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Against All Odds Zuschauer und Zuschauerinnen, Fragen des Lebens und ungewöhnliche Filme

Für den Fall, Sie hätten sich schon einmal überlegt, beruflich in die Filmbranche zu wechseln, ein Tipp: Denken Sie in Ruhe noch einmal drüber nach.

Um eventuellen Missverständnissen gleich im Ansatz vorzubeugen, natürlich gibt es ganz viel Wunderbares, was man zum Arbeiten an und mit Filmstoffen anmerken könnte. Die Kreativität, das Erzählen von allen nur erdenklichen Geschichten, die Zusammenarbeit in wechselnden Teams, die (Vor-)Freude, ein Filmprojekt wachsen und reifen zu sehen und vieles mehr. Aber, auch das sei gesagt, beim (Fernseh-)Film geht es nicht immer und nicht nur so kreativ idyllisch zu. Denn es handelt sich dabei ganz eindeutig um ein Hochrisikogeschäft, und damit sind ausdrücklich nicht die Stunts und Drehs mit potenziell gefährlichen Tieren oder ebensolchen Orten gemeint. Es geht nicht um Eiseskälte oder Verletzungsgefahren. Und wenn von Abstürzen die Rede ist, dann meistens nicht im wörtlichen Sinn. Nein, es geht um etwas noch viel Unberechenbareres, schwerer Fassbares. Es geht um Aufmerksamkeit. Um Interesse. Und um Hinwendung. All das wiederum verkörpert in den Personen der Zuschauer/innen.


Um das Publikum als unbegreifbare Masse ranken sich ja ganze moderne Mythologien. Darüber, was Zuseher/innen fasziniert und was sie abstößt, wie sie sich an ein Programm binden lassen, zerbrechen sich viele ihre Köpfe. Ein Teil unserer Branche lebt übrigens sehr gut damit und davon, den anderen Teil glauben zu machen, er wisse es ganz genau, wie die Gunst der Zuschauer/innen zu gewinnen wäre. Weltformeln wie „im Seichten kann man nicht ertrinken“ oder „der Köder muss dem Fisch und nicht dem Angler schmecken“ halten sich ebenso wie selbstbewusste Prognosen, was denn speziell junges, besonders urbanes, zielgruppengenau erfolgreiches, jedenfalls gutes Programm wäre, welcher Star ziehen wird und mit welcher Reichweite dies oder jenes rechnen muss. Die bittere Wahrheit dagegen lautet: Wer auch immer von sich behauptet, den zukünftigen Erfolg eines Programms vorhersagen zu können, ist wahrscheinlich entweder weitgehend ahnungslos, rührend naiv oder verfolgt unausgesprochene Partikularinteressen. Echte Gewissheit gibt es nicht, niemals.

Trotzdem, in fast jedem Stereotyp steckt schließlich auch ein unterschiedlich kleiner Kern Wahrheit. Deshalb liegt man unter den gegebenen (demographischen, sozialen, ökonomischen) Umständen selten komplett falsch, wenn man annimmt, dass bei einem repräsentativen Ausschnitt des Gesamtpublikums Faktoren wie „Unterhaltung“, „Spannung“ und bis zu einem gewissen Grad „Eskapismus“ eine gewichtige Rolle bei der Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Fernsehprogramm spielen. Das sind natürlich noch immer bei weitem zu allgemeine Parameter, als dass sich Fernsehmacher/innen wie in einem Rezept daran orientieren könnten, aber sie stecken immerhin grob das Feld ab, innerhalb dessen man sich auf der halbwegs sicheren Seite im Kampf um die Gunst der Zuschauer/innen wähnt. Auf diese Weise entstehen jedenfalls große Teile des Programms rund um die Welt - was Spannendes, was zum Lachen und etwas, um den Ballast des Arbeitsalltags für ein paar Minuten hinter sich zu lassen. Wie gesagt, wir bewegen uns in einer hochriskanten Geschäftswelt und auf diese Art können die Risiken wenigstens teilweise gebändigt werden. Abgesehen davon ist es für einen Sender - einen gebührenfinanzierten zumal - absolut legitim, seinen Vorgesetzten,


den Zuschauer/innen, auch das anzubieten, was sie sehen möchten. Entspannung und Unterhaltung sind schließlich wesentliche Stützen eines Vollprogramms.

