Der TV-Stereotyp
Fiktionale Programme – Serien, Reihen, Filme -, egal ob eigen- oder koproduziert, vermitteln den Zuschauern zwar fiktive Inhalte, setzen diese aber in einen realistischen oder realitätsnahen Rahmen. Figurenkonstellationen, Milieus, Arbeitsumfelder und nicht zuletzt Location – alles bedient sich in der Realität des Zuschauers bzw. der Zuschauerin: Die Realität der Fiktion. Obwohl Zuschauer/innen per unausgesprochenem Vertrag wissen müssen, dass die Fernsehrealität nichts mit ihrer unmittelbaren Realität zu tun hat, immer noch dazu, dass fiktive Fernsehinhalte von Zuschauer/innen für bare Münze genommen werden. Aktuelles Beispiel ist die immer wiederkehrende Anfrage beim Kundendienst, wo denn der mobile Chinastand aus „Schnell ermittelt“ zu finden sei. Von Schauspieler/innen, die auf der Straße mit ihrem Rollennamen angesprochen werden einmal ganz abgesehen. Es herrscht also tatsächlich eine durchaus verschwommene Grenze in der Wahrnehmung von Fernsehinhalten, und diese Tatsache überträgt den Macher/innen fiktionaler Programme durchaus viel Verantwortung. Denn – sehr pauschal formuliert - so wie sie Realität darstellen, so wird sie wahrgenommen. Ein Thema, das in diesem Zusammenhang immens wichtig ist, ist die adäquate Darstellung der sich verändert habenden Bevölkerungszusammensetzung, genau genommen: die Einbindung von Figuren mit Migrationshintergrund. Nun ist es nicht so, dass es in fiktionalen Programmen nie Figuren mit Migrationshintergrund gegeben hätte, bzw. eine realitätsnahe Darstellung unserer Gesellschaft - Fernsehen muss ja (auch) Spiegel sein, um „erkannt“ zu werden.
Ein Vorreiter in Sachen sozialer Realismus ist sicher die bis vor 11 Jahren produzierte (und oft wiederholte) Saga „Kaisermühlen Blues“. Einerseits Milieustudie eines Wiener Gemeindebaus, andererseits Vehikel für aktuelle gesellschaftliche und politische Themen, ist sie nicht umsonst nach wie vor eine der beliebtesten eigenproduzierten Fernsehserien. Eine sehr prominente Rolle nimmt die Figur des Josephus Okonkwo (Frank Oladeinde) ein, der sich in die zentrale Frauenfigur Gitti Schimek (Marianne Mendt) verliebt, es als Schwarzer im Wiener Gemeindebau nicht leicht hat und unter anderem mit Skinheads zusammenstößt. Er verlässt Gitti allerdings schließlich nicht aufgrund dieser – dem TV-Stereotyp entsprechenden – Probleme, sondern wegen einer Jüngeren. Das nämlich ist die größte Gefahr, die bei der Einbindung von Figuren mit Migrationshintergrund lauert: der TVStereotyp. Verständlicherweise bietet „der Ausländer bzw. die Ausländerin“ immer großes dramaturgisches Potenzial aufgrund der automatischen Reibeflächen, die eine Konfrontation mit „dem Inländer/der Inländerin“ bietet. So besteht die Gefahr, dass eine Figur mit Migrationshintergrund Klischees trägt oder verfestigt, was aus „pädagogischer“ Sicht – und hier sei der Bildungsauftrag und -effekt des öffentlich-rechtlichen Fernsehens betont – kontraproduktiv ist. Der Türke ist dann schnell der ewige Kebap-Verkäufer, der Schwarzafrikaner Drogendealer, der Muslim zwingt seine Frau, einen Schleier zu tragen und Zuwanderer/innen aus Ost-Europa sind sowieso alle kriminell. Ziel sollte es aber sein, die veränderte Bevölkerungszusammensetzung als Normalität zu begreifen und zu zeigen. Menschen mit Migrationshintergrund sind in unserer Lebensrealität schon fast mehr Regel als Ausnahme, wieso sollten sie es nicht bei der Zusammenstellung von Menschen in TV-Realitäten sein? Gerade das Österreichische Fernsehen ist sich dieses Themas sehr bewusst. Laut Statistik Austria liegt 2010 der Anteil der Bevölkerung mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft bei 10,7%, jener mit Migrationshintergrund bei 17,8%. Die Reihung nach zusammengefasster Staatsangehörigkeit setzt eine Herkunft aus Ex-Jugoslawien an erste Stelle.
