito, Peter Konwitschny und Tobias Kratzer sind hier exemplarisch zu nennen. Zusammen mit der Forschung und dem Engagement der Häuser sowie der Sängerinnen und Sänger sind sie ein Zeichen dafür, dass in den Grands Opéras ein von der Geschichte Unabgegoltenes zu entdecken und für die Gegenwart fruchtbar zu machen ist. Dem will diese Arbeit auf den Grund gehen. Auf dem Grund liegt zunächst der Antisemitismus in seiner modellhaften Ausprägung auf dem Gebiet der Kunst. Über dieses reicht er weit hinaus in den unmittelbaren politischen und sozialen Hass hinein. Der Antisemitismus bildet die Folie, vor der sich die künstlerisch-politische Praxis der Komponisten der Grand Opéra, allen voran die Opern von Giacomo Meyerbeer, abhebt. Mit ihm fängt alles an. Diese Erfahrung machte auch der Autor dieses Bands. In dem ihm zur Konfirmation geschenkten Buch Du und die Musik konnte er Anfang der sechziger Jahre lesen:

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Vorwort

[ I]n Giacomo Meyerbeers Werken wurde diese Gattung [der Grand Opéra – G. H.] peinlich. Ohne Frage waren seine Opern geschickt gemacht. Besonders in den Hugenotten gibt es packende Theaterszenen. Aber der Mangel an echter Erfindung ließ sich schon damals beim besten Willen nicht überhören. Deshalb konnten sich Schumann, Wagner und andere Großmeister nicht genug in seiner Verurteilung tun. Wir Heutigen überlassen die Opern Meyerbeers den Archiven.3 Ergänzt man noch, dass die Anmerkungen zur Biographie Meyerbeers mit dem Satz beginnen: »Stammte aus einer reichen Bankierfamilie«4, so findet sich hier wenige Jahre nach der Shoa in einem massenhaft verbreiteten Bildungsband für Jugendliche die Grundfigur des Antisemitismus in der Auffassung von Kunst wieder. In idealtypischer Weise vorgeprägt wurde sie von Richard Wagner. In dem 1850 zuerst unter Pseudonym veröffentlichten Pamphlet Das Judentum in der Musik5 und in seiner grundlegenden kunsttheoretischen Abhandlung Oper und Drama6 von 1852 hat Wagner auf schäbigste und unsäglichste Weise den geistigen Vatermord an seinem Förderer Meyerbeer vollzogen, um sich die Konkurrenz vom Leibe zu schaffen und den Platz an der Spitze der Opernkomponisten zu erobern. Zugleich hat er ein grundlegendes antisemitisches Stereotyp aufgegriffen und zum Modell ausgebaut. Es kann als Passepartout für das Ressentiment aller (vermeintlich oder tatsächlich) Zukurzgekommenen und gesellschaftlich Ohnmächtigen gegenüber denjenigen gelten, denen sozialer Rang und höchste Anerkennung (vermeintlich) unberechtigterweise allein durch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe zufliegen, die von Lug und Trug lebt. Damit die Ummünzung des sozialen Konfliktstoffs ins Ethnische und Moralische gelingen kann, bedarf es einer rassistischen Zuschreibung und einer Entwertung der Arbeit der rassistisch stigmatisierten Gruppe. Wagner unternimmt das aus seiner Sicht in idealtypischer Weise: er Jude, der an sich unfähig ist, weder durch seine äußere D Erscheinung, noch durch seine Sprache, am allerwenigsten aber durch seinen Gesang, sich uns künstlerisch kundzugeben, hat nichtsdestoweniger es vermocht, in der verbreitetsten der modernen Kunstarten, der Musik, zur Beherrschung des öffentlichen Geschmacks zu gelangen.7 Der Jude ist rassistisch dingfest gemacht und als Nichtskönner entlarvt. Wie aber gelingt es ihm – in Gestalt seines prominentesten

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Vorwort

Repräsentanten Meyerbeer –, jahrzehntelang das Pariser Publikum zu betören und den »öffentlichen Geschmack« zu manipulieren? Die wegweisende Antwort im Hinblick auf die Ausgestaltung des Antisemitismus gibt Wagner in Oper und Drama: as Geheimnis der Meyerbeerschen Opernmusik ist – der Effekt. D Wollen wir uns erklären, was wir unter diesem ›Effekte‹ zu verstehen haben, so ist es wichtig, […] dass wir uns […] des näherliegenden Worts ›Wirkung‹ hierbei nicht bedienen. Unser natürliches Gefühl stellt sich den Begriff ›Wirkung‹ immer nur im Zusammenhange mit der vorhergehenden Ursache vor. […] Wollen wir bezeichnen, was wir unter diesem Wort [Effekt – G. H.] verstehen, so dürfen wir ›Effekt‹ übersetzen durch Wirkung ohne Ursache. In der Tat bringt die Meyerbeersche Musik […] eine Wirkung ohne Ursache hervor.8 Pure Effekthascherei ist es in Wagners Augen, womit der Jude die Menschen manipuliert und betrügt. Um die Wirkung als »Effekt« abzuwerten, macht Wagner einen folgenreichen Gegensatz auf zwischen Oberfläche und wesenhafter Tiefe. Dem bloß Äußerlichen und Oberflächlichen, dem »geschickt« (siehe das Zitat von Herzfeld oben) auf Wirkung Berechneten, dem »Gleichgültige[n] und Triviale[n]«9, der Lieblosigkeit einer kalten Leidenschaftlichkeit und nicht zuletzt dem nur Nachgemachten, »[N]achgeplapperte[n]« in der »nachäffenden Sprache unserer jüdischen Musikmacher«10 stellt Wagner das Ursprüngliche und Ursächliche eines »allgemeingültige[n] menschliche[n] Gehalts«11, das Echte und Edle, »die tiefste seelenvolle Sympathie«12, ein originales Schöpfertum und den unmittelbaren Ausdruck wahrer Leidenschaft entgegen. Wagners Beschreibungen und moralische Bewertungen der Eigenschaften von Menschen, die (angeblich) ein »oberflächliches« Leben führen, sind feste Bestandteile im Repertoire antisemitischer Zuschreibungen geworden. Ihren emotionalen Drive beziehen sie aus der angsterfüllten Abwehr moderner Zeiten. Der Erosion substantieller Versicherungen und der Kontingenzerfahrung einer aufgeklärten Gesellschaft, der sozialen Dynamik der industriellen Revolution und dem raschen Wechsel kultureller Ausdrucks- und emotionaler Verkehrsformen setzt Wagner die trotzige Behauptung eines (angeblich) immer noch intakten Substantiellen, Eigentlichen, Ursprünglichen und Tiefempfundenen entgegen. Je mehr aber die Zeit über

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Vorwort

die Behauptung fundamentaler Gewissheiten hinweggeschritten ist, umso stärker richtet sich der Hass der fundamentalistischen Glaubensgemeinschaft gegen diejenigen, die daran vermeintlich Schuld tragen: die Juden. Das ist die historisch-emotionale Dynamik, die Wagners Antisemitismus antreibt. Meyerbeer treffen Wagners Invektiven nicht. Er hat in und mit der Moderne zu leben gelernt. Letzte Sinnbegründungen und fundamentalistische Verankerungen von Charakteren, Leidenschaften und musikalischem Ausdruck sind in seinen Grand Opéras nicht anzutreffen. Gleichwohl sind sie nicht ohne Gehalt. Sie machen Sinn – zumeist mehrfachen – im Zuge einer gezielten und differenzierten Wiederaneignung und Transformation von Bruchstücken der Vergangenheit in einer konkreten historischen Situation. Ohne Ursprungssehnsucht und teleologische Heilsversprechen wird Geschichte für Meyerbeer zu einem Potential, das sich in die Gegenwart einbringen und wiederholen lässt, um sie zu überschreiten. Wiederholung ist das entscheidende Stichwort für Meyerbeers Rückwendung zur Geschichte, ihre Aneignung in der Gegenwart und deren Transformation. Das geht einher mit Sören Kierkegaards Beschreibung der Wiederholung als ein Erinnern »nach vorwärts«13. 1843 prognostiziert Kierkegaard, dass die Wiederholung künftig eine wichtige Rolle in der Philosophie spielen wird: »Die Wiederholung ist die neue Kategorie, welche entdeckt werden soll.«14 Die Wiederholung ist in einer Zeit der aufgegebenen Letztbegründungen und Heilsgewissheiten die einzige säkulare kulturelle Praxis, die im Rückgriff auf die Bruchstücke der Vergangenheit den Horizont der Gegenwart zu überschreiten vermag. Zugleich ist die Wiederholung eben wegen eines fehlenden substantiellen Kerns ein Vorgang der Kostümierung und Maskerade, also ein theatraler Akt. So hat es Gilles Deleuze in seiner paradigmatischen Studie Differenz und Wiederholung15 dargestellt, die 125 Jahre nach Kierkegaard auf dessen Vorhersage zurückkommt. Giacomo Meyerbeers zur gleichen Zeit wie Kierkegaards Abhandlung entstehende Opern lassen sich als ein Theater der Wiederholung verstehen. Ihnen gelingt es, beträchtliche Zeit vor Bertolt Brecht, ihre Gegenwart zu historisieren und aus der Konstellation von Zeiten und Räumen, die in ihnen zusammentreffen, Gehalt und Wirkung zu erzielen. Ohne Rekurs auf eine längst obsolete »Tiefe« gewinnen sie der »Oberfläche« des Spektakels, das die Grand Opéra auch ist, jenen profanen Sinn ab, der in unserer von fundamentalistischen Bewegungen heimgesuchten

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Vorwort

Gegenwart erneut gebraucht wird. Das Theater der Wiederholung in der Grand Opéra zu entdecken und seine Bedeutung für die Gegenwart darzustellen ist das erste wesentliche Ziel dieses Buchs. Das andere ist die Offenlegung der Stellung zum Fremden und zu den Leidenschaften in der Grand Opéra. Der Titel dieses Buchs Fremde Leidenschaften Oper weist darauf hin, dass die Leidenschaften, die sich auf der Opernbühne Gehör verschaffen, nicht – wie es weitverbreiteter Ansicht entspricht – der leidenschaftliche Ausdruck der handelnden Figuren sind, die auf unmittelbare Resonanz stoßen in den Herzen der Zuschauenden und Zuhörenden. So noch hat es Wagner gesehen und sein (Vor-)Urteil hat sich hartnäckig gehalten: »Der Gesang ist […] die in höchster Leidenschaft erregte Rede: Die Musik ist die Sprache der Leidenschaft. […] Sehr natürlich« spricht Wagner deshalb von dem »Gesange als dem lebhaftesten und unwiderleglich wahrsten Ausdrucke des persönlichen Empfindungswesens«16. Die Vorstellung, dass Leidenschaften nicht der natürliche Ausdruck einer schönen Seele sind, ist Wagner ein Gräuel. Nahezu mit Fassungslosigkeit beschreibt er in Oper und Drama daher, dass die berühmte Arie »Roi du ciel et des anges« am Ende des 3. Akts von Meyerbeers Le Prophète »eine[.] dem Volksgesange abgelauschte[.], zu rauschender Fülle gesteigerte[.] hymnenartige Melodie«17 – keine schlechte Beschreibung im Übrigen –, nicht der leidenschaftliche Seelenausdruck eines »hochbegeisterte[n] Held[en]« ist, »der sich aus innerster Entzückung in jene Melodie ergießen musste«18, sondern eine manipulative Wiederholung von musikalischen Topoi früherer, religiös-ekstatischer Leidenschaften, die der zerrissene Held in Meyerbeers Oper in dem Augenblick einsetzt, als er mit dem Rücken zur Wand steht, um eine aussichtslose Lage noch zu wenden. Die Vorstellung einer nicht an den persönlichen Ausdruck gebundenen Leidenschaft ist Wagner fremd. Das Fremde aber erregt seinen angstbesetzten Abscheu. In der rituellen Ausübung des jüdischen Glaubens in der Volkssynagoge erscheint ihm »die Fratze des gottesdienstlichen Gesangs«19, die er nicht anders als mit herabwürdigender Abwehr verfolgen kann: er ist nicht von der widerwärtigsten Empfindung, gemischt W von Grauenhaftigkeit und Lächerlichkeit, ergriffen worden beim Anhören jenes Sinn und Geist verwirrenden Gegurgels, Gejodels und Geplappers, das keine absichtliche Karikatur widerlicher zu

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Vorwort

entstellen vermag, als es sich hier mit vollem naiven Ernst darbietet.20 Viel unbewusste Leidenschaft ist im Spiel in dieser Suada, vor allem aber die Angst vor dem Fremden, die in Hass umschlägt. Durch das Fremde sieht Wagner seine Idee vom unmittelbaren persönlichen Ausdruck einer Leidenschaft der Seele in Gefahr. An diese Idee gebunden ist die Souveränität eines heldischen Subjekts, dem nichts an und in sich fremd ist. Von daher rühren die Angst und der Hass, mit denen jeder (vermeintliche) Angriff auf die Souveränität dieses Subjekts verfolgt wird. Die Verteidigung der bis heute weitverbreiteten Vorstellung vom persönlichen Ausdruck der Leidenschaften durch die Protagonist:innen der Opernszene, so lässt sich daraus folgern, ist kein harmloses Festhalten an einer ästhetischen Gewohnheit, sondern eine ästhetisch-politische Entscheidung, die zum Ausschluss und zur Verfolgung des Fremden führt. Leidenschaften im leidenschaftslosen bürgerlichen Zeitalter sind auch auf der Opernbühne nicht der subjektive Ausdruck der handelnden Personen, sondern artikulieren sich im Rahmen einer Geschichte der Leidenschaften, die von Vergessen und Verdrängung, von unbewusster Wiederkehr, traumatischer Symptomatik und bewusster Wiederaneignung gezeichnet ist. Sie sind nicht einzelnen Personen zu eigen, sondern erscheinen immer an einem anderen Ort und – entsprechend der Beziehungs-Geschichte der Affekte – zwischen den dramatis personae. Leidenschaften in der Oper sind somit für ein singendes wie ein zuhörendes Subjekt, die um Ausdruck ringen, fremde ­Leidenschaften. In ihrer Fremdheit aber bieten sie die Chance, die Geschichte der Leidenschaften, in die die Einzelnen verstrickt sind, in der Wiederholung zu erfahren und als fremde Leidenschaften im Eigenen anzunehmen. Eben diese Erfahrung lassen sich in der Grand Opéra und besonders in den Opern von Giacomo Meyerbeer machen. Die Aktualität dieser Erfahrung der Leidenschaften in der Grand Opéra darzulegen ist das zweite wesentliche Ziel des Buchs. Das Theater der Wiederholung, das Fremde und die Leidenschaften bilden den dreifachen Fokus der Untersuchungen zur Grand Opéra. Sie bildeten die leitende Trias der Untersuchungen, die der Grand Opéra im DFG-Forschungsprojekt Das Theater der Wiederholung unter der Leitung des Autors gewidmet waren. Diese Trias bestimmt auch die Perspektive der nachfolgenden Vorträge des Autors zu Opern und zeit-

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Vorwort

genössischen Inszenierungen von Vincenzo Bellini, Richard Wagner, Bertolt Brecht und Kurt Weill sowie Bernd Alois Zimmermann. Die für dieses Buch exemplarisch herangezogenen Arbeiten von Jossi Wieler und Sergio Morabito zu den Opern Norma, La Sonnambula und I ­Puritani von Vincenzo Bellini, von Barrie Kosky zu Richard Wagners Meistersingern und von Peter Konwitschny zu Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten zeigen, wie sehr das zeitgenössische Musiktheater, bewusst oder unbewusst, das Theater der Wiederholung und die Fremde der Leidenschaften in der Grand Opéra in der Gegenwart produktiv zu machen versteht. Große Freude bereiten dem Autor die Gastbeiträge dreier ausgewiesener Koryphäen auf dem Gebiet der Grand Opéra und des zeitgenössischen Musiktheaters. Mit ihrem Fachwissen und ihren Erfahrungen aus der dramaturgischen Praxis bereichern sie das Buch in außerordentlichem Maße. Merle Fahrholz, Chefdramaturgin der Oper Dortmund, behandelt in ihrem Beitrag Ein bürgerlicher Gesellschaftsentwurf vor ­mittelalterlicher Folie zu Heinrich Marschners Der Templer und die Jüdin (1829) den Historismus der auf Walter Scotts Ivanhoe zurückgehenden »Große[n] romantische[n] Oper« und zeigt die vielfältigen Bezüge der mittelalterlichen Handlung zu den zeitgeschichtlichen Problemlagen und Herausforderungen der bürgerlichen Gesellschaft wie die nationalstaatliche Einigung und das Verhältnis königlicher und bürgerlicher Souveränität auf. Obgleich keine Grand Opéra dem Namen nach, trägt Der Templer und die Jüdin viele ihrer Züge und bedeutet eine willkommene Spiegelung der französischen und deutschen Zustände. Anselm Gerhard, Professor für Musikwissenschaft und Direktor des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Bern, rekurriert mit dem Titel seines Beitrags Tragödie mit den Mitteln der Farce bewusst auf Karl Marx’ Satz: »Hegel bemerkt irgendwo, dass alle weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.«21 Marx’ historische Konstellierung von Tragödie und Farce im Zeitalter der Revolutionen von 1789 bis 1848/49 kann als Nukleus eines Theaters der Wiederholung gelesen werden. Anselm Gerhard greift diese Anregung auf und untersucht zur Überprüfung, Differenzierung und Erweiterung dieses Konzepts »Stilbrüche und Gattungsmischung in Meyerbeers Les Huguenots und anderen Opern aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts«.

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Vorwort

Klaus Zehelein, langjähriger Intendant der Oper Stuttgart und Dramaturg der Stuttgarter Aufführung von Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1997), unternimmt in seinem Beitrag »Mit den Ohren schauen und mit den Augen hören« eine Annäherung an Helmut Lachenmanns »Musik mit Bildern«. Im Fokus seiner Ausführungen stehen dabei nicht nur der Rückgriff auf Andersens Märchen und seine Rekontextualisierung mit Texten von Leonardo da Vinci und Gudrun Ensslin, sondern vor allem die sinnlich-haptische Hervorbringung von Gefühlen und Leidenschaften durch eine Musique concrète instrumentale jenseits der Repräsentation eines subjektiven Ausdrucks. Sie bildet den Fluchtpunkt einer Entwicklung, die mit Meyerbeer und der Grand Opéra begann. Ich danke Merle Fahrholz, Anselm Gerhard und Klaus Zehelein sehr herzlich für die Veröffentlichung ihrer Arbeiten in diesem Buch. Judith Schäfer und Nicole Gronemeyer vom Verlag Theater der Zeit danke ich für die umsichtige Endredaktion und die Betreuung des Buchs. Fremde Leidenschaften Oper wäre nicht zustande gekommen ohne die Mitarbeit von Lea Fucks, Gina Krewer und Meera Theeßen vom Centre of Competence for Theatre (CCT) der Universität Leipzig an diesem Band. Mit ihrer Klugheit, ihrem Engagement und ihrer Freundlichkeit haben sie nicht nur die Texte redigiert, sondern auch inhaltlich lektoriert und so dazu beigetragen, das Buch besser zu machen. Ich danke ihnen von Herzen für ihre Arbeit. Leipzig, im Juni 2021 Günther Heeg

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Endnoten 1 Allein die Pariser Oper verzeichnet im Jahr 1882 489 Aufführungen von Aubers La Muette de Portici bislang, 1000 Mal ging der Vorhang bis 1903 für Meyerbeers Les Huguenots auf, 573 Mal für Le Prophète vom selben Komponisten bis 1912, auf 500 Aufführungen brachte es Halévys La Juive bis 1886. Nach Lacombe, ­Hervé: »The ›machine‹ and the state«, in: Charlton, David (Hrsg.): The Cambridge Companion to Grand Opera, Cambridge 2003, S. 21 – 42, hier S. 22. 2 Gerhard, Anselm: Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1992. 3 Herzfeld, Friedrich: Du und die Musik. Eine Einführung für alle Musik, West-Berlin 1960, S. 239. Der Musikpublizist Friedrich Herzfeld (1897 – 1967) veröffentlichte 1941 die erste Biografie über Wilhelm Furtwängler als Hagiografie aus allen Versatzstücken der Ideologie des Nationalsozialismus: Wilhelm Furtwängler. ­Leben und Wesen, Leipzig 1941. Kritisch dazu Herzfeld, Gregor: »Friedrich ­Herzfelds erste Monografie«, in: Riethmüller, Albrecht/Herzfeld, Gregor (Hrsg.): Furtwänglers Sendung. Essays zum Ethos des Kapellmeisters, Stuttgart 2020, S. 125 – 138. 4 Herzfeld, F.: Du und die Musik, S. 370. 5 Freidank, K. [i.e. Richard Wagner]: »Das Judentum in der Musik«, in: Neue ­Zeitschrift für Musik, 3. und 9. September 1850, 1869 erweitert als selbständige Publikation unter Wagners Namen erschienen. Wagner, Richard: Das Judentum in der Musik, Leipzig 1869, im Folgenden zit. n. Wagner: Über das Judentum in der Musik. Politische Schriften, Bremen 1998. 6 Wagner: Oper und Drama, Stuttgart 2008. 7 Wagner: Das Judentum in der Musik, S. 19. 8 Wagner: Oper und Drama, S. 101. 9 Wagner: Das Judentum in der Musik, S. 20. 10 Ebd., S. 21. 11 Ebd., S. 22. 12 Ebd., S. 20. 13 Kierkegaard, Sören: [Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden ­Psychologie von Constantin Constantius], in: ders.: Werke II, hrsg. v. Liselotte ­Richter, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 7. 14 Ebd., S. 22. 15 Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1992, zuerst Paris 1968. 16 Wagner: Das Judentum in der Musik, S. 18. 17 Wagner: Oper und Drama, S. 104. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 22. 20 Ebd. 21 Marx, Karl: »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Ders./Engels, Friedrich: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I, Berlin 1971, S. 222 – 316, hier S. 226.

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I Grand Opéra Günther Heeg Fremde Leidenschaften Die Grand Opéra als Theater der Wiederholung I Traum und Trauma. Die Grand Opéra als Traumproduzent und Seismograph gesellschaftlicher Erschütterungen 1. Vexierbild

Die Hochzeit der Grand Opéra in Paris fällt in die Zeit zwischen zwei Revolutionen, der Julirevolution des Bürgertums von 1830 und der proletarischen Februarrevolution 1848 gegen die Herrschaft dieses Bürgertums und seines Souveräns, des »Bürgerkönigs« Louis Philippe. Die kurze Zeitspanne dazwischen, die Zwischenzeit der Julimonarchie, bringt den Take-off einer enormen Beschleunigung der Zeit selbst in der rasanten Veränderung des ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens. Zwar lässt sich in Frankreich in den Jahren der Julimonarchie (noch) nicht von einer mit England vergleichbaren industriellen Revolution reden, die Akkumulation des Kapitals findet noch nicht so sehr in der Produktion, sondern überwiegend in der Zirkulationssphäre statt. Im Finanzsektor, an der Börse und in riskanten Spekulationen vollzieht sich die schnelle Anhäufung und auch der Verlust von immensen Summen. Eine Goldgräbermentalität breitet sich rasch aus und jeder, der über etwas Kapital verfügt, hofft, etwas vom Gewinn für sich zu erlangen. So entsteht neben der alten Aristokratie die neue Klasse des bürgerlichen Finanzkapitals. Dessen Physiognomie hat Honoré de Balzac, der genaue Porträtist der sozialen Charaktermasken der Julimonarchie, in den Romanen seiner Comédie humaine nachgezeichnet. Für sie allesamt scheint zuzutreffen, was Karl Marx und Friedrich Engels am Ende dieser geschichtlichen Periode 1848 im Kommunistischen Manifest für den Geist der Bourgeoisie festgehalten haben: ie Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle D feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen

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I Grand Opéra

an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«.1 Von der »Gefühllosigkeit« einer Zeit unter der von allen sinnlichen Qualitäten abstrahierenden Tauschprinzips und ihrer »Nacktheit« in Hinsicht auf das Bedürfnis nach »buntscheckiger« Kostümierung und Luxus vermitteln die Lithographien und Gemälde des Zeitgenossen Honoré Daumier einen guten Eindruck.

Honoré Daumier: Gargantua, erschienen in: La Caricature, 16. Dezember 1831.

Seine Karikaturen der Angehörigen der neuen herrschenden Klasse, der Abgeordneten, Richter, Banker und Börsianer, zeigen teils von der Jagd nach Geld ausgemergelte und vertrocknete Gestalten, teils vollgefressene Bäuche, fast stets im tristen Schwarz-Weiß-Grau des bürgerlichen Habits und überdies von überwältigender Spießigkeit.2 Politisch wird die Herrschaft der Finanz-Bourgeoisie von einem Liberalismus begleitet, der nicht nur das »nackte Interesse« des Marktes und der »baren Zahlung« proklamiert, sondern durchaus bürgerliche Freiheiten gegenüber dem Regime der katholischen Restauration bringt. Die Religionsfreiheit und in diesem Zusammen-

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hang die (in der Französischen Revolution von 1789 bereits erfolgte, nun erneute) Gleichstellung der Bürger:innen jüdischen Glaubens3 gehört ebenso dazu wie die politischen Mitwirkungsrechte, die Stärkung der Rechte der Abgeordnetenkammer gegenüber der Exekutive. Den politischen, ökonomischen und sozialen Freiräumen, die sich die neue Klasse geschaffen hat, steht die Masse der Bäuer:innen, Handwerker:innen und Arbeiter:innen gegenüber, deren Lage sich, wie Hungerrevolten in dieser Zeit immer wieder zeigen, durch die Julirevolution nicht geändert hat. Die Februarrevolution von 1848 richtet sich deshalb nicht nur gegen den Bürgerkönig Louis Philippe, sondern auch gegen die Herrschaft des Finanzbürgertums. Wie unterschwellig explosiv die soziale Lage zur Zeit der Julimonarchie war, zeigt sich am Zusammenleben einer seit dem Beginn des Jahrhunderts auf das Doppelte angewachsenen Bevölkerung von 1 Million Einwohner:innen auf beschränktem Raum (35 Quadratkilometer) und in engen Straßen – noch vor der Boulevardisierung der Stadt durch Georges-Eugène Haussmann im Zweiten Kaiserreich. Eine solche Stadt will unterhalten sein. 28 Theater in Paris sind bemüht, dem Bedürfnis des Vergnügens, der Unterhaltung und der Ablenkung seiner Bewohner:innen nachzukommen. Die Theater sind dabei unterschiedlich privilegiert. 1806 wurden alle Theater unter staatliche Kontrolle gestellt und 1807 durch den Innenminister eine hierarchische Ordnung eingeführt. Nur die Opéra, die Comédie-Française, die Opéra comique und das Théâtre de l’Impératrice wurden zu grands théâtres erklärt. Allein der Opéra war es darüber hinaus erlaubt, ganze Werke vollkommen in Musik und Ballette in einem dezenten und gehobenen Stil aufzuführen. Präziser wurden die Anforderungen an die Opéra von staatlicher Seite aus in den folgenden Jahren in den cahiers des charges festgelegt. Heute würde man von Zielvereinbarungen zwischen dem Staat, hier vertreten durch das Innenministerium, und der jeweiligen Direktion der Opéra sprechen, in denen staatliche Unterstützung von der Erfüllung vereinbarter Aufgaben durch die Opéra abhängig gemacht wurde. Generell war es Aufgabe der Opéra, dem öffentlichen (nationalen) Interesse zu dienen und das kulturelle Image Frankreichs in der Welt zu stärken.4 An diesen kulturund nationalpolitischen Aufgaben änderte sich auch mit dem tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturwandel nichts, den Anselm Gerhard als »Verstädterung der Oper« beschrieben hat.5 Wenngleich die hierarchische Einordnung der Opéra und die damit verbundenen Eintrittspreise sie nicht für ein proletarisches Publikum attraktiv machten, sondern die gehobenen Schichten in den

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Blick nahm, machte die geschilderte soziale, ökonomische und politische Dynamik nach der Julirevolution eine vollkommene Umgestaltung sowohl der Gattung der Oper als auch der Institution der Opéra notwendig. Die klassische französische Form der Oper, die tragédie lyrique, mit ihren mythologischen und antiken Heldinnen und Helden im höfischen Dekor, weicht einem neuen Typus von Oper: Die Grand Opéra entsteht. Allerdings erhebt sich diese nicht wie Phönix aus der Asche der Restauration als eine neue Gestalt aus einem Guss. Die Grand Opéra ist Stückwerk, zusammengefügt aus den Versatzstücken vieler künstlerischer Genres, und ihre Genese ist mehr der finanziellen Not durch einen abrupten Einbruch der Publikumsgunst geschuldet. Bereits 1816 macht der Direktor des Königlichen Haushalts darauf aufmerksam, dass die Varieté- und Jahrmarktstheater ebenso wie die Vaudeville- und Melodram-Theater sowie die Opéra-Comique voll in der Publikumsgunst stehen, während die grands théâtres der ersten Kategorie oftmals leer sind.6 Das neue städtische Publikum goutiert besonders die visuellen Sensationen, die in den Theatern der zweiten Kategorie Furore machen. Ein wesentliches Bauteil, das zum Stückwerk der Grand Opéra beiträgt, sind die Anleihen, die sie bei den Dekorationen und Effekten der Volkstheater macht. So wie die bürgerliche Revolution von 1830 nicht ohne die Volksmassen zustande gekommen wäre, so kommt auch die Umgestaltung der Oper zur Grand Opéra nicht ohne den Rückgriff auf die theatralen Volksbelustigungen aus. Die weiteren Elemente, die sich zum Stückwerk einer Grand Opéra zusammenfügen, hat Louis-Désiré Véron, der erste Direktor der neu gestalteten Opéra, so beschrieben: n opéra en cinq actes ne peut vivre qu’avec une action très draU matique, mettant en jeu les grandes passions du cœur humain et de puissants intérêts historiques ; cette action dramatique doit cependant pouvoir être comprise par les yeux comme l’action d’un ballet. Il faut que les chœurs y jouent un rôle passionné, et soient pour ainsi dire un des personnages intéressants de la pièce. Chaque acte doit offrir des contrastes des décorations, des costumes, et surtout des situations habilement préparés.7 An der Grand Opéra ist alles groß und überdimensioniert. Die monumentalen Dekorationen, die die Vergnügungssucht des Publikums und seinen Wunsch nach Träumen und Ablenkung befriedigen, die prunkvolle Ausstattung der Kostüme und Requisiten, eine große Masse an Chorist:innen und Komparserie, eine visuelle Choreogra-

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phie der Handlung wie in einem Ballett und eine Kontrastdramaturgie, die in schneller Folge wechselnde Schicksalslagen herbeiführt. Eine solche Umgestaltung der Gattung Oper unter dem Primat des Visuellen setzt eine Veränderung des Apparats Oper voraus. Mit der Ernennung des Arztes und Journalisten Véron, der sein Vermögen mit Hustenpillen gemacht hatte, setzt dieser Umbau ein. Véron war zwar vom Staat angestellt, er arbeitete aber mit der Opéra wie in einem Franchise-Unternehmen auf eigene Rechnung.8 Mit einem satten Gewinn zog er sich 1835 aus dem Geschäft Opéra zurück. Keiner seiner Nachfolger konnte danach mehr Gewinn mit der Opéra machen. Das lag an den ständig wachsenden Produktionskosten, u. a. an den rasant steigenden Gagen für die Sänger:innen, den Kosten für das ganze Corps aus Orchester, Ballett, Chor und Figurant:innen bis hin zum Sicherheitspersonal und besonders für die aufwendigen Dekorationen. Zur Ausgestaltung der Bühnenbilder genügte nun kein einzelner Ausstatter mehr, sie wurde im großen Stil arbeitsteilig organisiert. Hinzu kam, dass sich die Probenzeiten durch das multi- und transmediale Zusammenwirken unterschiedlicher Künste und Gattungen und die Feinabstimmung zwischen ihnen auf Monate hinaus verlängerte. Diese Produktionsweise brachte es mit sich, dass die Zahl der wichtigsten Grands Opéras überschaubar war.9 Dafür blieben sie bis über die Jahrhundertwende hinaus mit hohen Aufführungszahlen im Repertoire. Für die Dramaturgie der Grand Opéra entscheidend war es, jemanden zu finden, der in der Lage war, immer neue Libretti mit ständigen starken Kontrasten und unerwarteten Wendungen zu finden. Auch in dieser Hinsicht war Véron erfolgreich: »Je ne crains pas de le dire ici, M. Scribe est de tous les auteurs dramatiques celui qui comprend le mieux l’opéra«10, setzt er die Aufzählung der unabdingbaren Zutaten für eine gelungene Grand Opéra fort. Eugène Scribe ist in der Tat der Librettist der Grand Opéra. Bekannt wurde er zuvor als Librettist der Opéra comique. Die Handlung wird dort durch private Intrigen, durch immer neue überraschende Wendungen in Gang gehalten. Erst liebt er sie, als sie endlich seine Liebe erwidert, bringt ein dummes Missverständnis, angeblich ein anderer Mann, ihn dazu, sein Glück bei einer anderen zu suchen. Sie wiederum rächt sich mit einem anderen Mann, der wiederum die Trostgeliebte des Mannes liebt und so fort. Der ständige Wechsel der Situationen hält das Publikum in Atem. Scribe hat nun die privaten Intrigen, die für vergnügliche Wendungen sorgen, auf die großen und ernsten politischen Sujets der Grand Opéra übertragen, wo sie dramatische Gestalt annehmen und das Publikum in immer neue Seelenzustände versetzen.

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Für Abwechslung, eskapistisches Träumen, narzisstische Selbstfeier und sinnliches Vergnügen war alles getan in der neuen Gattung der Grand Opéra und ihrem institutionalisierten Apparat. Kein Zweifel: Die Grand Opéra ist ein Vergnügungsspektakel. Aber sie erschöpft sich darin nicht. Anzeichen dafür sind die Sujets der Grand Opéra, die in historischem Kostüm von gesellschaftlich-politischen Umbruchszeiten, Religionskriegen, sozialen Auseinandersetzungen und Pogromen kündigen. Von ihnen hat Theodor W. Adorno behauptet, sie würden in der Grand Opéra »hergerichtet, personalisiert und […] dabei neutralisiert, indem von der Substanz der Konflikte nichts übrig blieb«.11 Dem ist zur Hälfte zuzustimmen. Das Spektakuläre ist die Substanz der Grand Opéra. In ihm aber haben sich in der verstellten Form des Traumas und Symptoms die leidenschaftlichen Erfahrungen verkapselt, die jene der Zeitgenoss:innen sind. In fremden Dekorationen, Kostümen und Handlungen kehren sie wieder und warten darauf, dass sie zur Kenntlichkeit entstellt und neu erfahren werden. Es ist Giacomo Meyerbeer, der »Meister der Grand Opéra«12, der, mit ungeheurer musikalisch-szenischer Präzision und Intuition in die Dramaturgien von Scribe eingreifend und sie entscheidend verändernd, uns diese Erfahrung erneut machen lässt. Meyerbeer ist sowohl der exemplarische Repräsentant der Grand Opéra, der alle Register des Opernspektakels zu ziehen weiß und dieses Spektakel auch bedient. Aber er ist auch der komponierende Szeniker und szenisch denkende Komponist, der dem Spektakulären seine Kehrseite abgewinnt und zu Einsichten verhilft, die die Oberfläche aus Narzissmus, Eskapismus und Sensationen nicht ohne weiteres freigibt. Das Besondere der Opernkunst Meyerbeers ist nun, dass diese Einsichten nicht unter oder jenseits der Oberfläche in einem Reich der »Tiefe« zu suchen ist, das Richard Wagner mit antifranzösischem wie antisemitischem Ressentiment als das »echte« deutsche Wesen gegen die Oberfläche der bloßen »Effekte« des »Jüdischen« in die polemische Schlacht schickte.13 Sondern dass die Entstellung des Spektakulären der Oberfläche nur in und durch sie hindurch geschehen kann. Meyerbeer nimmt die Gefühle, Leidenschaften und Triebenergien, die sich ans Spektakel klammern und in ihm eine Form des Ausdrucks zu finden glauben, ernst. Er nimmt sie an und verwirft sie nicht. Erst durch diese Annahme werden sie erfahrbar, bearbeitbar und, in the long run, veränderbar. Meyerbeer erteilt dem polemischen Ausspielen von vermeintlicher inhaltlicher Tiefe gegen vermeintlich oberflächliche Äußerlichkeit eine implizite Absage. Er wirkt damit einer Politik der Feinderklärungen entgegen, die aus der polemischen Abwertung resul-

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tiert und die in der deutschen Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte verheerende Wirkung entfalten wird. Politiken der konfrontativen Entgegensetzung und Feinderklärungen den Boden zu entziehen ist die ästhetisch-avantgardistische Strategie des Musiktheaters von Giacomo Meyerbeer. Das ist die Ursache seiner heutigen Wirkung. Um sie zu ermessen, ist es unabdingbar, die Stellung von ­Meyerbeers Grand Opéras zur Geschichte zu untersuchen und sie in den Horizont des ästhetischen Historismus des 19. Jahrhunderts zu stellen, dem sie entwachsen sind – entwachsen im doppelten Sinn des Entstehungsgrunds wie der Übersteigung des Horizonts. Das folgende Kapitel erkundet daher die Genese des ästhetischen Historismus aus dem veränderten Verständnis von Zeit und Geschichte im Zeitalter der Revolutionen. Vor allem aber fokussiert es die Gefühle und Leidenschaften, die in diesen Zeiten am Werk sind.

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Die Umwandlung der Pariser Opéra, die sie zur Institution der Grand Opéra macht, wird durch die Julirevolution ins Werk gesetzt. An deren Beginn steht ein scheinbar absurdes Ereignis. Am ersten Abend der Julirevolution, der Bourbonenkönig Karl X. hatte bereits abgedankt, beginnen die Revolutionäre in unterschiedlichen Stadtvierteln ohne Absprache gleichzeitig auf die Turmuhren zu schießen, um die Zeit zu unterbrechen und den Tag anzuhalten. Paradigmatisch verdichtet sich in dieser von Walter Benjamin berichteten Episode14 die Erfahrung eines Zeitbruchs, der Bruch mit der tradierten Gewissheit historischer Kontinuität. In der »Sattelzeit« (Reinhart Koselleck)15 oder »Epochenschwelle« (Hans Blumenberg)16, zwischen Spätaufklärung und Französischer Revolution, feudal-absolutistischer Herrschaft und bürgerlicher Gesellschaft, verändern sich die bislang gültigen Anschauungen von Zeit und Geschichte fundamental. Die Vorstellung von Zeit entbindet sich aus der Koppelung an die geordnete Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn die Gegenwart nicht länger aus der Vergangenheit und Zukunft, aus beiden gleichsam organisch hervorgeht, ist die Zeit freigesetzt. Jede:r kann sie ergreifen, sie sich zu eigen machen und sie gestalten. Alles ist möglich, auch jede mögliche neue Ordnung. Dem Möglichen entschieden Einhalt zu gebieten war das Bestreben aller restaurativen Kräfte in Europa nach dem Ende Napoléons. Vergebens. War die Restauration der Bourbonen zwischen 1815 und 1830 der Versuch, die Große Französische Revolution von

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1789 ungeschehen zu machen, so macht das Schießen auf die Turmuhren von Paris in einer spontanen symbolischen Aktion deutlich, dass das Ancien Régime der Zeit, die immergleiche Rückbindung des Kommenden an das Vergangene, abgelaufen und die Zukunft offen ist. Es ist der historische Augenblick, die Zeit zu beschleunigen und die Zukunft selbst zu gestalten, wie es bereits Maximilien de Robespierre in seiner Rede Sur la Constitution 1793 als Aufgabe der Revolutionäre proklamiert.17

Jacques-Louis David: Der Schwur im Ballhaus (Le serment du Jeu de paume), 1791. Lavierte Federzeichnung, 66 x 101,2 cm, Musée National du Château.

Die reale Möglichkeit der Selbstermächtigung der Bürger:innen ist der Auslöser eines Enthusiasmus, der die Einzelnen aus ihren alltäglichen Geschäften und Verrichtungen heraus- und über sich selbst hinaustreibt ins Erhabene und in Richtung auf eine sich selbst bestimmende Menschheit hin. Im Enthusiasmus, den die Französische Revolution auslöst, hat Immanuel Kant 1798 ein »Geschichtszeichen« gesehen, das »eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat«18. Von diesem Enthusiasmus zeugt der Entwurf zu einem (nicht ausgeführten) Gemälde von Jacques-Louis David: Le serment du Jeu de paume (Der Schwur im Ballhaus) (1791). Dieser Enthusiasmus in der allegorischen Gestalt der Freiheit beflügelt auch die bürgerlichen Revolutionär:innen von 1830, die in Eugène Delacroix’ berühmtem Bild La Liberté guidant le peuple (Die Freiheit führt das Volk) auf und über die Barrikaden hinwegschreiten – hinweg

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Geschichte. Gefühle

auch über Körper der am Boden liegenden erschossenen Arbeiter:innen, ohne deren Kampfesmut die bürgerliche Revolution nicht zustande gekommen wäre.

Eugène Delacroix: Die Freiheit führt das Volk (La Liberté guidant le peuple), 1830. Öl auf Leinwand, 260 x 325 cm, Musée du Louvre Paris.

Der Enthusiasmus, die »Teilnehmung am Guten mit Affekt«19, ist die Leidenschaft der Revolutionär:innen im Augenblick, in dem sie sich anschicken, Geschichte selbst zu gestalten. Es ist aber auch der Augenblick einer Erschütterung, in der die revolutionär Handelnden ins Nichts blicken, weil sich der »Erwartungshorizont« der Zukunft nicht aus dem »Erfahrungsraum« der Vergangenheit entwerfen lässt.20 Die geschichtliche Kontinuität ist außer Kraft gesetzt, die Revolutionär:innen haben einen leeren Raum der Möglichkeiten vor sich und nichts, was ihnen Orientierung geben und den Weg weisen könnte. Der Enthusiasmus der Revolutionär:innen, die auf die Turmuhren schießen, um den Tag festzuhalten, an dem eine neue Zeit beginnt, geht einher mit einer tiefen emotionalen Erschütterung durch den Verlust aller tradierten Orientierungen, Gewohnheiten und erfahrungsgesättigter Planungen. An den bürgerlichen Revolutionen tritt zutage: Die Vergangenheit ist nun tatsächlich vergangen und bietet keine Anhaltspunkte mehr für die Zukunft. Geschichte ist nicht

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länger selbstverständliche traditionsgespeiste Lebenswelt, sondern im Kollektivsingular als die Geschichte ein von der Gegenwart entferntes bzw. in der Gegenwart erst noch zu gestaltendes Objekt. Im leeren Raum der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft stürzen die sinnstiftenden Weltbilder und Religionen in sich zusammen und hinterlassen eine doppelte traumatische Erfahrung: die der Kontingenz eines zufälligen Lebens ohne metaphysischen wie sozialen Halt und teleologisches Versprechen und die eines singulären Todes, der in keinem religiösen, metaphysischen oder politischen Weltbild als »ein Tod für etwas« mehr Sinn macht. Diesen metaphysisch trostlosen Tod hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel im Tod auf der Guillotine im Terreur der Französischen Revolution am Werk gesehen. Über ihn heißt es im Kapitel »Die absolute Freiheit und der Schrecken« in der Phänomenologie des Geistes: »[E]s ist […] der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wasser.«21 Derselbe Hegel hat gleichwohl bis zu seinem Lebensende den revolutionären Impetus verteidigt, Geschichte nach eigenen Ideen zu gestalten: »Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie kreisen, war das noch nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut«,22 so Hegel über die Französischen Revolution. Die grundlegende Ambivalenz in der Beschreibung und Bewertung der revolutionären Ereignisse macht klar: Der historische Moment, in dem Geschichte erstmals von Menschen gemacht werden könnte, ist emotional aufgeladen mit zwei entgegengesetzten extremen Gefühlen: Begeisterung und Entsetzen. Sie befeuern die Ereignisse als kollektive soziale Gefühle in diese und jene Richtung. Die enthusiastische Selbstüberhebung ist begleitet von der Ent-Setzung der Subjekte durch die Erfahrung von Kontingenz und vom Entsetzen über den Terror der Revolution. In der Zeit zwischen den Revolutionen von 1830 und 1848, der Zeitspanne der Julimonarchie, treten diese sozialen Emotionen nicht als solche erkennbar und manifest hervor, sondern wirken als Traumata, geschlagen von der Enttäuschung des revolutionären Traums (von) der Freiheit und der Gewaltdynamik einer Gesellschaft im Umbruch unter der Oberfläche des politisch-gesellschaftlichen Lebens subkutan weiter. Die Begeisterung verschwindet im Alltag der Geschäfte der bürgerlichen Klasse, die sich anschickt, die Herrschaft zu übernehmen. Die Kluft, die zwischen beiden, dem einstigen Enthusiasmus und der grauen Gegenwart, klafft, tritt zutage, wenn man das Bild La Liberté guidant le peuple von Delacroix neben die bürgerlichen

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Der Aufzug der Geschichtsbilder im Theater des ästhetischen Historismus

Raffer- und Spießerkarikaturen von Honoré Daumier hält. Auch das Trauma revolutionärer Erschütterung wird verdrängt. Die Erinnerung an den gleichgültigen Tod im Terreur der Französischen Revolution, an das gesichtslose Sterben in den Napoleonischen Kriegen, an Gewalt und Verfolgung während der politischen Restauration und an die Unsicherheit der Existenz in einer Zeit beschleunigter Veränderungen, all das findet keinen Platz in einer Gesellschaft, die der Devise folgt »Enrichissez-vous!«23 Aber die verdrängte Erfahrung eines singulären Todes auf der »Sandbank der Endlichkeit«24 und der Treibsand der Gefühle der Begeisterung und des Entsetzens wirken fort im Unbewussten der Zeitgenoss:innen und kehren wieder in anderer Gestalt und an anderem Ort: in einer neuen Leidenschaft für (die jüngst aus der Gegenwart entfernte) Geschichte. In Geschichte, oder präziser gesagt in einem hochwirksamen ästhetischen Kondensat, einer imaginären Ersatzgestalt, entdecken, finden, erfinden die Bürger:innen des gerade erwachten Zeitalters auf verstellte, ja pervertierte Weise erneut den Traum und die Traumata ihrer von Vergangenheit heimgesuchten Gegenwart. Die ästhetische Kompensationsform von Geschichte ist der ästhetische Historismus, das vorherrschende Paradigma der Künste in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in (West-)Europa. Die Grand Opéra ist ein privilegierter Ort seines Erscheinens wie seiner Transformation.

3. Der Aufzug der Geschichtsbilder im Theater des ästhetischen Historismus

Um den Aufstieg des ästhetischen Historismus zum herrschenden künstlerischen Paradigma im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu verstehen, ist es hilfreich, sich den Hunger nach (Lebens)Sinn in einer aufgeklärten Zeit ohne transzendenten religiösen und metaphysischen Trost an der Abfolge der weltanschaulichen Sinnstiftungs­ systeme vom 18. auf das 19. Jahrhundert vor Augen zu stellen. Nachdem die Aufklärung, vor allem in der Gestalt von Kant, den Glauben an die Metaphysik und transzendente Gewissheiten als bloßen Glauben kenntlich gemacht hat, wird die Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel zum immanenten Legitimationsgrund einer von Metaphysik entzauberten Welt. Sinn sucht sie, wie Hegel, in einem Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit, das den Gang der Geschichte auf eben diesen Zweck hin gestaltet und durchwirkt. Mit der Entzauberung der G ­ eschichts­philosophie selbst, durch den p ­ hilosophischen

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I Grand Opéra

­ aterialismus des Vormärz und den real-ökonomischen MateriaM lismus der bürgerlichen Gesellschaft geht die Sinnstiftung an die Geschichtsschreibung über, die unter dem Rubrum des Historismus das vorherrschende Weltbild und Verfahren der Welterklärung zum Ausdruck bringt.25 Ihre Absicht ist zum einen die auf reine Faktizität gestützte Erklärung jeder Epoche aus sich selbst, d. h. ohne ihre philosophische Einbettung als Teil eines dialektisch angelegten Geschichtsverlaufs. Zum anderen soll die Erforschung der Geschichte der einzelnen Zeitalter der Gegenwart erklären, wie sie geworden ist und durch die Darlegung ihres historischen Gewordenseins Sinn stiften. Die Sinnfälligkeit der historischen Erklärung der Gegenwart aus ihrer Vor-Geschichte26 ist aber angewiesen auf die Konsistenz und Überzeugungskraft von Geschichtserzählungen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden und an die sinnliche Augenfälligkeit historischer Zeiten, die sich vergegenwärtigen lassen, um der Einheit eines zusammenhängenden Welt-Zeit-Raums Plausibilität zu verschaffen. Das ist der historische Augenblick für den Auftritt der Künste. Die Geschichtsschreibung des Historismus kommt nicht aus ohne Formen und Modelle des literarischen Erzählens und der Rhetorik, um die Abfolge der historischen Fakten und Ereignisse in eine sinnvolle Anordnung zu bringen.27 Weit mehr noch aber als auf dem wissenschaftlichen Gebiet der historistischen Geschichtsschreibung, zu dem nur ein kleinerer Kreis von Leser:innen Zugang findet, wird die Verbindung von Historismus und Kunst im Reich der Künste selbst populär. In Gestalt eines ästhetischen Historismus28 spielen die Künste in Erzählungen, Novellen und Romanen, in den Historien­ bildern der Malerei und ganz besonders in den bewegten Geschichtsbildern von Theater und Oper ihr Potential zur Vergegenwärtigung von Abwesendem aus. Der ästhetische Historismus in den Künsten entwickelt jeweils unterschiedliche Verfahren, die Vergangenheit in der Gegenwart plastisch erlebbar zu machen und sie, wie es mit einem bis heute geläufigen Topos heißt, zu »verlebendigen«29. Die Metapher der Verlebendigung impliziert ein religiöses Begehren. Das Tote und Vergangene soll zu neuem Leben erweckt werden. Die Sinn versprechende Kette der Zeiten und Zeitalter soll nicht reißen, alle sollen sie der Gegenwart der Zeitgenoss:innen zur Verfügung stehen. In dieser quasireligiösen Operation der »Verlebendigung« eröffnen sie einen neuen Sinnhorizont in sinnarmer Zeit. Zugleich spielt der Sinnhorizont des ästhetischen Historismus eine zentrale Rolle bei der Modellierung der Gefühle und Leidenschaften am Beginn des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. Er ist die Gussform, in der die Träume und

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Der Aufzug der Geschichtsbilder im Theater des ästhetischen Historismus

­ raumata des Zeitalters, wie immer verstellt, auch ihren Ausdruck T finden. Der schottische Adelige Sir Walter Scott, der mit seinen historischen Romanen ein Genre begründet und eine Welle an Schilderungen vormoderner Zeiten ausgelöst hat, entwirft in seinem paradigmatischen Roman Ivanhoe (1820) ein Panorama des Mittelalters und führt die feudale Ständegesellschaft, die angeblich noch Helden und Heldentaten kannte, gegen die unheroische Gegenwart ins Feld. Das Kunststück, die ferne Vergangenheit den heutigen Leser:innen ans Herz zu legen, gelingt Scott, weil dieses Herz, so Scott in der Vorrede des Romans, zu allen Zeiten gleich schlägt, weil menschliche Gefühle und Leidenschaften, Empfindungen und Handlungsweisen beständig die gleichen bleiben, unabhängig davon, in welcher Zeit man lebt und welcher Klasse oder sozialen Schicht man angehört und welcher Herkunft und welchen Glaubens man ist. Der Annahme einer unveränderlichen Gleichheit menschlicher Gefühle wird man aus der Sicht der historischen Anthropologie nicht zustimmen können. Scotts Behauptung verrät aber indirekt das Geheimnis des ästhetischen Historismus: Die Gefühle der Heutigen werden auf die Leinwand der Vergangenheit projiziert und durch die großartigen Bilder historischer Zeiten ins Monumentale gesteigert. Die Metaphorik des Bildhaft-Malerischen ist kein Zufall. Der ästhetische Historismus, gleich in welcher Gattung der Kunst er praktiziert wird, lebt von der Grundidee, Geschichte als Bild zu konzipieren. Geschichtsbilder aber sind darauf angelegt, die Diversität, Kontingenz, Diskontinuität und Pluralität historischer Vorgänge und Ereignisse auszulöschen und das Unvereinbare unter einer Idee zu einem homogenen Gebilde zusammen zu zwingen.30 Den Geschichtsbildern ist Geschichte ausgetrieben, sie bieten sich als mythische und ersatzreligiöse Hohlformen an, in die das zeitgenössische Publikum die Ströme seiner Gefühle ergießen kann. Das Theater ist ein bevorzugter Ort, diese Geschichtsbilder bereitzustellen und sie den Zeitgenoss:innen nahezubringen. Das setzt allerdings zunächst die Abkehr von den zeitlich weitgehend unbestimmten, am willkürlichen Geschmack der Akteur:innen und den im Zweifel am Heutigen orientierten Dekorationen, etwa dem bekannten palais à volonté der tragédie classique, voraus. In Deutschland setzt die Wendung zum ästhetischen Historismus auf dem Theater mit der Kostümreform des Grafen Karl von Brühl und den Dekorationsentwürfen von Karl Friedrich Schinkel ein. Graf von Brühl, von 1815 bis 1828 Generalintendant der Berliner Theater, entwirft im

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Vorwort zu seiner laufenden Vorstellung historischer Kostüme auf den königlichen Theatern die Idee eines lebenden Geschichtsbilds, bei dessen Realisierung Kostüme, Dekoration und Akteur:innen zusammenwirken: er Decorateur [!] bildt den Hintergrund des Gemäldes, der D Kostümier belebt den Vordergrund durch die, in schöner Übereinstimmung, in Form und Farbenwahl aufzustellenden beweglichen Gestalten. […] Ein Haupterfordernis darf durchaus nicht vernachlässigt werden, nehmlich [!] die vollkommene Übereinstimmung aller Kostüme in einem und demselben Stück. Nur in einem Geiste muss es gedacht, nach einem ähnlichen Schnitt ausgeführt werden. […] Die Bühne soll uns lebende Bilder darstellen; – so verfahre man auch als kunstgerechter Maler und gebe dem ganzen Bilde eine wohltuende Übereinstimmung.31 Einen unbestreitbaren Höhepunkt erfährt das von Graf von Brühl entworfene Konzept der performativen Vergegenwärtigung von Geschichte in den Produktionen der Grand Opéra in Paris seit den 1830er Jahren. Dabei geht die visuelle Hinwendung zur Vergangenheit nicht von den privilegierten sogenannten grands théâtres der Opéra, Comédie Française, der Opéra comique und dem Théâtre Italien aus, sondern von den Melodramen des Guilbert de Pixérécourt im Théâtre de la Gaîté. In diesem Haus, das, um die Konkurrenz zu den wortbasierten grands théâtres zu verhindern, nur Pantomimen und textarme Melodramen aufführen darf, entstehen ausgefeilte Bühnentechniken32 und historische Kostüme zur romantischen Imagination mittelalterlich-gotischer Landschaftsarchitekturen: Schlossruinen, schroff kontrastierende Felsen und abgrundtiefe Schluchten, schauerliche Gewölbe und Kerker, verlassene Abteien im Mondschein. Schließlich gibt Victor Hugo 1827 im Preface seines Lesedramas Cromwell der Wendung zur Geschichte und deren Eigenwert in Drama und Theater eine ausdrückliche Legitimation: n commence à comprendre de nos jours que la localité exacte est O un des premiers éléments de la réalité. Les personnages parlants ou agissants ne sont pas les seuls qui gravent dans l’esprit du spectateur la fidèle empreinte des faits. Le lieu où telle catastrophe s’est passée en devient un témoin terrible et inséparable;

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et l’absence de cette sorte de personnage muet décompléterait dans le drame les plus grandes scènes de l’histoire.33 Der historische Ort der Bühnenhandlung ist nun nicht mehr eine quantité négligeable, sondern ein ebenbürtiger Akteur des Geschehens. Mit ihm und seiner sogenannten couleur locale verschiebt sich die Wahrnehmung des dramatischen Geschehens im Theater vom Wort auf das Bild und vom Zeitlos-Allgemeinen auf das Historisch-Besondere oder »Charakteristische«, wie es in der zeitgenössischen Formulierung heißt. Für die visuelle Dramaturgie der Oper bedeutet das einen gravierenden Umbruch.

4. TraumBilder – MachtGefühle

Der Amtsantritt von Louis-Désiré Véron als Direktor der Opéra 1831 und die Ernennung von Pierre Cicéri zu ihrem Chefdesigner trägt dem Umbruch in der visuellen Dramaturgie der Oper Rechnung. Mit ihnen werden die Volksvergnügungen an den melodramatischen Bilderwelten, die bislang gleichsam unterm Ladentisch der privilegierten Theater gehandelt werden, salonfähig und gehen in die neue Ästhetik der Opéra ein. War Cicéri in der Frühzeit der Grand Opéra allein verantwortlich für die Dekorationen, die in seiner Werkstatt hergestellt wurden, so wurde unter Vérons und Cicéris Leitung daraus ein arbeitsteiliges Unternehmen verschiedener Werkstätten, die auf unterschiedliche Dekorationen und Hintergründe wie Architekturen und Innenräume, Landschaften und Lichteffekte auf Wasser oder abgründige Gebirge spezialisiert waren. Louis Daguerre in Paris, heute aus der Geschichte der Photographie bekannt, und Karl ­Friedrich Schinkel in Berlin begannen ihre Karrieren mit der Schaffung von Dioramen, die durch Lichtblenden auf doppelt bemalte Leinwände die Illusion wechselnder Tageszeiten, Landschaften und Ereignisse schufen. Sie erweiterten und verfeinerten die technischen Möglichkeiten zur Ausgestaltung von Geschichtsbildern. Die Aufgabe einer verbindlich-zentrierenden Perspektive in der Dekorationsmalerei eröffnete dabei eine Vielzahl an Möglichkeiten der malerischen und durch Lichteffekte bewirkten Fokussierung, der panoramatischen Weitung des Blicks sowie der fließenden Übergänge zwischen praktikablen Bühnenteilen und gemalten Vorhängen.

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August Lauré: Théâtre de L’Académie royale de musique (Salle Le Peletier), 1864.

Schließlich aber kommt es entscheidend darauf an, die kunstvoll aufgebauten Geschichtsbilder mit Leben zu erfüllen, sie gleichsam zu einer Living History34 für das Publikum zu machen. Vielleicht das wichtigste Mittel dazu sind die scheinbar nicht enden wollenden Aufzüge von den verschiedensten sozialen Gruppen aus vorbürgerlichen, zumeist mittelalterlichen Zeiten in der ganzen Pracht und Buntheit ihrer Kostüme bei Haupt- und Staatsaktionen. Einen frühen Schritt in diese Richtung unternimmt August Wilhelm Iffland, Intendant des Königlichen Nationaltheaters in Berlin, in seiner Inszenierung des Krönungszugs Karls VII. in Friedrich Schillers Tragödie Die Jungfrau von Orléans. Zweihundert Komparsen hatte Iffland für diese kurze Szene über die Bühne paradieren lassen. Schiller war davon nicht angetan. »Sie erdrücken mir ja mein Stück mit dem prächtigen Einzug«35, hat er Iffland gegenüber nach dem Besuch der Aufführung geäußert. Iffland sollte, was den Geschmack des Publikums angeht, Recht behalten. Er hatte die Witterung für den zunehmenden Wunsch der Zuschauer:innen nach historischem Pomp und Größe im Zeitalter des ästhetischen Historismus. Zwei Inszenierungen der Grand Opéra stehen beispielhaft für den buchstäblichen Aufzug von Geschichte: der Einzug des Kaisers auf dem Konzil von Konstanz (1414 – 1418) in Fromental H ­ alévys Oper La Juive (1835) und der Krönungszug Johann von Leydens, des Propheten-Königs eines kurzen Wiedertäuferreichs zu Münster (1530 – 1534) in Giacomo Meyerbeers Oper Le Prophète

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(1849). Wie präzise an diesen bewegten Bildern gearbeitet wurde, zeigen die L ­ ivrets de mise en scène, eine Frühform von Regiebüchern mit genauesten Szenenanweisungen. Sie wurden von Louis Pallianti nach der Premiere herausgegeben, um als Modellbücher für weitere Aufführungen zu dienen.36 Palliantis Beschreibung der Krönungsszene setzt ein mit der Beschreibung eines changement à vue, also eines Szenenwechsels auf offener Bühne von einem öffentlichen Platz in Münster in das Innere der Kathedrale, der durch das Wegziehen von Leinwandprospekten, das Verschwinden eines Brückengeländers im Boden und das Heben des Vorhangs im mittleren Segment der bislang zweigeteilten Bühne blitzschnell vollzogen wird, so dass der Blick frei wird in die Tiefe der Kathedrale, wo der Einzug des Krönungszugs bereits begonnen hat.37 Es folgt eine detaillierte Bühnenskizze mit exakten Positionierungen von Bühnenelementen, Chor und Protagonist:innen samt den Bewegungsabläufen entsprechend der musikalischen Durchgestaltung der Szene. Schließlich folgt eine Aufzählung von einer endlos scheinenden Reihe von Personengruppen aus Klerus, Politik und Militär, darunter der Bürgermeister mit einem Kissen, auf dem der Stadtschlüssel ruht, und ein veritabler Kurfürst mit dem Salböl, Sängerknaben, Blumenmädchen, Herolde, Bannerträger und Pagen aller Art, Männer, Frauen und Kinder usf., insgesamt über 100 Personen. Sie alle bilden die Krönungsprozession, die sich von einer Estrade rechts hinten nach links vorne auf einen unsichtbaren Hochaltar zubewegt. Ähnlich dazu ist der Einzug des Kaisers am Ende des 1. Akts von La Juive angelegt. Eugène Cicéri, der die Ausstattung dazu besorgte, hat den Zug zwischen der christlichen Kathedrale und dem Haus des jüdischen Goldschmieds im Bild festgehalten. Carl Gustav Carus, ein Augenzeuge der Aufführung beschreibt, wie sich ie Masse aus der Tiefe der gewaltigen Szene durch die Straße d herauf, und dann wieder gegen den Vordergrund herabbewegte, um dann zwischen in der links sich eröffnenden […] Straße wieder zu verschwinden. Man glaubt kaum, wie eine solche ansteigende, fallende und dann wieder sich biegende Bewegung eines Zuges das Malerische desselben erhebt!38 Es sind diese Bewegungen von Massen in unterschiedlichen historischen Kostümen und in historischen Dekorationen, die die Geschichtsbilder scheinbar verlebendigen. Im Aufzug der Geschichtsbilder zieht die Vergangenheit als erfolgreich wiederbelebte, so hat es den Anschein, in die Gegenwart ein.