Aber dann passiert immer wieder Ungewöhnliches. Filme finden ihren Weg ins Programm, die sich allen Prognosen und Marktforschungen zum Trotz so gar nicht an die Vorgaben der Risikominimierer/innen halten, die sich nach erstem Anschein überhaupt nicht um die grundlegenden Publikumsbedürfnisse, sondern nur um die eigenen Ansprüche an ihre Geschichte, ihre Haltung und ihre Figuren kümmern. Um nur einige wenige des vergangenen Jahres konkret hervorzuheben: es sind Filme wie „Die Hebamme“1, ein Stoff aus einer Zeit, in der die Religion noch die absolute Deutungshoheit in den Köpfen der Menschen hatte, und die naturwissenschaftliche Medizin noch in den Kinderschuhen steckte. Aus dieser Zeit erzählt „Die Hebamme“ die Geschichte einer Frau, die sich - aus Respekt gegenüber schwangeren Frauen und Liebe zum Leben - mit beiden männlich dominierten Institutionen anlegt. Und diesen Kampf auch verliert. Ein solcher Plot widersetzt sich in fast jeder Hinsicht den gängigen Mainstreamstrukturen, genauso wie etwa „Die Mutprobe“2. In diesem Film werden vor dem Hintergrund des Themas Kindesmissbrauch bohrende Fragen gestellt: Wie schwer kann man an der eigenen Biographie tragen? Wann ist der Punkt erreicht, an dem man sagen muss „genug geschwiegen, es reicht“? Und mit welchen Konsequenzen ist zu rechnen? Das sind allesamt keine Unterhaltungsprogramme im engeren Sinn, desto ungewöhnlicher ist: das Risiko hat sich gelohnt, denn genau auf solche Filme scheinen die Zuschauer/innen sehnsüchtig gewartet zu haben. Die „Hebamme“ wollten 740.000 Zuschauer/innen sehen, die „Mutprobe“ gar 764.000.

Die Frage ist, woran könnte das liegen? 1 2

„Die Hebamme - auf Leben und Tod“ (mit Brigitte Hobmeier, Misel Maticevic, August Zirner. Regie: Dagmar Hirtz) „Die Mutprobe“ (mit Barbara Lanz, Heio von Stetten, Peter Weck. Regie: Holger Barthel)


Wieso gerät beim Publikum etwas zum großen Erfolg, was nach Adam Riese und sämtlichen Quotenprophet/innen das Zeug zur veritablen Bauchlandung haben könnte? Ein Schlüssel zum Verständnis ist sicherlich wieder in den Zuschauer/innen zu finden. Denn im Gegensatz zu abstrakten Zahlen und Marktdaten ist die einzelne Zuschauerin, der einzelne Zuschauer niemals Masse, keinesfalls anonym. Jede/r hat Namen, Adresse, Beruf, Biographie, kurz: ein Leben, das automatisch mit den Geschichten, die man sieht und hört, in Austausch tritt. Das funktioniert ganz von selbst, spiegelt doch jedes fiktionale Programm auch einen Ausschnitt des „wirklichen Lebens“ wider. Die Sache ist die, dass es in den erwähnten Beispielen, sowie (mit Intensitätsabstufungen) auch in einigen anderen Filmen und Serien über das bloße Abbilden der Realität hinausgeht. Nämlich dann, wenn Wirklichkeit nicht allein abgebildet, sondern auch reflektiert wird, abgewogen, in Zusammenhang mit anderen Fragen gesetzt. Dann, wenn Geschichten den Rahmen des Gewohnten verlassen und wenn sie darüber hinaus auch noch - ohne erhobenen Zeigefinger und durchsichtiger didaktischer Absicht - bei Zuschauer/innen neue Gedanken und Fragen ins Rollen bringen, haben sie ihre Chance ergriffen und Zuschauer/innen berührt. Filme, die eine Haltung reflektieren, haben also mit Unterhaltung im eigentlichen Sinn nichts zu tun? Wäre schlüssig, aber zu einfach. Denn zum Glück hat auch Humor mitunter einen doppelten Boden, relevante Fragen des (Zusammen)Lebens werden durchaus auch lachend oder zumindest schmunzelnd behandelt. Ein paar Beispiele: Der Spagat von Frauen zwischen Karriere, Kindern und Privatleben wird in „Schnell ermittelt“ Folge für Folge neben den obligaten Kriminalfällen mit leichter Hand quasi en passant mitverhandelt. Oder: die Beteuerung, dass unverhoffter Reichtum selbstverständlich im Großen und Ganzen nichts ändern würde, führt bei den „Lottosiegern“ immer wieder zu dem Punkt, in dem sich die Figuren und damit auch die Zuschauer/innen die grundlegende Frage stellen, was denn nun den beständigen Kern ihrer Beziehungen zueinander ausmacht. Oder denken wir an den „Aufschneider“: Josef Haders Figur entführt uns in 2x90 Minuten in Wahrheit auch auf einen Ausflug durch zwei Jahrhunderte Ethik und Moralphilosophie ohne, dass man´s penetrant aufs Aug‘ gedrückt bekommt.


Es ist, wie gesagt, ein Hochrisikogeschäft, Sie erinnern sich. Die Gewissheit darüber, mit welchen Themen und Stoffen man an sensible gesellschaftliche Bereiche rührt, womit man zur richtigen Zeit womöglich einen Nerv beziehungsweise einen schwelenden Diskurs trifft, die gibt es nicht. Was dieser fehlenden Sicherheit entgegengesetzt werden kann, ist die unaufhörliche Suche von Autoren und Autorinnen, Regisseuren und Regisseurinnen, Redakteuren und Redakteurinnen vielen anderen nach solchen Geschichten, die bewegen und berühren. Leicht ist es aus erwähnten Gründen nicht, solche Stoffe zu realisieren. Es gelingt trotzdem immer wieder. Denn wir wollen Ihnen, verehrte Zuseherin, werter Zuseher, mit unserem Programm ja nichts vormachen. Wir wollen Ihnen was erzählen!

Beitrag: Bernhard Natschläger


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