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Ordentliche Gehwege sollen sie bauen...

Der ORF versteht sich als Brücke Österreichs zur Welt, als Informationsmedium Nummer 1 zu europäischen Belangen. Sachlich, genau und jedenfalls authentisch. Dazu entsendet der ORF als einziges Medium Österreichs dauerhaft Korrespondentinnen und Korrespondenten in alle Welt. Auch wenn sie dort manchmal auf Mauern stoßen... Wir stehen vor einer sechs Meter langen, zwei Meter hohen und knapp 50 Zentimeter breiten, schmutziggrauen Betonmauer. Die knallrote Blechtüre mit ihrem mächtigen Vorhangschloss macht sie zwar durchlässig, aber gleichzeitig auch irgendwie bedrohlich. Die Mauer markiert das endgültige Ende einer schmalen Straße, die durch eine schmucke Einfamilienhaus-Siedlung am Rande der ostslowakischen Stadt Presov führt. Vor der Mauer die bürgerliche Siedlung, nach der Mauer eine Gstätten, wie wir als Kinder in Wien verwildertes Gelände nannten. Das Bauwerk blockiert den Übergang der Straße in einen Feldweg, der sich über die Gstätten den Hügel hinab zu einem desolaten Plattenbaukomplex schlängelt. In dem Komplex hausen treffender wäre vegetieren – gut 2000 Roma. Der heruntergekommene Plattenbau ist in den letzten Jahren zum Roma-Ghetto geworden. Jan, mein slowakischer Kamermann, grinst mich beim Auspacken der Kamera breit an und sagt zynisch: „Schau, so sieht die slowakische Lösung des Roma-Problems aus, wir bauen einfach eine Mauer.“ Mir ist weniger nach Zynismen, meine Überlegung ist, aus welcher Perspektive dieses kleine Stück Stahl-Beton am besten zu filmen ist. Was ist die Story daran? Ein lächerliches Stück Mauerwerk, das armselige Roma fernhalten soll? Ist das ZiB-würdig? Es ist!


Denn diese winzige Mauer im tiefen Osten der Slowakei ist Synonym für das riesige Problem in ganz Europa im Umgang mit einer ethnischen Minderheit. Der mediale Blick auf beide Seiten der Mauer am Rande einer Kleinstadt der Ostslowakei offenbart die Reibungen zwischen Roma und Nicht-Roma in Europa. Hier ausgegrenzte, meist chancenlose Menschen, für die sich seit der Wende nichts geändert hat, außer, dass sie heute politisch korrekt „Roma“ genannt werden (auch wenn sie Sinti sind), dort die so genannten braven Bürger, die sich zu Recht darüber beklagen, dass ihnen Jahr für Jahr Äpfel und Birnen aus den Vorgärten geklaut werden und niemand ihre Habseligkeiten schützt. Die rote Blechtüre der Mauer ist tagsüber geöffnet. Wir filmen, wie junge Roma-Mütter ihre Kinderwägen den holprigen Feldweg hinauf zur Mauer schieben. Sie freuen sich über die geöffnete Türe, denn der Weg zum nächsten Supermarkt ist über den Feldweg durch das rote Tor der Mauer viel kürzer. Wir filmen auch den Pensionisten Frantisek Kubica, der im Vorgarten seines kleinen Hauses neben der Mauer steht und argwöhnisch die jungen Roma-Mütter beobachtet. „Abends“ – so sagt er vor dem ORF-Mikrofon, „sperre ich zu, da kommt mir niemand mehr durch!“ Mit Verachtung blickt er auf das verwahrloste Roma-Ghetto jenseits der Mauer. Er erzählt uns von unzähligen Einbrüchen in seinem Haus, vom gestohlenen Werkzeug, das er als Maschinenschlosser braucht und zum Teil noch von seinem Großvater vererbt bekommen hatte, und von den vielen zerbrochenen Fensterscheiben seines Hauses, eingeschlagen von den „nichtsnutzigen Zigeunerbengeln“ mit ihren Steinschleudern, wie er flucht. Und weil niemand für seinen Schaden aufkommt und auch niemand gegen die Kleinkriminalität in seiner Siedlung vorgeht, hat sich Frantisek Kubica zum Wortführer einer Bürgerinitiative gegen das benachbarte Roma-Ghetto gemacht. Seine Forderung: eine Mauer! Eine Mauer zum Schutz vor Roma, die täglich an seinem Haus vorspazieren.


Nur zögernd, nach langem hin und her und viel Druck der Bürgerinnen und Bürger hat die Stadtregierung letztlich nachgegeben. Der Bürgermeister ahnte zwar, dass die Mauer für negative Schlagzeilen sorgen würde, doch Rassismus-Vorwürfe in Artikeln in- und ausländischer Medien wiegen für ihn letztlich weniger schwer als Mandatsverluste bei den nächsten Wahlen. Aber das sagt er nicht. Nein, die Mauer habe mit Rassismus nichts zu tun, wie der Bürgermeister im ZiB-Interview betont. Er habe sie errichten lassen, weil er die Bürger/innen schützen müsse. Wovor? Vor dem Betreten des Feldweges, der vor allem im Winter sehr gefährlich sei. Einziger Zweck der Mauer sei, wie der Bürgermeister beteuert, alle Bürger/innen davon abhalten, den holprig, steinigen Weg zu benutzen… Unsere Kamera läuft, als eine alte Frau die Türe der Mauer aufstößt und sich langsam den Feldweg hinunter zur Roma-Siedlung quält. Jan zoomt in ihr dunkles, faltenzerfurchtes Gesicht. Die Kamera enthüllt ihre Angst, zu stürzen. Sie kommt vom nahegelegenen Supermarkt. In ihrer Tasche, die sie fest an ihren Körper presst, sind Brot, Wurst und Tomaten. Was sie über die Mauer denkt, wollen wir wissen. Sie zuckt nur mit den Achseln. „Ordentliche Gehwege sollten sie bauen“, murmelt sie. Doch die Stadtväter von Presov haben sich für eine Mauer entschieden. Sie ist Symbol der Mauern in unseren Köpfen, die einen offenen Umgang miteinander behindern. Solche Mauern in unseren Sendungen zu zeigen – und seien sie noch so klein – helfen letztlich mit, sie niederzureißen. Die Reportage lief in der ZiB-2 im September 2010 Beitrag. Ernst Gelegs, ORF-Budapest


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