Danach folgen Bürger/innen aus Deutschland, Platz drei belegt die Türkei, danach folgen Zuwanderer/innen (erster und zweiter Generation) aus Asien, Afrika und Amerika. Es gibt daher etliche Beispiele, vor allem auch aus der jüngeren Fernsehgeschichte, die sich mit Integration im fiktionalen Programm – mal klischierter, mal weniger klischeebehaftet – auseinandersetzen. Da gibt es den Türken Ötschi in „Dolce Vita & Co“ (2001-2002), der in einem italienischen Lokal arbeitet, das von einem Österreicher (Mario Hubinger, dargestellt von Michael Niavarani, ein Österreicher mit persischen Wurzeln), der mit der von der deutschen Schauspielerin Gundula Rapsch gespielten Marianne Hubinger verheiratet ist, geführt wird und dessen Küche ein Möchtegern-Franzose bevölkert (Christoph Fälbl). Da ist der Deutsch-Türke Seyfi Ülbül (Haydar Zorlu) in „Oben ohne“ (seit 2007), den es über Umwege nach Österreich verschlagen hat und der im Bioladen der Familie Schnabel landet, quasi im Zentrum des Geschehens. Ein Special unter dem Titel „Die türkische Braut“ legt wiederum das Hauptaugenmerk auf den Culture-Clash. Da sind „Die Lottosieger“ (seit 2008), in denen eine deutsche Chefin (Gundula Rapsch) dem österreichischen Underdog Rudi Deschek (Reinhard Nowak) das Leben schwer macht. Der Gemeindebau, in dem der Lottogewinner wohnt, wird – nach dem Vorbild „Kaisermühlen Blues“ - unter anderem von Bogdan Adamic aus Ex-Jugoslawien (Marijan Hinteregger) und dem türkischen Paar Selma und Akay bevölkert. Da ist der türkische IT-Spezialist Kemal Ötztürk (Morteza Tavakoli) aus „Schnell ermittelt“ (seit 2008), der mit Fritz (Helmut La), dem Besitzer des von den Ermittler/innen frequentierten Chinastandes am Ufer des Donaukanals des öfteren „Ausländer/innen“-Bonmots austauscht. Beide sind Zuwanderer der zweiten Generation, beide sprechen Deutsch mit Wiener Dialektfärbung. Da ist der „Aufschneider“ (2010), in dem ein indischer Taxifahrer (Murali Perumal) und eine deutsche Bestatterin (Meret Becker) ihr Unwesen treiben.
Und da sind nicht zuletzt die das Integrationsthema betreffend herausragenden Produktionen „Tatort - Baum der Erlösung“ (2008), der sich der realen Diskussion um den Bau eines Minaretts im tirolerischen Telfs annahm, und der Mini-Serie „tschuschen:power“ (2007/2008) rund um zwei Jugendcliquen im Migratenmileu Wiens. Ziel dieser Serie war es unter anderem, Klischees auf „kecke Art zu brechen“ (Zitat Jakob M. Erwa). Der Terminus Integration leitet sich vom lateinischen Begriff integrare ab, was soviel heißt wie Herstellung eines Ganzen. Im soziologischen Kontext bedeutet das, dass Menschen, die aus den verschiedensten Gründen bislang ausgeschlossen waren, nun einbezogen werden. Und zwar lückenlos im Sinne des Ganzen. Menschen mit Migrationshintergrund sind eine gesellschaftliche Realität, eine gesellschaftliche Normalität. Die fiktionalen TV-Programme bilden letztlich diese Lebensrealität ab – oder sollten es tun, um sie bei Rezipient/innen als Normalität zu etablieren. Die Einbindung von Figuren mit Migrationshintergrund ist sowieso schon vollzogen. Was vielleicht noch fehlt und anzustreben ist, ist eine noch größere Entfernung vom Klischee, eine unaufgeregtere Durchmischung von Figuren verschiedener Ethnien, eine Aufstellung von Figuren unterschiedlichsten kulturellen Backgrounds unter Berücksichtigung ihrer Eigenheiten und Themen, aber ohne Ausstellung gewachsener Stereotype. Die Weichen dafür sind in den fiktionalen Eigenproduktionen des ORF gestellt. So beispielsweise in einer Polizeiserie, die derzeit für ORF eins entwickelt wird und in der exakt auf die gerade umrissenen Punkte abgezielt wird. Die Serie spielt in einem Stadtteil mit sehr großem Immigrantenanteil, ganz sicher keine schicke Gegend. Große und kleine Kriminalität prägen den Alltag. Unruhe auf der Straße, Drogenkonsum, Jugendkriminalität, Armut, alteingesessene Einheimische fühlen sich zurück gedrängt, beginnende Spannungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen. Es ist aber zugleich auch ein sehr vitaler Bezirk, farbenfroh und modern. Voller unterschiedlicher Facetten und daher überraschend. Chaotisch, aber gerade deshalb wieder ganz speziell. Eine neue Moschee wird gebaut, aber zugleich auch Wohnungen für Yuppies. Unterschiedliche Kulturen und Klassen, die einander beeinflussen, oftmals aneinandergeraten
und zusammenkrachen, aber auch in Harmonie nebeneinander bestehen können. Es soll dies eine Serie werden, die „an der Front“ der heutigen Gesellschaft spielt. In einem Gebiet, in dem Individuen einander finden können, und wo gerade durch die großen Unterschiede auch Neues entstehen kann.
Beitrag: Katharina Schenk, Ressortleiterin Zentrales Lektorat, Redaktionsleiterin Fernsehfilm 2