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Das ist die Rolle der Sinnstiftung, die die lebenden Bilder der Geschichte in der Grand Opéra übernehmen. Sie vermitteln den kunstvoll verfertigten Anschein von metaphysischem Vertrauen in einer kontingenten Welt. Innerhalb dieses Horizonts ästhetisch induzierten Weltvertrauens aber sind starke, leidenschaftliche Gefühle am Werk. Und das, obgleich die bürgerliche Gesellschaft kein genuiner Ort für Leidenschaften und starke Gefühle ist. Leidenschaften werden dagegen früheren Jahrhunderten zugeschrieben. Im Zeitalter des Barock sind sie auf wenige eindeutige und intensive Grundformen reduziert. So etwa in René Descartes’ Abhandlung Les passions de l’âme, (1649), in Charles Le Bruns, Direktor der Académie royale de peinture et de sculpture, normativen Vorgaben für den Ausdruck von Leidenschaften in der Malerei39 oder in den großen, eindeutigen Affekten der Opera seria. Seit der Antike wird in Abhandlungen über die Leidenschaften darauf hingewiesen, dass diese ob ihrer Maßlosigkeit kaum zu kontrollieren und daher gefährlich sind. Mäßigung wird deshalb empfohlen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters, wird, dem Gebot der Mäßigung aus Nützlichkeitserwägungen für den bürgerlichen Alltag folgend, anstelle von Leidenschaften die Kultivierung von schönen, sozialverträglichen Empfindungen und eine fortlaufende Verfeinerung und Differenzierung von allgemeinen und eindeutigen Gefühlen in einem konsistenten Charakter propagiert, der über einen Reichtum unterschiedlicher gemäßigter Empfindungen flexibel verfügt.40 Leidenschaftliche Gefühle sind aus dem von Rechenhaftigkeit und Askese geprägten bürgerlichen Alltag zur Hochzeit der Grand Opéra in der Julimonarchie verschwunden. Gerade deshalb wächst in gefühlarmer, leidenschaftsloser Zeit die Sehnsucht nach Exaltation und Außer-sich-Sein. Sie wird von der verdrängten Erinnerung an den revolutionären Enthusiasmus gespeist, der unter der Oberfläche des Alltagslebens auf seine Wiederkehr wartet. Angesichts der Verflachung und Disziplinierung der Gefühle bieten die in der Opéra kunstvoll nahegebrachten Schauplätze historischer Zeiten die Möglichkeit, an die Selbstelevation und Begeisterung, die die Revolution antrieb, an anderen Orten und in anderer Weise wiederanzuknüpfen. Die lebenden Geschichtsbilder der Grand Opéra in ihrer Erhabenheit und Monumentalität laden den verdrängten Enthusiasmus dazu ein, seine Triebkräfte auf sie zu richten und sie emotional zu besetzen. Die Sollizitation des Verdrängten durch die Bilder vergangener Pracht und Herrlichkeit – des Einzugs des Kaisers, der Krönung des Propheten zum König – verwandelt allerdings das Zielobjekt der Begeisterung. Gilt der

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revolutionäre Enthusiasmus der Selbstermächtigung der Revolutionär:innen, die die Zukunft selbst gestalten wollen, so zielt die leidenschaftliche Besetzung der lebenden Geschichtsbilder der Opéra auf die Macht eines Souveräns, der alle anderen unterworfen sind. In der Wiederkehr des Verdrängten verkehrt sich der Enthusiasmus der Revolutionär:innen in die Begeisterung für die Macht. Der aus dem eigenen Leben verdrängte Enthusiasmus kehrt in der Begeisterung für die Macht als eine den Begeisterten von einst – Akteur:innen, Sympathisierenden und Zuschauenden – fremd gewordene eigene Leidenschaft wieder. Es ist die Wiederkehr des revolutionären Enthusiasmus als Gespenst, als Symptom und als Fetisch. Gespenstische Existenz nimmt der Enthusiasmus an, weil er keinen realen Schauplatz in der Gegenwart findet, auf dem er erneut seine Kraft entfalten könnte, gleichwohl aber nicht erledigt, sondern unabgegolten im Sinne von Ernst Bloch. In Form eines Symptoms artikuliert sich die leidenschaftliche Begeisterung, weil sie als Verdrängte nicht unmittelbar im Zuge der Revolution, sondern, verschoben an einen anderen Ort, im Aufzug der Macht zum Ausbruch drängt. Zugleich wird die verdrängte Leidenschaft, die sich im Symptom äußert, zum Fetisch, d. h. zur Ersatzbefriedigung. Für das unerreichbare Objekt der Revolution müssen die Geschichtsbilder souveräner Macht stellvertretend herhalten. Das heißt aber: Die leidenschaftliche Begeisterung für und durch Geschichte, die sich an den Geschichtsbildern des ästhetischen Historismus in der Grand Opéra entzündet, ist nicht die ursprüngliche und authentische Leidenschaft der Dargestellten, der sängerdarstellerisch Agierenden und der Zuschauenden und Zuhörenden, sondern ein abgeleitetes und sekundäres Phänomen. Es ist Begeisterung von und für Fetisch und Symptom, es ist verstellte, fremde Leidenschaft. Dem revolutionären Enthusiasmus wie der Begeisterung für die Macht ist gleichermaßen die Selbstelevation eigen. Zum einen als Selbstüberhöhung in einer realen Situation, die die Möglichkeit zum Handeln eröffnet, zum andern als immersive Identifikation und fiktive Teilhabe an der Macht. Die gefühlte Selbstüberhöhung der eigenen Person in der Identifikation mit der Macht erlaubt es, die jeweilige couleur locale, die dekorative Vergegenwärtigung ferner Zeiten und Räume in den Bühnenbildern der Grand Opéra, als exotisch Fremdes zu genießen, ohne Gefahr zu laufen, sich dabei selbst und seine Imago als souveränes Subjekt mit sicherer sozialer Stellung und Identität aufs Spiel zu setzen. Eine Leidenschaft des Genießens fremder Jahrhunderte und weit entfernter Welten in ihrer vermeintlichen Monumentalität, ihrem Pomp und ihrer Exotik trägt über die

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Erinnerung an gesellschaftliche Erschütterungen, Unsicherheit und Gewalt hinweg. Das leidenschaftliche Genießen des exotisch Fernen und Fremden inmitten des bürgerlichen Alltags kann als Vorgang der Verdrängung verstanden werden. Zugleich kehrt das Verdrängte auch hier an einem anderen Ort wieder: als kolonialistische Aneignung und Einverleibung fremder Leidenschaften. Dem »Genießen des Anderen«41 im Eintauchen in mittelalterliche (La Juive), frühneuzeitliche (Les Huguenots, Le Prophète), in süd- und außereuropäische (La Muette de Portici, ­L’Africaine) Lebens- und Gefühlswelten ist ein kolonialistischer Zug eigen: Das Fremde dient darin der Erweiterung, Überhöhung und Dekorierung des bürgerlichen Alltags und der prunkvollen Ausstattung des Gefühlshaushalts. Seine Aneignung in Gestalt des Genießens festigt die Identifikation mit dem gegenwärtigen Status quo – darüber hinaus mit der Perspektive auf dessen Festigung durch eine erneute kaiserliche Macht. Der ästhetische Historismus, dem die Geschichtsbilder der Grand Opéra huldigen, ist ein Spektakel zur Unterhaltung von, mit und durch Macht. Zugleich ist es das Spektakel der Leidenschaften. Ohne Spektakel keine Wiederkehr der aus dem Alltag verschwundenen Leidenschaften. Weil das Spektakel der Grand Opéra der Schau- und Spielplatz der Leidenschaften ist, ist es unhintergehbar. Es kann nicht beiseitegeschoben werden, um unter seiner Oberfläche einen wie auch immer gearteten ›wahren‹ Gehalt zu entdecken. Sondern der verstellte Ort und die verstellte Gestalt, in denen die Leidenschaften im Spektakel der Grand Opéra erscheinen, können nur an der Oberfläche selbst zur Kenntlichkeit entstellt werden. Dort zeigen sich die Träume der Zeitgenoss:innen und die Traumata ihrer Zeit als ineinander verschlungen. Die Grand Opéra erlaubt es, bis zu einem gewissen Grad, die Ängste der Gegenwart vom Verlust des sozialen Status und der drohenden »Herrschaft des Pöbels« auszublenden und die traumatischen Erfahrungen der Revolution, die sozialen Umbruch und Erschütterung ausgelöst haben, zu verdrängen. In der Identifikation mit der Macht und im Genießen des Fremden träumt sich das Bürgertum der Julimonarchie zurück in eine imaginäre Teilhabe an der Macht im grandeur des vergangenen Kaisertums des ersten Napoléon und voran in das Second Empire des dritten. Die Grand Opéra ist ein Apparat zur Erzeugung von Träumen. Aber den Träumen, so wird zu zeigen sein, sind die Traumata beigesellt.

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5. Traumata. Fremdkörper der Gemeinschaft. Erinnerungen an die Revolution

Die Geschichtsbilder des ästhetischen Historismus und ihr Spektakel der Macht machen nur eine Schicht der vielschichtigen Grand Opéra aus. Die Lenkung der Wahrnehmung und Evokation der Leidenschaft für die Macht und des leidenschaftlichen Genießens des Fremden auf dieser Ebene werden unübersehbar konterkariert durch die Libretti, die traumatische Ereignisse der in die Gegenwart hineinragenden Vergangenheit aufrufen. Sie verzeichnen die konfrontativen, gewaltsamen Auseinandersetzungen mit religiösen, sozialen und ethnischen Gruppen, die als Fremdkörper der Gemeinschaft verstanden werden: Hugenotten, Juden und, als positive Stigmatisierung, exotisch Fremde. Die Bartholomäusnacht von 1572, das Blutbad an den französischen Protestanten, ein wiederkehrendes Trauma der französischen Geschichte, ist der Schauplatz von Giacomo Meyerbeers Grand Opéra Les Huguenots (1836). Fromental Halévys La Juive (1835) erinnert mittelalterliche Pogrome gegen die Juden zur Zeit des ­Konstanzer Konzils (1412 – 1418) vor dem Hintergrund der jüngst zurückliegenden ­Diskriminierung jüdischer Menschen zur Zeit der katholischen Restauration und des auch nach der Gleichstellung von 1831 anhaltenden Antisemitismus. Die Gewalt positiver Stigmatisierung wird aufgerufen in den exotischen Klischeebildern der schönen Jüdin Rachel in Halévys La Juive und der faszinierend fremden Afrikanerin Sélika in ­Meyerbeers L’Africaine (oder Vasco da Gama) (1865) – in beiden Fällen mit der entlarvenden Pointe, dass es sich weder um eine Jüdin noch um eine Afrikanerin handelt. L’Africaine, die posthum aufgeführte letzte Grand Opéra von Meyerbeer, folgt den Spuren des frühen kolonialistischen Blicks auf das Fremde. Bereits 1816 hatte Frankreich vier Fregatten zum Schutz der Kolonie Senegal nach Afrika geschickt, darunter die auf Grund gelaufene Fregatte Medusa42, 1830 hat ein Expeditionskorps mit der Kolonialisierung Algeriens begonnen. Unaufgearbeitet sind auch die einschneidenden Erfahrungen der Gewalt von Revolution und Restauration, die Frankreich seit 1789 erschüttern. Sie kehren wieder in den Sujets der Grand Opéra, die auf revolutionäre Bewegungen und Ereignisse der Vergangenheit zurückgehen. Daniel-François-Esprit Aubers Grand Opéra La Muette de Portici (1828), Giachino Rossinis einzige Grand Opéra Guillaume Tell (1829) und Giacomo Meyerbeers Le Prophète (1849) greifen Erinnerungen an Aufstand und Revolution auf. La Muette de Portici liegt ein Volksaufstand der Neapolitaner:innen gegen die Fremdherrschaft der

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spanischen Habsburger 1647 zu Grunde. Dessen Anführer, Tommaso Aniello d’ Amalfi, genannt Masaniello, eine zentrale Figur auch in der Oper, übernahm im Anschluss daran für zehn Tage die Macht in der Stadt. Er wurde ermordet. Guillaume Tell hat den Befreiungskampf der Schweizer Kantone gegen die Habsburger im 14. Jahrhundert zum Gegenstand und geht auf Schillers Drama Wilhelm Tell (1804) zurück.43 Le Prophète von Meyerbeer greift, am Vorabend und zur Zeit der Februarrevolution von 1848, auf die sozialrevolutionär grundierte, apokalyptisch-chiliastische Bewegung der Wiedertäufer und ihre Machtübernahme in Münster 1534 zurück. Deren Protagonisten Jan Matthys und Jan van Leiden sind als Mathisen und Jean de Leyde, der kurzzeitige König von Münster, in die Oper eingegangen. Soweit die Beleuchtung von historischen Fremdkörpern der Konfliktgemeinschaft und die Wieder-Holung revolutionärer Bewegungen in einigen bedeutenden Grands Opéras. Ihre librettistische, kompositorische und szenische Exposition heißt allerdings nicht, dass die Erinnerungen daran konsistent sind und vergessene oder verdrängte historische Wahrheiten ans Licht bringen. Die Wahrheit dieser historischen Abläufe, Ereignisse und Konstellationen samt der damit verbundenen Geschichte der Gefühle, Leidenschaften und Traumata sind allesamt verstellt. Sie erscheint nicht in der Stringenz einer historischen Erzählung, nicht in der wahrheitsgemäß-richtigen politischen Aussage, nicht in der Konsistenz von Charakteren und der Plausibilität von Personenkonstellationen. All das wird man in den Grands Opéras schwerlich finden. Die Wahrheit des Traumatisch-Verdrängten kündigt sich eher an in einem Stolpern über die Ungereimtheiten der Handlung und dem verlangten Spagat zwischen der Intrigenhandlung und dem politischen Geschehen. Ihr Grund liegt im Abgrund zwischen dem privaten und politischen Konflikt. Die Verantwortung dafür wird Eugène Scribe zugeschrieben, aus dessen Feder alle Libretti mit Ausnahme von Rossinis Guillaume Tell stammen.44 Wie eingangs beschrieben, entwickelt Scribe die Handlungen seiner Libretti aus den Intrigen der Opéra comique, die private Konflikte zum Gegenstand hat. Damit ist nicht gemeint, dass die Figuren nicht sozial und politisch determiniert wären oder dass sich Privates und Gesellschaftliches trennen und unabhängig voneinander betrachten und untersuchen ließe. Gemeint ist aber eine besondere Form der handlungsreibenden Intrige, die sich aus den Liebes-Wendungen eines sorgsam aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang herauspräparierten familiär-privaten Bereichs speist. Ihr Kennzeichen ist ein Spiel des Verkennens und plötzlichen Wieder-

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kennens, von Maskierung und Demaskierung, das eine Fülle von plötzlichen affektiv geladenen Wendungen und Kontrasten erlaubt – eines der Elemente, die Louis-Désiré Véron als unabdingbar für eine Grand Opéra hielt. Ein Beispiel dafür ist die Teilnahme des als jüdischer Maler Samuel verkleideten christlichen Fürsten Leopold, des Geliebten der vermeintlichen Jüdin Rachel, im 2. Akt von La Juive am Pessachfest im Hause des jüdischen Goldschmieds Éléazar und die Gefühlskatastrophen, die sich aus seiner Demaskierung im Fortgang des Akts ergeben.45 Vielleicht noch prominenter ist in Meyerbeers Les Huguenots die folgenreiche Verkennung Valentines, Tochter des katholischen Grafen und Hugenottenhassers de Saint Bris, durch den Protestanten Raoul, die er nach einem ebenso flüchtigen wie falschen Blick für die Geliebte des Grafen Nevers hält. Damit scheitert der Plan der Marguerite von Valois, der Reine Margot, die verfeindeten Parteien durch eine Heirat zwischen einem Hugenotten und einer Katholikin zu versöhnen. Erst im 4. Akt, wenn das Blutbad schon begonnen und alles zu spät ist, fällt die Binde von Raouls Augen.46 Katastrophale Wendungen durch Verkennung und Erkennung forcieren eine Gefühlsachterbahn kontrastierender Leidenschaften, wecken aber Zweifel an ihrer tatsächlichen Reichweite hinein ins politische Geschehen. Das gilt erst recht für die privaten Liebeshändel, die ins Große gesamtgesellschaftlicher Handlungsauslöser und Wirkungen sich auswachsen sollen. Aus dem Konfliktrepertoire der Opéra comique ebenso wie des drame lyrique und des drame ­bourgeois bzw. bürgerlichen Trauerspiels stammt die bekannte Konstellation »Ein Mann zwischen zwei Frauen«. Die Auseinandersetzungen, die sich daraus ergeben, sollen die Handlung vorantreiben. Sie finden sich auch in den Grands Opéras von Scribe wieder. In Halévys La Juive steht Samuel/Reichsfürst Leopold zwischen der vermeintlichen Jüdin Rachel und der Prinzessin Eudoxie, der Nichte des Kaisers, in La Muette de Portici ist Alphonse, Sohn des spanischen Vizekönigs, ebenso der Prinzessin Elvire wie der stummen Fenella, Schwester des Aufständischen Masaniello, verbunden. Der Protestant Raoul in Les Huguenots von Meyerbeer irrlichtert zwischen Marguerite von Valois und Valentine einher. Jean, der Protagonist in Le Prophète, muss sich zwischen seiner Verlobten Berthe und seiner Mutter Fidès entscheiden und der Weltentdecker Vasco da Gama in L’Africaine ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu Inès, Tochter eines portugiesischen Admirals, und der von der Entdeckungsfahrt im Triumph mitgeschleppten Sklavin Sélika, die in Wahrheit eine indische Königin ist. Diejenigen, die in diesen Liebesgeschichten agieren, sind zwar in

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die ­historisch-politischen Zeitläufte und Parteiungen verstrickt, aber eher als Betroffene oder von der Geschichte Mitgeschleifte als aktiv politisch Handelnde. Dafür spricht auch, dass die Männer in diesen Liebes-Intrigen, Alphonse, Leopold, Raoul, Jean, Vasco da Gama, alles unheldische Helden, schwache, schwankende Charaktere sind. Es sind, mit einem anderen Wort, Vorläufer der modernen Helden. Ersichtlich ist, dass die Liebeskonstellation zumeist durch soziale, religiöse und ethnische Entgegensetzungen politisch determiniert ist. Die Konflikte, die aus diesen privaten Konstellationen der handelnden Personen resultieren, reichen dennoch nicht aus, um politische Aktionen zu begründen und zu tragen. Der Vorwurf, die Grand Opéra betreibe die Privatisierung des Politischen, liegt daher nahe. Und trifft doch nicht zu. Denn den ihrer Liebes-Handlung oder anderen privaten Motiven Folgenden sind oft Gefährten beigegeben, die als direkte Vertreter politischer Positionen und Ideologien angesehen werden können. Marcel ist in Les Huguenots der Ur-Protestant und Katholikenfresser, der Raoul begleitet, in Le Prophète sind die drei Anabaptisten die eigentlichen politischen Akteure und Drahtzieher, die Jean zu manipulieren versuchen. Masaniello in La Muette de Portici, der den Aufstand der Neapolitaner:innen aus einem privaten Grund angezettelt hat,47 findet in Pietro das düstere Schattenbild des skrupellosen politischen Führers. Auch Kardinal Brogni auf der christlichen Seite und der jüdische Goldschmied Éléazar auf der anderen vertreten in La Juive aus Leid gewonnene unversöhnlichere, religiös-politischere Positionen als die mittleren Figuren der Liebesintrige Rachel, Eudoxie und Leopold. In L’Africaine schließlich wird das Liebesdreieck aus Inès, Vasco und Sélica von den beiden Scharfmachern Don Pédro und Nélusko flankiert.48 Diese politisch ausgeprägteren Begleitfiguren der Protagonist:innen ziehen Letztere ins politische Geschehen hinein, sind aber zugleich auch eingebunden in die private Intrigenstruktur. Sie sind deshalb letztendlich nicht in der Lage, die Kluft zwischen der privaten Liebeshandlung und den politischen Aktionen zu schließen. Wer aber ganz uneinholbar auf der anderen Seite der Intrigen steht, sind die Chöre der Volksmassen. Erstmals in der Geschichte der Oper gibt die Grand Opéra der Masse der Bäuer:innen und Fischer:innen, der kleinen Bürger:innen und einfachen Soldaten, den Katholik:innen und Protestant:innen, den Aufständischen, Rebellierenden, dem antisemitischen Pöbel und dem ressentimentgeladenen Mob breiten Raum. Nicht liebliche Gefühle sind es, die in den dynamischen, kurzen und drängenden Choreinsätzen hörbar werden, sondern wilde, unge-

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zügelte Leidenschaften, die auf eine explosive Entladung zielen. Zwar gibt es auch Gesänge zu Tänzen, zur Begleitung der Arbeit und zur religiösen Erbauung, aber sie sind nur der Ausgangspunkt einer trügerischen Normalität des sozialen Lebens, die sich in Kürze in Streit, Aufruhr und Chaos verwandeln wird. Nur wenig Zeit liegt zwischen dem Chor der Landleute »La brise est muette«, der zu Anfang von Le Prophète den morgendlichen Beginn des ländlichen Alltags begleitet, bis die von den Anabaptisten aufgehetzten Bäuer:innen mit Heugabeln und Sensen bewaffnet und Gottes Namen auf den Lippen das Schloss des Grafen Oberthal stürmen wollen. »Du sang, du sang!« Blut, Blut fordern die wiedertäuferischen Massen im Lager vor Münster gleich zu Beginn des 3. Akts derselben Oper angesichts von Gefangenen, und fordern sich in jagendem Rhythmus und Tempo, immer zwei Sechzehntel auf dem ersten betonten Taktteil, auf, um deren Leichen zu tanzen. Im 3. Akt von Les Huguenots wird der Chor der Spaziergänger auf einem Platz am Ufer der Seine abgelöst durch den kriegerischen Chor hugenottischer Soldaten, der mit der sich anschließenden Litanei katholischer Frauen kontrastiert. Die in der Luft liegende Spannung zwischen den verfeindeten Lagern steigert sich im Fortgang des Akts durch die Intrige der Handlung gegen Raoul hindurch zur chorischen Konfrontation kampfbereiter katholischer und protestantischer Studenten, Soldaten und Frauen. Nur das Dazwischentreten der Königin kann das handgreifliche Aufeinanderlosschlagen der Verfeindeten verhindern. Schließlich zeugen von der Gewalt der chorischen Volksmassen der mitreißende Chor der aufständischen Neapolitaner:innen in hohem Tempo am Ende des 4. Akts von La Muette de Portici, die ihren Helden Masaniello feiern, und der Chor der Christen von Konstanz in La Juive, der die verhassten Juden vom 1. Akt an gern mehrfach verbrannt, in den See geworfen oder sonst wie umgebracht sähe. Die Chöre der Grands Opéras artikulieren die affektive Gewaltbereitschaft und drohende manifeste Gewalt von Massenbewegungen, die das politische Handeln von Einzelnen unter Druck setzen und den Lauf der sich gerade vollziehenden Geschichte unkalkulierbar und unkontrollierbar machen. Hinzu kommt die hohe Beschleunigung der Ereignisse. Rossini noch nimmt sich in Guillaume Tell viel Zeit, um das Leben der schweizerischen Landsleute in all ihren Gruppen und in seiner Beschaulichkeit auszubreiten. In Aubers fast zur gleichen Zeit entstandenen La Muette de Portici herrscht, wie Gerhard Anselm unter Bezug auf den zeitgenössischen Kritiker Stefan Schütze ausgeführt hat, ein »Prinzip der Aufregung«49, das, in »scharf punktierten Rhythmen«, die Auber »in fast allen Sätzen der Oper verwendet«50, eine jagende

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Atemlosigkeit und hohe emotionale Wirkung entfaltet. Vom Tempo, mit dem in Le Prophète die ländliche Idylle in den Aufstand umschlägt, war bereits die Rede. Es setzt sich im weiteren Verlauf der Oper in rasch wechselnden kontrastiven Ereignissen fort. Rasant ist die Beschleunigung der Ereignisse im 3., 4. und 5. Akt von Meyerbeers Les Huguenots. Sie fällt umso mehr in die Sinne, als das Liebesgeständnis Valentines im 4. Akt ihr quasi unbewusst unterläuft und die Liebenden, bevor sie noch Zeit fänden, die anschließende Verwirrung ihrer Gefühle zu sortieren, von dem außerhalb des Zimmers sich bereits im Gange befindlichen Morden eingeholt und überrollt werden. In der präzisen Zeichnung des Unbeholfen-Unangemessenen, Flüchtig-Ortlosen und Anachronistischen der Liebeserklärungen51, die Meyerbeer großartig mit dem gleichzeitig ablaufenden Mordgeschehen verknüpft, entstellt sich das Trauma, das den Traum in der Grand Opéra wie ein Schatten begleitet. Als Kehrseite der Macht, die in der Grand Opéra gefeiert wird und die sich im 2. Akt von Les Huguenots im Schloss und Park der künftigen Königin Marguerite in der freundlichen Gestalt einer beabsichtigten Friedensstiftung zwischen den verfeindeten Katholiken und Protestanten durch die Hochzeit zwischen dem Protestanten Raoul und der Katholikin Valentin zeigt – als Kehrseite dieser gutgemeinten, gut erträumten Handlungs-Macht, der Geschichte in den Arm zu fallen und den Bürgerkrieg in letzter Minute zu verhindern, zeigt sich die nackte Ohnmacht der in Geschichte Verstrickten, der Geschichte ­Ausgelieferten. Die Engführung des Liebesversuchs von Valentine und Raoul mit dem durch Religion legitimierten Morden enthüllt auf paradox-zugespitzte Weise den Abgrund, der zwischen den politischen Massenbewegungen und dem (Liebes)Leben der Einzelnen klafft. Beide haben miteinander nur insofern zu tun, als Erstere den Letzteren keine Zeit und Raum zur Entfaltung ihrer Beziehungen geben und sie gegebenenfalls auch zerstören. Der Furor der Volksmassen, der meist durch eine Gruppe von Verschwörern und Manipulatoren (die Anabaptisten bei Le Prophète), die Gruppe der Schwerterweihe um de Bris in Les Huguenots angestachelt wird, geht über das Leben der Individuen hinweg. Wenige Jahre nachdem Geschichte aufgeklärten Subjekten zur Gestaltung der Zukunft offen schien, sehen sich diese überrollt von der Dynamik sozialrevolutionärer und/oder reaktionärer Massen. Das Entsetzen darüber ist im Hiatus zwischen Liebesgeschichten und politischer Aktion verborgen. Es ist die traumatische Erfahrung erlittener Ohnmacht. Von diesem Trauma, der verstellten Grunderfahrung der Grand Opéra, werden die Ausbrüche der leidenschaftlichen Stimmen angetrieben.

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Aus der Perspektive der privaten Konflikte und Intrigen hat Scribe die Libretti seiner Grands Opéras verfasst. Daher mag es kommen, dass die Übermacht der Aktionen der chorischen Massen über die Handlungen der Individuen prima vista mit einem negativen politischen Urteil verbunden ist. So konstruiert Scribe den Verlauf der Handlung leicht von einem reaktionären point de vue aus. Am auffallendsten in La Muette de Portici, wo ein edles Adelspaar – die Vergewaltigung Fenellas ist vergessen! – und ein chevaleresker Rebell, Masaniello, die Oberhand über den aufständischen Mob gewinnen. Auch Le Prophète kann als vernichtende Kritik an der Revolution gelesen werden. Allerdings treffen diese Lesarten nur eine Schicht der vielschichtig angelegten Grands Opéras. Im Fall von La Muette de Portici bliebe es sonst unverständlich, warum die Oper eine starke (wenngleich lange überschätzte) politische Wirkung auf die Revolution in Belgien ausüben konnte. Und auch Le Prophète erschöpft sich nicht, so wird zu zeigen sein, in reaktionärem Revolutionsbashing. Die Ohnmacht des Einzelnen angesichts der in Bewegung geratenen Massen mag nur der betrauern, der an dessen Privilegierung eisern festhält. Der Schock über dessen Entmachtung in der Grand Opéra kündigt das Ende des Individuums an, das die Avantgarden des 20. Jahrhunderts zu Grabe tragen. Darin liegt die frühe Erfahrung der Moderne, die die Grand Opéra uns zuteilwerden lässt. Ebenso wie sie Einblick in die Anfänge des Populismus und Fundamentalismus bietet, die unserer Gegenwart erneut zu schaffen machen. Wie beides, die Einzelnen, die nicht länger Individuum, sondern Dividuum sind, und die Massen jenseits von Populismus und Fundamentalismus zu vermitteln wären, ist die Herausforderung unserer Gegenwart, die uns in der Grand Opéra begegnet. Zwei grundlegende leidenschaftliche Erfahrungen sind es, die in den Bildern, Handlungen und in den Stimmen der Grand Opéra in verstellter Form am Werk sind. Der revolutionäre Enthusiasmus, der die alte Zeit anhalten will, um die neue Zeit aktiv zu gestalten. Und das Entsetzen über die Ohnmacht, dem Lauf der Geschichte in den Arm zu fallen. Beide Erfahrungen sind traumatisch und erscheinen daher nicht unmittelbar, sondern in anderer Gestalt und am anderen Ort. Der Enthusiasmus verkehrt sich in die Identifikation mit der Macht eines Einzelnen und das Genießen des Anderen in den spätmittelalterlichen Geschichtsbildern der Grand Opéra. Die verschüttete Erfahrung von Ohnmacht artikuliert sich stumm im Abgrund zwischen der privaten und politischen Handlung, gegen den die Stimmen der Protagonist:innen leidenschaftlich ansingen. Die Macht der Liebe,

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die sie behaupten oder die sie rächen wollen, scheint ihnen das letzte Refugium zu sein, welches die Erfahrung der Ohnmacht ungeschehen machen könnte. Revolutionärer Enthusiasmus verkehrt sich in die Identifikation mit der politischen Macht, erfahrene politische Ohnmacht in die Behauptung von Liebesmacht – das sind die beiden Grundoperationen der Verstellung sozialer Erschütterungserfahrung, die in der Grand Opéra zum Ausdruck kommen. Den Handelnden der Grand Opéra sind die zu Grunde liegenden Leidenschaften in beiden Fällen fremd. Es sind für sie fremde Leidenschaften und sie erhalten keine Einsicht, dass es ihre eigenen, ihnen fremd gewordenen, ins Fremde verkehrten Leidenschaften sind. Die Zuschauenden und Zuhörenden hingegen erhalten in der Grand Opéra, besonders in der von Giacomo Meyerbeer, die Möglichkeit, den einstigen Enthusiasmus, die verdrängte Ohnmacht als das eigene Fremde wiederzuentdecken, es anzunehmen und mit ihm zu leben. Das ist eine transkulturelle Erfahrung für die Gegenwart, die Zukunft verspricht. Die französische Grand Opéra des 19. Jahrhunderts stellt sich als ein Vexierbild dar. Auf den ersten Blick zeigt sie sich als Vergnügungsapparat zur Erzeugung visueller und emotionaler Sensationen für das städtische Publikum von Paris. In dieses Bild aber schreiben sich die Züge eines Seismographen ein, der die gesellschaftlichen Erschütterungen im Zeitalter der Revolutionen präzise verzeichnet. Die Schnittlinie beider Ansichten durchquert die Grand Opéra als »Kraftwerk der Gefühle« 52. In ihm kehren die verdrängten Erfahrungen und Traumata von Terror, Umbruch und Rebellion als fremde Leidenschaften wieder. Sie bieten die Chance der Wiederaneignung und Transformation der in die Gegenwart ragenden Vergangenheit.

II Die Revolution (in) der Grand Opéra

Giacomo Meyerbeers Le Prophète 1. Karl Marx: Die Revolution als Theater der Wiederholung

Mit öffentlichen Protesten und Unruhen begann am 21. Februar 1848 die Februarrevolution in Frankreich. Sie führte zur Abdankung des Königs Louis Philippe und der Ausrufung der Republik, der Verabschiedung des allgemeinen Wahlrechts und anderer bürgerlicher Freiheitsrechte und zur Wahl einer verfassungsgebenden Nationalversammlung im April. An der sozialen Lage der Arbeiter:innenschaft

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änderte sich dadurch nichts. Mit dem Aufstand der Arbeiter:innen im Juni, ausgelöst durch die Schließung der arbeitgebenden Nationalwerkstätten, schien die bürgerliche Revolution in eine proletarische umzuschlagen. Die blutige Niederschlagung des Juniaufstands durch Armee und Nationalgarde, befohlen durch den Kriegsminister der Republik, Louis-Eugène Cavaignac, war der Startschuss für die Konterrevolution – in Frankreich und in ganz Europa. Am 10. Dezember 1848 wurde der Neffe Napoléons I., Louis Napoléon, mit großer Mehrheit zum Staatspräsidenten der Republik gewählt. Seinem Gegenkandidaten Cavaignac hatte das Massaker an der Arbeiter:innenschaft nicht geholfen. Gleich nach seiner Wahl bereitete der Staatspräsident Louis Napoléon den Staatsstreich vor, durch den er am 2. Dezember 1851 die diktatorische Macht an sich riss. Ein Jahr später ließ er das Second Empire und sich selbst zum Kaiser Napoléon III. ausrufen. Karl Marx wartet in seinem Exil in London nicht ab, »bis der Kaisermantel endlich auf die Schultern des Louis Bonaparte«53 gefallen ist. Gleich nach dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 macht er sich an die Analyse der Geschichte, die von der Februarrevolution zur Diktatur geführt hat. Seine Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte ist eine präzise Beschreibung der Halbherzigkeit der bürgerlichen Revolutionär:innen, die aus Angst vor den Ansprüchen der Arbeiter:innen die Konterrevolution in Gang setzen und die Diktatur in Kauf nehmen. Zugleich ist sie eine luzide Darlegung des neuen Verhältnisses zwischen einem populistischen Hasardeur und (Schau-)Spieler und der von ihm rhetorisch gelenkten Masse. Unter dem Stichwort des Bonapartismus hat sie Eingang gefunden in die Untersuchungen der nationalsozialistischen Massenbewegung. Aus der Perspektive der Hasardeur- und Schauspielernatur des Louis Bonaparte blickt Marx auf den Verlauf der Revolution von 1848 zurück, um sie mit der Großen Französischen Revolution von 1789 zu vergleichen. Der Vergleich fällt für die erstere nicht positiv aus. egel bemerkt irgendwo, dass alle weltgeschichtlichen TatsaH chen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Causidière für Danton, Louis Blanc für Robespierre, die Montagne von 1848 – 1851 für die Montagne von 1793 – 1795, der Neffe für den Onkel.54 Die Revolution von 1848 ist nur noch eine »Farce« gegenüber der »Tragödie« der Französischen Revolution von 1789. Bemerkenswert ist,

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dass Marx gleich zu Beginn seiner Abhandlung historische Ereignisse und historisches Handeln in Präsentations- und Anschauungsformen von Gattungen des Theaters vorstellt. Das ist, wie das Folgende zeigt, mehr als eine metaphorische Redewendung.55 ie Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen D sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789 – 1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum […]. Camille Desmoulins, Danton, Robespierre, St. Just, Napoleon, die Heroen, wie die Parteien und die Masse der alten französischen Revolution, vollbrachten in dem römischen Kostüme und mit römischen Phrasen die Aufgabe ihrer Zeit, die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft.56 Marx relativiert zunächst das enthusiastische Bild einer aufgeklärten Menschheit, die die Geschichte selbst in die Hand nimmt und gestaltet. Unter dem Alpdruck der Vergangenheit stellt sich der Augenblick des eingreifenden revolutionären Handelns als Augenblick einer Krise dar. Es ist der Moment eines Rückgriffs auf Geschichte in Form einer theatralen Wiederholung durch Kostüm, Geste, Haltung, Pose und Rede. Auf wenigen Seiten entwirft Marx die Grundzüge eines Theaters der Wiederholung, das die gängige Konstruktion einer linear fortschreitenden Geschichte unterläuft. Darunter auch die eigene, in Das kommunistische Manifest beschriebene Geschichte der Klassenkämpfe, die sich durch den Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen durch verschiedene Gesellschaftsformen hindurch zur klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus hin entwickelt. Zwar findet diese Konstruktion auch in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte in der Unterscheidung von bürgerlicher und proletarischer Revolution ihren Niederschlag. Aber sie wird über-

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lagert und überschrieben von der Faszination des Zusammenhangs von Krise, Wiederholung und Theatralität, der Marx beim Schreiben der Geschichte aufgeht. Marx betont zunächst die Abhängigkeit der historischen Akteur:innen von Umständen, die sich ihrer Kontrolle entziehen und problematisiert damit grundsätzlich die Möglichkeit souveränen historischen Handelns. Verschärfen sich die Konflikte innerhalb der vorgefundenen Verhältnisse zur Krise, so eröffnet sich ein kurzer Augenblick möglichen Handelns, der unlösbar mit der Unmöglichkeit eines Neuanfangs verbunden ist. Die Krise der Verhältnisse wiederholt sich als Krise des revolutionären Handelns. Die Kontinuität der Geschichte ist außer Kraft gesetzt, die Revolutionär:innen haben, wie Harold Rosenberg klarsichtig feststellt, die drohende Katastrophe und einen leeren Raum der Möglichkeiten vor sich. »Hence anything may be allowed to happen except the expected. In crisis men are dazed by the elimination of choice and the need to choose the unknown.«57 In diesem offenen Augenblick der Lähmung, als den sich die Krise des revolutionären Handelns beschreiben lässt, beschwören die Handelnden »die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf«. Aus der Tiefe der Vergangenheit, von den Toten, steigt der Held der römischen Republik empor. Der wiederauferstandene Römer, blind für die Ambivalenz und Kontingenz der Gegenwart, wird zum ­zeitlos-mythischen role model für die Agierenden im Revolutionstheater. Gerade seine Entrücktheit gegenüber den Niederungen und Parteiungen der geschichtlichen Welt macht seine Gestalt zum Medium eines Enthusiasmus und Pathos, durch die die Revolutionär:innen über sich selbst hinauswachsen und fähig zum Handeln werden. Wie der Held der antiken Tragödie täuschen sie sich allerdings über die Ziele ihres Handelns. Die Gladiatoren der Revolution fanden, so Marx, in den klassisch strengen Überlieferungen der römischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurften, um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaften auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten.58 Wie der Theaterheros sind die revolutionären Akteur:innen von Verblendung umgeben, die erst im Augenblick der Anagnorisis, des blitzhaften Verstehens des Nichtverstehens, abfällt – eine Erfahrung, die weniger den realen Hero:innen des Revolutionstheaters als den (späteren) Betrachter:innen zuteilwird.

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Bewusst verbindet Marx das Theater der Wiederholung, das die Revolutionär:innen von 1789 aufführen, mit der Gattung der Tragödie. Mit dieser Zuschreibung will er die Große Französische Revolution abgrenzen von der Revolution von 1848, die er als Farce versteht. Den Unterschied zwischen Tragödie und Farce versucht Marx geschichtsphilosophisch zu begründen. Die erste Wiederholung in Gestalt der Tragödie steht im Dienste der Geschichte als Geschichte der Klassenkämpfe. Qua Übertreibung, Heroismus59 und Verblendung bewirkt diese Wiederholung die geschichtliche »Aufgabe ihrer Zeit, die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft«.60 Die zweite Wiederholung als Farce, das heißt die Wiederholung der Wiederholung, erfüllt für Marx genau den entgegengesetzten Effekt, die »Aufgabe der Zeit«, nämlich die Forttreibung der bürgerlichen in die proletarische Revolution, zu verhindern. Weil sie damit zurückfallen hinter die Zeit, die Marx zufolge die proletarische Revolution verlangt, sie dadurch die Zeit nicht mehr auf ihrer Seite haben und unzeitgemäß sind, wirken die Protagonist:innen und Antagonist:innen der Revolution von 1848 lächerlich, tritt das outriert Theaterhafte und Schmierenkomödiantische grell hervor, das bei der Wiederaufführung der Römer-Tragödie, sei’s durch Verblendung, sei’s geflissentlich, übersehen wurde. Misstraut man der geschichtsphilosophischen Zeitachse, die Marx’ Unterscheidung von Tragödie und Farce stützt, kann man die Wiederholung als Tragödie und die Wiederholung als Farce als zwei nicht voneinander zu trennende Momente der Wiederholung begreifen: Die erhabene und die lächerliche, die pathetische und die ironisch gebrochene, die blinde und die reflektierte Wiederholung bedürfen einander und beziehen sich wechselseitig aufeinander. Unterstreicht die tragische Wiederholung die Abhängigkeit der Gegenwart von der Vergangenheit, ihre Wiederkehr und Wiederholung im Handeln der Akteur:innen sowie deren theatrale Verkleidung, Selbstüberhebung und Selbstverkennung, so ermöglicht die Wiederholung dieser Wiederholung als Farce erst die Erfahrung und spielerische Reflexion solchen Geschehens. Erst die Farce, die sich gegen den geschichtsphilosophischen Imperativ des An-derZeit-Seins stemmt und ihr »Alles-Theater« und »Nichts-als-Theater« schamlos herauskräht, befreit die tragische Wiederholung aus der Indienstnahme durch die Geschichtsphilosophie und liefert die mythische Dauer der »vorsündflutlichen Kolosse«, als die Marx die wiedererstandenen »Brutusse, Gracchusse, Publicolas«61 der Französischen Revolution beschreibt, der historischen Zeit nach dem Ende

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der Geschichts­philosophie, der Zeit der Endlichkeit aus. In deren Licht erst weicht die Verblendung des tragischen Handelns und die Figuren, Elemente und Aktionen der tragischen Wiederholung zeigen sich als Versatzstücke des Theaters: Rollen, Dramaturgien, Posen und Attitüden, Verkleidungen, Masken und Requisiten. Die geschichtsmythischen Ideen, denen sie als Gefäß und Mittel dienten – die römische Tugend, die Tapferkeit, der Stoizismus – sind um ihre Geltung und ihren Herrschaftsanspruch gebracht. Aber als hinfällige und der Zeit der Endlichkeit ausgesetzte sind sie frei, die Spuren und Überreste einstigen Sinns in das Spiel der Wiederholung einzubringen. Die Exposition des Theaters der Wiederholung, die in der Wiederholung der Wiederholung, in der Farce stattfindet, eröffnet einen Spiel-Raum möglicher Wiederholungen, ein Werden von Sinn auf die offene Zukunft hin.62 In Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte ist, auch gegen Marx’ eigene Intentionen, eine andere Vorstellung von Geschichte angelegt als die Geschichtsphilosophie und die dialektische Konstruktion des historischen Materialismus vorsehen.63 Er bewegt sich damit in einem Denken, das die Anstrengungen des ästhetischen Historismus, Geschichte als lebendige Präsenz und Essenz (in) der Gegenwart zu behaupten, durch den Verweis auf die Theaterhaftigkeit der Wiederholung von Geschichte konterkariert. Es versteht Geschichte als nachträgliches und maskeradenhaftes Geschehen, als fortgesetzte Akte der Wiederholung, als kontingente Abfolge und Ansammlung sekundärer Aktionen und Vorgänge.64 Mit der Französischen Revolution setzt sich die Vorstellung von der Geschichte als Drama und Schauspiel durch.65 Georg Büchner hat in Dantons Tod (1835) die Theatralik der Revolutionäre in ihren Römerposen, heroischen Fratzen und Metaphern kritisch ausgestellt. 1843 prognostiziert Sören Kierkegaard, dass das Phänomen der Wiederholung künftig eine sehr wichtige Rolle in der Philosophie spielen wird: »Die Wiederholung ist die neue Kategorie, welche entdeckt werden soll.«66 »Unser ganzes Zeitalter«, resümiert Michel Foucault Friedrich Nietzsche, »hat den Charakter einer Theateraufführung; ohne Denkmäler, die unser Werk und unser Eigentum sind, leben wir inmitten fremder Dekoration.«67 Mit Nietzsche wird die Theatermetapher der Geschichte prinzipiell. Geschichte, Wiederholung und Theatralität treten in einen wechselseitigen Bedingungszusammenhang. Geschichte kann als Theater der Wiederholung verstanden werden, die theatrale Aktion ist ein Akt der Wiederholung, die Wiederholung ist ein Vorgang der Theatralität.

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Gleichwohl ist zu unterscheiden zwischen dem Realtheater der Wiederholung in der geschichtlichen Wirklichkeit, z. B. der blutigen »Farce« der Revolution von 1848, während der allein bei der Niederschlagung des Juniaufstands 5000 Arbeiter:innen erschossen und an die 11 000 ins Gefängnis geworfen wurden, und dem Spiel-Raum des Theaters, z. B. dem der Grand Opéra, in dem das Theater der Wiederholung kraft seiner Virtualität den Beteiligten zu neuen Erfahrungen und Einsichten verhelfen kann.

2. Meyerbeer, Le Prophète und die Revolution von 1848

Als die Februarrevolution in Paris mit Protesten und Unruhen beginnt, die sich am 23. und 24. Februar zu Straßen- und Barrikadenkämpfen ausweiten, ist Giacomo Meyerbeer in Paris und sitzt an der Fertigstellung seiner Oper Le Prophète. Zugleich nimmt er Anteil an den revolutionären Ereignissen, die sich auf der Straße abspielen. In seinem Tagebuch vermerkt er dazu unter dem 23. Februar: it ziemlich gutem Erfolg an der neuen Stretta der Prêche im M 1. Akt gearbeitet. Den übrigen Teil des Tages auf der Straße zugebracht, den Gang der Unruhen zu beobachten. Die Nationalgarde erklärt sich ebenso für die Wahlreform und verhindert die Linientruppen, auf das Volk einzuhauen. Gegen Mittag verbreitet sich die Nachricht, dass der König das Ministerium Guizot abgedankt habe und die Wahlreform bewillige. Großer Jubel: alles scheint glücklich beendiget. Abends aber geht das Spektakel wieder los. Vor dem Ministère des affaires étrangères feuert das Militär auf das Volk, und viele Opfer fallen. Was dazu Veranlassung gegeben hat, weiß ich bis jetzt nicht. Diner & Soirée bei Vatel, dem Direktor der italienischen Oper.68 Das ist nicht das Zeugnis eines Engagiert-Beteiligten, aber hier äußert sich auch nicht ein Parteigänger der Reaktion. Aus Meyerbeers Tagebucheintrag begegnet uns der Blick eines eher mit den revolutionären Ereignissen sympathisierenden Angehörigen des Großbürgertums, der sich gleichwohl davon nicht von seinen alltäglichen Aufgaben – Komponieren, gesellschaftliche Verpflichtungen – abhalten lässt. Dennoch verrät der Eintrag ein großes Interesse an den Vorgängen selbst und am Verhalten der beteiligten Parteien und Kräfte, was sich auch daran zeigte, dass er wiederholt an Versammlungen der revo-

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lutionären Klubs teilnahm. Der Tagebucheintrag verzeichnet mit impliziter Zustimmung die Zusicherung der Wahlrechtsreform und die Abdankung François Guizots ebenso wie das Verhalten der Nationalgarde, die verhindert, dass das Militär die Arbeiter:innen niederschlägt. Er hält das erneute Schießen des Militärs am Abend fest und die Arbeiter:innen, die ihm zum Opfer fallen, auch wenn der Ausdruck »Spektakel« dafür eine innere Distanz zu den Vorgängen andeutet, für die er bis dahin keine Ursache angeben kann. Aus all dem spricht die Haltung eines genauen Beobachters, der den Ereignissen auf den Grund gehen will, indem er Abstand zu ihnen hält. Es ist die Haltung eines Künstlers, dem das Beobachtete und Durchschaute zum Material wird, das er ins Werk einarbeitet und transformiert. Der Hinweis auf die »Stretta der Prêche«, an der Meyerbeer am selben Tag »mit gutem Erfolg« gearbeitet hat, bezieht sich auf eine Szene, die den 1. Akt der Oper Le Prophète dominiert: Es ist die Predigt, mit der drei revolutionär-chiliastische Wiedertäufer des 16. Jahrhunderts, Zacharie, Jonas und Mathisen, die in der Leibeigenschaft gefangenen und Frondienste leistenden Bauern so lange agitieren und aufstacheln, bis sie bereit sind, die Burg ihres Zwingherrn zu stürmen. Eine Affinität zwischen dem Aufstand der Bauern in der Oper und den revolutionären Ereignissen auf den Straßen von Paris ist nicht zu leugnen. So wurde denn Le Prophète bei der Uraufführung am 16. April 1849, Louis Napoléon war schon seit fünf Monaten Präsident der Republik, als aktueller Kommentar zur jüngst stattgehabten Revolution verstanden. Das aber trifft so nicht zu, das zeigt die Vorgeschichte der Oper. Bereits 1841 war die erste Partitur abgeschlossen, 1843 sollten die Proben an der Opéra beginnen. Der Plan zerschlug sich wegen Differenzen Meyerbeers mit dem neuen Direktor der Opéra, Léon Pillet, über die Besetzung der Rollen. Erst im März 1848, in der ersten Phase der Revolution, wurde unter neuer Direktion der Vertrag mit Meyerbeer über die von ihm gewünschten Sängerinnen und Sänger geschlossen. Weit zurück reicht auch die Arbeit am Libretto zwischen Scribe und Meyerbeer. Bereits 1831 taucht die Figur Jean von Leydens, des Protagonisten der Oper, in einem Plan von Scribe auf. Sie geht zurück auf eine Stelle in Voltaires Essay sur les moeurs, die von einem Jean (Jan) von Leyden (1509 – 1536) berichtet, der sich 1534 in Münster zu einem Propheten-König ausrufen ließ und Polygamie und Gütergemeinschaft einführte. Das Täuferreich zu Münster von 1530 bis 1535 war von kurzer Dauer, aber gewaltvoll und blutreich. Es war aus einer radikalen Abzweigung des Protestantismus Zwinglis hervorgegangen, deren Anhänger sich als (Wieder-)Täufer oder Anabaptisten

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bezeichneten und auf die apokalyptisch-chiliastische Herrschaft eines Himmelreichs auf Erden vor der Wiederkunft Christi hinarbeiteten. Unter dem Zustrom von Täufern aus den Niederlanden und durch eine Radikalisierung der protestantischen Bewegung in Münster selbst schien dieses Reich mit der Herrschaft des Propheten-Königs Jan von Leyden 1534 gekommen zu sein. Parallel dazu aber wurde Münster von Fürstenheeren beider Religionen belagert und 1535 eingenommen. Jan von Leyden wurde 1536 mit zwei Gefährten auf dem Marktplatz zu Tode gefoltert. Der erste Plan zu einem Libretto von Scribe orientiert sich entlang der Figurenkonstellation und privaten Liebesintrige eines pièce bien faites. Es sieht die Parallelfigur eines Conrad zu Jean vor, der im Mittelpunkt der Ereignisse steht und, ähnlich wie Pedro in La Muette de Portici, eindeutig negativ gezeichnet ist. Aus Scribes eindeutig und einseitig reaktionären Perspektive auf revolutionäre Bewegungen ist in der fertiggestellten Oper durch die kontinuierlichen Änderungswünsche Meyerbeers und seine Mitarbeit am Libretto gerade das Eindeutige und Einseitige der frühbürgerlich religiös-sozialrevolutionären Geschichte verschwunden. An dessen Stelle sehen wir das Mehrdeutige, Schillernde einer gleichwohl bis ins Letzte durchmotivierten Handlung, die sich in einem ersten Anlauf so erzählen lässt: 1. Akt. Ländliches Erwachen in einem holländischen Dorf an der Maas. Hirten spielen auf der Schalmei, Bauern und Müller frühstücken. Eine junge Frau, Berthe, freut sich auf das Wiedersehen mit ihrem Geliebten. Dessen Mutter, Fidès, kommt, um sie abzuholen in die Stadt Leyden, wo ihr Geliebter, Jean, eine Schankwirtschaft betreibt. Doch die Idylle trügt. Die liebliche Szenerie ist zugleich der Ort einer harten feudalen Gutsherrschaft. Über dem Dorf thront die Zwingburg des Feudalherrn Oberthal, die die unten im Tal arbeiten müssen, sind seine Leibeigenen, auch Berthe, die für die Verlobung die Erlaubnis ihres Herrn benötigt. Die Lage der Arbeitenden birgt sozialen Zündstoff. Deshalb stößt die Aufforderung der drei plötzlich auftauchenden Anabaptisten Jonas, Mathisen und Zacharie, sich der sozialrevolutionär chiliastischen Heilsbewegung anzuschließen (»Ad nos ad salutarem undam«) und gegen ihre Herrschaft aufzustehen, sofort auf fruchtbaren Boden. Die Anabaptisten agitieren, die Bauern revoltieren. Aufstand. Mit dem Erscheinen von Oberthal und seiner Soldateska bricht die Revolte jedoch rasch zusammen. Der Graf verweigert die Verlobung Berthes mit Jean und nimmt Berthe und Fidès gefangen. Die Wiedertäufer und ihre Heilsmelodie kehren am Ende des Akts wieder, am Übel der

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Herrschaft hat sich nichts geändert, die soziale Situation ist nach wie vor reif für den Aufstand. Das gilt es bei der Beurteilung der folgenden Ereignisse im Auge zu behalten. 2. Akt. In Leyden wartet Jean auf die Ankunft seiner Geliebten und seiner Mutter. Die drei Anabaptisten, die in seiner Schenke gelandet sind, verblüfft seine Ähnlichkeit mit einem Porträt des in Münster verehrten Königs David. Als sie ihn ansprechen, erzählt er ihnen von einem Traum, in dem er zum Gottkönig erhoben, danach aber verdammt und in Satans Reich gestürzt worden sei. Die Anabaptisten sehen in Jeans Traumerzählung das Potential für charismatisches Führertum und wollen Jean bewegen, als messianische Leit- und Erlöserfigur der gerechten Sache voranzugehen. Jean lehnt ab, indem er sich jenes einfache, ländlich-idyllische Leben mit Berthe imaginiert, dem die sozialen Disruptionen des 1. Akts den Boden entzogen haben. Einbruch der Wirklichkeit: Die Tür fliegt auf, herein Berthe, die vor Oberthal fliehen konnte, der ihr mit seinen Soldaten auf dem Fuß folgt. Der Graf verlangt die Auslieferung Berthes, andernfalls tötet er Jeans Mutter. Ohne zu zögern, stößt Jean Berthe von sich und opfert die Geliebte für die Mutter. Danach ist er reif für die Versprechungen der Wiedertäufer. Er übernimmt die Rolle des Propheten, weil er darin die Möglichkeit sieht, sich an Oberthal zu rächen. Der Preis dafür ist, jedem Kontakt mit der Mutter abzuschwören, der Prophet gehört dem Volk und hat keine irdischen Bindungen. 3. Akt. Nach dieser ausführlichen Exposition, die sich über zwei Akte erstreckt, ist die weitere Handlung schneller erzählt. Im Feldlager der Wiedertäufer vor Münster zeigen sich Jonas, Mathisen und Zacharie als die politischen Strippenzieher, die auf eigene Rechnung arbeiten und sich des Propheten nur als Marionette bedienen. Nachdem aber ein von Mathisen ohne Jeans Wissen befehligter Angriff auf Münster fehlgeschlagen ist, droht eine Revolte gegen die Führung. Jean, der schon abgeschrieben war, erfährt von dem gefangen genommenen Oberthal, der verkleidet zu seinem Vater, dem Kommandanten von Münster wollte, dass Berthe, die ihrem Peiniger erneut entkommen konnte, in Münster sein soll. Dadurch beflügelt nimmt er erneut die Rolle des Propheten an und wendet die Lage durch eine von Harfen begleitete Vision des geöffneten Himmels samt Engeln und dem harfespielenden König David. Ihm folgt der Prophet nach mit einer triumphalen Hymne im Stil eines religiösen Oratoriums von Georg Friedrich Händel, die seine Anhänger in Begeisterung versetzt. Zu diesem enthusiastischen Augenblick geht die sogenannte »Prophetensonne« auf, das erste elektrische Licht auf einer Opernbühne in Europa.

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4. Akt. In der von den Wiedertäufern eingenommenen Stadt Münster stöhnen die Bürger:innen über die Abgaben an den Propheten. Fidès, die bettelt, begegnet Berthe und erklärt ihr, dass Jean tot ist durch die Schuld des Propheten. Berthe schwört, den Tod Jeans zu rächen und den Propheten zu töten. Szenenwechsel: Im Dom lässt sich Jean zum Propheten-König krönen. Als seine Mutter in ihm ihren Sohn erkennt und öffentlich beschuldigt, seine Mutter zu verleugnen, droht der Glaube der Anhänger:innen an die Göttlichkeit des Propheten ins Wanken zu geraten. Wenn sich die Menge gegen ihn wendet, ist sein Leben und das seiner Mutter in Gefahr. In einem Theater des Exorzismus, in dem Jean vorgibt, seine von Dämonen besessene Mutter zu heilen, zwingt Jean Fidès öffentlich zu leugnen, dass er ihr Sohn ist. 5. Akt. Währenddessen hat sich der kaiserliche Belagerungsring um Münster zugezogen. Um ihre eigene Haut zu retten, versprechen die drei Anabaptisten die Auslieferung des Propheten. Im Kellergewölbe des Schlosses, in dem Fidès eingeschlossen ist, kehrt die Mutter den Spieß gegenüber der Szene im Dom um und fordert von Jean, seiner Macht und der Rolle des Propheten zu entsagen, um Gnade für seine Missetaten zu finden und von ihr davon freigesprochen zu werden. Hinzu kommt Berthe auf der Suche nach dem Propheten, um ihn zu töten. Sie trifft auf Jean. Kurze Freude des Wiedersehens, bis sie erfährt, dass Jean selbst der Prophet ist. Daraufhin bringt sie sich um, weil sie ihn immer noch liebt, diese Liebe aber nicht mehr rechtfertigen kann. Für Jean ist der mütterliche Freispruch danach nutzlos geworden. Er lässt die Tore des Schlosses verschließen und das in den Gewölben gelagerte Schwarzpulver anzünden, um auf einem sardanapalischen Abschlussbankett sich, seine Mutter und die ganze Welt in die Luft zu sprengen. Wie steht diese Episode aus der Geschichte der sozialrevolutionär-religiösen Bewegungen zur Zeit der Uraufführung der Oper zu der Revolution von 1848/49? Der Rückgriff auf die faszinierende Figur des Propheten-Königs Jan von Leyden birgt jede Menge Sensationen aus dem Gemisch von Rebellion und quasi-göttlicher Macht. Der Umschlag von Rebellion in autoritäre Herrschaft lässt sich auf den ersten Blick als eine Absage an Rebellion und Revolution und Warnung vor deren bösem Ende lesen. Auf den zweiten Blick wird man sich erinnern, dass der soziale Grund des Aufstands, die Ungerechtigkeit der sozialen Grundherrschaft, unverändert fortbesteht und in der Oper nicht desavouiert wird. Mit der Figur des charismatischen Führers tritt aber eine moderne Gestalt ins Licht der Öffentlichkeit, der es gelingt, die Ernied-

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rigten und Beleidigten durch ein im Ursprung religiöses, dann säkularisiertes Heilsversprechen affektiv zu fesseln und dem eigenen Machtinteresse und dem der herrschenden Klasse dienstbar zu machen. Die Figur dieses Führers ist vorgeprägt, etwa in dem römischen Volkstribunen Cola di Rienzo (1313 – 1354) – in Richard Wagners Oper Rienzi kehrt sie 1842, fast zehn Jahre vor Le Prophète wieder – und im Bußprediger Girolamo Savonarola (1452 – 1498), der im Florenz der Renaissance während seiner kurzen Herrschaft 1494 bis 1498 gegen die Eitelkeit der Welt zu Felde zieht. Beide, Rienzo und Savonarola, sind Zeugen in Max Horkheimers Studie über die Ideologie des populistisch-charismatischen Führertums Egoismus und Freiheits­bewegung. Zur ­ Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters, die 1936 unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Massenbewegung entstanden ist. Der Prophet Jean von Leyden in Meyerbeers Oper gehört, bei allen Unterschieden im Einzelnen, unter diese modernen populistischen Führergestalten. Im Vergleich zum Propheten in Voltaires Tragödie Mahomet, der nur ein Betrüger und Manipulator ist, und anders auch als der gerissene Hallodri und Hasardeur Louis Napoléon, der nur den Mythos seines Onkels geschickt einzusetzen weiß, ist Jean in Le Prophète eine spannendere, weil sozialpsychologisch präziser ausgeleuchtete Gestalt. Scribe gegenüber besteht Meyerbeer darauf, dass Jean nicht als Betrüger erscheint, das würde nur Abscheu erregen oder als einer, der aus privaten Motiven auf Rache aus ist. Damit wäre er zwar entschuldigt, aber nicht von Interesse. Meyerbeer will ihn stattdessen als einen Exzentriker gezeichnet sehen, der sich Träumen und Visionen hingibt und damit selbst von der anabaptistischen Rhetorik gefangen genommen werden kann.69

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Der berühmte Sonnenaufgang am Ende des 3. Akts von Giacomo Meyerbeers Le ­Prophète, Stich aus dem Jahr 1850.

Dass in die Figur des Propheten von Meyerbeer alle drei Motive und Verhaltensweisen eingehen, hebt das Moderne seiner Wirkung im dreifachen Sinne hervor: Zum einen wirkt er als ideale Resonanzgestalt der Wünsche, Hoffnungen und Leidenschaften der Massen, die er ernst nimmt, aufnimmt und verstärkt an diese zurückgibt. Von größter Bedeutung ist dabei ein Heil versprechendes Bild, eine überirdisch-übermächtige Führer- und Erlöser-Gestalt oder der Mythos eines gelobten Landes bzw. der Wiederkehr eines Goldenen Zeitalters. Bild, Gestalt und Mythos bewirken eine starke affektive Bindung an den charismatischen Führer, auch entgegen den eigenen (materiellen) Interessen der Geführten. Der Kulminationspunkt der Verbindung zwischen prophetischem Führer und seinen Anhängern ist in Le Prophète der Triumphgesang Jeans »Roi du ciel et des anges«: »Herr dich in den Sternenkreisen / will ich singen, will ich preisen, / wie dir Davids Harfe klang.« Nichts wird darin gesagt über die konkrete Situation der Belagerung Münsters und den bevorstehenden Sturm auf die Stadt. Scheinbar abgehoben vom realen Geschehen schlüpft der Prophet ins Gewand des Königs David, des siegreichen biblischen Heerführers. Die religiöse Einkleidung und Überhöhung des Geschehens wird emotional befeuert durch den Rückgriff auf den Oratorienstil Händels. Meyerbeer hat dazu Partituren der Händel’schen

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­Oratorien Das Alexanderfest (1736) und Josua (1747) studiert.70 Das Ergebnis von Meyerbeers Wiederholung und Transformation Händels ist eine mitreißende Verbindung zwischen religiöser Ekstase und soldatischem Marschtritt, deren verführerischer Wirkung man sich nur schwer entziehen kann. Eine zweite Wirkung bezieht der Prophet Jean aus der (auch von Verachtung durchzogenen) Faszination des kühlen Kalkulators und Inszenators der heilsgeschichtlichen Massenbewegung, der selbst ein wenig über den Bann hinausblickt, unter dem er steht. Sie zeigt sich im rhetorisch-strategischen Geschick, mit dem er die Meuterei der Soldaten im Feldlager abzuwenden weiß, und im Theater des Exorzismus, mit dem er Fidès in der Krönungsszene im Dom zur Verleugnung ihrer Mutterschaft zwingt. Und auch der angesprochene Triumphgesang am Ende des 3. Akts stellt mit der virtuosen Selbstfeier seiner Kadenzen und hohen Pianissimo die künstliche Gemachtheit der vorwärtstreibenden Ekstase aus.71 Zum Dritten seiner Wirkung aber kann Jean ans Mitleid für ein Opfer appellieren, dem das Feudalregime mit der Verschleppung von Geliebter und Mutter durch Odenthal übel mitgespielt hat. Diesen Willkürakt zu rächen und sich mit Berthe und Fidès wiedervereint zu sehen, ist das von Meyerbeer und Scribe genau herausgearbeitete Motiv, das Jean als Propheten nach Münster führt. Dennoch erschöpft sich die Figur Jeans nicht in dieser Motivation. Seine Aktualität zieht sie aus der Überlagerung und Verschichtung der Ebenen seiner Wirkung. Was immer die Intentionen von Scribe und Meyerbeer gewesen sein mögen, mit dem Auftritt der vielschichtigen Figur des Jean von Leyden aus der frühbürgerlichen Täuferbewegung sind sie 1848/49 auf der Höhe der Zeit, wenn nicht ihrer Zeit voraus. In einer sozialrevolutionären Situation haben sie das Modell eines charismatischen Führers einer populistischen Massenbewegung geschaffen, das bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Es ist das Modell, das seitdem in unterschiedlichen Varianten den Verlauf von Revolutionen weltweit bestimmt. Die Attraktivität dieses Modells in der Wirklichkeit anzuerkennen heißt nicht, sich von den guten Gründen zu verabschieden, die damals wie heute revolutionäre Veränderungen notwendig und wünschenswert machen. Aber es heißt, das Modell einer von einem charismatischen Führer initiierten und gelenkten populistischen Erhebung aufzugeben, das heute endgültig zu einer Domäne der Gegner:innen einer freiheitlichen Demokratie geworden

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ist. Stattdessen wäre nach anderen Praktiken des kulturellen und politischen Handelns Ausschau zu halten. Aussichten darauf bieten die Einsichten, die Le Prophète bereithält.

3. Kindertraum, Allmachtsphantasie und Mutterbindung

Vieles ist ungewöhnlich am Protagonisten der Oper Le Prophète. Dass er im gesamten 1. Akt nicht auftaucht, sodass der sozialrevolutionäre Aufstand der Bauern ohne ihn stattfindet und seiner Einwirkung darauf entzogen ist. Dass er als Schankwirt einer Kneipe, in der sich die arbeitende Bevölkerung trifft, über keinerlei Fallhöhe verfügt, die für einen tragischen Opernhelden eigentlich unerlässlich ist. Und dass er den erstbesten von außerhalb kommenden Gästen sofort sein Herz offenbart und ihnen einen Traum zur Deutung vorlegt, den er vergangene Nacht geträumt hat. Jean will ihn als schlechtes Vorzeichen für die Wiederkehr seiner Geliebten und seiner Mutter deuten, aber damit hat der Traum nichts zu tun. Er handelt ausschließlich von Jean selbst und seinem Wunsch, der tiefer ist als seine Liebe zu Berthe und in höchste Höhen hinauf: In eines Domes Wunderbau Von Säulen getragen, sah ich mich stehn. Das Volk kniete rings um mich her, Es schmückte meine Stirn ein Königsdiadem. Und von des Volkes Lippen tönt’s Im heiligen Gesange: »Sehet da, Gottes Sohn, Den Erwählten des Herrn!« Da erscheint Am Gewölb eine glühende Flammenschrift: »Weh dir und Fluch! Weh dir und Fluch!« Zum Schwert greift eben meine Hand, Doch ein blutiger Strom wogt heran, schwillt empor. Ihm zu entfliehn, schwing ich mich Auf einen goldnen Thron, doch die Flut Stürzt auch ihn, reißt mich selbst mit hinweg! Rings umher sprühen Blitze, aus dem Boden Schlagen Flammen, des Höllenfürsten Faust Schleift mich vor Gottes Thron, es erdröhnt Aus der Erde der Ruf: »Er sei verflucht, Verflucht, verflucht!

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Die Traumerzählung ist gleichsam die Auftrittsarie des jungen Mannes in seinen zwanziger Jahren. Sie enthüllt aber die Phantasie eines Kindes nach Größe und Allmacht, die in ihrer Verzerrung der Dimensionen von Groß und Klein, Macht und Ohnmacht, Wunsch und Angst vor der Bestrafung des Wunsches etwas ebenso Unwirkliches wie psychisch Wirkliches artikuliert. Es ist ein Kindertraum, das kündet allein schon das instrumentale Vorspiel an, das in seiner Schlichtheit einem Kinderlied nachgebildet scheint. Und es ist eine Allmachtphantasie, der ihre eigene psychische Realität zukommt und die, wenn sie sich ungebrochen in späterer Zeit in der Wirklichkeit geltend macht, diese in Gestalt des Größenwahns eines Erwachsenen eingreifend verändern kann. Eben diese unwirkliche Wirklichkeit des aus der Imagination kindlicher Omnipotenz Erwachsenen stellt die Verbindung der Traumerzählung mit der Krönungsszene des 4. Akts aus, die Meyerbeer im Juli 1848 herstellt. Im Bade, so das Tagebuch, will er den »glücklichen Einfall« gehabt haben, »für den Traum im 2. Akt das Thema des Choeur d’enfants (in der Krönung des 4. Aktes) zu verwenden«. Er arbeitete »demgemäß einen großen Teil des schon jahrelang fertigen Traumes wieder um. (…) [D]och ist es«, fährt er fort »glaube ich eine erfreuliche Verbesserung«.72 Diese musikalisch unüberhörbar markante Verbindung überblendet das Geschichtsbild des Krönungszugs mit der Imagination des Kindes und schreibt dem Repräsentationsmodus des ästhetischen Historismus die Züge des Traums ein. Empfänglich geworden für das Irreale der Szene, kann man in dem outriert-auftrumpfenden Einsatz des Krönungsmarschs mit der Triole nicht als Auftakt, sondern auf dem ersten betonten Taktteil73 das trotzige Aufstampfen des Kindes hören, das seinen Willen durchsetzen will. Nicht zuletzt ist es die textuelle und visuelle Korres­ pondenz zwischen dem Traumbericht des 2. Akts und der Krönungsszene des 4., die an dem Realitätsgehalt des Dargestellten zweifeln lässt74 und der Frage Raum gibt, ob es sich bei dem ganzen historistischen Spektakel nicht nur um eine Phantasie Jeans handelt, um ein früh genährtes, von den Anabaptisten bestärktes und im Erwachsenenalter nicht verworfenes Phantasma, in dessen Bann Jean steht und dessen Realität er durch den für sich gesprochenen Satz »sich wie besinnend an die Stirn« fassend beglaubigt: »Ja, ich bin der Erwählte. Ich bin der Sohn Gottes!«. Meyerbeer und die Oper entscheiden diese Frage nicht. Sie lassen sie in der Schwebe und geben den Szenen der dargestellten Realität des 16. Jahrhunderts das Double der Phantasma-Projektion ihres Protagonisten bei. Der Effekt dieser Doublierung der Szene ist, gleichgültig ob von Meyerbeer beabsichtigt oder nicht, die Erfahrung

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der Wunschproduktion des ästhetischen Historismus und die Einsicht in ihren Grund: die Ohnmacht, die sich Macht erträumt.

Giacomo Meyerbeer: Le Prophète, Krönungsszene im Dom, 4. Akt. Theater des ­Exorzismus mit Jean und Fidès. Stich von der Uraufführung am 16. April 1849 von Charles-Antoine Cambon, 1849.

