Who fucks the pigs?
Wenn das Geld ausgeht, geht als erstes der Anstand über Bord. In Brüssel, der Hauptstadt der europäischen Bürokratie, arbeiten Beamte und Beamtinnen und oft auch Journalisten und Journalistinnen zusammen, die tatsächlich nichts mehr erschüttern kann. Ein Apparat, der es gewohnt ist, komplizierte Zusammenhänge in leicht zu merkende Abkürzungen zu fassen, produziert ebendiese am laufenden Band. Und wenn Portugal, Irland, Griechenland und vermutlich auch Spanien ernste Budgetprobleme haben, ist das Kürzel „PIGS“ schnell aus der Taufe gehoben. Es ist kein leichter Umgang, mit dem schweinigelnden Zynismus… Es kommt in Wellen; manchmal ist die Herabstufung der Kreditwürdigkeit eines Euro-Landes der Anlass, manchmal ist es ein bevorstehender Gipfel der EU-Regierungschefinnen. Immer, und immer öfter, taucht er auf, der despektierliche Begriff der „PIGS“, er findet Eingang nicht nur in die Kolumnen der großen Blätter der etwas besser dastehenden Euro-Länder, sondern auch in die internen Memos der Brüsseler Bürokratie. Das Teuflische ist: Alles wisse, was damit gemeint ist, und fast alle nehmen zur Kenntnis, dass das, was mitschwingt, in Kauf genommen wird. Die bewusste Herabwürdigung von Ländern, die ihren Haushalt schlechter organisiert haben als andere; die Brandmarkung, dass der Rest Europas Hilfe leisten muss, andernfalls der Kapitalmarkt mit Regierung
und Bevölkerung der beschriebenen Länder kurzen Prozess macht. Die Bezeichnungen „Pleiteländer“ und „Staatsbankrott“ sind ebenfalls schon journalistisches Allgemeingut. Das Problem im Umgang mit den „PIGS“ ist nicht nur ein moralisches; es ist zunächst einmal ein faktisches. Die Erhabenen übersehen, dass auch ihre eigenen Staatshaushalte nicht in Ordnung sind. Welche nennenswerte Volkswirtschaft innerhalb des Euro-Raumes schreibt einen strukturellen Überschuss? Noch gibt es ein paar starke, belastbare Wirtschaftsräume, nur: Überschüsse erzielen auch die nicht. Und schließlich: Die Erhabenen übersehen vor allem, dass sie ihre eigenen Bevölkerungen – gelinde gesagt – nicht wahrheitsgemäß informiert haben. Nie und nimmer würden, so lautete der Schwur bei der Gründung der europäischen Einheitswährung, die starken Länder für die Schwachen gerade stehen müssen. Die logische Nachfrage, wie anders denn eine gemeinsame Währung funktionieren könne, als dass die Starken immer den Schwachen helfen müssen, dass es immer eine Umverteilung von den Wohlhabenden zu den weniger Wohlhabenden geben werde, die wischten die Eltern des Euro mit Inbrunst hinweg: „No bail out!“, hieß es, in den Verträgen von Amsterdam und Lissabon findet sich die beschworene Formulierung sogar wörtlich wieder. Also: Wie umgehen damit, in der Berichterstattung einer öffentlich-rechtlichen Anstalt? Wie immer. Kühlen Kopf bewahren, alles hinterfragen. Nicht überall mitmachen. Nicht alles von vorneherein glauben. Keiner Beschwörungsformel aufsitzen. Selbst rechnen. Das Publikum informieren. Was es wiegt, das hat es. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wer die Idee des Euro unterstützt, ist noch kein/e Fanatiker/in. Wer Zweifel anmeldet, noch kein/e Gegner/in.
Das ist nicht nur eine hehre, sondern vor allem auch eine schwere Aufgabe. Die Macht der Nebelwerferinnen und Nebelwerfer ist groß. Eine ganze Heerschar von Einflüsterer/innen und Statistikverbieger/innen ist unterwegs, um dem Ding den alles entscheidenden Drall zu geben. Wer die Schlacht um die Akzeptanz gewinnen will, muss die Schlacht um die Information gewinnen. Also dürfen die, die Information geben, gesichertes Terrain nicht verlassen. Was sind die nackten Fakten, die unverrückbaren Zahlen? Einschätzung ja, aber gesichert. Prognosen erlaubt, aber als Prognosen definiert. Hoffnung möglich, aber als solche erkennbar. Das ist eine Herkules-Aufgabe. Das ist „public value“. Ein Geleitschutz durch das Minenfeld. Auf der einen Seite liegen die Sprengkörper der Schönredner und Schönrednerinnen, auf der anderen die der Profiteure und Profiteure und Profiteurinnen. Vor einem liegen die Interessen und Lügen der Prognostiker/innen, hinter einen die sich verziehenden Schwaden der Vernebler und Verbieger. Wer steht und geleitet, übernimmt Verantwortung. Das erfordert Wissen, das erfordert Verantwortungsgefühl, das erfordert die Bereitschaft, sich auch einmal auf seinen Splitterschutz verlassen zu dürfen. Bleiben wir beim „G“ von den „PIGS“. Natürlich ist es ein leichtes, Griechenland, das wunderbare Urlaubsland, das viele von uns Berichterstattern und Berichterstatterinnen als herrliche, ungezwungene Party vor zwei oder drei Jahrzehnten erlebt haben, als das zu beschreiben, als das wir es erfahren haben: Eine großartige Gesellschaft, in der alles erlaubt und vorstellbar ist, unter anderem, weil wir selbst vor allem das Unerlaubte und Unvorstellbare wahrgenommen haben.