Es ist – das Double der Szene macht es möglich – sowohl die Ohnmacht des Kindes als auch die Ohnmacht des Unterprivilegierten und Rechtlosen in einem System rigider sozialer Ungleichheit und Herrschaft. In dem Gewahrwerden der Ohnmacht im Kern der Pracht der Macht zeigt sich eine eigentümliche Affinität zwischen dem Persönlich-Intimen und dem Gesellschaftlich-Allgemeinen. Wenn, wie wir gesehen haben, das absichtsvolle, private Handeln um der Liebe, der Familie und der Freundschaft willen nicht heranreicht an die großen sozialen, politischen und ideologischen Bewegungen der Zeit, dann offenbart der aus Ohnmacht geborene Kindertraum von der Macht eine Affinität zwischen dem individuellen Wunsch und dem Machtstreben sozialer Gruppen und Bewegungen. Das auszusprechen heißt nicht, Politisches zu privatisieren und zu personalisieren, sondern auf soziale und psychologische Prozesse und Mechanismen aufmerksam zu machen, in denen die psychische Ontogenese des Wunschs nach Macht und die soziopolitische Psyche der Macht ineinander verschlungen sind.

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Eben davon spricht die doublierte Szene der Krönung im 4. Akt von Le Prophète. Auf ihrem Höhepunkt, eben als der kleine Jean und große Prophet sich als Erwählter und Sohn Gottes wähnt, kommt ihm die Mutter in die Quere, um ihn mit ihrem Aufschrei »Mein Sohn!« zurückzuholen auf die Erde. Sie, die von Jean Verlassene, die Bettlerin, als die wir sie zu Beginn des 4. Akts auf dem Platz vor dem Dom gesehen haben, ist diejenige, die tatsächlich Macht über Jean besitzt. Wie sie dazu gekommen ist, darüber geben die Entstehungsgeschichte und das Werk selbst unterschiedliche Auskunft. Die doppelte, mindestens gleichwertige Besetzung der Frauenrolle mit der Geliebten Berthe und der Mutter Fidès war in den ersten Entwürfen von Scribe und Meyerbeer nicht vorgesehen. Es gab dort eine bescheidene, konventionelle Mutterrolle, mehr nicht.75 Dass die Rolle der Fidès immer umfangreicher und profilierter wurde, liegt auch mit daran, dass Meyerbeer mit der Sängerin Pauline Viardot-García die ideale Besetzung für diese Rolle gefunden hatte. Wegen ihr, die vom Direktor der Opéra Léon Pillet abgelehnt wurde, hatte Meyerbeer bis zu dessen Rücktritt nicht weiter über Le Prophète verhandelt. Gewichtiger für die Ausgestaltung der Mutterrolle ist das dramaturgische Argument, das Meyerbeer in einem handschriftlichen Vermerk an Scribe festhält. Es komme demnach darauf an, ein Gegengewicht zu schaffen zu der revolutionären Tendenz der Oper durch eine Person im Stück, die ganz auf dem Boden der bestehenden Ordnung und der Religion steht. Das könnte die Aufgabe der Mutter sein.76 Diese Aufgabe hat die Rolle der Fidès auf den ersten Blick gründlich erfüllt, ja übererfüllt. Ihr, der Mutter, gilt die eigentliche Liebe des Sohnes Jean – jedenfalls soweit ihm das bewusst ist. Zwar scheint zunächst Berthe sein ganzes Herz zu besitzen. Das jedenfalls beteuert er in der Pastorale genannten Arie, mit der Jean unmittelbar nach der Traumerzählung mit der Vision seines Herrschertums den Antrag der Anabaptisten, ihr prophetischer Führer zu sein, zurückweist:

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Jeanne- Anaïs Castellan in der Rolle der Berthe in ­Giacomo Meyerbeers Le Prophète, Kostümentwurf 1849.

Keins von allen Erdenreichen Sehne ich mich zu erreichen, Herrsch’ ich nur in Berthas Herzen Will ich leicht den Thron verschmerzen, Lassen alle Königskronen, Will in dieser Hütte wohnen, Wo der Friede glücklich weilt. Aber diese Pastorale ist so trügerisch und irreal wie die Idylle des ländlichen Erwachens am Beginn der Oper. Die schmachtenden Triolen, in denen sie beschworen wird, sind nicht von dieser Welt: zu schön, um wahr zu sein. Es ist eine Schwärmerei ohne reales Liebesobjekt, in der sich der selbstlos Entsagende selbst feiert, die Artikulation eines amour propre nach Jean-Jacques Rousseau, mit der sich Jean bereits in die Rhetorik des charismatischen Führers einübt, dem (angeblich) alle irdischen Güter und Verlockungen der Macht nichts bedeuten. In dieser Selbstliebe ohne ein anderes Liebesobjekt ist Berthe nur eine

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austauschbare Chiffre. Das zeigt sich im 3. Akt, wenn Jean im Lager der Wiedertäufer, angeekelt vom Blutvergießen der Anabaptisten, sich seine Mutter in Erinnerung ruft und dazu in der instrumentalen Ankündigung des Wunschs nach der Mutter die melodischen Figuren der Berthe gewidmeten Pastorale erklingen.77 Offensichtlich gilt Jeans Liebe mehr der Mutter als der Geliebten. Aber dieser Liebe ist nicht zu trauen. Auch für die Liebesbeteuerungen gegenüber der Mutter gilt: sie sind Artikulationen der Selbstliebe ohne ein reales Liebesobjekt. Vor allem aber sind sie nur leere Rhetorik angesichts des konfliktuösen Ringens mit der Mutter, das die drei großen Szenen zwischen Fidès und Jean im 2., 4. und 5. Akt im Kern konstituiert. In ihnen spricht sich der durch die Liebesäußerungen und -beweise kaum getarnte Hass eines Mutterfixierten aus, der von der Mutter nicht loskommt. Dass Jean die Ablösung nicht gelingt, ist nicht die Schuld der Mutter, sondern seine eigene Unfähigkeit zu autonomem Handeln. Der Hass auf die »Hexe« Mutter ist Selbsthass, der frei flottiert und sich, wie am Ende, auf die ganze Welt richten kann. Die Schlüsselszene zur ambivalenten Beziehung Jeans zur Mutter im 2. Akt ist die umstandslose Preisgabe der vor Odenthal geflüchteten Geliebten und ihre Auslieferung an den Feudalherrn, um die (angeblich) bedrohte Mutter zu retten. Die Szene, die wie die Szene im Dom zwischen (Alb-)Traum und Wirklichkeit changiert, ist im Libretto so beschrieben: ie beiden Hellebardiere zwingen Fidès niederzufallen und heben D mit drohendem Ausdruck die Streitaxt über ihrem ­Haupte. Fidès sinkt auf die Knie, die Hände nach ihrem Sohn ausstreckend. JOHANN Kehrt sich um, stößt einen Schrei aus, stürzt nach dem Versteck, wo Bertha eben sichtbar ist und schleudert sie in dem Augenblick dem Grafen Odenthal zu, wo derselbe wieder nach vorn tritt, halb sinnlos zu Bertha Fort! Hinweg! Du siehst, es muss sein! Die beiden Hellebardiere schleppen Bertha durch den Mitteleingang nach rechts hinaus. Nicht Liebe, sondern Fixierung spricht aus dieser wie automatisch erfolgten Reaktion Jeans. Das Bild der ausgestreckten Hände der Mutter auf den Knien, die Axt über ihr, der Schrei, das Fortschleudern der Geliebten. Fast ist man versucht zu glauben, der Sohn wolle ein anderes, sich aufdrängendes Bild von sich schleudern, das ihn die Axt über dem Haupt der Mutter schwingen lässt. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die unmittelbar folgende Szene. Im anschließenden

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Arioso segnet Fidès ihren Sohn, dem die Mutter »teurer als deine Braut« war, was offensichtlich keinerlei Bedenken in ihr auslöst. Im Gegenteil: Das Opfer des Sohns erhöht ihr Selbstwertgefühl gegenüber der jungen Rivalin. Auf den aggressiven Narzissmus der Mutter aber antwortet Jean nicht. Keine Gegenarie, kein Duett, kein Rezitativ. Nur ein stummes Spiel als Antwort. Auf den ersten Ausbruch der Mutter steht er auf, ihrer Umarmung nach der Segnung entzieht er sich und fordert sie auf, das Zimmer zu verlassen und sich zur Ruhe zu begeben. Sprachlosigkeit und Schockstarre sind die Reaktion auf die Übergriffigkeit der Mutter. Sie sind die symptomatischen Anzeichen für den uneingestanden-unbewussten Hass auf sie und den Hass auf sich selbst, dem es nicht gelingt, sich innerlich von ihr loszusagen, auch wenn er sich auf Geheiß der Anabaptisten räumlich und nach außen hin von ihr entfernt. Der Konflikt ist damit nicht gelöst, sondern nur verdrängt.

Pauline Viardot in der Rolle der Fidès in Giacomo ­Meyerbeers Le Prophète, Kostümentwurf 1849.

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Kindertraum, Allmachtsphantasie und Mutterbindung

Wie sehr der verdrängte psychische Konflikt fortwirkt, zeigt der Wiederholungszwang, dem die Szene des 2. Akts unterliegt. Die Auseinandersetzung mit der Mutter in der Krönungsszene des 4. Akts im Dom und im Kellergewölbe des 5. Akts können – auch – als zwanghafte Wiederholungen des Kampfs zwischen Mutter und Sohn gelesen werden. Seines Versuchs, sich von ihr loszusagen und ihrem Willen, dies auf keinen Fall zuzulassen. Im Dom gelingt es Jean, dank der Todesdrohung, die über beiden schwebt, sollte sich der Prophet als ein irdisch Geborener herausstellen, Fidès auf die Knie zu zwingen und sie in einem großen Exorzismus-Theater dazu zu bringen, zu leugnen, dass er ihr Sohn ist. Bereits für diese nur scheinhaft, wenngleich öffentlich vollzogene Verleugnung der Mutter rächt sich die im Kerker gefangene Fidès, indem sie ihrerseits Jean auf die Knie schickt und in einem großen Theater der strafenden, sich von ihm abwendenden Mutter dazu bringt, der Macht des Propheten abzuschwören und seine Taten zu bereuen. Spätestens an dieser Stelle bemerkt man, von wem die Angstvision, von Satans Reich verflucht und verschlungen zu werden, in der Traumerzählung des 2. Akts stammen. Es sind die Drohungen der Mutter, die seine Allmachtphantasien brechen sollen, aber das Gegenteil bewirkt haben. Jetzt, da Jean der Macht entsagt und die Folgen seiner Machtergreifung bereut, sieht sich die Mutter wiederum ermächtigt, ihn an Gottes Stelle von allen Sünden freizusprechen. Es ist ein psychologisches Kammerspiel zwischen Mutter und Sohn, in dem gleichsam im Kellergewölbe des Unbewussten die Szenen ihrer Auseinandersetzung zusammenschießen und sich überlagern. Es zeigt die Verklammerung zweier narzisstischer Persönlichkeiten, die in sich gefangen sind und den oder die andere(n) nur zur eigenen Selbstbestätigung und Selbstüberhöhung brauchen. Das geht so lange, bis mit dem Auftauchen Berthes und ihrem Selbstmord eine Realität jenseits des Narzissmus einbricht. Der Selbstmord Berthes, die mit der Ambivalenz ihrer Gefühle gegenüber dem Propheten einerseits, Jean andererseits, beide in einer Person, nicht zurechtkommt und damit nicht länger leben will, gibt Jean eine schwache Ahnung von der Liebe zu einem anderen, realen Menschen, die möglich wird, wenn man heraustritt aus dem Bannkreis narzisstischer Imaginationen.

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4. Verschlungene Geschichte(n)

Die Beziehungsgeschichte zwischen Mutter und Sohn nimmt in Le Prophète breiten Raum ein. Sie ist das Skandalon der Oper. Denn unverständlich erscheint auf den ersten Blick, warum der geschichtliche Höhenflug einer sozialrevolutionär- chiliastischen Bewegung unter einem charismatisch-populistischem Propheten dermaßen mit dem Gewicht einer privaten psychischen Konfliktkonstellation belastet wird. Der Hinweis auf Meyerbeers eigene starke Mutterbindung und die herausragende familiäre Stellung der Mutter in einer jüdischen Familie hilft da als Erklärung nicht weiter. Auch Meyerbeers bereits angeführtes Argument, mit der Rolle der Mutter ein Gegengewicht zur revolutionären Tendenz der Oper zu schaffen, verfängt nur, solange man die wechselseitig ausgesprochenen Beteuerungen der Mutterliebe und der Liebe zur Mutter für bare Münze nimmt und auf der Basis dieser nicht angezweifelten »Muttersprache« Le Prophète als Tragödie der wiederhergestellten (mütterlichen) Ordnung liest. Aber in dieses trügerische Bild, dessen Konturen gleichwohl in der Oper sichtbar werden, zeichnen sich die Züge anderer Bilder ein, die es verzeichnen und konterkarieren. Unübersehbar drängt sich zunächst das Bild des charismatisch-populistischen Führers als narzisstische Persönlichkeit auf. Mit dieser Charakterisierung Jeans, die sich, wenn auch nicht explizit beabsichtigt, aus der Motivierung dramaturgischer Verknüpfung und Konfliktführung ergibt, geht Meyerbeer über die zeitgenössische Figur des schwankenden Helden hinaus. Die narzisstische Persönlichkeit als charismatischer Führer ist eine exemplarische Erscheinung im Rahmen von populistischen Bewegungen. Meyerbeer nimmt damit ›prophetisch‹ einen Typus vorweg, der im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart seine volle Macht entfalten wird.78 Hält man sich an die Züge, die in Le Prophète vorgezeichnet sind, so treten neben dem jedes Selbstwertgefühl übersteigenden übermächtigen Streben nach eigener Grandiosität, wie sie im Krönungstableau des Propheten-Königs zutage tritt, vor allem das Fehlen von Empathie gegenüber anderen und das Schauspielerhaft-Manipulative im Auftreten des narzisstischen Führers hervor. Die mangelnde Empathie ist der fehlenden Fähigkeit zur affektiven Besetzung eines (Liebes-)Objekts außerhalb seiner selbst geschuldet. Sie zeigt sich bei Jean vor allem Berthe gegenüber. So wenn er nach einem kurzen Schockmoment, den ihr Selbstmord auslöst, sofort danach den Soldaten »kalt und entschlossen« befiehlt, hierzubleiben und seine Mutter zu beschützen.

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Verschlungene Geschichte(n)

Das Schauspielerhaft-Manipulative begegnet in Jeans rhetorischer Meisterleistung der Abwendung der Meuterei am Ende des 3. Akts und deren Verwandlung in den Triumphgesang der ihm folgenden Soldaten, aber auch im Theater im Dom, mit dem Jean als prophetischer Exorzist die anscheinend besessene Fidès von ihrem Dämon heilt. In beiden Fällen steht Jean mit dem Rücken zur Wand und ist von der Übermacht der Soldaten bzw. der Menge im Dom bedroht. Die Zuflucht, die er zum Theater nimmt, ist der verzweifelte Versuch, die eigene, als von Schwäche und Ohnmacht gezeichnete Lage buchstäblich zu überspielen und durchs Überspielen die Situation zu ändern. Die schauspielerisch-manipulative Verkehrung von Schwäche und Ohnmacht in angemaßte, vermeintliche Stärke und Macht ist die profane, der Not entsprungene Magie, mit der narzisstische Führerpersönlichkeiten wie Jean ihre Anhänger verzaubern. Es macht den Reichtum an Erfahrungen und Einsichten aus, die Le Prophète bereithält, dass die Oper nicht bei diesem Bild des narzisstischen Führers stehen bleibt, um ihn zu demaskieren und zu verurteilen. Denn die Geschichte vom Aufstieg und Ende eines empathielos-machtsüchtigen Blenders ist von Anfang an verschlungen mit dem Kampf des Kindes und jungen Mannes, sich aus der toxischen Bindung an die narzisstische Mutter zu befreien. Dass ihm dies nicht gelingt, macht das fatale Ende von Jeans Karriere aus. Der uneingestandene Hass auf die Mutter verkehrt sich in den Hass auf alle anderen. Der die Fesseln zur Mutter nicht sprengen konnte, sprengt nun mit dem Schloss von Münster die ganze Welt in die Luft. Aber auch in dieser letzten Übersprungshandlung, die anstelle des Neins zur Mutter in einem erweiterten Suizid das eigene wie fremdes Leben verneint, lässt ihn die Mutter nicht los. Mit den Worten »Ich, ich habe dir verzieh’n / Lass mich sterben mit dir!« geht sie vereint mit ihm in den Tod. Die Symbiose von Mutter und Kind, von der beide nicht loskommen, ist am Ende tödlich. Le Prophète erzählt – wiederum auch – eine Geschichte, die Alfred Hitchcocks Psycho vorwegnimmt. Von vielen sozialen und psychischen Stigmata gezeichnet, wird der Protagonist von Le Prophète dennoch von keiner höheren Instanz der Oper verurteilt. Der Verurteilung wirkt eine schwache Stimme entgegen, die am Ende der Traum-Erzählung des 2. Akts zu vernehmen ist. Hinweggerissen von den Fluten Satans, ausgeliefert seinen Blitzen und mit lauter Stimme dreimal verflucht, hört Jean aus der Tiefe ein banges Flehen: »Clémence! Clémence! Clémence!«. Die Bitte um Erbarmen in ihrer Zartheit bereitet dem ganzen Spuk der Hölle unmittelbar ein Ende. Von wem sie kommt, wird nicht gesagt. Jean würde sie

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vermutlich in Verkennung seiner Mutter zuschreiben. Der Wahrheit näher dürfte sein, dass es Jeans Stimme selbst ist, dass es die Bitte des Kindes und des Kind gebliebenen Mannes ist, die ihre Ohnmacht nicht länger kompensieren und überspielen, sondern sie einbekennen und zu ihr stehen. Das Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit und des Angewiesenseins auf Hilfe, Unterstützung und Solidarität der anderen setzt die Mechanik des Umschlags von Schwäche in angebliche Stärke außer Kraft. Damit öffnet sich ein Ausweg aus der scheinbar unaufhaltsamen Geschichte vom Aufstieg und Fall Jeans, des Schankwirts und Propheten. Der Blick aus der Perspektive dieses Auswegs auf das vermeintlich unabwendbare Geschehen unterminiert die Zielstrebigkeit einer linearen Narration und Dramaturgie der Handlung. Anstelle der Entscheidung für eine verbindliche Erzählung der Geschichte von Jean werden die unterschiedlichen Ge-Schichten sichtbar, die sich im Bild des Protagonisten eingezeichnet haben: die Geschichte des chiliastischen Sozialrevolutionärs, die Geschichte des Kindes, das von Allmacht träumt, die Geschichte eines Mutterfixierten und seines lebenslangen Kampfs mit der Mutter, die Geschichte des narzisstischen Führers einer populistischen Bewegung und die Geschichte eines Ohnmächtigen, der nach Hilfe schreit. In Meyerbeers Oper stehen diese Geschichten gleichberechtigt nebeneinander. Die Leidenschaften, die in ihnen zum Ausdruck kommen, gehen mit den Bildern, die sie vor Augen stellen, in rascher Folge ineinander über. Sie überblenden und verwandeln sich und erzeugen einen Taumel affektgeladener Bilder und leidenschaftlicher Töne. Aber im Taumel der Leidenschaften begegnet in Le Prophète zugleich Erfahrung, verstanden als Widerfahrnis des Fremden. Dass Meyerbeers Grand Opéra die Möglichkeit von Erfahrung bereithält, verdankt sich seiner szenischen Dramaturgie und der spezifischen Gestalt der Szene als Phantasmagorie.

5. Phantasmagorie. Die Szene von Le Prophète

Meyerbeer ist ein szenisch denkender Opernkomponist.79 Er hat genaue Vorstellungen von der szenischen Realisation seiner Oper. In der Partitur befinden sich exakte Beschreibungen des szenischen Geschehens, zum Teil sind Einsatz und Veränderungen von Handlung auf den Takt genau angegeben. Dennoch fallen sie relativ knapp aus im Vergleich mit den ausführlichen Bühnenanweisungen und Szenenbeschreibungen, die in Louis Paliantis Livret de mise en scène

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Phantasmagorie. Die Szene von Le Prophète

von Le Prophète enthalten sind.80 Sie halten, auf Initiative Meyerbeers81, ein halbes Jahr nach der Premiere erschienen, die Inszenierung der Uraufführung fest. An dieser Inszenierung sind, der arbeitsteiligen Produktion der Opéra entsprechend, eine Reihe von Personen verantwortlich beteiligt: neben Meyerbeer und Scribe, dem Komponisten und Librettisten Edmond Duponchel und Nestor Roqueplan für die Inszenierung, Auguste Mabille und Paolo Taglioni für die Choreographie sowie Charles Cambon, Edouard Despléchin und Charles Séchan für die Dekorationen. Was an den Aufzeichnungen und Beschreibungen von Palianti vor allem ins Auge fällt, ist ihre technische Präzision und Ausgefeiltheit. Für jede Dekoration ist ein genauer Bühnengrundriss vorhanden, in dem alle Vorhänge, Kulissen und Praktikablen im Planquadrat der Bühne eingetragen sind. Ebenso sind Stellung und Bewegung der Sänger:innen, des Chors, des Balletts und der Komparserie genau verzeichnet. Auch Größe, Umfang und Höhe der Bühnenteile sind festgehalten. Denn eine zentrale Herausforderung der Bühneneinrichtung ist es, eine stimmige Perspektive mit den richtigen Proportionen zwischen Vorder- und Hinterbühne herzustellen, auch dann, wenn die Bühne von Darsteller:innen bevölkert ist. Sie ist die Grundvoraussetzung für die Immersion der Zuschauenden in die historische Szenerie von Le Prophète: das Eintauchen in das ländlich-bäuerliche Holland mit seinen Windmühlen im 1. oder die städtische Schenke mit den tanzenden Landleuten im 2. Akt. Das tiefgestaffelte Feldlager vor Münster mit dem zugefrorenen See, über den die Schlittschuhläufer:innen Lebensmittel bringen, bedeutet eine besondere Herausforderung für die perspektivische Illusion. Die Läufer:innen wurden dafür der Größe nach in Reihen hintereinander aufgestellt, die Schlittschuhe waren nach Meyerbeers Angaben angefertigte geräuscharme Rollschuhe. Deren Hersteller vermerkt das Livret de mise en scène ebenso wie den der elektrischen Bogenlampe, der »Prophetensonne«, die am Ende des 3. Akts parallel zum Triumphgesang des Propheten und seiner Anhänger zum Einsatz kommt. Die zweite Herausforderung für die Bühneneinrichtung ist die Ermöglichung rascher Szenenwechsel bei offener Bühne. Sie fördern die Illusion eines sich wie von Zauberhand vollziehenden Übergleitens von einem Schauplatz zum anderen, ohne Unterbrechung durch das Fallen des Bühnenvorhangs, der die Illusion stört. In Le Prophète gleitet so das Ende des 1. Akts mit den erneut aufziehenden Anabaptisten und ihrem Gesang »Ad nos ad salutarem undam« bei offener Bühne über in den Tanz der Landleute vor Jeans Schenke in einer Vorstadt von Leyden.

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Im 4. Akt verwandelt sich der öffentliche Platz vor dem Rathaus in Münster, wo die Bürger:innen gerade noch laut murrten unter der Last der Abgaben, die ihnen der Prophet auferlegt hat, auf offener Szene mit einem Schlag in den Krönungszug des Propheten-Königs im Dom. Das Kellergewölbe des 5. Akts geht über in das letzte Bankett im Festsaal des Schlosses, der sich in ein Inferno aus Flammen, Rauch und Trümmern auflöst, als das in den Kellern gelagerte Pulver explodiert. Neben diesen Verwandlungen der Dekoration auf offener Bühne sind es nicht zuletzt die Übergänge von Szenen und Tableaus bei gleichbleibender Dekoration, die filmische Effekte avant la lettre bewirken. Weiter oben wurde bereits auf die rasche Abfolge von Ereignissen, Bildern und Szenen in Le Prophète hingewiesen. Sie fallen vor allem im 1. Akt mit seiner schnellen Verwandlung eines idyllisch ländlichen Morgens in einen Bauernaufstand ins Auge und fast noch mehr im 3. Akt mit seinem raschen Übergleiten von Bildern einer blutrünstigen Soldateska, von Breughel’schem Wintervergnügen, von Konspiration und Entdeckung, von Meuterei und triumphaler Heerschau. Nichts darf schiefgehen im Auf- und Abtreten der Darsteller:innen, in der Choreographie der Massen von Ballett und Statisterie, in der Verortung der Bühnenelemente und bei den Beleuchtungseffekten, damit das Gleiten der szenischen Bilder nicht durch einen Illusionsbruch gestört wird. Der technische Aufwand zur Hervorrufung der szenischen Imagination der Welt des 16. Jahrhunderts ist beträchtlich und auf der Höhe der Zeit. Zu sehen ist davon im Zuschauerraum der Salle Le Peletier allerdings nichts. Wie von Magie geschaffen sollen die Bilder dieser Welt erscheinen, ohne dass ihre Verfertigung sichtbar wird. Diese ästhetische Absicht teilt die Bilderwelt von Meyerbeers Grand Opéra mit der der Phantasmagorien, die seit Ende des 18. Jahrhunderts das Publikum der Großstädte in ihren Bann zieht. Phantasmagorien, wie sie etwa von Etienne Gaspard Robert zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Ruinen des Konvents der Kapuzinerinnen in Paris veranstaltet wurden, waren optische Spektakel zur Unterhaltung, bei denen durch eine Laterna magica Bilder von gespenstischen Sujets, Orten und Personen auf eine Leinwand geworfen wurden, ohne dass sowohl der Projektionsapparat als auch die Leinwand sichtbar waren, so dass unter Zuhilfenahme von Rauch und unsichtbaren Stimmen die unheimliche Wirkung der Präsenz von Toten und Abwesenden erzielt wurde. Das Prinzip der Phantasmagorie, die scheinbar magische Erscheinung von Abwesenden/m, ohne dass die Produktion dieser Erscheinung sichtbar wird, wurde rasch zu einem ästhetischen Idol

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des 19. Jahrhunderts, das in vielerlei Künsten und kulturellen Techniken und Praktiken Ausdruck fand: in den literarischen Utopien, im Städtebau, in der Architektur, der Weltausstellung – und in der Grand Opéra. Das Trugbild der Phantasmagorie – reines Erscheinen ohne menschliches Zutun – wurde zum Wunschbild der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. In ihm fand es seinen Selbstausdruck. Walter Benjamin, der Historiograph der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, Paris, hat den ersehnten Trugbildern eine erkenntniskritische Wendung gegeben, indem er die verborgene Geschichte der Beziehungen, in denen sie entstanden sind und in denen sie wirken, sichtbar gemacht hat. Vor ihm hat Marx den Fetischcharakter der Ware als Phantasmagorie analysiert. So wie den Trugbildern der populären Phantasmagorie-Shows das verdeckte Verhältnis von Apparat (Laterna magica) und Leinwand zu Grunde liegt, so hat Marx in der Ware und ihrem Tauschwert die ungleiche Beziehung zwischen den abhängig Arbeitenden und Kapitalherrn gesehen, die sich in ein Ding, die Ware, verzaubert hat.82 Ein »bestimmte[s] Verhältnis der Menschen selbst« so Marx, nehme »hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen«83 an. Von Marx’ Analyse des Fetischcharakters der Ware aus ist Walter Benjamin den Spuren der verschwundenen Verhältnisse zwischen den Menschen in den warenförmigen Phantasmagorien von Paris nachgegangen. Mit dem doppelten Blick auf die Phantasmagorie sowohl als Trugbild als auch ein ins Dingliche verzaubertes Verhältnis von Menschen kann die Szene der Grand Opéra erneut gelesen werden. Die Fülle der detailgetreu beschriebenen Requisiten, all der Banner, Fahnen, Speere, Lanzen, Hellebarden, Brustgehänge, Kissen, rituellen Gefäße, Baldachine, Trommeln, Fanfaren, edlen Ketten und jeder Art von Geschmeide ebenso wie die bunte Pracht der Kostüme aus allen Schichten, Klassen und Berufsständen, die Helme mit Federbüschen, die goldenen Brustpanzer, kirchlichen Ornate und meterlangen Schleppen, das Funkeln der Kleider in Samt und Seide verwandeln die Bühne der Opéra in eine große Warenschau des Luxus und der Moden. À la dernière mode: historische Kostüme und Accessoires! Die Liebesblicke aber, die die auf der Szene ausgestellten Waren nach Marx den Käufern zuwerfen, sind die der Zuschauenden selbst. Ihr Begehren richtet sich auf die Macht (eines Kaisers, Königs, Hohen Rats etc.), die sich mit Luxuswaren ausstaffiert, als hätten die Geschäfte der Passagen von Paris ihr Sortiment auf der Szene der Opéra ausgekippt. In der historistischen Welt der Grand Opéra zeigt sich die Warenförmigkeit der Macht. Nicht längst Vergangenem wendet sich die Liebe

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des Publikums zu, sondern dem aktuellen Warencharakter der Macht in der historischen Staffage. Das ist die Phantasmagorie, die die Zuschauenden der Grand Opéra in ihren Bann zieht. Verschwunden ist darin das menschliche Verhältnis, das sich im Begehren der Macht vergegenständlicht hat. Es ist die menschliche Geschichte des revolutionären Enthusiasmus, seiner Enttäuschung, Verdrängung und Wiederkehr als Begeisterung für die Macht, es ist die menschliche Verkehrung von uneingestandener Ohnmacht in angemaßte Macht, die im dinglichen Glanz der magischen Erscheinungen verschwunden ist. Wie kann es der Szene der Grand Opéra, wie kann es der Szene von Le Prophète gelingen, den Bann der Phantasmagorie zu brechen, wie die verschwundene Geschichte wieder(zu)holen? Und wie kann es gelingen, die im Trugbild an die Macht gefesselten Leidenschaften zu befreien? Die Antwort darauf ist einfach: Gebrochen werden kann der Bann der Phantasmagorie nur durch die Phantasmagorie selbst, durch ihre Steigerung und Überbietung. Viele Künste wirken in der Grand Opéra zusammen, um den Effekt der Phantasmagorie zu erzielen. Um die Bilder des ländlichen Holland im 16. Jahrhundert oder der Täuferstadt Münster »auferstehen« zu lassen und die Illusion eines damaligen Geschehens »glaubhaft« zu machen, müssen in Le Prophète die historistischen Bühnenbilder und Kostüme, das musikalische Kolorit, der Tanz sowie das stumme Spiel und die Gesten, Bewegungen und Handlungen der Sänger-Schauspieler:innen zusammenwirken. Dabei entfalten die einzelnen Künste jedoch einen Eigensinn, der der Spannung zwischen ihrem aktuellen ästhetischen Repertoire und dem der geschichtlichen Zeit geschuldet ist. So bleiben die bühnenbildnerischen Imaginationen des 16. Jahrhunderts der Idee des Malerischen verhaftet, einem Leitbegriff der Malerei seit der Zeit um 1800. Entworfen sind sie nach den Historienbildern der Romantik, durch die hindurch das 19. Jahrhundert auf die Vergangenheit blickt. In den Kostümen verbindet sich die Orientierung an historischer Detailgenauigkeit mit dem zeitgenössischen Wunsch nach Pracht und Größe. Sie sind in der Drapierung des Faltenwurfs, in der fließenden Umhüllung der Gestalt und im überhöhenden Kopfschmuck darauf angelegt, ein überlebensgroßes Bild des Körpers zu entwerfen, das mehr erwünschten Fantasy-Gestalten, ja Avataren des Selbst gleicht als den historischen Figuren, die dargestellt sein sollen. Hinzu kommt, dass die Schauspielkunst der Sängerinnen und Sänger ganz dem Stil der Zeit entspricht. Edel in ihrer Haltung, natürlich in der Gestik, wie Hector Berlioz es Adolphe Nourrit und Cornélie Falcon,

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den Sängerstars von Les Huguenots attestiert,84 heißt übersetzt, dass vor der Grundhaltung sängerischer Selbstrepräsentation ein gestisches Spiel zu sehen ist, das sich nach wie vor an Johann Jacob Engels Ideen zu einer Mimik (1785)85, an Gilbert Austins Chironomia, or a Treatise on Rhetorical Delivery (1806)86, vor allem aber an den melodramatischen Attitüden orientiert.87 Zu sehen sind also Sängerinnen und Sänger, die teils als Models im historischen Kostüm posieren, zum andern Teil in einer Gestensprache agieren, die dem 16. Jahrhundert fremd gewesen wäre. Besonders interessant ist, wie Meyerbeer sich kompositorisch mit der Forderung nach couleur locale und historischem Kolorit auseinandersetzt. In Les Huguenots hat er auf den protestantischen Choral »Ein feste Burg ist unser Gott« zurückgegriffen, der die Oper als Grundund Erkennungsmelodie eröffnet und im 5. Akt in Auflösung und Zerstörung endet. Für Le Prophète hat Meyerbeer mit dem Aufruf der Anabaptisten »Ad nos ad salutarem undam« einen liturgischen Gesang im Stil des 16. Jahrhunderts nachgeschaffen. Eine historische Reminiszenz ist auch die Händel nachgebildete Hymne Jeans »Roi du ciel et des anges« am Ende des 3. Akts, die das religiös-ekstatische Potential der Oratorien ausschöpfen soll. Da die Oper in ihrer expressiven Stimmführung ganz zeitgenössisch gegenwärtig ist, ist man versucht, in diesen und anderen musikalischen Wiederholungen älterer kompositorischer Formen von Zitaten oder musikalischen Gesten zu sprechen, die die Vergangenheit in die Gegenwart einführen. Wie sehr die angeblich historistische Oper in der Alltagswelt und im Lebensgefühl der Zeitgenoss:innen verankert ist, offenbart die Tanzmusik in den Balletten der Opern von Meyerbeer. Stephanie Schroedter hat dokumentiert, in welch hohem Maß Meyerbeer die Tanzkompositionen an den Tanzmoden der Ballhäuser und Tanzvergnügungsstätten von Paris ausrichtet, wie er die Melodien und Tänze, die dort en vogue sind, aufgreift und bearbeitet.88 Es sind demnach entgegengesetzte Tendenzen, die aus dem Zusammenwirken der Künste zur Schaffung einer augmented reality der Phantasmagorie entstehen. Dem Zug nach einer ästhetisch-historistischen Einbildung wirken das Outriert-Theatralische von Kostümen, Gesten und Haltungen sowie die kompositorische Gegenwärtigkeit und gestische Zitation historischer Musikstile entgegen. Diese transmedialen Verwerfungen auf der Szene der Grand Opéra bewirken, dass die Phantasmagorie des 16. Jahrhunderts als bloßes Theater sichtbar wird. Ein Theater, veranstaltet von heutigen Sängerinnen und Sängern im Habitus der Selbstdarstellung in Kostümen, Hüten, Perücken und Waffen, die nach gestern aussehen sollen und mit den übertriebenen

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Gesten, die das Pathos vergangener Gestalten beglaubigen sollen, kritisch beäugt von einem Publikum, das sich ebenso am Auftauchen fremder Welten wie an der Wiedererkennung der eigenen musikalisch-ästhetischen Lebenswelt delektiert. Die Phantasmagorie des ästhetischen Historismus wird auf der Szene der Grand Opéra als ein Theater der Wiederholung erfahrbar. Das Hervortreten des theaterhaft Gemachten und Theatralischen unterbricht das Eintauchen in die phantasmagorischen Bilderwelten. Die Einsicht in die unvermeidliche Übertreibung der theatralen Wiederholung schreibt dem Pathos der Tragödie die Züge der Farce ein. Tragödie und Farce bilden, wie an Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte gezeigt, ein Paar. Das gilt auch für das Musiktheater im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts.89 Die Anstrengungen der Sänger-Darsteller:innen, der Tänzer:innen und des Chors, vom Boden der zeitgenössisch-urbanen Unterhaltungskultur aus ein tragisches Geschehen des 16. Jahrhunderts glaubhaft zu machen, entbehrt durchaus nicht der Komik. Dies umso mehr, als die Protagonist:innen der Oper keinesfalls dem Personenstand der Tragödie angehören und man die Machtergreifung des Schankwirts mit einigem Recht auch im Framing von (z. T. blutigen) Komödien wie Le Bourgeois Gentilhomme, Ubu Roi oder Arturo Ui lesen könnte.90 Die Erfahrung der Phantasmagorie als tragisch-farcenhaftes Theater der Wiederholung bricht den Bann, der das Begehren und die Leidenschaften der Menschen an die vorgegaukelte Macht fesselt. Die Phantasmagorie wird dadurch jedoch nicht entwertet und beiseitegeschoben. Sie behält den ganzen sinnlichen Reiz und geistig-geschichtlichen Gehalt der durch sie heraufbeschworenen Bilder und Szenen. Die vom Bann der Macht befreiten Trugbilder der Grand Opéra lösen auch Geist und Sinne des Publikums aus der Fixierung, setzen sie in Bewegung und schicken sie auf eine erneute Reise durch die Bilder- und Affektwelten der Oper.

6. Taumel der Leidenschaften. Affekt-Gemeinschaft unter Fremden

Zu den besonderen Effekten der von der Laterna magica hervorgerufenen phantasmagorischen Erscheinungen gehört das Übergleiten und die Verwandlung der Bilder. Dass etwas nicht ist, was es zu sein scheint, sondern sich als unerwartet anderes erweist, stattet die Phantasmagorie mit dem Reiz des Unbekannten und der Faszination des Unheimlichen aus. Die Dramaturgie der Szenen und die bühnentechnische Ausstattung von Le Prophète sind wie beschrieben ganz

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darauf ausgelegt, das Ineinandergleiten der Bilder zu ermöglichen. Verwandlungen zwischen den Akten und Halbakten auf offener Szene, sukzessive Formierungen und Umformierungen der Szenerie von Sänger-Darsteller:innen, von Chor, Ballett und Komparserie innerhalb einer Aktdekoration sorgen für eine ständige Bild-Bewegung. Die aber ist nicht gleichförmig und auf eine kontinuierliche Entwicklung aus, sondern durch dramaturgische Einschnitte strukturiert. Die Kontrastdramaturgie der Grand Opéra sieht vor, dass die Abfolge der Szenen dem Gesetz des größtmöglichen Gegensatzes von Leidenschaften, Situationen und Wendungen der Handlung gehorcht. Was sich bisweilen nur in einem äußerlichen Effekt erschöpft, sieht sich in Meyerbeers Le Prophète durch die strikte Durchmotivierung von Handlung und Figuren mit inhaltlicher Bedeutung aufgeladen und mit (auch unbewusstem) Sinn erfüllt. Dabei spielt die oben beschriebene Vielschichtigkeit der Handlung eine entscheidende Rolle. Meyerbeer und Scribe erzählen die Geschichte vom Aufstieg und Fall Jean von Leydens aus unterschiedlichen Perspektiven: der des chiliastisch-prophetischen Sozialrevolutionärs, des ohnmächtigen Kinds, der des Kampfs mit der Mutter, der des narzisstisch-populistische Führers. Das unterminiert die lineare Handlung und den Glauben an die eine verbindliche dargestellte Realität. Deshalb können die einzelnen Bilder und Szenen so ineinander umschlagen, dass gleichsam auf der Stelle und im selben Raum unterschiedliche Narrations- und Realitätsschichten in Kontakt treten. Das prägnanteste Beispiel dafür ist die Szene der Krönung im 4. Akt. Zunächst kehrt im Pomp des Krönungszugs durch die Melodie des Kinderchors die Erinnerung an den Kindeswunsch nach Omnipotenz in der Traumerzählung des 2. Akts wieder. Dann kippt die Szene auf offener Bühne von der Haupt- und Staatsaktion ins Private und Intimste durch den Aufschrei von Fidès, die im Propheten ihren Sohn erkennt: »Mon fils!«. Die Unterbrechung der Krönungszeremonie durch die parola scenica91 der Mutter bewirkt, dass das Bild des Propheten-Königs mit dem Bild des jungen Mannes überblendet wird, der mit der Mutter um seine Unabhängigkeit kämpft. Solche Unterbrechungen, die sich, lange vor Bertolt Brecht und Walter Benjamin, bei Meyerbeer der mehrfach motivierten Kontrastdramaturgie verdanken, ermöglichen die Überlagerung von Szenen in einem virtuellen Raum, der der Logik der fortschreitenden Handlung entzogen ist. Dieser Raum wird durch die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Bilder bestimmt. Das heißt, Szenen, die in der Handlung zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden, sind im virtuellen Raum gleichzeitig präsent. Die Logik, nach der sie

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sich verbinden, ist die der Attraktion des Fremden. Fremd ist, was aus der sinnstiftenden Kontinuität der Handlung und der Gemeinschaft der aufeinander folgenden Bilder gefallen ist. Das vereinzelte, dem Ganzen fremd gewordene Bild sucht Anschluss an andere vereinzelte, fremde Bilder. Das Verhältnis, in dem sie als Fremde unter Fremden stehen, ist von der Anziehungskraft des Ähnlichen und der Faszination des Unähnlichen bestimmt. Es hält die Bilder untereinander in einer Schwebe, in der sich Nähe und Ferne, Eigenes und Fremdes, Vertrautes und Unheimliches in wechselnden Konstellationen begegnen und ineinander übergehen. So kann sich im virtuellen Raum von Le Prophète das Bild des über der dörflichen Landschaft thronenden Schlosses des Feudalherrn Oberthal überblenden in die Trümmer des von der Explosion zerstörten Schlosses von Münster. So können die Bilder der revoltierenden Bauern, der zum Angriff entschlossenen Soldaten, der unter der Herrschaft des Propheten stöhnenden Bürger:innen und der feierlichen Menge im Dom ineinander übergehen. So kann das Bild des sprachlos-ohnmächtigen Jean, der gerade seine Geliebte für die Mutter ausgeliefert hat, sich mit dem des Propheten-Königs verbinden, der die Mutter auf die Knie und zur Verleugnung ihrer Mutterschaft zwingt. Die erste Vorstellung von Berthe, die froh darüber ist, dass Jean sie, die mittellose Waise, zur Braut nehmen will, und die sich ganz der Führung durch die Schwiegermutter anvertraut, kann neben die Bilder der Rächerin und Selbstmörderin treten. Ein breites Spektrum von Mutterbildern von der Bettlerin bis zur Richterin an Gottes statt bieten schließlich die Auftritte von Fidès. Unzählige Möglichkeiten immer anderer Konstellationen eröffnen sich durch die gleichzeitige Überlagerung ungleichzeitiger Szenen im virtuellen Raum. Die Anziehungskraft des Fremden, die sie in Bewegung hält, verhindert die Fixierung auf eine Wahrheit der Geschichte und provoziert immer neue Einsichten. Sie stehen gleichberechtigt und gleich gültig nebeneinander. Damit entziehen sie jeder angenommenen Identität und jedem moralischen Urteil von einem selbstgewissen festen Standpunkt aus den Boden. Stattdessen fördern sie eine Beweglichkeit des Denkens und Fühlens, die sich nur in der Begegnung mit dem Fremden erhält. Fremd sind vor allem die Leidenschaften, die in den vereinzelten und doch gleichzeitig versammelten Bildern pulsieren. Befreit aus der mäßigenden Einbindung in eine kontinuierliche Erzählung entfalten sie eine gestische Energie, die sich aus der Unterbrechung des Sinnzusammenhangs der Handlung speist. Als Fremde begegnen sich nun die sentimentale Beschwörung eines idyllischen Lebens in der

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Taumel der Leidenschaften. Affekt-Gemeinschaft unter Fremden

Pastorale von Jean und die Mordlust des Chors »Du sang!«, die naive Pietät des Kinderchors mit den düsteren Bässen der anabaptistischen Verschwörer oder die heiter-tänzerischen Wendungen des Redowa der Schlittschuhläufer:innen mit der hochdramatischen Rachearie der Fidès im Dom, um nur einige Beispiele möglicher Treffen unter Fremden aufzuführen. Mit dem Gleiten der Bilder im virtuellen Raum geraten auch die Leidenschaften in Bewegung. Ohne eine handlungsmotivierte moralische Verortung, die ihnen Halt geben könnte, fangen sie an zu taumeln. Im Taumel der Leidenschaften, den die phantasmagorische Überblendung der Bilder auslöst, werden auch die Zuschauenden und Zuhörenden vom Taumel der Gefühle erfasst. Nichts bleibt hier an seiner ursprünglichen Stelle, alles sicher Geglaubte und Vertraute wird ungeheuer und ungewiss. Im Taumel affektgeladener Bilder und leidenschaftlicher Töne geht die moralische Wertung unter, die Richtschnur für den Umgang mit den Leidenschaften war. Aber im Taumel der Leidenschaften begegnet in Le Prophète zugleich Erfahrung, verstanden als Widerfahrnis des Fremden. Überwältigt von deren unmittelbarer Wirkung bleibt denen, die den Affekten ausgesetzt ist, nur die temporäre Anverwandlung an die jeweils dominierende Leidenschaft. Die Haltung der Anverwandlung aber zielt auf die somatische und intellektuelle Erfahrung, ja Widerfahrnis der Kraft und Energie fremder Leidenschaft, ohne mit dieser eins zu werden und zu verschmelzen. Der vollständigen Verwandlung durch identifizierende Einfühlung wirken in Le Prophète die harten Kontraste und Brüche im Gleiten der Bilder entgegen. Sie unterbrechen den Zug zur Einswerdung, der von den einzelnen Bildern ausgeht. Mit der Unterbrechung (in) der Anverwandlung öffnet sich ein Abstand zum Zustand purer Überwältigung und eine Reflexionsreserve, die Einsicht möglich macht. Voraussetzung dafür ist die Erfahrung und das Eingeständnis eigener Ohnmacht. Sie grundiert, so man nur zu sehen und zu hören vermag, die prächtigen Bilder von Reichtum, Größe und Macht. Ihre Stimme, in der Traumerzählung manifest vernehmbar, durchzieht und kommentiert seitdem unhörbar alle szenischen Exaltationen. Diese Erfahrung wirkt dem Sog entgegen, Schwäche in vorgebliche Stärke umzumünzen und sich mit der Macht gemein zu machen. Die Unterbrechung dieser Reaktionsbildung befreit die Leidenschaften aus der Bündelung und Fesselung an die Macht. Sie ermöglicht es, sich der ganzen Vielfalt an Leidenschaften in Le Prophète anzuverwandeln: Ich/triumphierender König, Ich/Rächerin, Ich/sentimental Liebender,

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Ich/empörter Rebell, Ich/flehende Mutter, Ich/lüsterner Zwingherr, Ich/finsterer Verschwörer, Ich/kleines Kind und so fort. Nicht Einfühlung und Einswerdung sind damit intendiert, sondern die Erfahrung einer Korrespondenz zwischen dem Fremden und dem Eigenen. Sie lässt das vermeintlich Eigene fremd werden und im Fremdgeglaubten die vertrauten Züge des Eigenen erkennen. In der Anverwandlung wird die Grenze zwischen der eigenen und der fremden Leidenschaft durchlässig. Beide existieren nicht mehr als geschlossene Gestalt. In der Anverwandlung an fremde Leidenschaften innerhalb und außerhalb des Ich sind die Zuschauenden und Zuhörenden zugleich bei sich und außer sich. Vielfältig geteilt durch die Vielfalt der Leidenschaften teilt jede und jeder diese Vielfalt der Teilung mit den anderen Zuschauenden und Zuhörenden. Im Taumel der Affekte in Giacomo Meyerbeers Le Prophète ist eine geteilte Gemeinschaft fremder Leidenschaften im Werden. Wer sich ihr öffnet, der kann sich von einer Leidenschaft fürs Fremde affizieren lassen. Geteilt mit anderen in einer Affekt-Gemeinschaft unter Fremden würde sie zum Triebgrund eines neuen Enthusiasmus und eines »gemeinsamen Erscheinens«92 in einer anderen Revolution.

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Endnoten 1 Marx/Engels: [Manifest der kommunistischen Partei]«, in: dies.: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 1, Berlin 1951, S. 17 – 57, hier S. 28. 2 Honoré Daumier veröffentlichte seine Karikaturen zu Beginn der 1830er Jahre in der Wochenschrift La Caricature und danach in der Tageszeitung Le Charivari. Sein berühmtestes Bild aus dieser Zeit ist Gargantua, das den König Louis Philippe als fressendes und saufendes Monster zeigt, das mit seiner Riesenzunge die Bürger:innen verschlingt. Es brachte Daumier eine Haftstrafe von einem halben Jahr Gefängnis ein. 3 Gleichwohl blieb der »Judeneid«, der jüdische Menschen in Rechtsstreitigkeiten mit Nichtjuden auf die Anerkennung christlicher Rechtsvorstellungen verpflichtete, in Frankreich bis 1846 in Kraft. Unberührt von den liberalen Ansätzen zur Gleichstellung bleibt der durchgängige Antisemitismus in der französischen Gesellschaft. Siehe dazu: Hallman, Diana R.: Opera, Liberalism and Antisemitism in Nineteenth-Century France, Cambridge 2007. 4 Siehe dazu Lacombe: »The ›machine‹ and the state«, S. 22 f. 5 Gerhard: Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts. 6 Vgl. Hervé: »The ›machine‹ and the state«, S. 24 f. 7 Véron, Louis-Désiré: Mémoires d’un bourgeois de Paris comprenant la fin de l’Empire, la Restauration, la Monarchie de Juillet, et la République jusqu’au rétablissement de l’Empire, Bd. III, Paris 1856, S. 178 f. »Eine Oper in fünf Akten braucht unbedingt eine hochdramatische Handlung, die die großen Leidenschaften des menschlichen Herzens zusammen mit geschichtlichen Mächten und Interessen ins Spiel bringt. Die Handlung muss sich dabei den Augen unmittelbar verständlich wie die Choreographie eines Balletts abspielen. Die Chöre sollen eine leidenschaftliche Rolle spielen, sie gehören sozusagen zu den interessantesten Figuren des Stücks. Jeder Akt muss Kontraste bieten, in den Dekorationen, den Kostümen und vor allem in den geschickt vorbereiteten Situationen.« (Übersetzung G. H.) 8 Zum Apparat der Opéra, der Grands Opéras produzierte, siehe im Folgenden: Hervé: »The ›machine‹ and the state«. 9 Zum Kernbestand an Grands Opéras zählen La Muette de Portici (1828) von Daniel-François-Esprit Auber, La Juive (1835) von Fromental Halévy, Robert le Diable (1831), Les Huguenots (1836), Le Prophète (1849) und L’Africaine (1865), alle von Giacomo Meyerbeer. 10 Véron: Mémoires d’un bourgeois, ebd. »Ich wage zu behaupten, dass M. Scribe von allen Dramatikern am besten verstanden hat, was die Oper ausmacht.« (Übersetzung G. H.) 11 Adorno, Theodor W.: [Bürgerliche Oper], in: ders.: Schriften, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1998, S. 24 – 39, hier S. 29. 12 Siehe dazu Henze-Döhring, Sabine/Döhring, Sieghart: Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra. Eine Biographie, München 2014. 13 Zum Antisemitismus Wagners und seiner rhetorischen Vernichtungsstrategie gegenüber Meyerbeer siehe Fischer, Jens Malte: »Das Judentum in der Musik«. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2000 und Henze-Döhring/Döhring: »Meyerbeer und Richard Wagner«, in: dies.: Giacomo Meyerbeer, S. 143 – 154. 14 Walter Benjamin berichtet darüber in: Benjamin, Walter: [Über den Begriff der Geschichte], in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 691 – 704, hier S. 702. Siehe auch: Klein, Stefan: »Die Entmachtung der Uhren«, in: DER SPIEGEL, 29. Dezember 1997, S. 92 – 101. 15 Koselleck, Reinhart: »Einleitung«, in: ders./Brunner, Otto/Conze, Werner (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV; Décultot, Elisabeth/ Fulda, Daniel (Hrsg.): Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen, Berlin 2016. 16 Blumenberg, Hans: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner, Frankfurt a. M. 1976.

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I Grand Opéra 17 »[L]es progrès de la raison humaine ont préparé cette grande revolution, et c’est a vous qu’est spécialement imposé le devoir de l’accélérer.« de ­Robespierre, ­Maximilian Marie Isidore: [Sur la Constitution], in: ders.: Oeuvres Complètes, Bd. 9, hrsg. v. Marc Bouloiseau u. a., Paris 1958, S. 495. Die Erfahrung einer Beschleunigung der Zeit ist auch der Ausgangspunkt von Maria Birbilis Abhandlung: Die Politisierung der Oper im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014. 18 Kant, Immanuel: [Der Streit der Fakultäten], in: ders.: Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XI, Frankfurt a. M. 1964, S. 357, 361. 19 Ebd., S. 359. Kant hat dem Affekt nicht ganz getraut. Weil er Leidenschaft ist, verdiene er Tadel per se, den aber der Zug des Enthusiasmus ins Idealische wieder wett macht. 20 Siehe Koselleck: [›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien], in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 349 – 375. 21 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Phänomenologie des Geistes, Berlin 1970, S. 331. 22 Hegel: [Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte], in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12, 1837/40, S. 529. 23 François Guizot, dem Minister des Bürgerkönigs Louis Philippe zugeschriebenes Zitat, das den Zeitgeist der Epoche artikuliert. 24 Hegel: Ästhetik, hrsg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 2, Berlin/Weimar 1976, S. 566. 25 Zu dieser Wendung zur Geschichte gehören auch die Versuche zur Restauration, wie sie etwa in Adam Müllers politisch-romantischer Verklärung des mittelalterlichen Ständestaats und anderen Versionen des vormodernen romantischen Antikapitalismus anzutreffen sind. 26 Dabei geht es auch um die Schreibung einer Nationalgeschichte der (noch) nicht geeinten deutschen Nation. In der noch jungen Germanistik etwa konzentriert sich das Interesse auf die poetischen Artefakte des Mittelalters, die eine Kulturgeschichte der deutschen Nation begründen sollen. Beispielhaft dafür kann die zweite Wiederentdeckung des Nibelungenlieds 1806 nach der Niederlage Preußens gegen Napoléon stehen. 27 Siehe Fulda, Daniel: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860, Berlin 1996; White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im neunzehnten Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991 (zuerst in englischer Sprache 1973). 28 Vgl. Schlaffer, Hannelore/Schlaffer, Heinz: Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt a. M. 1975. 29 Zur Genese der Figur der Verlebendigung im 18. Jahrhundert siehe Heeg, Günther: »Reenacting History: Das Theater der Wiederholung«, in: ders./Braun, Micha/Krüger, Lars/Schäfer, Helmut (Hrsg.): Reenacting History. Theater & Geschichte, Berlin 2014, S. 10 – 39. 30 Zum Geschichtsbild siehe Heeg: Das transkulturelle Theater, Berlin 2017; Ebbrecht, Tobias: »Die Liebe zum Bild. Nostalgie, Fetisch, Dialektik. Das Bild in der Erinnerungskultur«, in: Extrablatt (Mai 2019), S. 13 – 19; Hensel, Andrea: Die Verwandlung der Bilder. Karl Friedrich Schinkels Bühnendekorationen, Weimar 2021. Zur historischen Einbildungskraft in der Grand Opéra siehe Hibberd, Sarah: French Grand Opera and the Historical Imagination, Cambridge 2009; Newark, Cormac: Staging Grand Opera. History and the Imagination in NineteenthCentury Paris, Oxford 1999. 31 von Brühl, Karl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern zu Berlin unter der Generalintendanz des Herrn Grafen von Brühl, Berlin 1819 – 1831, Vorwort o. S. 32 Vgl. Hensel: Die Verwandlung der Bilder. 33 Hugo, Victor: [Préface de Cromwell], in: ders.: Oeuvres Complètes, Bd. 12, hrsg. v. Jean-Pierre Reynaud, Paris 2002, S. 19 f. (»Man beginnt heute zu erkennen, dass die genau wiedergegebene Örtlichkeit eines der wichtigsten Elemente des Wirklichen ist. Es sind nicht allein die sprechenden oder handelnden Personen, die im Geist des Zuschauers ein getreues Bild der Ereignisse entstehen lassen. Der Ort, an dem ein grauenvolles Ereignis stattgefunden hat, wird zu einem schrecklichen und davon untrennbaren Zeugen, zu einer Art von stummem Mitspieler, dessen Abwesenheit die großartigste historische Szene unvollständig erscheinen lassen muss« (Übersetzung G.H.)).

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Endnoten 34 Siehe Braun/Heeg/Krüger u.a. (Hrsg.): Reenacting History, Berlin 2014. 35 Schiller, Friedrich: [Schillers Gespräche], in: Blumenthal/Lieselotte, von Wiese/ Benno (Hrsg.): Schillers Werke, Bd. 42, Weimar 1967, S. 385. 36 »Collection de mises en Scène, rédigée et publiée par M.L. Pallianti«, in: H. Robert Cohen (Hrsg.): Original Staging Manuals for Twelve Parisian Operatic Premieres, New York 1990. Im Fall von La Juive sind die Inszenierungsanweisungen zur Uraufführung, wie Arnold Jacobshagen gezeigt hat, nicht von Pallianti, sondern von Louis Duverger. Siehe: Jacobshagen, Arnold: »Oper als szenischer Text: Louis Palliantis Inszenierungsanweisungen zu Meyerbeers Le Prophète«, in: Brzoska, Matthias/Jacob, Andreas/Strohmann, Nicole K. (Hrsg.): Giacomo Meyerbeer: Le Prophète. Edition – Konzeption – Rezeption, Hildesheim 2009, S. 181 – 212. 37 Siehe Jacobshagen: »Oper als szenischer Text«, S. 201 f. 38 Carus, Carl Gustav: »Bühnenkunst im Jahr 1835«, in: Denkwürdigkeiten aus Europa, mitgeteilt von Carl Gustav Carus, zu einem Lebensbild zusammengestellt von Manfred Schlösser, Hamburg 1963, zit. n. Staatsoper Stuttgart (Hrsg.): Fromental Halévy: La Juive. Programmheft, Stuttgart 2008, S. 38 – 41, hier S. 39 f. 39 Le Brun, Charles: Caractères des passions, Paris 1698. 40 Engel, Johann Jacob: Ideen zu einer Mimik, Erster/Zweyter Theil, Berlin 1785/86. Neudruck in einem Band, Darmstadt 1968; Sauder, Gerhard: Empfindsamkeit, Bd. I Voraussetzung und Elemente, Stuttgart 1974; Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2000. 41 Siehe Žižek, Slavoj: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Vogl, Joseph (Hrsg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 133 – 164. 42 Die sich im Anschluss auf dem Floß der Medusa abspielende Katastrophe kehrt wieder in Géricaults Gemälde Das Floß der Medusa. 43 Libretto von Etienne de Jouy und Hippolyte Bis. 44 Das Libretto zu La Muette de Portici stammt von Scribe und Germain Delavigne. 45 Auch die zu späte Offenbarung Éléazars gegenüber dem Brogli, Rachel, die auf dem Höhepunkt des Pogroms gerade in einen Kessel mit kochendem Wasser stürzt, sei in Wahrheit, seine, des christlichen Kardinals Tochter, die der Jude Éléazar gerettet und an Kindes Statt angenommen hat, fällt unter diese Kategorie, der durch Verkennung bewirkten. 46 Das Satyrspiel zu dieser tragischen Verkennung ist die Augenbinde, die Raoul am Ende des 1. Akts angelegt wird, um der Königin heimlich zugeführt zu werden. Zum Stilbruch, die solch ein Umgang mit dem Helden-Tenor der Opéra (drame tragique) bedeutet, siehe Gerhard: »Tragödie mit den Mitteln der Farce. Stilbrüche und Gattungsmischung in Meyerbeers Les Huguenots und anderen Opern aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts« in diesem Band. 47 Dem Führer des Aufstands der Fischer in Neapel, Masaniello in La Muette de Portici, geht es darum, die Vergewaltigung seiner Schwester zu rächen. 48 Beide sind zugleich in die Liebesintrige mit eingebunden. Nélesku liebt heimlich Sélika. Don Pédro ist der (ungeliebte) Mann von Inès, die diesen nur geheiratet hat, um Vasco aus dem Gefängnis freizubekommen. 49 Schütze, Stefan: »Über die Stumme von Portici«, in: Caecilia 12, (1830), S. 29 – 34, hier S. 33, zit. n. Gerhard: Die Verstädterung der Oper, S. 120. 50 Gerhard: Die Verstädterung der Oper, ebd. 51 Vgl. ebd., S. 170 ff. 52 Die Formulierung findet sich in Kluges Film Die Macht der Gefühle von 1983. Alexander Kluge hat sie von Werner Schroeter übernommen. 53 Marx: [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte], S. 316. 54 Ebd., S. 226. 55 Im Weiteren folge ich den Ausführungen zu Marx in Heeg: »Reenacting History: Das Theater der Wiederholung«, in: Braun/Heeg/Krüger/Schäfer: Reenacting History, S. 10 – 39. 56 Marx: [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte], S. 226. 57 Rosenberg, Harold: »The Resurrected Romans«, in: ders.: The Tradition of the New, New York 1960, S. 154 – 177, hier S. 156.

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I Grand Opéra 58 Marx: [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte], S. 227. 59 »Aber unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des Bürgerkriegs und der Völkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen.« Ebd. 60 Ebd., S. 236. 61 Ebd., S. 227. Die Ursprungsferne und Sekundarität der Wiederholung ermöglicht, mit 62 Kierkegaard gesprochen, ein Erinnern »nach vorwärts«. 63 Marx selbst versucht, Geschichte als Theater der Wiederholung allein den kurzatmig-ekstatischen bürgerlichen Revolutionen zuzuschreiben. Seine Ausführungen zum Vorgehen der proletarischen Revolution im Gegensatz dazu bleiben aber kryptisch bzw. lassen sich als eine unendliche Reihe von Wiederholungen im Sinne von »Durcharbeitungen« vergangener Kämpfe verstehen. Da scheint Samuel Becketts »Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern« nicht allzu fern zu sein (Beckett, Samuel: Worstward ho. Aufs Schlimmste zu, Frankfurt a. M. 1989, S. 7). Wenn Marx die proletarische Revolution mit der Arbeit eines Maulwurfs vergleicht – »Brav gewühlt, alter Maulwurf« (Brumaire 305) –, ist die Assoziation mit Franz Kafkas rhizomatischem Der Bau nicht von der Hand zu weisen. 64 Ingo Uhlig hat die Genealogie dieses Denkens im 19. Jahrhundert im Kontext des Ereignisbegriffs von Gilles Deleuze beschrieben. Vgl. Uhlig, Ingo: Poetologien des Ereignisses bei Gilles Deleuze, Würzburg 2008. 65 Siehe Demandt, Alexander: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978; Leiteritz, Christiane: Revolution als Schauspiel. Beiträge zur Geschichte einer Metapher innerhalb der europäischamerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin/New York 1994; Lehmann, Hans-Thies: »Dramatische Form und Revolution in Georg Büchners Dantons Tod und Heiner Müllers Der Auftrag«, in: ders.: Das politische Schreiben, Berlin 2002, S. 127 – 147; Heeg: »Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution. Überlegungen zum Begriff der kulturellen Flexionen«, in: ders./Denzel, Markus A. (Hrsg.): Globalizing Areas. Kulturelle Flexionen und die Herausforderung der Geisteswissenschaften, Stuttgart 2011, S. 15 – 28. Kierkegaard: Die Wiederholung, S. 22. 66 67 Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M. 1987, S. 69 – 90, hier S. 84. 68 Meyerbeer, Giacomo: [Tagebucheintrag vom 23. Februar 1848], in: ders.: Briefwechsel und Tagebücher, hrsg. v. Heinz Becker und Gudrun Becker, Bd. IV, Berlin/New York 1985, S. 368. 69 Siehe dazu: Roberts, John H.: »Meyerbeer: Le Prophète and L’Africaine«, in: Charlton: The Cambridge Companion to Grand Opera, S. 208 – 232, hier S. 216 f. 70 Vgl. ebd., S. 214. 71 Siehe dazu: Henze-Döhring/ Döhring: Giacomo Meyerbeer, S. 193. 72 Meyerbeer: [Tagebucheintrag vom 14. Juli 1848], in: ders.: Briefe und Tagebücher, Bd. 4, a. a. O., S. 410. 73 Siehe die luzide Analyse von Gerhard: »Sprachvertonung und Gestik in Meyerbeers Le Prophète«, in: Königsdorf, Jörg/Roesler, Curt A. (Hrsg.): Europa war sein Bayreuth. Symposion zu Leben und Werk von Giacomo Meyerbeer. 29. September – 1. Oktober 2014 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, Berlin 2015, S. 231 – 236, hier S. 232, 234. 74 Vgl. Henze-Döhring/Döhring: Giacomo Meyerbeer, S. 135. 75 Siehe Birbili, Maria: »Die doppelte Frauenbesetzung in der Dramaturgie von Le Prophète: eine Quellenbesprechung«, in: Brzoska/Jacob/Strohmann (Hrsg.): Giacomo Meyerbeer, S. 213 – 230. 76 Vgl. Gerhard: Die Verstädterung der Oper, S. 223; vgl. Birbili: »Die doppelte Frauenbesetzung«, S. 213 – 230. 77 Vgl. Gerhard: Die Verstädterung der Oper, S. 245. 78 In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts reagieren die Arbeiten der Psychoanalytiker Otto F. Kernberg und Heinz Kohut auf die Zunahme narzisstischer Persönlichkeiten und Persönlichkeitsstörungen. Vgl. hierzu: Kohut, Heinz: Narzissmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt a. M. 1976; Kernberg, Otto F.:

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Endnoten Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus, Frankfurt a. M. 1978. Kohut und Kernberg stimmen in der Diagnose der narzisstischen Persönlichkeit überein. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf deren Ätiologie. Seit den neunziger Jahren ist eine Fülle von mitunter populärwissenschaftlichen Publikationen zum Narzissmus als generellem kulturellen und gesellschaft­ lichen Phänomen zu verzeichnen. 79 Jacobshagen: »Oper als szenischer Text«, S. 181 – 202. 80 Pallianti, Louis: Mise en scene Le Prophète, wieder abgedruckt in: Cohen: The Original Staging Manuals for Twelve Parisian Operatic Premieres, S. 151 – 183. 81 Meyerbeer geht es darum, ein Modell für weitere Inszenierungen zu schaffen, vor allem für Aufführungen auf Provinzbühnen. Sein Drängen auf die rasche Veröffentlichung einer Modellinszenierung unterstreicht, wie wichtig Meyerbeer die szenische Gestalt der Oper war. 82 »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaft­ liche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.« Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: ders.: MEW, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus des ZK der SED, Bd. XXIII, Berlin 1984, S. 86. 83 Ebd., S. 86 f. 84 Siehe dazu Moeckli, Laura: »›Nobles dans leurs attitudes, naturels dans leur gestes‹. Singers as Actors on the Paris Grand Opéra Stage«, in: Schaffer, Anette/ Keller, Edith/Moeckli, Laura u.a. (Hrsg.): Sänger als Schauspieler. Zur Opernpraxis des 19. Jahrhunderts in Text, Bild und Musik, Schliengen 2014, S. 11 – 40. 85 Engel: Ideen zu einer Mimik. 86 Austin, Gilbert: Chironomia or A Treatise of Rhetorical Delivery, London 1806. 87 Siehe dazu ausführlich Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt; siehe auch Schaffer: »Der bewegte Leib. Das Bild und die französische Schauspielpraxis des 19. Jahrhundert«, in dies./Keller/Moeckli u.a. (Hrsg.): Sänger als Schauspieler, S. 41 – 73. 88 Vgl. Schroedter, Stephanie: »Städtische Bewegungsräume auf der Bühne. Giacomo Meyerbeers Grands Opéras im Kontext urbaner Tanzkulturen«, in: Schaffer/Keller/Moeckli u.a. (Hrsg.): Sänger als Schauspieler, S. 151 – 185. 89 Siehe dazu den Beitrag von Gerhard: »Tragödie mit den Mitteln der Farce« in diesem Band. 90 Molière: Le Bourgeois Gentilhomme (1670), Jarry, Alfred: Ubu Roi (1896), Brecht, Bertolt: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (1941). 91 Anselm Gerhard versteht darunter »szenische Höhepunkte, in denen das Entscheidende zwar pantomimisch verdeutlicht, aber doch gleichzeitig mit gesungenen Worten unterstrichen wird, wobei die musikalische Gestaltung der gesungenen Worte so angelegt ist, dass jedem hörenden Zuschauer die besondere Bedeutung dieser Situation nicht nur ins Auge, sondern vor allem ins Ohr springt.« Gerhard: »Zugespitzte Situationen. Gestische Verständlichkeit und parola scenica in der französischen und italienischen Oper nach 1820«, in: Schaffer/Keller/Moeckli u.a. (Hrsg.): Sänger als Schauspieler, S. 111 – 123, hier S. 112. 92 Vgl. Nancy, Jean-Luc: »Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ›Kommunismus‹ zur Gemeinschaftlichkeit der ›Existenz‹«, in: Vogl, Joseph (Hrsg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 194 – 196.

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Merle Tjadina Fahrholz Ein bürgerlicher Gesellschaftsentwurf vor ­mittelalterlicher Folie Heinrich Marschners Der Templer und die Jüdin Heinrich Marschners 1829 uraufgeführte Oper Der Templer und die Jüdin gehört zu dem einst populären, heute weitgehend vergessenen Repertoire der vorwagnerianischen deutschen Romantik.1 Eine ihrer Besonderheiten ist, dass sie in vielerlei Hinsicht die Merkmale einer Grand Opéra zeigt, jedoch zu einem Zeitpunkt entstand, als Marschner die ersten Werke dieses Genres, Daniel-François-Esprit Aubers La Muette de Portici und Giacomo Rossinis Guillaume Tell, höchstwahrscheinlich nicht kannte.2 Das Stück hat eine historisierende Handlung und ist angesiedelt in einer nationalstaatlichen Krisenzeit unter Einbindung der Frage nach religiöser Toleranz. Zudem gibt es eine große Besetzung, sowohl auf der Bühne als auch im Graben, und einen Chor, der als Kollektiv dient, als Stütze der hervorgehobenen Einzelpersonen. Hinzu kommen Tableaux und ausgeprägte szenische Effekte. Anzumerken ist, dass Marschner in seinen anderen beiden zeitnah entstandenen Opern Der Vampyr und Hans Heiling mit anderen Formen experimentiert und Der Templer und die Jüdin so einen Sonderfall darstellt. Das wirft die Frage auf, welche zeitgenössisch relevanten Themen innerhalb des mittelalterlichen Settings von Marschner und seinem Librettisten Wilhelm August Wohlbrück exploriert werden. Ein paar Stichworte sollen den hierfür maßgeblichen historischen Kontext vor Augen führen: Mit der Französischen Revolution begann eine der folgenreichsten Epochen der neuzeitlichen europäischen Geschichte. Während dieser Zeit geborene Personen sollten ihr Leben in einer Gesellschaft des Umbruchs führen. Zunächst schwappten revolutionäre Ideen über die Grenzen, dann dauerten von 1792 bis 1815 die Koalitionskriege an, während derer Napoléon fast ganz Europa einnahm. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zerfiel, 1806 brach Preußen politisch und militärisch zusammen. Vorher bereits in kleineren Kreisen vorhandenes nationales Gedankengut breitete sich aus und wurde teilweise von der Obrigkeit geschürt. In Preußen kamen auch die Reformen von oben. Das Stichwort Geist von 1813 weist auf die im Nachhinein häufig glorifizierten Befreiungskriege hin, mit denen Napoléons Vorherrschaft über Europa beendet wurde. Sie mündeten im Wiener Kongress (1814/15). Dieser führte nicht, wie von

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Marschner – Wohlbrück – Scott

einigen Gruppen erhofft, zu einer nationalstaatlichen Einigung und der Schaffung eines Deutschlands. Stattdessen gab es den Deutschen Bund, der von manchen Zeitgenossen lediglich als Instrument zur Unterdrückung nationaler und liberaler Tendenzen wahrgenommen wurde. In den folgenden, auch als Restauration bezeichneten Jahren, standen sich der offensichtliche Rückzug in private Sphären und die unterschwellige Bildung von liberalen Bündnissen gegenüber. Zu Marschners Lebzeiten (1795 – 1861) fanden des Weiteren die Julirevolution von 1830 sowie die Märzrevolution 1848/49 statt. Hinzu kommt die zeitgleiche Industrielle Revolution, während derer sich tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Änderungen vollzogen. Zehn Jahre nach dem Tode des Komponisten wurde das Deutsche Kaiserreich gegründet.

1. Marschner – Wohlbrück – Scott

Heinrich Marschner war als Komponist und Dirigent hauptsächlich im Bereich Oper tätig. Er wirkte als Assistent für Carl Maria von Weber und Francesco Morlacchi an der Dresdner Hofoper von 1824 bis nach Webers Tod. Eineinhalb Jahre später ließ er sich in Leipzig nieder. 1831 erhielt er den Posten des Hofkapellmeisters in Hannover, wo er dreißig Jahre, bis zu seinem Tode blieb. Zu Leipzig hatte er jedoch zeitlebens eine besondere Verbindung, nicht zuletzt da er hier seine beiden Erfolgsopern Der Vampyr und Der Templer und die Jüdin zur Uraufführung brachte. Das Textbuch für diese beiden Werke schrieb derselbe Librettist, Marschners Schwager Wilhelm August Wohlbrück (1794/95 – 1848). Er entstammte einer Schauspielerfamilie und hat unter anderem bei der Leipziger Erstaufführung des Faust den Mephisto gegeben. Wohlbrück war ein Librettist, der das Theater durch und durch kannte und vor allem ein Gespür für die Reaktionen des Publikums hatte. Es arbeitete also ein Team zusammen, das aus der tagtäglichen Praxis kam und sich mit seinen Werken an eine spezifische Zuschauendengruppe richtete. Dieses Publikum war in ihrem Falle die mittlere Schicht des Bürgertums. Das sich etablierende Bildungsbürgertum war maßgeblich für die Entwicklung der deutschen Oper, und in seinen Reihen kam der Wunsch nach einer institutionellen und gattungsmäßigen Stabilisierung auf. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bekam die Kultur einen neuen Stellenwert, oder besser gesagt eine neue Zuschreibung.3 Zunächst betraf dies die deutsche Sprache und Literatur, später aber

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auch in besonderem Maße die Musik. Kunst und Kultur wurden zu einem wesentlichen Faktor des deutschen Selbstbewusstseins und gewannen an gesellschaftlich-politischer Bedeutung. Die Idee einer deutschen Kulturnation fungierte lange Zeit als geistig-kultureller Ersatz für ein politisch geeinigtes Land. Ein wichtiger Ort hierfür waren die Theater – und nicht von ungefähr entstanden in dieser Zeit nicht nur die Nationaltheater, sondern auch zahlreiche kommunal getragene Stadttheater, zu denen auch das Leipziger gehörte.4 Im Juli 1829 wurde es dem Hoftheater zu Dresden angegliedert. Ursprünglich sollte gleich zu Beginn die Uraufführung von Der Templer und die Jüdin stehen, sie fand jedoch erst im Dezember statt. Spitzenreiter in Bezug auf die Aufführungszahlen war in dieser Zeit die französische Oper, allen voran Auber mit La Muette de Portici.5 Direkt nach diesem Kassenschlager war 1830 Der Templer und die Jüdin die meistgespielte Oper am Theater Leipzig und wurde dort nach älteren Angaben bis 1885 124 Mal gezeigt.6 Die Gemeinsamkeit in der Popularität mag auch auf die historischen Sujets der Werke zurückzuführen sein. Aus diesem Grunde muss noch auf einen Mann eingegangen werden, der sowohl für die Entstehung der Grand Opéra als auch für Der Templer und die Jüdin maßgeblich war: Walter Scott. Der Jurist Sir Walter Scott (1771 – 1832) löste mit seinen literarischen Werken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wahre Manie aus. Obwohl Schottland seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Erscheinen der Gesänge Ossians besondere Aufmerksamkeit genoss und als vermeintlich exotischer Ort die Phantasien anregte,7 taten die Werke Scotts ein Übriges, um nicht nur die Vorstellungskraft, sondern auch den lokalen Tourismus anzukurbeln. Die Begeisterung begann 1810 mit seinem Poem The lady of the lake und sieben Jahre später erschien erstmals ein Scott-Roman in deutscher Sprache. In den 1820er Jahren brach die Mode historischer Romane vollständig aus, es entstanden regelrechte Übersetzungsfabriken. Dieses Interesse hatte einen ganz konkreten zeitgeschichtlichen Hintergrund. Mit der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen waren in ganz Europa stattfindende historische Ereignisse für jeden erlebbar geworden, was zu einem erhöhten Maß an geschichtlichem Interesse führte. Diese Aufmerksamkeit galt jedoch nicht mehr nur einzelnen Personen und ihren Taten, sondern auch der Rolle des Volkes.8 Bei Scott ist der Romanheld meist eine Nebenperson der Geschichte, die nicht historisch belegt sein muss. Das gibt dem Autor die Freiheit, dessen Leben im Rahmen des historischen Kontexts frei auszugestalten. So können das Romanhafte und die geschichtliche

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Ivanhoe und Der Templer und die Jüdin

Darstellung miteinander verbunden werden.9 Die Hauptpersonen der Scott’schen Werke sind durchschnittliche Menschen, die sich durch mittlere praktische Fähigkeiten und eine gewisse moralische Festigkeit auszeichnen, nicht aber durch Leidenschaft und Hingabe. Es sind keine Helden in dem Sinne, dass sie gute Eigenschaften im Übermaß besitzen. Stattdessen stehen sie für durchschnittliche Vertreter:innen einer Zeit oder eines Landes. Sie verursachen keine Konflikte, sondern tragen zu ihrer Lösung bei, wobei sie die Läuterung der Verurteilung der Gegner vorziehen.10

2. Ivanhoe und Der Templer und die Jüdin

Der Roman Ivanhoe ist im 12. Jahrhundert angesiedelt und handelt von der Rückkehr von Richard I. (1157 – 1199), auch bekannt als Richard Löwenherz, aus den Kreuzzügen. Während seiner Abwesenheit wurde das Land von seinem Bruder John regiert, der diese Aufgabenverteilung gerne hätte beibehalten wollen: Er schreckt nicht davor zurück, seinem Bruder gedungene Mörder entgegen zu schicken. England ist in einem desolaten Zustand und vor allem die anhaltenden Animositäten zwischen den alteingesessenen Sachsen und den Eroberern, den Normannen, bergen Probleme. Das ist der Hintergrund, vor dem sich ein vielschichtiger Roman mit Raub und Ermordung, Beinahe-Vergewaltigung, Ritterturnieren, brennenden Burgen und falschen Gerichten, Verfolgung von Außenseitern und natürlich mit diversen Liebeshändeln entfaltet. Der vielschichtige Roman ist in drei große Abschnitte gegliedert. Die Oper bezieht sich auf den zweiten und dritten Teil und hat drei Handlungsstränge. Der erste ist der titelgebende, die Geschichte zwischen dem Templer und der Jüdin. Der Tempelritter Bois Guilbert will die schöne Jüdin Rebecca als Mätresse besitzen und entführt sie. Sie weigert sich und ihr Widerstand erweckt peu à peu die Liebe des Templers. Sein Großmeister erfährt hiervon und will an der Jüdin ein Exempel statuieren. Sie soll in einem groß angelegten Prozess als Hexe angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Ihr Vergehen: die Verführung Bois Guilberts mit magischen Mitteln. Sie kann jedoch noch die Gnade eines Gottesurteils erwirken. Ein Kämpe soll für sie gegen Bois Guilbert streiten. Gewinnt er, so wird Rebecca als unschuldig erkannt, ansonsten stirbt sie. Es ist der Ritter Ivanhoe, der für sie kämpft und sie befreit. Ivanhoe ist Sachse, aber zugleich Freund von Richard Löwenherz. Er steht deshalb im Zentrum der Auseinan-

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dersetzungen zwischen Sachsen und Normannen. Das ist zugleich der zweite Handlungsstrang, in dem es darum geht, die Unruhen im Lande zu beseitigen, sowie um das Bestreben des Königs, wieder Ordnung zu schaffen. Verkompliziert – oder emotional veranschaulicht – wird das Dilemma durch eine weitere Liebesgeschichte, den dritten Handlungsstrang: ein triangle érotique zwischen der schönen Sächsin Rowena, Ivanhoe und Rebecca. Diese Liebeshändel sind für die hier behandelte Fragestellung nicht relevant. Wichtig ist jedoch, dass Rebecca allein deshalb keine Möglichkeit hat, den Ritter für sich zu gewinnen, da sie Jüdin und damit im gesellschaftlichen Selbstverständnis der Zeit eine andersartige Außenseiterin ist. Wohlbrück und Marschner stützten sich für ihre Adaption auf die deutsche Übersetzung von Leonhard Tafel.11 Vergleiche zeigen, dass ihre Bearbeitung für die Bühne weitgehend unabhängig von anderen ist. Während die großen Linien der Handlung von Der Templer und die Jüdin mit denen des Ivanhoe übereinstimmen, weicht sie in Details von der Vorlage ab. Obwohl Scotts Roman mit seinen spannungsgeladenen, dichten Geschichten, pittoresken Szenerien und zahlreichen Dialogen prädestiniert für Bühnenadaptionen zu sein scheint, erweist sich die Umarbeitung als komplex. Das Geschehen ist vielschichtig und das Personal zahlreich. Die Handelnden werden zudem von Scott scheinbar objektiv in ihrer Wesensart beschrieben, ohne innere psychologische Wandlungen. Das Geschehen zu verfolgen ist für ein Publikum, das den Roman nicht kennt, schwierig. Wohlbrück und Marschner konnten jedoch voraussetzen, dass ihre Zeitgenoss:innen den Inhalt des äußerst poulären Ivanhoe sehr gut kannten.

3. Zeitgenössisch relevante Themen im historischen Gewand

Neben der Beliebtheit des Romans gibt es einen weiteren Grund, weshalb gerade Ivanhoe zur Umarbeitung in eine romantische Oper besonders geeignet scheint: das Mittelaltersujet. Scott selbst setzte sich intensiv mit dem Mittelalter auseinander und schrieb unter anderem einen langen Essay über das Rittertum.12 Ivanhoe liest sich in weiten Abschnitten eher wie eine Abhandlung über diese Zeit als wie ein Roman. Die Epoche des Mittelalters galt per se als romantisch, und die deutsche romantische Oper entstand aus dem Geist der späten romantischen Bewegung.13 Nach 1815 fokussierte sich die Aufmerksamkeit der Romantiker:innen auf Geschichte und Tradition, auf Religion und überindividuelle Gemeinschaften. Darin spiegelt sich Sehnsucht nach

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Zeitgenössisch relevante Themen im historischen Gewand

einer, freilich idealisierten, schöneren und freieren Vergangenheit wider.14 Insbesondere das Mittelalter wurde in diesem Zuge zu einer verklärten Epoche. Während es in der Frühromantik noch überwiegend frei von politischen Implikationen war, erlebte das Mittelalterbild in den Jahrzehnten der kriegerischen Auseinandersetzungen eine zunehmende nationalgedankliche Aufladung. Es wurden die vorgebliche Einheit, Macht und Potenz des mittelalterlichen Reiches beschworen. Zunächst mischten sich liberale Gedankenzüge in diese Auffassung, vor allem das mittelalterliche gesellschaftliche Miteinander wurde positiv und als individuell frei betrachtet. Im Gegenzug entwickelten sich nach dem Wiener Kongress Mittelalterauffassungen, die sich in ihrer konservativen Ausrichtung als unterstützend für das System Metternichs sehen lassen. Die historische Epoche wurde so zu einem Gegenstand verschiedenster politischer, gesellschaftlicher und kultureller Auffassungen und Sehnsüchte.15 Für den Librettisten bietet das Mittelaltersujet die Möglichkeit einer reizvollen Grundsituation, in die sich unproblematisch die äußerst beliebten schauerlichen oder naturbezogenen Momente oder auch spektakuläre Massenszenen integrieren lassen. In der Komposition wird ebenfalls mit historisierenden Komponenten gespielt. So kommt beispielsweise Rowena auf einem weißen Zelter auf die Bühne geritten, begleitet von einer von Flöten und Tamburin geprägten Musik, die an einen mittelalterlichen Spielzug erinnert.16 Es handelt sich aber weder im Text noch in der Musik um eine historisch reale Darstellung. Stattdessen ist es eine den Vorstellungen und Wünschen des 19. Jahrhunderts angepasste unkritische Übernahme hübscher Bilder. Die historischen Umstände sind in der Oper, im Gegensatz zum Roman, nicht handlungsbestimmend, die Geschichte könnte mit kleinen Abänderungen in einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort angesiedelt werden. Es handelt sich also im Falle von Der Templer und die Jüdin lediglich um eine mittelalterliche Folie. Wichtig sind hierbei die Abweichungen von der Vorlage, die nicht dramaturgisch oder bühnenpraktisch motiviert scheinen. Diese unnötigen inhaltlichen Änderungen müssen dem belesenen Publikum aufgefallen sein. In dem Roman werden zahlreiche Themen aufgegriffen, die für die Zuschauer:innen in einer Zeit zwischen Restauration und Revolution von besonderer Bedeutung waren. Hierzu gehören Fragen gesellschaftlichen Miteinanders, zur Legitimation von Herrschaften, aber auch zur Rolle von Religion und Staat. Scott hat ein fiktives Portrait einer Gesellschaft im Umbruch gezeichnet, mit möglichen Lösungen für eine neue Zukunft. Im Operntext zeigt sich jedoch ein anderer

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Gesellschaftsentwurf – vor allem handelt es sich nicht um eine Gesellschaft im Umbruch, sondern um eine, die durch widrige Umstände aus dem Gleichgewicht geraten ist. Der Wunsch ist eindeutig: Erlangung von Stabilität. Die Oper wird so zu einer sehr spezifischen Auseinandersetzung mit zeitgenössisch relevanten Fragen, die sich an ein mittleres bürgerliches Publikum in den Deutschen Staaten richtet.

4. Die Rolle des Souveräns

Im Libretto werden deutliche Vorstellungen von einem idealen Souverän aufgezeigt. Am auffälligsten ist dies in einer von Wohlbrück neu getextete Arie von Ivanhoe auf den König: en besten Ritter nennet Euch die Welt. Macht, dass das Volk D Euch seinen Vater nenne. (Übergang) Es ist dem König Ehr’ und Ruhm, / Hinaus zum Kampf zu zieh’n, / Zu streiten für das Ritterthum / Durch Abenteuer kühn, / Da zeigt sich Mannes Kraft und Werth, / Und nur der Tapfre wird geehrt, / Den Ritterruhm kann man nicht erben, / Der König selbst muß ihn erwerben. Du kehrst als Ritter stolz zurück, / Umstrahlt von Ruhm und Ehr’; / So gelte nun des Volkes Glück, / Dem Sieggekrönten mehr. / Vergönnt ist Dir, Dich nun allein, / Dem Wohl des Vaterlands zu weih’n, / Befriedigt sind des Ruhmes Triebe, / Nun strebe nach des Volkes Liebe.17 Die vorrangige Aussage ist bereits in der Überleitung zur Arie evident: Es reicht nicht mehr, nur über ein Land zu herrschen, der Souverän soll auch Verantwortung für seine Untertanen übernehmen. Es wird hier das Bild eines Bürgerkönigs beschworen, eines Vaters für seine Landeskinder. Die Arie ist trotz anfänglicher Fanfaren nicht königlich, sondern volkstümlich, liedhaft in dreiteiliger Form. Stärker ist dies noch ausgeprägt in der späteren Romanze, die als Strophenlied angelegt ist. Der höchste Vertreter des Landes wird von seinem engsten Vertrauten explizit nicht in pompösem Tonfall gepriesen. Das spricht für ein verklärt-volkstümliches anstelle eines aristokratischen Auftretens. Dies zeigt sich auch in Richards eigenem Gesang: Als Schwarzer Ritter verkleidet stimmt er beispielsweise ohne Scheu in von einfachen Gesellen gesungenen Trinklieder mit ein.18 Zudem sind sich der Herrscher Englands und der König des Waldes19 durch die gesamte Oper

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hinweg musikalisch sehr ähnlich, selbst der Ambitus und die Tessitur sind fast identisch. Löwenherz und die Robin Hood-Figur Locksly stehen demzufolge auf einer Ebene. Der König zeigt sich musikalisch als im Volk stehend und mit ihm handelnd. Das ist eine partielle Einlösung des von Ivanhoe ausgedrückten Wunsches nach familiärer Verbundenheit zwischen Souverän und Untertanen. Insgesamt geht es hier, im Gegensatz zum Roman, nicht mehr darum, ob ein Sachse oder ein Normanne auf dem Thron sitzt, sondern ob der Herrscher seiner Aufgabe gerecht werden wird. Integrität ist das hervorstechende Merkmal der positiv dargestellten Personen, die die Herrschaft der Eigensüchtigen brechen müssen. Hierbei wird die bei Scott bereits vorhandene stark schematisierte Darstellung von Gut und Böse weitergeführt. Die zu überwindende schlechte Situation fasst Locksly dem Schwarzen Ritter gegenüber zusammen: Ich bin für jetzt ein namenloser Mann, doch Freund des Vaterlandes, und Jedes, der es redlich mit ihm meint. Geschworen hab’ ich keinem schlechtern zu gehorchen, als König Richard selbst. – Seid Ihr ein Freund des Königs, so führen wir gemeinschaftliche Sache; ich bin entschlossen, mit meinen treuen Waldgesellen seine Rechte aufrecht zu erhalten, trotz des ganzen normannischen Adels dieses Landes, der mit seinem Bruder Johann sich gegen ihn verschworen hat; der treulose Prinz, dem Richard die Regierung anvertraute, als er zum Kampf nach Palästina zog, strebt jetzt nach seiner Krone; doch kehrt Richard je zurück, will ich ihm Verbündete zuführen, die es wohl mit seinen Feinden aufnehmen. Mag der Usurpator mich und die Meinen Geächtete nennen, mein Herz ist gut englisch, und mein gegebenes Wort so heilig, als ob ich goldne Sporen trüge.20 Dass die Geächteten im Untergrund leben, ist der aktuellen politischen Situation geschuldet, und nicht, wie bei Scott, ein Zeichen andauernder extremer sozialer Ungleichheit. Der Sachverhalt ist eindeutig: Kommt Richard zurück und diszipliniert seinen Bruder sowie dessen Anhänger, dann können Land und Volk gerettet werden. Der König wird familiär-patriarchal jedem Mitglied der Gesellschaft seinen rechtmäßigen Platz zuweisen, es wird ein stabiles gesellschaftliches System wieder hergestellt. In dieser Überwindung einer momentanen negativen Situation und dem In-Aussicht-Stellen einer positiven Zukunft zeigt sich die frühromantische Sehnsucht nach einem uneingeschränkt harmonischen zwischenmenschlichen Miteinander.

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Die Tatsache, dass dieser Idealzustand nur durch das Zusammenwirken von Souverän und Untertanen erwirkt werden kann, spiegelt bürgerliches Selbstbewusstsein. Das gemeinsame Handeln wird erst durch die Vaterlandsliebe hervorgebracht, worin sich das im frühen 19. Jahrhundert aufkeimende nationale Selbstbewusstsein zeigt. In der Oper erinnert der Narr Wamba in einem von Wohlbrück hinzugedichteten Lied den König daran, dass das Volk den Feind geschlagen hat – und knüpft an die Glorifizierung des zivilen Lützow’schen Freicorps an, das in den Freiheitskriegen gekämpft hat. Die erste Strophe dieses Liedes ist in Verbindung mit dem Refrain in weiterer Hinsicht interessant: ie stand nicht erst vor Kurzem noch / Der Feind im Lande stolz W und hoch, / Kaum schallt des Königs Name her, / Stellt sich das Volk zu tapfrer Wehr, / D a s21 schlägt den Feind und Alles schreit: / Hoch leb’ des Königs Tapferkeit! / Drum ist es gar ­köstlich, ein König zu sein, / Es stürmen ja Freude und Ruhm auf ihn ein; / Gefiel mir das Leben als Narr nicht zu sehr, / So wollt’ ich, mein Seel’! daß ein König ich wär’.22 Im kollektiven Gedächtnis waren die Französische Revolution in vielen Deutschen Staaten sowie die sogenannten Befreiungskriege präsent. Das gilt ebenso für den Aufruf An Mein Volk (1813) von König Friedrich Wilhelm III., mit dem sich ein preußischer Regent erstmals direkt an seine Untergebenen wandte und Hoffnungen auf größeren politischen Einfluss schürte. Der Wiener Kongress, das Wartburgfest (1817) und die Karlsbader Beschlüsse (1819) waren zur Entstehungszeit der Oper zwar nicht mehr tagesaktuell, die Frage nach einer bestmöglichen sozialen und politischen Ordnung dennoch auch während der Restauration unterschwellig präsent – und damit auch die Frage nach der Beziehung zwischen Untertanen und Souverän. In diesem hinzugedichteten Lied von Wamba sind Narr und König nicht mehr weit voneinander entfernt. Es wird eine Austauschbarkeit der Rollen angedeutet. Das bedeutet: Der König regiert nicht mehr nur von Gottes Gnaden, sondern auch von der des Volkes.

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Liebe, Heim und Familie

5. Liebe, Heim und Familie

Entsprechend des Zeitgeistes stehen, solange das System nicht aus den Fugen gerät, nicht die Weltgeschehnisse, sondern Heim und Familie im Vordergrund. Das zeigt sich besonders stark an dem Templer Bois Guilbert. Während er im Scott’schen Roman noch in Weltmachtphantasien schwelgt, wünscht er sich in der Oper eigentlich nur eins: Liebe. Und mit ihr eine Familie und ein behagliches Heim. Während Bois Guilbert Rebecca zunächst lediglich als Lustobjekt sieht, verliebt er sich später in sie und erlebt Gefühle, derer er sich nicht mehr fähig glaubte. Grund für seine frühere Verbitterung ist die Zurückweisung durch Adelheid von Montemar. Die Verlobte hatte einen anderen geheiratet, während Bois Guilbert in den Kreuzzügen kämpfte. Zentral für die Zeichnung des Templers ist die »Scene und Arie Nr. 12«, die zugleich eine der eindrücklichsten Momente der Oper darstellt. Es zeigt sich, dass Bois Guilbert nicht als grundsätzlich böse handelnde Person zu sehen ist, sondern als durch die Erlebnisse zu einer solchen erst gewordenen. Positive Erinnerungen, Darstellung des prägenden Ereignisses, die negative aktuelle Situation und Hoffnung auf eine erfüllende Zukunft werden in der Nummer innerhalb kurzer Zeit miteinander kontrastiert. Im Verlauf dieser Szene formuliert der Templer seine Sehnsucht nach Liebe und Familie: I n des Lebens wildem Drang, / Sucht’ umsonst ich Jahre lang, / Trost für die verlorne Liebe – / Macht und Reichthum, Ruhm und Glanz, / Und der blut’ge Lorberkranz, / Stillen nicht des Herzens Triebe. – / Meines Lebens Blüthezeit, Welkte ungeliebt dahin – / Was des Mannes Herz erfreut: Frauen Lieb’ und treuer Sinn, / Häuslich Glück bei Weib und Kind, / Ach mir ward es nicht gegeben! […] / Doch noch einmal steigt von fern, / Freundlich mir ein schöner Stern, / Aus der finstern Nacht empor; / […] / Und mir winkt, was ich vergebens, / Suchte in dem Drang des Lebens, / Lacht der Liebe Seligkeit.23 Diese Werte entspringen eindeutig dem 19., nicht dem 12. Jahrhundert. Rebecca wird zu einer möglichen Erlöserin, doch im Gegensatz zu Wagners Fliegendem Holländer ist der Baritonfigur hier noch keine Rettung durch die Frau vergönnt, er hat zu sehr gegen die Moral verstoßen. Darüber hinaus begehrt er mit Rebecca eine Jüdin, eine Frau außerhalb der Gesellschaft.

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6. Ein bürgerlicher Gesellschaftsentwurf vor mittelalterlicher Folie

Der Templer und die Jüdin bedient zunächst die nahestehenden Bedürfnisse des Publikums nach Unterhaltung, nach spektakulären Bühnenszenen, nach exotischen Sujets und nach Eskapismus. Auf ideeller Ebene ist das Werk aber auch als Mischung aus expliziter Idealisierung bürgerlicher Vorstellungen und impliziter Gegenwartskritik zu sehen. Die Oper basiert mit Ivanhoe auf einem Roman, der in den 1820er Jahren ausnehmend populär war. In ihm werden zentrale Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders aufgegriffen und an einem mittelalterlichen Fallbeispiel erörtert: Wie finden sich verschiedene Bevölkerungsgruppen in einer nationalen Struktur zusammen? Wie können kulturelle Traditionen bewahrt und dennoch Reformen durchgeführt werden? Welche Rolle spielt der Souverän? Wie kann das Verhältnis zwischen ihm und seinen Untertanen aussehen? Welche Position können gesellschaftlich Außenstehende einnehmen? Zentral und im Vergleich zum Roman zugespitzt ist in der Oper die Frage nach der gesellschaftlichen Ordnung, der Position der einzelnen Person in dieser, der Rolle des Souveräns sowie seine Funktion für die Aufrechterhaltung der Stabilität des Landes. Liebe, Heimat und Familie sind für den Templer wichtige Schlagwörter, nicht wie im Roman das Weltgeschehen oder der Drang nach Ruhm. Aus der Vorlage stammt der Blick auf das Werden eines Nationalstaates, was durch ihre allgemeine Bekanntheit die Wahrnehmung beeinflusste. Die nationalstaatliche Entwicklung hatte im deutschsprachigen Raum einen anderen Hintergrund als in Großbritannien, war aber keineswegs weniger drängend. Die Oper ist inhaltlich fest eingebunden in den außertheatralischen Kontext des frühen 19. Jahrhunderts und berührt Fragestellungen, die bei dem aufstrebenden Bürgertum der Zeit aktuell waren. Zentral ist dabei die Sehnsucht nach einem harmonischen zwischenmenschlichen Miteinander. Insgesamt ist die Ausdeutung nicht revolutionär oder stark liberal-nationalistisch zu werten, es scheint vielmehr um moderate Reformen und eine Modifizierung des Status quo zu gehen. Und dennoch: Der nationalstaatliche Gedanke ist vorhanden, was per se schon das Aufzeigen eines alternativen Zukunftsmodells ist. Darüber hinaus soll das Volk in dieses nationalstaatliche Gesamtgefüge eingebunden werden. In Der Templer und die Jüdin wird das romantisierte Mittelalterbild so zur Folie für gegenwärtige beziehungsweise zukünftige Gesellschaftsentwürfe. Das lässt sich im Sinne eines geschichtsphilosophisch geprägten Romantikbegriffs sehen, den Ulrich Tadday

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Ein bürgerlicher Gesellschaftsentwurf vor mittelalterlicher Folie

dahingehend beschreibt, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenkommen, wobei aus der Gegenwart über die Vergangenheit ein Weg für die Zukunft aufgezeigt werden soll.24 Doch nicht nur das Textbuch kann als Kommentar zur Zeitgeschichte gelesen werden. Marschner charakterisiert die Personen direkt musikalisch sowie über die musikalischen Beziehungen zueinander. Das betrifft ihre soziale Stellung innerhalb des Systems. Dies zeigt sich am dargelegten Beispiel von König Richard, der vor allem über die musikalische Ebene als ein mit seinem Volk verbundener Herrscher dargestellt wird. Seine Untertanen nutzen das, um ihre eigene Position zu stärken. Bruder Tuck zum Beispiel, mit dem Löwenherz inkognito gezecht und Trinklieder gesungen hat, zögert nicht, den Herrscher genau daran mit einer Motivaufnahme zu erinnern. Bemerkenswert ist auch, dass der Herrscher in dieser Oper mit Personen ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Standes in enge Berührung kommt: vom noblen Ivanhoe und dem sächsischen Anführer Cedric über den Prior der Templer, den Eremiten, den Narren, eine Gruppe Geächteter bis hin zu den Jüd:innen. Während beispielsweise in Webers Euryanthe oder auch in seinem Freischütz die einzelnen sozialen Schichten unter sich bleiben, mischen sich die Gruppen in Der Templer und die Jüdin. Wie das Publikum mit diesen Möglichkeiten einer Positionierung zu gesellschaftlichen Fragestellungen umging, ob es sie wahrnahm, ob es sie eventuell als Abbildung eigener Wünsche und Sehnsüchte auffasste oder es dadurch gar zu inhaltlichen Auseinandersetzungen angeregt wurde, ist kaum zu beantworten. Mit Blick auf die historischen, sozialen und politischen Hintergründe ist zu vermuten, dass Wohlbrück und Marschner die textliche und musikalische Auslegung des Ivanhoe-Stoffes im Sinne eines moderaten bildungsbürgerlichen Ideengefüges vornahmen. Ob dies zur Popularität des Werks beitrug, ist nicht nachweisbar. Immerhin war Der Templer und die Jüdin laut Eduard Hanslick aber auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch eine »Lieblingsoper der Deutschen«25.

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Die Ergebnisse des vorliegenden Beitrages entstammen teilweise der von der Universität Zürich im Jahr 2015 angenommenen Dissertation »Heinrich August Marschners Der Templer und die Jüdin. Eine Studie zum konzeptionellen Entwurf der romantischen Oper« der Autorin. Unter demselben Titel wurde die Arbeit 2017 im Bärenreiter-Verlag in der Reihe Schweizer Beiträge zur Musikforschung, Band 25, veröffentlicht. Der Aufsatz selbst basiert auf dem am 2. Juni 2016 im Rahmen der Reihe »Die Macht der Gefühle – Schauplätze des Fremden« an der Universität Leipzig gehaltenen gleichnamigen Vortrag. 2 Rossinis Guillaume Tell wurde am 3. August 1829 in Paris uraufgeführt, also nach der Beendigung von Der Templer und die Jüdin. La Muette de Portici wurde in Leipzig am 28. September 1829 zum ersten Mal und insgesamt zehn Mal gezeigt, so dass zu vermuten steht, dass Marschner das Werk noch vor der Uraufführung von Der Templer und die Jüdin, allerdings nach Beendigung der Komposition, gesehen hat. Vgl. Grenser, Carl Augustin: Geschichte der Musik in Leipzig 1750 – 1838, Leipzig 2005, S. 173, S. 176. 3 Dies und das Folgende vgl. Wagner, Wolfgang Michael: Carl Maria von Weber und die deutsche Nationaloper, Weber-Studien Bd. 2, Mainz u. a. 1994, S. 18 ff. und Elias, Norbert: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Michael Schröter, Frankfurt a. M. 1992, S. 161 ff. 4 Vgl. Möller, Frank: »Zwischen Kunst und Kommerz. Bürgertheater im 19. Jahrhundert«, in: Hein, Dieter/Schulz, Andreas (Hrsg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 19 – 33, hier S. 20. 5 Vgl. Schulze, Friedrich: Hundert Jahre Leipziger Stadttheater, Leipzig 1917, S. 79. 6 Vgl. Behrendt, Allmuth: »Heinrich August Marschner und Leipzig«, in: dies./ Vogt, Matthias Theodor (Hrsg.): Bericht über das Zittauer Marschner-Symposium, Leipzig 1998, S. 27 – 36, hier S. 32; Schulze, Friedrich: »Studien zu Heinrich Marschners Leipziger Aufenthalt«, in: Der Bär. Jahrbuch von Breitkopf & Härtel auf das Jahr 1928, Leipzig 1928, S. 83 – 100, hier S. 94. 7 Vgl. Maurer, Michael: »Die Entdeckung Schottlands«, in: Fülberth, Andreas/ Meier, Albert/Ferretti, Victor Andrés (Hrsg.): Nördlichkeit – Romantik – Erhabenheit. Apperzeptionen der Nord/Süd Differenz (1750-2000), Frankfurt a. M. 2007, S. 143 – 159. 8 Vgl. Steinecke, Hartmut: »›Wilhelm Meister‹ oder ›Waverley‹? Zur Bedeutung Scotts für das deutsche Romanverständnis der frühen Restaurationszeit«, in: Allemann, Beda/Koppen, Erwin (Hrsg.): Teilnahme und Spiegelung. Festschrift für Horst Rüdiger, Berlin 1975, S. 340 – 359, hier S. 346 ff. sowie Lukács, Georg: Der historische Roman, Berlin 1955, S. 15 ff. 9 Vgl. Steinecke: »›Wilhelm Meister‹ oder ›Waverley‹?«, S. 353. 10 Engler, Winfried: »Geschichtsroman oder historischer Roman: Überlegungen zur Scottrezeption während der Restauration«, in: ders. (Hrsg.): Frankreich an der Freien Universität, Stuttgart 1997, S. 153 – 176, hier S. 159; sowie Lukács: Der historische Roman, S. 26, S. 30. 11 Vgl. Scott, Walter: Ivanhoe, übers. v. Leonhard Tafel, Stuttgart 1827. 12 Vgl. Scott: Essays on Chivalry, Romance and the Drama, Supplement to the 1815 – 1824 edition of Encyclopedia Britannica, Edinburgh 1834. 13 Zur Bedeutung des ›romantischen Mittelalters‹ für die Musikanschauung des frühen 19. Jahrhunderts vgl. Tadday, Ulrich: Das schöne Unendliche. Ästhetik, ­Kritik, Geschichte der romantischen Musikanschauung, Stuttgart/Weimar 1999, S. 49 ff. 14 Vgl. Schwering, Markus: »Romantische Geschichtsauffassung – Mittelalterbild und Europagedanke«, in: Schanze, Helmut (Hrsg.): Romantik-Handbuch, Stuttgart 1994, S. 541 – 555, hier S. 547 ff. 15 Vgl. ebd. 16 Nummer 9. Marschner, Heinrich: Der Templer und die Jüdin, Partiturabschrift (unbekannter Kopist), Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Abteilung Handschriften, Sondersammlungen, Signatur Wd 4° 205a – c: hs. Partitur bzw. Marschner, Heinrich: Der Templer und die Jüdin, Klavierauszug, Leipzig: Friedrich Hofmeister 1829 [erste Fassung]/Marschner, Heinrich: Der Templer und die Jüdin, Klavierauszug, Leipzig: Friedrich Hofmeister 1846 [zweite Fassung].

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Endnoten 17 Nr. 11, Arie mit Chor. Wohlbrück, Wilhelm August: Der Templer und die Jüdin, Textbuch, Leipzig 1829, S. 108 f. 18 Zum Beispiel in Tucks Lied Der Barfüssler Mönch, Nr. 4. 19 Locksly, Anführer der Geächteten. Er ist im Roman und in der Oper eine an ­Robin Hood angelehnte Figur. 20 Akt I, 7. Szene. Wohlbrück: Der Templer und die Jüdin, S. 43 f. 21 Die Hervorhebung ist original. 22 Lied Nr. 15. Wohlbrück: Der Templer und die Jüdin, S. 142 f. 23 Nr. 12, Scene und Arie. Ebd., S. 116 f. 24 Tadday: Das schöne Unendliche, S. 3. 25 Hanslick, Eduard: »Der Templer und die Jüdin«, in: ders.: Musikalisches Skizzenbuch, Bd. 4, Berlin 1888, S. 119 – 126, hier S. 119.

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Anselm Gerhard Tragödie mit den Mitteln der Farce Stilbrüche und Gattungsmischung in Meyerbeers Les Huguenots und anderen Opern aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Im 4. Akt von Eugène Scribes und Giacomo Meyerbeers Les ­Huguenots führt sich der Protagonist Raoul de Nangis als »Krimineller« ein – ein irritierendes Epitheton für den strahlenden Tenor-Helden einer tragischen Oper. Die Selbstbezichtigung irritiert umso mehr, weil in dieser Dramatisierung des historischen Ereignisses der Bartholomäusnacht im Jahre 1572 die überkommenen Standesregeln insofern gewahrt sind, als die drei Beteiligten eines sentimentalen Dreiecks, der »­Edelmann« Raoul, Valentine, die von Raoul geliebte Tochter eines Grafen von Saint-Bris, und deren Ehemann, ein Herzog von Nevers, allesamt dem Adel angehören. Warum aber sieht sich Raoul in einer verbrecherischen Position? Ganz einfach: Er schleicht sich inkognito in die privaten Wohnräume Valentines, die inzwischen mit einem anderen verheiratet ist, und erklärt »d’un air sombre«, »mit finsterem Blick«: »Oui, c’est moi!... moi qui viens dans l’ombre et dans la nuit, / Ainsi qu’un criminel dont la peine est horrible[.]« (»Ja, ich bin’s!... ich, der ich im Dunkel der Nacht erscheine wie ein Krimineller, dessen Strafe entsetzlich ist[.]«)1 Ein solches Versteckspiel galt im Verhaltenskodex des Adels als unehrenhaft und deshalb in der französischen Tragödie aufgrund ihrer strikten Regeln als unschicklich, als eklatante Regelverletzung. Indem nun genau diese Regelverletzung im gesungenen Text mit Aplomb – und überdies mit zwei Versen im nobelsten aller Versmaße, dem Alexandriner – hervorgehoben wird, hat der Textdichter Eugène Scribe überdeutlich gemacht, dass es genau darauf ankommt, im Sinne einer gewollten Distanzierung von der kanonischen Ästhetik des Tragischen, wie sie insbesondere in der französischen Tragödie des ausgehenden 17. Jahrhunderts kodifiziert worden war.

1. Shakespeares Schatten

Insofern reiht sich auch der Vielschreiber (und deshalb bis heute übel beleumundete) Scribe mit diesem 1836 uraufgeführten Werk in den

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Shakespeares Schatten

literarischen Mainstream der romantischen Generation ein, wie im Folgenden nicht nur an diesem Opernlibretto deutlich werden wird. Auch er teilte das nachgerade frenetische Interesse an der Verknüpfung tragischer und komischer Elemente im Drama, das als eine der entscheidenden Folgen der Wiederentdeckung William Shakespeares in Frankreich betrachtet werden kann. Auch wenn diese Shake­speareBegeisterung erst fast zwei Generationen später aufkam als in den deutschsprachigen Ländern, setzte sie sich im Musiktheater genauso schnell und weitgreifend durch wie in anderen Gattungen. Gleichwohl ist es für eine Untersuchung solcher Stilbrüche in den zwischen etwa 1830 und etwa 1860 entstandenen Opern unverzichtbar, die damals geführten literaturtheoretischen Debatten zumindest kursorisch nachzuzeichnen. Denn vor allem der 1802, also etwas mehr als zehn Jahre nach Meyerbeer und Scribe geborene Victor Hugo machte aus dieser Abkehr von der Regelpoetik des französischen Klassizismus eine immer wieder vorgebrachte Forderung. Aber nicht nur Victor Hugo schrieb sich den englischen Autor auf die Fahnen, auch das Werk von Alfred de Vigny und Alfred de Musset, die Musik (und sogar einige Details der Biographie) von Hector Berlioz oder die Malerei von Eugène Delacroix sind in vielfältiger Weise auf das verstörende Vorbild bezogen. Endlich hatte sich eine Möglichkeit eröffnet, den strengen, rationalistischen Denkmustern der klassizistischen Poetik des französischen Theaters zu entkommen und sich von den starren Regeln eines traditionellen Kunst-Schönen zu emanzipieren. Dabei ging es um weit mehr als nur um technische Fragen der Vermischung charakteristischer Elemente traditioneller Theaterformen. Die neue »dramaturgie du désordre«, Hugos »Dramaturgie der Unordnung« zielte nicht nur auf einen »désordre moral« und »­religieux«, sondern eben auch auf einen »désordre social«.2 Die im späten 17. ­Jahrhundert kodifizierte französische Regelpoetik mit ihrer starren und undurchlässigen Abgrenzung verschiedener Gattungen spiegelte die ständische Ordnung des Ancien Régime. Die überkommene Tragödie in Versen stand insofern für die absolute ­Monarchie, die zwar nach 1814 und 1815 auf geradezu verzweifelte Weise r­ estauriert wurde, jedoch mit der Juli-Revolution von 1830 endgültig weggefegt wurde. Jede Abweichung vom ästhetischen Kanon des Ancien Régime bedeutete in einem Zeitalter wiederholter Revolutionen insofern auch eine dezidiert politische Stellungnahme. Überdies konzeptualisierte ein von seiner historischen Bedeutung überzeugter Victor Hugo eine radikal neue ästhetische Kategorie: das Groteske, »im wahrsten Sinne des Wortes eine K ­ riegsmaschine gegen den Idealismus des Schönen«.3

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Da er zu den wenigen Autoren gehörte, die ihr Tun auch theoretisch reflektierten, überdies als Vertreter der Nation, die im Bereich des ­Theaters immer noch den Ton angab, werden seine Parolen aus dem 1827 verfassten Vorwort zu seinem Lesedrama Cromwell auch heute nur allzu gerne zitiert. Dort forderte er ein »drame qui fond sous un même souffle le grotesque et le sublime, le terrible et le bouffon, la tragédie et la comédie«, ein »Drama, das in einem Atem das Groteske mit dem Erhabenen, das Schreckliche mit dem Buffonesken, die Tragödie mit der Komödie verschmilzt«.4 Dabei ist jedoch ein entscheidender Unterschied zu den ästhetischen Debatten unter der romantischen Generation im deutschen Sprachraum festzuhalten, der bis heute die Konzeptualisierung dieser poetologischen Wende um 1830 zu erschweren scheint:5 Hugo und seinen Zeitgenossen in Frankreich ging es gerade nicht um Ironie im Sinne Friedrich Schlegels. Obwohl Schlegels Überlegungen offensichtlich auch in Paris zirkulierten, spielt ein solcher romantischer Ironie-Begriff für die französische Debatte im Allgemeinen und für Hugos Ästhetik im Besonderen keine Rolle.6 Vielmehr handelt es sich um zwei theoretische Diskurse, die gleichsam aneinander vorbeidiskutieren. In der deutschsprachigen Diskussion wurde der Ironie-Begriff einerseits sehr eng gefasst und insbesondere von August Wilhelm Schlegel »auf den komischen Kontrast, den Anteil der Komödie eingeengt«. Andererseits aber wurde er gleichzeitig ins Metaphysische überhöht, nämlich »von bloß subjektiven Kunstgriffen des Dichters« losgelöst, womit der Ironie »eine objektive Bedeutung im Kunstwerk selbst« zukam.7 In der französischen Diskussion hingegen geht es von vornherein um andere Begriffe als das Ironische, wie ein belgischer Literaturwissenschaftler vor wenigen Jahren zusammengefasst hat: ie Ironie fehlt in der theoretischen Reflexion der Romantiker. D Das Manifest der Doktrin dieser Schule, wie es sich in programmatischen Texten wie der Préface de Cromwell (1827) findet, privilegiert den Begriff des Grotesken und ignoriert die Ironie […]. Die Abwesenheit des Wortes verhindert nicht Ähnlichkeiten mit der Analyse der deutschen Romantiker. Ausgehend von ähnlichen Feststellungen wie denen der [Brüder] Schlegel – den Widersprüchen der [menschlichen] Existenz, der Nähe des Erhabenen und des Lächerlichen – erarbeitet Victor Hugo seine neue Vorstellung der Kunst im Allgemeinen und des Dramas im Besonderen. Er artikuliert freilich seine Reflexion auf der Grundlage anderer

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Shakespeares Schatten

Kategorien und setzt andere Akzente; so war die Religion dem frühen [Friedrich] Schlegel fremd, nicht aber Hugo.8 Bei der Auseinandersetzung mit der französischen Romantik hat die Vorliebe der literaturwissenschaftlichen Forschung für etablierte Autorinnen und Autoren allerdings einen blinden Fleck gelassen.9 Fast alles, was Hugo wortgewaltig in seinem Cromwell-Vorwort bündeln sollte, war schon seit dem Ende der 1810er Jahre im Pariser Boulevard-Theater vorbereitet worden. Gewiss: Das populäre mélodrame à grand spectacle hielt in aller Regel am (mehr oder weniger) glücklichen Ausgang fest, kann also nicht eigentlich als Tragödie bezeichnet werden. Aber schon in den frühen Jahren der Restauration hatten dort Mord und Totschlag, Selbstmord und andere Gräuel Einzug gehalten, auf ganz ähnliche Weise wie in Meyerbeers Oper von 1836: Die tragischen Verwicklungen wurden mit Mitteln entfaltet, die bis dahin nur in der Komödie verwendet worden waren. Mehr noch: Auch im europäischen Vergleich spitzte Hugo nur Tendenzen zu, die bereits am Beginn der 1820er Jahre offensichtlich geworden waren. In Sankt Petersburg verfasste Alexander Puschkin in den Jahren 1824 und 1825 ein Lesedrama, dem er den ebenso barocken wie ironisch gebrochenen Titel Komedija o Care Borise i o Griške Otrep’eve (Komödie über den Zar Boris und über Grischka Otrepjew) geben wollte. In diesem, dann 1831 unter dem knappen Titel Boris Godunov gedruckten Stück sind sämtliche Regeln traditioneller Dramaturgie außer Kraft gesetzt. Es gibt keine Einheit des Ortes und der Zeit, aber auch keine solche der Handlung. Die naheliegende Einteilung in Akte, an der sogar ein Victor Hugo wenige Jahre später noch festhalten sollte, fehlt ebenso wie ein einheitlicher Stil: In den 23 Szenen an nicht weniger als zwanzig verschiedenen Schauplätzen wechseln sich Blankverse mit Prosa ab, gelegentlich begegnen auch gereimte Verse und in einer Szene kommunizieren Söldner in russischen Diensten sogar abwechselnd in russischer, französischer und deutscher Sprache – überdies mit vulgären Redewendungen, die damals auf keiner russischen Bühne toleriert worden wären. In einem der verschiedenen, im Jahre 1829 konzipierten (und dann doch nicht zum Druck gegebenen) Entwürfe eines Vorworts zu diesem Drama heißt es: »Не смущаемый никаким иным влиянием, Шекспиру я подражал в его вольном и широком изображении характеров, в небрежном и простом составлении планов[.]« (»Von keinem anderen Einfluss abgelenkt, ahmte ich Shakespeare in der freien und umfassenden Charakterdarstellung, in der ungezwungenen, unkomplizierten Komposition nach[.]«)10

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Bereits 1820 hatte in Mailand Alessandro Manzoni, übrigens als Graf genauso Angehöriger des alten Adels wie Puschkin, in seinem berühmten Brief an den französischen Literaturkritiker Victor Chauvet die Frage gestellt, ob »die Vermischung des Gefälligen und des Ernsten auf glückliche und dauerhafte Weise in die dramatische Gattung übertragen werden« könne, »und nicht nur in Werken, die eine Ausnahme bezeichnen« (»Le mélange du plaisant et du sérieux pourra-t-il être transporté heureusement dans le genre dramatique d’une manière stable, et dans des ouvrages qui ne soient pas une exception?«).11 Auch der italienische Schriftsteller bezieht sich auf Shakespeare; die Frage wird eingeleitet mit einem Hinweis darauf, dass »ainsi, par exemple, Shakespeare à souvent mêlé le comique aux événemens le plus sérieux«, dass »auf diese Weise Shakespeare beispielsweise häufig das Komische mit den ernsthaftesten Ereignissen vermischt hat«.12 In der Folge verteidigt Manzoni – bei allen ästhetischen Vorbehalten – das Verfahren des elisabethanischen Dramatikers: ar ce n’est pas la violation de la règle qui l’a entrainé à ce ­mélange C du grave et du burlesque, du touchant et du bas; c’est qu’il avait observé ce mélange dans la réalité, et qu’il voulait rendre la forte impression qu’il en avait reçue. [Denn es ist nicht die Verletzung der Regel, die ihn [Shakespeare] zu dieser Vermischung des Bedeutungsschwangeren und des Burlesken, des Anrührenden und des Vulgären angetrieben hat, vielmehr hatte er diese Mischung in der Wirklichkeit beobachtet, und er wollte den starken Eindruck reproduzieren, den er daraus erfahren hatte.]13 Von solchen Überlegungen ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einem Slogan, der überdeutlich zeigt, wie schnell sich in Frankreich diese Faszination für Shakespeare durchgesetzt hatte. Im Jahr der Uraufführung von Les Huguenots wird der englische Autor in einer Überblicksdarstellung kurzerhand als Romantiker in Anspruch genommen: yant à traiter du drame de Shakespeare, j’ai dû vous donner en A aperçu le système du drame romantique, dont notre poète a­ nglais est, dans la littérature moderne, le vrai représentant. [Bei der Behandlung von Shakespeares Drama habe ich Ihnen die Grundzüge des Systems des romantischen Dramas erklären müssen, dessen wahrer Vertreter in der modernen Literatur unser englischer Dichter ist.]14

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Mittel der Komödie

2. Mittel der Komödie

Ein besonders auffälliger Aspekt dieser spezifisch französischen Shakespeare-Rezeption ist die Häufung charakteristischer Mittel der Komödie in tragischen Kontexten, von denen nun mit Blick auf wirkmächtige Anwendungen im Musiktheater drei genauer vorgestellt werden sollen: das heimliche Belauschen von Gesprächen, die Wiedererkennung und der Rückgriff auf den Zufall an dramatischen Wendepunkten. Das heimliche Belauschen ist wie das Verstecken ein dramaturgischer Kniff, der nur in der Komödie als statthaft angesehen wurde. Im erhabenen Genre der Tragödie galt er im eigentlichen Sinne als unschicklich. Noch 1858 und erneut 1870 dozierte ein mit der Revolution sympathisierender Dramatiker, Rudolf Gottschall, in einer »vom Standpunkte der Neuzeit« aus verfassten Poetik: »Im Drama tritt […] die scharfe Sonderung des Tragischen und Komischen ein. ­Melpomene und Thalia herrschen in getrennten Reichen.«15 Allein für das Musiktheater hatte er für solche »romanhafte« Effekte Ausnahmen zugestanden: ls ein Hauptkunstgriff der dramatischen Technik gilt der TheaA terkoup, die dramatische oder theatralische Ueberraschung. Die letztere, die in einer unverhofften scenischen Entwickelung besteht, gehört nur in das Gebiet der Oper, des Ballets und der Posse. Was die erstere betrifft: so sind die romanhaften Ueberraschungen, die in unerwarteten Enthüllungen bestehn, von der Schwelle des Dramas zu verweisen. Im Drama verlangt Alles eine sorgfältige Motivirung, und Effekte, die man als Wirkungen ohne Ursache definirt hat, dürfen hier nicht Platz greifen.16 Was auf den ersten Blick als Streit um Formalien erscheinen mag, weist auf den Kern der rebellischen Theaterästhetik der sogenannten romantischen Generation. Im Theater eines Pierre Corneille, eines Jean Racine oder eines Voltaire wäre es undenkbar gewesen, die Dynamik einer Tragödie dadurch zu befeuern, dass vertrauliche Gespräche von Unbefugten belauscht werden (wie im eingangs erwähnten 4. Akt von Meyerbeers Oper, aber auch im erfolgreichen – und wenig später als Oper bearbeiteten – Boulevard-Drama Un duel sous le cardinal Richelieu von Lockroy und Badon aus dem Jahre 1832), dass indiskrete Gaffer (wie im 1. Akt von Meyerbeers Oper) gleichsam durch das Schlüsselloch schauen oder dass sich Personen von Rang im Nebenzimmer oder

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gar im Kleiderschrank (so 1830 der spanische König Carlos in Hugos Skandaldrama Hernani) verstecken, um einer unangenehmen Begegnung zu entgehen. Wie stark die Vorbehalte gegen diesen dramaturgischen Kniff waren, zeigt ein seltenes, möglicherweise das einzige Gegenbeispiel im tragischen Theater des 17. und 18. Jahrhunderts, Racines ­Britannicus aus dem Jahre 1669. Dort wird im 1. Akt vorausgesetzt, dass der römische Kaiser Nero das Gespräch belauscht, das Junie mit ihrem Verlobten Britannicus führt. Noch knapp hundert Jahre später fasste Voltaire die verbreitete Kritik an dieser Vermischung der theatralischen Gattungen zusammen: éron, qui se cache derrière une tapisserie pour écouter, ne N ­paraissait pas un empereur romain. On trouvait que deux amans, dont l’un est aux genoux de l’autre, & qui sont surpris ensemble, formaient un coup de théâtre plus comique que tragique. [Nero, der sich hinter einem Vorhang zum Lauschen versteckt, erweist sich nicht als ein römischer Kaiser. Man fand, dass zwei Liebende, von denen der eine dem anderen zu Füßen liegt, und die gemeinsam überrascht werden, eher einen komischen denn einen tragischen Theatercoup hervorbringen.]17 Und 1831 hielt Charles Nodier, einer der Wortführer der romantischen Generation, kurz und bündig fest, »que la scène aux écoutes […] gâte Britannicus«, dass »die Abhörszene […] Britannicus verdirbt«.18 Nicht weniger verpönt war zweitens das Mittel der Anagnorisis, der Wiedererkennung. Gewiss hatte es dafür schon in der antiken griechischen Tragödie Vorbilder gegeben. Wenn aber Sophokles in seinem König Ödipus einen namenlosen Hirten auftreten lässt, der bezeugt, dass der Titelheld der Sohn des Königs von Theben gewesen ist, wird diese Information gerade nicht als Überraschungseffekt im Sinne eines atemberaubenden suspense exponiert. In der romantischen Oper dagegen werden die komödiantischen Mittel des Quiproquo, also der Verwechslung und des »Inkognito« genau in diesem Sinne strapaziert. Im (Melo-)Drama im 19. Jahrhundert erkennen sich hingegen entscheidende Figuren regelmäßig erst dann, wenn es zu spät ist. Als Beispiel sei wieder Les Huguenots angeführt: Die Dramaturgie M ­ eyerbeers und seines Librettisten Scribe zielt wie das Pariser mélodrame auf ein Theater der optischen Wahrnehmung, nicht auf ein Theater des Wortes im traditionellen Sinne, wie es auch in der Oper vor der Französischen Revolution zelebriert worden war. In seiner Naivität

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Mittel der Komödie

erkennt Raoul im 2. Akt Marguerite nicht als Königin von Frankreich, im 3. Akt verschleiert sich Valentine, um Marcel vor dem Mordkomplott an dessen Herren Raoul zu warnen, bei seinen Begegnungen mit Valentine im 1. und 3. Akt vertraut Raoul allein auf das, was er zu sehen meint – und zieht daraus völlig falsche Schlüsse. Insofern ist es eine besondere Pointe, wenn im 2. Akt mit Raoul Blinde Kuh gespielt wird: eine bündige Metapher für den verblendeten Blick des tumben Landadligen auf Realitäten, die er nicht begreift. Drittens lauert hinter solchen Verblendungen – wie in Victor Hugos Dramen, aber auch wie in dessen Roman Notre-Dame de Paris – ein sinnlos waltendes, bei nüchterner Betrachtung übrigens reichlich konstruiertes Schicksal. Raoul erkennt Valentines bedingungslose Liebe für ihn erst, als es zu spät ist, nach deren Verheiratung mit einem anderen. Da sie nur wenige Stunden nach ihrer Trauung zur Witwe geworden ist, können die beiden wenig später dann überraschend doch noch Hochzeit feiern – im Angesicht des sicheren Todes. Ganz ähnlich in Le roi s’amuse, Hugos Skandaldrama aus dem Jahre 1832, das wir heute eher in Verdis Bearbeitung für das Musiktheater unter dem Titel Rigoletto kennen: Zu spät begreift der Hofnarr, dass er die eigene Tochter hat töten lassen. In Halévys Oper La Juive aus dem Jahre 1835 – wiederum auf ein Libretto Eugène Scribes – muss der Kardinal zum schlechten Schluss erkennen, dass die gerade hingerichtete Titelheldin die verzweifelt gesuchte eigene Tochter gewesen war. In einem von diesem Libretto wie von Hugos Modellen beeinflussten spanischen Drama aus dem Jahre 1836, in El Trovador von António García Gutiérrez, bemerkt der Herzog von Luna zu spät, dass er den tot geglaubten leiblichen Bruder hat köpfen lassen. Und in Victor Hugos Prosa-Melodram Lucrèce Borgia aus dem Jahre 1833, das noch im selben Jahr mit der Musik Donizettis als Oper in Mailand herauskam, ist diese grausige Anagnorisis sogar verdoppelt: Die Titelheldin gibt sich ihrem von ihr selbst vergifteten Sohn in dem Moment zu erkennen, als dieser sie tödlich verletzt hat. Diese mörderische Macht des Schicksals hat dem herausragenden Drama eines anderen spanischen Hugo-Nachfolgers, dem 1835 zur Uraufführung gelangten Don Álvaro o la Fuerza del Sino des Herzogs von Rivas den (Unter-)Titel gegeben – wie bei El Trovador hat auch hier Verdis spätere Bearbeitung für das Musiktheater mit dem Titel La forza del destino das Vorbild verblassen lassen. Aber auch Victor Hugo selbst hat die Macht des Schicksals, die fatalité ostentativ als Schlüsselwort seiner fiktionalen Konstruktionen benannt – wenn auch in der scheinbar edleren Variante des altgriechischen Wortes anankè, das in

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seinem Roman Notre-Dame de Paris aus dem Jahre 1831 leitmotivisch verwendet wird. Noch mehrere Jahrzehnte später sprachen sich – durchaus nicht hinterwäldlerische – Dramentheoretiker gegen solche grellen Kon­ struktionen aus. In seinem Buch Die Technik des Dramas unterstrich Gustav Freytag 1863: it besonderem Nachdruck muß noch einmal hervorgehoben M werden, daß das tragische Moment in seinem vernünftigen causalen Zusammenhange mit den Grundbedingungen der Handlung verstanden werden muß. Für unser Drama haben solche Ereignisse, welche unbegreiflich eintreten, Zwischenfälle, deren Relation zur Handlung sich geheimnißvoll verhüllt, Einflüsse[,] deren Bedeutung auf abergläubischen Vorstellungen beruht, Motive, die aus dem Traumleben genommen sind, Prophezeiungen, Ahnungen nur sehr untergeordnete Bedeutung. […] Was uns als Zufall, selbst als überraschender entgegentritt, ziemt sich nicht für große Effekte der Bühne.19

3. Antiprovidentialismus

In allen genannten Beispielen wird freilich der Zufall parareligiös aufgeladen. Die französische Hugo-Forschung hat dafür den paradoxen Begriff des antiprovidentialisme ironique geprägt. Anne ­Ubersfeld fasste 2005 zusammen: an könnte die Beispiele mühelos vervielfältigen, denn dieser M ironische Antiprovidentialismus ist eines der Gesetze der Fabel bei Hugo. Die schönste Formel dafür findet man im Theater, in Marie Tudor [von 1833], und es ist der Gefängniswärter Joshua, der sie ausspricht: ›Oh! Que la providence est grande! elle donne à chacun son jouet, la poupée à l’enfant, l’enfant à l’homme, l’homme à la femme, et la femme au diable!’ [›Oh! Wie groß ist doch die Vorsehung! sie gibt jedem sein Spielzeug, die Puppe dem Kind, das Kind dem Manne, den Mann der Frau und die Frau dem Teufel!‹]20 Ganz offensichtlich handelt es sich hier um ein Identifikationsangebot für eine Generation, die nach den Verheerungen der Französischen Revolution und von Robespierres Schreckensherrschaft nicht

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Antiprovidentialisme

mehr an die providence, an die göttliche Vorsehung glauben konnte21 und überdies nach dem 1815 verlorenen europäischen Krieg jeglichen Optimismus in der Art des rheinischen »Et hätt noch emmer joot jejange« (»Es ist noch immer gut gegangen«) verloren hatte. Auch wenn solche Techniken, in denen im romantischen Theater und den davon geprägten Opern das blinde Treiben der Fatalität kulminiert, als bedingte Negation eines naiven Gottvertrauens begriffen werden können, sind diese doch nicht frei von einem (wie auch immer pervertierten) Glauben an eine höhere Gerechtigkeit. Als ob auch noch für einen Victor Hugo und einen Eugène Scribe die Frage der Theodizee, also die nach der Rechtfertigung unvorstellbarer Schrecken in einem von einem gütigen Gott gelenkten Weltenlauf, eine Rolle gespielt hätte, zermalmen die Zufälle jener Intrigen nicht zufällig Menschen, die sich offensichtlich schuldig gemacht haben. Hugos Triboulet (beziehungsweise Verdis Rigoletto) wird für seinen Wahn bestraft, sich als Rächer der Unterdrückten aufzuspielen, der Kardinal in La Juive für seinen blinden Antisemitismus, der die eigene Tochter mordende Vater Valentines für die führende Rolle bei der Barbarei der Bartholomäusnacht, Raoul de Nangis für seine selbstgewisse Verblendung, der Herzog von Luna für seinen Hochmut und den völligen Mangel an Empathie, die Familie Calatrava in Die Macht des Schicksals für ihren Standesdünkel. Als fleißiger Shakespeare-Leser wusste Victor Hugo darum, dass diese parareligiöse Fokussierung auf eine unfassbare Fatalität wesentlich an Wirkung gewinnt, wenn sie überdies in Spannung mit komischen Elementen gesetzt wird. Wer erinnert sich nicht an die als clowns eingeführten Totengräber am Beginn des 5. Akts von Hamlet, diesen schrillen Stilbruch in einer der herausragenden Tragödien der Weltliteratur? Im 2. Akt desselben Dramas wird in einer Art mise-en-abyme dieses Kompositionsprinzip in der Ankündigung der dumb show durch Polonius offengelegt: »The best actors in the world, either for Tragedie, Comedy, History, Pastorall, Pastorall Comicall, Historicall Pastorall, scene indevidable, or Poem unlimited. Seneca cannot be too heavy, nor Plautus too light.«22 Im Jahre 1876 griff Victor Hugo in einem wenig bekannten Text dann doch zum Begriff der Ironie, um solche Brüche in seiner Theaterästhetik zu benennen. In seiner Grabrede auf einen herausragenden Schauspieler des populären Boulevard-Theaters hielt er fest, »l’épouvante et la pitié sont d’autant plus tragiques qu’elles sont mêlées à la poignante ironie« (»der Schrecken und das Mitleid« seien »umso tragischer, wenn sie mit schneidender Ironie vermischt« seien).23 Ganz ähnlich, fast im Telegrammstil, fällt die Pointe am Ende des zweiten Teils seines späten Romans Les Travailleurs de la mer

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(Die Arbeiter des Meeres) aus dem Jahre 1866 aus, wenn der schiffbrüchige Gilliatt für einen Moment zu ertrinken glaubt: ugubre ironie finale. Dans cet écueil d’où Gilliatt avait compté L sortir triomphant, Clubin mort venait de le regarder en riant. Le ricanement du spectre avait raison. [Schaurige Ironie am Ende. In dieser Klippe, die Gilliat im Triumpf zu verlassen gedachte, hatte ihn der tote Clubin gerade lächelnd angeschaut. Das Grinsen des Gespenstes hatte Recht behalten.]24 Erst in fortgeschrittenem Alter sollte Hugo also den Begriff der Ironie in tragischer Konnotation verwenden. Bei aller scheinbaren Nähe zu Schlegels Konzept ist freilich nicht zu übersehen, wie viel vordergründiger der französische Dichter mit dem Terminus umgeht, viel unmittelbarer an der Mechanik einer wirkungsvollen Kontrastdramaturgie orientiert. Genau dies wird in einer fast umgangssprachlichen und deshalb sehr treffenden, wenn auch entwaffnend naiven Definition der »tragischen Ironie« in einer modernen Schulausgabe eines Dramas von Victor Hugo zusammengefasst: »Man spricht von tragischer Ironie, wenn eine Figur sich angesichts ihrer Situation etwas vormacht und sich in dem Moment, wo sie zu triumphieren glaubt, ins Verderben reitet. Der Zuschauer empfindet dann Mitleid für den Helden.«25 Diese Vorführung eines ironischen Paroxysmus ist bei Hugo jedoch in jedem Detail an die Instanz eines allwissenden und die tragischen Abläufe konstruierenden Autors gebunden. Insofern ist hier ein Seitenblick auf ein seinerzeit außerordentlich erfolgreiches, heute dagegen eher geringgeschätztes Schlüsselwerk des italienischen decadentismo angezeigt: Sem Benelli ging in seinem Versdrama La cena delle beffe aus dem Jahre 1909 (das in einer verkürzten Fassung 1924 mit der Musik von Umberto Giordano dann auch als Oper herauskommen sollte) einen wesentlichen Schritt weiter als Victor Hugo und dessen Adepten im 19. Jahrhundert. Wenn dort zum schaurigen Ende Neri Chiaramantesi glaubt, sich endlich an seinem Rivalen Giannetto Malaspina gerächt zu haben, bevor er erkennen muss, irrtümlich den eigenen Bruder Gabriello ermordet zu haben, ist dies gerade nicht (mehr) die Emanation einer erratischen, tragisch-ironischen Fatalität. Nein: In einer veritablen mise-en-abyme zeigt Benelli, wie kein anderer als Giannetto die Intrige so eingefädelt hat, dass Neri an seiner eigenen Gewalttätigkeit scheitert.