Wer von uns hat nicht die Leichtigkeit des Seins genossen, unter hellenischer Sonne, nicht den sorglosen Umgang mit Steuern und Mehrwertsteuer-Rechnungen, die es einfach nicht gab, und von dem wir uns wünschten, wäre doch auch unsere, eigene Obrigkeit zu Hause bald ähnlich liberal und nachsichtig? Und wem ist Griechenland nicht in unvergesslicher Erinnerung haften geblieben, in dem unsereiner selbst mal kurz vor Mittag das erste Tageslicht erblickt hat, und in dem der Müßiggang des Nachmittages nahtlos in den Müßiggang, äh, der Nacht, übergegangen ist? Leider: Alleine so funktioniert eine Gesellschaft nicht. Auch darüber muss berichtet werden dürfen. Ohne Häme, ohne Beigeschmack, ohne die sattsam bekannten „verdeckten Fouls“ – darüber muss berichtet werden dürfen! Es ist unser Geld. Also muss es, immer „public value“, auch darüber Reportagen geben. Wie schwer sich „unser“ Griechenland dabei tut, allgemein gültig Standards zu erfüllen! Wie viele Beamte und Beamtinnen gibt es? Leben wirklich noch alle der 8.500 Griechen und Griechinnen, die angeblich älter als 100 Jahre alt wurden, und für die bis auf die entlegene Insel eine staatliche Pension ausbezahlt wird? Und sind tatsächlich alle der geschätzten 17.000 Taxifahrer und Taxifahrerinnen Athens Mehrwertsteuer- und somit Rechnungslegungsbefreit? Was es wiegt, das hat es. Darüber gilt es zu berichten. Eine solche Haltung schlägt sich manchmal auf der Seite einer Regierung nieder, sehr oft findet man sich als Berichterstatter und Berichterstatterinnen auf der gegenüber liegenden Seite wieder. Oft mit Kritiker/innen, mit denen man eigentlich nichts zu tun haben möchte. Auch das ist „public value“ - ein fundiertes Recherche-Ergebnis haben, eine Meinung, ein unverrückbares Spiel aus Zahlen und Fakten. Es spielt keine Rolle, wer schon dort war, wer noch hinkommen wird, das ist das Stück der Journalisten und Journalistinnen.
Schlussendlich, ein bisschen „tickeln“, also kitzeln, muss es schon. Nicht vorenthalten sei dem p.t. Publikum deshalb auch die weitere Entwicklung des Begriffes „PIGS“. Eine Gruppe konservativer Berichterstatter/innen aus den gebrandmarkten Euro-Ländern entschärfte die offenkundig schmutzige Schweinfarm durch die Aufnahme Italiens: Die „PIIGS“ waren geboren. (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien). Die progressiveren, oft linken Journalist/innen, wiederum empfanden, die ganze Beurteilung sei im Kern richtig, aber dem Stück müsse eine spielerische Wendung gegeben werden: Aus „PIIGS“ wurde „GIPSI“. Das klang schon, semantisch nicht ganz korrekt, etwas romantischer, und wer hat, bei der Vorstellung von „Zigeuner/innen“ („Gypsi“) nicht auch politisch unkorrekte Bilder vor den Augen? Die Gegenthese schließlich ist auch nicht von der Hand zu weisen. Sie heißt: „FUCKING“. Auch die ist semantisch etwas unkorrekt, aber sie beschreibt aus der Sicht eines Journalisten (copyrigth: Soledad Galego Diaz, 7. März 2010) aus einem der „Schweine“-Staaten („El Pais“) die wohlhabende Seite (und vermutlich auch das, was er davon hält…). „FUCKING“ ist demnach nichts anderes als ein Kürzel für die wohlhabenden EU-Staaten: Frankreich, United Kingdom, Netherland und Germany. Auch da schwingt viel mit. Wir werden berichten. Das macht Spass. Wir werden den „public value“ immer im Auge behalten. Beitrag: Günther Kogler, ORF-Wirtschaftsredaktion
PS.: Die Sondersendung vom „Runden Tisch“ zur Griechenland-Krise erreichte 343.000 Zuseher/innen. Im ORF-Fernseharchiv gibt es bei Nachrichten und Magazinen im Jahr 2010 927 Einträge zum Schlagwort Griechenland und 229 zum Schlagwort Finanzkrise. »€co« hatte 2010 eine Reichweite von 289.000 (Erwachsene 12+; 2009: 264.000).