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Stilbrüche

4. Stilbrüche

Bei der Anwendung im Musiktheater kommt freilich zu den bisher diskutierten Fragen der stofflichen Gestaltung entscheidend deren musikalische Realisierung ins Spiel. Dabei ist es durchaus überraschend, dass die Mischung der (dramatischen und musikalischen) Gattungen in der Forschung zwar bei Verdi, aber nicht bei den Komponisten der 1830er Jahre Beachtung gefunden hat.26 Um solche Fragen zunächst wieder an Meyerbeers Les Huguenots, einer der einflussreichsten Opern des 19. Jahrhunderts zu explizieren: In der überwältigenden Musikdramaturgie dieser historischen Oper sind derartige schneidende Ironien konsequent auf den historischen Stoff bezogen. Schrille Stilbrüche erlaubten dem Komponisten, Geschichte auch und vor allem als erlebte Geschichte auf die Bühne zu bringen. Die Tragik der Rahmenhandlung wird immer wieder von Überraschungen gebrochen, denen die französische Regelpoetik allenfalls in der Komödie einen Platz eingeräumt hätte: Marcel ist als bramarbasierender Haudegen ein später Nachfahre des Miles gloriosus der römischen Komödie. Mehr noch: Kein anderer der Protagonisten ist an so vielen verschiedenen Szenen beteiligt. Das Strophenlied des Pagen Urbain am Ende des 1. Akts weist wie die Badeszene am Beginn des 2. Akts auf die französische komische Oper. Noch im musikalischen Detail ist der Chor badender Frauen auf die Konvention des Vaudevilles, diese populäre Spielart des komischen Theaters bezogen, neue Texte auf altbekannte Melodien singen zu lassen: Hier variiert Meyerbeer eine Melodie, die seit dem revolutionären Jahrzehnt auf Joseph Alexandre de Ségurs Allegorie von der Zeit und der Liebe gesungen wurde.27 Die Ronde bohémienne am Beginn des 3. Akts – zu übersetzen mit einer problematisch gewordenen Vokabel als »Tanz der Zigeunerinnen« – überrascht mit dem Ton leichter Unterhaltungsmusik. Das Duett Valentines und Marcels im selben Akt orientiert sich hörbar an Techniken der italienischen opera semiseria, also der halbernsten Oper des frühen 19. Jahrhunderts (wie etwa Rossinis La gazza ladra oder Bellinis La sonnambula). Dort wird simultan der getragene, lyrisch erhabene Gesang Valentines mit Marcels schnatterndem parlante kontrastiert. Wie wichtig dem Komponisten diese genau kalkulierte Stilmischung war, belegt eine Notiz vom 18. November 1835, ziemlich genau drei Monate vor der Uraufführung:

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eyerbeer est très occupé, en ce moment-ci, de la mise en scène M de son opéra qui a pour titre la Saint-Barthélemy. Il m’a dit que dans cet opéra, il y avait du sérieux et du buffo mêlés, qu’il y­ ’aurait, entre autres choses, un chœur accompagné d’une décharge de fusils en mesure, ce qui paraît très difficile aux choristes, et qu’enfin il avait composé pour la danse une espèce de musique hongroise comme il en a entendu exécuter par nos Égyptiens. [Meyerbeer ist sehr beschäftigt in diesem Moment mit der Inszenierung seiner Oper, die den Titel Die Bartholomäusnacht hat. Er sagte mir, dass er in dieser Oper Ernstes und Buffoneskes vermische, und dass es unter anderem einen Chor gebe, der von Gewehrschüssen im Takt begleitet werde, was für die Chorsänger sehr schwierig zu sein scheint, und dass er schließlich für das Ballett eine Art ungarischer Musik komponiert hatte, wie er sie durch unsere Zigeuner hat spielen hören.]28 Ob gewollt oder nicht: In Meyerbeers Formulierung, wie sie ein damals in Paris residierender Opernenthusiast aus dem ungarischen Hochadel, Anton Rudolf Apponyi de Nagy-Appony, zwischen 1826 und 1849 Botschafter der Wiener Kaiserkrone in Paris, seinem Tagebuch anvertraute (Musikliebhaber kennen seinen Vater als Amateurgeiger und Widmungsträger von späten Streichquartetten Haydns), scheint sogar das Ineinander von Chorgesang und mechanisiertem Mord ein Beispiel für die Vermischung des Tragischen und Komischen im Geiste Shakespeares und Victor Hugos.

5. Dissimulation

Voraussetzung für die Entfesselung von Gewalt ist aber in Les ­Huguenots die Verstellung, der bewusste Bruch mit den zivilisatorischen Verhaltensregeln des Adels. Schon seit langem weiß man, dass die einprägsame punktierte Melodie zur sogenannten Schwerterweihe (präziser müsste man Dolchweihe übersetzen) im 4. Akt von Les Huguenots (»Pour cette cause sainte«) kaum verändert einen musikalischen Einfall aus einer italienischen opera semiseria, aus Meyerbeers Oper Margherita d’Anjou aufgreift. Dabei handelt es sich um weit mehr als die Wiederverwendung einer schlagenden Melodie, wie wir sie aus Johann Sebastian Bachs Vokalwerk oder auch noch aus dem – ursprünglich für eine Oper über Ivan den Schrecklichen komponierten – Soldatenchor in Charles Gounods Faust kennen. Denn in dieser, von Raoul und ­Valentine aus

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Dissimulation

dem Nebenzimmer belauschten Szene bringt erst Verstellung das tragische Potential zur Geltung, und es geht dort nicht um eine Hauptund Staatsaktion im tragischen Sinne, sondern um Verbrechen, um kaltblütigen (Massen-)Mord. So haben die dramatischen Situationen in den beiden Werken eine sehr überraschende Gemeinsamkeit: In der Mailänder Oper aus dem Jahre 1820 verstellt sich ein Herzog von Gloucester, weil er von deren Feinden nicht als Unterstützer der Königin Margaret erkannt werden will. Nur für sich (und natürlich für das Publikum) singt er auf die prägnante Melodie: Quel parlar, quell’aria incerta, / Tutto in lor mi dà sospetto. / Ma per giungere all’intento / Giova ancora il simular. [Dieses Reden, diese unsichere Miene, alles macht mir sie verdächtig. Aber um meine Absicht zu erreichen, braucht es noch Verstellung.] Auch in der Schwerterweihe von Les Huguenots geht es um Verstellung, freilich um eine Verstellung, die mit dem Ehrenkodex von Adligen noch weniger vereinbar ist als Gloucesters »simular«. Edelmänner verpflichten sich, wie blutrünstige Straßenräuber zu handeln: »Ni grâce, ni pitié! Que le fer et la flamme / Atteignent le vieillard, et l’enfant et la femme!« (»Kein Mitleid, kein Erbarmen! Das Eisen und die Flamme sollen den Greis, das Kind und die Frau vernichten!«). Ein – Meyerbeer übrigens sehr positiv gesonnener – deutscher Kritiker der Uraufführung hielt fest: »Dieser ganze Auftritt ist gräßlich und schauderhaft als Drama, und unübertrefflich als Musik; das Haar sträubt sich empor bei der gotteslästerlichen Weihe des schändlichsten Hinterhaltes, welchen die Geschichte kennt.«29 Zu diesem Hinterhalt gehört in der Sprache des zeitgenössischen Pariser Boulevard-Theaters, das Meyerbeer die Vorlage für seine Margherita d’Anjou geliefert hatte, die Dissimulation. Um dieses heute kaum noch präsente dramaturgische Konzept genauer umreißen zu können, lohnt sich ein Blick in die zeitgenössische Literatur. 1816 hatten drei Autoren (darunter auch Victor Hugos Bruder Abel), deren Vor- oder Nachnamen alle mit A beginnen und die sich deshalb – die melodramatische Technik des wortlosen Schreis imitierend – hinter dem Gruppenpseudonym »A! A! A!« versteckten, die wichtigsten Merkmale des populären Melodrams identifiziert. Über die Dissimulation lesen wir dort:

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u’entends-je? est aussi une expression magique; que vois-je? Q également. Mais le mot par excellence, le mot qui doit assombrir toutes les scènes, le mot enfin sans lequel il n’y a pas de Mélodrame; c’est le mot: dissimulons. Ce fameux impératif mérite que nous arrêtions un peu devant lui, comme dans un vaste temple, on s’arrête devant l’image de Dieu. D’où vient l’ascendant qu’il exerce sur tous les esprits? Est-ce parce qu’à lui seul il renferme toute la pièce? ou bien, parce qu’il est le manteau du crime, et que, derrière lui, l’âme du spectateur entrevoit toutes les machinations de la scélératesse? Ce qu’il y a de certain, c’est qu’il est armé d’un pouvoir intime, qui soumet tous les cœurs. [Was hör’ ich? ist ebenfalls ein magischer Ausdruck; was seh’ ich? auch. Aber das Wort par excellence, das Wort, das alle Szenen verdunkeln muss, das Wort endlich, ohne das es kein Melodram gibt, das ist das Wort verstellen wir uns. Dieser berühmte Imperativ verdient, dass wir ein wenig vor ihm innehalten, so wie man in einem mächtigen Tempel vor dem Bild Gottes innehält. Woher kommt der Einfluss, den er auf alle Köpfe ausübt? Weil er ganz allein das ganze Stück umfasst? Oder aber weil er der Mantel des Verbrechens ist und weil die Seele des Zuschauers unter ihm alle Intrigen der Verruchtheit erahnt? Gewissheit haben wir, dass er mit einer versteckten Kraft ausgestattet ist, die alle Herzen in ihren Bann schlägt.]30 In grundsätzliche soziologische Überlegungen gewandt finden sich ganz ähnliche Bemerkungen in einem 1824 in Neapel publizierten Essay aus der Feder eines Klerikers, der unter der napoleonischen Herrschaft zum Hofbibliothekar ernannt worden war und dem das Kunststück gelang, dieses Amt trotz seiner jakobinischen Vergangenheit auch in der Restauration beibehalten zu können: a simulazione poi, che oggidì compone lo stato ordinario del L vivere civile, è una catena non interrotta di menzogne. Il nostro esterno è sempre discordante dall’interno: noi vestiamo abiti da teatro, sia nel mostrarci virtuosi in apparenza, sia nel promettere cose che poi non si adempiscono, sia col negare ciocchè agli altri devesi. Ma bentosto la dissimulazione si appalesa, mentre l’eroe del teatro bentosto va a deporre dietro lo scenario la veste. [Die Verstellung schließlich, die heutzutage den Normalzustand des Zusammenlebens ausmacht, ist eine ununterbrochene Kette von Lügen. Unser Äußeres weicht immer vom Inneren ab:

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Wir kleiden uns in Theaterkostüme, sei es um uns eine tugendhafte Erscheinung zu geben, sei es beim Versprechen von Dingen, die dann nicht eingehalten werden, sei es im Nichterfüllen dessen, was wir den anderen schulden. Aber bald wird die Verstellung sichtbar, während der Held des Theaters hinter der Bühne sein Kostüm ablegt.]31 Weniger kategorisch, aber mit einer für unseren Zusammenhang aufschlussreichen Klassifizierung, argumentiert eine weit verbreitete moralpädagogische Schrift, die 1820 in Paris publiziert wurde und die drei verschiedene Arten der Dissimulation unterscheidet: I l y a trois manières de cacher ses desseins: la première, d’être silencieux et secret, et de ne pas donner occasion d’observer ce qu’on pense; la seconde, la dissimulation dans la négative, ­lorsqu’on donne adroitement lieu de croire qu’on ne pense pas tout ce qu’on pense en effet; la troisième est la fausseté pure, ­lorsqu’un homme feint d’être, et prétend qu’on le croie tout ­différent de ce qu’il est véritablement dans le fond. [Es gibt drei Arten, seine Absichten zu verbergen: die erste, schweigsam und geheimnisvoll zu sein und keine Gelegenheit zu geben, das, was man meint, beobachten zu lassen; die zweite, die Dissimulation im Negativen, wenn man mit Geschick glauben lässt, dass man genau das nicht meint, was man in Wirklichkeit meint; die dritte ist die reine Falschheit, wenn ein Mann vorgibt, etwas zu sein, und verlangt, dass man ihn für einen ganz anderen hält als den, der er im Grunde wirklich ist.] Während dieser Henri Lemaire aber die ersten beiden Arten für legitime Verhaltensweisen im politischen Umgang hält, verdammt er die dritte auf kompromisslose Weise: ais la troisième manière, qui est le faux semblant, je la regarde M comme la plus criminelle et la moins politique […]. L’habitude de feindre ce qui n’est point, vient d’une fausseté naturelle, d’un cœur bas et timide. [Aber die dritte Art, das ist die Falschspielerei, ich betrachte sie als die verbrecherischste und die am wenigsten politische […]. Die Gewohnheit das vorzugeben, was gerade nicht ist, rührt von einer natürlichen Falschheit her, von einem niederträchtigen und schüchternen Herz.]32

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Ein letzter und in seiner grotesken Überzeichnung besonders schlagender Beleg für diese dritte Art der Dissimulation als dramaturgische Technik findet sich in Jacques Offenbachs großer opéra bouffe Les Brigands aus dem Jahre 1869, wenn dort im 2. Akt der Räuberhauptmann Falsacappa seine Bande zur Verstellung auffordert: »Mes enfants, je vous le répète, dissimulez… dissimulez… ayez l’air de vrais marmitons!« (»Meine Kinder, ich wiederhole Euch, dissimuliert… dissimuliert… gebt Euch den Anschein echter Küchenjungen!«) und diese fortissimo im Chor mit dem umwerfenden Text antworten: »Dissimulons, dissimulons, / Ayons l’air de vrais marmitons« (»Lasst uns dissimulieren, lasst uns dissimulieren, geben wir uns den Anschein echter Küchenjungen«).33

6. Strophenlieder

In der ernsten Oper wird man solche überdeutlichen Hinweise auf das Dissimulieren aus guten Gründen nicht finden. Freilich hat spätestens Victor Hugo mit seinem Drama Le Roi s’amuse im November 1832 auch die von Lemaire als dritte Art der Dissimulation bezeichnete Verhaltensweise in die Tragödie eingeführt. Wenn der König von Frankreich im letzten Akt ins Bordell geht, singt er ein einfaches, fast populäres Lied, das sich mit seinem kurzen Versmaß auf eklatante Weise von dem ansonsten durchgängig verwendeten Versmaß des Alexandriners abhebt: François I. will für einen Vertreter des niederen Stands gehalten werden. Bereits in den Jahren vor 1830 hatten einige Opernkomponisten auch im tragischen Genre kurze Lieder platziert, die in aller Regel strophisch organisiert sind. Zunächst blieben diese freilich – gleichsam noch die gute, alte Ständeklausel respektierend – Angehörigen der Unterschichten vorbehalten: So tritt im Jahre 1828 Masaniello, der neapolitanische Fischer, im 2. Akt von Aubers La Muette de Portici (auf ein Libretto von Scribe) nicht mit einer Arie auf, sondern mit einer strophischen Barkarole. Im August 1829 begegnet auch in Rossinis Guillaume Tell ein Strophenlied; es ist im 1. Akt einem anonymen Fischer zugewiesen, die solistischen Auftritte der Schweizer Ureinwohner prägen dagegen allesamt eine höhere Stillage aus. Im 1. Akt von Meyerbeers Les Huguenots entspricht dem niederen Stand Marcels das Strophenlied, mit dem er als grobschlächtiger Haudegen eingeführt wird. Aber im selben Akt wird auch sein Dienstherr, der eingangs erwähnte adlige Raoul de Nangis mit einer strophischen Romanze vorgestellt. Diese Auflösung der Standesgrenzen in der Wahl

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Strophenlieder

musikalischer Formen hatte System: Ein Jahr zuvor, im 1. Akt von Halévys La Juive auf ein Libretto Scribes, war sogar der Kardinal Brogni mit einer strophischen Form eingeführt worden. Eine neue Qualität ist knapp zwei Jahrzehnte später erreicht, wenn in Giuseppe Verdis Bearbeitung von Hugos Le Roi s’amuse der Herzog von Mantua (der französische König der Vorlage musste in Venedig aus Rücksicht auf die Zensur zu einem Angehörigen eines ausgestorbenen Adelsgeschlechts herabgestuft werden) mit seinem mehr als populären Lied »La donna è mobile« aus der Rolle fällt. Acht Jahre nach Rigoletto semantisiert derselbe Verdi dann in Un ballo in maschera die strophische Form zusätzlich, wenn Riccardo, der Gouverneur von Boston, sich im zweiten Bild des 1. Akts auch musikalisch auf ohrenfällige Weise als Fischer gibt. Auch für diese bis heute erfolgreiche Oper geht die entscheidende Anregung auf Eugène Scribe zurück: Verdi hatte sich dessen Libretto für Aubers Gustave III ou Le Bal masqué aus dem Jahre 1833 einrichten lassen. Freilich hatte sich der Komponist jener Oper, Daniel-François-Esprit Auber die Chance entgehen lassen, die Verkleidung des Königs von Schweden als Matrose auch mit musikalischen Mitteln zu vergegenwärtigen. Erst in Verdis Oper aus dem Jahre 1859 dissimuliert der Herrscher, der wiederum nur aus Rücksicht auf die Zensur nicht als König auftreten durfte. Auf »niederträchtige« Weise betreibt er »Falschspielerei«, weil alle seine Auftritte nur dem Ziel dienen, die Ehefrau seines besten Freundes zu verführen, also sie zu dem bis ins 20. Jahrhundert als Verbrechen qualifizierten und strafbaren Delikt des Ehebruchs anzustacheln. Ein konservativer Beobachter im besonders reaktionär regierten Königreich beider Sizilien, ein 1776 geborener, damals also schon achtzigjähriger Theaterdichter, steigerte sich angesichts solcher Gattungsmischungen und Stilbrüche – bei aller Begeisterung für die Theatermusik eines Verdi – in eine geifernde Moralpredigt hinein. In einem 1856 erschienenen Pamphlet schrieb der Herzog von Ventignano: ra, durante il periodo che qui percorriamo, e che ci sembra O poter dire di decadenza, il Dramma romantico ed ultra romantico sempre più inondava anche il demanio musicale con tutte le sue complicazioni, stravaganze ed atrocità. […] Ultimo indizio di decadenza è la confusione dei generi. Spesso il largo di un ­f­inale buffo ben potrebbe incastrarsi in un finale di Tragedia […]. Il nome di Verdi fu da noi associato a quei di Piccinni e di Rossini, ed egli ben siede tra cotanto senno. Dal Nabucco ai Due Foscari l’alta Tragedia fu da lui trattata in modo eminente […]. Ciò non

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pertanto rincresce il vedere da lui preferiti degli argomenti o truci o turpi, e per soprappiù verseggiati in barbaro linguaggio. S ­ petta a lui, ch’egli solo il può, richiamare i poeti sul buon sentiero, ­rifiutando libretti che non sieno degni del suo genio maraviglioso. [Nun hat in dem Zeitraum, den wir hier überblicken, und den man, wie es uns scheint, als dekadent bezeichnen kann, das romantische und ultra-romantische Drama auch das Reich der Musik immer mehr mit all seinen Verwicklungen, Extravaganzen und Gräueln überschwemmt. […] Ein äußerstes Indiz für die Dekadenz ist die Vermischung der Gattungen. Oft könnte man das langsame Ensemble eines Buffa-Finales in ein tragisches Finale einfügen […]. Der Name Verdis wurde von uns Piccinni und Rossini gleichgestellt, und fügt sich gut in einen solchen Zusammenhang. Von Nabucco bis zu I due Foscari wurde die hohe Tragödie von ihm auf herausragende Art behandelt […]. Dies hat jedoch nicht verhindert zu sehen, dass er entweder grausame oder abscheuliche Stoffe bevorzugt, und überdies mit Versen, die ein barbarisches Vokabular verwenden. Es ist seine Aufgabe, denn nur ihm ist dies möglich, die Librettisten auf den richtigen Weg zurückzurufen, indem er Libretti ablehnt, die seines wunderbaren Genies nicht würdig sind.]34 Der wiederholt auch in der Zensurbehörde mit der Kontrolle von Bühnenwerken betraute Herzog von Ventignano wollte nicht wahrhaben, dass Verdi bereits seit seinen allerersten Erfolgen seine Libretti selbst ausgewählt hatte und seine Textdichter nur für die poetische Ausgestaltung von Texten heranzog, von denen er oft sogar selbst eine Prosaskizze verfasst hatte. Auch die positive Einschätzung der frühen Oper I due Foscari aus dem Jahre 1844 muss man im Rückblick als sehr wohlwollend bezeichnen. Denn ausgerechnet ein – seinerzeit ­ziemlich erfolgreicher – Komponistenkollege hatte gerade an diesem Lord Byron verpflichteten Stück die Vermischung der Stil­ lagen kritisiert. In einem Bericht von der Uraufführung hielt dieser Nicola Vaccaj fest: J eri sera aspettato, desiderato, andò in Scena l’Opera di Verdi i Due Foscari. Si aspettava molto ed è riuscito poco […]. Il libro è pessimo, ma anch’egli non ha approfittato di qualche buona ­situazione, perchè sul più bello vien fuori con pensieri buffi. [Gestern Abend ging die erwartete und ersehnte Oper Verdis I due Foscari über die Bühne. Man erwartete viel und wenig ist

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gelungen […]. Das Libretto ist erbärmlich, aber überdies hat er nicht von manch gut gewählter Situation profitiert, weil er in den schönsten Momenten mit buffonesken musikalischen Gedanken kommt.]35

7. Gewalterfahrungen

Nach dieser Abschweifung ins Italien der 1840er und 1850er Jahre zurück nach Paris und zur Vergegenwärtigung von Gewalt in Les ­Huguenots: Das Massaker der Bartholomäusnacht ist in den Rhythmus der Musik integriert, in Meyerbeers Oper wird – wie in Apponyis Notiz auf so eingängige Weise formuliert – im Takt gemordet. Damit nimmt zum ersten Mal in der Entwicklung der Oper der abgrundtiefe Geschichtspessimismus musikalische Gestalt an, der anderthalb Jahrzehnte später Wagners Vision eines Weltenbrands genauso wie – im Zeichen ähnlicher Stilmischungen – Verdis sentimentalen Tragödien zugrunde liegen wird. Wie in Le Roi s’amuse und Rigoletto das Lachen, so bleibt einem in Les Huguenots das Mitgefühl gleichsam im Halse stecken: Der Einzelne wird von der Geschichte zermalmt. Zugleich mit der ständigen Fragmentierung und Beschleunigung der Melodie von Luthers Choral »Ein feste Burg ist unser Gott« im 5. Akt greifen die zunächst nur im Bühnenhintergrund angedeuteten Ereignisse der Bartholomäusnacht allmählich auf die Vorderbühne über. In Meyerbeers Vorgaben für das Bühnenbild wird der den »Märtyrern« verbleibende Raum immer weiter reduziert, das Massaker rückt dem Publikum gleichsam »auf die Pelle«, nur die Trennung von Bühne und Zuschauerraum verhindert das Übergreifen der mörderischen Gewalt auf das Parkett.36 Präziser noch als in anderen literarischen Gattungen der Zeit inszeniert Meyerbeer mit allen Mitteln des Musiktheaters eine Grunderfahrung der Moderne nach der Traumatisierung durch die Französische Revolution. In der Tat können wir uns keinen Begriff davon machen, was der Zusammenbruch der monarchischen Ordnung und der große europäische Krieg zwischen 1792 und 1815 für die Zeitgenossen bedeutet haben müssen. Zum ersten Mal seit dem frühen Mittelalter konnte Geschichte nur noch als etwas Dynamisches wahrgenommen werden; keine stabile Struktur, weder Religion noch irgendeine Krone bot mehr Sicherheit in den sich überstürzenden Ereignissen, die mit dem Aufstieg und Fall Napoléons eine weitere Beschleunigung erfahren sollten.

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I Grand Opéra

Wie schon die Zeitgenossen erkannten, wurde in Scribes und Meyerbeers Oper lediglich im Vordergrund ein Ereignis aus dem Jahre 1572 verhandelt; das Publikum der Uraufführung bezog die Mechanik des Mordens auf Robespierres Schreckensherrschaft, die zum Fanal der Hinrichtung von König Ludwig XVI. als »citoyen Louis Capet« auf der Guillotine am 21. Januar 1793 geführt hatte. Nicht von ungefähr findet sich im Text der Chöre der Schwerterweihe die Rede vom »sang impur«, vom »unreinen Blut« der zu tötenden Feinde, die man damals wie heute mit der ersten Strophe der Marseillaise verbindet – nur dass dieses blutrünstige Kampflied der Revolution in den 1830er Jahren gerade nicht den Status einer Nationalhymne hatte. Auch wenn diese traumatischen Ereignisse damals 43 Jahre zurücklagen (also genauso weit wie heute die Unruhen von 1968), waren sie doch unverändert in der Erinnerung präsent: In Paris lebte kaum ein Franzose, kaum eine Französin, die nicht in der eigenen Familie Opfer dieses revolutionären Terrors zu beklagen gehabt hätten. Insofern musste es ein starkes Identifikationsangebot bedeuten, wenn Meyerbeer und Scribe die politischen Prozesse, die zur sogenannten Bartholomäusnacht geführt hatten, als blindwütige Eigendynamik inszenierten und in tragischen Ironien gipfeln ließen. (Wenn man um den Hintergrund des 1791 bei Berlin in eine jüdische Familie geborenen Komponisten weiß, muss man in dieser Inszenierung überdies einen ebenso hellsichtigen wie desillusionierten Kommentar zur Jahrhunderte währenden Geschichte der Judenverfolgung sehen.) Jegliches Individuum ist verloren angesichts der Bedrohungen einer gleichzeitig als übermächtig, anonym und sinnlos erfahrenen Geschichte. Der einzige Sinn der historischen Schrecken ist negativ, eben im Sinne eines Antiprovidentialismus. Auch wenn Scribes und Meyerbeers Intrige weniger grotesk erscheint als Le Roi s’amuse oder gar das von Donizetti umgehend als Opernstoff verwendete Schauerdrama Lucrèce Borgia: Die von Hugo eingeforderte Groteske hat – übrigens ­ eyerbeers nicht zuletzt als »ein Mittel der Verfremdung«37 – auch in M Musik Spuren hinterlassen, etwa in den gestelzten Bewegungen des Menuetts im 5. Akt oder in der ebenso schrillen wie hässlichen Charakterisierung Marcels in dessen Auftrittslied im 1. Akt von Les Huguenots. In seiner nächsten großen historischen Oper, in Le Prophète von 1849, in deren Fokus – wieder auf ein Libretto von Eugène Scribe – die kriminelle Erlangung von Macht und deren rücksichtslose Stabilisierung durch proletarische Emporkömmlinge steht, ging Meyerbeer bei der Verwendung grotesker Darstellungsmittel noch einen wesentlichen Schritt weiter. Für diese zynischen Betrüger aus dem 16. Jahrhundert

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Gewalterfahrungen

fand er eine prägnante rhythmisch-melodische Chiffre: eine gehetzt wirkende Gruppe von Achteltriolen auf der ersten, der schweren Zählzeit des Taktes, die ein antisemitischer Kritiker später voller Abscheu als »widrige Triolen-Polterei« denunzieren sollte38 und die noch den solistischen Auftritt des Zacharie im selben 3. Akt prägt, in einer grotesken Variante der aus dem A. R. (vgl. S. 99) überkommenen »Gleichnisarie« metastasianischer Art.39 Auch die Vermischung der dramatischen Gattungen ließ Meyerbeer nochmals offensichtlicher werden, wenn in einem ausdrücklich als »Trio bouffe« betitelten Terzett zwei blutrünstige Revolutionäre die feige Dissimulation ihres ehemaligen Dienstherren, des Grafen Oberthal entlarven und nichtsdestotrotz alle drei am Ende dieser langen Ensemble-Nummer im »Allegro spiritoso« auf einen schnatternden Polka-Rhythmus im Unisono den »destin prospère«, das »gütige Schicksal« beziehungsweise den »Dieu tutélaire«, den »beschützenden Gott« beschwören. In diesem Sinne ist aber das Groteske – in den Worten der französischen Literaturwissenschaftlerin Véronique Klauber – präzise eine Art »Überdruckventil der Unsicherheit«, es »öffnet die Absperrhähne eines Lachens, das unter dem Druck von Angst und Beklommenheit zur Grimasse verwandelt wird […] und sich auf das fiebernde Publikum überträgt. […] Das Groteske vermittelt weniger eine Katharsis als die Bestätigung, dass alles instabil ist«.40 In einer oft zitierten Formulierung hielt Karl Marx 1852 fest, »alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen« ereigneten »sich so zu sagen zweimal […]: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«.41 Auch wenn wenig für die Triftigkeit dieses Bonmots spricht: Für das Zeitalter der politischen und sozialen Revolutionen galt ohne jeden Zweifel, dass man im re-enactment gerade auch im Musiktheater die beunruhigende Dynamik mörderischer historischer Prozesse mit den Mitteln der Farce zu domestizieren suchte.

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I Grand Opéra 1 Alle Übersetzungen sind vom Autor. 2 Naugrette, Florence: Le théâtre de Victor Hugo, Lausanne 2016, S. 52 – 53. 3 Naugrette: Le théâtre romantique. Histoire, écriture, mise en scène, Paris 2001, S. 277: »une véritable machine de guerre contre l’idéalisme du beau«. 4 Hugo: Cromwell. Drame, Paris 1828. 5 Charakteristisch für diese Situation ist das für die Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts wichtige und höchst lesenswerte Kapitel »Ironies romantiques«, in: Marcandier-Colard, Christine: Crimes de sang et scènes capitales. Essai sur l’esthétique romantique de la violence, Paris 1998, S. 259 – 276, in dem auf begriffsgeschichtliche und definitorische Anstrengungen völlig verzichtet wird und in dem (deshalb?) auch jeglicher Hinweis auf dramatische Literatur fehlt. 6 Vgl. Parent, Yvette: »Victor Hugo et l’ironie romantique, le mot et la pratique«, Communication au Groupe Hugo du 14 juin 2014, S. 12 (http://groupugo.div. jussieu.fr/Groupugo/14-06-14Parent.htm; aufgerufen am 20. Januar 2017). 7 Behler, Ernst: Klassische Ironie, romantische Ironie, tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe (Libelli, 328), Darmstadt 1972, S. 137 und 142 – 143; vgl. auch von Brincken, Jörg: »Tours de force – Die Ästhetik des Grotesken in der französischen Pantomime des 19. Jahrhunderts«, in: Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste, hrsg. von Christopher Balme, Hans-Peter ­Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele, Bd. 51, Tübingen 2006, S. 80, Anm. 14. 8 Schoentjes, Pierre: Poétique de l’ironie, Paris 2001, S. 119: »L’ironie est absente de la réflexion théorique menée par les romantiques. L’exposé de la doctrine de cette école qui se retrouve dans les textes programmatiques comme ›Préface de Cromwell‹ (1827) privilégie la notion de grotesque et ignore l’ironie […] L’absence du mot n’empêche pas les similitudes avec l’analyse des romantiques allemands. C’est à partir de constats semblables à ceux que faisaient Schlegel – les contradictions de l’existence, la proximité du sublime et du ridicule – que Victor Hugo élabore sa nouvelle vision de l’art en général et du drame en particulier. Il articule cependant sa réflexion autour d’autres catégories et pose d’autres accents; ainsi la religion était étrangère au premier Schlegel, elle ne l’est pas à Hugo.« 9 Als ein Beispiel für viele sei – ausgerechnet – eine Untersuchung von populären Formen des französischen Theaters genannt, die bei der Klärung ästhetischer Begriffe ausschließlich auf Victor Hugo fokussiert; vgl. von Brincken: Tours de force, S. 76 – 91. 10 Puškin, Aleksandr Sergeevič: [Наброски предисловия к трагедии »Борис Годунов«] [Nabroski predislovija k tragedii »Boris Godunov«] [1829], in: ders.: Sobranie sočinenij v desjati tomach, Band VI, hrsg. von Blagoj, D[mitrij] D[mitrievič]/Bondi, S[ergej] M[ichajlovič]/Vinogradov, V[iktor] V[ladimirovič]/ Oksman, Ju[lian] G[rigor’evič], Moskau 1962, S. 300. 11 Manzoni, Alessandro: [Lettre à M. C*** sur l’unité de temps et de lieu dans la tragédie], in: ders.: Tragedie ed altre poesie, con l’aggiunta di alcune prose sue e di altri, Paris 1830, S. 414 – 484, hier S. 437. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 M[azure], A[dophe]: Cours complet d’instruction, par deux pères de famille, [Band II:] Littérature étrangère: italienne, espagnole, anglaise, allemande, Paris 1836, S. 208. 15 Gottschall, Rudolf: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik. Vom Standpunkte der Neuzeit, Breslau 1858, S. 434 bzw. 21870, Band II, S. 220 [Hervorhebungen im Original]. 16 Ebd., S. 430 f. bzw. Band II, S. 215 f. [Hervorhebungen im Original]. 17 [Voltaire]: »Préface de l’éditeur [à Bérénice, tragédie de Racine]», in: Corneille, Pierre: Théatre avec des commentaires, hrsg. von Voltaire, Band IX, [Genève] 1764, S. 111 – 116, hier S. 114. 18 Nodier, Ch[arles]: »Cyrano de Bergerac« , in: Revue de Paris (1831), H. 29, S. 38 – 56, hier S. 42. 19 Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas, Leipzig 1863, S. 85. 20 Ubersfeld, Anne: »Limites du romanesque«, in: Spiegel, Agnès (Hrsg.): Victor Hugo et le romanesque, Paris/Caën 2005, S. 11 – 17, hier S. 13: »On pourrait sans

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Endnoten

efforts multiplier les exemples, car cet antiprovidentialisme ironique est l’une des lois de la fable chez Hugo. La plus jolie formule, c’est dans le théâtre qu’on la trouve, dans Marie Tudor, et c’est le geôlier Joshua qui la prononce: […]«. 21 Vgl. Marcandier-Colard: Crimes de sang, S. 2 f.; von Brincken: Tours de force, S. 108 – 116. 22 Shakespeare, William: The tragedy of Hamlet prince of Denmarke. Newly imprinted and inlarged, according to the true and prefect copy lastly printed, London [1622], [S. 56]. 23 Hugo: »Discours (sur la tombe de Frédérick-Lemaître)«, in: Le rappel, 29. Januar 1876, S. 1. 24 Hugo: Les travailleurs de la mer, Band III, Paris 1866, S. 130. 25 Hugo: Ruy Blas, hrsg. von Jacqueline Milhet, Paris 2006, S. 139: »On parle ­d’ironie tragique lorsqu’un personnage se leurre sur sa situation et court à sa perte au moment où il croit triompher. Le spectateur éprouve alors de la pitié pour le héros.« 26 Vgl. Weiss, Piero: »Verdi and the fusion of genres«, in: Journal of the American musicological society 35 (1982), S. 138 – 156. 27 Vgl. Kopchick Spencer, Helena: The »Jardin des femmes« as scenic convention in French opera, PhD. diss. University of Oregon, Eugene 2014, S. 77 – 83. 28 Apponyi, Rodolphe: Vingt-cinq ans à Paris (1826 – 1850). Journal, hrsg. von Ernest Daudet, Band III, Paris 1914, S. 151 – 152. 29 [Anonym:] »Bilder aus Paris. Nr. 1. Die Hugenotten, von Meyerbeer«, in: Das Ausland. Ein Tagblatt für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker 9 (1836), S. 333 f., 338 f., 342 f. und 346 f.: 342 (Nrn. 84 – 87 vom 24., 25., 26. und 27. März). 30 A! A! A! [Abel Hugo, Armand Malitourne und Jean Joseph Ader]: Traité du mélodrame, Paris 1817, S. 62 f. 31 Sanchez, Giuseppe: Economia delle passioni. Lettere filosofiche morali indiritte ai suoi nipoti, Napoli 1824, S. 371. 32 Lemaire, H[enri]: Chefs-d’œuvre de morale, ou Recueil, en prose et en vers, de ce qui a été dit ou écrit de plus utile aux mœurs par les hommes qui ont acquis une grande célébrité dans les temps anciens et modernes, tels que Plutarque, Cicéron, Sénèque, Fénelon, Pascal, Nicole, J.-J. Rousseau, La Fontaine, J.-B. Rousseau, Voltaire, Corneille, etc., etc. Ouvrage à l’usage de la jeunesse des deux sexes, Band I, Paris 1820, S. 364 und 366. 33 Meilhac, H[enri] und Halévy, Lud[ovic]: Les brigands. Opéra bouffe en trois actes, Paris 1869, S. 57. 34 Della Valle, Cesare: Considerazioni sullo stato attuale del teatro italiano, Napoli 1856, S. 21 f. 35 Brief Vaccajs an seine Frau vom 4. November 1844; zitiert nach: Il carteggio ­personale di Nicola Vaccaj che si conserva presso la Biblioteca comunale filelfica di Tolentino, Bd. I, hrsg. von Jeremy Commons, Torino 2008, S. 288. 36 Vgl. Brzoska: »Historisches Bewußtsein und musikalische Zeitgestaltung«, in: Archiv für Musikwissenschaft 45 (1988), S. 50 – 66. 37 Naugrette: Le théâtre romantique, S. 279: »une instance de distanciation«. 38 Krüger, E[duard]: »Anzeigen und Beurtheilungen. Novissima fürs Clavier«, in: Allgemeine musikalische Zeitung 6 (1871), Sp. 757 – 759, 774 – 778, 789 – 791 und 805 – 808, hier Sp. 791 (Nr. 50 vom 13. Dezember). 39 Vgl. Gerhard, Anselm: »Sprachvertonung und Gestik in M ­ eyerbeers Le Prophète«, in: Königsdorf, Jörg/Roesler, Curt A. (Hrsg.): Europa war sein Bayreuth. Symposion zu Leben und Werk von Giacomo Meyerbeer. 29. September – 1. Oktober 2014 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, Berlin 2015, S. 231 – 237. 40 Klauber, Véronique: »Grotesque, littérature«, in: Encyclopædia universalis [2015] (http://www.universalis.fr/encyclopedie/grotesque-litterature/; aufgerufen am 12. Oktober 21): »Soupape de l’insécurité, le grotesque dans la littérature ­moderne ouvre les vannes d’un rire transformé en grimace sous la pression de l’angoisse ou du malaise, alors que la sensation d’insécurité et de l’oppression persiste chez l’écrivain et se répercute dans le public frissonnant. Sa charge ­comique ne suffit pas à une dénégation efficace, mais elle permet de réagir; le grotesque apporte moins la catharsis que la confirmation de l’instabilité de tout.« 41 Marx: »Der 18te Brumaire des Louis Napoleon«, in: Die Revolution. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften 1 [New York] (1852), S. 1 – 64, hier S. 1.

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II Vincenzo Bellini Günther Heeg Trauer- und Traumarbeit im Belcanto Die Stuttgarter Inszenierungen von Vincenzo ­Bellinis Opern Norma, La Sonnambula und I Puritani 1. Wiederentdeckung

Belcanto-Opern von Vincenzo Bellini, die ins Repertoire eines Opernhauses gelangen, erfüllen dort nicht selten den Zweck, jenen Teil des Publikums zu befriedigen, der mit zeitgenössischem Musiktheater nichts anzufangen weiß. Denn hier, bei Norma, La Sonnambula und I Puritani dürfen die konservativen Opernbesucher:innen hoffen, sich ganz einem Fest der Stimmen und der Schönheit der nicht enden wollenden Melodien hingeben zu können, unbelästigt von der Bedeutung des Librettos und der Beziehung zwischen Handlung und Musik. So können sie sich delektieren am leidenschaftlichen Außer-sichSein der Protagonistinnen Norma, Amina und Elvira, ohne der Frage nachgehen zu müssen, was denn die Ursache ist, die diesen solch ein Übermaß an Leiden schafft. Ganz anders an der Oper Stuttgart. Hier haben sich Jossi Wieler und Sergio Morabito zusammen mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock annähernd 15 Jahre mit dem Werk von Bellini befasst und in dieser Zeit die Opern Norma (Premiere 29. Juni 2002), La Sonnambula (Premiere 22. Januar 2012) und I Puritani (Premiere 8. Juli 2016) zur Aufführung gebracht. Das Ergebnis, wie man es in solchen Fällen gerne tut, lediglich als kontinuierliche Bellini-Pflege des Hauses zu beschreiben, wird diesem Ereignis nicht gerecht. Denn um ein Ereignis handelt es sich: um das Ereignis einer Wieder- und Neuentdeckung von Vincenzo Bellini als Komponist eines modernen Musiktheaters avant la lettre. Eine solche Qualifizierung hat nichts mit dem Klischee willkürlicher Aktualisierung zu tun, das dem Regietheater anhängt. Denn Wieler, Morabito und Viebrock stülpen Bellinis Werken kein Konzept über, das gegenwärtig en vogue ist. Ihr Interesse richtet sich vielmehr zuvörderst auf die Rekonstruktion des

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Wiederentdeckung

Zusammenhangs von Text, Handlung und Musik, der von der Rezeption verschüttet worden ist. Entgegen dem Bellini zugeschriebenen Bonmot, ein Libretto sei dann am besten, wenn es keinen Sinn mache – gefallen wohl in einer Krise der Zusammenarbeit mit dem Dichter und Nichtlibrettisten Carlo Pepoli1 – nimmt das Stuttgarter Leitungsteam Bellinis Libretti ernst. Dass das auch Bellini selbst getan hat, zeigen die Abweichungen und Veränderungen gegenüber den zeitgenössischen Vorlagen an Balletten, Comédie-Vaudevilles, Tragödien und Dramen, die Bellini, Romani und Pepoli mit größter Sorgfalt vorgenommen haben und die von der Stuttgarter Dramaturgie in akribischer, archäologischer Arbeit wieder frei- und ausgelegt werden. Dabei zeigt sich an den auf diese Weise pointierten Libretti ein dreifacher Bezug auf Geschichte: Da ist zunächst die Geschichte der Handlung, die sich in der Tat nicht immer auf den ersten Blick erschließt. Näheren Aufschluss bietet sodann der Kontext der Historie, in dem die Handlung sich abspielt: das von den Römern besetzte Gallien in Norma (1831), das alte Regime der Gutsherrschaft in einem schweizerischen Dorf in La Sonnambula (1831), das 17. Jahrhundert des englischen Bürgerkriegs in I Puritani (1835). Die Geschichte, die das Libretto erzählt, ebenso wie die soziale und politische Geschichte, die den Horizont der Handlung bildet, werden in Beziehung gedacht zur Entstehungszeit der Opern zwischen Restauration und Risorgimento, Fremdherrschaft und nationaler Einigung. Diese drei Zeiten treten zueinander in Konstellation. In ihr verräumlicht sich die Zeit und wird zur Raum-Zeit. Unter diesem Begriff sei die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, ungleichzeitiger Zeiten in einem virtuellen Raum verstanden. Die durch die Musik und den Gesang handelnden Personen erhalten in dieser Raum-Zeit der Opern eine historische Signatur zwischen Damals und Heute, Nicht-mehr und Noch-nicht, Realem und Virtuellem, Trauer und Traum. Es ist diese historische Signatur, die uns in der Gegenwart ergreift. In ihr erfüllt sich der Sinn der Opern von Vincenzo Bellini. Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock haben diese Signatur sowohl dramaturgisch erschlossen, als auch räumlich und inszenatorisch plastisch vor Augen gestellt. Darin besteht die Einzigartigkeit der Stuttgarter Bellini-Inszenierungen.

2. Praxis des Historisierens

Die Entstehung und Aufführung von Bellinis Opern fallen in die Hochzeit des Historismus. Die Künste folgen darin dem Vorbild

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II Vincenzo Bellini

der ­historischen Romane von Walter Scott und begeben sich auf die Suche nach historischen Stoffen. Auf den Theaterbühnen sollen ferne Zeitalter ins Bild gefasst und verlebendigt werden.2 Erst wenn man sich die Verbreitung und Bedeutung der historistischen Theaterpraxis zu Bellinis Zeit vergegenwärtigt, kann man ermessen, wie sehr Bellinis eigener Umgang mit Geschichte sich davon unterscheidet. Gewiss, auch Norma, I Puritani und selbst La Sonnambula sind in der Geschichte verortet. Aber sie wollen sich nicht zum Geschichtsbild runden. Zu unübersichtlich bieten sich zunächst die Handlungen der drei Opern dar, als dass sie sich für die Bildprojektionen des Historismus eignen würden. Die Konflikte, die darin zutage treten, sind am Ende nicht gelöst und hinterlassen offene Fragen. Der Opfertod der Norma, der Hohepriesterin der Gallier, die ein Verhältnis und zwei Kinder mit dem Anführer der Besatzer, dem Römer Pollione hat, mag auf den ersten Blick als Tragödie durchgehen. Aber welchen Sinn macht es, dass der abtrünnige Liebhaber Pollione, der sich inzwischen in eine andere Priesterin der Mondgöttin, in ­Adalgisa, verliebt hat, am Ende mit Norma den Scheiterhaufen besteigt? Jedenfalls nicht den Sinn einer plötzlichen tragischen Vereinigung der Liebenden im Tod. Und wie ist die Wiederholung der Liebesgeschichte der Norma durch Adalgisa zu verstehen? Für eine Tragödie ist sie eher dysfunktional: too much. Die Geschichtsbilder des ästhetischen Historismus in der Oper wollen Sinn stiften und damit Leiden und Tod ihrer Protagonist:innen im Nachhinein rechtfertigen. Die Libretti der Opern von Vincenzo Bellini entziehen sich dieser Verklärung der Opfer. Ungelöst ist am Ende auch der Konflikt in I Puritani. Nicht nur wird die Hinrichtung des Royalisten Arturo, dem Geliebten von Elvira, der Tochter eines puritanischen Festungskommandanten, am Ende nur haarscharf durch einen reitenden Boten des siegreichen Oliver Cromwell verhindert, der die Begnadigung des Gefangenen bringt. Es bleibt auch die Frage, ob der Wahnsinn der Elvira, die am Tag ihrer Hochzeit von Arturo wegen der Rettung der Königinwitwe Enrichetta verlassen wurde, nicht doch die adäquate Reaktion auf solch ein Verhalten darstellt, die durch keine Rückkehr des Geliebten, auch wenn er vom Tode bedroht ist, wieder rückgängig und gut gemacht werden kann. Schließlich La Sonnambula: Amina, die Nachtwandlerin, findet sich vorsichtshalber im Schlaf verheiratet, damit erst gar keine Zweifel an der Wünschbarkeit dieser Verbindung mit dem reichsten Grundbesitzer des Dorfs, Elvino, aufkommen können. Die Hochzeit im Schlaf soll verhindern, dass der Abgrund, über den sie wandelt, sichtbar wird

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Praxis des Historisierens

und die Untaten der Vergangenheit wieder hochkommen, die Amina zur mittellosen Waise gemacht haben. Dabei wird die Geschichte, die sich zwischen Amina und Rudolfo, dem wiedergekehrten Grundherrn des Dorfs, fast, aber nicht zur Gänze wiederholt, mit Sicherheit eine Sprengkraft unter den Frischvermählten entfalten.

Vincenzo Bellini: Norma, Oper Stuttgart 2002. Inszenierung Jossi Wieler, Sergio ­Morabito, Bühne Anna Viebrock. Blick aus der Perspektive des Altarraums auf die kriegsbereiten Gallier. Norma: Catherina Naglestadt. Foto: A.T. Schaefer.

Allen drei Opern ist gemeinsam, dass die Spannung zwischen den privaten Konflikten und dem politischen Horizont, in den sie gestellt sind, nicht aufgehoben oder durch ein »versöhnendes Opfer« gelöst wird.3 Blickt man auf die Szenarien von Bellinis Opern, so erscheinen sie, mit Heiner Müller gesprochen, als »Stellplatz der Widersprüche«4. Gegenüber der Erwartung prachtvoll hochgestimmter Historienbilder, in denen die Zeitgenoss:innen ihr monumentales Spiegelbild wiederfinden können, muten Bellinis Geschichten und die Geschichten seiner Librettisten Felice Romani und Carlo Pepoli fremd an. In ihrer Fremdheit aber in einer Gegenwart, die mit den alten Geschichten nichts mehr zu tun haben will, fordern sie diese heraus und stellen sie selbst in ein fremdes Licht. Die Herausforderung des Fremden, die von den Libretti ausgeht, legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den historischen Schauplätzen von Bellinis Opern um vorweggenommene Historisierungen im Sinne von Brecht handelt. Die Praxis des Historisierens hat Brecht mit der des Verfremdens gleichgesetzt. Beim Vorgang des Historisierens geht es nach Brecht darum, die Gegenwart

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durch die Beziehung auf eine andere Zeit-Geschichte so fremd werden zu lassen, dass an ihr Züge, Strukturen und Muster sichtbar werden, die im Immergleichen des Alltagslebens nicht (mehr) wahrgenommen werden. Damit dies gelingt, muss nach Brecht die Gegenwart als historisch und vorübergehend erscheinen. »Verfremden«, so Brecht, »heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darzustellen [Hervorhebung – G. H.].«5 In Brechts Idee des Historisierens ist die Vorstellung von historischer Zeit als einer Zeit der Vergängnis eingelassen.

3. Räume

Die Räume, die Anna Viebrock für die drei Opern von Bellini in Stuttgart gebaut hat, sind solche Räume der Historisierung der Gegenwart. Fernab jeder historistischen Szenerie tauchen sie die Gegenwart in das Licht des Vergehens und verbinden das Heute mit dem Damals. So blicken wir in Norma aus der Perspektive des Chors in den Innenraum einer Kirche, vielleicht in Italien, möglicherweise, um die Mitte des 20. Jahrhunderts.

Vincenzo Bellini: Norma, Oper Stuttgart 2002. Inszenierung Jossi Wieler, ­Sergio ­Morabito, Bühne Anna Viebrock. Blick in die Wohnung der Hohepriesterin neben dem Altar. Norma: Catherine Naglestad, Polleone: Johan Weigel, Adalgisa: Sonora Vaice. Foto: A.T. Schaefer.

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Räume

Links von der Barriere, die das Kirchenschiff vom Chor trennt, sehen wir statt der Sakristei die Wohnung der Priesterin. Die Türen und Schränke sind aus der jüngeren Vergangenheit. Der Altar eine abgedeckte Bahre aus einem Krankenhaus. Unzweifelhaft apostrophiert der Raum frühere Zeiten und ruft damit die Erinnerung an Geschichte auf. Zugleich ist er der Erfahrung gegenwärtiger Generationen noch nicht völlig entrückt. Seine Wiederkehr auf der Bühne stellt deshalb nicht so sehr das Damals vor Augen, als dass sie die Vorstellung eines Alterns und Vergehens auch des Heutigen mit sich führt.

Vincenzo Bellini: La Sonnambula, Oper Stuttgart 2012. Inszenierung Jossi Wieler, Sergio Morabito, Bühne Anna Viebrock. Blick in den alpenländischen Wirtshaussaal. Amina (im weißen Kleid in der Mitte): Ana Durlowski. Foto: A.T. Schaefer.

In La Sonnambula öffnet sich vom Publikumsraum aus ein großer Wirtshaussaal mit gewölbter Decke. Die massiven Schränke an den Seiten rechts und links skandieren den Raum wie die Pfeiler in einer Kirche: ein säkularisiertes Gotteshaus. Im Hintergrund rechts ein Treppenaufgang mit Balustrade, links gibt ein Fenster den Blick auf den Fluss frei. Für die nächtlichen Rencontres des Grafen mit Lisa und der schlafwandelnden Amina schiebt sich eine Tapetenwand mit Rokokoelementen vor das Treppenhaus, ein großes Fenster bleibt darin ausgeschnitten. Der Raum erinnert an die longue durée jener Wirtshaussäle im Alpenländischen, von denen man sich vorstellen kann, dass darin Hochzeiten heute wie vor dreihundert Jahren gefeiert werden. Für solche Festivitäten ist der ganze Saal angefüllt mit rohen Bänken und Tischen. Wenn sie zusammengeklappt und auf den Boden geworfen werden, zeigt sich, dass der vermeintliche Ort eines gelingenden gemeinschaftlichen Zusammenseins nur von

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vorübergehender Dauer war. Die Tische liegen dann wie treibende Planken und Schiffsreste auf dem Boden, über die man balanciert, um nicht ins Wasser zu fallen – eine nature morte, die nicht nur auf das zentrale Ereignis und Thema des Schlafwandelns auf dem Steg über dem abgründigen Wasser anspielt, sondern die Grundlosigkeit des vermeintlich auf Dauer Gegründeten offenbart.

Vincenzo Bellini: I Puritani, Oper Stuttgart 2016. Inszenierung Jossi Wieler, Sergio Morabito, Bühne Anna Viebrock. Puritanerbunker mit Bild. Riccardo: Gezim Myshketa, Enrichetta: Diana Haller, Arturo: Edgardo Rocha. Foto: A.T. Schaefer.

In I Puritani sehen wir einen kahlen, leergeräumten Saal, der sich nach hinten stark verengt, vielleicht handelt es sich auch um den Hofraum eines Herrenhauses. An der rechten Wand ein zugemauertes Fenster mit Spitzbogen, vorne links eine Treppe, die ins Nichts führt. Der Raum hat früher wohl andere, repräsentative Aufgaben erfüllt. Ohne dass man es zunächst bemerkt, öffnen sich die nach hinten zulaufenden seitlichen Wände langsam während der Szene, bis man plötzlich den veränderten Schauplatz im Hintergrund, einen Balkonumlauf mit Balustrade, wahrnimmt: Reminiszenz an frühere dekorativere und festlichere Zeiten. Durch die Mauern der Wände rechts und links ist gewaltsam ein massiver Eisenträger gebrochen, der wie ein dicker schwarzer Zensurbalken durch die Blickachse der Zuschauer:innen geht und die historistische Einbildung verhindert. Alles scheint hier im Umbau und Übergang. Man erkennt noch die Spuren der Vergangenheit, das Neue hingegen wird vorerst nur als Verlust und Störung wahrgenommen. Die Schönheit ist aus diesem Raum geflohen, wie das von Elvira mit roter Farbe rasch an die Wand Geschriebene fest-

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Räume

hält. Kein Raum, der zum Verweilen einlädt, zeigt sich hier, sondern ein Transitraum, der seine Vorläufigkeit offen ausspricht. Alle diese Räume tragen die Spuren der Geschichte an sich, d. h. an ihnen nagt der Zahn der Zeit. Sie evozieren nicht ferne Zeiten, sondern das Vergangene, das in unsere Zeit hineinragt und verweisen so auf die künftige Vergangenheit der Gegenwart. Unübersehbar sind die Insignien des Vergehens in den Räumen verteilt: die alten Stromzähler und die abgenutzten Briefkästen in La Sonnambula ebenso wie das verschlissene Sofa und das Buffet, die wie die Kittelschürzen und Sonntagskostüme des Chors noch irgendwo in Gebrauch sein könnten. Die elektrischen Leitungen, die in Norma an den Kirchenwänden entlanggeführt werden und die altersschwache Bahre, die aus der Vorkriegszeit zu stammen scheint. Sie alle sind Allegorien des Vergehens jedweder Gegenwart. Sie untergraben den Glauben an die Dauer des heute Bestehenden, ohne es sich im Vergangenen heimelig zu machen. Stattdessen werfen sie uns auf die Planken eines Floßes, das zwischen Gestern und Morgen, zwischen Nicht-mehr und Nochnicht dahintreibt.

Vincenzo Bellini: La Sonnambula, Oper Stuttgart 2012. Inszenierung Jossi Wieler, Sergio Morabito, Bühne Anna Viebrock. Auf schwankendem Grund. Foto: A.T. Schaefer.

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4. Transitexistenz

Inwiefern kann man die historischen Schauplätze von Bellinis Opern als Historisierungen von Bellinis Gegenwart verstehen? Wirft man einen zweiten Blick auf die Konfliktfelder der Handlung, wird man gewahr, dass sie nicht so sehr in bestimmten abgegrenzten Epochen, sondern zwischen diesen angesiedelt sind. Die historischen Zeiten in Norma, La Sonnambula und I Puritani sind Zeiten des Übergangs. In Norma ist bereits im Inneren der gallischen Gemeinschaft die Zeit der Frauenherrschaft, die sich dem Frieden verschrieben hat, von der patriarchalischen Herrschaft des kriegerischen Irminsul bedroht. Beide stehen sie auf verlorenem Posten gegenüber der modernen Zweckrationalität der römischen Herrschaft. Auch die Konfliktparteien von I Puritani, Stuart-Royalisten und die Puritaner Cromwells, kämpfen in einer Zeit des Übergangs. Die Zukunft, kein Zweifel, wird denen gehören, die mit ihrer puritanischen Ethik den Geist des Kapitalismus entfesseln, während die reich ausstaffierten Kostüme der Royalisten zurückweisen auf die »buntscheckigen Feudalbande«6, von denen Marx und Engels im Kommunistischen Manifest sprechen. Und auch in La Sonnambula wird die Geldherrschaft des reichen Elvino wohl über die persönlichen Bindungen der Dorfbewohner:innen an die alte Grundherrschaft siegen. Man kann nicht sagen, dass die Libretti für die historischen Sieger Partei ergreifen. Sympathie kommt eher der Welt derer zu, die zum historischen Untergang verurteilt sind. Aber von einer Verklärung der alten Zeiten kann keine Rede sein. Glasklar werden von Bellini, Romani und Pepoli das Porös-Angreifbare, das Ambivalente und Missliche der überkommenen Ordnungen herausgestellt. Ausgerechnet die oberste Repräsentantin der Frauenherrschaft und Priesterin der unterworfenen Gallier, Norma, fühlt sich zum Oberhaupt der römischen Besatzer und Vertreter des Patriarchats hingezogen, der Royalist Arturo stellt in I Puritani die politische Loyalität über die Liebe und der »gute Herr«, wie die Dorfbewohner:innen den zurückgekehrten Rudolfo in La Sonnambula nennen, hat schändlich an der Mutter Elviras gehandelt. Gerade weil sie die Parteien im historischen Zwischenraum des Nicht-mehr und Noch-nicht nicht reinlich scheiden, sondern das Widersprüchliche und das Sowohl-als-auch im Handeln der Protagonist:innen zeigen, sind sie geeignet, die Gegenwart des frühen 19. Jahrhunderts, die Zeit Bellinis, zu historisieren, sie fremd zu machen und in Bewegung zu versetzen.

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Trauerarbeit

Auch Bellinis Gegenwart ist eine Zwischenzeit des Nicht-mehr und Noch-nicht. Catania, wo der junge Vincenzo aufgewachsen ist, und Neapel, wo er studiert hat, gehören von 1816 bis 1861 zum Königreich beider Sizilien, das unter der Herrschaft der spanischen Bourbonen steht. Sie waren in Folge der allgemeinen Restaurationsbewegung nach dem Wiener Kongress erneut an die Macht in Unteritalien gekommen. Mailand, der Uraufführungsort vieler Opern und Wirkungsstätte Bellinis, wird zu seiner Zeit von den Habsburgern regiert. Die nationale Befreiungsbewegung, das Risorgimento, zeichnet sich erst in einzelnen Aufständen ab. In I Puritani spielt das Bassduett Suoni la tromba zwischen Elviras zweitem Vater Giorgio und Elviras verschmähtem Liebhaber Riccardo, welches die Liebe zum und den Tod fürs Vaterland beschwört, auf die kommende Zeit des Risorgimento an. Die nationale Befreiung bildet den Horizont der neuen Zeit. Was sie aber bringt, ist ungewiss. Ebenso wie die Situation in Frankreich: Im rasanten Übergang von der Restauration zum Schwindel der finanzkapitalistischen Spekulation befindet sich Paris, Uraufführungsort von I Puritani und letzte Aufenthaltsstätte Bellinis, nach der Julirevolution von 1830. Bellini muss die verschiedenen Zwischenzeiten – zwischen Fremdherrschaft und nationaler Befreiung, zwischen Absolutismus und demokratischer Partizipation, zwischen spätfeudaler Ordnung und ungezügeltem Kapitalismus – als Zeiten großer und grundsätzlicher Unsicherheit erfahren haben. In seinen Opern hat er diese Erfahrung historisiert. Ohne Parteinahme für das eine oder das andere Lager exponieren sie die Gefühle und das Handeln von Menschen im Raum eines reinen Dazwischens, das keinen verlässlichen Ursprung und keinen guten Ausgang mehr kennt. Bellinis Protagonist:innen sind ausgesetzt in einer Transitexistenz, die auf Dauer gestellt ist. Damit bereiten sie nicht nur für Bellinis Zeitgenoss:innen, sondern auch für die Heutigen einen Erfahrungsgrund, der an die Lebenswirklichkeit in Zeiten der Globalisierung heranreicht.

5. Trauerarbeit

Je unsicherer die Zeiten, umso mehr wächst die Sehnsucht nach Rückkehr in frühere, vermeintlich sichere und geordnete Lebenswelten. Restaurationsbestrebungen und fundamentalistische Bewegungen, die die Wiederkehr eines goldenen Zeitalters versprechen, sind die unvermeidlichen Reaktionsbildungen auf die Moderne. Bellinis Opern

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kennen den Sog, der vom Phantasma ursprünglicher Ordnungen ausgeht, aber sie ergeben sich ihm nicht. Man hat Bellini den Melancholiker unter den Opernkomponisten genannt und sich dabei auf die »melodie lunghe, lunghe, lunghe« bezogen, die Verdi an Bellini rühmt, auf jene lang ausgesponnenen lyrischen Kantilenen der Cantabile-Teile seiner Arien, denen die Trauer über einen Verlust eingeschrieben ist. Latente Trauer grundiert Normas Arie »Casta diva«, die zum Scheitern verurteilte Anrufung an die Göttin der Gynäkokratie, sie möge die »feurigen Herzen« mäßigen und der Erde Frieden schenken. Aber gerade weil es sich um Trauer handelt, wird der Begriff der Melancholie Bellini nicht gerecht. Denn der Melancholiker kann sich nicht abfinden mit dem Verlust dessen, was ihm als unwiederbringliches Ideal erscheint. In diesem Sinne beschreibt Sigmund Freud in Trauer und Melancholie die Melancholie als eine Haltung, in der die Objektbesetzung zwar aufgehoben, die Besetzungsenergie aber nicht auf ein neues Objekt verschoben, sondern ins Ich zurückgezogen wird, um eine »Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen.« »Der Schatten des Objekts«, so Freud, fällt »so auf das Ich.«7 Objektverlust verwandelt sich so in Ichverlust und die kritische Auseinandersetzung mit dem Verlorenen in die Kritik des Ichs von Seiten des verlorenen Objekts. Bellinis kompositorischer Umgang mit dem Phantasma idealer Gemeinschaft lässt sich besser mit Freuds Begriff der Trauerarbeit beschreiben. Der Trauerarbeit gelingt es, sich von dem idealisierten Objekt zu lösen und Abschied von ihm zu nehmen. Möglich wird das durch die Wiederholung »jede[r] einzelne[n] der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war«8. Sie werden durch die Wiederholung »überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen«9. Diese Wiederholung und Überbesetzung vollzieht sich im Belcanto Bellinis. Seine Melodien mit ihrer syllabischen Verbindung von Text und Musik, die Sprache und Empfindung eins werden lassen, erinnern von sich aus bereits an das Phantasma einer ursprünglichen Sprache bei Rousseau, die »singbar und leidenschaftlich« war.10 Weil die Erinnerung an das Phantasma einer ursprünglichen Sprach-Musik den Kantilenen Bellinis selbst inhärent ist, sind sie ein hervorragendes Medium für das Abschiednehmen von jedweder Vorstellung vergangener besserer Zeiten und Ordnungen. Bellinis »lange, lange, lange Melodien« (Verdi) ermöglichen die von Freud apostrophierte emotionale Wieder-Holung und Überbesetzung des entschwundenen Ideals und bereiten ihm den langen Abschied. Unterstützt wird er durch die Kontrastierung der elegischen Cantabiles mit

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Traumarbeit

der Entschlussfreudigkeit der anschließenden Cabaletten und ihren volkstümlich-bewegten Melodien. Sie fungieren als Elemente einer Realitätsprüfung und ermöglichen die emotionale Ablösung von dem geliebten, verlorenen Ideal. Bellinis Umgang mit der Sehnsucht nach Rückkehr und Restauration ist zukunftsweisend auch für die Allgegenwart fundamentalistischer Bewegungen. Die musikalische Trauerarbeit im Belcanto nimmt die emotionale Bindung nach einem nie existenten, gleichwohl als verloren imaginierten besseren Weltzustand ernst, sie evoziert durch die Wiederholung die Trauer über seinen Verlust und macht durch die Trennung von diesen Gefühlsbindungen den Weg frei für zukünftige Leidenschaften und Wünsche.

6. Traumarbeit

Elvira, die Heldin von I Puritani, ist in der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito gleich zweimal existent. Jedenfalls gibt es zwei Protagonistinnen in weißem Kleid und roter Schleife, die sich nahezu aufs Haar gleichen. Während die eine zu den Klängen der Ouvertüre die von den Puritanern abgehängten und verkehrt an die Wand gestellten Bilder von Königen und Adligen in all ihrem höfischen Glanz umdreht, um nach dem Bild ihres geliebten Mannes zu suchen, mit dem sie es bewahrend eins wird, berauscht sich die zweite, die, was hier nicht zu sehen ist, den Vorgang beobachtet, an den Abbildern der prächtigen Kavaliere. Was ihr, Elvira, der Tochter des puritanischen Gouverneurs, eigentlich verboten ist. Dass sie hier in Bewegung und Kleidung der ersten, Enrichetta, der Gattin des hingerichteten Königs und Gefangenen im Lager der Puritaner, in jeder Geste folgt, verweist nicht nur auf eine Identifizierung Elviras mit Enrichetta hin, sondern auf ein gespenstisches Double, das den Glauben an das Bild des historischen Konflikts untergräbt. Es setzt die Parteigrenzen überschreitende Logik der linear-kausalen Handlung außer Kraft und gibt andere, verborgene Geschichten frei.11 Hier ein Blick auf das Double: Enrichetta unten, Elvira mit dem Rücken zu uns oben auf der Balustrade. Hat man erst einmal damit angefangen, solches Doppelgänger:innentum zu entdecken, kann man sich kaum noch retten von den doppelten Vätern und Müttern, den doublierten Heldinnen, doppelten Bräuten und Liebhabern in Bellinis Libretti. Die Doubles in Norma, La Sonnambula und I Puritani gehen über Gattungskonventionen hinaus. Sie repräsentieren affektiv-libidinöse Doppelbesetzungen, die der Logik des Traums gehorchen.

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Es macht den außergewöhnlichen Rang der Inszenierungen von Wieler und Morabito aus, dass sie den Spuren dieser Logik des Traums folgen und sie szenisch ausdeuten. Die durch die Trauerarbeit vom Zwang einer melancholischen Geschichte von Verlust und Untergang befreiten Handlungselemente und Figuren folgen in der Traumlogik einer Ökonomie des Wunschs. Seiner unmittelbaren Artikulation und Objektbesetzung wirkt die Zensur entgegen. In der Traumarbeit bahnt sich der Wunsch deshalb seinen Weg über eine Reihe von Verdichtungen und Verschiebungen, d. h. Gleichbesetzungen und Besetzungen eines Doubles, die den latenten Trauminhalt verbergen. Der Weg, den der Wunsch gegangen ist, muss nach Freud deshalb durch die therapeutische Traumarbeit wiederholt werden. Ohne individualpsychologische Prozesse und Verfahren eins zu eins auf künstlerische Praktiken anwenden zu wollen, kann man die Inszenierungsarbeit von Wieler und Morabito als reflektierte theatrale Rekonstruktion der unbewussten Traumarbeit verstehen. Sie wiederholt die alten Geschichten der Norma, Amina und Elvira und erzählt sie neu. Dabei verzichtet sie, im Unterschied zum therapeutischen Vorgehen, sehr bewusst auf eine endgültige Version der Geschichte. Es geht ihr nicht darum, ein eigentliches Wunschziel definitiv zu benennen. Stattdessen öffnet sie einen virtuellen Spielraum, in dem die Figuren und Elemente, von Wünschen und deren Verwerfungen bewegt und angetrieben, in immer neue Konstellationen treten können. So kann man die Geschichten mehrfach, die Versionen einander überlagernd und immer wieder anders erzählen. Nehmen wir Norma: Natürlich ist die junge Priesterin Adalgisa im Fortschreiten der Handlung die Rivalin Normas im Beziehungsdreieck mit dem Römer Pollione. Aber sie ist auch das Alter Ego Normas, die gespenstische Wiederkehr einer jüngeren Norma, die noch einmal die Verlockung und Gefahr eines Lebens an der Seite Polliones mit sich führt. Und sie besetzt schließlich – im Zusammengehen mit Norma – den utopischen Ort einer Gemeinschaft der Frauen, die sich der Herrschaft der Männer entzogen haben. Mit Vehemenz verweigert sich deshalb die Inszenierung von Wieler und Morabito der Vorstellung eines gemeinsamen Liebestods von Norma und Pollione und hebt stattdessen die Rettung und Sicherung der Kinder als Pfand der mutterrechtlichen Gemeinschaft hervor. Polliones Wunsch nach einer neuen Liebe im Tod aber bleibt Wunschdenken. Er markiert lediglich die Projektion des (männlichen) Zuschauers auf Norma, der insofern Anteil nimmt, als dass er von ihrer Leidenschaft einen Teil für sich abzweigen möchte.12 Die traumhafte Überlagerung der Handlungs-

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Traumarbeit

elemente und die Mehrfachbesetzung der Figuren erzeugt eine Mehrdeutigkeit, die die Notwendigkeit des tragischen Ausgangs außer Kraft setzt. Sie bringt die fixierten Verhältnisse in die Schwebe und öffnet den Blick für die Entdeckung des Möglichen in der Gegenwart. Nehmen wir La Sonnambula: Sie gehört der Gattung der opera semiseria an, die, zwischen seria und buffa angesiedelt, ernste und heitere Motive vermischt, immer in der Perspektive auf ein lieto fine, einen glücklichen Ausgang. Aber der letzte Spitzenton der Amina im Finale klingt bei der fabelhaften Ana Durlovski, der Stuttgarter Amina, wie ein Schrei: Nichts ist gut, solange nicht die ganze Geschichte ans Licht gekommen und aufgearbeitet ist. Die ist keineswegs so simpel, wie sie auf den ersten Blick erscheint: Eine mittellose Waise, die den reichsten Grundbesitzer des Dorfs heiraten soll, gerät in den Verdacht der Untreue, den sie durch eine unwillentliche Probe ihrer schlafwandlerischen Absenzen zerstreuen kann. Warum braucht es dazu zwei Mütter – die tote Mutter Aminas und deren Ziehmutter Teresa –, zwei Bräute – neben Amina Lisa, die bereits einmal mit Elvino verlobt war – und drei Liebhaber: Elvino, den in Lisa verliebten Alessio und den Grafen Rodolfo? Warum fühlt sich die zweifellos treue Amina zum Grafen hingezogen? Was entdeckt er an ihr jenseits der Komödie vom adligen Herrn, dem die jungen Frauen (Lisa, Amina) ins Bett flattern und der dennoch nicht zum Zug kommt? Und warum nimmt die Gespenstererzählung des Chors im 1. Akt eine so zentrale Stellung ein? Wieler und Morabito haben sich auf die Spur des Librettos und seiner Quellen gemacht und sind auf das von Bellini gestrichene Offensichtliche gestoßen: dass der Graf als junger Mann Aminas Mutter verführt und sitzengelassen und diese sich daraufhin umgebracht hat. Sie ist das Gespenst, das die Dorfbewohner:innen bis auf den heutigen Tag heimsucht. Amina ist die Tochter des Grafen. Das Trauma der Mutter hat diese an Amina in Gestalt des Nichtwissens über sich selbst und ihre Herkunft weitergegeben. In der Stuttgarter Inszenierung tritt Amina daher von Beginn an auf wie jemand, der nicht ganz bei sich ist: schlafwandlerisch. Die Inszenierung von Wieler und Morabito bringt die verdrängte Geschichte ans Licht, aber sie bleibt dabei nicht stehen. Sie folgt, über die Aufklärung hinausgehend, der Bahn der Wünsche in der Traumarbeit der Schlafwandlerin. Auf dieser Bahn verändern sich Distanz und Nähe, in der die Beteiligten zueinander stehen. Der reiche Elvino, die Ziehmutter Teresa und die Wirtin Lisa sehen sich durch die Macht des Geldes, der sie folgen, einander nahegebracht. Amina, von Rodolfo angezogen, sucht in ihm nicht nur den Vater, den sie nie gehabt hat, sondern auch einen Liebhaber, der nicht nur

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über das Kapital ihrer Schönheit verfügen will, sondern sie um ihrer selbst willen liebt. Die Aufklärung der Geschichte und die Traumarbeit stehen in der Inszenierung in einem Spannungsverhältnis. Wieler und Morabito spielen Aufklärung und Traum nicht gegeneinander aus, sondern überkreuzen die Erzählungen so, dass sie einander die Waage halten. Es gibt also kein Zurück Aminas zum Vater/Grafen, vielmehr birgt die nächtliche Wiederholung der Geschichte der Mutter mit Rodolfo durch Amina und Rodolfo ein Potential für die Zukunft, neue und andere Ansprüche an die gegenwärtige Beziehung zu stellen. Nehmen wir I Puritani: Die Puritanerfestung ist mit Erdwall, Ringmauern, Türmen und einer Befestigungsanlage gesichert. Dass hier ein royalistischer Edelmann eindringen könnte, um die Tochter des puritanischen Gouverneurs zur Frau zu nehmen, hält der Realität kaum stand. Dazu braucht Elvira zumindest einen väterlichen Doppelgänger, Giorgio, der vom eigentlichen Vater, wie im Traum, die Erlaubnis zur Heirat Elviras mit einem Vertreter der bekämpften Gegenpartei erhält. Wieler und Morabito zeigen Giorgio, großartig gesungen und gespielt von Adam Palka, in seinem Bericht von der Unterredung mit Elviras Vater als Puppenspieler, der den Willen der väterlichen Puppe lenkt, als wäre es ein Kinderspiel. In seinem Koffer verfügt er außerdem über allerlei Requisiten, um die royalistischen Traumgebilde Elviras auszustaffieren. Ist das Realitätsgebot in dieser Szene, nicht zuletzt durch deren Komik, erst einmal außer Kraft gesetzt, kann auch der geliebte Arturo den Schauplatz betreten, wie aus dem Bild des royalistischen Galans herausgeschnitten, von dem Elvira zu Beginn die Augen nicht losreißen konnte. Mit Recht spricht Sergio Morabito im Programmheft der Aufführung von Elviras »Traumfabrik«13. Der Logik des Traums folgen Oper und Inszenierung auch weiterhin. Vom Double Elvira – Enrichetta war schon die Rede. Ihr entspricht das zweite Double Riccardo – Arturo. Beide sind, wiewohl politisch verfeindet, Liebhaber Elviras. Riccardo, von Elvira verschmäht, hat seine ganze Triebenergie fortan der puritanischen Sache verschrieben, die er mit leidenschaftlichem Hass, vor allem gegen Arturo, verfolgt. In der Hingabe an die Politik aber ist ihm Arturo nicht unähnlich. Dass er mit Enrichetta flieht, geschieht nicht der Liebe wegen, sondern zur Rettung des hingerichteten Königs. Elvira ist nicht nur von Puritanern umgeben, denen die Abstraktion des Politischen von allem Leben über alles geht – die Säuberungsrituale der Puritaner und das buchstabengetreue Buchwissen als Waffe deuten in der Inszenierung plastisch darauf hin. Sie ist auch von ihrem Geliebten um der (politischen) Sache willen verlassen worden. Elviras Identifizierung mit Enrichetta gilt der aus

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der Gefangenschaft des puritanischen Lebens Fliehenden, nicht der politischen Person der königlichen Witwe. Elviras Wunsch gilt, so banal ausgesprochen, so schwer zu realisieren, einem Liebes-Leben, das nicht politischer Ideologie unterworfen ist. In ihrem Wahnsinn, der im fortwährenden dramatischen Wiederdurchspielen der gescheiterten Hochzeit einer Trauerarbeit gleichkommt, verabschiedet sich Elvira vom royalistischen Wunschbild, nicht aber vom Wunsch selbst. Mit der Todesdrohung gegen Arturo als eine Art von Realitätsprüfung kommt ihre Trauerarbeit zum Ende. In einem puritanischen Zeitalter setzt Elvira erneut den Wunsch zu Wünschen frei, jenseits aller politischen Feindbilder und kultureller Grenzziehungen zu lieben und zu leben. In den Bellini-Inszenierungen von Wieler und Morabito verschichten sich die Geschichte der Handlung, die politische Geschichte, die Zeit Bellinis und die Zeit unserer Geschichte in einer Raum-Zeit des Gleichzeitig-Ungleichzeitigen. Was gewesen ist, ist darin ebenso gespenstisch präsent wie das Gegenwärtige, das als das potenziell Gewesene erscheint. So sind die Räume der Stuttgarter Bellini-Inszenierungen Räume des Übergangs, Transiträume. Im Unterschied zu den realen Transiträumen, in denen eine brutale Wirklichkeit triumphiert, verwandeln die Transiträume des Stuttgarter Musiktheaters, indem sie der Trauerarbeit im Belcanto ebenso wie der Logik des Traums folgen, alles real Feststehende in das zukünftig Mögliche. Sie überschreiten die Grenzen zwischen den verfeindeten Parteien, Völkern und Kulturen im Inneren wie im Äußeren. Jenseits aller politischen Feindbilder und kultureller Grenzziehungen geben sie Zeit zu lieben und zu leben.

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II Vincenzo Bellini 1 Nachdem sich Bellini nach dem Misserfolg von Beatrice di Tenda (1833) mit seinem langjährigen Librettisten Felice Romani überworfen hatte, übertrug Bellini das Libretto für I Puritani dem Dichter Carlo Pepoli, der keine Bühnenerfahrung hatte. – Überarbeiteter Abdruck des Beitrags »Trauer und Traumarbeit im Belcanto«, in: Verwandlung. Oper Stuttgart 2011/12 bis 2017/18. Sieben Spielzeiten unter der Intendanz von Jossi Wieler, hrsg. von Sergio Morabito, Stuttgart 2018, S. 294 – 308. 2 Siehe dazu die Ausführungen zur Grand Opéra in diesem Band; ebenso Heeg: »Reenacting History. Das Theater der Wiederholung«, S. 10 – 40. 3 Siehe dazu Girard, René: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1992. 4 Müller, Heiner: »Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet am dramatischen Theater Sofia«, in: Explosion of a Memory. Heiner Müller DDR. Ein Arbeitsbuch, hrsg. v. Wolfgang Storch, Berlin 1988, S. 96 – 99, hier S. 96. 5 Brecht: [Über experimentelles Theater], in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (BFA), hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Bd. 22.1, Frankfurt a. M. 1993, S. 540 – 557, hier S. 554 f. 6 Marx/Engels: [Manifest der kommunistischen Partei (1848)], S. 28. 7 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Bd. 10, hrsg. von Anna Freud, Marie Bonaparte, Edward Bibring u. a., Frankfurt a. M. 1999, S. 435. 8 Ebd., S. 430. 9 Ebd. 10 Rousseau, Jean-Jacques: Versuch über den Ursprung der Sprachen, Werke in vier Bänden, Bd. 3, München 1978, S. 162 – 221, hier S. 171. 11 Zur Sichtbarmachung eines Latenten in den Geschichtsbildern durch Brüche, Fehlleistungen oder unvollkommene Nachahmungen (die Doublierung der historischen Figur der Königin durch Elvira) siehe Ebbrecht: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011. 12 Zur geschlechterspezifischen Identifizierung und Rezeption in der Oper siehe auch die Abhandlung zu Brecht »Die Oper als Herausforderung des epischen Theaters« in diesem Band. 13 Morabito: »Elviras Traumfabrik«, in: Programmheft zu Vincenzo Bellini I Puritani, Stuttgart 2016, S. 4 – 6.

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III Richard Wagner Günther Heeg »Das deutscheste von allen Wagner-Stücken« öffnet sich dem Fremden Barrie Koskys Inszenierung von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg1 28. August 2018. Im Richard-Wagner-Park vor dem Bayreuther Festspielhaus ist die Ausstellung Verstummte Stimmen. Die Bayreuther Festspiele und die ›Juden‹ 1876 bis 1945 zu sehen. Sie zeigt, dass die Diskriminierung jüdischer Künstler:innen nicht erst das Werk der Nationalsozialist:innen war, sondern bereits im 19. Jahrhundert mit Cosima Wagner begann. Im Festspielhaus wird an diesem Tag im zweiten Jahr die Inszenierung der Meistersinger von Barrie Kosky gegeben.2 Er ist der erste jüdische Regisseur, der dieses »deutscheste von allen Wagner-Stücken«3, so Kosky, in Bayreuth inszeniert. Die Inszenierung einer Oper, die zur Konstruktion und Affirmation dieses Deutschtums den Ausschluss des Fremden braucht, durch einen Regisseur, der noch im 20. Jahrhundert als Fremder verfolgt und vernichtet worden wäre, ist an sich bemerkenswert. Zum künstlerisch-politischen Ereignis wird sie durch die doppelte Historisierung, die Kosky vornimmt: die Historisierung der Oper und die Historisierung seiner selbst. Sie ermöglichen es, die Meistersinger einerseits vor Gericht zu stellen und sie andererseits aus dem Mausoleum deutschtümelnder Nationalkultur zu befreien und zu retten. Der Ort, an dem die Oper vor Gericht steht, ist der Schwurgerichtssaal 600 in Nürnberg, der Ort, an dem die Nürnberger Prozesse gegen die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher stattgefunden haben. Wenn sich die Wände dieses Saals am Ende des 1. Akts vor die Dekoration schieben, ist der Horizont klar, in dem die Meistersinger stehen: Mit ihrer Dramaturgie der Exklusion des Fremden in Gestalt des antisemitisch gezeichneten Beckmessers sind sie prominentes Exempel eines kulturellen Furors, der in der Konsequenz in den Schwurgerichtssaal 600 geführt hat. Aber Barrie Kosky zieht keine direkte historische Linie von Wagner zu Hitler, von den Meistersingern und ihrer inhärenten Ideologie zu den Verbrechen des Nationalsozialismus. Bloße Ideologiekritik ist Koskys

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III Richard Wagner

Sache nicht. Ihm geht es um die Wieder-Holung von Geschichte, um das Heute in ein fremdes Licht zu tauchen und aus der Erfahrung der Fremdheit der Gegenwart Zukunft zu gewinnen. Die Wieder-Holung von Geschichte, die Kosky betreibt, ist das Gegenteil einer historistischen Rekonstruktion. Kein ausgemaltes Bild von Alt-Nürnberg blickt uns aus Koskys Meistersingern an, zu besichtigen sind lediglich historische Kostüme in einer unpassenden, fremden Umgebung. Die Wiederholung der Vergangenheit greift nicht auf ein geschlossenes Bild der Geschichte zurück, sondern auf die Bruchstücke und Überreste, die in der Gegenwart noch präsent sind und uns heimsuchen. Zu diesen Heimsuchungen zählen auch die Phantasmen, die vergangene Zeiten imaginieren, um sich selbst in der Gegenwart zu überhöhen. Phantasmen sind Wunsch- und Trugbilder eigener Allmacht. Diese Macht soll sich bestätigt sehen durch Szenarien, die eine affektive Bindung an die »eigene« Gemeinschaft herstellen. Ihr gilt alle Liebe und Bewunderung, aller Abscheu gilt dem Fremden innerhalb und außerhalb dieser Gemeinschaft. Allmachtsphantasien sind nicht grundsätzlich moralisch verwerflich und gesellschaftlich gefährlich. Sie gehören zum psychischen Inventar der Kindheit. Sie werden in der Regel überwunden in der Adoleszenz und spielen keine Rolle im Leben des Erwachsenen. Es sei denn, die psychische Entwicklung läuft schief und die Regression auf das frühkindliche Phantasma von Omnipotenz wird befeuert durch fundamentalistische und populistische Bewegungen, die für ihre rückwärtsgewandten politisch-sozialen Ziele eben jene psychischen Dispositionen benötigen und sie verstärken. In dieser Situation kann die reflektierte Erinnerung an das kindliche Allmachts­ streben ein wacher Seismograph sein, der die psychischen Erschütterungen und Verwerfungen, die in solchen Bewegungen zugange sind, genau verzeichnet und ihre Wirkung verständlich macht, ohne sie zu akzeptieren. In diesem Sinn kommt Barrie Kosky auf Allmachtsphantasien seiner Kindheit zurück in einer Reihe von Gesprächen auf der Zugfahrt von Berlin nach Bayreuth. Sein historisierender Blick auf die eigene Geschichte beginnt mit der Erinnerung an die Großmutter aus Budapest, die vor der Deportation der ungarischen Jüd:innen nach Australien geflohen ist, aber die Liebe zur Oper in Budapest und Wien dorthin mitgebracht und auf den kleinen Barrie übertragen hat. Die europäischen Opernstoffe, von denen die Großmutter erzählt, werden für den Jungen, der sie begierig aufsaugt, zu phantasmatischen Welten, in denen er sich versenken und die er gestalten kann, um der eigenen Ohnmachts- und Einsamkeitsgefühle Herr zu werden. Auf die Frage, ob er als Kind gelangweilt war, antwortet Kosky:

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I ch fühlte mich eher einsam als gelangweilt. Denn ein Großteil meiner Altersgenoss*innen und Freund*innen teilte meine Interessen nicht. Ich liebte es, stundenlang Klavier zu spielen, mich mit meinem kleinen Puppentheater zu beschäftigen, Musik zu hören oder mit chinesischen Essstäbchen Mahler-Sinfonien in meinem Kinderzimmer zu dirigieren. Hin und wieder verkleidete ich mich auch und schlüpfte in unterschiedliche Rollen.4 Es ist der verfremdende Blick des etablierten und gefeierten Opernregisseurs von heute auf seine Antriebe in der kindlichen Vergangenheit, die ihn empfänglich machen für die Gepflogenheit des erwachsenen Richard Wagner. Wagner nämlich, so berichtet Ulrich Lenz, der langjährige Dramaturg von Barrie Kosky, in einem luziden Beitrag im Programmheft der Aufführung, pflegt die Welten seiner Imagination immer wieder erneut auszuleben und sich und anderen vorzustellen durch die private Aufführung seiner Werke im kleinen Kreis.5 Bei der Rezitation des Librettos übernimmt Wagner dann alle Rollen selbst und weiß sie stimmlich virtuos gegeneinander abzusetzen. Dabei begleitet er sich selbst am Flügel, erläutert die Bühnenanweisungen und markiert selbst die Linien des Gesangs. Von einem solchen Vortrag des Meistersinger-Librettos in Mainz 1862 berichtet der dortige Musikdirektor des Stadttheaters: ie Modulationsfähigkeit seiner Stimme war so groß, dass D er bald nicht mehr nötig hatte, die Namen der handelnden Personen einzeln zu nennen. Jeder wusste gleich: das ist jetzt Eva, Stolzing, Sachs oder Pogner, die da reden, und gar erst bei David und ­Beckmesser war in seinem Stimmklang jede Verwechslung mit den andern absolut ausgeschlossen. Selbst in dem lebhaften Durcheinandergerede der Meister hob sich jeder von dem andern so deutlich ab, dass man schon ein förmliches Ensemble zu hören glaubte, das die Zuhörer mit sich fortriss und sie zu stürmischen Kundgebungen veranlasste.6 Ausgehend von den eigenen kindlichen Weltbeherrschungen entwickelt Kosky ein Gespür für das persönliche Phantasma Wagners. Er macht dessen Allmachtsphantasien für die Inszenierung der ­Meistersinger produktiv und er stellt das Phantasma der Meistersinger als kollektives Imaginäres der deutschen Geschichte aus. Wenn sich der Vorhang in Bayreuth hebt, blicken wir auf das hochherrschaftliche Interieur eines Salons des 19. Jahrhunderts ohne

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seine Bewohner und ohne Musik (Bühne Rebecca Ringst). Ein eingeblendetes Schriftband wie im Film belehrt uns Zeile für Zeile aufscheinend und verschwindend über Ort und Zeit des Geschehens. Wahnfried. 3. August 1875. 12.30 Uhr. Außentemperatur 23 Grad Celsius. Kapellmeister Hermann Levi aus München hat sein Kommen angekündigt. Auch Franz Liszt ist auf dem Weg nach Bayreuth, um Tochter Cosima und Schwiegersohn Richard einen Besuch abzustatten. Cosima liegt mit einem Migräneanfall im Bett. Richard ist außer Haus … Molly und Marke Gassi zu führen. Dann setzt die Ouvertüre ein und mit dem ersten Akkord fliegt die Tür auf. Richard kommt mit Molly und Marke, zwei riesigen Neufundländer-Hunden, zurück. Ein Dienstmädchen nimmt sie ihm ab. Cosima, Liszt und der Dirigent Hermann Levi treffen ein, Kaffee wird eingeschenkt, Kaffeetässchen weitergereicht und fortwährend werden Geschenke gebracht und ausgepackt. Exakt zum ersten C-Dur-Akkord probiert Richard die neuen Stiefel an, danach müssen noch etliche Parfums ausprobiert werden. Dann aber gibt’s kein Halten mehr. Wagner und Levi beugen sich über eine Partitur, berauschen sich an der Musik, sie setzen sich an den Flügel und dirigieren zu den Klängen der Ouvertüre ein imaginäres Orchester. Das alles hat etwas von einer Türschlagkomödie à la Georges Feydeaux und Eugène Labiche, nimmt aber ernste Züge an, wenn Wagner beim anschließenden Choral, der Johannes dem Täufer gewidmet ist, den jüdischen Dirigenten zwingt, am christlichen Ritual des Hinknieens, Betens und Sich-Bekreuzigens teilzunehmen. Von Beginn an ist Hermann Levi der Fremdkörper in der Gemeinde. Nur naheliegend deshalb, dass er in der anschließenden privaten Aufführung in der Villa Wahnfried von Wagner auch die Rolle des Beckmessers aufgenötigt bekommt. Wagner selbst spielt Sachs, mit dem er sich während der Arbeit an den Meistersingern so sehr identifiziert hat, dass er Briefe mit »Sachs« oder »Hans Sachs« unterzeichnet. Cosima spielt die Eva, eine der Dienstbotinnen die ­Magdalena. So entfaltet sich der ganze 1. Akt als Richards ganz persönliches großmächtiges Puppentheater, in dem, der Logik des Kinderspiels folgend, die Meister aus dem Flügel auf die Bühne steigen und

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sich in Richards guter Stube wichtig tun, damit ihr Kunstgebilde Alt-Nürnberg blühen und gedeihen kann.

Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, Bayreuther Festspiele 2017. Inszenierung Barrie Kosky, Bühne und Kostüme Rebecca Ringst. 1. Akt Villa Wahnfried, ›Privataufführung‹ der Oper. Foto: Enrico Nawrath, Bayreuther Festspiele.

»Wie friedsam treuer Sitten / Getrost in Tat und Werk / Liegt nicht in Deutschlands Mitten / mein liebes Nürenberg«, singt Hans Sachs. Alt-Nürnberg ist das rückwärtsgewandte heartland der Wagner-Gemeinde, eine Retrotopie im Sinne Zygmunt Baumanns.7 Retrotopien, rückwärtsgewandte Utopien, sind nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch in unserer Gegenwart die Gegenbewegungen zu den Nivellierungs-, Entdifferenzierungs- und Entwertungstendenzen der Globalisierung. Sie phantasieren das goldene Zeitalter einer homogenen, traditionsgestützten Gemeinschaft mit stabiler Ordnung und verbindlicher Weltanschauung herbei, das es nie gegeben hat, das aber den von der Globalisierung gebeutelten Existenzen Halt und Orientierung bieten soll. Retrotopien sind fundamentalistisch. Sie leben vom Ausschluss des Fremden. Das christliche Abendland heute und Alt-Nürnberg damals sind solche fundamentalistischen, fremdenfeindlichen Phantasmen. Es ist die geniale Idee von Barrie Kosky, dass er die phantasmatische Welt von Alt-Nürnberg nicht historistisch ausmalt, als käme ihr historische Existenz zu, sondern dass er die Verfertigung des Phantasmas durch die bürgerliche Salongesellschaft des 19. Jahrhunderts

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vorführt und ausstellt. Die Ausstellung offenbart den komisch-grausamen Charakter der Retrotopie Alt-Nürnberg ebenso wie den Wunsch seiner imaginären Bewohner:innen nach einer durch die Kunst geordneten Gemeinschaft.

Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, Bayreuther Festspiele 2017. Inszenierung Barrie Kosky, Bühne und Kostüme Rebecca Ringst. 2. Akt Gerümpel. Sachs: Michael Volle. Foto: Enrico Nawrath, Bayreuther Festspiele.

Der Wunsch ist der Triebgrund des Phantasmas, das alles Fremde aus den Mauern von Alt-Nürnberg vertreiben will. Koskys Ausstellung des Phantasmas verurteilt nicht von oben herab aus der Position des moralisch Überlegenen. Sie nimmt die Sehnsüchte und Ängste der Menschen ernst und zeigt, was sie dazu treibt, sich ein geliebtes Herzensland einzubilden und sich daran zu klammern. Aber Koskys Ausstellung zeigt auch die Konsequenzen des wirkmächtigen Phantasmas. Deshalb schiebt sich vor die Villa Wahnfried der Schwurgerichtssaal 600, in dem der 2. und 3. Akt ihr Dasein fristen müssen. Die harsche Formulierung für die Existenz am unwillkommenen Ort ist nicht zu hoch gegriffen. Denn dass die Bewohner:innen von Alt-Nürnberg im 2. und 3. Akt der Meistersinger bei sich und zu Hause wären, davon lässt sich in Koskys Inszenierung gerade nicht sprechen. Die Johannisnacht des 2. Akts spielt im Niemandsland zwischen den Zeiten. Das Mobiliar und die gesamte Einrichtung des Wahnfried-Salons sind auf einen Haufen geworfen in einem leeren Raum, dessen Wände die des Nürnberger Gerichtsaal markieren. Die Retrotopie hat

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keinen Ort und keine Zeit mehr. Sie ist nurmehr Gerümpel. Gerade deshalb entfaltet sich ihre exzessive Gewalt gegen Beckmesser mit besonderer Wucht. Jacques Lacan zufolge wirkt das Phantasma umso unerbittlicher, je weniger es der Realität entspricht8 – an den populistisch-fundamentalistischen Bewegungen unserer Tage lässt sich das nahezu täglich beobachten. Die ubiquitär abrufbare Wirkmacht des bodenlosen Phantasmas der homogenen Alt-Nürnberger Gemeinschaft demonstriert Kosky am Ende der Prügelfuge des 2. Akts, wenn inmitten der aufeinander einschlagenden Bewohner:innen Alt-Nürnbergs in Renaissancekostümen gleich einem riesigen Ballon oder einer überlebensgroßen Puppe die Stürmerkarikatur des Juden aufgeht. Eine blitzhafte Erdung des Phantasmas und eine schockhafte Konfrontation, wenn einem aus der zusammengesunkenen und nach vorn gekippten Puppe nicht die verzerrten Züge der Karikatur, sondern das menschliche Auge des Opfers anblickt.

Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, Bayreuther Festspiele 2017. Inszenierung Barrie Kosky, Bühne und Kostüme Rebecca Ringst. 2. Akt Johannisnacht, vor dem Pult sitzend mit Schwellkopf im Stil einer antijüdischen Stürmer-Karikatur Beckmesser (Johannes Martin Kränzle). Foto: Enrico Nawrath, Bayreuther Festspiele.

Die riesige Karikatur des Juden zielt auf Beckmesser. Beckmesser aber ist in den Meistersingern kein Jude, stellt Barrie Kosky im Programmheft zur Inszenierung fest. Um dann fortzufahren:

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r ist eine Frankenstein-Kreatur, zusammengeflickt aus allem, was E Wagner hasste: Franzosen, Italiener, Kritiker, Juden. Was immer Wagners Abscheu erregte, findet sich in Beckmesser wieder. Seine Haut mag die eines Stadtschreibers aus dem 16. Jahrhundert sein, aber seine Seele und sein Charakter sind mariniert in jedem nur denkbaren antisemitischen Vorurteil, das aus den im mittelalterlichen Europa kursierenden Blutanklagen gegen die Juden hervorgegangen ist: Er ist ein Dieb, er ist gierig, er ist unfähig zu lieben, unfähig, wahre Kunst zu verstehen, er raubt deutsche Frauen, er stiehlt deutsche Kultur, er stiehlt deutsche Musik.9 Die Charakterisierung des Nichtjuden Beckmesser und seine Verstoßung aus der Gemeinschaft der Meistersinger trägt alle Züge des Antisemitismus. Der Hass auf das Fremde, der dem Phantasma ­ Alt-Nürnbergs innewohnt, ist der Hass auf die Juden. Die Verfertigung des Phantasmas in den Meistersingern auszustellen ist kein Regieeinfall Koskys, sie ist angelegt in der Oper selbst. Die Macht des Phantasmas firmiert dort unter der Bezeichnung Wahn. Wahn ist ein zentrales Thema für Wagner – in den Meistersingern und privat. Nicht umsonst trägt sein Haus den Namen Wahnfried. Frieden und Befreiung vom Wahn wünscht auch Hans Sachs im großen Monolog »Wahn! Wahn! Überall Wahn« zu Beginn des 3. Akts. Nur als ein Werk des Wahns kann sich Sachs den Exzess in der Nacht zuvor erklären. Unerklärlich bleibt für Sachs, dass der Wahn ausgerechnet hier, in seinem lieben Nürnberg, um sich greifen konnte. Dabei wäre es nur ein kleiner Schritt bis zur Einsicht, dass es die Konstruktion der Retrotopie Alt-Nürnberg mit ihrer Exklusion des Fremden selbst ist, die den Wahn der Verfolgung im doppelten Sinn auslöst: zum einen als die wahnhafte Verfolgung anderer, zum anderen als der Wahn, von anderen verfolgt zu werden. Im Kern des Phantasmas lauert die Paranoia. Von der Paranoia wird auch Stolzing im Johannisnacht-Akt heimgesucht, wenn er sich von den Meistern, die ihn zuvor nicht in ihre Gemeinschaft aufgenommen haben, real verfolgt fühlt. Wie sehr das Thema Wahn Wagner und Sachs beschäftigen, zeigt die Wendung ins Positive, die Sachs dem Wahn geben will, um die Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. Die positive Gestalt des Wahns nämlich ist für Wagner und Sachs der Traum, inkorporiert in Poesie und Musik. »Mein Freund, grad das ist Dichters Werk / des Menschen wahrster Wahn / Wird ihm im Träumen aufgetan«, so unterrichtet Sachs Stolzing, um dann das Werk der Kunst grundsätzlich als »Wahrheitstraumdeuterei« zu bestimmen.

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Während der »Wahn« eine klare Grenzlinie zieht zwischen dem Drinnen und Draußen einer Gemeinschaft sowie zwischen dem ihr vermeintlich Eigenen und dem Fremden, setzt sich der Traum über solche, der Ausschließung dienenden Trennungen hinweg. Der Traum sucht und findet verborgene Ähnlichkeiten im Unähnlichen, Eigenes im Fremden und Fremdes im Eigenen. Daraus ergeben sich andere Verbindungen und Stellungen der Figuren unter- und zueinander, die die Demarkationslinie des Wahns überschreiten. Die ­Meistersinger folgen der Ausgrenzungslogik des Wahns, das ist wahr. Über sie aber schiebt sich die Ähnlichkeitslogik des Traums. Das macht den Reichtum an Einsichten, und ja, an Wahrheit dieser Oper bei ihrer gleichzeitigen Schrecklichkeit aus. Zu den Einsichten, die sich durch die »Wahrheitstraumdeuterei« der Meistersinger gewinnen lassen, zählen vor allem die Doubles, die die Linie der Entgegensetzungen und eindeutigen Zuordnungen überschreiten: das Double David und Beckmesser, die beide auf ihre Weise an der Kunst verzweifeln und die Möglichkeit zeitgemäßer Kunst überhaupt fragwürdig werden lassen, das Double Stolzing, das sich Sachs/Wagner geschaffen haben und das in den Triumph Stolzings die Erfahrung des Alters und der Endlichkeit einschreibt. Schließlich das doppelte Gesicht einer durch Kunst organisierten Gemeinschaft, die einerseits zum totalitären Gesamtkunstwerk tendiert und andererseits die Utopie einer Kunst-Gemeinschaft im Medium der Kunst erfahren lässt. All das ist in den Meistersingern zu finden. All das zeigt Barrie Koskys Inszenierung. Indem sie Wagners Thematisierung des Wahns zur Exposition des Phantasmas weitertreibt und den Spuren der »Wahrheitstraumdeuterei« folgt, entgehen die Meistersinger von Nürnberg dem Wahn der Retrotopie, dem sie verfallen sind. Das zeigt sich nicht zuletzt am Double Beckmesser-Sachs, in der Aufführung hervorragend gesungen und gespielt von Johannes Martin Kränzle als Beckmesser und Michael Volle als Sachs. Was wäre ­Beckmessers Ständchen ohne den klopfenden Rhythmus des Schusters. Was prima vista als Störung erscheint, erweist sich als eingespieltes Duett von Partnern mehr als von Kontrahenten. Der tiefere Grund dafür ist: Beide sind Fremdkörper in der Gemeinschaft. Beckmesser ist dieser Fremde ganz offensichtlich, aber auch Sachs, der unter den Meistern zwar hochgeehrt ist, dessen hohes Bild der Gemeinschaft aber im Alltag der Nürnberger Handwerker keine Heimat findet. Das zeigt auch die Szenerie zu Beginn des 3. Akts. Der Schwurgerichtssaal 600 ist nun mit den Sitzreihen und Tischen gefüllt, die man von den Fotos der Nürnberger Prozesse her kennt. Sachs campiert ­improvisiert auf einem der Tische am Rand vorne links und treibt dort die Geschäfte, 147


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bis das Volk der Festwiese mit Fahnen und Transparenten den Saal entert. Nachdem Beckmesser gescheitert und vertrieben und Stolzing wie einst der Führer die Herzen und die zum Heil ausgestreckten Arme des Volks gewonnen hat, leert sich der Schwurgerichtssaal. Die Menge zerstreut sich und nimmt Bänke, Sitzreihen, Fahnen und Transparente mit sich. Stolzing, obgleich er den Wettbewerb gewonnen hat, will kein Meistersinger sein und geht mit Eva ab. So richtet sich S ­ achsens Replik in seiner großen Schlussarie »Verachtet mir die Meister nicht« an niemanden mehr im Saal. Sachs ist allein im leeren Schwurgerichtssaal. Er geht an das Pult des Zeugenstands und wendet sich ans Publikum, um nicht wie üblich dem jubelnden Volk der Festwiese, sondern den Anwesenden im Bayreuther Festspielhaus das Urteil zu überlassen. Bei den Worten der Schlussarie rum sag’ ich Euch: D Ehrt eure deutschen Meister dann bannt Ihr gute Geister! Und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst, zerging’ in Dunst das Heil’ge Röm’sche Reich, und bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst! öffnet sich der Prospekt des Schwurgerichtssaals 600, er verschwindet.

Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, Bayreuther Festspiele 2017. Inszenierung Barrie Kosky, Bühne und Kostüme Rebecca Ringst. 3. Akt Hans Sachs im Zeugenstand. Sachs: Michael Volle. Foto: Enrico Nawrath, Bayreuther Festspiele.

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»Das deutscheste von allen Wagner-Stücken« öffnet sich dem Fremden

Nur Sachs allein bleibt am Pult des Zeugenstands zurück. Ein stummes Orchester und ein Chor werden hereingefahren, die Sachs/ Richard singend dirigieren. Wir sehen das Phantasma und den Traum des kleinen Richard, vielleicht auch den des kleinen Barrie. Es ist ein Bild von tiefster Einsamkeit und Ohnmacht inmitten des triumphalen Getöses der Musik. Ein Bild von ergreifender Fremdheit. Barrie Koskys historische Wieder-Holung des Phantasmas und des Traums der ­Meistersinger offenbart die Fremdheit im Herzland des Eigenen. Sie öffnet »das deutscheste von allen Wagner-Stücken« dem Fremden und lässt das Trug- und Wunschbild von Nürnberg, der Stadt der Meistersinger, der Reichsparteitage und des Schwurgerichtssaals 600, hinter sich.

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III Richard Wagner 1 Vortag auf dem Symposium Theatre and Internationalization – Barrie Kosky: Past, Present, Future, veranstaltet von der Macquarie University und dem Goethe Institut Sydney am 26. und 27. April 2019 in Sydney. 2 Die Premiere fand am 25. Juli 2017 statt. 3 Äußerung von Barrie Kosky vor der Premiere im Interview mit Rainer Pöllmann, Deutschlandfunk Kultur, 25.07.2017. 4 Kosky, Barrie: Nächster Halt Bayreuth. Eine Zugfahrt mit Barrie Kosky, hrsg. v. Felix von Böhm, Rainer Simon, Berlin 2017, S. 12. 5 Vgl. Lenz, Ulrich: »Schläft ein R. in allen Dingen … oder Wie viel Richard ist in den Meistersingern?«, in: Richard Wagner. Die Meistersinger von Nürnberg, Programmheft 4/2018, S. 16 – 29. 6 Zitiert nach Lenz: »Schläft ein R. in allen Dingen«, S. 26. Lenz zitiert Weißheimer, Wendelin: Erlebnisse mit Richard Wagner. Franz Liszt und vielen anderen Zeitgenossen nebst deren Briefen, Stuttgart/Leipzig 1998. 7 Vgl. Baumann, Zygmunt: Retrotopia, Frankfurt a. M. 2017. 8 Vgl. Lacan, Jacques: Der individuelle Mythos des Neurotikers: oder Dichtung und Wahrheit der Neurose, aus dem Franz. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 2008. 9 Kosky: »›If I had a hammer‹«, in: Richard Wagner. Die Meistersinger von Nürnberg, Programmheft 4/2018, S. 10 – 13, hier S. 12.

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IV Bertolt Brecht/Kurt Weill Günther Heeg Die Oper als Herausforderung des epischen ­Theaters1 Es hat sich herumgesprochen, dass Brechts Revolution des Theaters viel der Musik und vor allem der Oper verdankt.2 Das bezeugt bereits auf biographischer Ebene die lebenslange Zusammenarbeit Brechts mit Komponisten wie Paul Hindemith, Kurt Weill, Hanns Eisler und Paul Dessau sowie die Opern Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Dreigroschenoper, Die Verurteilung des Lukullus und weitere Opernprojekte. Und dennoch zögert man, die Oper vorschnell zum Modell oder zur Blaupause für das epische Theater zu erklären. Zum einen, weil Brechts Beziehung zur Oper sich durchgehend durch Ambivalenz auszeichnet, mehr noch: weil in seinen expliziten Äußerungen zur Oper die Kritik überwiegt. Zum andern, weil damit die Gefahr droht, den Paragone, den Wettstreit der Künste, der für Brecht Stimulans und Herausforderung seiner Arbeit war, vorschnell zu Gunsten einer Kunstgattung, der Oper, zu entscheiden. Damit aber wäre die spezifische Qualität der Beziehung zwischen den Künsten, die Brechts Arbeiten auszeichnet, gerade verfehlt. Diese Beziehung aber ist noch weitgehend unerforscht.

1. Das Gespenst der Oper oder Das Genießen des Fremden

Dass die Oper eine Herausforderung des epischen Theaters, also des Theaters des 20. Jahrhunderts darstellen könnte, glaubt man nicht, wenn man die vernichtenden Äußerungen Brechts über die Oper liest. Noch kurz vor der Aufführung von Mahagonny, bekanntermaßen einer Oper, hat Brecht das Bedürfnis, sich über die Gründe klar zu werden, die ihn zu dieser Arbeit bewogen haben. Im Notizbuch 25 findet sich dazu unter der Überschrift »Oper mahagonny« [sic!], breit unterstrichen, ein Halbsatz:

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IV Bertolt Brecht/Kurt Weill

icht um die oper umzuändern als kunstgattung, nicht einmal n um dagegen »einen schlag zu führen« – sie ist allzusehr der ausdruck einer klasse und die vernünftigkeit hat zu wenig raum in ihr als daß man etwa von ihr aus einen schlag gegen die schicht selber die hier genießt, führen könnte.3 Wissen wir damit mehr über den Grund, die Gründe von Mahagonny? Ja und nein: Nein, wir erfahren nichts darüber, warum Brecht, zusammen mit Kurt Weill, die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny verfasst. Allenfalls indirekt. Denn Brecht argumentiert gleichsam ex negativo. Was für die Arbeit an Mahagonny spricht, wäre – wie in einer Spiegelschrift – dem zu entnehmen, was dagegenspricht, sich auf die Oper überhaupt zu beziehen: Weder ein Schlag gegen die überkommene Oper sei mit Mahagonny intendiert noch eine Reform der Oper, wie sie in den Zeitopern der zwanziger Jahre versucht wird. Die Oper, entnehmen wir der kleinen Notiz, ist unter aller Kritik, sozusagen nicht satisfaktionsfähig, keinen Schlag wert. Warum das so ist, darüber geben drei Formulierungen Auskunft, die man zu drei knappen Thesen verdichten kann: 1. Die Oper ist »allzusehr der ausdruck einer klasse«, gemeint ist die bürgerliche. 2. Sie ist zu unvernünftig, als dass sie vernünftiger Kritik zugänglich wäre und 3. Ihre wesentliche Aufgabe ist das Genießen eben dieser Klasse. Hört man den Dreiklang der Thesen, ist man versucht, gleich in den Trott routinierter Brecht-Exegese zu verfallen: Klar, dem Aufklärer Brecht ist die Oper schlicht zu irrational. Aber der schnellen Auflösung stellt sich das »Genießen« in der dritten These entgegen. »Genießen« nämlich ist bei dem Materialisten Brecht nicht nur Ausdruck bürgerlicher Dekadenz, sondern es ist darin die Aktivität des Asozialen am Werk, die eine künftige Gesellschaft erst möglich macht. Seid nur nicht so faul und so verweicht Denn genießen ist bei Gott nicht leicht! Starke Glieder braucht man und Erfahrung auch: Und mitunter stört ein dicker Bauch4 – so heißt es im Choral vom großen Baal. Wir wissen, die Produktivkraft des Genießens ist nicht nur in Baal, sondern auch in späteren Figuren Brechts wie Fatzer oder Galilei am Werk. Das unterstreicht noch einmal die Bedeutung des Genießens für Brecht. Und damit zurück zu Brechts Verdikt der Oper. Warum, so fragt man sich, ist dann das Genießen in der Oper im Zusammenhang der

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Das Gespenst der Oper oder Das Genießen des Fremden

drei Thesen negativ besetzt? Und was macht den Unterschied dieses Genießens zu jenem anderen Genießen aus, das Brecht für unverzichtbar hält? Und, von dieser doppelten Besetzung des Genießens aus weitergedacht: Ließe sich über dieses doppelte Genießen bei Brecht vielleicht eine Brücke schlagen zwischen seiner Kritik der Oper einerseits und der Arbeit an der Oper Mahagonny andererseits? So dass wir, wenn wir uns nur intensiv genug mit seiner Kritik der Oper befassen, ex negativo Aufschluss darüber erhalten, warum und wie die Oper zur Herausforderung des (epischen) Theaters werden konnte. Diesen Weg wollen wir im Folgenden gehen und uns in einem ersten Schritt mit jenem Genießen der bürgerlichen Klasse in der Oper befassen, von dem Brecht spricht. Wenn Brecht von der Oper redet, so meint er damit kein konkretes Werk, sondern die Oper als eine Institution des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. In den Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« hat Brecht sehr genau unterschieden zwischen einzelnen Opern, z.B. von Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven, und deren präzisen und differenzierten Dramaturgien einerseits und dem kulturellen Rezeptionsapparat Oper und seinem Funktionieren des emotionalen Austauschs zwischen den Held:innen der Oper und dem Publikum andererseits. Alexander Kluge hat diesen Rezeptionsapparat treffend das »Kraftwerk der Gefühle« genannt.5 Das Kraftwerk Oper versorgt im bürgerlichen Zeitalter dessen Protagonist:innen mit den Leidenschaften, die ihnen im bürgerlichen Alltag abhandengekommen sind. In der Rechenhaftigkeit des bürgerlichen Geschäftslebens stellen Aida, Madame Butterfly, Norma, Senta und ihre Leidensgenossinnen die emotionale Grundversorgung sicher, ohne die der Antrieb fehlt, die Geschäfte tagein, tagaus zu führen. Die Oper, das geht aus ihrem Widerspruch zum bürgerlichen Alltag hervor, ist einerseits hoffnungslos anachronistisch. Ihre Heroinnen mit ihren Leidenschaften finden darin keinen Platz mehr. Sie sind nurmehr Gespenster. Ihnen begegnet der bürgerliche Opernbesucher seinerseits in der Gestalt eines Untoten, eines Vampirs: Er saugt ihnen die Leidenschaften aus, um selbst wenigstens für einen Moment das Untote des bürgerlichen Alltags abzustreifen und leidenschaftliche Gestalt anzunehmen. Wie gut das funktioniert, zeigt eine Szene aus Brechts spätem Stück Die Tage der Kommune: »­Frankfurt. Oper, während einer Aufführung von Norma. Aus einer Logentür treten Bismarck in Kürassieruniform und Jules Favre in Zivil.«6 So wird die Szene eingangs beschrieben. Im Folgenden entwickelt sich ein Kuhhandel zwischen Bismarck, dessen Truppen Frankreich gerade niedergeworfen und besiegt haben, und dem französischen M ­ inisterpräsidenten, der

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den Sieger servil um unauffällige Unterstützung im Kampf gegen die aufständische Commune bittet. Bismarck, der ihm die Bedingungen dafür diktiert, kann dabei seine Ohren nicht abwenden vom Gesang der sterbenden Norma, der Hohepriesterin des von den Römern unterworfenen Galliens. Bismarck: Horcht auf Musik, die herausdringt, weil er die Logentür aufgelassen hat. Kolossal, die Altmann! Auch als Frauenzimmer, stramme Person. Na [...] ihr seid mir ja komische Käuze. Waffenhilfe schlagt ihr schamhaft ab, aber eure Gefangenen sollen wir freigeben, hintenrum. Weiß ja, weiß ja, es soll nicht mit Hilfe einer fremden Regierung geschehen sein. Nach der Melodie »Ach Theodor, du alter Bock, greif mir nicht vor den Leuten untern Rock«, wie? Horcht wieder auf die Musik. Jetzt stirbt se, epochal.7 Was die Figur Bismarcks hier exemplarisch vorführt, ist das, was Jacques Lacan und Slavoj Žižek das »Genießen des Anderen«8 genannt haben. Der Tod der Norma, der die Unterwerfung Frankreichs und den Tod der Commune symbolisch doppelt, bereitet dem preußischen Ministerpräsidenten höchste Lust: »Jetzt stirbt se, epochal.« Die äußerste affektive Grenzsituation verhilft dem Opernbesucher in Kürassieruniform zu machtvoller Leidenschaft, ohne dass sie Leiden schafft. Denn diese Norma ist einerseits eine Fremde, die aus fernen Gefühlswelten kommt, aus Zeiten und Räumen mag sein, in denen leidenschaftlicher Gesang die Welt und die Menschen zu verändern vermochte. Andererseits stellt diese Fremde ihre Dienste – kurzfristige Vorführung leidenschaftlicher Affekte samt prozentualer Beteiligung daran – gegen Bezahlung willig bereit. Von dieser Fremden droht keine Gefahr. Die Sängerin der Norma steht dem Opernbesucher mit ihren Gefühlsdiensten zur Verfügung wie eine Prostituierte – »Kolossal, die Altmann! Auch als Frauenzimmer, stramme Person«. Eine doppelte Beziehung zum Fremden zeichnet also das »Genießen des Anderen«, zeichnet das Genießen der Klasse, von dem Brecht spricht, im »Kraftwerk der Gefühle« des 19. Jahrhunderts aus. Es bedarf einerseits des fernen Fremden, weil nur ihm Leidenschaften zugeschrieben werden können, die im bürgerlichen Alltag dysfunktional wären. Zugleich gilt es, die Herausforderung dieses Fremden und damit die Gefahr, die von ihm ausgehen könnte, zu brechen. Das geschieht durch seine Exotisierung und Einverleibung. Die Exotisierung reißt das Fremde aus seiner Lebenswelt und enthistorisiert es. Auf die Oper übertragen: Nicht mehr die Dramaturgie, die Handlung, die widersprüchliche

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Brechts transmediale Praxis oder Der Stachel des Fremden

Geschichte der Figuren sind entscheidend, sondern die Imago der äthiopischen Sklavin, der japanischen Geisha, der unterworfenen, den Eroberer liebenden Gallierin. In ihrer exotisierten, phantasmatischen Gestalt können diese Opernfiguren einverleibt und genossen werden. Das Genießen der exotischen Fremden erweitert die Gefühlsmächtigkeit des bürgerlichen Opernbesuchers. Eine eigentümliche Verbindung der Gefühle mit der Macht zeichnet das Genießen im »Kraftwerk der Gefühle« des 19. Jahrhunderts aus. Das Substrat dieser Verbindung ist der kulturelle Kolonialismus – Aida und Butterfly weisen überdeutlich darauf hin. Die Fremden, an denen sich der Opernbesucher delektiert, sind Bewohner von Gefühlskolonien, die die Kolonialstaaten mit frischen Leidenschaften versorgen. Und dennoch, darüber sind wir uns alle einig, gehen diese Opern wie viele andere mit ihnen nicht im kolonialistischen Gefühlsvampirismus auf, den der bürgerliche Rezeptionsapparat Oper bedient. Nicht nur die Forschung, sondern auch die Inszenierungen des zeitgenössischen Musiktheaters zeugen nachdrücklich davon. Auch Brecht mag gespürt haben, dass die Oper noch einen anderen Umgang mit den Gefühlen jenseits des kolonialistischen Genießens bereithält, dass sie ein anderes Verhältnis zum Fremden möglich machen kann. Deshalb arbeitet er mit dem Entwurf seines Theaters an einem anderen, an einem transmedialen »Kraftwerk der Gefühle«. Um eine Vorstellung davon zu erhalten, wenden wir uns in einem nächsten Schritt Brechts transmedialer Praxis zu.

2. Brechts transmediale Praxis oder Der Stachel des Fremden

Wie kaum ein anderer vor ihm – Denis Diderot vielleicht ausgenommen – hat Brecht über Theater überhaupt und über sein Theater in der Rede eines Fremden gesprochen. Die Künste der Malerei, des Romans, der Photographie und des Films werden ihm zu Medien, über die er sich über die eigene Kunst des Theaters verständigt. Sie wollen wissen, was der V-Effekt ist? Brecht hat ihn in einem Jahrmarktsgemälde gefunden, zu dem uns nur noch dessen Vorlage, das Historienbild Karl der Kühne nach der Schlacht von Murten überliefert ist.

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IV Bertolt Brecht/Kurt Weill

Eugène Burnand: Die Flucht Karls des Kühnen nach der Schlacht von Murten, 1894.

Das Historienbild von Eugène Burnand zeigt eine Gruppe Flüchtender zu Pferde in rasendem Galopp und zwei wie im Flug gestreckte Hunde in einer Fluchtbewegung von rechts nach links, nahezu auf den Betrachter zu. Unterbrochen wird diese Bewegung in der Horizontalen durch zwei vertikale Barrieren. Das sich aufbäumende Pferd im Vordergrund und der Herzog selbst, der wie in Schockstarre gerade und steif auf seinem Pferd sitzt, als sei er der Flucht entzogen, aus der Bewegung herausgeschnitten. Es ist die Unterbrechung der Bewegung, der Fremdkörper in der Fluchtbahn, die den »Verfremdungsakt« bewerkstelligen. Brecht hat sich die Jahrmarktsversion des Gemäldes so nachdrücklich eingeprägt, dass er es in einem seiner wichtigsten theatertheoretischen Texte, Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst, als erste Referenz für den Vorgang der Verfremdung heranzieht. Und weiter mit Brechts transmedialen Inspirationen: Woher hat Brecht die Technik der Montage? Bekanntermaßen vom Film, präziser: von Sergej Eisenstein. Und den Grundgestus? Vom malerischen Konzept des Tableaus bei Diderot. Und so fort. Bevor wir danach fragen, was diesbezüglich mit der Oper sei, lassen Sie uns einen Moment innehalten und nach dem Grund dieser Beziehung zum fremden Medium fragen. Es ist, denke ich, ein doppelter: Zum einen lösen die Verfahren der anderen Künste offensichtlich eine Resonanz im Eigenen bei dem Stückeschreiber aus, die ihn anregt, die Grenzen des eignen Mediums zu überschreiten. Brecht, so meine These, arbeitet grundsätzlich transmedial. Für ihn sind die Malerei, der Film, die Oper nicht fremde Künste, die außerhalb des eigenen Mediums Theater stehen, sondern sie markieren das

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Fremde im vermeintlich Eigenen selbst. Zum anderen aber bleibt das andere Medium doch unerreichbar fremd. Was Brecht z.B. an Breughel oder Eisenstein beschreibt, lässt sich nicht eins zu eins im Theater umsetzen. Wäre dem nicht so, Brecht könnte Verfremdung, Montage und Grundgestus strikt in Termini des Theaters abhandeln. Das tut er gelegentlich. Dann aber fehlt der Abstand des unerreichbaren, grundsätzlich Fremden, der uns ein mögliches Anderes erfahren lässt jenseits dessen, was ist, weil man es offensichtlich hört und sieht. Brechts Theaterarbeit braucht den »Stachel des Fremden«9, von dem Bernhard Waldenfels spricht. Sein zukunftsweisendes Verfahren ist es, sich in seiner eigenen Theaterarbeit im Fremden zu bewegen und sich dessen Herausforderungen zu stellen. Zukunftsweisend ist es damit nicht nur als künstlerisches Vorgehen. Es zeigt sich an ihm ein grundsätzlicher Umgang mit dem Fremden, den Adorno, in Beziehung auf Joseph von Eichendorffs gleichnamiges Gedicht, mit der Vorstellung einer »Schöne[n] Fremde«10 verbunden hat. Die Konstellation von Eigenem und Fremden einer solchen »­Schöne[n] Fremde« hat Adorno als »versöhnten Zustand«11 verstanden. Ein solcher Zustand, so Adorno, »annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, dass es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen«.12 Die von Adorno beschriebene Überkreuzung von Nähe und Ferne, Resonanz und Stachel, Eigenem und Fremden zeichnet Brechts transmediale Praxis aus. Doch nun zur Oper: Es kommt Brechts Auseinandersetzung mit dem fremden Medium entgegen, dass sich in den zwanziger Jahren Affinitäten auftun zwischen der Komponistengeneration dieser Zeit und Brechts Stellung zur Oper. Kaum zu unterschätzen ist dabei der Einfluss von Ferruccio Busonis 1916 erschienenem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, in dem das Publikum als das »erste und stärkste Hindernis«13 für die Zukunft der Oper bezeichnet wird. Ganz im Sinne von Brechts Kritik am Genießen des Bürgertums schreibt Busoni über das Publikum: Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus kriminell veranlagt, und man kann vermuten, daß die meisten von der Bühne ein starkes menschliches Erlebnis wohl deshalb fordern, weil ein solches in ihren Durchschnittsexistenzen fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht verlangt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne die begleitenden Gefahren und die

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schlimmen Folgen, unkompromittierend, und vor allem: unanstrengend.14 Es ist nicht bekannt, ob Busoni und Brecht in den frühen zwanziger Jahren Kontakt hatten. Ein Exemplar der Neuen Ästhetik der Tonkunst befand sich in der privaten Bibliothek des späten Brecht. Angesprochen haben dürfte ihn darin mit Gewissheit Busonis Plädoyer für die Eigenständigkeit der einzelnen Kunstgattungen, das gerade für die Oper zu einer Absage an die Illustrationen der Programmmusik und einer Hinwendung zur Idee einer absoluten Musik führt. Hier ist eine Stellung der Künste zueinander angelegt, die Brecht später als »Trennung der Elemente«15 bezeichnen wird. Und eine weitere entscheidende Vorstellung verbindet sich damit: die einer Folge von in sich abgeschlossenen Zuständen als Strukturelemente der Oper. So hat es der Meisterschüler Busonis, Kurt Weill, gesehen, der in seinen ­Anmerkungen zu meiner Oper »Mahagonny« im März 1930 schreibt: s ist eine Folge von 21 abgeschlossenen musikalischen Formen. E [...] Die Musik ist hier also nicht mehr handlungsleitendes Element, sie setzt da ein, wo Zustände erreicht sind. Daher ist das Textbuch von Anfang an so angelegt, daß es eine Aneinanderreihung von Zuständen darstellt, die erst in ihrem musikalisch fixierten, dynamischen Ablauf eine dramatische Form ergeben.16 Dass Weill nicht die Handlung, sondern einzelne Zustände in den Fokus stellt, dürfte die größte Anziehungskraft ausgemacht haben, die diese neue Oper (die nicht mit den Zeitopern der Kreneks, Brands und Hindemiths zu verwechseln ist), auf Brecht ausgeübt hat. Denn das epische Theater, erläutert Walter Benjamin, »hat nicht so sehr Handlungen zu entwickeln, als Zustände darzustellen«.17 Hier, in der Fokussierung des Zustands, der Auszeit der Handlung, findet Brecht das Eigene im Fremden wieder. Hier, in der Attraktion des Zustands, ist sie zu vernehmen, die Resonanz des Fremden, auf die Brechts transmediale Praxis so sehr aus ist. Allerdings bleibt ihr auch in diesem Fall der Stachel des Fremden, die unhintergehbare Fremdheit des Fremden beigesellt. Sie artikuliert sich, bei aller Affinität zwischen dem Dichter und dem Opernkomponisten, in einer letztlichen Äquivokation des Terms Zustand. Für Weill leitet sich daraus das Primat der Musik ab, dem das Textbuch zu seiner Oper Mahagonny nur zuarbeitet. Brecht aber wird dieser Stachel des Fremden zur Herausforderung, erneut über den transmedialen Umgang mit dem Fremden, erneut

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Brechts transmediale Praxis oder Der Stachel des Fremden

über die Oper als das inhärente Fremde des epischen Theaters nachzudenken. Brechts im Dezember 1930 erschienenen Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« gehen deshalb über eine Antwort auf Weill und eine Auseinandersetzung mit ihm hinaus. Sie eröffnen vielmehr ein transmediales Spannungsfeld, das es verbietet, das eine dem anderen zuzuschlagen – das epische Theater der Oper oder die Oper dem epischen Theater – oder die beiden Kunstmedien in einem höheren Gesamtkunstwerk zusammenzuführen. Damit ist eine ästhetische Praxis angesprochen, die von größter Bedeutung für das Verhältnis zum Fremden ist: die Praxis des Trennens. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die Herausforderung des Fremden erhalten bleibt, dass es nicht einverleibt und genossen werden kann. Die Praxis des Trennens ist eine Grundoperation von Brechts transmedialem Theater. Sie artikuliert sich im Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern, sie ist die Voraussetzung seiner Kritik des Gesamtkunstwerks und sie bestimmt die Konzepte der Geste und des Zustands. Vor allem aber generiert, ausgerechnet, die Praxis des Trennens die Gefühle, die Brechts Theater so gerne abgesprochen werden. Über das Trennen konstituiert sich damit jenes andere »Kraftwerk der Gefühle«, die inhärente Oper in Brechts eigenem Schaffen. Der Grundoperation des Trennens in den genannten Ausprägungen möchte ich mich in einem nächsten Schritt zuwenden. Im Dialog über Schauspielkunst von 1929 schreibt Brecht: »Nicht nahekommen sollten sich Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selbst entfernen. Sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist.«18 Was zunächst wie die bekannte Forderung nach Abstand klingt, um besser nachdenken zu können, nimmt eine unerwartete Wende hin zu einer Schrecken auslösenden Entfernung aller von sich selbst und allen anderen. Der Schrecken des Von-sich-selbst-entfernt-Seins aber soll die Bedingung von Erkenntnis sein. Auf engstem Raum verknüpft Brecht hier die Trennung von jedem und allem – »Jeder sollte sich von sich selbst entfernen« – mit dem tiefen Gefühl des Schreckens und der vernünftigen Einsicht. Das ist eine Absage an alle harmlosen Exegesen der Verfremdung, die sie auf einen Akt der Reflexion reduzieren. Stattdessen gemahnt Brechts Engführung von fern an die aristotelische Katharsis und deren Betonung des phobos und mehr noch an die Ästhetik des Erhabenen, in der der ohnmächtige Schrecken, den der Zusammenbruch der Einbildungskraft auslöst, eine zentrale Rolle spielt. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die Katharsis

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strebt die Reinigung von negativen Gefühlen an, der ohnmächtige Schrecken in der Ästhetik des Erhabenen wird sublimiert und in moralische Überlegenheit verwandelt. In beiden Fällen geht die emotionale Wucht des Schreckens verloren. Bei Brecht bleibt sie erhalten, indem sie sich transformiert. Wie geht das vor sich? Der Vorgang des Sich-von-sich-selbst-Entfernens spaltet und teilt die geschlossene Gestalt des Individuums, die sich im späten 18. Jahrhundert in Europa herausgebildet hat. In ihr ist eine »Gewalt des Zusammenhangs«19 am Werk, die sich als Macht der Unterwerfung nach innen wie nach außen geriert. Sie ist das Subjekt, das sich Fremde einverleibt und genießt. Diese Gewalt sucht Brecht zu entmächtigen durch eine historisch-anthropologische wie künstlerisch-praktische Politik der fortgesetzten Teilung der Gestalt und der Trennung des Geteilten. Teilung und Trennung sind der Triebgrund einer umstürzenden Emotion, die zur Erkenntnis wird. Die Operationen des Teilens und Trennens schneiden ins Fleisch der geschlossenen Gestalt und greifen deren phantasmatische Einheit und Identität an. Das löst Schrecken aus, den Schrecken der Entsetzung. Und sie befreit zugleich alles Singuläre, das im Zusammenhang der Gestalt gewaltsam eingebunden war: den Eigensinn aller Sinne und Gefühle, die Einzelkünste, die Gesten und die Zustände. In den befreiten Singularitäten transformiert sich der Schrecken der Teilung in Erschütterungsenergie. Erschütterungsenergie lädt die Einzelteile affektiv auf und stärkt sie, so dass sie eine erschreckend starke emotionale Kraft entfalten. Um diese affektive Stärke ist es Brecht zu tun, wenn er die Schwächung der einzelnen Künste im Gesamtkunstwerk kritisiert und stattdessen eine »Trennung der Elemente« fordert. In den Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« heißt es dazu: er große Primatkampf zwischen Wort, Musik und DarstelD lung (wobei immer die Frage gestellt wird, wer wessen Anlass sein soll – die Musik der Anlass des Bühnenvorgangs, oder der Bühnenvorgang der Anlass der Musik usw.) kann einfach beigelegt werden durch die radikale Trennung der Elemente. Solange ›Gesamtkunstwerk‹ bedeutet, dass das Gesamte ein Aufwaschen ist, solange also Künste ›verschmelzt‹ werden sollen, müssen die einzelnen Elemente alle gleichermaßen degradiert werden, indem jedes nur Stichwortbringer für das andere sein kann.20

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Brechts Idee einer Trennung der Künste wendet sich gegen die Idee eines Gesamtkunstwerks, das nach dem Prinzip der wechselseitigen Ergänzung die einzelnen Künste addiert und multipliziert, um eine überwältigende emotionale Wirkung zu erzielen. Dabei schwächt sie die unterschiedlichen Elemente in ihrer je spezifischen Wirkung und unterwirft das Fremde dem Phantasma eines sinnvollen Ganzen. Soll dagegen die transmediale Konstellation der Künste die Herausforderung des Fremden behalten, muss, so Brecht, auf einer »Trennung der Elemente« in der jeweils eigenen Arbeit bestanden werden. Daraus folgt auch, dass Überlegungen, ob die gestische Aktion bei Brecht von der Sprache oder von der Musik initiiert ist, a priori in die Irre gehen. Es liegt ihnen nämlich ein oberflächliches Verständnis der Geste zu Grunde, dass sie auf jedwede Formen des körperlichen Zeigens und Ausdrückens reduziert. Die besondere Idee der Geste bei Brecht (und seinem Leser Walter Benjamin) hingegen macht es möglich, dass sich die Geste in der schauspielerischen Aktion, in der Sprache und in der Musik gleichermaßen auf je eigene Weise manifestiert. Diese Idee der Geste bei Brecht möchte ich kurz erläutern. Auch die Geste, der eigentliche Akteur in Brechts Theater, entspringt einer doppelten Operation des Trennens: »Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen«21, so lautet Walter Benjamins berühmte Beschreibung der Geste im epischen Theater. Die Heraustrennung der Geste aus einem Handlungszusammenhang qua Unterbrechung macht die Geste nach Benjamin fixierbar und – vor allem – zitierbar. Die Zitierbarkeit ist das wesentliche Charakteristikum der Geste bei Brecht. Ihre Zitierbarkeit aber ver-setzt die Geste in Bewegung zwischen Zeiten und Räumen und immer an einen fremden Ort. Der Geste kommt, mit aller Vorsicht gesprochen, eine migrantische Existenz zu. Dabei verwandelt sich der Schrecken der Ver-Setzung, der Dys-Position, in affektive Schwingungen zwischen Zeiten und Räumen. Gesten lösen Resonanzen zwischen unterschiedlichen Zeiten und Räumen aus und bewirken sinnliche Evidenzen, die sich nicht erschöpfen im sprachlichen Sinn. Das ist das Resultat einer ersten Trennungsoperation, die die Geste in die Welt setzt. Die tiefste Schicht ihrer affektiven Kraft kommt der Geste paradoxerweise durch den Umgang mit ihrer Heraustrennung aus einem Ganzen, nämlich durch die Exposition ihrer Unvollkommenheit zu. Die Geste, die der Unterbrechung entspringt, sieht sich um ihre Intentionalität und ihre Finalität und damit um die Souveränität des Handelns gebracht. Das schreibt ihr die Züge des Unvollendeten und

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Mangelhaften ein. Scham ist der durchschlagende Affekt, der mit deren Enthüllung einhergeht. In der Scham sieht sich der Beschämte entblößt den Blicken der anderen ausgesetzt. Die schamvolle Aussetzung ist das Double jener Aussetzung, die als Unterbrechung bezeichnet wird. Scham ist der Affekt der im doppelten Sinn ausgesetzten Geste. Ohne Scham, d. h. ohne schamvolles Bedecken und Verbergen des menschlichen Makels, bietet sie sich dem Fremden dar, entblößt und offen für die Berührung. In der Geste der Scham transformiert sich das Ent-Setzen der Aussetzung in eine affektive Kraft, uns zu berühren. Die Geste der Scham ist auch die Geste der Berührung. Gesten sind nicht nur in Bewegung, sie kristallisieren sich in Zuständen. Die Bewegung der Geste hält ein auf ihrer Wanderung und gewinnt Raum im Zustand. Zustand ist ein nüchternes Wort, das alles bedeuten kann und nichts. Was ist so faszinierend, dass Benjamin und Brecht im Zustand die Form des künftigen Theaters sehen? Im Zustand staut sich die fortlaufende Zeit der Handlung und wird Stasis. In der Stasis wiederum verräumlicht sich die gestockte Zeit und wird RaumZeit. In der Raum-Zeit der Stasis treten das Geteilte und Getrennte, treten das Eigene und das Fremde in dynamische Konstellationen, die eine Vielzahl von Möglichkeiten eröffnen, Eigenes und Fremdes immer erneut und anders zu kombinieren. Dabei laden die getrennten Elemente, die unterschiedlichen Gesten und das gestisch Herbeizitierte den Zustand der Stasis mit allen Formen der Trennungsenergie affektiv auf. Der Zustand in Brechts Theater, die affektiv-dynamische Stasis, ist das andere »Kraftwerk der Gefühle«, das Double jenes Rezeptionsapparats Oper, der Brecht noch in der Verwerfung zum Ansporn wurde. Die Gefühle, die hier freigesetzt werden, verdanken sich dem Aufbruch der geschlossenen Gestalt des Individuums, ihrem Aufbrechen – in einer weiteren Bedeutung des Worts – hin zum Fremden – außerhalb der eigenen Gestalt und in ihrem Innern.

3. Der Schauplatz der transkulturellen Eröffnung22

Wie unterschiedlich auch immer Brecht und Weill das Konzept des Zustands verstanden haben mögen, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ist ein hervorragendes Beispiel für die Exposition affektiv-dynamischer Stasen in jenem anderen »Kraftwerk der Gefühle«, das das epische Theater, das epische Musiktheater ist. Mahagonny seziert die Manipulation der Bedürfnisse, Wünsche und Triebe in Zeiten des vollendeten Kapitalismus. Fressen, Saufen, Ficken und Sich-Schlagen sind

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Der Schauplatz der transkulturellen Eröffnung

die Rudimente des Begehrens im Amüsierbetrieb von Mahagonny. Im 2. Akt steht eine Schlange von Männern vor dem Bordell, die ungeduldig darauf warten, dass sie dran sind: »Rasch, Jungens, he! / Stimmt ihn an den Song von Mandelay: / Liebe, die ist doch an Zeit nicht gebunden / Jungens, macht rasch, denn hier geht’s um Sekunden.«23 Die angebliche Zeitlosigkeit der Liebe ist hier ironisch heruntergebrochen auf die Stoßzeit des sexuellen Akts, die der Sekundentakt der kapitalistischen Arbeitszeit diktiert. Dann kommt der Schnitt und der Himmel über Mahagonny reißt auf: »Sieh jene Kraniche in großem Bogen!«.24 Das ist die Geste der Prostituierten Jenny. Sie zeigt auf die Bewegung der Kraniche, sie zeigt das eigene Zeigen und sie zeigt dabei ungewollt, unbewusst, sich. Das Nahe und das Entfernte, das Eigene und das Fremde sind in der Geste dieses »Sieh« zusammengestellt. Sie öffnet einen Raum voll mit Bildern und Zitaten unterschiedlicher Zeiten und Räume, die die Geste mit sich führt. Die anfängliche Geste des »Sieh« teilt sich dabei in einzelne fixierte Gesten auf, die sich zueinander in Beziehung setzen. Auf mehrfache Weise werden die Gesten dabei von Gefühlen begleitet: zum einen von den Gefühlen, die sie zitieren, zum anderen von der Schwingungsenergie und nicht zuletzt von der Kraft der Berührung, die von der Geste ausgeht. So entsteht der Raum einer affektiven Stasis. Dieser Raum wird durchschritten und vermessen von einem Gedicht, das Brecht 1927 unter dem Titel Die Liebenden geschrieben hat. Für Mahagonny hat er es in die Form eines Duetts Duett zwischen Jenny und dem Holzfäller Paul ­Ackermann gebracht. Jenny Sieh jene Kraniche in großem Bogen! Paul Die Wolken, welche ihnen beigegeben Jenny Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen Paul Aus einem Leben in ein andres Leben. Jenny In gleicher Höhe und mit gleicher Eile Beide Scheinen sie alle beide nur daneben. Daß so der Kranich mit der Wolke teile Jenny Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen Paul Daß also keines länger hier verweile Jenny Und keines andres sehe als das Wiegen Des andern in dem Wind, den beide spüren Die jetzt im Fluge beieinander liegen Paul So mag der Wind sie in das Nichts entführen. Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben Jenny So lange kann sie beide nichts berühren

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Paul Jenny

So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben Wo Regen drohen oder Schüsse schallen. So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. Paul Wohin ihr? Jenny Nirgend hin. Paul Von wem davon? Jenny Von allen. Paul Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Jenny Seit kurzem. Paul Und wann werden sie sich trennen? – Jenny Bald. Beide So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.25 Die Beziehung zwischen Kranich und Wolke, die das Duett eingangs beschreibt, ist die einer innigen Verbundenheit, die sich allein durch Abstand und Vorübergang einstellt. So heißt es im Gedicht: »Daß so der Kranich mit der Wolke teile / Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen / Daß also keines länger hier verweile / Und keines andres sehe als das Wiegen / Des andern in dem Wind den beide spüren / Die jetzt im Fluge beieinander liegen.« Weiter im Duett: »In gleicher Höhe und mit gleicher Eile / Scheinen sie alle beide nur daneben.« Offensichtlich ist, dass Brecht in dieser Passage des Gedichts/des Duetts eine Reihe fernöstlicher Ideen und Bilder anführt. Der Kranich steht im chinesischen Denken für langes Leben, hohes Alter und Weisheit. Die Wolke apostrophiert das Vorübergehende, Unbeständige und Beiläufige. Beide weisen auf die Attraktion von Yin und Yang im Daoismus hin. Der leere Raum des »[B]loß daneben« findet in der japanischen Vorstellung des Ma eine Resonanz. Das Nichts, in das der Wind die Liebenden entführen mag, mag an die Erleuchtung des zen-buddhistischen Satori erinnern. Es mag. Denn es sind Assoziationen, die hier gestisch zitiert werden, und keine interpretatorischen Zuschreibungen und Festlegungen. Bevor es dazu kommen kann, ist das Gedicht/das Duett weiter und in anderen Zeiten und Räumen unterwegs: »Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben / So lange kann sie beide nichts berühren / So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben / Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.« Das ist nicht mehr China und Japan, das sind Europa und Deutschland in der Zeit um 1800. Es ist die frühbürgerliche Idee der romantischen Liebe, die allen Umständen trotzt, auch der bürgerlichen Realität dieser Liebe, die sich im Song der Männer vor

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dem Bordell artikuliert. Es ist die Idee des amor vincit omnia, die Idee eines Paares, eng verbunden gegen den Rest der Welt. Es sind also zwei sehr verschiedene Vorstellungen und Gefühlswelten des liebenden Beieinanderseins, die das Gedicht anführt. Es entscheidet sich für keine von beiden. Beide sind vielmehr durch die Kunst der Terzinen ineinander verwoben, so dass der Wunsch nach einer leichten Liebe im Vorübergehen mit der Sehnsucht nach Halt und Dauer der Beziehung korrespondiert. Dass die romantische Erinnerung an die eigene deutsche Geschichte der Gefühle mit den Glückversprechungen ferner Kulturen in Beziehung tritt. In den affektiven Gesten des Gedichts sind unterschiedliche Zeiten und Räume zitierend zusammengestellt. Zu den Gesten des Texts treten die der Musik. Weder illustrieren die musikalischen Gesten die der Sprache noch werden sie zum Präzeptor für diese. Die Musik Weills folgt ihrem Eigensinn, auch wenn sie eine hohe Affinität zu Brechts Verfahren auszeichnet. Auch Weills Musik verfährt gestisch. Es ist, wie Adorno schreibt, eine Musik »aus Trümmern der vergangenen Musik«26, die sie gestisch evoziert. Im Kranich-Duett zwischen Jenny und Paul zitiert sie das Prinzip einer barocken Arie in einer Kantate oder einem Oratorium von Händel oder Bach. Der Einleitung durch eine Gruppe von Holzbläsern folgen abwechselnd Sängerin und Sänger, jeweils unterbrochen, umspielt und begleitet von der Bläsergruppe. Keine Parodie ist damit angestrebt, sondern die Ausstellung von Begleitung, einfach nur Danebensein oder: Schöne Fremde. In der emotionalen Anmutung der Barockmusik klingt sie wie ein Versprechen. Unterschiedliche Gefühle, gebunden an einzelne Gesten, Haltungen, Elemente und Zustände, treffen in der affektiven Stasis von M ­ ahagonny aufeinander. Was ist der Zweck dieses »Kraftwerks der Gefühle«? Zur Erinnerung: Der Schrecken des Sich-von-sich-selbst-Entfernens, des Teilens und Trennens sollte nach Brecht zur Erkenntnis führen. Welche Erkenntnis ist damit gemeint? Mit Sicherheit keine, die die Erschütterungsenergie verleugnet, aus der sie hervorgegangen ist. Erkenntnis, die bei der Erschütterung verweilt, der sie sich verdankt, heißt Erfahrung. In der Erfahrung sind affektive Ergriffenheit und Reflexion aufeinander bezogen. Drei Erfahrungen sind es, die die affektive Stasis bereithält: die Erfahrung der Ent-Setzung, die Erfahrung der Ver-Setzung und die Erfahrung der Aus-Setzung. Es sind Erfahrungen von Leuten, die ohne Halt unterwegs sind, realistische Erfahrungen in einer

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­ igrationsgesellschaft, Erfahrungen unter Fremden, die im UnterM wegs sind. Ihr geheimes Gravitationszentrum aber ist das latente Wissen, dass nicht nur die eigene Existenz, sondern jede bestehende Ordnung, die von Mahagonny und jede andere, nicht von Dauer ist. Diese dämmernde Einsicht wird von einer zweiten latenten Erfahrung begleitet, dass nämlich die in der Stasis angestauten Bruchstücke der Spaltungen, Teilungen und Trennungen auf einen anderen, versöhnten Zustand hindrängen, dessen Realisierung die Stasis zugleich beharrlich verweigert. Mit den affektiven Trennungen und Teilungen der Stasis in Mahagonny geht die Latenz eines Künftigen einher, die die Transzendierung der Realität des Kapitalismus und der Kulturindustrie ankündigt. Deshalb hat Adorno Mahagonny »die erste surrealistische Oper«27 genannt. Jenseits der Realität ist im »Kraftwerk der Gefühle«, das Mahagonny ist, die Erfahrung eines Künftigen latent. Adorno hat sie in den Satz gefasst: »Mahagonny ist eine Darstellung der sozialen Welt, in der wir leben, entworfen aus der Vogelperspektive einer real befreiten Gesellschaft.«28 Die Vogelperspektive, von der er spricht, ist die der Kraniche und jener Wolken, »welche ihnen beigegeben.« Sie sind in Mahagonny unterwegs in eine befreite Gesellschaft aller Ent-Setzten, Ver-Setzten und Aus-Gesetzten, sie sind unterwegs in eine transkulturelle Zukunft.

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Endnoten 1 Keynote auf dem Kongress tosc@ bern 2017. 2nd transnational opera studies ­conference vom 5. – 7. Juli 2017 in Bern. 2 Siehe dazu u. a. die Studien von Dümling, Albrecht: Laßt euch nicht verführen. Brecht und die Musik, München 1985; Lucchesi, Joachim/Shull, Ronald K.: Musik bei Brecht, Frankfurt a. M. 1988; Stegmann, Vera: Das epische Musiktheater bei Strawinsky und Brecht, Frankfurt a. M. 1991; Calico, Joy H.: Brecht at the Opera, Berkeley 2019. 3 Brecht: [Oper mahagonny], in: Kölbel, Martin/Villwock, Peter (Hrsg.): Notizbücher 24 und 25 1927-1930, NB 25, 66, Frankfurt a. M. 2010, S. 348 f. 4 Brecht: [Baal], in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (im Folgenden BFA) Bd. 1, Frankfurt a. M. 1998, S. 83 – 137, hier S. 85. 5 Kluge, Die Macht der Gefühle. 6 Brecht: [Die Tage der Kommune], in: BFA Bd. 8, S. 243 – 317, hier S. 299. 7 Ebd. 8 Siehe Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«. 9 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990. 10 Eichendorff, Joseph von: Werke in einem Band, hrsg. v. Wolfdietrich Rasch, München 1995, S. 35 f. 11 Adorno: Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1997, S. 192. 12 Ebd. Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Mit Anmerkungen von 13 Arnold Schönberg und einem Nachwort von H. H. Stuckenschmidt, Frankfurt a. M. 2016, S. 25. 14 Ebd., S. 25 f. 15 Brecht: [Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny], in: BFA, Bd. 24, S. 79. 16 Weill, Kurt: [Anmerkungen zu meiner Oper Mahagonny], in: Hinton, Stephen/ Scheberg, Jürgen (Hrsg.): Musik und Theater. Gesammelte Schriften, Berlin 1990, S. 76. 17 Benjamin: [Was ist das epische Theater? (1)], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 519 – 531, hier S. 521. 18 Brecht: [Dialog über Schauspielkunst], in: BFA Bd. 21, S. 279 – 282, hier S. 280. 19 Siehe Kluge/Negt, Oskar: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a. M. 1981. 20 Brecht: [Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny], S. 79. 21 Benjamin: [Was ist das epische Theater? (1)]«, ebd. 22 Im Weiteren folge ich den Ausführungen zu Mahagonny in Heeg: Das trans­ kulturelle Theater. 23 Brecht: [Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny], in: BFA Bd. 2, S. 333 – 389, hier S. 363. 24 Ebd., S. 364. 25 Ebd., S. 364 f. 26 Adorno: [Mahagonny], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 115 – 122, hier S. 120. 27 Ebd., S. 119. 28 Ebd., S. 114.

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Günther Heeg Kapitalismus/Gefühle Anachronismus und Utopie in der Dreigroschenoper1 1. Anachronismus

Das Jahr 1928, das Jahr der Uraufführung der Dreigroschenoper, war das letzte Jahr der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik, der kurzen Zeit einer mit Krediten finanzierten Prosperität zwischen der Inflation von 1923 und der Weltwirtschaftskrise 1929. Es ist die Zeit, die den Mythos der Goldenen Zwanziger Jahre geschaffen hat, die Zeit, in der der Amerikanismus als kulturelle Lebensform erstmals seine Anziehungskraft entfaltet:2 Massenkonsum hier und jetzt statt Verzicht und Gratifikationsaufschub. Tanz- und Kinopaläste, Revuetheater und Luna Parks werden zu Orten der Entsublimierung und des sexuellen Vergnügens der neuen Klasse der Angestellten, wie Siegfried Kracauer sie beschrieben hat.3 Sie bieten das neue Gesicht eines Kapitalismus, der vom Konsum angetrieben wird und keinen Triebverzicht mehr braucht. Sondern dem die Devise: »Vor allem aber achtet scharf, / Dass man hier alles dürfen darf« zum Lebenselixier geworden ist. Die Aufforderung zum unbeschränkten Genießen darin stammt nicht aus der Dreigroschenoper, sondern ist ein Zitat aus der zwei Jahre später aufgeführten Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, ebenfalls von Brecht und Weill. Mahagonny, das zur Goldgräber- und Städtegründerzeit im Wilden Westen spielt, scheint im Vergleich zur Dreigroschenoper auf den ersten Blick die weitaus modernere Oper zu sein. Moderner im Hinblick auf die neue Gestalt des Kapitalismus, die diese Oper in den Blick nimmt. Das Gold, das in Alaska mühsam erworben und zusammengespart wurde, muss ausgegeben werden. Deshalb heißt es: Fressen, Ficken, Saufen und Sich-Schlagen solange, bis das Geld alle ist. Mahagonny entwirft das Bild einer ungezügelten kapitalistischen Vergnügungsindustrie und ist damit auf der Höhe der Zeit im kritischen Gleichschritt mit der, so will es scheinen, modernsten Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Dagegen sieht die Dreigroschenoper auf den ersten Blick alt aus. Mitten im vergnügungssüchtigen Berlin der zwanziger Jahre versetzt sie eine

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Anachronismus

anachronistische Figur des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts aus dem Fundus der Geschichte zurück auf die Bühne: den als Bettlerkönig apostrophierten Unternehmer Jeremy Peachum, der aus dem Bettel ein großangelegtes Unternehmen gemacht hat. Peachum ist eine Figur des viktorianischen London, seine Herkunft ist unklar, vielleicht liegt sie im Dunkel des Verbrechertums, aus dem Peachums Rivale, der Räuber Macheath, herkommt. Vielleicht hat Peachum bereits früher so wie Macheath jetzt erkannt, dass sich der größte Gewinn nicht aus kriminellem Raub, sondern aus den legalen Geschäften der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ziehen lässt. »Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?«. Kaum voneinander entfernt sind Bürger und Räuber in dieser Frühzeit des Kapitalismus. Peachum und Macheath sind deshalb eigentlich Konkurrenten. Peachums Tochter Polly, die Macheath geheiratet hat, ist nur Manövriermasse zwischen den beiden – jedenfalls aus der Sicht der beiden Männer. Mehrmals versucht Peachum, seinen Konkurrenten auszuschalten, indem er ihn ins Gefängnis bringen lässt. Macheath setzt dagegen auf seine guten Beziehungen zum Polizeichef von London, Tiger Brown, einem alten Kriegskameraden, und auf dessen Tochter Lucy, der Rivalin von Polly um Macs Gunst. Und als selbst Tiger Brown nicht mehr zu helfen vermag, rettet der reitende Bote der Königin Macheath vorm Galgen. Von den Prostituierten bis zur Königin, vom Räuber bis zum Polizeipräsidenten durchmisst die Dreigroschenoper das Spektrum einer frühkapitalistischen Klassengesellschaft, in der alle Beziehungen und Gefühle zwischen den Menschen am Gesetz des Marktes orientiert sind. Die Beziehungen werden auf ihren Tauschwert, also auf ihre Verwertbarkeit bei der Optimierung der Unternehmungen hin abgeklopft, die Gefühle müssen in Schach gehalten werden, dass sie der Rechenhaftigkeit des Geschäftsgebarens nicht in die Quere kommen. Der Prototyp dieses kapitalistischen Beziehungs- und Gefühlsathletik aber ist Peachum. »Wach auf Du verkommener Christ«, mit diesem Morgenchoral beginnt Peachum seinen Alltag. Mit größter Sorge und Sorgfalt führt Peachum täglich die Geschäfte auf möglichst brutale Weise (»Verkauf Deinen Bruder, du Schuft! / Verschacher dein Ehweib du Wicht!«) nach den Regeln der strengsten protestantischen Ethik. Max Weber hat 1904 in seiner Abhandlung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus eine asketische Lebensführung, wie sie besonders der C ­ alvinismus fordert, als adäquate Einstellung und Haltung

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­apitalistischen Unternehmertums beschrieben.4 Ihnen folgen k Herr und Frau Peachum. Ihre Devise lautet: Triebverzicht! Nicht aus ursprünglich religiösen Gründen heraus, sondern um die Akkumulation des Kapitals nicht zu gefährden. Die sexuelle Hingabe der Tochter Polly an den Räuber Macheath ist für Peachum und seine Frau verwerflich, weil der Verlust der Tochter für Peachum den drohenden Ruin bedeutet. Die Peachums wissen: Romantische Flausen – »Das ist der Mond über Soho. Das ist der verdammte ›Fühlst-Du-mein-Herz-­ Schlagen‹-Text« – schlagen um in die Forderung nach Vergnügen und Spaß. »Anstatt dass /«, empören sich die Eltern Peachum, »Sie zu Hause bleiben und im warmen Bett / Brauchen Sie Spaß / Grad als ob man ihnen eine Extrawurst gebraten hätt.« Spaßbremsen sind aber nicht nur Peachum und seine Frau, sondern auch die gescholtene Tochter Polly, die angesichts möglicher romantisch-sexueller Ausschweifungen im »Song vom Nein und Ja« sehr genau weiß: a behält man seinen Kopf oben, D Und man bleibt ganz allgemein! Sicher scheint der Mond die ganze Nacht, Sicher wird das Boot am Ufer festgemacht, Aber weiter kann nichts sein. Ja, da kann man sich doch nicht bloß hinlegen, Ja, da muss man kalt und herzlos sein. Ja, da könnte so viel geschehen, Aber da gibt’s überhaupt nur »nein« Kälte und Herzlosigkeit sind die gefühllosen Gefühle, die benötigt werden, um im Alltag der Geschäfte den Kopf oben zu behalten, Gefühle, die Polly sehr zu passe kommen, als ihr Gatte Macheath im Gefängnis sitzt und sie seine Unternehmungen sehr gut und genau zu führen weiß. Und selbst dieser Macheath, zwar momentan noch im Gefängnis, aber perspektivisch auf dem Weg vom Räuber zum angesehenen Bürger – Aktie gegen Dietrich tauschend, den Besitz einer Bank dem Einbruch in sie vorziehend – hat bei genauerem Hinsehen bereits die Mentalität eines kleinlichen Buchhalters, der auf strenge bürgerliche Ordnung hält. Allerdings sieht man auch gerade bei Polly und Macheath, wie schwer der Kampf gegen Begehren und Triebgewohnheiten ist. Dreimal hält Polly im »Song vom Nein und Ja« der Versuchung stand, aber einmal hilft es ihr nicht, den Kopf oben zu behalten und ganz allgemein zu bleiben:

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Anachronismus

J edoch eines Tags (und der Tag war blau) Kam einer, der mich nicht bat. Und er hängte seinen Hut an den Nagel in meiner Kammer, Und ich wusste nicht mehr, was ich tat. Und als er kein Geld hatte, Und als er nicht nett war, Und sein Kragen war auch am Sonntag nicht rein, Und als er nicht wusste, Was sich bei einer Dame schickt, Zu ihm sagte ich nicht »Nein« Da behielt ich meinen Kopf nicht oben, Und ich blieb nicht allgemein! Ach, es schien der Mond die ganze Nacht, Und es ward das Boot am Ufer losgemacht, Und es konnte gar nicht anders sein. Ja, da muss man sich doch einfach hinlegen, Ja, da kann man doch nicht kalt und herzlos sein! Ja, da musste so viel geschehen, Ja, da gab’s überhaupt kein Nein. Es ist die Romantik des Antibürgerlichen, die Polly den Kopf verdreht und zur Heirat mit dem Räuber Macheath verführt hat, während Macheath das antibürgerliche Flair des Räubers kalkuliert für seine Vorgaben einzusetzen weiß. Gegen den Triebstau hat Macheath ein bewährtes, aber nicht ungefährliches bürgerliches Ventil gefunden: den regelmäßigen Gang zu den Prostituierten, der ihn zweimal ins Gefängnis bringt. Riesengroß ist im Zeitalter des puritanischen Kapitalismus die Faszination der sexuellen Hörigkeit, die die gleichnamige Ballade besingt: »Am Mittag zwingt man sich, dass man nicht Sellerie frisst / am Nachmittags weiht man sich noch ’ner Idee. / Am Abend sagt man: mit mir geht’s nach oben / Und vor es Nacht wird liegt man wieder droben.« Unter dem Diktat der asketischen Lebensführung ist Sexualität ein hohes, knappes Gut. Andere Möglichkeiten männlicher Entladung bietet nur der Krieg mit den größten aller Rohre, die den Räuber Macheath und den Polizeichef Tiger Brown verbinden:

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Soldaten wohnen Auf den Kanonen Vom Cap bis Couch-Behar Wenn es mal regnete Und es begegnete Ihnen ’ne neue Rasse ’ne braune oder blasse Da machten sie vielleicht daraus ihr Beefsteak Tatar. Puritanisch, sexualitätsfixiert und aggressiv-roh: Anachronistisch scheint die Gefühls- und Triebwelt dieses Kapitalismus zu sein, der nichts von der Spaß- und Konsumgesellschaft des Mahagonny-Kapitalismus hält. Dabei ist er andererseits sehr modern in seiner neoliberalen Staatsferne und Marktaggressivität.5 Hinzukommt die totale Fassadenhaftigkeit, die die Geschäfte verbirgt. Nichts darf sichtbar werden von der Gewalt, die für ihre Durchführung benötigt wird. Anders als der Haifisch, der die Zähne im Gesicht trägt, sieht man die Taten des Macheath nicht, wie es gleich zu Beginn die »Moritat von Mackie Messer« betont. Es ist als ob er und Peachum dem Rat folgten, den Brecht den Haifischen 1948 in der Prosa-Parabel Wenn die ­Haifische Menschen wären indirekt gegeben hat: Mit einer geschickten kulturellen Fassade läuft das Fressen, die Ausbeutung nochmal so gut. Es gibt in der Dreigroschenoper kein reales Elend, kein Proletariat. Die Ärmsten der Armen in Peachums Bettlerunternehmen sind gezielt kostümierte Schauspieler, die auf der Basis der Mitleidsästhetik des 18. Jahrhunderts das Geld der angebettelten Passant:innen in Peachums Tasche wandern lassen und sein Kapital vermehren. Die Ansichten des Kapitalismus in der Dreigroschenoper sind durchgestylt, glatt und modern und vorbildlich in der Ausbeutung alter Gefühlsmuster. Sie gleichen der spiegelnden Oberfläche eines Gewässers, dem man nicht ansieht, dass sich Haifische in ihm tummeln. Stellen wir die unsichtbaren Haifischgewässer des Fassadenkapitalismus neben den Kapitalismus der protestantischen Ethik, wie es die Dreigroschenoper tut, so fällt auf: Das System der kapitalistischen Gesellschaft dort ist von Widersprüchen gezeichnet – hier Neoliberalismus und kulturelle Fassade, die ins 20. Jahrhundert und in die Gegenwart verweisen, dort die Triebstruktur des puritanischen Unternehmertums des 19. Jahrhunderts.

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Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

2. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Ernst Bloch hat in Erbschaft dieser Zeit die soziale Dynamik analysiert, die zum Untergang der Weimarer Republik und zum Aufstieg des Nationalsozialismus geführt hat.6 Die größte Sprengkraft gegen die Republik sah Bloch in der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Unterschiedliche politische Kräfte und soziale Bewegungen existieren dabei neben- und gegeneinander im Raum einer Gesellschaft und zur selben Zeit und scheinen doch unterschiedlichen Gesellschaftsformationen und Zeiten anzugehören. Die Spaßgesellschaft und Vergnügungskultur des modernen Konsum-Kapitalismus der angeblich »Goldenen Zwanziger Jahre« wird begleitet von politischen, psychosozialen und ökonomischen Bewegungen, die aus einer anderen, vormodernen, vordemokratischen, voraufgeklärten und voremanzipierten Zeit stammen und dahin zurückwollen. Dazu gehören u. a. die gesamte völkische Bewegung, die ehemaligen Frontsoldaten des Stahlhelms, einer paramilitärischen Organisation, das durch die Inflation deklassierte Kleinbürgertum und die Kampforganisationen von KPD und NSDAP Rotfrontkämpferbund, SA und SS. Sie alle hassen die Republik und die Demokratie und wollen zurück in ein angeblich Goldenes Zeitalter einer homogenen, konfliktfreien und ethnisch reinen Gemeinschaft bzw. im Fall der Kommunisten in eine sozialistische Diktatur des Proletariats nach dem Vorbild der Sowjetunion. Das Goldenen Zeitalter dieser rückwärtsgewandten Utopien oder Retropien7 hat es nie gegeben. Weil aber die Retrotopien keinen wirklichen Boden unter den Füßen haben, sollen sie von den ungleichzeitigen Bewegungen mit umso stärkeren Gefühlen und voller Hass auf die bestehende Ordnung imaginär realisiert werden. Die Anhänger:innen der ungleichzeitigen Bewegungen verfochten ein Gefühlsleben, das sich einerseits durch die Härte von Gehorsam und Pflichterfüllung, andererseits durch eine sentimentale Liebe zu den Altvorderen, zu Heimat und Herkommen auszeichnete. Vor allem aber hingen sie einer restriktiven Sexualmoral an, in der Frauen eigene sexuelle Wünsche und Freiheiten abgesprochen wurden. Der Kontrast zur (auch) sexuellen Freizügigkeit der Spaß- und Vergnügungskultur der angeblich Goldenen Zwanziger Jahre könnte nicht größer sein. Und groß ist auch die Spannung zwischen diesen beiden nebeneinander gleichzeitig-ungleichzeitigen Lebensformen. Keine zwei Monate nach der Uraufführung der ­Dreigroschenoper findet im Metropoltheater, heute dem Ort der Komischen Oper, die Premiere von Franz Lehárs Operette Friederike statt, in der es um

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die Liebe des jungen Goethe zu Friederike Brilon in Sesenheim geht. Richard Tauber als Goethe schmalzt: »Oh Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich dich« und verdrückt sich dann nach Weimar, um Karriere am Hof zu machen. Und Friederike, gespielt von Käthe Dorsch, verzichtet unter Tränen und opfert ihre Liebe für den Aufstieg des Genies, ganz wie es einer Frau aus früheren Zeiten allein zusteht. Ganz im Gegensatz zur entsagungsvoll schmachtenden Friederike steht das freizügige Liebes- und Geschäftsgebaren einer anderen jungen Frau, die die amerikanische Autorin Anita Loos 1926 in ihrem Roman Blondinen bevorzugt um die Welt schickt. Die Blondine legt auf ihrem Trip durch Old Europe die Männer, so vermögend, reihenweise flach und lässt sich ihr Entgegenkommen in Diamanten bezahlen. Der Roman wurde ein Welterfolg, die Blondine ein Idol der Anhänger:innen des konsumkapitalistischen Vergnügens. 1953 wurde das Buch von Howard Hawks verfilmt mit Marylin Monroe und Jane Russell in den Hauptrollen. Idole wie diese waren den aus der Zeit gefallenen reaktionären Bewegungen verhasst. Ein Hass, der sich rasch ausbreitete. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Weimarer Republik bietet gefährlichen politischen Sprengstoff. Wobei der Hass der Ungleichzeitigen nicht aus der Vergangenheit stammt, sondern aus der gleichzeitigen Gegenwart. Weil diese nicht beherrsch- und handelbar erscheint, versetzt man sich imaginativ und im historischen Kostüm der deutschen Frau und des soldatischen Mannes zurück in frühere Zeiten, in denen ein Leben auf Kommando angeblich noch einfacher in den Griff zu bekommen war.

3. Wiederholung und Überschreitung

Auch Brecht greift in seinem Verfahren der Historisierung des Hier und Jetzt auf Geschichte zurück. Allerdings nicht, um sich in vormals angeblich guten alten Zeiten einzurichten, sondern um die Gegenwart in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit erfahrbar zu machen. Mit Bedacht versetzt Brecht daher die Bearbeitung der Beggar’s Opera von John Gay mit der Musik von Johann Christoph Pepusch aus dem Jahr 1728 eineinhalb Jahrhunderte später in das viktorianische Zeitalter. Und ebenso überlegt greift er nach dieser Ballad Opera aus dem 18. Jahrhundert, von der Elisabeth Hauptmann, nach deren neuerlichem Erfolg in London, eine Rohübersetzung angefertigt hat. Nimmt man noch Form, Duktus und manchmal die wörtliche Übersetzung

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Wiederholung und Überschreitung

der Verse des spätmittelalterlichen Vagantendichters François Villon hinzu und die Musik des zeitgenössischen Komponisten Kurt Weill, dann hat man eine historische Konstellation zusammen, in der nichts an seinem ursprünglichen historischen Ort verbleibt, sondern in der frühere Zeiten und Räume in Form des Zitats von literarischen und musikalischen Gesten wieder(ge)holt werden. In diesem Aggregatzustand verlieren die Ansichten, Haltungen und Gefühle von einst ihre Geltung und suchen die Gegenwart von Neoliberalismus und kapitalistischer Fassadenkultur heim als Gespenst. So hat es Adorno 1929 am Beispiel des Liebesduetts von Polly und Macheath beschrieben8, einem langsamen Walzer, der haarscharf, aber genau an der Operettenseligkeit des 19. Jahrhunderts vorbeischrammt und mitten im Liebesschwulst die tiefe Angst in der bürgerlichen Gemütlichkeit freigibt, was »[w]enn die Liebe aus ist und im Dreck du verreckst«, wie es im »Anstatt-Dass-Song« heißt. In Brechts und Weills bruchstückhafter Zusammenfügung von musikalischen und sprachlichen Gefühlsklischees und Triebbildern von 1880 oder 1890 wird die Urgeschichte der Gefühle und Triebe im Kapitalismus in ihrer Falschheit wie in ihrer dämonischen Getriebenheit ausgestellt. Sie suchen die Gegenwart immer noch heim, die von 1928 – wie in Lehárs Friederike – ebenso wie die unsere. Sie suchen sie deshalb heim, weil die repressive Entsublimierung, von der Herbert Marcuse gesprochen hat,9 die Spaßgesellschaft und Konsumkapitalismus betreiben, kein Heilmittel gegen die Gespenster ist, sondern eine emotionale Leere hinterlässt, in der diese sich ausbreiten mit dem Wunsch nach Rückkehr zu Zeiten, in denen vermeintlich noch emotionale Zucht und Ordnung geherrscht haben. Die fundamentalistischen und populistischen Bewegungen unserer Tage zehren von der Wiederanrufung der gespenstischen Gefühlswelten und Triebökonomien der Vergangenheit, die sie als die ursprünglichen, eigentlichen und einzig und zeitlos wahren ausgeben. In der Urgeschichte der Gefühle und Triebenergien im Kapitalismus, die die Dreigroschenoper auf- und vorführt, zerfallen die falschen Hoffnungen und Versprechen, die sich an die Wiederkehr des Vergangenen knüpfen, zu Moder und Staub. Brechts Verfahren der Historisierung der Gegenwart durch die Wiederholung vergangener Gefühlswelten, sozialen Haltungen und Verhaltensmuster zielt nicht auf die Rekonstruktion des angeblich so und nicht anders Gewesenen, sondern auf die Überschreitung der Einstellungen und Sichtweisen in der Gegenwart. Gerade indem die Wiederholung die Identität des Wiederholten verfehlt, erweitert sie den Erwartungshorizont, den die Gegenwart an die Wiederholung

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knüpft, um das Unerwartete und Unbekannte. Durch diese Überschreitung des Erwartungshorizonts der Gegenwart bereitet sie dem Utopischen eine Bahn. Darunter ist nicht ein ausgemaltes Wunschbild zu verstehen, sondern die Öffnung einer Perspektive der Transzendenz mitten im Bestehenden. Brecht begnügt sich nicht mit der abbildenden Kritik des schlechten Zustands der Welt, sondern lässt die nicht ausgeführte, aber vorhandene Möglichkeit eines Darüberhinaus erfahrbar werden. In diesem Sinn ist Adornos zusammenfassende Beschreibung der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny zu verstehen: »Mahagonny ist eine Darstellung der sozialen Welt, in der wir leben, entworfen aus der Vogelperspektive einer real befreiten Gesellschaft.«10 Adornos These beweist auch in der Dreigroschenoper ihre Gültigkeit.

4. Vogelperspektive

Aus der Vogelperspektive einer befreiten Gesellschaft gesehen, von der Adorno spricht, entfaltet gerade die anachronistische (sprachliche und musikalische) Rhetorik der Gefühle in der Dreigroschenoper utopische Verweiskraft. Das prominenteste Beispiel dafür ist die Ballade der Seeräuber-Jenny. Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen Und ich mache das Bett für jeden. Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell Und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden. Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden. Aber eines Abends wird ein Geschrei sein am Hafen Und man fragt »Was ist das für ein Geschrei?« Und man wird mich lächeln sehn bei meinen Gläsern Und man sagt »Was lächelt die dabei?« Und ein Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird liegen am Kai. Die Seeräuber-Jenny tritt im Stück nicht auf, sondern ist eine inszenierte Figur im Vortrag von Polly Peachum, der frischgebackenen Frau Macheath. Polly hat mit dem Schankmädchen Jenny, das zu den

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Vogelperspektive

Erniedrigten und Beleidigten gehört, nichts zu tun. Ihr Vortrag steht von Beginn an unter dem Vorbehalt einer Vorführung eines Menschen aus einer niedrigeren Klasse. Eine Vorführung im doppelten Sinn: Indem Polly die von Kitsch befeuerten Träume von einem Zeitalter rächender Piraten vorführt, führt sie diese arme Person vor, über die man sich vom Standpunkt einer jungen Frau aus Peachums bürgerlichem Hause nur lustig machen kann. Musikalisch extrem kitschig ist der Sextensprung in der Zeile »Und das Schiff mit acht Segeln« vom »das« auf das langgezogene »Schiff«, ein letzter Aufschwung von Hoffnung und der Seufzer einer hoffnungslos sentimentalen Natur. Allerdings folgt nicht die gesamte Ballade dem Gesetz des Sentimentalen. Das Sentimental-Kitschige ist nur ein musikalisches Zitat in einer Erzählung, die von einer rhythmisch schnellen und scharfen Figur zweier Sechzehntel auf dem betonten ersten Taktteil mit nachfolgendem Achtel auf dem unbetonten zweiten sowie mit Jazzbegleitung vorangetrieben wird. Durch diese scharf pointierte Zitation erhält der romantische Traum in seiner Hoffnungslosigkeit den Charakter einer musikalisch-sprachlichen Geste, die in die Gegenwart hineinragt, um in ihr etwas Unabgegoltenes geltend zu machen. Es ist etwas Zukunftsweisendes in diesem Kitschfetzen, der nicht mehr wie Lehárs Friederike behauptet, echt und wahr zu sein, sondern nur noch ein Fetzen ist, vielleicht aber ein Fetzen der acht Segel des Piratenschiffs, der für das Versprechen einer rächenden Gerechtigkeit in der Fortdauer des Unrechts einsteht. Zu den Fetzen der Hoffnungssegel gehört auch, was von der puritanischen Reinheit und glatten Fassade des alten und neuen Kapitalismus hinter sich gelassen und ausgeschieden wurde: Dreck und Schmutz – man denke an den dreckigen Hemdkragen des Herrn, dem Polly sich schließlich hingibt – sowie das Obszöne, umstandslos Sexuelle und unmaskiert Gewalttätige. Es ist der plebejische Diskurs des François Villon im Stück, der den Abfall der Zivilisation wieder in die Dreigroschenoper einbringt. Seine eindringlichste Ausprägung hat er in Brechts Adaption von Villons »Ballade de la grosse Margot«, der Ballade von Villon und der dicken Margot gefunden. Daraus ist in der ­Dreigroschenoper die »Zuhälterballade« zwischen Mac und Jenny geworden. Erinnert wird darin an eine »Zeit, die längst vergangen ist«, und die angeblich »noch nicht ganz so trüb wie jetzt war«, eine Zeit, an die sich die Musik heranschleicht im Rhythmus eines einschmeichelnden Tangos, ehe das Gemisch aus unverblümter Sexualität, Gewalt und Ausbeutung in scharfen Punktierungen Fahrt aufnimmt. Jenny: »Da wurd ich aber tückisch, ja, na weißte! / Ich fragt ihn

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manchmal direkt, was er sich erdreiste / Da hat er mir aber eins ins Zahnfleisch gelangt / Da bin ich manchmal direkt drauf erkrankt.« Die gewaltsame Direktheit, die auch vor Körpergrenzen nicht Halt macht, bei gleichzeitiger intimer Vertrautheit, in der das Prostitutionsverhältnis geregelt wird, durchschlagen die Fassade der bürgerlichen Wohlanständigkeit ebenso wie die der Verklärung angeblich früherer besserer Zeiten, in denen man noch harmonisch zusammenlebte. Und rettet doch einen Fetzen an Kraft und Energie, die sich nicht scheren um protestantische Ethik, Triebverzicht oder sekundäre Lust über den Konsum. Nicht der kleinste Fetzen eines Segels, das in Richtung Utopie gestellt ist, knüpft sich schließlich an die Feier des endlichen Lebens bei Brecht, die die Gedichte der Hauspostille, aber auch Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Die Dreigroschenoper durchzieht wie ein Festzug der Verlorenen. »Lasst Euch nicht verführen / Zu Fron und Ausgezehr! / Was kann Euch Angst noch rühren? / Ihr sterbt mit allen Tieren / Und es kommt nichts nachher«, endet das letzte Gedicht der Hauspostille »Gegen Verführung.« Dementsprechend heißt es im Gedicht »Großer Dankchoral« zum Schluss: »Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben / Schauet hinan / Es kommt nicht auf Euch an / Und ihr könnt unbesorgt sterben.« Gepriesen wird hier eine Kraft, die aus der Verweigerung des Aufschubs aller Genüsse und Freuden auf ein späteres, erhofft besseres Leben stammt und von der Annahme des endlichen Lebens unter der Devise »Endlich leben« rührt. In Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ebenso wie in der Dreigroschenoper manifestiert sich diese Devise an der Verfallszeit der Liebe. Im Liebesduett in Mahagonny »Sieh jene Kraniche in hohem Bogen« zwischen Paul Ackermann und Jenny mitten im Stoßbetrieb des Bordells heißt es zum Schluss: »Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? / Seit kurzem / Und wann werden sie sich trennen? / Bald / So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.« In der Dreigroschenoper endet das Liebesduett von Polly und Mac unmittelbar nach dem sehnsuchtsvollsten Verweilen auf dem Wort Liebe mit der lakonischen Feststellung »Die Liebe dauert oder dauert nicht / An dem oder jenem Ort.« In beiden Duetten wird die Trauer über das Vorübergehende der Liebe aufgewogen durch die Ankündigung eines Glücks, das ohne die Last eines dauerhaften Bindungsgebots im gelebten Augenblick Erfüllung findet. Die Erinnerungen an das Flüchtige, Vergängliche und Endliche, die in Brechts Texte eingesprengt sind, entfalten dort eine ­a-ideologische Kraft. Ideologien behaupten überzeitliche Dauer und

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Vogelperspektive

generelle Geltung. Die Einsprengsel des »Endlich leben!« entziehen dieser Behauptung den Boden. Zukunft beginnt, wenn die Versprechungen der Ideologien am Ende sind. In diesem Sinn bedeutet es Hoffnung, wenn der Chor in Mahagonny in einem von kräftigen Schlägen markierten Trauermarsch zum Schluss bekennt: »Können uns und euch und niemand helfen.« Die Dreigroschenoper endet mit der Kontrafaktur eines Chorals im Stil von Händel: Verfolgt das Unrecht nicht zu sehr, in Bälde Erfriert es schon von selbst, denn es ist kalt. Bedenkt das Dunkel und die große Kälte in diesem Tale, das von Jammer schallt. Angesichts einer Gesellschaftsordnung, die im Ganzen ungerecht ist, fällt es schwer, im Einzelfall zu sagen, wer oder was gerecht oder ungerecht ist, denn »die getreten werden treten wieder«, wie Peachum sagt. Gerechte wie Ungerechte umfassend bleibt die »große Kälte«. Sie kommt nicht von der Endlichkeit des Lebens, sondern von einem System, in dem sich die Menschen, wie Polly singt, »kalt und herzlos« machen, bis die Erde zu einem biblischen Tal wird, »das von Jammer schallt.« Die Auskältung aller Gefühle, den Kältetod des Fühlens und Mitfühlens, die Menschen sich und anderen damit antun, spricht die Dreigroschenoper aus. Im Aussprechen erfährt sie, über die Welt wie sie ist hinausgehend, das Vorgefühl einer »real befreiten Gesellschaft«11.

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IV Bertolt Brecht/Kurt Weill 1 Der Text geht auf einen Vortrag auf dem virtuellen Symposium des Berliner Ensembles »Alte Einsichten über den neuen Kapitalismus« am 16. April 2021 zurück. Um den Charakter des Vortrags zu erhalten, habe ich die Nachweise auf das Wesentliche beschränkt. 2 Zum Amerikanismus als kultureller Lebensform in den 1920er Jahren siehe Lethen, Helmut: Neue Sachlichkeit 1924 – 1932. Studien zur Literatur des »Weißen Sozialismus«, Stuttgart 1970. 3 Vgl. Kracauer, Siegfried: [Die Angestellten], in: ders.: Schriften I Soziologie als Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1971, S. 205 – 304. 4 Vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 20, 1904, S. 1 – 54 und 21, 1905, S. 1 – 110. 5 Siehe dazu den Vortrag von Micha Braun und Ana Kugli »Die Weimarer Republik und Wir« im Großen Salon des Berliner Ensembles im März 2021, nachzuschauen hier: https://www.berliner-ensemble.de/brecht-symposium (zuletzt aufgerufen 12.10.21). 6 Vgl. Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit, [1935], Frankfurt a. M. 1981. 7 Siehe Baumann, Zygmunt: Retrotopia, Frankfurt a. M. 2017. 8 Vgl. Adorno, Theodor W.: [Zur Dreigroschenoper] (1929), in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 18, Musikalische Schriften V, hrsg. v. Tiedemann, Rolf, Frankfurt a. M. 1984, S. 535 – 540. 9 Vgl. Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1965. 10 Adorno: [Mahagonny], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 17, Musikalische Schriften IV, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1982, S. 115 – 122, hier S. 120. 11 Ebd.

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Günther Heeg »Ändere die Welt, sie braucht es.« Rede auf Peter Konwitschny, den Antichristen der Freunde der toten Oper, zum Antritt der Bertolt Brecht Gastprofessur der Stadt ­Leipzig1 »Ändere die Welt, sie braucht es« ist Titel und Devise des Chors in Bertolt Brechts Lehrstück Die Maßnahme. Der Appell zur Veränderung der Welt klingt heute naiv-verwegen angesichts des brutalen Scheiterns der kommunistischen Bewegung. Die in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts angetreten waren, mit der Frische und dem Pathos von Aufbruch und Neuanfang die Welt zu verändern, sahen ihre Hoffnungen enttäuscht und die Bewegung enden in stalinistischer Gewaltherrschaft und Massenmord, später in der Agonie eines müde verwalteten autoritären Systems des Staatssozialismus. Alternativlos scheint seit dem Fall der Mauer 1989 die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaftsordnung weltweit zu sein. Aber die vorgeblich alternativlose Welt versinkt in Bürgerkriegen, Hungersnöten und Klimakatastrophen, wird erschüttert von den waghalsigen Zügen von geflüchteten Menschen rund um den Erdball, von rasch aufflammenden Ausbrüchen von Xenophobie, Demokratiefeindlichkeit und Antisemitismus. Angesichts dessen ist der Aufruf Brechts aus einer anderen Zeit »Ändere die Welt, sie braucht es« erneut wieder an der Zeit und seinerseits alternativlos. »Wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie«, unter diesem Motto sind viele unterschiedliche Menschen, Gruppen und Bewegungen angetreten, Brechts Aufforderung zur Weltveränderung in unserer Zeit jeweils an ihrem gesellschaftlichen Ort zu folgen. Peter Konwitschny ist einer von ihnen. Das Feld, auf dem er dieses Ziel verfolgt, ist ausgerechnet die als besonders konservativ verschriene Oper. Aber Peter Konwitschny weiß die Institution Oper von dem Gehalt der Werke zu unterscheiden. So sehr er die allein auf die Affirmation des Bestehenden ausgerichtete kulinarische Oper als Institution verurteilt, so sehr arbeitet er daran, das kritische Potential der einzelnen Opern in seiner Arbeit an einem zeitgenössischen Musiktheater wieder zu entdecken und sie in der Perspektive auf die Veränderung der Welt, so wie sie ist. In beiden Haltungen zur Oper weiß Konwitschny sich mit Brecht einig. Von ihm hat er, ­vermittelt

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IV Bertolt Brecht/Kurt Weill

über Ruth Berghaus, in seinen Anfängen am Berliner Ensemble, die Grundideen eines in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingreifenden Musiktheaters sich angeeignet und seitdem in über zweihundert Inszenierungen in über vierzig Jahren weltweit weiterentwickelt. Brechts Kritik der kulinarischen Oper ist aktueller denn je in einer Zeit, die zunehmend von der kommerziellen Eventisierung des Musiktheaters geprägt ist. Peter Konwitschny, der einen tapferen Kampf gegen diese Entwicklung kämpft, ist hier ganz an der Seite Brechts. Konwitschny weiß genau um das Gespenstische dieses Opernbetriebs und derer, die ihm anhängen. Nicht umsonst und nicht ohne Ironie zeichnet er deshalb in der Signatur seiner Mails als »Antichrist der Freunde der toten Oper«. Die Bezeichnung hätte auch auf Brecht gepasst. Denn der »Antichrist der Freunde der toten Oper« will die Oper nicht abschaffen, sondern ihr einen anderen Weg weisen. Das hat Brecht mit Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, mit der Dreigroschenoper, mit Das Verhör des Lukullus und einer Reihe anderer Opernprojekte getan. Sie sind keine Randerscheinung in seinem Schaffen, im Gegenteil. Man kann mit Recht feststellen: Die Oper ist das Modell für Brechts Theater. Denn von der Oper, der barocken Opera seria, hat Brecht das Prinzip der Unterbrechung der Handlung durch die Arie übernommen. Wie in der Barockarie die Handlung sich in der Auslegung eines dem Geschehen zu Grunde liegenden Zustands der Gefühle verdichtet und vertieft, so arbeitet Brecht an einem Theater der Zustände, die die vermeintliche Notwendigkeit und Atemlosigkeit einer fortlaufenden Handlung unterbrechen. »Denn wie man sich bettet, so liegt man« weiß Jenny in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny – das ist der Lauf der Welt und die dabei auf der Strecke bleiben, sieht man nicht. Im Zustand, der Aussetzung der Handlung, die Brechts Theater anstrebt, sehen wir dagegen den Lauf der Welt mit fremden Augen. Fremden Augen, die uns anblicken und die uns, so erblickt, selbst in die Lage von Fremden versetzen. In den Arien, den Songs, den Liedern und Gedichten, die die Handlung bei Brecht unterbrechen, trifft uns die Erfahrung, dass was geschieht, nicht natürlich und selbstverständlich ist, sondern zutiefst fremd, mit emotionaler Wucht. »Nur die Nacht, nur die Nacht darf nicht aufhören« – der Schrei des Jimmy Mahonney vor seiner Hinrichtung am Morgen in eben dieser Oper, lässt mit einem Mal erfahren, dass eine Welt, in der einem vor dem Morgen graut, falsch eingerichtet ist und der Änderung bedarf. Das Fremdwerden dessen, was täglich geschieht, das Fremdwerden unserer Hinnahme dieses Geschehens und die Erfahrung der Änderungsbedürftigkeit des Weltzustands

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»Ändere die Welt, sie braucht es.«

durch die ebenso reflektierte wie affektiv aufgeladene Komposition von szenischen Zuständen ist eine Alternative zur toten Oper. Das ist in nuce Brechts Programm eines anderen Musiktheaters, das Peter Konwitschny fortführt. Man kann sagen: Die Musiktheaterarbeit ist die eigenständige Übersetzung von Brechts Ideen in unsere Zeit. 3. Dezember 2017, Staatsoper Stuttgart. Premiere der Oper Medea von Luigi Cherubini, Regie Peter Konwitschny, Bühne und Kostüme Johannes Leiacker, Dramaturgie Bettina Bartz. Zu Beginn des 3. Akts sitzt Medea vor dem geschlossenen Vorhang, der eine mit Sehnsucht besetzte Meerlandschaft zeigt, auf der Spitze eines Dreiecks, das ins Proszenium ragt. Sie sitzt und kaut einen Apfel. Nichts weiter. Nur das Vorspiel zum 3. Akt, ein gewaltiges musikalisches Gewitter, entlädt sich über der Szene. Und Medea kaut den Apfel. Die Diskrepanz zwischen ihrer äußeren Ruhe und dem Sturm des Orchesters, das mit dem in ihrem Inneren korrespondiert, ohne ihn zu illustrieren, ist schwer auszuhalten. Denn er konfrontiert die Zuschauenden mit einer Fülle von Überlegungen und widerstreitenden Gefühlen angesichts dessen, was unvermeidlich kommt, der Mord an den Kindern. Diese Gefühle sind nicht auf eine Linie, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wer erwartet hat, dass er Aufschluss darüber bekommt, was er angesichts dieser Situation zu denken und zu fühlen hätte, dem wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Das exakt ist der Sinn des Zustands im Musiktheater: Er setzt uns der Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Fremdheit der äußeren und inneren Welt aus und fordert dazu auf, sie anzunehmen und mit ihnen zu leben. In einer Zeit, in der vielerorts populistisch-unterkomplexe Lösungen für komplexe Zusammenhänge angeboten werden – »Fremde raus!« – ist das Lebenlernen, das Lebenkönnen mit Vieldeutigkeit, Diversität und Fremdheit ein erster Schritt zur Änderung der Welt, so wie sie ist. Fragt man Peter Konwitschny nach dem Geheimnis, wie er solche verändernden Zustände im Musiktheater herstellt, verweist er nur auf die Werke selbst, in denen alles bereits angelegt ist. Entgegen dem Vorurteil, das ihn zuweilen trifft, er stülpe den tradierten Opern ein willkürliches, aktuelles Regiekonzept über, ist Peter Konwitschny einer der werktreuesten Regisseure, die ich kenne. Werktreu ist er allerdings nicht im Sinne der Fortführung einer fragwürdigen Tradition. »Tradition ist Schlamperei«,2 hat schon Gustav Mahler festgestellt und Peter Konwitschny würde das sicher unterschreiben. Zusammen mit Bettina Bartz liest er die Libretti, die Partituren und die dazu gehörenden Korrespondenzen und Kommentare akribisch immer wieder

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IV Bertolt Brecht/Kurt Weill

aufs Neue, um den Zeitkern der Werke freizusetzen, das Momentum, an dem ein Werk von sich aus, ganz ohne aufgesetzte Aktualisierung, unsere Gegenwart trifft. Dafür drei Beispiele in aller Kürze und Verkürzung: In der (Grazer und Leipziger) Inszenierung von Verdis Aida entdeckt Konwitschny aus dem musikalischen Material das Kammerspiel der Dreiecksbeziehung zwischen Aida, Radames und Amneris, das in der politischen Haupt- und Staatsaktion gerne untergeht. Nun rückt stattdessen der Triumphmarsch an den Rand eines bloßen Fernsehspektakels. Die intime musikalische Befragung der Figuren betrifft auch das Ende der Oper. Aus der melodischen Aufschwungsbewegung im Schlussduett des eingemauerten Paars Aida und Radames hat Konwitschny ein Dementi des tragischen Endes der Oper bei Verdi herausgehört und es als solches inszeniert: Aida und Radames verlassen das Grabgewölbe und tauchen in die Wirklichkeit des ­Leipziger Hauptbahnhofs ein. Was andernorts auf den ersten Blick als bloßer Einfall des Regisseurs erscheint, ist bei Konwitschny stets durch die Komposition gedeckt. Konwitschnys genaues Hören auf die Musik ist der Grund seiner szenischen Arbeit und die Gewähr dafür, die Werke vor der Konvention in die Gegenwart zu retten. Als ein weiteres Beispiel wäre Konwitschnys hochgelobte Inszenierung von Wolfgang Rihms Die Eroberung von Mexiko bei den ­Salzburger Festspielen 2015 zu nennen. Der Konflikt zwischen dem spanischen Eroberer Cortez und dem Aztekenherrscher Montezuma lässt Inszenierungen leicht in die Falle des Exotismus tappen. Dabei geht es in diesem Musiktheaterwerk nicht um geographisch ferne Welten, sondern um das Fremde von Geschlechtern und Geschlecht und den Kolonialismus in Geschlechterkonstellationen. Aus der musikalischen Anordnung von Rihm heraus hat Konwitschny deshalb mit großem Recht den Konflikt zwischen Cortez und Montezuma in Die Eroberung von Mexiko als Kampf der Geschlechter im Horizont des (alltäglichen) Kolonialismus, als eine Ehehölle in einer Ikeawohnwelt gelesen und inszeniert. Vielleicht am nächsten ist Konwitschny Brecht ausgerechnet in seiner Inszenierung von Fromental Halévys Grand Opéra La Juive, für die er 2016 mit dem deutschen Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet wurde. Konwitschny hat die Oper ganz aus der historischen und historistischen Verortung herausgesetzt und als Parabel im Sinn von Brechts Die Rundköpfe und die Spitzköpfe inszeniert. Juden und Christen unterscheiden sich durch die blauen und gelben Handschuhe, die sie tragen. Die Christen haben blaue, die Juden gelbe Hände. So wird der Konflikt

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»Ändere die Welt, sie braucht es.«

der historischen christlich-jüdischen Geschichte entrückt und parabelhaft verallgemeinert als Kampf der Blauhände und Gelbhände. Was auch, ähnlich wie bei Brecht heißt: Kampf der Reichen gegen die Armen, der Privilegierten gegen die Entrechteten. Durch die Abstraktion der Parabel von den konkreten historischen Ereignissen der Verfolgung jüdischer Menschen im mittelalterlichen Konstanz verliert die Inszenierung allerdings den Blick auf die Besonderheit des Antisemitismus, der, fundiert in totalitären Weltverschwörungsszenarien, umfassender und tödlich wirksamer als andere rassistische, religiöse oder xenophobische Ideologien ist. Was durch die Abstraktion und Verallgemeinerung der Parabel verloren geht, gewinnt Konwitschnys Inszenierung auf einer anderen Ebene durch die musikalisch-politische Konkretisierung der Figuren und gegeneinanderstehenden Parteien. Vor der riesigen Rosette eines Doms im Hintergrund, einzige Reminiszenz an die historische Zeit und den Ort, an dem die Handlung der Oper spielt, das Konstanzer Konzil von 1414 (Bühne Johannes Leiacker), arbeitet Konwitschny den spiegelbildlichen Starrsinn der christlichen wie der jüdischen patriarchalischen Vaterfiguren heraus, der die geläufige dramaturgische Gegenüberstellung von Christen und Juden unterläuft. Der patriarchalische Fundamentalismus aber von Brogni und Eléazar3 wird konterkariert von den beiden Frauen, die den christlichen Großfürsten Leopold gleichermaßen lieben: der (vermeintlichen) Jüdin Rachel und der christlichen Prinzessin Eudoxie. Beide kommen sich in Peter Konwitschnys Inszenierung näher, als Eudoxie Rachel im Gefängnis besucht, um ihren Geliebten vor dem Tod zu retten. »Das ist«, sagt Peter Konwitschny im Gespräch, »musikalisch schon vorgegeben. Es sind leicht Offenbach’sche Klänge, mit denen Eudoxie auftritt und sich einlässt mit einer so armen Person, die dazu noch Jüdin ist. Dann haben die beiden ein Duett, in dem sie die gleiche Musik singen.«4 Für einen utopischen Moment verbünden sie sich gegen die von Ideologien beherrschte Welt der Männer. Es ist der Moment, in dem sich Eudoxie und Rachel zusammen die Hände waschen und sich von der Farbe der Ideologien befreien. Es sind utopische Momente wie die Gefängnisszene in La Juive oder das befreite Ende von Aida, die den Lauf der Welt unterbrechen und auf ihre Änderbarkeit weisen. Noch einmal zurück zu Medea. Wenn sich der Vorhang im 3. Akt von Cherubinis Medea nach dem Gewittersturm hebt, zeigt sich das Dreieck, an dessen Spitze Medea gesessen hat, als Teil einer Insel in einem Meer von Plastikmüll, der unsere Ozeane verstopft. Wenn

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IV Bertolt Brecht/Kurt Weill

der Vorhang am Ende dann fällt, liegen die Leichen von Medea und den Kindern am Strand, die Leichen jener Geflüchteten, die keine Aufnahme in Korinth gefunden haben – oder in Lesbos oder an einem anderen Strand. Unaufdringlich, aber überaus treffend verbindet Peter Konwitschny die alte Geschichte mit unserer Zeit, ohne beide einfach gleichzusetzen. Vielmehr schafft er einen musiktheatralen Zustand der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Zeiten, einen leidenschaftlich bewegten Zustand, in dem sich Fragen stellen, die auf eine zukünftige Antwort warten und der deshalb offen für Zukunft ist. In der Herstellung solcher Zustände liegt die Zukunft des Musiktheaters beschlossen. Peter Konwitschnys Inszenierungen tragen entscheidend zu dieser Zukunft bei – und nicht nur zu der des Musiktheaters. Sie fordern uns auf, es gleichfalls zu tun, jede:r auf je eigene Weise, denn: »Ändere die Welt, sie braucht es«.

1 Peter Konwitschny eröffnete die Gastprofessur der Stadt Leipzig am Centre of Competence for Theatre (CCT) und dem Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig im Wintersemester 2017/18. 2 Das geflügelte Wort Gustav Mahlers wird vom Bühnenbildner Alfred Roller so überliefert: »Was ihr Theaterleute eure Tradition nennt, das ist eure Bequemlichkeit und Schlamperei.« Roller, Alfred: »Mahler und die Inszenierung«, in: Musikblätter des Anbruch 2 (1920), S. 273; zit. n.: Müller, Karl Josef: Mahler. Leben – Werke – Dokumente, München 1988, S. 316. 3 Zu einer anderen Beurteilung der Figur des Éléazar kommen Jossi Wieler und Sergio Morabito in der Stuttgarter Inszenierung von La Juive 2008. Siehe dazu: Heeg: »Reenacting History«. 4 Aus einem unveröffentlichten Gespräch Peter Konwitschnys mit Studierenden der Leipziger Theaterwissenschaft am Tag nach der Mannheimer Premiere von La Juive am 11. Januar 2016.

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V Bernd Alois Zimmermann Günther Heeg Stimmen im Lärm der Zeit Peter Konwitschnys Theaterarbeit mit B. A. Zimmermanns Oper Die Soldaten1 1. Ein apokalyptisches Totaltheater?

Hartnäckig hält sich das Gerücht über Zimmermanns Soldaten, das sie als Paradebeispiel eines avantgardistischen Totaltheaters ausgibt. In den Soldaten sei der lineare Verlauf der Zeit aufgehoben und die Zuschauer:innen stattdessen dem Kugelblitzgewitter aus einer »Kugelgestalt der Zeit«2 ausgesetzt, das sie von allen Seiten und mit allen medialen Mitteln umzingelt und angreift. Als inhaltliche Konsequenz der formalen Strukturen resultiere dann Geschichte des Untergangs der menschlichen Gattung, die in ihrer totalen Gestalt jede konkrete Handlung verschwinden lässt. So, als »Weltuntergangstheater« und »apokalyptisches Multimediadrama«3, stellt sich ein Rezensent seinen Zimmermann vor, den er anlässlich der Nürnberger Inszenierung schmerzlich vermisst. Zieht man die Bewertung ab, dann ist das nicht falsch gesehen. Denn die Nürnberger Inszenierung von Peter Konwitschny (Regie), Helmut Brade (Bühne und Kostüme), Kai Weßler (Dramaturgie) und Marcus Bosch (musikalische Leitung) unternimmt nichts weniger, als Zimmermanns Oper von dem Gerücht zu befreien, das sie umgibt. Kein Verlust ist damit verbunden, sondern eine Neuentdeckung der Soldaten, die dem Werk und der Entfaltung seines »Zeitkerns«4 in der Gegenwart gerecht wird. Zimmermann selbst hat mit seinen Äußerungen über Die Soldaten der Idee eines apokalyptischen Totaltheaters durchaus Nahrung gegeben. Nicht zufällig hat er Jakob Michael Reinhold Lenz’ 1776 verfasstes Stück Die Soldaten, das Lenz selbst eine Komödie nennt, als Vorlage seiner Oper gewählt. Eine Affinität zwischen ihm und Lenz sieht Zimmermann nämlich gerade in der Auffassung und Behandlung der Zeit. In Lenz’ Angriff auf die »jämmerlich berühmte[.] Bulle der drei Einheiten«5 (des Orts, der Handlung und der Zeit) sieht Zimmermann einen geistesverwandten Vorgriff auf die »Kugelgestalt der Zeit«.

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V  Bernd Alois Zimmermann

In seinen tastenden Präzisierungsversuchen dieser Metapher beruft er sich außerdem auf James Joyce und Ezra Pound. Zimmermanns Überlegungen zur Gleichzeitigkeit aller Zeiten haben allerdings weniger in der Oper als Ganzes, sondern dann vor allem im 4. Akt der Soldaten und hier besonders in dessen erster Szene ihren Niederschlag gefunden. Ihnen gilt Zimmermanns Rede von der panakustischen Form der musikalischen Szene, die alle Elemente des Sprachlichen, Gesanglichen, Musikalischen, Bildnerischen, Filme, Ballett, Pantomime, Bandmontagen (Geräusch und Sprachklänge, konkrete Musik) in dem pluralistischen Zeitund Erlebnisstrom zusammenschmilzt [Hervorhebung – G. H.], der dann in jenen Fall [der Apokalypse – G. H.] mündet, dem wir ständig und unaufhaltsam zustreben.6 Das entspricht der Vorstellung eines Totaltheaters, wie immer auch Zimmermann mit dem Begriff umgegangen ist. Die Idee eines Totaltheaters ist ein Kind der ersten Avantgarde. 1926/27 entwirft Walter Gropius ein Totaltheater für Erwin Piscator. Es geht zurück auf László Moholy-Nagys Ausführungen zu einem »Theater der Totalität« in dem Text Theater, Zirkus, Varieté 7 von 1924. Paul Pörtner publizierte Ausschnitte aus dem Text von Moholy-Nagy 1960 unter dem Titel Das Theater der Totalität in seiner Zusammenstellung der Theaterexperimente der ersten Avantgarde in dem Band ­Experiment Theater8. Von daher könnte ihn Zimmermann gekannt haben. Man kann die Idee des Totaltheaters als eine multimediale Steigerungs- und Überbietungsform der Idee des Gesamtkunstwerks sehen. Um diese Idee einschätzen zu können, ist an eine Unterscheidung zu erinnern. Die unterschiedlichen Formen des Zusammenwirkens der Künste und Medien in einem Gesamtkunstwerk lassen sich, etwas vereinfacht, in zwei Gruppen einteilen: eine, die auf die Differenz der Künste setzt, auf die Sichtbarmachung des Schnitts zwischen ihnen, auf Abstand und wechselseitige Verweisung sowie auf die Ausstellung ihrer Medialität, und eine zweite Gruppe, die auf die vollkommene Integration aller einzelnen Künste und Medien und auf ihre Verschmelzung zielt. Multimediaprojekte und die Vorstellung eines multimedialen Totaltheaters gehören der zweiten Gruppe an, weil sie auf Steigerung, Überbietung und Überwältigung qua Verschmelzung angelegt sind. Zur ersten Gruppe gehören so unterschiedliche Autoren

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Dramaturgie der Soldaten bei Lenz und Zimmermann

wie Wassily Kandinsky, Antonin Artaud, Brecht, Benjamin und Gilles Deleuze. Deleuzes Hauptwerk Differenz und Wiederholung entfaltet die Idee einer differenten und differenzierenden, gleichzeitig-ungleichzeitigen Raum-Zeit aller Zeiten, Räume, Künste und Medien nur drei Jahre nach der Premiere von Die Soldaten. Problematisch an Zimmermanns Vorstellungen eines Totaltheaters ist selbstverständlich nicht die avantgardistische Außerkraftsetzung traditionell linearer Narrative und konventioneller dramatischer Strukturen, auch nicht die transmediale Konstellierung, sondern die Entdifferenzierung der einzelnen Künste, Räume und Zeiten, die mit der Idee eines Totaltheaters einhergeht. Dessen Zweck ist nicht ästhetische Erfahrung, die sich über eine intensive Konstellation aus Differenz und Affinität, Distanz und Nähe der Einzelkünste, Räume und Zeiten herstellt, sondern ästhetische Überwältigung, die, wie es in der Vorstellung des von Zimmermann propagierten Zusammenschmelzens angelegt ist, auf die Immersion der Apokalypse zielt. Die gewaltsame Entdifferenzierung der Wahrnehmung in der Vorstellung des Totaltheaters reproduziert und verdoppelt ungewollt die dargestellte Gewalt der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Soldaten (von Lenz und Zimmermann), der sie doch (kritisch) beikommen will. Im Ziel der künstlerischen Erschaffung einer überwältigenden Totalität gleichen sich die ästhetischen Mittel des Totaltheaters an die unmittelbare Gewalt der Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts sowie der Klassengesellschaften und Diktaturen des 20. Jahrhunderts an. Die entdiffenzierte, unreflektierte Artikulation des Totaltheaters ist als künstlerischer »Lärm der Zeit«9 die bewusstlose Spiegelung und Verstärkung jenes »Lärms der Zeit«, den die brutale gesellschaftliche Gewalt macht.

2. Dramaturgie der Soldaten bei Lenz und Zimmermann

Wer sind die Soldaten? Es hat besagten Kritiker hart getroffen, dass in der Nürnberger Inszenierung keine Soldaten in Uniform anzutreffen sind. Sieht doch Zimmermann selbst für die 3. Szene des 4. Akts (»Nocturno III«) einen »Transportzug mit Panzern« über eine Eisenbahnbrücke rollend vor, dazu einen »unaufhörliche[n] graue[n] Zug« gefallener Soldaten mit Stahlhelm, die blicklos über die Straße gehen, den »Marschtritt marschierender Soldaten« und gar den Pilz einer Atombombe, um die »antimilitaristische Tendenz« der Oper zu illustrieren, von der er im Brief an Jan Krenz 1963 spricht.10 Zimmermanns

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Warnung vor einem kriegerischen Weg in den Untergang mit allen ästhetischen und technischen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, ist angesichts der Erfahrungen seiner Generation mit Diktatur und Krieg und der Wiederaufrüstung der jungen Bundesrepublik aktuell und nachvollziehbar. Sie hat nur nichts mit den ersten drei Akten seiner Oper und mit dem Stück von Lenz zu tun, das Text und Handlung der Zimmermann’schen Soldaten bildet. Schon in Lenz’ Stück geht es nicht um eine Kritik an Krieg und Kriegshandwerk. Wo darin eine kritische Position eingenommen wird, wie in der angeklebten Schlussszene zwischen der Gräfin La Roche und dem Obrister Graf von Spannheim, gilt sie dem Heiratsverbot für Offiziere. Das trage Schuld, dass sich die adeligen Offiziere in Ermangelung von standesgemäßen Ehefrauen an die Verführung junger Mädchen und Frauen aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Familien machten. Dem könne nur abgeholfen werden durch die staatliche Besoldung von Konkubinen, die sich für das Gemeinwohl opferten und den Soldaten ihre Dienste anböten – gleichsam die Idee einer Aktion Lebensborn vor der Zeit. Dramaturgisch gesehen stehen Die Soldaten von Lenz im Kontext der bürgerlichen Trauerspiele, die, wie Emilia Galotti oder das spätere Kabale und Liebe, Liebesbeziehungen zwischen Bürgerlichen und Adligen, die durch soziale Schranken getrennt sind, als Konfliktpotential zum Antrieb haben. Anders als in diesen bekannten und den vielen unbekannten Stücken dieses Genres geht es bei Lenz aber nicht um ein Frauenopfer, das den Sieg bürgerlicher Tugend beglaubigen soll, sondern direkt und unverblümt um die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs und die Teilhabe an der gesellschaftlichen (Vor-)Macht. Die Soldaten exponieren das Begehren der Macht in beiden Richtungen, von unten nach oben und umgekehrt, ohne jeden moralische Rahmen. Die auf Ungleichheit und Vormacht beruhende Ordnung bleibt ohne moralische Legitimation. Das Zueinanderfinden von Vater und Tochter im Elend der vorletzten Szene spricht der inneren Überlegenheit bürgerlicher Tugend noch im Untergang in den Dramen der Empfindsamkeit Hohn. Marie ist frei von jeder tugendhaften Anwandlung, eine frühe Schwester der Lulu (wie Zimmermann gesehen hat), an der sich nicht nur das Begehren der Macht, sondern auch die Macht des Begehrens zeigt.

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Dramaturgie der Soldaten bei Lenz und Zimmermann

Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten, Oper Nürnberg 2018. Inszenierung Peter ­Konwitschny, Bühne und Kostüme Helmut Brade. Marie (Susanne Elmark) im (Perkussions-)Gewitter. »Trifft’s mich, so trifft’s mich«. Foto: Ludwig Olah.

Diesem Begehren gänzlich unsentimental zu folgen und ganz auf Risiko zu setzen, macht Maries Stärke aus in einer gesellschaftlichen Ordnung, deren Spitze sie durch den Verkauf ihrer selbst erobern will. »Trifft mich’s, so trifft mich’s. Ich sterbe nicht anders als gerne«. Das ist der Satz einer materialistisch-sinnlichen Entrepreneurin, die sich aus den familiären Bindungen befreit hat. Einer Entrepreneurin ihrer selbst in einer Welt der reinen Immanenz11, die ohne Transzendenz auskommen muss. Was in dieser Welt sich artikuliert und kommuniziert, ist buchstäblich viel Lärm um Nichts. Der Lärm dieser Zeit, der Lärm einer auf asymmetrischer Machtverteilung beruhenden Welt der reinen Immanenz, äußert sich im durchgehenden Geräuschpegel der Kaffeehäuser und anderer öffentlicher Einrichtungen, im Stammtischgequatsche, angefüllt mit theologischen und philosophischen Phrasen, und im Klatsch, vor allem aber in der Lust, die anderen – Stolzius, Rammler, den Juden, die ältere Madame Bischof und Jungfer Zipfersaat – vorzuführen, sie zu diskriminieren und sich auf deren Kosten zu amüsieren.

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Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten, Oper Nürnberg 2018. Inszenierung Peter ­Konwitschny, Bühne und Kostüme Helmut Brade. Im Kaffeehaus. Der Lärm der Zeit. Foto: Ludwig Olah.

Die Lust am Verlachen und Niedermachen der anderen entspringt der Angst, selbst auf die absteigende Bahn und in die Bredouille zu geraten. Denn auch die sozialen Privilegien der Soldaten sind nicht ungefährdet in einer Gesellschaft, in der die Geldherrschaft die Vorrechte des Adels unterminiert. Desportes z. B. sitzt wegen Schulden vorübergehend im Gefängnis. Auf die Herkunft des deutschen Worts Lärm aus dem italienischen all’arme, zu den Waffen, zurückgreifend, könnte man sagen: Der Lärm dieser Zeit entsteht aus einer beständigen Alarmbereitschaft aller, aus der Angst heraus, die angestammte gesellschaftliche Position und Macht könnte auf dem Spiel stehen. In diesem Alarm, im Lärm, den sie alle machen, artikuliert sich die Gewalt der ungerechten Ordnung der feudalabsolutistischen Gesellschaft. In einer Welt der reinen Immanenz, die viel Lärm um Nichts macht, ist Maries Untergang singulär und kontingent, ungeeignet, irgendwelchen Sinn für irgendein Ganzes daraus zu schlagen. Das mag Zimmermann, der Lenz drei Akte hindurch folgt, am Ende nicht hinnehmbar erschienen sein. Deshalb braucht er Marie für die Apokalypse. Er instrumentalisiert ihren Untergang für die negative Utopie des drohenden Weltuntergangs, um, anders als Lenz, seiner Oper doch noch einen Sinn für das Ganze, einen Sinn des Ganzen abzupressen.

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Musik und Szene

Peter Konwitschny, der Regisseur der Nürnberger Soldaten, hat sich an der drohenden Metaphysizierung am Ende von Zimmermanns Oper gestoßen. Während seiner Arbeit mit Studierenden der Leipziger Theaterwissenschaft als erster Bertolt Brecht Gastprofessor der Stadt Leipzig hat er betont, dass es darauf ankomme, gegenüber dem Phantasma eines Totaltheaters und apokalyptischen Multimedia-Spektakels, das Zimmermanns Soldaten anhängt, das Stück von Lenz in der Oper stark zu machen. Wie das in Nürnberg geschieht und wie die Oper davon profitiert, möchte ich im Folgenden zeigen.

3. Musik und Szene. Peter Konwitschnys Inszenierung von Zimmermanns Die Soldaten

Die Abwesenheit einer Totalität des Sinns in Lenz’ Soldaten ist der tiefere Grund für die Aufgabe der drei Einheiten und die Fülle der Zeiten, Räume und Handlungsstränge überspringenden kurzen Szenen, aus denen das Stück besteht. Sie sind herausgeschnitten aus einem Ganzen, das keinen Sinn mehr macht: szenische Momentaufnahmen, Bruchstücke. Darin gleichen sie Gesten, die sich nach Benjamin und Brecht der Unterbrechung eines Handlungskontinuums verdanken. Gesten sind Äußerungen eines prekären, nichtsouveränen Handelns unter kontingenten Umständen und verweisen auf die abwesende Totalität eines Sinns, die sich nicht vergegenwärtigen, sondern nur mit-teilen, d. h. mit anderen teilen lässt. Sie sind konkret bezogen auf eine Situation und evozieren zugleich einen unendlichen Raum des aktuell Abwesenden, aber Potentiellen: einen Möglichkeitsraum. B. A. Zimmermann mag diesen Raum gespürt haben, der die szenischen Gesten von Lenz’ Soldaten umgibt und ihn als Möglichkeitsraum der Musik entdeckt haben. In Peter Konwitschnys Nürnberger Inszenierung ist dieser doublierte Raum aus gestisch-szenischer Konkretion und musikalischer Evokation zu erfahren. Die Bühne von Helmut Brade ist leergeräumt bis auf drei Schlagzeuggruppen an den Seiten und an der Rückwand.

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Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten, Oper Nürnberg 2018. Inszenierung Peter K ­ onwitschny, Bühne und Kostüme Helmut Brade. Marie schreibt einen Brief an die Mutter ihres Verlobten. Marie: Susanne Elmark, Charlotte: Solgerd Isalv. Foto: Ludwig Olah.

In diesen umfassend leeren Raum lässt Brade Hänger in unterschiedlichen Farben herunterfahren, Vierecke für Fenster und Türen sind darin ausgeschnitten, die den jeweiligen Ort der Handlung markieren. Dazu ein Sessel, ein Stuhl, Tisch oder ein Bett und mit rotem Licht auf dem Boden eine Spielfläche abgesteckt – und fertig ist die Szene. Auf ihr entfaltet Konwitschny in der Kürze der Szenendauer mit wenigen präzisen Gesten und Haltungen ein prägnantes Spiel. Entscheidend an diesen Szenen ist der Raum, der sie umgibt. Die Szenen führen eine prekäre Existenz. Sie sind schnell hergerichtet und verschwinden wieder schnell, sind leicht gebaut und provisorisch eingerichtet. Es sind sozusagen Tableaus im Unterwegs, die ihre Ausschnitthaftigkeit vorzeigen und auf den Raum um sie herum verweisen. Dieser ist erfüllt von Musik. Das gilt sowohl für die Dauer der Szenen selbst, in denen die Musik die szenische Gestik doubliert und übersteigt, als auch – und ganz besonders – für die Einleitungen und Zwischenstücke, die Zimmermann erst in der zweiten Arbeitsphase, der Wiederaufnahme der Komposition nach dem Scheitern der geplanten Aufführung 1960, eingefügt hat. Diese »Vor- und Zwischenspiele«, schreibt Zimmermann 1964 an den Intendanten der Kölner Oper, sollen »dem Publikum Gelegenheit geben, gewissermaßen von

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Musik und Szene

dem dramatischen Ansteigen sich gelegentlich auszuruhen, um damit umso mehr Kraft für die Gipfelleistungen zu gewinnen.«12 Auch wenn das zunächst nur nach einem Einteilen der Kräfte für den Schlussspurt, mag sein die Apokalypse, klingt, erinnert das Einräumen von Ruhepausen doch an Schillers Ausführungen Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie im Vorwort zur Braut von Messina,13 die das Reflexionspotential der chorischen Unterbrechungen des Handlungszusammenhangs betonen, und natürlich an die Bedeutung der unterbrechenden Songs, Gedichte, Kommentare und der Musik bei Brecht. Allerdings ist Zimmermanns Musik nicht reflektierend-kommentierend wie z. B. die Kompositionen von Hanns Eisler, aber auch nicht illustrierend, den Lärm der Zeit schlicht reproduzierend. Zimmermanns Musik exponiert den Zustand des Ganzen. Sie stellt ihn aus. Das zeigt sich gleich zu Beginn im Preludio: Eine Kakophonie von Klängen und Geräuschen wird durch den eisernen Rhythmus der Pauke in d grundiert, angetrieben, strukturiert und moderiert. Die Diskrepanz zwischen der Ordnung des Paukenrhythmus und dem Chaos der Klanggeräusche der anderen Instrumente sowie das kurzzeitige Stottern und Aussetzen des Rhythmus lassen die Dysfunktionalität des Ganzen erfahrbar werden. Der Lärm der Zeit droht die nackte Ordnung selbst – transzendenzlos, unlegitimiert, eisern – zum Einsturz und Erliegen zu bringen. Das ist, bei aller Gewalt der Erschütterung, auch die Analyse einer Beziehung durch Musik. Nicht musikalische Bebilderung der Apokalypse ist dabei am Werk, sondern die Ausstellung einer Gefährdung von Ordnung überhaupt durch die chaotisch-lärmende Gewalt aller gegen alle. Zimmermanns musikalischer Ausstellung liegen die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu Grunde, die seine Oper den Lenz’schen Soldaten des 18. Jahrhunderts hinzufügt. Von Lenz erhält sie dazu im Gegenzug die szenisch-gestische Konkretion, die der Oper ein Widerstandspotential gegen die Apokalypse verschafft. Unterschiedliche Zeitschichten treffen in der Wieder-Holung des Theaterstücks aus dem 18. Jahrhundert mit, durch und in der Musik des 20. Jahrhunderts aufeinander und überlagern und verschränken sich. Deren Verhältnis lässt sich – durch die Inszenierung von Peter Konwitschny gesehen – als wechselseitige Historisierung, d. h. als ein Fremdmachen der jeweiligen Zeithorizonte verstehen. Die Soldaten sind keine Literaturoper, die ein Stück Literatur mit Musik ausstattet. Das Stück und die Oper, die Szene und die Musik treten vielmehr erst auseinander und entfalten ihren Eigensinn, um sich dann aufeinander zu beziehen. Die Nürnberger Inszenierung gibt diesem Auseinandertreten Raum: in der beschriebenen

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Bruchstückhaftigkeit der Szenen, im sichtbaren Umbau während der Zwischenspiele und – ex negativo – in der dezidierten Engführung von Musik und Szene. Wenn Marie am Ende des 1. Akts in das Gewitter der Schlaginstrumente auf der Bühne rennt oder in der Kaffeehausszene am Beginn des 2. Akts die ganze Bühne angefüllt ist mit dem Lärm aller, in dem die stimmliche Artikulation der Einzelnen untergeht und sich die Gewalt aller gegen alle im anschließenden »Intermezzo« entlädt. Herausgefallen aus der Abfolge der Tableaus ist bei ­Zimmermann wie in der Inszenierung von Konwitschny die 2. Szene des 2. Akts. Sie bringt Personen zur gleichen Zeit zusammen, die räumlich getrennt sind: Marie und Desportes befinden sich in Lille, ebenso wie Weseners alte Mutter, Stolzius und seine Mutter sind in Armentières. ­Zimmermann schlägt dafür drei getrennte Lichtinseln auf der Bühne vor: jeweils für Marie und Desportes, für Weseners alte Mutter sowie für Stolzius und seine Mutter. Konwitschny führt alle zusammen in einer surrealistischen Szene auf einem großen Bett, auf dem sich eine von der Musik geleitete Traumszene entfaltet. Zum Zitat des Bachchorals kommen alle handlungskonform und handlungswidrig miteinander in zärtliche, liebevolle Berührung, ehe, durch Stolzius, die Gewalt der Liebe in die Liebe zur gewaltsamen Rache umschlägt. Für eine kurze Dauer ist die Zwangsläufigkeit der vorgeschriebenen Handlung unterbrochen. Alles könnte auch ganz anders verlaufen … Es ist nicht nur viel Lenz, sondern auch viel Brecht in dieser Inszenierung von Peter Konwitschny, der bekanntlich von Brecht herkommt. Brechts Idee einer »Trennung der Elemente«14, die man insgesamt für die Beziehung zwischen Musik und Szene geltend machen könnte, wird auf besondere Weise in der Nürnberger Version der letzten Szene des 3. Akts und den ganzen 4. Akt hindurch manifest. Während der schwebende Klangteppich des Terzetts im 3. Akt »Ach ihr Wünsche junger Jahre« textlich-musikalisch der verlorenen Illusionen des endlichen Lebens gedenkt, vollzieht sich auf der Szene die Einkleidung und Uniformierung von Marie und eines ganzen Angestelltenheers junger Frauen. Die Aufspaltung der visuellen und akustischen Wahrnehmung, die hier exemplarisch zu erfahren ist, wird zum Prinzip der Darstellung im 4. Akt. Das Nürnberger Produktionsteam hat auf die von Zimmermann vorgesehenen Tonbandeinspielungen mit ihren militärischen Kommandos, Fliegerangriffen und Schreien und auch auf die drei Filme verzichtet. Stattdessen hat es die simultane Verschichtung von elf Szenen von Lenz’ Stück, die Zimmermann mit der Absicht einer Totalerfahrung der »Kugelgestalt der Zeit« vornimmt, für die mögliche

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andere Erfahrung einer Versetzung der Elemente des Ganzen (der Apokalypse) genutzt. Die Zuschauer:innen, die nun auf der leeren Bühne stehen, vernehmen im Fastdunkel huschender Suchscheinwerfer zunächst das »Preludio«, dann, in hellerem Licht, hören sie weit über sich von oben zunächst den Text der Szenen, aufgesagt von den Sänger:innen, die auf den drei Beleuchtungsbrücken aufgereiht sind. Dabei fällt es schwer, aus der Distanz heraus den Sprecher oder die Sprecherin zu identifizieren, es bleiben, obwohl die Sprechenden sichtbar sind, bezogen auf diese weitestgehend ortlose, ungerichtete Stimmen, die auch die Angesprochenen, die Zuschauer:innen, durch ihre räumliche Unbestimmtheit aus ihrer sicheren Position versetzen und entorten. In dieser Lage erfahren sie im Dunkeln den Klangraum der Musik, nah und umgebend, intensiv. Dem folgt der Blick auf die Szene IV, 2, die Rache des Stolzius durch die Vergiftung von Desportes, in der Mitte des ersten Rangs, also aus großer Entfernung von der Bühne aus gesehen. Die abschließende 3. Szene, die Begegnung zwischen Wesener und Marie, spielt sich dagegen wieder unmittelbar unter den Zuschauer:innen in großer, nahezu haptischer Nähe zu den Akteur:innen ab.

Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten, Oper Nürnberg 2018. Inszenierung Peter Konwitschny, Bühne und Kostüme Helmut Brade. 4. Akt Schlussszene im ­Publikum auf der Bühne. Marie: Susanne Elmark, Wesener: Tilmann Rönneböck. Foto: Ludwig Olah.

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Innerhalb von zwanzig Minuten sind so die Zuschauenden, die Zuhörenden harten Wahrnehmungsschnitten von Hören und Sehen, Nähe und Ferne, Distanz und Empathie ausgesetzt. In dieser Aussetzung versetzen sich sowohl die von Zimmermann intendierte Totalität der Apokalypse wie die Vorstellungskraft der Zuschauer:innen, die sie einbilden, die sie einhören soll. Das Gewahrwerden des Eigensinns der einzelnen Elemente der Wahrnehmung lässt diese zu spät kommen, um die Apokalypse noch zu erleben. Die zeiträumliche Versetzung in der Trennung der Elemente setzt das Hier und Jetzt der Apokalypse aus. Die Wahrheit dieser Erfahrung ist: Die Apokalypse hat immer schon stattgefunden. Für die Nürnberger Inszenierung der Soldaten gilt Jacques Derridas Satz: »Auf komm, die Apokalypse, es ist vorbei [...] das ist es, was ankommt.«15

4. Stimmen im Lärm der Zeit

»Wir kommen nicht an der Feststellung vorbei, dass diese eine Oper zum Singen ist«16, hält Zimmermann in einem Brief an den Regisseur der Uraufführung fest. Was auf den ersten Blick selbstverständlich anmutet, hat seine Tücken. Sie liegen nicht nur in den Schwierigkeiten der Gesangspartien mit ihren Intervallsprüngen und unglaublichen Höhen, sondern auch in der Frage nach deren Ort. Die Stimmen in den Soldaten halten sich an der Grenze zwischen Szene und Musik auf. Sie sind nicht der seelische Ausdruck der Figuren und ihrer Sprache. Zimmermann: ei der ›Vertonung‹ des Textes wurden Sprachmelodie und WortB rhythmus der Textvorlage rigoros dem Musikalischen dienstbar gemacht: Einzig und allein die rhythmischen Reihen bestimmten das Geschehen [...]. Dieser Hinweis erscheint mir [...] wichtig, weil gerade durch die rigorose Ausklammerung der Sprachmelodie und des Wortrhythmus eine besondere Prägnanz der ­›Deklamation‹ erzielt wurde.17 Die Differenz zwischen der sprachgeleiteten szenischen Interaktion und der von der Musik induzierten stimmlichen Expressivität spaltet die Figuren in einen sichtbaren Körper der szenisch-gestischen Aktion und einen unsichtbar-vernehmbaren gespenstischen Stimmkörper, der die Bühne über den jeweiligen szenischen Schauplatz hinaus füllt. Die Stimme überschreitet die Szene und ist doch, als Überschreitung

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(in) der Szene, die Stimme der Szene. Sie ist das gespenstische musikalische Double der Szene der gestischen Interaktion. Als solches sind die Stimmen in doppelter Weise gezeichnet. Zum einen vom Lärm der Zeit, der in der Musik immer wieder durchschlägt, zum andern von der Zwangsläufigkeit der Sprachhandlung des dramatischen Verlaufs. Die zweifache Gewalt, die den Stimmen damit angetan wird, treibt sie ins Extreme: in ungeahnte Höhen, zu wilden Intervallsprüngen, zu stimmlichen Verrenkungen. Nichts hat mich bei meinen ersten Soldaten in Frankfurt18 vor bald vierzig Jahren mehr ergriffen als die objektive Expressivität und subjektive Ausdruckslosigkeit dieser stimmlichen Torturen. Damals wie heute lässt sich darin nicht nur der Abdruck der Gewalt des gesellschaftlichen Zusammenhangs erfahren, sondern, in all den an die Grenze gehenden, Grenzen überschreitenden Windungen der Stimmen, auch ihr Ent-Winden, auch ihr verzweifelter Widerstand gegen diese Gewalt. Die Stimmen in Zimmermanns Soldaten sind Stimmen im Lärm und gegen den Lärm der Zeit.

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V  Bernd Alois Zimmermann 1 Vortrag auf dem Symposium Wahrnehmungstheater. Interdisziplinäre Debatten über Bernd Alois Zimmermann am 14. und 15. April 2018 im Staatstheater Nürnberg. 2 Zimmermann, Bernd Alois: »Zu den Soldaten«, in: ders.: Intervall un­d Zeit. Gesammelte Aufsätze, Mainz 1976, zit. n. Programmheft zur Premiere von Die Soldaten am 17. März 2018 im Staatstheater Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 34 – 36, hier S. 34. 3 Oehlein, Josef: »Raufbolde beim näckischen Ringelpiez«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.3.2018. 4 Adorno: [Der Essay als Form], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 9 – 33, hier S. 18. 5 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater. Shakespeare-Arbeiten und Shakespeare-Übersetzungen, hrsg. v. Hans-Günther Schwarz, Stuttgart 1995, S. 21. 6 Zimmermann: »Zu den Soldaten«, S. 35. 7 Vgl. Moholy-Nagy, Lázló: »Theater, Zirkus, Varieté«, in: Bühne im Bauhaus, Bauhausbuch Nr. 4, hrsg. v. Oskar Schlemmer, München 1925, S. 52 – 56. 8 Siehe Moholy-Nagy: »Das Theater der Totalität«, in: Pörtner, Paul (Hrsg.): Experiment Theater, Zürich 1960, S. 128 – 130. 9 Ich entnehme die Bezeichnung dem Titel der ausgezeichneten SchostakowitschBiographie von Julian Barnes: Der Lärm der Zeit, Köln 2017. 10 Vgl. Zimmermann: [Brief an Jan Krenz, Köln, 11. Januar 1963], zit. n. Programmheft zur Premiere von Die Soldaten am 17. März 2018 im Staatstheater Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 42. 11 Siehe Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988. 12 Zimmermann: [Brief an den Intendanten Arno Assmann, Bühnen der Stadt Köln. Rom, 9. April 1964], zit. n. Programmheft zur Premiere von Die Soldaten am 17. März 2018 im Staatstheater Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 43. 13 Vgl. Schiller: [Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie], in: ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 3, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Frankfurt a. M. 1992, S. 471 – 477. 14 Brecht: [Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny], S. 79. 15 Derrida, Jacques: »Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie«, in: Engelmann, Peter (Hrsg.): Apokalypse, Graz/Wien 1985, S. 9 – 90, hier S. 90. 16 Zimmermann: [Brief an Hans Neugebauer, Bühnen der Stadt Köln. Olevano Romano, 6. August 1964], zit. n. Programmheft zur Premiere von Die Soldaten am 17. März 2018 im Staatstheater Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 43. 17 Zimmermann: [Brief an Pricken (?), 10. Dezember 1965], zit. n. Programmheft zur Premiere von Die Soldaten am 17. März 2018 im Staatstheater Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 44. 18 Die Premiere der Frankfurter Soldaten war am 18.6.1961. Das Produktionsteam, das nicht mehr nach einzelnen Funktionen unterschied, bildeten Michael Gielen, Alfred Kirchner, Karl Kneidl, Hans Kresnik, Klaus Zehelein und David Walsh.

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VI Helmut Lachenmann Klaus Zehelein »Mit den Ohren schauen und mit den Augen ­hören« Eine Annäherung an Helmut Lachenmanns »Musik mit Bildern«: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern Nach Gesprächen in Frankfurt und einer von mir versuchten schriftlichen Analyse, besser: Überschreibung von Hans Christian Andersens Märchen, schrieb mir im Sommer 1989 Helmut Lachenmann – acht Jahre vor der Uraufführung an der Staatsoper Hamburg – in einem Brief: u versuchst, der Mädchen-Geschichte den Sinn zu entlocken, D der ihre Musikalisierung (Veroperung??) rechtfertigt, hast auch, wie immer mehr nun auch ich die gefährlichen, begrenzenden Biederkeiten im Sujet und seiner Strukturierung erkannt. Ich weiß nicht, ob beziehungsweise wie weit ich als Musiker mich um den Symbolgehalt, um alle Ausdeutbarkeiten und vorhandene oder zu konstruierende Bezüge kümmern kann, muss, darf. Ich tu das schon, aber eher als philosophierender Dilettant. Und so wie der Besoffene die verlorene Uhr nachts dort sucht, wo die Straßenlaterne steht, tendiert meine Interpretation dorthin, wo meine kunstphilosophischen Spekulationen sich mit musikalischen Materialtendenzen verkörpern lassen. Das ist meine Form der Vergewaltigung, mit der Gefahr, dass am Ende nicht nur das Mädchen in Folge abhanden gekommener Pantoffeln an den Füßen abstirbt, sondern auch – das Märchen. Aber nur indem wir dem Märchen selbst die Pantoffeln nehmen, können wir diese musikalisierte, musiktheaterisierte Neubegegnung versuchen, meine ich. […] Das Gespräch mit Dir hat sich bisher weithin um das rechte (?) oder aktuelle Verständnis des Märchens gedreht. […] Für mich ist die Frage, was mache ich mit dem Ding? Wie viel muss ich – sozusagen in »D e i n e m« Sinne wissen, bevor ich als Komponist die Gegend abstecke. Wie kann

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ich schon anfangen, ohne zu »wissen«, so dass ich dennoch nichts blockiere. Wieweit kannst Du mir beim Abstecken helfen, beziehungs weise solltest Du mir vorsorglich in den Arm fallen, wo ich auf die Tücken in der Löwenhöhle reinfalle?1 Um die Fragen Lachenmanns hier zu beantworten: Die »Tücken der Löwenhöhle« – damit meint er natürlich die Institution Oper, die Opernhäuser, die ja Pierre Boulez schon 1973 in die Luft sprengen wollte –, diese Bemerkung nahm ich, in Kenntnis der immer wieder behaupteten, vermeintlichen Notwendigkeit der Opernhäuser, die Komponist:innen auf die Belange der Institution einzuschwören, sehr ernst. Schon Verdi hat unter dieser falschen Prämisse gelitten und seine Haltung zu diesem Problem gilt bis heute: Die Komponist:innen und ihre Kunst sollen dem Apparat, der Institution den Weg weisen und nicht umgekehrt. Bei der eigenständigen Intelligenz des Komponisten und Musikdenkers – was im Folgenden ablesbar sein wird – wäre es vermessen, ihm angesichts der »Tücken der Löwenhöhle« vorsorglich oder fürsorglich in den Arm zu fallen, geht es doch ab einem bestimmten Moment der Arbeit gerade darum, nicht mehr zu wissen, sondern zu entdecken, das Staunen neu zu lernen, die Suche nach Erkenntnis wachzuhalten. Es ging also in meiner Vorarbeit nicht um Umfassung, nicht um richtig oder falsch, sondern um die Begleitung einer Spurensuche, bis hin zu dem Moment, als sich die Frage nach der originären Struktur des musikalischen Materials stellte. Im Übrigen: Lachenmanns Beschäftigung mit Andersen Märchen reichte bis in das Jahr 1975 zurück. Anlässlich der Uraufführung seines Stückes Schwankungen am Rand für die Donaueschinger Musiktage schrieb er den programmatischen Satz: »Ich hasse – nicht nur in der Kunst – den Messias und den Hanswurst. Der eine ist das Zerrbild des Anderen. Dafür liebe ich Don Quichote und ich glaube an das Mädchen mit den Schwefelhölzern.«2 Lachenmann hatte allerdings in der Vergangenheit bittere Erfahrungen in einer anderen Löwenhöhle gemacht. Seine Musik wurde von Seiten der meisten Orchester und vieler Dirigenten für unausführbar erklärt, weil das traditionelle Verständnis ihres Musizierens in Zweifel gezogen schien, sie sich außerstande erklärten, sein musikalisches Denken in der Praxis zu begreifen. Die etablierten Rezeptionsweisen, ein Hören im Nachvollzug von Kadenzen, Perioden und Sätzen, war in Lachenmanns Kompositionen ausgesetzt, vertraute Hörgewohnheiten

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radikal verletzt. Notturno für kleines Orchester mit Violincello solo von 1968 kann man als Schlüsselwerk bezeichnen, in dem zwei unterschiedliche Ästhetiken zusammentrafen: ine ältere, welche den Klang als Resultat und Ausdruck E abstrakter Ordnungsvorstellungen versteht, und eine jüngere, in welche jede Ordnung möglichst konkreter, unmittelbarer Klangrealisitik dienen soll.3 Musique Concrète Instrumentale benannte Lachenmann – im Nachklang Pierre Schaeffers Tonband – Geräuschkomposition, »musique concrète« – seine instrumental-konkreten Klangkompositionen. In dem Einführungstext zu Pression für einen Cellisten von 1970 formuliert er seine Komposition der Musique Concrète Instrumentale: emeint ist damit eine Musik, in welcher die Schallereignisse G so gewählt und organisiert sind, dass man die Art ihrer Entstehung nicht weniger ins musikalische Erlebnis einbezieht als die resultierenden akustischen Eigenschaften selbst. Klangfarbe, Lautstärke […] kennzeichnen bzw. signalisieren die konkrete Situation. Man hört […], mit welchen Energien und gegen welche Widerstände ein Klang, bzw. ein Geräusch entsteht. Ein solcher Aspekt […] muss durch eine Kompositionstechnik erst freilegt und unterstützt werden, zugleich wird so den üblichen, eingeschliffenen Hörgewohnheiten […] der Weg verstellt. Das Ganze wird zur ästhetischen Provokation: Schönheit als verweigerte Gewohnheit.4 Lachenmann versteht seine instrumentale Musique Concrète als Angebot an die Hörer:innen, anders zu hören, sich diese charakteristische Provokation bewusst zu machen, nicht zustimmend nachzuvollziehen, sondern Rückschlüsse zu ziehen, zu denken. Was Lachenmann bereits 1970 für die Komposition Pression als Grundlagen seiner Komposition formulierte, gilt in nuce für ihn bis heute. Ihre Bestimmungen betreffen unterschiedliche Ebenen, auf denen das Konzept sich entfaltet: Die Art der Entstehung des Klanges, also Spieltechniken der Instrumente, der Akustik instrumentaler Geräusche, Stellung der Musiker:innen im Raum sowie die akustischen Eigenschaften dieser Klangerzeugung und ihrer Einordnung in eine Klangklassifikation. Im Besonderen kommt gleichwohl die Kompositionstechnik, also die Anordnung der Klänge/Geräusche als Strukturgebung des Werkes in

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diesem Konzept zum Tragen. Auch die Rezeptionsgewohnheiten der Hörer:innen und die Stellung des Werkes zur Tradition spielen hierbei eine Rolle und last but not least die ästhetische Provokation: damit sind jene Aspekte des Bewusstseins der ausübenden Musiker:innen gemeint, vor allem im Hinblick auf zu hinterfragende Erwartungshaltungen hinsichtlich ihrer Professionalität, damit ihres gesellschaftlichen Lebenszusammenhanges.5 Wenn auch der spätere Lachenmann mit dem Begriff der ­Provokation weniger argumentierte, so wusste er aus Erfahrung doch, welche inneren Widerstände Musiker:innen überwinden müssen, um die vorgeschlagene Praxis zu akzeptieren. Denn: In ihrer Ausbildung und in ihrem Beruf haben die Musiker:innen mit großem Eifer daran gearbeitet, einen – wie auch immer – ›Schönen Ton‹ als Ergebnis all der Bemühung zu reproduzieren; und nun sollen sie auf einmal die Entstehung und nicht das Ergebnis eines Klangereignisses als musikalisches Erlebnis akzeptieren, sollen den Prozess der Herstellung aushören? Bestand nicht das Ideal jeglicher Kunst gerade darin, das Wie, also die technisch-handwerkliche Arbeit möglichst zum Verschwinden zu bringen, um ein voraussetzungsloses Was der Welt zu offenbaren, wie es z. B. der Altmeister Richard Wagner nicht müde wurde zu propagieren? Als wir an der Staatsoper Stuttgart, ein Jahr vor der Premiere, mit den Chor- und Orchesterproben begannen, die für eine Aufführung notwendigen Techniken zu vermitteln, wurde zumindest von Seiten des Staatsorchesters Befremden, ja Widerwillen artikuliert. In über hundert Einzel- bis Ensembleproben wurde allerdings die Herausforderung deutlich, die unterschiedlichen Spieltechniken, das wachsame Verfolgen der Klang-Entstehungsprozesse als künstlerische Aufgabe zu begreifen. Und nach der zwölften Aufführung schlugen mir Orchester- und Chorvorstand vor, zur Wiederaufnahme des Werkes jeweils eine Stunde vor den Aufführungen ihre Klangerzeugungskunst als Einführung in das Werk dem Publikum vorzustellen – was dann auch mit überwältigendem Erfolg getan wurde, um im Sinne Lachenmanns die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung zu stimulieren. In Andersens Das Mädchen mit den Schwefelhölzern gibt es keinen Dialog, also nichts, was sprachlich dialektisch die Narration voranbringen könnte. Das Mädchen ist in der Winterhart zu Neujahr da, es friert, es geht – bedrängt von der kalten Stadtwelt –, es erinnert sich. Dann, in einem Winkel einer Hauswand sitzend, all seine nichtverkauften Streichhölzer nach und nach entzündet, um in den kurzen Phasen der Wärme das Schöne, das Erträumte, das Ersehnte

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aufscheinen zu lassen. Lachenmann verfolgt den Andersen-Text von Anfang bis zum bitteren Ende, ohne ihn zu vertonen. Er tastet ihn gleichsam ab, nimmt ihn als Prätext auch für zwei Texteinschübe von Gudrun Ensslin und Leonardo da Vinci; er ist Anlass der gesamten Unternehmung. Lachenmanns Klangspektrum ist groß angelegt: zwei Soprane, vier Gruppen von Vokalsolist:innen, großes Orchester, großes Schlagwerk, zwei Konzertflügel, Orgel, ein solistisches Streichoktett, ein Sho (japanische Mundorgel); hinzu kommen Einspielungen über CD. Das große Orchester ist im Orchestergraben platziert, während die Vokalsolist:innen und Instrumentalgruppen im Raum verteilt sind, so dass die Zuhörer:innen gleichsam eintauchen in die Klänge. Dieser große Klangapparat wird selten in voller Gänze eingesetzt, vielmehr ermöglicht er die Vielfalt der Geräusch- und Klangfarben dieser Partitur. In dem Beginn von »Musik mit Bildern« wirken vor allem jene Teile, die mit »Frier-Arie« und mit »Trio und Reprise« überschrieben sind, überraschend, vielleicht auch irritierend, scheint doch der Zugriff auf die Musik mimetisch: klirrende Kälte, der frierende Körper; das Japsen des nach Luft ringenden Mädchens, Kältezittern, Händereiben – es ist, als müsse der nachfolgende Gesang dieser Kälte abgetrotzt werden. Diese Musik ist Komposition, indem Teilmomente koordiniert und funktional verbunden sind. Die strukturelle Einbindung der mimetischen Artikulation, der physiologische Aspekt macht symbolische oder metaphorische Deutungen zweitrangig. Dies gilt für das ganze Werk. Diese Klang-Bildlichkeit wirkt deshalb nicht anekdotisch-illustrativ, da sie auf Integration von auratischer und materialer Struktur zielt.6 Beim Hören dieser Musik wird die große Schwierigkeit für eine Inszenierung offensichtlich, will sie die Narration der klanglich-mimetischen Ebene nicht einfach verdoppeln. In der gesamten Partitur gibt Lachenmann keine szenischen Anweisungen, keine Kommentare oder Hinweise zur theatralischen Realisation. Diesem Dilemma der Regie entgegnete er: »Musikalisches Theater heißt für mich: Innere Bilder, die das reine Hören evoziert, durch äußere beantworten und umgekehrt.«7 Die strukturell reflektierte musikalische Autonomie bei ­Lachenmann lässt die Unterscheidung von Abbildendem und Abgebildetem nicht mehr zu. In der Grammatologie schreibt Derrida: I n diesem Spiel der Repräsentation wird der Ursprung ungreifbar. Es gibt Dinge […] und Bilder, ein endloses Aufeinander-Ver-

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weisen, aber es gibt […] keinen einfachen Ursprung. Denn was reflektiert ist, zweiteilt sich in sich selbst, es wird ihm nicht nur sein Bild hinzugefügt.8 Die klanglich-mimetischen Momente sind sowohl akustische, ja naturalistische Narrationen, als auch davon losgelöst, kompositorisches Material, sind sowohl Zitation als auch Immanenz. Die Anweisung für die Streichinstrumente »col legno« (d. h. mit dem Holz des Bogens) z. B. ist beides: Verweis auf die Streich-Hölzer als auch die bestimmte Artikulation eines autonomen musikalischen Konzeptes. In einem Gespräch über Fragen zur theatralen Realisation des Mädchens sagte Lachenmann: ie Frage, die sich mir stellte, war die, ob es möglich ist, ein D solches nicht weniger autonom orientiertes kompositorisches Konzept in ein Theaterprojekt hinüber zu retten. Aus dem Grund kamen für mich niemals dramatische Handlungen, Dialoge, das Austragen von Spannungen zwischen Individuen in Frage, zu denen Musik ›hinzu‹ komponiert werden konnte – wohl aber mehr oder weniger komplexe, starre oder sich wandelnde Situationen: Bilder, denen das Schauen – sowie in der Musik das Hören – ›zu sich selbst kommt‹, in denen man mit den Ohren schaut und mit den Augen hört. […] Kann nicht die Tatsache, dass ich das alles in der Musik abbilde, dass ich also den bildhaften erzählenden Bereich so usurpiere, vielleicht gar blockiere, den Regisseur kreativ – und sei es zum Widerstand – herausfordern? Das ist doch auch eine Chance. Das Szenische muss sich dann kategorisch neu definieren – also genau das, was ich kompositorisch von mir selbst verlange!9 Ich denke, dass unserer Stuttgarter Inszenierung von Peter Mosbach, der auch das Bild entwarf, in den besten Momenten dieser Spagat gelang, nämlich, die Musik Lachenmanns nicht hermeneutisch zu befragen, sondern der Musik mit einer autonomen Ebene der Szene zu begegnen, die, jenseits von Beliebigkeit, die Spuren der Musik kreuzt: Der Vielfalt und der unterschiedlichen Dichte der akustischen Ereignisse entgegnet die Szene mit einem kontinuierlich-zeitlichen Vorgang, und, wie im zehnten Bild, dem Finale des ersten Teils, mit einem sukzessiv allmählich sich komplettierenden Bild. Dieses zehnte Bild hat Lachenmann mit »Aus allen Fenstern« benannt. Der erste Teil dieses Bildes mag uns in Momenten an die Glockenspiele einer alten

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Ladentür, an die schmalzige Rhetorik der Weihnachtszeit und deren Aufruf zum Konsum erinnern. Im zweiten Abschnitt wird ein Sprecher eingespielt, der die Pantoffel-Episode des Märchens wiedergibt, um danach einen Brief von Gudrun Ensslin aus dem Jahre 1975 zu zitieren, der zum Protest gegen den nach innen gerichteten Imperialismus aufruft. Dieser Brief ist bestimmend für das fünfzehnte Bild des zweiten Teils »Litanei.« Ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Mit Gudrun Ensslin stellt der Komponist seiner Titelfigur gewissermaßen eine geistesverwandte Schwester zur Seite. Lachenmann schreibt zur Hamburger Uraufführung 1997: ie Geschichte von dem kleinen Mädchen mit den SchwefelD hölzern selbst steckt voller Botschaften, klaren und verhüllten: Gesellschaftskritik, existenzielle Einsamkeit, ›repressiver‹ Protest – das Kapital des kleinen Mädchens, die Schwefelhölzchen, die es anzündet, um sich zu wärmen, um Vorstellungen von Glück hervorzurufen – wobei es erfriert. In meiner Kindheit habe ich Gudrun Ensslin gekannt, die ebenso wie ich aus einer Pastorenfamilie kam, voller Ideale, protestantisch im radikalsten Sinn; sie schloss sich der Roten Armee-Fraktion an, und zu Beginn ihrer zweifelhaften Karriere in der politischen Protestbewegung steckte sie ein großes Warenhaus in Brand […] [Sie], die Unrecht ausspricht und sich ins Unrecht setzt.10 Der dritte Abschnitt wird bestimmt durch harte Einschnitte, Orchesterschläge, die den Versuch der Artikulation von Protest nach der ersten Silbe zunichte machen. Dazwischen ist zum ersten Male mehrfach »ICH« – die Stimme des Mädchens – zu verstehen. Der letzte Abschnitt nimmt die Farben des Beginns auf: Choralfetzen, ›StilleNacht-Rhythmus‹, der Glanz einer schalgewordenen Religiosität, es herrscht die Kälte, in der das Mädchen erfrieren wird. Dieses Bild, eine Videoprojektion, die sich während der Szene sukzessiv aufbaut, wird lesbar als der Sicherheitstrakt des Gefängnisses von Stuttgart-Stammheim, in dem Raspe, (Meins?), Baader und Ensslin inhaftiert waren und starben. Es erscheint mir notwendig, an dieser Stelle meiner Annäherung an Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, den Materialbegriff Lachenmanns aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Wie schon angemerkt, ist das zentrale Moment seiner Musik aller Klänge und aller Formprozesse doppelt bestimmt: Einmal als syntaktisches und einmal als semantisches Element. Z. B. werden die Guerro-Klänge

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der Streicher, die Luftgeräusche der Bläser, die Woodblock-Schläge unterschiedlichen Klangfamilien zugeordnet. So nennt er die Guerro-Klänge, die gepressten Töne der Streicher oder die Flatterzunge der Bläser perforierte Klänge; die Luftgeräusche der Bläser sind verwandt mit dem tonlosen Streichen der Streichinstrumente und Woodblockschläge mit dem Col legno-Spiel der Streicher. Ein schier unermessliches Klangvokabular bestimmt Lachenmanns Polyphonie der Anordnungen, deren Komplexität sich als Beziehungsgeflecht (, als Zeitstruktur) beschreiben lässt. Die Idee der Familie ordnet also die Klänge nach ihrem klassifikatorischen und nicht nach dem affektiven Potential. Der mimetisch-semantische Anteil von Klang und Formprozessen ist auf zwei unterschiedliche Arten zu bestimmen. Eine, die man als die existenzielle bezeichnen könnte und die an elementare Lebensbedingungen oder -erfahrungen geknüpft ist: die Luftgeräusche, die auf das Atmen verweisen, all jene Klangtypen, die an körperliche Vorgänge des Frierens gebunden sind – das Japsen, das Zittern, das Händereiben sowie jene Naturerfahrung des Donners und des Windes. Diese Ebene ist wohl die wesentlich musikalische Entwicklung Lachenmanns, da sie – wie schon gesagt – musikalische Bedeutung, Sinngebung neu zu bestimmen versucht über ihren geradezu ursprünglichen Aspekt, die Koppelung an die Hervorbringung von Klang durch den menschlichen Körper, die noch nicht konventionalvisierte Bedeutung, die aus den geradezu vorsprachlichen, mimetischen Versuchen von Äußerungen entspringt – die Rückkoppelung einer hochkomplizierten Syntax an existenzielle Momente musikalischen Ausdrucks. Die zweite Art der Semantik definiert sich über die Geschichte, die Bestimmung von Klang in seiner kulturellen Konvention. Gerade in dem eben wahrgenommenen zehnten Bild »Aus allen Fenstern«, jenem Finale des ersten Teils, in dem das einsame Mädchen den sie umgebenden herben und auch pathetisch prächtigen Klängen der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, wird diese Ebene der Semantik in den tonalen Bereichen besonders deutlich. Der Versuch, gegen die furchtbare, feindselige Heimeligkeit eine Artikulation des Protestes zu gewinnen, scheitert – wie schon oben gesagt – an den rabiaten Schlägen der Orchesterakkorde. Diese Akkorde, besser Orchesterschläge, sind Zitate aus der historischen Literatur: aus Beethovens Coreolan-Ouvertüre, aus Gustav Mahlers 6-Sinfonie, aus Igor Strawinskys Sacre du Printemps, aus Alban Bergs Wozzeck, aus Arnold Schönbergs Orchestervariationen. Helmut Lachenmann dazu: »[…] alle diese Einsätze unverfremdet, aber bis zur Unkenntlichkeit entfremdet durch ihre Herauslösung aus ihren ange-

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stammten Umgebungen und gewaltsame Nachbarschaft, bzw. gegenseitigen Konfrontation – dazwischen […] der Ruf des Mädchens: ›Ich‹«11 War im ersten Teil das Mädchen auf der Straße eine Getriebene, einer ihm feindlichen Welt ausgesetzt – seine Einsamkeit, seine Ausgegrenztheit das bestimmende Motiv –, rückt im zweiten Teil Handlung in das Zentrum des Geschehens. Das Mädchen, mit seinen nicht verkauften Streichhölzern erschöpft in der Nische einer Hauswand sitzend, entzündet jetzt ein Streichholz: »Sie zog eines heraus, ›Ritsch!‹. Wie sprühte es, wie brannte es! […] es war ein wunderbares Licht! Es kam dem Mädchen vor, als sitze es vor einem großen eisernen Ofen«, so Hans Christian Andersen zu Beginn des zweiten Teiles der Komposition.12 Das Mädchen handelt, handelt gegen jede gesellschaftliche Vernunft, indem es beginnt, das Kapital der ihr entfremdeten Familie zu vernichten. Wie erwähnt: die erste Anklage Gudrun Ensslins betraf ihren Brandanschlag auf ein Frankfurter Kaufhaus. So setzt Lachenmann nach diesem Bild, benannt »Ritsch/Ofen«, in dem folgenden Bild »Litanei« den zweiten Text von Gudrun Ensslin. Der zweite Teil der Komposition ist strukturiert durch drei Momente, wenn das Mädchen die Streichhölzer anzündet: die drei »Ritschs«. Das erste entfaltet sich allmählich: ein japanischer Gong wird angeheizt, durch Reibung werden die Obertöne langsam aktiviert, um in einer dicken harmonischen Schicht die Wärme des Ofens zu evozieren. Am Ende des Bildes »Ritsch/Ofen« legt sich ein Eishauch, das taube Rauschen von aneinander geriebenen Styroporplatten, über die Szene. Dem auf »Ritsch/Ofen« folgenden Bild »Litanei« liegt der Schluss eines Briefes zugrunde, den Gudrun Ensslin Anfang 1975 aus der Stammheim-Haft schrieb. Er beginnt: der kriminelle, der wahnsinnige, der Selbstmörder - sie verkörpern diesen Widerspruch. sie verrecken in ihm. ihr verrecken verdeutlicht die ausweglosigkeit/ohnmacht des menschen im System: entweder du vernichtest dich selbst oder du vernichtest andere, entweder tot oder egoist.13 Mit »schreibt auf unsere haut« beendet Lachenmann das Zitat. Lachenmann behandelt diesen Text Ensslins nicht im Sinne einer wütenden Proklamation; es ist der Chor, der, silbenmäßig aufgeteilt durch die Vokalgruppen laufend, in tonlosem Fortissimo flüstert – ein drohendes Samidat14. Die Instrumente verstärken die Konsonanten. Dem unmittelbaren Verstehen widersetzt sich diese Komposition; von den Hörer:innen wird eine hohe Konzentrationsleistung verlangt,

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gleichsam dem geheimen, gestörten Lesen eines verbotenen Buches im öffentlichen Raum. In der Stuttgarter Aufführung wird leider deutlich, wie schwierig es ist, die vom Komponisten geforderte Priorität des semantischen Anteils dieser Komposition zu realisieren, obwohl wir – mit Einverständnis des Komponisten – die Summe des Textes von einer Chorsolistin mitsprechen ließen. Wenn überhaupt, ist diese syntaktisch-semantische Komplexität nachvollziehbar mit der Konzentration der Hörer:innen in einer Live-Situation, die visuell dem Chor bei seiner Artikulation verfolgen. Ein weiterer, zweiter Einschub in das Andersen-Märchen ist mit Zwei Gefühle überschrieben und stammt von Leonardo da Vinci. Lachenmann beschreibt die Musik mit Leonardo als Pastorale in unwirtlicher Gegend: »aus der Wüste menschlicher Zivilisation in die Einöde mediterraner Felsenklippen über dem tobenden Meer, wo Leonardos Wanderer, irritierend, die Eruption der speienden Vulkane, die Unruhe seines Herzens« wiedererkennt. Am Ende dieses achtzehnten Bildes beschreibt Leonardo Zwei Gefühle: »Als ich aber geraume Zeit verharrt hatte, erwachten in mir zwei Gefühle: Furcht und Verlangen. Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle, Verlangen aber, mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte.«15 Lachenmann hat dieses Bild als erstes komponiert. Dabei geht es nicht um die Musikalisierung des Textes durch die Hervorbringung seiner geräuschhaften Komponenten, sondern um eine Komposition auseinandergezogener Silben, sich überlagernder, ineinander verhakter Sätze. Darauf reagieren die Instrumentalist:innen gestisch und interpunktierend auf die Sprache. Eine genaue Analyse des zwanzigminütigen Stückes – das mit Abstand längste Bild – würde hier zu weit führen. Die Anmerkung Lachenmanns zu Zwei Gefühle sei hier wiedergegeben: aben wir das Mädchen verlassen? Kalte Hauswand hier, finstere H Höhle dort, beides undurchdringlich, beides Medium von Halluzinationen des Geistes, die zwar verfehlen, was wir beschwören, und doch zugleich in Erinnerung rufen, wonach es uns im Innersten drängt: nach Erkenntnis, heim zur großen Mutter. Mit dem dritten »Ritsch« ist die größte Geräuschperforation erreicht. Gleich einem Feuerwerk durch den Riss über den Wirbel der Klaviersaiten, durch prasselnde Pizzicato Arpeggien der Streicher, Crescendo der Pauken, durch den hämmernden Holzstab wird die Streichholz-

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friktion ins Riesenhafte gesteigert, wird die Erscheinung der Großen Mutter evoziert: »›Großmuttter‹, rief die Kleine. ›Oh, nimm mich mit!‹ […] Sie strich eiligst den ganzen Rest der Hölzer, die noch in der Schachtel waren, an […].«16 Beginnend mit dem neunzehnten Bild »Hauswand 4«, dem »Ritsch«, dem Bild »Großmutter«, dem folgenden »Nimm mich mit«, und dem zweiundzwanzigsten Bild, benannt »Himmelfahrt«, wird der Klangraum gleichsam philharmonisch eröffnet. Am Ende des Märchens ist das große Instrumentarium aufgebraucht, die eigenartig fremden, fernen Klänge des Sho, einem rituellen Instrument aus der japanischen Gagaku-Musik, leiten über zur Aktion der zwei Konzertflügel, die durch ein feines Hämmern des jeweils höchsten Tones der Tastatur das Stück beenden: Klopfzeichen, mit denen Eingeschlossene auf sich aufmerksam machen, Morsezeichen aus einem eisigen Jenseits. In seiner Musikalisierung des Märchens wird ein Gleichnischarakter vernehmbar. Text wird in der Sprache phonetisches Material, das auf nichts verweist als auf seine klangliche Struktur. Aber der Umgang Lachenmanns mit dem Märchen entspricht auf einer anderen Ebene fast ganz einer barocken Exegese: Die Geschichte des Mädchens erscheint als Gleichnis von Fremdbestimmung und Auflehnung, von der gesellschaftlichen Kälte und dem Feuer, das sie vertreiben kann. Diese Thematik ist allen Kompositionen Lachenmanns gemeinsam – nur sind die Figuren, die sich gegen Fremdbestimmung, gegen Erstarrung in der Konvention auflehnen, in seinen Konzertstücken die Klänge selbst. Die Erzählung, die alle seine Werke durchzieht, ist die Neuentstehung von Klangwahrnehmung, von Erfahrung von Klang und Zeit aus der Durchbrechung der gesellschaftlichen Erstarrung von musikalischer Erfahrung. Die Geschichte des Mädchens ist so das Gleichnis, das er fand, um jene künstlerischen Prozesse extensiv zu beschreiben, die alle seine Werke ausmachen.

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VI Helmut Lachenmann 1 Lachenmann, Helmut: Brief an Klaus Zehelein vom Sommer 1989, Privatbesitz Klaus Zehelein. 2 Rempe, Tobias: »›Ich bin selber die Wunde.‹ Ein Interview mit Helmut Lachenmann«, in: https://van-magazin.de/mag/helmut-lachenmann/ (zuletzt ­ aufgerufen am 12.10.21). 3 Helmut Lachenmann 1970 zu der Partitur Notturno, welche im April 1969 in Brüssel uraufgeführt wurde. Nachzulesen in: Lachenmann, Helmut: Notturno. Für kleines Orchester mit Violoncello solo, hrsg. von Breitkopf & Härtel, Leipzig 2000. 4 Vgl. Lachenmann: Pression für einen Cellisten, neu aufgelegt und hrsg. von ­Breitkopf & Härtel, Leipzig 2010. 5 Vgl. Hilberg, Frank: »Geräusche? Über das Problem, der Klangwelt Lachenmanns gerecht zu werden«, in: Musik-Konzepte 146 – Helmut Lachenmann, hrsg. von Ulrich Tadday, München 2009. 6 Vgl. Kemper, Christian: »Figur und Struktur in einer ›Musik mit Bildern‹«, in: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Programmheft der Staatsoper Stuttgart, Stuttgart 2001, S. 77 – 90; zuvor erschienen in einer erweiterten Fassung unter dem Titel: »Repräsentation und Struktur in einer ›Musik mit ­ Bildern‹. Überlegungen zu Helmut Lachenmanns Musiktheater«, in: Musik & Ästhetik 5 (2001), H. 19, Stuttgart 2001, S. 105 – 121. 7 Ruzicka, Peter: »Musik zum Hören und Sehen. Interview mit Helmut Lachenmann«, in: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Programmheft zur Uraufführung der Hamburgischen Staatsoper, Hamburg 1997, S. 39 – 43, hier S. 40. 8 Derrida: Grammatologie, aus dem Frz. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Berlin 1983, S. 65. 9 Zehelein/Thomalla, Hans: »›Klänge sind Naturereignisse ‹. Helmut Lachenmann im Gespräch mit Klaus Zehelein und Hans Thomalla«, in: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Musik mit Bildern. Programmheft der Staatsoper Stuttgart. 10 Lachenmann: »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, in: Opernhaus Zürich (Hrsg.): Programmheft 2019/20, Zürich 2019, S. 8. 11 Lachenmann: »Eine musikalische Handlung«, in: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Musik mit Bildern. Programmheft der Staatsoper Stuttgart, S. 4. 12 Zit. n. Lachenmann: »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, in: Opernhaus Zürich (Hrsg.): Programmheft 2019/20, S. 10. 13 Ensslin, Gudrun: »Der Schub zur Einheit – Die Diskussion bis zum Hungerstreik«, in: Schut, Pieter H. Bakker (Hrsg.): das info. Briefe der Gefallenen aus der RAF 1973 – 1977, Neuss 1987, S. 18. 14 Vgl. Kaltenecker, Martin: »Was nun? Die Musik Helmut Lachenmanns als ­Beispiel«, in: Jungheinrich, Hans-Klaus (Hrsg.): Der Atem des Wanderers. Der Komponist Helmut Lachenmann, Mainz 2006, S. 113 – 128. 15 Lachenmann zit. n.: Günther, Andreas: »Helmut Lachenmann: ›Zwei Gefühle‹«: in: https://www.musikfabrik.eu/de/blog/helmut-lachenmann-zwei-gefuehlekommentartext-von-andreas-guenther (letzter Aufruf: 12.10.21). 16 Lachenmann: »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, in: Opernhaus Zürich (Hrsg.): Programmheft 2019/20, S. 15.

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Autorinnen und Autoren Günther Heeg ist Direktor des Centre of Competence for Theatre (CCT) und Prof. em. für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Seine aktuellen Forschungen gelten der Idee eines transkulturellen ­Theaters, dem Entwurf von Theater als kultureller Praxis »von allen für alle«, Bertolt Brecht und der Geschichte und Gegenwart des Musiktheaters. Dr. Merle Fahrholz ist seit 2018/19 Chefdramaturgin und Stellvertretende Intendantin der Oper Dortmund und designierte Intendantin des Aalto Musiktheaters Essen sowie der Essener Philharmoniker mit Amtsantritt 2022/23. Zuvor war sie als Dramaturgin am Nationaltheater Mannheim, Theater Heidelberg sowie in leitender Funktion am Theater Biel Solothurn tätig. Darüber hinaus begann sie bereits am Theater und Orchester Heidelberg damit, Symposien an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis zu organisieren – eine Arbeit, die sie an der Oper Dortmund fortführt. Merle Fahrholz promovierte an der Universität Zürich zur deutschen romantischen Oper. Lehraufträge führten sie unter anderem an die Universitäten ­Heidelberg und Zürich. Anselm Gerhard, geboren 1958 in Heidelberg, wirkte von 1994 bis 2021 als ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Universität Bern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört das europäische Musiktheater insbesondere des 19. Jahrhunderts. Seit 2016 ist er Herausgeber der neu gegründeten Zeitschrift verdiperspektiven. Klaus Zehelein, geboren 1940 in Frankfurt am Main, ist Germanist, Musikwissenschaftler und Philosoph. Nach verschiedenen Anstellungen an Theatern in ganz Deutschland wirkte er von 1991 bis 2006 als Intendant der Staatsoper Stuttgart und war von 2003 bis 2015 Vorsitzender des Deutschen Bühnenvereins. Zudem arbeitete er als Dozent an der Universität Oldenburg, an der University of Minnesota und am Collège international de philosophie in Paris und war Gastprofessor an den Universitäten Gießen und Wien.

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Recherchen 1 3 4 6 7

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Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – »Ich war immer ein Opportunist …« . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz – Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu »Unter Eis« Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst. Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990 – 2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977 – 2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007

49 Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen 52 Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung 54 Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte 55 Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 56 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller 57 Kleist oder die Ordnung der Welt 58 Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater 60 Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater 61 Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa 62 Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 63 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten 64 Theater in Japan 65 Sabine Kebir – »Ich wohne fast so hoch wie er« Steffin und Brecht 66 Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 67 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden 70 Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation 71 per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen 72 Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute 74 Frank Raddatz – Der Demetriusplan . Oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich 75 Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 76 Falk Richter – Trust 79 Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft 81 Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters 82 Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch 83 Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters 84 B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen 87 Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart 91 Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm


Recherchen 93 Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie 95 Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft 97 Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals 98 Das Melodram . Ein Medienbastard 99 Dirk Baecker – Wozu Theater? 100 Rimini Protokoll – ABCD 101 Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern 102 Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen 103 Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 104 Theater im arabischen Sprachraum 105 Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit . Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation 107 Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik 108 Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 112 Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa 113 Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 116 Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 123 Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« am Schauspiel Leipzig

125 Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) 126 Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert 127 Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen 128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L’Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019)


Recherchen 151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche 153 Wer bin ich, wenn ich spiele? . Fragen an eine moderne Schauspielausbildung? 152 Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen 154 Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung . ­Fragen an Heiner Müller 155 TogetherText . Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater 157 Theater in Afrika II – Theaterpraktiken in Begegnung 158 Joscha Schaback – Kindermusiktheater in Deutschland 159 Inne halten: Chronik einer Krise 160 Heiner Goebbels – Ästhetik der ­Abwesenheit . Texte zum Theater . ­  Erweiterte Neuauflage 161 Günther Heeg – Fremde Leidenschaften Oper . Das Theater der Wiederholung I


Dieses Buch untersucht die Szene der Grand Opéra und geht den Spuren ihres Nachlebens in Inszenierungen und Werken des zeitgenössischen Musiktheaters nach. Die Grand Opéra des 19. Jahrhunderts stellt sich als ein Vexierbild dar. Auf den ersten Blick zeigt sie sich als Vergnügungsapparat zur Erzeugung visueller und emotionaler Sensationen. In dieses Bild aber schreiben sich die Züge eines Seismografen ein, der die gesellschaftlichen Erschütterungen im Zeitalter der Revolutionen präzise verzeichnet. Die Schnittlinie beider Ansichten durchquert die Grand Opéra als »Kraftwerk der Gefühle« (A. Kluge). In ihm kehren die verdrängten Erfahrungen und Traumata von Terror, Umbruch und Rebellion als fremde Leidenschaften wieder. Sie bieten die Chance der Wiederaneignung und Transformation der in die Gegenwart ragenden Vergangenheit.

978-3-95749-369-9 www.theaterderzeit.de


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